Gotthold Ephraim Lessings >Emilia Galotti< im Kulturraum Schule (1830-1914) 9783737003834, 9783847103837, 9783847003830

177 58 3MB

German Pages [348] Year 2015

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Gotthold Ephraim Lessings >Emilia Galotti< im Kulturraum Schule (1830-1914)
 9783737003834, 9783847103837, 9783847003830

Citation preview

Gotthold Ephraim Lessing im kulturellen Gedächtnis – Materialien zur Rezeptionsgeschichte Band 3

Herausgegeben von Carsten Gansel und der Arbeitsstelle für Lessing-Rezeption Kamenz

Carsten Gansel / Birka Siwczyk (Hg.)

Gotthold Ephraim Lessings ›Emilia Galotti‹ im Kulturraum Schule (1830–1914)

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-1515 ISBN 978-3-8471-0383-7 ISBN 978-3-8470-0383-0 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0383-4 (V&R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. © 2015, V&R unipress GmbH in Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Stahlstich nach einer Zeichnung von Johann Georg Buchner. In: Panorama der deutschen Klassiker. Bd. II. Stuttgart: Karl Göpel o. J. Frontispiz. (Lessing-Museum Kamenz; 4951 I) Satz und Layout: vanDerner. druck & medien – Torsten Nitsche Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

I Vorbemerkungen II Einführung Carsten Gansel Zu Rolle und Funktion von Schulprogrammen bzw. Jahresberichten der höheren Schulen im 19. Jahrhundert

............................

11

Carsten Gansel und Mike Porath Gotthold Ephraim Lessings »Emilia Galotti« auf den Höheren Schulen und in Schulprogrammschriften zwischen 1851 und 1904 .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

III Quellentexte Ludwig Hölscher Ueber Lessing’s Emilia Galotti. Friedrich Theodor Nölting Ueber Lessings Emilia Galotti.

.............................................................

.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

107

Bernhard Arnold Lessings Emilia Galotti in ihrem Verhältniss zur Poetik des Aristoteles und zur Hamburgischen Dramaturgie .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Gustav Heidemann Ueber Lessings Emilia Galotti.

.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Julius Rohleder G. E. Lessing’s Emilia Galotti als Lectüre für Prima.

.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

173

.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

205

.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

229

Adolf Dietrich Über den Bau des Trauerspiels Emilia Galotti. Lothar Volkmann Zu den Quellen der Emilia Galotti.

153

Inhalt

Gustav Kettner Über Lessings Emilia Galotti

.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Johann Karl Rösler Die Handlung und Charaktere in Lessings Emilia Galotti. Friedrich Widder Emilia Galotti und kein Ende.

247

........................

265

............................................................

277

Gustav Marseille Die Urbilder der Frauengestalten in Lessings Meisterdramen.

....................

293

............................................................................

319

iv Anhang Editorische Notiz

Biobibliographische Angaben

.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Übersetzung fremdsprachiger Anmerkungen Personenverzeichnis Quellenverzeichnis

..........................................

321 333

.........................................................................

339

..........................................................................

345

Abbildungsverzeichnis

.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

347

Vorbemerkungen

Wenn man nach Autoren und Texten fragt, die im kulturellen Gedächtnis in besonderer Weise verankert sind, dann gehört Gotthold Ephraim Lessing seit Mitte des 19. Jahrhunderts dazu. Diese Kanonisierung allerdings war nur möglich, weil es Instanzen gab, die die ›Konservierung‹ wie die ›Pflege‹ der Bestände übernahmen. Im Fall von G. E. Lessing hat insbesondere die Institution Schule eine herausragende Rolle bei der Inthronisierung von Lessing im Kanon und mithin im kulturellen Gedächtnis gespielt. Erst durch individuelle Wahrnehmung, durch Wertschätzung und Aneignung in der ›Institution Schule‹ wurde Lessing zu einem Kanonautor, und seine Texte gerieten in den Status von »Wiedergebrauchstexten«.1 Da innerhalb der Lessing-Forschung im Kontext mit Fragen zur ›Wirkung‹ des Autors die ›Institution Schule‹ nur sehr begrenzt einbezogen wurde oder aber sich sehr harsche Urteile vor allem über die Rolle des Humanistischen Gymnasiums finden, sahen die Herausgeber es angeraten, in einer eigens dafür eingerichteten Reihe Materialien zur Rezeptionsgeschichte einsehbar zu machen, die zu Lessing im Rahmen der Institution Schule verfasst wurden, aber bislang kaum oder gar nicht für die Wirkungsgeschichte herangezogen wurden. Das positive Echo auf den ersten Band der Reihe, nämlich die Edition von weitgehend unbekannten Texten zu G. E. Lessings »Nathan der Weise«, war einmal mehr Motivation, das Vorhaben mit den weiteren Bänden zu Lessings »Minna von Barnhelm«, der »Emilia Galotti« und dann dem »Laokoon« fortzusetzen.2 Erneut sind die Beiträge einer Publikationsform entnommen, die bislang innerhalb der literaturwissenschaftlichen Forschung nicht hinreichend beachtet wird, es handelt sich um Schulprogramme bzw. Jahresberichte der höheren Schulen. Diese Jahresberichte geben Auskunft über den Schulalltag an Gymnasien und über das, was im Unterricht behandelt wurde. Da sich zu G. E. Lessing in den Programmschriften mehr als 180 Beiträge finden, besteht das Ziel darin, zunächst jene Darstellungen zusammenzufassen, die auf ein konkretes Einzelwerk bezogen sind. Nach Lessings Drama »Nathan der Weise« und »Minna von Barnhelm« geht es nunmehr um einen weiteren Text, der bis in die Gegenwart 1 Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Ders./Tonio Hölscher (Hgg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 9 – 19, hier S. 15. 2 Vgl. folgende Rezensionen zu den bisher erschienenen Bänden: Kertscher, Hans-Joachim: Neue Bücher über Lessing. In: Stiftung Mitteldeutscher Kulturrat (Hg.): Mitteldeutsches Jahrbuch für Kultur und Geschichte. Bd. 20, 2013, S. 285 – 290; Lipiński, Cezary: Zurück zu den Quellen. Reflexionen über das neue Lessing-Buch von Carsten Gansel und Birka Siwczyk. In: Silesia Nova, Vierteljahreszeitschrift für Kultur und Geschichte. Dresden, Wroclaw, Jg. 6, 2009, H. 1, S. 118 – 122; Multhammer, Michael. In: Lenz-Jahrbuch. Literatur – Kultur – Medien 1750 – 1800. Bd. 16, 2009, S. 172 – 179; Nisbet, Hugh Barr. In: Lessing Yearbook XXXVIII (2008/2009), S. 271ff.; Lessing Yearbook XL 2012/13, S. 189 – 191.

Vorbemerkungen

fest im kulturellen Gedächtnis verankert ist und nach wie vor zu den meistgespielten Stücken auf Theaterbühnen gehört, Lessings Trauerspiel »Emilia Galotti«. Dieser Sammlung wird die Edition zu Lessings kunsttheoretischer Schrift »Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie« folgen. Wie bereits in den vorangegangenen Editionen kam es den Herausgebern auch darauf an, biobibliographische Angaben zu den in der Regel wenig bekannten Verfassern der Beiträge zu ermitteln. Die Edition von einzelnen Lessing-Texten wird 2015 ergänzt durch einen Band mit ausgewählten Beiträgen zur Rolle Lessings im kulturellen Gedächtnis. Zu danken ist Mike Porath, Norman Ächtler, Christian Tausch und Madeline Schirra für die Mitarbeit an der Textedition sowie Saskia Helena Schomber für die Übertragung griechischer und lateinischer Textstellen. Ein besonderer Dank gilt dem Leiter der Universitätsbibliothek Gießen, Dr. Peter Reuter, und den Mitarbeitern der Universitätsbibliothek Gießen für die technische Unterstützung bei der Umwandlung der Textvorlagen. Für Korrekturarbeiten sowie das Layout des Bandes danken wir Torsten Nitsche. Für Auskünfte, Ratschläge und Materialzusendung zu den Autoren der wissenschaftlichen Abhandlungen danken wir den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen von Archiven und Bibliotheken, insbesondere Norbert Perkuhn (Stadtarchiv Düsseldorf ), Karen Petzold (Förderverein Fürstliches Pädagogium Putbus) sowie dem Stadtarchiv Wismar, dem Siebenbürgen-Institut an der Universität Heidelberg und dem ScheffelGymnasium in Lahr. Besonderer Dank gilt der Beauftragten für Kultur und Medien sowie dem Sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst für die finanzielle Unterstützung dieser Edition.

Carsten Gansel (Gießen)/Birka Siwczyk (Kamenz), Dezember 2014

8

Einführung

Carsten Gansel Zu Rolle und Funktion von Schulprogrammen bzw. Jahresberichten der höheren Schulen im 19. Jahrhundert

Den 2009 und 2011 edierten Bänden zu »Nathan der Weise« und »Minna von Barnhelm« in der Reihe »Gotthold Ephraim Lessing im kulturellen Gedächtnis – Materialien zur Rezeptionsgeschichte« war ein Einleitungsbeitrag vorangestellt, der auch auf die Rolle von Schulprogrammen einging und ihre Kennzeichen herausstellte.1 Da nachfolgend weitere Einzelbände, zur »Hamburgischen Dramaturgie« und zu »Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie«, folgen werden und nicht davon auszugehen ist, dass in jedem Fall die Nutzer des Materialienbandes hinreichend über die Textsorte der Schulprogrammschrift informiert sind, wird jeweils ein knapper Einleitungstext die wesentlichen Informationen auf der Grundlage des aktuellen Erkenntnisstandes erneut zusammenfassen.

1. Zur Bestimmung der Schulprogramme In neueren Untersuchungen zur Bildungsforschung, zur Geschichte des Deutschunterrichts oder zur Kanonforschung wird auf die Bedeutung einer Publikationsform aufmerksam gemacht, die bislang nicht hinreichend beachtet wurde, es handelt sich um Schulprogramme bzw. Jahresberichte der höheren Schulen.2 Wenn Hans-Georg 1 Carsten Gansel: Gotthold Ephraim Lessing und das kulturelle Gedächtnis zwischen 1800 und 1914 – Plädoyer für eine Neusichtung von Quellen. In: Ders./Siwczyk, Birka (Hgg.): Gotthold Ephraim Lessings ›Nathan der Weise‹ im Kulturraum Schule (1830 – 1914), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht unipress 2009, S. 11 – 34. (Reihe Gotthold Ephraim Lessing im kulturellen Gedächtnis – Materialien zur Rezeptionsgeschichte; 1) sowie Ders.: Zu Rolle und Funktion von Schulprogrammen bzw. Jahresberichten der höheren Schulen im 19. Jahrhundert. In: Ders./Siwczyk, Birka (Hgg.): Gotthold Ephraim Lessings ›Minna von Barnhelm‹ im Kulturraum Schule (1830 – 1914). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht unipress 2011, S. 11 – 17. 2 Schulprogrammschriften werden im »Lexikon des gesamten Buchwesens« (2. völlig neu bearb. Aufl. Hrsg. von Severin Corsten u. a. Bd. 7. Stuttgart: Hiersemann 2004, S. 6) wie folgt beschrieben: »Schulprogrammschriften, gelegentlich auch Schulprogramme oder Schulschriften. Nach dem Vorbild der Universitäten erschienen mehr oder weniger regelmäßig seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, vor allem in den deutschsprachigen Ländern, Einladungen zu öffentlichen Abschlußprüfungen an Gymnasien beziehungsweise Lateinschulen, beigefügt war gelegentlich eine wiss. Abhandlung des Rektors.« Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Begriff ›Schulprogramm‹ durch den Terminus ›Jahresbericht‹ ersetzt. Siehe dazu auch: Ritzi, Christian: Schulprogramme. Zur Geschichte einer wenig beachteten Publikationsform. Geschichte der Schulprogramme, vor allem auch mit der

11

Carsten Gansel

Herrlitz darauf verwiesen hat, dass das »innere Schulleben, die Alltagsgeschichte der Gymnasien und Realschulen bislang kaum beachtet« worden ist, dann kann für die Zukunft davon ausgegangen werden, dass über eine Auswertung der Schulprogramme jene »Leerstellen« gefüllt werden.3 Die Jahresberichte geben weitaus authentischer Auskunft über den Schulalltag an Gymnasien und über das, was ›wirklich‹ im Unterricht behandelt wurde, als dies Lehrpläne und ministerielle Verfügungen tun. Die Schulprogramme besitzen zudem für die Fachwissenschaften – angefangen von der Klassischen Philologie bis zur Mathematik – wie für die Pädagogik, die Geschichtswissenschaft, die Buch- und Bibliothekskunde bis hin zur Kulturwissenschaft besondere Relevanz, da sie eine Rekonstruktion der konkreten Inhalte des Fachunterrichts ebenso ermöglichen wie sie Einblicke in die länder- und regionenspezifische Geschichte der Gymnasien geben.4 Von daher bietet die interdisziplinäre Untersuchung der Schulschriften die Chance, neue Erkenntnisse über den ›Kulturraum Schule‹ zu gewinnen. Die Bedeutung der Schulprogramme für die Forschung ergibt sich aus ihrer Geschichte, ihrer Struktur und ihrer Funktion und sei nachfolgend knapp umrissen.

2. Zu Geschichte und Struktur der Schulprogramme Bei den Schulprogrammen bzw. Jahresberichten der Gymnasien handelt es sich um eine Publikationsform, die ab der Mitte des 18. Jahrhundert entstand und mit den Schulneugründungen im höheren Bildungswesen ab 1820 besondere Relevanz erlangte. In Preußen erging mit dem »Circular = Rescript« vom 23. August 1824 an alle höheren Lehranstalten die Verpflichtung, Jahresberichte zu publizieren, und in der Folge kam es dazu, dass die Schulbehörden landesweit einen Austausch der

Entstehungsgeschichte im 17. und 18. Jahrhundert, sowie: Struckmann, Caspar: Schulprogramme und Jahresberichte: Zur Geschichte einer wenig bekannten Schriftenreihe. [Schwerpunkt 19. Jahrhundert, enthält eine Zusammenstellung von Festschriften, die eine Bibliographie der Programmabhandlungen enthalten, geordnet nach Staaten (Preussen, Mecklenburg, Sachsen, Schlesien …)]. 3 Herrlitz, Hans-Georg/Hopf, Wulf/Titze, Hartmut: Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart. Eine Einführung. 3. Auflage. Weinheim und München: Juventa 2001, S. 85. 4 Siehe dazu die Beiträge u. a. von: Korte, Hermann: Innenansichten der Kanoninstanz Schule. Die Konstruktion des deutschen Lektürekanons in Programmschriften des 19. Jahr­hunderts. In: Ders./Zimmer, Ilonka/Jakob, Hans-Joachim (Hgg.): »Die Wahl der Schriftsteller ist richtig zu leiten«. Kanoninstanz Schule. Eine Quellenauswahl zum deutschen Lektürekanon in Schulprogrammen des 19. Jahrhundert. Frankfurt/M. u. a.: Lang 2005, S. 17 – 112; Jakob, Hans-Joachim: Schulprogramme im 19. Jahrhundert. Anatomie einer Publikationsform. Ebd., S. 135 – 156; Gansel, Carsten: »Lebensideal der tätigen Energie« – Gotthold Ephraim Lessing als Kanonautor im ›Kulturraum‹ Schule zwischen 1800 und 1900. Ebd., S. 81 – 97; Ders.: »Das Herz geht uns auf, wenn wir von Lessing hören oder ihn lesen« – G. E. Lessing im Kulturraum Schule um 1900. In: Albrecht, Wolfgang/Schade, Richard E. (Hgg.): Mit Lessing zur Moderne. Soziokulturelle Wirkungen des Aufklärers um 1900. Kamenz 2004, S. 205 – 222.

12

Zu Rolle und Funktion von Schulprogrammen

Schulschriften organisierten.5 Mit der preußischen Verordnung wurden im Sinne einer Vereinheitlichung Richtlinien für den Aufbau der Schulprogramme vorgegeben. Die vom preußischen Kultusministerium festgelegte Struktur der Jahresberichte enthielt nachfolgende Rubriken, die sich modifiziert in den Jahresberichten der höheren Lehranstalten wiederfinden: 1. Vorwort 2. Die Beschreibung der »Allgemeinen Lehrverfassung« im abgelaufenen Schuljahr. Dazu gehörten: – eine Übersicht über die Verteilung der Stunden auf die einzelnen Fächer sowie die die Fächer jeweils vertretenden Lehrer; – eine genaue Auflistung der Lehrinhalte der einzelnen Fächer mit Aussagen zu den Themen sowie der Lektüre, jeweils gegliedert nach den Jahrgangsstufen; – eine Aufstellung der gebrauchten Lehrbücher; – das Verzeichnis der über das Jahr gestellten Aufsatzthemen. 3. Abdruck der Verfügungen der vorgesetzten Behörden, sofern sie für die Schule von Bedeutung waren. 4. Chronik der Schule für das abgelaufene Schuljahr. In diesem Teil erwartete das Ministerium Mitteilungen über: – die Eröffnung des Schuljahres; – Aussagen zu Schul- und Gedenkfeiern; – Nachrichten über Veränderungen im Lehrer- und Beamtenpersonal der höheren Schule bis hin zu längeren Krankheiten der Lehrer und gegebenenfalls angeordneten ›Aushülfen‹; – Informationen über »außerordentliche Ereignisse«, die sich im Gymnasium im Schuljahre zugetragen haben. 5. Statistische Mitteilungen über die Verteilung der Schüler auf die Klassenstufen, Übersicht über die sozialen sowie die Religionsverhältnisse der Schüler, Übersicht über die Abiturienten und gegebenenfalls eine Auflistung ihrer Berufswünsche. 6. Aussagen zum »Stand des Lehrapparats« mit den Stiftungen, die die Schule erhalten hat sowie den Neuzugängen der Lehrer- und der Schülerbibliothek. 7. Hinweise zum Programm der Schlussfeier mit einer Aufstellung der dort zum Einsatz gebrachten Texte. 8. Mitteilungen an die Schüler und deren Eltern. 5 »Circularrescript des Königlichen Ministeriums der Geistlichen, Unterrichts- und Medicinalangelegenheiten sämmtliche Königlichen Consistorien, die Gymnasial-Prüfungs­ programme betreffend« vom 23. August 1824. Vgl. dazu: Neigebaur, Johann Ferdinand: Die Preußischen Gymnasien und höheren Bürgerschulen. Eine Zusammenstellung der Verordnungen, welche den höheren Unterricht dieser Anstalten umfassen. Berlin, Posen, Bromberg 1835, S. 314 – 316. Nachdruck hrsg. von Wolfgang Neugebauer. Köln, Wien 1988, S. 272 – 275. Die Verordnung wurde von anderen Ländern übernommen (Bayern 1825, Sachsen 1833, Baden 1836, Österreich 1849) und der Austausch entsprechend organisiert.

13

Carsten Gansel

Darüber hinaus waren die höheren Schulen dazu verpflichtet, jedem Jahresbericht eine wissenschaftliche Abhandlung beizugeben.6 Das Abfassen einer wissenschaftlichen Abhandlung galt als »freie wissenschaftliche Tätigkeit«, es war nicht durch vorgegebene Themen, den Unterrichtsstoff des jeweiligen Gymnasiums oder die Lehrpläne bestimmt und diente den Beiträgern dazu, sich im (philologischen) Fachdiskurs zu profilieren. Insofern gab die Qualität der wissenschaftlichen Abhandlung Auskunft über den wissenschaftlichen Standard eines Gymnasiums und präsentierte diesen ›nach außen‹. Durch den Austausch der Schulschriften wurden die wissenschaftlichen Abhandlungen einem breiten Kreis von Fachkollegen bekannt, sie dokumentierten den erreichten wissenschaftlichen Standard und hatten positive Auswirkungen auf das wissenschaftliche Klima in den Lehrerkollegien. Einige wenige Titelnennungen lassen erkennen, in welchem Maße es sich bei den Beiträgen um wissenschaftliche Publikationen handelt, die den Fachdiskurs anregen wollten und sich sehr wohl offenen Forschungsfragen zuwandten. Der Umstand etwa, dass sich im Bereich der philologisch orientierten wissenschaftlichen Abhandlungen eine Vielzahl von Beiträgern der bis dahin noch wenig erforschten neueren deutschen Literatur zuwenden oder sich auf detaillierte Untersuchungen etwa zu Lessing, Goethe, Schiller konzentrieren, zeigt, in welchem Umfang die Lehrer an höheren Lehranstalten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts Anteil am Fachdiskurs ihrer Fächer nahmen.7 Allein die Titel der Abhandlungen unterstreichen den wissenschaftlichen Anspruch der Beiträger wie etwa: »Lessings Hamburger Dramaturgie im Unterricht der Prima. Beilage zum Jahresbericht des Gymnasiums Offenburg 1891/92« oder »Ueber Lessings Emilia Galotti. Wissenschaftliche Beigabe zum Michaelis-Programm der Groszen Stadtschule zu Wismar 1878«. Von daher ist es erklärlich, wenn in Darstellungen resümierend notiert wird, dass die Verpflichtung der Lehranstalten auf die Publikation von wissenschaftlichen Abhandlungen »sehr wesentlich dazu beigetragen hat, das wissenschaftliche Streben in den Lehrerkollegien lebendig zu halten«.8 Die in den Schulprogrammen zudem gegebenen Hinweise zur Biographie der Lehrer unterstreichen einmal mehr, dass der Deutschunterricht in den höheren Lehranstalten zwischen 1800 und 1900 in erster Linie anspruchsvoller Fachunterricht war, in dessen Zentrum zunächst Rhetorik, Leseund Aufsatzlehre standen – erteilt von philologisch zumeist exzellent qualifizierten Lehrern, die auch wissenschaftlich arbeiteten. 6 Die Verpflichtung, in die Schulprogramme eine wissenschaftliche Abhandlung aufzunehmen, wurde 1875 aufgehoben. Dennoch hielten eine Vielzahl von Gymnasien an der Tradition fest. Vgl. Ullrich, Richard: Programmwesen und Programmbibliothek der höheren Schulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Übersicht der Entwicklung im 19. Jahrhundert und Versuch einer Darstellung der Aufgaben für die Zukunft. Mit Programmbibliographie und einem Verzeichnis ausgewählter Programme von 1824 – 1906 (1907). Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1908, S. 97, 146 f. 7 Vgl. u. a.: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. IV, 1870 – 1918. Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Hrsg. von Christa Berg. München 1991, S. 147 – 178; S. 179 – 313. 8 Ullrich, Programmwesen. 1908, S. 227.

14

Zu Rolle und Funktion von Schulprogrammen

3. Zur Funktion von Schulprogrammen In ihrer Mischung zwischen »Selbstdarstellung und statistischer Aufnahme des Schulzustandes« spielten die Schulprogramme eine gewichtige Rolle sowohl für den ›Kulturraum‹ bzw. das ›System Schule‹ wie auch für die breite Öffentlichkeit. Von daher waren die Schulprogramme der höheren Lehranstalten eine frühe Form der Öffentlichkeitsarbeit bzw. der PR, indem sie Aussagen zu Struktur, den Inhalten, dem Alltag der höheren Lehranstalten machten. In systemtheoretischer Perspektive dienten die Schulprogramme der ›Außen-Innen-Differenzierung‹ und wandten sich an unterschiedliche Adressaten: Dazu gehörten die Schulöffentlichkeit, die Lehrer der höheren Schulen ebenso wie Universitätsangehörige, die Schulverwaltungen der Kommunen und Länder, die Schüler wie Elternschaft. Insofern ist es zutreffend, wenn vermerkt wurde, dass die Funktion der Programmschriften »in der gegenseitigen Förderung der Schulen und ihrer Lehrer und in der Erhaltung fester Beziehungen zwischen Schule und Publikum« bestand.9 Die Schulprogramme erfüllten somit die Aufgabe, den Bildungsdiskurs des Gymnasiums öffentlich zu machen und zu popularisieren. Vor allem mit den wissenschaftlichen Abhandlungen sollte das »Interesse weiterer Kreise« geweckt werden und die interessierte Öffentlichkeit Einblicke in den ansonsten autonomen ›Kulturraum Schule‹ gewinnen.10 Weitere Funktionen der Schulprogramme lassen sich knapp wie folgt zusammenfassen: – Die Schulprogramme dienten der systemspezifischen Abgrenzung des Gymna-









siums von anderen Lehranstalten einerseits und unterstrichen andererseits ihre institutionelle Autonomie; Nach ›außen‹ stellten die Schulprogramme die hohe Leistungsfähigkeit des jeweiligen Gymnasiums unter Beweis und dienten mit ihrer Darstellung dazu, das Renommee der Anstalt zu erhöhen; Die Schulverwaltungen erhielten durch die Programme einen Einblick in den Lehrplan der Schulen, die Pensa, die Fachstrukturen und konnten auf diese Weise ihre Kontroll- und Aufsichtsfunktion besser gewährleisten. Dies umso mehr, als es für die Gymnasien erst ab Ende des 19. Jahrhunderts detaillierte staatliche Fachrichtlinien gab.11 Durch den vorgeschriebenen Programmaustausch boten die Schulprogramme die Chance, eine Kommunikation unter den Gymnasien einer Stadt, eines Landes und länderübergreifend herzustellen, es war eine Verständigung über die Curricula sowie spezifische Organisations- und Fachfragen möglich. Die wissenschaftlichen Abhandlungen machten es den Schulbehörden, aber auch Institutionen wie der Universität möglich, Rückschlüsse über den wissenschaftlichen Standard der Lehranstalt wie ihrer Lehrer zu ziehen.

9 Ebd., S. 523. 10 Ebd., S. 139. Siehe auch Korte, Innenansichten. 2005, S. 28. 11 In Preußen wurde der erste reguläre Lehrplan 1882 verabschiedet.

15

Carsten Gansel

Wollte man nunmehr knapp Forschungsdesiderate benennen, die über eine Analyse von Schulprogrammen gefüllt werden können, dann ist neben den bereits benannten Aspekten ein Erkenntnisgewinn in folgender Hinsicht zu erwarten: – Die Auswertung der Chronik mit den Informationen zur Geschichte der Einrich-

tung erlaubt Aussagen zur Entwicklung ausgewählter Schulen/Schultypen einer Stadt, eines Landes und ist von Bedeutung für die Schulgeschichtsforschung. – Die den Schulprogrammen beigefügten Statistiken über die Stundentafel, die soziale Herkunft der Schüler, ihre Studienwünsche sind von Interesse für die historische Bildungsforschung und liefern Informationen zum Verhältnis von Sozialstruktur und Universitätszugang. – Die Hinweise auf den Buchbestand bzw. den »Stand des Lehrapparats« sind für die Buch- und Bibliothekswissenschaft von Bedeutung. – Die Untersuchung der Schulprogramme erlaubt eine Rekonstruktion der detaillierten Lehrinhalte für alle Klassen des Gymnasiums und für alle Fächer; in diachroner Perspektive wird es möglich, die Entwicklung eines Faches über einen bestimmten Zeitraum an einer Schule, den Schulen eines Landes usw. zu bestimmen. – Die Informationen über Lehrer, Schüler, soziale Herkunft sind von Interesse für die historische Forschung sowie die Biographieforschung insbesondere im 19. Jahrhundert. – Die Aussagen zur wissenschaftlichen Biographie der Lehrer und ihrer Publikationen lässt Rückschlüsse zu über das Verhältnis von höheren Lehranstalten und Universität. – Für die Geschichte des Deutschunterrichts werden Quellen einsehbar, die die Chance bieten, ein weitaus präziseres Bild zu liefern, als dies bislang vorliegt. Man kann beispielsweise mit Blick auf den Kanon zeigen, auf welche Weise die Kanonisierung über einen bestimmten Zeitraum in einem einzelnen Gymnasium, den Gymnasien einer Stadt, einer Provinz, einem Land aussieht. Die gestellten Aufsatzthemen lassen Rückschlüsse auf den Unterricht wie Schwerpunktsetzungen zu. – Für Untersuchungen zum kulturellen Gedächtnis und zur historischen Kanonforschung liefern die Programme empirisches Material, das Aussagen zulässt über die Art und Weise der Gedächtnisbildung und Kanonisierung von Klassikern wie Lessing, Goethe, Schiller. – Nicht zuletzt ist die Untersuchung von Schulprogrammen von Bedeutung für systemtheoretische Forschungen und die Frage, auf welche Weise spezifische Text­ sorten mit zur Etablierung eines Systems beitragen.12 In Verbindung damit sind Schulprogramme ein Gegenstand, der für textlinguistische Arbeiten zu Textsorten 12 Siehe dazu Gansel, Christina: Textlinguistik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011 (UTB Profile) sowie Dies. (Hg.): Textsorten und Systemtheorie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008.

16

Zu Rolle und Funktion von Schulprogrammen

Relevanz besitzt. Es handelt sich um eine Textsorte, die mit ihren Rubriken (u. a. Allgemeine Lehrverfassung, Verzeichnis der Aufsatzthemen, Stand des Lehrapparats, Statistische Übersichten in Tabellenform) ›informierenden und verzeichnenden Charakter‹ besitzt.13

4. Bibliographische Situation und mögliche Quellenauswertung In einem gewissen Widerspruch zur Vielfalt an Informationen, die für eine Reihe von Wissenschaftsdisziplinen aus den Schulprogrammen zu gewinnen sind, steht die »Logistik der Quellenbeschaffung«. Aussagen zur Bestandsgröße wie zur Klassifikation von Schulprogrammen bzw. Sammlungen finden sich im »Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland«. Die Universitätsbibliothek Gießen verfügt über den am besten organisierten Bestand von inzwischen mehr als 70.000 Schulprogrammen deutschsprachiger Gymnasien im Zeitraum insbesondere von 1825 – 1918. Der Bestand ist katalogisiert und digitalisiert. Mit der fünfbändigen Bibliographie von Franz Kössler ist der deutschlandweit umfangreichste Sammlungsbestand von Schulprogrammen nach Verfassern der wissenschaftlichen Abhandlungen erfasst. Die von der Universitätsbibliothek Gießen erarbeitete Internet-Präsentation erlaubt systematische Recherchen anhand von Schlagwörtern. Eine Orientierung für regionale Eingrenzungen bietet Band 4 des Kössler-Katalogs, der ein »alphabetisches Verzeichnis der Schulen, deren Programme (Titel der wissenschaftlichen Arbeiten) in dieser Bibliographie verzeichnet sind« enthält.14 In der Forschung selbst wird der Bestand der Universitätsbibliothek Gießen als »perfekt organisiert« eingeschätzt und als Ausnahme bewertet.15 Dies zeigt exemplarisch ein Vergleich mit anderen Sammlungen. So heißt es zur Datenbank der im Online-Katalog präsentierten Schulprogrammsammlung der Frankeschen Stiftungen zu Halle/Salle: »Zum Bestand der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen gehört eine Sammlung von Schulprogrammen, vor allem des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Sie entstand durch Schriftentausch der Stiftungsschulen mit zahlreichen auswärtigen Lehranstalten. Im November 1998 wurde mit der Erstellung des Katalogs begonnen, derzeit sind etwa 13.800 der rund 30.000 Programmabhandlungen in dieser Aufsatzdatenbank erfasst. Thematisch sind die Titel durch Sachgruppen (Register 7) erschlossen.« Schließlich gibt es den abschließenden Hinweis: 13 Jakob, Schulprogramme. In: Korte u. a., »Die Wahl der Schriftsteller ist richtig zu leiten«. 2005, S. 146. 14 Kössler: Verzeichnis von Programmabhandlungen deutscher, österreichischer und schweizerischer Schulen der Jahre 1825 – 1918. München, London u. a.: Saur 1987. Bd. 4, S. 508 – 537. Einschränkend ist zu sagen: Kössler verzeichnet mehr als 50.000 Schulprogramme, allerdings nur jene, die eine wissenschaftliche Abhandlung enthalten. Schulprogramme, die keine Abhandlung enthalten, sondern lediglich den Jahresbericht, wurden nicht aufgenommen. 15 Jakob, Schulprogramme. In: Korte u. a., »Die Wahl der Schriftsteller ist richtig zu leiten«. 2005, S. 142. Der Hinweis auf den »perfekt organisierten Bestand« in Gießen findet sich auch in Einschätzungen anderer Bibliotheken.

17

Carsten Gansel

»Die Datenbank ist als ›work in progress‹ zu verstehen.«16 Dies trifft auch für sehr umfangreiche Bestände zu, die – anders als in Gießen – bibliographisch noch nicht erschlossen sind.17 Die Bibliothek der Hansestadt Lübeck hat im Rahmen des DFGFörderprogramms »Erschließung von Spezialbeständen« ihre fast 40.000 Schulprogramme katalogisiert, eine Online-Nutzung wie in Gießen freilich ist nicht möglich.18

16 Siehe die Informationen unter www.uni-giessen.de/ub/kataloge/schulprogramme.html. 17 In der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel lagern ca. 50.000 Schulprogramme für den Zeitraum von 1870 – 1914. Der Bestand ist bibliographisch nicht erfasst und somit nicht erschlossen. Aufgrund von Baumaßnahmen erfolgte eine Auslagerung des Bestandes. Nach Auskunft von C. Minners-Knaup von der HAB Wolfenbüttel wird aufgrund fehlender Lagerkapazitäten ein Zugriff erst mit dem geplanten Neubau absehbar sein. 18 Siehe: Kochendörfer, Siegrid/Smolinski, Elisabeth/Schweitzer, Robert: Katalog der Schulprogrammsammlung der Stadtbibliothek Lübeck. Lübeck 2000 (Veröffentlichungen der Stadtbibliothek Lübeck; Reihe 3, Band 12: Verzeichnisse).

18

Abb. : Titelblatt der Schulprogrammschrift des königlichen Progymnasiums zu Hohenstein/Preußen für das Schuljahr –

Abb. : Titelblatt der Programmschrift des Realgymnasiums am Zwinger zu Breslau für das Schuljahr –

Abb. : Verteilung des Unterrichtsstoffes am königlichen Progymnasium zu Hohenstein/Preußen im Schuljahr –

Abb. : Schulstoff für das Schuljahr – des Realgymnasiums am Zwinger zu Breslau

Abb. : Schülerstatistik des nieder-österreichischen Landes-Realgymnasiums in Oberhollabrunn für das Schuljahr –

Abb. : Schülerstatistik des Berlinischen Gymnasiums zum grauen Kloster für das Schuljahr /

Carsten Gansel und Mike Porath Gotthold Ephraim Lessings »Emilia Galotti« auf den Höheren Schulen und in Schulprogrammschriften zwischen 1851 und 1904

Lessing avanciert ab Beginn des 19. Jahrhunderts zum kanonisierten Autor und wird in vielfältiger Weise im kollektiven Gedächtnis gepflegt. Einen entscheidenden Anteil an der Inthronisierung von Lessing im kollektiven Gedächtnis hat die ›Institution Schule‹, und dies meint im Kontext von Kanonisierungsprozessen im 19. Jahrhundert das Humanistische Gymnasium, dann in der historischen Entwicklung natürlich das Realgymnasium und die Oberrealschulen.1 Neben »Nathan der Weise« und »Minna von Barnhelm« ist »Emilia Galotti« jenes Stück, das Eingang in den gymnasialen Deutschunterricht findet, aber auch auf dem Theater immer wieder zu Neuinszenierungen reizt. Dabei hängt die Wertschätzung der »Emilia Galotti« in der Schule zweifellos mit der Aufwertung des Faches Deutsch an den Gymnasien zusammen. In diesem Rahmen ist zu beachten, dass der Deutschunterricht am Humanistischen Gymnasium erst in einem längeren Prozess zu einem zentralen Fach wurde. Bis weit ins 19. Jahrhundert spielte das Latein mit ca. zehn Wochenstunden die entscheidende Rolle. Der Deutschunterricht hatte demgegenüber zunächst einen Anteil von zwei, später drei bzw. vier Wochenstunden. Otto Lyon machte 1906 im »Handbuch für Lehrer der Höheren Schulen« zurückhaltend darauf aufmerksam, dass »fast in allen deutschen Staaten der Unterricht im Deutschen heute noch mit einer etwas zu geringen Stundenzahl bedacht« sei.2 Für die verschiedenen Formen des Gymnasiums gibt er eine Übersicht, die auf die einzelnen deutschen Länder bezogen ist. 1 Freilich ist zu beachten, dass es sich bei der ›Institution Schule‹ wiederum um einen ausdifferenzierten ›Kulturraum‹ handelt und gesellschaftliche Modernisierungsprozesse in den verschiedenen Schulformen jeweils spezifische Folgerungen zeitigten. Mitgedacht werden muss durchweg die Differenz zwischen den so genannten ›niederen Schulen‹ (Volks- und Mittelschulen) und den höheren Schulen (Humanistische Gymnasien, Realgymnasien, Oberrealschulen). Die Rolle von Lessing für die ›niederen Schulen‹ kann in diesem Zusammenhang vernachlässigt werden, da eine umfassende Behandlung des Autors – mit Ausnahme der Fabeln – erst in der Oberstufe bzw. im Gymnasium einsetzt (vgl. dazu ausführlich: Gansel, Carsten: »Das Herz geht uns auf, wenn wir von Lessing hören oder ihn lesen« – G. E. Lessing im Kulturraum Schule um 1900. In: Albrecht, Wolfgang/Schade, Richard E. (Hgg.): Mit Lessing zur Moderne. Soziokulturelle Wirkungen des Aufklärers um 1900. Kamenz 2004, S. 205 – 222). 2 Lyon, Otto: Der deutsche Unterricht. In: Handbuch für Lehrer der Höheren Schulen. Leipzig und Berlin: B. G. Teubner 1906, S. 170 – 214, hier: S. 173.

25

Carsten Gansel und Mike Porath

Abb. : Stundenzahlen Deutsch an den Gymnasien

Lyon verweist dabei darauf, dass der Stundenplan für den deutschen Unterricht an den »Reformrealgymnasien« günstig gestaltet sei und betont: »Da diese Anstalten in den Klassen VI – IV kein Latein, sondern nur Französisch haben, so ist hier die grundlegende sprachliche Schulung überhaupt, auch die grammatische, dem Unterrichte in der Muttersprache zugewiesen.«3

Erst in Verbindung mit einer Stärkung des Faches Deutsch ab Mitte des 19. Jahrhunderts kam ein Kanonisierungsprozess in Gang, der sich auf die deutsche Literatur 3 Ebd., S. 174.

26

Lessings »Emilia Galotti« auf den Höheren Schulen und in Schulprogrammschriften

bezog. Das Spektrum reicht vom Nibelungenlied über Luther, Herder, Klopstock bis zu Lessing, Goethe, Schiller. »Minna von Barnhelm« und »Emilia Galotti« galten dabei als jene Stücke, die die Ausbildung eines deutschen Nationaltheaters »praktisch angebahnt« hätten.4 Die Wertschätzung, die Lessings »Emilia Galotti« erfuhr, verdankte sich sicher auch den Bewertungen von Goethe. Der notiert vierzig Jahre nach der Erstaufführung der »Emilia Galotti«: »Das Stück ist voller Verstand, voller Weisheit, voller Blicke in die Welt und spricht überhaupt eine ungeheure Kultur aus, gegen die wir jetzt schon wieder Barbaren sind. Zu jeder Zeit muß es neu erscheinen.«5

Viele Jahre später – im Briefwechsel mit Karl Friedrich Zelter – bezog sich der nunmehr achtzigjährige Goethe auf seine früheren Wertungen des Stückes. In einem Brief vom 27. März 1830 an Zelter beschreibt er die damalige wie die aktuelle Sicht auf die »Emilia Galotti«, er umreißt die Bedeutung des Stückes und wagt eine Prognose zur möglichen Wirkung in der Gegenwart: »Dein reines eignes Verhältnis zu ›Emilie Galotti‹ soll Dir nicht verkümmert werden. Zu seiner Zeit stieg dieses Stück wie eine Insel Delos aus der GottschedGellert-Weissischen pp. Wasserflut, um eine kreisende Göttin barmherzig aufzunehmen. Wir jungen Leute ermutigten uns daran und wurden deshalb Lessing viel schuldig. Auf dem jetzigen Grade der Kultur kann es nicht mehr wirksam sein. Untersuchen wir’s genau, so haben wir davor den Respekt wie vor einer Mumie, die uns von alter hoher Würde des Aufbewahrten ein Zeugnis gibt.«6

4 Vgl. Gansel, »Das Herz geht uns auf«. 2004, ebd. Siehe auch weitere Beiträge des Verfassers zur Lessing-Rezeption im Kontext Schule: Gansel, Carsten: G. E. Lessing im ›kulturellen Gedächtnis‹ und im Kanon zwischen 1800 und 1900. In: Feuchert, Sascha/Jablkowska, Joanna/Riecke, Jörg (Hgg.): Literatur und Geschichte. Festschrift für Erwin Leibfried. Frankfurt a. M. u.  a.: Peter Lang 2007, S. 305 – 324; Ders.: »Unsere Dichter sind die Dolmetscher der Volksseele« – G. E. Lessing im Lesebuch der höheren Schulen zwischen 1800 und 1914. In: Korte, Hermann/Zimmer, Ilonka (Hgg.): Das Lesebuch 1800 – 1945. Ein Medium zwischen literarischer Kultur und pädagogischem Diskurs. Frankfurt a. M. u.  a. 2006, S. 89 – 102; Ders.: »Lebensideal der tätigen Energie« – Gotthold Ephraim Lessing als Kanonautor im ›Kulturraum‹ Schule zwischen 1800 und 1900. In: Korte, Hermann/ Zimmer, Ilonka/Jakob, Hans-Joachim (Hgg.): »Die Wahl der Schriftsteller ist richtig zu leiten.« Kanoninstanz Schule. Eine Quellenauswahl zum deutschen Lektürekanon in Schulprogrammen des 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2005, S. 81 – 97. Zuletzt Ders.: Zur Wirkungsgeschichte von G. E. Lessings »Minna von Barnhelm« an den Höheren Lehranstalten des 19. Jahrhunderts oder Wie man in der Geschichte des Deutschunterrichts eine »Meisterzählung« konstruiert und bis in die Gegenwart ›falsch‹ erzählt. In: Dawidowski, Christian (Hg.): Bildung durch Dichtung – Literarische Bildung: Bildungsdiskurse literaturvermittelnder Institutionen um 1900 und um 2000. Frankfurt a. M.: Lang 2013. (= Beiträge zur Geschichte des Deutschunterrichts; Bd. 69), S. 119 – 142. 5 Zitiert bei Fischer, Kuno: G. E. Lessing als Reformator der deutschen Literatur. Zweite Auflage. Berlin 1904, S. 186. 6 Zitiert nach: Der Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter. Hrsg. von Max Hecker. 4 Bde. Bd. 3 (1828 – 1832). Leipzig 1918, S. 276.

27

Carsten Gansel und Mike Porath

Goethe glaubte nunmehr, Lessings »Emilia Galotti« würde in der Gegenwart, also um 1830, lediglich Achtung genießen, weil es – so könnte man sagen – im kulturellen Gedächtnis archiviert wird. Lässt man einmal Goethes Verhältnis zu Lessing außer Betracht,7 dann sieht er, dass Lessings »Emilia Galotti« im ›bewohnten Gedächtnis‹, mithin dem Funktionsgedächtnis, seinen Platz hat. Gleichwohl glaubt der greise Goethe, dass Lessing zukünftig aus dem Funktionsgedächtnis herausfallen wird, weil sich für die »Emilia Galotti« keine Träger bzw. Institutionen mehr finden würden, die sie ›pflegen‹. Die Entwicklungen nach 1830 zeigen, dass Goethe hier irrt. Lessing avanciert ab Mitte des 19. Jahrhunderts zum kanonisierten Autor und wird in vielfältiger Weise im ›kollektiven‹ bzw. ›kulturellen Gedächtnis‹ tradiert. Und neben »Minna von Barnhelm« und »Nathan der Weise« wird vor allem die »Emilia Galotti« jenes Stück sein, das immer wieder zu Neuinterpretationen und Neuinszenierungen reizt. »Die Erscheinung der Emilia Galotti«, so stellt der Lessing-Forscher Kuno Fischer in seiner grundlegenden Studie »Lessing als Reformator der deutschen Literatur« (1881) heraus, »war die Geburt der modernen deutschen Tragödie«.8 Man kann entsprechend feststellen, dass bereits Ende des 19. Jahrhunderts »Emilia Galotti« durchweg im Deutschunterricht präsent ist. Diese Tatsache stellt auch Otto Lyon 1906 im »Handbuch für Lehrer der Höheren Schulen« heraus, das als repräsentativ gelten kann und Rückschlüsse über den Stand der Kanonbildung zulässt, in deren Zentrum nunmehr schon Goethe und Schiller stehen. »Klopstock, Lessing und Herder müssen in ihrer außerordentlichen Bedeutung für die deutsche Geistesbildung […] in ihren Hauptwerken gezeigt werden, als Bahnbrecher, die zu Schiller und Goethe hinführen«, so die Position. Und zu Lessing heißt es entsprechend: »Bei Lessing lege man den Schwerpunkt auf seine Emilia Galotti und Minna von Barnhelm, die beiden herrlichen Grundlagen der neuen deutschen Tragödie und des deutschen Lustspiels sowie auf einzelne Abschnitte aus seinem Laokoon, seinen Literaturbriefen und seiner Hamburgischen Dramaturgie, die wegen ihrer köstlichen Sprache unsterblich sind, auch wenn sie in ihren ästhetischen Anschauungen nicht allenthalben mehr zutreffen.«9

Umso mehr muss erstaunen, dass diese Wertschätzung, die das Stück im gymnasialen Deutschunterricht erfährt, bis in die Gegenwart in den maßgeblichen Darstellungen zur Wirkung Lessings schlichtweg nicht wahrgenommen wird und statt dessen falsche Verallgemeinerungen zu seiner Rolle im schulischen Kontext geliefert werden. In dem ansonsten – das sei erneut betont – verdienstvollen und konzisen »LessingArbeitsbuch« finden sich im Kapitel »›Für Schüler ungeeignet‹ (Der Schulautor und die konfessionelle Orthodoxie)« gleichermaßen pauschale wie unzutreffende Aussagen auch zur »Emilia Galotti«: 7 Siehe dazu: Barner, Wilfried: Goethe und Lessing. In: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. I. Philologisch-Historische Klasse. Jahrgang 2000, Nr. 4, S.  3 – 30. 8 Fischer, Lessing als Reformator. 1904, S. 186. 9 Lyon, Der deutsche Unterricht. 1906, S. 209.

28

Lessings »Emilia Galotti« auf den Höheren Schulen und in Schulprogrammschriften »Der communis opinio gilt Minna von Barnhelm als das für die Behandlung im Unterricht geeignetste Stück, am Nathan und an Emilia Galotti scheiden sich die Geister. Die Problematik dieser Stücke könne die Schüler gefährden. August Brunners Schlußurteil über Emilia Galotti stellt fest: ›Aber es weht eine schwüle Luft durch das Drama, die wir unsere Schüler nicht gern atmen lassen, und die verstohlene Glut, die in Emilia brennt, ist und bleibt verfänglich‹ (Brunner, Lessing als Schullektüre, in Blätter für das Gymnasialwesen 52, 1916, S. 122)«.10

Diese Einschätzung zur vermeintlichen Rolle der »Emilia Galotti« im Deutschunterricht im 19. und frühen 20. Jahrhundert reduziert – wie schon bei »Nathan der Weise« und »Minna von Barnhelm« – die gleichermaßen lebendige wie umfangreiche Diskussion auf eine einzige Auffassung. Die von Brunner 1916 geäußerte Auffassung ist keineswegs neu, sie gehörte zur Diskussion um das Stück und basiert auf Überlegungen von Franz Kern, der in seinem Band »Deutsche Dramen als Schullektüre« bereits 1886 die »Emilia Galotti« für den Deutschunterricht nicht empfehlen wollte. Seine Argumentation, die die existierenden kritischen Stimmen aufgreift, votiert für eine Kenntnis des Stückes, aber mag eine Behandlung nicht befürworten, und dies aus folgendem Grund: »Wie sollte der Schüler sich hineinversetzen in die Stimmung der Lessingschen Emilia, die an ihrem Hochzeitstage, der zugleich der Todestag ihres Verlobten ist, mit den Vorstellungen einer übermächtigen Sinnlichkeit ringend, keinen anderen Ausgang weiß, ihre Reinheit zu bewahren, als den Tod. An diesem Tage dieser Tumult in ihrer Seele; also welches Minimum von Liebe zu Appiani – und nun der Dolch die einzige Rettung! Wie soll der Schüler, könnte er auch, was nicht zu wünschen ist, sich in diese so ganz unzeitige und darum unzureichend motivierte Stimmung hineindenken, zugleich die That des Vaters begreiflich finden, der auf das leidenschaftliche Wort der Tochter hin davon felsenfest überzeugt ist, daß ihre Tugend erliegen müsse, wenn sie am Leben bleibt. Zwei Seelenzustände, die ich wenigstens keinem Schüler klar machen kann, weil sie meiner eigenen Empfindung fremd sind. Und nun die unerquicklichen, trostlosen, äußeren Zustände, die durch die Handlung des Dramas geschaffen sind. Odoardo, ein dem Richterspruch des Prinzen verfallener Verbrecher, Marinelli nur ungnädig entlassen, seine lichtscheuen Werke weiter treibend und vielleicht bald genug wieder am Hofe des Prinzen selber, der Prinz die Handlung abschließend mit einer nichtssagenden Redensart über die menschliche Schwäche, die er seufzend in sich anerkennt, und die menschliche Bosheit, über die er sich weit erhaben weiß […] Die drückende Schwüle, welche der Katastrophe vorangeht, die Situation, welche durch dieselbe geschaffen ist, sollte uns hindern, dieses Stück jemals eingehend zu besprechen. Kenntnis muß ja der Schüler von dem Drama haben, aber zur Klassenlektüre in dem vorher angegebenen Sinne ist es gänzlich ungeeignet.«11

10 Barner, Wilfried/Grimm, Gunter E./Kiesel, Helmuth/Kramer, Martin: Lessing. Epoche – Werk – Wirkung. München: C. H. Beck 1998 (6. Aufl.), S. 409. [Im Weiteren als: Barner u.  a. 1998.] 11 Kern, Franz: Deutsche Dramen als Schullektüre. Berlin 1886, S. 10.

29

Carsten Gansel und Mike Porath

Offensichtlich ist, dass die von Gunter E. Grimm im Arbeitsbuch zitierte Position von Brunner ihren Ursprung bei Kern hat. Nun muss man aber betonen, dass Kerns Auffassung keineswegs die gültige Meinung darstellte und es zu Ende des 19. Jahrhunderts eine Reihe von Forschern gab, die die »Emilia Galotti« mit guten Argumenten als Schulgegenstand verteidigten. Dazu gehörte Otto Frick mit seinen für die Gymnasien einschlägigen Bänden »Aus deutschen Lesebüchern«. Als fünfter Band war der »Wegweiser durch die klassischen Schuldramen« erschienen. Nach dem Tod von Otto Frick12 sah sich sein Sohn Georg Frick in der Pflicht, »das Werk [s]eines verstorbenen Vaters in wissenschaftlicher und methodischer Hinsicht auf seiner Höhe zu erhalten«.13 Otto Frick verweist in der Einleitung zur »Emilia Galotti« – und dies gilt es zu betonen – auf die einschlägige Sekundärliteratur und notiert: »Wir nennen von den zahllosen Erläuterungen nur H. Dünzer, Lessings Emilia Galotti erläutert, 3. Aufl., Leipzig und die daselbst aufgeführten Schulprogramme«.14 Auf die Beiträge aus Schulprogrammen – es sind dies die auch in dieser Edition abdruckten Texte von Hölscher, Nölting, Arnold, Heidemann, Dietrich und Rohleder – wird also explizit verwiesen, was einmal mehr unterstreicht, dass die wissenschaftlichen Abhandlungen in der damaligen Forschung zu Lessing wahrgenommen wurden. Dazu gehören ausdrücklich auch jene Beiträge, die für die ›Institution Schule‹ gedacht waren bzw. von Gymnasialprofessoren verfasst wurden. Es muss daher verwundern, dass diese differenzierten Auffassungen zur »Emilia Galotti« bislang nicht im Rahmen der Wirkungsgeschichte hinreichende Beachtung gefunden haben. Otto Frick nun leitet seine Vorbemerkungen zur »Emilia Galotti« wie folgt ein: »Über keines der klassischen Dramen gehen die Auffassungen bis in die neueste Zeit hinein so sehr auseinander, als über die Emilia Galotti«.15 Eine vergleichbare Position markiert auch Friedrich Widder, dessen Aufsatz im »Jahresberichte des Grossh. Gymnasiums in Lörrach vom Schuljahre 1896/97« abgedruckt war. Bereits in der Titelgebung zeigt Widder an, in welchem Maße das Stück über Jahrzehnte Gegenstand der wissenschaftlichen Beschäftigung gewesen ist. »Emilia Galotti und kein Ende« ist der Beitrag überschrieben.16 Auch Frick geht also von den Diskussionen um das Drama aus und denkt im Weiteren darüber nach, »ob das Drama in den Unterricht der höheren Schulen gehört oder nicht (didaktische Berechtigung des Stoffes)«. Entsprechend fragt er, ob die »Auffassung von Fr. Kern wirklich die einzig zulässige oder gar richtige« sei. Wenn dies zuträfe, dann hätte er »freilich recht, die Lektüre dieses Dramas aus der Schule zu 12 Otto Frick war Direktor der Franckeschen Stiftungen in Halle. 13 Frick, Georg: Vorwort zur dritten Auflage. In: Frick, Otto: Wegweiser durch die klassischen Schuldramen für die Oberklassen der höheren Schulen. Erste Abteilung. Lessing – Goethe. Dritte, durchges. u. erweiterte Auflage hrsg. von Georg Frick. Gera, Leipzig 1898, S. V. 14 Ebd., S. 34. 15 Ebd. 16 Widder, Friedrich: Emilia Galotti und kein Ende. Wissenschaftliche Beilage zum Jahresberichte des Grossh. Gymnasiums in Lörrach vom Schuljahre 1896/97. Lörrach: Buch­ druckerei von C. R. Gutsch 1897, S. 3 (in diesem Band S. 277 – 292).

30

Lessings »Emilia Galotti« auf den Höheren Schulen und in Schulprogrammschriften

verbannen«.17 Otto Frick mag den Positionen von Kern in keiner Weise zustimmen und entwickelt entsprechend eine Gegenposition, die sich wie folgt ausnimmt:  »Da wir indessen seine Auffassung für durchaus einseitig und unrichtig halten, da unsere Auffassung jene von Kern angedeuteten, bedenklichen Vorstellungen gar nicht aufkommen läßt, so ist für uns kein Grund vorhanden, die Dichtung von dem Kanon der klassischen Schuldramen auszuschließen, und bei der Bedeutung, die dieses Drama als die erste echte deutsche Tragödie für die gesamte deutsche Literaturgeschichte hat, für die Einsicht in die dichterische Entwicklung Lessings, endlich für das Verständnis der dramatischen Technik, sowie eines der Hauptfaktoren in dem Begriff des Tragischen, der Erhabenheit nämlich des sittlichen Willens, scheint uns diese Lektüre auch unterrichtlich von besonderem Werte zu sein. Sie wird, wie diejenige des Philotas, propädeutisch für die weitere Entwicklung des Tragischen, in dessen Verständnis einzuführen und als eine so wichtige Aufgabe gilt, und gelehrt insofern als ein notwendiges Glied in die Reihe der übrigen ausgesonderten Schuldramen hinein.«18

Frick stellt mithin die literaturgeschichtliche Bedeutung des Stückes heraus und betont die Rolle des Textes für das Schaffen Lessings. Zudem sieht er die Chance, gerade über die »Emilia Galotti« Einsichten in die Technik des Dramas zu vermitteln und am exemplarischen Beispiel ein Verständnis für grundlegende Kategorien wie den Begriff des Tragischen oder der Erhabenheit bei den Schülern zu schaffen. Die Dringlichkeit, »Emilia Galotti« im Unterricht zu behandeln, wird schließlich auch mit der Möglichkeit begründet, einen stofflich-thematischen Bezug zu anderen Texten herzustellen, und dies meint: »1. Mit allen denjenigen, welche den Ehrbegriff in besonderer Weise herausstellen, den wir mit F. Schiller […] für einen der fruchtbarsten Konzentrationspunkte halten; 2. Mit denjenigen, welche die Annäherung des Revolutionszeitalters ankündigen (Götz von Berlichingen, die Anfangsdramen Schillers); wie die Lessingschen Vorbilder aus Emilia Galotti im Fiesko und Kabale und Liebe wiederkehren, wird bei Betrachtung dieser Dramen zu sagen sein.«19

Entsprechend folgert Frick, dass die Lektüre der »Emilia Galotti« »sehr wohl geeignet [ist], in der Gesamt-Bildungsarbeit der obersten Unterrichtstufe eine fruchtbare Stellung einzunehmen«.20 Die nachfolgende Darstellung ist ausgesprochen detailliert, sie macht Aussagen zur Entstehungsgeschichte, diskutiert die Entwicklung des Themas, angefangen bei der Exposition, über die Figurenanlage, die Eingangsszene, die Szenengruppen, die Haupthandlung, die Aufzüge bis hin zu einer Zusammenfassung »des Gewinns der Betrachtung«.21 Otto Frick ist allerdings keineswegs der einzige, der Vorschläge zur Behandlung der »Emilia Galotti« im Unterricht macht. Betrachtet man die verschiedenen Dar17 Frick, Wegweiser durch die klassischen Schuldramen, 1898, S. 34 f. 18 Ebd., S. 35. 19 Ebd. 20 Ebd., S. 36. 21 Vgl. ebd., S. 36 – 88.

31

Carsten Gansel und Mike Porath

stellungen, die das Stück im Deutschunterricht an höheren Schulen einsetzen wollen, dann zeigen sich folgende Tendenzen: Selbst bei denen, die die »Emilia Galotti« dann letztlich nicht für die Behandlung in der Schule als geeignet empfinden, wie dies bei Rudolf Lehmann der Fall ist, wird die »tiefe künstlerische Weisheit, der berechnende Kunstverstand« Lessings hervorgehoben, der gewissermaßen »Stein auf Stein« baut. Daraus wird für den Deutschunterricht der Schluss gezogen, dass es einer bis ins »einzelne gehenden Beschäftigung« mit dem Drama bedarf, weil es sich nur dann »ganz enthüllen« würde.22 Da aber genau dies in der Schule nur bedingt zu leisten sei, eigne sich das Werk nicht für den Unterricht. Ähnlich wie Kern hält es Lehmann nicht für möglich, dass die Schüler in der Lage seien, sich »in die Motive, die den Odoardo zur Ermordung Emilias treiben, oder in die leidenschaftlichen Verwirrungen der Orsina zu vertiefen und sogar darüber zu schreiben«.23 Trotz der eingestandenen Schwierigkeit also, dem Text im Deutschunterricht hinreichend gerecht zu werden, überwiegt die uneingeschränkte Wertschätzung etwa über die »mustergültige Komposition«.24 Betrachtet man die Darstellungen, dann zeigt sich zweitens wie präzis man das Neue von Lessings Dramatik (an)erkennt. »Emilia Galotti« wird als »soziale Kritik« gelesen. »In letzter Hinsicht«, so Rudolf Lehmann, »ist darauf hinzuweisen, daß dieses Trauerspiel trotz seines italienischen Kostüms die Menschen und Verhältnisse deutscher Kleinstaaten des 18. Jahrhunderts widerspiegelt und mit ›Kabale und Liebe‹ in engster Verwandtschaft steht«.25 Die sozialkritische Komponente, die Lessing in Deutschland gewissermaßen zu einem Vorreiter macht, wird somit früh herausgestellt.26 In Verbindung damit werden »Emilia Galotti« und »Kabale und Liebe« in »engster Verwandtschaft« gesehen. Auch Paul Goldscheider streicht die soziale Komponente heraus und notiert in seiner die Diskussionen zusammenfassenden Darstellung: »Es ist das erste und das feinste von allen Revolutionsdramen. Die Hofgesellschaft vor der französischen Revolution!« Das Stück würde »für die literarische Würdigung […] zu den dankbarsten Gegenständen« gehören und »Spiegelbild der Zeitfragen« sein.27 Betont wird in diesem Zusammenhang auch, dass Lessing als »moderner Dichter« es nicht erträgt, in der jungen Frau ein »passives Opfer zu sehen, das der Vater 22 Lehmann, Rudolf: Der deutsche Unterricht. Eine Methodik für höhere Lehranstalten. Dritte, neu bearbeitete Auflage. Berlin 1909, S. 286. 23 Ebd., S. 287. 24 Ebd. 25 Ebd. 26 Siehe dazu Wilfried Barner, der herausstellt, dass Lessing um 1900 zunehmend als ein Pionier des sozialen Dramas erscheint. Ders.: Lessing um 1900 – Aspekte einer Klassikerkonstellation. In: Mit Lessing zur Moderne. Soziokulturelle Wirkungen des Aufklärers um 1900. Beiträge zur Tagung des Lessing-Museums und der Lessing Society im Lessing-Jahr 2004. Hrsg. von Wolfgang Albrecht u. Richard Schade. Kamenz 2004, S. 19 – 24. 27 Goldscheider, Paul: Lesestücke und Schriftwerke im deutschen Unterricht. München: C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck 1906, S. 82, 84. Von Interesse ist der Umstand, dass auch Goldscheider in seinen Vorschlägen für Sekundärliteratur auf Beiträge aus Jahresberichten verweist. Dazu gehören die Aufsätze von Rohleder, von Sanden oder Zimmermann.

32

Lessings »Emilia Galotti« auf den Höheren Schulen und in Schulprogrammschriften

hinschlachtet, ohne es auch nur zu befragen«.28 Entsprechend spielen die psychischen Abgründe, die sich vor Emilia auftun würden, eine Rolle. Mit der Übertragung des Virginia-Motivs in die bürgerliche Welt gründe die Katastrophe, so Marseille, nicht mehr in der brutalen Gewalt äußerer Verhältnisse, sondern sei Folge eines Konflikts, der im »Herzen der handelnden Personen« abläuft.29 Insofern existiert zu »Emilia Galotti« bereits zu diesem Zeitpunkt – das sei nochmals betont – eine Lesart, die das Stück durchaus als eine Art ›Psychodrama‹ einordnet. Die dahinterstehende Frage – sie gehört zu der am meisten gestellten in der Forschung nicht nur des 19. Jahrhunderts – könnte modisch so bezeichnet werden: Emilia zwischen Frömmigkeit und Lust. Mit anderen Worten: Wählt Emilia möglicherweise den Tod, weil sie sich sexuell vom Prinzen angezogen fühlt und fürchtet, der Verführung nicht standhalten zu können? Die nachfolgend edierten Beiträge aus Schulprogrammschriften zeigen einmal mehr, in welcher Weise diese Aspekte des Stückes von den Forschern herausgestellt werden und welche Antwort sie jeweils geben.

Lessings »Emilia Galotti« in Schulprogrammen des 19. Jahrhunderts. Quellentexte 1851 – 1904 Als spezifische Publikationsform – das sei wie schon in den Editionen zu »Nathan der Weise« und »Minna von Barnhelm« ausgeführt – spielen die Schulprogramme ab dem 18. Jahrhundert eine wichtige Rolle und erreichen besondere Wertschätzung ab den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts. In der ›Blütezeit‹ der Schulprogramme ab der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts sind G. E. Lessing und sein Werk ein bevorzugter Gegenstand der Darstellung. Die Inhalte der Beiträge geben dabei nicht nur Auskunft über die Inthronisierung Lessings im kulturellen Gedächtnis, sondern auch darüber, was an den jeweiligen höheren Schulen Unterrichtsstoff war und – das ist von herausgehobener Bedeutung – welche ›Deutungen‹ etwa mit Blick auf Lessing den Schülern vermittelt wurden. Für die nachfolgende Auswahl konnten aus dem Zeitraum von 1851 bis 1904 elf Beiträge aufgefunden werden, die bislang in der Wirkungsforschung zu Lessing keine Rolle gespielt haben und die hier erstmals ediert werden. Zu betonen ist auch hier, dass alle Beiträger ein Studium der altklassischen Philologie, der Germanistik, der Philologie oder der Geschichte absolviert hatten und teilweise promoviert waren. Zudem bekleideten sie herausgehobene Stellungen an den jeweiligen Lehranstalten und waren wissenschaftlich aktiv.30 Die Beiträge selbst dienten in erster Linie dem fachlichen Austausch, sie sollten zudem die Verbindung zwischen Schule und Öffentlichkeit fördern. 28 Siehe u.  a. Lehmann, Der deutsche Unterricht. 1909, S. 287. 29 Marseille, Gustav: Die Urbilder der Frauengestalten in Lessings Meisterdramen. In: JahresBericht über das Königliche Pädagogium zu Putbus. Ostern 1904. Putbus: Druck von R. Decker 1904, S. 13. (In diesem Band, S. 302.) 30 Siehe dazu die biobibliographischen Hinweise zu den Autoren im Anhang.

33

Carsten Gansel und Mike Porath

Eine Sichtung der Beiträge zur »Emilia Galotti« zeigt, dass sie zumeist auf das gesamte Stück eingehen; sie wenden sich dabei der Entstehungsgeschichte zu, ferner den für das Stück maßgeblichen historischen Kontexten, dem Aufbau der »Emilia Galotti«, und arbeiten Quellen heraus, an die Lessing thematisch oder dramaturgisch angeknüpft haben könnte. Mehrfach geht es um das Betonen der Leistung von Lessing, der der Gattung des Dramas neue Impulse gegeben habe. Die Aufsätze sind aus der eigenen Lehrtätigkeit hervorgegangen und geben somit gleichzeitig einen guten Einblick in die Schulrealität. Nachfolgend werden die Beiträge zur »Emilia Galotti« gesondert skizziert, wobei jeweils der Versuch gemacht wird, Bezüge zur aktuellen Lessing-Forschung herzustellen, mithin die Frage zu beantworten, wie die einzelnen Überlegungen, Einschätzungen und Ansichten der Schulmänner heute zu gewichten sind. Dazu werden in den Anmerkungen insbesondere die die Lessingforschung maßgeblich repräsentierenden Positionen aus dem von Wilfried Barner u.  a. verantworteten Arbeitsbuch »Lessing. Epoche – Werk – Wirkung« sowie von Monika Ficks »Lessing-Handbuch« einbezogen.31

Ludwig Hölscher – Ueber Lessing’s Emilia Galotti. 1851. In der Einladungsschrift zu der am 29. August gehaltenen öffentlichen Prüfung des Friedrichs-Gymnasiums zu Herford nebst Jahresbericht von 1851 geht es Ludwig Hölscher in seiner Analyse von Lessings »Emilia Galotti« sowohl um die handelnden Charaktere, als auch um ihre dramaturgische Verbindung. Auf diese Weise würden die entscheidenden Konflikte in der Tragödie herausgestellt und ihnen ein entsprechender Sinn zugewiesen.32 Besonders wichtig ist Hölscher die Rolle Marinellis, den er als die zentrale Figur des tragischen Verlaufs herausstellt.33 In diesem Zusammenhang gelangt er zu der These, dass der Prinz »kein Fürst, […] kein selbständiger Mann« (S. 85) sei, sondern eine Person, die zwar einer »wahren Liebe […] nicht fähig« (S. 86) sein würde, aber dennoch von Leidenschaft »hoch entflammt« (S. 87) werden könne. Dies sei die Grundlage dafür, »daß bei seiner Charakterlosigkeit leicht ein schlauer Verführer gefährlichen Gebrauch davon« (ebd.) machen könne. Diesen »schlauen Verführer« erkennt Hölscher in Marinelli,34 der sich durch »Schlangenklugheit« auszeichne und die »Heftigkeit« (ebd.) der Leidenschaft des Prinzen für sich ausnutze. Als Ursache 31 Fick, Monika: Lessing-Handbuch. 3. Auflage. Stuttgart: Metzler Verlag 2010 (im Weiteren jeweils unter Fick 2010); Barner u.  a. 1998. 32 Hölscher verfolgt damit nach Fick einen überwiegend psychoanalytischen Deutungsversuch; Fick spricht vom »psychologische[n] Dilemma« (vgl. ebd., S. 391 ff., 395 ff.). 33 Die intrigante Rolle Marinellis findet in der Forschung zwar Beachtung, aber hauptsächlich in Bezug auf die Gesellschaftskritik. So meinen z.  B. Barner u.  a., dass Marinelli »souverän« über die Herrschaftsmechanismen verfüge (vgl. Barner u. a. 1998, S. 209). Fick dagegen weist Marinelli eine »rein funktionale Rolle« zu (Fick 2010, S. 399). 34 Diese Interpretation passt zum Komödienschema der Commedia dell’arte, insofern Marinelli die Rolle des »Intriganten« erfüllt (vgl. ebd., S. 395).

34

Lessings »Emilia Galotti« auf den Höheren Schulen und in Schulprogrammschriften

dafür sieht Hölscher egoistische Ziele Marinellis. Sein »Hauptbestreben« (S. 88) bestehe darin, »auf seinem listig errungenen Platze stehen [zu] bleibe[n]« (ebd.), wozu ihn »Ehrgeiz und Haß […] gleichmäßig« (ebd.) trieben. Unter dieser Voraussetzung hat Lessing nach Hölschers Ansicht den darauffolgenden tragischen Prozess konstruiert. Marinelli sei »die eigentliche handelnde Person, der Prinz der Geleitete« (ebd.), wobei »die tragische Collision […] durch die Leidenschaft und die sie stachelnde Verführungskunst vorbereitet« werde (ebd.).35 Selbst »die Zufälligkeiten, die in die Absichten der Personen so bedeutungsvoll eingreifen« (ebd.), besäßen ihren Ursprung in dieser dramatischen Anlage und ergäben sich »von selbst aus dem Charakter der Personen und der Situation« (ebd.). So sei es auch nicht verwunderlich, dass eine Figur wie die des Odoardo, der ein »Mann von alter Römertugend ist« (S. 89), die Dramatik der Handlung zusätzlich steigere, weil er aufgrund seiner »rauhe[n] Tugend, die die Welt nicht nehmen kann wie sie« sei (ebd.). Er sehe stattdessen »in allem was seinen Wünschen nicht entspricht, böse Vorzeichen«. Auf diese Weise würde der Entwicklung des Geschehens eine »dunkele Färbung« (ebd.) gegeben.36 Aber nicht allein mit Odoardos Rigorosität sucht Hölscher den tragischen Schluss zu erklären, denn auch die Mutter der Emilia macht er dahingehend verantwortlich, weil sie »nur von Glück [träumt] und […] nichts von Gefahren« [ahnet] (S. 90), in die ihre Tochter nach dem Zusammentreffen mit dem Prinzen gerät (ebd.). Eben darum rät sie ihr ab, »alles dem Grafen zu gestehen« (S. 91).37 Hölscher folgert aus der Gehorsamkeit Emilias38 gegenüber ihrer Mutter Claudia zum einen den Bruch ihrer »unverbrüchliche[n] Pflicht der Offenheit gegen den Grafen, zu der ihr Gefühl sie drängte« (ebd.), zum anderen die fehlende Liebe Emilias diesem gegenüber, die eher aus »Achtung« bestünde, denn »liebte sie innig, so würde sie nichts fürchten, würde sich ganz an den Verlobten anschließen und aus dieser Hingebung Stärke gewinnen« (ebd.). Dass Emilia den Grafen Appiani jedoch eher achtet, anstatt ihn zu lieben, begründet Hölscher mit dessen »schwermüthige[m] Wesen« (ebd.), insofern sich – komplementär zum Prinzen – ebenso Appiani von äußeren Verhältnissen bedrängt sehe, die ihm die Hochzeit mit Emilia, d. h. die »unbequeme Stellung die er [dem] Prinzen gegenüber einnehmen wird« (S. 92), zum Teil verleiden würden.39 Diese moralische Voraussicht Appianis lasse ihn mit Marinelli opponieren, »der sich aus 35 Hölscher bezieht diese These vor allem auf die Dramatik des Stückes; in der Forschung wird der Prinz in Hinsicht seiner gesellschaftlichen Funktion durchaus als Handelnder verstanden (vgl. Barner u. a. 1998, S. 208 f.). 36 Fick führt in diesem Zusammenhang Gisbert Ter-Nedden (»Lessings Trauerspiele«, 1986) an, der ein »Sündenregister« Odoardos zusammenstellt (vgl. Fick 2010, S. 388). 37 Die Anklage, dass Claudia den tragischen Ausgang des Dramas mitverantworte, findet in der Forschung aufgrund der Psychologisierung des Charakters der Emilia kaum Widerhall; man konzentriert sich besonders auf die Verbindung zwischen Odoardo und Emilia. 38 Nach Barner u. a. ist Emilia in der Hauptsache gegenüber ihrem Vater Odoardo »leidend« gehorsam (vgl. Barner u. a. 1998, S. 212). Die Gehorsamkeit gegenüber ihrer Mutter Claudia legt die Forschung als weniger entscheidend aus. 39 Dieser Aspekt wird in der Forschung zugunsten von Appianis »empfindsame[n] Zügen« (ebd., S. 212) kaum beachtet.

35

Carsten Gansel und Mike Porath

seiner Höflingsnatur nicht herausdenken kann« (ebd.), wodurch sich die Tragödie des Grafen Appiani als Konsequenz des Antagonismus zwischen dessen »sittliche[r] Energie« und der »freche[n] Zudringlichkeit« (S. 93) Marinellis entspinnen würde: »wir sehen das Todesloos über den Grafen geworfen« (ebd.). Dieses dramaturgische Movens liefere laut Hölscher letztendlich nicht nur den Prinzen Marinelli so gut wie widerstandslos aus, es bedinge genauso die sich danach vollziehende Katastrophe, wenn »[d]as mächtigste Hinderniß aus dem Wege geräumt« [ist] (S. 94). Dabei würde sich Marinelli die Leidenschaft des Prinzen für Emilia zunutze machen40, indem der Prinz »selbst erst den Wunsch äußern [soll], daß der Graf ihm nicht mehr im Wege stehen möge« (ebd.). Ungeachtet dessen scheint dem Prinzen die durch den fingierten Raubüberfall erzwungene Anwesenheit Emilias nach Hölschers Ansicht zum Zwecke ihrer Gewinnung »nicht günstig« (ebd.), so dass er nur deshalb auf sie Eindruck machen würde, weil seine »lebhaften Betheuerungen [dass sie über ihn die ›unbeschränkteste Gewalt ausübe‹ (S. 95) – die Verf.] in dem Munde des jungen, vornehmen Mannes das weibliche Herz ergreifen« [müssen] (ebd.).41 Dadurch würde wiederum Emilia ihre »Schwäche der einnehmenden, magisch sie fesselnden Persönlichkeit des Prinzen gegenüber« (ebd.) einsehen.42 An diesem Punkt der dramatischen Zuspitzung würden »die zunächst bedrohten und zunächst an der Verwicklung mitschuldigen Personen die Gefahr erkennen, in der sie sich befinden« (ebd.), ohne jedoch aufgrund ihrer charakterlichen Veranlagung und der »weisen Anstalten« (S. 96) Marinellis ihr noch entkommen zu können. So habe sogar die Selbstständigkeit des Prinzen in Bezug auf das Treffen mit Emilia in der Kirche einen negativen Einfluss auf den nachfolgenden tragischen Verlauf genommen und dies insofern, als »die Leidenschaft sich selbst ihr Werk untergraben« und »jene für das ganze große Gewebe scheinbar so gleichgültige That die schwersten Folgen getragen« [hat] (ebd.). Dies lasse erkennen, »[w]ie schwach überhaupt der Grund ist auf dem die unsittlichen Mächte bauen« (ebd.).43 Ähnlich verhängnisvoll wie der Graf Appiani oder Odoardo wirke sich daher auch die durch den Prinzen gekränkte Leidenschaft der Gräfin Orsina auf den Handlungsverlauf aus, der Hölscher zwar »geistige und sittliche Erhabenheit« (S. 97) zugesteht, sie in ihrer »vollkommene[n] Trostlosigkeit« (ebd.) aber als fatales Werkzeug begreift.44 Orsina vereitle auf diese Weise auch den Plan Marinellis, »Appiani’s 40 Laut Fick handeln die Personen des Stücks alle »aus enttäuschter oder missverstandener Liebe heraus« (Fick 2010, S. 399), so dass Marinellis Kalkül gegenüber dem Prinzen hinsichtlich des dramatischen Fortgangs in der Forschung weniger zur Geltung kommt. 41 Fick verweist diesbezüglich auf Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716) und dessen Exploration der »Bedeutung der ›unbewußten Perceptionen‹« (ebd., S. 389). 42 Fick spricht sogar von »Emilias Angst vor dem männlichen Begehren« (ebd., S. 399). 43 In der Forschung wird der »selbstständige« Eingriff des Prinzen in die konkrete Handlung weniger thematisiert, hier steht der Prinz vor allem als unmittelbarer Auslöser der Tragödie im Mittelpunkt (vgl. ebd. 2010, S. 389 f., S. 395 ff.). 44 Hinsichtlich der Bedeutsamkeit der Figur der Orsina herrscht nach wie vor kein Konsens: Während Fick meint, Orsina gebe sich »hemmungslos ihren Rachephantasien« hin

36

Lessings »Emilia Galotti« auf den Höheren Schulen und in Schulprogrammschriften

Untergang außer Verbindung mit der Liebe des Prinzen zu setzen« (S. 98), wodurch wiederum Odoardo »sich von dem Sturme zur Raserei fortreißen« ließe (ebd.), die ihn dazu dränge, »das letzte Mittel zur Hand« (S. 99) zu nehmen. Trotzdem »schwank[e] er hin und her«, (S. 100) denn »dieser schnell aufflammenden Heftigkeit fehl[e] die nachhaltige Kraft« (ebd.), ehe ihn der Auftritt Emilias dazu bestimme, »in seiner Zerissenheit […] in sich das vom Himmel berufene Werkzeug« (ebd.) zu sehen.45 Die Stringenz der tragischen Leitlinie meint Hölscher vor allem durch Emilias Stolz »auf die Freiheit des Willens« (ebd.) und die sie verpflichtenden »unumstößlichen Forderungen des Sittengesetzes« (ebd.) gewahrt zu finden.46 Sie würde sich in ihrer Haltung dem Prinzen gegenüber »ihrer Unvollkommenheit bewußt« (ebd.), was sie mit der »Erbsünde« (S. 101) konfrontiere.47 Dieser religiös-ethische Umschlag manifestiere schließlich über Emilia das »Verdammungsurtheil« (ebd.), das sie gerade deshalb über sich herausfordere, um der »Gefahr der Befleckung ihrer Ehre« (S. 101) zu entgehen. Diese drohe ihr umso mehr, als »sich vor ihr die Sinnlichkeit als die Macht [erhebe,] der sie unterliegen kann« (ebd.).48 Folglich sei es die »Erhabenheit der sittlichen Idee« (ebd.), die Emilia ihren Vater in intentionaler »Erinnerung an die alte Römerthat« (S. 102) »das blutige Werk« (ebd.) vollbringen lasse.49 Hölscher interpretiert diesen Ausgang des Dramas sowohl in moralischer als auch in anthropologischer Hinsicht, wenn er einerseits im Sinne der Figur des Prinzen und Marinellis die »sündhafte Absicht und die schlauen Berechnungen des Verstandes […] durch die sittliche Freiheit überwunden« (S. 103), ja »in der Vernichtung jener Gewalten […] die sittliche Weltordnung in ihrer wahren Kraft« bewährt (S. 104) sieht.50 Andererseits findet er in Assoziation zu Lessings theaterpolitischen und poetologischen Überlegungen besonders gegenüber »der französischen Bühne« (ebd.) »die Sphäre des allgemein Menschlichen« (ebd.) betont. Und dies in folgender (ebd., S. 395), sind Barner u. a. der Ansicht, dass sie »eine der Anwaltsrollen des Autors und Kritikers Lessing« [verkörpert] (Barner u. a. 1998, S. 209). 45 Fick ist derselben Meinung: »Orsina und Odoardo berufen sich auf Gott und die Vorsehung, deren ›Absicht‹ sie zu erkennen glauben und auszuführen suchen« (Fick 2010, S. 397). 46 Nach Fick sieht Emilia in dem Kampf »um ihr Seelenheil […] den wahren Sinn und das Ziel ihres Lebens« (ebd.). 47 Laut Fick ist eine »religionskritische« Zugangsweise sehr erkenntnisreich (ebd., S. 397 ff.). 48 Auch Fick erkennt darin eine wichtige Intention Lessings, insofern »das Bedingungsverhältnis von Menschenbild und Gottesbild, das er in Emilia Galotti vorführt, die potentiell verheerenden Konsequenzen der Augustinischen Lehre auf[deckt]« (ebd., S. 398). 49 Trotzdem beruft sich Odoardo anschließend auf die göttliche Gerechtigkeit, auf die er nach Fick »fixiert« ist (ebd., S. 401), anstatt die »irdische Gerechtigkeit, die die Gesetze gewähren, einzufordern« (ebd.). Barner u. a. meinen, die »ewige[] Gerechtigkeit« sei der »poetischen Gerechtigkeit übergeordnet« (Barner u. a. 1998, S. 215). 50 In der aktuellen Forschung beurteilt man den Schluss längst nicht (mehr) so ›idealistisch‹, sondern erkennt in ihm eine »Kontrafaktur« sowohl zur Märtyrer- als auch zur Rachetragödie (vgl. Fick 2010, S. 398 f.), indem die »Überzeugung von der für den Menschen unüberwindlichen Macht der Sünde […] bei Lessing als die natürliche Ursache für die Lähmung der moralischen Widerstandskraft« fungiert (ebd., S. 398).

37

Carsten Gansel und Mike Porath

Hinsicht: Die Lösung sei »eine innerliche«, die »sich in Emilia« vollzieht, wodurch »der Zuschauer zu dem Bewußtsein seiner eigenen wahren Unendlichkeit« (S. 105) gebracht würde.51

Friedrich Theodor Nölting – Ueber Lessings Emilia Galotti. 1878. »Die Nothwendigkeit und Natürlichkeit der Katastrophe« (S. 107) in Lessings Drama steht im Zentrum der wissenschaftlichen Beilage »Ueber Lessings Emilia Galotti« von Friedrich Theodor Nölting. Der Aufsatz liegt dem Michaelis-Programm der Großen Stadtschule (Gymnasium und Realschule) zu Wismar von 1878 bei. Nölting führt an, dass Lessings Tragödie »zu immer erneueter Besprechung reizen« (ebd.) würde, und betont gegenüber einer dezidiert historischen Forschungsperspektive das klassische Verdikt, »die moderne Dichtung nur darauf anzusehen, ob und in wie weit sie sich durch sich selber rechtfertige« (ebd.).52 Dieser spezifisch philologische wie hermeneutische und weniger komparatistische Ansatz erscheint ihm nicht nur »für die Würdigung der Kunst des Dichters« (S. 108) geeigneter, er biete auch mehr Möglichkeiten zur Lösung des »psychologische[n] Räthsel[s]« (ebd.), das Emilias Tod dem Zuschauer bereite. Nölting will daher jede der Hauptfiguren des Dramas für sich in ihrer dramaturgischen Motivation und charakterlichen Konfiguration analysieren, ohne indes deren originale Voraussetzungen bei Livius oder Montiano zu übergehen. Dabei verweist er darauf, dass Lessing die politische zugunsten der psychologischen Komponente so gut wie vollständig ausgespart habe. Er sieht dies vor allem kompositorisch begründet, denn »[w]enn aus diesem Stoff [der Virginia-Episode des Livius – die Verf.] […] ein Drama gebildet werden sollte, so konnte entweder die Befreiung des Volkes […] die Hauptsache werden und die Geschichte mit der Virginia durfte dann nur die bescheidene Stellung eines Motivs einnehmen« (S. 109). Sollte aber der »Vorfall mit Virginia die Hauptsache sein, so konnte der politische Bestandtheil des Stoffes nicht zu voller Bedeutung gelangen« (ebd.).53 Nölting bewertet diesen »den 51 Die Forschung blickt etwas tiefer und weiter, indem sie die Leidenschaften oder »Wunschbilder der Figuren, von denen sie sich (an-)treiben lassen, als ›verworrene Perzeptionen‹ bzw. als undeutliche, affektgetrübte Vorstellungen vom Sinn des Ganzen, denen nicht der Wille zum Bösen, sondern das unvollkommene Streben nach dem Guten zugrunde liegt« (ebd., S. 399), auslegt und es dem Zuschauer anheimstellt, »seine Vorstellungen von einer besseren gesellschaftlichen Existenz und von einem gangbaren geschichtlichen Weg dorthin selbst zu konkretisieren« (Barner u. a. 1998, S. 215). 52 Eine solche Zugangsweise findet in der aktuellen Forschung keine Zustimmung und hat von daher höchstens noch einen historischen Wert. 53 Barner u. a. stimmen mit Nölting hinsichtlich der »Aussparung der Öffentlichkeit« (Barner u. a. 1998, S. 206) überein und betonen, dass die »beiden ›Regierungsszenen‹ [im ersten Aufzug – die Verf.] in den Kausalnexus des Stückes nicht einbezogen [sind], sondern nur als Exposition der politischen Verhältnisse die persönliche Verfügungsgewalt des Fürsten über staatliche Macht und Hettores [des Prinzen – die Verf.] skrupellose Vernachlässigung seiner Herrscherpflichten in jenem Zustand der affektuösen ›Verwirrung‹ [demonstrieren]«

38

Lessings »Emilia Galotti« auf den Höheren Schulen und in Schulprogrammschriften

Stoff modernisier[enden]« (ebd.) Schritt als einen »glückliche[n] Griff«. Lessing habe den Stoff vereinfacht, indem er »eine bürgerliche, das hiesz damals eine von politischen Motiven freie Virginia dichtete« (ebd.). Dadurch würden die charakterlichen Dimensionen der auftretenden Personen größere Aufmerksamkeit erfahren.54 Eine »Modernisierung des Stoffes« (S. 110) erkennt Nölting allein schon in der »Verlegung der Begebenheit in unsere Zeit und unsere Verhältnisse oder richtiger in des Dichters Zeit« (ebd.), was aber zugleich bedeute, auch die Intentionen der Handlung den Bedingungen jener Zeitumstände anzupassen.55 Daher fragt er, »was kann den Vater [Odoardo – die Verf.] zu einer so unnatürlichen That nöthigen«, »wo es [bei uns] keine Sclaverei mehr giebt?« (ebd.) In diesem Sinne ergäbe die »modernisierte« Absicht des Stoffes die Notwendigkeit, dass »die moderne Virginia den Tod wollen […] und der Vater fühlen [muss], dass die Tochter dies wollen muss und so ihr den Willen thun« (ebd.), denn »[i]n dem antiken Stoffe war der Vater [Virginius – die Verf.] der Held, und die Tochter fast nur ein leidender Gegenstand; in dem modernisierten wurde die Tochter [Emilia – die Verf.] die Heldin des Stücks« (S. 111), was »uns erst die Handlung zu einer Tragödie im höheren Sinne des Worts« machte.56Aufgrund dessen sei es des dramatischen Movens wegen unabdingbar gewesen, die »innere und äuszere Lage« nicht nur Emilias in den Vordergrund zu rücken, um zu erklären, was sie etwa ihrerseits dazu »drängt den Tod zu wollen« (ebd.). Dadurch könne ebenso die charakterliche Anlage des Prinzen eingehender beleuchtet werden, den (ebd.). Fick formuliert es schärfer: »Im Verlauf der Handlung verliert er [der Prinz – die Verf.] seine Legitimität als monarchischer Herrscher« (Fick 2010, S. 401), infolgedessen die »politische Dimension« (ebd., S. 400) des Stücks – auf den antiken Stoff bezogen – zwar gering ausfallen mag, im Bezug auf eine »Kritik an der Machtfülle des Souveräns«, »dessen eigener besserer Wille auf Gerechtigkeit (und Legitimität) aus ist« (ebd., S. 401), jedoch durchaus intentionale, ja ideologische Züge verrät. 54 Die Forschung sieht diesen Aspekt etwas komplexer: So ist es nach Barner u. a. zwar richtig, dass »›bürgerlich‹ nach zeitgenössischem Wortgebrauch für ›allgemeinmenschlich‹, ›nichtstandesgebunden‹, ›privat‹, ›häuslich‹ stand und in der Dramentheorie den Gegenbegriff zu ›heroisch‹ bildete« (Barner u. a. 1998, S. 204). Dennoch würde eine »politische Deutung der ›bürgerlichen Virginia‹ […] dadurch […] nicht gegenstandslos oder illegitim«, da »[v]ielmehr der politische Gehalt […] gerade in der ›Privatheit‹ seiner Handlung gesehen werden [kann]« (ebd., S. 205). 55 Laut der aktuellen Forschung beruht diese »Modernisierung« auf Lessings »Privatisierung des Konflikts« (Fick 2010, S. 378), den er nach Fick in einem Brief von 1758 andeutet. 1772, kurz vor der Vollendung des Dramas, geht Lessing weiter und schreibt seinem Bruder, »daß es weiter nichts, als eine modernisierte, von allem Staatsinteresse befreiete Virginia sein soll« (ebd.). 56 Die Konzentrierung der tragischen Aktion auf Emilia (bzw. Virginia) bestätigt nach TerNedden, den Fick anführt, die »Interaktion statt Konfrontation« (ebd., S. 383), indem »er [Lessing – die Verf.] die Prämissen, die zu der tödlichen Konfrontation führten, in Frage stelle«, womit »[n]icht die Notwendigkeit, sondern das Unnötige der Tragödie gezeigt werde« (ebd., S. 384). Diese ›neue‹ oder ›moderne‹ Konzentration auf die charakterliche Konfiguration der Figuren betont damit laut Ter-Nedden auch ihre »Egozentrik« (ebd., S. 384), die wiederum das »Interaktionsmuster« (ebd., S. 383) des Stücks bestimmt.

39

Carsten Gansel und Mike Porath

Lessing, wollte er ihn auf Emilia einen wesentlicheren Eindruck machen lassen als in der historischen Vorlage, »zu etwas anderem machen [musste], als es der Decemvir Appius Claudius [der fürstliche Verführer bei Livius und Montiano – die Verf.] war« (S. 112). Er musste ihm mithin »den Zauber einer Persönlichkeit leihen, die den Frauen gefährlich werden kann« (ebd.).57 Nölting geht dementsprechend davon aus, dass Emilias charakterliche Konstitution durchaus von den Bemühungen des Prinzen in »Verwirrung« (ebd.) versetzt werden könne, und stellt zur Untermauerung »ihre tugendhafte Entrüstung, die Empörung eines zartfühlenden Gemüths« (ebd.) im Anschluss an ihre Begegnung mit dem Prinzen in der Kirche heraus. Somit sei sie generell »wie von einer dämonischen Gewalt befangen, wenn sie ihn sieht« (S. 113), was schließlich im Interesse des »ganze[n] Plan[s] des Dichters« (ebd.) liegen würde, der es »verlange, dass Emilia den Vorfall mit dem Prinzen ihrem Bräutigam verschwieg« (ebd.).58 Ein besonderes Gewicht legt Nölting dabei auf die aufrichtige Leidenschaft des Prinzen, der Emilia anspricht und dessen »maszvolle Worte« (S. 114) dazu beitrügen, zwischen beiden ein »seltsame[s] Verhältnis[]« (ebd.) zu begründen. Dies sei der Grund dafür, dass Emilia »diesem Manne gegenüber ihre sittliche Haltung zu verlieren« drohe (ebd.).59 Ihre charakterliche Integrität zeichne sich im Folgenden dennoch dadurch ab, dass sie aufgrund ihrer Einsicht in diese leidenschaftlichen 57 Die Psychologisierung bzw. Individualisierung gerade auch des Prinzen, der in der Figur des antiken Appius Claudius sein Vorbild haben soll, bereitete der Forschung große Schwierigkeiten, weil oftmals zugunsten der »Schwermut« oder »Empfindsamkeit« des Grafen Appiani dieselbe des Prinzen abgeschwächt wurde. Und dies, obwohl laut Fick festzustellen ist, dass »[d]ie Gefühle der Emilia ihn [den Prinzen – die Verf.] ›besser‹ machen«, demzufolge »eine moralische Qualität sogar der Leidenschaft des Prinzen zugestanden« wird (ebd., S. 399). Die Forschung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts hat nach Fick bei dieser Figur vor allem das »Lasterhafte« wie seine »Triebgebundenheit« betont (vgl. ebd., S. 389), allerdings ohne den Aspekt der Individualisierung auch auf ihn dahingehend anzuwenden (vgl. ebd., S. 397). Barner u. a. betonen in diesem Zusammenhang die »Ent­ heroisierung der Charaktere« (vgl. Barner u. a. 1998, S. 219). 58 Die Forschung verifiziert diese Sichtweise im Zuge eines »Brückenschlag[s] zur Psychologie des 18. Jahrhunderts« und der »Idee des Unbewussten«, indem es »um die Schleichwege sinnlicher Neigungen, um deren verborgene Wirkungsweise und unmerkliche Bemächtigung der Seele« geht, wodurch »das Fortwirken unbewusster und (deshalb) übermächtiger Eindrücke transparent« werde (Fick 2010, S. 389). Fick zitiert in diesem Zusammenhang Johann Georg Sulzer: »[…] wir werden von Kräften in Bewegung gesetzt, die wir nicht kennen« (ebd., S. 397). 59 Die Wirkung der »maszvolle[n] Worte« des Prinzen und deren suggestive Wirkung auf Emilia sind in der Forschung noch kaum beachtet, da entweder seine Funktion im individuellen Apparat der Figurenkonstellation oder in der dramaturgischen Komposition im Mittelpunkt steht, wobei die Auslegung seiner Sprache als eine empfindsame weitestgehend eine subjektive Einschätzung bleibt. Dennoch kann das in der Forschung anerkannte Moment der »Sprachhandlungen« sowie des »Dialog[s] als Movens des Geschehens« (vgl. Barner u. a. 1998, S. 217) als Beleg dafür genommen werden, auch dem Prinzen eine handlungsimmanente Sprachbedeutung zuzugestehen. Dies zeigt etwa Dennelers Analyse, die gerade mit Blick auf den Prinzen die gewichtige These vom »elementar-triebhaften

40

Lessings »Emilia Galotti« auf den Höheren Schulen und in Schulprogrammschriften

Machenschaften des Prinzen »die ganze Gefahr in der sie schwebt deutlich erkannt, und mit dieser Erkenntnis sich selbst wiedergewonnen« habe (S. 115). Aus diesem Umstand leitet Nölting psychologisierend ab, dass »das Bewusstsein ihrer Schwäche sie genug gedemüthigt« habe, daher sei sie »zu stolz, um neue Demüthigungen zu ertragen« (ebd.), was wiederum unter Beweis stelle, dass die »Tochter Odoardo Galottis ihres Vaters sich nie unwerth zeigen« soll (ebd.).60 Nölting sieht in dieser ethisch-moralischen Konstellation nicht allein die Voraussetzung für den Tod Emilias, sondern auch dessen Legitimation. Die dramatische Option ihres Ablebens würde durch die Hand ihres gleichgearteten Vaters intentional verbürgt, womit »der freie sittliche Wille über die feinen Berechnungen des Verstandes und über die Gewalt der irdischen Macht« triumphiere (ebd.).61 Ungeachtet dessen hält Nölting es für wichtig, die Frage nach der Rechtfertigung, ob »der Vater ihr diese Bitte [auch] gewähren« darf (ebd.) zu stellen, und findet den Grund dafür, dass Odoardo sie ausführt, sowohl in dessen »strenge[r] Tugend« (S. 116) als auch in der »Erregbarkeit seines Gemüths« (ebd.). Dabei lässt er nicht unerwähnt, dass besonders die amoralischen Kalkulationen Marinellis Odoardo in dieser Erregbarkeit forcieren, indem »der männliche Charakter Odoardos in dieser Aufregung des in allen seinen heiligsten Gefühlen gekränkten, ja verhöhnten Gemüths aller Fassung beraubt« ist (S. 117). Emilia hingegen appelliert sozusagen von der anderen Seite an seine ethische Grundeinstellung und trifft damit »mit dem Herzen des Vaters zugleich das Ehrgefühl des Mannes« (ebd.).62 Deshalb Substrat[] des Dramas« aufstellt, womit die die logische Konstruktion des Stückes unterwandert werde (Fick 2010, S. 392). 60 Dieser Punkt wurde und wird in der Forschung noch immer kontrovers diskutiert. Es ist nicht schlüssig nachweisbar, ob Emilia der Verführung des Prinzen zu widerstehen vermag oder nicht, »da zwischen ›Verführbarkeit‹ und ›intelligibler Freiheit‹ ein nicht aufzulösender Widerspruch besteht« (ebd., S. 388). So sieht z.  B. Friedrich Hebbel, auf den Fick Bezug nimmt, das von Nölting erwähnte »Bewusstsein ihrer [Emilias – die Verf.] Schwäche« etwas problematischer, denn »wird eine gemeine Seele sterben, um das zu retten, was sie nie besaß?« (ebd., S. 389). 61 Barner u. a. erkennen in der Tat Odoardos jedoch nicht allein die Wahrung der »Tugend« und »Ehre«, sondern auch der »Loyalität gegenüber dem Fürsten« (Barner u. a. 1998, S. 213), wodurch nach Klaus Scherpe (Gattungspoetik im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1968) »die ›Grenzen des leidenden Gehorsams‹ und die politische Problematik der vorgeführten Handlungsweise offenbar [werden]: ›Da Odoardos Tat gegen die Willkürherrschaft nichts ausrichten kann, treibt sie die Widersprüchlichkeit der im Tugendsystem genormten bürgerlichen Denk- und Verhaltensweisen und die Widersprüchlichkeit ihrer gesellschaftlichen Funktionen heraus‹« (ebd., S. 214). 62 Fick schreibt zu diesem dramaturgischen Aspekt: »Sorgfältig hat Lessing die Tötung der Tochter als ›reine‹ Affekthandlung motiviert, als eine momentane Überwältigung der Vernunft, ausgelöst durch das Temperament, vorbereitet durch unterschwellig weiterwirkende Eindrücke, durch ›unbewußte Perceptionen‹« (Fick 2010, S. 393). Wiederum geht dieser Ansatz auf das individualisierende Moment Lessings zurück, indem, wie Schröder meint, »Lessing den antik-heroischen Stoff modernisiert und psychologisiert, die Figuren individualisiert« habe (ebd., S. 394).

41

Carsten Gansel und Mike Porath

sei neben Emilia auch Odoardo ein »tragischer Charakter« (S. 118), dessen »That […] seine Schuld« sei (ebd.), in die er ebenso wie sie »hineingetrieben« (ebd.) werde, und zwar durch den Prinzen und Marinelli. Beide stünden Emilia und Odoardo als »Paar« konterkarierend gegenüber (ebd.) und bildeten »so die bewegende Macht in dem Bau des Stückes« (ebd.).63 Diese Entwicklung sei jedoch nur möglich, weil Lessing die Figur des Prinzen dahingehend gestaltet habe, dass sie »in hohem Grade empfänglich für den Zauber der Unschuld und Schönheit« sei (ebd.). Nölting zieht aus der Leidenschaftlichkeit des Prinzen zwei für die Dramaturgie und Intention des Stückes grundlegende Schlüsse, indem sie einerseits in Bezug auf Marinellis Intrigen das Verhängnis in der Handlung sowohl vorbereitet als auch verstärkt, andererseits den Prinzen selbst in seiner sittlich-empfindsamen Anlage aufgrund dieser Tragik in eine persönliche Krise stürzt, »als er sich durch die freie That der Tochter und des Vaters um die Frucht der von ihm gebilligten Gewalttaten gebracht sieht« (S. 119). Daraufhin scheint ihm »zum Bewusstsein zu kommen, in welchen Abgrund von Schlechtigkeiten er gerathen ist« (ebd.).64 Eine solche krisenhafte Determination gehe vor allem von der Figur des Marinelli aus, den Nölting als den »bewegende[n] Vorstand« (ebd.) des Dramas interpretiert.65 Seine »kalte Natur ohne Herz« (ebd.) bringe ihn in seiner moralischen »Beschränktheit« »zu Fall« (S. 120). Zu beachten sei allerdings, dass Marinelli – gegenüber den anderen spezifisch leidenschaftlich handelnden Personen – seine »Besonnenheit« (ebd.) durchaus zum Vorteil gereiche, etwa wenn es darum gehe, den Zweck einer Handlung proportional zu ihrer Ausführbarkeit sowie im Interesse des Gesamtzusammenhangs abzuwägen. Marinellis intrigante Algebra würde allerdings durch die »edl[e] Gesinnung Emiliens und Odoardos« (S. 121) genauso durchkreuzt wie durch das erneute und diesmal dramaturgisch schwerwiegende Auftreten der Gräfin Orsina, deren Erregbarkeit oder Unbesonnenheit einen weiteren Kontrapunkt zu Marinellis 63 Auch die Forschung sieht die Schuldfrage eher in der komplexen Figurenkonstellation begründet, indem »die Rollenprofile der männlichen Bewerber sich überschnitten, der Prinz die Rollen ›lästiger Konkurrent‹ und feuriger Liebhaber erfülle, Appiani, der Geliebte, dagegen mit dem ›eigensinnigen Vater‹ im Bunde stehe« (ebd., S. 393). 64 Den »Abgrund von Schlechtigkeiten«, in den (nicht allein) der Prinz geraten sei, bezieht Fick in Anbetracht des dramatischen Spiels aus Verführung und Verführbarkeit auch speziell auf die »Sündenlehre des Augustinus« (ebd., S. 397), denn »[e]ine Folge und Zeichen des Sündenfalls sei die Unkontrollierbarkeit des Geschlechtstriebs, der libido«, so dass »unser Wille in den Fesseln der Begehrlichkeit und bösen Neigungen [liege]; wir könnten nicht mehr, was wir wollen« (ebd., S. 398). Die Tragik der Figur des Prinzen würde demnach beweisen, dass Lessing »auch auf die Tragödien der großen Bösewichter, an denen sich das göttliche Gericht vollstreckt, [anspielt]« (ebd.). 65 Barner u. a. betrachten diese »rein funktionale Rolle« (ebd., S. 399) von Marinelli, der »als der skrupellose ›Dirigent‹ des Geschehens [erscheint], während allen anderen Beteiligten […] nur noch das Erleiden und Beklagen seiner Machenschaften bleibt« (Barner u. a. 1998, S. 217), etwas reservierter. Die Individualisierung der der Commedia dell’arte nahestehenden Figuren bedingt letztlich ihre handlungstechnische Verstrickung, weshalb die »Katastrophe nicht allein auf das Konto Marinellis« geht (ebd.).

42

Lessings »Emilia Galotti« auf den Höheren Schulen und in Schulprogrammschriften

»Besonnenheit« darstelle und als Akzelerator der tragischen Handlung funktioniere, indem nämlich durch Orsinas Intervention Odoardos »Blut in die heftigste Wallung gerieth« (S. 122), wodurch die Katastrophe letztlich in ihrer Konsequenz präpariert sei. Nölting verweist aber auch auf die charakterliche Disposition Claudias, deren »mütterliche Eitelkeit auf den Triumph ihrer Tochter« (S. 123) sie zur »Heimlichkeit, wo Offenheit Noth thäte« (ebd.), verführe.66 Diese dramaturgische Kausalität und Stringenz beweise zwar Lessings kompositorische Meisterschaft, verdecke laut Nölting aber nicht die ontologische Komponente in seiner »Emilia Galotti« (S. 124).67 Aus diesem Grund trage auch das von Goethe in Hinsicht auf den tragischen Schluss der »Emilia Galotti« konstatierte »proton pseudos« (ebd.), demnach »es nirgend ausgesprochen sei, dass Emilia den Prinzen liebe« (ebd.), kein großes Gewicht. Der Charakter Emilias sei nämlich wesentlich differenzierter zu betrachten als lediglich unter dem Diktum ihrer Unerfahrenheit oder ihres scheinbar »Italienische[n] Naturell[s]« (S. 126). Dies auch, da eine »ähnliche Erscheinung, wie Emilia Galotti« dem Prinzen »schwerlich je begegnet« war (S. 125). Nölting führt diesbezüglich Hebler an, der hinsichtlich der unsittlichen Bedrohung Emilias im Zusammenhang mit dem Haus der Grimaldi betont, dass der »Gedanke des Uebels […] einerseits durch die Lage der Dinge sich ihr [wird] aufdrängen müssen, andererseits höchstens in dem Grade das Mögliche zu einer geringen Wahrscheinlichkeit sich in ihren Augen steigern dürfe[], als sie sich zugleich entschlossener zeigt, das Wahrscheinliche zu einem Unmöglichen zu machen« (ebd.).68 Somit sei es vor allem ihre Zeichnung als ein »Deutsches Mädchen« (S. 126), dass ihren Tod durch Odoardo aus sittlichen Gründen erzwinge.69 66 Bezüglich des tragischen Ausgangs des Stücks herrscht in der Forschung Uneinigkeit: Fick erwähnt Meyer, der der Ansicht sei, Lessing habe die »Charaktere so angelegt, dass sie zur Begründung einer tragischen Entwicklung nicht taugten«, indem er (Lessing) zum Schluss »die Figuren um[zeichne]« (Fick 2010, S. 394), wohingegen Barner u. a. Karl Eibl (1977) anführen, der die Meinung vertritt, dass »alle Beteiligten – ausgenommen Emilia – ›Fehlberechnungen‹ und ›Fehlhandlungen‹ zu verantworten [haben], die den Konflikt erst einmal heraufbeschwören und dann tragisch beenden« (Barner u. a. 1998, S. 217). 67 Mit Fick lässt sich diese Beobachtung pointieren, insofern jede einzelne der Figuren ihr individuelles »Schicksal« für sich »berechnet«, die »Konstruktion des Gesamtzusammenhangs und die Kategorie des Ganzen« (Fick 2010, S. 400) aus ihren Perspektiven aber nicht allein beurteilt werden können, weil sie alle, wie Ter-Nedden anmerkt, einen »Mechanismus der self-fulfilling prophecy« (ebd.) anwenden würden. »Gott oder Vorsehung als Chiffre für das ›Ganze‹ bleibt […] bei Lessing, so die Position, eine überindividuelle, die menschliche Natur transzendierende Setzung, von der her allein das anthropologisch-psychologische Dilemma zugunsten der Stimme der Vernunft und Menschenliebe entschieden werden kann« (ebd.). 68 Die fast schon psychoanalytische Verbindung zwischen Vernunftleistung und unterbewusster Beeinflussung, die hier im Sinne einer moralpädagogischen Auslegung zum Tragen kommt, könnte laut Fick eine Wirkungsabsicht Lessings sein, denn indem er »die TugendLaster-Opposition aufhebt und die Figuren nicht als böse, sondern als leidenschaftlich, unbeherrscht oder schwach zeichnet, zielt er auf die Erregung von Mitleid« (ebd.). 69 Nölting beschließt seine Studie mit einem hintergründigen Verweis auf die Theodizee,

43

Carsten Gansel und Mike Porath

Bernhard Albert Arnold – Lessings Emilia Galotti in ihrem Verhältniss zur Poetik des Aristoteles und zur Hamburgischen Dramaturgie. 1880. In der Beilage zum Jahresbericht des Königlichen Gymnasiums in Chemnitz von 1880 untersucht Bernhard Arnold die dramatische Mustergültigkeit der »Emilia Galotti«. Dabei geht es ihm um einen Vergleich mit der kanonisierten »Poetik« des Aristoteles. Arnold setzt sie in Beziehung zu Lessings eigener Poetologie in der »Hamburgischen Dramaturgie«. Die »Emilia Galotti« sieht er als »heilige Delos«, die »aus der Gellert-Gottsched-Weisse’schen Wasserfluth« stieg (S. 129), insofern zielt er von vornherein auf den Vorbildcharakter der »Emilia« als »Mustertragödie« des »genialischen Mannes« Lessing. Lessing habe als »ein anderer Dichter als Göthe« entsprechend seines eigenen »dramaturgischen Codex« mit einer geradezu »elementarische[n] Kraft« eine »Absicht« (S. 130) verfolgt, die das Drama im Ganzen und in Vollendung als wesentliches »Raisonnement« (S. 131) bestimmen müsse.70 Arnold wendet sich zur Beweisführung der dramaturgischen Vorbildhaftigkeit der »Emilia Galotti« einem der Kernprobleme des Dramas zu, indem er die Komplexität von Emilias Schuld an ihrem Tod aus der lessingschen Maxime der dramatischen »Naturnothwendigkeit«71 (ebd.) deren Modelle man hinsichtlich der »Emilia Galotti« jedoch differenziert betrachten muss: Zwar scheint nach Barner u. a. das Stück »durch Odoardos Anrufung des göttlichen Richters« der »Auffassung der Tragödie als Theodizee und der Vorstellung einer ewigen Gerechtigkeit, die der poetischen Gerechtigkeit übergeordnet ist«, unterworfen zu sein (vgl. Barner u. a. 1998, S. 215). Gleichwohl besitzen laut Fick die Figuren nur »undeutliche, affektgetrübte Vorstellungen vom Sinn des Ganzen, denen nicht der Wille zum Bösen, sondern das unvollkommene Streben nach dem Guten zugrunde liegt« (Fick 2010, S. 399). Dadurch, dass »Lessing darauf bedacht [ist], die Figuren mittels Psychologisierung zu entlasten« (ebd.), entschuldigt er zwar nicht ihren Glauben an einen »verdammenden Gott«, der bewirke, dass »sie sich von ihrer schwärzesten Seite [sehen] und sich gegenseitig böse Absichten« zuschreiben (ebd., S. 400), er fordert allerdings das Publikum dazu auf, »solche Projektionen und Anthropomorphismen zu durchschauen und vom Gottesbild zu trennen« (ebd.). Es bleibt somit, entgegen der Auffassung einer dezidiert deterministischen oder prädestinatorischen Theodizee, »Aufgabe der Menschen, die Entscheidung zugunsten der Vorstellung von der unendlichen Liebe Gottes zu treffen« (ebd.), wonach die »Sache der nachdenkenden Spekulation« bezüglich der »ichbezogenen Perspektive der Figuren« (ebd.) nicht ausgespart wird, aber anzeigt, dass das »Mitleid das affektive Äquivalent zu der geforderten Erkenntnis« ist (ebd.). 70 Auch Fick geht von einem solchen »Raisonnement« aus und sieht die »Emilia Galotti als ein Drama sittlicher Autonomie«, dass ein »neues Bewusstsein von der Würde des Menschen« liefere, welches wiederum auf »sittlicher Selbstbestimmung beruhe«. Dabei bezieht sie sich auch auf Wolfgang Wittkowski (1985), dem zufolge das Drama eine »christliche[] Weltauffassung« (ebd., S. 387) demonstriere. 71 Es ist mit Barner u. a. die »lückenlose Kausalität« (Barner u. a. 1998, S. 216), die Arnold von Lessings Diktum einer (dramatischen) »Naturnotwendigkeit« ausgehen lässt, »die Konstruktion des Gesamtzusammenhangs und die Kategorie des Ganzen« (Fick 2010, S. 400).

44

Lessings »Emilia Galotti« auf den Höheren Schulen und in Schulprogrammschriften

abzuleiten sucht: »Ist Emilia schuldig, ist sie unschuldig, das ist die grosse Frage, welche von Herder und Göthe bis auf Sime und Zimmern den Scharfsinn der Geister beschäftigte« (ebd.). Nachfolgend geht es Arnold um die grundlegenden Positionen der Forschung zur »Emilia Galotti« bis 1880, wobei er hinsichtlich der Auffassung von Emilias Unschuld Gustav Freytags Verdikt von der Widersprüchlichkeit und mangelnden Konsequenz des Ausgangs des Dramas anführt.72 Danach würden die Figuren weniger der von Lessing angestrebten dramatischen Stringenz dienen, denn einer an Shakespeare orientierten ›natürlichen‹ Handlungsverflechtung.73 Die Vorwürfe gegen Lessings »Emilia Galotti« als dramatische »Fehler« glichen demnach einem »Sündenregister des grossen Mannes« und lauten: »Emilia die tragische Figur ist unschuldig«, »[d]ie Katastrophe ist peinvoll«, das »Laster siegt«, die »Unschuld wird gemartert«, »[d]ie Einheit der Handlung ist nicht gewahrt, aufs Genaueste die unwesentliche Einheit der Zeit« sowie »Marinelli ist ein schlechter Character, daher undramatisch« (S. 136).74 Arnold beabsichtigt, den ersten beiden Einwänden gegen die »Emilia Galotti« mit einer Problematisierung des zeitgenössischen Diskurses über die aristotelische Katharsis zu begegnen. Dafür versucht er anhand der Leitbegriffe »Furcht« (ebd.) und »Schauder« (S. 138) wirkungsästhetisch die perzeptive Haltung des Rezipienten zu erfassen.75 Die Intensität und Konsequenz einer solchen »Furcht« sei jedoch davon 72 Barner u. a. sprechen von »Aporien des Schlusses«, der zwar »konsequent, aber nicht als zwingend« erscheint und »[p]sychologisch […] nicht stark motiviert« ist (Barner u. a. 1998, S. 214). Fick führt u. a. das negative Urteil Friedrich Schlegels von der »dramatischen Algebra« an (Fick 2010, S. 394, 405; auch Barner u. a. 1998, S. 218), dass »Lessings kritisches Genie […] Emotionen und Leidenschaften […] nicht [habe] vergegenwärtigen können, seine Figuren die ›Unmittelbarkeit‹ vermissen« ließen, Lessing »die fehlende Gestaltungskraft […] jedoch durch planende Rationalität ›ersetzt‹« habe und »die Tragödie perfekt organisiert« sei (Fick 2010, S. 394). 73 Die Forschung erkennt in den Nebenfiguren Lessings Rückbezug auf die strukturellen Voraussetzungen der Commedia dell’arte (vgl. Barner u. a. 1998, S. 215 f.; Fick 2010, S. 393), wenn auch nach der Analyse von Klaus-Detlef Müller (1972) in einer Art »umgekehrte[m] Komödienschema«: »Die konkurrierenden Liebhaber (Appiani – Prinz), der eigensinnige Vater, Diener, Intriganten (Marinelli), Störenfriede (Orsina) – sie alle hätten gleichsam die Seiten gewechselt« (Fick 2010, S. 393). Die zeitgenössische Kritik hätte jedoch Fick zufolge sofort »mittels der Kategorie ›Annäherung an die Natur im Geiste Shakespeares‹ die ›Oekonomie‹ des dramatischen Plans zu beschreiben« (ebd., S. 403) versucht. 74 Die Kritik an der »Emilia Galotti« gerade in Bezug auf ihren Ausgang ist praktisch mit ihrer Uraufführung aufgekommen und seitdem kaum verstummt. So urteilt Goethe 1772: »Emilia Galotti ist auch nur gedacht, und nicht einmal Zufall oder Kaprice spinnen irgend drein. Mit halbweg Menschenverstand kann man das warum von ieder Scene, von iedem Wort mögt ich sagen auffinden. Drum binn ich dem Stück nicht gut, so ein Meisterstück es sonst ist« (zit. nach Barner u. a. 1998, S. 218). 75 Fick notiert, dass sich die »Emilia Galotti […] der tränenseligen affirmativen Identifikation [verweigert], die Handlungsführung den Intellekt [fordert], und dennoch nicht Distanz, sondern ›Mitleid‹ das Wirkungsziel« ist (Fick 2010, S. 403). Barner u. a. geben dagegen

45

Carsten Gansel und Mike Porath

abhängig, ob »die im Drama wirksamen Conflicte […] entweder mehr Mitleiden oder mehr Schauder hervorrufen« (S. 138), was bei größter (aristotelischer) Meisterschaft nach Arnold zu einer »Mitleiden und Furcht erregende[n] Musik« würde: »Das Haar sträubt sich, es überläuft mich kalt, ich empfinde den Lessing’schen Schauder, ein Hauch der Ewigkeit scheint mich zu umwehen« (S. 139). Die aristotelische Bestimmung der Katharsis habe also eine »doppelte Bedeutung«, die innerhalb der Rezeption sowohl eine selbstbezügliche als auch eine »das Herrliche, das Erhabene« integrierende, substanzielle Erkenntnis forciere »als Furcht für die tragischen Personen« und als »Schauder, den alles Gewaltige hervorbringt« (S. 140). Aus diesem Grund seien hinsichtlich der Figurenzeichnung auch die »Mass­vol­len« von einem solcherart konzipierten Drama ausgeschlossen, denn »der Held muss leidenschaftlich erregt, mit menschlichen Schwächen […] behaftet sein, wenn er in uns Furcht vor einem ihm bevorstehenden Leiden erregen will« (ebd.).76 Arnold hebt dann auch entsprechend seiner Argumentation das »Liebesleiden« als »kathartisch[en]« Auslöser (S. 144) hervor, dem aufgrund seiner »allgemein menschlich[en] und gewöhnlich[en]« (ebd.) Natur eine schicksalshafte Dimension zukomme. Damit würden »in den bisher angezogenen Gesetzen antike und moderne Tragödie übereinstimmen« (S. 146).77 Die Unschuld der Figur der Emilia verankert Arnold entsprechend seiner These vom schicksalshaften »Liebesleiden« des Menschen in ihrem »Fehler, Irrthum«, »dass Emilia in Uebereinstimmung mit der Mutter in bester Absicht ihrem Bräutigam die Zusammenkunft mit dem Prinzen verheimlicht« (S. 147). Arnold begreift Emilia als »in echt tragischem Sinne schuldlos«, so dass ihr Wort »Verführung« gegenüber ihrem Vater Odoardo, »der auf Schritt und Tritt über die Unschuld seiner Tochter wacht«, »ihn bestimmen« muss (S. 148), zur Tat zu schreiten.78 Allerdings zu bedenken, dass die »Aufnahme der Emilia […] keinen Hinweis darauf erkennen [ließ], daß die von Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie geforderte Erregung von Furcht und Mitleid und deren Verwandlung in ›tugendhafte Fertigkeiten‹ unmittelbar erreicht worden wäre« (Barner u. a. 1998, S. 219), denn »an der Emilia und ihrer Rezeption wurde ihm bewußt, wie unwirksam und einflußlos die Bühne war« (ebd., S. 220). 76 Mit Fick lässt sich dieser Eindruck Arnolds bestätigen, denn »die ungeheuren Taten würden »als Affekthandlungen erscheinen, in denen Vernunft und bessere Einsichten von den Leidenschaften verdunkelt und überwältigt werden« (Fick 2010, S. 395). 77 Die Forschung betont in diesem Zusammenhang den Hintergrund des Theodizee-Diskurses, wenn sich hinter dem »Schicksal« die »Vorstellung vom verdammenden Gott, dem ›Grund‹ aller tragischen Verkettungen« (ebd., S. 400) abzeichne. »Gott oder Vorsehung als Chiffre für das ›Ganze‹ bleibt dabei bei Lessing eine überindividuelle, die menschliche Natur transzendierende Setzung«, trotzdem sei es »Aufgabe der Menschen, die Entscheidung zugunsten der Vorstellung von der unendlichen Liebe Gottes zu treffen« (ebd.). 78 Nach J. Schröder (1972) beherrscht die Figuren der »Emilia Galotti« ein »›irrationales Gefühl‹, das sie auf diese Weise [im Dialog – die Verf.] nicht artikulieren könnten«, woraus »die Problematik des Schlusses [resultiere], der Konfrontation des Vaters mit der Tochter«, denn »[z]wischen dem Inhalt des Dialogs, Emilias irrationalem Gefühl, und der verbalen Rhetorik bestehe eine unüberbrückbare Diskrepanz« (ebd., S. 395).

46

Lessings »Emilia Galotti« auf den Höheren Schulen und in Schulprogrammschriften

betont Arnold im Zuge der Tugendpflicht Emilias die Zweideutigkeit ihrer Anspielung, die, indem sie den tugendverliebten Vater dazu zwingt, sie zu töten, dadurch zwar ihre »Erlösung« (vgl. ebd.) sucht, damit aber gleichzeitig ein »sittlicher Mangel des Characters zugegeben [ist], den Lessing auch sonst in feinster Weise andeutet« (ebd.). Diese weit über die antike Dramatik hinausgehende Psychologisierung der Handlung und ihrer Folgen als Widerspiegelung der charakterlichen Verfassung intendiere demnach nicht eine simplifizierende »poetische Gerechtigkeit«, sondern die Wahrung und Legitimation des leitmotivischen »Hauptinteresse[s]« (S. 149) als Abbildung des Verhältnisses äußerer Umstände bzw. »Verhängnisse« und innerer Neigungen bzw. »Leidenschaften«.79 Somit sei auch die letzte Szene in Lessings Drama vom Tod Emilias bis zur Abwendung des Prinzen von Marinelli ein Zeugnis seiner Meisterschaft, mittels seiner Tragödie als praktisches Beispiel seiner dramatischen Poetologie »einen höheren Grad von Einsicht« (S. 150) zu fördern. Ganz nach dem aristotelischen Diktum von der »Gleichmässigkeit der Charactere« und deren »Uebereinstimmung« würde die Schlussszene zum Beweis für »den wahren, den echten Lessing« (ebd.). In dramaturgischer Kombination mit dem Auftritt der Orsina, die den »Uebergang von der beabsichtigten Ermordung des Prinzen« durch Odoardo »auf den wirklichen Ausgang zu vermitteln und zu begründen« habe,80 konvergiert laut Arnold die »Erwartung des Publikums«, das »den Tod des Prinzen« fordert, mit Lessings »tragische[r] Kunst«, die »den Hingang Emiliens« verlangt (S. 151). Auf diese Weise offenbare sich als Ausdruck eines »seelischen Process[es]« (ebd.) ein dramatisches Psychogramm, das »keinen Zufall« dulde: »Das Wort Zufall ist Gotteslästerung« (S. 151).81 Selbst die moralisch abstoßende Figur des Marinelli sei infolge der im Drama waltenden »Naturnothwendigkeit« gerechtfertigt, weil Lessings ›klassischer‹ Rückgriff auf die »zeitliche Einheit« (S. 152) sämtliche Ereignisse in der »Emilia Galotti« »zwingend nothwendig« (vgl. ebd.) mache. Von daher sind für Arnold »die Grundbedingungen des Dramas am reinsten erfüllt« (ebd.).82

79 Fick hebt diesen Aspekt hervor und betont, »dass es Lessing eben auf die Reaktion der Figuren, auf die psychische Spiegelung der Handlung ankomme, dass seine Technik ein Instrument sei, die Handlung in ein psychisches Geschehen aufzulösen« (ebd.). 80 Auch Barner u. a. schreiben der Figur der Orsina eine handlungsfördernde Funktion zu, indem »die ›Besonnenheit‹ Odoardos durch die fast sarkastischen Andeutungen und Enthüllungen der Orsina zuletzt in Zorn verwandelt wird« (Barner u. a. 1998, S. 218). 81 Mit einem Verweis auf Karl Eibl (1977) würden nur alle »Fehlhandlungen« der Figuren »zusammen zur Katastrophe« führen, denn »[n]icht zuletzt dieses kunstvoll miteinander verflochtene Ensemble falsch aufeinander bezogener und gegenläufiger Denk- und Handlungsweisen macht den immer bewunderten und immer auch verwirrenden Motivreichtum des Stückes aus« (ebd., S. 217). 82 Marinelli erfülle damit vor allem seine »rein funktionale Rolle« (Fick 2010, S. 399) im Sinne des durch das Schema der Commedia dell’arte vorgegebenen Motivationskonstrukts als dramaturgischer Garantie und Konstante der basalen Intrige.

47

Carsten Gansel und Mike Porath

Gustav Heidemann – Ueber Lessings Emilia Galotti. 1881. Gustav Heidemann wendet sich in der wissenschaftlichen Beilage zum Jahresbericht des Schuljahres 1880 – 1881 des Gymnasiums zu Saarburg in Lothringen einem für Lessings »Emilia Galotti« grundlegenden dramaturgischen Aspekt zu, der bis in die Gegenwart in der Forschung für Kontroversen sorgt.83 Heidemann betont bereits zu Beginn seines Beitrags, dass die ambivalente Rezeption der »Emilia Galotti« eine Folge der komplexen Motivierung des Schlusses des Stückes sei.84 Man könne also einerseits die »Katastrophe […] als unmotivirt und gewaltsam herbeigeführt« ansehen, andererseits aber würde gerade sie das Gemüt ergreifen (S. 153). Heidemann begründet diese Unentschiedenheit in der Auffassung der »Emilia Galotti« vor allem mit der wichtigen Frage, »ob Emilie den Prinzen liebt oder nicht« (ebd.), über die bisher keine Einigung hätte erzielt werden können.85 Um eine Antwort zu finden, versucht er den auch in der Kritik herausgestellten widersprüchlichen Charakter der Figur des Odoardo zu fixieren, dem mit Blick auf den Schluss eine bedeutsame dramaturgische Funktion zukomme. Zur Beantwortung der Frage, ob Emilia in den Prinzen verliebt sei, bedürfe es zuerst – so Heidemanns Auffassung – der Klärung, in welcher Art und Weise sie ihrem Verlobten, dem Grafen Appiani, zugeneigt ist. Heidemann zweifelt an einer »ihr ganzes Herz erfüllenden Liebe«, die ihm »weit mehr geistiger Natur [scheint], entsprungen aus der Achtung vor dem hohen sittlichen Werthe des edlen Mannes« (S. 154).86 Ungeachtet dessen würde der Prinz in dieses Verhältnis »störend« eingreifen, wenn er – im Unterschied zur klassischen Vorlage des Dramas – »mit der ganzen Gluth seiner leidenschaftlichen Liebe« (ebd.) Emilia gegenübertritt, um »durch innere Einwirkung den Erfolg zu erreichen« (S. 155).87 Der Eindruck, den der Prinz auf Emilia gemacht haben müsse, bildet im Folgenden für Heidemann die 83 Aus dem »Defizit an pragmatischer Motivierung des von Lessing gewählten Schlusses« (Barner u. a. 1998, S. 218), das Heidemann hier herausstellt und im Folgenden analysiert, resultiert »das grundsätzliche und wohl kaum zu bewältigende Dilemma jeder Deutung dieses Stückes« (ebd.). 84 Barner u. a. sprechen von »Aporien des Schlusses« (ebd., S. 214), wie überhaupt die Rezeption des Dramas sich vor allem dem »Begriff der ›inneren Motivation‹« (Fick 2010, S. 386) zugewandt hat. 85 Heidemann folgt mit dieser Feststellung der Mehrheit der Interpreten insofern, als im »Mittelpunkt der geistesgeschichtlich orientierten Einzelforschung zu Emilia Galotti der Widerspruch zwischen der ›Tugend‹ der Titelheldin und der von ihr beschworenen Sinnlichkeit und Verführbarkeit« steht (ebd.). 86 Barner u. a. betonen, dass »dem höfischen Zwang das stoisch-humanistische Ideal der vita beata abseits der Welt der Herrschaft als arkadisch-utopischer Traum entgegengehalten« wurde (Barner u. a. 1998, S. 209), der »sittliche Werth des edlen Mannes« demnach auf einem »›Landsentimentalismus‹ oder ›Rousseauismus‹« (ebd., S. 210) beruht, der Appianis Charakter »empfindsame Züge« (ebd., S. 212) verleiht. 87 Fick stellt diesbezüglich einen Rückbezug zur Commedia dell’arte her und spricht von einem »umgekehrten Komödienschema«, in welches die männlichen Figuren als »konkurrierende[] Liebhaber (Appiani – Prinz)« eingebunden sein würden (vgl. Fick 2010, S. 393).

48

Lessings »Emilia Galotti« auf den Höheren Schulen und in Schulprogrammschriften

Grundlage für seine These von der Mitschuld Emilias. Ihre »Frömmigkeit«, die sich »im ganzen Stück« »dokumentirt« (ebd.), würde daher nachhaltig erschüttert.88 Sie sei zwar »an dieser Zusammenkunft« unschuldig, würde sich jedoch ihrer Frömmigkeit wegen eine Schuld beimessen, weil allein »die Nähe des Lasters das Reinste befleckt« (S. 156). Die »magisch sie fesselnde[…] Persönlichkeit des Prinzen« (ebd.) hätte zur Folge, dass in ihr nicht nur das »Mißtrauen gegen den Prinzen […] mit der Hoffnung auf das Wiedersehen« kämpft (ebd.), sondern sie den Mord an Appiani als um ihretwillen geschehen begreift. Heidemann versucht über diese Argumentation ihren »Todesentschluß« (S. 157) verständlich zu machen. Emilias Weigerung, in das Haus der Grimaldi weggeführt zu werden, würde zwar das in der bisherigen Forschung häufig angeführte Motiv eines »abstracten Ehr- und Unschuldsbegriff[s]« (ebd.) stützen, aber es sei entscheidender, danach zu fragen, ob ihr Wille, zu sterben, »bei Zurückweisung der Liebe hinreichend motivirt erscheint« (S. 158).89 Aus diesem Grund widmet sich Heidemann Odoardo, dessen für den Schluss (ge)wichtige Rolle bisher nicht hinreichend geklärt sei. Es geht also darum, »zu beobachten, ob der Dichter beide Charaktere [Emilia und Odoardo – die Verf.] so gezeichnet hat, daß ihnen dieser Ausweg als der einzige erscheinen mußte, und speciell in der jetzt vorliegenden Frage, ob die leidenschaftliche Spannung Emiliens ohne Annahme der Liebe eine so starke ist, daß sie in dem Todesstoße die alleinige Rettung erblicken konnte« (ebd.).90 Heidemann spricht in diesem Zusammenhang von dem »exaltirten Zustand Emiliens« (S. 159), der ihre »Furcht vor der Verführung durch einen ihr innerlich Fremden« (ebd.) steigere. Er macht dafür auch die »knappe Bestimmtheit des Ausdrucks« (S. 160) insofern verantwortlich, als Emilia ihre prinzipielle Verführbarkeit mit den Worten »›Auch ich habe Blut‹ u. s. w.« (ebd.) eingesteht.91 Heidemann knüpft diesbezüglich wieder an seine Vermutung 88 Heidemann argumentiert folglich psychologisch und geht mit seiner These parallel zur »unbewußten Perception« (ebd., S. 389), indem er voraussetzt, dass die Menschen dazu neigen, »wider die bessere Einsicht den Leidenschaften zu folgen« (ebd., S. 396). 89 Auch Barner u. a. schließen eine emotionale Nähe Emilias zum Prinzen nicht aus und stellen in diesem Sinne einen Gesamtzusammenhang zwischen ihrer Weigerung, ins Haus der Grimaldi zu gehen, ihrem sinnlichen Bekenntnis am Schluss des letzten Akts sowie ihrem Todesentschluss her, zumal dieses »Bekenntnis« »für die ›biblische Ideologie der tödlichen Gefahren der sozialen Welt‹ […] [steht], die der Tochter von ihrem Vater anerzogen wurde« (Barner u. a. 1998, S. 213). 90 Unter Bezug auf die antike Vorlage der Virginia-Episode betont Heidemann das »Moment der Individualisierung« des Stoffes. Lessing würde befolgen, was Schröder laut Fick gerade bemängelt, und zwar in »dem Augenblick, wo die innere Entscheidung fällig wird, enthüllt sich die Abhängigkeit der Figuren von einer poetologischen Vorentscheidung des Dichters«, wenn der »Stoff des Dramatikers seinen Figuren zuletzt zum Motiv« wird (Fick 2010, S. 394). 91 Barner u. a. interpretieren dieses »Bekenntnis« ähnlich kausal, denn es »ist keineswegs ein überraschendes und ›unbewußtes‹ Eingeständnis der erotischen Bindungen Emilias an den Prinzen« (Barner u. a. 1998, S. 213). Dies erweitert das von Fick immer wieder erwähnte Argument von der »unbewußten Perception« (Fick 2010, S. 395) dahingehend, als es der

49

Carsten Gansel und Mike Porath

vom überwältigenden Eindruck an, den der Prinz auf Emilia gemacht habe. Ihre Flucht in die Kirche sei dadurch begründet, weil sie auf diese Weise versuche, »eine Empfindung [zu] verscheuchen, die sie sich selbst nicht ganz gestehen mag« (S. 161). Diese als schuldhaft empfundene Wahrnehmung konstituiere letztlich die Figur der Emilia als »tragische Person«, von der – nach Lessings eigener Theorie – »eine Schuld verlangt« (ebd.) würde.92 Und dass Emilia ihr Vergehen einsehe, zeige sich an ihrem »richtige[n] Gefühl, dem Grafen Mittheilung [von der Begegnung mit dem Prinzen – die Verf.] machen zu müssen« (S. 162). Heidemann fasst gerade dieses Zusammentreffen mit dem Prinzen als Schlüssel zum Verständnis der Katastrophe auf. Emilia würde sich nämlich im eigenen, tiefsten Herzen bewusst, dass sie »diesem Manne gegenüber nicht ganz frei« sei (S. 163). Dies erkläre nicht nur ihre »Erregung« (ebd.), sondern mache ihre Schuld aus, denn sie unterrichtet ihren Verlobten nicht von dem Treffen. Entsprechend notiert Heidemann: »So ist die Schuld Emiliens eine geringe, aber es ist eine wirkliche Schuld und setzt sie in Gegensatz zu Virginia [die Hauptfigur der klassischen Vorlage – die Verf.], welche ohne innern Antheil schuldlos den Opfertod leidet« (ebd.).93 Aufgrund dessen reagiere Emilia auch bemerkenswert selbstbezogen auf den Tod Appianis, denn sie »ist es, um derentwillen der Prinz den Grafen ermordet; aber diesem Mörder steht sie selbst nicht fremd gegenüber, sie selbst hat dem Todten gegenüber eine Schuld, die den Mord ermöglichte« (S. 164). Dies sei der Grund, warum »ihr Leben jetzt für sie werthlos ist« (ebd.). Heidemann interpretiert Emilias Zustand folglich als einen unerträglichen, wodurch sich die Katastrophe motivieren und vollziehen würde. Gleichfalls gesteht er ein, dass zum Verständnis der Katastrophe nicht nur die »Annahme der Liebe« (ebd.) bei Emilia betrachtet werden müsse, sondern auch gerade die »Ansicht Lessings über die Schuld bei einer tragischen Person« (S. 164 f.). Dies würde zwar den dramatischen Genuss verkomplizieren, da die »Reflexion störend eingreife« (S. 165),94 aber auf diese Weise den Ausgang des Dramas als zwingend erscheinen lassen.95 Um den Ausgang in seiner Bedeutung nachzuvollziehen, sei es unerlässlich, die Figur des Odoardo Figur der Emilia als Subjekt eine Autonomie zuschreibt, derzufolge sie trotz oder gerade aufgrund ihrer »Tugend« einzusehen vermöge, »dass sie der ›Verführung‹ erliegen wird, dass ihre ›Sinne‹ sie den Weg des Lasters führen werden« (ebd., S. 396). 92 Die Forschung sieht die »Schuld« der Emilia wesentlich komplizierter und nicht allgemein in einem Verstoß gegen ihre (anerzogene) »Frömmigkeit« bzw. ihr »Leben nach religiösen und moralischen Grundsätzen« (vgl. Barner u. a. 1998, S. 212 f.) begründet. 93 Barner u. a. führen in diesem Zusammenhang Lessings »Distanzierung« vom ursprünglichen Virginia-Stoff an, infolgedessen die »Privatisierung« desselben bezüglich einer Ausschließung des »coram publico« (Barner u. a. 1998, S. 205) eine Motivation des tragischen Schlusses durch das Innere der Figuren verlangt, in deren Privatsphäre sich der Konflikt abspielt, »der genau an der Grenze zwischen öffentlich-politischem und privatmenschlichem Interesse situiert ist« (ebd., S. 206). 94 Fick erwähnt in dieser Hinsicht Nolte, nach dessen Ansicht »das Räsonnement von vornherein die Emotionen [breche]« (Fick 2010, S. 395). 95 Die Forschung hat laut Fick versucht, in diesem komplexen Zustand bei Emilia infolge der dramatischen Momente eine psychische Instabilität zu diagnostizieren, der bei ihr nach

50

Lessings »Emilia Galotti« auf den Höheren Schulen und in Schulprogrammschriften

näher zu betrachten. Mit Odoardo würde der Zuschauer schließlich »in die Katastrophenscene« (S. 165) treten, und diese Figur sei es, die sich besonders den »Tadel inconsequenter Zeichnung« (S. 166) zugezogen hätte.96 Heidemann nähert sich Odoardos komplexer Individualität97 über dessen »Mißtrauen in die eigenen Handlungen« (ebd.), insofern Odoardos Leben in der »thatenlosen Einsamkeit« (S. 167) seines Gutes ihn gegenüber dem »wirkliche[n] Leben mit seinen Forderungen« zum »Verkennen der Verhältnisse« und zu einer »unrichtige[n] Bethätigung des Willens« (ebd.) verleitet habe.98 Aus diesem Grunde versetze ihn die rachsüchtige Rede der Gräfin Orsina auch sofort in Raserei99, obwohl er zuletzt für sich »den Entschluß, hier selbst zu handeln, […] ganz auf[giebt]« und es »dem Himmel [überläßt], strafend einzugreifen« (S. 168). Die Vergegenwärtigung des geschehenen Verbrechens in Verbindung mit der Bedrohung seiner Tochter durch den Prinzen würde Odoardo allerdings durch den »Makel, der auf die Tochter geworfen wird«, in einer Weise mit »bitterste[m] Schmerz« (S. 169) erfüllen, dass er trotz des Versuchs, die »Fassung« zu bewahren, letztlich in der »Anwendung des väterlichen Rechtes« die einzige Möglichkeit sieht, »die Schande abzuwenden«. Diese Handlung würde ihre Begründung auch im »starren Gerechtigkeitssinn des Mannes« finden, der keinen anderen Ausweg sieht (S. 170.): »Entweder die grauenvolle Zukunft, oder mit dem Dolchstoß der Tod seiner Tochter. Es ist doch Alles zu Ende« (ebd.).100 Dass Emilia zum Schluss durch Odoardo stirbt, ist für Heidemann in 96

97 98

99 100

Weigand »Abscheu und Lebensekel« hervorruft oder sie auf die Begegnung mit dem Prinzen in der Kirche laut Reh mit einer »Amnesie« reagieren lässt (vgl. ebd., S. 392). Lessings »Individualisierung« bzw. »Privatisierung« der (antiken) Figuren und seine Verlegung des an sich politischen Konflikts in die Sphäre des Subjektiven rief seit der Uraufführung der »Emilia Galotti« Schwierigkeiten und Missverständnisse hervor: »Mit der Psychologisierung beginnt darüber hinaus das Rätselraten über das Motiv, das hinter Emilias Todeswunsch stehe« (ebd., S. 404). Fick zitiert in dieser Hinsicht einen Zeitgenossen, der meint, »wider Odoardo’s Handlung empört sich die Natur« (ebd., S. 405). Die von Heidemann betonte Kritik an Odoardos Charakerzeichnung basiert demnach auf dem Ausgang des Stücks. Barner u. a. verweisen auf Lessings Theorie über die »gemischten Charaktere« (vgl. Barner u. a. 1998, S. 211). In diesem Sinne erscheint Lessings Kritik an einem höfischen Lebensstil nur oberflächlich richtig, insofern an dem (privaten) Lebensmodell und -muster Odoardos (und Appianis) die Schwäche einer rousseauistischen Grundhaltung evident wird. Denn deren »Nähe zum Physiokratismus« und »Vorliebe für alte patriarchalische Strukturen und alte ländliche Sittlichkeit [impliziert] eine soziale Konzeption, die durch die gesellschaftliche Entwicklung des 18. Jahrhunderts längst überholt war« (ebd., S. 210). In diesem Auftritt beweist sich besonders, »wie sehr gerade in Emilia Galotti der dramatische Plan in Sprachhandlungen umgesetzt ist und der Dialog als Movens des Geschehens fungiert« (ebd., S. 217). In der Forschung ist bezüglich der spezifisch dramaturgischen wie tragischen Verknüpfung zwischen Odoardo und Emilia, d. h. von Vater und Tochter, auf der Basis dezidiert psychoanalytischer Zugangsweisen auch die »Inzest-These« angewandt worden, derzufolge sämtliche moral- wie sozialkritischen Ursachen für den Tod Emilias, denen zuletzt auch

51

Carsten Gansel und Mike Porath

mehrfacher Hinsicht begründet: Dazu gehört die »Festigkeit ihres Willens« und die Annahme ihrer Liebe zum Prinzen, aber auch die »Beachtung der Eigenthümlichkeit von Odoardos Charakter« (S. 171).101 Dessen zentrale Rolle als funktionales Momentum in der Dramaturgie der Handlung macht Odoardo nach Heidemann auch zum »Hauptträger der tragischen Handlung, dessen Schuld in der Schwäche gegenüber seiner eigenen leidenschaftlichen Natur und in der daraus entspringenden That liegt« (S. 172). Damit fokussiert Heidemann die Figur des Odoardo in einer Weise, wie dies für die »Emilia Galotti« bis dahin nicht der Fall gewesen ist.102

Julius Rohleder – G. E. Lessing’s Emilia Galotti als Lectüre für Prima. 1881. In seinem für den Jahresbericht des Königlichen und Gröning’schen Gymnasiums zu Stargard in Pommern von 1881 geschriebenen Aufsatz verfolgt Julius Rohleder in Bezug auf Lessings »Emilia Galotti« eine dezidiert didaktische Perspektive. Es geht ihm darum, durch die »Lectüre und Erklärung der classischen Werke unserer National­ litteratur« das »Verständnis der geistigen Entwickelung unsers Volkes« (S. 173) zu Heidemann folgt, auszuschließen seien: »Für Prutti ist die Beziehung zwischen Emilia und ihrem Vater eine inzestuöse Beziehung […], wie ihr Werben um dessen unbedingtungeteilte Zuneigung zeige« (Fick 2010, S. 392). Ihr sinnliches Bekenntnis am Schluss sei eine »Anspielung auf ihre Sexualität« (vgl. ebd.), womit sie sich jedoch ebenso »von der Mutter ab[grenze], um die geistige Vereinigung mit dem Vater zu erreichen« (ebd.), was gleichzeitig ihre »Weigerung, sich als ›Mutter‹, d. h. als sinnliche Frau zu sehen« (ebd.), anzeige, indem Emilia »ihre Identität als idealer Sohn [suche], wobei sie wiederum eine weibliche Rolle erfülle, indem sie dem Vater zur Restitution von dessen männlichem Selbstverständnis […] verhelfe«: »›[…] the daughter as her father’s ›first born son‹, i. e. a paradigm of resistance to the (m)other’s sensuality‹« (ebd.). 101 Heidemann konstruiert einen dramaturgischen Ausgleich in der Hauptsache auf der Basis der »gemischten« bzw. individualisierten Charaktere, deren jeweilige »Schuld« von ihrer subjektiven Ethik kontrastiert würde, womit er der noch gängigen Interpretationslinie des »psychologischen Dilemmas« (vgl. ebd., S. 395 ff.) folgt. 102 In der Forschung wird die Figur des Odoardo vielfach als das tragische Zentrum der »Emilia Galotti« angesehen. Das ist ein Aspekt, der einen Vergleich mit der Figur des Virginius möglich macht. Odoardo steht mit seiner Person für Emilias Tugendrigorosität als auch – privatisiert – für den selbstkritischen irdischen Rechtsstaat, der sein Vorbild in der (tugendhaften) ›Familie‹ hat (vgl. ebd., S. 398 ff.). In diesem Sinne ist Odoardo der ›Richter‹ sowohl seiner Tochter als auch des Prinzen. Seine Tragik speist sich allerdings aus der ihm eigenen Unentschiedenheit zwischen jenseitiger und irdischer Gerechtigkeit, insofern er allein Tod und Sühne als ›erzieherische‹ Mittel zu nutzen weiß (vgl. ebd., S. 401), um den vorherrschenden Zustand entsprechend seiner Auffassungen zu verbessern. Das »Mitleid« mit ihm bzw. seiner Figur und ihrem Schicksal würde damit auf diese Ausweglosigkeit zurückgehen. Die Vorbehalte gegenüber Odoardos Gestaltung blieben damit jedoch bestehen, wenn auch der Zielpunkt seiner Absichten, wie Heidemann es andeutet, vielmehr Angst als (wenn auch mitleidvolles) Verständnis auslöst.

52

Lessings »Emilia Galotti« auf den Höheren Schulen und in Schulprogrammschriften

fördern. Ein solcher Ansatz passe in das Jubiläumsjahr zu Lessing. Dies umso mehr, da sich die dramatische Mustergültigkeit Lessings an dessen »Emilia Galotti« lehrhaft nachweisen lasse.103 Rohleder ist davon überzeugt, dass es »kein Dichter mit solcher Gründlichkeit und Meisterschaft«, geschafft habe, »die Vorhandlung durch die Handlung leicht und wie absichtslos zu vergegenwärtigen«, wie »der mit berechnender Ueberlegung combinierende und mit grosser Menschenkenntnis motivierende Lessing« (S. 174). Ein umfangreiches, die anschließende Dramaturgie nachvollziehendes Verständnis der Exposition sei umso wichtiger, je mehr Lessing besonders in die Erscheinung der einzelnen Charaktere eine ihnen inhärente Logik eingezeichnet habe – so etwa bei Marinelli als einem »Höfling im schlechtesten Sinne des Wortes, ohne Ehre und Gewissen, ohne Gefühl für Wahrheit und Sittlichkeit« (S. 175) oder eben auch bei Emilia, die »in ländlicher Einsamkeit zu herrlicher Schönheit erwachsen« (S. 176) war und eine »fast schwärmerische Frömmigkeit« (S. 177)besitze.104 Rohleder rekonstruiert in diesem Zusammenhang die Handlung im Zuge der Begegnung zwischen dem Prinzen und Emilia in der Kirche, indem er mit der Interpretation ihrer »Stimmungen« (vgl. S. 178) den Schülern eine »zu einem übersichtlichen Bilde geordnete Darstellung der einzelnen Züge« (ebd.) zu vermitteln sucht. Sie sollen die »organi103 Rohleders nachdrückliche Fürsprache für den Einsatz von Lessings »Emilia Galotti« in der Oberstufe widerspricht der in der Forschung immer wieder tradierten, jedoch kaum nachgeprüften Ansicht von Lessings allgemeiner Überformung nationalistischer Verengungen als »Vorkämpfer des Deutschtums überhaupt« im Zuge der »preußischen Lessinginterpretation« (Barner u. a. 1998, S. 416) gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Zumeist wird behauptet, dass die »nationale Vereinnahmung Lessings und seine Stilisierung zum ›Kämpfer‹ und geistigen ›Eroberer‹« (Fick 2010, S. 5) dazu führten, seine im Sinne des (deutschen) »Nationalbedürfnisses« (vgl. ebd., S. 4) problematischen, »irrationalen« (ebd., S. 5) Werke vom Deutschunterricht auszuschließen. Damit wird seine Rezeption im 19. Jahrhundert unzulässig mit der »völkische[n] Literaturgeschichte« gegen Mitte der 1930er Jahre in Verbindung gebracht, einer Literaturgeschichte, die »mit Vorliebe auf Situationen zurück[griff ], wo ein nordischer Typ im Streit mit überfremdenden ausländischen Traditionen stand« (Barner u. a. 1998, S. 416). Besonders Rohleders Konzentration auf den spezifisch individuellen bzw. individualpsychologischen Konflikt in der »Emilia Galotti«, womit er einen in der damaligen Forschung zu Lessing intensiv diskutierten Aspekt weiter problematisiert, steht den eindimensionalen Auffassungen von Lessings Wirkung nach 1848 entgegen. 104 Die Meinung von der Mustergültigkeit der Exposition bzw. »Vorhandlung« der »Emilia Galotti« wurde zum stehenden Topos. Barner u. a. notieren dazu: »Insbesondere die Exposition wurde dafür gerühmt [die »Wahrscheinlichkeit der folgenden Begebenheit zu vermehren« die Verf.] […], weil sie ohne Rückgriff auf eine lange Vorgeschichte – es wird nur erwähnt, daß der Prinz Emilia einmal gesehen habe, außerdem, daß sich Odoardo einst den Gebietsansprüchen des Prinzen widersetzte […] – alle notwendigen Voraussetzungen schafft für die folgenden Verwicklungen und ihren tragischen Ausgang: Der Prinz wird sich endgültig seiner Abneigung gegen die Gräfin Orsina und seiner leidenschaftlichen Zuneigung zu Emilia Galotti bewußt […] und nimmt in dieser – für ihn – verfahrenen Situation den Intriganten Marinelli in Dienst« (ebd., S. 217).

53

Carsten Gansel und Mike Porath

sche Gliederung, […] die Disposition der Dichtung […] als ein organisches Kunstwerk und nicht als eine willkürliche Folge leidenschaftlicher Scenen erkennen« (S. 179). Es gehe »durch lebendige Vergegenwärtigung der handelnden Personen« (ebd.) in der Hauptsache darum, den »Kern, die Idee der Handlung« (S. 180) zu extrahieren, die in der »Emilia Galotti« »die verborgene Seele« sei. Es gehe dabei um die »Thatsache, dass eine edle und reine Jungfrau über alle Verfolgungen einer von Gewissenlosigkeit, Klugheit und unbeschränkter Machtstellung unterstützten, unreinen Leidenschaft durch selbstgewählten Tod einen glänzenden Triumph feiert« (ebd.).105 Nach Rohleder besteht die »Begründung« (vgl. S. 181) und Garantie für eine dramatische Notwendigkeit »in dem Wesen jeder dramatischen Fabel«, die es den Schülern ermögliche, den »Bau einer Mustertragödie« (ebd.) im Ganzen zu verstehen.106 Die Illusion und Wirksamkeit werde vor allem dann erreicht, wenn die »Darstellung wirklich dramatische Kraft hat […], denn nicht das, was als gewordenes bewundert oder verachtet wird, sondern nur das, was als werdendes mit Spannung und Mitleid verfolgt werden kann, hat für die Seele der Zuschauer anregende Kraft« (S. 183). Demzufolge kann der Rezipient laut Rohleder etwa am Prinzen sehen, wie »seine Sehnsucht zur Leidenschaft und zugleich zum verbrecherischen Entschluss wird« (S. 184). Rohleder schlägt in diesem Rahmen vor, die Bildende Kunst einzubeziehen und den Schülern »aus der Lessinggallerie von Friedrich Pecht die beiden Bilder des Prinzen und Marinelli’s […] zu zeigen« (S. 185).107 Angesprochen werden soll auch die Schuld-Problematik, denn dadurch, »dass sie [Emilia und Claudia – die Verf.] dem Bräutigam den Vorgang in der Kirche verschweigen«, funktioniere Marinellis Plan. In Folge wird betont, dass sich die »Emilia Galotti« wegen ihres »vortrefflichen Zusammenhang[s] der absteigenden Handlung mit der Exposition und der aufsteigenden Handlung […] fast zu der Höhe einer Charactertragödie« (S. 189) 105 Rohleder bewegt sich mit diesem Interpretationsangebot durchaus im Rahmen der aktuellen Forschung, die vor allem das »psychologische Dilemma« (Fick 2010, S. 395) in der »Emilia Galotti« hervorhebt und aus dem zeitgenössischen »Menschenbild und Gottesbild« (ebd., S. 398) im Zusammenhang mit der »conditio humana« (ebd., S. 397) und dem leibnizschen »Theodizeemodell« (ebd., S. 399) die äußere wie innere Konfliktisierung der Figuren herzuleiten und zu erklären sucht. 106 Der Vergleich zwischen »Intriguentragödie« und »Charactertragödie« nimmt seinen Ausgang von Lessings Bezugnahme auf das konstruktive Schema der Commedia dell’arte und seiner inhaltlichen Psychologisierung des Räsonnements der handelnden Personen (vgl. ebd., S. 394 f.). 107 Pecht, Friedrich: Lessing-Galerie. Charaktere aus Lessings Werken. Leipzig 1868. Die Figur des Prinzen ist mit Blick auf die Darstellung der »Leidenschaft« und deren Einflussnahme auf die Entscheidungen der handelnden Figuren nur eine der von Lessing gestalteten Determinanten einer Innenschau der Protagonisten. Fick betont im Bezug auf die Untersuchungen Ter-Neddens (2010), dass der »aufmerksame Zuschauer […] den natürlichen ›Grund‹ von alledem [des Konflikts der Figuren – die Verf.] [erkenne]: die conditio humana. Anders als den Figuren aber zeige sich ihm die ›Menschennatur‹ nicht als das subjektiv Trennende, sondern als das intersubjektiv Verbindende« (Fick 2010, S. 390).

54

Lessings »Emilia Galotti« auf den Höheren Schulen und in Schulprogrammschriften

erhebe.108 Es komme darauf an, den Schülern die Notwendigkeit der Katastrophe als Basis für die Tragik verständlich zu machen. Diese resultiere aus der Durchdringung der »an und für sich nach der Lebensanschauung gewöhnlicher Menschen so wenig begreiflichen Handlung, […] dass ein unschuldiges und heiteres Mädchen in der Blüte ihrer Jugend sich dem Tode entgegen sehnt, und […] ein liebender Vater sein eigenes Kind tötet« (S. 190). Dabei erkennt Rohleder besonders in Emilias Todeswunsch eine Schwierigkeit, diese »unerschütterliche Entschlossenheit […] den Schülern begreiflich zu machen« (S. 192).109 Letztlich gehe es darum, »die Schüler von der Gefahr selbstgefälliger und oberflächlicher Beurteilung der Meisterwerke« zu schützen. Sie sollten vielmehr die Klassiker »verstehen und bewundern« und nicht »kritisch untersuchen und bemängeln« (S. 194). Dazu diene der Einblick in die Entstehungsgeschichte. Für keine Dichtung sei »die Geschichte ihrer Entstehung belehrender als für Emilia Galotti« (S. 195).110 Für Rohleder ist es »ein bedeutendes Verdienst Lessing’s, die[] hemmenden Schranken französischer Regelmässigkeit durch die meisterhafte Kritik der allgemein bewunderten französischen Dichtungen in seiner Hamburgischen Dramaturgie durchbrochen und dem schaffenden Genius der deutschen Dichtung die Freiheit der Bewegung wiedergegeben zu haben« (S. 198).111 Damit diene Lessing

108 Rohleders These deckt sich weitgehend mit der Analyse von Reinhart Meyer (1973), der die »Emilia Galotti« bis zur 7. Szene des vierten Akts »als Charaktertragödie konzipiert« sieht, indem »der tragische Untergang aus dem Charakter der Protagonisten folgt«. Freilich wendet Meyer ein, dass Lessing die Charaktere »so angelegt [habe], dass sie zur Begründung einer tragischen Entwicklung nicht taugten«, denn sie seien »völlig unschuldig«, weshalb ab der 8. Szene desselben Akts »der dramatische Plan den Gesetzen der Handlungstragödie« folge (ebd., S. 394). 109 Die didaktische Problematik, die Rohleder anspricht, spiegelt sich in der zeitgenössischen und auch noch in der aktuellen Forschung wider. Dabei geht es darum, für Emilias Tod sowohl dramaturgisch-strukturelle als auch intentional-philosophische Merkmale in Lessings Drama fruchtbar zu machen. Dabei ist gerade auch Lessings Synthese aus christlicher und aufklärerischer (bürgerlicher) Ethik mitzubedenken. Rohleders Insistieren auf der individuellen bzw. ›seelischen‹ Problematik stellt demzufolge eine für damalige Verhältnisse bemerkenswerte hermeneutische Perspektive auf die »Emilia Galotti« dar. 110 Die Entstehung der »Emilia Galotti« zog sich von den ersten Skizzen in den 1750er Jahren bis zu ihrer Vollendung im Jahre 1772 und ist nicht nur deshalb von den jeweiligen konkreten Erfahrungen Lessings beeinflusst, so etwa der kurzen Anstellung als Dramaturg in Hamburg oder den Erlebnissen am Braunschweiger Hof (vgl. ebd., S. 379). Die Verbindung beider Komponenten, Lessings poetologische Selbstvergewisserung und seine Kritik des Hoflebens, sind daher als Einflussfaktoren nicht zu unterschätzen. 111 Rohleder erhebt Lessing zwar nicht zum »Franzosenfresser« (Barner u. a. 1998, S. 403), bedient sich jedoch des »Erbfeindklischee[s]« (ebd.). Dennoch ist zu betonen, dass zur (ideologischen und nationalen) Abgrenzung von Frankreich weniger die »Emilia Galotti« herangezogen wurde denn »Minna von Barnhelm« oder die »Hamburgische Dramaturgie«. Dass er dennoch darauf zu sprechen kommt, ist die Folge seiner durchaus behutsamen Betrachtungsweise.

55

Carsten Gansel und Mike Porath

einer »vertiefteren Auffassung der Geschichte« (S. 201).112 Rohleder räumt zwar in Bezug auf die geschichtsphilosophische Thematik dem »Macbeth«, der »grösser und erhebender« (S. 202) sei, den Vorrang ein, gleichwohl habe Lessing mit diesem Drama den »Uebergang […] zur bürgerlichen Tragödie« (ebd.) geschafft und sich von der Vorherrschaft der französischen klassischen Tragödie abgesetzt.113

Adolf Gustav Emil Dietrich – Über den Bau des Trauerspiels Emilia Galotti. 1882. In der wissenschaftlichen Beilage zum Programm des Progymnasiums zu Weissenfels von 1882 wird von Adolf Dietrich eine ›klassische‹ Problematik behandelt, nämlich das vom frühen Friedrich Schlegel zur »Emilia Galotti« in Umlauf gebrachte Diktum von einem »große[n] Exempel der dramatischen Algebra«.114 Dietrich geht dieser Frage jedoch unter anderen Voraussetzungen nach: Er wendet sich vor allem deshalb der Konstruktion und Komposition der »Emilia Galotti« zu, um einen Großteil der »ästhetische[n] Streitfragen« (S. 205) zu klären. Den Ausgangspunkt stellt dafür erneut der tragische Schluss des Dramas dar, also der Tod der Emilia durch ihren Vater Odoardo, den Lessing (so Dietrich unter Berufung auf die Untersuchung Bernhard Arnolds) im Sinne der aristotelischen Definition der Tragödie »richtig verstanden und daher mit vollem Rechte seiner Emilia Galotti einen peinvollen, der Natur des Tragischen entsprechenden Ausgang gegeben habe« (ebd.).115 Ungeachtet dessen räumt er ein, dass es zweifelhaft sei, »ob die Berechtigung 112 Rohleder plädiert damit im Zuge der Meinung von der »lückenlose[n] Kausalität« (ebd., S. 216) der »Emilia Galotti« für eine »Erweiterung« bzw. »Vertiefung« des positivistischen Geschichtsbildes. Infolge der zielgerichteten Verflechtung aus äußeren und inneren Umständen, wie Lessing sie vorführe, würde der begründete Befund von Ursache und Wirkung den Gang des »göttlichen Geistes« (für die Schüler) vorstellbarer machen. 113 Fick erwähnt Shakespeares »Macbeth« (1606) zwar nicht direkt, ihre Zusammenfassung der zeitgenössischen Rezeption der »Emilia Galotti« zeigt jedoch, dass von Beginn an auch auf ihrer Grundlage über den Vergleich Lessings mit Shakespeare die Loslösung von der französischen Dramatik angestrebt war. »Die Ambivalenz, die der dargestellten psychischen Verstrickung eignet, schlägt sich in der Tatsache nieder, dass man das Stück [nach der Uraufführung 1772 – die Verf.] an drei unterschiedlichen Gattungsmodellen misst: der klassizistischen Tragödie, dem bürgerlichen Rührstück und dem Drama Shakespeares« (Fick 2010, S. 402). Rohleders Bezugnahme auf »Macbeth« als Musterstück unterstreicht wiederum seine »vertieftere« Auslegungs- und Lehrmethode in Hinsicht der »Emilia Galotti«. 114 Barner u. a. markieren die Kritik Schlegels an Lessings Überlegungen folgendermaßen: »Was Goethe und Schlegel als Mangel erschien, entsprach jedoch Lessings dichterischem Selbstverständnis«, der »[d]ort [im 30. Stück der »Hamburgischen Dramaturgie« – die Verf.] […] vom Genie die rationale Durchdringung der historischen Zusammenhänge gefordert [hatte], mit dem Ziel, ›die unnützen Schätze des Gedächtnisses in Nahrungen des Geistes zu verwandeln‹« (Barner u. a. 1998, S. 218). 115 Bemerkenswerterweise sparen sowohl Barner u. a. als auch Fick in ihren Darstellungen und Analysen der »Emilia Galotti« den von Dietrich (und Volkmann) herausgestellten

56

Lessings »Emilia Galotti« auf den Höheren Schulen und in Schulprogrammschriften

der Katastrophe je bis zur Evidenz« (S. 206) nachgewiesen werde.116 Dietrich nutzt für seine Argumentation von der zweckmäßigen wie intentionalen Dramaturgie Lessings – besonders im Bezug auf den Ausgang der »Emilia Galotti« – die eingehende Analyse von Gustav Freytag.117 Danach würde »in dem ganzen Drama, wie in seinen Teilen, den Akten und Scenen, ein Grundgesetz zur Anwendung kommen«, und zwar das »des Kampfes und Gegenkampfes, des Steigens und Sinkens der Handlung« (ebd.).118 Die Hauptthese besagt, dass »im vollendeten Kunstwerke der Akt ein in sich abgeschlossenes Ganze sein und aus einem steigenden und fallenden Teile mit dazwischen liegendem Höhenpunkte bestehen« soll (S. 207). Genau dies sucht Dietrich im Folgenden für alle fünf Aufzüge der »Emilia Galotti« nachzuweisen. Dabei setzt er von vornherein die Position, dass »Lessing dies [die dramatische Geschlossenheit – die Verf.] erreicht hat«. Dies würde seinen Grund in der »tiefen Einsicht in das Wesen des Dramas und einer Sicherheit seiner Technik« haben (ebd.).119 Bereits in der ersten Szene des ersten Akts zeige sich Lessings Methode einer solchen oppositionellen Dramaturgie. Lessing betone hier den »Gegensatz der neuen Neigung des Prinzen zu der alten, markiert durch die beiden Fragen: ›Emilia?‹ und ›Orsina?‹« (S. 208) als ein spezifisch »dramatisches Moment« (ebd.). Um hinsichtlich der innerlichen Entwicklung der Hauptpersonen kausal an den nächstfolgenden

116

117 118

119

inhärenten aristotelischen Aspekt aus. Fick bemerkt zwar, dass »Lessings ästhetisches Modell am Ende des 18. Jahrhunderts insofern ein ›auslaufendes Modell‹ [ist], als die wirkungsorientierte Betrachtung der Tragödie (›Erregung von Leidenschaften‹) von der Autonomie-Ästhetik abgelöst wird« (Fick 2010, S. 359). Die theoretische Verbindung zur aristotelischen Poetologie ist gleichwohl insbesondere hinsichtlich der dramaturgischen Konfiguration der »Emilia Galotti« nicht völlig von der Hand zu weisen. Somit bliebe festzustellen, dass die aktuelle Forschung Lessings Dramatik bzw. Poetologie allgemein von Aristoteles’ Poetik begründet sieht, so dass auf dieser Basis eine autonome(re) Untersuchung ihrer intentionalen Funktionen im Drama (z.  B. in Bezug auf die ›Schuld‹-Frage oder die ›Mitleid‹-Thematik) unternommen werden kann. Barner u. a. stellen unumwunden heraus, dass »die Frage nach seinem [dem Schluss der »Emilia Galotti« – die Verf.] Sinn zu den meistdiskutierten Problemen der Lessing-Forschung [gehört]« (Barner u. a. 1998, S. 214) und konstatieren in diesem Zusammenhang ein »wohl kaum zu bewältigende[s] Dilemma jeder Deutung dieses Stückes« (ebd., S. 218). Es handelt sich um Gustav Freytags Studie »Die Technik des Dramas« von 1863. Dietrich betritt mit seinem Rückbezug auf Freytag Neuland und kann mit seinem Ansatz auch in der Gegenwart durchaus ernst genommen werden. Fick sowie Barner u. a. erwähnen Freytags Dramaturgie, die bei der Analyse kompositorischer Aspekte in Lessings Dramatik durchaus herangezogen werden kann, nicht. Fick betont, dass von der Erstaufführung an »stereotyp das Stichwort vom neuen ›Meisterwerk‹ des berühmten Autors« [fällt] (Fick 2010, S. 402). Auch Dietrich geht von diesem »Emilia Galotti«-Topos des »dramaturgischen ›Musterstück[s]‹« (ebd., S. 215) aus und beruft sich auf die positive Kritik von der »lückenlose[n] Kausalität, die in diesem Stück vorherrscht«, die »immer Bewunderer« [fand] (ebd., S. 216). Unter dieser Voraussetzung ließe sich jede Dramaturgie zur Verifizierung von Lessings Kompositionsmodell anwenden, die gemäß einer klassizistisch oder rational geprägten Methodik das Drama als ein »in sich abgeschlossenes Ganzes« betrachtet.

57

Carsten Gansel und Mike Porath

sinnvoll anzuschließen, würde Lessing z.  B. den Maler Conti deshalb einführen, um »die Gefühle des Prinzen, welche die Triebfedern zu verhängnisvollem Thun werden«, darzustellen (S. 209). Auf diese Weise verleihe Lessing »zugleich dem Charakter desselben einen tieferen Inhalt« (ebd.).120 Ebenso strukturell würde auch die Persönlichkeit Marinellis exponiert und präsentiert. Die einzelnen Szenen hätten das Ziel, seinen »Hass […] gegen den Grafen Appiani zu zeigen und zu begründen« (S. 210), um wiederum den »Wunsch von seiner Seite, den eventuellen Nebenbuhler [bezüglich Emilia als zukünftige Braut des Prinzen – die Verf.] unschädlich zu machen, schon aus diesem Grunde als begreiflich« (ebd.) erscheinen zu lassen.121 Die Nachricht von der bevorstehenden Heirat zwischen Emilia und Appiani benutzt Lessing laut Dietrich dementsprechend zur »Erhöhung der Spannung« (S. 211) sowohl der Handlung als auch der Gefühlslage des Prinzen. Dabei bezieht er sich auf Freytags metaphorische Darstellung zum Drama. Auch die folgenden Auftritte »klingen wie eine Ahnung kommenden Unglücks« (S. 213) und bereiten den Boden für die tragische Konstellation. Dies meine nicht nur die Intrige Marinellis oder die Leidenschaftlichkeit des Prinzen, sondern beziehe sich gerade auch auf die Familie Galotti.122 Dietrich liefert auf diese Weise eine Begründung dafür, warum sich Emilia gegenüber Appiani schuldig macht. Er leitet diese Schuld sowohl aus ihrer charakterlichen Kondition als auch aus der Bedingtheit ihres persönlichen Umfelds ab.123 Somit erfüllt nach Dietrichs Ansicht z.  B. der dritte Aufzug die Funktion, »das Charakteristische in der Stimmung« sowie die »hoch gesteigerte Erwartung« (S. 216) 120 Die Funktionalisierung der Nebencharaktere ist ein Resultat der Nähe des personalen Grundgerüsts der »Emilia Galotti« zum herkömmlichen Schema der Commedia dell’arte (vgl. Fick 2010, S. 393 f.). 121 Marinellis Auslegung als dramatisches Agens deckt sich mit Barner u. a., die in Bezug auf diese Figur vom »skrupellose[n] ›Dirigent[en]‹ des Geschehens« (Barner u. a. 1998, S. 217) sprechen. Dass jedoch in der Rezeption des Stückes nur selten Marinelli im Fokus der Analyse steht (vgl. Fick 2010, S. 402 ff.), spricht für eine vorwiegend funktionsorientierte Interpretation der Figur, deren dramatische Autonomie damit weitestgehend reduziert erscheint. 122 Die moralische Kategorie des »leidende[n] Gehorsam[s]« (Barner u. a. 1998, S. 212), die Barner u. a. in Hinsicht auf Emilias allgemeines Verhalten herausstellen, verweist zugleich auf einen »familiäre[n] Konflikt« (ebd., S. 213), der ungeachtet der vordergründigen Vater-Tochter-Beziehung Emilias »weibliches Subjekt-Sein« (Fick 2010, S. 392) verdeutlicht und sie demzufolge nicht ausschließlich durch den Prinzen in eine »Objekt- und Opferrolle« (ebd.) drängt. 123 Laut Fick erkennt die Forschung in dieser »leidenden« Einstellung Emilias noch etwas für das Verständnis ihrer charakterlichen Figuration Wesentlicheres, das Dietrich auf ihre innere Konstitution wie auf ihr persönliches Umfeld, d. h. auf den Einfluss Odoardos und Claudias, zurückführt. Dies bezieht sich – vor allem, was den Auftritt zwischen Mutter und Tochter nach der Begegnung dieser mit dem Prinzen in der Kirche angeht – auf »den Widerspruch zwischen dem Tugendideal und den Ansprüchen der Realität« (ebd., S. 393). Gerade mit dem »Schweigen« zeige Emilia, dass sie sich »den gesellschaftlichen Konventionen« unterwirft und »mitverantwortlich« ist »für die Katastrophe« (ebd.).

58

Lessings »Emilia Galotti« auf den Höheren Schulen und in Schulprogrammschriften

einsehbar zu machen. Entsprechend fragt er: »Welchen Eindruck macht die veränderte Situation auf die Seele der handelnden Personen« und »[w]elche Stellung werden sie zu einander einnehmen?« (ebd.). Die dramatische Zuspitzung sieht Dietrich in der Ausführung der Intrige Marinellis, infolgedessen im Sinne des von Freytag aufgestellten Kompositionsmodells die »Vereitelung des ruchlosen Planes und den Sieg der Tugend darzustellen, die Aufgabe des fallenden Teiles der Handlung« ist (S. 217). Emilias Mutter Claudia fungiere in dieser Hinsicht als ein wichtiger dramaturgischer Baustein, denn ein »wirkungsvoller Abschluss des Aktes wird dadurch hervorgebracht, dass sich die Mutter von ihrer sonstigen Schwäche zur kühnsten Äusserung der Leidenschaft erhebt« (S. 218). Dies sei vor allem der Absicht Lessings geschuldet, »die scenischen Effekte zu verstärken, um eine neue Spannung zu erregen und bis zum Schluss des Stückes noch zu steigern« (ebd.). Dafür benötige Lessing einerseits eine »grosse Kunst der Technik und Kraft des Talentes« (ebd.) und andererseits »eine neue Episode«, die der Stellung im Stück »entsprechend, grossartig und bedeutend« sei (ebd.).124 Zu diesem Zweck würde er sich der Rolle der Gräfin Orsina bedienen.125 Dietrich betont entsprechend: »Orsina und Odoardo sind in dem Kern ihres Wesens verletzt, daher sind die Äusserungen ihrer Seelenstimmungen so markig, ihre Entschlüsse so kühn« (S. 221). Genau das führe nach Arnolds Meinung dazu, dass die »›Erwartung des Publikums […] den Tod des Prinzen‹« fordere, die tragische Kunst hingegen »verlangt den Hingang Emiliens« (ebd.).126 Dass Odoardos Versuch, seine Tochter dem Einfluss des Prinzen dauerhaft zu entziehen, misslingt, gehöre demnach zur »sinkenden Handlung und soll die Katastrophe als unvermeidlich erscheinen lassen« (ebd.), zudem vor dem »losbrechenden Sturme« (S. 222) am Schluss des letzten Aktes einen »Ruhepunkt« (ebd.) initiieren, »so dass er [der Zuschauer – die Verf.] aufatmen und sich für die höchsten Wirkungen des Dramas sammeln kann« (ebd.).127 Die in den folgenden Szenen von Marinelli angewandte List habe zur dra124 Die dramaturgische Bedeutung der Figur der Claudia in den Auftritten des dritten Akts, die Dietrich hier betont, verschwindet in der Forschung zumeist hinter dem Auftreten der Orsina und dramatischen Wirkung ihrer »Eifersucht« und »Rachedelirien« (ebd., S. 399). 125 Fick spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die Figuren gegenseitig und untereinander ihre subjektiven positiven wie negativen Wunschbilder projizieren, womit sie »Gott und Vorsehung für die eigene Leidenschaften in Dienst« nehmen, von einem »Konzept der ›verworrenen Perzeptionen‹« (ebd.), das die tragische Handlung beschleunigt. 126 Diese Auslegung entspricht dem antiken Virginia-Stoff und verleiht der »Emilia Galotti« eine dezidiert politische Dimension »Er [Claudius Appius bei Livius – die Verf.] bedroht Ehre, Freiheit und Eigentum […]; den ›offenbaren Mißbrauch der obersten Gewalt‹ klagt Virginius an«, was Lessing dahingehend modifizierte, dass »Odoardos Schlusswort das Unhaltbare der Position des Prinzen in einer Monarchie [pointiert], die nicht zur Despotie verkommen soll« (ebd., S. 401). 127 Dietrichs Aussage vom wirkungsästhetischen »Ruhepunkt« vor dem »losbrechenden Sturme« mag zwar als subjektiv angesehen werden, sie trifft jedoch die (traditionelle) aristotelische Mitleids- bzw. Tragödienlogik mit dem (noch aktuellen) Aspekt einer individuell gebundenen, auf der Reflexion bzw. Eigenleistung des Rezipienten beruhenden Interpretation der Handlung und ihres Verlaufs.

59

Carsten Gansel und Mike Porath

maturgischen Legitimierung des Todes der Emilia die Aufgabe, »die vollkommene Rat- und Hilflosigkeit des unglücklichen Vaters« anzuzeigen, der »erkennt, dass er auf friedlichem Wege sein Kind aus den Schlingen des ihm gestellten Netzes nicht befreien kann« (S. 223).128 Odoardo müsse daher in Verbindung mit seiner Überzeugung, »dass sie schuldlos und einer ausserordentlichen That würdig sei« (S. 224), von seiner Hand sterben.129 Lessing habe also durch seinen »kunstgerechten Bau der einzelnen Scenen nach dem Gesetz des Steigens und Sinkens der Handlung« (S. 225) ganz im Sinne von Freytag die »verzweifelte Lage« am Schluss der Tragödie »erklärlich« (ebd.) gemacht. Dazu sei – folgt man der Notwendigkeit der Komposition – der Tod Emilias unausweichlich.130

Lothar Volkmann – Zu den Quellen der Emilia Galotti. 1888. In der Festschrift des Städtischen Realgymnasiums zu Düsseldorf zu dessen fünfzigjährigem Bestehen 1888 findet sich der Beitrag von Lothar Volkmann »Zu den Quellen der Emilia Galotti«. Volkmann beabsichtigt in dem Aufsatz die inhaltlichen Zusammenhänge zwischen Lessings »Emilia Galotti« und den spanischen und französischen Vorlagen, die er als »Quellen« bezeichnet, genauer zu untersuchen. Er verfolgt dabei die Absicht, Lessings »dramatisch-kritische Schaffensweise« (S. 230) näher zu beleuchten.131 128 In diesem Sinne würde die Ursache des tragischen Todes der Emilia wie der tragischen Tat des Odoardo hauptsächlich durch dessen »Affekthandlungen« (ebd., S. 395) zu verantworten sein, was zwar den in »Emilia Galotti« ebenso thematisierten »Widerstreit zwischen Vernunft und Leidenschaft« (ebd.) apostrophierte, die in der Forschung viel diskutierte Kontextualität ihres dramatischen Endes bezüglich religiöser, anthropologischer und sozial- wie moralkritischer Konsequenzen allerdings weitestgehend ausspart. 129 Die Forschung sieht den Schluss des Dramas nicht so konzis wie Dietrich. So heisst es bei Barner u. a.: »Zwar könnte der Zuschauer in dieser Richtung weiterdenken und den Schluß des Stückes – in Erinnerung an die ursprüngliche Virginia-Fabel und die deutliche Politisierung des Geschehens durch Odoardo im 5. Akt – als indirekte, verborgene Aufforderung zur Gewalt gegen absolutistische Willkür verstehen«, dennoch »wird in dem Trauerspiel […] nicht die Frage beantwortet, mit welchen Methoden der alte Staat beseitigt und eine neue Gesellschaft errichtet werden solle und könne« (Barner u. a. 1998, S. 214). 130 Ungeachtet der vielen differenzierten Ansätze, die Fick aufführt und selbst bei der Analyse der »Emilia Galotti« anwendet, ist es bis heute der Lessing-Forschung nicht gelungen, besonders das tragische Ende derselben, das nach Barner u. a. »weder in ästhetischer, noch in moralischer oder politischer Hinsicht« befriedigen kann (ebd.), »erklärlich« zu machen. Jedoch ist Dietrich insofern zuzustimmen, als aus der Perspektive »dramatischer Motivierungskunst« (ebd., S. 217) – und Karl Eibl (1977) folgend – sämtliche »Fehlhandlungen [der Figuren – die Verf.] sich auf eine unheimliche Weise komplementär« verhalten und »nur alle zusammen zur Katastrophe« führen (ebd.). 131 Volkmann präferiert eine philologische Herangehensweise, die darauf abzielt, an der »Emilia Galotti« Lessings »Meisterschaft« bzw. die »Mustergültigkeit« der dramati-

60

Lessings »Emilia Galotti« auf den Höheren Schulen und in Schulprogrammschriften

Volkmann beginnt seinen Beitrag mit einem längeren Zitat aus Lessings »Hamburgischer Dramaturgie«, um auf dessen selbstkritischen Ansatz – es geht um die Überlegungen zur Dramatik – aufmerksam zu machen. In der Forschung finde sich nämlich der Hinweis auf Lessing als einen »in Pein und Schweiss producierende[n] dramatische[n] Algebraiker« (S. 229). Die Mustergültigkeit der »Emilia Galotti« besonders im Hinblick auf die Erregung von Mitleid bedarf laut Volkmann allerdings einer Klärung. Es müsse analysiert werden, inwiefern die Quellen des Dramas sowie deren Verarbeitung durch Lessing die eine Grundlage für die nachfolgenden positiven Bewertungen bilden könne. Volkmann baut seine Argumentation weniger auf der historischen Ursprungsquelle bei Livius und dessen Bericht »über das Schicksal der Virginia« (S. 230), sondern hauptsächlich auf den beiden »Virginia«-Dramen des spanischen Dichters Augustín de Montiano (1697 – 1764) und des französischen Dramatikers Jean-Galbert de Campistron (1656 – 1723) auf.132 Nachfolgend unterteilt Volkmann seine Untersuchung in zwei Teile, der erste Teil setzt sich mit der »äussere[n] Fabel« (S. 231) der »Virginia« bzw. »Emilia Galotti« auseinander, der zweite geht den wichtigsten »Charaktere[n]« (S. 235) auf den Grund. Dabei weist er bezüglich der »äusseren Fabel« sogleich darauf hin, dass gegenüber dem Bericht »bei den alten Autoren« (S. 231), bei denen die »engere Geschichte der Virginia […] nur ein Nebenmotiv in der grossen Haupt- und Staatsaktion« (ebd.) darstelle,133 dasselbe bereits bei Montiano und Campistron und schließlich bei Lessing zur »Hauptsache« (S. 232) werde. Im Unterschied zu diesem und seiner moderneren Dramatik würden die formalen »Veränderungen« (ebd.) bei Montiano und Campistron jedoch weit eher auf deren »strenge[m] Festhalten der drei dramatischen Einheiten« (ebd.) beruhen, weshalb beide gemäß den Normen der »französischen Regeln« (ebd.) die äussere Anlage des Dramas deren Prinzipien angepasst hätten,134 wohingegen Lessing »im Sinne des wahren Aristoteles die Einheit der Handlung als höchstes und einzig verbindliches Einheitsgesetz« (S. 233) befolge. Ungeachtet dessen haben sich aufgrund dieser normativen Anpassungen in den »Virginia«-Dramen von Montiano und Campistron, etwa die »Gleichstellung der Personen« (ebd.) in Bezug auf die Beachtung der sozialen Rangordnung betreffend, für die »Emilia Galotti« grundlegende Vorteile ergeben. Diese seien schen Komposition zu überprüfen. Auch Barner u. a. gehen der Frage nach dem »dramaturgischen ›Musterstück‹« nach (Barner u. a. 1998, S. 215 ff.). 132 Bemerkenswerterweise spielen die Autoren Campistron und Montiano bei Fick sowie bei Barner u. a. gegenüber den antiken Vorlagen von Livius sowie Dionysios so gut wie keine Rolle. Fick erwähnt sie nur in Bezug auf »das warnende Beispiel eines Tyrannen« (Fick 2010, S. 380; vgl. Barner u. a. 1998, S. 203 – 205). 133 Fick betont, dass bei Livius und Dionysios aufgrund des »durch und durch politische[n] Zuschnitt[s] der antiken Erzählungen« die »Liebesraserei und das Verbrechen des Appius Claudius den Anstoß zur Rebellion und Vertreibung der Decemvirn [geben]« (Fick 2010, S. 379 f.). 134 Laut Fick, die sich auf Elisabeth Frenzels Lexikon »Stoffe der Weltliteratur« (1970) bezieht, ist es vor allem der Virginia-Stoff, der »den Bedingungen der klassizistischen Tragödie entgegenkomme« (ebd., S. 380).

61

Carsten Gansel und Mike Porath

für Lessing besonders in Hinsicht auf die Personenkonstellation und deren Konfliktisierung signifikant geworden. Volkmann führt damit das eigentliche Wesen der »Emilia Galotti«, »die ganze Seele […] erschüttern« (S. 234) zu können, auf die bei Montiano und Campistron erfolgte Konzentration des tragischen Entwurfs auf das Schicksal der Virginia zurück, was zugleich den notwendigen dramaturgischen Entwicklungsgang von Lessings ersten »Virginia«-Skizzen aus den 1750er Jahren bis zur Vollendung der »Emilia Galotti« im Jahre 1772 begründen würde.135 Nicht unerwähnt lässt er dabei, in welcher Weise Lessing die bei seinen Vorgängern gefundenen Veränderungen zugunsten seiner dramatischen Absicht modifziert habe. Zu diesem Zweck habe er bei der Überführung der Personen des Dramas aus der römischen Antike in einen zeitgenössischen italienischen Duodezstaat besonders »Campistrons Neuerungen fast durchgängig benutzt« (S. 235).136 Volkmann gelangt gleichwohl zu der Auffassung, dass Montianos Vorlage gegenüber derjenigen Campistrons hinsichtlich der »Entwicklung der Handlung aus den Charakteren« (ebd.) größere Relevanz besitze. Die von Lessing laut Volkmann schon bei Montiano und Campistron vorgefundene Verlegung des Kerns der dramatischen Handlung auf die Person der Virginia hatte im Sinne ihres tragischen Verlaufs zur Folge, »den Tochtermord von Seiten des Vaters begreiflich zu machen« (ebd.). Lessing habe sich dies insofern zunutze gemacht, als »dass er einen Vater schuf, der die Tochter in gutherzigster Übereilung, da seine und der Seinen Ehre ihm bedroht scheint, tötet« (ebd.).137 Diese Modifikation der inneren Beweggründe der handelnden Charaktere sieht Volkmann auch in der Figur des Marinelli/Clodius in dem Stück von Campistron vorgebildet, dem Lessing folgen musste, »da auch sein Marinelli für das Bubenstück verantwortlich werden sollte« (S. 236). Zur Einhaltung des tragischen Kodex hätte er jedoch »durch Fortbildung des Feindschaftsmotivs den absoluten Bösewicht, wie ihn Campistron zeichnet, in einen Teufel aus Notwehr« (ebd.) umgeschaffen. Ähnlich würde Lessing auch in Bezug auf andere Handlungsmomente verfahren, so erkennt Volkmann z.  B. in dem Tod des Grafen Appiani oder in der »nur moralischen Bestrafung der beiden Schuldigen« dessen »eigentümliche Weiterbildungen der äusseren Fabel« (ebd., Fußnote 32). Im Hinblick auf die »Virginia«-Quelle des Montiano sei die Anregung zur Umund Weiterbildung der Charakteristik der Figuren bei Lessing noch offenkundiger. 135 Fick führt an, dass sich im Laufe der Zeit in den Bearbeitungen des Stoffes die VirginiaHandlung »nunmehr gegenüber der politischen Geschichte [verselbständigt]« hat und »die Verteidigung der Ehre und (weiblichen) Unschuld das Interesse auf sich [sammelt]« (ebd.). 136 Fick geht noch einen Schritt weiter und meint, dass »einige lockere Parallelen zu dem historischen Hintergrund [bestehen], was das Geschlecht der Gonzaga und den Rechtsstreit um das Gut Sabionetta (17. Jahrhundert) anbelangt« (ebd.). 137 Barner u. a. sprechen von der »Pflicht und dem Stolz des Vaters, der, zur Insurrektion nicht fähig, seine Tochter tötet« (Barner u. a. 1998, S. 213), während Fick den diesbezüglichen Aufsatz »Die Halsstarrigkeit der Tugend« (1970) von Gerd Hillens anführt (vgl. Fick 2010, S. 388).

62

Lessings »Emilia Galotti« auf den Höheren Schulen und in Schulprogrammschriften

Volkmann geht von einer konzisen, kausal funktionierenden Charakterzeichnung aus, weshalb er auch der in der Forschung häufig begegnenden Annahme einer (heimlichen) Liebe Emilias gegenüber dem Prinzen dahingehend widerspricht, dass Lessing »eine liebende Emilia […] auch verliebt handelnd eingeführt« (S. 237) habe.138 Schon bei Montiano zeichne sich die Figur der Virginia durch eine »›gewöhnliche Aufrichtigkeit‹« (S. 238) aus, dementsprechend alles, »was sie [Emilia – die Verf.] äussert […] durchweg aus ihrer innersten Empfindung hervor[geht]« (ebd.). Die Beeinflussung der charakterlichen Veranlagung der Figur des Odoardo sei sogar noch evidenter, indem Volkmann eine »Parallelität von Montianos Virginius und Lessings Odoardo« (S. 239) feststellt, deren Intention es sei, »durch Annahme der Aristotelischen Hamartie« (S. 238, Fußnote 41), »die zum Schicksalsdrama treibt, […] und [der] poetische[n] Gerechtigkeit, d. h. hier ›Proportion zwischen Hamartema und Leiden‹« (S. 239), zu vermitteln.139 Die handlungsspezifische Ursache der dargestellten Tragik verschiebt sich nach Volkmann demnach, denn »Lessing gelangt zu dem entgegengesetzten Resultat wie Montiano: Virginia lässt sich beraten, entscheidet aber selbst; Emilia fragt vertrauend, und die Mutter entscheidet« (ebd.), weil Lessing »das Gegenteil erreichen will wie Montiano« (S. 240). Um der »theoretischen Forderung der Hamartia gerecht zu werden« (ebd.), »soll und muss [Emilia] zu dem kommenden Unheil das ihrige beitragen«, was sie letztlich »schuldlos« sein lasse, »denn sie handelte recht« (ebd.), insofern die »Autorität« (ebd.) ihrer Mutter Claudia ebenso über sie bestimmen würde wie der »ausserordentliche […] Argwohn« (S. 241) ihres Vaters Odoardo, von dem »ein gut Teil [s]eines Geistes auf sie übergegangen« sei (ebd.).140 Auch den »schwermütigen« Wesenszug in Appianis Charakter hätte Lessing von Montiano zur Verstärkung des tragischen Zwecks übernommen, der diesen »zuerst […] seinem Icilius an[dichtete]« (S. 243)141, und dies 138 Die Problematik einer »heimlichen Liebe« Emilias zum Prinzen beschäftigt die Kritik und Forschung seit der Uraufführung. Diese Position erfuhr im Zuge der Bevorzugung psychologischer Deutungsmuster eine insbesondere den tragischen Ausgang des Dramas interpretierende Beachtung. Fick nimmt diesen wichtigen Diskussionsgegenstand in ihren Kapiteln »Emilias Verführbarkeit. Psychologie im 18. Jahrhundert« sowie »Das psychologische Dilemma« auf (vgl. ebd., S. 395). 139 Das von Volkmann in die Auslegung der »Emilia Galotti« als »Schicksalsdrama« eingebrachte dramatische Theorem der »Aristotelischen Hamartie«, also das ›Fehlerhafte‹ im Charakter des dramatischen Helden, das ihn ins Unglück stürzen lässt, verbindet die in der Forschung des 19. Jahrhunderts häufig dominierenden Sichtweisen von Lessing als ›Meister‹ sowohl der dramatischen Konstruktion der Handlung als auch der der Personen. Gleichzeitig ergeben sich bei Volkmann Bezüge zur aktuellen Forschung, die den Aspekt der Hamartie weiter fortführt, indem sie z.  B. die »conditio humana« der lessingschen Dramenfiguren hervorhebt (vgl. ebd., S. 397 ff.). 140 Barner u. a. betonen diesen Aspekt insofern, als »die ›biblische Ideologie der tödlichen Gefahren der sozialen Welt‹ […] der Tochter von ihrem Vater anerzogen wurde« (Barner u. a. 1998, S. 213). 141 Barner u. a. schwächen die »Schwermut« Appianis zugunsten der zeitgenössischen (Charakter-)Mode der »empfindsame[n] Züge«, die dieser besitze, ab (vgl. ebd., S. 212).

63

Carsten Gansel und Mike Porath

»um so bereitwilliger […], als ja sein Appiani dem tragischen Verhängnis mit zum Opfer fällt« (ebd.). Allein die Figur des Prinzen beruht nach Volkmanns Ansicht zum Großteil auf Lessings Schöpfung, denn der Prinz »ist kein Appius [einer der Decemvirn in Montianos »Virginia«-Drama – die Verf.] mehr« (S. 244), indem gerade die »stufenweise Entwicklung« seiner Leidenschaft gegenüber Emilia »Lessings Meisterwerk« ist (ebd.).142 Allenfalls hätte Lessing sich diesbezüglich formaler und situativer Handlungsmomente bedient, wie er sie etwa in den »Essexdramen« (S. 245) vorfand, aus denen er nicht nur »mit scharfem Blick […] die kunstvolle Eröffnung der Emilia Galotti entlehnt« [hat] (S. 244), sondern »unter diesen Umständen wohl nicht durch blossen Zufall« (S. 245) auch ihren Schluss: »Dieselbe Strafe des Intriguanten verbunden mit sentenzartiger Äusserung des Fürsten« (ebd.). Es sei angemerkt, dass Volkmanns Hinweis auf die Dramen über den englischen Grafen Essex (1566 – 1601) in der aktuellen Forschung keine Entsprechung findet, obwohl sein Vergleich zwischen diesen und Lessings »Emilia Galotti« nicht allein aufgrund der Ähnlichkeit des dramatischen Aufbaus – etwa des Anfangs – treffend erscheint.143 Letztlich stellt Volkmann Lessing als einen Dramatiker heraus, dem es zugunsten der moralischen Fabel weniger um die reine Äußerlichkeit des Dramas, denn um dessen kausale Notwendigkeit und tragische Determination gegangen sei.

Gustav Kettner – Über Lessings Emilia Galotti. 1893. Die ›Natürlichkeit‹ der Handlung und ihres tragischen Ausgangs in Lessings »Emilia Galotti« steht in dem Aufsatz von Gustav Kettner im Mittelpunkt. In seinem Beitrag, der dem Jahresbericht von 1893 der Landesschule in Pforta beigefügt ist, untersucht Kettner die Wahrscheinlichkeit der Katastrophe um Emilias Tod, indem er neben der dramaturgischen Komponente die Frage nach Lessings Menschenbild im Kontext 142 Fick stellt unumwunden heraus, dass »[d]ie Figuren frei erfunden [sind]« (Fick 2010, S. 380), was schließlich – gerade in Hinsicht auf die Forschung im 19. Jahrhundert – Lessings Originalität sowie Modernität bezüglich seiner Charakterschöpfung und -zeichnung unterstreicht. 143 Interessanterweise firmiert die Figur des Grafen Essex in der englischen Literatur als ein dramatischer Typus, der dem Elisabethanischen Zeitalter entstammt, wo er im Zusammenhang mit dem »political Petrarchism« der Dichter dieser Epoche als das Modell eines »um Gunst und Ämter rivalisierenden Höfling[s], ein[es] Ralegh etwa oder ein[es] Essex, [die] sich zu Petrarcas stilisieren« (Englische Literaturgeschichte 2012, S. 107), genannt wird. Die »empfindsame[n] Züge« (Barner u. a. 1998, S. 212), die Appiani auszeichnen würden, fänden somit eine Parallele in diesem Essex-Typus, der ebenso als Träger der Obrigkeit eine petrarkistische Grundhaltung vertritt, was wiederum in Bezug auf Appiani dessen »empfindsame[s] Liebesideal« (Fick 2010, S. 386) zwischen ihm und Emilia grundiert. Zugleich würde diese Entdeckung ein anderes Schlaglicht auf die Leidenschaftlichkeit des Prinzen werfen und Appiani in Bezug auf seine Charakteristik ähnlich diffizil erscheinen lassen. Ob sich Lessing aber tatsächlich auf eines dieser »Essex­ dramen« stützte, bleibt Spekulation.

64

Lessings »Emilia Galotti« auf den Höheren Schulen und in Schulprogrammschriften

seiner Zeit stellt.144 Denn besonders Lessings Entschluss, die antike Vorlage seines Dramas zu einer »bürgerliche[n] Virginia« umzuwandeln und die »heroische That […] nur aus persönlichen und Familienmotiven abzuleiten, sie in die Gegenwart zu versetzen und aller politisch-historischen Vorbedingungen und Konsequenzen zu entkleiden« (S. 247), sei Grundlage für die epochale Wirkung, die weit über das 18. Jahrhundert hinaus gehe. Kettner versucht daher zu zeigen, »welches Bild der Welt […] vor Lessings Seele« stand und wie er sich zu den »allgemeinen Verhältnissen« (S. 248) seiner Zeit verhielt.145 Für die Untersuchung greift Kettner auf ähnlich strukturierte Dramen der Zeit zurück wie Schillers »Kabale und Liebe« oder Goethes »Egmont«146, um die »harte Wirklichkeit dieses Bildes« in der »Emilia Galotti« in ihrem Zusammenspiel aus menschlicher Grundverfassung und »entsetzliche[r] Gegenwart« (ebd.) überprüfen zu können. Dabei geht es ihm aber nicht darum, ob »es an sich richtig sei«, wie Lessing die Verhältnisse dargestellt habe, sondern darum, ob der Autor die »dargestellten Zustände so in sich begründet, uns so anschaulich und glaubhaft gemacht hat, dass wir den furchtbaren Zwang, mit dem sie auf das Handeln der Personen des Dramas wirken, lebendig nachfühlen können« (S. 249). Insofern habe Schiller, obwohl erst in der Nachfolge Lessings, Vorbildliches geleistet. Mit »Kabale und Liebe« übertreffe er die »Emilia Galotti«, denn in dem Drama würde man die »drückende Luft dieser kleinstaatlichen Tyrannei« und die »völlige Rechtlosigkeit des Bürgers« fühlen. Zudem würde die »Korruption der höheren Kreise« vorgeführt, die »Üppigkeit und Verschwendung des Hofes, die grausame Gleichgiltigkeit gegen das Leben der Unterthanen« (S. 249 f.). Im Vergleich dazu 144 Die Kontextualisierung, die Kettner anstrebt, findet in der aktuellen Forschung insofern eine Entsprechung, als man die literarisch-ästhetischen, poetologischen und persönlichen Bedingungen der Entstehung der »Emilia Galotti« und damit zusammenhängend das dem Drama zugrundeliegende »Menschenbild« Lessings häufig in die Analyse miteinbezieht. »In fast allen seinen Stücken nimmt Lessing aktuelle Debatten (Der Freigeist, Nathan), skandalöse gesellschaftliche Verhältnisse (Die Juden), die Gemüter aufwühlende Zeitereignisse (Krieg und Frieden: Philotas und Minna von Barnhelm) zum Anlass, um daran seine Version vom Wesen des Menschen zu entwickeln«, weshalb es bezüglich der »Emilia Galotti« darauf ankomme, »die Verflechtung von philosophisch-anthropologischem, religiösem und gesellschaftlich-politischem Interesse zu erkennen« (ebd., S. 379). 145 Auch Barner u.  a. betonen die »Privatisierung des Virginia-Stoffes«, besonders Lessings zeitliche »Verlegung« (vgl. Barner u. a. 1998, S. 205) des Stoffes aus der römischen Antike »in einen absolutistisch regierten italienischen Kleinstaat der Renaissance«. Diese »Dis­ tan­zierung« hätte »die Möglichkeit zur unreflektierten Identifikation mit Gegenwärtigem [unterbunden] und den Denkanstoß [betont], den das Stück geben sollte« (ebd.). Das »Zurücktreten« des »institutionelle[n] und organisatorische[n] Aufbau[s] des Staates hinter die personalen Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Fürst und Untertan« (ebd.) betont damit bereits die von Kettner bevorzugte Fokussierung auf die bis heute für die Auslegung ausschlaggebenden zwischenmenschlichen Beziehungen in Lessings Drama. 146 Während Schillers Drama durchaus in der Forschung in Bezug auf »Emilia Galotti« diskutiert wird (vgl. Fick 2010, S. 405), spielt Goethes »Egmont« keine Rolle.

65

Carsten Gansel und Mike Porath

nehme sich »der Hintergrund in Lessings Drama »matt und verschwommen« aus (S. 250).147 Kettner widerspricht dabei gerade der Auffassung von Lessings dramaturgischer Meisterschaft insofern, als in der »Emilia Galotti« »die einzelnen Momente […] oft so künstlich verknüpft« seien, »dass dadurch seinem Drama ein ganz bestimmter Charakter aufgedrückt wird« (ebd.). So werde die »Entwicklung der Handlung […] in einer ans Wunderbare grenzenden Weise« vom »Zufall« (ebd.) bestimmt. Es sei beispielsweise ein »Zufall«, dass »Marinelli – obgleich die Hochzeit so lange geheim gehalten ist! – über alle Einzelheiten derselben aufs genaueste orientiert« ist (S. 251). Ebenso zufällig wäre der Umstand, dass »Odoardo durch einen verhängnisvollen Zufall eine Minute vor Emilias Auftreten [nach ihrer Rückkehr aus der Kirche – die Verf.] entfernt wird« und »Appiani nicht früher erscheinen [darf ], als bis Emilia ihre Erzählung beendet hat« (ebd.).148 Nach Kettner würde Lessing mit seiner »Zufalls«-Dramaturgie auf einen »höheren Zusammenhang« (S. 253) anspielen, »dass wir unter dem Zufall gläubig das Walten der Vorsehung zu verehren haben« (S. 254).149 Selbst der Intrigant Marinelli, »[s]onst […] nur Maschine« und »dazu da, die Fäden, die der Zufall knüpfte, geschickt oder ungeschickt zu verwickeln« (S. 256), sei von dieser Schicksalshaftigkeit betroffen, weil er in seiner Rolle als »böser Engel«(S. 257), der »über das Menschliche hinaus an das 147 Fick unterstreicht ebenso die Wirkung der »Emilia Galotti« auf Schiller im Zusammenhang mit der Epoche des Sturm und Drang: »Das Verhältnis von Emilia Galotti zur Dramatik des Sturm-und-Drang […] lässt sich am Beispiel der Tragödien des jungen Schiller beleuchten. E. Schmidt zeigt […] zahlreiche sprachliche Echos auf, Schiller ›ahmt‹ das Gedrängte und Geschliffene des Dialogs nach, auch das Personal seiner frühen Stücke scheint zum Teil nach Lessings Figuren modelliert (vor allem in Kabale und Liebe, 1784)« (ebd.). Darüber hinaus bewertet Fick gerade den von Kettner als »matt und verschwommen« beurteilten Charakter der »Emilia Galotti« gegenüber Schillers »Kabale und Liebe« positiv, denn »[w]o Lessing auf die suggestive Kraft des understatement baut, arbeitet Schiller mit allen Mitteln der Übersteigerung. Dementsprechend ist die Motivation seiner Figuren mittels des psychologischen Modells, dem Lessing folgt, nicht mehr zu fassen« (ebd.). 148 Fick zufolge, die sich hier auf die Studien von Erich Schmidt (1923) stützt, bewegt sich Kettner mit seiner Apostrophierung des »Zufalls« in der Dramaturgie der »Emilia Galotti« im gängigen Deutungsrahmen des 19. Jahrhunderts. Schmidt notiert entsprechend in dieser Hinsicht: »gerad an diesem Tage muß der Prinz wieder an Emilia erinnert werden, muß unmittelbar darauf Conti ihr Bild und wieder unmittelbar darauf Marinelli die Nachricht ihrer gerad auf diesen Tag anberaumten Vermählung bringen, gerad an diesem Tag muß Orsina ihren Brief schreiben; und so fort, nichts früher, nichts später, damit jeder Zufall planmäßig in dem aufgezogenen Räderwerk arbeite« (ebd., S. 394). 149 Die Zeitgenossen Lessings urteilten laut Barner u. a. wesentlich direkter und bezogen das »Verhängnis« bzw. die »Vorsehung« weniger auf einen metaphysischen Hintergrund als auf die Figur des Marinelli, da ihrer Ansicht nach »nicht ein undurchschaubares und unabweisliches Fatum über dem Geschehen walte, sondern ein liederlicher und bisweilen fast lächerlicher Intrigant«, was die »Emilia Galotti«, so die Meinung Ludwig Tiecks, »zu sehr ein zugespitztes Intrigenspiel« (Barner u. a. 1998, S. 216) sein ließe.

66

Lessings »Emilia Galotti« auf den Höheren Schulen und in Schulprogrammschriften

Teuflische« (S. 256) grenze, insgesamt einen »tieferen Sinn[]« (S. 256) garantiere. Kettner bringt die Figur mit Lessings frühen »Faust«-Plänen in Verbindung und einer eschatologischen Betrachtungsweise von »menschlicher Schuld«: »Dass er [der Teufel in Lessings »Faust«-Fragment – die Verf.] dich [Faust – die Verf.] noch sündigen lässt, ist schon Rache!« (S. 257, Fußnote 4).150 Um jedoch eine solche in die metaphysische Spekulation spielende Grundstimmung in seinem Drama hervorrufen zu können, habe Lessing einer in dieser Hinsicht funktionellen Figurengestaltung bedurft (vgl. S. 258). Dazu gehöre der »Typus eines Cholerikers« wie »eines Melancholikers« (ebd.), jedenfalls ginge es um eine »auffallende Reizbarkeit und innere Erregung«: »Sie haben alle etwas eigentümlich Nervöses«, so Kettner (S. 259).151 Diese von Lessing konstruierte Dramaturgie aus »innerer Unfreiheit« und »Verhängnis« als ein auswegloses »Dilemma« vernichte allerdings, »in dem es uns den Menschen in der vollsten Abhängigkeit von äusseren und inneren Mächten zeigt, die sittliche Freiheit«. Der Zufall sei in dieser Logik verantwortlich, »ob der Mensch schuldig wird oder nicht« (S. 260). Aber gerade in diesem Punkt erkennt Kettner in der »Emilia Galotti« das Herausragende. Lessing sei als Resultat seiner »äusserste[n] Konsequenz«, die er »aus dem strengen Determinismus zieht«, »zugleich über denselben hinausgeschritten« (ebd.). Durch die Verbürgerlichung des Virginia-Stoffes lasse er »Emilia die ganze Tragik des Lebens ausschöpfen« und mache »ein einfaches Mädchen zu seiner Heldin« (S. 261). Dies würde den »tieferen Sinn« des Dramas 150 Bei Fick und Barner u. a. findet sich Kettners Assoziation hinsichtlich der »teuflischen« Rolle Marinellis mit der Teufel-Figur in Lessings »Faust-Fragmenten« (ca. 1755) nicht. Kettners Verweis auf das Faust-Motiv, wie es Lessing aufgefasst habe, stärkt in diesem Sinne seine anthropologische Zugangsweise als methodische Bezugnahme auf Lessings »Menschenbild«. Fick bemerkt ähnlich wie Kettner über den Schluss des »Faust«: »Schließlich kontrastiert Lessing der Verdammung die Errettung Fausts […]. Auch diese Wendung hat exemplarischen Charakter für das Theater Lessings. Die Reaktion Fausts auf die Verführungsgeschichte beantwortet die Frage nach dem Telos der negativen Kausalität. Die Bühnenhandlung (= Fausts Traum) löst eine Erschütterung aus, die ihn vor gleichem (Sünden-)Fall bewahrt und auf dem Weg der ›Tugend‹ bestärkt. Der Anblick der Tragödie und die Empathie mit dem Helden führen zu einer Haltung, die zur Vermeidung der Tragödie verhilft« (Fick 2010, S. 216). 151 Kettner leistete im Bezug auf die Herleitung und Analyse der bewusstseins- oder seelengebundenen Einflussmomente in der Entscheidungsfindung der Figuren und deren Konsequenzen für die Handlung gerade auch unter dem Einbezug der Studien von Leibniz bis hin zu den Anfängen der Psychologie im 18. Jahrhundert Pionierarbeit. Diese wird auch von Barner u. a. und Fick, die sich auf Kettners 1904 veröffentlichte Untersuchung »Lessings Dramen im Lichte ihrer und unserer Zeit« beziehen, gewürdigt: »Es geht (u. a.) um die Schleichwege sinnlicher Neigungen, um deren verborgene Wirkungsweise und unmerkliche Bemächtigung der Seele. Gustav Kettner, der insgesamt die ›idealistische‹ Interpretationsrichtung vertritt (Freiheit vs. innere Gebundenheit), macht als einer der ersten […] auf die Bedeutung der Nouveaux essais [Leibniz’ 1765 publizierte Studie – die Verf.] aufmerksam. Hinter Emilias Selbstaussagen, gleichsam durch sie hindurch, werde das Fortwirken unbewusster und (deshalb) übermächtiger Eindrücke transparent« (ebd., S. 389).

67

Carsten Gansel und Mike Porath

zusätzlich steigern.152 Für Kettner beweist diese Auffassungs- und Gestaltungsweise der lessingschen Dramatik dessen langjährige wie intensive Auseinandersetzung mit dem »tragische[n] Problem«, das er in der »Emilia Galotti« »möglichst tief und umfassend zu erschöpfen suchte« (ebd.).153 Eine Besonderheit bestehe darin, dass Lessing an Leibniz’ Theorie vom »unbewusste[n] Seelenleben des Menschen« anschließe.154 Die Katastrophe zum Schluss der »Emilia Galotti« sei demzufolge nur die »äusserste Konsequenz« einer in den Charakteren »tief« angelegten Disposition, die »die That ganz deutlich als die natürliche Folge der Individualität hervortreten« lasse.155 Der tragische Tod der Emilia stelle daher auf der einen Seite die Evidenz eines »Kausalitätsgesetz[es]«, das »unbarmherzig waltet« dar, auf der anderen Seit handle es sich um die »letzte Möglichkeit, […] die Freiheit zu retten«. »Selbstvernichtung« oder »Flucht aus der Erscheinungswelt« (S. 264) würden als selbständige, individuelle, selbstbewusste »Lösung des Gegensatzes zwischen der Vernunft und der Sinnenwelt« erscheinen, mithin ginge es also um den Bruch mit dem durch »Zufall« bestimmten »Schicksal«. Vergleichbar habe es später Schiller gezeigt: »›Der freie Tod nur bricht die Kette des Geschicks‹«156 (ebd.).

Johann Karl Rösler – Die Handlung und Charaktere in Lessings Emilia Galotti. 1897. Dem Jahresbericht des vierklassigen evangelischen Gymnasiums in Sächsisch-Regen von 1897 ist ein Beitrag von Johann Karl Rösler beigegeben, der in einzelnen Interpretationsschritten sowohl die entscheidenden Handlungselemente als auch die

152 Kettner greift damit bereits den Ansichten Ter-Neddens (2010) voraus. Der hatte die These von der »self-fulfilling prophecy« (ebd., S. 390) betont. 153 Kettners Vermutung findet dahingehend durch die Forschung Bestätigung, als Lessings vorübergehendes Engagement in Hamburg als Dramaturg ihn seine ersten Entwürfe der »Emilia Galotti« revidieren und neu ausrichten ließ, eben mit einer nun verstärkten »Konzentration auf die individuellen Schicksale« (ebd., S. 378). Barner u. a. weisen darauf hin, dass die »ersten Pläne für ein eigenes Virginia-Stück« aus Lessings »Phase der ›heroischen‹ Experimente [stammen], die auch für die Ausarbeitung im Winter 1771 – 72 von Bedeutung blieben« (Barner u. a. 1998, S. 203). 154 Fick widmet dem Komplex der »unbewußte[n] Perceptionen« (Fick 2010, S. 395) unter dem Titel »Das psychologische Dilemma« in ihrer »Analyse« ein eigenes Unterkapitel (ebd., S. 395 ff.) und schließt mit der Feststellung, dass »›Verlangen‹ und ›Abscheu‹, Lust und Unlust, Liebe und Hass hier nicht länger mit einer ins Vernünftige übertragbaren Idee des Guten verknüpft [erscheinen]. Eine Psychologie kündigt sich an, die nicht länger mit dem Vertrauen in das rationale Telos der Natur vereinbar ist« (ebd., S. 397). 155 Im Zusammenhang mit der psychischen Determination, wie Lessing sie aus den Untersuchungen von Leibniz gefolgert habe, verifiziert Kettner die von Beginn der Rezeption an herrschende Meinung der »Emilia Galotti« »als Muster an dramatischer Motivierungskunst« (Barner u. a. 1998, S. 217). 156 Aus Friedrich Schillers 1803 uraufgeführter Tragödie »Die Braut von Messina«.

68

Lessings »Emilia Galotti« auf den Höheren Schulen und in Schulprogrammschriften

wichtigsten Charaktere in Lessings »Emilia Galotti« fokussiert. Letztlich geht es ihm darum, die umstrittene These von Emilias Liebe zum Prinzen zu belegen.157 Rösler erkennt von Beginn an im Prinzen eine »tiefe[] Leidenschaft« (S. 265), so dass die Nachricht von der bevorstehenden Hochzeit zwischen Emilia und Appiani ihn »erschüttern« (vgl. ebd.) müsse und deshalb nichts »im stande [ist,] ihn aufzuhalten im Handeln« (ebd.). Doch je »leidenschaftlicher« sich der Prinz verhalte, desto distanzierter benehme sich Appiani, der »feierlich, fremd, kalt und tiefsinnig […] vor seine Braut hin[tritt]« und in seine[r] »Traumwelt«, der »Welt seiner Sorgen« (S. 266) versunken bleibt.158 Indessen hat Marinelli »an seinem Werke drauf los gearbeitet«, indem er den Prinzen »mit einem Lügengewebe [umspinnt]« (ebd.). Der gewaltsame Tod Appianis durch seinen Anschlag bringe Marinelli zwar in Verlegenheit, aber der »ränkevolle Höfling« schaffe es, alle Schuld dem Prinzen in die Schuhe zu schieben. Zugleich suche er diesem zu beweisen, dass ihm »am Leben Appianis noch mehr gelegen hätte, als dem Prinzen« (S. 267). Odoardo, der stets »ein auffallendes Misstrauen bekundet« (S. 266), vernehme von Orsina, »dass Appiani tot und Emilia schlimmer als tot sei«, weshalb er »Rache zu nehmen sucht« und dafür »den Dolch der Orsina« [nimmt] (S. 268). Während es anschließend nach Rösler Marinelli »durchaus und […] um nichts anders als um seine eigene Sicherheit zu thun« ist, gehe es Odoardo weniger um die »Sache Appianis«, die er »einem höheren Richter überlassen« will, als um »die gekränkte Tugend« (ebd.).159 Für Emilia 157 Die Kontroverse um »Emilias Verführbarkeit« (Fick 2010, S. 388) nimmt in der aktuellen Forschung zur »Emilia Galotti« mit den größten Stellenwert ein und bildet den Mittelpunkt aller Anschlussdiskurse wie z.  B. Lessings Psychologisierung (ebd., S. 395 ff.), seine »Religionskritik« (ebd., S. 397) oder in Bezug auf die Figur des Prinzen die »politische Dimension« (ebd., S. 400 ff.). 158 Die Auffassung von einer petrarkistisch gefärbten Grundhaltung Appianis dient in diesem Sinne dazu, Röslers These von Emilias (verborgener) Liebe zum Prinzen, der sich gegen jenen abhebe, zu stützen, denn, wie Fick mit Bezug auf Rudolf Vierhaus (1984) herausstellt, ist Appianis distanziertes Verhalten nicht ausschließlich einer psychischen, moralischen Einstellung zuzuschreiben: »Der Rückzug des Paares [nach der Hochzeit – die Verf.] auf die Güter Appianis bedeutet keine Flucht aus der Gesellschaft ins rein Private, sondern die Realisierung einer genuin adligen Lebensform, des adligen Landlebens, die viele Möglichkeiten sozialer Betätigung und Reformen bot« (ebd., S. 382), allerdings im Zeichen des »stoisch-humanistische[n] Ideal[s] der vita beata abseits der Welt der Herrschaft als arkadisch-utopischer Traum« (Barner u. a. 1998, S. 209). 159 Odoardos Ausweichen vor einer Bestrafung des Prinzen (und Marinellis) durch seine Hand impliziert den Gedanken der Theodizee als »Vorstellung einer ewigen Gerechtigkeit, die der poetischen Gerechtigkeit übergeordnet ist« (ebd., S. 215). Paul Michael Lützeler (1979) erkennt in Odoardos Konzentration auf die »gekränkte Tugend« aber darüber hinaus die »Diskreditierung« (vgl. ebd., S. 214) einer »bestimmte[n] Form moralischer Kritik, die kein gesellschaftsveränderndes Ziel besitzt« (ebd.). Karl Eibl (1977) und Günter Saße (1988) gehen einen Schritt weiter und betrachten Odoardo als Verkörperung eines patriachalischen Paradoxons, da »die Odoardo-Figur den Widerspruch von Herrschaft und empfindsamer Zärtlichkeit [verkörpert]«, insofern »Emilias überraschende Selbstwahrnehmung als sinnliche, sexuell verführbare Frau darauf

69

Carsten Gansel und Mike Porath

schließlich sei es weniger bedeutend, »dass der Graf tot ist«, sie stelle vielmehr die Frage, »warum er tot sei«. Danach »giebt [sie] alles verloren, weil sie sich selber schuldig weiss auch ohne einen Fehltritt begangen zu haben«.160 Damit stehe auch Marinelli zuletzt »starr vor solchem Ende seines Werkes«. Für Rösler ist Emilia die wichtigste Figur in Lessings Drama. Ihr »Wesen«, in dem »sich der Liebreiz eines unschuldigen Kindes mit der Seelengrösse einer tragischen Heldin« verbindet (S. 269), impliziere »[i]hre gewaltige Leidenschaft und zugleich ihre hohe Auffassung von Ehre«. (ebd.). Dennoch bedeute das nicht, dass Emilia ebenso »leidenschaftlich« für Appiani eingenommen sei.161 Rösler geht daher davon aus, dass Emilia trotz ihrer unmittelbar bevorstehenden Hochzeit mit Appiani, diesem nicht »mit festen Seelenbanden« (S. 270) verbunden sei. Sie hätte dann auch durchaus Möglichkeiten finden können, den Prinzen auf Abstand zu halten. Rösler folgert, dass es nicht die Liebe und schon gar keine »leidenschaftliche Liebe« ist, was Emilia an den Grafen bindet, »sondern die Ehre« (ebd.).162 Der Prinz hingegen fühle sich »neben der schönen äussern Erscheinung« von genau diesem »innere[n] zurückzuführen [ist], dass sich ihr Vater dem Prinzen gegenüber als ohnmächtig erweist und somit seine Orientierungsfunktion verliert« (Fick 2010, S. 385). 160 Die Forschung betrachtet Emilias Hörigkeit gegenüber Tugend und Ehre, wie es ihr der Vater vorlebte, weniger ›heroisch‹ und selbstbewusst, sondern als einen für ihr Leben fatalen Nachteil: »Dass Emilia […] nicht nur empfindsam Liebende, sondern zugleich ›fromme und gehorsame‹ Tochter sei, werde ihr zum Verhängnis. Denn angesichts der verwirrenden Interferenz der gesellschaftlichen Bereiche und des Verlusts bislang verlässlicher Handlungsmuster bleibe ihr notwendig nur noch die nackte sinnliche Natur, verstanden als unbegrenzte Determinierbarkeit. In der sozialen Ortlosigkeit nehme für den ›frommen und gehorsamen‹ Menschen kein individuelles Ich Gestalt an, sondern werde die eigene Natur als bloße Verführbarkeit erlebt, was den Wunsch nach Selbstvernichtung auslösen müsse« (ebd., S. 386). 161 »Das Schweigen Emilias [sei] für die Katastrophe mitverantwortlich« (ebd., S. 393), besitzt den Untersuchungen Karin A. Wursts (1990) zufolge überhaupt eine auf die Rolle der Frau bezogene transformative Funktion, in der in der Tat Appiani bloß nebensächlich ist, weil »das ideologische Konstrukt Frau, nachdem es von den unerwünschten Aspekten, wie Naturnähe, Sexualität und Wissen losgelöst wurde, zur Repräsentation der relational und altruistisch ausgerichteten idealen Zwischenmenschlichkeit einerseits (konkreten Utopie) und zur Verkörperlichung des gegen die Sphäre der Öffentlichkeit gerichteten bürgerlichen Tugendbegriff […] als ganzem (abstrakte Utopie) wird« (ebd.). 162 Rösler beschreitet den »Weg […] über die Analyse der Affektpsychologie im 18. Jahrhundert« (ebd., S. 387) und ordnet damit die Haltung der Figuren, besonders Emilias und des Prinzen, seiner Beobachtung von der gesteigerten ›Leidenschaftlichkeit‹ unter. Auf diese Weise entgeht ihm der Widerspruch ihres Todesentschlusses, denn »[w]enn Emilias Freitod als höchster Sieg des moralischen Willens zu werten ist, als Opfer des Lebens zugunsten der Idee, wenn Emilia also eine Willensstärke zugesprochen wird, die den stärksten Trieb, den Trieb nach Selbsterhaltung, besiegt, dann ist nicht einzusehen, dass ihr die Standhaftigkeit, sich des verhassten Mörders ihres Bräutigams zu erwehren, ermangeln sollte« (ebd., S. 388).

70

Lessings »Emilia Galotti« auf den Höheren Schulen und in Schulprogrammschriften

Wesen« der Emilia angezogen, wie auch ihr »erste[r] Eindruck, den Emilia auf den Prinzen machte, ein tiefer, veredelnder« war (S. 271). Demzufolge handle es sich beim Prinzen um »eine wahre, tiefe Liebe, die keine verwerflichen Absichten zulässt« (ebd.). Diese Liebe sei so »leidenschaftlich«, dass der Prinz »schuldig« insofern wird, als »er sich in einem Augenblick der Schwäche diesem ›Teufel‹ [Marinelli – die Verf.], dem er doch im Grunde misstraut, in die Hände giebt« (ebd.). Auch sei es nicht Appiani, der Emilia zum »erste[n] Mal« »Liebe« gesteht, sondern der Prinz.163 Gleichzeitig konterkariere die Figur des Marinelli die durchaus »vertrauensvolle« (vgl. S. 272) Haltung Emilias zum Prinzen, wenn Marinelli, »dem nicht das Geringste je daran gelegen gewesen, dem Prinzen einen Dienst in Gutem oder Schlechtem zu erweisen« (S. 274), wie »Jago in Shakespeares Othello« in einer »auf den Effekt berechneten Weise« die »ganze[] Herzensangelegenheit des Prinzen« offenbare und seinen »Lügenbericht […] so zu spicken« weiss (S. 273).164 Die Einfühlsamkeit des Prinzen durchschaue jedoch Marinellis Ränkespiel und lasse ihn Odoardo um Hilfe bitten.165 Diese mit den Charaktereigenschaften der Personen verknüpften Handlungsstränge erklären Rösler zufolge auch den kontroversen Schluss der »Emilia Galotti«, denn Emilia »verlangt nach dem Tode, weil ihr bei dem hohen Begriff, den sie von der Ehre hat, weiter zu leben unmöglich erscheint« (S. 276). Auf Grund der verborgenen, inneren Zuneigung zum Prinzen sei Emilia die »Flucht unmöglich«. Daher bestehe die Gefahr, sich von ihrer »Leidenschaft« hinreißen zu lassen: »Sie spricht von etwas, als ob es erst später eintreten würde, und – es ist schon vorhanden«, denn »Emilia liebt den Prinzen«, und »[d]as ist es, was sie den Tod suchen und finden lässt« (ebd.), so Rösler.166

163 Dass Rösler es für gegeben annimmt, dass der Prinz gegenüber Emilia »zum ersten Mal« von »Liebe« gesprochen habe, erklärt sich aus seiner Beachtung ihres psychologisch auffälligen Verhaltens im Anschluss an ihre Begegnung mit dem Prinzen im Sinne des »Fortwirken[s] unbewusster und (deshalb) übermächtiger Eindrücke« bzw. der »unbewußten Perceptionen« (ebd., S. 389). Ihr Tod sei somit nach Erich Schmidt (1923) eine »Kapitulation« »vor der Verführungsgewalt der ›Sinne‹« (ebd., S. 390). 164 Barner u. a. und Fick ziehen keinen Vergleich zwischen Marinelli und Jago, hingegen bestätigt sich Röslers Hinweis dahingehend, dass für Lessings Durchsetzung seiner Tragödie mit komischen oder »kraftvollen« (vgl. ebd., S. 404) Elementen in der Tradition der Commedia dell’arte, wie sie Marinelli oder Claudia auszeichnen, durchaus Shakespeare Vorbild gewesen sein mag (vgl. ebd.). 165 Nach Reinhart Meyer (1973) »folge der dramatische Plan [ab IV, 8] den Gesetzen der Handlungstragödie. Von den Bedingungen der Handlung, d. h. des vorgegebenen Schlusses, her motiviere Lessing das Geschehen neu« (ebd., S. 394). 166 Der Widerspruch zwischen einem formal wie dramaturgisch meisterhaften »Räderwerk« (ebd.) und der psychologischen Verstrickung der handelnden Personen gab besonders Anlass zur Kritik an Lessings Drama und dessen dadurch ›erzwungenem‹ Ausgang. Gleichwohl ließe sich einwenden, dass Emilias »Bekenntnis [»Ich stehe für nichts« – die Verf.]« »keineswegs ein überraschendes und ›unbewußtes‹ Eingeständnis der erotischen Bindungen Emilias an den Prinzen« ist, sondern, wie bereits mehrfach erwähnt, »für

71

Carsten Gansel und Mike Porath

Friedrich Widder – Emilia Galotti und kein Ende. 1897. Friedrich Widder wendet sich in seinem Aufsatz, der als wissenschaftliche Beilage den Jahresbericht des Grossherzoglichen Gymnasiums in Lörrach für das Schuljahr 1896/97 begleitet, ebenfalls dem vieldiskutierten Problem des Verhältnisses Emilias zum Prinzen (S. 277) zu.167 Dabei gibt Widder zunächst einen umfassenden Überblick zum Forschungsstand. In diesem Rahmen würde immer wieder die Frage diskutiert, ob Emilia den Prinzen liebt oder nicht. Um der komplexen Thematik gerecht zu werden, unterteilt Widder seinen Beitrag in zwei Abschnitte, in denen er sich mit der »tragische[n] Hamartie« (ebd.) und sodann mit der »tragische[n] Katastrophe« (S. 286) auseinandersetzt.168 Die Position, dass Emilia dem Prinzen (heimlich) zugeneigt sein würde, führt Widder unter anderem auf »Goethes gewichtige Autorität« (S. 278) zurück, der Emilias Liebe »zu dem Mörder ihres Bräutigams« (ebd.) als gegeben annahm.169 Zudem würde eine solche Auslegung »ein leichteres Verständnis« erlauben und für Emilias »Todesentschluss eine passendere Erklärung« (ebd.) bieten. Widder beruft sich hierbei besonders auf das Zeugnis des Lessing-Forschers und Biographen Erich Schmidt, der davon ausgegangen sei, dass der Prinz »doch Emilias Gedanken sehr beschäftigen« (S. 279) müsse, was im Hinblick auf ihre Reaktion nach ihrer überraschenden Begegnung mit diesem in der Kirche »das Schlussglied einer ganz

die ›biblische Ideologie der tödlichen Gefahren der sozialen Welt‹« (Barner u. a. 1998, S. 213) steht. 167 Widder bevorzugt mit diesem Gegenstand die psychologische Perspektive, die im Laufe der Rezeptions- wie Forschungsgeschichte zur »Emilia Galotti« sehr bedeutsam geworden ist, weil sich mit dieser Herangehensweise auch soziologische, philosophische oder ethische Argumente verbinden lassen. 168 Der Rückbezug auf das aristotelische Theorem der (tragischen) »Hamartie«, d. h. die fehlerhafte Veranlagung des Helden, die sein Unglück verursacht, findet in der aktuellen Forschung nur insofern Unterstützung, als im Zuge einer Priorisierung der individuellen psychologischen Konstitution der einzelnen Charaktere – ihre »conditio humana« (vgl. Fick 2010, S. 397 f.) – zumeist auf ihr Schuldbewusstein und ihre Schuldfähigkeit geschlossen wird, wohingegen die formale Kausalität auf der Grundlage der aristotelischen Poetologie als gegeben kaum noch in der Diskussion eine Rolle spielt. 169 Fick zitiert Goethe von 1812: »Das proton pseudos in diesem Stück sei, daß es nirgends ausgesprochen ist, daß das Mädchen den Prinzen liebe, sondern nur subintelligiert wird. Wenn jenes wäre, so wüßte man, warum der Vater das Mädchen umbringt. Die Liebe ist zwar angedeutet, […] zuletzt sogar ausgesprochen, aber ungeschickt, in ihrer Furcht vor des Kanzlers Hause: denn entweder sei sie eine Gans, sich davor zu fürchten, oder ein Luderchen. So aber, wenn sie ihn liebe, müsse sie sogar zuletzt lieber fordern zu sterben, um jenes Haus zu vermeiden« (ebd., S. 405). Goethes Annahme einer »Subintelligierung« der Neigung Emilias zum Prinzen deckt sich mit Ficks Hinweis auf Leibniz und die »unbewußten Perceptionen« und rechtfertigt in diesem Sinne eine psychologisierende bzw. psychoanalytische Interpretation des Stückes.

72

Lessings »Emilia Galotti« auf den Höheren Schulen und in Schulprogrammschriften

natürlichen Steigerung« (ebd.) sei.170 Überdies bestimme eine solche Neigung zum Prinzen auch das Verhältnis zwischen Emilia und dem Grafen Appiani, in dem »zwischen den beiden Verlobten ein Ton ehrerbietiger Reserve [herrscht], aber niemals […] Herz in Herz« flammt (S. 280).171 Ungeachtet dessen erhebt Widder durchaus psychologisierend den Einwand, ob denn ein solcher Ton nicht vielmehr der eines »stillseligen, herzinniglichen Liebesglücks« (S. 281) sei, »der Dutzende der feurigsten Liebesschwüre aufwiegt« (ebd.).172 Aus diesem Grund begründet er Emilias in der Forschung kritisierte Ruhe nach dem Tod Appianis mit ihrer charakterlichen Kondition, d. h. mit ihrer »Art« (ebd.), was keine »Gefühlslokation« (ebd.) sei, sondern die auch für Schauspieler herausfordernde Diffizilität der Komposition ihrer Figur unterstreiche.173 Darüber hinaus würde allein schon die Pflichtschuldigkeit Emilias gegenüber ihrem Vater, was die Wahl Appianis als ihren Bräutigam anbelangt, durch das Vorbild der »Virginia« des spanischen Dichters Montiano verbürgt sein (S. 282).174 Widder folgert daraus, dass Lessing die aristotelische Hamartie nicht in ihrer kausalen 170 Auch Fick führt eine der Ausführungen Schmidts über die »Emilia Galotti« an, die genauso sein Bemühen widerspiegelt, die persönlichen Entscheidungen der Charaktere auf innere Voreingenommenheiten zurückzuführen, die wiederum kausal aufeinander bezogen sein würden: »[…] nichts früher, nichts später, damit jeder Zufall planmäßig in dem aufgezogenen Räderwerk arbeite« (ebd., S. 394). Schmidts Sichtweise legitimiert Widders Argumentation bezüglich der für das Stück basalen »tragischen Hamartie«. 171 Barner u. a. ergänzen diese Beobachtung dahingehend, indem sie betonen, dass eine »[s]ympathische Zuneigung […] vor allem zwischen Odoardo und Appiani zu walten [scheint]: Sie wenden die Liebestopoi aufeinander an« (Barner u. a. 1998, S. 212). Dramaturgisch betrachtet würde das bedeuten, dass die Rolle des Grafen Appiani gegenüber der des Prinzen stärker funktionalisiert ist, um Emilias persönliche (fatale) Verstrickung zu offenbaren. Zudem muss konstatiert werden, dass Appiani insofern keine Schlüsselfigur des Stückes darstellt, als in ihm der »Sog der Leidenschaft und das Streben nach Tugend« am wenigsten »im Widerstreit« liegen (vgl. Fick 2010, S. 396). 172 Dieses Urteil Widders über eine unterschwellige, gar »subintelligierende« Füllung der Sprache Appianis gegenüber Emilia widerspricht im Grunde genommen einem Großteil der Positionen, die in der Rezeption eine Rolle gespielt haben. Hier wurde gerade die sprachliche Gestaltung Lessings gerühmt, weil in ihr »jegliche wortreiche und sentimentale Rhetorik zurückgedämmt« werde und »eine neue Qualität des Natürlichen erreicht [sei], wobei man unter ›Natürlichkeit‹ zugleich die individualisierende Kraft dieser Sprache versteht« (ebd., S. 403). Widders Hinweis auf die Funktionalisierung der Sprache im Stück deckt sich allerdings mit den Überlegungen J. Schröders (1972), der die »These von der Dominanz der Sprache über die Figuren« verficht, indem »[d]ie Sprache die Affekte« manipuliere: »Die Figuren reagierten von Dialog zu Dialog auf die Macht der Worte, sie planten nicht in die Zukunft, sondern gehorchten der jeweiligen Gesprächssituation, der Dialog handele für sie« (ebd., S. 395). 173 Die schauspielerische Herausforderung (nicht allein) der Rolle der Emilia ist in der Forschung bislang kaum thematisiert. 174 Widder spielt auf die im Virginia-Drama Montianos vorgenommene Konzentration auf die »Verteidigung der Ehre und (weibliche) Unschuld« (ebd., S. 380) an, die es notwendig machte, dass Virginia bzw. Emilia ihrem Vater Gehorsam leiste.

73

Carsten Gansel und Mike Porath

Stringenz, also im Sinne einer »gerechte[n] Verhältnismässigkeit von Schuld und Sühne« (S. 283) aufgefasst habe, sondern die »tragische ›Schuld‹« Emilias auf einem »gewisse[n] Fehler« (ebd.) basieren lässt, »durch welchen er [der tragische Held – die Verf.] sein Unglück über sich gebracht hat« (ebd.).175 Somit würde Emilias Gehorsam gegenüber ihrer Mutter sie »schuldlos-schuldig« (S. 284) machen, worin, »in diesem Gegensatz von guter Absicht und schlimmen Folgen, erschütternde und ergreifende Tragik und eine der vornehmsten Quellen tragischen Mitleids« (ebd.) liegt. Diese »schuldlose Schuld« Emilias stürze letztlich auch Appiani insofern ins Unglück, als er auf Marinellis Angebot eingeht, ein »Schritt, der als die nächste Folge der Unterlassung Emilias erscheinen soll und erscheint« (S. 285).176 Im zweiten Teil seiner Untersuchung widmet sich Widder der dramaturgischen Konsequenz der im ersten Abschnitt behandelten hamartischen Konfiguration, und dies umso entschiedener, als noch immer in der Forschung die Meinung aufrechterhalten würde, dass ein »durchaus unmotivierte[r] und eben darum um so hässlichere[r] und die Teilnahme schwächende[r] Makel […] auf Emilia falle« (S. 287) sowie der unbegründbare »Seelenzustand[…] Emiliens unser Stück als zur eingehenderen Klassenlektüre gänzlich ungeeignet« (S. 286, Fußnote 29) erscheinen lasse.177 Widder widerspricht einem solchen insbesondere mit Blick auf die Schule 175 Die von Widder erwähnte »Verhältnismässigkeit von Schuld und Sühne« hinsichtlich der »tragischen Hamartie« steht im Kontext der poetologischen Mitleidslogik des Aristoteles. 176 In der Forschung subsumiert man die Episode zwischen Appiani und Marinelli zumeist unter das der formalen Anlage der »Emilia Galotti« zugrundeliegende Schema der Commedia dell’arte, so dass Appiani letztlich ›nur‹ als ein (doppeltes) Instrument zur Erfüllung der Katastrophe fungiert, insofern Emilia »hamartisch« bzw. emotional und Marinelli strategisch bzw. rational an ihm schuldig werden. 177 Es ist die Folge von Lessings Individualisierung und Psychologisierung der Charaktere, die dieselben aus moralpädagogischer wie didaktischer Perspektive so problematisch erscheinen lässt. Nicht zuletzt erweist sich anhand von Ficks differenzierten Ausführungen und Ansätzen sowie an ihrer Darstellung der bisherigen Forschung zur »Emilia Galotti«, inwiefern man nicht nur zu ihrer Interpretation bereit sein muss(te), die Zusammenhänge und Motivationen in das Innere der Figuren zu verlegen, sondern auch daraus folgern kann, dass die Höheren Lehranstalten besonders des 19. und frühen 20. Jahrhunderts diesem Stück häufig kritisch gegenüberstanden, insofern sich »an Emilia Galotti die Geister [scheiden]«, denn »[d]ie Problematik dieser Stücke [»Nathan der Weise« und »Emilia Galotti« – die Verf.] könne die Schüler gefährden« (Barner u. a. 1998, S. 409). So ist das von Widder hier angeführte Verdikt vom »schwächenden Makel« Emilias beispielsweise mit Brunners Urteil in dessen Abhandlung »Lessing als Schullektüre« von 1916 vergleichbar. Der betont, dass »eine schwüle Luft durch das Drama [wehe], die wir unsere Schüler nicht gern atmen lassen, und die verstohlene Glut, die in Emilia brennt, verfänglich« ist und bleibt (ebd.). Von diesem Standpunkt aus wird es ersichtlich, warum eine möglichst konzise wie psychologisch plausible Erklärung der Handlungs- und Entscheidungsweise (nicht nur) der Figur der Emilia das Drama über ihre Person in seiner Struktur wie Sinnhaftigkeit legitimieren könnte, ohne einzig dessen »lückenlose Kausalität« (ebd., S. 216) hervorzuheben, über welcher das dezidiert Moderne der »Figurenkonzeption«, die »auf

74

Lessings »Emilia Galotti« auf den Höheren Schulen und in Schulprogrammschriften

gesetzten Urteil und fragt im Sinne von Lessings dramatischer Pragmatik rhetorisch: »Aber welcher Dramatiker arbeitete denn planvoller als Lessing, und wo hätte er dies mehr gethan als in der Emilia Galotti?« (S. 287 f.).178 Aufgrund dessen könne eine Lösung dieses Problems nur im »Kern der Charaktere« (S. 288) gefunden werden, die die »Handlungen und Schicksale der Personen bestimmen müssen« (ebd.). Dementsprechend erkennt er mit Kuno Fischer im Charakter der Emilia den Verhaltenskodex einer »christlichen […] Jungfrau« (ebd.), der »[i]n dieser drangvoll fürchterlichen Enge […] der freiwillige Tod als der einzige Ausweg, als die einzige Rettung […] vor dem Verderben auf ewig« (ebd.) erscheint.179 Diese »fromme« (ebd.) Grundhaltung treffe auch den »heikelsten Punkt […] des Dramas, auf den schon so viele sittliche und ästhetische Entrüstung verschwendet wurde«, die »Furcht vor Verführung« (S. 289) als der eigentlichen Ursache.180 Fischer folein psychologisches Problem [verweist], von dessen Lösung in der Tat der Prozess der Aufklärung abzuhängen scheint« (Fick 2010, S. 396), unberücksichtigt bleibt. 178 Dieses Argument Widders steht im Horizont der allgemeinen Auffassung, dass Lessing die »Emilia Galotti« auch zur Exemplifizierung seiner in der »Hamburgischen Dramaturgie« aufgestellten Grundsätze verfasst hätte. 179 Mit dieser These ist zugleich die von Lessing vorgenommene Konzentration des dramatischen Verlaufs auf die weibliche Hauptfigur, die sich bereits bei Montiano und Campistron findet, unterstrichen.Durch die Individualisierung der Figur der Virginia wird der Emilia eine charakterliche Subjektivität verliehen, die ihre Erkenntnis ebenso wie ihren Willen leitet. Erst auf dieser spezifisch individuellen Grundlage war es ihm möglich, die Bedingungen von ›Schuld‹ und ›Mitleid‹ neu darzustellen und zu diskutieren sowie eine »Privatisierung« (Barner u. a. 1998, S. 205) des Konflikts vom politischen ins persönlich-familiäre Milieu vorzunehmen. In diesem Zusammenhang lässt sich auch die Problematik im Stück zwischen Emilias Individualität und der von Ter-Nedden in die Forschung eingebrachte »self-fulfilling prophecy« (vgl. Fick 2010, S. 390 f.), die ihre Haltung (auch) als eine »christliche Jungfrau« grundiere, als die dramaturgische Fokussierung eines »anthropologisch-psychologische[n] Dilemma[s]« (ebd., S. 400) verstehen. 180 Es ist bedenkenswert, wie sehr in die Rezeption der »Emilia Galotti« von Anfang an die konsequente Haltung Emilias weniger mit ihrem christlichen Glauben als mit dem ihr »anerzogenen« (vgl. Barner u. a. 1998, S. 213) Tugendprinzip Odoardos wie auch ihrer charakterlichen Individualität in Verbindung gebracht hat. Dies beweist nicht zuletzt die Vermutung einer (heimlichen) Liebe Emilias zum Prinzen. Die Auslegung ihrer »Frömmigkeit« (ebd., S. 212) beruht dabei eher auf der »patriarchalisch[en] [Familienvorstellung]« (ebd.) ihres Vaters, denn auf christlichen Verhaltensregeln. Allerdings finden sich deren Grundwerte – wiederum individualisiert oder »privatisiert« – in dem persönlichen »Mechanismus der self-fulfilling prophecy« (Fick 2010, S. 400) der Figuren, also in deren »Vorstellung vom Rachegott« (ebd.) wieder. Es kann demzufolge festgehalten werden, dass die Tragik der Figur der Emilia von Beginn an die Aufmerksamkeit auf ihre »conditio humana« gelenkt hat, wenn auch »in eine[m] religionsphilosophischen bzw. religionskritischen Kontext« (ebd., S. 397). Fick meint daher, dass es »aufzudecken [gilt], wie Lessing das Düstere und scheinbar Grässliche der Handlung konsequent als die Folge eines Gottesbildes erkennbar macht, in dem die unendliche Liebe Gottes als

75

Carsten Gansel und Mike Porath

gend führt Widder an, dass Emilia die »innerste Verdorbenheit« der Welt »völlig erkannt hat« (ebd.), wie denn auch das Zeugnis von Lessings Bruder Karl Gotthelf (1740 – 1812) klarlege, dass Emilia »die Tugend der Keuschheit für die höchste Tugend« halte und »das letzte […] bloss durch ihre fast blinde Anhänglichkeit an die katholische Religion [hat] werden können« (ebd.). Diese habe sie »die Verführbarkeit der menschlichen Natur fürchten« gelehrt (S. 290).181 Entsprechend leitet Widder daraus ab, dass der »Gehorsam« ihre »tragische ›Schuld‹« erkläre und »die Frömmigkeit ihre Furcht vor Verführung und ihren Todesentschluss« (ebd.).182 Ebenso würde sich auch der Charakter Odoardos interpretieren lassen, der »gleich von vornherein gerade auf diese That [die Tötung Emilias – die Verf.] angelegt« (ebd.) sei, weshalb auch ein geduldiges, ja vernünftiges »Warten« (S. 291) Odoardos »so schwer, so ganz unmöglich wäre« (ebd.).183 Die den individuellen Konditionen der jeweiligen Charaktere inhärente Entsprechung zwischen innerlicher Intention und äusserlicher Handlung, die letztlich die dramaturgische Korrektheit und Qualität der »Emilia Galotti« garantiere, belegt Widder schließlich mit einem längeren Zitat von Kuno Fischer.184

181

182

183

184

76

Kehrseite seines unendlichen Zorns wider die Sünder erscheint« (ebd.). Die Kohärenz von (sündhafter) Individualität und (prädestiniertem) Schicksal stünde somit im Mittelpunkt des Dramas, da »Gottesbild und Menschenbild aufeinander bezogen« sind (ebd.). Barner u. a. stimmen mit Widder, der sich auf Karl Lessing beruft, zwar darin überein, dass Emilia »ein Leben nach religiösen und moralischen Grundsätzen […] in einer amoralischen Gesellschaft« (Barner u. a. 1998, S. 213) für ausgeschlossen hält, dennoch müsse der Schluss des Dramas ungeachtet des »Horizont[s] der Vorsehung« (ebd., S. 215) »vielmehr als Aufforderung begriffen werden, im Vertrauen auf eine transzendente Instanz nach einer moralischen und vernunftbestimmten Existenz zu suchen – trotz deprimierender historischer Erfahrungen« (ebd.). Widder argumentiert demzufolge mit einer im Charakter bzw. in der »conditio humana« Emilias angelegten Verschaltung ihres »leidenden Gehorsams« (vgl. ebd., S. 212 ff.) zwischen christlicher und subjektiv-individueller Tugend, was zuletzt ihre »tragische Schuld« im Sinne der »aristotelischen Hamartie« begründe. Widder argumentiert an dieser Stelle vor allem im Sinne einer kausalen Dramaturgie, die es nötig gemacht habe, die Rolle des Odoardo funktionalistisch zur Erfüllung der Katastrophe einzusetzen. Dass seine Figur jedoch ebenso diffizil konditioniert ist wie die der Emilia zeigt Fick: »Die Impulse aller Figuren lassen sich auf ein Liebesverlangen zurückführen; sie alle handeln aus enttäuschter oder missverstandener Liebe heraus (mit Ausnahme Marinellis […]) – ihr Egoismus ist mit der Anlage zum Altruismus verbunden« (Fick 2010, S. 399). In dem eschatologisch anmutenden Fazit Widders verschwindet die Individualität der Charaktere zwar nicht vollkommen, ihre letztliche Ausweg- und Hoffnungslosigkeit lässt ihn jedoch im Sinne der im Stück thematisierten Theodizee(modelle) votieren, ohne dies jenseits der (formalen und kausalen) »Oekonomie« (ebd., S. 403) des Stückes vor allem anhand der individuellen (bzw. individualisierten oder »privatisierten«) Konfiguration seiner Figuren eindeutig zu begründen.

Lessings »Emilia Galotti« auf den Höheren Schulen und in Schulprogrammschriften

Gustav Marseille – Die Urbilder der Frauengestalten in Lessings Meisterdramen. 1904. Gustav Marseille stellt in seiner Abhandlung zum Jahresbericht über das königliche Pädagogium zu Putbus von 1904 die These auf, es habe zu Lessings »Art seines dramatischen Dichtens« (S. 293) gehört, dass seine »dramatischen Gestalten immer nach einem literarischen Urbild« (ebd.) gearbeitet seien.185 Dies bewertet Marseille nicht als Nachteil, sondern betont im Gegenteil, dass ein solcher Ansatz dem Forscher gewissermaßen einen Aspekt der jeweiligen Untersuchung vorgebe, nämlich zu fragen, »wie er aus fremdem Gut eignes macht« (ebd.).186 Die Hypothese originärer Charakterschöpfung behindere im Gegensatz zu einer »historisch-genetische[n] Betrachtung seiner Gestalten« ihr »Verständnis« (ebd.). Marseille sucht daher die Bedeutung von Lessings »Frauengestalten« anhand der Aufdeckung »ihre[r] Urbilder« (ebd.) zu erschließen. Im Falle der »Minna von Barnhelm«, die Marseille in einem ersten Abschnitt behandelt, zieht er nicht nur bezüglich der Ringintrige eine dramaturgische Parallele zu George Farquhars »The Constant Couple« (1699) und Shakespeares »Der Kaufmann von Venedig« (1596).187 Vielmehr behauptet er mit O. Ludwig, dass »Minna und Franziska Porzia und Nerissa« (ebd.) sind, jedenfalls wiesen sie hinsichtlich ihrer charakterlichen Eigenschaften wie etwa der »gesunde[n] Natürlichkeit des Empfindens« oder ihres »gutherzige[n] Wesen[s]« (S. 294) große Ähnlichkeiten auf. Nicht in Abrede zu stellen wäre hingegen, »dass Monrose [aus La Chaussées »L’Ecole des

185 Man kann sagen, dass Marseilles Argumentation ein stark – sagen wir – biographistischer Deutungsansatz zugrunde liegt. Aber auch Fick nennt bezüglich der Figur des Tellheim den zeitgenössischen Dichter Ewald von Kleist (1715 – 1759) als Vorbild« (ebd., S. 290) und stellt Lessings »Breslauer Lebensabschnitt« (1760 – 1765) als »zeitgeschichtliche[n] Hintergrund des Stücks« heraus (ebd., S. 289). Darüber hinaus betont sie die in der Forschung mit der »Minna von Barnhelm« in Zusammenhang gebrachten Parallelen und Hintergründe, wie denn auch »für die zentralen Motive der Handlung, für die Prüfung der Treue, für den Ehrenstandpunkt und für die Ringintrige, sogar für den Untertitel sich Parallelen in damals bekannten Komödien finden« lassen (ebd., S. 290). 186 Die Transposition vor allem struktureller wie inhaltlicher »Vorbilder« bei Lessing betont auch Hinck: »Lessings Leistung, seine vollkommene Einschmelzung des vorgefundenen Stoffes in die historische und nationale Situation, bleibt immer bedeutend genug« (Barner u. a. 1998, S. 259). 187 Auch Fick sowie Barner u. a. nennen Shakespeare und Farquhar in Verbindung mit der Entstehung der »Minna von Barnhelm«: In Bezug auf die »Kombinatorik von Lachen und Weinen« (Fick 2010, S. 300) führt Fick Ter-Nedden an, »der Minna von Barnhelm in Beziehung zur Komödie Molières und zu Shakespeares Othello setzt« (ebd.). Barner u. a. verweisen auf Hinck, der »für die Minna den Einfluß der realistischen englischen Komödie (Vorbild: Farquhar) und der comédie larmoyante (Vorbild: Nivelle de la Chaussée)« (Barner u. a. 1998, S. 259) herausarbeitet.

77

Carsten Gansel und Mike Porath

Amis« – die Verf.] allerdings ein Urbild für Tellheim ist«, was Marseille mithilfe einer »Vergleichung der beiden Handlungen« (ebd.) zu untermauern sucht.188 Wenn Lessings Hauptpersonen der »Minna von Barnhelm« auch auf den Figuren der (rührseligen bzw. larmoyanten) Komödie »L’Ecole des Amis« basierten, so wäre nach Ansicht Marseilles dieselbe aber doch nur »ein mattes Vorbild« (S. 295) für Lessing, gerade in Hinsicht auf den »Abstand in der Stärke der Charaktere« (ebd.). Während »[d]ort französisch galantes Wesen« und »larmoyante Empfindsamkeit« die Grundzüge des Stückes prägten, beherrschte »hier männliche Ritterkeit, natürlicher Edelsinn« und »gesunde[r] Egoismus aufrichtiger Menschen« (ebd.) die dramatische Grundstimmung.189 Darüber hinaus hätte Lessing dasjenige Motiv, das »bei La Chaussée Nebensache ist, […] zur Hauptsache« (S. 296) gemacht, wofür es notwendig gewesen sei, auch »die Bedeutung der Frauen in der Ökonomie des Ganzen [zu] verstärken«, um dadurch die »Liebe wirklich in tätigem Handeln als ein[en] machtvolle[n] Nebenbuhler der Ehre« (ebd.) zur Darstellung zu bringen.190 Aufgrund dessen gleiche die Figur der Minna auch nur wenig der der Hortence in »L’Ecole des Amis«, da sie »frisch im Handeln« und »voll bezaubernder Unmittelbarkeit« wäre und hinsichtlich ihres »deutsche[n] Selbstgefühl[s]«, »ihre[r] Sprache« sowie ihrer »ungemeine[n] Sachlichkeit« vor allem »Lessingsch«191 (ebd.) dächte und handelte.192 Daneben würde sie das »Preussentum Tellheims […] in glücklichster Weise« durch ihr »Sachsentum« (S. 297) aufwiegen und somit »Züge mannigfachster Art« in sich vereinen193: »politisch-erzieherische, spezifischLessingsche, literarische« (ebd.). Ähnlich bedeutsam erscheint Marseille auch die Figur der Franziska, deren »Urbild […] nicht in der einen oder anderen Persönlichkeit zu suchen [sei], sondern in einer

188 Die aktuelle Lessing-Forschung hält sich hinsichtlich solcher Vergleiche eher zurück, ohne eventuelle »Vorbilder« oder Anlehnungen zu übergehen. 189 Goethes »Deutungsmuster vom Nationalgehalt der Minna von Barnhelm« (Fick 2010, S. 310) klingt hier an und trübt damit deren tatsächliche Beeinflussung durch die comédie larmoyante im Interesse des tradierten Kulturkampfes zwischen Frankreich und Deutschland. 190 Ganz im Sinne der Tradition der comédie larmoyante und in Verbindung zu »Marivauxs ›Liebesprobenkomödie‹« (ebd., S. 290) spricht Fick von einer »Komödie der Paarbeziehung« (ebd., S. 308), die »mit ihren symmetrisch-antithetischen Charakteren und den Spiegeleffekten der Intrige thematisch und strukturell von dem Aufeinander-Bezogensein der Liebenden bestimmt« wird (ebd., S. 309). 191 Das Prädikat »Lessingsch« speist sich in Verbindung mit dem wichtigen Forschungs- wie Re­zep­tionsmodul der »Lessing-Bilder« gerade auch aus solchen (tradierten) Lessing-Ter­ mi­ni wie »Unabhängigkeit«, »Selbstdenken«, »Neuerer«, »Verstandesklarheit«, »Pole­ mik«, »Kritiker«, »Engagement«, »Aufklärer« oder »männlich« (vgl. ebd., S. 2 f.). 192 Die zeitgenössische Kritik bewertete diese Eigenschaften Minnas oft als »spitzfindig«, »unweiblich« und »mutwillig« (vgl. ebd., S. 310; vgl. Barner u. a. 1998, S. 272). 193 Dieser Aspekt beruht auf Lessings Selbstbezeichnung als »entweder einer der unparteiischsten Menschen von der Welt, oder ein grausamer Sophist« (ebd., S. 254).

78

Lessings »Emilia Galotti« auf den Höheren Schulen und in Schulprogrammschriften

ganzen Gattung: der Spezies der Kammerzofen der französischen Bühne« (ebd.)194, die zumeist »als Dame[n] [erscheinen], ganz ohne Rücksicht auf die intellektuelle und soziale Bedingtheit ihres Standes« (S. 297 f.). Im Zuge des »erwachende[n] Realismus«, der »zum Individualisieren« feststehender literarischer Typen zwinge,195 trete »an die Stelle der Lisette z.  B. […] eine Franziska«, deren »eigenste[s] Empfinden«, »warme[s] Herz[]« (S. 298) und »kindliche Treuherzigkeit« eine »herrliche Erscheinung« (S. 299) seien. In einem zweiten Abschnitt wendet sich Marseille Lessings bürgerlichem Trauerspiel »Emilia Galotti« zu und erkennt dessen »Urbild« (ebd.) sowohl in den antiken Erzählungen der »Geschichte der Virginia« von »Livius und Dionysius« (ebd.) als auch in der »dramatischen Bearbeitung des Stoffes« (ebd.) durch Montiano und Campistron. Lessings dramatische Präferierung einer »bürgerliche[n] Virginia« gegenüber einer »römischen« (S. 301) hätte ihn jedoch auf die »Duplicität der Handlung« (ebd.) aufgrund seiner theoretischen Auseinandersetzungen über das »Wesen des Tragischen« (ebd.) während seiner Hamburger Zeit verzichten lassen.196 Damit wäre jene ursprünglich thematisierte »›unwiderstehlich zwingende […] Macht der Verhältnisse‹« (ebd.) von Lessing fallengelassen worden, um den »Konflikt[…]« (S. 302) in die »Herzen der handelnden Personen« (ebd.) zu legen und »in Emilias Charakter selbst die Ursachen ihres Todes« (ebd.) aufzufinden.197 Diese 194 Laut Barner u. a. sind gerade hinsichtlich der Franziska »am deutlichsten die Einflüsse der comédie larmoyante […] zu beobachten« (ebd., S. 259). 195 Diese »Neuartigkeit des Realitätsbezugs« (Fick 2010, S. 289) auch bei den Nebenfiguren führt die Forschung auf den Einfluss Denis Diderots (1713 – 1784) und dessen »Dramenkonzeption« zurück, »die Lessing in seiner Übersetzung Das Theater des Herrn Diderot vorstellt« (ebd., S. 290). 196 In der 2. Auflage ihres Lessing-Handbuches weist Fick auf die unterschiedlichen politischen Deutungsansätze hin: »Emilia Galotti erscheint als Drama der Opposition gegen den Absolutismus (marxistische Literaturkritik) und als Drama der (kritischen) Affirmation der höfischen Gesellschaft (Neuß), als Drama des (illusionären) bürgerlichen Moralstolzes ( Jung-Hofmann), als Tragödie der Bürgerfeigheit (Sanna) und als Drama, das die bürgerliche Hoffnung auf die Kraft der Moral desillusioniere (Schulte-Sasse), als ein Stück gegen die gesellschaftlichen Abhängigkeiten (Durzak) und als ein Stück, das den Vorurteilscharakter gesellschaftlicher Schranken und Abhängigkeiten bloßlege (TerNedden)« (Fick, Lessing-Handbuch. 2004, S. 322). In der aktuellen Auflage situiert Fick für eine »politische Deutung« hingegen »[d]rei grundsätzliche Möglichkeiten […]: die Abbildung des Gegensatzes zwischen dem Prinzen bzw. dem Hof und der Galotti-Familie auf die Opposition von Adel (mit dem Prinzen an der Spitze) und Bürgertum (1) oder auf die Stellung des Herrschers zum Untertan (2), schließlich die Analyse der Interaktions­ muster, die allererst zu der ausweglosen Konfrontation führen, also die Analyse der Kon­ sti­tutionsbedingungen der politischen Welt (3)« (Fick 2010, S. 381). 197 Die Forschung bezieht sowohl den Gegenstand der »unwiderstehlich zwingenden Macht der Verhältnisse« als auch den »Konflikt in den Herzen der handelnden Personen« in ihre Analyse im Zuge »psychoanalytische[r] […] Interpretationsansätze« (ebd., S. 391) sowie »[g]eistesgeschichtlicher Hermeneutik« (ebd., S. 386) im Sinne der »Emilia Galotti als Drama sittlicher Autonomie« (ebd., S. 387) sowie als dramatische Problema-

79

Carsten Gansel und Mike Porath

»Konstruktion seines Kunstverstandes« resultiere aus dem »Geist der Zeit« sowie der »lüsterne[n] Neugier« der Menschen, im »Abgrund ihres seelischen Lebens die Quellen ihres Lebens« (ebd.) zu suchen.198 Die damit im Zusammenhang stehende Problematisierung des erotischen Moments bringe die Figur der Emilia schließlich mit Samuel Richardsons Clarissa in dessen gleichnamigem Roman von 1748 in Verbindung.199 Lessing habe nämlich »das antike Virginiamotiv […] mit dem modernen der Clarissa ›kontaminiert‹« (S. 303).200 Emilias Charakter und Handlungsweise würden demnach ihre Grundlage im »Empfinden seiner [Lessings – die Verf.] Zeit« (S. 304) haben, weswegen ihrer Figur trotz zahlreicher Einwände »durchaus das Prädikat der Allgemeinheit« (ebd.) zustünde. Lessing sei schließlich dergestalt darauf bedacht gewesen, Emilia »selbst in der Katastrophe so wenig heroisch erscheinen zu lassen« (S. 305), dass sein Drama »etwas Inkommensurables« (ebd.) für den Leser zurückbehalte. Dies würde auch daran liegen, dass sich für Emilia ein »lebendes Urbild […] in keinem einzigen Zuge nachweisen« lässt (S. 306).201 Auch die Figur der Gräfin Orsina basiere hauptsächlich auf einer ähnlichen Frauenfigur, die Marseille in der Marwood aus Lessings »Miß Sara Sampson« sieht, wobei auch diese wiederum »noch stark tisierung des »Theodizeemodell[s]« (ebd., S. 399) konsequent mit ein, um das sich in ihr widerspiegelnde »psychologische Dilemma« (ebd., S. 395) zu klären. 198 Eine bedeutsame Komponente der Epoche der Empfindsamkeit mit ihrer Hinwendung zum Inneren, genauer: zum Herzen des Menschen als einem Gegengewicht zu seinem (›kalten‹) Rationalismus. 199 Die Forschung siedelt ein »Parallelphänomen« (ebd., S. 150) zwischen Richardson und Lessing, allerdings eher bei dessen Stück »Miß Sara Sampson« an, insofern der »Vergleichspunkt die Inszenierung bürgerlicher Tugend bei gleichzeitiger Psychologisierung« ist (ebd.). Und obwohl sich Lessing dagegen »verwahrt« haben würde, »[bemerkten] bereits Lessings Zeitgenossen Ähnlichkeiten« (ebd.). 200 Die von Marseille vorgenommene kontextuelle Verbindung zwischen der Figur der Emilia und der der Clarissa kann durch die Forschung zur englischen Literaturgeschichte und speziell zum Romanwerk von Samuel Richardson (1689 – 1761) bestätigt werden, was in der Hauptsache Clarissas charakterliche Konfiguration anbelangt. Zwar ist von einem Rückbezug auf den antiken Virginia-Stoff nicht die Rede, aber die überwiegende Loslösung Clarissas von sozialen Bedingtheiten erlaubt es Richardson (wie auch Lessing), »sich ganz auf die psychischen Mechanismen der Figuren [zu] konzentrieren« (Englische Literaturgeschichte 2012, S. 198). Ebenso lassen sich interpretatorische Muster, die auch in der aktuellen Lessing-Forschung noch angewendet werden, wiedererkennen, wenn z.  B. Clarissa »im Verlauf des Romans zum christlich interpretierten Symbol von Freiheit [wird], mit der Clarissa gegen die Zwänge der Umwelt ihre personale Unversehrtheit setzt«, was sie »[f ]reilich um den Preis verdrängter Erotik« tut (ebd.). Nicht zuletzt haben Richardson Romane als »Ursprung einer langen Reihe trivialer Geschichten, in der nur die Wahlfreiheit echter Liebe von Statusschranken und den Fesseln männlicher Begierde zu erlösen vermag« einen »unübersehbaren Einfluss auf die gesamteuropäische Herausbildung von Empfindsamkeit und den universalen Tugendbegriff der Aufklärung ausgeübt, von Diderot und Rousseau über Lessing bis hin zu Goethe« (ebd.). 201 Auch Fick merkt an, dass alle Figuren des Dramas »frei erfunden« seien (vgl. Fick 2010, S. 380).

80

Lessings »Emilia Galotti« auf den Höheren Schulen und in Schulprogrammschriften

an die Milwood Lillos [aus dessen Stück »The London Merchant« von 1731 – die Verf.] erinnert« (S. 307).202 Sie sind beide »Furien der Rache« (ebd.), wobei Lessing – Marseille beruft sich auf eine Studie Borinskis – mit der ausgestalteteren Orsina »der dramatischen deutschen Literatur das ›Modell des stolzen, leidenschaftlichen Frauencharakters‹ gegeben« hat (ebd.).203 Emilias Mutter Claudia würde hingegen von der Vaterfigur Odoardo überschattet, was Lessing dem Verhältnis »seine[r] eignen Eltern« (S. 309) nachgebildet haben könnte.204 Das aufklärerische und humanistische Verdikt sowie die Vernunfthoheit der Frauencharaktere in Lessings »Nathan dem Weisen«, den Marseille abschließend untersucht, schreibt dieser der »theologisch-polemische[n], religiös-moralische[n], philosophisch-humane[n] Tendenz« (S. 310) des Stückes zu, die sich seiner Meinung nach auf die handelnden Personen »bis in die kleinsten Züge hinein« (ebd.) ausgewirkt habe.205 Rechas Charakter würde zwar dem der Zaïre aus Voltaires gleichnamigem Drama ähneln,206 deren heroischer Grundzug ordne sich in Bezug auf Recha jedoch »streng einheitlich dem pädagogisch-polemischen Grundgedanken unter« (S. 311).207 Selbst ein gewisses »schwärmerisches Wesen« störe ihre »harmonische […] Ruhe« (ebd.) nicht, die Nathan ihr verleihe, mit dem sie durch ein »sittliche[s] Band« (ebd.) verbunden sei. Ihr »lebendes Urbild« (ebd.) meint Marseille in »Lessings Stieftochter

202 George Lillo und sein Stück »The London Merchant« werden von Fick ebenfalls mit Lessings »Miß Sara Sampson« in Zusammenhang gebracht, aber weniger in Bezug auf eine bestimmte Figur, sondern »als Quelle für Lessings ›bürgerliches Trauerspiel‹« (ebd., S. 149), weil nach Peter Szondi »The London Merchant« als das erste bürgerliche Trauerspiel »in seiner Wirkungsintention und in seinem Inhalt den Willen des Bürgertums, zur erfolgreichen Lebensführung zu gelangen«, exemplifiziere (ebd., S. 167). 203 Hier scheint das (tradierte) Lessing-Bild des »›männlichen‹ Dichter[s]« bzw. »Kämpfers« (ebd., S. 2, 4 f.) durch, »der mit beträchtlichem persönlichen Einsatz Vorurteile bekämpft und gegen ›eingeschliffene Erwartungen‹ verstoßen habe« (ebd.). 204 Die Verbindung des familiären Aspekts im Zuge der »Privatisierung« der Figuren in »Emilia Galotti« mit Lessings realer familiärer Umwelt erscheint ebenso schlüssig wie spekulativ und wird von der Forschung nicht aufgenommen. 205 Auch Fick bespricht auf der Grundlage der Studie von Michael Böhler die Figuren von »Nathan der Weise« unter erkenntnistheoretischen und metaphysischen Aspekten: »Indem durch beide Weisen des ›Grundes‹, den ›Grund‹ als Ursprung und als Ziel, die Figuren definiert würden, erfüllten sie (die Figuren) den Begriff der ›Monade‹ bzw. der Aristotelischen Entelechie« (ebd., S. 500). 206 Fick nennt Voltaire nur im Zusammenhang mit Lessings Recherchen und Übersetzungen von Texten, »die über die arabische Welt informieren«, so etwa »Voltaires Aufsätze über Mohammed und die Geschichte der Kreuzzüge« (ebd., S. 489). 207 Das von Marseille Lessings »Nathan der Weise« zugeschriebene Attribut »polemisch« nährt sich auch aus dem Entstehungsraum des Stückes und steht in Zusammenhang mit dessen »erste[r] Rezeptionsphase – vom Erscheinen des Werks bis zu Lessings Tod [1779 – 1781 – die Verf.]« insofern, als »man Nathan den Weisen tatsächlich als ›AntiGoeze Nr. 12‹ […] liest, dass man die theologische Materie aus dem poetischen Kontext herauslöst und auf die Ebene des Fragmentenstreits rückt« (ebd., S. 511).

81

Carsten Gansel und Mike Porath

Malchen« (ebd.) zu finden,208 wogegen der Charakter der Figur der Sittah auf Elise Reimarus (S. 312) zurückgehe.209 »Sittah ist die Aufgeklärte, die Philosophin« (ebd.), wie denn auch mit Blick auf Elise Reimarus’ Briefe der »Verstand […] in ihr bei weitem das Gefühl« überwiegt (ebd.), ja ihr »Wahrheitsfanatismus« (S. 313) bei ihr eine »Kühle der Empfindung« und einen »Zug von Härte« (ebd.) verursache. Dadurch könne diese »Sittah-Elise in ihrer kurzsichtigen, misstrauischen Weiberweisheit vor dem gläubigen Optimismus Saladin-Lessings« (S. 314) nicht bestehen.210 Des Weiteren besäßen sie beide »einen gewissen Mangel an Sinnlichkeit« (ebd.), jedoch unterschieden sie sich in Hinsicht auf Sittahs »Intriguenlust« (S. 315), wovon »Elises offener, wahrheitsfanatischer Charakter […] ganz frei« ist (ebd.).211 Marseille ist sich zwar darüber im Klaren, dass selbst »der vorsichtigste Vergleich zwischen zwei Charakteren […] immer etwas gewaltsam Konstruiertes bekommen« wird (ebd.), denn Elise Reimarus hätte auf diese Parallelen zwischen ihrer Person und der Figur der Sittah in »Nathan der Weise« nicht reagiert, doch sprächen die vielen »identischen Züge« (ebd.) für sich.

208 Gemeint ist Lessings Stieftochter Maria Amalie König (1761 – 1848), deren Einfluss auf eine Figur im Stück »Nathan der Weise« jedoch nicht nachgewiesen ist. 209 Elise Reimarus (1735 – 1805), Schriftstellerin und Übersetzerin, Tochter von Hermann Samuel Reimarus (1694 – 1768), war eine der späten Vertrauten Lessings. Fick bringt zwar die Figur der Sittah und Elise Reimarus nicht in Verbindung, es mag indes nicht abwegig sein, diesbezüglich im Zuge von Lessings Einsatz für die Ideen ihres Vaters beim »Fragmentenstreit« einen Zusammenhang anzunehmen. 210 Für die Bezeichnung »Sittah-Elise« als einem ideellen Gegenpart zu »Saladin-Lessing« besteht nach Fick keine Berechtigung, denn Elise Reimarus findet sich in Hinsicht auf »Nathan der Weise« lediglich als Briefpartnerin und Rezipientin erwähnt (vgl. ebd., S. 489, 511). 211 Nach Fick ist »das Stück von einer großen anthropologischen Skepsis geprägt«, indem »die Figuren ihre Fehler« konstant wiederholen (ebd., S. 504).

82

Quellentexte

Ludwig Hölscher Ueber Lessing’s Emilia Galotti.1 [1851]

Das Drama spielt in Italien, örtliche Beziehungen sind an mehreren Stellen leicht zu erkennen. Die Eingangscene führt uns in das Kabinet des Prinzen. Der Prinz durchläuft hastig viele Bittschriften und Papiere, die Geschäfte ekeln ihn an, »Klagen, nichts als Klagen! Bittschriften, nichts als Bittschriften!« Welch ein Mann! Das ist kein Fürst, das ist kein selbständiger Mann; das wissen wir schon nach diesen wenigen Worten, der Prinz von Guastalla hat einen guten Freund gefunden, der ihm die Regierungssorgen erleichtert2. Seine Gedanken sind bei Emilia Galotti, übereilt unterzeichnet er, er schellt, will ausfahren, ein Brief von der Gräfin Orsina kommt an, unwillig wirft er ihn unerbrochen bei Seite und läßt verletzende Aeußerungen fallen, »nun ja, ich habe sie zu lieben geglaubt. Aber – ich habe!« Doch zu schwach, die 1 Außer den allgemeinen Werken über deutsche Nationalliteratur von Horn, Gervinus, Vilmar sind bei dieser Abhandlung benutzt: C. H. Schmid: Ueber einige Schönheiten der E. G. an F. W. Gotter. Lpz. 1773. – Engel, Philosoph für die Welt. – Herder Bd. 15. 17. – F. Schlegel Charakt. Und Krit. I, 170. – K. Lessing, Lessing’s Leben II, 377. – Schink Charakterist. L’s. 225. – Psyche. Aus Franz Horn’s Nachlaß I, 56. 245. – Börne dramaturg. Schr. 2. Bd. – Nodnagel Lessing’s Dramen erläutert. – Rötscher Cyclus dramat. Char. 1. Bd. 1844. 2. Bd. 1846. – Kurnik Ausgewählte Dramen analytisch erläutert. 1. Heft: E. G. Breslau 1845. – Lessingiana im Morgenblatt 1844, N. 190 – 193. 201 – 220. – Julian Schmidt in den Grenzboten 1850, N. 25, 463 – 468. – Beiläufige Bemerkungen von Nicolai in Lessings Brfw. XIII, 379. vgl. dazu Lessing XII, 373.; von Göthe XVII, 87. (A. v. 1840), XXXV, 359, Mittheil. V. Riemer II, 663 und im Zelterschen Brfw. IV, 281. V, 409.413, F. Schlegel Wke. (A. v. 1823) V, 294., Voß Brfw. I, 102.; W. Schlegel Dramat.; Tieck Dramat. Bl. II, 241., Bohtz Gesch. d. neuern d. P. 64. – Schütz über Lessings Genie (S. 96 fgg), Blankenburg Versuch über den Roman (a. m. O.), R. v. Klein dramaturg. Schr. (1781 – 87) habe ich nicht einsehen können. – Auf eine Vertheidigung der hier gegebenen Auffassung gegen andere, zum Theil sehr abweichende Ansichten, wie namentlich gegen Engel, konnte der Kürze wegen nicht eingegangen werden; aus demselben Grunde mußte die Geschichte des Dramas ausfallen, wozu u. A. Stoff bietet: Lessings Wke. XII, 104. XIII, 355. 358. XII, 344. 346. 347. 349. 351. XIII, 362. 365. 369. 379. 385. 388. XII, 360. XIII, 406. 659. XII, 369. XIII 424. 478. XII, 372. XIII, 555; Voß Brfe. I, 79. M. Claudius Wke. I, 104. (Stuttg. A.); Boie in Knebels Nachlaß II, 125.; Großmann das. 157.; Gött. gel. Anz. 1772, S. 318.; Schütz Hamburg. Theaterges. 388 u.  a. O.; Göthe XXII, 148. XXXV, 353.; Mittheil. v. Riemer II, 663., zum Theil aus dem Briefwechsel mit Zelter. V, 425 wiederholt, Zelter das. I, 364. – Für Literaturfreunde schließlich die Bemerkung, daß die lateinische Uebersetzung der E. G., von der Karl Lessing XIII, 599. 603. redet, von dem Celler Gymnasialdirektor Steffens Celle 1778 erschien unter dem Titel: E. G. progymnasmatis loco latine reddita et publica acta (!); im Personenverzeichniß heißt es: Orsina comes foemina, Marinellius Claviger Principis. – 2 Hier ist Lessing gegen sich selbst (XII, 357. vgl. XIII, 371) in Schutz zu nehmen.

85

Ludwig Hölscher

Erinnerungen an die jetzt lästige Gräfin selbst zu bannen, soll der Maler Conti ihn auf andere Gedanken bringen. Denn der Prinz hat Sinn für die Kunst; leicht für den Eindruck der Schönheit empfänglich, selbst in dem Affect noch den Anstand nicht vernachläßigend, voll Anmuth in Rede und Bewegung, ein huldvoller, ein vornehm schmeichlerischer Mäcenas der Künstler, verlangt er aber auch den Gegendienst von der Kunst. Nur insoweit sie seiner Stimmung schmeichelt, ist er ihrer Macht unterthan; die höhere Weihe, welche sie ihren wahren Freunden verleiht, ist ihm nicht zu Theil geworden. Er hofft Unterhaltung von Conti, und hat leider vergessen, daß ihm Conti das Bild der Orsina bringen will. Immer wieder die Erinnerung an die Vergangenheit! Und doch hat er mit dieser Vergangenheit nicht ganz zu brechen vermocht, er überredet sich, daß er es am Ende zufrieden wäre, wenn Emiliens Bild wieder der Gräfin in seinem Innern Raum machte, es war ihm damals so leicht ums Herz gewesen. So meint er noch jetzt und läßt uns nicht erwarten, daß er überhaupt »eines tiefern Gefühls, einer Leidenschaft, wodurch das Leben zu einer höhern Vollkommenheit angespannt wird«, fähig sei, aber wohl befürchten, daß er in böser Stunde »den bösen Geistern anheimfallen könne, die in des Menschen unverwahrter Brust sich augenblicklich ihren Wohnsitz nehmen.« Die Täuschung ist schnell vorüber, er liebt die Gräfin nicht mehr, denn er hat niemals geliebt, er hat nur ihre Fesseln getragen und ist froh, daß er sie mit andern vertauschen kann; um sich vor sich selbst zu rechtfertigen, tadelt er bitter in Conti’s Gegenwart ihre unangenehmen Eigenschaften, die früher ihm nicht zum Bewußtsein gekommen waren; ihren Stolz, ihren Hochmuth greift er, wenn auch mit geistreichen Worten, so bitter an, daß wir deutlich erkennen, wie sehr gebunden er gewesen ist, wie sehr er vor jedem Zusammenkommen mit der Orsina sich zu fürchten habe, wie unmöglich es für ihn gewesen, sie etwa jetzt zu empfangen. Die Leidenschaft, aus der er sich hatte befreien wollen, ist gesteigert; nun aber bricht vollends ihr Sturm hervor, als Conti das Bild der Emilia Galotti umkehrt. Das Bild ist vortrefflich gemalt, Conti ist ein denkender Künstler, er weiß, daß der Maler nicht mit dem Auge malen kann, daß die Hand ihn hindert,3 aber gerade diese Erkenntniß sagt uns, daß den Zauber des Originals sein Bild wiedergibt, sagte uns dies nicht auch die Entzückung des Prinzen, der kein Auge davon wenden kann, und noch mehr seine erzwungene Selbstbeherrschung. Dies Bild soll sein stündliches Studium und noch mehr seine erzwungene Selbstbeherrschung. Dies Bild soll sein stündliches Studium sein, »lassen Sie sich bezahlen, was Sie wollen!« ruft er Conti nach. Aber das Bild weckt ja immer nur die Sehnsucht nach Emilia, und darf er auf sie hoffen? Er weiß es nicht, er hat sie kaum gesehen, und dann hat sie einen Vater, einen alten Murrkopf, der sein Freund nicht ist, der sich am meisten seinen Ansprüchen auf Sabionetta widersetzt hat, und widersetzte sich schon der Alte seinen Rechtsansprüchen, so wird er gewiß allen unehrerbietigen Anforderungen des Prinzen den äußersten Widerstand bieten. Ein solcher Kampf liegt aber schon nicht mehr außer den Grenzen der Möglichkeit. Einer wahren Liebe ist der Prinz nicht fähig, einer Liebe, die ihre glühendsten Neigungen 3 Mit dieser Stelle möge man auch wegen des so deutlich hervortretenden monologischen Charakters des Stils Lessings, wie ihn Danzel treffend bezeichnet, die berühmte Stelle im Zweiten Anti-Goeze X, 175. vergleichen.

86

Ueber Lessing’s Emilia Galotti.

dem Gebote der Sittlichkeit opfert, hat er von der Orsina sich ja nur losgerissen, nicht weil die Immoralität des Verhältnisses ihn quält, was hier weniger sagen will, nicht weil er bei ihr keine Befriedigung des Herzens gefunden, sondern nur, weil sie ihm gerade unbequem geworden ist. Auf der andern Seite ist aber, wie wir aus den überströmenden Gefühlsäußerungen ersehen, die selbst in fremder Gegenwart der vornehme Mann nicht zurückzudrängen vermochte, und die sich beim Alleinsein noch steigern, seine Leidenschaft schon zu hoch entflammt, als daß nicht die Besorgniß nahe läge, daß bei seiner Charakterlosigkeit leicht ein schlauer Verführer gefährlichen Gebrauch davon machen könnte. Bedenken wir dazu den Rang des Prinzen, die Mittel, welche ihm derselbe in die Hand gibt, so drängt sich schon beängstigend uns die Frage auf, wer es sei, der die meiste Macht über ihn sich verschafft hat. Der Prinz hatte nach Marinelli geschickt, daß er ihn begleite, »denn er konnte nicht mehr arbeiten.« Jetzt hört er ihn kommen, gern schickte er ihn wieder fort, um in seinen Träumereien fortzuschwelgen, aber er ist schon da, und er ist schon unentbehrlich geworden, er hat immer neue Nachrichten zur Hand. Seine Mit­ theilung von der Ankunft der Gräfin Orsina macht es ihm möglich, des Prinzen Stimmung zu erforschen. Den Vorwand des Prinzen, daß seine nahe Verbindung mit der Prinzessing von Massa ihn nöthige, mit der Gräfin abzubrechen, zur Seite schiebend, weiß er geschickt, indem er sich von dem Schicksale der Orsina gerührt stellt und doch sie dem Fürsten langweilig zu machen sucht, wie aus ihrem Munde dem Prinzen die Andeutung einer neuen Liebe zu entdecken. Und nun ist es an der Zeit, dem Fürsten, der schon in mißmuthiger Stimmung ist, die Mittheilung von Appiani’s naher Vermählung zu machen. Zwar kann es scheinen, als ob der Prinz vor dem Grafen Appiani Achtung habe, den ehrenwerthen, sehr würdigen Mann hätte er gern unlängst an sich gezogen und will noch darauf denken ihn sich zu verbinden, aber der Eindruck, den auf sein schwaches Gemüth die ernste, kalte Tugend macht, ist nicht von Dauer und die empfindsamen Worte über die Leere der vornehmen Welt entspringen nur aus der augenblicklichen aufgeregten Stimmung. Marinelli darf kühn vorwärts gehen, um der Leidenschaft seines Herrn zu Hülfe zu kommen und sich dadurch unentbehrlicher zu machen und zugleich seiner persönlichen Abneigung zu genügen. Mit Schlangenklugheit, langsam, aber sicher, kommt er zum Schluß. Durch den wie zufällig hingeworfenen Namen Emiliens den Prinzen entflammend, läßt er, in der größten Ungezwungenheit beharrend, als ahne er noch nichts von der glühenden Liebe, seine Schreckensneuigkeit, daß die Emilia, welche heute Gräfin Appiani werden wird, Emilia Galotti sei, der Gegenstand der Sehnsucht seines Herrn, sich nach und nach entreißen, und nun, da der Fürst von Schmerz zerrissen vor ihm liegt, die Heftigkeit seiner Leidenschaft enthüllend, hat er ihn schon ganz in seiner Hand. Den Ausbrüchen seines Zornes setzt er die größte Ruhe, die erkünstelte herzliche Theilnahme eines aufrichtigen Freundes entgegen er kann bei sich darüber lachen, er erkennt um so mehr seine Unentbehrlichkeit, und der Prinz ist gezwungen ihn um Verzeihung und Trost zu bitten. So sicher ist schon die Uebermacht Marinelli’s, weil sein Herr immer nur ein Raub des Augenblicks, ohne innern Halt jedem Eindrucke hingegeben ist, der Diener aber unverrückt sein Ziel im Auge hat. Es gilt den Prinzen sich ganz zu eigen zu machen. Zunächst läßt er von der fernen Möglichkeit einer 87

Ludwig Hölscher

Erfüllung seiner Wünsche Worte fallen, aus denen der Spott, die Gewißheit von der Unmöglichkeit auch dem Prinzen hervorklingen muß, erwähnt beiläufig die wahrscheinliche Auswanderung Appiani’s und dann, da der Prinz in fieberhafter Gluth und Verzweiflung keinen Ausweg mehr sieht, fällt ihm ein Rettungsmittel ein. Aber er muß frei sein, der Prinz muß alles genehmigen, was er thut, und schlägt freudig ein; jetzt heißt ihn Marinelli sogleich nach seinem Lustschloß Dosalo fahren und noch heute den Grafen als Gesandten nach Massa schicken. Appiani wird hoffentlich in die Falle gehen; wo nicht, so leuchtet noch ein Hoffnungsstern, Dosalo liegt auf dem Wege nach Sabionetta, wo die Hochzeit stattfinden soll. Welche Hoffnung, das sagt Marinelli nicht, sie ist ihm vielleicht selbst noch nicht ganz klar geworden, aber die Hinweisung darauf muß uns bei seinem Charakter mit Besorgniß erfüllen. Denn seinen letzten Plan zu erfüllen, muß und wird er nun Alles auf ’s Spiel setzen, diese fieberhafte Leidenschaft des Fürsten zu befriedigen, die er selbst noch höher entflammt hat, muß sein Hauptbestreben sein, damit er auf seinem listig errungenen Platze stehen bleibe, und ist ihm dies Werk gelungen, so hat er nimmer zu besorgen, daß er der Gunst seines Herrn verlustig gehen werde. Ehrgeiz und Haß treiben ihn gleichmäßig. So gewaltig ist aber die Leidenschaft des Fürsten, daß er nichts mehr vor seinen Augen hat als Emiliens Bild, daß ihm selbst Marinelli’s Versprechungen nicht mehr genügen, er will den Versuch machen, das Mädchen unter der Messe in der Dominikanerkirche zu sehen und zu sprechen. Und rasch, wie die Leidenschaft drängt, muß der Versuch gemacht werden, nichts darf, nichts kann ihn jetzt stören, es ist nur noch sein Körper, den wir jetzt noch vor uns sehen, mechanisch unterschreibt er, was der Rath Camillo Rota ihm vorlegt, und das gräßliche Recht gern! mit dem er ein Todesurtheil unterzeichnen will, zeigt uns, wie er innerlich an ganz andere Sachen denkt als die Staatsgeschäfte, darf aber nicht als Hinneigung zur Grausamkeit gedeutet werden. Es sind hiermit der Boden der Handlung und die handelnden Personen exponiert. Marinelli und der Prinz sind deutlich genug gezeichnet, Marinelli die eigentliche handelnde Person, der Prinz der Geleitete. Emilia und ihre Familie sind bedroht, es ist von ihnen nur geredet, sie sind selbst nicht aufgetreten, weil sie überhaupt sich nur leidend verhalten; aber was wir von Odoardo und Appiani vernommen, gibt uns die Gewißheit, daß sie um jeden Preis die Ehre wahren werden; die tragische Collision ist durch die Leidenschaft und die sie stachelnde Verführungskunst vorbereitet. Wie aber die Kunst des dramatischen Dichters die Handlungen mit den Begebenheiten zur Einheit zu bringen hat, so sind die Zufälligkeiten, die in die Absichten der Personen so bedeutungsvoll eingreifen, schon hier in ihrem Keime vorhanden; daß der Inhalt des Briefes der Orsina dem Prinzen durch seinen Leichtsinn nicht bekannt geworden, daß der Prinz, in Marinelli’s Pläne sich drängend, in die Kirche geht, diese scheinbar gleichgültigen Thatsachen, die von so mächtigem Einfluß auf die Entwicklung der Handlung sein und die Pläne der wirkenden Personen durchkreuzen werden, ergeben sich hier von selbst aus dem Charakter der Personen und der Situation, und endlich ist die Persönlichkeit der Orsina schon so klar gezeichnet, daß die Art ihres späteren Auftretens uns nicht mehr unerwartet ist. Der z w e i t e Akt führt uns nun in die Familie Emiliens ein. Man hat sich zum 88

Ueber Lessing’s Emilia Galotti.

Hochzeitsfeste vorbereitet, Emilia ist in die Kirche gegangen, um zu der heiligen Handlung sich Gnade von oben zu erflehen, der Vater ist vorausgeeilt, die Mutter mit dem Diener Pirro allein zu Hause. Da kehrt Odoardo plötzlich zurück, getrieben von der Ungeduld, ob die Seinen auch nichts vergessen, er ist mit allen seinen Empfindungen und Gedanken bei dem Glück des heutigen Tages. Der Mann von alter Römertugend ist der zärtlichste Vater, aber diese Römertugend ist rauh und streng, sie brauset leidenschaftlich auf, aber die Leidenschaft wird leicht blind, sie erprobt sich nicht, sie wird nicht zum Pathos,4 sie wird gefürchtet, die Gattin selbst erschrickt vor der geringsten Aufwallung des Gatten und bittet besorgt, nicht zu zürnen. Denn diese rauhe Tugend, die die Welt nicht nehmen kann wie sie ist, findet überall Anstoß, überall Gefahr und Sünde; und die unbedachte That, das unbedachte Wort, von ihrem Ohre aufgefangen, kriecht wie Schlingkraut endlos treibend fort und hängts sich mit tausend Aesten an das Herz. Dies ist die Tugend Odoardo Galotti’s. So sehr sie imponiert, ist seine Seele doch nicht die stärkste, weil sie nicht die ruhigste ist. Ihm ist, wie überhaupt Menschen von empfindlicher Gemüthsart, starker Einbildungskraft und hoher Leidenschaft, der längere Aufenthalt in der Zurückgezogenheit gefährlich geworden.5 Es ist, als ob bei diesem von Natur reizbaren Gemüthe »eine gewisse Aengstlichkeit gleichsam zur Grundlage der Erziehung gemacht wäre und daher stört leicht der äußere Eindruck die Ruhe seines Innern.« Heute um so mehr, als durch die Gelegenheit seine Seele tief bewegt ist, wird er von allem was ihm nicht gefällt gereizt, und sieht in allem was seinen Wünschen nicht entspricht, böse Vorzeichen. Schon daß Emilia allein zur Kirche gegangen ist, macht ihn unruhig, »ein Schritt, sagt er besorgt, ist genug zu einem Fehltritte, sie sollte nicht allein gegangen sein.« Die dunkele Färbung, welche durch diesen Charakter der Entwicklung gegeben wird, wird erhöht durch das heimliche Auftreten des verkappten Banditen. Angelo, einst Soldat unter Galotti, erneuert die Genossenschaft mit Pirro, dem jetzigen Diener des Hauses, durch den übergebenen Antheil an einem frühern gemeinsamen Raubmorde, und nachdem er ihn dadurch in den alten Kreis wieder hineingezogen, fragt er ihn über die Fahrt nach Sabionetta aus; die sorgfältige Ausforschung und die Andeutung der beschlossenen Frevelthat machen selbst Pirro erschrecken, aber er weiß sich nicht aus der Schlinge zu ziehen, »bei Einem Haar hat er sich vom Teufel fassen lassen und ist sein auf ewig.« Marinelli’s Plan liegt offen vor unsern Augen, ein bereitwilliges Werkzeug ist gefunden, Odoardo Galotti, vor dem der Bandit vielleicht noch zurückweichen würde, wird bald nach Sabionetta zurückkehren, die Frauen und Appiani werden allein reisen, von wenigen Dienern begleitet, Pirro ist zum Schweigen gezwungen, die Gelegenheit kann nicht günstiger sein. Und immer näher rückt schon das Verderben heran, und Odoardo’s finsterer Argwohn fühlt zuerst sein Kommen. Emilia ist noch nicht heimgekehrt. Odoardo aber kann nicht länger weilen, auch muß er bei Appiani noch einsprechen, dem trefflichen Manne, dessen Entschluß, sich von der Berührung mit der großen Welt, von der Nebenbuhlerschaft der Marinellis ganz zurückzuziehen, ihn vor allem entzückt. Denn nur die Nothwendigkeit, 4 Vergl. Vischer’s Aesthetik § 105. 5 Vergl. Zimmermann über die Einsamkeit II, 240.

89

Ludwig Hölscher

seiner Tochter eine anständige Erziehung zu geben, hatte ihn vermocht, Emilia mit der Mutter in der Stadt wohnen zu lassen, er ist froh, daß es mit der Stadterziehung noch so gut abgelaufen ist, und sucht seine Frau, die diese strengen Tugendgründe nicht zu fassen vermag, damit schon von der Nothwendigkeit der Entfernung des Grafen zu überzeugen, daß derselbe durch die Verbindung mit dem verhaßten Hause der Galotti es mit dem Prinzen verderbe. Aber gerade hier bei ihrer schwachen Seite gefaßt kann Claudia ihre Lust nicht länger verheimlichen. Ueberaus zärtlich um ihre Tochter besorgt, mag sie selbst aber auch in ihrem Glücke sich sonnen, sie möchte sie gern als eine glänzende Erscheinung an dem Hofe sehen, sie rühmt unbefangen die Munterkeit, den Witz, diese zweideutigen Tugenden, mit denen Emilia bezaubere, und um des rauhen Gemahls Besorgniß zu entkräften, erzählt sie triumphierend von der Gnade, die in der letzten Gesellschaft bei dem Kanzler Grimaldi der Prinz Emilien bewiesen. Sie träumt nur von Glück und ahnet nichts von Gefahren, sie erschrickt vor der aufbrausenden Heftigkeit ihres Gemahls, dessen ahnungsvollem Gemüthe sich der drohende Abgrund enthüllt, vor der rauhen Tugend, der alles verdächtig scheint; aber der Gewalt dieser ernsten Worte kann auch ihr argloser Sinn sich nicht entziehen, und wenn auch mit zu strenger Miene die Römertugend Odoardo’s ihr entgegentritt, als daß sie offen sich ihr unterwerfen könnte, so beginnt sie doch wegen Emiliens Säumen zu zittern. Alles ist zum Hochzeitsfeste vorbereitet, aber schon ist das Gewitter über unserm Haupte vernehmlich; Marinelli’s schurkischer Plan ist uns enthüllt, die Mutter klagt in ängstlichen Sorgen, der Vater ist von betäubenden Gefühlen zerrissen abgereist, »Gott befohlen, Claudia, kommet glücklich nach!« waren seine letzten Worte, mit denen er selbst das gefürchtete Unheil bannen zu wollen schien, wir sehen ihn dem Verderben entgegeneilen, der er allein konnte vielleicht den Ueberfall verhindern, und doch drängten wir ungeduldig ihn fort, von der Angst ergriffen um das was Emilien in der Kirche begegnet sein möchte, in der, wie wir wissen, der Fürst sie zu sprechen begehrte. Da stürzt Emilia in ängstlicher Verzweiflung herein, sie weiß nicht, wie sie ins Zimmer gelangt ist, sie zittert an allen Gliedern, kaum vermag sie ihrer Mutter das Begegnen mit dem Prinzen in der Kirche zu erzählen; unschuldig an dieser Zusammenkunft, an all dem, was sie gesehen und gesprochen hat, daß sie wie durch Zauberkunst gebannt schien, selbst sich schuldlos fühlend und nur insofern sich selbst ein Schuld beimessend, als die Nähe des Lasters das Reinste befleckt, hilft sie dennoch insoweit die tragische Entwicklung beschleunigen, als die den Eindruck, den die verführerische Persönlichkeit des Prinzen auf sie gemacht hat, nicht kräftig bekämpfte. Sie ist nicht offen gegen sich selbst mehr, ihr reiner Sinn ist zwar empört gegen die Leidenschaft des Prinzen, aber ihre fieberhafte Erregung stammt nicht allein aus diesem Unwillen. Sie ist nicht die in der Einsamkeit erzogene Klosterjungfrau, sie kennt die Sprache der Welt, sie besitzt Witz und Munterkeit, und weiß auch in größerer Gesellschaft durch ihre Rede zu bezaubern, jetzt hatte sie durch ein Wort, durch einen Blick den Prinzen merken lassen müssen, was er zu hoffen habe, das hatte sie nicht gekonnt, darin lag ihre sittliche Schwäche, darin ihre Schuld, wodurch die Hoffnungen und die Kühnheit des Prinzen gesteigert werden. Unfreiwillig jedoch in diese Schuld hineingezogen erregt sie unser tiefstes Mitleiden; noch erschüttert von 90

Ueber Lessing’s Emilia Galotti.

der heftigen Aufregung Odoardo’s theilen wir die Angst der Mutter, daß der Vater die Tochter jetzt gesehen haben könne, und können ihre Freude, daß die Ungeduld ihn forttrieb, nicht mißbilligen. Damit jedoch, daß sie der Tochter abräth alles dem Grafen zu gestehen, begeht sie eine wesentliche Schuld. Nach dem was wir von dem Charakter und der Liebe Appiani’s wissen, hatte sie nicht zu besorgen, daß er den unschuldigen Gegenstand des Verbrechens mit dem Verbrecher verwechseln würde, sie berechnet die Zukunft nach ihrer Neigung, ohne die triftigeren Einwendungen Emiliens zu würdigen, sie verletzt wissentlich die Wahrheit, wenn sie ihrer Tochter die Worte des Prinzen als die nichtssagende Sprache der Galanterie deutet, denn sie hatte gehofft, daß Emilia ihm in Einem Blicke alle die Verachtung bezeugte, die er verdiente. Es ist weniger ein Mißtrauen in den Grafen, welches sie leitet, als die Neigung allem Unangenehmen aus dem Wege zu gehen, die vorübergehende Unruhe, welche die Erzählung vielleicht Appiani bereitet haben würde, zu vermeiden, Alles zu ebnen und zu glätten, und diese überweise Klugheit, die mit Umgehung der Wahrheit und Offenheit zu ihrem Ziele zu gelangen hofft, wird, das ist die Besorgniß, welche sich uns jetzt gewaltsam aufdrängt, zu Schanden werden. Denn hätte der Graf des Prinzen Absicht gekannt, so würde er alles was von dieser Seite ihm in den Weg gelegt wird, gleich durchschaut und darnach seine Maßregeln getroffen haben. Damit daß Claudia nicht bloß selbst zurückhaltend ist, sondern ihre Tochter auch dahin bringt, aus kindlicher Liebe ihrer Weisung zu folgen, vermehrt sie ihre Schuld, so wie auch Emilia, so sehr wir ihren Beweggrund zu achten uns verpflichtet fühlen, in den Kreis der Schuldigen hineingezogen wird, weil sie zu schnell auf die beschwichtigenden Gründe der Mutter eingeht und den Gehorsam gegen dieselbe höher stellend als die unverbrüchliche Pflicht der Offenheit gegen den Grafen, zu der ihr Gefühl sie drängte, ihre innersten Empfindungen verschließt, als Appiani hereintritt. Hierin ist zugleich ein wesentlicher Charakterzug Emiliens angedeutet. Ihr Verhältniß zu Appiani beruht mehr auf Achtung als auf Liebe; liebte sie innig, so würde sie nichts fürchten, würde sich ganz an den Verlobten anschließen und aus dieser Hingebung Stärke gewinnen. Trotz der Verschiedenheit der Charaktere auf beiden Seiten hat sich ihr Verhältniß zu Appiani ähnlich gestaltet, wie das ihrer Mutter zu ihrem Vater. Anders der Graf. Sein Charakter ist im Allgemeinen uns aus der Erwähnung des Prinzen und Odoardo’s bekannt geworden; selbst der Prinz kann ihm seine Achtung nicht versagen. Er ist aber nicht blos ein sehr würdiger, ritterlicher Mann, sondern auch von der tiefsten Liebe zu seiner Braut durchdrungen; in dieser stillen Liebe findet er all sein Glück, und jetzt ist er der Erfüllung seiner seligsten Wünsche nahe. Würde nun allerdings eine leidenschaftliche Erregung seinem Charakter überhaupt widersprechen, noch mehr der Stimmung dieses Augenblicks, wo in dem Gespräche mit Odoardo seine Seele von neuem männlichen Gesinnungen nachzustreben gekräftigt worden ist, so ist dennoch sein feierliches, tiefsinniges Auftregen uns eben sowohl wie Emilia und der Mutter auffallend. Freilich ist dies schwermüthige Wesen des Grafen von ungemeiner Wirkung. Nicht nur nach den vorausgegangenen heftigen Auftritten das Gemüth einigermaßen zur Ruhe kommt, daß Emilia alles aufbietet um durch die Erinnerung an die ersten Tage ihrer Bekanntschaft den Grafen zu erheitern, die freundlichen Bilder aber wieder verschwinden vor der beängstigenden Bedeu91

Ludwig Hölscher

tung ihres Traumes, Appiani’s Einbildungskraft sich von den traurigen Gestalten nicht losreißen kann, daß also das Gemüth wunderbar, jedoch nicht heftig hin und her bewegt wird, so wird aus jener Stimmung auch das Benehmen Appiani’s gegen Marinelli begreiflich.6 Indeß allein aus der Rücksichtnahme auf die dramatische Wirkung und eine leichtere Anknüpfung der folgenden Entwicklung die Stimmung Appiani’s erklären zu wollen, würde heißen dem Dichter einen Vorwurf machen, wir müssen sie aus dem Vorausgegangenen begreifen können. Emilia entfernt sich, um ihren einfachen Hochzeitsschmuck zu ordnen, von neuem überwältigen den Grafen seine trüben Ahnungen, Claudia kann ihre Besorgniß, daß ihn die Nähe des Zieles seiner Wünsche reuen möchte, nicht unterdrücken. Doch nicht das macht ihn ernst; noch einen Schritt vom Ziele oder noch gar nicht ausgelaufen zu sein dünkt ihn im Grunde eins, diese Wahrheit predigt ihm seit gestern und ehegestern alles was er sieht und hört. Appiani ist aus einer vornehmen Familie, Emilia aus einer Familie ohne Rang; er erregt durch seine Heirath Aufsehen bei seinen Freunden, die Hochzeit soll deshalb im Stillen vollzogen werden, der Graf wird sich darnach ganz von der großen Welt zurückziehen. So wenig wir auch bei denen, die Appiani seine Freunde nennt, niedrige Gesinnungen vorauszusetzen berechtigt sind, so sehr ist uns doch die Annahme erlaubt, daß sie nicht in dem Maße wie Appiani sich von den Standesvorurtheilen frei gemacht, daß sie die hohen Aussichten, zu denen ihn seine Geburt berechtigte, im schönsten Lichte ihm ausgemalt, noch einmal alle Bedenklichkeiten, die sie schon früher geäußert, gegen ihn erhoben haben. Dies alles quält ihn um so mehr, als er nichts davon gegen die Glieder der Familie, in die er jetzt eintritt, laut werden lassen kann, diese Hemmnisse drängen sich allein in sein Gemüth zusammen, so daß das nahe Ziel seinen Augen entrückt wird und er sich selbst erst am Anfange seiner Laufbahn zu stehen scheint. Dazu kommt, daß er nach langem Sträuben seinen Freunden zugesagt, aus schuldiger Achtung dem Prinzen Nachricht von seiner Heirath zu geben, dem Prinzen, von dessen Hofe er sich nicht blos der Marinellis wegen, sondern auch aus Abneigung gegen die Lebensansichten und Aufführung des Fürsten selbst zurückgezogen hat; er fühlt im Voraus die unbequeme Stellung die er diesem Prinzen gegenüber einnehmen wird, die Cerimonie wird ihm eine Tantalusqual, aber er kann nicht zurück, denn er ist schwach genug gewesen seinen Freunden sein Jawort zu geben. Eben will er vorfahren; noch nicht hat sich Claudia von ihrem Erstaunen erholen können, sie weiß noch nicht, ob sie Appiani, der die Hochzeit dem Prinzen mittheilen will, eine Andeutung geben soll von der Unruhe die ihnen der Prinz gemacht, als Marinelli erscheint und auf dessen Ersuchen sie sich zurückzieht. Die Scene wird wieder lebendiger. Marinelli überbringt Appiani den Antrag als Bevollmächtigter des Prinzen nach Massa zu gehen, er überhäuft ihn mit seinen Freundschaftsversicherungen, die in jedes Anderen Munde uns ebenso unerwartet wie hier dem Appiani vorkommen würden, die aber dem Charakter des Mannes angemessen sind, der sich aus seiner Höflingsnatur nicht herausdenken kann. Das Geschenk der Freundschaft muß freilich Appiani zurückweisen, den Antrag des Prinzen aber kann er trotz des Ueberbringers nicht geradezu ablehnen, die Erinnerungen seiner Freunde 6 Dies ist die Auffassung Engel’s, der im 2. Briefe dieselbe sehr ausführlich zu begründen sucht.

92

Ueber Lessing’s Emilia Galotti.

werden mit doppelter Gewalt in ihm lebendig, mit der höhern Stellung in der Welt, zu der ihn Erziehung und Rang berufen, glaubt er den Genuß seines stillen häuslichen Glückes vereinigen zu können, der Antrag ist so ehrenvoll, daß er nach kurzer Ueberlegung mit dem kurzen »Allerdings« sich bereit erklärt, die kurze Antwort zeigt aber zugleich, daß er lange nicht den Werth auf die Ehre legt, den Marinelli darin findet. Doch ist er einmal gefangen, Marinelli glaubt schon das Spiel gewonnen und fordert ihn auf gleich mitzugehen. Nun ändert sich die Scene, Appiani muß für die nächsten drei Tage die Ehre ablehnen, das kann Marinelli nicht begreifen, er meint, die Vermählung lasse sich aufschieben, er hält ihm den Befehl des Herrn vor, Appiani tritt ihm mit dem Bewußtsein seiner Freiheit entgegen. Dieser Plan Marinelli’s ist vernichtet, die erste Niederlage, die er erfährt, der nicht begreift, daß über der fürstlichen Gunst dem Menschen etwas werth sein könne. Schon gereizt durch die stolz beleidigenden Antworten des Grafen auf die freche Zudringlichkeit des Höflings, denn auch an dem unempfindlichsten Menschen ist eine Seite, an der er verletzt werden kann, kehrt er sein boshaftes Inneres heraus, und durch spöttischen Hohn auf die bevorstehende Vermählung macht er zwar seinem nagenden Grolle Luft, zieht sich aber so schwere Beleidigungen zu, daß er nicht anderes als Genugthuung fordern kann. Hierin liegt die Schuld Appiani’s, sie fließt aus denselben Temperaments-Eigenschaften wie seine Tugend, es ist die Sicherheit, wodurch sich die sittliche Energie eine Grube gräbt.7 Welche Genugthuung Marinelli sich holen werde, das ist uns nicht mehr zweifelhaft; daß er nicht lange säumen werde, scheint uns wahrscheinlich, wenn wir des Planes des Angelo gedenken; wir sehen das Todesloos über den Grafen geworfen. Appiani aber ist von allem Trübsinn geheilt; allem Schimmer der Vergangenheit und Gegenwart sagt er ein freudiges Lebewohl, er fühlt sich anders und besser, von dem Hofe, dem Prinzen sagt er sich für immer los, ruhig heißt er Claudia in die Zukunft blicken, ohne eine Ahnung, daß ihr aller Lebenskreis sich immer enger zusammenzieht. Marinelli ist es, in dessen Händen die Entscheidung ruht. Wir treffen ihn im dritten Akt in einem Vorsaale auf Dosalo, neben dem Prinzen. Der Prinz hat im Voraus allerdings alles genehmigt, was er thun werde; ob er auch den äußersten Schritt billigen werde, ist ihm ungewiß. Er sucht daher Appiani bei dem Fürsten verhaßt zu machen mit der Lüge, daß er die angetragene Ehre kurzweg mit der größten Verachtung ausgeschlagen habe. Nun scheint Emilia für immer dem Prinzen verloren, die Leidenschaft des Prinzen, die Beleidigungen gegen ihn selbst über sein schlechtes Werk erlauben Marinelli immer kühner voranzugehen, den Prinzen immer mehr sich zu eigen zu machen, er thut empfindlich über die Undankbarkeit desselben, er wagt die zweite Lüge, daß er bereit gewesen, für seinen Herrn sich zu opfern. Wieder eine Hoffnung, aber auch diese ist vereitelt. Die eben aufdämmernde Hoffnung des Prinzen macht wieder dem Unwillen gegen Marinelli Raum, und gereizt durch die Frage desselben, was er für sich denn erlangt habe, heißt er ihn sich entfernen. Nun ist Marinelli sicher, das Unmögliche will er jetzt möglich machen, eine schwache Hoffnung läßt er wieder vor des Prinzen Augen auftauchen, so schwach anfangs, daß der Fürst seine Worte für Spott hält, dann deutlicher, daß die Möglichkeit der Erfüllung, 7 Vergl. Vischer’s Aesthetik § 131. 134.

93

Ludwig Hölscher

so unwahrscheinlich sie auch noch ist, doch geahnet wird, und der Fürst hastig an diesen Rettungsanker sich anklammert. Nur das Eine bedingt sich Marinelli aus, daß er für den etwaigen Ausgang nicht stehen könne, und wie könnte der Fürst anders als diesen außerordentlichen Menschen von der Verantwortlichkeit für Unglücksfälle entbinden? So hat sich Marinelli geschützt, der Prinz ist von seiner Begierde mit in das Verbrechen hineingezogen, sein Wille ist schon gebrochen, und die bangen Ahnungen die noch in seinem Gewissen aufsteigen, wagen nicht den Streit mit den Gestalten seiner Leidenschaft. Der gefürchtete Kampf ist ausgebrochen, von weitem hört man Schüsse fallen, Marinelli theilt das Nothwendige von seinem Plan dem Prinzen mit. Angelo kommt, was wir längst erwartet, tritt nun mit höchster Wahrscheinlichkeit uns grauenvoll entgegen, Appiani ist der Rachsucht Marinelli’s zum Opfer gefallen, Angelo ist seiner Sache zu gewiß, als daß wir noch hoffen dürften, Marinelli’s Furcht, der Graf möge nur verwundet sein, habe etwas für sich. Das mächtigste Hinderniß ist aus dem Wege geräumt, Emilia nimmt ihre Zuflucht in das Schloß, sich von Räubern verfolgt wähnend. Aber der Prinz ist wieder unschlüßig was er thun soll, er kann sie ja nicht der Mutter, dem Grafen vorenthalten; den von dem Tode des Grafen weiß er noch nichts, Marinelli verschweigt ihm absichtlich denselben, der Gedanke an die Ankunft des Grafen soll ihm erst wieder die sichere Hoffnung zerstören, er soll selbst erst den Wunsch äußern, daß der Graf ihm nicht mehr im Wege stehen möge, dann kann Marinelli wieder hervortreten als der sichere Helfer, dann ist er gewiß, daß der Prinz für den Mord ihn nicht verantwortlich machen werde. Denn was der Prinz ihm auch bisher versprochen hat ist ihm nicht Bürgschaft genug, erst muß durch den Anblick Emiliens seine Gluth noch gesteigert sein, so daß er auch selbst mit etwas mehr Muth die Mordthat allenfalls ausführen könnte. Soweit ist er aber noch nicht gekommen, noch ist er unschlüßig, Marinelli verweist ihn wieder auf sich selbst, auf seine Kunst zu gefallen, zu überreden, von dieser Kunst hat er aber schon heute eine schlechte Probe gegeben, die Angst Emiliens hatte ihn selbst angesteckt, dasselbe Gefühl überkommt ihn jetzt, er wagt es nicht bei ihrem Eintritt zu sein. Aber auch Marinelli mag nicht das Erste sein das ihr in die Augen fällt, die Macht der Unschuld und Tugend drückt ihn auf einen Augenblick, er muß sich erst sammeln. Athemlos stürzt Emilia herein; sie weiß nicht wo sie ist, sie frägt nach der Mutter, dem Grafen, sie will dem Bedienten sie suchen helfen, sie weiß von nichts Schlimmem. Jetzt kann wie zufällig Marinelli hereinkommen und höflich das Wort ergreifen. Emilia stutzt, doch faßt sie sich, daß sie begreift, sie sei bei dem Kammerherrn, das Ereigniß in abgerissenen Worten erzählt, und forteilen will die Lieben zu suchen. Marinelli beruhigt sie, schickt den Diener zu ihrem Dienste ab, läßt sie das Beste hoffen, und meint beiläufig, daß der Prinz ihr die Mutter gleich selbst vorführen werde. Ehe noch Emilia von der Bestürzung sich erholen kann, daß der Prinz um ihre Mutter, daß sie in Dosalo ist, daß der Prinz wohl gleich kommen werde, erscheint er selbst. Trotz seiner Vorbereitung ist er noch befangen, die Angst Emiliens übt auch auf ihn ihren Einfluß aus, und die Gelegenheit auf ihr Herz einzuwirken, scheint nicht günstig, der Prinz kann nur trösten, beruhigen, ja muß sich selbst vertheidigen, um seinen Tröstungen Glauben zu verschaffen, er scheint weiter als je entfernt die Empfindungen seines 94

Ueber Lessing’s Emilia Galotti.

Herzens äußern zu können. Aber gerade die Bitte, ihm in dieser Verzweiflung zu vertrauen, die Bitte um Verzeihung seiner Schwäche bei dem Begegnen am Morgen ist ein Geständniß seiner fortdauernden Liebe, dies Versprechen, daß kein Wort sie beleidigen solle, weil sie über ihn die unbeschränkteste Gewalt ausübe, sagt mehr als die lauteste Rede; diese lebhaften Betheuerungen in dem Munde des jungen, vornehmen, schönen Mannes müssen das weibliche Herz ergreifen, und halb von ihnen gefangen, halb gedankenlos in der Erinnerung an die Mutter und den Grafen läßt Emilia sich von dem Grafen fortführen, wie ihr versprochen wird, zur Umarmung der Mutter. Und wenn sie nun nach dem was heute Morgen so gewaltig ihren sittlichen Unwillen erregt, was sie jetzt wieder in zarterer Form gehört hatte, dem Prinzen wenn auch mit Sträuben folgt, so gibt sich darin dieselbe Schwäche der einnehmenden, magisch sie fesselnden Persönlichkeit des Prinzen gegenüber zu erkennen, deren sie sich schon vorher bewußt geworden war. Dieser ihren Sieg zu erleichtern, bleibt Marinelli zurück, zugleich zu hindern, daß Niemand den Prinzen überfalle. Die Mutter, deren Kommen gemeldet wird, fürchtet er so sehr nicht, er weiß, daß sie erst wild aufbrausen wird, denkt aber, daß ihre Eitelkeit der Absicht des Prinzen nicht geradezu feindlich entgegen treten werde. Aber er vermag ihre Wuth nicht zu zähmen. So wie sie Marinelli erblickt, enthüllt sich ihr das ganze Truggewebe. Der Schmerz um die geraubte Tochter verleiht ihrem Zorne Scharfblick, ihre mütterliche Liebe ist größer als die Eitelkeit von einem Fürsten gnädig aufgenommen zu werden. Der Zwist zwischen Marinelli und Appiani verknüpft sich ihr im Augenblick mit dem unglücklichen Ereigniß, mit Appiani’s Tode, der nun aus ihrem, der Rächerin, Munde als gewiß uns verkündet wird und das Zeichen gibt zu dem Kampfe zwischen der Leidenschaft und dem Tugendstolze. »Marinelli« war das letzte Wort des sterbenden Grafen gewesen, den Mörder hatte er gemeint, das hält sie den kalten Reden des Kammerherrn mit dem durchbohrenden Blicke entgegen, der sie zu einer wahrhaft erhabenen Gestalt adelt. Doch sogleich wendet sich ihr mütterliches Herz wieder zu ihrer Tochter, auch sie hält sie schon für verloren, als sie zu ihrem Entsetzen hört, daß sie in der Gewalt des Prinzen ist. Durch das verzweiflungsvolle Gefühl, daß sie an dieser tragischen Wendung der Dinge mitschuldig ist, und die höhnische Kälte ihres Gegners, der der leeren Worte spotten zu dürfen glaubt, weil er überzeugt ist, daß sie zu keiner That reifen werden, wächst ihr Grimm, die Umgebung vergessend donnert sie Marinelli mit seinem wahren Namen an und vergleicht sich mit Recht der ihrer Jungen beraubten Löwin, die es nicht kümmert in wessen Walde sie schreit. Ihr Geschrei hat Emilia im Nebenzimmer gehört, von dort dringt ihr Hülferuf herüber, und die Mutter außer sich stürzt zu ihr. Hiermit sind wir bis zu dem Punkte gelangt, daß die zunächst bedrohten und zunächst an der Verwicklung mitschuldigen Personen die Gefahr erkennen, in der sie sich befinden. Die Mutter war heftig in’s Zimmer gestürzt, die Tochter ohnmächtig in ihre Arme gefallen; sie war dadurch ruhiger geworden, doch hatte sie Appiani’s Tod nicht verheimlicht. So erfuhr ihn der Prinz, und um Gewißheit zu erlangen, wendet er sich (im vier ten Akt) an Marinelli. Er vernimmt die Bestätigung, er wälzt die Schuld von sich ab, er scheint sich noch einmal aufraffen zu wollen, er verwirft Marinelli’s freche Entschuldigung, daß der Graf selbst Schuld gewesen an seinem Tode, verweist Angelo aus seinem Gebiete und wagt selbst die Anklage, daß 95

Ludwig Hölscher

der Unglücksfall vorher ausgemacht sei; aber seine gänzliche Unselbständigkeit tritt schon aus der Nachgiebigkeit gegen Marinelli hervor, als derselbe auf seine durch den Grafen beleidigte, ungesühnt gebliebene Ehre pocht. Ja, er fühlt, daß er nicht freigesprochen werden kann von der Mitschuld, aber, und soweit hat ihn schon die Begierde, die Verführung geleitet, auch diese Schuld nähme er gern, um zu seinem Zwecke zu gelangen, auf sich, wenn es ein stilles heilsames Verbrechen wäre. Aber beides ist es nicht, jeder wird es ihm zuschreiben und der Weg zu Emilia ihm dadurch versperrt sein, und doch ist er ja nicht der Thäter. Das ist der Erfolg von Marinelli’s weisen Anstalten. Indeß für diese Undankbarkeit hat Marinelli die Strafe zur Hand, immer kalt unterthänig dem zürnenden Herrn gegenüber hält er ihm den Vorwurf entgegen, daß er selbst den schönen Plan durchkreuzt, daß die Scene in der Kirche erst Emilien aufmerksam gemacht, den Verdacht der Mutter erregt habe, und der Prinz ist wieder gezwungen, Marinelli Recht zu geben und seinen Einfall zu verwünschen. Er ist gänzlich das willenlose Werkzeug geworden und selbst seine Bemühungen den Schein der Selbständigkeit zu retten sind eitel. So ist nun das Verbrechen begangen, aber wie es benutzt werden soll, darüber sind der freiwillige und unfreiwillige Thäter noch ungewiß, die Leidenschaft hat sich selbst ihr Werk untergraben, jene für das ganze große Gewebe scheinbar so gleichgültige That hat die schwersten Folgen getragen. Wie schwach überhaupt der Grund ist auf dem die unsittlichen Mächte bauen, sollen sogleich von neuem die handelnden Personen erfahren. Die Gräfin Orsina wird angemeldet; Beide erstaunen, der Prinz ist in solche Aufregung dadurch versetzt, daß er bittend um Rath sich an Marinelli wendet, Marinelli ist ihre Ankunft ein gleiches Räthsel, er stimmt dem Prinzen bei sich vor ihr verleugnen zu lassen und im Nebengemach ihr Gespräch zu belauschen. Orsina hatte lange durch ihre äußere Erscheinung, durch den Verein von Würde, Anmuth und sanfter Schwermuth in ihrer Gestalt den Prinzen gefesselt, auf sie hatte die einnehmende Persönlichkeit des Prinzen einen noch tiefern Eindruck gemacht, und das innige Verhältnis zwischen ihnen schien für die Dauer gegründet. Einer dauernden Leidenschaft war aber der Prinz nicht fähig, er suchte sich von ihr loszureißen. Diese Versuche bleiben ihr nicht lange verborgen, die Gluth ihrer Neigung wurde dadurch nur vermehrt, ihre Schwermuth düsterer, und die Erhebung, die ihr Geist suchte, fand sie bei den Büchern nicht; auf sich zurückgewiesen würde sie der tödtlichen Verzweiflung zum Opfer geworden sein, die Heftigkeit ihres Sinnes ruft sie immer wieder in die Außenwelt zurück. Sie hofft den Prinzen noch fesseln zu können, wenn nicht durch ihre äußere Erscheinung, doch durch die Ueberlegenheit ihres Geistes, denn sie ist eine Dame von großem Verstande. Ihre Berechnung ist unrichtig gewesen, denn nicht nur hat ihr Gefühl zu sehr von je die Oberhand über ihren Verstand, als daß sie die Mittel hätte ruhig abwägen und ergreifen können mit denen der Fürst festzuhalten war, sondern der Prinz weiß auch zu wenig die geistige Macht zu schätzen um dauernd an ihr Gefallen zu finden, seinem oberflächlichen Sinne wird sie gerade dadurch unbequem. Seit er Emilia Galotti gesehen, suchte er sich ihr zu entziehen, aber bei dem Mangel an Kraft der heftigen und scharfblickenden Orsina gegenüber wagt er es nicht seine Neigung offen zu äußern, er sucht sie durch ein gleichgültiges Benehmen sich zu entfremden. Noch immer mit gluthvoller Liebe 96

Ueber Lessing’s Emilia Galotti.

an ihm hangend fühlt sie sich dadurch tief verletzt, ihr Verstand sagt ihr, daß sie einer ebenbürtigen Gemahlin den Platz räumen müsse, aber sie fürchtet einer neuen Geliebten aufgeopfert zu sein. Dieser gegenüber hält ihre Liebe sich für berechtigt, und so sehr ihr Stolz sie drängte gelassen und kalt zu scheinen, gewann ihre Leidenschaft die Oberhand; deshalb hatte sie den Prinzen um die Zusammenkunft in Dosalo gebeten. Der Prinz hatte den Brief nicht gelesen, aus einem andern Grunde war er dennoch dort erschienen. Dieser Zufall hatte sie zu dem Wahne geführt, er habe ihren Wunsch erfüllt, sie fuhr deshalb nach. Inzwischen hatte ihr Argwohn neue Nahrung erhalten, die Zusammenkunft des Prinzen mit Emilia Galotti in der Kirche war ihr bekannt geworden. Zerrissen von dem Kampfe verschiedener Empfindungen, dem fast zur Gewißheit gewordenen Argwohn der neuen Liebe des Prinzen und der Hoffnung daß durch die Gewährung der Zusammenkunft ihr die Möglichkeit gegeben sei für ihre heftige Neigung denselben wieder zu gewinnen, kommt sie in Dosalo an. Die Aufnahme die sie findet, macht sie zuerst stutzen, Marinelli’s Kälte, der sonst vor ihr auf den Knieen lag, endlich seine Entdeckung von dem Schicksal ihres Briefes lassen sie den Abgrund erkennen in den sie gestürzt ist; die geistige und sittliche Erhabenheit über den elenden Schwarm der Höflinge, wodurch sie uns ein Gegenstand der Achtung wird, mäßigt den Ausbruch ihrer Empfindungen, aber der rasche und wunderbare Wechsel von Stolz, Heftigkeit, Wehmuth, Entrüstung, Rührung, die dialektischen Spitzfindigkeiten, wodurch sie aus der Gewalt des Herzens sich loszureißen und ihr ganzes Sein dem heitern Spiele des Verstandes zu unterwerfen sucht, zeigen ihre vollkommene Trostlosigkeit, sie enthüllen uns ihr Inneres, wie es den zerstörenden Gewalten überliefert ist, die der Mensch beherrschen soll. Wie sie dadurch unser tiefstes Mitleid erregt und unsere Besorgniß um Emilia wächst, die jetzt in der Gewalt dieses verführerischen und frivolen Liebhabers ist, so nehmen wir auf der andern Seite auch Theil an dem Triumph der Gräfin über die Niederlage Marinelli’s. Erst der kalte, über die gestürzte Herrin jetzt sich erhaben dünkende Hofmann ist er der Gluth der Empfindung, der sittlichen Entrüstung erlegen. Mit der melancholischen Schwermuth, die er erwartet hatte, hatte er ein spöttisches Spiel zu treiben gehofft; daß eine verlassene Buhlerin noch einer andern Empfindung, selbst des Hasses gegen den Prinzen fähig war, lag außerhalb seines Gesichtskreises; die Gedankenblitze die auf ihn herniederfahren, haben all seinen Witz getödtet, wie ein willenloses Kind muß er sich der Laune der Orsina fügen, sie will lihn mit sich zum Prinzen fortreißen, als der Prinz ihn durch seine Zwischenkunst erlöst. Aber was sie bisher nur gefürchtet hatte, wird ihr jetzt zur unumstößlichen Gewißheit; der Prinz begrüßt sie kaum, weiset ihren Besuch zurück mit der Entschuldigung von Geschäften und befiehlt Marinelli ihm zu folgen. Die Betäubung, in die sie gestürzt ist, geht über in eine wehmütige Rührung über ihre gänzliche Verlassenheit, aber bald ermannt sie sich und ihr bittrer Hohn wendet sich wiederum gegen Marinelli; sie fordert ihn auf ihr etwas vorzulügen wer bei dem Prinzen sei. Der kluge Hofmann fängt sich in seinem eigenen Netze; ob er ihr jetzt die Wahrheit oder eine Lüge sage, dünkt ihn gleichgültig; um seinen Worten Nachdruck zu geben, gesteht er ihr die Wahrheit daß Emilia Galotti da sei; er ist aus seinem Kreise herausgetreten und opfert damit sein Werk. Die Kundschafter der Orsina hatten den Prinzen am 97

Ludwig Hölscher

Morgen mit der Emilia gesehen, sie durchschaut mit einem Male den ganzen Plan, alle ihre Gefühle vereinen sich in dem Gefühl wilder Freude über diese Entdeckung; ihre fieberhafte Leidenschaft, ihre düstere Schwermuth sind verschwunden, sie erhebt laut die Anklage auf Mord gegen den Prinzen. Marinelli ist über diese ungeahnte Wendung so erschreckt, daß er sie schon zu beschwichtigen sucht, daß er es kaum wagt auf die Gefahr ihrer Rede die Gräfin aufmerksam zu machen. Da kommt Odoardo, und in dem Augenblicke ist ihr Entschluß fertig. Odoardo weiß noch nichts von Appiani’s Tode, Marinelli hat den Faden verloren und fürchtet das Schlimmste von einer Unterhaltung Odoardo’s mit der Gräfin, aber so verwirrt ist er schon, daß er sich nur durch die grobe Lüge zu helfen weiß, Odoardo vor der Orsina als vor einer Wahnwitzigen zu warnen, dies Mittel wodurch er sich selbst wieder entgegenarbeitet, indem bei der späteren Annäherung Odoardo’s und Orsina’s gerade darum demselben ihre Reden wahrscheinlicher, der Verdacht gegen Marinelli begründeter erscheinen muß; Marinelli fühlt den gewohnten Boden nicht mehr unter sich, sein Hochmuth, sein Spott sind längst zu Schanden geworden. Nun entwickelt sich rasch das kunstvoll geschlungene Gewebe unter den Händen der »dämonischen« Orsina, wie sie sehr treffend bezeichnet worden ist. Worauf Marinelli’s ganze Kunst gerichtet gewesen war, Appiani’s Untergang außer Verbindung mit der Liebe des Prinzen zu setzen, das wird jetzt vernichtet durch die Person, die schon von dem Prinzen und Marinelli aller Beachtung unwerth erachtet war, von ihrer Leidenschaft getragen muß gerade die Frevelthat dem Manne kund werden, dessen Heftigkeit selbst die mildeste Ruhe kaum besänftigen kann. Der scheinbare Zufall führte die beiden Personen die durch denselben Mann so furchtbar verletzt sind, zusammen, Orsina schon ganz in ihrem Racheplane lebend, Odoardo der Fremden gegenüber seine Empfindungen zu bewältigen bemüht. Aber indem das Mitleid um seinen Schmerz ihrer Wuth nicht gleich kommt, wird sie von ihren eigenen Empfindungen so fortgerissen, daß sie die trostlose Gegenwart und die noch entsetzlichere Zukunft mit kurzen düstern Worten ausmalend wie in einer dithyrambischen Entzückung in einer wilden Phantasie sich Luft macht. Dies gräßliche Bild von den unglücklichen Verlassenen, deren eine sie ist, dient wesentlich dazu, unser Mitleid mit der durch den Prinzen zu Grunde gerichteten Orsina wach zu erhalten; wir sehen sie die furchtbaren Qualen erleiden, und ihr Racheplan erscheint uns in einem andern Lichte als die schleichende Verführungskunst Marinelli’s. Die Nemesis schreitet ihr zur Seite sie anstachelnd, und wie ihr Racheplan gleich das Aeußerste ergreift, so bietet sie, selbst ein willenloses Werkzeug des Schicksals, rasch die äußersten Mittel, Dolch und Gift, ihrem Mithelfer dar. Odoardo, dessen Tugend überall verdächtige Dinge sieht, ist trotz seines Vorsatzes nicht stark genug gewesen Ruhe zu behaupten; er hat eine aufgeregte Frau vor sich gesehen, eine verlassene Geliebte, ihre erhitzten Reden gelten ihm als Wahrheit, bestätigen ihm den Argwohn, der in ihm kaum sich zu regen gewagt hatte, er läßt sich von dem Sturme zur Raserei fortreißen den Prinzen tödten zu wollen, und da er keine Waffen bei sich hat, den Dolch von der Orsina in die Hand drücken; dies ist die unbedachte, verderbenschwangre That. In diesem Augenblicke scheint seine Wuth gemildert, aber die Leidenschaft kocht nur um so mehr in seinem Innern fort, seit er ein festes Ziel vor Augen hat. 98

Ueber Lessing’s Emilia Galotti.

Bei dem, was er vorhat, ist die Gemahlin ihm überflüßig oder vielmehr unbequem; er macht Claudia, aus deren Unschuldsbetheuerungen das Gefühl einiger Mitschuld hervorleuchtet, über das Vergangene keinen Vorwurf mehr, er sieht in dem Prinzen nur den Verführer, und mit ruhigen Worten läßt er sie mit Orsina zur Stadt zurückführen. In dem was nun noch kommen wird, haben beide keine Rolle mehr,8 Orsina hat ihren Plan vollendet, Claudia könnte nur hemmen. Noch hofft Marinelli (im f ünf ten Akt), daß Odoardo seine Tochter nach der Stadt bringen und ihr Schicksal der Theilnahme des Fürsten anheimstellen werde, erst auf den Einwurf des Prinzen, daß er sie mit sich nehmen oder in ein Kloster stecken, also den Erfolg ihres Werkes doch vernichten könne, sinnt er einen neuen Plan aus; ihn dem Prinzen mitzutheilen, weicht er mit ihm vor Odoardo aus. In Odoardo ist indeß eine wunderbare Veränderung vorgegangen, er ist nicht blos kälter geworden, sondern hat sich ganz von der Orsina geschieden, die gekränkte Tugend soll mit der Rache des Lasters nichts mehr gemein haben, die Gedanken an Appiani haben ihn weicher als je gemacht, die Strafe beschließt er dem Himmel zu überlassen, daß allein die Erinnerung an die gehoffte und vergällte Lust dem Prinzen das Leben verbittere, die Tochter gilt es allein noch von hier zu entfernen. Ruhig erscheint er jetzt vor Marinelli und trägt ihm seinen Willen vor, aber Marinelli vereitelt seine Hoffnung mit der Bemerkung, daß es wohl nöthig sein möchte, daß vors erste Emilia nach Guastalla gebracht werde. Da übermannt ihn wiederum der Zorn, er sieht in dem Prinzen wiederum den Wütherich, gegen den alles erlaubt sei, und wiederum bereut er seine Uebereilung. Hätte er nur Marinelli plaudern lassen, weshalb sie nach Guastalla solle, er könnte sich jetzt auf eine Antwort gefaßt machen. Auf keinen Vorwand freilich könnte ihm eine Antwort fehlen, und sollte sie ihm fehlen, dann – so ergänzen wir ihn – hat er das letzte Mittel zur Hand; aber würde er die That, die er etwa vollführte, auch vor sich rechtfertigen können, da er immer hin und her schwankt und das früher beschlossene Werk schon als ungerecht verworfen hatte? Seine Vermuthung, daß Marinelli nur als Hofschranze geschwatzt habe, wird durch den Anfang der Unterredung mit dem Prinzen bestätigt, der Prinz hat nichts gegen den Willen des Vaters die Tochter mit sich zu nehmen, auch ins Kloster treten zu lassen, einzuwenden; nun rückt Marinelli mit seinem Plane vor, er nennt sich den Freund Appiani’s, berufen zur Rache durch des Grafen letzte Worte, die in seinem Munde uns seine boshafte Zuversicht daß dieser Plan ihm endlich glücklich gelingen werde, noch einmal deutlich aussprechen, er reizt schon Odoardo durch die Vermuthung daß ein begünstigter Nebenbuhler der Mörder sei, fordert das gerichtliche Verhör Emiliens, Trennung von Vater und Mutter, und indem der Prinz, wie um der Gerechtigkeit gegen Appiani zu huldigen, durch Marinelli’s Gründe sich überzeugt stellt, sieht Odoardo klar die Absichten des Prinzen welche ihm die Orsina vorgehalten hatte. Er fährt schnell nach dem Dolche; ein schmeichelhaftes Wort des Prinzen entwaffnet seine Hand; »das sprach sein Engel«, sagt er für sich. Wie kann in dem einfachen Worte, fragt man, ein Beweggrund für ihn liegen von seiner That abzustehen, die jetzt durchaus gerechtfertigt scheinen mußte? Der Beweggrung liegt in seinem Charakter, 8 Nicolai’s Bemerkung (L. XIII, 380) ist ungegründet.

99

Ludwig Hölscher

eben weil er leicht aufwallt, kann er nie zur Ruhe in sich kommen, zur Zufriedenheit mit sich, er schwankt hin und her, weil er sich bewußt ist, das jetzt Geschehene im nächsten Moment bereuen zu müssen; dieser schnell aufflammenden Heftigkeit fehlt die nachhaltige Kraft. Sein Zustand ist erbarmungswürdig, seine Tochter soll von ihm getrennt, soll in das Haus des Kanzlers Grimaldi geführt werden, die beabsichtigte Verführung steht vor seinen Augen, er weiß nicht was er thun soll, er bittet noch um eine Unterredung mit seiner Tochter. Ihm schwebt das letzte Rettungsmittel vor, aber es ist so schrecklich, daß er darüber wahnsinnig werden könnte, er möchte so gern Gott hier unmittelbar einwirken lassen, aber da kommt Emilia, und in seiner Zerrissenheit sieht er in sich das vom Himmel berufene Werkzeug. Emilia erscheint ruhiger als der Vater erwartet hatte; sie weiß noch nicht alles Unglück, aber auch als der gefürchtete Tod des Grafen vom Vater bestätigt wird, behält sie ihre Ruhe. Sie ist dem Grafen mit der aufrichtigsten Achtung ergeben gewesen, sie erkannte seinen hohen sittlichen Werth, sie war stolz darauf von ihm geschätzt zu werden, erzogen für die Sittlichkeit kannte sie keine höhere Aufgabe des Lebens als in der Sittlichkeit zu wachsen, und an des Grafen Seite war sie gewiß immer besser zu werden. Aber diese Neigung ist keine entflammende Liebe gewesen, sie fühlt recht wohl welch ein Verlust auch für sie der Verlust des trefflichen Mannes ist, aber der Keim ihres Lebens ist nicht tödtlich davon ergriffen. Sie bittet den Vater weder um ein Grab neben dem Todten, noch um Rache gegen den Mörder, sondern um schleunige Flucht mit ihr; daß ihretwegen der Graf todt ist, diesen Gedanken hält sie leidenschaftlich fest. Aber die Flucht ist gehemmt, sie soll in den Händen des Räubers allein zurückbleiben. Da erwacht ihre Energie; wenn der Vater sie nicht retten kann und will, so ist sie doch über den äußern Zwang erhaben, »ich will doch sehen, wer mich hält, wer mich zwingt!« Als bei dieser Entschiedenheit der Vater ihr den teuflischen Plan mittheilen kann, daß unter dem Vorwande einer gerichtlichen Untersuchung sie aus den elterlichen Armen gerissen und zu Grimaldi gebracht werden soll, beruft sie sich stolz auf die Freiheit des Willens: »Will mich reißen, will, will! Als ob wir keinen Willen hätten!« Aber anders meint sie es mit der Berufung auf den Willen als der Vater, nicht dem Mörderpaar will sie das Leben geraubt wissen, das Leben ist ja alles, was die Lasterhaften haben, mit dem Leben würde man ihnen alles nehmen; für sich verlangt sie den Dolch des Vaters, wo nicht, so wird ihr die Haarnadel zum Dolche werden. Denn während vor ihren Augen immer die unumstößlichen Forderungen des Sittengesetzes stehen, die unbefleckte Ehre, der auch der Leumund nichts nachreden kann, ihr als der höchste Schatz in diesem Leben gilt,9 so ist sie zugleich sich ihrer Unvollkommenheit bewußt; der Zwiespalt zwischen Idee und Erscheinung, zwischen Sollen und Können bewegte sie stets, hatte sie damals ergriffen als sie aus der Kirche kam, und ergreift sie jetzt in dieser gefährlichen Lage noch heftiger. In der Form des kategorischen Imperativs tritt ihr das Sittengesetz entgegen, sie hat die deutlichste Erkenntniß, daß sie sich ihm unterwerfen muß, aber

9 »Ehr, ist des Lebens einziger Gewinn; nehmt Ehre weg, so ist mein Leben hin.« Shakspeare Richard der Zweite I, 1.

100

Ueber Lessing’s Emilia Galotti.

auch sie ist nicht frei von der Erbsünde,10 von der Macht der sinnlichen Begierden, in der die Quelle aller unserer Vergehungen liegt. Indem sie dies offen ausspricht, will sie nicht ein Verdammungsurtheil über sich herausfordern, sondern gibt nur Lessing’s Ansicht von der menschlichen Natur wieder; ihm ist die Erzählung vom Sündenfall der ersten Menschen eine Allegorie, die man als einen Fingerzeig der göttlichen Weisheit betrachten solle;11 wir haben darnach alle in dem ersten Menschenpaare gesündigt, weil wir alle sündigen müssen. Emilia kennt sich, trotz der Schrecklichkeit des Augenblicks hat sie immer noch ihre Ruhe behalten, was sie aufregt ist nicht die Furcht des Todes, sondern die Gefahr der Befleckung ihrer Ehre. Weil sie sich genau kennt, weiß sie daß der Prinz ihr gefährlich werden kann, weil er ihr schon gefährlich geworden ist. Sie könnte den Prinzen aus Haß tödten, weil er gerade von ihrem höchsten Lebensziele sie abwendig macht, weil er »sie zwingt vor sich selbst zu erröthen«, dieser Mord aber wäre eine feige Rache, mit der sie wiederum gegen das starre Sittengesetz sich verginge. Wie groß auch schon der bisherige Eindruck des Prinzen auf sie gewesen sein mag, sie würde in der Ehe mit Appiani ihn ganz zu vertilgen und so immer vollkommener zu werden bemüht gewesen sein, in dieser Ehe durfte sie dazu die Unterstützung zu finden gewiß sein. Nun da sie vereitelt ist, sie in der Gewalt des Prinzen bleiben, in das gefährliche Haus der Grimaldi treten soll, erhebt sich vor ihr die Sinnlichkeit als die Macht der sie unterliegen kann. Kann! »Ich stehe für nichts! Ich bin für nichts gut!« sind ihre Worte. Sie sagt nicht, daß sie unterliegen werde, sie behauptet nur die Möglichkeit, nach der Erfahrung die sie gemacht hat, drängt sich diese Möglichkeit um so beängstigender an sie heran. Es ist möglich, wir wollen gern diesen Gedanken festhalten, daß sie die Verführung siegreich überwinden, daß sie dem Prinzen gegenüber ihren Stolz behaupten, vielleicht daß sie kein Wort mit ihm sprechen würde, sie würde alsdann uns erhabener erscheinen.12 Ihre Natur ist aber nun einmal eine andere, die vollendete Festigkeit des Willens, der die Bezwingung des Affects zur andern Natur geworden ist, die wir in ihrer Erscheinung Würde nennen,13 besitzt sie nicht. Sie ist von weichem Thone gebildet, sie hat auch jugendliches, warmes Blut; daß sie dennoch unabläßig die sittliche Idee im Auge hält, zeugt von der Kraft, welche dieselbe in ihrem Bewußtsein gewonnen hat. Die Erhabenheit der sittlichen Idee ist größer als der Stolz auf ihre Tugend; der Gedanke, daß jene der Sinnlichkeit unterliegen könnte, drückt sie nieder. Deshalb bittet sie um den Dolch, deshalb ist sie im Begriff sich damit zu durchbohren. Mag man diese Tugend immerhin eine klösterliche nennen, sie ist auch nicht dazu berufen, den Kampf mit der Welt zu wagen, und wenn Matthias Claudius sagt: »Ein Ding hab’ ich nicht recht in Kopf bringen können, wie nämlich Emilia so zu sagen bei der Leiche ihres Appiani an ihre Verführung durch einen andern Mann und an ihr warmes Blut denken konnte. Mich dünket, ich hätt’ an ihrer Stelle nackt durch ein Heer der wollüstigsten Teufel gehen können und keiner hätte es wagen sollen mich anzurühren« – so ist darauf 10 11 12 13

Vgl. Vierter Beitrag zur Geschichte und Literatur X, 14. Vgl. H. Ritter Lessing’s philos. Grundsätze S. 34. Vgl. Nicolai’s Bemerk. XIII, 380. Vergl. Vischer’s Aesth., § 114.

101

Ludwig Hölscher

zu erwidern, daß sie noch nicht zu dieser Tugendfestigkeit gelangt, daß der Prinz ihr auch etwas anderes ist als der Mörder Appiani’s und sie sich besser kennt als manche der heiligen Männer der Vorzeit, die solchen Versuchungen sich tolldreist aussetzend denselben nicht immer glücklich entgiengen. Nur durch freiwilligen Tod glaubt sie das Gebot der Tugend erfüllen zu können. Der Vater entreißt ihr den Dolch, die Liebe zum Kinde übermannt ihn, aber ihre Entschlossenheit, ihr inständiges Bitten, ihr leiser Vorwurf daß er in ihren Fall willigen könne, ihre Erinnerung an die alte Römerthat wendet alsbald seinen Sinn, die Neigung des Herzens tritt zurück vor dem höhern Gebot, und rasch vollbringt er das blutige Werk, Claudia’s Worte haben sich erfüllt, er hat den unschuldigen Gegenstand des Verbrechens mit dem Verbrecher verwechselt. Die That hat eigentlich Emilia vollführt, sie hat durch den Tod ihre sittliche Kraft bewährt, sie dankt dem Vater für die Hülfe, aber er, der Vater hat die Hand dazu gegeben, von ihm müßten wir mit Abscheu uns abwenden, wenn er nicht selbst ihr Gräßliches empfände, nicht gleich selbst sie bereute. Das ist der Fluch dieser rauhen Tugend, daß sie sich nicht in Schranken halten kann, daß sie jetzt etwas vollbringt was sie im nächsten Augenblick bereuen muß, kurz daß das Gefühl nicht unter der Herrschaft der Ueberlegung steht. In diesem Moment ist aber Odoardo nur noch der Vater, dem seine letzte Hoffnung geknickt ist, der sie selbst getödtet hat; das Leben hat seinen Reiz für ihn verloren, für seine That will er aber büßen, er liefert sich selbst in das Gefängniß. Jetzt noch mit dem Dolche Rache zu nehmen an dem Prinzen wäre ein schaler Schluß gewesen. Aber daß seine Hoffnungen vernichtet sind durch den Prinzen, daß diese Blutschuld auf ihn fällt, das kann dem Mörder gegenüber sein zerrissenes Vaterherz nicht verschweigen, dies Leben kann keine Sühne bieten, aber ein jenseitiges Gericht wird die Schuld abwägen. Der Prinz ist in Entsetzen und Verzweiflung versunken, endlich ermannt er sich, er heißt Marinelli den Dolch aufheben, dann verbannt er ihn: »Gott! Gott! Ist es zum Unglücke so mancher nicht genug, daß die Fürsten Menschen sind; müssen sich auch noch Teufel in ihren Freund verstellen.«14 So schließt die Tragödie. Und welche Beruhigung haben wir? fragen wir jetzt. Was ist mit dem Blute des Opfers gewonnen? Welche Hoffnung auf eine ausgleichende Gerechtigkeit? Denn die Hinweisung auf ein jenseitiges Gericht kann uns nicht genügen; wir dürfen nicht auf den Lessing’schen Satz uns hier berufen, daß nichts auf der Welt uns irre machen dürfe an der Vorsehung Gottes, daß wenn auch die Schritte der Vorsehung uns zuweilen zurückzugehen scheinen, wir nicht verzweifeln sollen;15 wir müssen auch hier schon etwas Erhebendes sehen. Der Römer Appius hatte zugleich an der Unschuld und an der Volksfreiheit gefrevelt; Virginius opferte seine Tochter nicht umsonst, mit ihr fiel die Tyrannei. Ein solches Ereigniß kann der That Galotti’s nicht folgen. Aber wird Emilia die letzte Geopferte sein? Ist der Fürst ein Anderer

14 Vgl. den ganz ähnlichen Schluß in Calderon’s Stern von Sevilla in der Bearbeitung von Zedlitz: »Die aber nützen ihren Fürsten schlecht u. s. w.« 15 S. H. Ritter a. a. O. S. 45.

102

Ueber Lessing’s Emilia Galotti.

geworden? Ist Marinelli auf immer verbannt? kann nicht ein anderer Günstling an seine Stelle treten? Ist also die That nicht zwecklos, erfolglos? Der Prinz ist nur das Werkzeut Marinelli’s gewesen, er hat dessen Ränke nur durch seine Leidenschaft unterstützt. Marinelli ist sein Selbst sein Eins und Alles, er gibt sich keinem Andern in Liebe hin; ruhig und kalt verfolgt er seinen Plan die Herrschaft über den Fürsten sich zu erhalten. Aller Sittlichkeit bar kann er über kein anderes Mittel dazu verfügen als indem er dessen Lüste zu befriedigen sucht. Alles ebnet sich für ihn, die sittlichen Regungen seines Herrn die von Zeit zu Zeit erwachen, verstummen alsbald vor seinem gewandten Worte, er glaubt bald nicht mehr an die Kraft der Sittlichkeit. So wird das Netz ausgeworfen welches der kalt berechnende Verstand und die sinnliche Leidenschaft gewebt haben. Aber da ein sicherer Gewinn nur unter der Voraussetzung einer niedrigen Gesinnung zu erwarten ist, so wird es durchbrochen, wo eine kräftige, durch ihr gutes Recht gehobene Gesinnung den Plänen entgegentritt. Marinelli besitzt nicht einmal eine ungewöhnliche Gewalt der Leidenschaft, sondern nur eine bedeutende Feinheit der Intelligenz; es kann daher gegen ihn selbst der einzelne gute Wille den Kampf wagen.16 So macht einen Theil des Planes schon Appiani durch seinen edelen Mannesstolz zu nichte, so macht Orsina Marinelli’s Kühnheit zu Schanden, da ihre Leidenschaft seinem Treiben gegenüber den Charakter der sittlichen Entrüstung hat, endlich wird der letzte Anschlag gänzlich aufgelöst durch die Thatkraft, welche das Sittengesetz in Emiliens freiwilligem Tode bewährt. Die sündhafte Absicht und die schlauen Berechnungen des Verstandes werden durch die sittliche Freiheit überwunden, denn die Leidenschaft in ihrer Verblendung, der kalt berechnende Verstand in seiner Einseitigkeit haben keine Ahnung davon, daß die göttliche Natur im Menschen, wenn alle Hoffnung des Wohlseins verschwunden ist, nach Vernichtung des irdischen Lebens sich sehnt, denn sie kennen nur Zwecke, die in der Endlichkeit liegen. Marinelli erleidet hiermit eine doppelte Niederlage, sowohl erkennt er die Ohnmacht seines Lebensprincips, des ränkevollen Verstandes, gegenüber der Macht des sittlichen Willens, als er den Preis aller seiner Anstrengungen, die unbeschränkte Herrschaft über den Prinzen, verliert. Dies Gefühl drängt sich hervor in dem Ausruf: »Weh mir!«, als er Emiliens Leiche erblickt. So ist er nie erschienen, bei allen Zornausbrüchen des Prinzen hat er immer seine Ruhe behauptet, denn er wußte, daß er denselben in seiner Hand behalten werde, jetzt aber ist dies Ziel, mit dessen möglicher Erreichung er seinen Herrn immer wieder an sich gebunden hatte, für alle Zeit ihm entrissen. Seine Weisheit die auf diesen einen Punkt nur gerichtet war, muß nun verstummen, er kann jetzt durch keine neue Möglichkeit den Zorn des Prinzen über seine Ungeschicklichkeit entwaffnen. Stets haltungslos ist der Prinz jetzt furchtbar erschüttert, der Anblick des blutigen Opfers, die Mahnung an das jenseitige Gericht zeigen ihm das gefährliche Spiel dem er sich hingegeben hat, er scheint auf den bessern Weg umkehren zu wollen, er verbannt Marinelli. Wie Marinelli jetzt scheidet, diese Betrachtung liegt außerhalb der Sache. Allerdings ist es wahrscheinlich, daß die Verkehrung des Prinzen, so wie sie im Fieberanfall geschehen ist und durch die Absicht sich von der Mitschuld frei zu sprechen von keiner Innerlichkeit zeugt, nicht von lan16 Vgl. Vischer’s Aesth. § 107.

103

Ludwig Hölscher

ger Dauer sein, daß Marinelli wiederkehren werde, es ist auch möglich daß Marinelli auch jetzt bei sich von seiner Unentbehrlichkeit überzeugt ist. Aber von diesem und jenem schweigt die Tragödie. Marinelli bleibt stumm, kein Wort kommt nach jenem unwillkürlichen: Weh mir! über seine Lippen, denn eben ist dieser ganze schöne Plan mit Eins zertrümmert, ein neuer noch nicht an seine Stelle getreten, so ist er selbst mit seinem Plane gleichsam bei Seite geschoben. Wie gegen ein unvernünftiges Wesen läßt der Prinz seinen Groll, um sich von dem Drucke seiner Schuld zu erleichtern, gegen ihn aus, Marinelli folgt seinen Winken maschinenmäßig. Am wenigsten kann er daher die Bühne wie ein innerlich getrösteter verlassen, er wäre dann der Sieger über die Macht der freien Sittlichkeit, das Böse würde dann vor unsern Augen den Platz behaupten; aber auch die Empfindung des Zornes wird nicht an ihm sichtbar sein, diese Auffassung unterscheidet sich nicht wesentlich von der andern, auch dann würde er nicht vernichtet vor uns stehen. Die Worte des Prinzen machen keinen Eindruck mehr auf ihn, sie schlagen nur an sein Ohr und er folgt ihnen gewohnheitsmäßig. Wir fragen daher gar nicht mit Herder, ob der Günstling zurückkehren werde, ob er sich Hoffnung mache zurückzukehren. Wir haben ebensowenig zu fragen, ob des Fürsten Schmerz eben nur die innerliche Niederlage der im Bunde mit dem schlauen Verstande schrankenlos ihr Ziel verfolgenden niedrigen Leidenschaft gegenüber der Energie des sittlichen Willens, in der Vernichtung jener Gewalten bewährt sich die sittliche Weltordnung in ihrer wahren Kraft. Die Fragen über dies Resultat hinaus verrücken den Standpunkt der Tragödie, welche ein lebenvolles Gemälde des Kampfes der Leidenschaften des menschlichen Herzens ist, nichts weniger als eine politische Tragödie sein soll,17 mit der Lessing vielmehr ein Beispiel gab, daß die in der Dramaturgie ausgesprochene Ansicht, man müsse und könne sich gründlich von den Haupt- und Staatsactionen losreißen, auch sich ins Leben setzen ließe. Denn daß die Tragödien nicht genug Eindruck machten, daß man überhaupt noch kein Theater hatte,18 das kam ja einestheils her von dem falschen Verständniß der Aristotelischen Grundregeln von der Bedeutung der Tragödie, anderntheils von der irrigen Ansicht, daß das ernste Drama eine Nachahmung des Hoflebens sein müsse. Galanterie und Politik aber läßt immer kalt, und daher sind die Eindrücke, welche die französische Tragödie macht, so flach, so kalt,19 und werden nicht verwischt durch die außerordentlichen Reizmittel, welche einige ihrer gepriesensten Muster anwenden. Richtig verstanden bleiben die Aristotelischen Regeln ewig wahr und wurden von Lessing gegen die vertheidigt welche alle Regeln verwarfen, als einziges Mittel die Gährung des Geschmackes zu hemmen20. Wie aber von dem Wahn der Regelmäßigkeit der französischen Bühne, so befreite uns Lessing überhaupt durch die Dramaturgie von der Herrschaft des französischen Dramas. Er führte das Drama aus dem Kreise des Hofes in die Sphäre des allgemein Menschlichen. Der historische Stoff wird die Nebensache, die Hauptsache ist es die Leidenschaften vor den Augen des Zuschauers 17 S. Lessing’s Brief an Nicolai XII, 104. 18 Dram. St. 80. 19 Ebend. 20 Dram. letztes Stück.

104

Ueber Lessing’s Emilia Galotti.

entstehen und ohne Sprung in einer so illusorischen Stetigkeit wachsen zu lassen, daß dieser sympathisieren muß, er mag wollen oder nicht21. Wie nun die Natur mit der Regel der Kunst ausgesöhnt werden könne, das wollte er praktisch darlegen und hat es dargelegt in der Emilia Galotti. Trotz aller politischen Anspielungen ist sie also nicht eine politische Tragödie, kein Hofbild, kein bürgerliches Trauerspiel und läßt sich »psychologisch und tragisch gegen jede Einwendung sicher stellen«, auch der Kälte, welche ihr gerade jene Kritiker vorgeworfen haben, deren eigene dramatische Versuche niemals einen Menschen erwärmt haben. Die Lösung ist eine innerliche, sie vollzieht sich in Emilia, und aus den Empfindungen der Furcht und des Mitleids erhebt sich, um mit Vischer zu schließen, der Zuschauer zu dem Bewußtsein seiner eigenen wahren Unendlichkeit, verbrüdert sich mit dem angeschauten Subjecte, und die Furcht vor der Gewalt der Leidenschaft wird eigenes Kraftgefühl und Muth, das Mitleid wird zum Gefühle der eigenen Fähigkeit, im äußersten Leiden selbst die reine Freiheit des Willens zu bewähren.

21 Dram. 1. St. – Nachträglich nach dem Drucke des 1. Bogens dieser Abhandlung ersehe ich aus dem Julihefte der Zeitschr. f. d. Gymnasialwesen d. J., daß Ostern d. J. am Progymnasium zu Hohenstein als Programm erschien: Lessing als dramatischer Dichter, von Dr. Gervais. Dies Programm ist hier noch nicht angelangt. Ueber Lessings Bedeutung für das deutsche Theater ist auch zu vergleichen Prutz 7. Vorlesung über die Gesch. des deutschen Theaters (1847).

105

Friedrich Theodor Nölting Ueber Lessings Emilia Galotti. [1878]

Lessings Emilia Galotti ist eine von den Dichtungen, die zu immer erneueter Besprechung reizen, so viele und verschiedenartige Beurtheilungen und Erörterungen auch darüber erschienen sind. Der literarhistorische Werth des Stückes, seine ungemeine Bedeutung für die Entwickelung unserer dramatischen und vornehmlich unserer tragischen Poesie wird zwar allgemein anerkannt, ebenso die Trefflichkeit des Baues, die Folgerichtigkeit im Fortschritt der Handlung, die feine Motivierung, die Wirksamkeit der dramatischen Situationen, die scharfe Zeichnung der Charaktere, endlich die Gedrungenheit der Sprache, das Treffende des Ausdrucks, die Lebendigkeit des Dialogs: aber die eigentliche Seele jeder Tragödie, die Nothwendigkeit und Natürlichkeit der Katastrophe, hat eben so viele Bemängelung als Anerkennung gefunden, und auch nach der eingehenden. Erörterung und Würdigung des Stücks in Adolf Stahrs bekanntem Buch über Lessing sehen wir die alten Zweifel und Bedenken sich wiederholen. (M. s. den Anhang.) Von älteren wie von neueren Kritikern und Aesthetikern ist der Grund, warum unsere Tragödie in ihrer Katastrophe keine reine Lösung erhalte, darin gefunden worden, dass der Dichter einen Stoff aus der Römischen Geschichte gewählt hat, um gegen die Natur desselben eine moderne sociale und sittliche Frage hineinzulegen (Vischer, Aesthetik II, 367). Dieser Behauptung widerspricht A. Stahr geradezu: nur die Eine Thatsache, dass ein Vater seine Tochter umbrachte, um ihre Ehre vor der Gewaltigung eines Tyrannen zu schützen, habe Lessing aus Livius bekannter Erzählung entnommen, und für diese Thatsache und Situation, die ihn reizte, eine durchaus neue Fabel erfunden, und deshalb habe die Kritik die Pflicht, von jeder Vergleichung mit jener alten Geschichtserzählung vollständig ab- und die moderne Dichtung nur darauf anzusehen, ob und in wie weit sie sich durch sich selber rechtfertige. Gewiss darf ein jedes Kunstwerk den Anspruch machen, dass es aus sich selbst erklärt und mit seinem eigenen Masze gemessen werde. Aber trägt es nicht zum Verständnis eines Kunstwerks bei, wenn man zu ergründen sucht, wie sich die Idee in des Künstlers Geist erzeugt und entfaltet habe? Und wenn es nun feststeht, dass ein bestimmter Stoff den Dichter zur Bearbeitung reizte, sollte es dann ein verkehrter Weg sein, wenn man auf diesen Stoff zurückgeht und ihn sich näher ansieht? Und zumal in unserm Falle, wo wir bestimmt wissen, dass der Dichter ursprünglich beabsichtigte, jene Römische Begebenheit im Römischen Gewande zu behandeln und die in ihr handelnden Römischen Charaktere mit ihren eigenen Namen auftreten zu lassen, also eine Virg in ia , nicht eine Emilia Galotti zu dichten.1 Wenn er nun auch 1 Wir sehen das in Lessings Theatralischem Nachlass, II, 496 der Lachmann-Malzahnschen Ausg. Erhalten hat sich von diesem ersten Entwurf nur ein Bruchstück des ersten Auftritts.

107

Friedrich Theodor Nölting

zum Heile für sein Stück und für uns die Römische Virginia in die »bürgerliche« Emilia umwandelte, mit anderen Worten, die Geschichte modernisierte und sie von ihren politischen Wirkungen absonderte, sollte trotzdem nicht eine Vergleichung des so entstandenen Stücks mit dem geschichtlichen oder doch als geschichtlich geltenden Stoff, der es hervorgerufen, belehrend und jedenfalls für die Würdigung der Kunst des Dichters fruchtbar sein? – freilich, das »psychologische Räthsel«, das uns die Katastrophe aufgeben soll, kann nur die Dichtung selbst lösen. Erschwert ist diese Lösung allerdings durch die Anlage des Stückes, die uns Emilien nie allein, nie in einem Selbstgespräch, das ihre inneren Kämpfe enthüllte, vorführt; aber eine genaue, auch die kleinsten Umstände erwägende Betrachtung der ganzen Dichtung, wie vornehmlich der Scenen, in denen die Heldin erscheint, wird uns, wie wir hoffen, auch ohne jene sicherste Selbstoffenbarung die richtige Lösung finden helfen. Beginnen wir daher zunächst damit, den Stoff, der unseren Dichter so früh und so nachhaltig anzog, den Bericht des Römischen Geschichtschreibers Livius, in seinen Hauptzügen mitzutheilen. Der Römische Decemvir Appius Claudius, das Haupt der Zehnmänner, welche damals – es war im J. 449 vor unserer Zeitrechnung – alle staatliche Gewalt besaszen und von deren gerichtlichem Ausspruche keine Berufung an das Volk gestattet war, hatte zur Virginia, der eben erwachsenen schönen Tochter eines Plebejers, welcher zu dieser Zeit eine Hauptmannsstelle beim Heer bekleidete, eine leidenschaftliche Liebe gefasst und suchte sie durch Geschenke und Verheiszungen zu gewinnen. Das junge Mädchen, das überdies bereits verlobt war – ihr Verlobter war ein angesehener Plebejer, der schon als Volkstribun sich die Gunst des Volkes erworben hatte – wies die schimpflichen Anträge entrüstet ab. Der Decemvir suchte sich nun durch ein trügerisches Rechtsverfahren in den Besitz des Mädchens zu setzen. Einer seiner Clienten muss auf offener Strasse Hand an die Virginia legen, indem er behauptet, sie sei die Tochter einer seiner Sclavinnen und dem Virginius ihrem Vater nur unterschoben. Der Client verlangt, als die Umstehenden die Jungfrau schützen, die Entscheidung des Gerichts. Von diesem Gerichte, d.  h. von Appius Claudius selbst, erreichen die anwesenden Angehörigen, ein Oheim und der Bräutigam, mit Mühe den Aufschub des Ausspruchs um Einen Tag, so dass sie noch in aller Eile den Vater aus dem Lager herbei holen können. Es gelingt dem Virginius, trotz der heimlichen Befehle des Decemvirs dem Manne keinen Urlaub zu geben, zu rechter Zeit in Rom zu erscheinen, aber seine Gegenreden werden kaum angehört und seine Tochter wird dem Clienten als Eigenthum zugesprochen. Da erbittet sich Virginius die Erlaubnis, mit Virginia und deren Wärterin einige Worte allein sprechen zu dürfen, um, wenn sich die Wahrheit des gegnerischen Ausspruches erwiese, etwas getrösteter von der sich trennen zu können, welche er so lange für seine Tochter gehalten. Man gewährt ihm die Bitte und er tritt mit den beiden von dem Richterstuhl auf dem Forum weg zu den nahen Fleischbuden, ergreift von einer der Bänke ein Messer und stösst es seiner Tochter in die Brust. Dies entsetzliche Ereignis bringt ähnlich wie der Selbstmord Später, im Jahre 1758 entstand die erste Bearbeitung der Emilia Galotti, in drei Acten. Vergl. Lessing, XII, 128. Unser Stück erschien erst 1772.

108

Ueber Lessings Emilia Galotti.

der Lucretia eine politische Umwälzung hervor. Die Herrschaft der Decemvirn, deren Willkür schon vielfach Anstosz erregt hatte, wird gestürzt und die Rechte des Volkes werden durch die Herstellung des Tribunats wie durch andere sichernde Maszregeln von neuem befestigt. Die beiden schuldigsten der Decemvirn, Appius Claudius und ein zweiter, entleiben sich im Gefängnis selbst, um der gerichtlichen Strafe zu entgehen, die andern werden verbannt und ihre Güter eingezogen. Wenn aus diesem Stoff, so. wie er vorliegt, ein Drama gebildet werden sollte, so konnte entweder die Befreiung des Volkes von dem Druck der Willkürherrschaft die Hauptsache werden und die Geschichte mit der Virginia durfte dann nur die bescheidene Stellung eines Motivs einnehmen, welches die Selbstbefreiung herbeiführte; ungefähr wie in Schillers Wilhelm Tell die grausame Blendung des alten Melchthal, oder wie der gegen Baumgartens Frau von dem kaiserlichen Burgvogt beabsichtigte Frevel, oder wie in Schillers Fiesco die von Gianettino Doria an Verrinas Tochter verübte Gewaltthat. Oder sollte beides zu gleichem Rechte kommen, so entstand im Grunde eine doppelte Handlung, wie in Schillers W. Tell die Befreiung des Landes durch den Bund neben der Handlung, die sich auf Tell bezieht, herläuft, wenn sie auch beide manche gegenseitige Beziehungen und ähnliche Ziele haben. Sollte aber der Vorfall mit Virginia die Hauptsache sein, so konnte der politische Bestandtheil des Stoffes nicht zu voller Bedeutung gelangen, und ein Versuch nach diesem Ziele hin mischte offenbar Fremdartiges in die Haupthandlung ein. Eine solche Art der Behandlung hatte ein Spanischer Dichter versucht (der Don Augustino de Montiano y Cuyando), ein Zeitgenosse unseres groszen Dichters, von dessen Virginia er in seiner theatralischen Bibliothek aus dem J. 54 nach einer Französischen Uebersetzung einen ausführlichen Auszug giebt. Man sieht, es war ein glücklicher Griff, dass Lessing seinen Stoff vereinfachte, dass er, wie er es selbst nennt, eine bürgerliche, das hiesz damals eine von politischen Motiven freie Virginia dichtete, und wenn er dies that, so verstand es sich von selbst, dass er den Stoff modernisierte, dass die Virginia eine Emilia wurde. Aber noch in einer andern Beziehung mochte Lessing gut daran thun, sein Stück zu einem unpolitischen zu machen: seine Zeit hätte schwerlich für ein politisches Stück die rechte Empfänglichkeit gehabt. Das Jahr 1772 war freilich in unserer Literatur zugleich der Anfang jener Sturm-­und Drangperiode, deren Mittelpunkt der junge Goethe und sein Kreis, die Klinger, Lenz, Wagner, Stolberg, bildeten, und in ihm entstand der Götz von Berlichingen. Aber jene Bewegung hatte zunächst noch keine politischen Zwecke, und in das grosze Publicum war sie überhaupt noch nicht gedrungen. Was mochte nun der so vereinfachte Stoff so anziehendes haben, dass er unsern Dichter so lange beschäftigen und ihn endlich zu seiner dichterischen Darstellung bestimmen konnte? Wir glauben nicht zu irren, wenn wir dieses Anziehende in dem Charakter des Vaters finden, der mit seiner entschiedenen That das künstliche Gewebe zerreiszt, wodurch sein Vaterrecht vernichtet und seine Tochter der Schande Preis gegeben werden soll. Es freuete ihn, in jener Handlung einen Beleg zu finden zu seinem Satze, dass der Wille des Menschen nicht von einem andern gezwungen werden könne: Kein Mensch muss müssen, lässt er seinen Nathan sagen, und seiner 109

Friedrich Theodor Nölting

Emilia legt er die Worte in den Mund, als der Vater ihr in der letzten Unterredung mittheilt, dass der Prinz sie, unter dem Vorwande einer gerichtlichen Untersuchung, aus den Armen der Eltern reisze und sie zur Grimaldi bringe: »Reiszt mich? bringt mich? – Will mich reiszen, will mich bringen: will ! will ! – Als ob wir, wir keinen Willen hätten, mein Vater!« Und noch bezeichnender kurz vorher: Emilia: Ich bleibe in seinen Händen? Ich allein in seinen Händen? Nimmermehr, mein Vater! – Oder Sie sind nicht mein Vater. Ich allein in seinen Händen? – Gut, lassen Sie mich nur; lassen Sie mich nur. – Ich will doch sehn, wer mich hält, – wer mich zwing t, – wer der Mensch ist, der einen Menschen zwing en kann. Wir erwähnten bereits, dass mit der Absonderung des Stoffes von seinen politischen Bestandtheilen zugleich eine Modernisierung desselben gegeben war. Es wird dies keines Beweises bedürfen. Wenn Virginia eben Virginia blieb, so durfte die Strafe für den Decemvir nicht fehlen, und diese war nur möglich durch eine Revolution. Wenn der Dichter die Virginia aber modernisierte, so konnte er sie kaum passender anders modernisieren, als er es gethan hat. Er lässt die Begebenheit an einem der kleinen Italienischen Höfe geschehen, und die Zeit erscheint wie die Gegenwart des Dichters, mochte es auch damals keine Prinzen von Guastalla mehr geben. Natürlich hätte der Römische Decemvir ebenso gut ein Deutscher Fürst sein können, wie später Schiller dies in seiner Kabale und Liebe wagte – freilich ohne den Fürsten selbst auf die Bühne zu führen. Aber abgesehen davon, dass dies Wagnis für die damalige Zeit leichter war als elf Jahre früher, für den heimatlosen Schiller leichter als für den Bibliothekar eines Herzogs von Braunschweig, so gebot ein anderer Umstand die Verlegung nach Italien. An einem Deutschen Hofe, in einem Deutschen Staate hätte der gewaltsame Ueberfall, hätte eine so unentbehrliche Person wie der Bandit Angelo der in des Kammerherrn Kundschaft steht, keine Stelle gefunden. Die Modernisierung des Stoffes, d.  h. nichts anders als die Verlegung der Begebenheit in unsere Zeit und unsere Verhältnisse oder richtiger in des Dichters Zeit, bedingte indes zugleich eine wesentliche Umg estaltung derselben, und sie erzeugte eine Schwierigkeit, die kaum ganz besiegt werden konnte. In Rom, unter den gegebenen Verhältnissen, war die That des Vaters, »der seine Tochter von der Schande zu retten, ihr den ersten, den besten Stahl in das Herz senkte«, so entsetzlich sie sein mochte, doch vollkommen natürlich. Es gab kein anderes Mittel der Rettung; die Sclavin war unausbleiblich, wenn ihr Herr es wollte, der Schande verfallen, ja das Loos der Sclavin an sich war der Schande gleich. Aber bei uns, wo es keine Sclaverei mehr giebt, was kann den Vater zu einer so unnatürlichen That nöthigen? Was kann insbesondere einen Dichter, welcher, wie kein anderer mehr, die persönliche Freiheit betont, welcher seinen Personen die Worte in den Mund legt, dass es für den Willen des Menschen. keinen Zwang gehe, was kann diesen Dichter bewegen, den Vater zum Mörder des eignen Kindes zu machen, und eines Kindes, das ausruft: Gewalt! Gewalt! – Wer kann der Gewalt nicht trotzen? – Hier blieb nur Eine Möglichkeit, die moderne Virginia muss den Tod wollen, sie muss sich selbst tödten wollen, wenn der Vater es nicht will, und der Vater muss fühlen, dass die Tochter dies wollen muss und so ihr den Willen thun. In dem antiken Stoffe war der Vater der Held, und die Tochter fast nur ein leidender Gegenstand; in dem modernisierten wurde die Tochter 110

Ueber Lessings Emilia Galotti.

die Heldin des Stücks, oder wurde es wenigstens gemeinsam mit dem Vater. Und diese Wendung machte uns erst die Begebenheit für unsere Zeit erträglich, machte uns erst die Handlung zu einer Tragödie im höheren Sinne des Worts. Erschütternd zwar ist an sich das Factum, dass ein Vater sich genöthigt sieht seine Tochter umzubringen, um sie vor der Schande zu retten, es mag auch tragisch heiszen, insofern es geeignet ist unser Mitleid und unsere Furcht zu erregen, aber die Tragödie will einen Helden, der leidet und nicht unverdient, wenigstens nicht ganz unschuldig leidet. Denn einen ganz Schuldlosen gepeinigt zu sehen, ihn als eigentlichen Gegenstand unseres Mitleids vor Augen zu haben, ist etwas unerträgliches. Das ist ein Satz, den unser Dichter in seiner Dramaturgie hinlänglich betont und bewiesen hatte, den er also am wenigsten selbst verletzen konnte. Wer ist nun in dem antiken Stoff dieser Held? Virginia kann es nicht sein, sie ist völlig unschuldig. – Ist es der Vater? Aber worin besteht dessen Schuld? Ist seine That seine Schuld? seine That, die nach antiken Begriffen durchaus gerechtfertigt war? In unserm Stück, der modernisierten Virginia, ist Emilia der tragische Held oder, wie schon erwähnt, ist es Emilia mindestens mit dem Vater zusammen, (wie ja auch andere Dichter tragische Paare haben – Romeo und Julia, Ferdinand und Luise, Carlos und Posa).2 Folglich darf Emilia nicht ohne alle Schuld leiden: ihr Leiden ist aber, wie wir nicht zu sagen brauchen, nicht sowohl ihr Tod, als ihre innere und äuszere Lage, die sie drängt den Tod zu wollen. Worin liegt nun Emiliens Schuld? Wir können diese Frage nicht wohl anders beantworten, als indem wir auf ihren Charakter und ihre Handlungsweise im Drama näher eingehen. Wir erfahren, dass Emilia unter den Augen ihrer beiden Eltern in Guastalla, der fürstlichen Residenz, aufgewachsen ist. Der Vater, dessen strenge Tugend eben so von anderen anerkannt wird, als er sie im Stücke handelnd bewährt, hat in seiner Erziehung das sittliche Gefühl seiner Tochter zu einer ähnlichen Strenge ausgebildet, und wie sie hierzu von ihm die Anlage geerbt hat, so hat sie auch von ihm den Stolz des freien Menschen, den festen eignen Willen, der dem Zwange Trotz bietet. Um ihre Erziehung zu vollenden oder vielmehr ihr eine gesellschaftliche Bildung zu geben, welche sie auf der Einsamkeit des Landes nicht erhalten konnte, hat der Vater eingewilligt, dass sie mit der Mutter in der Stadt bleibe, als er diesen Aufenthalt mit seinem Landgute vertauschte. Zu diesem Entschluss wird ihn der Wunsch die Nähe des Fürsten zu meiden, dem er bei einer Gelegenheit sich misliebig gemacht hat, noch mehr bestimmt haben, als der Widerwille gegen die Gesellschaft der Stadt, in welcher Persönlichkeiten wie Appiani sicher zu den Ausnahmen gehörten. Während 2 In dieser Auffassung kann uns auch eine Aeuszerung des Dichters selbst nicht irre machen, der in einem Briefe an seinen Bruder Karl erklärt, aus dem Titel seines Stückes dürfe man keineswegs folgern, dass es darum sein Vorsatz gewesen, Emilien zu dem hervorstechendsten, oder auch nur zu einem hervorstechenden Charakter zu machen; wobei er sich auf die Alten beruft, welche ihre Stücke wohl nach Personen nannten, die gar nicht aufs Theater kamen (eine Bemerkung, die bei einzelnen Komödien der Alten, aber nicht bei ihren Tragödien zutrifft). Aber hat der Dichter damit zugleich gesagt, dass Emilie nicht die Heldin des Stückes, ja nicht einmal Einer der hervorstechenden Charaktere desselben sei?

111

Friedrich Theodor Nölting

dieses Stadtaufenthaltes, den die Mutter dazu benutzt, ihre Tochter in die Gesellschaft einzuführen, hat Emilia an dem Grafen Appiani einen Bewunderer und bald einen Verlobten gefunden. Aber die Verbindung wird geheim gehalten, wohl um einer Theilnahme zu entgehen, die dem Vater nach seiner Denkart lästig sein musste. Der Bräutigam will gleich nach der Vermählung die Stadt und das Ländchen verlassen und mit der Anvermählten auf seinen Gütern in Piemont leben. Ohne Zweifel wird er, um die nöthigen Vorbereitungen zu treffen, für eine Zeit lang die Stadt verlassen haben. Während dieser Zeit, müssen wir uns denken, lernt der Prinz auf einer Vegghia (d. i. Abendgesellschaft) bei dem Kanzler Grimaldi Emilien kennen. Welchen Eindruck diese Bekanntschaft auf den Prinzen machte, das erfahren wir gleich im Anfang des Stückes. Aber auch in Emilien war diese Begegnung nicht ohne tiefe Spuren vorübergegangen. Und damit dies möglich wäre, musste der Dichter seinen Prinzen zu etwas anderem machen, als es der Decemvir Appius Claudius war. Er musste ihm den Zauber einer Persönlichkeit leihen, die den Frauen gefährlich werden kann. Seine Reden und sein Benehmen im Stücke strafen diese Voraussetzung nicht Lügen. Emilia giebt sich dem ersten gewinnenden Eindruck dieser Persönlichkeit willig hin, sie entfaltet ihm gegenüber, wie die Mutter es rühmt, ihre natürliche Munterkeit, ihren Witz, und – die Ruhe ihrer Seele ist getrübt. Es erhebt sich, wie sie in der letzen Unterredung ihrem Vater gesteht, so mancher Tumult in ihrer Seele, den die strengsten Uebungen der Religion kaum in Wochen besänftigen konnten. Kann dies Bekenntnis, das die zum Sterben entschlossene ausspricht, etwas anderes bedeuten, als dass die Persönlichkeit des Prinzen auf sie einen tiefen Eindruck gemacht hat? Können jene strengen Uebungen der Religion einen andern Zweck gehabt haben, als ihr Gewissen zu beruhigen, das ihr Vorwürfe machte, dass sie, die Braut eines anderen, und eines so trefflichen Mannes, wie Appiani geschildert wird, einem Gefühle für den Prinzen Raum gab? Indessen, sie hat sich wieder beruhigt, die bezaubernde Erscheinung ist verblasst, ihr Hochzeitstag ist da, und sie besucht zum letztenmal als Verlobte die Messe, um Gnade für ihre Verbindung vom Höchsten zu erflehen. Da muss sie es erdulden, dass der Prinz an der heiligen Stätte, dicht neben ihr knieend, ihr seine Liebe gesteht und sie beschwört nicht sein Unglück für immer zu beschlieszen. – Welchen Eindruck macht dies Benehmen auf Emilien? Sie ist, wie zu erwarten war, aufs tiefste empört über den Frevel; aber sie ist ihrer nicht mächtig genug, zu thun was die Mutter von ihr voraussetzt, ihm in Einem Blicke alle die Verachtung zu erzeigen die er verdiente. Nach dem ersten Blicke, mit dem sie ihn erkannt, hat sie nicht das Herz einen zweiten auf ihn zu richten. Sie flieht, und als sie sich in der Halle von ihm an der Hand ergriffen fühlt, ist sie nur der einzigen Ueberlegung fähig, dass sie sich nicht loswinden darf, um nicht die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden noch mehr zu erregen. Er spricht zu ihr und sie antwortet ihm, aber was er gesprochen und was sie geantwortet, das weiss sie, als sie sich bei der Mutter in Sicherheit wiederfindet, nicht mehr sich zu erinnern; umsonst denkt sie nach, wie sie von ihm weg und aus der Halle gekommen. In ängstlicher Verwirrung, als wenn sie noch immer von ihm verfolgt würde, zitternd an jedem Gliede sehen wir sie hereinstürzen. Was dürfen wir aus dieser Verwirrung schlieszen? Zunächst ohne Zweifel ihre tugendhafte Entrüstung, die Empörung eines zartfühlenden Gemüths, und wenn 112

Ueber Lessings Emilia Galotti.

sie nur die furchtsamste und nicht zugleich die entschlossenste ihres Geschlechts wäre, vielleicht nichts weiter. Aber da sie entschlossen sein kann und, wie ihre Mutter bemerkt, nach der geringsten Ueberlegung in alles sich findet, auf alles gefasst ist: was ist es, was sie so gänzlich aller Fassung beraubt? Warum steht sie – wie der Prinz den Auftritt schildert – stumm und niedergeschlagen und zitternd da wie eine Verbrecherin, die ihr Todesurtheil hört? Ist diese gänzliche Fassungslosigkeit bei einem Mädchen von Emiliens Charakter denkbar, wenn sie dem Prinzen gegenüber sich ganz rein fühlt? Wenn nicht die Erinnerung an den Tumult ihres Herzens, den jene erste Begegnung erregte, ihren tugendhaften Willen lähmte? Ihr sittliches Gefühl verdammt die Frechheit des Prinzen und verabscheuet den Urheber derselben; aber das Weib in ihr fühlt sich ihm gegenüber nicht frei, sie ist wie von einer dämonischen Gewalt befangen, wenn sie ihn sieht; sie kann »an sich selbst nichts strafbares finden« und doch beklagt sie es, »dass fremdes Laster wider unsern Willen uns zu Mitschu ld ig en machen kann.« Sie hat das richtige Gefühl, dass sie dem Grafen diesen Auftritt mittheilen muss, aber dies richtige Gefühl hat nicht die Stärke und Entschiedenheit, die es haben sollte. Sie fragt ihre Mutter in einer Sache, die für eine Braut, welche den Bräutigam mit ganzer Liebe umfasste, keine Frage sein durfte; sie setzt dem entschiedenen Widerspruch der Mutter zwar einige sehr richtige Bedenken des Verstandes entgegen, aber sie lässt sich wie es scheint nur zu gern überreden, dass ihr erstes Gefühl bloss eine verliebte Schwachheit war. Nun erst athmet sie tief auf wie von einem schweren Drucke befreiet und nennt sich selbst ein albernes, furchtsames Ding. Sie meint, sie hätte sich noch wohl anders dabei nehmen können und würde sich eben so wenig vergeben haben. Und wie die Mutter ihr darin wie billig Recht giebt, aber dann den frechen Angriff des Prinzen auf eine gewöhnliche Galanterie zurückführen will, da stimmt sie bei und beruhigt ihr Gewissen mit der Ausrede, sie müsste demnach mit ihrer Furcht dem Grafen vollends lächerlich vorkommen, und er könnte sie für mehr eitel als tugendhaft halten, und sie vermag es, mit ihrer gewöhnlichen Munterkeit ihrem Verlobten entgegenzueilen. Der ganze Plan des Dichters verlangte es, dass Emilia den Vorfall mit dem Prinzen ihrem Bräutigam verschwieg; aber da er dies verhängnisvolle Verschweigen eben auf die erwähnte Weise motivierte, so müssten wir sehr gering von ihm denken, wenn wir glaubten, dass diese Motivierung ein Nothbehelf und nicht dem Charakter seiner Emilia gemäsz wäre. Unter Umständen muss man dem dramatischen Dichter eine kleine Unwahrscheinlichkeit hingehen lassen, falls er sie uns gehörig zu verbergen weisz: einen allzugenauen, gewissermaszen gerichtlichen Maszstab darf man an poetische Erzeugnisse überhaupt nicht legen. So, meinen wir, dürfen wir nicht mit dem Dichter rechten, wenn er nach dem Ueberfall bei dem Lustschloss des Prinzen Emilien, die, der Anlage des Stückes gemäsz, nothwendig zuerst allein auftreten musste, dem zu Hülfe kommenden Battista folgen lässt und ihr erst, nachdem sie erschienen, die Ueberlegung leiht, die sie sofort hätte haben müssen: sie erschrickt, sich allein gerettet zu sehen und sie will wieder fort, wieder hin – wo sie, wie sie fühlt, gleich hätte bleiben sollen. Aber wenn der Dichter sich hier eine Freiheit nahm, so that er es in einer Nebensache. Dort wäre sie übel angebracht gewesen, und es leidet keinen Zweifel, dass er uns errathen lassen will, wie ungern Emilia dem Bräutigam 113

Friedrich Theodor Nölting

einen Vorfall mitgetheilt haben würde, zu dem zugleich den Schlüssel zu geben ihr überaus peinlich sein musste. Prüfen wir weiter Emiliens Benehmen, zunächst dem Prinzen gegenüber, und knüpfen wir dabei an die eben erwähnte Scene an. Emilia hat hinter sich schieszen hören, sie fürchtet, der Graf oder ihre Mutter könne getroffen sein und ist wie natürlich in äuszerster Unruhe über das Schicksal der Ihren. Emilia wird zuerst von Marinelli aufgehalten, dann vom Prinzen selbst. Die Aeuszerung Marinellis, dass der Prinz gleich selbst erscheinen werde, hat sie äuszerst bestürzt gemacht: er erscheint allein, nicht in Begleitung der Mutter, um die er nach Marinellis Versicherung schon Sorge tragen und sie Emilien zuführen soll. Der Prinz sucht sie zu überreden, dass beide, der Graf wie ihre Mutter, gerettet seien, und bietet Emilien den Arm sie zu ihnen zu führen. Emilia wagt es nicht der guten Botschaft Glauben zu schenken: wenn ihnen nichts widerfahren, warum sind sie nicht schon hier? Auf die wiederholte Aufforderung des Prinzen, sie möge doch eilen, alle diese Schreckenbilder mit eins verschwinden zu sehen, ruft sie, die Hände ringend, aus: Was soll ich thun? Und wie der Prinz sie vorwurfsvoll fragt, ob sie etwa einen Verdacht gegen ihn hege, da verliert sie ganz ihre Haltung und fällt vor ihm nieder. »Zu Ihren Füszen, gnädigster Herr« sind die einzigen Worte, die der Dichter sie sprechen lässt. Der Prinz unterbricht sie, er gesteht äuszerst beschämt zu sein und diesen stummen Vorwurf zu verdienen: er hätte sie mit keinem Geständnisse beunruhigen sollen, von dem er keinen Vortheil zu erwarten habe. Und nun folgt jene Liebeserklärung, welche die leidenschaftlichen Gefühle des Prinzen in so maszvolle Worte kleidet, und endlich die Bitte, ihn nur nicht durch Mistrauen zu kränken und nicht zu glauben, dass sie eines anderen Schutzes gegen ihn bedürfe, als der unumschränktesten Gewalt, welche sie über ihn habe. Nach diesen Worten lässt sie sich von ihm, nicht ohne Sträuben, abführen. Es ist dies die einzige Scene, in der der Prinz und Emilia zusammen vor uns erscheinen: um so wichtiger wird sie für die Beurtheilung des seltsamen Verhältnisses. Aber der Dichter hat es uns nicht ganz leicht gemacht sie vollständig zu verstehen. Warum fällt Emilia dem Prinzen zu Füszen auf die Bemerkung desselben, sie hege doch wohl keinen Verdacht gegen ihn? Er fasst diesen Fuszfall als einen stummen. Vorwurf auf wegen seines Betragens gegen sie in der Kirche. So äuszert er sich wenigstens. Aber ein Vorwurf allein kann in jener Demüthigung nicht liegen, sie muss eine Bitte um Schonung, um Gnade, um Berücksichtigung ihrer Lage enthalten. Zu seinen Füszen, meinen wir, beschwört sie ihn, den Vortheil, den ihm ihre hülflose Lage giebt, nicht zu misbrauchen, sie nicht mit täuschenden Worten beruhigen zu wollen, wenn er keinen rechten Trost für sie habe, sie nicht zum zweitenmal in eine Verwirrung zu versetzen, welche ihr alle Willenskraft raube. – Gleichwohl folgt sie ihm, während er, wenn auch in zarter Weise, sie von neuem bestürmt. Emilia erfährt es zum zweiten-, nein zum drittenmal, dass sie diesem Manne gegenüber ihre sittliche Haltung zu verlieren in Gefahr ist. Emiliens Mutter ist zu ihrer Tochter gedrungen und diese ist ihr ohnmächtig in die Arme gestürzt – der Prinz erzählt uns dies – und dann hören wir von der Mutter, dass Emilia den Prinzen in einer Entfernung hält, mit ihm in einem Tone spricht, die 114

Ueber Lessings Emilia Galotti.

jeden Argwohn eines Einverständnisses unterdrücken müssen. Wir schlieszen daraus, dass sie ihrer selbst wieder mächtig geworden ist. Endlich sehen wir Emilien wieder in der Unterredung mit ihrem Vater. Hier erscheint sie nicht mehr aufgeregt – es fällt ihrem Vater ihre Ruhe auf – es ist die Ruhe des festen Entschlusses: sie hat die ganze Gefahr in der sie schwebt deutlich erkannt, und mit dieser Erkenntnis sich selbst wiedergewonnen. Sie fühlt es, dass ihre Sinne auch nur Sinne sind, dass dieser Mann, der ganz von Leidenschaft für sie entflammt scheint, auch sie gegen ihren Willen in leidenschaftliche Bewegung versetzt, und dass es dieser Macht gegenüber keine andere Rettung giebt als die Flucht, oder – wenn diese unmöglich ist, den Tod. Und unterliegen will sie nicht, ja sie will auch nicht wieder schwach erscheinen: das Bewusstsein ihrer Schwäche hat sie genug gedemüthigt, sie ist zu stolz, um neue Demüthigungen zu ertragen. Die Tochter Odoardo Galottis soll ihres Vaters sich nie unwerth zeigen – auch dies wäre schon Schande, und dieser Schande kann sie nur entgehen – da die Flucht versperrt ist – durch den Tod. So will sie selbst sich den Tod geben, und als der Vater ihr den Dolch wieder entreiszt, erhofft, erfleht, erspottet sie ihn von seiner Hand. Und der Vater wird ihr Retter, er giebt ihr zum zweitenmal das Leben, und der freie sittliche Wille triumphiert über die feinen Berechnungen des Verstandes und über die Gewalt der irdischen Macht. Wer den Tod nicht scheut, der ist auch der Willkürherrschaft gegenüber frei. Emilia ist eine tragische Heldin: ihre Schuld liegt in ihrer weiblichen Schwäche, in ihrer Unfähigkeit, einer bezaubernden Persönlichkeit, die für sie erglüht und ihr diese Gluth bekennt, jene kalte Ruhe, jene Verachtung entgegen zu setzen, welche ihr als der Tochter des bürgerlichen Galotti dem Prinzen, als Braut einer leidenschaftlichen Bewerbung eines andern gegenüber geziemte. Ihre Schuld wiegt nicht schwer, aber sie ist grosz genug um uns über ihre Leiden zu beruhigen, sie büszt ihre Schuld härter als sie es verdiente, ihr Lebensglück ist zertrümmert, die Ruhe ihres Herzens gestört, und der Tod in ihrer Lage erscheint uns als ihre Erlösung. Wir werden es demnach gerechtfertigt finden, dass Emilia den Tod verlangt: darf aber auch der Vater ihr diese Bitte gewähren? und hat der Dichter diesen Charakter so angelegt, dass wir seine That natürlich finden? Es wird nicht ohne Grund sein, dass der Dichter den Vater zu einem Soldaten, zum Obersten gemacht hat, im wesentlichen übereinstimmend mit der Römischen Erzählung, in welcher Virginiens Vater ebenfalls Soldat ist und, um es modern auszudrücken, eine Compagnie führt. Die gewaltsame Handlung des Tochtermordes erscheint bei einem Soldaten schon etwas erträglicher als bei einem andern Stande. Auch passt die rauhe Tugend, die ihm zugeschrieben wird, eher für einen Soldaten. Der Prinz nennt ihn in einem Gespräch mit Marinelli einen alten Degen, stolz und. rauh, sonst bieder und gut. Von seiner Tugendstrenge ist schon oben die Rede gewesen – seiner eignen Gattin erscheint dieselbe zu rauh, sie nimmt es ihm übel, dass er über des Prinzen gnädiges Benehmen gegen Emilien, über den bezaubernden Eindruck, den diese auf ihn gemacht, über seine Lobeserhebungen von ihrer Schönheit so ganz eine andere Ansicht geäuszert hat als sie selbst gehegt; dass ihm jenes Benehmen verdächtig, ja strafbar vorkommt, dass seine Menschenkenntnis ihn so argwöhnisch gemacht hat. Dem Grafen Appiani gilt er als das Muster aller männlichen Tugend, 115

Friedrich Theodor Nölting

in seiner Gegenwart, ja schon in dem Gedanken an ihn, fühlt er sich in seinen besten Entschlüssen gekräftigt. Er seinerseits ist über Appianis Gesinnungen entzückt und vor allem über seine Absicht, den Hof und das Land des Prinzen zu verlassen und in seinen väterlichen Thälern sich selbst zu leben. Wie natürlich, finden wir diese strenge Tugend mit Stolz verbunden, mit edlem männlichen Stolz, welchen er auch dem Prinzen gegenüber zu wahren weisz. Eifersüchtig wird er seine Ehre bewachen und, wenn er sie verletzt glaubt, sich nicht ohne die vollste Genugthuung beruhigen. Vor allem giebt es aber Eine Stelle, wo er am tödtlichsten zu verwunden wäre – schon der Gedanke, dass jemand die Ehre, die Unschuld seiner Tochter antasten könne, vermag ihn in Wuth zu setzen. Diese Erregbarkeit seines Gemüths, diese Leidenschaftlichkeit bei aller Besonnenheit, ist ein Grundzug seines Temperaments, und gewiss that der Dichter Recht daran ihn so zu zeichnen: mit kalter Ruhe vollzogen, würde seine That uns widerlich erscheinen. Odoardo, durch den vorausreitenden Bedienten von der Gefahr der Seinigen benachrichtigt, ist nach Dosalo geeilt und trifft dort mit der Gräfin Orsina zusammen: von ihr erfährt er den Tod des Grafen und erhält Aufklärung über die Ursache seines Todes, über die Gefahr, in der seine Tochter schwebt. Sein erster Gedanke ist, den Räuber seines Kindes, den Meuchelmörder seines Sohnes tödtlich zu treffen, und dankbar nimmt er von der Orsina den Dolch an, den sie auf alle Fälle gerüstet, bei sich führt. Diesen Gedanken scheint er noch festzuhalten in der Unterredung mit seiner Frau, von der er die Bestätigung der Angaben erhält, welche die Gräfin Orsina ihm gemacht hat. Nachdem er jedoch die Damen zu ihrem Wagen begleitet, und allein zurückgeblieben sich Zeit nimmt die ganze Lage ruhig zu überdenken, da ändert er seinen Entschluss: es genügt ihm den Prinzen dadurch bestraft zu sehen, dass er der Früchte seines Frevels verlustig geht: er will Emilien nicht wieder in die Stadt zurück bringen, sondern mit sich nehmen und so jedem weiteren Versuch des Prinzen sie zu sehen und zu sprechen vorbeugen; die Rache für den gemordeten Appiani stellt er einem Höheren anheim. Als er dann aber von Marinelli erfährt, dass man ihm seine Tochter vorenthalten und unter irgend einem Vorwande nach Guastalla zurückbringen wolle, da empört sich von neuem sein Innerstes, und er ist entschlossen gegen den, der sich alles erlaubt, für sich selber keine Schranke anzuerkennen. Indessen, er muss doch erst hören, ob Marinelli wirklich im Auftrage des Prinzen gesprochen hat. Der Prinz kommt und empfängt seinen alten Gegner zuvorkommend und freundlich. Er bedauert den Entschluss Odoardos, dass Emilia wegen dieser Einen fehlgeschlagenen Hoffnung der Welt entsagen, dass so viel Schönheit in einem Kloster verblühen soll; aber er bestreitet dem Vater nicht das Recht über seine Tochter zu bestimmen. Odoardo triumphiert also über Marinelli und freuet sich offen seines Sieges. Da ist für Marinelli der Augenblick gekommen, den er sich gewünscht hat. Er kann nun seine Bedenken, als entstünden sie eben erst jetzt, in der Gegenwart des Vaters dem Prinzen mittheilen, kann die Notwendigkeit jenes Possenspiels von einer gerichtlichen Untersuchung über den Mord Appianis, welche auch das Verhör Emiliens und zu diesem Zwecke ihre Trennung von Mutter und Vater verlange, mit der kalten Unverschämtheit einer jedes sittlichen Gefühles baaren Natur darlegen, und der Prinz kann den Schein annehmen, als ob er sich von jenen scharfsinnigen 116

Ueber Lessings Emilia Galotti.

Gründen überzeugen lasse und so sich gezwungen sehe sein ertheiltes Zugeständnis zurück zu nehmen. Odoardos Hand fährt von neuem in die Tasche, die seinen Dolch birgt. Da besänftigt den Aufgebrachten ein freundliches Wort des Prinzen. Er überlegt und findet, dass er nichts eher wagen darf, als bis er seine Tochter gesprochen. Ihm diese Bitte abzuschlagen, dass Vater und Tochter, ehe sie sich trennen, noch einmal ohne Zeugen sich sehen, das wagt Marinelli selbst nicht zu befürworten. Odoardo ist einen Augenblick allein. Er ist in der äuszersten Aufregung: Eins von beiden ist er entschlossen zu thun: entweder den Prinzen – oder seine Tochter zu tödten; das bedeutet sein: So, oder so! Seinen Zweck soll der Meuchelmörder nicht erreichen: ihre Ehre soll seine Tochter nicht verlieren. Aber wie? wenn er sich in seiner Tochter geirrt, wenn sie einverstanden wäre mit dem Schändlichen: wenn sie es nicht werth wäre, was er für sie thun will? – Für sie thun will? er mag es nicht ausdenken – es ist zu entsetzlich. Ist es seine Pflicht so zu handeln? Braucht der Lenker der menschlichen Schicksale, der sie in diesen Abgrund gestürzt hat, seine Hand? Schon ist er entschlossen zu fliehen und thatenlos den Ausgang zu erwarten. Da erscheint Emilia und er nimmt dies Erscheinen für einen Wink des Himmels, dass er seine Hand wolle. Wir sehen, der männliche Charakter Odoardos ist in dieser Aufregung des in allen seinen heiligsten Gefühlen gekränkten, ja verhöhnten Gemüths aller Fassung beraubt, ein Spiel widerstreitender Gedanken und Empfindungen, und er greift die Entscheidung über Leben und Tod aus dem Loostopf des Zufalls. Emilia tritt zu ihm und ihre ruhige Haltung giebt ihm die seinige zurück. Sie hat bereits, ohne dass ihr eine g ewisse Nachricht zugekommen, den ganzen Zusammenhang geahnt, dass der Graf todt ist und warum er todt ist, Sie dringt auf augenblickliche Flucht, und wie sie hört, was ihre Räuber über sie beschlossen haben, und nun den Entschluss des festen sittlichen Willens jenen Plänen entgegensetzt: da erkennt der Vater, dass Emilia es werth ist für sie zu thun was er gedacht hat: die Schuld des Selbstmordes ihr abzunehmen, um auf sich die Schuld des Tochtermordes zu laden, die Tochter zu tödten, um ihre Freiheit, ihre Unschuld zu retten. Zwar auch jetzt noch zögert er: als er aber sieht, wie Emiliens Entschluss auch die Kraft der That besitzt, als er die bittern Worte der Tochter hört, die mit dem Herzen des Vaters zugleich das Ehrgefühl des Mannes, des Soldaten treffen, da wird der schwankende Wille von dem erregten Gemüth bestimmt: die Hand des Vaters hat die Tochter tödtlich getroffen. – Nachdem das Entsetzliche geschehen, wird Odoardo im ersten Augenblick vom Schauder erfasst über seine That; und gewiss sind die letzten Worte der Tochter, die es beweisen, wie sie im Tode sich selbst treu bleibt, nicht ohne eine beruhigende Wirkung auf ihn. In fester Haltung empfängt er den Prinzen und Marinelli, die hereintreten: mit innerer Genugthuung betrachtet er den Eindruck seiner That auf die beiden elenden Genossen, dort die Vernichtung des Höflings, hier die Verzweiflung des Wollüstlings. Er darf diese Genugthuung empfinden: er ist entschlossen auch für sich die Folgen seiner That auf sich zu nehmen; er wirft den blutigen Dolch, den Zeugen derselben, dem Prinzen zu Füszen, er liefert sich selbst ins Gefängnis, er erwartet den Prinzen als seinen Richter, und dereinst erwartet er ihn vor dem Richter der Welt. Odoardo ist nicht der eigentliche Held der Tragödie, das ist in erster Linie Emilia 117

Friedrich Theodor Nölting

selbst; aber er ist, wenn auch nicht in gleichem Masze wie sie, doch auch ein tragischer Charakter. Er ist erfüllt von einer tiefen Empfindung für die Ehre seines Hauses: diese Empfindung hat die ganze Stärke der Leidenschaft und seine Leidenschaft hat die Kraft der That: seine That aber ist seine Schuld: wir müssen sie als solche anerkennen, aber wer wird ihn dieser Schuld wegen verdammen mögen? Dem tragischen Paare, der Emilia und ihrem Vater, die durch die Lage der Dinge, wie einmal ihre Charaktere beschaffen sind, in eine Schuld hineingetrieben werden, steht ein anderes Paar gegenüber, welches jene Lage der Dinge hervorruft und so die bewegende Macht in dem Bau des Stückes bildet, der Prinz und Marinelli. Das Gegenbild des Prinzen, der Appius Claudius der Geschichte, stand in keinem innern Verhältnis zur Virginia: er macht ihr Anträge, und als sie diese mit Verachtung zurückweist, misbraucht er seine amtliche Stellung zu einer Handlung der rohesten Gewalt. So konnte der Charakter des Prinzen nicht gestaltet werden. Der Prinz, der in Emiliens Brust einen Kampf entstehen liesz zwischen ihrem tugendhaften Willen und ihrer weiblichen Empfindung, der musste Eigenschaften besitzen, welche uns diese Macht über ein weibliches Herz wie das der Emilia begreifen lassen.3 Dass dem Prinzen die äuszeren Vorzüge männlicher Schönheit nicht fehlen, setzen wir als selbstverständlich voraus, wenngleich der Dichter an keiner Stelle darauf hindeutet – aber ebenso wenig widerspricht irgend etwas dieser natürlichen Annahme. Indes dieser Vorzug allein würde am wenigsten bei einer Emilia hinreichen ihre Sinne gefangen zu nehmen, es müssen andre Eigenschaften sein, die jene Wirkung hervorbringen. Der Prinz ist in hohem Grade empfänglich für den Zauber der Unschuld und Schönheit, und dieser Zauber belebt seinen Geist zur vollsten Selbstentfaltung und giebt seiner Empfindung eine Stärke, dass sie von wahrer Leidenschaft bewegt erscheint. Und dieser Empfindung weisz er eine Sprache zu leihen, die unmöglich ohne Eindruck bleiben kann auf ein Gemüth, dem eine solche Offenbarung eines für sie erglühten Herzens bisher noch fremd geblieben ist. Oder sollte der ernste Appiani je in solcher Sprache zu Emilien geredet haben? Er, der am Tage der Vermählung so feierlich, so ernsthaft seiner Braut entgegentritt und in ihrer Gegenwart nicht einmal über seine Schwermuth, von der wir keinen rechten Grund einsehen können, Herr zu werden weisz? Er hat Emilien Achtung, und auf Achtung gegründete Zuneigung einzuflöszen gewusst, aber die süsze Pein leidenschaftlicher Aufregung, die Wonne eines von Einer Empfindung überströmenden Herzens wird er ihr nicht bereitet haben. Wie hätte sich sonst in dieser reinen Brust nach der ersten Unterredung mit dem Prinzen in jener Vegghia ein Tumult erbeben können, den die strengsten Uebungen der Religion kaum in Wochen beschwichtigen konnten? – Und diese Sprache einer leidenschaftlichen Liebe ist bei dem Prinzen nichts weniger als die Maske des gewandten Verführers. Wie wahr die Leidenschaft des Prinzen für Emilia ist, lehrt uns gleich der Anfang des Stücks, und jede Scene des ersten Acts. Man hat dem Prinzen die Orsina zugeführt und er hat sie zu lieben geglaubt, vielleicht, gesteht er zu, auch wirklich geliebt. Aber jene Liebe, wie war sie oberflächlich gegen die tiefe Empfindung, 3 Eine vortreffliche Charakteristik des Prinzen giebt Rötscher im zweiten Theil seines Cyclus dramatischer Charaktere, S. 203 fgg.

118

Ueber Lessings Emilia Galotti.

welche Emilia in ihm geweckt hat. Die Neuheit dieser Empfindung macht ihn zum schmachtenden Liebhaber, den die zufällige Erinnerung an den Namen der Geliebten in Unruhe versetzt, dem der unerwartete Anblick ihres Bildes fast alle Fassung raubt. Ja, die Unschuld und Reinheit der Geliebten hat auch seine Leidenschaft veredelt; mit Entrüstung weist er den Gedanken zurück, den Marinelli ihm eingiebt, was er versäumt habe der Emilia Galotti zu bekennen, nun der Gräfin Appiani zu gestehen. Seine Leidenschaft raubt ihm alle Besonnenheit, und bei jener Begegnung in der Kirche seine Haltung. Blindlings genehmigt er im voraus jeden Schritt, den Marinelli thun will um den Streich, welcher seiner Liebe droht, abzuwenden; unbedachtsam zerstört er dessen feinen Plan durch seinen so unzeitigen Besuch der Kirche, in der er gerade jetzt Emilien vermuthet. Und bei diesem Zusammentreffen weisz er die Aufregung, in die sein Bekenntnis Emilien versetzt, ihre sprachlose Bestürzung nicht einmal zu seinem Vortheil zu deuten; ihre Angst steckt ihn an, er zittert mit und bittet schlieszlich um Vergebung. Der Prinz, wie wir ihn im Anfang des Stückes finden, zeigt sich sofort ohne festen sittlichen Halt – die Geschäfte widern ihn an; ein Todesurtheil will er ohne alles Bedenken, ja »recht gern« unterschreiben, nur um nicht weiter in einem Schritte, zu dem ihn seine Leidenschaft treibt, aufgehalten zu werden. Seine Vermählung mit der Prinzessin von Massa steht bevor: und er macht keinen Versuch seine Leidenschaft für Emilien zu bemeistern; er hört, dass Emilia die Braut eines andern ist; und er scheuet sich nicht an ihrem Vermählungstage ihr seine Liebe zu gestehen. Appiani steht seinen Wünschen im Wege, ein Mann, den er achten muss, den er sich noch zu verbinden hofft; und er giebt dessen Schicksal in die Hand Marinellis. Und nun lässt er sich weiter und weiter führen auf der abschüssigen Bahn, die er betreten. Die gewaltsame Entführung Emiliens, wenn nur der Schein gewahrt wird, ist er weit entfernt zu misbilligen; die Unglücksfälle, die sich dabei ereignen könnten, will er die Urheber des Gewaltstreichs nicht entgelten lassen. Zwar regt sich sein Gewissen, als er von dem Tode Appianis hört; aber wie leicht lässt er sich durch die angenommene Entrüstung Marinellis über den Vorwurf, dass dieser Tod nicht Zufall, sondern Absicht gewesen sei, wieder beschwichtigen! Als Marinelli auf Anstalten sinnt, wie man mit einem Schein des Rechts die Tochter dem Vater vorenthalten könne, warnt er ihn zwar drohend vor neuen Gewalttätigkeiten; aber er billigt seinen Gedanken sie in das Haus der Grimaldi zu führen und übernimmt seine Rolle bei dem Gaukelspiel, das diesen neuen Frevel beschönigen soll. Erst als er sich durch die freie That der Tochter und des Vaters um alle Frucht der von ihm gebilligten Gewalttaten gebracht sieht, erst da scheint er zum Bewusstsein zu kommen, in welchen Abgrund von Schlechtigkeiten er gerathen ist: ob aber dies Bewusstsein eine sittliche Umkehr zur Folge haben wird, das werden wir bezweifeln: misst er doch die Schuld von alle dem weit weniger sich selbst als dem falschen Freund bei, dessen teuflische Natur sich ihm erst durch das Mislingen seiner Unternehmungen entdeckt hat. Wenn der Prinz in unserm Drama die bewegende Leidenschaft darstellt, so zeigt sich in Marinelli der bewegende Verstand. Während der Prinz eine leidenschaftliche Natur ist und seine Leidenschaft ihn alle sittlichen Schranken misachten lässt, ist Marinelli eine kalte Natur ohne Herz, ohne Liebe, ohne Gewissen und ohne Scham, 119

Friedrich Theodor Nölting

ohne männlichen Stolz und ohne Ehrgefühl, in seinem Benehmen ein vollendeter Heuchler, für gemeine Naturen ein genügender Menschenkenner, edle Naturen zu begreifen völlig unfähig. Wie er selbst an nichts edles glaubt, so glaubt er auch an nichts edles in andern, und diese Beschränktheit seiner Natur bringt ihn zu Fall. Der Marchese Marinelli gehört offenbar zu der Classe des Adels, welche die Ansprüche ihres Standes nur befriedigen können, indem sie ihre Persönlichkeit dem Hofdienst widmen. Ohne eignes Vermögen, ohne die Tüchtigkeit durch ein Staatsamt sich eine selbständige Stellung zu verschaffen, sind sie nur etwas durch die Gunst des Fürsten, dem es schmeichelt solche abhängige Creaturen um sich zu haben, die auf jeden Wink bereit sind zu erscheinen und seinen Launen zu dienen. In einer solchen Stellung, in dem unbedeutenden Dienst eines Kammerherrn hat Marinelli gleichwohl verstanden dem Prinzen gegenüber eine gewisse Selbständigkeit und Freiheit zu behaupten. Er hat dies verstanden durch seinen überlegenen Verstand, durch die Kälte seiner Natur, die ihn in keinem Augenblick in Versuchung brachte seine Selbstbeherrschung zu verlieren, durch die Kunst der Verstellung, die mit feiner Berechnung ihn bald die Wärme des persönlichen Vertrauten, bald die unbedingte Ergebenheit des fürstlichen Dieners, bald den gekränkten Stolz des Edelmanns, bald den Unmuth des beleidigten Freundes, wie gerade die Lage es mit sich bringt und es vortheilhaft erscheint, hervorkehren lässt, ohne dass alle diese Affecte die geringste Wahrheit haben. Dem Prinzen gegenüber ist er daher stets im Vortheil, nicht selten auch edleren Naturen, welche in leidenschaftlicher Bewegung nicht den vollen Gebrauch ihrer Besonnenheit sich bewahren, wie Odoardo; aber er ist schwach gegen jede wahre Leidenschaft, welche der Rücksichten spottet, wie gegen Claudia bei ihrem Auftreten in Dosalo, wie gegen die Orsina, welche seinen ganzen teuflischen Plan durchschauet; schwach auch gegen Appiani, sobald dieser ihm die ganze Verachtung, welche er gegen den frechen Höfling empfindet, im vollsten Masze zu erkennen giebt; schwach endlich auch am Schlusse des Stückes, wo er das mit so viel Schlauheit und Umsicht aufgeführte Gebäude, durch das er sich in der Gunst des Prinzen so recht festzusetzen glaubte, mit Einem Schlage zertrümmert sieht. Sein »Weh mir!« ist der unwillkürliche Laut wahrer Niedergeschlagenheit: er fürchtet seine Rolle ausgespielt zu haben.4 4 Rötscher, der auch diesen Charakter in seinem Cyclus dramatischer Charaktere, Th. I, S. 192flg. behandelt hat, ist in diesem Punkt andrer Meinung. Er sagt: Marinelli ist daher für den Moment zwar der fürstlichen Gunst beraubt, scheidet aber nicht als ein Vernichteter, sondern mit der Zuversicht, dass die Stunde seiner Zurückberufung nicht so gar fern sein werde, eine Lebensansicht, welche sowohl durch Marinellis alle sittliche Erhebung verspottende Natur, wie durch seine Kenntnis des innerlich haltungslosen Gebieters vollkommen gerechtfertigt wird, und welche S e y d e l ma nn durch eine einzige Bewegung im Abgehen meisterhaft anzudeuten wusste! – Unmöglich kann dies die Absicht des Dichters gewesen sein: er würde dadurch den Schluss um alle versöhnende Wirkung gebracht haben. Offenbar verstand D aw i s o n den Dichter besser, wenn er (nach einer Bemerkung Hettners in seiner Geschichte der Deutschen Liter. Buch 2, S. 539) als Marinelli in dem Augenblick, da er sein Verdammungsurtheil vernimmt, trostlos erschüttert in sich zusammenbricht.

120

Ueber Lessings Emilia Galotti.

Es könnte scheinen, als ob der erste Schritt, den Marinelli thut um für die Wünsche seines Gebieters zu wirken, der Antrag nemlich, den er im Namen desselben an Appiani macht, sofort als Gesandter nach Massa zu gehen, nicht eben von überlegener Klugheit zeuge, einer Eigenschaft, die wir ihm gleichwohl zugeschrieben haben. So viel musste er, sollte man denken, Appianis Charakter kennen und seine unabhängige Stellung dem Prinzen gegenüber in Anschlag bringen, um vorher zu wissen, dass er einen solchen Antrag unter diesen Umständen entschieden zurückweisen würde. Und als dies geschieht, zeugt es von Klugheit, dass er ihn so absichtlich reizt und sich in Folge des durch ihn selbst hervorgerufenen Wortgefechtes zu einer Herausforderung genöthigt sieht? Dieses ganze Benehmen, der Anschlag und die Ausführung, wäre eines Wahnwitzigen würdig, wenn Ernst darin läge und wenn er selbst an die Möglichkeit eines Erfolgs glaubte. Aber wir meinen, der Dichter hat es deutlich genug gemacht, dass der schlaue Höfling hier mit dem Prinzen spielt. Wenn es ihm gelang dessen stürmische Leidenschaft auf dem sichersten Wege, d.  h. durch die Entführung der Braut und die Ermordung des Bräutigams zu befriedigen, so durfte er sein immerhin schwankendes Verhältnis zu seinem Gebieter als ein festgegründetes ansehen, und überdies verschaffte er sich persönlich die Genugthuung an einem alten Gegner, der ihn gewiss oft genug seine Verachtung hatte fühlen lassen (der Prinz sagt: ich weiss wohl, dass Sie, Marinelli, ihn nicht leiden können; eben so wenig als er Sie), eine gründliche Rache zu nehmen. Aber so tief war der Prinz noch nicht gesunken, dass er eine solche Gewaltthat sofort hätte billigen sollen. Nur wenn diese als das äuszerste, letzte Mittel erschien, war ihre Billigung zu erwarten. Marinelli musste daher dem Prinzen zunächst einen Weg zeigen, der, ohne mit einem Verbrechen verknüpft zu sein, seine Hoffnungen nähren konnte. So erfindet er jenen plumpen Vorschlag, den der Prinz, wäre er nicht von seiner Leidenschaft verblendet gewesen, gewiss selber als solchen erkannt hätte. – Dass Marinelli an das Gelingen desselben von vorne herein nicht geglaubt hat, erkennen wir deutlich aus Angelos Auftreten im Hause der Galotti, bevor Marinelli dort erscheint. Wir sehen, alles ist vorbereitet um das auszuführen, was dann wirklich geschieht. Uebrigens setzte jene Unterhandlung mit Appiani den Höfling in die günstige Lage sich dem Prinzen als einen opferwilligen Diener darzustellen, der sein Leben selbst für seinen Gebieter in die Schanze zu schlagen bereit gewesen sei. Wenn endlich der feinangelegte Plan Marinellis zu Schanden wird, so liegt, wie wir sehen, der Grund davon in der edlen Gesinnung Emiliens und Odoardos und in der Kraft diese Gesinnung durch die That zu bewähren. Dass aber die Notwendigkeit dieses äuszersten Schrittes von dem Vater erkannt ward, dass er in jene leidenschaftliche Stimmung versetzt wurde, ohne welche die That undenkbar war, dass endlich das Werkzeug, sie zu vollführen, auf dem natürlichsten Wege ihm geboten wurde, dies zu vermitteln dient die Person der Gräfin Orsina, eine eben so geniale wie freie Schöpfung unseres Dichters, der in seinem geschichtlichen Stoffe zu ihr nicht einmal den Anlass fand wie für seinen Marinelli in dem Clienten des Appius Claudius. Allerdings ist Marinellis Plan auch von Emiliens Mutter, von Claudia, durchschaut worden. Sie war Zeuge der heftigen Aufregung, in welche die Unterredung mit Marinelli in ihrem Hause den Grafen Appiani versetzt hatte. Sie hat Appianis letztes Wort gehört, den 121

Friedrich Theodor Nölting

Namen Marinelli in einem Tone gesprochen, den sie vor Gericht stellen möchte. Sie weisz von dem Gespräch, das der Prinz mit ihrer Tochter in der Kirche geführt hat, Aber hätte s i e es gewagt, was sie wusste und ahnte, ihrem Manne mitzutheilen? Und in diesem Augenblicke mitzutheilen? und in der Weise mitzutheilen, dass sein Blut in die heftigste Wallung gerieth, wie das bei der Mittheilung durch die Orsina eben so natürlich wie nothwendig war nach der Anlage des Stücks? Wie anders wirkte das Gift, wenn es diese Frau dem Vater einflöszte, die verlassene Geliebte dem Vater der neuen Geliebten! Wenn ihre blosze Erscheinung, diese Wirklichkeit, in ihm das Bild einer Möglichkeit hervorrief, die zur Unmöglichkeit zu machen der Tod der Tochter von Vaters Hand kein zu theurer Preis schien! Die Orsina war nach Dosalo gekommen in der Meinung, der Prinz sei auf ihre Veranlassung dorthin gefahren: in ihrem Briefe an den Prinzen, den dieser ungelesen hinwarf, hatte sie um eine Zusammenkunft an diesem Orte, dem Zeugen so vieler schönen Stunden, die sie dort mit dem Prinzen verlebt, dringend gebeten. Mittlerweile war sie durch ihre Kundschafter von der Unterredung des Prinzen mit Emilia Galotti in der Dominikanerkirche unterrichtet worden, und auch den Inhalt des Gesprächs hatte sie erfahren. Sie kommt nach Dosalo, um Abrechnung mit dem treulosen Geliebten zu halten. Ist sie wirklich verlassen und verrathen, so ist sie zum Aeuszersten entschlossen; sie hat einen Dolch bei sich für den Verräther, und Gift für sich selbst. Sie kommt und erfährt, dass der Prinz nicht auf ihre Veranlassung da ist; sie hört aus seinem eignen Munde, dass er für sie keine Zeit hat. Damit weisz sie genug, wie s i e zum Prinzen, wie e r zu ihr steht. Aber sie möchte doch wissen, w e m sie aufgeopfert worden ist. Marinelli, der nicht ahnt, dass die Orsina von jener verhängnisvollen Begegnung zwischen dem Prinzen und Emilien bereits Kunde erhalten hat, hält es für ungefährlich ihr ein Stück Wahrheit mitzutheilen, und der Scharfsinn der Gräfin hat sofort die ganze Wahrheit erkannt. Das ist eine Genugthuung für die gekränkte Orsina, sie ist nie stolzer gewesen auf ihren Verstand, sie begnügt sich nicht ihre Entdeckung, dass der Prinz ein Mörder sei, dem Marinelli laut zuzurufen, sie will sie auch auf offnem Markt verkündigen. Das soll ihre Rache sein. Da stöszt sie im Begriff wegzugehen auf den Vater Emiliens, und sofort erkennt sie den Vortheil ihrer Lage und bleibt. Ihre Rache kann noch vollständiger werden, wenn der Vater der neuen Geliebten, welcher sie geopfert worden ist, ein Herz hat. Und er hat dies Herz – er sucht eine Waffe und findet nichts. Da reicht sie ihm den Dolch, der bestimmt war den Prinzen tödtlich zu treffen, und er trifft ihn, indem er das Herz der neuen Geliebten durchbohrt. – Von den übrigen Charakteren ist es nur Claudia, die ein höheres Interesse in Anspruch nimmt, und wir haben schon Gelegenheit gefunden ihren Charakter in einzelnen Zügen zu zeichnen. Die Erfindung desselben gehört ganz dem Dichter an; in der Römischen Sage ist Virginiens Mutter todt und wir finden sie von ihrer Wärterin begleitet. Dass Emiliens Mutter in dem Bau der Tragödie nicht fehlen durfte, liegt auf der Hand, eben so begreiflich ist es, dass ihr Charakter bis zu einem gewissen Grade einen Gegensatz zu dem ihres Mannes bilden musste. Eine Mutter von Odoardos Gesinnung wäre überhaupt eine auffallende Erscheinung, und sicher hätte eine solche die ganze Verwicklung und mithin den tragischen Ausgang unmöglich 122

Ueber Lessings Emilia Galotti.

gemacht; Eine solche hätte nicht auf die Stadterziehung gedrungen, hätte die Vegghia hei dem Kanzler Grimaldi nicht besucht, hätte am wenigsten ihrer Tochter gerathen, jenen Auftritt in der Kirche ihrem Bräutigam zu verschweigen. Diese weibliche Schwäche, diese mütterliche Eitelkeit auf den Triumph ihrer Tochter, diese Neigung zur Heimlichkeit, wo Offenheit Noth thäte, gehen aber nicht weiter, als sich noch mit einem ehrenwerthen Charakter vereinigen lassen. Marinelli verkennt sie ganz, wenn er meint, es würde ihr schmeicheln, so etwas von Schwiegermutter des Prinzen zu werden: in ihrer Glanzscene, wo sie ihm geradezu den Mord Appianis vorwirft, lässt sie ihn erkennen, wie sehr er sie unterschätzt hat. Wenn wir bisher die Grösze des Dichters in seiner Charakterzeichnung bewundert haben, so würden wir ihn nicht minder grosz finden, ja ihn als einen wahren Meister erkennen, wenn wir die Anlage des Stückes, den Bau desselben im Einzelnen verfolgen wollten, eine Erörterung, welche auszerhalb der Aufgabe dieser Abhandlung liegt. Uebrigens hat es an Andeutungen für diesen Gesichtspunkt nicht gefehlt, und es mag noch erlaubt sein diesen Andeutungen einiges hinzuzufügen. Es ist bekannt, dass das, was wir Schicksal nennen, in hohem Grade die Eigenschaft der Ironie besitzt. Das Schicksal liebt es die feinsten Berechnungen des Verstandes durch einen unscheinbaren Fehler in der Rechnung, durch das Eintreten eines ungeahnten Zufalls zu Schanden werden zu lassen; es liebt es gerade solche Unternehmungen, die mit dem Aufwand groszer materieller oder geistiger Kräfte die Erreichung irgend eines hohen Zieles des Ehrgeizes oder die Befriedigung irgend einer Lust sichern sollten, in das Gegentheil des beabsichtigten Erfolges zu verkehren, sie zum Mittel eines plötzlichen Sturzes aus der geträumten Höhe zu machen. Die ganze Geschichte ist voll von Beispielen dieser Art, und die groszen Tragiker haben es nicht versäumt der Geschichte nachzudichten. Von dieser Ironie des Schicksals macht auch unser Dichter einen trefflichen Gebrauch. So lässt er, wie schon früher erwähnt, das feine Gewebe des von Marinelli ersonnenen Anschlages einmal sich selbst vernichten, weil dabei der Adel einer sittlichen Natur nicht in Rechnung gebracht ist, und sodann den Prinzen allen möglichen Erfolg desselben zerstören, indem er eben dadurch für seinen Zweck zu wirken sucht, dass er Emilien seine Leidenschaft in der Kirche bekennt und so der Voraussetzung, worauf Marinelli gebaut hat, allen Boden entzieht. Eben dieser unbesonnene Schritt der Leidenschaft öffnet der Orsina und durch diese dem Vater die Augen. – Der Brief, welchen die Orsina dem Prinzen am Morgen zusendet, hat in seinen Folgen eben solchen ironischen Charakter. Und in gleicher Weise hat ihn der Plan Emilien zu den Grimaldis zu bringen. Ja auch der Rath, den Augelo seinem früheren Spieszgesellen Pirro giebt, bringt solchen Umschlag hervor. »Du reitest vorauf,« sagt er, »reite doch, reite! und kehre dich an nichts!« Und indem Pirro dies thut und von seinem Gewissen getrieben seinem Herrn wenigstens die schleunigste Nachricht bringt,5 kommt dieser gerade noch zur rechten Zeit um die Orsina zu finden, ein Zusammentreffen, dessen Bedeutung für den Ausgang schon gewürdigt worden ist. 5 Odoardo sagt sich einführend zu Marinelli: »Ein Bedienter kam mir entgegengesprengt mit der Nachricht, dass hierherum die meinigen in Gefahr wären. Ich fliege herzu u. s. w.«

123

Friedrich Theodor Nölting

Der Dichter wollte, wie wir sehen, die politischen Bestandteile, die ihm sein Römischer Stoff gab, absondern und nur eine bürgerliche Tragödie dichten. Und doch ist sie für ihre Zeit nicht ohne politische Wirkung geblieben. Das absolute Fürstenthum, jene Willkürherrschaft und jenes sittliche Verderben des Hoflebens, wie es damals vornehmlich in den kleinen Deutschen Ländern herrschte, fand in ihr ein erschreckendes Abbild und war seitdem in der öffentlichen Meinung gerichtet, Und so bereitete unsere Tragödie, wie später mit stärkerem Pathos Schillers Kabale und Liebe, den Untergang jener nichtswürdigen Zustände in den Gemüthern vor, wenn derselbe auch tatsächlich nicht so bald und nicht auf einmal erfolgte. Jedes wahre Kunstwerk, so objectiv es gehalten sein mag, ist doch zugleich auch eine Offenbarung des Geistes, der es geschaffen hat. Eine solche Offenbarung des Lessingschen Geistes ist auch Emilia Galotti. Und wenn wir in dieser Dichtung den Dichter bewundern, so dürfen wir auch den Charakter ehren, der sich in der Idee des Ganzen wie in den einzelnen Zügen ausprägt. Anhang. In der vorstehenden Abhandlung konnte ihrer ganzen Anlage nach auf entgegenstehende oder abweichende Ansichten nicht ausführlich eingegangen werden. In diesem. Anhang mag es verstattet sein dies nachzuholen. Goethe, der in einem Briefe an Zelter (Briefwechsel mit Z. V, 425. Vgl. auch Rie­mer, Mittheilungen II, 605) bekennt, dass er und sein Kreis an diesem Stücke, wel­ches zu seiner Zeit, wie die Insel Delos, aus der Gottsched-Gellert-Weiszeschen u. s. w. Wasserfluth emporgestiegen sei, um eine kreiszende Göttin aufzunehmen, sich er­mutigt hätten und Lessing deshalb viel schuldig geworden wären, äuszerte sich in späteren Jahren (Riemer II, 363, vgl. Guhrauer, Lessings Leben und Werke, II, 2, 49), das proton pseudos (d.  h. hier etwa so viel als: Grundfehler) in diesem Stück bestehe darin, dass es nirgend ausgesprochen sei, dass Emilia den Prinzen liebe, sondern nur subintelligiert werde. Wenn jenes wäre, so wüsste man, warum sie der Vater umbringe. Die Liebe sei zwar angedeutet, erstlich in der Art, wie sie den Prinzen anhöre, wie sie nachher ins Zimmer stürze; denn wenn sie ihn nicht liebte, so hätte sie ihn ablaufen lassen; zuletzt sogar ausgesprochen, aber ungeschickt, in ihrer Furcht vor des Kanzlers Hause. Das in diesem Urtheil offenbar nicht glücklich gewählte Wort L ieb e, wofür andere, wie Loebell (Lessing. Aus Bonner Vorlesungen. Braunschweig, 65. S. 260) den treffenderen aber doch übertriebenen Ausdruck: tiefe Neig ung gebraucht, konnte nicht verfehlen einen eben so entschiedenen Widerspruch hervorzurufen, der am meisten hervortritt in einer Schrift des Prof. Hebler (Lessingiana. Bern 1877). Hebler meint, der ohnehin schwache Schluss aus dem Verhalten Emiliens bei und nach dem Ueberfall in der Kirche, sowie aus ihrem Bericht an die Mutter, werde vollends entkräftet durch die Aussage des andern Betheiligten (III, 3), welcher, auch durch das ganze übrige Spiel hindurch, mit all seinem Kennerblicke und seiner Eigenliebe keinen Ton, keine Miene seines Opfers zu seinen Gunsten zu deuten weisz und niemals irgendwelche Zuversicht bei seinem Unternehmen zeige. – Die 124

Ueber Lessings Emilia Galotti.

erste Behauptung, dass jener Schluss ohnehin schwach sei, zu widerlegen, scheint mir unnöthig, zumal da jener Auftritt in der Abhandlung seine Würdigung gefunden hat. Mehr Bedeutung nimmt der andere in Anspruch, dass der Prinz Emiliens Benehmen nicht zu seinen Gunsten auslegt. Allerdings dürften wir uns darüber wundern, wenn der Dichter den Prinzen als einen Don Juan gezeichnet hätte. Aber er hat dies eben nicht gethan. Würde ein solcher ein so empfindsamer, so schmachtender Liebhaber sein, wie sich der Prinz gleich im Anfang zeigt? Und woraus folgt denn, dass er einen Kennerblick besitzt? Ohne Zweifel war der Prinz gewohnt, wenn er seine Liebe erklärte, eine andere Aufnahme zu finden. Eine ähnliche Er­scheinung, wie Emilia Galotti, war ihm schwerlich je begegnet. Nach Hebler wäre also die liebenswürdige Persönlichkeit des Prinzen auf Emilien ohne jeden Eindruck geblieben, hätte weder ihr Herz beunruhigt noch ihre Phantasie beschäftigt. Warum fürchtet sie denn doch für sich als sie hört, dass sie im Hause der Grimaldi seine Gefangene werden soll? Dafür führt Hebler nun eine Reihe von Gründen auf. »Der Gedanke des Uebels, sagt er (S. 7), wird einerseits durch die Lage der Dinge sich ihr aufdrängen müssen, andererseits höchstens in dem Grade das Mögliche zu einer geringen Wahrscheinlichkeit sich in ihren Augen steigern dürfen, als sie sich zugleich entschlossener zeigt, das Wahrscheinliche zu einem Unmöglichen zu machen.« »Es brauche jedoch, heiszt es dann später, diese Furcht nicht einmal mit dem Glauben verbunden zu sein, dass sie wahrscheinlicher erläge als obsiegte. Es genüge, wenn sie einmal nach ihrer Kenntnis der allgemeinen Menschennatur das Uebel für möglich halte; wenn sie ferner von auszen her bedeutende Anstrengungen zu dessen Herbeiführung gemacht sehe; wenn sie endlich noch dahin gebracht werde sich dasselbe mit der Lebhaftigkeit und Schreckhaftigkeit, deren eine jugendliche Phantasie und ein von Natur furchtsames Gemüth fähig sind, vorzustellen. – So könne sie ohne die mindeste Hinneig ung zu dem Schlechten (Masculinum oder Neutrum) sich in eine Ang st hineinjag en lassen, dass sie nichts mehr vom Leben wissen wolle.« In der That, wenn wir uns denken sollen, dass Emilia aus solchen Erwägungen den Tod suche, der Vater ihn ihr gebe, so weisz ich nicht, wie der gewaltsame Ausgang uns tragisch rühren und erschüttern könnte: wir müssten ihn entweder als eine Thorheit betrachten, oder er müsste uns auf das peinlichste berühren. Gleichwie Hebler aus der tiefen Erregung, in welcher wir Emilien auftreten sehen, keinen Schluss gestatten will auf eine Schwäche des empfindenden Herzens, die ihr sittliches Gefühl mit aller seiner Stärke zu bannen sucht, ebenso behauptet er, dass das, was sie in der Schluszscene über ihr Blut, ihre Tumulte u. s. w. sage, nicht über die bei ihrem Eintritt in die grosze Welt schmerzlich erkannte Theilnahme an der allgemeinen menschlichen Schwachheit hinausgehe. »Wäre diese Aeuszerung, sagt er, im anderen Sinne zu deuten, so würde dies sicherlich zuerst durch den Vater geschehen sein, der, vorher (V, 6) zum Argwohn geneigt, keine Spur mehr davon verräth, sobald er der Tochter wieder in die Augen gesehen hat.« Aber jene Aeuszerung erfolgt ja erst unmittelbar vor der entscheidenden That des Vaters, was dem Verfasser entgangen zu sein scheint. Er meint dann weiter, dass der Dichter jene Annahme insbesondere auch nicht zur Motivierung von Emiliens Todesentschluss für nöthig erachte, ergebe sich am einfachsten daraus, dass er schon vorher auch durch ihren Vater, und zwar 125

Friedrich Theodor Nölting

vor jenem Argwohn, ihren Tod als das Rettungsmittel ins Auge fassen lässt. – Ganz wohl, er fasst diesen Tod ins Auge, aber nicht als da s Rettungsmittel, sondern als ein Rettungsmittel. »So, oder so!« ruft er aus. Das andere Mittel ist natürlich der Tod des Prinzen. Und dann, ist es dasselbe, etwas ins Auge fassen, und zu etwas entschlossen sein? Sein Entschluss wird erst bestimmt durch die Wahrnehmung, dass seine Tochter den Tod will, und warum sie ihn will. Wenn nun auch nach dem Verfasser jene Furcht vor dem möglichen oder wahrscheinlichen Uebel (dem Verlust ihrer Unschuld) das entscheidende Motiv ist für Emiliens Todesentschluss, so lässt er doch auch mehrere untergeordnete diesem entscheidenden zur Seite treten. »Ihr Freiheitssinn empöre sich über die Gefangenschaft, in der sie sich befindet, und nicht minder ihr Ehrgefühl: die gewöhnliche Rücksicht auf ihren guten Namen erkläre ihr Sträuben dawider, als ein solcher Versuchs- und Versuchungsgegenstand herzuhalten.« –Dagegen wird nichts zu erinnern sein. Aber dann fährt er fort: »Gesetzt sogar, es bliebe bei dem ersten Worte des Prinzen, dass Odoardo sie bringen könne, wohin er wolle: dann müsste sie aus dem Lustschlosse ins Kloster; sie mag dies vermuthen und denken: wenn sie nur als designierte Maitresse oder als resignierte Nonne leben dürfe, so möge sie lieber gar nicht leben!« – Das heiszt doch wohl nicht ausle g en, sondern unterle g en ! Als ob der Dichter den geringsten Anlass böte ihr eine so frivole Ueberlegung zu leihen! – Ein weiteres mitwirkendes Motiv findet der Verf. in dem ersten Schmerz Emiliens über den plötzlichen Verlust des Geliebten, der sie zur Nachfolge einlade, besonders da sie sich sagen werde, dass s i e die, wenn auch unschuldige, Schuld an seinem Tode sei. Dazu möge man die entsetzliche Aufregung des ganzen Tages und die Unaufschiebbarkeit eines entscheidenden Entschlusses bedenken. Auch dürfe man davon reden, dass sie eine Ita l ienerin sei, nicht eine Nordländerin. Endlich bewähre sie durchweg das Wort ihrer Mutter, dass sie die Furchtsamste und Entschlossenste ihres Geschlechtes sei. Ihr sittsam schüchternes Wesen rage noch in ihre letzte Entschlieszung hinein: sie wäre nicht halb so todesmuthig, wenn ihr nicht zum Leben der Muth fehlte. Furchtsamkeit sei auch mit im Spiel, als sie den Vater von der Ermordung der Schurken abmahne, wo zugleich die Folgen für den Thäter sehr in Betracht kämen: ihn selbst würden diese nicht kümmern, und darum müsse sie sich eines anderen Mittels bedienen.« – Alle diese aufgeführten Motive sind Möglichkeiten; aber was kümmern uns Möglichkeiten, wenn der Dichter uns keinen Anhalt giebt, sie aus den Worten und Handlungen seiner Personen zu folgern. Worin liegt die geringste Andeutung, dass der Schmerz über den Verlust des Verlobten Emilien zur Nachfolge bestimme? Worin offenbart sich in Emiliens Charakter das Italienische Naturell? Ist sie in irgend einem Zuge anders gezeichnet als ein Deutsches Mädchen? Und endlich, wenn sie den Vater abmahnt von der Ermordung der Lasterhaften, deren einziges Gut das Leben sei, ist es da nicht weit natürlicher, dass sie dies thut, um nicht den Vater die Schuld des Mordes in ihrem Interesse auf sich laden zu lassen, so lange es ein anderes Rettungsmittel giebt, das sie in diesem Falle offenbar nicht als eine Schuld betrachtet? An einer anderen Stelle seiner Schrift sucht der Verf. den Einwand zu entkräften, dass der Dichter schon darum Emilien nicht ganz fleckenlos habe darstellen können, weil er dann gegen die von ihm in seiner Dramaturgie so oft betonte und begründete 126

Ueber Lessings Emilia Galotti.

Vorschrift seines Aristoteles verstoszen hätte, dass ein tragischer Charakter weder ganz schlecht noch ganz rein sein dürfe. Ueber diesen Punkt haben wir uns in unserer Abhandlung genügend ausgesprochen, und brauchen deshalb hier nicht weiter darauf einzugehen. Nur das wollen wir erwähnen, dass die Ansicht des Verfassers, es genüge gegen jene Beweisführung die Eine Frage, was denn der Bräutigam Emiliens verbrochen habe, eine völlige Verkennung des Sinnes der Aristotelischen Vorschrift enthält. Einmal ist es überhaupt verkehrt, das tragische Leiden vornehmlich in dem Tod der betreffenden Personen zu sehen. In wie vielen Fällen ist nicht der Tod das erwünschte Ende des Leidens! Dann aber gilt jene so im Wesen der Tragödie begründete Regel ja nur eben von den tragischen Charakteren selbst. Ist nun Appiani ein tragischer Charakter? Niemand wird das behaupten wollen; er ist nichts als eine Nebenperson, deren Tod im Drama durch keine irgendwelche Schuld motiviert zu sein braucht. Wir haben uns ziemlich lange mit der Heblerschen Schrift beschäftigt und konnten für unseren Zweck nur die Urtheile aus ihr anführen, denen wir entgegentreten mussten. In allem Uebrigen schenken wir ihr gerne unsere Anerkennung und sind ihr für manche treffende Be­merkung dankbar. So sind wir namentlich ganz einverstanden mit der Art, wie er die vielfach erhobenen Anklagen6 gegen den Ausgang widerlegt. Er fragt ganz recht, ob der rechte Zuschauer danach Verlangen trage, das Blut des Prinzen oder seines Kammerherrn sich mit dem Blut Emiliens mischen zu sehen. – Nicht nur komme die Schlechtigkeit des Prinzen – um den es sich ja bei dieser Frage hauptsächlich handle – an den Tag und werde sein Zweck vereitelt, sondern es sei auch für eine weitere Beleuchtung des Ausgangs gesorgt, durch die Berufung Odoardo’s an den »Richter unser aller«, sowie durch unsern Ausblick auf das, was schon hienieden auf solche Thaten zu folgen pflegt: auch für einen solchen Menschen sei nicht der Tod das gröszte Erdenübel, wenngleich er selbst es einstweilen so ansehen möge. Neuerdings hat Ju l i a n S c hm i d t im Ne u e n R e i c h (1877, No. 34) unsre Tragödie ausführlich besprochen und sie in eine neue Beleuchtung gestellt. Er findet, der Prinz sei die Hauptperson des Stückes; um ihn drehe sich alles. – Der Schuldige sei dramatisch die interessanteste Person des Stücks. Die besten Eigenschaften seiner Natur verführten ihn zum Verbrechen. – »Das eigentlich Lebendige in dem Stück 6 Solche Anklagen erhebt unter anderen Mo r. Ca rr i e r e in seinem Buch: Das Weltalter des Geistes im Aufgange, welcher das Strafgericht der Geschichte vermisst, »wenn die Edlen geopfert sind und die Verbrecher l e b e n b l e i b en .« Auch B er th o l d Au er b a c h in seinem Roman: Auf der Höhe (Th. 2, S. 108 fgg.) ist mit dem Ausgang nicht zufrieden, wenn man anders glauben darf, dass er dem Leibarzt sein eignes Urtheil in den Mund legt. Dieser äuszert zwar, man könnte annehmen, dass für den Prinzen das Gefühl jener Erkenntnis, die er in der Schlussfrage ausspricht, eine Strafe wäre, welche er sein Lebenlang nicht mehr los werde. Aber diese epigrammatisch gefasste Erkenntnis der eignen Schwäche und der Schlechtigkeit der Umgebung erscheint ihm nicht als volle und factische Sühne. – Herma nn He t tn er (Geschichte der Deutschen Lit. im achtzehnten Jahrh. II, S. 538) findet sogar, »dass gegen die Unwiderleglichkeit jenes Tadels (über den Ausgang) sich nur gedankenlose Beschönigungssucht verblenden kann.« – Gegen solche Behauptung lässt sich nicht wohl streiten. –

127

Friedrich Theodor Nölting

sei der Hass gegen den Despotismus. Das Verführerische des Prinzen sei nicht die Hauptsache, sondern nur ein Accidens. Die unumschränkte Monarchie, das sei der Sinn des Stücks, mache auch gut angelegte Naturen tyrannisch, denen die Macht in die Hände gegeben ist, und verkümmere auch die tapfersten und bravsten Männer (wie Odoardo und Appiani), die in ihre Nähe kommen. Sie sei ein Pesthauch, unter dem alles verderbe.« Diese Auffassung, in dieser Schärfe ausgesprochen, die einen mitklingenden Ton zum vorherrschenden erhebt, scheint mir verfehlt zu sein. Der Despotismus bildet allerdings die Voraussetzung der ganzen Handlung, aber nicht der Hass gegen ihn, meinen wir, hat den Dichter zu seinem Meisterstück begeistert, sondern, wie oben (S. 3) gezeigt, das Wohlgefallen an einer entschiedenen That, die alle Berechnungen einer lüsternen Gewaltherrschaft zu Schanden machte.

128

Bernhard Arnold Lessings Emilia Galotti in ihrem Verhältniss zur Poetik des Aristoteles und zur Hamburgischen Dramaturgie [1880]

Göthe, Tasso: »Der heitre Wandel mancher schönen Tage, Der stille Raum so mancher tiefen Nächte War einzig diesem frommen Lied geweiht.« Gleich der heiligen Delos (Göthe) stieg Em il ia Ga lotti aus der Gellert-GottschedWeisse’schen Wasserfluth, um gastliche Aufnahme der kreissenden Melpomene zu gewähren. In der Dramaturgie St. 101 bis 104 deutet Lessing darauf hin, er sei in Hamburg genöthigt gewesen, anstatt der Schritte, welche die Kunst des dramatischen Dichters wirklich könnte gethan haben, sich bei denen zu verweilen, die sie vorläufig thun müsste, um sodann mit eins ihre Bahn mit desto schnelleren und grösseren zu durchlaufen. Jetzt auf einmal war das Fundament, die Basis für die folgende Entwickelung der deutschen Tragödie geschaffen. »Es bedurfte nicht mehr der Schritte, welche ein Irrender zurückgehen muss, um wieder auf den Weg zu gelangen und sein Ziel gerade im Auge zu behalten.« Eine ganz andere Frage ist die, ob innerhalb jener Tragödie selbst die wahre Delos gefunden. Alle die massenhaften über Em il ia Ga lotti verbreiteten Urtheile und Schriften1 sie lehren immer und ewig dasselbe: sie schwellen über von Bewunderung für die straffe gefestete Handlung, für die meisterhafte Durcharbeitung der Charactere, für das attische Salz des Dialogs: sie verhehlen sich aber auch nicht grosse Bedenken, welche, wenn sie wirklich Statt haben sollten, nichts anderes beweisen könnten, als dass Lessing von der wahren Absicht der Tragödie, von dem ἔργον τῆς τραγῳδίας nicht die leiseste Ahnung gehabt habe. Ich kann es nur als tragisch bezeichnen, dass gerade die höchsten Verdienste des genialischen Mannes, wodurch er sich den Dank der Nation erwarb, zu seiner Ver­ur­thei­lung ausgebeutet werden mussten. Es ist bekannt, dass erst Lessing das Ver1 Eine reiche Zusammenstellung der hierher gehörigen Litteratur soll nach D a n z e l G u hr a u e r Lessings Leben II, 2, 40 liefern. Hö l s c h e r s Prg.: »Ueber Lessings E m i l i a G a l o t ti .« Herford 1851. Letztere Schrift sowie No d na g e l »Lessings Dramen« habe ich trotz eingehender Bemühung nicht erlangen können. Die ältere und neuere Litteratur bis 1873 stellt zusammen Hr. D ün t z e r »Lessings E m i l i a G a l o t t i .« Ferner sind zu erwähnen He b l e r L e s s i n g i a n a . Bern 1877. Ju l i a n S c hm i d t »E m i l i a G a l o t t i und G ö t z v o n B er l i c h i n g en .« Neues Reich 1877, 34 – 35, Nö l ti n g »Ueber Lessings E m i l i a G a l o t ti .« Prg. Wismar 1877; S i m e »Lessings Leben«, übersetzt von Str o d tma nn . Berlin 1878, pag. 286 ff.; H . Z i mm e rn »Lessings Leben und Werke«, deutsch von C l a u d i . Celle-Leipzig 1880. II. pag. 206 ff.

129

Bernhard Arnold

ständniss des wahren Aristoteles uns eröffnete, von dessen drama­turgischen Ideen er die höchsten Begriffe hegte, nach dessen erhabener auf hohem Piedestale thronender Büste er mit kindlich frommem Schauder emporblickte. »Was mich versichert, dass ich das Wesen der dramatischen Kunst nicht verkenne, ist dieses, dass ich es vollkommen so erkenne, wie es Aristoteles aus den unzähligen Meisterstücken der griechischen Bühne abstrahirt hat. … Ich stehe nicht an zu bekennen, dass ich seine Dichtkunst für ein ebenso unfehlbares Werk halte, als die Elemente des Euklides nur immer sind. Ihre Grundsätze sind eben so wahr und gewiss, nur freilich nicht so fasslich und daher mehr der Chicane ausgesetzt, als Alles, was diese enthalten. Besonders getraue ich mir von der Tragödie … unwidersprechlich zu beweisen, dass sie sich von der Richtschnur des Aristoteles keinen Schritt entfernen kann, ohne sich ebenso weit von ihrer Vollkommenheit zu entfernen … Ich werde nichts gethan haben, als was jeder thun kann, der so fest an den Aristoteles glaubet wie ich.« Es ist ferner bekannt, dass Lessing alles, was er im Anschluss an Aristoteles gedacht und gearbeitet, wenige Jahre vor dem Erscheinen der Em i l i a in einem dramaturgischen Codex niederlegte, der auch noch heute als unerreichtes Muster zu gelten hat. Aber gerade diese theoretische Thätigkeit sollte, wie ich schon andeutete, seinen Gegnern Waffen wider den grossen Mann schmieden. Man glaubte an der Em il ia Ga lotti, so da sein wollte die practische Verwirklichung von Lessings dramatischen Theorien, erweisen zu können, dass Lessing selbst an seinem Aristoteles irre, an seinen eigenen Grundsätzen zum Apostaten geworden sei. Und doch möchte die Kritik an Lessing nur mit der grössten Vorsicht, mit dem grössten Rückhalte sich wagen. Ich bin weit entfernt des Dramatikers eigenes auf seine dichterische Fähigkeit bezügliches Urtheil zu unterschreiben, welches die Romantiker ohne jedwedes Verständniss interpretirten und auf das Schamloseste verwertheten. Ich halte vielmehr Lessing für den grössten dramatischen Dichter Deutschlands. Aber er ist ein anderer Dichter als Göthe. Friedrich Vischer im Faustcommentar, pag. 147 ff., weist darauf hin, dass der Grundstock des Faustfragments in nachtwandlerischen Träumen gezeugt sei, weshalb Göthe in einem Briefe an Schiller vom Jahre 1797 diesen bittet, er solle ihm seine Träume klären und deuten. Es ist dies dieselbe elementarische Kraft, welche Plato im Phädrus, pag. 245 A., als den holden Wahnsinn einer von den Musen ergriffenen Seele bezeichnet. »Wer ohne diesen Wahnsinn der Musen in den Vorhallen der Dichtkunst sich einfindet, meinend er könne durch Kunst allein genug ein Dichter werden, ein solcher ist selbst uneingeweiht und auch seine des Verständigen Dichtung wird von der des Wahnsinnigen verdunkelt.« Es ist dies dieselbe unbewusst instinctive Fähigkeit, auf deren Basis allein Shakespeares dämonische Geistestiefe, seine weltdurchschaudernde Dichtung begriffen wird. Ganz, anders Lessing. Er hat an seiner Mustertragödie alle sieben Tage sieben Zeilen gearbeitet. Er hat den Nathan in Verse gebracht, weil seine prosaische Schriftstellerei ihm übermässige Anstrengung kostete. Er urtheilt (vergl. Dramat. St. 34), dass das Dichten mit Absicht, das Nachahmen mit Absicht ein Genie von kleinen Künstlern unterscheide, dass der geniale Dichter öfters Fehler begehe, worüber wir andern guten Leute uns nicht genug wundern können; wir stehen und staunen und schlagen die Hände zusammen und rufen: »Aber wie hat ein so grosser Mann nicht 130

Lessings Emilia Galotti in ihrem Verhältniss zur Poetik des Aristoteles

wissen können«; und doch hat jener mit Absicht gefehlt, insofern er höhere, künstlerische Ziele verfolgte. Er ist überzeugt (Dramat. St. 73), dass das Auge des Künstlers grösstenteils viel scharfsichtiger ist, als das scharfsichtigste seiner Betrachter. »Unter zwanzig Einwürfen, die ihm diese machen, wird er sich von neunzehn erinnern, sie während der Arbeit sich selbst gemacht und sie auch schon sich selbst beantwortet zu haben.« Nehmen wir schliesslich noch hinzu die St. 96 u. 101 – 104 zerstreuten Bemerkungen, dass wer erfinden wolle, das Raisonnement verstehen müsse, dass er gegen alle ersten Gedanken misstrauischer sei, als De la Casa und der alte Shandy nur immer gewesen sind, dass er die dramatische Kunst mehr studirt habe, als zwanzig, die sie ausüben u. s. w., so ergiebt sich von selbst, was anzumerken ich erstrebte: hätten alle jene Tadler diesen Apparat von Stellen, die sich sicher bedeutend vermehren liessen, vor Augen gehabt, sie würden vielleicht skeptischer zu Werke gegangen sein. Der Plan vorliegender Abhandlung ergiebt sich aus den obigen Erörterungen von selbst. Ich habe angedeutet, dass schwere Bedenken gegen die Em il ia Ga lotti geschleudert wurden. Der 1. Theil wird diese vermeintlichen Fehler vorführen. Insofern nun Lessing sich als den Jünger des Aristoteles betrachtet, wird der 2. Theil die hauptsächlichsten aristotelischen Gesetze nochmals prüfen und zugleich die Frage aufwerfen, ob überhaupt und in wie weit jene 2000jährigen Regeln für das moderne Drama Geltung beanspruchen dürfen. Der 3. Theil endlich wird die Lösung der im 1. Theile versammelten Einwände versuchen, theils auf Grund der an der Hand des Aristoteles gewonnenen Einsichten, theils auf Grund einer erneuten Betrachtung der fraglichen Tragödie selbst, zugleich mit beständigem Bezug auf Alles, was Lessing selbst in der Hamburgischen Dramaturgie vermerkte. Julian Schmidt, Neues Reich 1877, Nr. 34 pag. 293 stellt folgende dramatische Forderung: »Wir verlangen von der tragischen Person, dass sie zurechnungsfähig ist, dass sie die Schuld mit Bewusstsein auf sich nimmt,« Lessing in der Dramat. St. 82 (Anfang) übersetzt die hierher gehörige, später genau zu erörternde Stelle des Aristoteles: »Man muss keinen ganz guten Mann ohne all sein Verschulden in der Tragödie unglücklich werden lassen, denn so was sei grässlich.« Ist Em il ia schuldig, ist sie unschuldig, das ist die grosse Frage, welche von Herder und Göthe bis auf Sime und Zimmern den Scharfsinn der Geister beschäftigte. Von denen, die Em il ia schuldig finden, übergehe ich ohne weiteres diejenigen, welche jene Schuld darin sehen, dass Em il ia das Zusammentreffen mit dem Prinzen ihrem Bräutigam verheimliche. Denn einmal fügt sie sich hierin dem Winke der Mutter, andrerseits handeln beide in bester Absicht: »Willst du (II, 6) für nichts und wieder für nichts ihn unruhig machen … Dein gutes Gestirn behüte Dich vor dieser Erfahrung.« Was in der lautersten Absicht unternommen, kann schwerlich als Schuld, geschweige denn als bewusste Schuld gelten. Andere wie Carriere (die Kunst im Zusammenhang der Cultur V, pag. 220) reden von einer für den Prinzen aufkeimenden Neigung im Herzen Em il ia s, welche Lessing mit grosser Feinheit, angedeutet habe. Julian Schmidt denkt an eine förmliche Gedankenschuld, sie fühle, dass der lasterhafte Prinz ihr interessanter sei als ihr tugendhafter Bräutigam, dies Gefühl ekle sie an, sie könne es nicht ertragen, sie müsse ein Ende machen. Der Dolchstoss sei die Sühne für jene Gedankenschuld. Ich gestehe offen, dass ich bis vor Kurzem derselben Ansicht 131

Bernhard Arnold

folgte. Ich ging aus von Em il ia s Worten in der vorletzten Scene des 5. Actes, nicht die Gewalt fürchte sie, Verf ührung sei die wahre Gewalt. Hieraus folgt mit logischer Consequenz Zweierlei: Zunächst muss das Subject verführerische Eigenschaften besitzen — daher der Enthusiasmus des Prinzen für künstlerisches Streben — dann aber muss auch das Object der Verführung zugängig sein. Hierzu die feine Andeutung II, 6: Claud ia : Dem Himmel ist beten wollen auch beten. Em il ia : Und sünd ig en wo l len auch sündigen. Was allerdings Em il ia sofort wieder zurücknimmt: »Nein, meine Mutter; so tief liess mich die Gnade nicht sinken.« Zwar verhehlte ich mir nicht, dass diese ganze Argumentation zunächst auf einer Basis beruhe, die ästhetisch vielfach Bedenken erregte. Schon Engel und Claudius hatten es nicht verstanden, wie Em il ia bei der Leiche ihres gemordeten Gemahls an Verf ü hr ung durch den Mann denken konnte, der wenigstens nicht ohne Schuld an dem Frevel war. Doch liesse sich darauf folgendes erwidern: Genannter Einwand kann doch nur besagen: Em il ia muss vom Schmerze so gebrochen sein, dass solcher Gedanke in ihr nicht aufkommen kann. Nun aber sagt Claudia über Em il ia I V, 8: sie wehklage nicht mehr. »Sie ist die Furchtsamste und Entschlossenste unsres Geschlechts. Ihrer ersten Eindrücke nie mächtig, aber nach der geringsten Ueberlegung in alles sich findend, auf Alles gefasst.« Also motivirt würde wohl ihr späteres Verhalten sein; ob weiblich, ist eine andere Frage. Viel wichtiger erschien, was Nicolai bemerkte (vergl. Brief v. 1. April 1772 bei Hempel, Lessing XX,2): Er wünschte, dass etwas von der Verführung auf dem Theater vorgehen möchte, dass der Prinz in einer Scene pressant wäre und dass Em il ia zwar nicht gewankt hätte, aber doch in einige Verlegenheit gerathen wäre; mit andern Worten, dass Em il ia s Neigung sich irgend wie durch Handlung offenbare. Doch glaubte ich auch hierauf antworten zu können. Em il ia ist die Verlobte Appianis. Wenn anders Lessing ihr eine Neigung für den Prinzen andichtete und sie dennoch unsere Theilnahme, unser Mitleid beanspruchen sollte, so durfte jene Neigung als eine offenbare kaum erscheinen, sie musste mehr dämonisch wirken. Em i l i a selbst durfte sich nicht recht klar darüber sein. Was man also als undramatische Knappheit rügte, betrachtete ich vielmehr als eine Quelle der Schönheit. Lessing erschien mir nicht blos als der grosse Reformator des deutschen Dramas, sondern auch als Vorgänger in der später durch Göthe besonders entwickelten Tragik des Herzens, welche zwar den Einfluss von Aussen nicht abweist, im Ganzen aber die in der Tragödie wirksamen Conflicte aus der Tiefe der eigenen Menschenbrust entspringen lässt. Hierzu kam nun noch die wenig glückliche, vom Dichter vielleicht mit absichtlicher Schaalheit begabte Figur des Bräutigams, der gegen den fürstlichen Liebhaber recht unvortheilhaft absticht. Statt in jugendlicher Thatenfülle in der Schwere der Berufspflicht sein Glück zu suchen, wie es eines jungen vollkräftigen Mannes sich geziemt, krankt er an unseliger Melancholie und ist gewillt ein einsamer Natur­träumer zu werden. Statt durch glühende Phantasie und Originalität seiner Braut zu imponiren, spinnt er nur fort, was diese in mädchenhaftem Aberglauben andeutet (vergl. »Perlen bedeuten Thränen«). Aber alle diese Phantastereien mussten schwinden vor einer strengeren wissenschaftlichen Betrachtung. Claudias Worte IV, 8: »Sie hält den Prinzen in einer 132

Lessings Emilia Galotti in ihrem Verhältniss zur Poetik des Aristoteles

Entfernung; sie spricht mit ihm in einem Tone —« verrathen wenig von einer Liebesneigung Em il ia s . In der Dramat. St. 9 erörtert der Dichter: »Wir wollen es auf der Bühne sehen, wer die Menschen sind, und können es nur aus ihren Thaten sehen.« Ebendas. St. 57 belobt er den Character der Elisabeth im Essex des Joh. Banks: »Sie spricht nie als eine Verliebte, aber sie handelt so. Man hört es nie, aber man sieht es, wie theuer ihr Essex ehedem gewesen und noch ist.« Worauf ich hinaus will, liegt auf der Hand. Hatte Lessing an eine Liebe Em il ia s zum Prinzen gedacht, so hätte er sie seinen eigenen Grundsätzen gemäss verliebt redend oder handelnd vorgeführt. Das hervorragendste Zeugniss finde ich schliesslich in einem Briefe an Karl Lessing vom 10. Februar 1772. Letzterer hatte Em il ia zu katholisch und fromm gefunden. Lessing antwortet; »Die jungfräulichen Heroinen und Philosophinnen sind gar nicht nach meinem Geschmacke. Wenn Aristoteles von der Güte der Sitten handelt, so schliesst er die Weiber und Sclaven ausdrücklich davon aus. Ich kenne an einem unverheiratheten Mädchen keine höhern Tugenden als Frömmigkeit und Gehorsam.« Hiernach beruht die Maxime ihres Handelns auf Frömmigkeit und Gehorsam. Wer aber Gott beständig vor Augen hat und im Herzen — nur dies ist Frömmigkeit, alles andere Heuchelei — der kann wohl irren in menschlicher Schwäche, sündigen, mit Bewusstsein sündigen vermag er nimmer.2 Somit ergiebt sich als Resultat: Em i l i a kann den Prinzen nicht lieben, sie ist unschuldig, Lessing fehlte gegen ein Hauptgesetz der Tragödie. Hiermit ist aber auch zugleich der Stab über die ganze Katastrophe gebrochen. Odoardo tödtet seine Tochter, weil sie vor Verführung sich fürchtet. Wie aber ist Verführung möglich, wenn Liebesneigung nicht vorhanden? Dazu der unerhörte Widerspruch in Em il ia s eigenen Worten: Der Gewalt wolle sie trotzen, ihr werde sie ihren Wil len entgegensetzen, der Verführung müsse sie erliegen. Als ob nicht der Wille, wenn anders er als solcher zu bezeichnen, über beides, über Gewalt wie Verführung, erhaben wäre. Je mehr das Leben in fortwährenden Widersprüchen sich verzehrt, desto höhere Anforderungen stelle ich an den, der mich dem alltäglichen Getriebe entreissen und das Reich der Illusion mir erschliessen soll. Ich verlange vom tragischen Dichter eine eiserne Consequenz des Characters. Die Nothwendigkeit erforderte (vergl. Freytag, Technik des Dramas, pag. 261 f., Sime, pag. 289 ff.), dass Odoardo mit dem Dolche in der Hand den Ausweg aus Dosalo suchte und vielmehr den schurkischen Prinzen als seine unschuldige Tochter ermordete. »Das wäre viel 2 Julian Schmidt, welcher, wie wir sahen, von einer Gedankenschuld redet, aber doch herausfühlt, dass letztere als tragische Schuld sich zu wenig eigene, sucht sich dadurch zu helfen, dass er behauptet, E m i l i a sei nicht die Hauptperson des Stückes, das hervorragendste tr a g i s c h e Hauptinteresse nehme vielmehr der Prinz in Anspruch. Er beruft sich hierbei (vergl. Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland von Leibnitz bis Lessing. Leipzig 1863. II pag. 504) auf den oben citirten Brief des Dichters: »Es sei gar nicht seine Absicht gewesen, Emilia zur Haup tp er s on zu machen«, womit allerdings Lessing auf eine andere Hauptperson hingedeutet hätte. Aber hier ist ein Fehler im Wortlaut. Lessing sagt, er habe E m i l i a nicht zu einem »hervorstechenden« Character machen wollen, womit er den die »Verführung« betreffenden Einwand Nicolai’s zu entkräften versuchte.

133

Bernhard Arnold

gewöhnlicher gewesen, aber menschlich wahrer.« »Es ist deutlich (vergl. Freytag, pag. 75), dass dem Dichter obliegt, den Kampf der Tragödie zu einem Schluss zu führen, welcher die Humanität und Vernunft der Hörer nicht verletzt, sondern befriedigt.« Obschon in Lessings Drama das Laster nicht triumphirt, wenn schon der Prinz gebrochen und sein Minister gestürzt ist, so scheinen doch die frivolen Schlussworte darauf hinzudeuten, dass jene Erschütterung nicht lange anhalten wird: »Ist es zum Unglück so mancher nicht genug, dass Fürsten Menschen sind; müssen sich auch noch Teufel in ihren Freund verstellen?« Wo bleibt die von Freytag geforderte Befriedigung, wo die von Aristoteles für die Tragödie beanspruchte Katharsis der Leidenschaften, welche bei aller Verschiedenheit der Erklärung doch immer als seelische Erhebung gefasst wird. Allerdings fordert Odoardo den Prinzen vor einen höheren Richter; allein Lessing selbst hatte schon in der Dramaturgie gesagt, jede in einem Kunstwerk aufgeworfene Frage müsse ihre Antwort in dem Kunstwerke selbst, nicht in einer Welt ausserhalb seines Bereichs finden (vergl. Sime, pag. 291). Und nun noch ein kurzes Wort für Herrn Düntzer, welcher den eigentlichen Ziel- und Endpunkt der Handlung darin sucht, dass Emiliens Tugend über alle schlauen Künste des Verführers den Sieg davon trage, diesen vor sich selbst vernichte. Glaubt denn Herr Düntzer im Ernste, dass es ein Triumph sei, durch freiwilligen Tod einer Gefahr sich zu entziehen, der man mit Willensstärke, durch kräftiges Ausharren und Kämpf begegnen konnte? Von solchem Standpunkte aus die Katastrophe zu rechtfertigen ist allerdings, wie Hettner mit Recht bemerkt, weiter nichts als eitele Beschönigungssucht. Die Katastrophe ist peinvoll und scheint der zwingenden Nothwendigkeit zu entbehren. Dieselbe dira necessitas vermisst man in dem Auftreten der Orsina, so gewaltig und mächtig auch sonst dieser Charakter wirkt. Göthe (Bemerkungen über das deutsche Theater) meinte, sie solle den Character des Prinzen heben. »Der Prinz ist entschuldigt, sobald man anerkennt, dass ihm eine solche gewaltsame, herrische Figur zur Last fallen müsse.« Man merkt sofort, worauf Göthe hinauswollte. Er gedachte dadurch den Ausgang zu rechtfertigen. Hiergegen möchte ich mir aber doch folgenden Einwand gestatten. Hätte Lessing jenes wirklich im Sinn gehabt, so standen ihm viel einfachere Mittel zu Gebote, Im 4. Acte eine neue Persönlichkeit einzuführen zu einem Zwecke, der sich auf andere Weise erreichen liess, widerspricht den allgemeingiltigen Regeln des Dramas, entbehrt, wie ich schon sagte, der zwingenden Notwendigkeit. Anders urtheilte Rötscher (Entwickelung dramatischer Charactere, pag. 33): »Die Gräfin Orsina hat in dem Organismus der Tragödie eine sehr tiefe Bedeutung. Durch sie tritt zuerst die Macht einer sittlichen Potenz gegen die Berechnung des schlauen Verstandes in den Kampf.« Als ob nicht schon Claudia in der hoch­dramatischen Schlussscene des 3. Actes dem schurkischen Marinelli bis ins Kleinste bewiese, dass er und sein fürstlicher Gebieter die Mordthat ersonnen und ausgeführt. Ich gebe ohne Weiteres zu, dass die Orsina der fallenden Handlung in echt dramatischer Weise einen mächtigen Aufschwung gewährt. Von jeher ist der sinkende Theil des Dramas ein Stein des Anstosses für den Dichter gewesen. Unter zehn Dramatikern, welche die Handlung bis zum Höhepunkt fehlerlos und kraftvoll herauszutreiben verstehen, werden neun bei der Umkehr straucheln. Dann verlange ich aber auch, dass die Trägerin der fallenden Handlung etwas bewirkt, was für die 134

Lessings Emilia Galotti in ihrem Verhältniss zur Poetik des Aristoteles

Katastrophe von Wichtigkeit ist. Was nun bewirkt Orsina? Nichts, was nicht auch ohne sie hätte bewirkt werden können. Dass Odoardo den Dolch vergessen hat und sie ihm denselben — nicht zur Ermordung Em il ia s, sondern des Prinzen — einhändigt, klingt fast wie ein kindlicher Einfall; jedenfalls waren dazu ihre glänzenden Philosopheme über Gleichgiltigkeit und Zufall nicht nöthig. Ich rede hier zum Theil mit Simes eigenen Worten, dessen feine und verständnissvolle Kritik uns Deutschen vielfach zum Muster dienen könnte. Und nun bedenke man noch Folgendes: Lessing, welcher am meisten die Einheit der Handlung betonte, er scheint sich doch darüber hinweggesetzt zu haben; Lessing, welcher den Franzosen gegenüber die Einheit der Zeit als im Wesen des modernen Dramas nicht begründet kritisch bekämpft, er hält aufs Genaueste fast bis zur Unwahrscheinlichkeit an der zeitl ichen Einheit fest. Denn am Morgen wird das Bubenstück erdacht, Nachmittags ist es vollendet. Ich komme schliesslich zu dem Character Marinellis. Die Tragödie soll nach Aristoteles Furcht und Mitleiden erregen, deswegen sind alle schlechten Charactere undramatisch. Man wende nicht ein, dass Marinelli im Dienste seines Herrn handele: ein feiger liebedienerischer Schuft ist mir viel weniger sympathisch, als ein mit eiserner Consequenz handelnder Bösewicht. Bei dem Schöpfer des modernen Dramas, bei Shakespeare, kennzeichnen sich als schlechte Charactere Regan und Goneril, Richard und Jago; die deutsch-classische Tragödie hat den Franz, den Mephisto u. s. w. Man hat neuerdings solchen Gestalten sogenannte sittlich-menschliche Eigenschaften angedichtet (vergl. K. Sendel. Lessing-Aristoteles’ Verhältniss zu Shakespeare. Archiv für Litteraturgeschichte. Bd. II. 1872. pag, 84 f. Vischer, Aesth. I. pag. 306). Freytag behauptet, sie wären uns deswegen erträglich, weil sie vom Dichter mit einem gewissen souverainen Humor ausgestattet seien. Das mag bei einigen stimmen, bei anderen stimmt es nicht und kann im Ganzen doch nur als consecutiv-mildernd, schwerlich als constitutiv-wesentlich gelten. Mögen solche Gestalten zeitweise das tiefe Bedürfniss der Liebe äussern, mögen sie in souverainer Laune über alles Zeitliche sich hinwegsetzen, sittliche Ungeheuer bleiben sie immer. Folglich sind jene durch Shakespeare influirten Schöpfungen zu verdammen? Das wäre ein ganz verfehlter Schluss, Richard und Jago, wie Mephisto, sind noch heute wirksame Bühnenfiguren. Sie sind, weil sie sind. Shakespeares weltdurchschauender Blick kannte sein Publikum ebenso genau, wie Aeschylus und Sophokles das athenische. Daher nieder mit den Regeln des Aristoteles, so lautet die eiserne Folgerung des vortrefflichen Sime. Shakespeare ist der Meister des modernen Dramas. Die Tragödie hat nicht blos Furcht und Mitleid, sondern die Leidenschaften überhaupt, also auch Schrecken und Bewunderung zu erregen. Somit wäre auch Marinelli gerechtfertigt? Das wäre vor der Hand ein ebenso verfehlter Schluss wie jener. Wenn Lessing die Franzosen deswegen abfertigte, weil sie den aristotelischen φόβος, mit »Schrecken« übersetzten und zu erklären beliebten, Aristoteles verlange von der Tragödie nicht »Furcht und Mitleid«, sondern »entweder Schrecken oder Mitleid«, wenn er Weisses Richard als das grösste Scheusal, welches je die Bühne betreten, verurtheilt, wenn er für die moderne Tragödie als Norm hinstellt, sie dürfe sich keinen Schritt von der Richtschnur des Aristoteles entfernen, ohne sich ebensoweit von ihrer Vollkommenheit zu entfernen, so durfte er einen Character wie Marinelli überhaupt nicht gestalten. 135

Bernhard Arnold

Hier breche ich ab. Statt den Dichter vor Vergewaltigung zu schützen, bin ich selbst fast unvermerkt in das Lager der Gegner gerathen. Das Sündenregister des grossen Mannes lautet kurz gefasst wie folgt: 1. Fehler: Em il ia die tragische Figur ist unschuldig. 2. Fehler: Die Katastrophe ist peinvoll. Das Laster siegt. Die Unschuld wird gemartert. 3. Fehler: Die Einheit der Handlung ist nicht gewahrt, aufs Genaueste die unwesentliche Einheit der Zeit. 4. Fehler: Marinelli ist ein schlechter Character, daher undramatisch.

II. Der berühmte oder vielmehr berüchtigte Schlusssatz der aristotelischen Definition der Tragödie lautet: δι ἐλέου καὶ φόβου περαίνουσα τὴν τῶν τοιούτων παθημάτων κάθαρσιν d. h. die Tragödie bewirkt durch Mitleiden und Furcht die Reinigung der so beschaffenen Leidenschaften. Die Begriffe ἔλεος und φόβος untersuchte zuerst wissenschaftlich Lessing, indem er die Rhetorik des Aristoteles hinzuzog. Jedoch glaubte er, seiner ganzen simplificirenden Richtung nach, dass φόβος als »Furcht für uns« und die Katharsis als »Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten« für die Absicht der Tragödie unwesentlich seien, Aristoteles habe eine strenge Definition nicht geben wollen, er habe mehrere zufällige Bestimmungen mit hereingezogen, die Tragödie wolle blos Mitleiden erregen, in letzterem sei an und für sich eine Furcht für uns selbst enthalten. Im Anschluss an Lessing meinten die Neueren (vergl. Susemihl, Aristot. Poet. 1874), Aristoteles kenne nach Rhet. II, 5 nur »Furcht für mich« oder für einen Verwandten, nicht für einen Fremden — a ls o b d ie Rhetorik nur ein Wor t h ier von enth ielte — bis Lippert (vergl., Sus.) im Hinweis auf Poet. c. 13 φόβος περὶ ὅμοιον erklärte φόβος sei die Furcht für die tragischen Personen. In neuester Zeit hat wieder Wille über ἔλεος und φόβος Berl. 1879 die »Furcht für uns« betont. Was ist also φόβος? Wir verstehen den grossen Philosophen am besten, wenn wir zunächst von allgemein menschlichen Vorstellungen ausgehen und dann seine Worte damit in Einklang zu bringen suchen. Nie gab es einen grösseren Systematiker, nie aber auch einen vernünftigeren Menschen als Aristoteles. Nun wohlan! 1) Ich appellire an jeden Zuschauer, ob er je in der Tragödie eine Furcht »für sich« empfunden, ob ihm klar zum Bewusstsein gekommen, dass dieselbe Leidenschaft, welche die tragische Figur beherrscht, auch ihn selbst mit fortreissen, dass dasselbe Unglück, unter welchem Desdemona seufzt, auch ihm sich ereignen könne. Ich betone ausdrücklich: »klar zum Bewusstsein …« denn eine trübe, verschwommene Furcht ist schon im Mitleiden enthalten. 2) Aristoteles sagt Rhet. II, 5: Die Furcht entspringt aus der Vorstellung einer drohenden Gefahr und zwar einer sehr na he b e vorstehenden Gefahr. Denn z.  B. Niemand fürchte den Tod. Man versetze sich in das Theater. Der Vorhang rollt in die Höhe: Antigone in leidenschaftlichem Gespräch mit Ismene. Wir hören, dass Kreon die Bestattung des Polynices bei Todesstrafe verboten; dass Antigone gesetzwidrig den Bruder zu 136

Lessings Emilia Galotti in ihrem Verhältniss zur Poetik des Aristoteles

begraben gedenkt. Die vorher erwähnte »drohende Gefahr« bezieht sich also auf Antigone, nicht auf mich selbst. Und wenn ich nun dennoch von der Leidenschaft der Antigone sofort auf mich selbst schliessen wollte, so würde dies immer noch nicht mit der Forderung des Aristoteles über­einstimmen. Um Furcht für mich zu erregen, muss mir eine Gefahr sehr nahe bevorstehen, während sie doch in Wahrheit der Antigone viel näher bevorsteht als mir selbst. Zugegeben ferner, die von mir bekämpfte Ansicht sei die richtige, so würde dies eine völlige Hingabe, eine völlige Identificirung des schauenden Subjects mit dem erschauten Object bedeuten. Aber eine derartige Illusion wäre ganz gegen die Ansicht des Aristoteles (vergl. Teichmüller, Aristotel. Stud. II pag. 155) und wohl nur bei wenigen besonders empfänglichen Naturen denkbar. Endlich will ich einräumen, dass in der modernen Tragödie, welche theilweise die unmittelbare Gegenwart und einfach bürgerliche Verhältnisse behandelt, der Schluss vom Unglück der tragischen Figur auf ein ähnliches Leiden der eigenen Person nicht unmöglich ist. Viel schwieriger ist dies schon in den Shakespeare’schen Königsdramen, kaum denkbar für die antike Tragödie, welche ihre Stoffe nur den zeitlich weit entfernten, mit furchtbarem Fluch und Leiden behafteten Heroenhäusern entlehnte. Man fusse nicht auf Aristot, Rhet. II, 5, § 15: um den Menschen in Furcht für sich selbst zu bringen, genüge es (δεικνύναι ὁμοίους πάσχοντας ἢ πεπονθότας, d. h, zu zeigen, wie ähnliche leiden oder gelitten haben. Denn hier handelt Aristoteles von einem Kunstgriffe des Redners und die Furcht entspringt nicht blos aus der ὁμοιότης, sondern vielmehr aus dem auf die Tragödie unübertragbaren Umstande, dass der Hörer sich wirklich vorstellt, es sei ein Unglück, ein Leiden für ihn selbst im Anzuge. Hiernach dürfte feststehen, dass φόβος nicht bedeutet »Furcht, für uns selbst«. Folglich bedeutet­er Furcht um den Helden? Die Worte φόβος περὶ ὅμοιον wenigstens scheinen zweifellos darauf hinzudeuten. Dennoch ist auch dies zunächst unmöglich. Poet. c. 11 (Susemihl) bespricht Aristoteles die περιπέτεια, d. i. den Umschwung einer That in ihr Gegentheil, entweder aus Glück in Unglück oder umgekehrt, und die ἀναγνώρισις d. i. die Umwandlung aus Unbekanntschaft in Bekanntschaft. Die schönste (ἀναγνώρισις nun sei die, welche zugleich mit περιπέτεια verbunden sei. Ἡ γὰρ τοιαύτη ἀναγνώρισις καὶ περιπέτεια ἢ ἔλεον ἔξει ἢ φόβον, d. h. denn eine so beschaffene Erkennung und Peripetie wird entweder Mitleid oder Furcht erregen. Nun begreife ich wohl, wie Erkennung und Umschwung Mitleiden hervorrufen können, wie aber im andern Falle Furcht für den Helden entstehen soll, da ja mit eben dieser Erkennung und Peripetie sein Schicksal erfüllt und etwas noch erst zu Befürchtendes für ihn nun nicht mehr vorhanden ist, das verstehe wer will (vergl. Susemihl, pag. 242). Der scheinbare Widerspruch wird sich überraschend lösen, wenn wir den für die Erklärung des Aristoteles eben angedeuteten Weg weiter betreten. Bekanntlich war der Stagirite der grösste Empiriker des Alterthums. Wenn er nun die Wirkung der Tragödie auf das menschliche Gemüth zu bestimmen suchte, musste er an sich selbst wie an Anderen im Theater den ἔλεος und φόβος bemerkt haben. Da aber die Alten Menschen waren so gut wie wir, so werden auch wir Neueren ähnlichen Wirkungen noch zugängig sein, wie man überhaupt endlich einmal aufhören sollte, das Alterthum der Neuzeit wie Nord- und Südpol gegenüber zu stellen. Ich schaue mich um und finde, dass Lessing mich nicht im Stiche lässt. Zwar deutete ich oben an, dass Lessing 137

Bernhard Arnold

den φόβος als »Furcht für mich« zu fassen scheint, dies hindert ihn aber nicht, den weitesten Gebrauch von einem für sein Denken äusserst characteristischen Principe zu machen, er wolle keineswegs ein System geben, daher sei er nicht verpflichtet, etwaige hingeschleuderte Widersprüche zu lösen, der Leser möge sich damit abfinden wie er wolle. Wenn er also, wie es scheint, in der Dramat. St. 75 an eine »Furcht für mich« denkt, so redet er St. 47 von einem Zittern der Athener für Aegisth und bestimmt St. 56 — freilich ohne Bezug auf Aristoteles — die Wirkung des φόβος wie folgt: »Ich frage Jeden, der den Cid vorstellen sehen, oder ihn mit einiger Aufmerksamkeit auch nur gelesen, ob ihn nicht ein S chauder überlaufen, wenn der grosssprecherische Gormas den alten würdigen Diego zu schlagen sich erdreistet? Ob er nicht das empfindlichste Mitleid für diesen und den bittersten Unwillen gegen jenen empfunden? Ob ihm nicht auf einmal alle die blutigen und traurigen Folgen, die diese schimpf­liche Begegnung nach sich ziehen müssen, in die Gedanken geschossen und ihn mit Erwartung und Furcht erfüllet?« Lessing also empfand zunächst einen Schauder, welcher aus einer furchtbaren Handlung entspringt, mit ihm zugleich paart sich Erwartung und Furcht vor den Folgen jener schaudervollen Handlung. Fragen wir uns jetzt, ob Aristoteles mit der durch Lessing gewonnenen Basis übereinstimmt. 1) Fassen wir den φόβος im Sinne des Lessing’schen S chauders, so bezeichnet der Aristotelische φόβος περὶ ὅμοιον eben jene Furcht für den tragischen Helden, welche je nach den vorhandenen Umständen zugleich mit oder durch den Schauder über eine furchtbare Begebenheit sich einstellt. Ebenso sind bei dieser Erklärung die oben behandelten Worte des Aristoteles »eine so beschaffene Erkennung und Peripetie wird entweder Mitleiden oder Furcht erregen« frei von jedweder Schwierigkeit. Selbstverständlich wird der Philosoph nicht haben sagen wollen, dass Erkennung und Peripetie nicht auch eine Verbindung von Mit­leiden und Furcht bewirken können. Denn seinen eigenen Erörterungen zu Folge sind beide verwandte Affecte. Aber je nach der Art und Weise, wie der Dichter die im Drama wirksamen Conflicte heraustreibt, wird er entweder mehr Mitleiden oder mehr Schauder hervorrufen. Dem feinen Gefühle des grossen Aesthetikers entging es schwerlich, dass die süss-milde Muse des himmlischen Sophokles mehr das Mitleiden erregte, während die herb-bittere gigantische Dichtung des Aeschylus3 und die leidenschaftliche Zerrissenheit des Euripides ihren Zuhörer durchschaudern. Aehnlich erregen die deutschen Classiker mehr den ἒλεον, Shakespeare mehr den φόβος. Vor seinem Gespenst im Hamlet sträuben sich die Haare zu Berge. Die Hüttenscene im Lear und die Verurtheilung des Sessels müssen bei vollendeter Darstellung den Zuhörer bis zum Wahnsinn durchschaudern.

3 Winckelmann urtheilt über Aeschylus, er sei durch lose Gedanken und prächtige Ausdrücke mehr erstaunlich als rührend. Sophocles dagegen rührt das Herz durch innige Empfindungen, die nicht durch Worte, sondern durch empfindliche Bilder bis zur Seele dringen. Er verdrängte die Erschütterung des tr a g i s c h e n S c hr e c ke n s , für den Aeschylus seine hochmetaphorische Sprache und sein Schreckensgepränge von Worten geschaffen hatte, durch eine sanftere, stetige und steigende Sy m p a th i e , an der er seine ganze Kunst der Anlage und Sprache entfaltet. Vergl. Justi, Winckelmann. I. pag. 154.

138

Lessings Emilia Galotti in ihrem Verhältniss zur Poetik des Aristoteles

2) Die Worte des Aristot. Politik VIII, 7, 4 – 10, pag. 1341 b lassen überhaupt gar keinen Zweifel darüber aufkommen, dass er auch eine Mitleiden und Furcht erregende Musik kannte. Nun frage ich: Wie soll die Musik den Hörer in Furcht für sich oder für einen Andern versetzen? Im Lessing’schen Sinne dagegen kann noch heute Jeder die Wirkung des musikalischen φόβος verspüren. An wen könnte ich hier passender anknüpfen als an den Shakespeare der Töne, den Michelangelo des Melos, ich meine keinen geringeren als Beethoven selbst. Wenn der zauberische Fluss seiner Töne in elegischem Schmelze dahin schleicht, wenn er Liebe klagt oder sie fordert für sein einsam verlassenes Herz, dann röthet sich wohl auch uns die Wimper, die Thräne quillt, der ἕλεος übt seine Herrschaft. Anders wenn der Genius bis zu den Grenzen des Möglichen sich erweitert, wenn er aufpeitscht wie der Sturmwind, wenn er Ströme entfesselt, Berge und Wälder entwurzelt, dann, sage ich, ist die Wirkung eine ganz andere. Das Haar sträubt sich, es überläuft mich kalt, ich empfinde den Lessing’schen Schauder, ein Hauch der Ewigkeit scheint mich zu umwehen. 3) Dem φόβος entspricht das φοβερόν, das Furchterregende, ebenso wie dem ἔλεος das ἐλεεινόν oder οἰκτρόν. Nun aber setzt Aristot. öfters für φόβερόν das δεινόν das Gewaltige (vergl. Poet. c. 14. 19. de anim. III, 3. § 4). Nach Poet. c. 25 soll der Dichter das θαυμαστόν das Staunenswerte bewirken. Mit dem θαυμαστόν ist zugleich gegeben das μεγαλοπρεπές das Herrliche, das Erhabene (vergl. Eth. Nicom. IV, 4 Did. II, 42. 16 … τὸ δὲ μεγαλοπρεπὲς θαυμαστόν). Das Gewaltige, Herrliche, Staunenswerthe erregen im Zuhörer B e wunder ung und Aristoteles hätte in seine Definition neben dem ἔλεος und φόβος zum mindesten noch die θαυμασία aufnehmen müssen, wenn er nicht den einen von jenen beiden Affecten in einem allgemeineren Sinne gefasst hätte. Und in der That kann Jeder an sich beobachten, dass das Gewaltige, Erhabene, Bewundernswerte nicht minder jene oben als Schauder analysirte Wirkung hervorbringt. Das Auge leuchtet, das Haar scheint sich zu sträuben, man fühlt sich durchfröstelt, die Haut zieht sich zusammen gleich einer vom Winde gekräuselten Wasserfläche. Hieraus erklärt sich nun auch weiter, wie Aristoteles die in der Definition verbund enen beiden Affecte bei Besprechung der Erkennung und Peripetie als getrennt hinstellen kann. Ist nämlich das aus Erkennung und Peripetie resultirende Leiden der ganzen Anlage des Dramas nach ein mehr gemildertes, so werden wir Mitleiden empfinden, ist das Leiden ein gewaltiges, erhabenes, staunenswerthes, so wird es eben jenen Schauder erregen. 4) Die Bestätigung aller meiner Erörterungen giebt Aristoteles Poet. c. 14: Die Fabel müsse so componirt sein, ὥστε τὸν ἀκούοντα τὰ πράγματα γινόμενα καὶ φ ρ ί τ τ ε ι ν καὶ ἐλεεῖν ἐκ τῶν συμβαινόντων. Dem φόβος ist hier der φρισσός gleichgesetzt. φρισσός aber ist eben jener Schauder, d. h. jene somatische, allgemein als Gänsehautbildung bezeichnete Erscheinung, welche Furcht, Schrecken, Bewunderung, überhaupt alles Gigantische und Erhabene auf den Menschen ausüben. Ich fasse nochmals kurz zusammen, was als Resultat sich ergiebt. Der φόβος bei Aristoteles hat eine doppelte Bedeutung. Im engeren Sinne erscheint er als Furcht für die tragischen Personen (φόβος περὶ ὅμοιον), welche je nach den Umständen aus Handlungen ἐκ τῶν συμβαινόντων entspringt. Im weiteren Sinne bezeichnet er den 139

Bernhard Arnold

Schauder, den alles Gewaltige hervorbringt, und die Schlussfolgerung, worauf obiger Nachweis hinstrebte, lautet: Sime hat keinerlei Berechtigung zu erklären, dass die Erregung von ἔλεος und φόβος im Hinblick auf das moderne Drama nicht mehr genügten. Damit nun Mitleiden und Furcht innerhalb der Schranken des Schönen sich hielten, giebt Aristot. Poet. c. 13 die genauesten Vorschriften über die sittliche Beschaffenheit der tragischen Figuren. Von der Tragödie sind ausgeschlossen die ἐπιεικεῖς d. h. die Ma ss vo l l en ; der Held muss leiden­schaftlich erregt, mit menschlichen Schwächen (ὅμοιος) behaftet sein, wenn er in uns Furcht vor einem ihm bevorstehenden Leiden erregen will. Ausgeschlossen sind die σφόδρα πονηροί; tragisch ist nur: ὁ μήτε ἀρετῇ διαφέρων καὶ δικαιοσύνῃ, μήτε διὰ κακίαν καὶ μοχθηρίαν μεταβάλλων εἰς τὴν δυστυχίαν, ἀλλὰ δι`ἁμαρτίαν τινά, τῶν ἐν μεγάλῃ δόξῃ ὄντων καὶ εὐτυχίᾳ, οἷον, Οἰδίπους καὶ Θυέστης καὶ οἱ ἐκ τῶν τοιούτων γενῶν ἐπιφανεῖς ἄνδρες, d. h. ein solcher, welcher sich weder durch Tugend und Gerechtigkeit auszeichnet, noch auch durch Laster und Bosheit in’s Unglück stürzt, sondern durch eine bestimmte ἁμαρτία; und zwar muss er in einem ganz besonderen Ansehen und Glück gestanden haben, wie z.  B. Oedipus, Thyestes und überhaupt die hervorstechenden Männer aus solchen erlauchten Geschlechtern. Hiermit gebe ich jene unsterbliche Fundamentalstelle, auf welche sämmtliche moderne Schuldtheorien sich gründen. Selbst der sonst so feinfühlige Sime nimmt an, dass Aristoteles eine Schuld fordere, und da er nun an vielen Shakespeare’schen Gestalten nicht einen Schimmer von Schuld entdecken kann (vergl. p. 230 ff.), so wird die Aesthetik des Aristoteles für das moderne Drama abermals durchstrichen. Aristoteles bezeichnet als Musterfigur zunächst den Oedipus des Sophokles. Worin besteht die Schuld des Oedipus? Etwa darin, dass er im Drama leidenschaftlich aufbraust und gegen Menschen und Götter sich vermisst? Dies würde seine Leidenschaftlichkeit, seine Maßlosigkeit betreffen und wäre schon in den Worten μήτε ἀρετῇ διαφέρων καὶ δικαιοσύνῃ enthalten. Aristoteles sagt auch aus­drücklich, dass die μετάβασις erfolgen solle δι` ἁμαρτίαν: wird etwa Oedipus im Sophokleischen Drama in Folge jener Zornesaufwallung unglücklich oder würde er, wenn ihn der Dichter massvoller gezeichnet, nur um ein Haar weniger unglücklich werden? Eine Schuld, wenn anders vorhanden, kann nur ausserhalb des Dramas liegen. Dass er die Epikaste heirathet und den ausgeschriebenen Königsthron besteigt, wird wohl der radikalste Schuldtheoretiker ihm nicht anrechnen. Aber er tödtet seinen Vater. Unter welchen Umständen? Er begegnet seinem Vater im Hohlwege. Der Herold will ihn mit Gewalt aus dem Wege drängen. Oedipus schlägt ihn. Als er vorbei will, schlägt ihn der Alte von oben herab. Oedipus hat leidenschaftliches Blut. Er lebt im Heroenzeitalter. Er erschlägt wider Wissen seinen Vater. Wo ist, frage ich, hier eine Schuld? Die That ist die Folge einer berechtigten Zorneswallung und daher nicht auf Rechnung der ἁμαρτία sondern vielmehr des μὴ διαφέρων ἀρετῆ u. s. w. zu setzen.4 Und nun beachte man die namenlose 4 Va h l e n , Beitrag II. pag. 14, begreift unter ἁμαρτία alle diejenigen Verkehrtheiten, welche, wenn auch nicht unbewusst und unüberlegt, so doch nicht aus eigentlich böswilliger Absicht (vergl. Su s e m i h l , pag. 246), sondern aus Temperamentsschwächen, Leichtsinn,

140

Lessings Emilia Galotti in ihrem Verhältniss zur Poetik des Aristoteles

Tragik! Oedipus will sich dem verhängnissvollen Spruche entziehen, er flieht in bester Absicht Vater und Mutter, und gerade durch diese Flucht verfällt er den unerbittlichen Mächten. Wer ist hier schuldig? Oedipus oder das Schicksal? Man mag sagen, was man will: Die aristotelische ἁμαρτία ist zunächst keine Schuld, sondern ein auf ἀγνοία auf Nichtwissen sich gründender Irrthum, ein Fehler im besten Sinne des Wortes.5 Der Mensch begeht einen Irrthum, das Schicksal greift ihn auf und spinnt ihn zur schaudervollen Katastrophe. Aristoteles nennt neben Oedipus den Thyestes, welchen die bedeutendsten Athenischen Tragiker zum Vorwurf sich wählten. Ueber die Behandlung des Stoffes giebt Aufschluss die erhaltene Tragödie des Pseudo-Seneca, deren Plan von Lessing (Theatr. Biblioth. St. 1754 VII.: »Von den lateinischen Trauerspielen, welche unter dem Namen des Seneca bekannt sind« L. M. Bd. IV, pag. 320) kurz so bezeichnet wird: »Atreus will sich an seinem Bruder rächen; er macht einen Anschlag (d. h. er spiegelt eine Aussöhnung mit seinem Bruder Thyest vor, lockt ihn mit seinen Kindern zu sich, die er dann ermordet und dem Vater bei einem Gastmahle als Speise vorsetzt, vergl. Schröter-Thiele Dramat, pag. 237), der Anschlag gelingt und Atreus rächet sich. Thyestes wird unglücklich, weil er den Irrthum begeht, den Lockungen des Atreus sich zu vertrauen. Auch alle weiteren Stoffe, um welche nach Aristoteles die schönsten Tragödien sich bewegen, sind ähnlicher Art: … νῦν δὲ περὶ όλίγας οἰκίας αἱ κάλλισται τραγῳδίαι συντίθενται, οἷον περὶ Ἀλκμαίωνα καὶ Οἰδίπουν καὶ Ὀρέστην καὶ Μελέαγρον καὶ Θυέστην καὶ Τήλεφον καὶ ὅσοις ἄλλοις συμβέβηκεν ἢ παθεῖν δεινὰ ἢ ποιῆσαι. Alkmaion lässt sich vom Vater, Orestes vom Apollo bethören, die eigene Mutter zu tödten. Meleager erschlägt im Kampfe einen Bruder seiner Mutter und ward dafür von Letzterer verflucht. Telephos wird durch die Lanze des Achilles verwundet, ohne dass man eine Ahnung von seiner Stammverwandtschaft hat. Nirgends erscheint die ἁμαρτία als eine wirkliche Schuld, meistens als ein auf ἀγνοία sich gründender Irrthum. Jetzt wird auch klar, warum Aristoteles den Erkennungs- und Peripetiescenen so hohe Geltung zumisst. Jede Erkennung setzt eben ein Nichtwissen voraus, die Peripetie bedeutet einen Umschlag in das Gegentheil von dem, was man dem ganzen Verlaufe nach eigentlich erwartete. Wenn nun ein einfacher Fehler genügt, um den Helden in namenloses Leiden zu stürzen, so ergeben sich für das Wesen der Tragödie folgende wichtige Consequenzen: 1) Die schönste Tragödie ist nach Aristoteles eine reine Schicksalstragödie, Und wie sollte dies nicht der Fall sein? Nach Plato sind die Parzen die Töchter der ἀνάγκη. Die Nothwendigkeit sollte die Tragödie regieren und die Schicksalsgöttinnen wollte man davon ausschliessen? Die Tragik besteht, wenn ich recht sehe, in einem eigenthümlichen leidvollen Zusammentreffen verschiedener Umstände. Je eigen­tümlicher die Uebereilung, Aufwallung, Jähzorn und dergleichen, auch aus einer Ueberspannung an sich lobenswerther Gefühle hervorgehen. Solche Mängel aber sind schon durch die Worte μὴ διαφέρων … angezeigt. 5 G o t s c h l i c h , Lessings Aristot. Stud. pag. 88, spricht von einem Irrthume. der »eine derartige Hand­lung nach Aristoteles nur zu einem Fehler macht …«, fährt aber dann fort: »So kann Aristoteles eine S c hu l d an dem tragischen Helden fordern u. s. w.«

141

Bernhard Arnold

Fäden sich ketten und fügen, je weniger der Mensch Herr dieses Gefüges ist6, desto grösser ist die Tragik, desto schöner die Tragödie. Weniger tragisch sind diejenigen Stoffe, wo der Irrthum, der Fehler des Helden zu einer förmlichen Schuld sich verdichtet. Dass das Alterthum sehr viele Tragödien der Art kannte, wird Niemand in Abrede stellen. Aber man sei hier recht vorsichtig. Selbst Antigone, welche Hegel dem Oedipus bewundernd entgegenstellt, insofern sie am meisten der modernen Schuldauffassung entspräche, ist meiner Ueberzeugung nach eine völlige Schicksalstragödie. Beide, Kreon wie Antigone, vertreten zwei an sich völlig berechtigte Prinzipien. Dass aber solche Grundsätze überhaupt in Conflict mit einander gerathen können, ist doch im Grunde nichts denn Tragik des Menschenlooses. Schon Lessing (vergl. Dramat. St. 74) wies darauf hin, wie umfassend die Alten des Schicksals sich bedienten: »Sie schoben öfters lieber die Schuld auf das Schicksal, machten das Verbrechen lieber zu einem Verhängnisse einer rächenden Gottheit, verwandelten lieber den freien Menschen in eine Maschine, ehe sie uns bei der grässlichen Idee wollten verweilen lassen, dass der Mensch von Natur einer solchen Verderbniss fähig sei«. Es sei mir gestattet, an einem einzigen Beispiele zu zeigen, wie solche Erwägung sogar die Textkritik beeinflussen kann. Eurip. Med. vs. 1064 lautet nach Klotz und Kirchhoff: πάντως πέπρακται ταῦτα κοὐκ ἐκφεύξεται omnino haec facta atque transacta sunt neque evitari potuerunt. Dindorf schreibt πάντως πέπρωται (so ist’s vom Schicksal bestimmt) und bemerkt zur Stelle: πέπρωται C. πέπρακται ceteri nisi quod ω superscr. in V. Medea hat sich am treulosen Jason gerächt und dessen Braut Kreüsa getödtet. Dass sie jetzt noch zum Morde der Kinder schreitet, ist ein Act der Scheusslichkeit, der jedweder dramatischen Motivirung entbehrt. Trotzdem muss sie die Kinder tödten, weil es der Mythus verlangt, und es ist ganz angemessen und dem Geiste des Alter­ thums entsprechend, dass sie dem Verhängniss, dem Schicksale, unter dem sie selbst schmachte, die Schuld an jener Ruchlosigkeit aufbürdet. Dindorf hat mit Recht das handschriftlich weniger beglaubigte πέπρωται in den Text aufgenommen. 2) Wenn der Mensch nur in Folge eines Fehlers dem Verhängnisse verfällt, so kann die Wirkung der schönsten Tragödie zunächst nur eine p einvo l le sein. Hierauf zielen auch alle weiteren Bemerkungen des Aristoteles hin. Euripides sei der tragischste Dichter, weil seine Tragödien meist unglücklich enden. Freilich die Schwäche des Publikums verlange das Entgegengesetzte und verschiedene Dichter hätten sich auch hierin den Wünschen der Zuschauer gefügt, aber die wahre Absicht der Tragödie verfehlt. Man solle nicht jede Lust von der Tragödie erwarten, sondern nur die οἰκεία ἡδονὴ ἡ δι� ἐλέου καὶ φόβου. Untragisch sei die διπλῆ σύστασις wie in der Odyssee, wo 6 Man vergleiche hiermit die Worte der geistvollen R a h e l , das Wesen des Tragischen betreffend: »Tragisch ist das, was wir durchaus nicht verstehen, worein wir uns ergeben müssen; was. keine Klugheit, keine Weisheit vernichten kann, noch vermeiden, wohin uns unsere innerste Natur treibt, lockt, unvermeidlich führt und hält – wenn dies uns zerstört und wir mit der Frage sitzen bleiben: »Warum mir das? Warum ich dazu gemacht? Und wenn aller Geist und alle Kraft nur dient, die Zerstörung zu fassen, zu fühlen, oder — sich über sie zu zerstreuen.«

142

Lessings Emilia Galotti in ihrem Verhältniss zur Poetik des Aristoteles

die Besseren siegen, die sittlich Geringeren zu Grunde gehen. Hieraus folgt weiter, dass die Katharsis der Leidenschaften nicht bestehen kann in einem Gefühle der Befriedigung, welches daraus entspringe, dass man in dem Untergange des Helden das Unerschütterliche der sittlichen Weltgesetze erkenne. Es kann mir nicht einfallen, alle die mehr oder minder geistvollen, jene Danaidenfrage behandelnden Essays zu besprechen. Aber dennoch muss ich meine Ansicht kundgeben, insofern man mir ja entgegenhalten könnte, dass den obigen Erörterungen über das Wesen des Tragischen eben die Katharsis widerspräche. Thatsache ist, dass man bis heute nicht recht weiss, was Aristoteles unter der Reinigung der Leidenschaften sich dachte. Susemihl pag. 61 f. meint, dass Aristoteles jedenfalls hiermit einen tiefen Blick in das Wesen des Tragischen gethan habe, wie er sich aber die Sache gedacht, könne man nicht bestimmen, weil wir nicht im Stande seien, die aristotelische Katharsistheorie ihrem ganzen Umfange nach wieder herzustellen. Und doch ist der Philosoph einfach und klar wie immer. Katharsis ist nach Plato Cratyl. 415 d: ἀπόκρισις χειρόνων ἀπὸ βελτιόνων d. i. eine Absonderung des Schlimmeren vom Besseren, eine Art Verklärung. Man fasse παθήματα im Sinne von Ung lück , L eiden, und die aristo­telische Definition lautet: »Die Tragödie bewirkt durch Mitleiden und Schauder die Reinigung d. i. Ver­klärung der so beschaffenen Leiden.« Das bekannte solamen miseris socios habuisse malorum erscheint bei Aristoteles in vertiefter Fassung. Die Menschheit wandelt dahin unter dem dumpfen trüben Drucke des Leidens, der eine leidet mehr, der andere weniger. Der eine muss den Kelch des Leidens bis zur Neige leeren, der andere schlürft nur Tropfen des bitteren Wermuth. Aber keiner ist, der ohne Prüfung das Diesseits verliesse. Dadurch, dass der Zuschauer in der Tragödie zu Mitleiden und Schauder gezwungen wird, dadurch, dass ihm bejammernswerthe und schaudervolle Begebenheiten vorgeführt werden, dadurch, dass er sieht, wie Gewaltigere wegen kleiner Irrthümer und Fehler Furchtbares erlitten haben, soll er sein eigenes Leiden in verklärtem Lichte betrachten. Aristoteles stellt der Tragödie die höchste Aufgabe: sie soll dem Menschen sein eine Troststätte im Unglück. Ed. Zeller (Die Entwickelung des Monotheismus bei den Griechen, pag. 30) schreibt: »Die hellenische Philosophie hat nicht blos ausser der Kirche und gegen die Kirche, sondern auch in ihr und für sie gewirkt, und eine genauere Untersuchung würde zeigen, dass ihr Einfluss auf die christliche Theologie und die christliche Sitte von Anfang an ungleich umfassender und nachhaltiger gewesen ist, als man sich dies gewöhnlich vorstellt.« In der Katharsis erkenne ich eine Vorahnung christlichen Dogmas. Die christliche Kirche ver­weist die geplagte Menschheit auf das qualvolle Leiden Christi, den mit dem Tode Ringenden giebt sie im Abendmahl Trost durch die Erinnerung an das viel furchtbarere Leiden des Gekreuzigten. Was das Leiden Christi für den Christen, das ist die Tragödie für den Griechen, nur mit dem einen Unterschiede, dass die mittelalterliche Kunst im Dienste der Kirche bis zu fratzenhaft entstellten Gesichtszügen des Welterretters gelangte, während bei den Griechen Religion und Kunst sich die Hand bieten und die Tragödie bei aller Darstellung qualvollen Leidens immer innerhalb der 143

Bernhard Arnold

Grenzen des Schönen sich bewegte. Es ist natürlich, dass je nach den eigenen Leiden auch die Katharsis bei den verschiedenen Menschen verschieden sein wird. Je grösser und gewaltiger das eigene Leiden, desto mächtiger die Katharsis, je grösser Wissen, Einsicht, Erfahrung, desto ungetrübter der künstlerische Genuss. Niemand sage, dass er den Faust verstanden, der nicht den heiligen Schmerz dieses Himmelsstürmers empfunden und in gewissem Sinne in eigner Brust die Welt der Qualen durchlebte, unter denen Faust innerhalb der oberflächlichen Menschheit schmachtet. Oder hätten etwa Werthers Leiden den Weg um die gebildete Welt gefunden, wenn nicht Werthers weltschmerz­liche Verzückung die gesammte damalige Jugend beherrscht hätte? Die κάθαρσις τῶν παθημάτων hängt zusammen mit dem Geheimnisse, mit der Seele jedes künstlerischen Genusses. Jetzt erst gewinnt das viel­umstrittene τοιούτων für τούτων seine wahre Bedeutung. Von der Beschaffenheit des ἔλεος nämlich sind die ἐλεεινὰ, οἰκτρὰ παθήματα, d. h. die im Sinne des ἔλεος Thränen bewirkenden bejammernswerthen Leiden, von der Beschaffenheit des φόβος die φοβερὰ oder δεινὰ παθήματα, die im Sinne des φόβος durchfröstelnden, furchtbaren, schaudervollen, gewaltigen Leiden. Jetzt erst erklärt sich, warum Aristoteles behauptet ἀναγνώρισις wie περιπέτεια dürfe im Drama fehlen, πάθος Leiden müsse vorhanden sein und warum er gerade das Peinvolle als dem Wesen der Tragödie entsprechend betrachtet. Je grösser das Leiden des Helden, je peinvoller der aus der ἁμαρτία resultirende Ausgang der Tragödie — natürlich innerhalb der von Aristoteles selbst gezogenen Grenzen — desto geringer und erträglicher muss mir mein eigenes Leiden erscheinen. Jetzt erst versteht man, warum die griechischen Tragiker nie über die Behandlung des Sagenkreises hinaus­ gingen. Was konnte verklärender auf die eigenen Leiden der Zuschauer wirken als die Betrachtung, dass selbst jene hohen Geschlechter, deren Ruhmesthaten die Sterne erreichten, in furchtbarem Leiden zu Grunde gingen. Das Unglück ist von jeher ein bindender Factor gewesen. Das Mitleiden hat mächtige Freund­schaften geschlossen. Im Unglücke fühlen sich die Menschen einander verwandt. Ich habe öfters darüber nachgedacht, warum die Liebe in der antiken Tragödie gar keine Rolle spielt. Geliebt hat man zu allen Zeiten, unter Liebesqualen werden wir seufzen, so lange überhaupt Menschen diesen Planeten betreten. Wie kam es, dass die griechische Tragödie von selbst eines Feldes sich begab, worauf die Lyriker und später die bucolische Muse Theokrits und der griechische Roman hervorragende Triumphe errangen? Was man bis jetzt hierüber vorgebracht, ist wenig überzeugend. Man habe, sagt man, Liebesscenen gemieden, weil die Tragödie im Dienste der Götter gestanden: als ob nicht Eros und Aphrodite unter die mächtigsten Gottheiten zählten. Die antike Tragödie, behauptet man, spiele vor dem versammelten Volke, die Liebe gehöre der bräutlichen Kammer: als ob nicht auch bei uns die Liebesscene schon dadurch, dass sie der öffentlichen Aufführung bestimmt wird, dem Geheimnisse des Thalamus sich entzöge. Vielleicht eröffnet unsere Ansicht über die Katharsis eine annehmbarere Perspective für das vorliegende Problem. Das Liebesleiden ist zu allgemein menschlich und gewöhnlich, erschien den Alten zu wenig erhaben, als dass seine Darstellung kathartisch hätte wirken können. Man verbannte es aus Tragödie und Epos und verwies es in die Lyrik, die Epopoee und den Roman. Das Resultat ist ein vierfaches: Die höchste Tragik richtet den Menschen schuldlos 144

Lessings Emilia Galotti in ihrem Verhältniss zur Poetik des Aristoteles

zu Grunde, die schönste Tragödie ist eine reine Schicksalstragödie, das Peinvolle, der unglückliche Ausgang ist dem Wesen der Tragödie entsprechend, von einer Befriedigung, sittlichen Erhebung, Versöhnung kann nicht die Rede sein, wohl aber von einer Reinigung und Verklärung der so beschaffenen Leiden. Wie stellt sich hierzu die moderne Tragödie? Ich kann mich kurz fassen, insofern schon Sime pag. 231 gerade an den rührendsten Shakespeare’schen Frauengestalten nicht die mindeste Schuld entdecken kann. Nur die elendeste und hausbackenste Moral kann Julien einen Schimmer von Schuld andichten. Sie wie Romeo erliegen lediglich in Folge eines Irrthums der ungünstigen Fügung des Schicksals. Welche Sünde hat Ophelia begangen, dass sie in Wahnsinn und Tod getrieben wird? Wodurch verdient Desdemona ihr Schicksal? Weil sie das Unglück hat, das Taschentuch zu verlieren, spinnt ihr das Schicksal die leid­volle Katastrophe. Wie stimmt dies mit Hettner (Göthe und Schiller I., pag. 152), welcher den Begriff der tragischen S chu ld und. deren nothwendige Ableitung aus dem Charakter des Helden als das eigenste Lebensgeheimniss Shakespeare’scher Tragik betrachtet? Es hat mich nie recht angemuthet, wenn ich sah, wie derselbe Kritiker in criminalistischem Drange auf fortwährender Jagd nach Schuld sich befindet. Da muss Faust schuldig sein, weil er in titanischem Unendlichkeitsgefühle nach dem reinen Genusse der Wesens-Gleichheit des Erkennenden mit dem Erkannten dürstet und lechzet. Wer ist hier mehr zu verklagen, Faust oder vielmehr die Macht, welche ihn mit jenem Drange begabte? Selbst das rührendste Gretchen ist nimmer sicher vor Hettner, Was in aller Welt hat dieses Urbild deutscher Naivität und Kindlichkeit ver­brochen? Dass sie mit der ganzen Gluth erster Liebe für Faust entbrennen kann, darum dürfte sie manches deutsche Mädchen beneiden. Dass sie der Mutter zuviel des Schlaftrunks verabreicht und ihren Tod bewirkt, ist ein Versehen, ein Fehler, eine μεγάλη ἁμαρτία im besten Sinne des Wortes. In dieser zartesten Gestalt eine Schuld erspüren wollen, heisst den Character in schulmeisterliche Zwangsstiefeln schnüren, ist eine Ver­sündigung an Göthes Genie. Ich behauptete oben, dass selbst Antigone, welche am meisten der modernen Tragödie sich nähert, im Hinblick auf den Conflict zweier völlig berechtigten Principien als reine Schicksalstragödie mir erschiene. Dasselbe liesse sich vom Clavigo behaupten. Ueberhaupt sei hier endlich ausgesprochen, was ich schon längst hätte sagen sollen. Es ist klar, dass in sehr vielen, vielleicht den meisten Tragödien eine förmliche Schuld des Helden vorhanden ist, aber ohne jedwede Mitwirkung des Schicksals ist weder eine antike noch eine moderne Tragödie denkbar. Denn wenn es wahr ist, dass das Tragische aus einem eigenthümlichen Zusammentreffen der Umstände hervorgeht, so stossen wir überall auf eine Macht, welche über den tragischen Personen stehend die Umstände zur Tragik kettet und fügt. Von einer Schicksals­tragödie zu reden ist ein tautologischer Schnitzer, der Begriff des Tragischen schliesst das Schicksal in sich. Ohne Schicksal keine Tragik, keine Tragödie. Sache des Dichters ist es, das scheinbar zufällige Walten des Schicksals in die eiserne Kette von Ursache und Folge zu bannen. Dem Vorstehenden nach kann es gar nicht mehr zweifelhaft sein, dass die schönste moderne Tragödie ebenso wenig wie die antike eine sittliche Erhebung oder Befriedigung zu bewirken vermag. Hermann Grimm (Vorlesungen über Göthe I. pag. 70) macht darauf aufmerksam, dass einer seiner Jugendfreunde mit Vorliebe auf die 145

Bernhard Arnold

Beweisführung zurückgekommen, Shakespeare habe kein Recht gehabt, Romeo und Julie umzubringen. Der Betreffende hatte das richtige p einvo l le Gefühl. Befriedigung würde er nur bei der Rettung beider empfunden haben. Wer die schaudervolle Kerkerscene, das Höchste Göthe’scher Dramatik, mit Herz und Gemüth durchlebte, der kann wohl Trost geschöpft haben für sein eigenes Leiden, sittlich befriedigt wird er schwerlich das Theater verlassen. Und wenn die Stimme von Oben Gretchen das Jenseits sichert, wenn die Familien der Capulets und Montagues über den Leichen ihrer Kinder sich versöhnen, wenn überhaupt Shakespeare in vielen Fällen auf den Trümmern der Vernichtung den Ausblick auf ein neu erblühendes Leben eröffnet, so ist dies etwas ganz Zufälliges, hat mit dem Wesen der Tragödie gar nichts zu schaffen, ist eine Concession des Dichters an die Schwäche seiner Hörer. Wir glauben erwiesen zu haben, dass in den bisher angezogenen Gesetzen antike und moderne Tragödie übereinstimmen. In einem Puncte gehen beide total auseinander: Aeschylus und Sophocles kennen nur edle (χρηστοί) Charactere, Aristoteles verwirft die schlechten, Shakespeare, Göthe, Lessing schaffen in diesem genus muster­ giltige Gestalten. Warum kennt die antike Tragödie keine schlechten Charactere? 1) Die griechische Tragödie entwickelte sich aus den lyrischen Chorgesängen zu Ehren der Gottheit. Sie trägt in den besten Zeiten ein durchaus ideales Gepräge. 2) Kein einziges Drama der genannten Meister zeigt uns den Helden im gewaltigen Ringen um die That, welche in den meisten Fällen der Vorfabel angehört (ἔξω τοῦ δράματος). 3) Der Grieche hat die Vorstellung von einer auf menschliches Glück neidischen Gottheit, die durch Orakelsprüche u. dergl. die jammervollen Sterblichen täuscht und überlistet. Folglich ist im Drama der das böse Princip vertretende Gegenspieler nicht nöthig. Es versteht sich von selbst, dass gegentheilige Bedingungen mit Naturnothwendigkeit die schlechten Charactere erzeugten. 1) Die moderne Tragödie entwand sich dem Dienste der Religion. Ihre Idealität musste sinken. 2) Das moderne Drama entsprang der den Germanen eigenen Freude an Thaten, an Begebenheiten. Die Vorführung schaudervoller Thaten auf der Bühne, der innere Kampf des Helden um die leidvolle That muss die sittliche Beschaffenheit der tragischen Figuren mehr oder minder verringern. 3) Die Vorstellung vom neidischen Schicksale schwand zu Gunsten des liebevollen Gottes. Der Intriguant, der böse Gegenspieler übernimmt die Rolle des missgünstigen Schicksals.7 Die Idealität schwindet, das dramatische Leben gewinnt. Von solchem Standpunkte aus sind Jago, Mephisto und andere ohne Weiteres gerechtfertigt. Hätte Aristoteles unter modernem Einflusse geschrieben, er würde schwerlich die schlech7 Shakespeare hat dann und wann das Schicksal im rein antiken Sinne verwerthet: Vergl. die Hexen im Macbeth … (vergl. hierzu Fr i e s e n: Ueber Shakespeare’s Macbeth, ShakespeareJahrbücher IV, pag. 198 ff.).

146

Lessings Emilia Galotti in ihrem Verhältniss zur Poetik des Aristoteles

ten Charactere verworfen haben. Hat er sie wirklich völlig verwiesen? Aristoteles bezweckte durch seine Poetik, die sinkende tragische Kunst zu heben. Dass er dem Dichter an den süssen Sophocles sich anzuschliessen empfiehlt, ist ebenso wenig zu verwundern, wie der Wunsch, dass jener lieber edele als gemeine Charactere nachahme. Als Fehler aber (ὀρθὴ ἐπιτίμησις, vergl. Poet. 25, § 19, Teichmüller I. pag. 167) soll die μοχθηρία oder πονηρία nur dann gelten, ὅταν μὴ ἀνάγκης οὔσης μηθὲν χρήσηται … τῇ πονηρίᾳ. Nach diesem Gesetze seien zu verwerfen Menelaos und Polymestor im Orest und in der Hecuba des Euripides. Mit anderen Worten: nach Aristoteles stehen und fallen die niedrigen Charactere je nach der ἀνάγκη, der Nothwendig­keit, je nach der dramatischen Motivirung. Ich habe es immer als genialen Griff Shakespeare’scher Meister­schaft empfunden, dass Gloster sofort in der Eingangsscene sich dahin äussert: Und darum, weil ich nicht als ein Verliebter kann kürzen diese fein beredten Tage, b in ich g e wil lt, ein B öse wicht zu werden, und Feind den eitlen Freuden d ieser Ta g e. Nach solch ausgesprochen mörderischer Absicht kann und darf der Hörer nur schaudervoll zermalmende Wirkung erwarten.

III. Der geringe Raum, welcher einer Programmabhandlung zusteht, ermöglichte mir vielmehr Andeut­ungen, als Ausführung. Auch dieser letzte Theil wird in aphoristischer Kürze gehalten sein. Wir fanden Em il ia unschuldig, wir sahen, dass die schönste antike wie moderne Tragödie keine Schuld, nur Fehler, Irrthum verlange. Wer noch daran zweifelt, dass schon Lessing die aristotelische ἁμαρτία in diesem Sinne richtig fasste, der schlage nach: 1) Briefwechsel mit Nicolai, vergl. Julian Schmidt »die deutsche Lit. zur Zeit des siebenj. Krieges« Grenzboten 1879, Nr. 20 f. »Freilich muss an dem Helden ein gewisser Fehler sein, durch den er sein Unglück über sich gebracht hat, weil ohne diesen sein Character und sein Unglück kein Ganzes ausmachen würden. Entsetzen und Abscheu ohne Mitleid würde es erregen, wenn kein Zusammenhang zwischen der Güte des Helden und seinem Unglück wäre.« 2) Dramat. St, 82: … ein Mensch kann sehr gut sein und doch mehr als eine Schwachheit haben, mehr als einen Fehler begehen, wodurch er sich in ein unabsehliches Unglück stürzet, das uns mit Mitleid und Wehmuth erfüllet, ohne im geringsten grässlich zu sein, weil es die natürliche Folge seines Fehlers ist.« Diesen Fehler sehen wir darin, dass Em il ia in Uebereinstimmung mit der Mutter in bester Absicht ihrem Bräutigam die Zusammenkunft mit dem Prinzen verheimlicht. Was in bester Absicht unternommen wird, bewirkt wie im Oedipus die leidvolle Katastrophe. Hätte Appiani nur eine Andeutung empfangen, so konnte der Mord in der Weise, wie er im 3. Acte sich ereignet, entweder nicht geschehen, oder er büsste ein an zwingender Notwendigkeit. Da nun Appiani auch nicht die leiseste Ahnung von der Annäherung des Prinzen haben durfte, sah sich der Dichter sogar zu einer 147

Bernhard Arnold

kleinen Unwahrscheinlichkeit (ἄλογον) gezwungen, Marinelli und Appiani sind II, 10 in heftigen Streit gerathen, Claudia muss von draussen Zeugin des Wortwechsels gewesen sein, damit in echt dramatischer Weise der sehnlichste Wunsch Marinellis, Gewissheit vom Tode Appianis (vergl. III, 2), in demselben Augenblicke erfüllt wird, wo er zugleich seinen Schurkenstreich entdeckt sieht (vergl. III, 8). Dann erwartet man aber auch, dass Appiani II, 11 der Claudia den Grund dieses Wortgefechtes mit­ theilt. Warum letzteres nicht geschieht, liegt auf der Hand. Hätte nämlich Claudia von jener beabsichtigten Mission nach Massa erfahren, so konnte sie den Liebesantrag des Prinzen kaum mehr verschweigen; und wenn Appiani wusste, dass jener Antrag von dem Manne ausging, welcher wenige Stunden vorher seiner Braut eine Liebeserklärung gemacht hatte, so wäre er zum mindesten vorsichtiger gewesen. Em i l i a ist in echt tragischem Sinne schuldlos. Wie verträgt sich hiermit das oben nicht gelöste Problem »die Verführung« betreffend, welche nothwendig eine Liebesneigung und somit eine Schuld E m i l i a s bedingt. Man stelle sich die Sache vor, wie sie ist, und man wird das Richtige finden. Nachdem Oedipus über seine Abkunft Klarheit erhalten, will er die Sonne nimmer schauen. Er blendet sich. Nachdem Thekla über Maxens Tod unterrichtet, tritt sie ab. Der Dichter giebt nichts Genaueres über ihr ferneres Thun. Dass sie in freiwilligen Tod geht, ist auf Grund ihres Monologs wohl die natürlichste Annahme. Em il ia hat ihr Liebstes und Bestes verloren. Wer will es der Unglücklichen verargen, wenn sie den Tod sucht. Dass sie in den Händen des Räubers bleiben soll, muss sie in ihrem Entschlusse bestärken. Odoardo zeigt ihr den Dolch mit dem Bemerken, er habe schon nach diesem Dolche gegriffen, um einen von beiden oder beide, Marinelli und den Prinzen, zu durchstossen. Um nun den Vater zu bestimmen, dass er ihr den Dolch einhändigt, oder mit eigener Hand die That an ihr vollzieht, berührt sie die Stelle, wo der Alte am Empfindlichsten ist: sie spricht von Verführung. Dieses eine Wort muss ihn bestimmen, wenn anders der Odoardo des 5. Actes dem alten Murrkopf der früheren Aufzüge entspricht. Jetzt erst versteht man die feste und meisterhafte Characterzeichnung Odoardos, der auf Schritt und Tritt über der Unschuld seiner Tochter wacht (vergl. II, 2 u. 4). Jetzt erst versteht man, warum Claudia Emilien gegenüber (vergl. II, 6) die Ungeduld des Vaters segnet, der — dem Himmel sei Dank — nichts von der Annäherung des Prinzen erfahren: »In seinem Zorne hätte er den unschuldigen Gegenstand des Verbrechens mit dem Verbrecher verwechselt. In seiner Wuth hätte ich Ihm geschienen, das veranlasst zu haben, was ich weder verhindern, noch vorher sehen können.« Ich wiederhole: die »Verführung« ist nicht ernstlich gemeint, sie ist ein Vor­wand, wodurch Em i l i a den erlösenden Tod zu finden hofft. Hiermit ist ein sittlicher Mangel des Characters zugegeben, den Lessing auch sonst in feinster Weise andeutet. Ueber ihr Verhalten bei der Erklärung des Prinzen berichtet Emilia II, 6: »Er sprach und ich hab ihm geantwortet …«, während der Prinz zweimal III, 3 u. 5 hervorhebt, er habe ihr mit allen Schmeicheleien und Betheuerungen kein Wort aus­pressen können. Ebenso versichert sie V, 8 nicht der Vater, sie selbst habe sich getödtet. Odoardo: »… Gehe mit keiner Unwahrheit aus der Welt …«. Solch winziger Schimmer von Unwahrhaftigkeit ist völlig im Sinne des aristotelischen μὴ διαφέρων ἀρετῇ καὶ δικαιοσύνῃ und hat dieselbe Bedeutung, wie wenn Brabantio über Desdemonen zu Othello sagt: 148

Lessings Emilia Galotti in ihrem Verhältniss zur Poetik des Aristoteles

»Sei wachsam, Mohr! Hast Augen du zu seh’n, Den Vater trog sie, so mag’s dir geschehn.« Die Einwände gegen den Ausgang unserer Tragödie waren zwiefacher Art: man wünschte, dass Odoardo vielmehr den Prinzen und seinen schuftigen Minister mordete, oder dass wenigstens beide nicht so wohlfeil ausgingen, mit andern Worten, dass Gonzaga und Marinelli ebenfalls zu Grunde gingen. Man hatte Lessing wiederholt gebeten, den Ausgang zu ändern. Sicher wäre es ihm ein Kleines gewesen, den Wünschen des Publikums zu entsprechen. Lessing änderte nicht, weil er im ersteren Falle die von Aristoteles als untra g isch ver worfene δ ιπλῆ ἔξ ο δ ο ς erlangte, wo wie in der Odyssee die Besseren überleben, die Schlechteren zu Grunde gehen. Auf diese untragische Composition weist er selbst hin Dramat. St. 82: Corneille hatte behauptet, Aristoteles habe zwei oder drei Arten des Ausganges nicht gekannt, z.  B. wenn ein sehr Tugendhafter durch einen sehr Lasterhaften verfolgt wird, der Gefahr aber entkommt, und so, dass der Lasterhafte sich selbst darin verstricket. Lessing antwortet: »Das mag Corneille sonst Jemanden weiss machen, dass Aristoteles diese Manier nicht gekannt habe! Er hat sie so wohl gekannt, dass er sie, wo nicht gänzlich verworfen, wenigstens mit ausdrücklichen Worten für angemessener der Comödie als Tragödie erklärt hat.« Schwerer wiegt der andere Wunsch, der Prinz hätte mindestens ebenfalls zu Grunde gehen müssen. Ob Aristoteles auch an solchen Ausgang gedacht hat, wage ich nicht zu entscheiden: er versteht unter ἁπλῆ den unglücklichen Ausgang der tragischen Figur, z.  B. des Oedipus, unter διπλῆ die oben analysirte Composition. Hören wir daher Lessing selbst: 1) Die Semiramis des Voltaire, vergl. Dram. St. 12, wird getadelt, weil das Laster bestraft wird. In der Schottländerin hatte Voltaire von einer Bestrafung Frelons abgesehen, insofern sie dem Haupt­interesse zu schaden schiene. »Dem Italiener,« fährt Lessing fort, »dünkte diese Entschuldigung nicht hin­länglich, und er ergänzte die Bestrafung des Frelon aus seinem Kopfe, denn die Italiener sind grosse Lieb­haber der poetischen Gerechtigkeit.« Lessing liebt nichts weniger als poetische Gerechtigkeit, wodurch die Tragödie zu einer Strafanstalt für menschliche Laster herabgedrückt wird. 2) Getadelt wird das Tödten ohne zwingende Nothwendigkeit. St. 2 (mit Bezug auf Cronegks Olint und Sophronia): »Der Tod löst alle Verwirrungen am Besten.« Daher lässt er sie beide sterben. St. 49 mit Bezug auf Euripides: »… Denn das Kunststück wäre ihm ja bald abgelernt; und der Stümper, der brav würgen und morden und keine von seinen Personen gesund oder lebendig von der Bühne kommen liesse, würde sich ebenso tragisch dünken dürfen, als Euripides« Odoardo endlich sagt V, 8: »Sie erwarten vielleicht, dass ich den Stahl wieder mich selbst kehren werde, um meine That wie eine schaale Tra g ö die zu beschliessen.« Nun lässt Maffei in der Merope Ismenen ausrufen: »Welch’ wunderbare Begebenheit, wunder­barer, als sie jemals auf einer Bü hne erd ichtet worden.« Lessing (Dramat. St. 42) tadelt den Dichter, insofern die Ausdrücke »Bühne, erdichten« den Zuschauer an seine Illusion erinnerten. Der Dichter habe die Pflicht, den Zuschauer möglichst vergessen zu machen, dass er im Theater sich befindet. Wenn er nun selbst aber einen ähnlichen Fehler begeht (vergl. schaale Tragödie), so musste er eine bestimmte Absicht damit verbinden. Und in der 149

Bernhard Arnold

That brechen Odoardos Worte eine Lanze zu Gunsten des vorliegenden Aus­ganges. Lessing zielt hin auf alle jene Schauerdramen, welche ohne Noth am Ende Leichen über Leichen häufen. Nach Lessing (vergl. Dramat. St. 77) ist die Tragödie die Nachahmung einer mitleidswürdigen Handlung, Em il ia ist die tragische Figur, durch einen Fehler verfällt sie dem Schicksal. Ihr leidvoller Ausgang hat unser Mitleiden erregt. Alle weiteren Forderungen liegen ausserhalb des Wesens der Tragödie. Der Dichter hat vielmehr die Pflicht, dieses Hauptinteresse durch neue Schlächtereien nicht zu schwächen. Der peinvolle Ausgang entspricht der Natur des Tragischen. Zugegeben, könnte man noch einwenden, dass die grössere Tragik den Tod des Prinzen verschmäht, musste der Dichter durch die Schlussworte das sittliche Gefühl der Hörer geradezu verletzen? Zugegeben, dass mit Em il ia s Tode die Absicht der Tragödie erreicht ist, wozu noch die letzte Scene? Wohl muss es verletzen, wenn der Prinz sich zu reinigen sucht und die Schuld seinem unwürdigen Minister zuschiebt. Was aber dem Gefühle des weniger Gebildeten nicht zusagt, ist für den Wissenden eine Quelle der Schönheit. Die tragische Kunst, wenn anders sie das höchste ist, was den jammervollen Sterblichen d i e G o t t heit verliehen, sie muss, sage ich, durchaus aristokratisch sein, sie verlangt einen höheren Grad von Einsicht. Wer den Aristoteles kennt, wird wissen, wie sehr er die Gleichmässigkeit der Charactere betont (vergl. Poet. c. 15). Lessing erörtert unter anderen diesen Punkt Dramat. St. 34: »Uebereinstimmung! Nichts muss sich in den Charakteren widersprechen, sie müssen immer einförmig, immer sich selbst ähnlich bleiben: sie dürfen sich jetzt stärker, jetzt schwächer äussern, nachdem die Umstände auf sie wirken; aber keine von diesen Umständen müssen mächtig genug sein können, sie von schwarz auf weiss zu ändern.« Und nun vergleiche man Act 1, 6 mit dem Schlusse des Dramas. Dort klagt der Prinz, dass der, welcher ihn immer seiner innigsten Freundschaft versichert, ihn hämisch betrogen; hier beschuldigt er ihn, dass ein Teufel in seinen Freund sich verstellet. In dieser einzigen Gleichmässigkeit der Characterzeichnung erkenne ich den wahren, den echten Lessing, welcher, der Würdigste neben Friedrich dem Grossen, einsam auf lichter Höhe dahinwandelt, in eiserner Consequenz weder rechts noch links schauend, im Tempel der re in en Kunst die Statue des grossen Griechen bekränzend, unbekümmert um das Pygmäengeschlecht seiner Zeitgenossen. Je öfter die Lebensatmosphäre durch fortwährende Compromisse getrübt wird, desto reiner, desto schwankenloser soll die Sphäre der Kunst sein. Der Bösewicht, welcher als Schuft zur Grube fährt, ist in der Tragödie ungleich sympathischer als der zur Tugend bekehrte Sünder. Die Tragödie hat mit Em il ia s Tode ihre Absicht erfüllt. Wozu die letzte Scene? Auch hierüber hat sich Lessing ausgesprochen. Die Zaire des Voltaire war in’s Italienische übersetzt worden. »Es ist doch sonderbar«, vergl. Dramat. St. 16, »wie weit sich hier der deutsche Geschmack von dem welschen entfernet! Dem Welschen ist Voltaire zu kurz, uns Deutschen ist er zu lang. Kaum hat Orosman gesagt »verehret und gerochen«, kaum hat er sich den tödtlichen Stoss beigebracht, so lassen wir den Vorhang niederfallen. Ist es denn aber auch wahr, dass der deutsche Geschmack dieses so haben will? Wir machen dergleichen Verkürzung mit mehreren Stücken; aber warum machen wir sie? Wollen wir denn im Ernst, dass sich ein Trauerspiel wie 150

Lessings Emilia Galotti in ihrem Verhältniss zur Poetik des Aristoteles

ein Epigramm schliessen soll? …«. Die Schlussscene in Em il ia Ga lotti polemisirt gleichsam gegen den in Deutschland herrschenden Ungeschmack; sie hat für die Tragödie denselben Sinn, wie in der Musik der austönende Schlussaccord. Man hatte ferner in dem Auftreten der Orsina die zwingende Notwendigkeit vermisst. Sime behauptet, sie bewirke nichts, was nicht jede andere Person bewirken könne. Lessing hätte gerade mit der Figur, auf die er sich am meisten einbildete, gegen ein Hauptgesetz des Dramas gesündigt. Es ist bedauerlich, dass der Raum es mir nicht vergönnt, die Feinheit Lessingscher Motivirung auf Schritt und Tritt nachzuweisen. Wunderbar! Ueberall die strengste und schärfste Begründung — das weiss Sime, das wissen Alle — und in der Orsina soll Lessing gefehlt haben! Wie stellt sich Orsina zur Katastrophe? Der Prinz und Marinelli sind Mörder. Der einfachste und gewöhnlichste Ausgang wäre gewesen, wenn Odoardo an dem Räuber seines Glückes sich rächte. Die Er war tung des Pub l ikums fordert den Tod des Prinzen — und in Wahrheit ist er auch von Odoardo geplant, — die tra g ische Kunst verlangt den Hingang Em il iens . Den Uebergang von der beabsichtigten Ermordung des Prinzen auf den wirklichen Ausgang zu vermitteln und zu begründen ist die ureigenste Aufgabe der Orsina, freilich ohne dass sie selbst sich dessen bewusst. ist, geschweige denn, dass sie es wünschen kann. Sie hat den Dolch an Odoardo gegeben, damit er den Prinzen ermorde. Odoardo verlässt mit dieser Absicht die Bühne. Es ist falsch, wenn Freytag pag, 262 behauptet, nach dem 4. Acte dürfe der Vorhang nicht fallen. Die nothwendige Pause zwischen dem 4. und 5. Acte umfasst vielmehr die inneren schwankungsvollen Kämpfe Odoardos, den gewaltigen seelischen Process, dessen Resultat er V, 2 mit­theilt: »Nichts verächtlicher, als ein brausender Jünglingskopf mit grauen Haaren. Ich hab es mir oft gesagt. Und doch liess ich mich fortreissen: und von wem? Von einer Eifersüchtig en, von einer vor Eifersucht Wa hnwitz ig en . — Wa s hat d ie g ekrän kte Tug end m it der R ache des La sters zu schaffen? Jene a l lein hab ich zu retten .« — Odoardo verwirft die Tödtung des Prinzen, weil sie eine Verworfene befohlen, weil er die Sache des Lasters mit der gekränkten Tugend identificiren würde. Die la ster vo l le Me g äre muss ihm den Dolch aufzwingen, auf dass verständlich werde, warum Odoardo seinen ersten Plan fallen lässt und zu dem Entschlüsse kommt, durch Entziehung der Tochter den Mörder ihres Glückes um so empfindlicher zu schädigen. Fassung hat er sich gelobt in jener Stunde furchtbarsten Seelenkampfes, Ruhe gegenüber der leidenschaftlichen Gier der Orsina. Wie schön und consequent ist Odoardo gezeichnet, wenn bald darauf abermals die alte Leidenschaft ihn befällt und nur das eine Wort des Prinzen »Fassen Sie sich, lieber Galotti« genügt, um die Hand vom Dolche abzulenken. Wie meisterhaft ist der Character gearbeitet in seinem Ringen und Schwanken vor der letzten Entscheidung. Lessing tritt in Shakespeares unnahbare Nähe. Fliehen will Odoardo, der Himmel, der sein Kind unschuldig in diesen Abgrund gestürzt hat, der ziehe sie wieder heraus. Da erscheint Em il ia . Dass er ihr Auftreten in diesem Momente als einen Wink des Himmels auffasst. der seine Hand fordere, könnte wenig gefestet, könnte zufällig erscheinen, wenn nicht auch hiergegen der Dichter sich verwahrt hätte. Es giebt keinen Zufall, so lautet das glänzende Raisonnement der Orsina . Das Wort Zufall ist Gotteslästerung. Nichts unter der Sonne ist Zufall. »Allmächtige, allgütige 151

Bernhard Arnold

Vorsicht, vergieb mir, dass ich mit diesem albernen Sünder einen Zufall genannt habe, was so offenbar Dein Werk, wohl gar Dein unmittelbares Werk ist.« Und nun noch eine kurze Schlussbemerkung über Marinelli. Dass die moderne Tragödie den bösen Gegenspieler im Sinne des neidischen Schicksals der Griechen nothwendig bedingt und sonach unbewusst wie Shakespeare und Andere auch Lessing das Richtige fand, kann für uns nicht massgebend sein. Auch die Dramat. St. 79 und 82 angedeuteten, die schlechten Charactere betreffenden Grundsätze 1) man dürfe den Teufel das Stück hindurch über seine Bosheiten nicht triumphiren lassen, 2) man solle lasterhafte Charactere nach Du Bos’ Grundsatze vielmehr den Nebenrollen zutheilen, könnten wohl mehr oder minder für Marinelli in Betracht kommen, treffen aber nicht den Kernpunkt der Sache. Hier handelt sich’s lediglich darum: kann der teuflische Marinelli im Sinne des von Lessing vergötterten Aristoteles bestehen? Wir sahen oben, dass Aristoteles den Dichter dann verurtheilte. wenn die Schlechtigkeit der Nothwend ig keit zu entbehren scheine. Diese Stelle hatte Lessing ohne Zweifel im Sinne, wenn er Dramat. St. 30 schreibt: »Der grösste Bösewicht weiss sich vor sich selbst zu entschuldigen, sucht sich selbst zu überreden, dass das Laster, welches er begeht, kein so grosses Laster sei, oder dass ihn d ie unvermeid l iche Nothwend ig keit es zu b e g ehen treib e. Es ist wider alle Natur, dass er sich des Lasters als Lasters rühmet und der Dichter ist äusserst zu tadeln, der aus Begierde etwas Glänzendes und Starkes zu sagen, uns das menschliche Herz so verkennen lässt, als ob seine Grundneigungen auf das Böse als auf das Böse geben könnten.« Und nun mache man die Anwendung auf Marinelli. Es gilt Em il ien für den Prinzen zu retten. Er sinnt nicht sofort auf den Mord Appianis, sondern auf seine Entfernung. In der vorletzten Scene des 2. Actes überbringt er letzterem den Auftrag als Gesandter nach Massa zu gehen. Appiani schlägt aus und beleidigt Marinelli tödtlich. Am Vormittage hat der Zwist stattgefunden, in wenigen Stunden soll die Trauung erfolgen! Was soll Marinelli thun? Die unerhörte Beleidigung schreit nach Rache. Die Gunst bei dem Fürsten steht auf dem Spiele. Die Kürze der Zeit treibt mit Naturnothwendigkeit zu dem mörderischen Entschlusse. Jetzt erst wird offenbar, warum Lessing in seiner Mustertragödie aufs peinlichste an der Einheit der Zeit festhält, obwohl er sie in der Dramaturgie als unwesentlich bekämpft: Lessing wahrt die zeitliche Einheit und drängt die Ereignisse möglichst zusammen, damit die scheussliche That MarinelIis an zwingender Nothwendigkeit gewinne. Ich enthalte mich jedwedes zusammenfassenden Lobes. Ob vorliegende Erörterungen genügen, um die gegen Emilia Ga lotti geschleuderten Vorwürfe zu vernichten, ob Lessing an seinen und des Aristoteles Grundsätzen unsicher geworden ist oder nicht, ob meine Bemerkung, Lessing sei der grösste Dramatiker Deutschlands, insofern er die Grundbedingungen des Dramas am reinsten erfüllt, Geltung beanspruchen darf oder nicht, muss ich natürlich dem Urtheile einsichtsvollerer Kritiker überlassen.

152

Gustav Heidemann Ueber Lessings Emilia Galotti. [1881]

Die Litteratur über Lessings Emilia Galotti ist groß, die Beurtheilung des Ganzen, sowie des Einzelnen sehr verschieden. Einer außerordentlich warmen Bewunderung stellt sich kühle Ablehnung gegenüber; die Entscheidungen desselben Beurtheilers unterliegen zuweilen starkem Wechsel. Eingehende Untersuchungen entwickeln die allgemeine Wahrheit, welche Lessing in diesem Stücke zu geben beabsichtigt habe, eine Absichtlichkeit, die man andererseits dem Dichter abspricht, ohne jedoch das Erschütternde, mit dem die Wahrheit des Stückes unabsichtlich zündet, in Frage zu stellen. Die Katastrophe verletzt als unmotivirt und gewaltsam herbeigeführt, Andere ergreift sie tief im Gemüth. Zufrieden und gesättigt scheidet dieser von dem Stücke und weist eine weitere Erwägung über das Stück hinaus als unnöthig und unberechtigt zurück, zu der das Gefühl der Herbigkeit jenen am Schluß veranlaßt. Neben dem Lobe der feinen und scharfen Zeichnung der Charaktere, die dem Hörer oder Leser keinen Spielraum zum Irren gebe, steht die verschiedene Auffassung derselben und der Tadel nicht ausreichender Ausmalung. Die Sprache erregt durch ihre gedankenreiche Knappheit Bewunderung und erinnert an den attischen Zauber; andererseits wird die Natürlichkeit vermißt. Einzelne Wendungen geben zu ganz verschiedenen Auslegungen Anlaß. So vieles ist heute noch unerledigt. Hervorragendes Interesse hat die Frage in Anspruch genommen, ob Emilie den Prinzen liebt oder nicht, ob das Stück mit oder ohne diese Annahme erklärt werden muß. Heute wie vor hundert Jahren beschäftigt sich die Kritik mit dieser Frage, und in einer Reihe trefflicher Arbeiten ist vom Standpunkt der Annahme sowie von dem der Zurückweisung der Liebe die Motivirung der Handlung geboten. Eine Einigung ist auch hier bis jetzt nicht erzielt, und so kann die Frage, wie weit die Berechtigung einer jeden der beiden Annahmen im Stücke geht, zu neuer Untersuchung anregen, einer Untersuchung, die dadurch an Interesse gewinnt, daß sie nicht geführt werden kann, ohne mit der Frage nach der tragischen Hauptperson den schwersten Vorwurf, der das Stück getroffen, den des Widerspruchs im Charakter Odoardos, zu beleuchten. Zunächst muß bei dieser Frage nach der Liebe Emiliens zum Prinzen das Verhältnis der Braut zu ihrem Verlobten Appiani kurz in’s Auge gefaßt werden. Läßt dieses Verhältnis überhaupt die Annahme als möglich erscheinen, daß der Prinz einen Eindruck auf sie gemacht hat? Nur in einer einzigen Scene werden uns beide zusammen vorgeführt. Aus dieser Scene, in welcher Emilie in heiterer, liebenswürdiger Weise dem feierlich schwermüthigen Grafen gegenübertritt und mit der Absicht scheidet, den einfachen Putz, in welchem er sie zum ersten Male gesehen, zum Brautschmuck anzulegen, läßt sich in keiner Weise, wie geschehen, auf eine ihre Brust durchströmende glühende Nei-

153

Gustav Heidemann

gung schließen. Weitere Erwägungen aber, angeknüpft an andere Stellen des Stückes, scheinen dem Zweifel an einer ihr ganzes Herz erfüllenden Liebe Nahrung zu geben. Nach der Erzählung von dem Vorgang in der Kirche hat Emilie das richtige Gefühl, ihrem Verlobten die Begegnung mittheilen zu müssen. Den Einwendungen der Mutter gegen diese Absicht setzt sie nur die Erwägung des Verstandes gegenüber, daß der Verlobte den Vorfall durch Andere erfahren, und so ihr Verschweigen früher oder später seine Unruhe vermehren könne. Bei der erneuten Aufforderung der Mutter, dem Grafen nichts zu sagen, ihn nichts merken zu lassen, giebt sie sogleich ihre erste Absicht vollständig auf. Nach dem Ueberfall ist sie auf das Schloß geflüchtet. Hier gibt sie in erster Linie der ängstlichen Sorge um die Mutter Ausdruck. Den Grund hierfür darin zu suchen, daß es ihr widerstrebt, dem ihr widerwärtigen Marinelli gegenüber ihres Bräutigams Erwähnung zu thun, zwingt uns nichts. Als ihr der Tod ihres Verlobten vom Vater bestätigt wird, hören wir nicht die Klage um den Tod Appianis, sie bittet weder um ein Grab neben dem Todten, noch um Rache gegen den Mörder. An das »warum er todt ist«, klammern sich ihre Gedanken, und sie fordert ihren Vater, »wenn er darum todt ist – darum«, zur Flucht auf. Dieser Auftritt kann auch auf die Beurtheilung einer andern Stelle, aus welcher der leidenschaftliche Schmerz um den Tod Appianis hervorzugehen scheint, seinen Einfluß geltend machen. Auf die Mittheilung Claudias im Schloß, daß Emilie den Tod ihres Verlobten zu vermuthen scheine, wird die Annahme des Vaters »Und sie jammert und winselt?« durch die Worte der Mutter: »Nicht mehr – das ist vorbei etc.« bejaht. Abgesehen nun davon, daß es nicht nur dieser Argwohn, sondern das Schreckniß des ganzen Vorgangs und ihrer Situation ist, das sie in jene Klagen ausbrechen läßt, so kann doch die Annahme, auch hier in dem »Warum« das Motiv zu sehen, mindestens auf gleiche Berechtigung Anspruch machen. Ob überhaupt jene Worte Odoardos »sie jammert und winselt« in dieser Stärke als die richtige Bezeichnung des Verhaltens Emiliens anzusehen sind, mag aus der einfachen Bestätigung Claudias, die in der Scene so eifrig bemüht ist, dem strengen, argwöhnischen Vater jeden Gedanken an eine Uebereinstimmung ihrerseits und der Tochter mit dem Prinzen zu nehmen, wohl nicht folgen. Die Frage, ob der Tod Appianis das Motiv ihres Todesentschlusses ist, erledigt sich später. Nach vorstehenden Erwägungen sind wir nicht berechtigt, eine glühende, das ganze Sein der Emilie ausfüllende Liebe zum Grafen Appiani anzunehmen. Ihre Liebe scheint weit mehr geistiger Natur, entsprungen aus der Achtung vor dem hohen sittlichen Werthe des edlen Mannes – andererseits ist auch die Liebe des Grafen bei aller Tiefe der Empfindung fern von aller Leidenschaftlichkeit. In dieses Verhältniß läßt Lessing nun den Prinzen störend eingreifen, einen Mann, »den« nach einer vorzüglichen Charakterisirung »die Elasticität seiner Empfindung, verbunden mit der Gewandtheit und dem Schmelz der Rede und seiner vornehmen und zugleich liebenswürdigen Art sich zu bewegen, für weibliche Naturen so gefährlich macht«. Und dieser Mann tritt mit der ganzen Gluth seiner leidenschaftlichen Liebe der Emilie gegenüber. Weshalb hat Lessing nun den Prinzen in dieser Weise gezeichnet? Unberechtigt ist 154

Ueber Lessings Emilia Galotti.

die Folgerung, daß es deshalb geschehen, um uns zu zwingen, einen Eindruck dieser glänzenden Erscheinung auf Emilie als nothwendig anzunehmen. Lessing sah bei der Bildung des modernen Stoffes von der Gewalt, mit der Appius Claudius seinen Zweck verfolgte, ab und setzte an deren Stelle das Bestreben, durch innere Einwirkung den Erfolg zu erreichen. Wir können nur von vornherein schließen, daß bei der Zeichnung, die Lessing dem Prinzen gab, und bei dem Verhältniß Emiliens zu Appiani ein derartiger Erfolg möglich ist; ob wir gezwungen sind denselben anzunehmen, muß die Untersuchung der einzelnen Scenen ergeben. In der Handlung selbst ist die erste Scene, aus welcher die Liebe geschlossen wird, die Erzählung des Vorgangs in der Kirche. Schon Goethe fand in der Art, wie Emilie den Prinzen anhöre, wie sie nachher in das Zimmer stürze, eine Andeutung der Liebe, und Alle, welche irgend eine Neigung zum Prinzen bei Emilie annehmen, halten nur unter der Voraussetzung einer solchen Empfindung den Vorgang für verständlich. Direct zeigt nichts in dieser Scene die Liebe an, und der ganze Vorgang scheint sich erklären zu lassen, wenn ein außergewöhnlich hoher Grad von Frömmigkeit und Furchtsamkeit bei Emilie angenommen wird. Beides anzunehmen sind wir gezwungen: Sie empfindet die Entweihung der heiligen Stätte durch die Worte, welche sie hören muß, so tief, daß sie ihren guten Engel bittet, sie mit Taubheit zu schlagen, »wenn auch, wenn auch für immer«; sie zittert sich umzuwenden und den zu er­blicken, der sich solchen Frevel erlaubt. Diese Frömmigkeit dokumentirt sich im ganzen Stück. Wenn sie nun bei dieser tief religiösen Empfindung zugleich nach den Worten der Mutter die Furchtsamste ihres Geschlechtes ist, so ist in ihrer sittlichen Angst und Scheu vor der Lasterhaftigkeit die Flucht vor dem Laster wohl erklärlich. Auf dieser Flucht erreicht sie in der Halle der Prinz, und er, der vorher so zu ihr gesprochen, ergreift sie jetzt bei der Hand. »Aus Scham mußt’ ich Stand halten: mich von ihm loszuwinden, würde die Vorbeigehenden zu aufmerksam auf uns gemacht haben.« Wie sie losgekommen, weiß sie nicht; fast besinnungslos kommt sie zu Hause an. Hier wird sie ruhig und gewinnt gar bald ihre volle Fassung wieder. In dieser Weise ließe sich auch die weitere Charakteristik der Mutter an obiger Stelle: »Sie ist die Furchtsamste und Entschlossenste unseres Geschlechts. Ihrer ersten Eindrücke nie mächtig, aber nach der geringsten Ueberlegung in Alles sich findend, auf Alles gefaßt«, hier bestätigt finden gegen die Einwendung Anderer, welche die Entschlossenheit und Fassung schon in der Kirche und auf der Flucht in der Halle verlangen. Ein einziger Punkt scheint direct gegen diese Auffassung zu sprechen. Sie nennt sich der Mutter gegenüber m itschu ld ig . Claudia: »dem Himmel ist beten wollen, auch beten.« Emilie: »Und sündigen wollen, auch sündigen.« Claudia: »Das hat meine Emilie nicht wollen!« Emilie: »Nein, meine Mutter; so tief ließ mich die Gnade nicht sinken. – Aber daß fremdes Laster uns wider unsern Willen zu Mit schu ld ig en machen kann!« Man ist nicht gezwungen, bei diesem Worte einer Erklärung zu folgen, welche annimmt, daß sich Emilie bei ihrem sittlichen Gefühl, das die Frechheit des Prinzen verdammt, doch als Weib dem Prinzen gegenüber nicht frei fühlt und wie von einer dämonischen Gewalt in seiner Gegenwart befangen ist; daß sie an sich selbst nichts 155

Gustav Heidemann

strafbares finden kann und doch es beklagt, daß fremdes Laster wider unseren Willen uns zu Mitschuldigen machen kann. Die entgegengesetzte Ansicht kann zu ihrer Stütze anführen, daß dieser Ausdruck »Mitschuldig« sich mit der bald darauf folgenden Antwort, der Vater werde nichts Strafbares an ihr finden, sehr leicht verbinden läßt, wenn Emilie die Mitschuld in ihrer Frömmigkeit so faßt, daß auch die äußere Nähe des Lasters das Reinste beflecken kann, und sie so an heiliger Stätte in Mitleidenschaft gezogen wird. Ganz dieser Auffassung entsprechen dann die Worte, welche sie gleich nach der Erwähnung dieser »Schuld« der Mutter sagt: »Da hörte ich … nicht den Namen einer Heiligen – den Namen – zürnen Sie n icht, meine Mutter – den Namen Ihrer Tochter! meinen Namen!« In dieser Weise sind selbst von dem Standpunkte der Annahme der Liebe aus diese Worte der Emilie aufgefaßt worden, daß sie, unschuldig an dieser Zusammenkunft, selbst sich unschuldig fühlt und nur in sofern sich eine Schuld beimißt, als die Nähe des Lasters das Reinste befleckt. So bietet dieser Auftritt nichts, was uns direct zur Annahme der Liebe zwingt. Ebenso wenig das nächste Zusammentreffen beider. Emilie eilt nach dem Ueberfall auf das Lustschloß. Hinter sich hatte sie einen Schuß gehört, und kaum betritt sie den Saal, als die namenlose Angst sie drängt zurückzukehren, um die Ihrigen zu suchen, die vielleicht schon todt sind. In dieser gewaltigen Erregung wird ihr die Mittheilung, daß sie sich in dem Lustschlosse des Prinzen befindet, und schon tritt der Mann auf sie zu, der ihr am Morgen an heiliger Stätte mit leidenschaftlicher Liebesgluth genaht. Seine Versicherung, sie zu den Ihrigen zu führen, muß unwahr sein, da die Mutter sonst schon zu ihr geeilt wäre. Ihr ganzes Herz sehnt sich nach dem Anblick der Ihrigen, aber ihm soll sie allein, ganz allein folgen. Sie fällt vor ihm nieder und bittet um Schonung ihrer traurigen Lage. Sind wir gezwungen, hierin auch noch die Bitte zu verstehen, sie nicht zum zweiten Mal in eine Verwirrung zu versetzen, welche ihr alle Willenskraft raube, und wenn sie ihm schließlich folgt, eine Schwäche der einnehmenden, magisch sie fesselnden Persönlichkeit des Prinzen gegenüber zu erkennen, deren sie sich schon vorher bewußt war? Wenn auch aus den Entschuldigungen des Prinzen über den Vorfall am Morgen seine fortdauernde Liebe heraustönt, und auch die Fassung der Beruhigungsworte auf diese schließen läßt, so kann man doch annehmen, daß Emilie in ihrer furchtbaren Aufregung und der Angst um das Geschick der Ihrigen dem Inhalte seiner Worte traut: »so will ich doch – beben Sie nicht mein Fräulein – einzig und allein von Ihrem Blicke abhängen. Kein Wort, kein Seufzer soll Sie beleidigen. – Nur kränke mich nicht Ihr Mißtrauen. Nur zweifeln Sie keinen Augenblick an der unumschränkten Gewalt, die Sie über mich haben. Nur falle Ihnen nie bei, daß Sie eines andern Schutzes gegen mich bedürfen. – Und nun kommen Sie, mein Fräulein, – kommen Sie, wo Entzückungen auf Sie warten, die Sie mehr billigen.« Ihr Mißtrauen gegen den Prinzen kämpft mit der Hoffnung auf das Wiedersehen. Die letztere siegt. Die Sehnsucht nach den Ihrigen, der heiße Wunsch, die Geretteten in ihre Arme zu schließen, ist so stark, daß sie bestimmt wird zu folgen. So scheidet Emilie von uns, und wir sehen sie vor der Katastrophenscene nicht wieder. Was inzwischen geschieht, erfahren wir aus den Aeußerungen der Mutter, des Prinzen und den ihrigen. In dem Zimmer, in das sie der Prinz führte, fand sie weder 156

Ueber Lessings Emilia Galotti.

den Grafen noch die Mutter. Sie sah, daß sie getäuscht worden. Die Mutter ist von der Leiche des Grafen jetzt in’s Schloß geeilt und hat das ganze Bubenstück mit seinen Motiven durchschaut. Auf den Ruf der Tochter stürzt sie in’s Nebenzimmer, und Emilie fällt ihr ohnmächtig in die Arme. In den Thränen und den wilden Augen der Mutter liest sie dann den Tod des Grafen und giebt sich ihrem Schmerze hin. Sie ahnt den wahren Zusammenhang; der Mörder darf ihr nicht nahen. Odoardo erscheint und erhält jetzt vollständige Kenntniß von der That und dem ganzen Truggewebe. Er bittet um ein letztes Zusammensein mit der Tochter. Dieses wird gewährt, und Emilie bewegt den Vater, ihr den Dolch in’s Herz zu stoßen. Müssen wir nun aus den Motiven, die sie zu diesem Entschlusse bewegen, auf die Liebe zu dem Prinzen schließen, und bleibt ferner, ohne Annahme eines solchen Motivs, der Todesentschluß verständlich? Durch den Vater erhält sie die Bestätigung ihrer Ahnung. Der Graf ist todt. Und der Graf ist gemordet ihretwegen. Sie ist es, welche die Veranlassung war, daß der Verlobte sterben mußte, und nach ihr strebt jetzt der Mörder, in dessen Hause sie sich befinden. Schleunige Flucht ist es daher zuerst, um was sie den Vater bittet. Doch die Flucht ist unmöglich, sie soll gezwungen werden, allein in den Händen des Räubers zurückzubleiben. Gegen diesen entwürdigenden Zwang erhebt sich sofort ihr stolzer Trotz: »Ich will doch sehen, wer mich hält, – wer mich zwingt, – wer der Mensch ist, der einen Menschen zwingen kann.« Und als sie nun weiter vernimmt, daß der Prinz auf jede Weise sein Vorhaben durchsetzen und sie in das Haus der Grimaldi bringen will, da bäumt sich dieser Trotz noch gewaltiger auf, und mit der Leidenschaft des Hasses setzt sie gegen den Willen des Mörders ihren Willen; jener soll seinen Willen nicht durchsetzen, und so fordert sie, da die Flucht unmöglich, in leidenschaftlicher Hast vom Vater den Dolch. Zu diesen Motiven, die der Text bis dahin bietet, fügt Emilie nun, als der Vater ihren Wunsch nicht sogleich erfüllt, ein weiteres. Es sind dies die für die Entscheidung der vorliegenden Frage gewichtigsten Worte, die außerdem für andere Fragen in der Beurtheilung des Stückes von der größten Bedeutung waren, und noch sind. Hier mögen sie vorerst nur von dem Gesichtspunkte, der die Liebe verneint, betrachtet werden. Auf den Einwurf des Vaters, daß die Unschuld Emiliens über alle Gewalt erhaben sei, erwidert letztere: »Aber nicht über alle Verführung. – Gewalt! Gewalt! wer kann der Gewalt nicht trotzen? Was Gewalt heißt, ist nichts: Verführung ist die wahre Gewalt! – Ich habe Blut, mein Vater; so jugendliches, so warmes Blut, als eine. Auch meine Sinne sind Sinne. Ich stehe für nichts. Ich bin für nichts gut. Ich kenne das Haus der Grimaldi. Es ist das Haus der Freude. Eine Stunde da, unter den Augen meiner Mutter, – und es erhob sich so mancher Tumult in meiner Seele, den die strengsten Uebungen der Religion kaum in Wochen besänftigen konnten.« Ist hier aus den Worten Emiliens eine Neigung zu dem Prinzen nothwendig anzunehmen? Einige Beurtheilungen gehen bei der Motivirung der Katastrophe auf diese Aeußerung nicht näher ein. Andere sehen hier in einem abstracten Ehr- und Unschuldsbegriff ein Motiv neben den oben angeführten. Ferner spricht man nur im Allgemeinen von der Reizbarkeit der weiblichen Natur, die Emilie jüngst erfahren, und endlich nimmt man an, daß der Sinn dieser Worte nicht über die bei ihrem 157

Gustav Heidemann

Eintritt in die große Welt schmerzlich erkannte Theilnahme an der allgemeinen menschlichen Schwachheit hinausgehe. Es ist nicht in Abrede zu stellen, daß sich aus den Worten, wie sie dastehen, kein directer Schluß auf die Liebe machen läßt, und somit die eben angeführten Annahmen ihre Berechtigung haben können. Der weitere Zweifel aber, dem schon Goethe in so drastischen Worten Ausdruck gab, ob ohne Annahme der Liebe an dieser Stelle die Furcht Emiliens vor dem Hause der Grimaldi erklärlich sei, findet seine Schätzung am besten bei der Beantwortung der allgemeineren Frage, ob der Todesentschluß Emiliens bei Zurückweisung der Liebe hinreichend motivirt erscheint. Schon früh ist bei Beurtheilung der Katastrophe in unserem Stücke die Geschichte bei Livius herangezogen. Diese Heranziehung hat mit Recht mannigfache Vorwürfe hervorgerufen. Es ist ja zweifellos richtig, daß, wenn auch der erste Gedanke zur Tragödie bei Lessing der livianischen Erzählung entsprang, jedenfalls von Livius aus nicht die Katastrophe unserer ganz frei erfundenen neuen Fabel zu beurtheilen ist. Ebenso ist ferner jede Kritik, die von Außen an das Stück herangeht, zurückzuweisen, und Vorwürfe, die dahin zielen, daß Odoardo noch ganz anders hätte handeln müssen, daß er darauf dringen konnte, Emilie der Aufsicht Camillo Rotas oder eines andern rechtschaffenen Mannes zu übergeben, daß Beider Schicksal noch nicht rettungslos entschieden, und die verschiedensten Auswege noch vorhanden seien, sind nichtig: Je kräftiger und umsichtiger ein Kritiker selbst ist, um so energischere und zahlreichere Maßregeln wird er ja vorschlagen können, nur daß dabei vergessen wird, daß er nicht den Odoardo, die Emilie des Stücks behandelt, sondern sich selbst, den er in gleiche Situation versetzt. Wenn aber von Leuten, die sehr wohl zu einer ernsten Beurtheilung befähigt sind, immer wieder jene livianische Erzählung herbeigezogen wird, und ähnliche Ausstellungen angeführten gemacht werden, so muß man doch erwägen, daß ihr Verfahren kein rein äußerliches ist, sondern seinen Grund hat in dem Unbefriedigtsein mit den im Stücke gebotenen Motiven. Nach dem ausreichenden Maße dieser gebotenen Motive haben wir also genau zu fragen, und es kommt unter Zurückweisung der Untersuchung, ob überhaupt noch andere Möglichkeiten der Rettung vorhanden sind, darauf an, zu beobachten, ob der Dichter beide Charaktere so gezeichnet hat, daß ihnen dieser Ausweg als der einzige erscheinen mußte, und speciell in der jetzt vorliegenden Frage, ob die leidenschaftliche Spannung Emiliens ohne Annahme der Liebe eine so starke ist, daß sie in dem Todesstoße die alleinige Rettung erblicken konnte. Mö g l ich ist das jedenfalls. Nur muß man dabei nicht aus dem Auge verlieren, daß der Weg, den der Dichter Emilie in diesem Stücke führt, nicht von einer gleichmäßigen Seelenruhe steil aufführt zu einer solchen Höhe der Leidenschaft, sondern daß Emilie schon bei ihrem ersten Erscheinen einen außergewöhnlich hohen Grad von leidenschaftlicher Erregung zeigt, der durch verhältnißmäßig geringfügige Momente hervorgerufen ist. Die Linie, die von hier aus zur Katastrophe führt, ist mehr horizontal und läuft parallel mit derjenigen, welche von dem ersten Erscheinen des Odoardo bis zum Dolchstoß geht. Hier erregte der einfache Gang nach der Kirche die Besorgnis des Vaters, und schon allein der Gedanke, die Ehre seiner Tochter ge158

Ueber Lessings Emilia Galotti.

fährdet zu sehen, nimmt dem leidenschaftlichen Manne die Fassung – als der Weg zur Schande durch Mord und bübische List wirklich gebahnt ist, greift er zum Dolche. Hohe sittliche Scheu und tiefe Frömmigkeit bewogen Emilie zur fassungslosen Flucht vor dem Laster aus der Kirche. Jetzt ist Flucht unmöglich, und in gewaltthätiger Weise, die den Mord nicht scheut, sieht sie das Laster nahen. Wohl fühlt sie noch in sich die sittliche Kraft, dieser Gewalt zu widerstehen; aber das Ungeheure des Schrecknisses stellt der erregten Phantasie auch die anderen Wege dar, die das Laster gehen kann, und alle Möglichkeiten, wenn auch noch so fern liegend, werden in der fieberhaften Angst zu Wahrscheinlichkeiten. So wird sie ihre eigene Anklägerin in einem Grade leidenschaftlicher Uebertreibung, der von der Wirklichkeit ebensoweit absteht, wie ihr exaltirter Zustand von ruhiger Seelenstimmung. Und dieser grausigen Möglichkeit stellen sich gegenüber die lichten Gestalten der Heiligen, die, nichts Schlimmeres zu vermeiden, den Tod in den Fluthen suchten, und winken zur Nachfolge. Hier ist für Emilie keine Wahl, und dieses Gefühl der unabweisbaren Nothwendigkeit ihres Entschlusses läßt sie mitten in der Leidenschaft jene Ruhe der Ueberlegung finden, mit welcher sie die richtige Saite in der Brust des Vaters anzuschlagen weiß.1 So ließe sich ohne Annahme der Liebe zu dem Prinzen das Verhalten Emiliens im Verlauf des Stückes aus ihrer Furchtsamkeit, sittlichen Scheu und Frömmigkeit verstehen, und wohl auch in ihrem Zustande eine Erklärung dafür finden, daß neben ihrer stolzen Willenskraft die Furcht vor der Verführung durch einen ihr innerlich Fremden bestehen und sie bestimmen kann. Erforderlich dabei ist aber, daß man sich den hohen Grad dieser Gefühle lebhaft vergegenwärtigt, um den raschen Uebergang erklärlich zu finden, der Emilie von dem sittlichen Kraftgefühl zu dem Entschlusse hinüberführt, ein Leben zu enden, das durch den Tod des Verlobten nicht tödlich getroffen ist. Diese Gemüthslage muß uns ferner stets gegenwärtig sein, um die Festigkeit und heftige Leidenschaftlichkeit, mit der sie an jenem Entschlusse hängt, verstehen zu können, und nur ein völliges Hineinversetzen in den exa ltir ten Zustand Emiliens vermag die Erklärung zu geben, wie neben ihrer Willenskraft die Furcht vor der Verführung durch einen ihr innerlich ganz Fremden bestehen kann. Von innerer Zwiespältigkeit ist Emilie unter dieser Annahme frei, und die Darstellung dieser Rolle bietet so keine Schwierigkeiten. Hierzu stimmt die Aeußerung Lessings auf Nicolais Mittheilung, daß nach Ansicht der Schauspielerin Starke die Rolle der Emilie nie gespielt werden könne, so wie sie gespielt werden solle, denn sie erfordere ein ganz junges Mädchen, das doch die vollkommenste Schauspielerin sein müsse, um der Rolle genug zu thun: »Hol der Teufel die Frau mit ihrer Bemerkung! Die Rolle der Emilie erfordert gar keine Kunst. Naiv und natürlich spielen kann ein junges Mädchen ohne alle Anweisung.« Besonders ihr Verhalten dem Verlobten ge1 Die Ansicht, durch ihre eigene Hand will die gläubige Katholikin nicht sterben, ist nicht richtig. Noch schweben ihr ja jene Märtyrer ihrer Religion vor, und an der Ausführung des Selbstmordes wird sie nur durch den Vater verhindert, der ihr den Dolch entreißt. Aus dem Tone seiner Worte aber erkennt sie, daß auch er hier den Rettungsweg sieht und nur noch vor der Ausführung schaudert. So bewegt sie ihn zu dem Dolchstoß, der ihr in diesem Augenblicke nicht möglich ist.

159

Gustav Heidemann

genüber nach dem Vorfall in der Kirche bietet dann gar keine Schwierigkeit. Mit der Angst hat sie Alles von sich geworfen, und freudig und offen tritt sie Appiani entgegen. Wenn sich also das Stück auf diese Weise im Ganzen erklären und an bestimmten Stellen leichter erklären läßt, Lessing an keiner Stelle direct die Liebe ausspricht, bei aller Knappheit der Sprache aber sonst nichts Wesentliches vergißt, ein solcher Gemüthszustand der Emilie aber ein außerordentliches Motiv wäre – sind wir da nicht gezwungen, diese Auffassung der Tragödie als die richtige hinzustellen? Gerade aber die Rücksichtnahme auf die knappe Bestimmtheit des Ausdrucks, die der obigen Auffassung zur Stütze diente, giebt die Anregung zur entgegengesetzten Auffassung. Wie Lessing bei dieser Bestimmtheit nichts Wesentliches vergessen hat, so hat er auch nichts Unwesentliches hinzugesetzt. Wenn unter diesem Gesichtspunkte die für unsere Frage wichtigste Stelle, die Worte, in welchen Emilie von der starken, selbstbewußten Kraft zu dem gegensätzlichen Motive der Verführung übergeht: »Auch ich habe Blut« u. s. w. betrachtet werden, so muß die Auffassung ein andere werden. Emilie spricht jene Worte nicht allgemein aus, sondern knüpft sie an ein ganz bestimmtes Ereigniß, an die Abendgesellschaft bei Grimaldi: »Eine Stunde da unter den Augen meiner Mutter, – und es erhob sich so mancher Tumult in meiner Seele« u. s. w. In dieser Gesellschaft war der Prinz, und die weiteren Nachrichten, die uns Lessing über dieselbe giebt, beziehen sich allein auf das Zusammensein des Prinzen und Emiliens. Den Eindruck, welchen Emilie hier auf den Prinzen gemacht, zeigte uns zuerst die leidenschaftliche Betrachtung des Bildes; sein Benehmen gegen Emilie schildert die Mutter und hebt hervor, daß er sich gegen die Tochter so gnädig gezeigt, sich so lange mit ihr unterhalten und von ihrer Schönheit mit so viel Lobeserhebungen gesprochen habe. Emilie anderseits hat sich mit »Witz und Munterkeit« der Unterhaltung hingegeben. Wenn nun Lessing gerade an diese Abendgesellschaft jene Worte anknüpfen läßt: »Eine Stunde da unter den Augen meiner Mutter; – und es erhob sich so mancher Tumult in meiner Seele, den die strengsten Uebungen der Religion kaum in Wochen besänftigen konnten«, wenn man sich jetzt vergegenwärtigt, in welcher Weise der Dichter die bestechende Persönlichkeit des Prinzen gezeichnet hat, dessen gewinnende Macht uns ein Weib wie die Orsina veranschaulicht, wenn ferner die lange, angeregte Unterhaltung das Einzige ist, was uns in der knappen Darstellung von dieser Gesellschaft berichtet wird, so wäre es geradezu gezwungen, den Grund der Erregung bei Emilie in anderen Momenten zu suchen, als in dem Eindruck, den diese Persönlichkeit auf sie gemacht hat. Bei dieser Auffassung lassen sich jene erregten und übertreibenden Worte Emiliens nun so interpretiren, daß die Empfindung derjenigen weniger beleidigt wird, in welchen jene Motive ein Unbehagen an der ganzen Tragödie wachrufen, und es kann die Ansicht zurückgewiesen werden, die darin einen unmotivirten und eben darum nur um so häßlicheren und die Theilnahme schwächenden Makel findet, der auf Emilie und die Reinheit ihrer jungfräulichen Empfindung fällt. Ganz abstract lassen sich jene Worte bei Beachtung der Art, wie sie der Dichter an bestimmte Verhältnisse geknüpft, nicht wohl fassen. Ist der mehr oder weniger starke Eindruck, den der Prinz und seine gewinnende Unterhaltung macht, aber aus160

Ueber Lessings Emilia Galotti.

geschlossen, so müssen wir der Ansicht beipflichten, daß wohl – ohne irgend welchen Anhalt des Textes – äußerlichere und gröbere Erscheinungen angenommen werden müßten, Erscheinungen, die abgesehen von dem moralischen, schon das ästhetische Gefühl Emiliens abgewiesen hätte. Wenn sich dagegen Emilie lebhaft angeregt fühlt durch eine Unterhaltung, die der Fürst in der Gluth seiner neuen Leidenschaft durch die Lebhaftigkeit seines Empfindens und die Anmut seiner Rede zu einer fesselnden macht, so ist das natürlich; auch bietet uns dies der Text, der Emilie der Unterhaltung mit Witz und Munterkeit folgen läßt. Und wenn dann später in der Erinnerung an diese Unterhaltung die Phantasie die glänzende Persönlichkeit mit dem gefährlichen Zauber ihrer vornehmen Erscheinung ihr vorführt, ihren innern Blick an diese Erscheinung eine Zeit lang festhält und dann ganz unmerklich jenes andere Bild des ernsten Appiani zur Vergleichung heranziehen will – da scheucht sie jäh jenes verführerische Bild von sich, und alle Gedanken umfassen den, dessen hoher Werth sie mit Achtung und Stolz erfüllt. Sie denkt an die Zeit zurück, ehe sie den Prinzen kennen lernte; so will sie Appiani wieder entgegentreten, und auch ihr Aeußeres soll am nahen Hochzeitstage ganz wieder sein, wie es sich dem Verlobten darbot, als er sie zuerst sah. Leise aber und unmerklich drängt sich in diese Gedankenreihe wieder jene Erinnerung, und schon steht neben der ernsten Gestalt des Grafen wieder das fesselnde Bild des Prinzen. Da flieht sie in die Kirche; hier muß sich »der Tumult ihrer Seele« legen, und »die strengsten Uebungen der Religion« sollen ihr die Ruhe wiedergeben und eine Empfindung verscheuchen, die sie sich selbst nicht ganz gestehen mag. In einem Monologe Emiliens konnte uns Lessing dieses Gefühl nicht zur Anschauung bringen, und was sie sich selbst nicht ganz gestehen mag, das scheut sie sich der Mutter und dem Vater zu gestehen. So berechtigt das Fehlen solcher directen Angaben nicht zur Zurückweisung des Eindrucks überhaupt, sonder unterstützt die Annahme desselben in dieser Beschränkung, in welcher er aus den andeutenden Worten des Dichters dargestellt wurde. Werden ferner aber die Worte des aufgeregten Mädchens in der Todesscene an diesen Vorgang, als ihre thatsächliche Ursache gehalten, so mögen jene sittlichen Bedenken sich wohl mildern, wie denn auch andererseits die wirkliche Darstellung auf der Bühne in dem spannenden Kampfe der Leidenschaften jene Ausdrücke in Begleitung der andern Motive weniger fühlbar machen wird, als sie einzeln betrachtet das Auge des Lesers stören. Weitere Gründe aber für diese Ansicht, daß Lessing ein solches Empfinden im Herzen der Emilie voraussetzte, ergeben sich aus seiner Ansicht über die tragische Schuld. Er verlangt für den tragischen Helden eine Schuld, die ihn zu Falle bringt; denn sonst ist es etwas »Gräßliches … das in dem Unglücke liegt, das jene unverschuldet trifft. Der Gedanke ist an und für sich selbst gräßlich, daß es Menschen geben kann, die ohne alle ihr Verschulden unglücklich sind. Die Heiden hätten diesen gräßlichen Gedanken soweit von sich zu entfernen gesucht als möglich, und wir wollten ihn nähren? Wir wollten uns an Schauspielen vergnügen, die ihn bestätigen?« Es muß also für Emilie, als tragische Person, eine Schuld verlangt werden; bietet eine solche ihr Verhalten bei Annahme der ersten Ansicht? Die Scheu vor dem Laster trieb sie aus der Kirche in die Arme der Mutter. Dieser erzählt sie den ganzen Vorfall, 161

Gustav Heidemann

an dem sie in keiner Weise innerlich weiter betheiligt ist. Sie hat das richtige Gefühl, dem Grafen Mittheilung machen zu müssen; diesem steht das Urtheil der Mutter entgegen, das letztere aus ihrer weiteren Weltkenntniß begründet. Wenn sie nun diesem Urtheile folgt, so giebt sie, wie in früheren Fällen, der reiferen Einsicht der Mutter nach: »Nun ja, meine Mutter! Ich habe keinen Willen gegen den Ihrigen.« In diesem Nachgeben des Kindes der Mutter gegenüber müßte hier ihre Schuld bestehen. So wird denn auch die Schuld Emiliens dahin gefaßt, daß sie sich verleiten läßt, der vermeintlichen reiferen Einsicht der Mutter statt ihrem eigenen richtigen Gefühle zu folgen. Emilie hat in diesem Falle nichts anderes gethan als früher: sie war gehorsam. Und Gehorsam wäre also hier ihre Schuld. Wenn hierin ihre Schuld zu suchen ist, dann muß man, für Emilie wenigstens, dem Urtheile beistimmen: Der Schluß der Emilie Galotti ist ebenso peinigend wie der Schluß der Miß Sara Sampson. Emilie wird erstochen, ihr Vater übergiebt sich den Gerichten, sie, die alle beide nichts gefehlt und nichts verschuldet haben. Wie kann aber Lessing in dem Gehorsam die tragische Schuld finden, der Gehorsam an einem Mädchen als eine der höchsten Tugenden schätzte? Und wie kann er gerade hier in Emilie Galotti in diesem Gehorsam die Schuld gesehen haben, wenn er über diese Emilia Galotti an seinen Bruder Karl schreibt: »Ich kenne an einem unverheiratheten jungen Mädchen keine höheren Tugenden als Frömmigkeit und Gehorsam?« Entweder also ist Emilien überhaupt in diesem Stücke keine tragische Schuld beizumessen, und ihr Unglück wie der Tod Appianis gar nicht weiter durch eine Schuld motivirt, oder es muß eine anderweitige Schuld Emiliens angenommen werden, speciell bei dem Verhalten der Mutter und Appiani gegenüber ein weiteres Motiv in der Brust Emiliens bestimmend einwirken, das, nicht gedeckt durch den kindlichen Gehorsam, sie in den Kreis der Schuld einschließt. Eine wirkliche Schuld aber bietet sich in ihrem Verhalten der Mutter gegenüber bei der Annahme der Neigung zu dem Prinzen, wenn also die heftige Aufregung in der Kirche durch einen Mann veranlaßt wurde, dem gegenüber sie sich nicht ganz frei fühlte. Der erste gewaltige Schrecken, der in ihr das Geständniß des Prinzen in der Kirche hervorgerufen, hat bei beiden Annahmen allein seinen Grund in ihrer Frömmigkeit und sittlichen Scheu. Sie hat den Prinzen noch nicht erkannt. Als sie sich umwendet und den Prinzen erkennt, flieht sie. Bei der ersten Annahme waren dieselben Gefühle und die Furchtsamkeit die alleinigen Motive für ihre Flucht vor dem Träger des Lasters, einer ihr innerlich fremden Persönlichkeit. Das Bedenken aber, daß ein Erkennen einer ihr ganz gleichgültigen Person das gänzlich Unberechtigte der Annäherung in ihr mehr zum Bewußtsein bringen mußte und damit die Zurückweisung ermöglichen konnte, giebt der zweiten Annahme auch hier den Vorzug, mit der das Verständniß des ganzen Vorgangs ein weit einfacheres ist. Sie hat die Worte des Lasters gehört, und als sie sich umwendet, sieht sie den Mann in Wirklichkeit vor sich stehen, dessen Bild ihre Phantasie beschäftigte, dessen Bild sie an derselben heiligen Stätte so oft zu verscheuchen versuchte. »Und da ich ihn erblickte … Ich glaubte in die Erde zu 162

Ueber Lessings Emilia Galotti.

sinken«, ist das Gefühl, das sie jetzt beherrscht, und sie findet nicht die Kraft in sich, den Prinzen noch einmal anzublicken: »Nach dem Blicke, mit dem ich ihn erkannte, hatt’ ich nicht das Herz, einen zweiten auf ihn zu richten. Ich floh.« Die Persön l ich keit ist es somit, die neben dem Schreckniß des Lasters gewichtig auftritt, und diese beschäftigt so sehr die Seele Emiliens, daß sie unbewußt dieselbe Voraussetzung bei der Mutter macht und in ihrer Erzählung durch den Ausdruck »ihn« »Ihn selbst« auch für diese den Prinzen hinlänglich bezeichnet glaubt.2 In der Halle fühlt sie sich an der Hand ergriffen. »Und von ihm! Aus Scham mußt’ ich Stand halten; mich von ihm loszuwinden würde die Vorbeigehenden zu aufmerksam auf uns gemacht haben.« Gerade das Bewußtsein, selbst im eigenen, tiefsten Herzen diesem Manne gegenüber nicht ganz frei zu sein, macht jene Scham und Scheu vor der Oeffentlichkeit erklärlich und läßt die Höhe einer Erregung verstehen, die ihr jetzt alle Fassung vollständig nimmt und sie so ergreift, daß »die Sinne sie verlassen und von ihren Worten keine Erinnerung in ihr nachbleibt.« Diese Tiefe der Erschütterung macht auch hier die Annahme einer Emilien innerlich fremden Person als Ursache derselben unwahrscheinlicher. Wenn Emilie nun diesen tieferen Beweggrund bei dem Berichte nicht klar legt, und das augenblickliche Durchbrechen ihres innersten Gefühles in den Worten: »Und sündigen wollen, auch sündigen« gleich darauf zurückdrängt, so ist sie der Mutter gegenüber nicht ganz wahr; wenn sie selbst nur zu gern dem Urtheil der Mutter folgt und gar bald andere Gründe für die Unterlassung der Mittheilung dem Grafen gegenüber sucht, so ist sie sich selbst gegenüber nicht mehr ganz wahr; und wenn sie so, nicht rein aus kindlichem Gehorsam, sondern aus der Scheu, ihre tiefsten Herzensempfindungen, die sie für Schuld hält, ihrem Verlobten ganz aufzudecken, diese Mittheilung unterläßt, so begeht sie eine Schuld, indem sie eine Pflicht verletzt, deren Erfüllung an diesem Tage der Verlobten unerläßlich war. Dieser innere Vorgang kommt Emilien in jenem Augenblicke nicht zum klaren Bewußtsein. Bei jeder Annahme einer größeren leidenschaftlichen Neigung zu dem Prinzen, die sie sich selbst jetzt schon klar gestanden, müßte das Bewußtsein ihrer Schuld als ein größeres angenommen werden; dabei wäre aber ihr Verhalten nicht frei von jener Zwiespältigkeit, die man gegen die Annahme der Liebe überhaupt angeführt, und die Lessing durch die angegebene Aeußerung über seine Auffassung der Rolle zurückgewiesen hat. So ist die Schuld Emiliens eine geringe, aber es ist eine wirkliche Schuld und setzt sie in Gegensatz zu Virginia, welche ohne innern Antheil schuldlos den Opfertod leidet. Hier folgt direct aus der Schuld, der Unterlassung der Mittheilung, einerseits die weitere Verkettung der Handlung: Hätte Emilie dem Grafen die Mittheilung gemacht, so mußte dieser bei dem Ansinnen Marinellis das richtige Motiv durchschauen und konnte Gegenmaßregeln treffen, die den Plan vereitelten. Jetzt unter2 Stahr schließt aus jenem »Ihn selbst« auf ein Gespräch, das die Mutter mit Emilien über den Prinzen in der Hoffnung freundlicher Annäherung desselben an ihren Gatten geführt. Ein solches Gespräch ist an sich wahrscheinlich, die obige Deutung der Worte aber bei der Aufregung Emiliens wohl natürlicher.

163

Gustav Heidemann

blieben diese; der Graf wurde erschossen, und Emilie kam in die Gewalt des Prinzen. Andererseits aber ist das Bewußtsein dieser Schuld ein Hauptmotiv, das Emilie zum Todesentschlusse führt. Schon aus den Zügen der Mutter ahnte sie beim Wiedersehen nach dem Ueberfall den Tod des Grafen, und in der bangen Zeit, welche sie in dem Gemache des Prinzen bleibt, wendet sich ihr Blick dem Geschehenen zu; sie ahnt den Zusammenhang, damit tritt der Antheil, den sie daran nahm, hervor, und mit diesem Gedanken das Bewußtsein der Mitschuld. Als ihr nun durch den Vater der Tod des Grafen bestätigt wird, da ist es leicht verständlich, wie gerade dieser Gedanke sie so leidenschaftlich festhält und ihr das Herz zerschneidet: »Und warum er todt ist! Warum!« Sie ist es, um derentwillen der Prinz den Grafen ermordet; aber diesem Mörder steht sie selbst nicht fremd gegenüber, sie selbst hat dem Todten gegenüber eine Schuld, die den Mord ermöglichte. Daß sie aber so hastig, nachdem ihr sittlicher Stolz ihren eigenen Willen dem des Prinzen und der Gewalt gegenübersetzte, den vom Vater angedeuteten Tod des Prinzen zurückweist und ihren eigenen Tod in’s Auge faßt, wird durch die Erwägung begreiflich, daß ihr Leben jetzt für sie werthlos ist. Früher konnte sie den Gedanken an den Prinzen zurückkämpfen und hoffen, auch den letzten Rest dieses Eindrucks an der Seite des edlen Mannes ganz zu verwischen. Jetzt kann kein Kampf sie mehr von ihrem Schuldgefühl befreien; wohl die äußere Gefahr kann die Ermordung des Prinzen heben, aber die Erinnerung an das Geschehene wird nicht erträglicher und muß sie begleiten durch’s ganze Leben. Vollständig unerträglich aber wird ihr Leben, wenn sie noch fernerhin dem Andrängen jenes Mannes ausgesetzt sein soll. Und wenn nun gar die Erwähnung des Hauses der Grimaldi durch den Vater jene Unterhaltung, jenes Bild, die langen inneren Kämpfe wieder wachruft, dann ist es erklärlich, wie jetzt dieses Bewußtsein ihrer damaligen Schwäche für einen Augenblick den Gedanken an die Möglichkeit des Unterliegens in ihrer fieberhaft erregten Phantasie aufsteigen lassen kann – das Entsetzliche dieses Gedankens aber sie hinreißt zu den leidenschaftlichen Anklagen und sie mitbestimmt, ein Leben zu enden, das sie nicht mehr zu ertragen vermag. Bei dieser Auffassung müssen die Bedenken des Wandsbecker Boten schwinden, und die Vorwürfe haben wenig Anspruch auf Berechtigung, die sich dagegen erheben, daß Emilie so schnell nach dem Tode ihres Verlobten an eine andere Liebe denken könne. Nicht sowohl ist ihr Tod eine Flucht vor einem zukünftigen Uebel, als vor Allem eine Flucht aus einem gegenwärtigen Zustande, der mit durch eigene Schuld zu einem unerträglichen geworden ist. Auch in der Katastrophe verdient daher die Annahme der Liebe in dem angenommenen Maße als bessere Motivirung des Todes­ ent­schlusses den Vorzug. Das Verhältniß der beiden Annahmen ist also folgendes. Keine Stelle des Textes im ganzen Stück zwingt direct zur Annahme der Liebe Emiliens zum Prinzen. Auch ohne dieselbe lassen sich die einzelnen Scenen verstehen, und auch der Todesentschluß Emiliens bleibt verständlich. Zu der anderen Annahme, die bei dem Verhältniß Emiliens zu Appiani und bei der Persönlichkeit des Prinzen als möglich erschien, führt die weniger gezwungene Auslegung einer bestimmten Stelle. Ihre Unterstützung nahm diese Annahme aus der Ansicht Lessings über die Schuld bei einer tragischen 164

Ueber Lessings Emilia Galotti.

Person. Mit ihr ließen die einzelnen Scenen ein leichteres Verständniß zu; es entwickelte sich die weitere Verkettung der Handlung aus der Schuld, besonders aber fand der Todesentschluß Emiliens eine unserem Empfinden sowohl wie unserem Verständniß passendere Erklärung. Beruht die ganze zweite Erklärung aber nicht viel zu sehr auf Reflexion und steht der ersteren Auffassung darin nach, daß man mehr nachdenken, sich erinnern muß, und so die Wirkung der Katastrophe gestört wird? Liegt die Liebe und der dadurch bedingte innere Kampf bei dem Mangel an directen Andeutungen des Dichters nicht viel zu wenig offen da, um die von der Tragödie beabsichtigte erschütternde Wirkung in uns hervorzubringen? Erst in der Katastrophenscene boten sich da die Gründe, die uns zu dieser Annahme bestimmten. Diese Gründe mögen einen Zweifel des L e s e r s über die Motive erst in der Katastrophenscene zum Abschluß bringen, und hier mag die Reflexion störend eingreifen. Anders jedoch ist die Wirkung bei dem Z u s c hau er. Lessing gab, sagt Devrient, in Emilia Galotti »Charaktere, welche an innerem Reichthum und Vollendung von keinem späteren Dichter übertroffen worden sind und dennoch dem Darsteller so viel zwischen den Zeilen zu lesen, zu errathen und zu ergänzen übrig lassen. An sämmtlichen Rollen von Emilia Galotti kommt die Schauspielkunst niemals zu Ende, sie findet unerschöpfliche Anregungen und Aufgaben darin.« Und Goethe sagt zu unserem Stück: »Wenn alle so vortrefflich spielten, wie Madame Wolf … daß sie diese Masken ausfüllten, ja noch mehr dahinter zu errathen ließen, so würde man nicht wissen, was man zu sehen bekäme, so gewönne alles mehr Sinnlichkeit u. s. w.« Ist nun die Liebe als Motiv von vornherein angenommen, so bietet der Ausdruck speciell in dieser Rolle gleich von Anfang eine so mannigfache Gelegenheit, dieses Motiv zur Anschauung zu bringen, daß ein Zweifel nicht aufkommen kann. Somit werden auch in dieser Darstellung jene Momente, welche den Todesentschluß Emiliens verständlicher machen, hervortreten, und eine Darstellung in diesem Sinne wird weniger unser Nachdenken über das Zwingende der Motive erfordern. Wenn aus dieser Darstellung des Vorfalls in der Kirche die Neigung zum Prinzen hervorleuchtete, wir die schnelle Bereitwilligkeit, den Vorfall zu verschweigen, aus dieser Neigung verstanden, und die noch fortdauernde Macht der Persönlichkeit des Prinzen uns in dem Zusammentreffen beider auf Dosalo anschaulich wurde, so finden wir auch beim späteren Wiedererscheinen Emiliens sogleich in diesem Verhältniß ein Verständniß ihrer Gemüthslage und der Richtung, die ihre Gedanken nehmen. Ohne diese Annahme suchten wir ihren Todesentschluß aus ihrer außerordentlichen Furchtsamkeit und sittlichen Scheu zu verstehen und die Furcht vor der Verführung aus dem exaltirten Zustande zu begreifen. Ob aber inm i t t en d er g a n z en Ha n d l ung unsere Gemüthsstimmung zu einem derartigen Hineinversenken in die Natur Emiliens geneigt ist, und wir ohne Schädigung des Verständnisses der ganzen Handlung in diesem Falle das Verhalten Emiliens so begreiflich finden, wie es die aus dem Ganzen losgelöste Einzelbetrachtung der Katastrophe ermöglichte, bleibt zu bezweifeln. Wir treten gar nicht in die Katastrophenscene mit einem hervorragenden Interesse 165

Gustav Heidemann

an dem Seelenkampf Emiliens. Sie hat uns schon im III. Act verlassen, und die inneren Erregungen, welche sie von dem Zeitpunkt an bewegen, als sie den Tod Appianis ahnt, werden uns vom Dichter nicht vorgeführt. Während dieser ganzen Zeit aber hat ein ganz anderer Kampf auf- und abwogender Leidenschaften uns gefesselt, und die Spannung dieses Kampfes ist bis in die Scene unmittelbar vor der Katastrophe so gesteigert, daß das Interesse, was das Ende dieses Kampfes sein werde, auch in der Katastrophenscene das Vorherrschende ist, und der neu hinzutretende Seelenkampf Emiliens erst in zweiter Linie unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht. Es ist dieses der leidenschaftliche Zustand Odoardos, eines Charakters, der von der Kritik weniger eingehend als die übrigen Personen des Stückes behandelt wurde und doch eine genauere Beleuchtung verdiente, denn gerade hier hat es an einer Auffassung nicht gefehlt, bei deren Annahme es allerdings wohl unmöglich ist, neben dem Verhalten gegenüber dem Prinzen die blutige That der Ermordung der eigenen Tochter zu verstehen und so den Vorwurf zurückzuweisen, daß die Katastrophe gewaltsam herbeigeführt ist. Bleibt nun auch bei anderer Auffassung der Tadel inconsequenter Zeichnung dieses Charakters bestehen, und wie stellt sich, falls die That als resultirend aus der Individualität Odoardos begriffen werden kann, die obige Annahme über die Liebe Emiliens zu dieser Auffassung? In Ungeduld ist am frühen Morgen des Hochzeitstages der alte Oberst Odoardo von seinem Landgute Sabionetta, auf dem er ohne seine Familie lebte, nach Guastalla geritten. Er findet Emilie nicht zu Hause, und schon die Mittheilung der Mutter, daß sie allein zur Messe gegangen, erregt seine Besorgniß. Und als gar im Laufe des Gespräches die Mutter mit ihrem Glücke nicht mehr an sich halten kann und stolz von der Auszeichnung berichtet, die ihrer Tochter in der Gesellschaft im Hause Grimaldi durch den Prinzen zu Theil geworden, da wird Odoardo in eine solche Erregung versetzt, daß er fürchtet, bei längerem Verweilen seine Fassung der Claudia gegenüber zu verlieren: »Doch, ich möchte dir heute nicht gern was Unangenehmes sagen. Und ich würde, wenn ich länger bliebe.« Er kennt dieses Auffahren seines leidenschaftlichen Temperaments selbst genug, und sein ernstes Bestreben ist es immer, desselben Herr zu werden. Es ist ihm aber nicht gelungen, diese Hast seines Wesens zum ruhigen energischen Verfolgen des Gewollten einzudämmen, trotz der mannigfachen Conflicte, in die gerade eine so reizbare, von hohem Ehrgefühl erfüllte Natur mit der Außenwelt gerathen mußte. »Ich hab’ es mir so oft gesagt. Und doch ließ ich mich fortreißen.« Nicht also zu jener stetigen Energie ist der Wille Odoardos gefestigt, wohl aber hat die Einsicht in das Verfehlte so mancher seiner augenblicklichen Handlungen ein Mißtrauen in die Richtigkeit seines jedesmaligen Verfahrens wachgerufen. Wie dieses Mißtrauen in die eigenen Handlungen nun einerseits eine größere Werthschätzung fremder Urtheile hervorruft und ihn nachgiebig macht, so erweckt es andererseits weiterhin das Gefühl, selbst besser gar nicht zu handeln. Nach der ersten Erregung ist seine Hand bald gelähmt, und er giebt in schwieriger Lage nur zu gern einer höheren Macht, »einem ganz Anderen« die Entscheidung anheim, um nur selbst des Handelns enthoben zu sein. Aus solchem Gemüthszustande entspringt die Unlust an dem wirklichen thätigen Leben, die Sehnsucht nach Einsamkeit wird stärker und muß besonders da 166

Ueber Lessings Emilia Galotti.

zwingend eingreifen, wo es sich um die Abkehr einer so sittlichen und rechtlichen Natur wie die Odoardos von den damaligen Zuständen in Guastalla handelt. So war der sehnliche Wunsch Odoardos, mit Weib und Kind fern von Guastalla in der Einsamkeit seines Landgutes zu leben. Zu nachgiebig, aber gegenüber der Gemahlin fügt er sich deren Wunsche, der Tochter in der Stadt eine anständige Erziehung geben zu lassen, lebt aber selbst fern von beiden in der Einsamkeit von Sabionetta, obgleich er wohl argwöhnt, daß es mehr das Geräusch und die Zerstreuung der Welt und die Nähe des Hofes war, was die Mutter bewog, mit der Tochter in der Stadt zu bleiben. Der gleiche Entschluß nun, fern von dem Treiben der Welt in seinen väterlichen Thälern sich selbst zu leben, entzückt ihn vor allem an Appiani, dieser reinen, ritterlichen Erscheinung. Beide sind in ihrer hohen Ehrenhaftigkeit verwandte Naturen, und ihre Herzen schließen sich eng zusammen, wenn die Gedanken, abgewandt von der Wirklichkeit, sich zu dem erheben, was den Menschen wahrhaft gut und edel macht, und hier diese Uebereinstimmung zum vollen Bewußtsein kommt. Für eine Natur aber, wie die Odoardos, muß die Einsamkeit gefährlich werden. Das Verständniß der Wirklichkeit verringert sich, der Argwohn und das Mißtrauen muß wachsen, jemehr der Blick von den beleidigenden Erscheinungen des wirklichen Lebens abgewendet wird, und die Phantasie Ersatz sucht im Verweilen bei Zuständen und Gestalten, die ein Bild dessen sind, was das eigne Innere als das Höchste und Schönste erachtet. Diesen Raum gewinnt die Phantasie auf Kosten des Willens, der sich nicht bethätigen kann und jetzt einer Schulung entbehrt, die gerade die jähe Hast des leidenschaftlichen Temperaments so sehr erfordert. Tritt nun das wirkliche Leben mit seinen Forderungen an die Stelle der thatenlosen Einsamkeit, dann steht ein Verkennen der Verhältnisse und die unrichtige Bethätigung des Willens zu besorgen. Wird aber eine Natur, wie die Odoardos, so plötzlich wieder hineingerissen in die Wirklichkeit, packen ihn jetzt wirklich die Ereignisse da, »wo er am tödtlichsten zu verwunden ist« und fordern gebieterisch sein thätiges Eingreifen, so können wir ihn nur mit bangem Zweifel an der Richtigkeit seiner Entscheidungen und seines Handelns begleiten. »Gott befohlen, Claudia! – Kommt glücklich nach!« sind die Abschiedsworte des bewegten Mannes. »Du reitest vorauf. Reite doch, reite!« ist die Aufforderung des Banditen an Angelo, durch deren Befolgung die frühzeitige Benachrichtigung Odoardos von dem Unfall und damit sein Erscheinen auf Dosalo und das verhängnißvolle Zusammentreffen mit Orsina ermöglicht wird. Auch diese führte nur scheinbar der Zufall zu der für die Katastrophe so wichtigen Begegnung. Die Mißachtung, mit welcher der Fürst den Brief der früheren Geliebten ungelesen bei Seite warf, veranlaßte das so störende Erscheinen der Gräfin; die beabsichtigte Täuschung derselben durch Marinellis unwahre Darstellung der Verhältnisse schlägt in das Gegentheil um, indem das leidenschaftliche Weib, tief im Herzen durch den Prinzen verletzt, durch die freche Geringschätzung des Höflings vollständig klar über ihre hoffnungslose, entwürdigende Lage, mit einem Blicke das ganze verbrecherische Truggewebe durchschaut und nun in wilder Freude und heißer Rachsucht die Macht einer Empfindung zeigt, welche beim Ausdenken des Planes nicht mit in Rechnung gezogen war. In Odoardo 167

Gustav Heidemann

sucht sie den Rächer zu gewinnen, und die neue plumpe Lüge, mit der Marinelli die Gräfin als wahnsinnig hinstellt, kann nur dazu dienen, ihre Angaben dem Odoardo glaubwürdiger zu machen, der gar bald einsieht, daß er es mit keiner Wahnsinnigen zu thun hat. Wenn Orsina aber zuerst nur mit unbestimmten Ausdrücken Andeutungen macht, den Unglücklichen beklagt, auf den Wahrheiten warten, mit ihm Schmerz und Wuth treulich theilen will, in einem unglücklichen Kinde immer das einzige Kind sieht, mit einem Worte ihn um seinen Verstand bringen kann, so muß ganz besonders diese Art der Andeutung einen Mann wie Odoardo in leidenschaftliche Spannung versetzen. Und als sie nun mit sicherer Hand Schlag auf Schlag gegen sein Herz führt, berichtet, daß der Graf verwundet – todt, doch dieses nur Nebensache ist, die Tochter, schlimmer als todt, erst anfangen wird zu leben, ein Leben voll Wonne, das schönste lustigste Schlaraffenleben, und nun zur Bewahrheitung ihrer Angaben die vertrauliche Zusammenkunft am Morgen in der Messe und am Nachmittag auf dem Lustschlosse zusammenstellt, da ist es um die Ruhe Odoardos geschehen. Ein Einverständnis der Tochter weist das vertrauende Herz des Vaters zurück, aber das Verbrechen steht klar vor seiner Seele, entflammt seine Wuth und läßt ihn begierig den Dolch fassen zur Rache an dem Mörder und Schädiger seiner Ehre. Da erscheint Claudia. Unsere Befürchtung, daß sich seine Wuth zuerst gegen die kehrt, welche durch ihre mütterliche Eitelkeit und Schwäche die Möglichkeit zu dem Geschehenen bot, findet ihre Bestätigung in der Erregung, in welche ihn ihr Anblick versetzt. Und nur mit Mühe vermag er den wiederholt aufsteigenden Grimm niederzukämpfen und seine Fassung zu bewahren. Er läßt sich die Thatsachen bestätigen und führt die Gräfin und seine Gemahlin zu dem Wagen, nachdem er noch einmal die erstere seines Rachegedankens versichert hat. Nun ist er mit sich allein; nicht mehr steht ihm zur Seite das Weib, das seine Wuth zum leidenschaftlichen Rachegedanken aufzustacheln wußte; er muß seine Fassung zu gewinnen suchen, und mit diesem Bestreben tritt sogleich der Zweifel in die Richtigkeit seines Entschlusses ein. War es denn nicht auch jetzt wieder die aufbrausende Leidenschaftlichkeit, die ihn, wie schon oft, fortriß? Und »doch nichts Verächtlicheres, als ein brausender Jünglingskopf mit grauen Haaren«. Und wer war es denn, der ihn fortriß? Eine Eifersüchtige, eine vor Eifersucht Wahnsinnige. So hätte seine That also der Rache des Lasters gedient, und er hat es doch nur mit der Rettung der gekränkten Tugend zu thun. Wohl drängt sich in diese Gedankenreihe noch einmal der tiefe Schmerz um den geliebten Todten, aber zur Rachethat an dem Mörder vermag er den Arm nicht mehr zu stählen: den Entschluß, h i e r s e l b s t zu handeln, giebt er nun ganz auf und überläßt es dem Himmel, strafend einzugreifen, während er die Gedanken von der That ab den Bildern seiner Phantasie zuwendet, die ihm den Prinzen zeigen, wie ihn Sättigung und Ekel von Lüsten zu Lüsten treiben, und die Erinnerung, diese eine Lust nicht gebüßt zu haben, den Genuß aller vergällt. »In jedem Traume führe der blutige Bräutigam ihm die Braut vor das Bette; und wenn er den wollüstigen Arm nach ihr ausstreckt, so höre er plötzlich das Hohngelächter der Hölle und erwache.« Lediglich beschäftigt mit dem Gedanken an die Rettung seiner Tochter, die er mit sich nach Sabionetta nehmen will, tritt er vor Marinelli. Aber rasch treibt die Bemer168

Ueber Lessings Emilia Galotti.

kung des letztern, daß seine Tochter vorerst nach Guastalla zurückgebracht werden müsse, sein Blut wieder hitzig empor, und der Willkür gegenüber sieht er in dem Durchbrechen der Gesetze, der Ermordung des Prinzen, die Rettung. Kaum aber hat er die That gedacht, als er sie wiederum in dem Bewußtsein seiner leidenschaftlichen Erregung zurückdrängt, als voreilig auf Geplauder einer Hofschranze hin beschlossen. Und nun möchte er in seiner ehrlichen Unbeholfenheit und Rechtlichkeit gern Marinelli weiteres Gehör geschenkt haben, um den Vorwand für die Nothwendigkeit der Rückkehr nach Guastalla zu erfahren, als wenn mit der richtigen Widerlegung wie im ehrlichen Streite auch das Begehren auf der anderen Seite aufgehoben würde. Mit der Einsicht, daß überhaupt wohl keine Antwort helfen werde, drängt sich wieder jener gewaltsame Rettungsweg auf, und wiederum sucht er seine Fassung zu bewahren und zwingt sich zur hitzigen That. Er geht nicht von der festen Annahme der verbrecherischen That und dem verbrecherischen Wollen des Prinzen aus, um das richtige Rettungsmittel in der gefährlichen Lage zu suchen, sondern mit dem Mißtrauen in die Richtigkeit der That giebt er auch dem Zweifel an der Richtigkeit seiner früheren Annahme Raum, und so ist es wohl gar nicht des Prinzen Wille, ihm seine Tochter vorzuenthalten. Und diese Ansicht scheint sich zu bestätigen. Mit gesuchter Freundlichkeit kommt der Prinz dem Odoardo entgegen und stellt sich seiner übernommenen Rolle gemäß, als weiche er der berechtigten Entscheidung des Vaters, der die Tochter in ein Kloster führen will. So hat ja Odoardo mit seiner Meinung über den Prinzen recht; triumphirend wendet er sich zu Marinelli und bietet so selbst die Gelegenheit, daß das traurige Possenspiel mit schamloser Frechheit fortgesetzt werden kann. Als Freund des Todten, zur Rache aufgefordert von diesem selbst, den nicht Räuber, sondern ein Nebenbuhler aus dem Wege geräumt, fordert Marinelli ein Verhör Emiliens in Guastalla. Zuerst noch von dem Gefühl beherrscht, nur in dem Höfling seinen Gegner zu haben, kann Odoardo mit Ironie und Hohn diese freche Darstellung begleiten, bis die Erwähnung eines Nebenbuhlers auch den Prinzen wieder hervortreten läßt, und nun der Makel, der auf die Tochter geworfen wird, das Herz des Vaters mit dem bittersten Schmerz erfüllt. Jetzt giebt der Prinz, scheinbar der Gerechtigkeit folgend, der Ansicht Marinellis nach, und dem Odoardo eröffnet sich der Blick in das ganze abgekartete Spiel der Beiden. Und als nun mit den weiteren Forderungen dieser Gerechtigkeit, der Trennung des Vaters von den Seinigen, der Trennung der Mutter von der Tochter, einer besonderen Verwahrung Emiliens, der ganze raffinirte Plan offen daliegt, da kocht die Wuth des Mannes auf, das schon öfter in’s Auge gefaßte Rettungsmittel steht mit eins wieder vor der Seele Odoardos, und seine Hand faßt nach dem Dolche. »Fa ssen Sie sich, lieber Galotti,« – ruft der Prinz dem erregten Manne zu – und die That bleibt wieder ungeschehen. Man hat in der schmeichelhaften und freundlichen Weise, mit welcher der Prinz hier dem Odoardo entgegentritt, den Grund gesucht für das Unterlassen der That. Bei der selbstbewußten, reservirten Haltung jedoch, die Odoardo in der ganzen Scene dem Prinzen gegenüber zeigt, und bei dem entgegengesetzten Eindrucke, den die viel stärkeren sentimentalen Schmeicheleien des Prinzen am Schluß der Scene hervorru169

Gustav Heidemann

fen, endlich bei der Form der gleich folgenden Antwort Odoardos bleibt es schwer zu verstehen, wie in der Freundlichkeit die Macht liegen soll, welche die hitzige Erregung Odoardos niederzwingt. In den Worten selbst vielmehr liegt die Erklärung. Fa ssung ist ja das Wort, das er sich selbst immer zuruft, Fassung die stete Forderung, welche gleich neben der hitzigen Aufwallung eintritt und dann die Hand lähmt, die nur zu schnell handeln wollte. Denselben Entschluß hatte er schon wiederholt gefaßt, bald aber, sich selbst überlassen, in jenem Streben nach Fassung wieder aufgegeben. Jetzt ist die Spanne zwischen dem Entschluß und der Möglichkeit der Ausführung kürzer. In dieselbe fällt nun gerade diese Mahnung des Prinzen. Der gewichtigen Bedeutung ist sich der Prinz natürlich nicht bewußt, in Odoardo aber ruft sie wie früher die Abkehr vom Handeln hervor. »Das sprach sein Engel.« Erbarmungswürdig ist jetzt der Zustand Odoardos, und es ruft unser ganzes Mitleid wach, wenn wir sehen, wie er sich in seinem rathlosen Schmerz mit der Bitte um Hülfe an – Marinelli wendet. Nur einen Augenblick kann er diesen Gedanken haben; die ganze schreckliche Lage steht wieder vor seinen Augen, daß er fürchtet wahnsinnig zu werden. Er verfällt in tiefes Nachsinnen. Das eben gedachte Rettungsmittel war seiner aufbrausenden Leidenschaftlichkeit entsprungen. Schon dieser Ursprung muß im Innern Odoardos den Zweifel an die Richtigkeit desselben wieder wachrufen, ein Zweifel, der nun in dem Herzen des alten an unbedingten Gehorsam gewöhnten Soldaten neue Nahrung sucht und findet. In der Abkehr von diesem Wege bleiben in der verwirrenden Betäubung der Lage nun seine Gedanken in dem Kreise dieser gewaltthätigen blutigen Mittel, und der Gedanke, durch die äußerste Anwendung des väterlichen Rechtes, die Vernichtung seiner Tochter, die Schande abzuwenden, findet in dem starren Gerechtigkeitssinn des Mannes seine Empfehlung und drängt sich ihm als der einzige Ausweg auf. Diesen Uebergang zu dem scheinbar letzten Rettungsmittel hat uns der Dichter nicht vorgeführt. Odoardo steht in tiefen Gedanken und hört nur halb die Worte, mit denen ihm der Prinz in hastender Leidenschaftlichkeit die Zustimmung abzupressen sucht. Als er aus seinen Sinnen erwacht, steht dieses Mittel noch unklar, aber als das einzige vor der verdüsterten Seele. Die andere Möglichkeit, den Prinzen zu ermorden, hat er ganz aufgegeben. Zweifelte er noch, welches Mittel das rechte, so mußte ihm die Gegenwart Emiliens und des Prinzen erwünscht sein. Zur Ausführung dieses Planes ist ein Alleinsein mit Emilie erforderlich. Deshalb lehnt er das Zusammentreffen mit Emilie in Gegenwart des Prinzen ab. Die Tochter soll zu ihm kommen. »Hier, unter vier Augen, bin ich gleich mit ihr fertig.« Nun ist er wieder mit sich allein. Die Worte des seines Erfolges jetzt sicheren, weichlich erregten Prinzen klingen in ihm nach: Er soll sein Freund, Führer, Vater sein. Der Gegensatz zu der Wirklichkeit läßt ihn in wildem Hohn auflachen. Das Lachen erschreckt ihn; es erscheint ihm als fremdes. Wie kann er jetzt lachen? Und doch, weshalb nicht? Die Zukunft ist zu furchtbar traurig, und noch einmal gellt sein herzzerschneidendes: »Lustig, lustig!« auf. »Das Spiel geht zu Ende. So oder so!« Entweder die grauenvolle Zukunft, oder mit dem Dolchstoß der Tod seiner Tochter. Es ist doch Alles zu Ende. 170

Ueber Lessings Emilia Galotti.

Der Gedanke an die erstere Möglichkeit führt nun sein Mißtrauen und seinen Zweifel herauf, ob Emilie sich auch nicht vielleicht im Einverständniß mit dem Prinzen befindet. Die weitere Ueberlegung sodann, daß sie in diesem Falle einer solchen That nicht werth, läßt ihn zum ersten Male diese That schärfer in’s Auge fassen. Da stößt ihn die Gräßlichkeit derselben zurück und bestimmt ihn, selbst gar nicht einzugreifen. »Fort, fort! Wer sie unschuldig in diesen Abgrund gestürzt hat, der ziehe sie wieder heraus. Was braucht er meine Hand dazu?« Jetzt erscheint Emilie. Der Himmel, den er eben angerufen, scheint also seine Hand zu wollen. Und wieder faßt er den Entschluß, zu handeln. Wird er diesmal die That vollführen? Mit dieser Frage treten wir, erregt durch das Auf- und Abwogen dieser jetzt zum höchsten Grade gesteigerten Leidenschaft, an dem unsere Seele in all den vorausgehenden Scenen mit Spannung hing, unmittelbar mit Odoardo in die Scene, in welcher sich die Katastrophe vollzieht. Allein gelassen, würde er den Entschluß bald wieder aufgeben, und er wird ihn auch dann nicht zur Ausführung bringen, wenn Emilie den Entschluß nicht theilt. Hat sie dieselbe Ueberzeugung, jedoch nicht in der Stärke, daß jedes Schwanken ausgeschlossen ist, so werden auch seine Zweifel wieder erwachen und ihm die Hand lähmen. In dem Falle aber, daß sie mit gleicher Leidenschaftlichkeit in dem Tode das einzige Rettungsmittel sieht und seine Leidenschaft steigert, daß die Festigkeit ihres Willens so stark ist, um die That als unabweisbar durch die Verhältnisse gezwungen erscheinen zu lassen, wird die That wahrscheinlich. Im Stücke zeigt nun Emilie diese Festigkeit. Sie gelangt in kurzer Zeit zum Todes­ entschluß und hält ohne Wanken daran fest. Je weniger unsere Gedanken jetzt durch die Frage nach der Ursache dieser leidenschaftlichen Festigkeit in Anspruch genommen werden, um so mehr Aufmerksamkeit widmen wir dem Eindruck derselben auf das Gemüth Odoardos. Je mehr uns aber ferner aus den Verhältnissen die Unerschütterlichkeit des Entschlusses im Herzen Emiliens verständlich ist, um so größer wird unsere Furcht vor dem leidenschaftlichen Drange Odoardos und um so verständlicher das Eintreten der blutigen That. Bot nun die Voraussetzung der Liebe Emiliens zu dem Prinzen und die anschauliche Darstellung derselben auf der Bühne ein leichteres Verständniß des Todesentschlusses sowohl in der Betrachtung der unerträglichen Gegenwart, als der Richtung, welche ihre Gedanken in die Zukunft nahmen, so werden wir diese Annahme um so weniger zurückweisen, je schwerer die blutige That der Ermordung der eigenen Tochter an sich zu verstehen ist und hier im Stücke nur bei genauer Beachtung der Eigenthümlichkeit von Odoardos Charakter ihre Erklärung finden kann. Daß von dem tragischen Paare Emilie und Odoardo der letztere diese Aufmerksamkeit in vollerem Maße in Anspruch nimmt, wurde dadurch bewirkt, daß sich die Katastrophe unmittelbar an die Scenen anschloß, in denen wir unser ganzes Interesse diesem zuwandten, und die Furcht, ob er zur That hingerissen wird, das uns beherrschende Gefühl beim Eintritt Emiliens war. Ueberhaupt aber hat der Dichter den Character der Emilie weit weniger reich gezeichnet. Die inneren Vorgänge, die diese nach dem Tode des Grafen bis zur 171

Gustav Heidemann

Katastrophenscene bewegen, sind unserer Anschauung entzogen, und nur die Hast, mit welcher sie den Entschluß zu sterben faßt, und die Festigkeit, mit welcher sie daran festhält, gestatten einen Rückschluß auf dieselben. Wohl ist sie es, die in der Mitte des ganzen Stückes steht, um die sich das Handeln Aller dreht, die Person jedoch, durch welche in erster Linie der Dichter unser Mitleid und Furcht erregen wollte und erregte, ist Odoardo. Er ist der Hauptträger der tra g ischen Handlung, dessen Schuld in der Schwäche gegenüber seiner eigenen leidenschaftlichen Natur und in der daraus entspringenden That liegt. Seine Gemüthsbewegungen bei den Anreizungen Orsinas, in den Kämpfen gegen den Prinzen und Marinelli, in seinen Selbstgesprächen werden uns klar dargelegt. Wir theilen den Schmerz des im tiefsten Herzen getroffenen Mannes und sehen, wie die immer mehr unabweisbare Gewißheit seiner traurigen Lage die Erregung des verdüsterten Gemüths steigert und seine Leidenschaftlichkeit einem Ziele zudrängt, »vor dem«, wie Lessing nach seiner Auffassung der aristotelischen Poetik sagt, »unsere Vorstellungen zurückbeben, und an dem wir uns endlich, voll des innersten Mitleids gegen die, welche ein so fataler Strom dahinreißt, und voll Schrecken über das Bewußtsein befinden, auch uns könne ein ähnlicher Strom dahin reißen, Dinge zu begehen, die wir bei kaltem Geblüte noch so weit von uns entfernt zu sein glauben.« 1880.

172

Julius Rohleder G. E. Lessing’s Emilia Galotti als Lectüre für Prima. [1881]

Unter den vielen und mannigfaltigen Aufgaben des deutschen Unterrichts in den oberen Classen des Gymnasiums nimmt die Lectüre und Erklärung der classischen Werke unserer Nationallitteratur unstreitig die erste Stelle ein. Indem sie bei gleichmässiger Beschäftigung des Verstandes, der Phantasie und des Gemütes der Schüler in anregender Weise den jugendlichen Geist an Gedanken, Bildern und sittlichen Idealen bereichert, leitet sie zugleich, unterstützt von kurzen Lebensbildern der Dichter und ihrer Zeit, leichter und freudiger als eine systematische Darstellung der Literatur­geschichte zu dem Verständnis der geistigen Entwickelung unsers Volkes an: indem sie ferner ein­zelne durch Klarheit der Rede und Schönheit der Form ausgezeichnete Kunstwerke in ihrem von einer Idee bestimmten Organismus kennen lehrt, führt sie besser als eine abstracte Theorie der Rhetorik und Poetik durch anschauliche Beispiele zur Einsicht in die für Prosa und Dichtung wichtigsten Formen und Gesetze. Ausserdem bietet gerade in Folge dieser für Inhalt und Form so vielseitigen Anregung die Lectüre classischer Werke im deutschen Unterricht wie kein anderer Unterrichtsgegenstand Gelegenheit, die Schüler zu selbstthätigem Nachdenken und einem nach Klarheit, Ordnung, Maass und Schönheit strebendem Ausdruck ihrer eigenen Gedanken durch Vorträge und Aufsätze anzuleiten. Soll aber so die Erklärung einer Dichtung oder Abhandlung, zugleich belehrend für wichtige Abschnitte der Litteraturgeschichte und Poetik oder Stilistik und anregend für Vorträge und Aufsätze, im Mittelpunkt des deutschen Unterrichtes stehen, so muss sie über die Erklärung des einzelnen, was ja bei einem in der Muttersprache geschriebenen Werk weder fachlich noch sprachlich grosse Schwierigkeiten machen kann, schnell hinweggehend das ganze den Schülern zum übersichtlichen Verständnis zu bringen und zugleich nach der deductiven Methode Lessings im Laocoon und in der hamburgischen Dramaturgie in der einzelnen epischen oder dramatischen Dichtung – denn um diese handelt es sich vorzugsweise – allgemeine Gesetze und generelle Schönheiten anschaulich zu machen suchen. Eine solche mehr auf das allgemeine und das ganze gerichtete Dichtererklärung des deutschen Unterrichts ergänzt sich dann auch glücklich mit der mehr das einzelne und besondere ins Auge fassenden Erklärung der in fremden Sprachen geschriebenen Litteraturwerke. Wenn ich nun, gestützt auf die practischen Erfahrungen und Anregungen eines mehrjährigen deutschen Unterrichts in der Unter-Prima des hiesigen Gymnasiums unternehme, den Gang und die Methode einer nach diesen allgemeinsten Grundsätzen geleiteten gemeinschaftlichen Lectüre der Emilia Galotti Lessing’s in der Prima anschaulich zu machen, so hoffe ich dadurch nicht nur meinen Schülern einen nützlichen Anhalt und eine Ergänzung zu dem mit ihnen über Lessing durchgesprochenen zu bieten, sondern auch in weiteren Kreisen dem deutschen Unterrichte zu nützen und

173

Julius Rohleder

zugleich zur Ehre des Mannes, an dessen hervorragende Verdienste um deutsche Bildung und Cultur unser Volk bei Gelegenheit der hundertjährigen Wiederkehr seines Sterbetages vor wenigen Wochen sich dankbar erinnert hat, nach meinen Kräften beizutragen. Die erste und wesentlichste Aufgabe bei der schulmässigen Erklärung einer dramatischen Dichtung im deutschen Unterricht ist, den Schülern die Dichtung an und für sich, ohne Rücksicht auf ihre historische Entstehung und litterargeschichtliche Bedeutung, auf welche sie besser erst dann hingewiesen werden, wenn die Dichtung selbst ihnen vorher bekannt und vielleicht lieb geworden ist, nach Inhalt und Form gegenwärtig zu machen. Zu diesem Zweck bedarf es, abgesehen von einzelnen Wort- und Sacherklärungen bei der gemeinsamen Lectüre, einer vorbereitenden und den Gegenstand mehrfach verarbeitenden Besprechung der Handlung und ihrer Motive, so wie belehrender Orientierung über die organische Gliederung, über die Characteristik und die Idee des Drama. Damit aber durch diese auf ein tieferes Verständnis der Dichtung gerichteten Besprechungen nicht der Genuss der Dichtung selbst, der nur durch eine zusammenhängende, durch zerstreuende Bemerkun­gen nicht unterbrochene Lectüre gewonnen werden kann, beeinträchtigt werde, damit die Schüler mit gesammeltem Geiste der Handlung folgen und ungestört durch dazwischen fahrende Erklärung die einzelnen Züge der Charakteristik zu anschaulichen Characteren sich getalten können, empfiehlt es sich, alle derartigen Belehrungen nicht während der Lectüre selbst, sondern zur Vorbereitung oder im Anschluss an dieselbe, das heisst möglichst zum Beginn oder zum Schluss einer jeden der gemeinsamen Lectüre der Dichtung gewidmeten Unterrichtsstunde vorzunehmen und sich während der Lectüre selbst, so weit es nicht durchaus nötig ist, eingehenderer Erklärungen zu enthalten. Was nun zunächst den Zusammenhang und die Motive der Handlung betrifft, die in der zu erklärenden Dichtung dargestellt wird, so ist zu dem Verständnis derselben vor allen Dingen den Schülern ein klares Bild der Vorhandlung nötig, das heisst eine lebendige Anschauung aller derjenigen Verhältnisse des Helden und seiner Umgebung, die vor der eigentlichen Handlung der Dichtung liegend zum Verständnis derselben unentbehrlich sind. Während es nun bei den Dichtern des Altertums Brauch war, diese Vorbedingungen der Handlung in einem mehr erzählenden als dramatisch belebten und gegliederten Eingang der Dichtung, bei Euripides sogar in einem von der Handlung abgelösten Prolog mitzuteilen, sehen die modernen Dichter grade darin eine besondere Aufgabe ihrer Kunst, die Andeutungen und Züge der Vorhandlung leicht und ungezwungen mit der Handlung selbst, das heisst mit dem Dialog der handelnden Personen zu verknüpfen; es ist als Ausnahme, auf welche die Schüler bei dieser Gelegenheit aufmerksam gemacht werden können, zu betrachten, wenn der Dichter die Vorhandlung von der Handlung selbst absondert und sie zu einem eignen Vorspiel, wie in der Jungfrau von Orleans, in Wallensteins Lager, im Prolog zum Faust ausweitet. Diese Kunst aber, die Vorhandlung durch die Handlung leicht und wie absichtslos zu vergegenwärtigen, hat kein Dichter mit solcher Gründlichkeit und Meisterschaft geübt als der mit berechnender Ueberlegung combinierende und mit grosser Menschenkenntnis motivierende Lessing in seinen 174

G. E. Lessing’s Emilia Galotti als Lectüre für Prima.

beiden Meisterwerken »Minna von Barnhelm«1 und »Emilia Galotti« Es wird also grade bei dieser Dichtung sich empfehlen, die Schüler durch die Vorhandlung, mit der auch immer schon die Hauptcharakterzüge der handelnden Personen gegeben sind, in die Dichtung einzuführen. Der Ort der Handlung ist Guastalla, einer der kleineren italienischen Fürstenhöfe in der Nähe von Modena. Für die innere Wahrscheinlichkeit der Handlung, dass ein Vater seiner eigenen Tochter, deren Ehre von der zügellosen Sinnlichkeit eines leidenschaftlichen, in seinem Gebiet allmächtigen Fürsten bedroht ist, auf ihre eigene Bitte, um sie vor Schande zu bewahren, den Dolch in’s Herz stösst, ist es ein glücklicher Griff, dass der Dichter uns nach Italien versetzt, wo unter einer heisseren Sonne leidenschaftlichere Menschen wohnen, und zwar an einen der kleineren Fürstenhöfe des siebzehnten Jahrhunderts, deren Sittenlosigkeit durch die Geschichte hinlänglich bezeugt ist. In diesem kleinen Herzogtume gebietet unbeschränkt der Prinz Hettore Gonzaga, dessen Name und Charakter sowie die ganze Handlung mit allen Personen vom Dichter frei ohne geschichtliche Anlehnung erfunden ist, ein Musterbild der genusssüchtigen und gewissenlosen Fürsten, die ohne festen sittlichen Halt, abhängig von ihren Günstlingen, den gefügigen Dienern ihrer Leidenschaften, durch Verschwendung, Sinnlichkeit und Willkür ein Fluch der ihnen anvertrauten Lande waren, Fürsten, wie sie zur Zeit, als Lessing seine Dichtung schrieb, auch in Deutschland nicht ohne Beispiel waren. So ist auch in der Charakteristik des Prinzen Hettore der hervorstechendste Zug eine leidenschaftliche Sinnlichkeit, die verbunden mit einer vornehm würdigen Erscheinung, grosser persönlicher Gewandtheit in den Verkehrsformen der höheren Gesellschaft und einem bestechenden, aber nicht erwärmenden Schein von Geist, Gefühl und künstlerischem Sinn besonders den Frauen seines Hofes um so gefährlicher ist, als Unbeständigkeit und ein Mangel an Herzenswärme ihn unfähig machen, wahre, auf Unschuld und Herzensreinheit beruhende Frauenwürde zu schätzen. So eilt er leidenschaftlich, aber innerlich unbefriedigt von einer Liebe zur andern. Diese persönlichen Verhältnisse nehmen Zeit und Gedanken des leichtfertigen Fürsten so in Anspruch, dass er die Geschäfte und Sorgen seiner Regierung ganz seinen Räten überlässt; die Pflichten der Herrschaft sind ihm eine Last, die er sich in gewissenloser Weise erleichtert, während er sich der Vorteile, die ihm seine hohe Stellung verschafft, gern zu einem möglichst genussreichen Leben bedient. In diesem Streben nach Genuss und Abwechslung hat sich ihm sein Kammerherr Marinelli so unentbehrlich gemacht, dass der Prinz trotz des fürstlichen Stolzes, mit dem er alle seine Launen an dem gefügigen Günstling oft kränkend, ja beleidigend auslässt, fast ein willenloses Werkzeug in der Hand des schlauen und ehrgeizigen Kammerherrn ist, der ihn beherrscht indem er ihm zu dienen scheint. Es ist ein Unglück, freilich aber zugleich ein Vorwurf für den Prinzen, dessen Character schwach, aber nicht von Grund aus schlecht ist, dass er einen an Verstand ihm so überlegenen und in seinem Character so nichtswürdigen Ratgeber zur Seite hat; denn der Marchese Marinelli ist ein Höfling im schlechtesten Sinne des Wortes, ohne Ehre und Gewissen, ohne Gefühl für Wahrheit und Sittlichkeit, der weil es ihm an Vermö1 Vergleiche E. Niemeyer Lessings Minna von Barnhelm 1877, S. 35.

175

Julius Rohleder

gen und an der sittlichen Tüchtigkeit, sich durch ein Staatsamt Ansehen und Einfluss zu gewinnen, fehlt, seine Klugheit und Menschenkenntnis allein dazu ausnutzt, vermöge allerlei kleiner Dienste, durch welche er den Leidenschaften seines Herren Vorschub leistet und sich als der Vertraute aller seiner Schwächen und Gewalttaten ihm teils gefährlich, teils unentbehrlich macht, die angesehenste und einflussreichste Stellung bei Hofe zu gewinnen; unterstützt wird er dabei durch die meisterhaft geübte Kunst der Verstellung und Heuchelei, durch welche er dem schwachen und eitlen Prinzen die Ziele seines nichtswürdigen Ehrgeizes hinter der Maske seiner innigsten Freundschaft versteckt. Besondern Einfluss hatte Marinelli beim Prinzen dadurch gewonnen, dass er zugleich in nahen, vertrauten Beziehungen zur Gräfin Orsina stand, die eine Zeit lang als die Geliebte des Prinzen die allmächtige Gebieterin in Guastalla und in Dosalo, dem in der Nähe gelegenen Lustschloss des Prinzen, gewesen war. Kein Wunder, dass diese nicht nur durch hervorragende Schönheit, sondern auch durch Geist und Bildung ausgezeichnete Frau von leidenschaftlichem Gemüt, die ursprünglich edel und gross in ihrem Character, dann durch Liebe zum Prinzen hingerissen, durch Ehrgeiz und Stolz verführt zur fürstlichen Mätresse gesunken war, lange Zeit einen unbestrittenen Einfluss auf den leicht lenkbaren Prinzen ausgeübt hatte. Als dieser dann aber auch ihrer überdrüssig geworden war, hatte sie sich zunächst aus der Stadt auf ihre in der Nähe gelegene Villa zurückgezogen, in der Hoffnung, dass die Entbehrung ihres Umganges den Prinzen um so schneller zu ihr zurückführen werde. War doch früher der Prinz in ihrer Gegenwart immer so leicht, so fröhlich, so ausgelassen gewesen! und hatte sie nicht erst wenige Wochen vor ihrer Entfernung aus der Stadt dem Maler Conti gesessen, weil der Prinz den Wunsch geäussert hatte, zur dauernden Erinnerung an sie ein Bild von ihr zu besitzen! vielleicht kehrte, wenn das Bild, das bald vollendet sein musste, den Prinzen wieder an sie erinnerte, die alte Neigung in sein Herz zurück. In der zurückgezogenen Einsamkeit hatte sie, ungeduldig auf die Wiederkehr der fürstlichen Huld wartend, Unterhaltung und Beruhigung ihrer Seele, in der noch immer Liebe zum Prinzen, Stolz und Rachsucht mit einander kämpften, in den Büchern gesucht. Sie wusste wohl, dass der Prinz gerade in dieser Zeit um die Hand einer Prinzessin von Massa warb: doch wirft es ein helles Schlaglicht auf die Sittenlosigkeit der Zeit, die den dunkeln Hintergrund der Dichtung bildet, auf der sich der Triumph der weiblichen Unschuld und Willenskraft über alle Mächte der Bosheit und der Verführung um so glänzender abhebt, dass die Gräfin nicht so einer Gemahlin aufgeopfert zu werden fürchtet, neben der die Geliebte immer noch ihren Platz zu finden hoffen kann, sondern einer neuen Geliebten: und diese Furcht hatte sie nicht getäuscht. Seit einigen Wochen lebte in Guastalla, zurückgezogen von der Gesellschaft und dem Kreise des Hofes, in einem Haufe unweit der Kirche Allerheiligen Claudia, die Frau des Obersten Galotti mit ihrer Tochter Emilia. Diese war unter der Obhut beider Eltern fern von der Residenz des Prinzen auf einem Landgut bei Sabionetta in ländlicher Einsamkeit zu herrlicher Schönheit erwachsen »einfach und fromm erzogen, ein künftiges Ideal weiblicher und häuslicher Tugend«. Ihr Vater Odoardo, ein alter Soldat von strengen Grundsätzen und rauher Tugend, das Haupt der bürgerlichen, aber weit verbreiteten und angesehenen Galotti, hatte sich schon lange von der Residenz fern gehalten, weil er 176

G. E. Lessing’s Emilia Galotti als Lectüre für Prima.

dem sittenlosen Treiben in den ersten Familien der Stadt, zu dem der Hof des Prinzen den Ton angab, abhold war, und weil er bei Hofe, nachdem er sich unberechtigten Aussprüchen desselben auf Sabionetta widersetzt hatte, nicht zu den angesehenen Persönlichkeiten zählte. Lange hatte der Vater dem Wunsche der Mutter Claudia, einer bei aller Liebe zu ihrer Tochter eitlen und oberflächlichen Frau, sich widersetzt, die es für nötig hielt, dass sie mit der Tochter in die Residenz übersiedele, um dort Emilia’s Erziehung zu vollenden und ihr die gesellschaftliche Bildung, die sie in der Einsamkeit des Landlebens nicht erhalten konnte, zu geben. Der Vater fürchtete, dass die Sittenreinheit seiner Tochter durch die städtischen Erziehungskünste und durch den Anblick der Sittenlosigkeit des Hofes getrübt werden könnte. Endlich hatte er widerstrebend seine Einwilligung gegeben, im Vertrauen auf die Liebe Emilia’s zu ihren Eltern, die sich stets in Verehrung und schweigendem Gehorsam zu erkennen gegeben hatte, im Vertrauen auf ihre fast schwärmerische Frömmigkeit, in Folge deren die Lehren der Kirche ihr eine unbewusste, aber unbesiegbare Scheu vor Unrecht und Sünde eingeflösst hatten, und weil er oft gesehen hatte, dass seine Tochter bei aller Scheu und Furchtsamkeit in entscheidenden Augenblicken eine grosse Entschlossenheit und Willenskraft an den Tag gelegt hatte – er selbst war auf seinem Landgute bei Sabionetta, von dem er ja in kurzem Ritte die Residenz erreichen konnte, zurückgeblieben. Da aber seine Liebe den täglichen Anblick der über alles geliebten Tochter nicht entbehren kann, so beauftragen die Frauen auf seinen Wunsch gleich nach ihrer Ankunft in der Stadt den Maler Conti, denselben, bei dem der Prinz ein Bild der Gräfin Orsina bestellt hatte, ein Bild von ihr für den Vater zu machen. Der Maler aber ist so begeistert von der herrlichen Schönheit Emilia’s, dass er ausser der für den Vater bestimmten Schilderei noch ein zweites Bild für sich zum Studium weiblicher Schönheit vollendet. Der Aufenthalt in der Residenz hat bald eine Wendung genommen, die alle Befürchtungen des Vaters zu widerlegen scheint. Obgleich die Frauen nach dem Wunsche des Vaters zurückgezogen lebten, hatte Emilia die Bekanntschaft mit dem schönen, reichen und edlen Grafen Appiani gemacht, der von seinen grossen Gütern aus Piemont nach Guastalla vorübergehend gekommen war, um dem Prinzen in würdiger Weise zu dienen. Bald aber hatte er sich von diesem und seinem leichtfertigen Leben am Hofe zurückgezogen, obgleich der Prinz Wohlgefallen an seinem ernsten und männlichen Wesen gefunden und schon darauf gesonnen hatte, ihn sich näher und fester zu verbinden. Wie aber hätte der Graf Appiani mit seinem männlich offenen Wesen, mit seinem tiefen Gefühl für Ehre und Würde sich darin wohl fühlen können, sich zu bücken, zu schmeicheln und zu kriechen, um Marinelli, den er gründlich verachtete, wie jener ihn hasste, auszustechen, um endlich einer Ehre gewürdigt zu werden, die für ihn keine wäre. Seitdem also Appiani Emilia gesehen und in der Liebe zu dem schönen und einfachen, frommen und anmutigen Mädchen sein bestes Lebensglück gefunden hatte, war sein Entschluss gefasst. Er wollte unmittelbar nach der Hochzeit mit seiner jungen Gemahlin auf seine Güter nach Piemont zurückkehren. Gerade dieser Entschluss, unabhängig und frei, fern vom glänzenden Treiben eines sittenlosen Hofes zu leben, hatte dem Schwiegersohn die ganze Neigung des an Character und Ernst ihm ähnlichen Odoardo gewonnen. Doch ist die Verlobung vor dem Prinzen und allen Kreisen des Hofes selbst vor der spürenden Neugierde Mari177

Julius Rohleder

nellis heimlich gehalten worden, weil man dort doch nur über die Verbindung eines Grafen aus altadligem und reichem Geschlecht mit einem Mädchen aus bürgerlichen Kreisen spotten würde. Schon ist der zur Hochzeit bestimmte Tag näher herbeigerückt, und alle Vorbereitungen sind getroffen, um ganz in der Stille die Hochzeit des glücklichen Paares auf dem Landgute des Vaters in Gegenwart einiger Freunde der Familie zu feiern – bis dahin bleiben die Frauen noch in der Stadt – da begegnet der Prinz auf einer Vegghia (Abendgesellschaft) in dem prachtliebenden Hause des Kanzlers Grimaldi der Braut Appiani’s. Er ist von ihrer jugendlichen Anmut und Unschuld gleich beim ersten Anblick leidenschaftlich ergriffen und von dem Witz und der Munterkeit ihrer Unterhaltung für Emilia’s Lebensglück verhängnisvoll bezaubert. Seit diesem Tage ruht das Bild ihrer jugendlichen und unschuldigen Schönheit tief in seiner Seele, mit anderen Farben und auf einem anderen Grunde gemalt als das der Orsina. Zum ersten Male in seinem Leben empfindet der Mann, der bis dahin mit Liebe und Frauenherzen leichtfertig gespielt hatte, eine tiefere, sein ganzes Wesen ergreifende Neigung und achtungsvolle Bewunderung, vor der die Erinnerung an die stolze Schönheit der Orsina, die ihm auch so schon durch die Leidenschaft ihrer Liebe und die Ueberlegenheit des Geistes lästig geworden war, vollständig zurücktritt. In der Erinnerung der folgenden Tage wächst dieses tiefe Gefühl in ihm zum leidenschaftlichen Wunsche, Emilia noch einmal zu sehen und zu sprechen. Doch hält ein ihm selbst unerklärliches Gefühl ihn ab, Marinelli, sonst dem Vertrauten aller seiner fürstlichen Passionen, in das Geheimniss seines Herzens, das zum ersten Male tief und wahr erregt ist, zu ziehen – er hätte es wie eine Entweihung empfunden. Seitdem hat der Prinz Emilia nicht zum zweiten Male gesprochen, nur einmal in der Kirche der Dominicaner von ferne gesehen, wo sie frommen Sinnes alle Morgen ihre Morgenandacht zu verrichten pflegte. So ist, ohne dass der Prinz eine Ahnung davon hat, der Hochzeitstag Emilia’s herangenaht, mit dessen Morgen die Handlung beginnt. Die Gräfin Orsina ist am Tage vorher nach der Stadt gekommen; nach einer Unterredung mit dem Maler Conti, der zu dieser Zeit gerade das für den Prinzen bestimmte Bild vollendet hat, und mit dem Kammerherrn Marinelli hat sie einen Brief an den Prinzen gesendet, in dem sie ihn für den Nachmittag desselben Tages um die Gunst einer Unterredung in Dosalo bittet, entschlossen die Liebe des Prinzen wieder zu gewinnen, oder dort, wo sie früher ihre Triumphe gefeiert hat, mit einem Dolche ihre verschmähte Liebe blutig zu rächen. Von Appiani und im Hause der Galotti werden alle Vorbereitungen zur Abreise getroffen, denn sie gedenken auf Mittag im Wagen des Grafen nach dem Landgute des Vaters bei Sabionetta hinaus zu fahren. Am Morgen des Tages hat den Grafen eine trübe Stimmung überfallen – es ist wie eine Ahnung des ihm bevorstehenden Schicksals, eine Bangigkeit im Vorgefühl des höchsten Glückes. Auch Emilia hat diesmal bedeutungsvoll von Perlen geträumt, an und für sich nicht auffallend, weil Appiani seiner Braut ein prachtvolles Perlenhalsband zum Geschenk gemacht hatte, aber – Perlen bedeuten Thränen. Wenn die Schüler so eine zu einem übersichtlichen Bilde geordnete Darstellung der einzelnen Züge, welche verstreut durch den Dialog der Dichtung die Vorhandlung und die Hauptcharakteristik der handelnden Personen vergegenwärtigen, erhalten haben, so werden sie mit grösserer Aufmerksamkeit und Freude bei der Lectüre selbst die hie178

G. E. Lessing’s Emilia Galotti als Lectüre für Prima.

rauf bezüglichen Einzelheiten der Dichtung und die Kunst ihrer Einfügung verfolgen. Will der Lehrer nun außerdem von dieser grade bei Lessing meisterhaften Geschicklichkeit, die Vorhandlung ohne Schwächung des Interesses für die Handlung selbst klarzustellen, den Schülern eine bewusste Anschauung geben, so ist das geeignetste Mittel der Aufsatz; denn sobald sie angeleitet werden zum Zweck eines Aufsatzes »die Vorhandlung der Emilia Galotti« die einzelnen Züge derselben zu einem Bilde zu sammeln, so achten sie von selbst darauf, dass alle hierzu nötigen Züge vom Dichter im ersten Act und in den ersten Scenen des zweiten Actes gegeben sind. Es schliesst sich daran leicht die Belehrung, dass bei allen dramatischen Dichtungen die notwendige Vorbedingung für ein tieferes Verständnis der Charaktere und der Handlung eine klare Anschauung der Vorhandlung ist, und dass in allen kunstmässig gebauten Tragödien die wichtigsten Züge zu diesem Bilde in dem ersten oder in den beiden ersten Acten zu suchen sind, (anders in Goethes Torquato Tasso) weil im Anfang der Dichtung naturgemäss bei noch wenig vordrängender Handlung dem Dichter die meiste Zeit, und bei noch nicht lebhaft in Anspruch genommener Teilnahme an den Schicksalen der handelnden Personen dem Zuschauer die meiste Aufmerksamkeit frei ist, ein klares und umfassendes Bild der Vorhandlung zu geben resp. in sich aufzunehmen. Eine zweite nothwendige Vorbereitung nun für die gemeinsame Lectüre der Emilia Galotti, die zugleich wie die Besprechung der Vorhandlung bei begabten und für die Schönheiten einer Dichtung empfänglicheren Schülern fruchtbar gemacht werden kann für spätere selbständige Beurteilung anderer dramatischer Kunstwerke, liegt in der Belehrung der Schüler über die organische Gliederung, über die Disposition der Dichtung. Darüber dass eine solche Besprechung der Disposition wie bei jeder anderen schulmässigen Erklärung einer Rede oder einer Abhandlung auch bei einer dramatischen Dichtung notwendig ist, damit die Schüler auch eine Tragödie als ein organisches Kunstwerk und nicht als eine willkürliche Folge leidenschaftlicher Scenen erkennen, kann eine Meinungsverschiedenheit nicht gut bestehen; Melanchthons Grundsatz für die Erklärung gilt auch hier: necesse est, ordinem regionesque partium ostendere, ut singula membra considerari queant et judicari, quo modo consentiant. Zweifelhaft aber kann es erscheinen, ob es besser ist, eine solche in die Oeconomie der Dichtung einführende Besprechung der gemeinsamen Lectüre vorangehn oder sie derselben folgen zu lassen. Jede der beiden Methoden hat ihre Vorteile: die erstere empfiehlt sich vorzugsweise darum, weil dann schon während der Lectüre den Schülern die Beziehung jeder Scenengruppe zur Idee der Dichtung klar gemacht werden kann. Wie eine jede Tragödie, so hat auch die Emilia Galotti die Aufgabe, eine leidenschaftliche Handlung nicht durch Erzählung, sondern durch lebendige Vergegenwärtigung der handelnden Personen selbst so darzustellen, dass wir in die Seelenbewegungen und inneren Kämpfe der Helden, in die Entstehung einer leidenschaftlichen, folgenschweren That von der ersten Regung der Empfindung bis zum Entschluss und zur That mit ihren Folgen einen unsre ganze Theilnahme erregenden Einblick gewinnen. Denken wir uns diese leidenschaftliche Handlung, die in der Dichtung mit allen ihren besonderen Motiven und Folgen, mit der ganzen Reichhaltigkeit eines individuellen, von eigenartigen Characteren unter besonderen Verhält179

Julius Rohleder

nissen bestimmten Lebensbildes dargestellt wird, von allen sie zufällig bestimmenden Verhältnissen und Characteren losgelöst in ihrer einfachsten, rein menschlichen Bedeutung, so erhalten wir den Kern, die Idee der Handlung, zu der alle Scenen der Dichtung, alle Einzelheiten des ganzen Lebensbildes vorbereitend oder motivierend, fördernd oder hemmend in Beziehung stehn, vergleichbar dem bestimmenden und richtenden Verhältnis, in dem das Thema eines Aufsatzes zu allen einzelnen Teilen der Arbeit steht. So ist in der Emilia Galotti die Idee, die verborgene Seele, durch welche alle einzelnen Teile der organisch gegliederten Dichtung bestimmt werden, die Thatsache, dass eine edle und reine Jungfrau über alle Verfolgungen einer von Gewissenlosigkeit, Klugheit und unbeschränkter Machtstellung unterstützten, unreinen Leidenschaft durch selbstgewählten Tod einen glänzenden Triumph feiert. Diese Idee bestimmt nun den Bau der ganzen Tragödie charakteristisch dahin, dass die Heldin derselben, – wenn es nicht richtiger ist, in dieser Dichtung, wie in Kabale und Liebe, Romeo und Julie, von zwei Helden, Odoardo und Emilia, zu reden, – nicht von innen heraus durch eigene Leidenschaft, sondern von aussen durch die Einwirkungen ihrer Umgebung zur Entscheidung gedrängt wird, dass also die leidenschaftliche Haupthandlung, um die es sich hier hauptsächlich handelt, der Tod oder vielmehr der Triumph der verfolgten Unschuld nicht den Mittelpunkt, sondern das Ende der Dichtung bildet. Eine solche Dichtung wird notwendig einen ganz anderen Bau haben, als eine Tragödie, in der von vorn herein die eigene Leidenschaft und Willensstärke des Helden von innen heraus zu That drängt, in der also wie im Macbeth, in Wallensteins Tod, in der Antigone, in Richard dem dritten, in der Jungfrau von Orleans die leidenschaftliche Handlung des Helden gleich zu Anfang den Mittelpunkt der Handlung bildet. Während in den Tragödien der letzten Art der erste Teil der Dichtung die von der Leidenschaft des Helden getragene Schuld, der zweite die durch die Umgebung desselben herbeigeführte, für den Helden verhängnisvolle Sühne darstellt, so dass im ersten Teil der handelnde Held gegenüber der leidenden Umgebung, im zweiten die handelnde Umgebung im Kampf mit dem leidenden Heiden im Vordergrund der Handlung steht: wird in Tragödien der zweiten Art, wo die Handlung von den Leidenschaften der Umgebung ihren Anlass nimmt, in dem ersten Teil der Held vor seiner Umgebung bedeutend zurücktreten, bis er durch diese zur leidenschaftlichen Befangenheit des Gemütes geleitet und in dieser zu einer folgereichen That gedrängt, erst im zweiten Teile Mitleid und Furcht erregend, zugleich aber durch die Energie seines Willens erhebend in den Mittelpunkt der Handlung tritt. Es ist also für die Scenenfolge unsrer Dichtung, die im Gegensatz zur Handlung des Macbeth im allgemeinen denselben dramatischen Bau zeigt, wie Othello, Kabale und Liebe, Oedipus rex nicht zufällig und willkürlich, sondern durch die oben besprochene Idee der Dichtung notwendig bedingt, dass die Darstellung mit der Charakteristik und Handlung der Nebenpersonen, des Prinzen und seines Kammerherrn Marinelli, mit der dramatischen Begründung und Vergegenwärtigung der Intrigue beginnt, welche gegen das Glück Appiani’s und gegen die Unschuld Emilia’s von der Leidenschaft des Prinzen und der rücksichtslosen Schlechtigkeit Marinelli’s in’s Werk gesetzt wird, und dass dann erst im zweiten Teil der Dichtung nach der Entdeckung des Verbrechens durch Claudia und Orsina die Zerreissung des von Leidenschaft und 180

G. E. Lessing’s Emilia Galotti als Lectüre für Prima.

Nichtswürdigkeit um ihr scheinbar hülfloses Opfer geworfenen Netzes durch die Willenskraft Emilia’s und die That Odoardo’s vergegenwärtigt wird. So ergiebt sich aus dem Gegensatz der Intrigue der Nebenpersonen und der befreienden That der Hauptpersonen zunächst für die dramatische Composition unsrer Tragödie eine zwiefache Gliederung, als deren Grenze wir die Mitte der ganzen Dichtung, den Fussfall Emilia’s vor dem Prinzen III. 5. ansehen müssen. Fassen wir nun diese entscheidende Scene, in welcher der scheinbare Sieg der Nebenpersonen mit dem beginnenden wahren Triumph der Hauptpersonen zusammentrifft, mit den unmittelbar vorhergehenden und den zunächst folgenden Scenen des dritten Acts als den Höhepunkt der Dichtung zusammen, bezeichnen wir, weil in diesen Scenen eine Umkehr der Handlung sich darstellt, alles vorhergehende als den aufsteigenden, alles folgende als den absteigenden Teil der Handlung, bedenken wir, dass der aufsteigende Teil einer einleitenden Begründung, der absteigende eines kraftvollen Abschlusses bedarf, so ergiebt sich für die Dichtung mit innerer Notwendigkeit, innerhalb der zweiteiligen allgemeinen Gliederung eine 5fache Abstufung im einzelnen. Der erste einleitende Teil, in der Technik des Drama die Exposition genannt, reicht bis zum Ende des ersten Actes, bis zu der Mitteilung Marinellis an den Prinzen von der bevorstehenden Verbindung des Grafen Appiani mit der Emilia, durch welche die Handlung im Gegensatz der leidenschaftlichen Wünsche des Prinzen zu dem Glück und den Hoffnungen Appiani’s und Emilia’s die erste Spannung erhält; dieser Teil zeigt in einer dramatischen Darstellung der wachsenden Leidenschaft des Prinzen die Begründung der Intrigue Marinelli’s. Im zweiten Teil bis zum Ende des zweiten Actes vollzieht sich die Vorbereitung des verruchten Planes. Der dritte Teil, Act III., enthält in der Verbindung der Ausführung des Verbrechens mit der beginnenden Entdeckung den Höhepunkt der Handlung. Sodann fällt im vierten Act die Handlung in Folge der durch die Ahnungen Claudia’s und die Mitteilungen Orsina’s herbeigeführten Entlarvung der Verbrecher bis zum Schluss, der im 5ten Act, die Katastrophe enthaltend, mit Anspannung aller leidenschaftlichen Erregung der Hauptpersonen mächtig herausgehoben wird. Schon das Zusammenfallen der aus der Idee dieser einen Dichtung abgeleiteten fünffachen Gliederung mit der allen kunstmässig gebauten Tragödien eigentümlichen Einteilung in fünf Acte lässt den Schüler leicht erkennen, dass die letztere nicht zufällig, sondern in dem Wesen jeder dramatischen Fabel notwendig begründet ist. Er wird also, wenn er darauf hingewiesen wird, leicht in der Disposition dieses einzelnen Beispiels die allgemeine Regel für den Bau dramatischer Kunstwerke erkennen lernen und demnach zunächst im Stande sein, die organische Gliederung aller derjenigen Dramen sich klarzumachen, die in gleicher Weise gebaut, wie z.  B. Othello, Kabale und Liebe, von den Leidenschaften der Umgebung zu der That des Helden und ihren Folgen aufzeigen. Zur Vollständigkeit dieser allgemeinen Anleitung empfiehlt es sich dann noch, den Bau einer Mustertragödie kurz zu zeichnen, die in entgegengesetzter Richtung von der Schuld des Helden zur Sühne derselben aufsteigt. Wenn hier der Lehrplan festsetzt, dass neben der Klassenlectüre der Emilia Galotti in demselben Semester Shakespeare’s Macbeth als häusliche Lectüre von den Schülern gewählt werde, so bietet sich die beste Gelegenheit, das allgemeine Gesetz der dramatischen Composition an zwei in der Hauptgliederung ihrer Hand181

Julius Rohleder

lung durchaus entgegengesetzten Tragödien nachzuweisen: In jedem Drama steigt nach der Exposition, gewöhnlich des ersten Actes, die Handlung durch den zweiten Act bis zum Höhenpunkt, der bei allen mustergültigen Dramen in den dritten Act fällt, um dann im vierten Act bis zur Katastrophe des fünften Actes zu fallen; den Uebergang von der Exposition zur eigentlichen Tragödie bildet ein die Gegensätze scharf hervorhebendes, erregendes Moment der Handlung. Auch im Macbeth umfasst die Exposition, welche neben den allgemeinen Vor­bedingungen der Handlung und der Characteristik des Helden den unter dem Einfluss dämonischer Mächte wachsenden ehrgeizigen Wunsch des Helden darstellt, sich durch ein Verbrechen die Krone Schottlands zu verschaffen, den ersten Act – das erregende Moment der Handlung stellt sich in der dritten Scene dar, als durch die überraschende Erfüllung des einen Schicksalsspruches der Hexen die Hoffnung auf die Erfüllung auch des zweiten in Macbeths Seele aufsteigt – dann steigt von dem nach langem innern Kampfe durch den Hohn der Lady Macbeth gezeitigten Entschluss des Helden, den gnadenreichen Duncan zu ermorden, die Handlung in der erschütternd dramatischen Nachtscene des zweiten Actes, der Ausführung des Verbrechens, bis zum Höhenpunkt der grossartigen Banketscene (III., 4). Doch dieselbe Scene, die uns den Helden auf der Höhe seines Erfolges zeigt, leitet auch zugleich die fallende Handlung ein. Innere Angst, steigend bei Macbeth zur wahnsinnigen Tyrannenwut, bei seiner Frau zur Hülflosigkeit der Nachtwandlerin, und der trotzige Widerstand der Umgebung, die besonders im vierten Act in den Vordergrund tritt, führen zur ergreifenden Katastrophe des fünften Actes, und am Schluss der Dichtung steht der Zuschauer, tief erschüttert und doch voll Achtung für ein unfehlbar wirkendes Sittengesetz an dem Ende eines schuldvollen Lebens – voll Klang und Wut, bedeutend nichts. Ueberhaupt kann keine Uebung zur Belehrung erwachsener Schüler über Wesen und Gesetze der dramatischen Dichtung fruchtbarer sein, als eine planvoll geleitete Vergleichung des Macbeth und der Emilia; in ihnen stellen sich die später zu besprechenden Gegensätze der Intriguen- und der Charactertragödie, des bürgerlichen und des historischen Schauspiels in Dichtungen dar, von denen jede in ihrer Art ein unübertroffenes Meisterwerk ist. Um so sicherer wird hier die Hinweisung, dass diese beiden in ihrem Organismus so verschiedenen Tragödien in ihrer Disposition einander durchaus gleichartig sind, die Erkenntnis zur Folge haben, dass die Gesetze, nach denen der tragische Dichter seinen Stoff äußerlich gliedert, nicht willkürlich, sondern in dem Wesen der Dichtungsart begründet sind. Und diese Erkenntnis bildet, abgesehen von dem zunächst liegenden Zweck, den Schülern die Handlung einer einzelnen Dichtung verständlich zu machen, das Ziel, auf welches die Besprechung des Organismus der Emilia Galotti hinausgeht. Ob die Schüler diesen Besprechungen mit Verständnis gefolgt sind, können Aufsätze lehren: Ueber die Gliederung der Handlung in Emilia Galotti (resp. im Macbeth); oder für begabtere: Wie unterscheidet sich der Gang der Handlung in der Emilia Galotti von dem im Macbeth? Dass diese so wie später zu erwähnende Themen nicht während der Zeit, wo sich der Unterricht mit diesen Fragen beschäftigt, alle von allen Schülern bearbeitet werden sollen, versteht sich von selbst; es sind Vorschläge zur Auswahl. Nach diesen beiden vorbereitenden Besprechungen folgt die gemeinsame Lectüre 182

G. E. Lessing’s Emilia Galotti als Lectüre für Prima.

in einzelnen Abschnitten. Das nächstliegende und darum gewiss auch nicht unmethodische wäre, die Lectüre nach den einzelnen Acten zu sondern und in 5 Abschnitten zu lesen. Da aber der dritte Act noch einen Teil der aufsteigenden Handlung und schon die beginnende absteigende Handlung umfasst, so möchte sich dem Schüler ein klareres Bild der inneren Organisation der Dichtung vergegenwärtigen, wenn die Lectüre erst die Exposition (I. Act), sodann die aufsteigende Handlung (bis III., 6), darauf die absteigende Handlung (bis zum Schluss des IV. Acts) und endlich die Katastrophe des V. Acts umfasst und so das ganze in vier einzelne, zusammenhängend zu lesende Abschnitte teilt. Während der Lectüre mit verteilten Rollen aber sollen die Schüler nur von der Dichtung empfangen und schweigend der für jeden Teil wichtigen Handlung folgen. Natürlich bedarf es auch hier noch bei jedem einzelnen Teile vorbereitender und zusammenfassender Besprechungen, denn, »ohne dass der Lehrer leitet, die Aufmerksamkeit spornt und den Blick schärft, zum Nachdenken anregt und die Aufnahme des einzelnen controlliert, wird es dem Schüler gewöhnlichen Schlages nicht möglich sein, in die grossen Werke unserer Dichter mit Verständnis und Gefühl einzudringen« (Laas). Diese Besprechungen beziehen sich, nachdem die Vorhandlung vergegenwärtigt, die Disposition der Handlung erklärt ist, auf das Verständnis der Handlung selbst, die in dem zu lesenden Teil dargestellt ist, mit ihren Motiven. Vor der Lectüre weist der Lehrer in kurzer Fassung auf die einzelnen Abstufungen hin, in denen die zu lesende Handlung dramatisch auf- oder absteigt – nach der Lectüre stellt er zur Controlle, ob seine leitenden Bemerkungen während der Lectüre beachtet sind, die Aufgabe, die eben dramatisch vergegenwärtigte Handlung erzählend zu berichten. So wird am besten die bei einer Lectüre ohne Erklärung allerdings nahe liegende Gefahr vermieden werden, dass die Schüler gedankenlos über die Zeilen hinlesen und während der gemeinschaftlichen Lectüre kaum aus der Dämmerung eines träumerischen Bewusstseins heraustreten. Für die vorbereitenden Bemerkungen ist es besonders wichtig, darauf hinzuweisen, dass nur diejenige Darstellung wirklich dramatische Kraft hat, welche die That oder die Leidenschaft, um die es sich handelt, vor dem Geiste und den Augen der Zuschauer entstehen und wachsen lässt; denn nicht das, was als gewordenes bewundert oder verachtet wird, sondern nur das, was als werdendes mit Spannung und Mitleid verfolgt werden kann, hat für die Seele der Zuschauer anregende Kraft. Worauf die in diesem Sinne für die Lectüre der Emilia Galotti vorbereitenden Besprechungen hinzuweisen haben, mögen folgende oft nur andeutende Ausführungen zeigen. I.) Die Aufgabe des ersten Actes, der Exposition, die werdende, von der ersten wie zufälligen Empfindung bis zur erregtesten Spannung wachsende Leidenschaft des Prinzen zu vergegenwärtigen, ist mit meisterhafter Beherrschung der dramatischen Form gelöst. In vier aufsteigenden Stufen hebt uns der Dichter zu der Gewissheit einer Leidenschaft, die vor keiner Gewalt zurückbebt. Wir sind selbst Zeuge, wie der Prinz zuerst wie zufällig durch die Bittschrift einer Emilia Bruneschi an Emilia Galotti, deren Bild ihm, seit er sie zuerst gesehen, nie verlassen hat, erinnert wird, wie sodann dadurch, dass der Prinz bei Gelegenheit des von seinem Kammerdiener überbrachten Briefes und des durch den Maler Conti abgelieferten Bildes der Orsina sich der un183

Julius Rohleder

schuldigen Reinheit Emilia’s im Gegensatz zu der höhnischen Schönheit der Orsina bewusst wird, eine tiefere Empfindung für Emilia sein Herz bewegt, wie darauf bei dem plötzlichen Anblick des Bildes, das ihm der Maler von Emilia bringt, und bei der begeisterten Schilderung ihrer Frauenschönheit durch den Mund eines Künstlers seine Empfindung zur Begeisterung und seine Begeisterung durch den Besitz ihres Bildes zum Wunsch, sie selbst zu besitzen gesteigert wird, bis endlich durch die von Marinelli gegebene Gewissheit, dass Emilia noch an demselben Tage die Gattin eines andern werden, von ihm weit und auf immer getrennt sein soll, seine Sehnsucht zur Leidenschaft und zugleich zum verbrecherischen Entschluss wird. Von diesem Augenblick an ist der Prinz und seine Leidenschaft eine willenlose Beute Marinelli’s, und es ist nicht zufällig, dass er in der Handlung des zweiten Actes vollständig zurück tritt. In diesem dramatischen Bilde aufsteigender Leidenschaft sind zwei Züge mit besonderem Nachdruck gezeichnet, erstens die Ueberraschung, als der Prinz plötzlich das Bild der Emilia zu sehen bekommt, (Was sehe ich? Ihr Werk, Conti? oder das Werk meiner Phantasie? Emilia Galotti?) und dann die heftige Erregung, in die der Prinz durch Marinelli’s Mitteilung von der bevorstehenden Hochzeit versetzt wird, eine Erregung, die sich in der kurzen abgebrochenen, beleidigenden Rede des Prinzen und in seinem leidenschaftlichen Schmerz nach der Mitteilung vorzüglich dramatisch ausspricht. Der mittlere Teil des 6ten Auftritts im I. Act bildet als das zur eigentlichen Handlung überführende erregende Moment den höchsten Punct in der Handlung der Exposition, die dann abgeschlossen wird durch den nur angedeuteten Plan Marinelli’s und durch den seiner leidenschaftlichen Unruhe entsprechenden Beschluss des Prinzen, sich auf eigene Hand durch den Versuch, Emilia selbst bei ihrem täglichen Messgange in der Dominicanerkirche zu sprechen, Gewissheit zu verschaffen. Dieser Entschluss, eigentlich schon ein Teil der aufsteigenden Handlung, gehört insofern noch zu dem exponierenden Teil der Dichtung, als dadurch die spätere Entdeckung des Verbrechens durch Orsina im absteigenden Teile der Handlung vorbereitet wird. Zum Verständnis endlich des nur kurz angedeuteten Planes Marinelli’s kann hinzugefügt werden, dass dieser von vorne herein oder doch unmittelbar nach dem Gespräch mit dem Prinzen mit sich einig ist, den Appiani, den er hasst und durch dessen Beseitigung er unbeschränkte Macht über den Prinzen zu gewinnen hofft, durch Meuchelmord zu töten, und dass er von der Möglichkeit, ihn durch eine Gesandschaft nach Massa zu entfernen, nur darum spricht, um nicht gleich von Anfang an durch den Widerspruch des ängstlichen, alles Aufsehen meidenden Prinzen gegen einen Plan, der nur durch ein Verbrechen ausführbar ist, gehindert zu sein.2 Diese Ausführungen genügen, um die Schüler für das Verständnis der Handlung des I. Actes vorzubereiten. Es könnte die Frage sein, ob sich ausserdem zu diesem 2 Die Begründung der Notwendigkeit einer solchen Auffassung kann hier nur angedeutet werden; nur so ist im zweiten Acte zu verstehen, dass Marinelli schon vor dem entscheidenden Gespräche mit Appiani den Mörder gedungen hat. Es entspricht der Menschenkenntnis Marinelli’s, dass er die Weigerung Appiani’s von vorn herein voraus gesehen hat, und seiner Schlauheit, dass er dennoch Appiani im Namen des Prinzen das Anerbieten macht, weil er berechnet, dass sich ihm hierbei Gelegenheit bieten werde, den Appiani zu einer Belei-

184

G. E. Lessing’s Emilia Galotti als Lectüre für Prima.

Zwecke noch empfiehlt, vorher eine kurze Characteristik des Prinzen und Marinelli’s, die in diesem Abschnitt Träger der Handlung sind, zu geben. Doch würde es den Schülern zu viel zumuten, wenn sie gleich bei der ersten Lectüre zugleich auf den Gang der Handlung und auf die einzelnen Züge der Characteristik achten sollten, gewiss aber wird es auch für das Verständnis der Handlung sehr förderlich sein, wenn der Lehrer im Stande ist, aus der Lessinggallerie von Friedrich Pecht die beiden Bilder des Prinzen und Marinelli’s den Schülern zu zeigen. Wenn diese dann während der Lectüre des I. Actes in einer lebendigen, durch die Bilder vermittelten Anschauung der handelnden Hauptpersonen, geleitet durch die vorbereitenden Worte des Lehrers, aufmerksam während der Lectüre auf den Gang der Handlung geachtet haben, so ist es ein passender Abschluss, zugleich eine Controlle ihrer Aufmerksamkeit während der Lectüre, wenn sie nach derselben durch die Frage: Wie vergegenwärtigt uns die Exposition dieser Dichtung die wachsende Leidenschaft des Prinzen? nun Gelegenheit erhalten, in zusammenhängendem, kurz erzählendem Bericht sich des Inhaltes des gelesenen Actes und seiner dramatischen Darstellung bewusst zu werden. II.) Der zweite Teil der Lectüre umfasst von Beginn des II. Actes bis zur 5ten Scene des III. Actes (incl.) die aufsteigende Handlung, die Ausführung des zum Schlusse der Exposition angedeuteten verbrecherischen Planes. Auch hier kann eine vorbereitende Besprechung die Schüler auf die Kunst der dramatischen Darstellung aufmerksam machen, wobei es natürlich das Verständnis dieser Besprechung wesentlich erleichtert, wenn der betreffende Teil der Dichtung vorher schon von den Schülern zu Hause einmal durchgelesen ist. Zunächst erhält die ganze Handlung dieses Teils für die Zuschauer dadurch eine besondere Spannung, dass der Plan zu Ende des I. Actes nur angedeutet, nicht in einem Monologe Marinelli’s etwa klar dargelegt ist, wie denn überhaupt für diese Dichtung Lessings der Mangel an Monologen in der aufsteigenden Handlung eine bezeichnende Eigentümlichkeit ist. Auch hierfür ist der Vergleich mit Shakespeare’s Macbeth belehrend: dort bei Shakespeare, besonders im aufsteigenden Teil der Handlung eine Fülle grossartiger, einen tiefen Einblick in die mit der Leidenschaft ringende Seele des Helden gewährender Monologe – denn nach der Idee wächst dort die That aus der Seele Macbeth’s heraus – hier bei Lessing, wo die Leidenschaft der Helden, Odoardo und Emilia, erst im zweiten Teile der Dichtung treibende Motive werden, im aufsteigenden Teil spannende, durch keine Monologe, Darstellungen innerer Kämpfe aufgehaltene, schnell dem Höhenpuncte zustrebende Handlung der Nebenpersonen. – Meisterhaft ist ferner die Kunst, mit welcher uns der Dichter in diesem Teile die ihrer Natur nach im dunkeln schleichende Handlung der Nebenpersonen so vergegenwärtigt, dass wir sie in allen ihren Vorbereitungen verfolgen können und doch Gelegenheit erhalten, die Hauptpersonen, deren Lebensglück durch die verbrecherischen Pläne jener, zunächst ohne dass sie davon etwas wissen, bedroht wird, in characteristischer Handlung kennen zu lernen. Ohne dass wir das Haus der Galotti’s, in das uns die Dichtung gleich zu Anfang der digung zu reizen und so später durch die Lüge, Appiani sei ihm Genugthuung schuldig geblieben, bei dem leichtgläubigen Prinzen den Verdacht des Mordes von sich abzulenken.

185

Julius Rohleder

aufsteigenden Handlung versetzt, verlassen, erkennen wir mit gesteigertem Interesse aus den zugleich characteristischen Stimmungen und Situationen der durch die Intrigue bedrohten Hauptpersonen und ihrer Angehörigen die hinter die Coulissen verlegten Vorbereitungen des Verbrechens, ebenso werden wir dann zu Anfang des III. Actes von der auch hinter der Bühne vorgehenden Ausführung desselben, dem Banditenüberfall auf der Landstrasse, nur mittelbar durch die Unterredung Marinelli’s mit dem Prinzen auf dem Lustschlosse Dosalo Zeuge. Hat somit hier der Dichter zum Zweck der einführenden Characteristik seiner Hauptpersonen die eigentliche Handlung des aufsteigenden Teiles, deren Träger die Nebenpersonen sind, hinter die Coulissen verlegt, so hat er eine um so grössere Sorgfalt darauf verwendet, dass wir, während wir mit der lebhaftesten Teilnahme den Stimmungen und Situationen der unwissend bedrohten Hauptpersonen zugewendet sind, doch mit einer von banger Ahnung zu immer gewisserer Furcht sich steigernden Teilnahme der Vorbereitung und Ausführung des Verbrechens selbst folgen können, dass wir also voll wachsender Furcht aus dem Schatten, den das Verbrechen in den Frieden und das Glück des Hauses Galotti voraussendet, das Verbrechen selbst erkennen. Die dramatische Steigerung dieses Teiles der Handlung erreicht der Dichter durch die mit Absicht und Kunst in drei Stufen gesteigerte Teilnahme der Zuschauer an dem Schicksale Emilia’s und Appiani’s. Wir wissen aus dem Schlusse des ersten Actes, dass das Lebensglück dieser beiden edlen Menschen durch eine Gewaltthat Marinelli’s bedroht ist. Die daraus entspringende bange Ahnung steigert sich durch die Furcht Odoardos (am Ende der Scene II), die zugleich für den Character desselben und für die Sitten des Landes bezeichnend ist, dass nämlich der unbegleitete Kirchgang Emilia’s für sie unheilvolle Folgen haben könne, ferner durch die Unterredung Angelo’s mit dem Hausbedienten der Galotti’s, die zugleich mit einem kräftigen Zuge das Volk und das Land characterisiert, in der die ganze Handlung vor sich geht, ferner durch den ebenfalls für Odoardo bezeichnenden, leidenschaftlich heftig ausgedrückten Argwohn Odoardo’s, dass der wollüstige Prinz nach der ersten Bekanntschaft mit Emilia im Hause der Grimaldi’s nicht nur bewundern, sondern auch begehren könne, endlich durch den angstvollen Bericht Emilia’s von ihrer Begegnung mit dem Prinzen, der wieder die Fülle der Characteristik für den Prinzen, Emilia und Claudia bietet – durch alle diese Eindrücke steigert sich die bange Ahnung des Zuschauers zur beunruhigenden Gewissheit, dass dem Glücke der Galotti’s von der Leidenschaft des Prinzen augenblickliche Gefahr droht (I. Stufe). Aber noch bleibt nach den Voraussetzungen der Dichtung die Hoffnung, dass Appiani durch Annahme einer Gesandschaft nach Massa die nächste Gefahr von sich und den Seinen abwenden könne. Aus einer solchen zwischen Furcht und Hoffnung hängenden Stimmung, in der die Zuschauer festgehalten werden durch den schwermütigen Tiefsinn Appiani’s in den folgenden Scenen, der in diesem Zusammenhang vortrefflich motiviert erscheint, und durch den bedeutungsvollen, dreimaligen Traum Emilia’s, drängt dann die Dichtung durch die Unterredung Appiani’s mit Marinelli, dieses Meisterstück einer contrastierenden Charakteristik des schurkischen Höflings mit dem unabhängigen Edelmann im besten Sinne des Wortes, hin zu der trost- und hoffnungslosen Gewissheit, dass von dem beleidigten und rachsüchtigen Marinelli für Appiani 186

G. E. Lessing’s Emilia Galotti als Lectüre für Prima.

alles zu fürchten ist (II. Stufe). Diese hoffnungslose Gewissheit endlich wird zum Schrecken der erschütternden Gegenwart (III. Stufe), als in den ersten Auftritten des dritten Actes der Plan, den wir aus dem vorhergehenden immer deutlicher erkannt haben, durch Marinelli auf Dosalo dem Prinzen entwickelt und seine gelungene Ausführung durch den Schuss, das Erscheinen Angelo’s und bald darauf Emilia’s erkannt wird. Nun scheint alles verloren, und als Emilia Gnade flehend dem Prinzen vor die Füsse fällt, erscheint sie uns als hülfloses Opfer der von der Schlechtigkeit Marinelli’s unterstützten Leidenschaft des Prinzen. Wir stehen auf dem Höhepunkt der Handlung. Ist durch solche Vorbereitung auch für die Lectüre des zweiten Teils der Dichtung und für seine dramatische Darstellung das Verständnis der Schüler vermittelt, ist ihnen auch hier durch die Pecht’schen Bilder der Emilia und Claudia, des Appiani und Odoardo die Anschauung der Handlung erleichtert, so muss ihnen nach Beendigung der Lectüre dieses Teiles die Beantwortung der Frage möglich sein: Wie steigert der Dichter in der aufsteigenden Handlung der Emilia Galotti unsre Teilnahme für das Schicksal Appiani’s und Emilia’s? oder einfacher, wenn man nur den Zusammenhang der Handlung, nicht auch die Kunst ihrer dramatischen Gestaltung zum Bewusstsein bringen will: Wie kommen die beiden von Marinelli und dem Prinzen in der Exposition entworfenen Pläne zur Ausführung? Bei diesem Bericht findet die Erklärung anlässlich der Begegnung Emilia’s mit dem Prinzen in der Kirche Gelegenheit, die Schüler kurz darauf hinzuweisen, dass in der Dichtung von nichts weniger als von einer der Emilia selbst erst unbewussten, dann von ihr nicht kräftig genug bekämpften Neigung3 die Rede sein kann, dass aber wohl eine Schuld Claudia’s und auch der Emilia darin liegt, dass sie dem Bräutigam den Vorgang in der Kirche verschweigen. Ohne diese Unterlassung einer naheliegenden Pflicht, ohne diesen Mangel an Aufrichtigkeit, der freilich für Emilia eine Schuld nicht im moralischen, sondern im tragischen Sinne des Wortes ist, wäre der Plan Marinelli’s vernichtet gewesen. 3 Diese vielbestrittene Ansicht, aus der Dichtung selbst (II. 6, III. 3, IV. 8, V. 7) und besonders aus ihrer Idee näher zu begründen, würde die Grenzen einer schulmässigen Erklärung und darum auch die Grenzen dieser Abhandlung überschreiten. Da aber von dieser Frage die Beurteilung der Dichtung wesentlich abhängt, so folgen hier einige hierauf bezügliche orientierende Notizen. Für die Ansicht, dass Lessing eine Neigung Emilia’s zum Prinzen andeute, ausser Engel, Philosoph für die Welt, Stück XII., Matthias Claudius, Wandsbecker Bote, Goethe im Briefwechsel mit Zelter und Riemers Mittheilungen (Danzel und Guhrauer II., 316), Hölscher, über Emilia Galotti, Programm Herford 1851, pg. 8 ff., Dr. Nölting, Programm, Wismar 1878, über Emilia Galotti, pg. 5 – 8, 15 – 18, Rötscher, Cyclus dramatischer Charaktere, II. 205, Hettner, Litteraturgeschichte des XVIII. Jahrhunderts, III b, 535, Moritz Carrière, das Weltalter des Geistes im Aufgang, 220, Michael bernays, Morgenblatt 1864, 13 u. 14. Dagegen: ausser den Biographien Lessing’s: G. E. Lessing, Strodtmann (Sime), pg. 290, Lessing’s Leben und Werke, Zimmern, II. 219, besonders Kuno Fischer, G. E. Lessing als Reformator der deutschen Litteratur, pg. 208, 251 – 58, Hebler, Lessingiana, Bern 1877, Düntzer, Lessing’s Emilia Galotti, pg. 29, 68, Stahr, G. E. Lessing II, 146, Dr. B. Arnold, Lessing’s Emilia Galotti in ihrem Verhältnis zur Poetik des Aristoteles und der Hamburgischen Dramaturgie, Programm, Chemnitz 1880.

187

Julius Rohleder

III.) Die absteigende Handlung von der sechsten Scene des dritten Acts bis zum Schluss des vierten stellt die Entlarvung der verbrecherischen Intrigue, die beginnende Niederlage der Leidenschaft und Bosheit im Kampf mit sittlichen Mächten dar. Dem entsprechend treten der Prinz und Marinelli, die bis dahin die Träger der Handlung waren, von hier an in den Hintergrund der Handlung so wohl wie unsres Interesses. Der Prinz, früher durch seine Stellung als gebietender Herr uns imponierend und durch eine, so weit es sein leichtfertiger Charakter erlaubt, tief und wahr erregte Leidenschaft ein Gegenstand unsrer aufrichtigen Teilnahme, sinkt zum verächtlichen, fast willenlosen, in die Hand seines Günstlings gegebenen Spiessgesellen herab, und Marinelli, bis dahin der alles voraussehende, um kein Mittel verlegene, alle Fäden mit Menschenkenntnis und vorsichtiger Klugheit knüpfende und leitende Meister der Intrigue, wie klein, wie verächtlich, wie ratlos, ein nachplapperndes Hofmännchen, steht er in diesem Teil der Handlung, wo sittliche Mächte, ihm unberechenbar, in sein Spiel eingreifen, neben der Leidenschaft der dämonischen Orsina. Gewaltig dagegen heben sich, eine nach der andern vortretend, in lebenswahrer, zum Teil grossartiger Charakteristik die Gestalten der bisher weniger beachteten, jetzt die Handlung tragenden Gegenspieler und Hauptpersonen. Die früher eitle, fast leichtfertige, gewöhnliche, fast gedankenlose Claudia erhält, erschüttert durch das Unglück ihrer Tochter, eine überraschende Kraft des Geistes und des Willens, die tiefgesunkene Orsina hebt sich zu der ganzen Höhe eines durch den Verrat seiner Liebe fast wahnsinnig erregten, ursprünglich edlen, durch Willenskraft und Geist über das Hofgeschmeiss erhabnen Weibes, und Odoardo, dessen männliche Tugend uns bis dahin nur aus den Urteilen seiner Umgebung bekannt ist, zeigt nun selbsthandelnd thatkräftige Entschlossenheit. Die Handlung selbst, die Entlarvung des Verbrechens, schreitet auch hier in dramatischer Steigerung fort. Zuerst ahnt Claudia, als sie Marinelli auf Schloss Dosalo sieht, in Erinnerung an den Streit des Vormittags zwischen Appiani und Marinelli und an das letzte Wort des sterbenden Grafen, dass Marinelli der Mörder ist (III. 6 – 8.) Sodann erkennt Orsina, indem sie bei der Nachricht, dass Emilia Galotti das auf das Lustschloss des Prinzen gerettete Mädchen ist, sofort den inneren Zusammenhang dieses Ereignisses der ihr durch Späher berichteten Belästigung Emilia’s in der Kirche durch den Prinzen durchschaut, dass der Prinz der Spiessgeselle des Mörders und der eigentliche Schuldige ist (IV. 1 – 6), endlich erhält Odoardo durch die vom Prinzen verratene Orsina den Dolch, welcher das um seine unglückliche Tochter geworfene Netz zerschneiden soll (V. 6 – 8). Noch auf andre dramatische Schönheiten dieses vierten Actes kann die vorbereitende Erklärung kurz hinweisen. Wie leicht und ungezwungen ist die Einführung einer jeden Person, deren die absteigende Handlung bedarf. Die geängstete Mutter folgt der geretteten Tochter auf den Fuss, Orsina kommt nach Dosalo, weil sie annehmen musste, dass der Prinz in Folge ihres am Morgen empfangenen Briefes am Mittag nach Dosalo hinausgefahren sei, um sie dort zu erwarten; Odoardo kommt so zeitig, um sich nach den Seinen umzusehn, weil Pirro, eingedenk der Worte Angelos »Reite doch, reite, und kehre dich an nichts«, schnell dem von Banditen überfallenen Wagen vorausgeritten war und ihm, als er ungeduldig den Seinen entgegen ritt, die Unglücksnachricht von dem Banditenangriff gebracht hatte. Am bewundernswürdigsten aber ist die Kunst der Darstellung, durch welche 188

G. E. Lessing’s Emilia Galotti als Lectüre für Prima.

die Entdeckung des Verbrechens als eine notwendige Folge einzelner scheinbar kleiner Fehler in dem von Marinelli sonst so schlau angelegten Plane dargestellt und so dem Bereich des blind waltenden Zufalls entrückt ist. Hätte Marinelli sich in seinem leidenschaftlichen Hasse gegen Appiani bei der Unterredung am Vormittage nicht hinreissen lassen, heftigen Streit im Hause der Galotti durch die hämische Beleidigung des Grafen herbeizuführen, so hätte Claudia aus den letzten Worten des sterbenden Grafen nicht erkennen können, dass grade er der Mörder sei. Wäre der Prinz gleich nach Dosalo gefahren, wie es mit Marinelli verabredet war, hätte er nicht in seiner Leidenschaft durch den Besuch der Messe die Pläne desselben durchkreuzt, so konnten weder Emilia noch durch sie die Mutter seine Leidenschaft erfahren, so konnte weder die Gräfin noch durch sie Odoardo die Thäter und ihre Motive erkennen, und die That blieb unenthüllt; hätte nicht der Prinz die Gräfin Orsina durch verächtliche Behandlung nach ihrer hingebenden Liebe zum Entschluss, sich wenn nötig blutig zu rächen, gereizt, so brachte die Gräfin keinen Dolch mit nach Dosalo, so sah sich Odoardo dem Tyrannen und seinem Opfer gegenüber waffenlos, und die That blieb ungerächt. Durch diesen vortrefflichen Zusammenhang der absteigenden Handlung mit der Exposition und der aufsteigenden Handlung wird die Dichtung, die in ihrer Anlage eine Intriguentragödie ist, fast zu der Höhe einer Charactertragödie gehoben, in der »die Menschen selbst durch ihre Thaten am Netz ihres Schicksals flechten, das über ihren Häuptern zusammenschlägt.« Nach diesen Vorbereitungen der Schüler für das Verständnis der absteigenden Handlung und ihrer Schönheiten führt auch hier das von Pecht gezeichnete Bild der Orsina, deren grossartiger und leidenschaftlicher Character überall in diesem Teil der Handlung in der Mitte steht, die Schüler in die eigentliche Lectüre dieser Scenen ein, nach deren Beendigung die Frage zur Prüfung des gewonnenen Verständnisses vorgelegt wird: Wie ist in der Dichtung die Entdeckung des Verbrechens in der aufsteigenden Handlung vorbereitet und in der absteigenden dargestellt? Nach solchen Besprechungen muss den Schülern nun auch begreiflich sein, dass gerade der vierte Act der Emilia Galotti d a r u m eine die Aufmerksamkeit der Zuschauer mächtig anregende Wirkung hat, weil hier die Nebenpersonen vor der stürmischen und unaufhaltsam abwärts treibenden Leidenschaft der Orsina zurücktreten. Anders ist es auch in dieser Beziehung im vierten Acte des Macbeth, wo nach dem wachsenden Interesse, das der Held im ersten Teil der Dichtung bis zum Höhepunkt für sich allein beansprucht, durch die Einführung der nun die Handlung fortführenden Nebenpersonen Macduff und Malcolm, denen gegenüber der Held Macbeth auf dem Höhepunkte seiner Leidenschaft nothwendig schwächer erscheinen muss, im vierten Act das Interesse der Zuschauer eher zerstreut als gesteigert wird. Auch dieser Gegensatz der beiden schon mehrfach in ihrer Verschiedenheit besprochenen Tragödien Emilia und Macbeth ist nicht zufällig, sondern in der Verschiedenheit ihrer Ideen und dem darauf beruhenden Gegensatz ihrer ganzen dramatischen Komposition notwendig begründet. So bietet auch hier die Besprechung und Vergleichung einzelner Dichtungen Gelegenheit, für spätere selbstständige Beurteilung dramatischer Dichtungen Fin­gerzeige, wenn nicht für alle so doch für die reiferen Schüler, zu geben. IV. Der fünfte Act, die in ihrer inneren Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit al189

Julius Rohleder

lerdings vielfach angegriffene Katastrophe der Dichtung, schliesst die eigentliche Lectüre ab. Es ist selbstverständlich, dass die Reihe der gegen diesen Ausgang der Tragödie erhobenen psychologischen und ästhetischen Bedenken, die in jeder wissenschaftlichen und litteraturgeschichtlichen Betrachtung der Emilia Galotti den Mittelpunct bilden, vor der Hand wenigstens ganz unbesprochen bleiben, während es unerlässlich ist, dass für die Erklärung der Lehrer über diese in der Kritik pro et contra besprochenen Fragen sich ein eigenes Urteil gebildet hat.4 Schülern gegenüber kann es aber doch nur die Aufgabe sein, den vom Dichter beabsichtigten inneren Zusammenhang der Handlung zu vergegenwärtigen ohne Berücksichtigung der Frage, zu deren Beantwortung weder das aesthetische Wissen noch die Lebenserfahrung der Jugend ausreicht, ob es dem Dichter gelungen ist, den von ihm beabsichtigten Zusammenhang psychologisch richtig zu motivieren. Entweder ist eine Dichtung auch ohne Eingehen in diese psychologischen Aporien für die Jugend verständlich und belehrend, oder sie eignet sich zur Schullectüre nicht; niemand aber wird das letztere von der Emilia Galotti behaupten. — Um nun die Handlung dieses letzten Teils, in der endlich die Idee, dass Sittenreinheit gepaart mit Willenskraft über alle unreine Leidenschaft und Schlechtigkeit triumphierend sich erhebt, dem, der den Absichten des Dichters mit Verständnis folgt, zur erhebenden Anschauung kommt, in dem vom Dichter gedachten Zusammenhang den Schülern begreiflich zu machen, ist hier abweichend von der Methode der Vorbereitung bei den übrigen Teilen nötig, eine eingehende Characteristik Emilia’s und Odoardo’s aus den früheren Teilen der Dichtung den Schülern noch einmal zu vergegenwärtigen. Denn es mag nun ein Vorzug oder ein Mangel dieser Dichtung sein, bei keiner andern ist das richtige Verständnis einer entscheidenden, an und für sich nach der Lebensanschauung gewöhnlicher Menschen so wenig begreiflichen Handlung, wie hier, dass ein unschuldiges und heiteres Mädchen in der Blüte ihrer Jugend sich dem Tode entgegen sehnt, und dass ein liebender Vater sein eigenes Kind tötet, so notwendig durch eine richtige Auffassung eigenartiger Charactere bedingt, wie in der Katastrophe der Emilia. In der Aufführung der Dichtung wird dieses richtige Verständnis durch die Kunst der Schau4 cfr. Gervinus, Geschichte d. d. Dicht. IV. 270 »über die Katastrophe hat man mit dem rechnenden Dichter nie aufgehört zu rechnen … wenn man erlaubt, das hinzuzudenken, was ungezwungen aus der ganzen Anlage des Stückes folgt, so kann man es psychologisch und tragisch gegen jede Einwendung sicher stellen.« Zur näheren Ausführung dieser Ansicht in Bezug auf die Notwendigkeit der Katastrophe bieten Stoff: Nölting, a. a. O. pg. 8 – 10, Hölscher, a. a. O. 16 ff., und besonders Stahr, a. a. O. II. 144, Kuno Fischer, a. a. O. I. 205, 221, Düntzer, Emilia Galotti 29 ff. 115. Für die entgegengesetzte Ansicht fasst am straffsten, aber auch am ungerechtesten Hettner, a. a. O. III b 534 sein Urteil dahin zusammen: »der Ausgang ist ein Verstoss gegen alles tragische, innerlich folgerichtige Schicksal, ein Tadel, gegen deren Unwiderleglichkeit sich nur gedankenlose Beschönigungssucht verblenden kann.« Sachlich im ähnlichen Sinne äussern sich Cholevius, Geschichte der Poesie nach ihren antiken Elementen I. 579, Carrière, a. a. O. 219, Engel, a. a. O. St. 13, A. W. Schlegel, über dramatische Kunst und Litteratur, Wien 1825, Vorl. 15, Dr. Arnold, Programm, Chemnitz 1880, pg. 6, Gustav Freitag, Technik des Drama, pg. 261, Vischer, Aesthetik II. 342.

190

G. E. Lessing’s Emilia Galotti als Lectüre für Prima.

spieler vermittelt: bei der Lectüre in der Schule sollen die Schüler gerade hier durch eine vergegenwärtigende Characteristik zu der Erkenntnis geführt werden, dass Lessing auch hier bestrebt war, die in der hamburgischen Dramaturgie gegebene goldene Regel dramatischer Dichtung zu befolgen: der Dichter hat die Charactere so anzulegen, die Vorfälle, welche diese Charaktere in Handlung setzen, so notwendig einen aus dem andern entspringen zu lassen, die Leidenschaften nach dem Charakter eines jeden so genau abzumessen, diese Leidenschaften durch so allmähliche Stufen durchzuführen, dass wir überall nichts als den natürlichsten, ordentlichsten Verlauf der Dinge wahrnehmen, dass wir bei jedem Schritte, den er seine Personen thun lässt, bekennen müssen, wir würden ihn in dem nämlichen Grade der Leidenschaft, bei der nämlichen Lage der Sachen selbst gethan haben, dass uns nichts dabei befremdet, als die unmerkliche Annäherung eines Zieles, vor dem unsre Vorstellungen zurück beben und an dem wir uns endlich, voll des innigsten Mitleids gegen die, welche ein so fataler Sturm dahin reisst, und voll Schrecken über das Bewusstsein befinden, auch uns könne ein ähnlicher Strom dahinreissen, Dinge zu begehen, die wir bei kaltem Geblüt noch so weit von uns entfernt zu sein glauben.5 Bei Odoardo genügen zu diesem Zwecke einige Andeutungen. Odoardo ist ein Italiener, dem Nationalcharakter seines Volkes gemäss von einer leidenschaftlichen, schnell aufbrausenden Heftigkeit, dazu ein Soldat und darum von einer grade seinen Stand ehrenden männlichen Ehrliebe und thatkräftigen Entschlossenheit. Wir erwarten nicht anders, als dass dieser Mann von den strengsten Grundsätzen, der kein Fürstendiener ist (Sabionetta) und darum von dem leichtfertigen Leben am Hofe sich fern gehalten hat, dem trotzdem der Prinz seine Achtung nicht verweigern kann, in dem der edle Appiani das Muster aller männlichen Tugend sieht, vor dessen rauher Tugend die eigene Frau oft mehr Furcht als Achtung empfunden hat, mit Eifersucht seine Ehre bewachen und wo er sie bedroht sieht, sie ohne lange Ueberlegung thatkräftig verteidigen wird. Vor allem giebt es eine Stelle, an der er am tötlichsten zu verwunden wäre, die Unschuld und die Ehre seiner Tochter. Und grade für sie hat er, weil er das Schicksal der Orsina vor Augen hatte, immer gefürchtet, nur mit Widerwillen hat er seine Einwilligung zu dem Aufenthalt in der Stadt gegeben, freier atmete er auf, als die Stadterziehung glücklich abgelaufen ist, fast auf jedem Schritt möchte er feine Tochter behütet sehen. Am bezeichnendsten aber für die Leidenschaftlichkeit seiner Furcht und seines Argwohns ist die Heftigkeit, in der er fast ausser sich gerät, als Claudia ihm (II. 4) mitteilt, dass der Prinz seine Tochter im Hause der Grimaldi’s vor allen ausgezeichnet habe. Wenn schon der blosse Gedanke an die Möglichkeit, dass jemand die Ehre seiner Tochter antasten könne, ihn in Wut setzt, wie begreiflich wird da die erregte Leidenschaft, in der er handelt, als er durch Orsina selbst erfährt, dass Appiani tot, seine Tochter mehr als tot auf dem Lustschlosse des Prinzen, gleichsam in der Höhle des Räubers ist. Doch wenn der Idee der Dichtung gemäss der Tod Emilia’s als ein Triumph der Tugend dargestellt werden soll, so darf die entscheidende That nicht als eine Folge blinder, fassungsloser Leidenschaft sich darstellen, sie muss aus dem ruhigen und überlegten Entschluss einer edlen und starken Seele hervorgehen. Es ist also wieder eine notwen5 cfr. Hamb. Dr. St. 32.

191

Julius Rohleder

dige Folge der Idee, aus der heraus der Dichter die Handlung seiner Tragödie gestaltete, dass Emilia selbst mit ruhiger Entschlossenheit sich zum Tode drängt, in dem sie das einzige Mittel ihrer Rettung sieht. Diese unerschütterliche Entschlossenheit Emilias, welche der Dichter in letzter und entscheidender Wendung durch ihre Furcht vor den sie bedrohenden Gefahren der Verführung motiviert aus ihrer Erziehung, ihrem Character und ihrer Lage den Schülern begreiflich zu machen, ist unstreitig hier die schwierigste Aufgabe der Erklärung. Am besten lässt der Lehrer bei derselben sich leiten durch die geistvolle Auffassung, mit welcher Kuno Fischer a. a. O. 250 – 262 eine gründliche und der Dichtung sorgfältig nachgehende Characteristik der Emilia giebt, wobei es sich empfiehlt, die überall eng und straff zusammenhängende Darstellung nicht im Auszuge, sondern wörtlich den Schülern mitzuteilen. Es bleibt dann noch übrig, auf den Fortschritt und die Gliederung der Handlung auch dieses Teiles hinzuweisen. Während wir aber in den ersten besprochenen Teilen, bei der dramatischen Darstellung der Leidenschaft des Prinzen, der Intrigue Marinelli’s und ihrer Entlarvung stets Zeugen einer ununterbrochen fortschreitenden Handlung gewesen sind, die uns schnell, ohne Aufenthalt und Rückschritt, nach einem bestimmten Ziele fortreisst, erhält die Handlung des letzten Actes kurz vor der Entscheidung dadurch eine retardierende Spannung, dass zunächst bis zur 7ten Scene ein auf- und abwogender Kampf in der Seele des Vaters vergegenwärtigt wird, in dem die Empfindungen des sonst so thatkräftigen Mannes ihn bald der entscheidenden That entgegentreiben, bald vor der letzten Entscheidung zurückbeben. So bietet die Dichtung Lessing’s erst im letzten Act dasselbe ergreifende Schauspiel eines inneren Seelenkampfes, das Shakespeare’s Macbeth schon im I. Act vergegenwärtigt, auch ein bezeichnender Unterschied, der auf der Verschiedenheit der Ideen beider Dichtungen beruht. Am übersichtlichsten gliedert sich diese dramatische Darstellung der auf und absteigenden Leidenschaft nach den einzelnen Momenten grösserer Ruhe, die meist durch kurze aber vortrefflich lebenswahre Monologe bezeichnet sind. Von der Ruhe, zu der sich Odoardo die Arkaden auf und abwandelnd gezwungen hat, weil ihm nichts verächtlicher erscheint, als ein brausender Jünglingskopf mit grauen Haaren, von dem besonnenen Entschluss, die Rettung der gekränkten Tugend seiner Tochter nicht mit der Bestrafung des Lasters zu verwechseln und die Vergeltung für Appiani’s Tod einem höheren Richter zu überlassen, wird Odoardo zunächst durch das Gespräch mit Marinelli, besonders durch dessen Mitteilung, dass man ihm seine Tochter vorenthalten und unter irgend einem Grunde nach Guastalla bringen werde, zur hitzigsten Erregtheit gedrängt, deren heftige Aeusserung in dem Monologe des vierten Auftritts: (»Kurzsichtiger Wüterich! mit dir will ich es schon aufnehmen. Wer kein Gesetz achtet, ist ebenso mächtig, als wer keins hat – das weisst du nicht! komm an, komm an!«) erkennen lässt, dass er daran denkt, den Prinzen selbst niederzustossen. Aber gleich darauf noch in demselben Monologe beruhigt er sich wieder: (»Aber siehe da, schon wieder rennt der Zorn mit dem Verstande davon.«) Erst muss er doch wissen, ob Marinelli wirklich im Auftrage des Prinzen gesprochen hat, und von neuem ruhig und gefasst tritt er zu Beginn des fünften Auftrittes dem Prinzen entgegen. Als sich dann aber allmählich Marinelli’s nichtswürdiger Plan enthüllt, Emilia von Vater und Mutter zum Zweck einer gerichtlichen Untersuchung über Appiani’s Ermordung zu 192

G. E. Lessing’s Emilia Galotti als Lectüre für Prima.

trennen, als der Prinz von den Gründen scheinbar überzeugt dazu seine Zustimmung giebt, da steigt die leidenschaftliche Erregung von neuem in der Brust des Vaters bis zur Empörung seiner innersten Gefühle auf, in der er nach dem Dolche greift, den Prinzen niederzustossen. Doch der unglückliche Mann kann – ein Zug psychologischer Wahrheit – in diesem Kampfe allein durch sich selbst nicht zur Entscheidung kommen, ihn besänftigt ein freundliches Wort des Prinzen. Nun folgt eine scheinbare, in bitteren Worten des Hohnes sich äussernde Ruhe, die er heuchelt, während der Prinz ihm mitteilt, dass er seine Tochter in das Haus der Grimaldi’s zu bringen gedenke, eine scheinbare Ruhe, denn während er bei diesen Worten wie in tiefen Gedanken dasteht, tobt in ihm die Leidenschaft, und erst jetzt tritt er dem Gedanken nahe, seiner eignen Tochter den Tod zu geben und sie dadurch vor Schande zu bewahren. Welche qualvolle Erregung den in seinen heiligsten Gefühlen gekränkten Vater beherrscht, während er den Prinzen bittet, seine Tochter, bevor er sie mit zur Stadt nehme, noch einmal zu ihm zu senden, lassen die Anfangsworte des meisterhaften Monologes im sechsten Auftritt erkennen, und doch zwingt er sich in demselben Monologe noch einmal zur Ruhe und Ueberlegung; zu grässlich ist, was er kaum sich zu denken getraut. Schon eilt er hinweg, ohne seine Tochter zu erwarten. – (»Wer sie unschuldig in diesen Abgrund gestürzt hat, der ziehe sie auch heraus«) – da erscheint Emilia, und der fassungslose, fast wahnsinnige Vater erkennt darin den Wink des Himmels, dass er seine Hand will. So ist der Bogen der Leidenschaft des Vaters nach wiederholter, stets kräftigerer Anspannung auf das äusserste gespannt, und Emilia’s Hand ist es, die mit Sicherheit den Pfeil entsendet. Wir stehen vor der letzten Scene, in deren erschütternden, schnell fortschreitenden Handlung im wirkungsvollen Gegensatz zu den eben besprochenen, retardierenden Momenten sich die lang vorbereitete Idee vollzieht. Während der sonst so entschlossene Mann nach langem qualvollen Kampfe »die Entscheidung über Leben und Tod aus dem Lostopf des Zufalls greift«, zeigt die früher so zaghafte, unselbständige Emilia die ruhigste, unerschütterlichste Entschiedenheit. Sie will fliehen, noch einmal kommt ihr der qualvolle Vorwurf, dass sie durch ihre erste Freundlichkeit gegen den Prinzen im Hause der Grimaldi’s und durch ihr ängstliches Schweigen vor ihrem Bräutigam über die zweite Begegnung mit dem Prinzen in der Kirche das furchtbare Geschick Appiani’s herauf beschworen hat (alle diese Empfindungen liegen in den kurzen Worten: »Und warum er tot ist, mein Vater, warum«!) da ist sie bei der Mitteilung, dass sie in dasselbe Haus der Freude zu den Grimaldi’s gebracht werden soll, entschlossen, durch selbstgewählten Tod das Netz der drohenden Schande zu zerreissen. Noch zögert der Vater; als er aber hört, welche willensfeste Entschiedenheit seine Tochter den Ränken der Sinnlichkeit entgegen setzt, dass sie Verführung und Schande mehr fürchtet als den Tod; als er sieht, dass sie Thatkraft genug zeigt, den Tod, vor dem er zurückschaudert, sich selbst zu geben; als sie bei dem Bilde, der zerpflückten Rose ihn auf die ehrlose Zukunft hinweist, der sie entgegen gehe; als sie endlich bittere Worte des Vorwurfs zu ihm spricht, die in Erinnerung an eine alte Römerthat die Liebe des Vaters in ihm ebenso wie die Thatkraft des Mannes wachrufen – da ist in einem undenkbar kurzen Moment der Leidenschaft die entscheidende That geschehen, und die Tochter sinkt von dem Dolche des Vaters getroffen nieder, eine gebrochene Rose, 193

Julius Rohleder

bevor sie der Sturm entblättert. Diese That, die der unglückliche Vater unmittelbar darauf bitter bereut, ist f ür i hn also eine That unbeherrschter Leidenschaft, für Emilia aber eine That freien überlegten Entschlusses, und hierin liegt die Grösse der Idee. »Der freie sittliche Wille triumphiert über die feinen Berechnungen des Verstandes und über die Gewalt der irdischen Macht. Wer den Tod nicht scheut, der ist auch der Willkürherrschaft gegenüber frei.« Dass der Tod in dieser Dichtung nicht als ein Unterliegen, als eine Strafe, sondern als eine Befreiung, als ein Triumph gedacht ist, zeigt auch der Schluss der Tragödie: der Tod wäre kein Triumph der willensstarken Unschuld, wenn Odoardo, der Prinz oder Marinelli vom Dichter gewürdigt wären, im Tode Emilia zu folgen. Odoardo übergiebt sich der Strafe der menschlichen Gerechtigkeit, der Prinz und Marinelli stehen erschüttert, gebrochen vor der Leiche – Auch an diese Vorbesprechung des letzten Akts, auf welche nun der Abschluss der Lektüre folgt, knüpft sich leicht ein Aufsatzthema: Wie motiviert Lessing den Tod der Emilia Galotti? Eine solche Arbeit bietet den Schülern zugleich Gelegenheit, sich am Schluss darüber auszusprechen, welche Bedeutung in dieser Dichtung der Tod der Emilia hat. Auch ist der Inhalt der Tragödie mit den Schülern nun so gründlich besprochen, dass ihnen einfache und vergleichende Charakteristiken aus der Dichtung keine Schwierigkeiten mehr und doch noch genügende Gelegenheit zu selbständiger Arbeit bieten können. Somit ist die erste und wichtigste Aufgabe der schulmässigen Erklärung einer dramatischen Dichtung gelöst. Durch vorbereitende Besprechungen, gemeinsame Lektüre und zweckmässig geleitete Uebungen ist allen Schülern eine Einsicht in die Idee, die Disposition, die Handlung der Emilia Galotti ermöglicht worden, zugleich haben die begabteren Anleitung erhalten, die Vorzüge dieser einzelnen Dichtung auf wesentliche Gesetze der Tragödie überhaupt zurückzuführen und sich so zu einem allmählich immer selbständigeren Urteil über die Schönheiten auch andrer dramatischer Meisterwerke heranzubilden. Nicht eben so wichtig, doch auch notwendig erscheint es nun zweitens, den Schülern, nachdem sie die Dichtung selbst kennen gelernt haben, auch die Geschichte ihrer Entstehung und ihre Bedeutung für die Litteraturgeschichte unseres Volkes klar zu machen. Am fruchtbarsten wird auch hier die Behandlung sein, wenn den Schülern nicht allein historische Einzelheiten mitgeteilt werden, sondern auch hier die Gelegenheit nicht versäumt wird, durch Besprechung nahe liegender, für die dramatische Dichtung überhaupt wichtiger Fragen und Gegensätze die Urteilsreife der Schüler zu fördern. Von der Geschicklichkeit und Sachkenntnis des Lehrers wird dabei erwartet werden müssen, dass er die Schüler von der Gefahr selbstgefälliger und oberflächlicher Beurteilung der Meisterwerke unsrer Classiker, die sie verstehen und bewundern, nicht kritisch untersuchen und bemängeln sollen, fernzuhalten. Bei der Besprechung der historischen Bedeutung der Emilia Galotti handelt es sich nun vorzugsweise um zwei auch in der hamburgischen Dramaturgie von Lessing besprochene und seitdem für eine Behandlung in der Schule hinreichend aufgeklärte und entschiedene Fragen und Gegensätze: um die Frage, in wie weit der tragische Dichter an die französischen Kunstgesetze der Einheit des Ortes und der Zeit gebunden ist und um den Gegensatz der bürgerlichen und historischen Tragödie. Eine verständige und den Zwecken der Schule entsprechend begrenzte 194

G. E. Lessing’s Emilia Galotti als Lectüre für Prima.

Behandlung dieser Fragen wird den Schülern nicht nur, abgesehen von einem besseren Verständnis der Emilia, für die Beurteilung sämmtlicher Meisterwerke Shakespeare’s, Goethe’s, Schiller’s, förderlich sein, sondern auch das Verdienst, das gerade Lessing sich um die Befreiung der deutschen Tragödie vom französischen Einfluss und um die Begründung einer national-deutschen dramatischen Dichtung erworben hat, am besten erkennen lassen. Es erscheint aber um so ratsamer, in diese Fragen die Schüler bei Gelegenheit der hierzu vorzüglich geeigneten Emilia Galotti einzuführen, als eine Besprechung dieser Sätze auf Grund einer Lektüre der hamburgischen Dramaturgie, wie jeder, der es versucht hat, erfahren haben wird, sehr grosse Schwierigkeiten bietet, die ihren Grund darin haben, dass die Schüler mit den Dichtungen, deren Bekanntschaft für die Gedankenentwickelung der hamburgischen Dramaturgie notwendig vorausgesetzt wird, unbekannt sind. Unter diesem Gesichtspunkte steht die folgende kurze Besprechung der Entstehung und Vollendung der Emilia Galotti. Als Lessing im Jahre 1756 von der durch den Ausbruch des siebenjährigen Krieges vereitelten Reise nach Leipzig zurückkehrte, schien es, als habe er der Beschäftigung mit der dramatischen Dichtung ganz entsagt. Ein Blick jedoch in die Korrespondenz, die er in dieser Zeit mit seinen beiden Freunden Mendelssohn und Nicolai geführt hat, zeigt, dass er gerade damals theoretisch und praktisch viel mit der Tragödie und ihren Gesetzen beschäftigt war. Neue Anregung hatte ihm eine Abhandlung Nicolai’s »vom Trauerspiel« gegeben. An diese, welche Nicolai, bevor er sie drucken liess, im Entwurf Lessing mitgeteilt hatte, knüpfte sich ein brieflicher Gedankenaustausch zwischen Lessing, Mendelssohn und Nicolai über den Begriff und die wichtigsten Kunstregeln der dramatischen Dichtung, der in den von Lessing geschriebenen Briefen ein anziehendes Vorspiel zu den Erörterungen der hamburgischen Dramaturgie ist. Da zu derselben Zeit Nicolai einen Preis von 50 Thalern für das beste deutsche Trauerspiel ausgesetzt hatte, so wurde dadurch auch bei Lessing der Produktionstrieb wieder rege, und er machte sich an den ersten Entwurf der Emilia Galotti, deren Geschichte bis zu ihrer erst 15 Jahre später in Wolfenbüttel erfolgten Vollendung wir in dem Briefwechsel Lessing’s mit seinen Freunden genau verfolgen können. Für keine Dichtung aber ist die Geschichte ihrer Entstehung belehrender, als für Emilia Galotti. Die erste Erwähnung finden wir in einem Briefe Lessing’s an Mendelssohn vom 22. October 1757: »es arbeitet hier noch ein junger Mensch (Lessing selbst) an einem Trauerspiel, welches vielleicht unter allen das beste sein dürfte.« Ursprünglich hatte Lessing die Absicht, den Tod der römischen Virginia gemäss der von Livius III. 44 – 50 überlieferten Geschichte dramatisch darzustellen, ein geschichtlicher Stoff, auf dessen für eine Tragödie besonders ergiebige Reichhaltigkeit er wenige Jahre vorher durch ein eingehendes Studium der Virginia des spanischen Dichters Montiano y Luyando aufmerksam geworden war. Von dieser ursprünglich beabsichtigten historischen Tragödie scheint Lessing aber nur den ersten Auftritt zu Papier gebracht zu haben. Schon wenige Monate später schreibt er an Nicolai: »von meinem guten Tragicus verspreche ich mir nach meiner Eitelkeit viel gutes – denn er arbeitet ziemlich wie ich. Er macht alle sieben Tage sieben Zeilen, erweitert unaufhörlich seinen Plan und streicht unaufhörlich etwas von dem schon ausgearbeiteten wieder aus. Sein jetziges Sujet ist eine b ü r g e r l i c h e Virginia, der er den Titel Emilia Galotti 195

Julius Rohleder

gegeben. Er hat nämlich die Geschichte der römischen Virginia von allem dem abgesondert, was sie für den ganzen Staat interessant macht; er hat geglaubt, dass das Schicksal einer Tochter, die von ihrem Vater umgebracht wird, dem ihre Tugend werter ist als ihr Leben, für sich schon tragisch genug und fähig genug sei, die ganze Seele zu erschüttern, wenn auch gleich kein Umsturz der ganzen Staatsverfassung darauf folgt. Seine Anlage ist von drei Akten, un d er b r au c ht o hn e B e d en ken a l l e Fr e i h e i t e n d e r e n g l i s c h e n Bü hn e . « Auch dieser Plan blieb zunächst unausgeführt, bis Lessing, erst vorübergehend im Jahre 1767 während seines Aufenthaltes in Hamburg, dann ernstlich im Winter 1772 in der Einsamkeit seines wolfenbütteler Schlosses an die weitere Ausführung und Vollendung ging. Zum 1. März 1772 übersandte er die letzten Akte der Emilia Galotti in der uns nun vorliegenden Gestaltung an seinen Bruder Karl in Berlin zum Druck. Seine Freunde begrüssten dieselbe mit enthusiastischer Begeisterung, und einer derselben nannte den Verfasser den zweiten Shakespeare. Die Kritik erhob zwar bei Anerkennung der meisterhaften Charakterzeichnung im einzelnen gegen die innere Wahrscheinlichkeit und psychologische Notwendigkeit der Katastrophe manche Bedenken, aber bei den schnell auf einander folgenden Aufführungen in Braunschweig, Berlin, Danzig, Hamburg wider­ legte der ausserordentliche Erfolg der Darstellung die Schlüsse und die Theorie der Kritiker. Seitdem haben hervorragende Schauspieler und Schauspielerinnen Charaktere dieser Dichtung mit Vorliebe und ausserordentlichem Erfolge dargestellt. Ebenso allgemein wie die meisterhafte Charakteristik wurde die ungemeine Bedeutung, welche diese Dichtung in der nationalen Selbständigkeit ihrer Sprache, ihres Baues und ihrer Handlung neben den zahlreichen kraftlosen und matten Nachahmungen und Uebersetzungen französischer Tragödien für die Entwicklung der deutschen tragischen Dichtung überhaupt hatte, anerkannt. »Es erhob sich«, sagt Goethe, dessen Urteil über die Dichtung in späterer Zeit freilich weniger anerkennend lautete, »dies Stück wie die Insel Delos aus der Gottsched-Gellert-Weisse’schen Wasserflut, um eine kreissende Göttin barmherzig aufzunehmen. Wir jungen Leute ermutigten uns daran und wurden Lessing viel schuldig.« Worin liegt nun die grosse Bedeutung dieser Dichtung für ihre Zeit und für die fortschreitende Entwicklung der deutschen Tragödie überhaupt? Welches sind die Freiheiten der englischen Bühne, die Lessing nach seinem eignen Briefe an Nicolai in dieser Dichtung ohne Bedenken braucht? Die erste weniger wichtige betrifft die Form der Darstellung. Auch in dieser Dichtung sagte Lessing sich von der nach den Vorschriften der französischen Tragödie bindenden Einheit des Ortes los. — In der Tragödie des Altertums war es Herkommen gewesen, dass der Ort der Handlung während der Aufführung unverändert derselbe blieb, so dass die Einrichtung veränderlicher Coulissen ihnen fast ganz unbekannt war.6 Diese äussere Eigentümlichkeit der attischen Bühne ergab sich mit Notwendigkeit aus der Bedeutung der theatralischen Aufführungen für das Leben des griechischen Volkes. Da dieselben zugleich eine Festfeier des Gottes Dionysos waren, so 6 Im Ajax des Sophokles können die beiden Scenen der Handlung, das Zelt des Ajax und eine einsame wilde Schlucht so unmittelbar neben einander gedacht werden, dass man sie von einem Standpunkte zugleich übersehen kann.

196

G. E. Lessing’s Emilia Galotti als Lectüre für Prima.

bildete der Altar des Gottes, die Thymele in der Orchestra, um den sich die Tänze des Chores bewegten, den unverrückbaren Mittelpunkt, um den sich die scenische Aufführung gruppierte. Die einzig wirkliche wesentliche Ausnahme von diesem Herkommen, auf die man bei dieser Gelegenheit aufmerksam machen kann, gestattete sich, so weit wir aus den aus dem Altertum erhaltenen Dichtungen erkennen können, Aeschylus in seinen Eumeniden, wo in der Mitte der Handlung die Scene vom Tempel zu Delphi nach Athen vor den Tempel der Pallas verlegt wird, freilich nicht, ohne dass der Chor vorher die Orchestra verlässt. Diesen Zwang ihrer Bühnenverhältnisse liessen sich die Dichter des Altertums einen Anlass sein, die Handlung selbst so zu vereinfachen, alles Ueberflüssige so sorgfältig von ihr abzusondern, dass sie auch die Zeit der Handlung ohne innere Unwahrscheinlichkeit auf die Dauer eines einzigen Sonnenumlaufes, auf höchstens vierundzwanzig Stunden einschränken konnten. Vorzüglich kam ihnen dabei zu statten, dass sie den Stoff ihrer Dichtung immer nur aus einem den Zuschauern genau bekannten Sagenzusammenhang wählten. So standen bei der dramatischen Dichtung des Altertums die religiöse Bedeutung der Tragödien, die Beschränkung ihrer Handlung auf Stoffe, die den Zuschauern aus der Sage oder Geschichte genau bekannt waren, die Verbindung der Handlung mit dem Chor im harmonischen Zusammenhang mit der Einfachheit ihres Inhalts, mit der Unveränderlichkeit ihrer Scene und der kurzen Dauer ihrer Zeit. Auf das Studium des Aristoteles und der altklassischen Tragödien gestützt hatten nun die französischen Kritiker und Dichter die berühmten Einheiten des Ortes und der Zeit, das heisst die für alle bindende Regel aufgestellt, dass in einer Tragödie weder der Ort der Handlung wechseln, noch die Zeit derselben sich über 24 höchstens 30 Stunden erstrecken dürfe, ohne zu bedenken, dass seit Aristoteles sich die Verhältnisse der Bühne bedeutend geändert hatten, und ohne zu fragen, ob nicht mit der Beseitigung des dionysischen Chores, die das moderne Leben forderte, auch diejenigen Aeusserlichkeiten der attischen Tragödie, welche aus der Verbindung eines Chors mit der Handlung hervorgegangen waren, notwendig aufgegeben werden mussten. Die Folge davon war gewesen, dass die vielgerühmte französische Tragödie, in Fesseln eingeengt, die mit der Bedeutung der modernen Bühne und ihrer Forderung einer viel reicheren, umfassenderen Handlung unvereinbar waren, äusserlich zwar regelmässig, aber in der Unwahrscheinlichkeit und Unnatur conventioneller Formen trotz der hohen geistigen Begabung ihrer Dichter und besonders Racine’s ohne überzeugende Lebenswahrheit und natürliche Leidenschaft sich darstellte. Selbständiger und widerspruchsloser entwickelte sich in dieser Beziehung die englische Tragödie, wie denn überhaupt die tragische Dichtung bei den Engländern vor der französischen und der deutschen den grossen Vorzug hat, dass sie sich selbständig in national englischen Formen entwickelt hat. Da die englische Bühne keine veränderlichen Coulissen hatte, sondern der Ort der Handlung einfach durch die Aufschrift eines aus der Höhe der Bühne herabgelassenen schwarzen Brettes bezeichnet wurde, so gestattete sie in ihren an wechselvoller Handlung sehr reichen Stücken ohne jede beengende Vorschrift, je nachdem es das Bedürfnis der Handlung verlangte, eine uneingeschränkte Zeitdauer und einen häufigen Wechsel des Ortes. Um den Schülern eine Anschauung von diesem Gegensatz der französischen und englischen Tragödie zu geben, 197

Julius Rohleder

leite man sie an, in Beziehung auf Ort und Zeit der dargestellten Handlung einmal für sich diejenige der französischen Tragödien, die sie grade im französischen Unterricht gelesen haben (gewöhnlich Athalie oder Cid) mit Shakespeare’s Macbeth zu vergleichen. Auch freie Vorträge, um deren Stoff der deutsche Unterricht nicht selten in Verlegenheit ist, können hier die Anschauung des Gegensatzes fördern, wenn Berichte über die Handlung zweckmässig dazu ausgewählter dramatischer Dichtungen den Inhalt bilden. Da nun die deutsche Tragödie seit Gottsched ganz in der Nachahmung der französischen befangen war, so waren der deutschen dramatischen Dichtung zur Zeit Lessing’s ebenso wie der französischen durch die beengenden Gesetze der Einheit des Ortes und der Zeit die Flügel beschnitten. Da war es nun ein bedeutendes Verdienst Lessing’s, diese hemmenden Schranken französischer Regelmässigkeit durch die meisterhafte Kritik der allgemein bewunderten französischen Dichtungen in seiner Hamburgischen Dramaturgie durchbrochen und dem schaffenden Genius der deutschen Dichtung die Freiheit der Bewegung wiedergegeben zu haben. Seine Dichtungen zeigen aber zugleich, dass er selbst die regellose Freiheit der Bewegung, welche die englische Bühne ihren Dichtern gestatten konnte, mit Rücksicht auf die Bühnenverhältnisse in Deutschland praktisch nur massvoll ausübte. In seinen beiden Musterwerken: »Minna von Barnhelm« und »Emilia Galotti« gestaltete er die Handlung so, dass bei sonstiger Freiheit, den Ort nach den Bedürfnissen der Handlung zu wechseln, ein Wechsel des Orts innnerhalb desselben Aktes vermieden wird, während er die Einheit der Zeit in beiden Dichtungen streng bewahrt. Auch in dieser Beziehung ist ein Vergleich zwischen der Emilia Galotti und dem Macbeth für die Schüler belehrend. Während in Lessing’s Dichtung der Ort der Handlung, die in den Zeitraum von kaum 12 Stunden zusammengefasst ist, nur zweimal wechselt, zu Anfang des zweiten und beim Beginn des dritten Aktes – gewiss ein massvoller Gebrauch der englischen Freiheit – macht Shakespeares Macbeth ausser in dem zweiten Akt, wo in den vier Scenen nur ein einmaliger Scenenwechsel stattfindet, in den übrigen Akten bei jedem neuen Auftritt einen Wechsel der Scene notwendig, und die Zeit der Handlung, in ihrer Dauer unbestimmt, geht jedenfalls über den Zeitraum mehrerer Monate hinaus. Bei dieser Gelegenheit ist es für die Schüler zugleich lehrreich, zu übersehen, in welcher Ausdehnung Schiller und Goethe die von Lessing erkämpfte Unabhängigkeit von den jede freie Bewegung hemmenden Schranken der Orts-und Zeiteinheit benutzt haben. Die einzige klassische Tragödie nach Lessing, welche sich streng an diese Gesetze bindet, ist abgesehen von Schiller’s Vorspiel Wallenstein’s Lager, Goethe’s Iphigenie, auch sonst in der Einfachheit ihrer Handlung ein schönes Seitenstück griechischer Dichtung. Freier in der Bestimmung des Aktes, doch so, dass bei streng durchgeführter Einheit der Zeit ein Scenenwechsel innerhalb der Akte vermieden wird, also ganz in der Form der Lessingschen Emilia, bewegen sich Goethe’s Torquato Tasso und Schiller’s Piccolomini. Einen Scenenwechsel in einem oder mehreren Akten verlangen: Kabale und Liebe, die Braut von Messina, Maria Stuart und Wallenstein’s Tod, während Egmont, Faust, Don Carlos, die Jungfrau von Orleans und besonders Götz von Berlichingen und Wilhelm Tell bei vollständiger Unabhängigkeit von dem Gesetze der Zeiteinheit in jedem Akt von der Freiheit des Scenenwechsels den uneingeschränktesten Gebrauch machen. 198

G. E. Lessing’s Emilia Galotti als Lectüre für Prima.

Aus dieser Uebersicht ergiebt sich die diese Besprechung abschliessende, für die Beurteilung der deutschen klassischen Tragödie leitende Regel: der dramatische Dichter ist weder an die Einheit des Ortes noch an die der Zeit gebunden, doch erleichtert es die Aufführung und verrät besonderes Geschick, wenn der Dichter, einen Dekorationswechsel innerhalb desselben Aktes, ohne dass die Wahrscheinlichkeit der Handlung darunter leidet, zu vermeiden weiss.7 Eine zweite und wichtigere Freiheit der englischen Bühne, von der Lessing in der Emilia Galotti Gebrauch gemacht hat, betrifft den Inhalt derselben. Es ist die vollständige Lossagung von der Ueberlieferung der Geschichte, der Entschluss, die Handlung aus der römischen Vergangenheit in die Gegenwart zu verlegen, um sie dadurch für die Zuschauer wirksamer zu machen. Aus einer kurzen Vergegenwärtigung der Livianischen Erzählung III. 44 – 50 etwa in dem Umfange der von Nölting a. a. O. pag. 2 gegebenen Darstellung ist den Schülern ersichtlich, dass Lessing in dieser Dichtung absichtlich von der Geschichte abwich, indem er nur die eine Thatsache, dass ein Vater seine eigene Tochter tötete, um ihre Unschuld zu bewahren – die Idee der Dichtung – beibehielt und für diese Idee eine ganz neue Handlung, die er ohne Angabe der Zeit an einen der italienischen Fürstenhöfe versetzte, frei erfand. Warum gab er den ursprünglich in’s Auge gefassten historischen Stoff auf ? Hier bietet sich Gelegenheit, auf Wesen, Entstehung und Bedeutung der bürgerlichen Tragödie, die durch Lessing zuerst in die deutsche Dichtung eingeführt wurde, und der wir in der Folgezeit eine ganze Anzahl vortrefflicher Werke unsrer dramatischen Litteratur (Räuber, Kabale und Liebe, zum Teil auch Egmont und Faust) verdanken, kurz hinzuweisen. Das bürgerliche Trauerspiel, auch Familientragödie genannt, steht im Gegensatz zur sogenannten historischen oder heroischen Tragödie, von der sie sich ausser durch eine grössere Natürlichkeit in Sprache, Leidenschaften und Situationen insbesonders dadurch unterscheidet, dass die Handlung derselben uns nicht, wie in der heroischen Tragödie, mit Schicksalen gewaltiger, in Geschichte und Sage hervorragender Helden bekannt macht, sondern uns in das auch oft durch Schuld und Leidenschaft tragisch bewegte Familienleben bürgerlicher Kreise der Gesellschaft einführt. Eine solche bürgerliche Tragödie war der dramatischen Dichtung des Altertums unbekannt. Eben weil die dramatischen Aufführungen der Griechen für das ganze Volk Formen des Gottesdienstes waren, waren die Dichter durch die über dem Leben stehende Würde ihrer Dichtung darauf hingewiesen, nur das bedeutende und großartige darzustellen: grossartig und bedeutsam aber erschien dem Hellenen besonders das Leben der Heroen, in denen, da sie ihr Geschlecht unmittelbar auf die Götter zurückführten, Göttliches im Menschenleben zur Erscheinung kam. Da nun die Heroen unter den Menschen in ihrer Stellung ohne Ausnahme Könige oder Königssöhne waren, so stellte sich allmählich für die griechische Tragödie der Grundsatz fest, dass Helden der tragischen Dichtung ausschliesslich Könige, Königssöhne, geschichtliche Helden sein könnten. Ueber diese vom Altertum überlieferten Formen 7 Eine eingehende theoretische Erörterung der Orts- und Zeiteinheit findet man in A. W. v. Schlegel’s Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. Ausgabe 3 von Ed. Böcking VI. 9 – 42.

199

Julius Rohleder

war nun auch die französische Dichtung des siebzehnten Jahrhunderts und mit ihr die deutsche Dichtung vor Lessing nicht hinausgegangen. Für beide galten die beiden Hauptgesetze, dass die Handlung der Tragödie nur dann würdig und zweckentsprechend sei, wenn sie uns in ferne Zeiten unter ein fremdes Volk führe und uns Schicksale von berühmten Personen der Sage oder Geschichte, von Heroen, Fürsten oder Königen vergegenwärtige. Da sagte sich die englische Tragödie zuerst mit Bewusstsein von diesem beengenden Gesetz los, oder vielmehr dort hatte die französische Theorie von der auschliesslichen Berechtigung der historischen Tragödie niemals Wurzel geschlagen. Im Jahre 1751 wurde in England eine Tragödie von Georg Lillo »The Merchant of London« aufgeführt, in der absichtlich, im Gegensatz gegen die steife Würde der heroischen Tragödie französischen Geschmacks, leidenschaftliche Vorgänge aus niederen Kreisen der Gesellschaft dargestellt wurden, und die in Folge dessen in Deutschland, wo man seit Bodmer’s Hinweis auf Milton die englische Litteratur mit allgemeinem Interesse verfolgte, als erstes Muster einer neuen Art der Tragödie galt. »Verjüngend und belebend, wie ein Hauch frischer Seeluft, der durch die schwülen Gassen einer dicht bevölkerten Stadt weht« (Danzel) wirkte dies Beispiel auf die deutsche in der Nachahmung französischer Muster fast erstarrte dramatische Dichtung, und Lessing war wieder der erste, der die Triebkraft, die dieser neuen Art der Tragödie innewohnte, und den Fortschritt, der durch die Erweiterung des tragischen Stoffes gegeben war, so klar erkannte, dass er dieser Erkenntnis auch praktisch Folge geben konnte. Warum soll das Bedeutende nur Fürsten und Standespersonen, nicht auch einfachen Bürgern begegnen? Aus solcher Erwägung Lessing’s ist Miss Sara Sampson hervorgegangen, die erste deutsche bürgerliche Tragödie (kurzer Inhalt). Theoretisch hat er dann die Berechtigung dieser neuen Gattung dramatischer Dichtung in der hamburgischen Dramaturgie nachgewiesen. Während dieser Zeit hatte er sich auch mit den Ansichten Diderot’s bekannt gemacht und in diesem Franzosen, von dem er später noch dankbar anerkennt, dass er an der Bildung seines Geschmackes einen grossen Anteil habe, einen Kampfgenossen in dem Widerspruch gegen die Unfehlbarkeit der klassischen französischen Tragödie gefunden. Es sind Diderot’s Worte, mit denen Lessing im 14. Stück der hamburgischen Dramaturgie die Berechtigung der bürgerlichen Tragödie zu erweisen sucht. »Die Namen von Fürsten und Helden können einem Stücke Pomp und Majestät geben; aber zur Rührung tragen sie nichts bei. Das Unglück derjenigen, deren Umstände den unsrigen am nächsten kommen, muss natürlicherweise am tiefsten in unsre Seele dringen; und wenn wir mit Königen Mitleid haben, so haben wir es mit ihnen als mit Menschen, und nicht als mit Königen. Macht ihr Stand schon öfters ihre Unfälle wichtiger, so macht er sie darum nicht interessanter. Immerhin mögen ganze Völker darin verwickelt werden; unsre Sympathie erfordert einen einzelnen Gegenstand, und ein Staat ist ein viel zu abstrakter Begriff für unsre Empfindungen.« 8 Diese Vorliebe Lessing’s für bürgerliche Tragödien mit frei erfundener Handlung zeigt sich in allen seinen dramatischen Dichtungen; von der Miss Sara bis zu Nathan 8 Vergl. Lessing’s Ansicht über den Vorzug einheimischer Sitten und Anschauungen in der Tragödie von Gebräuchen und Sitten fremder Völker. Hamb. Dr. St. 97.

200

G. E. Lessing’s Emilia Galotti als Lectüre für Prima.

dem Weisen ist jede einzelne Beweis für die Ueberzeugung Lessing’s, dass nicht Helm und Diadem den tragischen Helden machen und dass die Darstellung bürgerlicher Verhältnisse und bürgerlicher Helden in der Tragödie viel kräftigere Wirkungen hervorbringen müssten, als ihr Corneille oder Racine zu erteilen vermochten. Kein Wunder, dass er auch in der Emilia Galotti sich entschloss, an die Stelle der historischen Virginia eine bürgerliche Emilia zu setzen, und dass er die Geschichte der Virginia von allem dem absonderte, was sie für den ganzen Staat interessant machte. Ist denn nun diese Vorliebe Lessings für dramatische Stoffe aus dem bürgerlichen Leben berechtigt? Urteilen auch wir, dass die bürgerliche Tragödie höher stehe und wirksamer sei als die historische? Die Beispiele zunächst Shakespeare’s und unserer bedeutendsten Tragödiendichter sprechen dagegen. Der englische Dichter steht so ausschliesslich auf dem Boden der historischen Tragödie, dass er zu keiner einzigen seiner Tragödien den Stoff aus freier Erfindung nahm, und Schiller sowohl wie Goethe haben in den meisten, jedenfalls in allen ihren aus reifer Kunstübung hervorgegangenen Dramen ihren Stoff nicht aus freier Erfindung und aus der Gegenwart, sondern aus der Sage oder Geschichte genommen. Aber auch sonst, abgesehen von Beispielen, berechtigen uns viele Gründe, diese Auffassung Lessing’s als eine einseitige zu bezeichnen. Mit der vertiefteren Auffassung der Geschichte, in der wir nicht mehr mit Lessing eine Sammlung zusammenhangloser Einzelheiten, ein blosses Repertorium von Namen, mit denen wir gewisse Charaktere zu verbinden gewohnt sind, sondern eine sittliche Welt, in ihrem Werden und Wachsen, in ihrer Bewegung betrachtet erblicken, ist auch die Wertschätzung der historischen Tragödie bedeutend gehoben, deren Aufgabe es ist, den in der Geschichte der Völker wirkenden göttlichen Geist, dem der Geschichtsforscher wissenschaftlich nachforscht, durch die Kunst zur Anschauung zu bringen. Heute ist es allgemein anerkannt, dass die historische Tragödie grossartiger und fähiger ist, wirkungsvoll die Macht eines sittlichen Gedankens darzustellen, als die bürgerliche.9 Ein anderer Widerspruch gegen Lessing’s einseitige Bevorzugung der bürgerlichen Tragödie begründet sich ferner aus dem Wesen der Tragödie selbst als der Nachahmung einer Furcht und Mitleid der Zuschauer erweckenden Handlung. Da die Heroen, Könige und alle, die in ihrem Willen und ihrer Kraft das Gesetz und das Mass ihres Handelns finden, unabhängig sind von dem geschriebenen Gesetz, so bieten gerade sie in ihrer sittlichen Freiheit der Tragödie reicheren und unbeschränkteren Stoff, durch Leidenschaft und Schuld Furcht und Mitleid zu erregen, als die bürgerlichen Stände, die in ihrer Abhängigkeit von Gesetz und Herkommen und in den gegebenen festen Formen des alltäglichen Lebens nur selten Gelegenheit und Mut zu rücksichtsloserer Leidenschaft finden. »Es ist kein Zufall«, sagt G. Freytag, »dass eine Handlung, welche in vergangene Zeiten zurückgeht, immer die Kreise aufsucht, in denen das wichtigste und grösste Leben der Zeit enthalten war, die grossen Angelegenheiten eines Volkes, das Leben seiner Führer und Beherrscher, diejenigen Höhen der Menschheit, welche nicht nur einen kräftigeren geistigen Inhalt, sondern auch eine bedeutendere Willenskraft entwickelten.« 9 Vergl. Anmerkungen zu Lessing’s Hamb. Dram. von R. Bollmann. Separatabdruck aus der Festschrift zur dritten Säcularfeier des grauen Klosters 1874.

201

Julius Rohleder

Das beste Beispiel bietet auch hier der Vergleich der schon mehrfach verglichenen beiden Tragödien. Es ist kein Zweifel, dass die histo­rische Tragödie Macbeth bei der Lektüre sowohl wie bei der Aufführung einen tieferen Eindruck macht als Lessing’s bürgerliche Emilia Galotti. Und zwar übertrifft sie die Emilia nicht nur an Fülle und Kraft der Gedanken, an Leidenschaft und Tiefe der Empfindung, an Schwung und poetischem Schmuck der Rede, an überraschender Vielseitigkeit der Menschenkenntnis – alles dies sind Schönheiten einer Dichtung, die der Dichter aus seiner eigenen reichbegabten Seele nimmt, und es ist ja bekannt, wie bescheiden und bewundernd Lessing selbst sich der genialen Dichtergrösse Shakespeares unterordnete – sondern auch an allen den Schönheiten, welche, wenn sie auch nicht ohne dichterische Begabung erreicht werden können, so doch mehr von einer glücklichen Wahl des Stoffes abhängen als von dichterischer Begabung, ist Macbeth ohne Zweifel reicher und wirkungsvoller. Die Charaktere stellen sich gross­artiger dar, die Handlung ist gewaltiger und der Zusammenhang zwischen Schuld und Sühne tritt klarer hervor. Besonders in Folge des zuletzt genannten Vorzuges ist die sittliche Wirkung des Macbeth, an dem wir von Furcht und Mitleid ergriffen lernen, dass die gleichwägende Gerechtigkeit uns den Becher an die eignen Lippen setzt, den wir vergiftet, grösser und erhebender als in Lessing’s Emilia, deren Katastrophe, wenn sie nicht genau in dem Zusammenhang der eben besprochenen Idee aufgefasst wird, dass der Tod nach den Absichten des Dichters nicht eine Niederlage, sondern ein Triumph der Tugend ist, notwendig einen peinlichen Eindruck hinterlassen muss. So ergiebt sich leicht aus dem Vergleich dieser beiden Tragödien, von denen die eine ein Meisterwerk der historischen, die andere ein vollkommenes Beispiel der bürgerlichen Tragödie ist, die Richtigkeit des Urteils, das die Schüler über einen der wichtigsten Gegensätze der dramatischen Dichtung aufklärt, dass (Cholevius) die Poesie die ewigen Ideen, auf denen die Menschheit ruht, besser auf der Bühne der Weltgeschichte, als in einem Wohnzimmer zur Anschauung bringt. Und doch ist nicht zu verkennen, dass in dem Uebergang Lessing’s zur bürgerlichen Tragödie, der zu seiner Zeit gleichbedeutend war mit einer aus der Selbständigkeit des deutschen Geistes hervorgehenden Abweisung der Zwingherrschaft der französischen klassischen Tragödie, ein bedeutender Fortschritt lag. Daher ist die einseitige Vorliebe Lessing’s für die bürgerliche Tragödie kein Vorwurf für die Klarheit seiner dramaturgischen Einsicht. Grosse Fortschritte der Kultur sind meist nur durch einseitige, aber darum umso kraftvollere und entschiedenere Neigungen und Ansichten grosser Männer gewonnen. Hiermit kann auch die zweite Aufgabe, über die litteraturgeschichtliche Bedeutung der Emilia Galotti die Schüler so zu belehren, dass den begabteren daraus sich allgemeine Gesichtspunkte für das Verständnis der Lessingschen Verdienste um unser Drama und für spätere selbständigere Beurteilung andrer dramatischer Meisterwerke ergeben, als beendet angesehen werden. Zur selbständigen Verarbeitung des in diesem Teil des Unterrichts besprochenen Stoffes bietet dann das Thema für eine häusliche Arbeit Gelegenheit: Gegen welche in Form und Inhalt beschränkenden Gesetze der französischen Tragödie erhebt Lessing in den Stücken 44 – 46 und 14 der hamburgischen Dramaturgie Widerspruch? Ich überlasse es einer nachsichtigen Beurteilung der Fachgenossen zu entscheiden, 202

G. E. Lessing’s Emilia Galotti als Lectüre für Prima.

ob die in dieser Abhandlung für die Erklärung einer klassischen Dichtung im deutschen Unterricht ins Auge gefassten Ziele dem Verständnis einer reiferen Jugend angemessen bestimmt und ob zur Erreichung dieses Zieles die richtige Methode in richtiger Beschränkung der Mittel gewählt ist.

203

Adolf Dietrich Über den Bau des Trauerspiels Emilia Galotti. [1882]

Die Angriffe, welche in neuerer Zeit gegen Lessing den Dichter, Kritiker und Menschen gerichtet worden sind, haben wenigstens das eine Gute gehabt, dass sie manchen Kenner der Litteratur dazu veranlasst haben, das Leben und die Werke des grossen Mannes von neuem zu durchforschen, aus dem reichen Vorrat seiner Waffen sich zu rüsten und für ihn eine Lanze zu brechen. So ist die Lessinglitteratur um manche willkommene Gabe bereichert worden. Eine besondere Bevorzugung hat dabei des Dichters Trauerspiel Emilia Galotti1 erfahren, das von jeher die Veranlassung zur Erörterung wichtiger ästhetischer Streitfragen gewesen ist. Den alten Vorwurf, dass die Katastrophe des Stückes nicht genügend motiviert sei, hat unter anderen neuerdings Arnold dadurch zu widerlegen versucht, dass er nach einer eingehenden Unter­suchung über die aristotelische Definition der Tragödie nachweist, dass Lessing dieselbe richtig ver­standen und daher mit vollem Rechte seiner Emilia Galotti einen peinvollen, der Natur des Tragischen entsprechenden Ausgang2 gegeben habe. Während aber Arnold hierbei eine Schuld Emiliens über­haupt nicht anerkennt, sondern nur einen auf Nichtwissen sich gründenden Irrtum, einen Fehler im besten Sinne des Wortes3 gelten lässt, begründet Kuno Fischer4 in glänzender Darstellung die Berechtigung der Katastrophe gerade mit durch den Nachweis, dass Emilia durch eigene Schuld, die ihr wohl zum Bewusstsein komme, ihr leidvolles Schicksal herbeiführe. Die hiermit zusammen­hängende Frage, ob Emilia bewusst oder unbewusst eine Neigung zum Prinzen empfunden habe, haben Arnold und Kuno Fischer verneint und zwar, wie wir glauben, aus Gründen von überzeugender Kraft. Freilich muss zugestanden werden, dass ein ganz unbefangener Zuschauer leicht in den Irrtum geführt werden könne, Emilia habe den Prinzen geliebt, während eine gründliche Kenntnis von Lessings dramaturgischen Ansichten dazu gehört, um zu der Überzeugung zu gelangen, dass er unmöglich an etwas derartiges gedacht haben könne. Alle drei Fragen, ob die Katastrophe berechtigt, Emilia schuldig sei und ob sie unter dem Einflüsse einer Neigung zum Prinzen gestanden habe, sind durch die Untersuchungen der genannten beiden Verfasser zu einem gewissen Abschluss gekommen, in so fern Gründe und Gegengründe scharf beleuchtet und gegen einander abgewogen 1 Eine Zusammenstellung der bezüglichen Litteratur giebt Dr. Bernhard Arnold »Lessings Emilia Galotti in ihrem Verhältnis zur Poetik des Aristoteles und zur Hamburgischen Dramaturgie«. Chemnitz 1880. 2 a. a. O. p. 18 3 a. a. O. p. 11 4 G. E. Lessing als Reformator der deutschen Litteratur. Stuttgart 1881. Erster Teil p. 230 ff.

205

Adolf Dietrich

worden sind. Entschieden ist nach unserer Meinung die dritte Frage, zu verschiedenen Ansichten haben die Forschungen über die zweite geführt, unentschieden ist trotz der Übereinstimmung der beiden im Endresultat die erste geblieben und – wird es voraus­sichtlich bleiben. Den Umstand, dass Emilia ihre Begegnung mit dem Prinzen in der Kirche dem Grafen Appiani verheimlicht, fassen wir, indem wir uns zu der Ansicht Kuno Fischers bekennen, als wirkliche Schuld, nicht als einen in bester Absicht begangenen Irrtum auf, während wir zweifelhaft sind, ob die Berechtigung der Katastrophe je bis zur Evidenz nachgewiesen werden wird. Dass die beteiligten Personen in der Katastrophe so handeln konnten, wie sie handelten, wird jeder zugeben müssen, der sich ohne Voreingenommenheit der Führung des Dichters bei der Entwickelung der Tragödie überlässt; dass sie so handeln mussten, hat er darthun wollen, aber selbst für seine Zeitgenossen, in welchen doch die Vorstellung von der unbeschränkten Macht eines fürstlichen Despoten viel lebendiger sein musste als in uns, nicht vollkommen überzeugend zum Bewusstsein bringen können. Die kurze Darlegung der hervorgehobenen Gesichtspunkte erschien als notwendig, weil von dem Urteil über dieselben auch das über den Bau der Tragödie abhängig ist. Zu einer Untersuchung über diesen sind wir durch die Lektüre der Technik des Dramas von Gustav Freytag veranlasst worden. Derselbe hat aus den dramatischen Meisterwerken alter und neuer Zeit eine Reihe von Kunstregeln abstrahiert und zum Beweise für die Richtigkeit derselben die deutlichsten Beispiele aus den Klassikern ausgewählt. Besonders häufig hat er hierbei die erste mustergiltige Tragödie der Deutschen, Emilia Galotti, citiert und bei der Besprechung der fünf Akte des Dramas regelmässig angeführt.5 Es schien uns nun der Mühe wert zu sein, den Massstab, den er durch Abstraktion von den Werken eines Sophokles, Shakspeare, Lessing, Göthe und Schiller für den Bau des Dramas gewonnen und bald durch einen einzelnen Akt, bald durch eine herausgegriffene Scene begründet hat, einmal auf alle Teile eines und desselben Stückes anzuwenden. Es wird daher notwendig sein, diesen Massstab erst in der Kürze zu charakterisieren. Gustav Freytag hebt besonders hervor, dass in dem ganzen Drama, wie in seinen Teilen, den Akten und Scenen, ein Grundgesetz zur Anwendung kommen müsse, das des Kampfes und Gegenkampfes, des Steigens und Sinkens der Handlung. Wie das ganze Drama eine abgeschlossene Handlung darstellt, deren Entwickelung wir von ihrem Keime, dem aufblitzenden Gedanken, bis zur bedeutungs­vollen That und von da wieder in ihren Folgen bis zu einem bestimmten, heiteren oder traurigen Ausgange beobachten können, so soll auch jedes Teilstück der Handlung einen ähnlichen Bau erkennen lassen. Es muss in demselben einen Punkt geben, der sich als Resultat des Handelns und als Fortschritt in dem Verhältnis zu vorangegangenen Momenten der complicierten That deutlich hervorhebt. Ein solches Resultat kann aber auf kürzerem und längerem Wege erreicht werden und wird je nach dem Masse der aufgebotenen Kraft und Gegenkraft und nach der Stellung im Stück von verschiedener Bedeutung sein. Die Glieder nun, aus welchen die lange Kette der Handlung geschmiedet ist, bezeichnet Freytag als dramatische Momente. Er versteht darunter soviel von einem 5 Technik p. 170 ff.

206

Über den Bau des Trauerspiels Emilia Galotti.

Monologe, von Rede und Gegenrede, als nötig ist um eine engverbundene Reihe von poetischen Vorstellungen und Anschauungen darzulegen, welche sich von dem Vorhergehenden und Nachfolgenden stärker absetzt,6 und sagt von ihnen: »Es ist nicht immer bequem, aus einem fertigen Drama diese logischen Einheiten des schaffenden Geistes zu erkennen. Und es wird hier und da das schätzende Urteil unsicher sein. Aber sie verdienen grössere Aufmerksamkeit, als man ihnen wohl bis jetzt gegönnt hat.« Aus den erwähnten Momenten setzen sich die dramatischen Scenen zusammen, Teilstücke des Dramas, welche sich nicht immer mit den Auftritten des Dichters, noch weniger mit den Regiescenen decken. Während die letztere »den Teil der dramatischen Handlung, welcher durch dieselbe Decoration umschlossen wird, bezeichnet«, ist ein Auftritt ein solcher, welcher durch das Auf- oder Abtreten einer der handelnden Personen abgegrenzt wird. Die dramatische Scene hingegen ist weniger von solchen Äusserlichkeiten abhängig, als von dem inneren Zusammenhange, der nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen ist. Die einzelnen Scenen bilden nun in ihrer Vereinigung die fünf Hauptteile des Dramas: die Einleitung, die Steigerung, den Höhenpunkt, den Fall und die Katastrophe. Es stimmen auch hier für gewöhnlich die fünf Akte des Dichters mit den angeführten fünf Teilen nicht genau überein, weil in der Regel die Scenen der Steigerung und des Falls so reichlich ausgeführt sind, dass sie über den Raum der für sie bestimmten Akte im Anfang und Ende hinausgreifen. Aber dennoch soll im vollendeten Kunstwerke der Akt ein in sich abgeschlossenes Ganze sein und aus einem steigenden und fallenden Teile mit dazwischen liegendem Höhenpunkte bestehen. Es versteht sich von selbst, dass jeder Akt nach seiner Stellung und Bedeutung im Stück in seinem Bau noch von besonderen Regeln abhängt, welche bei der Besprechung der fünf Akte von Emilia Galotti berührt werden sollen. Von einem Lessing, welcher in seiner Hamburgischen Dramaturgie die Poetik des Aristoteles erläutert und die wichtigsten Regeln der dramatischen Kunst entwickelt hatte, liess sich erwarten, dass er in einer eigenen Tragödie nicht gegen die Grundgesetze des Dramas verstossen, dass er vielmehr eine einheitlich geordnete Handlung darstellen und Mitleid und Furcht (Schauder) der Zuschauer er­regen würde. Bei seiner Vertrautheit mit der Bühne und deren Bedürfnissen konnte man ihm ein wirksames Bühnendrama zutrauen, in welchem sich von Scene zu Scene das Interesse der Zuschauer steigerte und auch, was das Schwierigere ist, in dem sinkenden Teile der Handlung rege erhielt. Dass Lessing dies erreicht hat, verdankt er seiner tiefen Einsicht in das Wesen des Dramas und einer Sicherheit seiner Technik, wie sie seine grossen zeitgenössischen Dichter nicht besassen. An den Vorzug einer sicheren, Erfolg verbürgenden Technik mag wohl auch Göthe gedacht haben, wenn er in seinem anerkennenden Urteile über das Stück unter anderem sagt, zu jeder Zeit müsse es als neu erscheinen.7 Und wenn er in seinem späteren Leben ungünstiger darüber urteilte, so muss uns doch sein erstes Urteil als das treffendere erscheinen, wenn wir bemerken, dass Emilia Galotti bei guter Darstellung auch heute noch lebhaft zu fesseln und zu 6 Technik p. 183. 7 Danzel und Guhrauer, Lessings Leben und Werke, II, 2, 56.

207

Adolf Dietrich

erschüttern vermag. Jedenfalls widerlegt der Erfolg, den das Stück immer wieder erringt, den Vorwurf, welchen Göthe im Marz 1830 gegen dasselbe erhob, dass »wir davor den Respekt wie vor einer Mumie haben, die uns von Alter, hoher Würde des Aufbewahrten ein Zeugnis ablegt.« Gegen den Eindruck des Veralteten spricht schon die klare Idee des Stückes, die der Dichter in den Worten ausspricht: »Das Schicksal einer Tochter, die von ihrem Vater umgebracht wird, dem ihre Tugend werter ist, als ihr Leben.« Lessing entnahm diese Idee der Geschichte der römischen Virginia, indem er aus allem Zufälligen, welches das Schicksal der unglück­lichen Römerin ausmachte, den Kern herausschälte, welcher zu allen Zeiten als tragisch gelten und daher nie veralten wird. Sehen wir nun zu, wie es der Dichter angefangen hat, die ausgesprochene Idee zu verkörpern und besonders durch kunstgerechte Architektonik der einzelnen Scenen und Akte ein dramatisches Meisterwerk zu schaffen. Lessing hat die Fabel seiner Tragödie in das Zeitalter Ludwigs XIV. an den Hof eines kleinen italienischen Fürsten, des Prinzen Hettore Gonzaga von Guastalla, verlegt. Die Persönlichkeit desselben führt er uns in der Einleitung in einer Vorbereitungsscene a (1)8 vor. Dem am Arbeitstische über seine traurigen Berufsgeschäfte klagenden Prinzen fällt eine Bittschrift mit dem unterschriebenen Namen Emilia auf, erinnert ihn an Emilia Galotti, den Gegenstand seiner lebhaften Neigung, und benimmt ihm so die Ruhe zur Arbeit. Ein Kammerdiener überbringt einen Brief von der Gräfin Orsina, die der Prinz bis vor kurzem geliebt hat. Dieser lehnt es ab, sogleich zu antworten, und ergeht sich über seine Liebe zur Gräfin in Reflexionen, deren Resultat die ausgesprochene Gleichgiltigkeit gegen Orsina ist. Während dessen meldet ein Kammerdiener den Maler Conti, Die kurze Scene enthält ein dramatisches Moment, den Gegensatz der neuen Neigung des Prinzen zu der alten, markiert durch die beiden Fragen: »Emilia?« und »Orsina?« Als spannendes Moment9 können wir das Auffinden des Namens Emilia bezeichnen. Dadurch wird der Prinz in Unruhe versetzt, welche durch das Überbringen des Briefes von der Gräfin noch gesteigert wird. So tritt die zweite Frage als der eigentliche Höhenpunkt der Scene hervor, welche durch die Betrachtungen des Prinzen abgeschlossen und durch die Anmeldung Contis mit der folgenden verknüpft ist. Die Scene erscheint als angemessene Vorbereitung auf die beiden folgenden Hauptscenen, welche in lebhafterer Bewegung den gleichen Gegensatz der erwähnten beiden Neigungen zum Ausdruck bringen. Es folgt als Expositionsscene b (2 – 5) die Episode mit dem Maler Conti. Dieselbe dient dazu, über den Seelenzustand des Prinzen aufzuklären und zu zeigen, wie sich seine Neigung zum Verlangen nach dem Gegenstande derselben steigert. Die Einleitung der Scene enthält eine Unterredung des Prinzen mit dem Maler über den Stand der Kunst und als spannendes Moment die Meldung des Malers, dass er das Portrait der Gräfin Orsina bringe. Das erste dramatische Moment bildet ein kurzer Monolog des Prinzen, in welchem dieser über seine schwankenden Neigungen Be8 Die Auftritte haben wir, wie üblich, mit arabischen Ziffern, die dramatischen Scenen mit kleinen lateinischen Buchstaben bezeichnet. 9 Technik 185.

208

Über den Bau des Trauerspiels Emilia Galotti.

trachtungen anstellt. Infolge derselben unterdrückt er mit Entschiedenheit das sich regende Verlangen nach dem früheren Glück der Liebe zur Gräfin. Das zweite dramatische Moment enthält den Ausdruck der Abneigung gegen diese in zwei Stufen. Bei dem Betrachten ihres Portraits bemerkt der Prinz, dass der Maler ganz unendlich geschmeichelt habe, und gestattet dem sich vorsichtig äussernden Maler, soviel Nachteiliges über das Original zu sagen, als ihm beliebe. (Erste Stufe.) Da die Urteile des Prinzen über die Gräfin aber immer härter werden, sieht sich Conti, welcher das Portrait einer Geliebten des Prinzen angefertigt zu haben glaubt, enttäuscht und erfährt, sobald er seine Empfindlichkeit verrät, die teilnahmslose Ab­fertigung: »Je nun, Conti, – warum kamen Sie nicht einen Monat früher damit?« (Zweite Stufe.) Die folgende kurze Unterredung, in welcher der Prinz bekennt, ein Ideal weiblicher Schönheit im Herzen zu tragen, schliesst mit einem Scherz über die Herzensgebieterin des Malers und bildet den Übergang zum dritten Moment der Scene, in welchem diese gipfelt. Bei dem Umwenden des zweiten Portraits erkennt der Prinz zu seiner grössten Überraschung in demselben Emilia Galotti und verrät durch seine hastigen Fragen und den staunenden Ausruf des geliebten Namens, welchen Anteil er an dem Originale nehme. Die Scene hat ihren Höhenpunkt erreicht, auf welchem sie in reichlicher Ausführung schwebt.10 Letztere besteht darin, dass der Prinz vor dem über seine Kunst und die Schönheit Emiliens mit be­geisterten Worten redenden Maler seine Neigung zu verbergen sucht, wobei wir seine bisherigen Be­ziehungen zu Emilia Galotti erfahren. Er versucht gleichgiltig über deren Schönheit zu reden und spricht dem Maler allein das Recht zu, über solche zu urteilen. Durch die Zusicherung reichlichen Lohnes sucht der Prinz, der mit dem Portrait der Geliebten allein sein will, den Maler zu entfernen. Darin besteht der Übergang zum Schluss der Scene, in welcher der lebhaft ausgesprochene Wunsch nach dem Besitz Emiliens eine gewisse Erhebung11 bildet. Die ausgesprochene Vermutung, dass Marinelli komme, bildet die Verbindung dieser Scene mit der folgenden. Durch die Einführung des Malers hat der Dichter einen doppelten Zweck erreicht. Er hat die Gefühle des Prinzen, welche die Triebfedern zu verhängnisvollem Thun werden, dargestellt und zugleich dem Charakter desselben einen tieferen Inhalt12 verliehen. Es ist nicht der genusssüchtige Despot, sondern mehr der liebenswürdige Fürst, als welcher er vor uns erscheint, der den Lebensgenuss durch die Kunst verfeinert. Der Maler selbst ist für die eigentliche Handlung eine Nebenperson, aber er wird interessant durch seine feinen Bemerkungen über die Kunst und er giebt zugleich dem Prinzen Veranlassung, eine charakteristische Seite seines Wesens zum Ausdruck zu bringen. Der 6. Auftritt ist eine aus vier Momenten zusammengesetzte Hauptscene. (c) Durch den Ausdruck der Verdriesslichkeit über die Störung und die Frage nach Neuigkeiten wird das erste von diesen kurz einge­leitet. Marinelli macht, indem er wie zufällig auf die Ankunft der Gräfin zu sprechen kommt, durch die Schilderung 10 Technik p. 185. 11 a. a. O. 12 Technik p. 41.

209

Adolf Dietrich

der traurigen Stimmung, in welcher sich dieselbe seit ihrer Vernachlässigung durch den Prinzen befindet, den letzten Versuch, diesen für sie zu interessieren, vergebens; durch ein kurzes: »Und nun genug von ihr. – Von etwas anderem!« bekundet der Prinz, dass ihm Orsina völlig gleichgiltig geworden ist. Die Unterredung über den Grafen Appiani, dessen bevorstehende Vermählung der Kammerherr als Stadtneuigkeit meldet, betrachten wir als ein selbständiges dramatisches Moment, weil es den deutlichen Zweck hat, den Hass Marinellis gegen den Grafen Appiani zu zeigen und zu begründen. Der Kammerherr spottet nämlich über den Grafen und dessen Empfindsamkeit, durch welche er das Opfer einer Missheirat werde, sowie über den Wert, der auf Tugend und Gefühl gelegt werde. Zu solcher Ansicht bildet die Teilnahme des Prinzen für Tugend und Schönheit und seine Hochachtung von der Tüchtigkeit des Grafen Appiani einen um so glücklicheren Gegensatz, als derselbe erkennen lässt, dass die Liebe zu Emilia Galotti wirklich einen, freilich nur vorübergehenden, veredelnden Einfluss auf seinen Charakter ausgeübt habe, so dass seine Worte: »Behäglicher oder nicht behäglicher: ich bin so besser« (I, 3 am Ende), als wohl begründet erscheinen. Durch die Anerkennung der Vorzüge des Grafen muss der ganz und gar von der Gunst seines Fürsten abhängige Marinelli, dem jene alle abgehen, eifersüchtig werden, und so erscheint ein Wunsch von seiner Seite, den eventuellen Neben­buhler unschädlich zu machen, schon aus diesem Grunde als begreiflich. Bis zum Schluss der Beurteilung Appianis reicht die Exposition. Die Seelenstimmungen, durch welche die folgende Handlung motiviert wird, sind expliciert; denn der Prinz hat seine Liebe zu Emilia Galotti, der Braut Appianis, ausgesprochen, Marinelli seine gehässige Gesinnung gegen den Bräutigam verraten. Um den von Leidenschaft ergriffenen Prinzen zur That fortzureissen, bedarf es nur noch eines äusseren Anlasses. Diesen, das erregende Moment, enthält das folgende Glied der Scene. »Es sinkt als Nachricht von der bevorstehenden Vermählung der Heldin in die Seele des Prinzen«13, welcher dadurch zum offenen Geständnis seiner Liebe und zum leidenschaftlichen Zornesausbruch gegen Marinelli veranlasst wird, weil ihm dieser die drohende Gefahr, Emilien zu verlieren, verheimlicht habe. Die mit dem Vorwurfe: »Verräter!« beginnenden, in grösster Erregung gesprochenen Worte des Prinzen sind die Spitze der Scene; der fallende Teil derselben beginnt mit der allmählichen Beruhigung des Prinzen, welcher Marinelli bittet, ihn zu bedauern, ihn zu retten. Es gehört ferner dazu der Übergang zum folgenden dramatischen Moment. Als solcher ist die energische Abweisung des Rates zu nehmen, der Gräfin Appiani zu gestehen, was der Emilia Galotti zu bekennen versäumt worden sei. So ist die Resignation verworfen und der Anlass zu schnellem Eingreifen und Handeln gegeben. Den Schluss der Scene bildet die Entwickelung der Pläne Marinellis, durch deren Ausführung der drohende Verlust abgewendet werden soll. Durch die Worte: »Ja, so müsste man auf etwas anderes denken«, – macht er dem Prinzen Hoffnung und erlangt die Vollmacht alles zu thun, was die Hochzeit des Grafen ver­hindern kann. Es werden zwei Pläne angedeutet, ein gewaltsamer (Überfall des Brautpaares) und ein minder bedenklicher (sofortige Versendung des Grafen), letzterer, wie es scheint, nur zur Bemäntelung jenes 13 Technik p. 106.

210

Über den Bau des Trauerspiels Emilia Galotti.

vor dem Prinzen; denn es wird sogleich auch an die Ausführung des ersten gedacht. Die Zu­stimmung des Prinzen zu den Plänen des Kammerherrn schliesst das letzte Glied der Scene und damit diese selbst kurz ab. Sucht man nach dem spannenden, einleitenden Moment derselben, so kann man nur die Meldung, dass die Gräfin Orsina in die Stadt gekommen sei, als solches ansehen. Der Dichter verwendet also ein ähnliches Moment, wie bei der Einleitung der vorigen dramatischen Scene, in welcher die Anzeige von der Vollendung des Portraits der Gräfin den lebhafteren Dialog eröffnete. In ganz ähnlicher Weise wiederholt sich ferner der Ausdruck der Abneigung gegen die Gräfin und, im Gegensatz dazu, der der Liebe zu Emilia Galotti. Auch innerhalb derselben dritten Scene fällt eine Wiederholung auf, in so fern der Prinz den Bericht über Orsina ebenso, wie den über Appiani, durch die Frage nach Stadtneuigkeiten veranlasst. Abgesehen von dieser letzteren Einförmigkeit hat der Dichter die ver­wandten Motive bei der Wiederholung so verstärkt, dass eine Erhöhung der Spannung erreicht wird. Das ist besonders an dem Geständnis der Neigung zu Emilia Galotti zu ersehen, welches mit der Nachricht von der bevorstehenden Vermählung verbunden ist und deshalb mit grösserer Leidenschaft­lichkeit als vorher ausgesprochen wird. Die Erhebung am Ende der Scene besteht in den Beschlüssen, deren Ausführung gewaltsame Erschütterungen vorhersehen lässt. Wenn man den Plan als den Keim der That mit zur Handlung rechnet, so kann man schon das letzte Moment der dritten und, was auch Gustav Freytag thut,14 die folgende kleine Scene des Prinzen ganz als zum steigenden Teil der Hand­lung gehörig betrachten. Die Schlussscene d (7 – 8) zeigt uns die fieberhafte Aufregung des Prinzen, in der er den Entschluss fasst, Emilia in der Messe bei den Dominikanern aufzusuchen. Eingeleitet wird sie durch die Überlegung über seine bisherige Unthätigkeit, an deren Stelle jetzt selbständiges Handeln treten soll. Die hin und her schwankende Überlegung ist abgeschlossen, sobald er den Befehl giebt: »Lasst vor­fahren!« Damit ist das Resultat der Scene angedeutet, und sie eilt nach dem Ende zu, indem Sie in dem fallenden Teile die Hast und Leichtfertigkeit des Prinzen durch die Gegenüberstellung der Gewissenhaftigkeit und Ruhe des Rates Camillo Rota deutlich hervorhebt. Wenn wir nun den ersten Akt als ein Ganzes betrachten, so erkennen wir zunächst, dass wir von dem Anteil, welchen er uns abnötigt, den grössten Teil dem Prinzen zuwenden. Er ist die Haupt­person; seine Seele ist von zwei Empfindungen beherrscht, der erlöschenden und in das Gegenteil umschlagenden Neigung zur Gräfin Orsina und der Liebe zu Emilia Galotti. Diese letztere Empfindung erfährt durch äussere Umstände eine Steigerung bis zu dem Punkte, auf welchem der Prinz in stürmischer Erregung seine Liebe zu Emilia bekennt. Die Seelenbewegungen, deren Zeugen wir in der ersten Scene sind, vergleicht Gustav Freytag15 mit dem ersten Kräuseln kleiner Wellen, welche die Stürme des Dramas einleiten. (1) Grösser werden die Wellen dadurch, dass Conti das Bild der Gräfin an­meldet und so lebhafter an diese erinnert. (2) In einem kurzen Monologe lässt uns der Prinz die Wirkung dieser Meldung auf sein Gemüt erkennen. (3) Seine vorläufige Entscheidung befestigt sich beim Anschauen 14 Technik p. 170. 15 Technik p. 104.

211

Adolf Dietrich

des Bildes der Gräfin; kaum vermag er bei dem Anblick Emiliens im Bilde vor dem Maler seine Neigung zu verhüllen (4), die er sich, sobald er allein ist, in feurigen Worten gesteht. (5) In der Unterredung mit Marinelli giebt der Prinz alle Zurückhaltung auf; er ist ein Raub der Wellen. Dieselben werden etwas gemässigt durch die Aussicht, durch kluges Handeln den drohenden Verlust abzuwenden. (6) Unruhig bewegt ist die Seele aber immer noch, und die Erregung verleitet den Prinzen zu dem unbesonnenen Schritte, Emilien in der Kirche aufzusuchen. (7) Die Unruhe zittert auch noch nach in dem Auftritt mit Camillo Rota, dessen Entsetzen vor dem Leichtsinn des Prinzen wie fern grollender Donner auf neue Erschütterungen vorbereitet. Der Akt ist zweiteilig und sammelt seine Wirkungen auf zwei Höhenpunkte.13 Der erste ist die Überraschung des Prinzen mit dem Portrait Emiliens, der zweite seine Aufregung bei der Nachricht von deren baldiger Vermählung. Vergleicht man diese beiden Stellen mit einander hinsichtlich ihrer Wirkung und ihrer Bedeutung für das folgende, so ergiebt sich, dass die zweite ungleich wichtiger ist als die erste, und dass wir sie demnach, wie geschehen, als den Höhenpunkt des ganzen Aktes ansehen dürfen. Der zweite Akt spielt im Hause des Galotti, führt uns die Personen vor, welche wir durch die Pläne Marinellis und des Prinzen bedroht wissen, und zeigt, wie die Ausführung der­selben ins Werk gesetzt wird. Er hat, wie der erste, eine passende Einleitung, da dieselbe die Grundstimmung des Zuschauers für den ganzen Akt angiebt. Als solche Stimmung lässt sich die Besorgnis um das bedrohte Glück der Familie Galotti bezeichnen. Diese Besorgnis teilen wir zuerst mit dem Vater der Heldin, welcher in der ersten dramatischen Scene a (1 – 2) Gelegenheit erhält sie auszusprechen. Die Einleitung der Scene ist die Anmeldung Odoardos durch den Be­dienten Pirro. Daran schliesst sich das einzige dramatische Moment, die Erkundigung nach Emilia, in welcher die vorwurfsvolle Frage: »Ganz allein?« als Höhenpunkt gelten kann; denn der Zuschauer weiss bereits, dass die Besorgnis des Vaters nur zu begründet ist. Die Beruhigung des Gatten durch Claudia ist der Schluss der Scene. Die Handlung des Stückes durchläuft in ihrer Steigerung drei Stufen. Als erste kann man die zweite Scene des Aktes b (3) betrachten; denn sie lässt uns erkennen, dass Marinelli im geheimen bereits Schritte gethan hat, um das Brautpaar überfallen zu lassen und gewährt uns zugleich einen Einblick in die Schlingen, welche sich zum verderblichen Netz um die Bedrohten knüpfen sollen. Das waghalsige Auftreten Angelos ist dabei ganz geeignet, das gefährliche Banditen- und Räuberwesen Italiens in Erinnerung zu bringen und den traurigen Ausgang des Überfalls wahrscheinlich zu machen. Die Situation wird spannend, sobald der Bediente in dem heranschleichenden Mordgesellen den Genossen eines früher begangenen Ver­brechens erkennt. Dieser überbringt Pirro den ihm zukommenden Anteil an der Beute des letzten Überfalles und erklärt, dass dies ein genügender Grund seines Kommens sei (erstes Moment). Er zieht hierauf Erkundigungen über die Rückkehr Odoardos und die Fahrt des Brautpaares nach Sabionetta ein (zweites Moment) und verrät, dass es diesmal nicht auf einen gewöhnlichen Raub, sondern auf die Braut selbst abgesehen sei (drittes Moment). Die Worte: »So lohnt ihrer (der Mühe) die Braut selbst!« bezeichnen den Höhenpunkt der Scene, weil sie den Plan des Räubers und sein Einverständnis mit 212

Über den Bau des Trauerspiels Emilia Galotti.

Marinelli erkennen lassen. Die Beschwichtigung und Abfertigung Pirros bilden den kurzen, fallenden Teil und den Schluss der Scene, welche breiter ausgeführt ist als die vorige, aber im übrigen bei ganz verschiedenem Inhalte im Bau eine Ähnlichkeit mit jener aufweist. Beiden ist im Anfange die Angabe des Grundes für das Kommen, am Ende die Beschwichtigung gemeinschaftlich; der Dialog erreicht seinen Höhenpunkt, sobald von der Heldin die Rede ist. Wir stehen nicht an, die Scene b als erste Stufe der steigenden Handlung anzusehen, weil wir durch dieselbe unmittelbar in die Ausführung der von Marinelli geplanten Intrigue versetzt werden, so dass die Beziehungen der Hauptpersonen zu einander, diesen unbewusst, bereits verändert erscheinen und eine Verwickelung vorhersehen lassen. Auf der zweiten Stufe dient der Kirchgang des Prinzen als Voraussetzung, und wir sehen, welchen Eindruck die Verwirklichung des I, 7 ausgesprochenen Vorhabens auf die Seele der Heldin gemacht hat. Der Versuch, Appiani durch Beschäftigung im Dienste des Prinzen zu entfernen, wird auf der dritten Stufe vor unseren Augen gemacht. So liegt also jeder von den drei Stufen der steigenden Handlung einer der drei im ersten Akte angedeuteten Pläne zu grunde. Die zweite Stufe ist aus drei Scenen gebildet, von welchen die mittlere eine reich ausgeführte Hauptscene ist. Die Bedeutung dieses Teiles des Dramas liegt darin, dass er zeigt, wie Emilia ihr trauriges Schicksal zwar nicht verdient, aber mit verschuldet. Die Scene c (4 – 5) kann als Einleitung betrachtet werden. Odoardo entwickelt im Gespräch mit seiner Gattin so strenge Grundsätze von Tugend und Ehre, dass jene eingeschüchtert wird und nachher auf den Gedanken kommen muss, es sei ratsam, die Begegnung ihrer Tochter mit dem Prinzen dem Gatten und dem Bräutigam zu verheimlichen. Die Scene c selbst wird durch die Besorgnis verratende Hindeutung auf das lange Ausbleiben Emiliens eingeleitet. Das erste Moment enthält die Zustimmung Odoardos zu dem Entschlusse des Grafen Appiani, fern von dem gefährlichen Geräusch des Hofes in seinen väterlichen Thälern sich selbst zu leben; das zweite, wichtigere, die Mitteilung der Mutter, dass der Prinz Emilien kennen gelernt habe. Die Verknüpfung beider Momente ist eine sehr geschickte; denn während der Vater wähnt, Appiani werde es durch seine Vermählung mit der Tochter eines Odoardo mit dem Prinzen vollends verderben, erzählt ihm Claudia triumphierend, wie gnädig sich derselbe gegen Emilien gezeigt habe. Je barscher der Vater fragt, desto eifriger versucht die Mutter die Teilnahme des Prinzen für Emilia zu rühmen, um jenen zu beruhigen, und erreicht dadurch nur das Gegenteil von dem, was sie gewollt; denn mit den vorwurfsvollen Worten: »O Claudia! Claudia! eitle, thörichte Mutter!« verurteilt Odoardo den mütterlichen Stolz auf die Bekanntschaft der Tochter mit dem Prinzen. Die angeführten Worte, welche wir als den Höhenpunkt der Scene betrachten, klingen wie eine Ahnung kommenden Unglücks, zumal wir dabei unwillkürlich an die Nachstellungen denken müssen, welchen Emilia in diesem Augenblick bereits ausgesetzt ist. Odoardos Zornesäusserungen, sein Abschied und Claudias kurzer Monolog, worin sie ihre Bangigkeit vor der rauhen Tugend des Gatten ausspricht, schliessen die Scene passend ab, welche mit der ängstlichen Frage nach Emilien auf die folgende hinweist. Diese, eine Hauptscene d, macht uns mit der Heldin des Stückes bekannt. Deren Entsetzen über etwas Unerhörtes, das geschehen, erregt sofort eine lebhaftere Span213

Adolf Dietrich

nung, welche sich bei der in kurzen, hastigen Sätzen gegebenen Darstellung von der stattgefundenen Begegnung immer mehr steigert. Nach der Bezeichnung des Lasterhaften, der selbst an heiliger Stätte den Versuch einer Verführung wagte, des Prinzen, tritt zu der Fortsetzung des Berichtes ein neues Moment hinzu, die Erwähnung des Vaters seitens der Mutter. Der Hinweis auf den Argwohn desselben soll wohl den Zweck haben, der Tochter Gelegenheit zu geben, ihre Unschuld in ihrem Verhältnis zum Prinzen auszusprechen und auch sie mit Furcht vor der übergrossen Empfindlichkeit der Männer zu erfüllen. Sie wird dadurch von vorn herein mit dem Gedanken vertraut gemacht, den Vorfall zu verschweigen. So erscheint das erwähnte Moment nur als ein beiläufiges und vorbereitendes, nicht, als ein selbständiges, so dass wir als erstes dramatisches Moment der Scene die ganze Darstellung der Begegnung bis zu den beruhigenden Worten der Mutter: »Du entgehst heute mit eins allen Nachstellungen«, ansehen können. Das zweite Moment enthält die Überredung Emiliens, das Erlebnis bei dem Kirchgange vor dem Grafen Appiani geheim zu halten. Das Resultat der Scene enthalten die Worte Emiliens: »Nun ja, meine Mutter! ich habe keinen Willen gegen den Ihrigen.« Damit verleugnet sie ihr richtiges Gefühl, welches ihr gebot, den Grafen zum Mitwisser des Erlebten zu machen, und der erste Schritt zur Schuld ist gethan. Die Mutter beschönigt nun das Laster, indem sie es als unbedeutende Galanterie darstellt, und bewirkt so, dass Emiliens heitere Laune wiederkehrt. So schliesst die Scene mit einer Beschwichtigung der aufge­regten Empfindungen ab. Die Scene e (7 – 8) betrachtet Freytag als kleine Situationsscene, welche den Appiani in seinem Verhältnis zu Emilia darstellt und die Scenen d und f mit einander verbindet.16 Wir glauben ihr jedoch eine andere Bedeutung beilegen zu dürfen. Nachdem Claudia und Emilia übereingekommen waren, über den Annäherungsversuch des Prinzen Stillschweigen zu beobachten, war immer noch die Möglichkeit vorhanden, dass die Liebe und Achtung, welche beide dem Grafen zollten, diese zur Pflicht der Wahr­haftigkeit zurückführte. Dass dies nicht geschieht, der Vorsatz zu schweigen vielmehr ausgeführt wird, zeigt Scene e, welche somit als notwendiger Bestandteil der Scenengruppe c – e erscheint. Der Um­stand, dass der Graf als feierlich und ernsthaft eingeführt wird, hat seinen guten Grund. Im Gespräch mit einem lebensfrohen, heiteren Bräutigam hätten Claudia und Emilia ihre vorangegangene Aufregung leicht vergessen können; die Unterredung mit dem ernsten Manne musste sie dagegen wieder daran erinnern und ihnen fühlbar machen, dass ihre leichte Auffassung des Lebens unrecht sei. Auf die einleitende Wahrnehmung, dass der Graf so ernst gestimmt sei, folgt als erstes dramatisches Moment die Bewunderung für die Tugend und Zärtlichkeit Odoardos. Hierdurch und besonders durch die Erwähnung des Kirchganges musste Emilia veranlasst werden, ihr Schweigen über denselben zu brechen, noch mehr, als in der Unterredung über den Brautstaat, dem zweiten dramatischen Momente, der Un­glück bedeutende Traum von den Perlen erwähnt wurde. Emilia schweigt in beiden Fällen und wird dadurch schuldig. Ihre Entfernung wird durch ihre notwendige Umkleidung motiviert. Im dritten Moment der Scene kommt die Schwermut des Grafen zum Ausdruck, aber dennoch kann sich Claudia 16 Technik p. 171.

214

Über den Bau des Trauerspiels Emilia Galotti.

nicht dazu entschliessen, jenen über die ihm drohende Gefahr aufzuklären, während doch eine einzige Andeutung das Unglück hätte verhüten können. So fällt auch auf die Mutter die Schuld desselben, zumal sie ihre Tochter zum Unrecht verleitet hat. Als Höhenpunkt können die Worte Emiliens gelten: »Perlen aber, meine Mutter, Perlen bedeuten Thränen,« weil sie, wie in der Scene c der citierte Ausruf Odoardos, am deutlichsten die Stimmung der Scene ausdrücken und bange Ahnungen wegen des Schicksals der bedrohten Familie erregen. Der Schluss der Scene, die Mitteilung des Vorsatzes, dem Prinzen die bevorstehende Vermählung anzuzeigen, erinnert wieder an das Gegenspiel und leitet so zur folgenden Scene hinüber, in welcher dieses wieder eine Stelle findet, nachdem die Personen der Hauptgruppe dargestellt worden sind. Die Scene f (9 – 11) versetzt uns unmittelbar in den Konflikt der Tugend mit dem Laster, welcher einen traurigen Ausgang der Verwickelung zur Gewissheit macht. Zur Einleitung der Scene dient die Anmeldung des Marchese Marinelli und die Entfernung der Mutter. Als spannendes Moment ist die Ankündigung eines dringenden Geschäftes im Dienste des Prinzen anzusehen. Die Scene ent­wickelt sich in zwei Abschnitten. Im ersten trägt Marinelli dem Grafen die Gnade des Prinzen an, für diesen als ausserordentlicher Gesandter nach Massa zu gehen. Appiani nimmt zuerst die angebotene Gnade an, lehnt aber nachher ab. Die Annahme und Ablehnung des ehrenvollen Auftrages werden verknüpft durch die Forderung der sofortigen Abreise. Zur Abweisung fügt der durch Marinelli gereizte Graf im zweiten Abschnitt der Scene noch eine schwere Beleidigung, welche dem ersteren die drohenden Worte entlockt: »Himmel und Hölle! – Wir werden uns sprechen.« Appiani kann dabei nur an einen ihm willkommenen Zweikampf denken, der Zuschauer wird auf die heimtückische Rache Marinellis bei Gelegenheit des Überfalls vorbereitet. Die Spannung ist gelöst, es folgt daher schnell und kurz der Schluss, welcher einen besonders kräftigen Ausdruck der wichtigen Persönlichkeiten enthält.17 Appiani fordert energisch den sofortigen Zweikampf, Marinelli entzieht sich diesem mit einer hämischen Drohung. Die Beruhigung Claudias über den gehörten Wortwechsel erweckt in dem Zuschauer die Vorstellung, dass die Bedrohten arglos ihrem Verderben entgegengehen. Im Vergleich zum ersten Akte sind die Konflikte des zweiten, wie es die Kunstregel verlangt, grösser. Während zuerst nur die Seele des Prinzen bewegt wurde, werden wir im zweiten Zeugen von Vorgängen, welche ein glückliches Familienidyll bedrohen und erschüttern. Unser Interesse steigert sich stufenweise durch den Anschlag Angelos auf die Braut, durch deren verhängnisvollen Vorsatz, die Begegnung mit dem Prinzen in der Kirche ihrem Bräutigam zu verschweigen, und durch die Beleidigung des feigen Kammerherrn, welcher sich nun seines gefürchteten Gegners durch Meuchelmord zu ent­ledigen sucht. Von der kleineren Scene b aus steigern sich die Wirkungen in zwei grossen, kräftigen Scenen und sammeln sich auf die Höhenpunkte in d und f, von welchen der zweite das stärkere Interesse beansprucht. Der Abschluss des Aktes ist bedeutend und wirkungsvoll. Nachdem weder der Kirchgang des Prinzen noch die Mission des Marchese Marinelli an den Grafen Appiani den gewünschten Erfolg gehabt hat, kommt es 17 Technik p. 185.

215

Adolf Dietrich

zum Überfall des Brautpaares. Durch diese Gewaltthat treten die Personen der Hauptgruppe und des Gegenspiels in ganz neue Beziehungen zu einander. Es entsteht daher die Frage: Welchen Eindruck macht die veränderte Situation auf die Seele der handelnden Personen? Welche Stellung werden sie zu einander einnehmen? Es ist also ein erstes grosses Resultat des Kampfes zu gewärtigen, und das Charakteristische in der Stimmung, welche der dritte Akt hervorbringen soll, ist somit die hoch gesteigerte Erwartung. Es ist daher zweckmässig, wenn in der Einleitungsscene a (1) die gespannte Situation erklärt wird. Dies geschieht, indem im ersten Absatz die Erfolglosigkeit der bisherigen Bemühungen ausgesprochen wird. Dadurch, dass Marinelli in seinem Bericht hierüber noch stark übertreibt, macht er den Prinzen geneigt, einem letzten kühnen Versuche zuzustimmen, die Hochzeit des Grafen durch Entführung der Braut zu vereiteln. Die Mitteilung dieses Planes geschieht im zweiten Absatz der Scene, und zwar erfährt der Prinz erst etwas Näheres darüber, nachdem zwei Schüsse gefallen sind, welche beweisen, dass das Bubenstück bereits ausgeführt wird. Die Worte Marinellis: »Kurz: wovon ich gesprochen, geschieht«, bezeichnen die Spitze des Dialogs, zu dessen fallendem Teile die Entwickelung des Planes und die Entfernung des Prinzen gehört. Die Ankündigung, dass eine Maske herbeieile, um über den Erfolg des Überfalls zu berichten, überträgt die Spannung auf die folgende Scene b (2). Diese enthält ein dramatisches Moment, die Nachricht von dem geglückten Überfall und der tödlichen Verwundung des Grafen Appiani. Als Einleitung dient ein Monolog Marinellis, worin er seine Spannung und zugleich seine Schadenfreude über den voraussichtlichen Tod des Grafen ausspricht. In dem folgenden Dialoge macht Angelo nach der Weise gewöhnlicher Leute erst einige Umstände, ehe er in den Worten: »Es thut mir leid um den guten Herrn«, für den Marchese die Hauptsache berichtet. Auf diesen Gipfelpunkt der Scene, welcher vorläufig die Spannung löst, folgt der Bericht über den Überfall und der Abgang des Räubers, hierauf zum Schluss wieder ein Monolog Marinellis. Ausser der Unzufriedenheit mit dem Mörder wird darin der Vorsatz ausgesprochen, den Prinzen erst dann den Tod Appianis wissen zu lassen, wenn er gefunden haben werde, wie zuträglich ihm dieser Umstand sei. Die Erwähnung des Prinzen verknüpft die Scene b (2) mit c (3 – 5). Der Dichter hat ihr, wie der ersten mit Angelo II, 3, eine humoristische Färbung gegeben, indem er den Räuber mit einer gewissen Behaglichkeit und Genugthuung von den vortrefflichen Gesetzen seiner Zunft reden und um die fernere Kundschaft des Herrn Kammerherrn bitten lässt. Die dritte Scene, welche die Hauptscene des Aktes und der Mittelpunkt des ganzen Stückes ist, wird durch ein Gespräch des Prinzen mit Marinelli eingeleitet. In demselben (3), dem ersten dramati­schen Momente, spricht der Prinz seinen Zweifel an dem Nutzen des Überfalls und seine Bangigkeit vor der Begegnung mit Emilia aus. Er zieht sich daher zurück und überlässt es dem Marchese, diese zu empfangen. Als zweites Moment ist der Versuch des letzteren anzusehen, Emilia in dem Lust­schlosse zurückzuhalten. (4) Die Unglückliche stürzt ausser Atem herein, will aber sogleich wieder hinauseilen, um nach den ihrigen zu sehen. Da tritt ihr zu ihrem Erstaunen Marinelli entgegen, sucht sie durch die Lüge, dass alles gut gehe, zu beschwichtigen und spricht die Vermutung aus, dass der Prinz wohl schon um die ehrwürdige Mutter 216

Über den Bau des Trauerspiels Emilia Galotti.

beschäftigt sein werde. So wird Emilia zurückgehalten, welche kaum Zeit hat, sich über die Entdeckung, dass sie in der Nähe des Prinzen sei, zu beruhigen, als dieser auch schon erscheint. Das zweite Moment der Scene ist also aufs engste mit dem dritten, in welchem der Höhenpunkt liegt, verbunden. Der Prinz will Emilien über das Schicksal ihrer Ange­hörigen beruhigen und fordert sie auf, ihm getrost zu folgen. Emilia ist unentschlossen, weil sie zu der richtigen Überlegung gekommen ist, ihre Lieben müssten doch schon da sein, wenn ihnen kein Unglück zugestossen wäre. Da nun der Prinz wegen ihres Zögerns von neuem drängt, ringt Emilia verzweifelnd die Hände; denn sie fühlt richtig heraus, dass es jenem weniger darauf ankomme, sie über ihre Lage aufzuklären, als seine Bewerbungen fortzusetzen. Dem Fürsten gegenüber diesen Verdacht auszusprechen, fehlt ihr jedoch der Mut, und sie ist erschrocken, als dieser mit den Fragen: »Wie, mein Fräulein? Sollten Sie einen Verdacht gegen mich hegen?« ihren Gedanken Ausdruck verleiht. Sie fühlt sich erkannt und ist Verstellung zu wenig gewöhnt, als dass sie zu leugnen versuchen sollte. Daher sinkt sie in Verlegenheit und Angst vor den Füssen des Prinzen nieder, ein hilfloses, verlassenes Weib in der Gewalt des unumschränkten Herren im Lande. Während sie sich aber demütigt, um wegen der Be­leidigung, welche in ihrer Unentschlossenheit und ihrem mangelnden Vertrauen gefunden werden konnte, die Verzeihung und Gnade des Prinzen zu erlangen, fasst dieser den Fussfall »als einen stummen Vor­wurf auf wegen seines Betragens gegen sie in der Kirche«.18 Er ist es daher, der die Bitte um Ver­zeihung ausspricht, aber damit in den massvollsten Worten die beredteste Liebeserklärung verbindet. Solcher Gewandtheit gegenüber ist Emilia machtlos und sie lässt sich, wenn auch nicht ohne Sträuben, vom Prinzen hinwegführen. Die frivolen Bemerkungen Marinellis über die Bemühungen des Prinzen, sowie seine Hindeutung auf die Möglichkeit einer Störung durch die Mutter schliessen die Scene. In der Erwähnung jener liegt die Verbindung von c mit d (6 – 8). Die Handlung hat ihren Höhenpunkt erreicht; die fein angelegte Intrigue ist zur Ausführung ge­kommen und hat die Heldin als eine Wehrlose in die Hände ihres mächtigen Nachstellers geführt, sie scheint verloren zu sein. Die Vereitelung des ruchlosen Planes und den Sieg der Tugend darzustellen, ist die Aufgabe des fallenden Teiles der Handlung. Als Übergang zu diesem dient die Schlussscene des Aktes, deren Inhalt kurz mit den Worten: ›Argwohn Claudias‹ bezeichnet werden kann. Wenn nämlich das Gelingen des Bubenstückes vereitelt werden sollte, so musste es zuvor durchschaut werden. Dies gelingt zuerst der Mutter, die jedoch bei ihrer Eitelkeit und Schwäche den Intriganten am wenigsten gefährlich ist. Das spannende, einleitende Moment der Scene ist die Meldung des Battista, dass die Mutter ihrer Tochter auf der Spur sei, worauf als erstes dramatisches Teilstück der Entschluss Marinellis folgt, Claudia einzulassen. Der Empfang dieser durch den Bedienten, der sie an den 18 Dr. Nölting, »Über Lessings Emilia Galotti«, Programm, Wismar 1878, p. 7. Man kann mit dem genannten Verfasser in dem Fussfall Emiliens sehr gut »eine Bitte um Schonung, um Gnade, um Berücksichtigung ihrer Lage« finden, ohne daraus schliessen zu müssen, dass sie sich dem Prinzen gegenüber nicht ganz rein fühle. Das Schreckliche und Überraschende ihrer Lage erklärt ihre Verwirrung zur Genüge.

217

Adolf Dietrich

Marchese weist, ist der Übergang zum folgenden Momente. Die Mutter schliesst aus dem Streite, welchen Marinelli im Laufe des Morgens mit dem Grafen Appiani gehabt hatte, und aus der Anwesenheit des Kammerherrn am Orte des Überfalls, dass er an dem letzteren beteiligt sei. Die wiederholten, mit drohender Stimme gesprochenen Worte: »Marinelli war das letzte Wort des sterbenden Grafen«, sind besonders wirksam, weil sie ausser dem angedeuteten Verdachte auch die Gewissheit über Appianis Tod ausdrücken, welcher nach dem Berichte Angelos III, 2 doch noch zweifelhaft war. Die Mitteilung, dass der Prinz mit der zärtlichsten Sorgfalt um Emilia beschäftigt sei, bestärkt die Mutter in ihrem Verdachte. Derselbe wird daher in dem letzten dramatischen Moment der Scene mit gesteigerter Heftigkeit ausgesprochen; denn die Mutter bringt den Vorfall in der Kirche mit dem Überfall in richtige Verbindung und bezeichnet, durch ihre Entdeckung in die leidenschaftlichste Erregung versetzt, Marinelli als elenden Mörder und Kuppler. Der Ausdruck ihres Zornes und ihrer Verachtung ist der Höhenpunkt der Scene, welche mit dem vergeblichen Versuche des Kammerherrn, die empörte Mutter zu beschwichtigen, und mit der Wahrnehmung der letzteren, dass Emilia im Nebenzimmer sei, abschliesst. Die Hauptscene des Aktes, deren Gipfelpunkt durch den Fussfall Emiliens deutlich markiert ist, steht in der Mitte. Auf der einen Seite lehnt sich an sie der Botenbericht Angelos an, welcher auf den Erfolg der aufwärts steigenden Handlung vorbereitet, auf der anderen Seite die Scene mit Claudia. Dieselbe liegt schon in der Richtung des abwärts laufenden Teiles der Handlung und zeigt, welchen Eindruck der verübte Frevel auf die Umgebung der Heldin gemacht hat. So steht also die Mittelscene in der engsten Verbindung mit dem Vorhergehenden und dem Folgenden, ihr Höhenpunkt ist der des ganzen Stückes. Ein wirkungsvoller Abschluss des Aktes wird dadurch hervorgebracht, dass sich die Mutter von ihrer sonstigen Schwäche zur kühnsten Äusserung der Leidenschaft erhebt. Es ist jetzt, nachdem bis zum Gipfelpunkte des Stückes eine Reihe bedeutender Erschütterungen dargestellt worden ist, eine gewisse Sättigung des Hörers eingetreten. Der Dichter muss daher von hier an darauf bedacht sein, die scenischen Effekte zu verstärken, um eine neue Spannung zu erregen und bis zum Schluss des Stückes noch zu steigern. Diese Steigerung liegt in Stücken von dem Bau des unsrigen zunächst darin, dass das Gegenspiel, welches bis zum Höhenpunkte die Handlung leitete, diese Rolle nun den Personen der Hauptgruppe überlässt. Diese, welche bedrängt und verfolgt sind, erheben sich zu selbständigem, energischem Handeln. Aber trotz dieser Erleichterung, welche für den schaffenden Künstler in dem Stoffe des Stückes liegt, erfordert doch die Scenenfolge der fallenden Handlung oder der Umkehr grosse Kunst der Technik und Kraft des Talentes, um hier einen Fortschritt der Teilnahme zu sichern.19 Zu diesem Zweck braucht Lessing eine neue Episode, welche, der Stellung im Stück entsprechend, grossartig und bedeutend ist. Er führt nämlich den interessanten Charakter der Gräfin Orsina ein, deren Beziehungen zum Prinzen im ersten Akt dargestellt wurden. Die Einleitung des Aktes der Umkehr ist eine Unterredung des Prinzen mit Marinelli. Diese bringt die Verlegenheit zum Ausdruck, in welche die 19 Technik p. 115.

218

Über den Bau des Trauerspiels Emilia Galotti.

Intriganten durch die Reaktion der bedrohten Personen gegen die Nach­stellungen versetzt werden. Die Scene a (1) ist daher eine passende Einleitung für den vierten Akt, da derselbe den Widerstand, welchen der Prinz und Marinelli finden, in stufenweiser Steigerung dar­stellt. Die Bemerkung des Prinzen, dass er in dem Augenblicke, in welchem die Tochter ihrer Mutter ohnmächtig in die Arme stürzte, von dieser etwas gehört habe, was er selbst lieber nicht gehört, nicht verstanden haben wolle, erregt die Spannung. Gemeint ist mit dieser Andeutung die Ermordung des Grafen Appiani, über welche der Prinz von Marinelli Gewissheit verlangt und erhält. Mit den drohenden Worten: »Marinelli! Marinelli!« macht er diesem den Vorwurf, den Tod des Grafen verschuldet zu haben. Das erste Moment der Scene enthält nun die Verteidigung des Kammerherrn gegen diesen Vorwurf. Diese gelingt aber so wenig, dass der Prinz sogar andeutet, der Tod sei beabsichtigt gewesen. Im zweiten dramatischen Momente weist Marinelli auch diese Anschuldigung zurück und lehnt im dritten überhaupt jede Verantwortung für die Erfolglosigkeit der bisher gethanen Schritte ab, da der Prinz den guten Plan durch seinen Kirchgang durchkreuzt habe. In dem dritten Scenenstück steigert sich die Erregung des Prinzen bis zu dem Höhenpunkte, dem kurzen Befehle: »Rede will ich!« Der fallende, abschliessende Teil der Einleitungsscene ist das Eingeständnis des Prinzen, dass er unrecht habe. Die erste Stufe der fallenden Handlung ist die grosse Scene b (2 – 6), deren Inhalt die Ab­weisung der Gräfin Orsina und die zweite Entdeckung der Intrigue ist. Die Meldung von der Ankunft Orsinas versetzt den Prinzen in die äusserste Verwirrung, in welcher er Marinelli befiehlt, die Gräfin in jedem Falle abzuweisen. Auf diese spannende Einleitung folgt im ersten Momente der Versuch Marinellis, die Gräfin dadurch zur Rückkehr zu veranlassen, dass er ihr mitteilt, die Anwesenheit des Prinzen auf dem Lustschlosse Dosalo sei Zufall, nicht die Folge ihres Briefes, den er gar nicht gelesen habe. Der Versuch misslingt jedoch, da die Gräfin trotzdem auf einer Unterredung mit dem Prinzen besteht. Das zweite Moment enthält nämlich ihre Reflexionen über die Ursache, aus welcher sie der Prinz jetzt verachte. Sie findet, dass dieselbe in ihrem selbständigen Denken zu suchen sei, das sie den Prinzen vielleicht zu oft habe merken lassen. Ihr Nachdenken führt sie zu dem Schluss, dass der Prinz nicht zufällig anwesend sei, da nichts unter der Sonne Zufall sei, sondern dass man es hier wohl gar mit einem unmittelbaren Werke der allgütigen Vorsicht zu thun habe. Daher bleibt Sie trotz der Unhöflichkeit des Kammerherrn, welcher sich stellt, als ob er durch ihre Reden gelangweilt werde. Das dritte Moment der Scene ist in wenigen Sätzen enthalten. Es ist das Eingreifen des Prinzen in die Unterhaltung, welcher beschäftigt zu sein versichert und auf diese Weise seinem Kammerherrn zu Hilfe zu kommen für notwendig hält. Trotz der Kürze dieses Stückes wird das Interesse an der Handlung erheblich gesteigert; denn die Abweisung durch den Prinzen wirkt wie betäubend auf die Gräfin. Sobald sie sich von ihrer Bestürzung erholt hat, erklärt sie, sie wolle gehen, aber Marinelli möge ihr doch zuvor aus Barmherzigkeit etwas über die Beschäftigung des Prinzen mitteilen, selbst wenn es eine Lüge sei. Diese Bitte leitet zu dem Moment mit dem Gipfelpunkt hinüber, welches als Entdeckung der Intrigue durch Orsina bezeichnet werden kann. Die letztere hat nämlich kaum erfahren, dass es Emilia Galotti, die gerettete Braut des erschossenen Grafen Appiani sei, welche von dem 219

Adolf Dietrich

Prinzen getröstet werde, als sie auch schon den Frevel durchschaut, da sie durch ihre Kundschafter den Vorfall in der Kirche erfahren hat. In knappen, hastigen Fragen und Antworten spitzt sich der Dialog zu bis zu dem Punkte, wo die Gräfin dem gespannt aufmerkenden Kammerherrn die Worte zu­schreit: »Der Prinz ist ein Mörder!« So ist das Resultat der Scene energisch in einem treffenden Schlage ausgesprochen, es folgt daher kurz der Schluss. Orsina begründet nämlich ihren Verdacht und droht, am nächsten Tage ihre Entdeckung auf offenem Markte auszurufen. Indem sie den er­schrockenen Kammerherrn noch deutlich genug merken lässt, dass sie ihn für einen Spiessgesellen des Mörders halte, schickt sie sich an fortzugehen. Die Scene schliesst also mit einer besonders kräftigen Äusserung der interessantesten Persönlichkeit, welche in ihr auftritt. Die Gräfin behält die Leitung auch in der letzten Scene c (6 – 8), welche durch das Auftreten des Vaters Odoardo eine neue Spannung erhält; denn es entsteht die Frage: Wird auch er, der mit so grosser Strenge die Ehre seines Hauses wahrt, merken, dass dieselbe aufs äusserste gefährdet ist? Aufklärung soll ihm Orsina geben, welche mit den Worten: »Vater? Der Emilia, ohne Zweifel. – Ha, willkommen!« wieder umkehrt. Die Einleitung der Scene ist also die Ankunft Odoardos und der Entschluss Orsinas zu bleiben. Das erste dramatische Moment enthält nun die Bemühungen des Kammer­herrn, einen Gedankenaustausch zwischen der aufs tiefste verletzten Gräfin und dem Vater zu verhindern. Er fordert sie dringend, aber vergeblich auf, sich von ihm zum Wagen begleiten zu lassen, und weiss sich dann keinen anderen Rat, als den alten Obersten vor ihr als einer Geistesgestörten zu warnen. Nachdem Marinelli abgegangen ist, um Odoardo bei dem Prinzen anzumelden, stellt sich durch ein kurzes Zwiegespräch der Zurückbleibenden heraus, auf welche nichtswürdige Weise der Kammerherr Orsina verleumdet hat. Darin liegt der Übergang zum zweiten Momente, der Aufklärung des Vaters über das traurige Schicksal des Grafen Appiani, sowie über die Nachstellungen, welchen seine Tochter zum Opfer zu fallen droht. Mit Absicht bedient sich Orsina hierbei erst unbestimmter, unheimlicher Andeutungen, ehe sie das, was sie mitzuteilen hat, in kurzen, ergreifenden Schlägen zusammenfasst. Es gelingt ihr auf diese Weise, die Angst und Entrüstung des Vaters zur Verzweiflung und hellen Wut zu entflammen. In dem Ausbruch derselben, den wild herausgestossenen Worten: »Nun, Claudia? Nun, Mütterchen? – Haben wir nicht Freude erlebt! O des gnädigen Prinzen! O der ganz besonderen Ehre!« gipfelt die Scene; denn Odoardo ist in eine so leidenschaftliche Erregung versetzt, dass sein ferneres unbesonnenes Handeln durch dieselbe erklärlich wird. Die nächste Folge der empörten Stimmung wird in dem dritten Absatz der Scene zur Darstellung gebracht. Es ist der Plan Odoardos, den Räuber seiner Tochter, den Prinzen, zu ermorden. Orsina unterstützt und fördert diesen Plan, indem sie dem waffenlosen Obersten mit einem Dolche aushilft, den sie erst selbst gegen den Verführer zu zücken gedachte. Bei der Erinnerung an diesen ergreift sie Schmerz und Wut zugleich über die ihr angethane Beleidigung, und sie spricht ihre Empfindungen mit wahrhaft dämonischer Gewalt aus, so dass Odoardo ergriffen und in seinem Racheplan bestärkt werden muss, zumal wenn er bedenkt, dass seiner Tochter das Schicksal einer Orsina bevorstehe. Die Ratlosigkeit beweisenden Fragen und die Beteuerungen der auf ihren Gatten zufliegenden Claudia sind 220

Über den Bau des Trauerspiels Emilia Galotti.

der Übergang zum letzten Momente, der Bestätigung dessen, was Orsina dem Vater mitgeteilt hat, und der Erkundigung nach dem Ver­halten Emiliens angesichts der traurigen Lage. Er muss aus den Worten seiner Gattin schliessen, dass seine Tochter unschuldig ist, und weiss nun, was er zu thun hat; er will um jeden Preis die Ehre seiner Tochter und somit die seiner Familie retten. Der Schluss der Scene ist die Entfernung der Gräfin Orsina und der Mutter, welche nach der Stadt zurückkehren. Die leise zu der ersteren ge­sprochenen Worte: »Sie werden von mir hören«, bereiten auf neue Erschütterungen vor und steigern daher die Spannung. Der Akt besteht, abgesehen von der Einleitung a, aus zwei grossen Scenen b und c, in welchen zwei kraftvolle Charaktere in gewaltiger, leidenschaftlicher Erregung auftreten. Orsina und Odoardo sind in dem Kern ihres Wesens verletzt, daher sind die Äusserungen ihrer Seelenstimmungen so markig, ihre Entschlüsse so kühn, dass selbst die Rücksicht auf das eigene Leben aufgegeben wird. Laut brandmarkt die eine den Prinzen als Meuchelmörder, ohne zu bedenken, dass sie sich um den Hals reden könne, und entschlossen greift der andere zum Dolche, um gegen den fürstlichen Verführer die Ehre der Tochter zu verteidigen. Der Dichter hat also durch »grosse Züge, grosse Wirkungen« für die Handlung, welche auf dem Höhenpunkte des dritten Aktes zu einem gewissen Abschluss gekommen war, von neuem zu fesseln verstanden. Die neu eingeführte Rolle der Gräfin Orsina trägt hierzu wesentlich bei. Lessing hat bei dieser Schöpfung eine bedeutende poetische Gestaltungskraft und Fähigkeit, menschliche Leidenschaft darzustellen, bewiesen und dem neuen Charakter ein solches Gewicht gegeben, dass er für mehr als eine schmückende Zuthat angesehen werden muss. Der Dichter ver­folgte nämlich bei der Einführung der Orsina einen ganz bestimmten, im Plane des Stückes wohl be­gründeten Zweck, den Arnold20 treffend in folgenden Worten ausspricht: »Die Erwartung des Publikums fordert den Tod des Prinzen – und in Wahrheit ist er auch von Odoardo geplant, – die tragische Kunst verlangt den Hingang Emiliens. Den Übergang von der beabsichtigten Ermordung des Prinzen auf den wirklichen Ausgang zu vermitteln und zu begründen ist die ureigenste Aufgabe der Orsina, freilich ohne dass sie selbst sich dessen bewusst ist, geschweige denn, dass sie es wünschen kann.« Odoardo musste nämlich bei ruhiger Überlegung zu der Erkenntnis kommen, dass die Lage seiner unschuldigen Tochter von der der lasterhaften Maitresse himmelweit verschieden war. Die letztere mochte die Ermordung des Prinzen als Sühne für ihren beleidigten Stolz fordern, für die erstere ge­nügte es, wenn sie den Händen des Verführers entzogen wurde. Die Vergeltung für das zerstörte Familienglück durfte Odoardo getrost einem höheren Arme überlassen, seine Aufgabe bestand jetzt vor allem darin, die Ehre der Tochter zu retten, indem er sie so bald als möglich von Dosalo weg­führte und fern von dem Geräusch der Welt in sicherer Einsamkeit barg. Daher lässt der Dichter in der ersten grossen Scene des fünften Aktes a (1 – 5) den Vater den Versuch machen, Emilien dem Prinzen zu entziehen. Das Misslingen dieses Versuches ist die dritte und letzte Stufe der sinkenden Handlung und soll die Katastrophe als unvermeidlich erscheinen lassen. Nach dem Abgange Claudias und Orsinas ist auf dem Lustschlosse eine gewisse 20 a. a. O. p. 17.

221

Adolf Dietrich

Ruhe einge­treten. In Gedanken verloren, schreitet Odoardo die Arkade auf und ab und wird von dem Prinzen und Marinelli beobachtet. Der letztere ist voll froher Zuversicht, dass sein Plan mit Erfolg gekrönt sein werde; denn er glaubt, Odoardo werde sich beruhigen und in tiefster Unterwerfung erwarten, welchen weiteren Anteil der Prinz »an seinem unglücklichen, lieben Mädchen« nehmen werde. So haben sich nach den vorangegangenen Stürmen die Wellen scheinbar wieder geglättet, und es ist auch für die Empfindungen des Zuschauers ein Ruhepunkt eingetreten, so dass er aufatmen und sich für die höchsten Wirkungen des Dramas sammeln kann. Die Stille nämlich, welche zu herrschen scheint, ist die, welche dem losbrechenden Sturme vorhergeht. Derselbe wird angekündigt durch die besorgte Äusserung des Prinzen, Odoardo werde, anstatt seine Tochter nach der Stadt zu führen, sie mit sich nehmen. Doch auch für diesen Fall will Marinelli Rat schaffen. »Weiter als zum Wollen soll er (der Vater) es gewiss nicht bringen.« So ist der Hörer auf den auf und ab wogenden Kampf zwischen Odoardo auf der einen und Marinelli mit dem Prinzen auf der anderen Seite vorbereitet, die Scene also in angemessener Weise eröffnet. Das erste, auf die Einleitung folgende Moment derselben, ist der Monolog Odoardos, worin er bekennt, dass er sich von einer Eifersüchtigen, einer von Eifersucht Wahnwitzigen habe fortreissen lassen, die Rettung der gekränkten Tugend mit der Rache des Lasters zu verwechseln. Er beschliesst jetzt, sich damit zu begnügen, wenn der Mörder die Frucht seines Verbrechens nicht geniesst. Im folgenden Scenenabschnitt erhält er Gelegenheit, Marinelli gegenüber seine Absicht auszu­sprechen und zu erklären, dass er seine Tochter nicht wieder nach Guastalla zurückbringen werde. Durch den Widerspruch Marinellis gerät der Vater in heftige Erregung, so dass sich der Kammerherr veranlasst sieht, sich auf den Prinzen zu berufen und abgeht, um denselben zur Entscheidung herbei­zuholen. Das nächste Moment ist wieder ein Monolog, in welchem Odoardo seine Entrüstung darüber ausspricht, dass man ihm seine Tochter vorenthalten wolle. Die Spannung wird durch dieses Scenenstück besonders in so fern gesteigert, als aus den zornigen und drohenden Worten Odoardos der Entschluss desselben ersichtlich wird, seinen Willen selbst gegen den des Prinzen nötigenfalls mit Gewalt durchzusetzen. Nach dem Eintritt des Prinzen mit Marinelli verläuft der nächste Teil der Scene im Zwiegespräch zwischen jenem und Odoardo, während der Kammerherr stummer Zuhörer ist. Der mit einer freundlichen Begrüssung eingeleitete Dialog führt zu dem Resultat, dass der Prinz zum Scheine dem Vater das Recht einräumt, seine Tochter zu bringen, wohin er wolle. Jetzt ist für Marinelli der Augenblick gekommen, in die Unterredung einzugreifen. Seine Versicherungen, durch die innigsten Bande der Freundschaft mit dem Grafen Appiani verbunden gewesen und von ihm zum Rächer seines Todes bestellt worden zu sein, bilden den Übergang zu dem wichtigen Momente, welches dem Ver­lauf der Handlung eine neue, unerwartete Wendung giebt. Unter dem Vorwande einer gerichtlichen Untersuchung soll nämlich Emilia in Guastalla zurückgehalten werden. Auf eine solche List war Odoardo nicht gefasst, er ist bestürzt und giebt nun seine Einwilligung zum vorläufigen Aufenthalt seiner Tochter in der Residenz, will jedoch selbst nicht von ihr weichen. Seine bittere Bemerkung, man könne nicht wissen, ob nicht die Gerechtigkeit auch nötig finden werde, ihn zu vernehmen, leitet hinüber zum letzten Momente der Scene; der For222

Über den Bau des Trauerspiels Emilia Galotti.

derung, Emilien von Vater und Mutter zu trennen und besonders zu verwahren. Da ein solches Verlangen die schändliche Absicht der Intriganten zu deutlich verrät, ist Odoardo nahe daran, von gerechtem Zorne übermannt zu werden. Mit den grimmigen, höhnenden Worten: »O wie fein die Gerechtigkeit ist! Vortrefflich!« greift er nach dem Dolche, um den Prinzen zu durchstechen. Diese Stelle ist der Höhenpunkt der grossen Scene; denn sie offenbart die voll­kommene Rat- und Hilflosigkeit des unglücklichen Vaters, welcher erkennt, dass er auf friedlichem Wege sein Kind aus den Schlingen des ihm gestellten Netzes nicht mehr befreien kann. Ein freund­liches Wort des Prinzen hält Odoardo jedoch von der Ausführung seines übereilten Entschlusses zurück und giebt ihm seine Besonnenheit wieder. Er fügt sich zum Scheine in das Unvermeidliche und will es geschehen lassen, dass seine Tochter in das Haus des Kanzlers Grimaldi gebracht werde, das ja natürlich eine Freistatt der Tugend sei, wie er mit bitterer Ironie bemerkt. Der Schluss der Scene ist die Bitte Odoardos, seine Tochter wenigstens noch einmal sprechen zu dürfen, was vom Prinzen gestattet wird. Nach G. Freytag21 schlagen in den Dialogscenen unserer Dramen »die Gründe des einen gleich Wellen gegen die Seele des andern, zuerst durch den Widerstand gebrochen, dann höher, bis sie vielleicht am Ende über die Widerstandskraft reichen.« Die Richtigkeit dieser Wahrnehmung, sowie des von ihm erwähnten, uralten Compositionsgesetzes, dass häufig der dritte solcher Wellenschläge die Entscheidung gebe, finden wir durch die eben besprochene Scene deutlich bestätigt und glauben sie durch folgendes Schema veranschaulichen zu können: Erste Stufe (Wellenschlag). Satz: Odoardo erklärt: »Sie (Emilia) soll nicht mehr nach Guastalla.« Gegensatz: Marinelli will sie fürs erste doch nach Guastalla gebracht wissen. Zweite Stufe. Satz: Odoardo spricht dem Prinzen gegenüber die Absicht aus, seine Tochter in ein Kloster zu bringen. Gegensatz: Der Prinz bedauert, dass so viel Schönheit in einem Kloster verblühen soll, giebt aber dem Vater nach. Dritte Stufe. Satz: Marinelli hält die gerichtliche Vernehmung und besondere Verwahrung Emiliens für notwendig. Gegensatz: Odoardo ist empört darüber, fügt sich aber. »Ich lasse mir ja alles gefallen; ich finde ja alles ganz vortrefflich.« Wenn wir von hier aus die drei Stufen der Umkehr noch einmal überblicken, so finden wir, dass die Wirkung einer jeden einzelnen in einer grossen Scene zusammengeschlossen ist. Auf der ersten Stufe (IV, 2 – 5) durchschaut Orsina den Plan Marinellis. Das hatte zwar Claudia auch schon gethan, aber sie hätte es schwerlich gewagt und verstanden, ihre Entdeckung dem Gatten in der Weise mitzuteilen, dass er zu leidenschaftlichen Entschliessungen fortgerissen wurde. Dazu war das Auf­t reten der Gräfin Orsina geeignet und notwendig, da sie schon durch ihre Erscheinung den Vater an das unselige Schicksal erinnerte, welches Emilien bedrohte. Sie versucht, da sie abgewiesen wurde, auf der zweiten Stufe (IV, 6 – 8) Odoardo zum Werkzeug ihrer Rache zu machen, indem sie ihn zur Ermordung des Prinzen aufreizt. Die dritte Stufe (V, 1 – 5) macht uns zu Zeugen des Versuches, die Ehre Emiliens ohne Gewaltthat zu retten. Da derselbe misslingt, und Odoardo es überdies verschmäht hat, durch die Rache am 21 Technik p. 193.

223

Adolf Dietrich

Prinzen die Sache seiner edlen Tochter mit der einer Buhlerin zu identificieren, so bleibt ihm nur noch ein Ausweg übrig, wenn er die Ehre seiner Tochter retten will, ihr Tod von seiner eigenen Hand. Die Ausführung dieses heroischen Entschlusses, also die Rettung der Ehre um den Preis des Lebens darzustellen, ist die Aufgabe der letzten Scene b, 6 – 8. Die Einleitung derselben ist ein dritter Monolog Odoardos. Er spricht darin die Empfindungen aus, welche sich vor der schreck­lichen Entscheidung seiner bemächtigen. Schon während seiner Unterredung mit dem Prinzen und Marinelli war in ihm der Gedanke aufgestiegen, seine Tochter eher zu töten, als ihre Ehre antasten zu lassen. Jetzt wird er wieder unschlüssig, denn Emilia könnte es nicht wert sein, was er für sie thun will, und das letztere ist zu grässlich. Seiner Unentschlossenheit wird jedoch durch das Er­scheinen Emiliens ein Ende gemacht, der Himmel will seine Hand, das blutige Vorhaben soll ausge­führt werden. Das nächste Scenenstück enthält die Aufklärung der Emilia über die Lage, in welcher sie sich befindet, wobei sich der Vater die Überzeugung verschafft, dass sie schuldlos und einer ausserordentlichen That würdig sei. Er billigt ihre Gesinnung und erwähnt dabei des Dolches, mit welchem er in seiner Wut Marinelli und den Prinzen zu durchstechen gedachte. Diese Erwähnung ist der Übergang zum folgenden Momente. Emilia weiss durch den Hinweis auf die ihrer Ehre drohende Gefahr den Vater zu bewegen, ihr den Dolch zu geben. Wenn sie hierbei von der Macht der Ver­führung spricht, der sie zu erliegen befürchtet, so kann das nicht ernstlich gemeint sein; es ist nur ein Vorwand, wodurch sie den erlösenden Tod zu finden hofft.22 Die Erfüllung ihres Wunsches wird in dem dramatischen Moment des Höhenpunktes dargestellt. Da nämlich der Vater seiner Tochter den Dolch wieder entreisst, sobald er sieht, dass sie sich mit demselben durchstossen will, so deutet sie an, was für eine ehrlose Zukunft ihr bevorstehe, wenn er ihr nicht, das Beispiel des Römers Virginius nachahmend, den Stahl in ihr Herz senke. Dieser Appell an seine Ehre und seinen Mut übt auf den Vater die gewünschte Wirkung aus. In einem Augenblick leidenschaftlicher Aufwallung ist die furchtbare That geschehen, – Emilia sinkt sterbend in den Armen des Vaters zusammen, eine Rose, gebrochen, ehe der Sturm sie entblättert. Auf die Katastrophe folgt als kurzer Schluss der Scene und des ganzen Stückes die Darstellung des Eindruckes, welchen die grauenvolle That auf Odoardo, Marinelli und den Prinzen macht. Eine schmerzliche Befriedigung empfindet der erstere, da er den Triumph des Lasters vereitelt hat, »Weh mir!« sind die einzigen Worte, welche der erschrockene Höfling angesichts der Thatsache hervorbringt, dass Sittenreinheit und Charakterstärke sich als unüberwindliche Mächte erwiesen haben, Entsetzen und Verzweiflung erfasst den leichtsinnigen Fürsten, welcher erkennt, dass ihn ein Teufel unter der Maske des Freundes zum Urheber von Verbrechen gemacht hat. 22 Arnold a. a. O. p. 16. Nur bei der hier entwickelten Auffassung lässt sich die immer wieder von neuem angegriffene Stelle rechtfertigen, so z.  B. gegen den scharfen Tadel Dr. E. Dührings, welcher in seiner Schrift: »Die Überschätzung Lessings und dessen Anwaltschaft für die Juden«, Karlsruhe und Leipzig 1881, p. 12 von einer »sinn­lichen Liebesunsicherheit« Emiliens gegen den Prinzen redet und dann fortfährt: »Ein Mädchen in solcher Sinnesver­fassung kann im Ernste die fragliche Rettung nicht wollen und ist diese nicht wert. Ja es ist eine völlig unnütze Grau­samkeit, solche heroisch sein sollende Rettung über sie zu verhängen.«

224

Über den Bau des Trauerspiels Emilia Galotti.

Dass sich Emilia mit so unwiderstehlicher Gewalt zum Tode drängt, wird durch ihre verzweifelte Lage erklärlich. Sie hat das Liebste, das sie auf Erden besass, verloren, ein einziger furchtbarer Schlag hat alle ihre schönen Hoffnungen zertrümmert, das Leben hat daher für sie allen Reiz verloren, um so mehr, als sie weiss, dass sie durch ihr unzeitiges Schweigen den Tod des Grafen mit ver­schuldet hat. Für das Kunstwerk ist ihr Tod geradezu notwendig; denn das Drama soll eine gänzlich vollendete Handlung darstellen. Der Kampf hat das ganze Leben der Heldin ergriffen, daher musste der Dichter konsequent sein und auch die vollständige Verwüstung des Lebens eindringlich machen.23 Das abschliessende Moment nach der Katastrophe ist nicht in der Absicht hinzugefügt worden, um die Moral der Tragödie auszusprechen, sondern hat für diese »denselben Sinn, wie in der Musik der aus­tönende Schlussaccord.«24 Wir unterlassen es, auf die Einheit der Handlung und die Übereinstimmung, welche zwischen den Worten und Thaten der handelnden Personen und dem Grundzuge ihres Wesens besteht, des näheren einzugehen; wir würden damit nur Bekanntes wiederholen.25 Uns kam es vor allem darauf an, den kunstgerechten Bau der einzelnen Scenen nach dem Gesetz des Steigens und Sinkens der Handlung und die einzelnen Glieder derselben, die dramatischen Momente, nachzuweisen. Wir ver­suchen es nun zum Schluss, die besprochenen grösseren Teilstücke des Dramas in einer Übersicht zu­sammenzustellen und so das Zweck- und Kunstvolle26 im Bau des Ganzen zu veranschaulichen. I. Akt. Ort: ein Kabinet des Prinzen, 1 Regiescene, 8 Auftritte, 4 dramatische Scenen. Ein leitung . a (1) Vorbereitungsscene. Einführung in die vorherrschende Stimmung. Die Neigung des Prinzen zu Emilia Galotti ist an die Stelle der Liebe zur Gräfin Orsina getreten. b (2 – 5) Expositionsscene. Contiepisode. Der Anblick der Gemälde veranlasst den Prinzen, seine Abneigung gegen Orsina und seine Neigung zu Emilia auszusprechen. Au f r e g e n d e s Mo m e nt . c (6) Hauptscene. Der Prinz erfährt die unmittelbar bevorstehende Vermählung Emilias mit dem Grafen Appiani. Pläne Marinellis, dieselbe zu vereiteln. d (7 – 8) Schlussscene. Der Prinz in grosser Erregung und entschlossen, selbständig zu handeln. 23 Technik p. 118. 24 Arnold a. a. O. p. 17. 25 Aufschluss hierüber findet man bei Nölting und Arnold a. a. O. und bei Julius Rohleder, »G. E. Lessings Emilia Galotti als Lektüre für Prima«, Programm, Stargard i. P. 1881. Es sei hier nachträglich darauf hingewiesen, dass in der letzteren Abhandlung p. 13 und 15 in den Anmerkungen die Litteratur über die in unserer Einleitung berührten Streitfragen besonders übersichtlich und reichlich zusammengestellt ist. 26 Gesetzmässigkeit des Baues, die wir an dem fertigen Kunstwerk wahrnehmen, wird nicht immer das Resultat planmässiger Überlegung sein; das Genie wird oft auch unbewusst das Richtige treffen, das uns ja erst aus meinen Werken als solches zum Bewusstsein kommt.

225

Adolf Dietrich

Die beiden Hauptteile des Aktes sind die Scenen b und c, in welchen auch seine Höhenpunkte liegen; der in c ist über die Spitze in b noch hinausgetrieben. II. Akt. Ort: ein Saal im Hause des Galotti, 1 Regiescene, 11 Auftritte, 6 dramatische Scenen. Steig er ung . a (1 – 2) Einleitungsscene. Die Scene bereitet auf die sich steigernde Be­sorgnis um Emilia vor. Erste Stufe. b (3) Anschlag Angelos. Angelo zieht bei seinem Spiessgesellen genaue Erkundigungen über die Fahrt des Brautpaares nach Sabionetta ein. Zweite Stufe. Verschuldung Emiliens. c (4 – 5) Odoardos strenge Auffassung von Tugend und Ehre. d (6) Hauptscene. Emilia wird überredet, ihre Begegnung mit dem Prinzen zu verschweigen. e (7 – 8) Unterredung mit Appiani. Tochter und Mutter verheimlichen dem Grafen den Vorfall in der Kirche. Dritte Stufe. Abweisung und Beleidigung Marinellis. f (9 – 11) Hauptscene. Appiani lehnt den Antrag Marinellis ab und wird von diesem verhöhnt. Er beleidigt den Kammerherrn und wird zum Zweikampf herausgefordert. Beschwichtigung Claudias. Auf der ersten Stufe erfahren wir indirekt, was Marinelli, auf der zweiten, was der Prinz zur Ausführung seines Vorhabens gethan hat; auf der dritten vollzieht sich die Ausführung des Planes vor unseren Augen. Das Interesse steigert sich über die Höhenpunkte in b und d bis zu dem in f. III. Akt. Ort: ein Vorsaal auf dem Lustschlosse des Prinzen, 1 Regiescene, 8 Auftritte, 4 dramatische Scenen. Hö henpun kt. a (1) Einleitungsscene. Der Prinz wird von Marinelli auf das Buben­ stück vorbereitet. b (2) Angelos Bericht über den gelungenen Überfall. Der Tod Appianis bleibt ungewiss. c (3 – 5) Hauptscene. Scheinbarer Triumph des Gegenspiels. Emilia wird zurückgehalten und wirft sich dem Prinzen zu Füssen, der sie zu beruhigen sucht. d (6 – 8) Übergang zur fallenden Handlung. Der Verdacht der Mutter. Der Höhenpunkt des Aktes und der ganzen Tragödie liegt in c und ist der Fussfall Emiliens. Die Heldin scheint zu unterliegen, da entdeckt zuerst die Mutter den teuflischen Plan. IV. Akt. Ort wie in III, 1 Regiescene, 8 Auftritte, 3 dramatische Scenen. Um ke hr. a (1) Einleitungsscene. Rechtfertigung Marinellis. Der Prinz überzeugt sich davon, dass er durch seinen Kirchgang Marinellis Plan durchkreuzt habe. E r s t e St u f e . Abweisung Orsinas. b (2 – 5) Hauptscene. Orsina soll abgewiesen werden. Marinelli gelingt dies ebenso wenig als dem Prinzen. Jene durchschaut das Bubenstück. Zweite Stufe. Racheplan Odoardos. c (6 – 8) Hauptscene. Orsina klärt Odoardo

226

Über den Bau des Trauerspiels Emilia Galotti.

über das Schicksal Appianis und Emilias auf und reisst ihn dadurch zu dem Entschlusse hin, den Prinzen zu ermorden. Claudia bestätigt die Aussagen der Gräfin. Den Höhenpunkt erreicht der Akt in dem Moment, in welchem Odoardo den schlimmen Plan und die drohende Gefahr erkennt. V. Akt. Ort wie in III und IV, 1 Regiescene, 8 Auftritte, 2 dramatische Scenen. Dritte Stufe. Es erscheint als unmöglich, dass Emilia lebend den Nachstellungen entgehen kann. a (1 – 5) Hauptscene. Der Vater fordert die Zurückgabe der Tochter, die ihm unter dem Vor­wande einer gerichtlichen Untersuchung verweigert wird. Odoardo fügt sich zum Scheine und fordert eine letzte Unterredung mit Emilia. Kata strop he. b (6 – 8) Hauptscene. Rettung vor der Schande durch den gewünschten Tod. Odoardo überzeugt sich von der Schuldlosigkeit seiner Tochter, billigt ihre heldenmütige Ge­sinnung und lässt sich, da sie an seine Ehre und seinen männlichen Mut appelliert, fortreissen, sie zu töten. Die Enttäuschung der Intriganten bildet den angemessenen Schluss. Jeder der fünf Akte ist eine Regiescene, da in ihnen ein Wechsel der Dekoration vermieden ist. Die 5 Regiescenen sind = 43 Auftritten = 19 dramatischen Scenen.

227

Lothar Volkmann Zu den Quellen der Emilia Galotti. [1888]

»Ich bin weder Schauspieler noch Dichter. Man erweist mir zwar manchmal die Ehre, mich für den letzteren zu erkennen. Aber nur, weil man mich verkennt. Aus einigen dramatischen Versuchen, die ich gewagt habe, sollte man nicht so freigebig folgern. Nicht jeder, der den Pinsel in die Hand nimmt und Farben verquistet, ist ein Maler. Die ältesten von jenen Versuchen sind in den Jahren hingeschrieben, in welchen man Lust und Leichtigkeit so gern für Genie hält. Was in den neueren Erträgliches ist, davon bin ich mir bewusst, dass ich es einzig und allein der Kritik zu verdanken habe. Ich fühle die lebendige Quelle nicht in mir, die durch eigene Kraft in so reichen, so frischen, so reinen Strahlen aufschiesst; ich muss alles durch Druckwerk und Röhren aus mir heraufpumpen. Ich würde so arm, so kalt, so kurzsichtig sein, wenn ich nicht einigermassen gelernt hätte, fremde Schätze bescheiden zu borgen, an fremdem Feuer mich zu wärmen und durch die Gläser der Kunst mein Auge zu stärken. Ich bin daher immer beschämt oder verdriesslich geworden, wenn ich zum Nachteil der Kritik etwas las oder hörte. Sie soll das Genie ersticken; und ich schmeichelte mir, etwas von ihr zu erhalten, was dem Genie sehr nahe kommt. Ich bin ein Lahmer, den eine Schmähschrift auf die Krücke unmöglich erbauen kann.« Diese berühmten und oft citierten Worte Lessings am Schlusse der Hamburgischen Dramaturgie sind der vorliegenden Arbeit vorangestellt, um den Massstab zu bezeichnen, mit dem sie gemessen sein möchte. Es war mein Wunsch, zu jener Selbstkritik durch eigene Prüfung Stellung zu nehmen. Denn man kann wohl billig schwanken, welcher Wert ihr beizulegen sei, wenn man die verschiedenen Urteile über Lessings Dichterruhm hört; Urteile, die von dem Dichter, »dessen Tragödie unsere ganze Seele erschüttert«, kühler und kühler allmählich herabsteigen, bis nichts mehr übrig bleibt als der in Pein und Schweiss producierende dramatische Algebraiker.1 Und wenn nun auch Lessing mit obigen Worten sich ohne weiteres an die letzteren anzuschliessen scheint, so darf man doch andrerseits nicht vergessen, dass sie geschrieben sind in einer Zeit bitterer Verstimmung, am Ende eines kläglich gescheiterten Unternehmens und vielleicht, wie so manches Wort, das Lessing in ähnlicher Lage über sich und seine Thätigkeit gesprochen hat, nicht allzu ernst zu nehmen sind. Darum war es mein Wunsch, einmal seinen Quellen gegenüber den Dichter kennen zu lernen, der fremde Schätze bescheiden sich borgt. Naturgemäss war damit der Weg zu Emilia Galotti gewiesen, zunächst, weil Lessing jenes Urteil fällte im Hinblick auf dies vor dem Abschluss stehende Meisterwerk, hauptsächlich aber deshalb, weil die Quellen, aus denen es geflossen ist, offen zu Tage liegen. Denn er selbst hat sie in 1 cfr. Biedermann, Deutschland im XVIII. Jahrhundert. Leipzig 1867 II., 2 p. 354. Anm. K. Fischer, Lessing als Reformator der deutschen Litteratur. Stuttgart 1881, p. 228, 261.

229

Lothar Volkmann

seinen Schriften zum Teil ausführlich behandelt, gleich als wollte er über das Entliehene Rechenschaft geben und eine Prüfung erleichtern. Nicht Studien also in dem Sinne, unbekannte, entlegene2 Quellen zu eröffnen oder ein möglichst erschöpfendes Quellenmaterial zusammenzutragen, sind der vorliegenden Schrift zur Aufgabe gestellt, sondern aus den sicheren Vorlagen der Emilia will sie einen Einblick zu gewinnen suchen in die dramatisch-kritische Schaffensweise des Dichters. Vielleicht, dass dem einen oder dem andern auch eine solche Gabe nicht unwillkommen ist. Denn unnötig schien mir die Arbeit nicht, da sie meines Wissens in umfassender Weise noch nicht vorliegt. Von direkten Vorstudien ist mir ausser den einleitenden Bemerkungen, die Nölting in seiner Abhandlung über Emilia Galotti3 (p. 1 – 4) macht, nur noch eine Schrift von Wagner: Zu Lessings spanischen Studien, Programm des Sophienrealgymnasiums zu Berlin 1883, bekannt geworden. Dem Gesamtresultat des letzteren: »Es können nur unbedeutende Einzelheiten sein, in denen Lessings Meister­werk an seine Vorgänger erinnert«4, glaube ich nicht beistimmen zu dürfen. Soweit sonst im Zusammenhange allgemein Bekanntes wiederholt werden muss, möge auch von dieser Arbeit Ciceros Wort gelten: Non ut aliquid ex iis novi addisceres, sed ut ea; quae in re dispersa atque infinita viderentur esse, ratione et distributione sub uno aspectu ponerentur.

Die Quellen. Die ursprünglichen Berichte über das Schicksal der Virginia finden sich bei Livius III. 40 sq. und bei Dionysius Halicarn. antiquitt. Rom. XI. 28 sq. Von dramatischen Arbeiten kommen in Betracht: 1. Die Virginia des Don Augustino de Montiano y Luyando. Lessing giebt von ihr in einer seiner ersten dramaturgischen Schriften, der Theatralischen Bibliothek5, einen ausführlichen Auszug, allerdings nicht nach dem spanischen Original sondern nach der französischen Übersetzung von Hermilly, Paris 1754.6 Kündigt er sie hier seinen Lesern an als das Werk des »grössten tragischen Dichters, den itzt Spanien aufweisen kann«, so ist sein Urteil in der Dramaturgie ein ganz anderes geworden: »die Virginia des Aug. de Mont. … ist zwar spanisch geschrieben, aber kein spanisches Stück: ein blosser Versuch in der korrekten Manier der Franzosen, regelmässig aber frostig. Ich bekenne sehr gern, dass ich bei weitem so vorteilhaft nicht mehr davon denke, als ich 2 Zu ihnen rechne ich auch die von E. Schmidt, Lessing II. 1 p. 235 sq. besprochenen italienischen Novellen des Matteo Bandello, deren Benutzung durch Lessing vielleicht wahrscheinlich aber nicht bezeugt ist. 3 Michaelis-Programm der Grossen Stadtschule (Gymnasium und Realschule) zu Wismar 1878. 4 p. 10. Auch Erich Schmidt, Lessing II, 1 p. 187 spricht nur von »leichten Anregungen« Montianos. 5 Lessing, Hempel XI, 1 p. 251 sq. VII, p. 342. 6 Diese Übersetzung habe ich trotz vieler Mühe nicht erlangen können. Das Original: Madrid 1750 war mir zur Hand, aber unzugänglich wegen mangelnder Sprachkenntnis.

230

Zu den Quellen der Emilia Galotti.

wohl ehedem muss gedacht haben.« Nichtdesto weniger ist Montiano auf ihn von nachhaltigstem Einfluss gewesen. 2. Die Virginia des Campistron. Lessing war bereits auf sie aufmerksam gemacht worden durch Montiano, der seiner Virginia eine Abhandlung über die spanischen Tragödien vorausgeschickt hatte, in welcher neben anderen auch Campistrons Dichtung erwähnt und besprochen wird.7 In dem Entwurf zum Alcibiades (Hempel XI, 2 p. 655) wird Campistrons gleichnamige Tragödie als Quelle genannt; ohne Zweifel hat Lessing also auch wohl seine Virginia8 gelesen. Sie ist noch peinlicher als Montianos in der »korrekten Manier« gedichtet. Zu diesen beiden, die auf die Gestaltung der Fabel von Einfluss waren, kommt wegen technischer Anregungen noch der scheinbar ganz abseits liegende Graf Essex hinzu. Die Geschichte dieses Günstlings der Königin Elisabeth ist wie bekannt vielfach Gegenstand poetischer Bearbeitung gewesen.9 Die Dichter, deren Essexdramen Lessing seiner Kritik unterzieht, sind Thomas Corneille, der Engländer Banks und ein spanischer ihm unbekannter Autor.10 Die letzteren erhalten den Vorzug vor Corneille, der auch für uns nicht in Betracht kommt. Was nun zunächst die antiken Quellen, die im grossen und ganzen mit einander übereinstimmen, betrifft, so glaube ich ihren historischen Bericht mit Lessing voraussetzen zu dürfen. »Die Geschichte der Virginia, sagt er, – am Schluss der Einleitung zu dem oben angeführten Auszuge aus Montianos Virginia – ist aus dem Livius und anderen zu bekannt, als dass ich mich hier mit Erzählung ihrer näheren Umstände aufhalten dürfte. Man sehe, wie sich der Dichter dieselben zu nutze gemacht hat.« Wir folgen dieser Aufforderung, dehnen sie aber zugleich auf Campistron aus, um dann zu sehen, wie weit Lessing den dramatisch verarbeiteten Stoff verwerten konnte.

I. Montiano und Campistron. a) Die äussere Fabel. Die engere Geschichte der Virginia, wie sie uns bei den alten Autoren überliefert wird, ist nur ein Nebenmotiv in der grossen Haupt- und Staatsaktion. Unter mancherlei anderen Thaten, durch welche die Decemvirn ihre Herrschaft verhasst gemacht haben, giebt endlich der frevelhafte Angriff des Appius auf die Ehre der Plebejerin Virginia den Ausschlag. Der Vater, zur Verzweiflung getrieben, sieht sich schliesslich, um seine Tochter vor dem entehrenden Lose der Sklaverei und der Schande zu bewahren, genötigt, »ihr den ersten, den besten Stahl in das Herz zu senken.« Dadurch entflammt er das schon lange murrende Volk zur Umwälzung der Staatsverfassung, die zur Ver7 Diese Kritik ist mir aus dem Original: Discurso sobre las Tragedias Españolas p. 83 sq. durch die gütige Übersetzung eines Kollegen bekannt geworden. 8 Œuvres de Monsieur de Campistron de l’académie franςaise. Paris 1750. Hierauf beziehen sich meine Verweisungen. 9 Einen Katalog hat zusammengestellt H. Laube, dramatische Werke. Leipzig, Weber 1856, VIII. 10 Hamb. Dramat. Stück 22 – 25, 54 – 59, 60 – 68.

231

Lothar Volkmann

nichtung oder Vertreibung der Schuldigen führt. In der Gesamtentwickelung dieser Thatsachen nimmt dann Virginia nur etwa die Stelle ein wie Lucretia in dem Aufruhr, der das Königtum der Tarquinier zu Falle brachte, und Virginius bildet ähnlich wie Schillers Tell11 den Mittelpunkt der Volkserhebung. Durch die letztere Parallele wäre bereits der eine Weg angedeutet, wie der Stoff in seiner unmittelbar vorliegenden Form dramatisch hätte gestaltet werden können: die Befreiung des Volks wäre Hauptgegenstand der Handlung, Virginias Tod nur ein, wenn auch ausschlaggebender Teil des Ganzen. Ein zweiter Weg eröffnete sich dem Dichter, wenn er umgekehrt Virginias Schicksal zur Hauptsache machte und dem zuliebe den politischen Stoff verkürzte. Ein solcher Versuch liegt vor bei Montiano sowohl wie bei Campistron. Der äusseren Veränderungen, die Montiano zunächst mit dem Stoffe vorzunehmen hatte, sind wenige. Die zweiteilige Handlung musste zusammengedrängt werden, um so mehr als die französischen Regeln ein strenges Festhalten der drei dramatischen Einheiten verlangten. Also konnte Appius nicht wie in der ursprünglichen Fabel erst geraume Zeit nach der Revolution, welche die Decemvirn vertrieb, durch Richterspruch verurteilt werden. Um solcher Verdammung zuvorzukommen, stirbt er bei Livius und Dionysius im Kerker, bei Montiano dagegen wird er gleich bei Ausbruch der Revolution getötet, oder vielmehr, so ängstlich hält der Dichter sich an seine Quellen, »er stösst sich sein eigen Schwert in die nichtswürdige Brust fast in eben dem Augenblicke, als er von dem des Icilius durchbohrt wird, und giebt unter schrecklichem Gebrülle den Geist auf.« Sein Helfershelfer Claudius, der Virginia als Sklavin in Anspruch nimmt, fällt von Virginius’ Hand,12 während er in der alten Fassung als der weniger Schuldige schliesslich nur mit Verbannung bestraft wird. Die Personen der weiteren Handlung wie C. Claudius, der sich für den Appius verwendet, und Spurius Oppius, des Decemvirs Amtsgenosse, fallen weg; mit der Bestrafung des Lasters hat die Handlung ihr Ziel erreicht. Damit schliesslich noch der Moral genüge geschehe, und die Tugend nicht unbelohnt bleibe, soll Virginia ein prächtiges Leichenbegängnis erhalten, die zwei Bösewichter aber unbegraben liegen bleiben. Ähnlich ist der Verlauf der Handlung bei Campistron, nur dass er es mit den Einzelheiten der alten Quellen weit weniger genau genommen hat. Es lag dies vor allem daran, dass Campistron noch die weitere französische auf falschem Verständnis des Aristoteles beruhende Forderung zu erfüllen sucht, dass die auftretenden Personen alle den vornehmen Kreisen angehören sollen.13 Daher mussten die Plebejer aus der Handlung verschwinden; der Hörige Clodius und der Tribun Icilius werden zu chevaliers romains erhoben. Ebenso ist die Plebejerin Virginia eine vornehme Dame geworden, die viel von der Rücksicht, die sie ihren Vorfahren schuldet, und viel von den Überlieferungen der Familie zu deklamieren weiss, worin sie nach Kräften von

11 cfr. Nölting a. a. O., p. 2. 12 p. 298/9. Wir erfahren diese Ereignisse durch den Bericht des Virginius und Icilius. 13 Montiano entschuldigt ausdrücklich die plebejischen Personen in seinem Drama. Discurso p. 86.

232

Zu den Quellen der Emilia Galotti.

ihrer Mutter Plautia unterstützt wird.14 Die letztere hat Campistron selbst hinzugedichtet; die alten Quellen kennen sie nicht, und auch Montiano lässt eine mutterlose Virginia in Begleitung ihrer Amme auftreten. Konsequenterweise mussten nun aber auch die chevaliers selbständiger gezeichnet werden; und so kam Campistron dazu, eine Feindschaft zwischen Clodius und Icilius zu erdichten. Weil er sich von jenem an Rang und Ehre geschädigt glaubt,15 lauert Clodius auf eine Gelegenheit zur Rache, und ohne von Appius Befehl zu haben, lässt er Virginia aus dem Tempel und vom Altare, wo alles zu ihrer Vermählung mit Icilius bereit ist, gewaltsam entführen und in den Palast des Appius bringen. Indem er so dem Appius zwar entgegenarbeitet, – nach seinem eigenen Geständnis ist er ihm zu Dank verpflichtet – so benutzt er ihn eigentlich doch nur als Deckmantel für seine persönlichen Rachepläne. Appius schliesslich – auch dies ist ein neuer und nur durch die Gleichstellung der Personen ermöglichter Zug – bietet der Virginia unter dem heuchlerischen Vorgeben, ihr gegen Clodius’ Nachstellungen zu Hilfe kommen zu wollen, seine Hand an,16 die natürlich entrüstet zurückgewiesen wird. Soweit fand Lessing den Stoff bearbeitet vor. Zunächst hatte er die Absicht, diesen Vorbildern unmittelbar zu folgen und gleichfalls eine Virginia zu dichten.17 Noch ist von solchem Versuch eine Scene erhalten.18 Claudius tritt auf ganz wie bei Montiano und Campistron bereits als Mitwisser der Pläne des Appius und bespricht seine Anschläge gegen Virginia mit Rufus, – eine von Lessing geschaffene Figur19 – der bedenkliche Einwände dagegen erhebt. Die weitere Ausarbeitung unterblieb. Das Lästige in der Verbindung zweier Handlungen, deren eine die andere beeinträchtigte, musste sich dem Dichter bald fühlbar machen. Seine Vorgänger konnten diese Verbindung nicht lösen, denn ihr dramatischer Codex verlangte Handlungen, bei denen das Staatswesen interessiert war, als unerlässlich für die Würde der Tragödie. Lessing aber, der im Sinne des wahren Aristoteles die Einheit der Handlung als höchstes und einzig verbindliches Einheitsgesetz aufstellte, kam bald darauf, den eigentlich tragischen Kern des Stoffes, das Schicksal der Virginia herauszuschälen und für sich gesondert zu betrachten. Bereits im Jahre 1758 hatte er die Absicht, eine bürgerliche Virginia – eine Emilia Galotti – zu schreiben. »Er hat daher die Geschichte der römischen Virginia von alle dem 14 cfr. p. 21/22, Act III. Scene 6. Virginia selbst tritt nicht auf, seine That wird nur durch Bericht mitgeteilt. 15 cfr. p. 9. 16 Act IV, Scene 2, 3. 17 Auch das Schicksal der Lucretia hatte ihn schon vorher zu einem dramatischen Entwurf: Das befreite Rom (Hempel XI. 2 p. 481 sq.) veranlasst. 18 Hempel XI. 2. 631. 19 An ihn erinnert Pirro in E. G., dessen Name dasselbe bedeutet und der auch vor dem Überfalle (II. 3) w a r n t . Auch sonstige Namen der E. G. erinnern an die Vorlagen: Appiani an Appius, Claudia an Claudius, Camillo (Rota) an Camille, confidente de Virginie bei Campistron. (Odoardo weist auf die oben erwähnte italienische Novelle; zu Marinelli cfr. E. Schmidt II. 1. p. 189, zu Angelo ibid. p. 149.)

233

Lothar Volkmann

abgesondert, was sie für den ganzen Staat interessant machte; er hat geglaubt, dass das Schicksal einer Tochter, die von ihrem Vater umgebracht wird, dem ihre Tugend werter ist als ihr Leben, für sich tragisch genug und fähig genug sei, die ganze Seele zu erschüttern, wenngleich kein Umsturz der ganzen Staatsverfassung darauf folgte.« Diese Tragödie, die in drei Akten mit allen Freiheiten der englischen Bühne ausgearbeitet wurde, ist nicht erhalten; ebensowenig eine Neubearbeitung derselben aus der Hamburger Periode, die nur für die Aufführung, nicht für den Druck bestimmt war. Beide, so schreibt er an seinen Bruder Karl20, habe er nicht brauchen können; was besagen will, dass Emilia Galotti noch bedeutende Veränderungen durchmachen musste, ehe sie endlich 1772 als »die erste deutsche Tragödie« in ihrer jetzigen Gestalt erscheinen konnte. Diesen stufenweisen Entwickelungsgang können wir nun leider nicht mehr im einzelnen verfolgen und sind daher gezwungen, unsere vergleichenden Blicke von Emilia Galotti sofort auf Montiano und Campistron zu richten. Beiden war Lessing mit der Verkürzung seiner Fabel selbständig gegenübergetreten. Der historische Boden war verlassen, und so wurden naturgemäss Namen21 und Schauplatz geändert. An Stelle des alten Rom trat Guastalla, die Virginier machten den Galottis Platz. Mit dem zweiten Teil der Gesamthandlung fallen auch die Personen weg, die ihn zur Entwicklung bringen helfen: Numitor, Virginias Oheim, und die römischen Ratsherren Horatius und Valerius, die Montiano aus den alten Quellen übernommen, sowie die ziemlich überflüssigen Vertrauenspersonen, die Campistron erdichtet hatte An ihre Stelle treten bei Lessing neue Nebenfiguren: Der Maler Conti, die Banditen Pirro und Angelo, der Bediente Battista und der Rat Camillo Rota, die sämtlich, soweit nicht die Handlung unmittelbar sie erforderte, auf sehr geschickte Weise zur Charakteristik der Hauptpersonen verwendet sind. Die letzteren werden ihren Vorbildern entsprechend beibehalten: Appius Claudius Prinz Hettore Gonzaga. Virginius Odoardo. Icilius Appiani. M. Claudius Marinelli. Virginia Emilia. Der allgewaltige Decemvir ist zum absoluten Herrscher eines Duodezstaates geworden, der Kriegstribun Virginius zum Obersten Galotti, die Plebejerin Virginia zur »bürgerlichen« Emilia. In diesen Figuren hätten wir also wieder das ursprüngliche Verhältnis zwischen Patriciern und Plebejern, das Campistron aufgehoben hatte. Seinen »chevaliers« Icilius und Clodius aber entspricht der »Graf« Appiani und der »Marchese« Marinelli. Die von ihm erdichtete Mutter – nunmehr Claudia Galotti – wird gleichfalls beibehalten22, nur muss sie hier natürlich auf die bürgerli20 Am 10./2. 72. Hempel XX. 1 p. 483. 21 Darin war ihm bereits Campistron vorangegangen, der nur die Namen des Appius, Clau(o)dius und Icilius beibehielt, sonst neue fingierte. 22 Nölting irrt also, wenn er (p. 14) meint, ihre Erfindung gehöre ganz Lessing an.

234

Zu den Quellen der Emilia Galotti.

che Seite treten. Als neu und Lessings ureigenste Schöpfung tritt endlich noch die Gräfin Orsina hinzu. Auch für die weitere Gestaltung der Handlung im einzelnen sind Campistrons Neuerungen fast durchgängig benutzt. Die feindliche Gesinnung des Clodius gegen Icilius bleibt in Marinellis Verhältnis zu Appiani bestehen. Die Entführung Virginias aus dem Tempel in das Haus des Appius23 kehrt wieder bei Emilia, die auf dem Wege zur Hochzeit durch Räuber überfallen und auf das Lustschloss des Prinzen entführt wird: Dort ist Clodius, hier Marinelli der Anstifter. Nur den letzten Zug, dass Appius der Virginia seine Hand anbietet, konnte Lessing nicht brauchen. Hier griff er auf Montiano zurück, der nur von einer Liebeserklärung des Appius gelegentlich der öffentlichen Feier der Palilien etwas weiss. Ein Nachklang davon ist die Liebeserklärung Gonzagas an »heiliger Stätte«.24 Soweit die äussere Fabel. Tritt danach Montiano gegen Campistron zurück, so werden wir sofort das Gegenteil bemerken, wenn wir uns jetzt – und hier liegt Lessings, wie überhaupt des dramatischen Dichters, eigentliche Aufgabe – zur Betrachtung der inneren Fabel, d.  h. der Entwicklung der Handlung aus den Charakteren wenden. b) Die Charaktere. Das Schicksal einer Tochter, die von ihrem Vater getötet wird, um sie vor Schande zu bewahren, sollte die ganze Seele erschüttern. Damit ergab sich ein neues Problem. War in den alten Quellen und damit auch für Montiano und Campistron das Motiv gegeben, weshalb Virginia getötet wird, – sie soll dem entehrenden Lose der Sklaverei entgehen – so mussten hier neue Motive gefunden werden, um den Tochtermord von Seiten des Vaters begreiflich zu machen. Lessing suchte dieser Aufgabe dadurch zu genügen, dass er einen Vater schuf, der die Tochter in gutherzigster Übereilung, da seine und der Seinen Ehre ihm bedroht scheint, tötet; eine Tochter, die den Tod verlangt, weil ein ferneres Leben ihr Seelenheil gefährden würde. Um zu diesem neuen Ziele hinzutreiben, mussten die überlieferten Charaktere eine gehörige Umänderung und Vertiefung erfahren, und es entsteht für uns die Frage, wie weit nach dieser Richtung hin die Dramatisierung bereits vorgearbeitet hatte. Von Campistron war wenig zu brauchen. Seine Charaktere sind oberflächlich gehalten, ohne Blut und Leben. Nur einmal geht eine tiefere Regung durch Icilius, der seinem Freigelassenen erklärt, dass er auch seine Liebe der Sklavin Virginia gegenüber nicht aufgeben werde.25 Dieser Zug erinnert an den Grafen Appiani, der, über Standesvorurteile sich hinwegsetzend, seine Braut in den bürgerlichen Kreisen sucht und mit aller Entschiedenheit gegen Marinellis hämische Bemerkungen seine Wahl vertritt.26 Wesentlicher ist das oben bereits gestreifte Motiv, welches Campistron in die Fabel brachte, indem er dem Clodius eine feindliche Gesinnung gegen Icilius andichtete. 23 Auch Dionys. bereits (c. 28) deutet Helfershelfer des Claudius an. 24 Doch vergl. auch die ital. Novelle bei E. Schmidt a. a. O. p. 236. 25 p. 27. 26 E. G. II. 10.

235

Lothar Volkmann

Der Grund, der ihn bewog den Clodius als neiderfüllt einzuführen, war, wie wir sahen, ein ziemlich äusserlicher: der Hörige sollte ein selbständig handelnder Cavalier werden. Lessing musste ihm folgen, da auch sein Marinelli für das Bubenstück verantwortlich werden sollte. Indem aber Campistron das ursprüngliche Verhältnis auflöste, beseitigte er auch ein wichtiges Moment, welches in dem historischen Bericht gegeben war: den Zwang , unter welchem der Hörige als minister decemviri handelt, und der ja selbst den Virginius zur Annahme mildernder Umstände bewegt.27 Lessing konnte dies Moment nicht entbehren, denn »die Sitten der tragischen Personen sollen gut sein«, so lehrt sein Aristoteles,28 und der böse Intriguant kann nur Gnade finden und erträglich werden, wenn er unter dem Zwange der Notwendigkeit handelt.29 Deshalb schuf er durch Fortbildung des Feindschaftsmotivs den absoluten Bösewicht, wie ihn Campistron zeichnet, in einen Teufel aus Notwehr um. »Ich weiss wohl, sagt der Prinz dass Sie, Marinelli, ihn (sc. Appiani) nicht leiden können, ebenso wenig, als er Sie«30 – natürlich! die beiden entgegengesetzten Naturen, der feile, augendienerische Höfling und der grade aufrichtige Edelmann, der Odoardos rauhe Tugend entzückt, müssen einander abstossen. Aber thätlich geht Marinelli doch erst gegen seinen Feind vor, als dieser ihn in der eignen Existenz zu bedrohen scheint. Für ihn ist die Gnade seines Fürsten alles, – und dieser Fürst ist nicht blind gegen Appianis Tugenden, sondern wünscht ihn sich zu verbinden! Das darf nicht geschehen, und daher ergreift Marinelli begierig die Gelegenheit ihn zu entfernen. Weiter geht vorläufig sein Plan nicht. Ist jener in fürstlichem Auftrage entfernt, dann ist er selbst wieder der alleinige Günstling seines Herrn, dem er zugleich durch die Verzögerung von Appianis Heirat einen ganz besonderen Dienst erwiesen hat. Freilich trifft er gleich – denn die Zeit ist ängstlich kurz bemessen! – für den äussersten Fall seine Vorkehrungen, ja er würde sogar, käme es ohne weiteres dazu, auch so vor seinem feigen Gewissen die Entschuldigung haben: Appiani ist selbst schuld, warum benutzte er den Weg nicht, den ich ihm zu seiner Rettung gezeigt habe! Immerhin aber – und das ist wichtig – scheut Marinelli vor dem Äussersten zurück, und die hämisch drohenden Worte: nur Geduld Graf, nur Geduld!31 – mit denen er sich zum Morde entschlossen zeigt, spricht er erst, als ihm nach seiner Überzeugung keine Wahl mehr bleibt. Nach dem Besuch bei Appiani32 steht sein eigenes Leben in Gefahr durch den Ehrenhandel, der ihm mit Appiani droht. Er ist zu feig, um ihn auf ehrenhafte Weise zu lösen, also mag alles seinen Weg gehen! Appiani muss fallen. 27 Liv. III. 48, 10. 28 cfr. H. D. 83. Stück. 29 Mit Recht hat dies unter Hinweis auf Arist. poetik. 25. §. 19 aus dem Tadel, der den Menelaos in Euripides’ Orest trifft, gefolgert. Arnold: Lessings E. G. in ihrem Verhältnis zur Poetik des Aristoteles und zur Hamb. Dramaturgie. Chemnitz Progr. 1880. p. 16. 18. (cfr. poet. 15,5 ed. Susemihl mit Anmerkung 194.) 30 E. G. I. 6. 31 II, 10 Ende. 32 Der Tod Appianis sowie die nur moralische Bestrafung der beiden Schuldigen sind Lessing eigentümliche Weiterbildungen der äusseren Fabel.

236

Zu den Quellen der Emilia Galotti.

So ist Marinelli, wenigstens in weit höherem Grade als Clodius, ein Bösewicht aus Zwang und seinem Urbilde wieder näher getreten. Auch äusserlich zeigt sich das; denn während Clodius ganz konsequent schliesslich mit beseitigt wird, bleibt Marinelli am Leben; die Strafe, die ihm zu teil wird, ist eine moralische.33 Damit können wir Abschied nehmen von Campistron. Seine oberflächlichen Charaktere konnten dem Dichter der Emilia keine Anregung mehr geben. In um so höherem Grade hat dies Montiano gethan; das oben angeführte harte Urteil, erklärlich aus der feindlichen Stellung des Dramaturgen gegen die französische Regelmässigkeit, darf uns nicht beirren. Richten wir unser Augenmerk zunächst auf das Heldenpaar Emilia und Odoardo. Was die erstere betrifft, so gilt es vorher Stellung zu nehmen. K. Fischer rühmt es als einen feinen Zug des Dichters, dass er Emilien als ein jungfräuliches Kind nur in so wenig Scenen, in keinem einzigen Monolog, auftreten lasse. »In ihrem Gemüt ist nichts verborgen, was sich nur in einem Selbstgespräche offenbaren liesse.«34 Diese Auffassung richtet sich gegen alle Diejenigen, welche den Grund zu der tragischen Lösung in der Liebe oder Neigung Emilias zum Prinzen suchen. Es ist hier nicht der Ort auf diese verwickelte und viel erörterte Frage35 des näheren einzugehen; mein Standpunkt geht in kurzem dahin, dass man K. Fischer beistimmen muss, wenn anders man in Emilia Galotti die gelungene Probe auf das in der Dramaturgie aufgestellte Exempel erblickt und festhalten will. Lessing hätte sich einen schweren Verstoss zu schulden kommen lassen gegen seine Forderung, dass wir auf der Bühne die tragischen Leidenschaften aus eigener Erfahrung sehen und nicht nur von ihnen hören wollen, – hätte er eine liebende Emilia nicht auch verliebt handelnd eingeführt.36 Geben wir also zu, dass bei Emilia von Liebe zum Prinzen nicht die Rede sein kann, so ist die Ähnlichkeit mit Montianos Virginia unverkennlich. Wir finden sie dort zunächst im Gespräch mit ihrer Amme Publicia, der sie ihre Furcht und ihre Besorgnis gegenüber der von Appius drohenden Gefahr ausspricht. »Nicht zwar, als ob sie sich fürchte, sich von dem Appius endlich erweichen zu lassen,37 33 Seine Strafe besteht nicht etwa nur in der Verbannung – auch diese entspricht den alten Quellen – sondern weit schwerer wiegt sein »Weh mir!« an der Leiche Emilias. Der Ausruf bekundet, dass der Mens c h in Marinelli erschüttert ist. Alles konnte er bis dahin vor seinem weiten Gewissen verantworten, selbst über den Tod Appianis sich freuen: diesen Mord aber hat er nicht vorausgesehen und nicht erwartet; sein Gewissen schmettert ihn zu Boden. Wir stellen uns damit in der bekannten schauspielerischen Frage: ob Seydelmann, ob Dawison, auch auf Seite des letzteren, vorausgesetzt, dass der Mensch, nicht nur der Höfling, der die Gnade seines Fürsten verloren hat, erschüttert zusammenbricht. 34 Lessing Reformator I. p. 258. 35 Litteratur über das Für und Wider in dieser Frage hat zusammengestellt Rohleder: Lessings E. G. als Lectüre für Prima. Stargard Progr. 1881. p. 13. 36 H. D. p. 98. (Hempel). p. 294. Die Stellen in der Tragödie selbst, aus denen man eine Leidenschaft hat folgern wollen, sind erörtert von K. Fischer a. a. O. p. 250 sq. 209. 37 cfr. Liv. 44, 4 Appius amore ardens pretio ac spe perlicere adortus; Dionys. 48 fügt hinzu καὶ προσέπεμψεν άεί τινας τρός τάς τροφούς αύτῆς γυναῖκας, wovon wohl in Grimaldis Hause, »dem Hause der Freude«, ein Ton nachklingt. cfr. E. Schmidt a. a. O. p. 188.

237

Lothar Volkmann

nein ihr Herz ist einzig und allein mit dem, was sie dem Icilius, dem sie von ihrem Vater zur Ehe versprochen worden, schuldig ist, erfüllet und gänzlich unfähig irgend einen andern Eindruck aufzunehmen.«38 Dasselbe spricht sie noch einmal aus im II. Auftritt.39 »Sie beklagt ihr Schicksal, welches sie ihrem Vaterlande zu einem traurigen Schauspiel mache, ohne dass sie sich gleichwohl das geringste in ihrer Liebe für den Icilius in ihren Gedanken und Handlungen vorzuwerfen habe.« Weiterhin wird die »gewöhnliche Aufrichtigkeit«40 der Virginia hervorgehoben. »Sie weiss, dass sie unfähig ist irgend eine Wahrheit zu verbergen … ihr Herz kennt keine Verstellung.« Ebenso wenig kennt sie, müssen wir hier umgekehrt behaupten, Emilia Galotti. Auch was s i e äussert, geht durchweg aus ihrer innersten Empfindung hervor; dies gilt auch von ihren berüchtigten und viel angefeindeten Worten in der vorletzten Scene: – Gewalt! Gewalt! Wer kann der Gewalt nicht trotzen? Was Gewalt heisst, ist nichts; Verführung ist die wahre Gewalt. – Ich habe Blut, mein Vater, so jugendliches, so warmes Blut als eine. Auch meine Sinne sind Sinne. Ich stehe für nichts. Ich bin für nichts gut. Ich kenne das Haus der Grimaldi. Es ist das Haus der Freude. Eine Stunde da unter den Augen meiner Mutter; – und es erhob sich so mancher Tumult in meiner Seele, den die strengsten Übungen der Religion kaum in Wochen besänftigen konnten! – Die Worte sind durchaus ernst zu nehmen als der Ausbruch einer tief gequälten Seele, die an sich selbst irre geworden ist. Nur eine ganz irrtümliche Auffassung, die einen klaffenden Riss in Emilias Charakterzeichnung bringen würde, konnte zu der Erklärung gelangen, die Worte seien in beabsichtigter Berechnung gesprochen.41 38 a. a. O. p. 256. 39 a. a. O. p. 258. cfr. Liv. III. 44, 4 postquam omnia pudore saepta animadverterat. 40 a. a. O. p. 260 Ende. 41 Arnold a. a. O. p. 15. »Emilia hat ihr Liebstes und Bestes verloren. Wer will es der Unglücklichen verargen, wenn sie den Tod sucht. Dass sie in den Händen des Räubers bleiben soll, muss sie in ihrem Entschlusse bestärken. … Um d e n Va t e r z u b e s t i mm e n , d a s s e r i hr d e n D o l c h e i n h ä n d i g t o d e r m i t e i g e n e r Ha n d d i e T h a t a n i hr v o l l z i e ht , b e r ü hr t s i e d i e St e l l e , w o d e r A l t e a m e m p f i n d l i c h s t e n i s t : s i e s p r i c ht v o n Ve r f ü hr un g … Die Verführung ist nicht ernstlich gemeint, sie ist ein Vorwand, wodurch Emilia den erlösenden Tod zu finden hofft.« Diese Auffassung hat mich immer etwas stark an das Goethesche »Luderchen« erinnert; es ist übrigens leicht abzusehen, wie Arnold dazu gekommen ist. Indem er nämlich durch die vorangehende Betrachtung zu dem Resultat gelangt, dass die schönste Tragödie eine reine Schicksalstragödie ist, und dass Lessing durch Annahme der Aristotelischen Hamartie diese Auffassung teilt, so muss auch Emilia eine Schicksalstragödie sein. Und sie wäre es in der That, wenn Emilia aus dem angegebenen Motiv den Tod suchte. Das thut sie aber durchaus nicht (cfr. Baumgart, Handbuch der Poetik. Stuttgart 1887, p. 496), vielmehr kommt ihr der Todesgedanke erst im Gespräch mit ihrem Vater, und die »Furcht vor Verführung«, die sie in den Tod treibt, ist begründet in ihrem ganz eigenartig angelegten singulären Charakter, der die leidvolle Situation in einseitiger und schroffer Weise auffasst. Wir haben gewissermassen zwei Stufen zu unterscheiden: eine drangvolle Situation (sie gipfelt in Emilias Klage: »Und warum er (sc. der Graf ) tot ist! Warum?«), hervorgehend

238

Zu den Quellen der Emilia Galotti.

Begreiflich und verständlich in ihrem ganzen Umfange werden sie freilich nur bei liebevollstem und genauestem Eingehen auf Emilias Charakter. Auch dies aber liegt ausserhalb unserer Aufgabe; wir werden ihn nur soweit noch zu würdigen haben, als er beeinflusst ist von ihrem Vater, zu dem wir nunmehr übergehen. Die Parallelität von Montianos Virginius und Lessings Odoardo springt am leichtesten in die Augen. Bei ersterem äussert sich Virginia im Gespräch mit ihrer Amme über den Vater in der eingehendsten Weise. Publicia ist der Ansicht, um Virginia gegen die Nachstellungen des Decemvirs zu bewahren, sei die Gegenwart des Virginius nötig, »welcher sich auf dem Algido einzig und allein beschäftigt, seine Tapferkeit zu üben und der kleinen Entfernung von Rom ungeachtet von dem Schimpfe, den man ihm droht, nichts weiss.« Virginia giebt ihr darauf zu verstehen, dass der Gedanke, der Vater solle um das geplante Bubenstück wissen, für sie eine neue Ursache zur Furcht sei. Halten wir hier zunächst einmal die äussere Situation fest: die Gegenwart des Vaters, welche die Amme für nötig hält, wird von der Tochter nicht gewünscht. Wir finden sie auch bei Lessing: Meinungsverschiedenheit, ob Vater oder Bräutigam von dem Vorgefallenen zu benachrichtigen sei, herrscht zwischen Mutter und Tochter, nur in umgekehrtem Personenverhältnis. Als Emilia aufs tiefste erregt aus der Kirche, wo der Prinz ihr seine Liebe gestanden hat, nach Hause stürzt und endlich in den Armen der Mutter ihre Ruhe wiederfindet, da preist Claudia das Glück, dass Odoardo bereits wieder nach Sabionetta von dannen ist und von dem Ereignis nichts erfährt. Emilia hat nichts gegen der Mutter Ansicht einzuwenden; dass sie aber in ihrem Innersten nicht davon überzeugt ist, sondern, ginge es nach ihr, gewiss den Vater benachrichtigen würde, zeigt sich in ihrer Erwiderung: »Aber nicht, meine Mutter? Der Graf muss das wissen. Ihm muss ich es sagen.« Das Ergebnis lautet also hier: Die Gegenwart des Vaters und des Bräutigams wird von der Tochter gewünscht, von der Mutter verworfen. – Lessing gelangt zu dem entgegengesetzten Resultat wie Montiano: Virginia lässt sich beraten, entscheidet aber selbst; Emilia fragt vertrauend, und die Mutter entscheidet. Gegen ihren Willen hat die Tochter keinen eigenen; Frömmigkeit und Gehorsam, die beiden höchsten Tugenden, die Lessing an unverheirateten Mädchen kennt, bilden den Grundzug ihres Charakters. Ist sie also hier weit kindlicher42 geaus der Hamartie, – und ihren tragischen Ausgang, bedingt durch den daraufhin angelegten Charakter des Helden. Diese Kompositionsweise ist Lessing eigentümlich und lässt sich über E. G. hinaus rückwärts verfolgen. Sie ging meines Erachtens hervor aus dem Bemühen, zwei heterogene Dinge: eine Hamartie, die zum Schicksalsdrama treibt, (ich teile soweit die Arnoldsche Auffassung) und poetische Gerechtigkeit, d.  h. hier »Proportion zwischen Hamartema und Leiden« (cfr. Brief an Gerstenberg vom 25./II. 68. Hempel XX, 1 p. 270) zu vereinigen. Den Beweis für diese Behauptungen zu bringen durch Darlegung des Entwicklungsganges, auf welchem L. zu jener Theorie gelangte, muss ich mir vorbehalten. 42 Auch hiermit tritt Lessing den alten Quellen näher. Dionys. c. 30 giebt ihr Alter auf 15 Jahre an und erzählt (c. 28) ταύτην τὴν κόρην ἐπίγαμον ούσαν ἤδη θεασάμενος Ἂππιος Κλαύδιος . . . . άναγινώσκουσαν ἐν γραμματιστοῦ (daran erinnert Emilia, die zu ihrer Au s b i l d un g in die Stadt übersiedelt), cfr. Liv. III. 44. 6. Im Hinblick hierauf erklärt auch Montiano selbst (discurso p. 84.), dass der Charakter seiner Virginia nicht der Geschichte entspreche.

239

Lothar Volkmann

halten als bei den französischen Vorgängern, so lag schon darin für den Dichter ein Grund ihr eine Mutter zur Seite zu stellen: – der äusserlichen Vordichtung folgte Lessing aus inneren Gründen. Warum aber zeichnete er seine Emilia nach dieser Seite hin so unselbständig? – Weil er das Gegenteil erreichen will wie Montiano. Publicia rät ihrer jungen Herrin, da es nicht angehe, den Vater zu benachrichtigen, solle sie wenigstens ihren Vetter Numitor und den Bräutigam lcilius herbeirufen lassen, und sie rät dies, »damit ihre junge Gebieterin zu dem, was sich Gefährliches ereignen könnte, d u r c h i h r S t i l l s c h w e i g e n n i c h t s beitrage.«43 Emilia aber s o l l und m u s s zu dem kommenden Unheil das ihrige b e i t r a g e n . Mit einem Wort: es galt hier der theoretischen Forderung der Hamartia gerecht zu werden. Die Intrigue, welche gegen das schuldlose Mädchen gesponnen wird, durfte, wenn anders sie nach Lessings Theorie Mitleid, nicht Schrecken und Abscheu erregen sollte, nur aus eigener Veranlassung über sie hereinbrechen. Darum thut sie selbst den verhängnisvollen Schritt. Gegen ihr besseres Wissen, das sie aufs entschiedenste zur Mitteilung drängt, lässt sie sich bereden von dem Vorfall in der Kirche zu schweigen. Odoardo und Appiani, die alles hätten verhindern oder wenigstens Gegenschritte hätten thun können,44 bleiben ungewarnt; das Verderben geht seinen Lauf, und Emilia muss in die letzte tragische Situation eintreten mit der Selbstanklage, den Tod des Bräutigams verschuldet zu haben. Vor dem Zuschauer aber ist sie schuldlos, denn sie handelte recht. Hier ist schliesslich der tiefste innere Grund zu suchen, warum Lessing für seine Emilia eine Mutter braucht, sich nicht wie Montiano mit einer Amme begnügen konnte. Dem Rate der letzteren hätte Emilia nicht folgen können, ohne leichtfertig zu erscheinen; darum lässt er eine Autorität auf sie wirken, der gegenüber in entscheidungsvoller Stunde sie erklären kann und m u s s : »Nun ja, meine Mutter! Ich habe keinen Willen gegen den Ihrigen.« – Schuldlos-schuldig – das ist Aristotelische Tragik. Jedoch zu Odoardo selbst! – Virginia begründet ihre Mitteilung, dass der Gedanke, den Vater von den Plänen des Appius benachrichtigen zu sollen, für sie ein neuer Grund zur Unruhe sei. »Wenn ich erwäge«, sagt sie, »wie e i f e r s ü c h t i g mein Vater a u f s e i n e E h r e ist, mit was für Hitze er a l l e G e f a h r e n v e r a c h t e t , um den Ruhm, den er sich in Rom durch seine Tapferkeit erworben hat, zu erhalten: wie a u s s e r o r d e n t l i c h a r g w ö hn i s c h und zugleich un b e w e g l i c h er ist, und kurz, dass ich mit wenigem alles sage, wenn ich erwäge, dass er m e i n Va t e r ist, w e l c h e r m i c h a u f e r z o g e n h a t 45 und m i t d e r ä u s s e r s t e n Z ä r t l i c h ke i t l i e b t : so stellen sich tausend verwirrte Gedanken auf einmal meiner Einbildungskraft dar. Wo z u w ü r d e e r in der That n i c h t f ä h i g s e i n , wenn der Decemvir mich zu verfolgen fortführe, und er auf eine nicht allzu genaue Art oder durch einen f r e m d e n K a n a l davon Nachricht bekäme.« 43 a. a. O. p. 257. 44 Hat das Lessing dadurch hervorheben wollen, dass er den Grafen b e wa f f n e t zur Hochzeit fahren lässt!? 45 cfr. Liv. III. 44. Pater virginis L. Verginius honestum ordinem in Algido ducebat, vir exempli recti domi militiaeque. Perinde uxor institute fuerat liberique instituebantur.

240

Zu den Quellen der Emilia Galotti.

Es ist, als wäre hier mit Stichworten der ganze Charakter Odoardos bis in seine Einzelheiten vorgezeichnet. Bleiben wir zunächst bei dem Gespräch der beiden Frauen46 stehen, so betont Claudia als Grund ihres Handelns Odoardos a u s s e r o r d e n t ­ l i c h e n A r g w o hn . »Ha, du kennst deinen Vater nicht!« sagt sie zu Emilia. »In seinem Zorne hätte er den unschuldigen Gegenstand des Verbrechens mit dem Verbrecher verwechselt. In seiner Wut hätt ich ihm geschienen, das veranlasst zu haben, was ich weder verhindern, noch vorhersehen können.« Und dass diese Charakteristik47 nicht übertrieben ist, zeigen Odoardos eigene mistrauische Äusserungen. Als ihm Claudia mitteilt, dass Emilia zur Messe gegangen sei, erfolgt sofort seine Frage: Ganz allein? Und auf Claudias beruhigende Antwort »Die wenigen Schritte« – seine heftige Entgegnung: »Einer ist genug zu einem Fehltritt.«48 – Als Claudia ferner wehmütig beklagt, dass sie nun die Tochter an den Schwiegersohn verlieren solle, erwidert er: »Vermenge dein Vergnügen nicht mit ihrem Glücke. – Du möchtest meinen alten Argwohn erneuern, – dass es mehr das Geräusch und die Zerstreuung der Welt, mehr die Nähe des Hofes war als die Notwendigkeit, unserer Tochter eine anständige Erziehung zu geben, was dich bewog, hier in der Stadt mit ihr zu bleiben, – fern von einem Manne, der euch so herzlich liebt.«49 Diese herzliche Liebe tritt uns gleich in dem einfachen Zuge entgegen, dass die Frauen in der Residenz, um dem Vater über die Trennung von seiner geliebten Tochter hinweg zu helfen, ihm Emilias Bild malen lassen.50 Gleicht er so dem Virginius, der seine Tochter mit der ä u s s e r s t e n Z ä r t l i c h ke i t liebt, so ist er auch demselben Vorbilde gleich der Vater geblieben, der seine Tochter auferzog en hat. Seines Geistes ist ein gut Teil auf sie übergegangen, und von dem eitlen oberflächlichen Wesen Claudias ist nichts an ihr. Nur unter der Erziehung eines solchen Mannes ist es begreiflich, dass sich auch in Emilias Charakter ein ganz ungewöhnlicher Argwohn gegen die Verführungen der Welt festsetzen konnte. Auch aus ihren Worten tönt uns des Vaters misstrauische Welt- und Lebensauffassung entgegen. Als sie sich Vorwürfe macht in der Messe nicht andächtig gewesen zu sein, und Claudia sie zu beschwichtigen versucht: »Wir sind Menschen, Emilia. Die Gabe zu beten ist nicht immer in unserer Gewalt. Dem Himmel ist beten wollen auch beten« – da erwidert sie ohne Bedenken: »Und sündigen wollen auch sündigen.« Und als Claudia zu trösten versucht: »Das hat meine Emilia nicht wollen«, da lautet die Antwort: »Nein meine Mutter, so tief liess mich die Gnade nicht sinken. – Aber dass fremdes Laster uns wider unsern Willen zu Mitschuldig en machen kann !«51 Kehren wir zu Odoardo zurück! Wenn von Virginius gesagt wird, dass er eifersüchtig auf seine Ehre ist, unbeweglich ist und mit Hitze alle Gefahren verachtet, so 46 E. G. II. 6. 47 Vergl. auch vorher die Charakteristik im Monologe der Claudia II. 5. »Welch ein Mann! – O der rauhen Tugend! – wenn anders sie diesen Namen verdienet. – Alles scheint ihr verdächtig, alles strafbar!…« 48 II. 2. 49 II. 4. 50 Ich folge der Interpretation Rohleders a. a. O. p. 4. 51 II. 6.

241

Lothar Volkmann

entspricht dies dem Lobe, welches dem Odoardo gezollt wird. »Welch ein Mann«, sagt Appiani – »welch ein Mann, meine Emilia, Ihr Vater! Das Mu s t e r a l l e r mä nn l i c h e n Tu g e n d .«52 Dem Fürsten, dessen Ansprüchen auf Sabionetta er sich am meis­ ten widersetzt hat, scheint er ein »alter Degen, stolz und rauh, sonst bieder und gut.«53 Seine Unbeweglichkeit charakterisiert des Fürsten Wort, »alter Murrkopf«.54 Und der kühne, gefahrverachtende Krieger, »dessen Tapferkeit und Verdienst die Soldaten allzu gut kennen« (pag. 237), ist ersichtlich aus der kurzen Unterhaltung der Banditen: Pirro: Aber du hast doch keinen Anschlag auf ihn? Nimm dich in Acht. – Er ist ein Mann. Angelo: Kenne ich ihn nicht? Habe ich nicht unter ihm gedient?55 Erklärlich also, dass auch er eifersüchtig über seine und seiner Familie Ehre wacht – »das ist der Punkt, wo er am tötlichsten zu verwunden ist.« »Wie wild er schon war«, sagt Claudia, »als er nur hörte, dass der Prinz dich jüngst nicht ohne Missfallen gesehen.«56 Wie ein Alp fallt es ihm vom Herzen, dass Emilia nun bald der Hofatmosphäre, von welcher er sich nie viel Gutes versprochen hat, entrückt werden soll. – »Nun gut! – nun gut! Auch das ist so abgelaufen. – Ha! wenn ich mir einbilde – Ein Wollüstling, der bewundert, begehrt auch. Claudia, Claudia! der b l o s s e G e d a n ke setzt mich in Wut.«57 »Wozu«, können wir auch hier fragen, »w ü r d e e r i n d e r T h a t n i c h t f ä h i g s e i n «58, wenn er auf eine nicht allzu genaue Art oder durch einen fremden Kanal davon Nachricht bekäme. Und das geschieht durch die verschmähte und rachedürstende Maitresse O r s i n a 59, die in wilden Farben die Zukunft seiner Tochter ihm vormalt. Ihre nicht »allzugenau« d. h. höhnisch und versteckt andeutenden Worte, die wie ätzendes Gift in seine Seele fallen; der schreckliche Gedanke, dass Emilia vielleicht mit dem Prinzen im Bunde eine verabredete Komödie spielt, bringen ihn an die Grenze des Wahnsinns. Kaum von diesem fürchterlichen Verdacht geheilt, muss er seine Tochter an sich selbst zweifeln sehen, wird er durch ihre Worte an tötlicher Stelle getroffen, – und damit ist er zu 52 II. 7. 53 I. 4. 54 I. 5. 55 II. 3. 56 II. 6. 57 II. 4. 58 Diesen excentrischen Zug Odoardos scheint Lessing von Anfang an ganz besonders betont zu haben. Vergl. die Charakteristik in der erhaltenen Virginiascene: »Alter und wahnwitzige Träume von Rom und Ehre haben ihm das schwärmerische Gehirn verrückt.« 59 Wir setzen damit die Anregung zur Orsina bereits früh an, und es ist auch kein Grund, daran zu zweifeln, da ja diese Figur als Parallele zur Marwood dem Dichter gewissermassen bereits zur Verfügung stand. Auch E. Schmidt glaubt an eine Orsina schon für das Jahr 1758. Mit wenig Glück hat R. M. Werner, Lessings Emilia Galotti, Berlin 1882 (Bulthaupt, Dramaturgie der Klassiker, Oldenburg 1882, behauptet dasselbe), anknüpfend an eine undeutliche Angabe Nicolais, die dreiaktige Emilia o h n e Orsina zu rekonstruieren versucht. Cfr. dagegen E. Schmidt im Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Litteratur. Bd. IX. p. 64 sq.

242

Zu den Quellen der Emilia Galotti.

a l l e m fähig; in einem Augenblick der furchtbarsten Erregung und unglücklicher Übereilung geschieht die unselige That. Diese Ausführungen werden genügen, um darzuthun, dass Lessing in den beiden Hauptcharakteren Montianos Wege gewandelt sei. Weniger ist dies in den übrigen der Fall, wenngleich auch hier Einzelheiten bestimmt auf den spanischen Dichter hinweisen. Da ist zunächst der schwermütige Appiani, der mit feierlichem Ernst seinem Glücke entgegengeht. Bedeutsam wiederholt er die Worte seiner Braut: »(Perlen) bedeuten Thränen – bedeuten Thränen.« Denn, »noch einen Schritt vom Ziele«, erklärt er der aufmunternd plaudernden Claudia, »oder noch gar nicht ausgelaufen sein, ist im Grunde eins. – Alles was ich sehe, alles was ich höre, alles was ich träume, predigt mir seit gestern und ehegestern diese Wahrheit. Dieser eine Gedanke kettet sich an jeden andern, den ich haben muss und haben will. Was ist das? Ich verstehe es nicht.«60 Diesen Charakterzug, wohl geeignet, den Schatten der kommenden Ereignisse in die bangende Seele des Zuschauers vorauszuwerfen,61 dichtete zuerst Montiano seinem Icilius an. Numitor hat ihm mitgeteilt, dass alles gut stehe, dass Virginius benachrichtigt sei, und er selbst den Verschworenen, die zahlreich und tapfer seien, sich anschliessen werde. »Dieses bewirket die Hoffnung des Icilius, der sich nunmehr imstande sieht, den grössten Gefahren Trotz zu bieten. Doch ungeachtet dessen, was er sich von einer so mächtigen Verschwörung versprechen kann, wird sein Herz gleichwohl von einer heim l ichen Ahnung b eunr u h ig t, als ob ihm an diesem Tage ein besonderes Unglück bevorstehe.«62 Lessing hat diesen Zug um so bereitwilliger aufgenommen und ausgeführt, als ja sein Appiani dem tragischen Verhängnis mit zum Opfer fällt. Auch an Montianos Claudius sind noch Einzelheiten hervorzuheben. Insofern auch seinem Handeln – er wird eingeführt als L ieb l ing seines Herrn – zwingende Motive fehlen, gilt von ihm das oben Bemerkte. Sonst aber ist das Verhältnis, in das ihn Montiano zum Decemvir gestellt hat, für Lessing massgebend geworden: Claudius ist wie Marinelli ein »g rösserer Bösewicht« als sein Herr (p. 266). Der Angriff auf Virginia wird zwar noch dem historischen Bericht gemäss vom Decemvir ersonnen, aber wie Mephisto-Marinelli ist Claudius hier schon der Verführende und zu schnellem Handeln Treibende. »Es gehört gemeinen Seelen«, erklärt er, (ibid.) »sich den Regeln der Tugend zu unterwerfen. Grosse Leute und Helden sind über alles erhaben und scheuen sich für nichts, wenn ihnen das Laster gefällt.« Und weiterhin (p. 276), da er überzeugt ist, dass man keine Zeit zu verlieren habe, so dringt er in den Appius, auf das schleunigste seinen Entschluss zu fassen: »Entschliesse Dich noch heut, entschliesse Dich noch in diesem Augenblicke! Fange an, meine Treue zu beschäftigen! Bediene Dich meiner, befiehl!« Ähnlichkeit zeigen endlich beide Verführer in ihrem frivolen Urteil über das weibliche Geschlecht. Man vergleiche: 60 E. G. II. 7 u. 8. 61 Ausserdem dient er zur Exposition von Emilias Character. cfr. Baumgart a. a. O. p. 488. 62 a. a. O. p. 271.

243

Lothar Volkmann

Marinelli (I, 6. III, 6. IV, 1.). …Was Sie versäumt haben, gnädiger Herr, der Emilia Galotti zu bekennen, das bekennen Sie nun der Gräfin Appiani. Waren, die man aus der ersten Hand nicht haben kann, kauft man aus der zweiten – und solche Waren nicht selten aus der zweiten um so viel wohlfeiler. Wenn ich die Mutter recht kenne – so etwas von einer Schwiegermutter eines Prinzen zu sein, schmeichelt den meisten.63 Ha! ha! Das weiss ich ja wohl, dass keine Mutter einem Prinzen die Augen auskratzt, weil er ihre Tochter schön findet.

Claudius (p. 272). Ist sie (Virginia) nicht ein Weibsbild? … Sollten Lobsprüche, Schmeicheleien, Eitelkeit, Eigennutz, die Ehre, Dich zu ihren Füssen zu sehen, nicht fähig sein, den Eigensinn zu verführen, gesetzt auch, dass sie das Herz nicht gewinnen könnten? Sollte bei ihrem Geschlechte alles vergebens sein?

Am wenigsten ist Hettore Gonzaga wiederzuerkennen. Naturgemäss musste sein Charakter, je mehr die Schandthat dem Marinelli allein aufgebürdet werden sollte, gewinnen. So ist denn der Prinz neben Orsina und Claudia unter den Hauptfiguren die selbständigste geworden: Er ist kein Appius mehr. Nicht frevelhafte, sinnlose Begier ist es, die ihn von Anfang an dahinreisst, sondern wahre, aufrichtige Liebe, die ihm Genesung bringen soll von den Stürmen der Vergangenheit. Erst allmählich unter dem Drang der Umstände wächst sie zur alles verzehrenden, willenlosen Leidenschaft; die stufenweise Entwicklung derselben ist Lessings Meisterwerk. Nehmen seine Vorgänger die Leidenschaft des Appius bereits zur Voraussetzung, so wird hier vor unseren Augen der erste Funke in das heisse Gemüt des Prinzen geworfen, aus dem der verderbliche Brand sich entwickeln soll. Auch hier hat Lessing an fremdem Feuer sich gewärmt; mit scharfem Blick hat er die kunstvolle Eröffnung der Emilia Galotti entlehnt aus

II. Graf Essex, auf welchen wir zum Schluss noch einen kurzen Blick zu werfen haben. Zunächst finden wir bei dem spanischen ungenannten Dichter64 Elisabeth, die den Grafen Essex liebt, a l lein mit ihrem Kanzler. »Der Kanzler holt verschiedene Bittschriften, die ihm die Königin nur auf einen Tisch zu legen befiehlt; sie will sie vor Schlafengehen noch durchsehen. Der Kanzler erhebt die ausserordentliche Wachsamkeit, mit der sie ihren Reichsgeschäften obliegt; die Königin erkennt es für ihre Pflicht und beurlaubt den Kanzler. Nun ist sie a l lein und setzt sich zu den Pap ieren . Sie will sich ihres verliebten Kummers entschlagen und anständigen Sorgen überlassen. Aber das erste Papier, was sie in die Hände nimmt, ist die Bittschrif t eines Grafen Felix. – Eines Grafen ! »Muss es denn eben«, sagt sie, »von einem Grafen sein, was mir zuerst vorkömmt!« »Dieser Zug ist vortrefflich«, fügt Lessing 63 cfr. die ähnliche Wendung der ital. Novelle E. Schmidt, II. 1 p. 237. 64 Antonio Coello. E. Schmidt II., 1 p. 191. Hamb. Dram. 65. Stück.

244

Zu den Quellen der Emilia Galotti.

hinzu. »Auf einma l ist sie wie der m it ihrer g anzen S e ele b ei demj e n ig en Grafen, an den sie itzt n icht den ken wo l lte.« Ohne weiteres hat daher der Dichter diesen Zug herübergenommen. Die Eröffnungsscene der Emilia zeigt uns den Prinzen in der Morgenstunde a l lein »an einem Arbeits­tische voller Briefschaften und Papiere, deren einige er durchläuft.« »Klagen, nichts als Klagen! Bittschriften, nichts als Bitt­schriften! – Die traurigen Geschäfte; und man beneidet uns noch! – Das glaub ich; wenn wir allen helfen könnten, dann wären wir zu beneiden. – Emilia? (indem er noch eine von den Bittschriften aufschlägt, und nach dem unterschriebenen Namen sieht.) Eine Emilia? – Aber eine Emilia Bruneschi – nicht Galotti. Nicht Emilia Galotti! … Marchese Marinelli soll mich begleiten. Lasst ihn rufen … Ich kann doch nicht mehr arbeiten. – Ich war s o r u h i g , b i l d i c h m ir e in , s o r u h i g – auf e inma l muss e in e a rm e Br unesch i Em il ia heissen – we g ist meine Ru he und a l les !« Diese leicht in die Augen springende Entlehnung ist bereits öfter hervorgehoben. Aber auch der Schluss der Emilia erinnert an die Essexdramen und zwar unter diesen Umständen wohl nicht durch blossen Zufall. Gegen den Schluss des spanischen Essex sagt Elisabeth: »Aber es ist nun einmal das Schicksal der Könige, dass sie viel weniger nach ihren Empfindungen handeln können als andere.«65 Im übrigen »verflucht sie die Eilfertigkeit, mit der man ihren Befehl vollzogen und Blanca mag zittern.«66 Blanca ist die Intriguantin des Stücks. Sie entspricht im Essex des englischen Dichters Banks der Gräfin Nottingham, die sich an dem Grafen wegen verschmähter Liebe zu rächen sucht. Als Hochverräter zum Tode verurteilt, übergiebt er der Gräfin einen Ring, den er von der Königin einst erhalten und dessen Rücksendung ihm die Erfüllung eines jeden Wunsches sichert. Elisabeth wartet nur auf diesen Ring, – denn sie liebt Essex noch immer – aber die Nottingham unterschlägt ihn. Umsonst schickt die Königin, als sie davon erfährt, schleunigst Boten, um die Hinrichtung zu widerrufen; – sie kommen zu spät. »Die Königin gerät vor Schmerz ausser sich, ver b a nnt d i e a b s c h e u l i c h e No t ti n g ha m au f e w i g aus i hren Au g en und giebt allen denen, die sich als Feinde des Grafen erwiesen haben, ihren bittersten Unwillen zu erkennen.«67 Dieselbe Strafe des Intriguanten verbunden mit sentenz­artiger Äusserung des Fürsten bildet den Schluss der Emilia Galotti. Prinz (nach einigem Stillschweigen, unter welchem er den Körper mit Entsetzen und Verzweiflung betrachtet, zu Marinelli): »Hier! Heb ihn auf ! Nun? Du bedenkst dich? – Elender! – (indem er ihm den Dolch aus der Hand reisst) Nein, dein Blut soll sich mit diesem Blut nicht mischen. – G eh, d ich auf e wig zu verb erg en ! – Geh! sag ich. – Gott! Gott! – Ist es zum Ung lück so mancher n icht g enug , da ss Fürsten Menschen sind , müssen sich auch no ch Teufel in ihren Freund verstel len?« 65 H. D. Stück 67 Ende. 66 Ibid. Stück 68. 67 H. D. Stück 55.

245

Gustav Kettner Über Lessings Emilia Galotti [1893]

Bekanntlich hat Lessing in dem Briefe an Nicolai vom 21. Januar 1758, in dem er die ersten Andeutungen über den Inhalt seiner Emilia Galotti macht, das Stück »eine bürgerliche Virginia« genannt. »Er hat nämlich die Geschichte der römischen Virginia von allem dem abgesondert, was sie für den ganzen Staat interessant machte; er hat geglaubt, dass das Schicksal einer Tochter, die von ihrem Vater umgebracht wird, dem ihre Tugend werter ist als ihr Leben, für sich schon tragisch genug und fähig genug sei, die ganze Seele zu erschüttern, wenn auch gleich kein Umsturz der ganzen Staats­verfassung darauf folgte.« Lessing hegte schon damals die Überzeugung, die er neun Jahre später im 14. Stück der Hamburgischen Dramaturgie aussprach: »Die Namen von Fürsten und Helden können einem Stücke Pomp und Majestät geben, aber zur Rührung tragen sie nichts bei. Das Unglück derjenigen, deren Umstände den unsrigen am nächsten kommen, muss natürlicher Weise am tiefsten in unsere Seele dringen — — —, unsere Sympathie erfordert einen einzeln Gegenstand, und ein Staat ist ein viel zu abstrakter Begriff für unsere Empfindungen.« So hatte er schon 1754 das damals in England aufgekommene bürgerliche Trauerspiel sympathisch begrüsst1 und im Jahre darauf selbst in seiner Miss Sara Sampson den ersten Versuch in dieser Gattung gemacht. Aber wenn er in diesem Drama sich noch streng innerhalb der natürlichen Schranken derselben hielt, indem er einen Konflikt darstellte, der einfach aus den Ver­hältnissen des mo dernen Fam il ien leb ens erwächst, so unter­nahm er jetzt in der Emilia Galotti das kühne Wagnis, eine hero ische That aus R oms Vorzeit, die aufs engste mit bestimmten p o l i ti s c h en Vorauss e t zung en verknüpft ist, nur aus persönlichen und Familienmotiven abzuleiten, sie in die Gegenwart zu versetzen und aller politisch-historischen Vorbedingungen und Konsequenzen zu entkleiden. Mit der blossen Ablösung des an die Katastrophe sich schliessenden »Umsturzes der ganzen Staatsverfassung« und der Umänderung des historischen Kostümes war es natürlich nicht gethan. Der Tochtermord des Virginius ist unzweifelhaft ein ganz singuläres Ereignis. Aus unnatürlichen politischen Zuständen liess die römische Volkssage diese That wider die Natur als letzte furchtbarste Folge sich entwickeln. Die Situation, unter der sich der Mord vollzieht, enthält einen Zwang, wie er stärker nicht gedacht werden kann. Die Gewalt des Decemvirn ist eine absolute, er hat nicht bloss die rechtliche Entscheidung, gegen die keine Provokation gilt, sondern auch die Macht, um seinem Spruch unbedingt Folge zu geben: seine Liktoren scheuchen mühelos das drohende 1 In der Vorrede zu den Abhandlungen von dem weinerlichen und rührenden Lustspiel, mit denen er die Theatralische Bibliothek eröffnete (Hempel XI, 1, 189).

247

Gustav Kettner

Volk zurück und schützen ihn selbst vor jedem Versuch einer Rache; das Heer aber steht fern von der Stadt im Felde. Virginia war durch seinen Richterspruch, bei der völlig recht- und ehrlosen Stellung der Sklavin, zu der er sie verdammte, rettungslos der Willkür preisgegeben. In diese Situation ist Virginius versetzt, ein freier Römer, dem das Sklavenlos der Tochter schlimmer als der Tod erscheinen musste, der als pater familias das Recht über Leben und Tod der Kinder hatte, dazu ein harter centurio, der eben erst aus dem Kriege herbeigeeilt ist. Und in der entsetzlichen Erregung, in die ihn die Gewaltthat stürzen musste, drängt sich die Entscheidung auf wenige Minuten zusammen: nur einen Augenblick ist die Tochter noch sein, dann führt sie der Liktor fort in die Sklaverei Nur durch das Zusammentreffen von so einzigartigen Umständen wird uns der furchtbare Entschluss des Vaters verständlich. Und trotzdem bleibt der ganze Vorgang uns fremdartig. Die Ver­knüpfung der Ereignisse behält etwas Abenteuerliches, und das Handeln dieser Menschen erscheint uns sagenhaft in seiner einseitigen Leidenschaftlichkeit und wilden Härte. Und nun denke man sich dieselbe That in die moderne Zeit versetzt, in die unmittelbare Gegenwart des Dichters, in das 18. Jahrhundert mit seinen festen staatlichen Ordnungen, mit seiner Bildung und Aufklärung, seinem weichen Empfinden und seiner milden Sitte. Wenn irgendwo, so erhebt sich hier die Frage: Welches Bild der Welt stand vor Lessings Seele, wie hat er die allgemeinen Ver hä ltn isse seiner Zeit aufgefasst, wie die Verkettung der Umstände herbeigeführt, wie endlich die Menschen sich vorgestellt, um eine so ungeheure That auch noch in der G e g enwar t möglich, ja notwendig erscheinen zu lassen? 1. In dem absoluten Fürstentum, in dem die höchste Macht so oft nur zur Befriedigung der Lüste des Herrschers missbraucht war, glaubte der Dichter das Analogon zu jener Willkürherrschaft der Decemvirn zu finden. Die Kabinetsjustiz seines Prinzen von Guastalla verfährt nicht minder rücksichtslos als das öffentliche Gericht auf dem Forum. Hier wie dort muss die Form des Rechtes zum Deckmantel der brutalsten Gewalt dienen, und die Verhöhnung der Gesetze wirkt um so frecher, je sorgsamer sie äusserlich die peinlichste Gewissenhaftigkeit in der Untersuchung der Ermordung Appianis mit der schonendsten Rücksicht auf Emilia zu verbinden scheint. Und wo dies Mittel nicht ausreicht, schreckt der Prinz und sein Helfershelfer auch vor einem »kleinen Meuchelmorde« nicht zurück. Wie viel furchtbarer die dem dramatischen Konflikt zu Grunde liegende Tragik der Verhältnisse durch diese Umwandlung wirken musste, liegt auf der Hand. Keine zeitliche Ferne milderte die harte Wirklichkeit dieses Bildes. Durch den Gegensatz zu der hoch­entwickelten Kultur der Zeit, ihren glatten Lebensformen, ihrer gefälligen Sitte, ihrer Gefühlsschwelgerei und künstlerischen Bildung – Eigenschaften, auf die das Drama überall hindeutete – musste die ungebändigt daneben lauernde rohe Gewalttätigkeit und wilde Sinnlichkeit um so grauenhafter sich abheben. – Und kein tröstender Ausblick eröffnet sich uns aus dieser entsetzlichen Gegenwart. An Stelle der ausserordentl ichen Amtsgewalt, die den Decemvirn vorübergehend vom Volk verliehen war, trat hier eine feste staat­liche Ordnung. Den Sturz der Gewalthaber, der 248

Über Lessings Emilia Galotti

die frevle That sühnt und zu einer neuen besseren Zeit überleitet, hat Lessing beseitigt, und uns aus dem Drama selbst oder durch einen Hinweis auf die Zukunft trotz des tragischen Ausgangs die erhebende Gewissheit einer endlichen Befreiung schöpfen zu lassen – wie dies z.  B. Goethe im Egmont, Schiller im Don Karlos gethan haben – musste ihm bei einer Handlung, die in der Gegenwart spielt, fern liegen. Ist es Lessing gelungen, dieses Bild seiner Zeit zu überzeugender Wahrheit zu erheben? Ob es an sich richtig sei, geht uns in der Dichtung nichts an; nur darauf kommt es an, ob er die dargestellten Zustände so in sich begründet, uns so anschaulich und glaubhaft gemacht hat, dass wir den furchtbaren Zwang, mit dem sie auf das Handeln der Personen des Dramas wirken, lebendig nachfühlen können. Lessing versetzt uns in ein unbekanntes italienisches Duodezfürstentum. Es war nicht bloss die Scheu, das Leben an den kleinen deutschen Höfen mit fester Hand anzugreifen, die den Dichter »jenseits der Berge« den Schauplatz für sein Drama wählen liess. Der politische Hintergrund beginnt hier zu verschwimmen. Unwillkürlich drängt sich der Phantasie des Lesers die Erinnerung an die Fürstenhöfe der Renaissance mit ihren kunstliebenden, aber wollüstigen und grausamen Herrschern auf. In dem Lande der bravi erscheint keine Gewaltthat mehr undenkbar. – Nur in den dürftigsten Umrissen hat Lessing die Verhältnisse uns angedeutet. In seinem noch wesent­lich mit den kargen Mitteln französischer Technik komponierten Drama ist kein Raum für einen tieferen und breiteren Hintergrund. Von den allgemeinen Zuständen in Guastalla erfahren wir so gut wie nichts. Aber auch Dinge, die für das Verhalten der Hauptpersonen von unmittelbarer Bedeutung sind, wie das Haus des Kanzlers Grimaldi, bleiben völlig im Schatten. Emilias flüchtiger Hinweis auf die Eindrücke, die sie dort empfangen, Odoardos sarkastische Bemerkung über die würdigen Töchter dieses edlen Paares vermögen keine lebendige Vorstellung zu erwecken und verhallen auf der Bühne fast unbemerkt. So glauben wir nicht recht daran, dass Emilia wirklich unrettbar verloren ist, wenn sie in den getrennten Gewahrsam bei den Grimaldi gebracht wird: wir kennen weder die Macht der Verführung, die ihr dort entgegentreten wird, noch dünkt es uns wahrscheinlich, dass der Prinz das Äusserste gegen die Tochter eines angesehenen Mannes wie Odoardo wagen werde, der sich mannhaft seinen Ansprüchen auf Sabionetta widersetzen durfte. Es mag sein, dass auf die Zeitgenossen Lessings diese Seite des Dramas anders wirkte, dass bei ihnen die flüchtigen Andeutungen, die der Dichter gibt, sogleich bestimmte Anschauungen von der Willkürherrschaft und frechen Sittenlosigkeit der kleineren Höfe weckten. Aber für uns genügt diese skizzenhafte Zeichnung nicht mehr. Nichts veraltet so rasch, als die Tragik der Verhältnisse; gerade sie verlangt daher, wenn auch die Nachgeborenen noch ihren Bann empfinden sollen, die anschaulichste, lebensvollste Darstellung. Mit welcher Unmittelbarkeit der geborene Dichter die Zustände seiner Zeit uns vorzuführen vermag, sodass sie heute noch für uns zu lebendiger Gegenwart werden, zeigt Schillers Drama Kabale und Liebe, in dem er einen äusserlich verwandten Stoff offenbar unter dem Einfluss Lessings gestaltet hat. Wie ganz anders atmen wir hier die drückende Luft dieser kleinstaatlichen Tyrannei, wie fühlen wir die völlige Rechtlosigkeit des Bürgers, wie tritt uns die Korruption der höheren Kreise, die Üppigkeit und Verschwendung des Hofes, die grausame 249

Gustav Kettner

Gleichgiltigkeit gegen das Leben der Unterthanen vor Augen! Neben diesem Bilde der Zeit, dessen Farben noch heute nach hundert Jahren ihre alte Frische bewahrt haben, wie matt und verschwommen nimmt sich der Hintergrund in Lessings Drama aus! 2. Ebenso schwierig, wie die Übertragung der römischen Zustände zur Zeit des Decemvirats auf die moderne Welt, war die Aufgabe, eine Verkettung von Umständen zu erfinden, die dieselbe tragische Situation wie die des Virginius und seiner Tochter herbeiführte. Lessing hat zwar mit grossem Scharfsinn die Fabel in ihren Grundzügen der römischen Sage nachgebildet, die einzelnen Momente aber oft so künstlich verknüpft, dass dadurch seinem Drama ein ganz bestimmter Charakter aufgedrückt wird. Künstlich genug sind schon die äusseren Voraussetzungen. Es muss auffallen, dass Odoardo trotz seines leidenschaftlichen Miss­trauens gegen Stadt und Hof doch Frau und Tochter allein nach Guastalla ziehen liess, während er selbst auf Sabionetta zurückblieb, doch die Rücksicht auf die »anständige Erziehung« Emilias erklärt diesen Schritt wenigstens zum Teil. Unbegreiflich aber erscheint es, dass sie mit ihrer Mutter diese Trennung bis zum Hochzeitstage ausdehnt, dass beide erst am Mittag dieses Tages mit dem Bräutigam die Stadt verlassen wollen, um am Abend die Trauung draussen auf dem Landgute vorzunehmen. Und es ist eine merkwürdige Fügung, dass der Weg nach Sabionetta gerade an dem Lustschlosse des Prinzen vorüberführen muss. Seltsam ist es auch, dass in dem kleinen Guastalla die Verbindung Emilias mit Appiani so geheim gehalten ist, dass der Prinz, der doch den letzteren sich attachieren möchte und über die Verhältnisse Emilias sich genau unterrichtet hat, der ihre Wohnung und ihre regelmässigen Kirchgänge kennt, die erste Nachricht von der Vermählung erst am Hochzeitstage durch Marinelli erhält. In die weitere Entwicklung der Handlung lässt Lessing den Zufall in einer ans Wunderbare grenzenden Weise eingreifen, fast zu jedem Schritt, den sie vorrückt, muss sie durch ihn von aussen her den Anstoss erhalten. Zufällig muss der Prinz gerade heute früh unter den eingelaufenen Bittschriften den Namen einer Emilia Bruneschi finden, der sofort die Erinnerung an Emilia Galotti hervorruft und seine Leidenschaft aufs neue weckt. Zufällig muss ihm gerade in diesem selben Augenblicke ein Brief der Gräfin Orsina überbracht werden, in dem sie ihm eine Zusammenkunft in Dosalo vorschlägt – nur unter diesen Umständen mag er ihn ungelesen bei Seite werfen. Und zufällig muss auch gerade jetzt der Maler Conti erscheinen, der zufällig neben dem vom Prinzen bestellten Portrait der Orsina auch das der Emilia Galotti für ihren Vater gemalt hat und dem Prinzen eine Kopie des letzteren mitbringt; durch seine begeisterte Schilderung ihrer Schönheit muss er die Leidenschaft des Prinzen aufs höchste anfachen. Aber gerade jetzt, wo er im Anblick ihres Bildes versunken sie schon halb zu besitzen träumt, muss er durch einen tückischen Zufall von Marinelli hören, Emilia werde heute mit Appiani vermählt. Plötzlich von dem heissesten Verlangen nach ihrem Besitz in die völligste Hoffnungslosigkeit versetzt, greift er dann blindlings nach dem Mittel sie zu erlangen, das ihm Marinellis Plan verspricht. 250

Über Lessings Emilia Galotti

So wird der Prinz rasch durch eine wohlberechnete Reihenfolge ganz zufälliger Umstände von dem Gedanken an die Geliebte bis zu dem verhängnisvollen Entschluss geführt. Durch dieselben Mittel wird auch die tragische Verwicklung der Handlung eingeleitet. Zufällig ist Marinelli – obgleich die Hochzeit so lange geheim gehalten ist! – über alle Einzelheiten derselben aufs genaueste orientiert. Und wieder, welch glücklichunglücklicher Zufall! einer der bravi, die er zur Ausführung seines Planes dingt, muss in einem der Bedienten in Galottis Hause einen früheren Spiessgesellen besitzen, der nicht bloss jede etwa noch wünschenswerte Auskunft erteilen kann, sondern auch durch passive Unterstützung zum Gelingen des beabsichtigten Raubes der Emilia beitragen wird. Inzwischen hat der Prinz selbst Emilia in der Kirche aufgesucht. Selbst heute, am Morgen ihres Hochzeitstages, ist sie wie sonst in die Messe gegangen. Aber sie ist etwas zu spät gekommen und hat deshalb weiter vom Altar, als sie sonst pflegte, Platz genommen; dieser Zufall bietet dem Prinzen die erwünschte Gelegenheit, ihr seine Liebe zu gestehen. Als sie wieder nach Hause zurückkehrt, hat zufällig ihr Vater soeben einen raschen Besuch bei den Seinen plötzlich abgebrochen und ist, ohne seine Tochter begrüsst zu haben, wieder nach Sabionetta geeilt. Diese vorzeitige Entfernung ist für das Gelingen von Marinellis Plan wesentlich, denn hätte Odoardo die Erzählung der unmittelbar nach seinem Weggange eintretenden Emilia noch vernommen, so würde der ohnehin fast krankhaft misstrauische Mann die Seinen mit sicherem Geleit nach Sabionetta geführt haben. Sein plötzlicher Aufbruch wird notdürftig damit motiviert, dass er über die Mitteilungen seiner Gattin von den Aufmerksamkeiten, die der Prinz seiner Tochter in der Vegghia des Kanzlers Grimaldi erwiesen hat, in die heftigste Aufregung gerät und ihr »heute doch nicht gern etwas Unangenehmes sagen möchte«. Es ist aber wieder ein Zufall, dass Claudia erst heute von dieser für sie doch so wichtigen Auszeichnung ihrer Tochter ihm erzählt – Odoardo ist zornig, dass es ihm nicht sogleich gemeldet ist: hätte er es früher gewusst, er hätte sicher Emilia sofort vor dem »Wollüstling, der bewundert, der begehrt«, aus der Stadt gerettet. Wie Odoardo durch einen verhängnisvollen Zufall eine Minute vor Emilias Auftreten entfernt wird, so darf Appiani nicht früher erscheinen, als bis Emilia ihre Erzählung beendet hat, von ihrer Mutter wieder beruhigt ist und sich hat bestimmen lassen, gegen ihren Bräutigam von dem Vorgefallenen zu schweigen. Dieser Zufall kostet ihm sein Leben. Kam er einen Augenblick früher, so sah er Emilias furchtbare Erregung, sie hätte ihm mit der Mitteilung über des Prinzen Liebesgeständnis den Schlüssel in die Hand gegeben, um Marinellis geheime Absicht zu erraten, der gleich darauf ihm den überraschenden Auftrag des Prinzen überbringt, wie er geht und steht als Gesandter nach Massa abzureisen. Und endlich ist es ein verhängnisvoller Zufall, dass Claudia erst am Schluss des dadurch provozierten Wortwechsels beider dazukommt und auf ihre ängstlichen Fragen nur halbe Antworten erhält: sie hat zu wenig vernommen, um Appiani jetzt zu warnen, aber gerade genug, um später nach seiner Ermordung in Marinelli den Mörder zu ahnen. Denn ebenso wie bisher der Zufall die Ausführung des verbrecherischen Planes Schritt für Schritt begünstigte, so führt er auch seine Enthüllung herbei. 251

Gustav Kettner

Durch einen Zufall war der Brief der Orsina ungelesen geblieben, in dem sie den Prinzen um eine Zusammenkunft in Dosalo bat. Nun muss der Prinz auf Marinellis Rat gerade nach diesem Lustschlosse fahren, damit die aus dem scheinbaren Raubanfall gerettete Emilia ihn dort finde. In dem zufälligen Zusammentreffen seiner Reise mit ihrer Bitte muss die Orsina eine stillschweigende Gewährung derselben sehen. So eilt sie dorthin. Sie trifft bald nach Emilias Ankunft ein und hat natürlich rasch den Zusammenhang der Ereignisse durchschaut. Rachedrohend wendet sie sich eben zum Gehen und ruft Marinelli bereits ein wildes Lebewohl zu, da – gerade da – muss ihr Odoardo in den Weg treten. So schafft der Zufall für Marinelli ein Dilemma, an dessen Überwindung seine Künste scheitern. Er muss gleichzeitig Odoardo von dem Prinzen und Emilia fernhalten und ein Gespräch zwischen ihm und der Orsina hindern. Das erstere ist aber doch das Wichtigere, so begiebt er sich unter dem Vorwand, Odoardo erst melden zu müssen, zum Prinzen, um mit ihm die weiteren Schritte zu beraten,2 und lässt jenen mit der Orsina allein, die nun den noch ahnungslosen Vater in das Geschehene einweihen und mit dem Dolche, den sie zur Ermordung des Prinzen mitgebracht hat, bewaffnen kann. Wie hier die Peripetie durch den Zufall eingeleitet wird, so endlich auch die Katastrophe. Odoardo wankt noch in seinem Entschluss, Emilia zu töten, ihm graut vor dem Gedanken und er will deshalb vor der erbetenen Zusammenkunft mit ihr fliehen. In diesem Augenblick tritt sie herein, und er sieht in diesem zufälligen Zusammentreffen einen Wink des Himmels, der seine Hand fordert. Ja man könnte auch das letzte Moment, durch das Emilia den Zaudernden am furchtbarsten bewegt, ein halb durch den Zufall ihr dargebotenes nennen: als sie mit der Hand nach den Haaren fährt, um eine Nadel zum Selbstmord zu suchen, bekommt sie die Rose zu fassen, mit der sie sich am Morgen zur Hochzeit geschmückt hat, und der Gegensatz zwischen ihrem damaligen und ihrem jetzigen Zu­stand tritt ihr dadurch plötzlich so grell ins Bewusstsein, dass sie vollends an ihrer sittlichen Widerstandskraft verzweifelt. So wirkt der Zufall durch das ganze Stück hin als ein bedeutsamer Hebel der dramatischen Entwicklung. Es ist als ob ein Verhäng n is auf den Personen laste. Der Eindruck, den die Tragödie, von dieser Seite aufgefasst, auf uns machen muss, ist fast der eines S ch ick sa lsdrama s . Selbstverständlich hat Lessing es verstanden, dem Spiel des Zufalls den Schein des Mö g l ichen, meist auch des Wa hrschein l ichen zu wahren – auch der Dichter des Schicksalsdramas wird ja das Walten übernatürlicher Mächte uns menschlich begreiflich zu machen suchen. Aber so wenig auffällig und anstössig das Eintreten der einzelnen Momente an sich ist, so verblüffend wirkt die Fo l g erichtig keit, mit der das eine an das andere sich reiht und zu geschlossener Wirkung sich verbindet. Wie im Schicksalsdrama handelt es sich auch stets um ganz un b e d e ut en d e 2 Wenn Erich Schmidt, Lessing II, 1, 207 meint, Marinelli hätte nur einem Diener klingeln sollen, um Odoardo zu melden, so beachtet er nicht, dass die Meldung doch nur ein Vorwand ist, und dass Marinelli alles darauf ankommen muss, mit dem Prinzen vor dem Zusammentreffen mit Odoardo, das seinen ganzen Plan jetzt noch zu vereiteln droht, persönlich die weiteren Massregeln zu beraten und ihn zu instruieren.

252

Über Lessings Emilia Galotti

und äusserl iche Umstände, durch deren Komb ination eine folgenschwere Wirkung herbeigeführt wird. Alle die hier verwandten Motive finden wir z.  B. in der Braut von Messina, dem klassischen Muster der Gattung, wieder. Hier wie dort gewinnt das S c hwe i g en aus unbedeutendem Anlass eine ungeahnte Bedeutung: ein Wort zu rechter Zeit gesprochen – und alles wäre anders gekommen! Aber mehr noch als in Schillers Drama überwuchert die re in zeitl iche Verknüpf ung der Umstände den inneren Kausalnexus. Bald müssen die äusseren Anlässe, durch die ein Affekt erweckt und entwickelt werden soll, mit wunderbarer Zweckmässigkeit sich gegenseitig aufnehmen und steigern, bald wieder muss mit abgepasster Genauigkeit der eine eben den Schauplatz verlassen haben, ehe der andere eintritt, wenn nicht die ganze Handlung sich auflösen soll, bald endlich ist es gerade das pünktliche Zusammentreffen der Personen, auf das alles ankommt. Von einer Minute früher oder später hängt oft die ganze Verwicklung oder Lösung ab. Es sind Motive des Lustspiels, die Lessing hier auf das ernste Drama übertrug. In der Welt der Komödie mag man mit Behagen das Spiel des Zufalls verfolgen, wenn er aus kleinen Ursachen grosse Wirkungen hervorlockt und neckisch uns das Miss­ ver­hältnis zwischen dem Wollen und Vollbringen, zwischen kluger Überlegung und Gelingen empfinden lässt – denn schliesslich ist es ja doch das Rechte und Gute, das aus diesen Irrungen hervorgeht. Aber in der Tragödie ist der Eindruck ein bänglicher, ja peinlicher. Wir fühlen uns bedrückt, wenn von der verhängnisvollen Macht des Ungefähr der Untergang des Helden abhängt. Fast scheint es, als ob der Dichter in der Willkür, mit der scheinbar der Zufall mit dem Menschen und seinem Schicksal spielt, uns einen höheren Zusammenhang ahnen lassen wollte. An einer bedeutsamen Stelle des Dramas, gerade da, wo mit dem Auftreten der Orsina die Peripetie einsetzt, lässt er durch sie eine Deutung des Zufalles geben, die uns von den Lippen des Halbwahnsinnigen feierlich schaurig wie eine Offenbarung entgegenklingt: Worüber lach’ ich denn gleich? Ach ja wohl! Über den Zufall! dass ich dem Prinzen schreibe, er soll nach Dosalo kommen; dass der Prinz meinen Brief nicht liest, und dass er doch nach Dosalo kommt. Ha! Ha! Ha! Wahrlich ein sonderbarer Zufall! Sehr lustig, sehr närrisch! – Und Sie lachen nicht mit, Marinelli? – So lachen Sie doch! — — — — Nein, nein, lachen Sie nur nicht. – Denn sehen Sie, Marinelli (nachdenkend bis zur Rührung), was mich so herzlich lachen macht, das hat auch seine ernsthafte – sehr ernsthafte Seite. Wie alles in der Welt! – Zufall? Ein Zufall wär’ es, dass der Prinz nicht daran gedacht, mich hier zu sprechen, und mich doch hier sprechen muss? Ein Zufall? – Glauben Sie mir Marinelli: das Wort Zufall ist Gotteslästerung. Nichts unter der Sonne ist Zufall; am wenigsten das, wovon die Absicht so klar in die Augen leuchtet. – Allmächtige, allgütige Vorsicht, vergib mir, dass ich mit diesem albernen Sünder einen Zufall genannt habe, was so offenbar Dein Werk, wohl gar Dein unmittelbares Werk ist! – Kommen Sie mir, und verleiten Sie mich noch einmal zu so seinem Frevel! So lässt der Dichter die Sprecherin von dem ersten leidenschaftlichen Frohlocken über das Spiel des Zufalls sich erheben zu einer tiefsinnigen mystischen Deutung desselben. Die Form der Gebetsapostrophe, in der dieser Gedanke ausklingt, pflegt 253

Gustav Kettner

Lessing selbst in seinen theologischen Schriften anzuwenden, wenn ihn die Betrachtung an die Grenzen des Menschlichen führt und er sich gleichsam von dem unmittelbaren Gefühl des göttlichen Waltens hingerissen fühlt; mit Vorliebe spricht auch er dann von der Vorsicht3. Und wie in der Emilia Galotti ruft der Dichter in dem acht Jahre später beendeten Nathan, in dem ebenfalls der Zufall aufs mannigfachste den Gang der Handlung bestimmt, durch seinen Helden gleich zu Beginn des Dramas uns zu, dass wir unter dem Zufall gläubig das Walten der Vorsehung zu verehren haben, die noch heute in dem alltäglichsten Vorgang Wunder wirkt: Ein Wunder, dem nur möglich, der die strengsten Entschlüsse, die unbändigsten Entwürfe Der Könige, sein Spiel – wenn nicht sein Spott – Gern an den schwächsten Fäden lenkt. – Freilich das Walten des Zufalles in der Emilia Galotti will sich doch nicht recht in diese Auffassung fügen, eine finstere, dämonische Gewalt scheint ihn zu lenken; sie bahnt nicht bloss, wie Orsina meint, der Nemesis den Weg, sondern greift tief in das Gebiet des Wollens ein und verstrickt den Menschen in Schuld. Tückisch führt sie ihn in Versuchung, indem sie seine Leidenschaften reizt und stachelt. Nicht bloss in dem sinnlichen Prinzen erweckt sie die Begierde und drängt ihn zu dem frevelhaften und verhängnisvollen Entschluss, auch in der von der Welt noch unberührten, unschuldigen Emilia ruft sie die sündigen Gedanken wach, so dass sie angstvoll die Macht derselben über ihre reine Seele empfindet. Was aber das Furchtbarste ist: mit wunderbarer Schnelligkeit reiht sie an den Gedanken das Geschehen, so dass es nicht mehr als freie bewusste That in klarem Zusammenhang aus dem Wollen erwächst – nein plötzlich liegt es fertig da, als das Resultat von Umständen, über die der Mensch keine Macht hat, an die selbst die weitschauendste Überlegung nicht denken konnte. Die Schuld selbst erscheint so als ein Schicksal. Mit Entsetzen muss Emilia erkennen, wie sie durch ihr unbedachtes Schweigen gegen Appiani äusserlich die Schuld an seinem Tode trägt. Wie jemandem, der einen anderen, besonders einen ihm Nahestehenden unabsichtlich tötete, stets die Erinnerung an seine That verfolgen und ein dunkles Gefühl der Schuld selbst der ruhigsten Überlegung nie völlig weichen wird, so verlässt Emilia der Gedanke nicht mehr: »Warum der Graf tot ist! Warum!« und verbindet sich mit dem Bewusstsein der unklaren, sinnlichen Regungen, die die Zusammenkunft mit dem Prinzen in ihr geweckt hatte, für ihr strenges, sittliches Empfinden zu einer furchtbaren Selbstanklage. Wir können dies psychologisch verstehen, die Wirkung dieser Tragik ist aber doch mehr peinlich als erschütternd, weil Emilias Leiden in gar keinem Verhältniss steht zu dem, was sie gethan hat. Ein gewisses Missverhältniss zwischen Absicht und That bringt das Spiel der Umstände selbst in das Handeln des Prinzen. Indem er begehrlich die Augen zu der Braut eines anderen erhob und in Marinellis Plan willigte, ihre Vermählung noch am Hochzeitstage selbst zu hindern, indem er zugleich selbst mit verführerischen 3 Vgl. z.  B. XVII, 217 (91. 92) 215 (82). XVI, 89 (Hempel).

254

Über Lessings Emilia Galotti

Worten in der Kirche an sie herantrat, hat er eine klare Schuld auf sich geladen. Aber das Verbrechen, zu dem durch Appianis Ermordung diese Schuld sich plötzlich steigert, lag nicht in seiner Absicht, er wollte ihn nur durch seine Entsendung nach Massa entfernen. Und doch, gerade hier wirkt die Verkettung der Umstände, indem sie die ganze Schwere der Schuld auf den Prinzen lädt, wahrhaft tragisch, weil sie nur dasjenige entwickelt, was implicite in dem Gedanken lag, weil das Geschehene in grauenhafter Deutlichkeit dem Schuldigen dasjenige plötzlich vor Augen stellt, was das letzte Ziel seines Begehrens war und so mit der unerbittlichen Logik der Thatsachen die Consequenzen seines Thuns zieht, die er selbst sich hätte klar machen sollen, wenn seine Oberflächlichkeit und sein Leichtsinn dazu die geistige und moralische Kraft besässe. Dieser innere schuldvolle Zusammenhang wird dann dadurch auch äusserlich klar und scharf hervorgehoben und nachträglich dem Prinzen die volle Verantwortung für das Geschehene zugeschoben, dass er – allerdings etwas rasch und psychologisch nicht genügend vermittelt – nach kurzen Vorwürfen gegen Marinelli das fait accompli hinnimmt und sich die Frucht des Verbrechens gefallen lässt. Endlich, wenn der Zufall das Gewebe des Frevels zerrissen hat, auch da noch zeigt er seine Tücke, indem er den Rächer selbst in Schuld verstrickt: er drückt dem Vater den Dolch in die Hand und führt ihm, als er vor der That fliehen will, die Tochter zu; er lässt nicht den Frevler, sondern sein Opfer untergehen. 3. Neben dem Zufall hat Lessing noch die Figur des Intriganten benutzt, um die verhängnisvolle Verkettung der Umstände herbeizuführen. Die Geschichte der Virginia gab ihm in dem Klienten des Claudius, der das Bubenstück seines Patrons vor der Welt decken muss, wohl den ersten Anstoss dazu. Die französische Tragödie bot ihm für den confident scélérat einzelne kraftvoll ausgestaltete Vorbilder, so vor allen den Freigelassenen Narcisse in Racines Britannicus, der mit vollster Berechnung die Schwächen Neros so zu benutzen weiss, dass er ihn vollständig beherrscht, seine noch schlummernden bösen Neigungen weckt und besonders seine Leidenschaft zur Junie, der Geliebten des Britannicus, nährt. Aber so viele Analogien auch zwischen Narcisse und Marinelli sich nachweisen lassen, von der finsteren Grösse jenes Höflings, der mit der schonungslosen Klarheit über seine Ziele die volle Kraft des bösen Willens und das härteste Selbstgefühl verbindet, zeigt Lessings Kammerherr keine Spur; es ist zwischen ihnen derselbe Unterschied wie zwischen dem Rom der Cäsaren und dem kleinen weltverlorenen oberitalischen Fürstenhof. Indem Lessing den Charakter des Intriganten diesen kleineren Dimensionen entsprechend zuschnitt, hat er ihn unwillkürlich oder mit Bewusstsein dem faiseur der Komödie angenähert, der heute noch im Intrigenlustspiel unsterblich fortlebt – man denke etwa an den Lord Bolingbroke in Scribe’s Verre d’eau. Lessings Marinelli zeigt, wenn man ihm den Kammerherrnfrack auszieht, eine bedenkliche Ähnlichkeit mit dem verschmitzten Sklaven des Plautus und Terenz, der seinem leichtfertigen jungen Herrn bei allen liederlichen Streichen getreulich beisteht, in allen Verlegenheiten Auskunft weiss, den gestrengen Alten ihn prellen hilft und auch zur Not sich in die Prügel zu schicken weiss, die er dafür hinnehmen muss. Wie dieser ist Marinelli eine Bedientennatur durch und durch; unermüdlich ist er für 255

Gustav Kettner

seinen Herrn auf den Beinen, allen Launen passt er sich an, für alle Wünsche weiss er Rat – und statt der Prügel, steckt er mit ebensolchem Gleichmut die Grobheiten des Prinzen und den Hohn der Orsina ein. Aber wenn jener zwar ein recht weites Gewissen hat, indessen doch eine gewisse Gutmütigkeit nicht verleugnet, so hat Marinelli gar kein Gewissen, ja anscheinend überhaupt kein Herz. Er ist nicht eigentlich böse, wie jene scélérats Racines, denn das Böse setzt doch immer ein ethisches Bewusstsein voraus, er ist einfach schlecht, in seiner Seele scheint die Vorstellung des Sittlichen überhaupt gar nicht vorhanden zu sein. Er geht so völlig in seiner Rolle als Helfershelfer auf, dass er auf eine eigene persönliche Existenz fast verzichtet zu haben scheint – nur eine gelegentliche Regung kleinlicher Rachsucht verrät uns, dass er doch auch ein menschliches Fühlen besitzt. Sonst ist er nur Maschine, nur dazu da, die Fäden, die der Zufall knüpfte, geschickt oder ungeschickt zu verwickeln. Er ist es, der die Leidenschaft des Prinzen mit grausamem Raffinement zu dem frevelhaften Entschluss treibt, indem er ihn erst alle Qualen des ewigen Verzichtes auf die Geliebte durchkosten lässt und ihm dann plötzlich die Möglichkeit wenigstens eines Aufschubes des Verlustes eröffnet. Er ist es, unter dessen Händen aus dem scheinbar harmlosen Plan, Appiani von seiner Braut zu trennen, die Ermordung des Bräutigams hervorgeht. Er weiss nach der That in dem Prinzen alle Gewissensbisse zu ersticken und ihn zu bewegen, dass er das Geschehene gut heisst, er weiss ihn endlich für den Anschlag zu gewinnen, Emilia unter dem Scheine der gerichtlichen Untersuchung zurückzubehalten. Aber, so bedeutsam er in die Handlung einzugreifen scheint, es ist schliesslich, wie wir sahen, doch nicht seine plumpe Menschenhand, die das Schicksal der Personen bestimmt, eine höhere Macht nimmt ihm die Fäden, die er zu verschlingen suchte, aus der Hand und webt sie weiter. Sein Plan, so klug ausgesonnen er ist, würde ohne Odoardo’s eiligen Weggang, ohne Emilias und Appianis verhängnisvolles Schweigen unfehlbar scheitern, dreimal ist es also der Zufall, der seine Macht über allen Menschenwitz bekundet. Und so erscheint denn Marinelli in der Peripetie des Dramas gewissermassen als die dupe des Schicksals, wenn er in der Scene mit Odoardo und Orsina, die der Zufall rechtzeitig zusammenführte, nicht mehr aus noch ein weiss und endlich den Vater mit der rachsüchtigen Geliebten des Prinzen allein zurücklassen muss, nachdem er ihr unmittelbar vorher erst durch seine, wie er meinte, gefahrlose Mitteilung über den Raubanfall und Emilias Anwesenheit im Schlosse den Schlüssel zu der ganzen Intrigue selbst in die Hand gegeben hat. Und in die Katastrophe Emilias, durch die sie alle Netze zerreisst, wird auch er mit hineingezogen; gerade der Plan, der seine Stellung beim Prinzen festigen sollte, muss ihn stürzen; wie er für andere gesündigt hat, muss er nun als Sündenbock die Schuld anderer auf sich nehmen. Das ist die Ironie des Schicksals. Ähnlich wie Lessing in dem Zufall ein Lustspielmotiv zu tragischer Bedeutung erhob, hat er auch die Figur des Intriganten, obwohl er sie im Gegensatz zur französischen Tragödie jeder heroischen Grösse entkleidete, doch auch in einem tieferen Sinne aufgefasst. Seine Wirksamkeit im Drama verbunden mit den absolut negativen Zügen seines Charakters, seiner kaltblütigen, feigen, listigen, tückischen Art, scheint über das Menschliche hinaus an das Teuflische zu grenzen. Besonders in seinem Verhältnis zum Prinzen tritt dies hervor; so tief auch in diesem selbst die schlimmen 256

Über Lessings Emilia Galotti

Neigungen wurzeln, Marinelli ist geradezu sein böser Engel. Es ist nicht ohne Absicht geschehen, dass der Dichter das Stück mit den Worten des Prinzen schliessen liess: »G ott, G ott ! Ist es zum Unglück so mancher nicht genug, dass Fürsten Menschen sind: müssen sich auch noch Teufel in ihren Freund verstel len?« Lange hatte sich Lessing mit dem Gedanken an einen Faust getragen. Er gedachte den Stoff in dramatischer Weise zu behandeln »einmal nach der gemeinen Fabel, dann wiederum ohne alle Teufelei, wo ein Erzbösewicht gegen einen Unschuldigen die Rolle des schwarzen Verführers vertritt.« So erzählte er selbst dem Staatsrat v. Gebler 1775 in Wien bei seiner Durchreise nach Italien. Zwei Jahre später fügte er in einem Gespräch mit dem Maler Müller in Mannheim über den zweiten menschlichen Faust noch hinzu: er sei ohne Teufel angelegt, aber »die Ereignisse sollten in ihm so sonderbar auf einander folgen, dass bei jeder Scene der Zuschauer würde genötigt sein auszurufen: das hat der Satan so gefügt.« Dieser Faust hat ihn, wie die Collectaneen zeigen, neben dem übernatürlichen, sicher schon in Hamburg beschäftigt, vielleicht geht auf ihn bereits Mendelssohns Frage am 19. November 1755: »Wo sind Sie, liebster Lessing, mit Ihrem bürg erl ichen Trauersp iele ? Ich möchte es nicht gern bei dem Namen nennen; denn ich zweifle, ob Sie ihm den Namen Faust lassen werden.« So zieht sich die Beschäftigung mit diesem Stoff die langen Jahre hindurch neben der Arbeit an der Emilia Galotti hin. Kein Wunder, wenn die tragische Entwickelung in beiden Dramen zwei gleiche Motive aufnimmt: die verhäng n is vo l le Verknüp f ung der Ereignisse und den arglistigen Verf ü hrer.4 4. In diese Welt, die ohnehin von allen Seiten den Menschen einengt und mit furchtbarem Druck auf seinem Willen lastet, hat Lessing nun Menschen hineingestellt, in deren Seelenleben die Kraft des Willens wenig entwickelt ist. So gesellt sich zu der äusseren die innere Unfreiheit. Erst dadurch, dass der Dichter aus dem tiefsten 4 Aber auch zu dem andern Faust, dem übermenschlichen, leiten von der Emilia Galotti innere Beziehungen hinüber. Aus diesem Faust veröffentlichte Lessing im 17. Litteraturbriefe vom 16. Februar 1759 die Geisterbeschwörung. Der Entwurf der Scene schliesst sich im Wesentlichen dem Puppenspiel und dem Volksbuche an. Aber während hier als der schnellste Geist derjenige anerkannt wird, der so geschwind ist, wie der Gedanke des Menschen, trägt bei Lessing der Teufel den Sieg davon, der so schnell ist, wie der Übergang vom Guten zum Bösen. Spricht sich in diesem Lessingschen Zusatz nicht die Auffassung menschlicher Schuld, die für seine Emilia Galotti charakteristisch ist, in schärfster Weise aus? Und wenn der nächstschnelle Geist schnell heisst wie »die Rache des Rächers, des Gewaltigen, des Schrecklichen, der sich allein die Rache vorbehielt, weil ihn die Rache vergnügte«, so klingt dieser Gedanke wieder in Odoardos Worten, mit denen er den Entschluss, den Prinzen zu ermorden, aufgibt: »Deine Sache, mein Sohn, deine Sache wird ein ganz anderer zu seiner machen.« Wenn endlich auf Fausts Einwand: »Schnell wäre seine Rache? Schnell? – Und ich lebe noch? Und ich sündige noch?« derselbe Geist erwidert: »Dass er dich noch sündigen lässt, ist schon Rache!« so mag dies Wort uns etwa die Stimmung erklären, welche Lessing bei dem oft getadelten Schluss seines Dramas vorschwebte, als er aus der Katastrophe den Prinzen allein äusserlich frei ausgehen liess. Vgl. auch E. Schmidt I, 369.

257

Gustav Kettner

Inneren heraus die letzte furchtbarste Notwendigkeit erschuf, hat er den Konflikt aus der nackten Thatsächlichkeit der antiken Sagendichtung heraus gehoben und damit zugleich ihn zu einem wirklich dramatischen und modernen gemacht. Alle seine Menschen stehen zunächst auffallend stark unter dem unmittelbaren Einfluss des Temperaments, der sinnlichen Triebe und der daraus hervorgehenden unwillkürlichen Stimmungen, unbewussten Empfindungen und Neigungen. So individuell verschieden sie gezeichnet sind, dieser Grundzug gibt ihnen allen eine gewisse Familien-Ähnlichkeit. Es war sicherlich eine poetische That Lessings, dass er zu einer Zeit, wo die Tragödie mit blutlosen Idealgestalten, die Komödie mit leeren Masken die Bühne erfüllten, energisch diesen Naturgrund der Charaktere zur Geltung brachte, aber bei ihm übt diese dunkle Region des Seelenlebens ein so starkes Übergewicht über das bewusste Handeln aus, dass es uns fremdartig, ja pathologisch berührt. Dass der Prinz völlig von seiner sinnlichen Natur beherrscht ist, überrascht uns nicht. Aber auch in Emilia, der Guten, der Reinen, die in fast klösterlicher Abgeschiedenheit aufgewachsen, eben erst als ein halbes Kind in die Welt getreten ist, regt sich das heisse Blut mit einer sie selbst beängstigenden Gewalt, füllt ihren Geist mit sinnlichen Vorstellungen und zieht ihr Herz, ohne dass sie sich selbst über ihre Empfindung klar wäre, von ihrem Bräutigam zu dem Prinzen. In Odoardo und Appiani, die als gefestete Charaktere uns vorgeführt werden, ist das Temperament so scharf ausgeprägt, dass der eine fast als Typus eines Cholerikers, der andere eines Melancholikers wirkt. Jener weiss es selbst aus Erfahrung nur zu gut, wie leicht sein Temperament mit ihm durchgeht; er steht daher fast fortwährend gegen sich selbst auf der Lauer – »Ruhig, alter Knabe, ruhig!« – trotzdem empfindet er seine Ohnmacht: »Nichts verächtlicher als ein brausender Jünglingskopf mit grauen Haaren! Ich hab’ es mir so oft gesagt. Und doch liess ich mich fortreissen.« Darum geht er dem Anlass, der ihm die Herrschaft über sich rauben konnte, am liebsten aus dem Wege: »Ich möchte Dir heute nicht gern etwas Unangenehmes sagen. Und ich würde, wenn ich länger bliebe. Darum, lass mich! Lass mich!« – Appiani wird von den trüben Stimmungen, die ihm selbst ein Rätsel sind und seine Umgebung ängstigen, selbst am Hochzeitstage verfolgt, kaum Emilias harmlose Heiterkeit vermag ihn einen Augenblick seiner Schwermut zu entreissen. Bei solcher Anlage der Charaktere hat der Zufall ein leichtes Spiel und gewinnt unverhältnismässige Bedeutung: schon der leiseste äussere Anstoss genügt, um die Leidenschaft zu wecken. Ihr Ausbruch bereitet sich vor in einem den Personen selbst noch unklaren Zustande der Erregung, gegen den sie eben deshalb, weil er zunächst noch ganz unbestimmt ist, machtlos sind. Der Prinz empfindet, seit er Emilia gesehen, eine ihm ganz fremde Unruhe. Sie hat ihn am Tage der Handlung getrieben, »früh Tag zu machen.« Aber »der Morgen ist so schön«, und »er bildet sich ein, so ruhig zu sein, so ruhig.« Da fällt sein Blick zufällig auf den Namen einer Emilia Bruneschi und »weg ist seine Ruhe und alles.« – In Emilias Seele hat jener Abend im Hause der Grimaldi einen »Tumult« erregt, den sie vergebens durch »die strengsten Übungen der Religion« zu besänftigen gesucht hat; selbst am Morgen ihres Hochzeitstages verfolgen sie die sündigen Gedanken bis in die Messe. Trotzdem ist diese Regung zunächst noch eine ganz unklare, fast gegenstandslose. Die oft aufgeworfene Frage, 258

Über Lessings Emilia Galotti

ob sie den Prinzen liebe, beantwortet sich, in diesem Zusammenhang betrachtet, von selbst. Daher kann sich auch Emilia, so schwer diese dunkelen Empfindungen auf ihrem Gewissen lasten, zunächst doch über ihre Bedeutung hinwegtäuschen und Appiani mit kindlichem Frohsinn empfangen. Aber auch, wo kein Keim der Leidenschaft sich entwickelt, befinden sich die Personen in einer auffallenden Reizbarkeit und inneren Erregung, die auf das harmloseste Wort, den unbedeutendsten Anlass hin aufs heftigste ausbricht. Sie haben alle etwas eigentümlich Nervöses. Selbst der ruhige, ernste Appiani ist wegen des lästigen Besuches bei dem Prinzen, zu dem er sich von seinen Freunden hat überreden lassen, aufs tiefste verstimmt und missmutig, und in diesem Zustand genügt dann ein spöttisches Wort Marinellis, um ihn sofort zu einem masslosen Ausfall zu reizen, die daran sich schliessende Herausforderung will er dann auf der Stelle (unmittelbar vor der Fahrt zur Trauung!) ausfechten. Aber, wie dies bei so nervösen Naturen gewöhnlich ist, der schnellen Erregbarkeit entspricht im allgemeinen keineswegs die Kraf t des Impulses. Der Eindruck bleibt meist nur im Innern haften, er drängt nicht in raschem Entschluss zu lebendiger That nach aussen, es muss erst ein neuer Anlass oder ein fremder Wille bestimmend hinzutreten; oder, wo in momentaner Erregung, fast besinnungslos, ein Entschluss gefasst ist, da wird er nicht festgehalten und durchgeführt. So erhalten alle Personen etwas Unselbständiges und Schwankendes. Der Prinz hat Emilia schon vor Wochen bei den Grimaldi gesehen. Wie tief der Eindruck war, den er empfangen hat, bezeugt jedes seiner Worte, die Orsina ist seitdem völlig vergessen. Aber die ganze Zeit her hat er nichts gethan, um der Geliebten näher zu kommen, bis dann ein Tag genügt, durch eine Reihe von zufälligen Anstössen den Entschluss, sie zu besitzen, zu zeitigen. Aehnlich trägt Emilia die Eindrücke jener Vegghia mit sich herum, ohne einen Ausweg aus ihren inneren Wirrnissen zu finden; sie schweigt vor dem Bräutigam wie vor der Mutter, und als sie endlich nach der neuen Begegnung mit dem Prinzen in der Kirche halb wahnsinnig vor Aufregung der letzteren das Vorgefallene beichtet, genügt ein Wort derselben, sie zum Schweigen gegen ihren Bräutigam zu bestimmen. Bei den entschlosseneren Naturen, wie Odoardo und Orsina, hängt die Ausführung des Entschlusses nicht von ihnen, sondern von äusseren Umständen ab; so rasch sie ihn fassten, so plötzlich lassen sie ihn auch wieder fallen: die innere Konsequenz, die das Wollen erst zum Willen erhebt, fehlt ihnen durchaus. Ja, man hat fast das Gefühl, als ob sie sich um die That gleichsam herumzudrücken suchten. Orsina ist nach Dosalo geeilt, um den Prinzen zu ermorden. »Ich bin nur ein Weib, aber so kam ich her! Fest entschlossen!« Sie sieht Odoardo und, ohne einen Versuch zu machen, den Prinzen »ein andermal« zu treffen, übergibt sie jenem mit ihrem Dolch die Rache. Odoardo geht auch, obwohl er bis jetzt erst von der Ermordung Appianis weiss, seine Tochter dagegen alsbald mit nach Sabionetta zurückzuführen hofft, in sinnloser Wut sogleich auf ihren Gedanken ein: »Sie werden von mir hören« ist sein letztes Wort zur Gräfin. Aber in der nächsten Scene sind die Rachegedanken verflogen. Als er dann von Marinelli hört, dass seine Tochter in einer Scheinhaft zurückbehalten werden soll, nimmt er den Entschluss aus anderen Motiven wieder auf: »Mir sie vorenthalten? Wer will das? wer darf das? Der hier alles darf, was 259

Gustav Kettner

er will? Gut, gut; so soll er sehen, wie viel auch ich darf, ob ich es schon nicht dürfte! Kurzsichtiger Wüterich! Mit dir will ich es wohl aufnehmen. Wer kein Gesetz achtet, ist ebenso mächtig, als wer kein Gesetz hat.« Und als in der folgenden Scene der Prinz Marinellis Andeutungen bestätigt, fährt bereits seine Hand in den Schubsack, in dem er Orsinas Dolch bewahrt. »Ich ward auch so wütend, dass ich schon nach diesem Dolche griff, um einem von beiden – beiden! – das Herz zu durchstossen«, gesteht er nachher seiner Tochter. Aber nur eines flüchtigen, schmeichelnden Wortes von Seiten des Prinzen bedarf es: »Fassen Sie sich, lieber Galotti!« – und Odoardo »zieht die Hand wieder leer heraus«! 5. So erscheint das Drama, in dem es uns den Menschen in der vollsten Abhängigkeit von äusseren und inneren Mächten zeigt, die sittliche Freiheit zu vernichten. Es scheint danach ein Zufall, ob der Mensch schuldig wird oder nicht. So sieht es denn auch Odoardo an; er preist es als ein Glück , dass Emilia ihre Unschuld in Guastalla bewahrt hat: »Gut, dass es mit dieser Stadterziehung so abgelaufen! Lass uns nicht weise sein wollen, wo wir nichts als glücklich gewesen! Gut, dass es so damit abgelaufen!« Und wenn Emilia am Morgen ihres Hochzeitstages einmal allein »die wenigen Schritte« in die Messe gegangen ist, so bangt er um sie, denn »einer ist genug zu einem Fehltritt!« Der Kampf des Menschen mit den Verführungen der Welt scheint danach ein aussichtsloser zu sein, wenigstens traut sich keine der handelnden Personen die Kraft zu diesem Kampfe zu. Die Edelsten im Drama, Odoardo und Appiani, beide zugleich ausgereifte, in sich ruhende Charaktere, sehen in der Weltflucht die einzige Rettung. Appiani will mit Emilia in die Bergeinsamkeit von Piemont; aus »dem Geräusch und der Zerstreuung der Welt und der Nähe des Hofes« zieht es ihn dahin, »wohin Unschuld und Ruhe sie rufen.« Und Odoardo »entzückt an ihm vor allem dieser Entschluss, in den väterlichen Thälern sich selbst zu leben.« Emilia aber kann, wenn die Stimme des Verführers verlockend zu ihr klingt und seine Worte sich in ihre Seele drängen, nichts anderes thun, als »ihren guten Engel bitten, sie mit Taubheit zu schlagen, und wenn auch, wenn auch für immer!« »Das bat ich, das war das einzige, was ich beten konnte.« Und wenn sie sich endlich in die Gewalt dieses Verführers gegeben sieht, da ist sie sich auch mit grausamer Klarheit ihrer inneren Ohnmacht bewusst geworden: »Was Gewalt heisst, ist nichts; Verführung ist die wahre Gewalt. Ich habe Blut, mein Vater, so jugendliches, so warmes Blut, als eine. Auch meine Sinne sind Sinne. Ich stehe f ür n ichts . Ich b in f ür n ichts g ut.« Wie sie vorher in der Angst ihres Herzens um partielle Selbstvernichtung betete, so sieht sie jetzt keine Rettung als im Tode. Aber indem Lessing so die äusserste Konsequenz aus dem strengen Determinismus zieht, den er in seinem Drama durchführte, ist er zugleich über denselben hinausgeschritten. Er zwängt den Willen des Menschen nur deshalb so eng wie möglich ein, um seine sittliche Freiheit um so unwidersprechlicher am Schluss hervortreten zu lassen. Selbst wenn die Sinnenwelt von aussen und innen mit scheinbar unwiderstehlicher Gewalt ihn überall einschloss, vermag er den Bann der Notwendigkeit doch zu durchbrechen. Ja, wenn endlich ihm jeder Ausweg im Leben versperrt scheint, so 260

Über Lessings Emilia Galotti

bleibt ihm als Letztes, um seine Freiheit siegreich zu bewähren, doch noch übrig, dies Leben selbst wegzuwerfen. Und es ist bezeichnend, dass Lessing gerade eine Emilia die ganze Tragik des Lebens ausschöpfen liess, ein einfaches Mädchen zu seiner Heldin wählte. »Die jungfräulichen Heroinen – so schreibt er am 10. Februar 1772 an seinen Bruder – sind gar nicht nach meinem Geschmack; ich kenne an einem unverheirateten Mädchen keine höhere Tugenden als Frömmigkeit und Gehorsam.« So ist hier die »furchtsamste ihres Geschlechts« in den schwersten Kampf gestellt und erscheint als die »entschlossenste« von allen. Sie, die als halbes Kind uns vorgeführt wurde, innerlich noch so unselbständig, dass sie mit ihren Gewissensbedenken dem Rat der Mutter sich fügt mit den Worten: »Nun ja, meine Mutter! Ich habe keinen Willen gegen den Ihrigen,« sie beschämt jetzt durch die Festigkeit ihres Willens den im Kampf des Lebens geprüften Mann. Denn nicht ihr Vater ist es, der die That vollbringt. Hier ist die letzte und tiefste Abweichung Lessings von seinem antiken Stoff. Emilia leitet bei ihm den völlig Gebrochenen, Fassungslosen und Willenlosen, er leiht ihrem Entschluss nur, von ihr gedrängt, die Hand. – So bewährt sie, wenn auch unterliegend, doch die unbesiegbare Freiheit des Menschen über allen äusseren und inneren Zwang und beweist die Erhabenheit seiner sittlichen Natur. Hier, wo sich die konsequente Umbildung des antiken Stoffes vollendet, überblicken wir noch einmal im Zusammenhang die Entwicklung, die er unter Lessings Hand genommen hat. Die Tragik der historischen Verhältnisse in der römischen Virginia hat Lessing dadurch zu verallgemeinern gesucht, dass er sie in die Verhältnisse seiner Zeit übersetzte. Er hat diese immerhin zeitlich bedingte und deshalb beschränkte Tragik dadurch verschärft, dass er damit eine Tragik der Umstände verknüpfte; sein Drama hat auf diese Weise etwas von der Strenge einer Schicksalstragödie erhalten, Aber indem er zugleich das Schicksal der handelnden Personen an die Gebundenheit ihres Charakters knüpfte, hat er das Drama in die Bahnen der Charaktertragödie gelenkt. Wenn er dann endlich am Schluss seine Heldin sich innerlich über das Schicksal erheben, den Tod, den sie in der Sage erleidet, aus freiem sittlichen Entschluss wählen, ja sie den Vater dazu zwingen liess, hat er dem antiken Stoff einen ganz modernen Gehalt gegeben. Die Emilia Galotti ist Lessings einzige Tragödie, denn die Miss Sara kann wesentlich nur als eine Studie gelten. Man gewinnt den Eindruck, als ob er in dieser Tragödie, an die er 14 Jahre seines Lebens, von dem Beginn seines Mannesalters an, setzte, das tragische Problem möglichst tief und umfassend zu erschöpfen suchte. 6. Die Anlage der Lessingschen Charaktere zeigt einen einheitlichen, scharf ausgeprägten Typus. Für uns haben diese Menschen mit der Unklarheit und Unsicherheit ihres Empfindens, der Unbestimmtheit und Schwäche ihres Wollens entschieden etwas Fremdartiges. Es ist keine Frage, dass in ihnen sich das Seelenleben der ganzen Zeit wiederspiegelt. Auch Lessing hat sich in seinen Gestalten nicht über den unbewussten Zusammenhang mit seinem Jahrhundert erheben können. Daneben aber scheint auf seine Auffassung des Menschen die Psychologie des grössten Philosophen der Zeit unmittelbaren Einfluss geübt zu haben. Erst 6 Jahre vor der Beendigung der Emilia 261

Gustav Kettner

Galotti, fast 60 Jahre nach Leibniz’ Tode war von Raspe das Werk veröffentlicht, in dem er seine Lehre am gründlichsten und rückhaltlosesten entwickelt hatte, die »Nouveaux essais sur l’entendement humain«. Wie tief dieses Werk auf Lessing wirkte, sieht man u.  a. daraus, dass er sich ausführliche Auszüge anzulegen und es zu übersetzen begann.5 Eindringend hatte zuerst Leibniz das unbewusste Seelenleben des Menschen untersucht; er hatte gezeigt, welche Bedeutung die kleinen und dun klen Vorstel­ lung en (perceptions petites et insensibles) für die Bildung des Charakters und die Entstehung der einzelnen Willensakte haben. Durch sie gewann er einen klaren Einblick in die zwingende Einheit des Charakters (l’Identité de l’Individû). Alle Eindrücke haben ihre Wirkung, auch wenn wir uns weder der Eindrücke selbst noch dieser Wirkung bewusst werden, ja sie meist überhaupt nicht verfolgen können, weil unser Gedächtnis die Fülle der augenblicklichen und früheren Eindrücke nicht bewahren kann. So ist unser gegenwärtiger Zustand unlöslich mit dem vergangenen und zukünftigen verknüpft, so gelangt Leibniz zu dem berühmten Satz; »qu’en conséquence de ces petites perceptions le présent est plein de l’avenir et chargé du passé«.6 Daraus ergibt sich ein unlöslicher Zusammenhang zwischen dem Charakter des Menschen und seiner Naturanlage. Mit tiefem psychologischen Verständnis weist Leibniz die Fäden auf, durch welche das bewusste Denken und Wollen mit den unbewussten Vorstellungen und den dunklen Trieben verknüpft ist. »Toutes nos actions indélibéré es sont des résultats d’un concours de petites perceptions, et même nos coutumes et pa ssions, qui ont tant d’influence dans nos délibérations, en viennent … Celui qui nieroit ces effets dans la morale, imiteroit des gens mal instruits, qui nient les corpuscules insensibles dans la physique: et cependant je vois qu’il y en a parmi ceux qui parlent de la liberté qui ne prenant pas garde à ces impressions insensibles, capables de faire pencher la balance, s’imaginent une entière indifférence dans les actions morales … J’avoue pourtant que ces impressions font pencher sans nécessiter«.7 Er verfolgt bis ins Einzelne das Spiel dieser Motive. Er erinnert an die »pensées involontaires«, die uns teils von aussen durch die Gegenstände, die unsere Sinne reizen, zugeführt werden, teils von innen durch die oft unmerklichen Wirkungen, welche frühere Eindrücke hinterliessen, die ihre Wirksamkeit fortsetzen und sich mit neuen Eindrücken verbinden. »Nous sommes p a ssif s à cet égard, et même quand on veille, des images … nous viennent comme dans les songes sans être appellées.« Er greift den deutschen Ausdruck »fliegende Gedanken« auf, um diese Vorstellungen zu bezeichnen »qui ne sont pas en notre pouvoir.« Er hebt zwar hervor, dass man 5 Hempelsche Ausgabe XVIII, 340 fg. 6 Vgl. Nouveaux Essais, Avant-propos p. 197, livre II chap. 1 § 12 p. 224. (Ich citiere nach Leibnitii opera philosophica ed. J. E. Erdmann, Berolini 1840.) 7 Nouveaux Essais, livre II chap. I § 13 p. 225. Dass diese Unterscheidung zwischen der Neigung, so oder so zu handeln, und der Notwendigkeit eine ganz künstliche ist und sich im Grunde in nichts auflöst, hebt u.  a. E. Zeller, Geschichte der Philosophie in Deutschland S. 147 scharf hervor.

262

Über Lessings Emilia Galotti

ihnen zurufen soll: »Halte là! et les arrêter pour ainsi dire«, und dass der Geist eine gewisse Übung erhalten kann, durch die Verfolgung anderer Gedankenreihen sich von ihnen abzuwenden, aber er setzt doch vorsichtig hinzu: »cela s’entend quand les impressions internes ou externes ne prévalent pas«, und betont die Unterschiede des Temperaments.8 Das Zusammentreffen mehrerer dieser kleinen, dunkeln Vorstellungen und unbewussten Regungen ruft eine unbestimmte Unruhe hervor »cette inquiétude qu’on sent sans la connoître, qui nous fait agir dans les passions aussi bien que lorsque nous paroissons les plus tranquilles«.9 In diese Unruhe, die uns treibt, ohne dass wir noch wissen was wir wollen, mischen sich neue Antriebe durch die Erinnerung und das Spiel der Einbildungskraft, die »renouvellant les attraits que ces mêmes images avoient dans ces sensations précédentes, renouvellent aussi les impulsions anciennes à proportion de la vivacité de l’imagination. Et de toutes ces impulsions résulte enfin l’effort prévalant qui fait la volonté pleine«.10 Ist es nicht, als ob mit diesen Worten uns der ganze Stufengang der Entwicklung vorgezeichnet würde, den Lessing im ersten Akte den Prinzen durchlaufen lässt? Die innere Unruhe, obwohl er »sich einbildet, so ruhig zu sein, so ruhig« hat ihn »zu früh Tag machen« lassen und ihn in eine leere Geschäftigkeit getrieben, dann wird die Erinnerung an Emilia geweckt durch den Brief der Bruneschi und endlich durch das Bild des Malers seine Phantasie erregt, sich mit ihren Reizen zu beschäftigen. In Leibniz’ halb theologischer Terminologie könnte man die Handlung der Emilia als einen »combat entre la chair et l’esprit« bezeichnen. »Ce combat n’est autre chose que l’opposition des différentes tendances qui naissent des pensées confuses et des distinctes. Les pensées confuses souvent se font sentir clairement, mais nos pensées distiuctes ne sont claires ordinairement qu’en puissance.« Daher erklärt es sich, dass »l’esprit succombe tant de fois«.11 So wie Leibniz ist Lessing Determinist: die Willensakte gehen aus der bestimmten Anlage des Charakters unter bestimmten äusseren Umständen hervor. Um die That ganz deutlich als die natürliche Folge der Individualität hervortreten zu lassen, hat Lessing sie uns sogleich bei der Exposition des Charakters als im Keime gegeben gezeigt. So wird das spätere Handeln schon bei dem ersten Auftreten in einer Art Parallelhandlung im Kleinen vorgebildet: der Prinz muss im ersten Akte in der Scene mit Rota im Rausch seiner Leidenschaft ein Todesurteil ungeprüft »recht gern« unterschreiben – uns wie diesem »geht es durch die Seele, dieses grässliche ›Recht gern!‹« – Emilia muss bei der Begegnung mit dem Prinzen in der Kirche bereits »ihren guten Engel bitten, sie mit Taubheit zu schlagen, und wenn auch auf immer« d.  h. schon hier in partieller Vernichtung die einzige Rettung sehen, und Odoardo muss bei der ersten Nachricht von des Prinzen noch ganz unverfänglicher Teilnahme

8 9 10 11

Ebda chap. 21 § 12 p. 253. Ebda § 36 p. 258 vgl. § 5 p. 248. Ebda § 39 p. 260. Ebda § 35 p. 257.

263

Gustav Kettner

für Emilia aufbrausen: »Ha wenn ich mir einbilde – Das gerade wäre der Ort, wo ich am tödlichsten zu verwunden bin! — — Der blosse Gedanke setzt mich in Wut.« Mit unbarmherzigerer Konsequenz führt Lessing diesen Determinismus durch als Leibniz selbst, der wo er auf konkrete Fälle kommt, doch der gewöhnlichen Anschauung sich anbequemt und durch allerhand Mittel und Mittelchen der Erziehung dem Zwange des Characters etwas abdingen möchte, wobei doch nur eine äussere Dressur, nur der Schein einer Änderung erreicht wird, während der Charakter im Grunde derselbe bleibt. So ergiebt sich denn für Lessing als l e t z t e Möglichkeit, um die Freiheit zu retten, nur die Selbstvernichtung, die Flucht aus der Erscheinungswelt, in der das Kausalitätsgesetz unbarmherzig waltet. In dieser eigentümlichen Lösung des Gegensatzes zwischen der Vernunft und der Sinnenwelt berührt sich seine Tragödie bereits mit der Tragik Schillers. Von Kants Dualismus und dem Studium des antiken Dramas aus12 gelangte die letztere zu einer unvergleichlich viel tieferen Erfassung der psychologischen Notwendigkeit des menschlichen Handelns und der ethischen Bedeutung unseres Schicksals, aber in dem Drama, in dem er die Konsequenzen seiner Anschauung am rücksichtslosesten zog, ist auch für ihn wie für Lessing in der Emilia »der Weisheit letzter Schluss«: »Der freie Tod nur bricht die Kette des Geschicks.«

12 Dass auch Herdersche Einflüsse auf Schillers Schicksalsbegriff wirkten, zeigt eine feinsinnige Studie von J. Imelmann im letzten Programm des Joachimsthals.

264

Johann Karl Rösler Die Handlung und Charaktere in Lessings Emilia Galotti [1897]

I. Aufzug. Die erste auftretende Person ist der Prinz. In seinen Worten offenbart er uns gleich sein Innerstes, das, erfüllt von einer tiefen Leidenschaft, sich abgestossen fühlt von den traurigen Geschäften. Er, der so vieles vermag, soll anderen helfen und sich selber weiss er keinen Rat. Es ist die Bittschrift einer Emilia Bruneschi, die ihm den Namen derjenigen nennt, um die er seine Ruhe verloren. Nun will er ausfahren, ob er am schönen Morgen für einen Augenblick Beruhigung fände im Frieden der Natur. Da kommt ein Brief von der Gräfin Orsina. Mit den Worten »meine teure Gräfin« legt er ihn ungelesen bei Seite, denn abgethan ist, was ihn auch mit dieser verbunden. Aber zu einer Ausfahrt kommt es doch nicht, denn es erscheint der Maler Conti. Dem Prinzen ist es recht, durch die Kunst auf andere Gedanken gebracht zu werden. Der Maler bringt zwei Bilder, eines, das der Prinz befohlen, — das Bild der Orsina — und ein anderes, das er nicht befohlen, — »weil es aber gesehen zu werden verdient« — ein Bild der Emilia Galotti. Der Prinz giebt dem Maler Befehl jenes Porträt mitzunehmen, einen Rahmen darum zu bestellen, dass es in der Gallerie aufgestellt werde, aber dieses will er bei sich behalten. Im Anschauen des Bildes Emilias wird der Prinz durch das Erscheinen des bestellten Höflings Marinelli gestört. Von diesem erfährt er eine Neuigkeit, die für ihn keine ist, nämlich dass die Gräfin Orsina in die Stadt gekommen sei und dann eine andere, die für den Prinzen nun wirklich eine solche ist, die aber Marinelli als nicht einmal erwähnenswert bezeichnet, die unmittelbar bevorstehende Verbindung des Grafen Appiani mit Emilia Galotti. Der Eindruck, den diese Kunde auf den Prinzen macht, ist ein erschütternder. »Retten Sie mich«, fleht der Prinz Marinelli an, der schwört von dieser Liebe des Prinzen nicht das Geringste gewusst zu haben, und Marinelli vom Prinzen aufgefordert ihm zu sagen, was er thun würde, wenn er an seiner Stelle wäre, erhält von diesem die Genehmigung im voraus zu allem, was er aus freier Hand für den Prinzen thun wird. Das erste soll sein, dass die Verbindung des Brautpaares aufgeschoben werde, indem der Graf noch heute als Gesandter nach Massa abreisen und zu diesem Zwecke zuerst vor dem Prinzen erscheinen soll. Somit hätte sich der Prinz alles eigenen Handelns begeben. Er ist allein. Da sieht er das Bild Emilias auf der Erde. Er hebt es auf. Ein Blick darauf hält ihm die eigene Unthätigkeit vor, zu der er sich selber soeben verurteilt. Er will sich nicht allein auf Marinelli verlassen, er eilt weg, Emilia zu sehen, sie zu sprechen, wo er das fromme Mädchen um diese Zeit zu finden hofft. Nichts ist im stande ihn aufzuhalten im Handeln in einer solchen Sache, die er keinem andern anvertrauen kann. — Damit schliesst der erste Aufzug. 265

Johann Karl Rösler

II. Aufzug. Odoardo kommt vom Landgute, wo er in Zurückgezogenheit lebt, zur Hochzeit seiner Tochter. Er findet Emilia nicht zu Hause, sie ist in die Messe gegangen »ganz allein«, »wenige Schritte« nur, deren nach Odoardos Aussage, die ein auffallendes Misstrauen bekundet, einer genügt zu einem Fehltritte. Nachdem die Eltern Emilias abgetreten, begegnen Pirro und Angelo einander und verhandeln über den Überfall, der verübt werden soll. Emilia bleibt länger aus, als es dem besorgten Vater recht ist, der von seinem zukünftigen Schwiegersohn über die Massen eingenommen es nicht erwarten kann, diesen aufzusuchen. Odoardo freut sich, dass seine Tochter ferne der Stadt und dem Hofe mit ihrem Manne leben soll, während die Mutter es vorzöge, wenn ihre Kinder dablieben und am höfischen Leben teilnähmen, besonders da Emilia am Hofe Eindruck gemacht hat, ein Umstand, den Odoardo in seiner Weise deutet und dessen Andeutung ihm beinahe Anlass giebt Claudia etwas Unangenehmes zu sagen. Claudia, deren leichteres, weltfreudiges Wesen sich durchaus unterscheidet von dem missvergnügten ihres Gatten, ist allein, da Emilia aus der Messe kommend ins Zimmer stürzt. Das erste Erscheinen unserer Heldin zeigt diese in höchster Aufregung. In fliegender Hast und doch bis ins Einzelnste erzählt sie von ihrer Begegnung mit dem Prinzen, von der sie ihrem Bräutigam Mitteilung machen will, wovon sie die Mutter mit geringer Mühe abbringt. Dieser wird also von allem nichts erfahren. Da tritt Appiani ein, feierlich, fremd, kalt und tiefsinnig tritt er vor seine Braut hin, die er gar nicht bemerkt, bis sie ihm wie von einer Last befreit entgegenspringt. Odoardo ist es, um den das Gespräch sich dreht, dann bringt die Erwähnung eines Geschmeides Emilia die Erinnerung an einen Traum, dessen Deutung den stets mit sich selbst beschäftigten Grafen, nachdem er kaum einige Augenblicke seiner Braut gewidmet, wieder versinken lässt in seine Traumwelt, die Welt seiner Sorgen. Er war schwach genug zu versprechen, dass er dem Prinzen ein Wort von seiner Heirat sagen werde, da kommt auch schon Marinelli mit der Einladung des Prinzen an Appiani. Zwischen diesem und dem Boten des Prinzen, die einander feind sind, kommt es zur Forderung. Das enthebt den Grafen vom Besuche beim Prinzen, wie auch vom Dienst, der von ihm verlangt wurde. Die Abfahrt des Paares soll sogleich geschehen.

III. Aufzug. Marinelli berichtet dem Prinzen den Misserfolg seiner Sendung. Er umspinnt diesen mit einem Lügengewebe — (»Und so beschied er mich auf die ersten acht Tage nach der Hochzeit«) — und zeiht ihn des Undankes, da dieser ihm vorhält nichts für ihn gethan zu haben. Marinelli hat indessen an seinem Werke drauf los gearbeitet und da der Prinz den Schuss vernimmt, überkommt ihn eine Ahnung. Marinelli giebt dem Prinzen den Plan seines Werkes an. Dieser ist überrascht, eine Bangigkeit befällt ihn, er sieht »bei alledem nicht ab« — —. Eine Maske kommt zum Schlosse. Marinelli heisst den Prinzen sich entfernen. Die Maske ist Angelo; er berichtet, dass er den Grafen selber getötet habe. Marinelli befürchtet, dass der Graf nicht sogleich tot geblieben. In eigener Sache ist ihm der augenblickliche Tod Appianis so wichtig, dass er ausruft: 266

Die Handlung und Charaktere in Lessings Emilia Galotti.

»Dieser Tod! — Was gäbe ich um die Gewissheit!« Wie Angelo von Marinelli, so wird Emilia zuerst vom Prinzen bemerkt. Er vermag es nicht ihr in diesem Augenblick gegenüber zu treten; Marinelli soll sie empfangen; er will in der Nähe bleiben, hören, wie es abläuft und kommen, wenn er sich mehr gesammelt hat. Doch auch Marinelli »will nicht der erste sein, der Emilia hier in die Augen fällt; —« er schleicht sich weg. — Von einem Diener begleitet erscheint Emilia. Sie glaubt die Ihrigen schon im Schlosse zu finden, meint wenigstens, dass sie ihr nachkommen. Da sie hierüber nichts erfährt, will sie zurückeilen. Da tritt Marinelli plötzlich herzu; auch diesem wiederholt sie ihren Willen, zu den Ihrigen zu kommen. Marinelli sucht sie zu beruhigen, der Prinz werde schon um Emilias Mutter sein und sie ihr zuführen. Nun hört erst Emilia auch, wo sie ist und gleich erscheint auch der Prinz. Von ihm hofft Emilia günstige Auskunft zu erhalten Doch auch dieser giebt ihr keine bestimmte Antwort. Er bittet sie vielmehr ihm zu folgen. Sie ringt die Hände, fällt vor ihm nieder. Da beteuert ihr der Prinz, indem er gesteht, dass sein Betragen den Morgen nicht zu rechtfertigen, höchstens zu entschuldigen gewesen sei, dass sie von ihm nichts zu befürchten habe. Er führt sie, nicht ohne Sträuben, ab. Marinelli, den der Prinz aufgefordert ihm zu folgen, bleibt. Diesem wird die Mutter gemeldet. Nach kurzem Überlegen entschliesst er sich, sie kommen zu lassen. Sie fragt den Diener nach ihrer Tochter. »Sie könnte im Schosse der Seligkeit nicht besser aufgehoben sein«, sagt Battista. Von Claudia erfährt Marinelli, dass Appiani tot ist und dass des sterbenden Grafen letztes Wort Marinellis Name gewesen sei. Claudia klagt den Prinzen an und heisst Marinelli einen Mörder. Emilia vernimmt die leidenschaftlichen Ausbrüche ihrer Mutter, sie ruft ihr und diese stürzt in das Zimmer zu ihrem Kinde, Marinelli ihr nach.

IV. Aufzug. Der Prinz tritt aus dem Zimmer, in dem er Mutter und Tochter gelassen. Nach dem, was er gesehen und gehört, will er von Marinelli »Licht haben«. Dieser stellt das Benehmen der Mutter in anderem Lichte dar, als es der Prinz gefunden, der den Tod Appianis nicht gewollt, selbst wenn es ihm das Leben gekostet hätte. Indem der ränkevolle Höfling in seiner frechen Weise alle Schuld dem Prinzen in die Schuhe schiebt und diesem zu beweisen glaubt, dass ihm am Leben Appianis noch mehr gelegen hätte, als dem Prinzen, geht dieser scheinbar auf die Ausführungen Marinellis ein, der nun glaubt Recht behalten zu haben. Da wird Orsina gemeldet. Marinelli soll sie kurz abweisen. Er wird aber mit der Gräfin nicht sobald fertig, die ihr Erscheinen mit der Thatsache begründet, dass der Prinz in Dosalo ist. Vom Prinzen selbst muss sie es nun hören, dass sie an diesem Orte und zu dieser Stunde ein ungebetener Gast sei. Sie bleibt dennoch länger und sie, die von allem Geschehenen Kunde erhalten, sagt es dem Höfling, dass der Prinz ein Mörder und er sein Spiessgeselle sei. Sie will nun gehen. Da erscheint Odoardo, der seine Frau und Tochter sucht. Marinelli lässt die beiden allein, nicht ohne Odoardo in steter Angst um seine Sicherheit eine Andeutung über den Geisteszustand der Gräfin in lügnerischer Weise gemacht zu haben. Von Orsina vernimmt Odoardo, dass Appiani tot und Emilia schlimmer als tot sei. Wovon Odoardo durch die Seinen noch keine Kunde erhalten konnte, das berichtet 267

Johann Karl Rösler

ihm nun die Gräfin. Rache zu nehmen sucht er nach einer Waffe. Da er eine solche bei sich nicht findet, nimmt er den Dolch der Orsina. — Claudia tritt auf. Von ihr erhält Odoardo die Bestätigung dessen, was Orsina über das Vorgefallene bereits mitgeteilt und zugleich beruhigende Worte über Emilias Verhalten dem Prinzen gegenüber. Odoardo entfernt die Gräfin und Claudia aus dem Schlosse. Emilia will er selber mit sich nehmen.

V. Aufzug. Der Prinz und Marinelli sehen aus dem Fenster Odoardo die Arkaden auf und abgehen. In ähnlicher Weise, wie mit Bezug auf Claudia schildert der Höfling abermals in lügnerischer Weise das Verhalten, das Odoardo dem Prinzen gegenüber bezeigen werde. Es ist ihm durchaus und nun um nichts anders als um seine eigene Sicherheit zu thun, darum will er nun erst recht vollkommen freie Hand für sein weiteres Handeln. Der Prinz unter der Last der Ereignisse überlässt sich wieder seinem Höfling, der »das Unschuldigste von der Welt« zu unternehmen verspricht. Odoardo hat die Gräfin und Claudia zum Wagen geleitet, nun will er zu seiner Tochter. Er will die Sache Appianis einem höheren Richter überlassen, auch will er nichts zu schaffen haben mit der Rache des Lasters, nur die gekränkte Tugend will er retten. Marinelli erscheint, er kündigt Odoardo an, dass Emilia nach Guastalla gebracht werden solle, als ob der Prinz ein Recht hätte darüber zu verfügen. Der Prinz will die Tochter dem Vater lassen, er möge sie mit sich nehmen, wohin er wolle. In einer Weise, die an Jago erinnert, weiss Marinelli dieser »Gnade« des Prinzen in den Weg zu treten, denn er wäre verloren, käme es dadurch an den Tag, was er, Marinelli, auf dem Gewissen hat. Vater, Mutter und Tochter müssen — wenigstens vorläufig — getrennt bleiben. Der Prinz fühlt sich als Spielball in den Händen dieses Teufels. In dieser Lage bricht er aus in die aufrichtigen Worte: O Galotti, wenn Sie mein Freund, mein Führer, mein Vater sein wollten (vgl. Mignon). Odoardo ist fast zum Entschlusse gelangt seine Tochter zu töten um ihre Ehre zu retten, da kommt ihm der Gedanke, »wenn sie es nicht wert wäre?« Und mit den Worten: »Wer sie unschuldig in diesen Abgrund gestürzt, der ziehe sie wieder heraus. Was braucht er meine Hand dazu! Fort!« will er gehen. Da kommt Emilia und Odoardo bleibt. Emilia wundert sich ihren Vater und ihn allein hier zu treffen. Sie fragt nach der Mutter und dann erst nach dem Grafen. Sie zeigt Ruhe, denn entweder sei nichts verloren, oder alles und ruhig sein können und ruhig sein müssen, komme auf eins. Nun aber sei alles verloren. Doch nennt sie nicht das, alles verloren, dass der Graf tot ist, sondern dieses, warum er tot sei. Nicht jene eine Thatsache, sondern »die ganze schreckliche Geschichte, die sie in dem nassen und wilden Auge der Mutter las,« zwingt sie alles verloren zu heissen. Und sie giebt alles verloren, weil sie sich selber schuldig weiss auch ohne einen Fehltritt begangen zu haben. Sie vor diesem zu bewahren, fleht sie den Vater an, ihr den Tod zu geben. Und wie geistesabwesend senkt dieser den Stahl ihr in die Brust. Eine Rose ist gebrochen, ehe der Sturm sie entblättert. Da erscheinen der Prinz und Marinelli. Der Prinz ist entsetzt und Marinelli steht starr vor solchem Ende seines Werkes. Odoardo will sich selbst in das Gefängnis liefern,

268

Die Handlung und Charaktere in Lessings Emilia Galotti.

den Prinzen als Richter erwarten und ihn dann vor dem höheren Richter erwarten. Der Prinz heisst Marinelli den blutigen Dolch aufheben. Dieser bedenkt sich, dann hebt er ihn auf. Der Prinz entreisst ihm den Dolch, um ihn zu durchbohren, doch hält er an. »Nein, dein Blut soll mit diesem Blute sich nicht mischen. — Geh, dich auf ewig zu verbergen! — Geh! sag ich. — Gott, Gott! — Ist es zum Unglücke so mancher nicht genug, dass Fürsten Menschen sind: müssen sich auch noch Teufel in ihren Freund verstellen?«

Die Charaktere. Der Held des Stückes ist Emilia. Von der ersten Szene bis zur letzten ist das Interesse auf sie gerichtet. Mit feinem Sinne hat der grosse Dichter das Mädchen nur in wenigen Szenen auftreten lassen und stets in bedeutenden Momenten. In Emilias Wesen verbindet sich der Liebreiz eines unschuldigen Kindes mit der Seelengrösse einer tragischen Heldin. Von ihrer Mutter hat sie den leichten frohen Sinn, von ihrem Vater die heisse Leidenschaft, den hohen Begriff von Ehre und die Vorstellung von der Macht des Bösen. Es sind die Worte eines unschuldigen Kindes, wenn Emilia sagt: »Nun ja, meine Mutter! Ich habe keinen Willen gegen den Ihrigen.« Ihr leichter, froher Sinn giebt ihr die Worte ein: »Was für ein albernes, furchtsames Ding ich bin! — Nicht, meine Mutter? — Ich hätte mich noch wohl anders dabei nehmen können und würde mir ebenso wenig vergeben haben.« Das ist ganz im Sinne der Mutter gesprochen, die an diese Worte der Tochter anknüpft: »Ich wollte dir das nicht sagen, meine Tochter, bevor dir es dein eigener gesunder Verstand sagte. Und ich wusste, er würde es dir sagen, sobald du wieder zu dir selbst gekommen. — Der Prinz ist galant. Du bist die unbedeutende Sprache der Galanterie zu wenig gewohnt. Eine Höflichkeit wird in ihr zur Empfindung, eine Schmeichelei zur Beteuerung, ein Einfall zum Wunsche, ein Wunsch zum Vorsatz. Nichts klingt in ihr wie alles, und alles ist in ihr soviel, wie nichts.« — Ihre gewaltige Leidenschaft und zugleich ihre hohe Auffassung von Ehre zeigen die Worte, mit denen Emilia den Vorfall in der Kirche berichtet. Emilia: »Was hab’ ich hören müssen! Und wo hab’ ich es hören müssen!« — Claudia: »Ich habe dich in der Kirche geglaubt.« — Emilia: »Ebenda! Was ist dem Laster Kirch’ und Altar? — Ah, meine Mutter!« (Sich ihr in die Arme werfend.) — Halten wir daneben, was Odoardo auf die Mitteilung Claudias über den Eindruck, den Emilia in der Vegghia beim Kanzler Grimaldi auf Prinzen gemacht, erwidert: »Ha! Wenn ich mir einbilde — — Das gerade wäre der Ort, wo ich am tötlichsten zu verwunden bin! — Ein Wollüstling, der bewundert, begehrt. Claudia! Claudia! Der blosse Gedanke setzt mich in Wut.« — Und nehmen wir dazu, wie Claudia die Art des Vaters Emilia schildert: »Ha, du kennst deinen Vater nicht! In seinem Zorne hätt’ er den unschuldigen Gegenstand des Verbrechens mit dem Verbrecher verwechselt. In seiner Wut hätt’ ich ihm geschienen, das veranlasst zu haben, was ich weder verhindern, noch vorhersehen können.« Die Vorstellung von der Macht des Bösen deuten beim Vater die Worte an: »Ganz allein?« Und: »Einer ist genug zu einem Fehltritte!« »Aber sie sollte nicht allein gegangen sein.« — Hören wir Emilia: »Aber das fremdes Laster uns wider unsern Willen zu Mitschuldigen machen kann.«

269

Johann Karl Rösler

— — Claudia: »Ich will hoffen, dass du deiner mächtig genug warst, ihm in Einem Blicke alle die Verachtung zu bezeigen, die er verdient.« Emilia: »Das war ich nicht, meine Mutter! Nach dem Blicke, mit dem ich ihn erkannte, hatt’ ich nicht das Herz, einen zweiten auf ihn zu richten. Ich floh —.« In der kurzen Spanne Zeit, die die Handlung in Anspruch nimmt, wird aus dem unschuldigen Kinde die tragische Heldin. Wie ging das zu? Emilia ist die Braut Appianis. Claudia behauptet, »die Liebe hätte sie zusammengebracht« und auch Odoardo glaubt, »sie hätten sich gefunden, die für einander bestimmt waren.« Ist das der Fall gewesen? Dazu stimmt wenig das Misstrauen des Vaters der Tochter gegenüber, ferner der Rat der Mutter, Emilia möge dem Bräutigam den Vorfall in der Kirche verschweigen, wie auch das Misstrauen, das Claudia Appiani bezeigt, indem sie ihn fragt: »Sollte es Sie reuen, Herr Graf, dass es das Ziel Ihrer Wünsche gewesen?« Gerade auf das Gegenteil deutet schon die Art, wie Braut und Bräutigam in ihren Reden sich einander geben. Man hat das Gefühl, als ob man sich auf wankendem Grunde befände. Der Graf so kalt, feierlich, fremd, dass Emilia die Frage kommt: »Ist dieser Tag keiner freudigern Aufwallung wert?« Die Gedanken des Grafen sind eben anderswo und Emilia ist nicht im stande diesen eine andere Richtung zu geben. Wie spricht sie vom Tage oder der Stunde, da sie einander gefunden? Kein Wort von Liebe, nur von einem Gefallen ist hier die Rede, mit dem der Graf Emilia gleichsam beehrte, und dabei müssen äussere Dinge der Erinnerung zu Hilfe kommen. »Was trug ich, wie sah ich aus, als ich Ihnen zuerst gefiel?« Zur Zeit jener Vegghia im Hause Grimaldi war Emilia schon die Braut Appiani, aber ohne mit festen Seelenbanden ihm verbunden zu sein. Wäre Emilia nicht damals schon Appianis Braut gewesen, so wäre jener Tumult in ihrer Seele, »den die strengsten Übungen der Religion kaum in Wochen besänftigen konnten«, kaum wahrscheinlich gewesen, wäre dagegen ihr Bund in der Seele begründet gewesen, so hätte ein solcher Tumult gar nicht entstehen können, denn Emilia besass die Eigenschaften, um unter solchen Umständen den Prinzen in einer gewissen Entfernung zu halten. »Sie wissen, meine Mutter, wie gerne ich Ihren besseren Einsichten mich in allem unterwerfe« und »Nun ja, meine Mutter! Ich habe keinen Willen gegen den Ihrigen«, es kommt einem vor, als müssten dies die Worte Emilias gewesen sein auch damals, als der vom Vater so begünstigte Graf, um sie angehalten. Nicht Liebe, leidenschaftliche Liebe, wie es dem Wesen Emilias entsprochen hätte, ist es, was diese an den Grafen bindet, sondern die Ehre. Als nach dem Überfall Emilia nach den Ihrigen fragt, ist es die Mutter, an die sie zuerst denkt und dann erst kommt die Frage nach dem Grafen. Dürfen wir es nicht als den Ausdruck sich steigernder Angst ansehen, wenn bei Erwähnung des Schusses Emilia ausruft: »Und das hat den Grafen oder meine Mutter getroffen«, dies um so mehr, als gleich darauf Emilia nur von ihrer Mutter spricht und des Grafen gar nicht erwähnt? »Meine Mutter ist noch in der Gefahr. — — Sie ist vielleicht tot; — und ich lebe?« Und in der nächsten Szene: »Ah gnädigster Herr! wo ist sie? Wo ist meine Mutter?« Der Prinz: »Nicht weit; hier ganz in der Nähe.« Emilia: »Gott, in welchem Zustande werde ich die eine, oder den andern vielleicht treffen!« — So ist die Frage auch berechtigt, ob eine Braut in der Stunde, wo sie ihren Bräutigam, dem sie 270

Die Handlung und Charaktere in Lessings Emilia Galotti.

sich mit aller Macht der Liebe hingegeben haben soll, durch einen gewaltsamen Tod von sich gerissen weiss, die im Angesichte einer solchen Gewaltthat sich vor keiner Gewalt fürchtet, für sich befürchten darf, was Emilia ihrem Vater andeutet? »Gewalt! Gewalt! Wer kann der Gewalt nicht trotzen? Was Gewalt heisst, ist nichts: Verführung ist die wahre Gewalt. — Ich habe Blut, mein Vater, so jugendliches, so warmes als eine. Auch meine Sinne sind Sinne. Ich stehe für nichts. Ich bin für nichts gut.« Denken wir hiebei an die Szene, wo Emilia ihrer Mutter den Vorfall in der Kirche berichtet. Claudia: »Wir sind Menschen Emilia. Die Gabe zu beten ist nicht immer in unserer Gewalt. Dem Himmel ist beten wollen auch beten.« Emilia: »Und sündigen wollen auch sündigen.« Claudia: »Das hat meine Emilia nicht wollen!« Emilia: »Nein, meine Mutter, so tief liess mich die Gnade nicht sinken. — Aber dass fremdes Laster uns wider unsern Willen zu Mitschuldigen machen kann!« Diese Worte, die Emilia ihrer Mutter und jene, die sie dem Vater sagt, stehen in einem Zusammenhang. Wir finden diesen, indem wir das Bild des Prinzen entrollen. In einer Vegghia hat der Prinz Emilia zum ersten Mal getroffen. Dann ist sie ihm nur an heiligen Stätten wieder vorgekommen. Der erste Eindruck, den Emilia auf den Prinzen machte, war ein tiefer, veredelnder. »Als ich dort liebte, war ich immer so leicht, so fröhlich, so ausgelassen. — Nun bin ich von allem das Gegenteil. — Doch nein; nein, nein! Behaglicher oder nicht behaglicher; ich bin so besser.« Was der Prinz an dem Mädchen bewundert, ist neben der schönen äussern Erscheinung ihr inneres Wesen. Für Marinelli ist Emilia »ein Mädchen ohne Vermögen und ohne Rang«, das Appiani »in ihre Schlinge zu ziehen gewusst, — mit ein wenig Larve, aber mit vielem Prunke von Tugend und Gefühl und Witz, und was weiss ich?« An Emilia denkt der Prinz, wenn er alles zusammenfassend bekennt: »Wer sich den Eindrücken, den Unschuld und Schönheit auf ihn machen, ohne weitere Rücksicht so ganz überlassen darf, — ich dächte, der wäre eher zu beneiden, als zu belachen.« — Ob sich an einer früheren Stelle die Worte des Prinzen: »Meine nahe Vermählung mit der Prinzessin von Massa will durchaus, dass ich alle dergleichen Händel fürs erste abbreche«, nur auf seine Vermählung mit der Prinzessin von Massa beziehen, ist die Frage; die Erkenntnis aber: »Mein Herz wird das Opfer eines elenden Staatsinteresse« ist ihm geworden nur durch seine Liebe zu Emilia. Und das ist eine wahre, tiefe Liebe, die keine verwerflichen Absichten zulässt. In der raschen Folge der Ereignisse wird diese Liebe zur flammenden Leidenschaft. Zuerst ist es nur der Name einer Emilia Bruneschi, die den »Fürsten« daran erinnert, dass er ein »Mensch« ist, dann sieht er Emilia Galotti selber im Bilde Contis und gleich darauf vernimmt er auch die Kunde von Marinelli, dass die Verbindung des Grafen Appiani mit Emilia heute vollzogen wird. »So bin ich verloren! — Soll will ich nicht leben«, ruft der Prinz aus überwältigt von der Leidenschaft und »Sie sehen mich einen Raub der Wellen: — Retten Sie mich, wenn Sie können«, fleht er den Höfling an. Wie der Prinz das meint, deuten die Worte an: »Ernsthaft, Marinelli, ernsthaft, oder« — und »Sie werden unverschämt.« Die ganze Schuld des Prinzen besteht darin, dass er sich in einem Augenblick der Schwäche diesem »Teufel«, dem er doch im Grunde misstraut, in die Hände giebt, und der dann auch gleich nur sein eigenes Interesse — die Ermordung Appianis — im Auge sein Werk beginnt. 271

Johann Karl Rösler

Der Prinz eilt hin, wo er das fromme Mädchen findet. An dieser »heiligen Stätte«, wo doch nach seiner früheren Aussage »das Angaffen sich weniger ziemt«, gesteht er Emilia seine Liebe. Es ist das erste Mal, dass Emilia überhaupt solche Worte zu hören bekommt. Nach dem ersten Blicke, mit dem sie den Prinzen erkannt, hat sie nicht das Herz einen zweiten auf ihn zu richten. Sie flieht. Was er dann zu ihr sprach und was sie ihm geantwortet, sie weiss von dem allem nichts mehr. »Ihre Sinne hatten sie verlassen.« Hören wir, wie der Prinz Marinelli die Begegnung darstellt. »Mit allen Schmeicheleien und Beteuerungen konnt’ ich ihr auch nicht ein Wort auspressen. Stumm und niedergeschlagen und zitternd stand sie da, wie eine Verbrecherin, die ihr Todesurteil hört. Ihre Angst steckte mich an, ich zitterte mit und schloss mit einer Bitte um Vergebung.« — Weit entfernt davon dem Prinzen in Worten oder in »Einem Blicke« Verachtung zu bezeigen, ist Emilia geflohen — als Mitschuldige. Denn bei dem, was sie gehört, hat sich in ihrer Seele etwas geregt, das sie in Angst setzt. Nicht vor dem Prinzen, vor sich selber fürchtet sich Emilia, ohne doch etwas Strafbares an sich zu finden. »Die Furcht hat ihren besondern Sinn, meine Tochter«, sagt die Mutter. Und wie Claudia in leichtfertigen Zügen ein Bild vom Prinzen entwirft, so sinkt für Emilia die Bedeutung dessen mählich herab, was sie bei sich empfunden. Darum fühlt sie sich erleichtert. Ja, bei ihrem lebhaften, leichtbeweglichen Temperament kommt sie sich mit ihrer Furcht vollends lächerlich vor. Beim Eintritt Emilias im Schlosse wagt es der Prinz nicht zugegen zu sein. Ist es sein böses Gewissen, das ihm den Mut nimmt? — Weder hat er einen Frevel begangen, noch beabsichtigt er einen solchen zu begehen. Er hat aus Schwäche gefehlt und hat um Vergebung gebeten. Er will aber kommen, wenn er sich mehr gesammelt hat. — Vielleicht mehr, als sonst bei einem Dichter sind bei Lessing die gewählten Ausdrücke zu beachten. Emilia hatte nicht das »Herz« einen zweiten Blick auf den Prinzen zu richten, und hier will der Prinz sich »sammeln«. Er will seiner Schwäche Herr werden. Durch kein Wort, durch keine Miene soll Emilia an früheres erinnert werden. Und als ob nichts geschehen wäre, so tritt der Prinz vor Emilia hin. Auch sie begegnet ihm nicht wie einem Lasterhaften, der sich mit ihr einen Frevel erlaubt hätte, eher wie einem, den sie schwach gesehen, der sich seiner Schwäche aber nicht zu schämen brauchte. An anderes, als daran die Ihrigen zu finden denkt Emilia in diesem Augenblicke nicht. Vom Prinzen hofft sie endlich die Wahrheit zu erfahren. Und da ihr die Antwort nicht sogleich wird, glaubt sie, der Prinz verhehle ihr, was geschehen, um sie zu schonen. Nicht bedeutungslos ist die wiederholte Anrede der Flehenden: »Gnädigster Herr« und »gnädiger Herr«. Es liegt darin nicht ein Ausdruck eigener Hilflosigkeit und Schutzbedürftigkeit, wohl aber etwas von Vertrauen. Dass sie unentschlossen ist dem Prinzen zu folgen, dass sie die Hände ringt, ist begreiflich bei ihrer Angst um die Ihrigen. Anders deutet ihr Zögern der Prinz. Da fällt sie vor ihm nieder mit den Worten: »Zu Ihren Füssen, gnädiger Herr.« — Gerade was er hat vermeiden wollen, das hat der Prinz nun gethan. Da fleht er in aufrichtigen Worten Emilia um Vergebung an und: »Kein Wort, kein Seufzer soll Sie beleidigen. — Nur kränke mich nicht Ihr Misstrauen. Nur zweifeln Sie keinen Augenblick an der unumschränktesten Gewalt, 272

Die Handlung und Charaktere in Lessings Emilia Galotti.

die Sie über mich haben. Nur falle Ihnen nie bei, dass Sie eines andern Schutzes gegen mich bedürfen.« — Er führt Emilia ab, nicht ohne Sträuben. »Folgen Sie uns, Marinelli«, befiehlt der Prinz. Wie anders die Sinnesart dieses Höflings ist, zeigen seine Worte: »Folgen Sie uns, — das mag heissen: folgen Sie uns nicht!« In der dramatischen Dichtung giebt es einen »Charakter«, mit dem Marinelli grosse Ähnlichkeit hat, das ist Jago in Shakespeares Othello. In frech vertraulichem Tone sprechend beginnt er mit dem Prinzen sein Spiel zu treiben. Eine abgethane Grösse ist auch für ihn die Gräfin Orsina, über die er zu spotten sich erlaubt. Dies ist das Vorspiel. Es ist bezeichnend für Marinelli, in welcher auf den Effekt berechneten Weise er dem Prinzen die Verbindung des Grafen Appiani ankündigt. Er nennt zuerst nur den Namen des Grafen und stellt dessen Verbindung als nicht viel mehr als gar nichts hin. Mit Appiani hat Marinelli seinen Spott, und schon fällt etwas auch für Emilia davon ab, bevor noch ihr Name genannt ist. Diesen soll aber der Prinz nicht erfahren, bevor er von Marinelli soweit gebracht ist, dass die Flammen der Leidenschaft über seinem Haupte zusammenschlagen. Denn es unterliegt keinem Zweifel, dass Marinelli eine genaue Kunde von der ganzen Herzensangelegenheit des Prinzen hat. Wie sucht der Höfling die beabsichtigte Wirkung hervorzubringen? Durch wegwerfende, spöttische Bemerkungen, dadurch, dass er dem Prinzen dessen Verlust recht nahe rückt, dass er den Prinzen selbst heuchlerisch höhnisch fragt: »Kennen Sie denn diese Emilia?« und dann die Stille der Trauung, den intimen Charakter der ganzen Feier schildert. Worauf es der Höfling angelegt hat, tritt ein und er bekommt freie Hand zum Handeln. Dieses kennt kein anderes Ziel als den Mord Appianis. — Von einem äussern Anlass zur Feindschaft Beider erfahren wir nichts; ihr Gegensatz ist in ihrem ganzen Wesen begründet. — Marinelli hat vom Prinzen den Auftrag erhalten, den Grafen zu ihm hinaus zu bringen. Was thut Marinelli? Er dingt Angelo zum Überfall, und dann kommt er zum Grafen mit der Botschaft. Jedes Wort Marinellis enthält eine Beschimpfung des Grafen und der Seinigen. Die ganze Verworfenheit des Höflings zeigt sich in grellem Lichte. »Nach Massa freilich mag ich mich heute nicht schicken lassen, aber zu einem Spaziergang mit Ihnen hab’ ich Zeit übrig«, sagt Appiani. Der Feigling reisst sich los und entwischt mit den Worten: »Nur Geduld, Graf, nur Geduld.« Die Mörder sind schon gedungen. Wie stellt Marinelli dem Prinzen das Ergebnis seiner Sendung dar? »Umsonst; er schlug die angetragene Ehre mit der grössten Verachtung aus. — — Als ich sah, dass weder Ernst noch Spott den Grafen bewegen konnte, seine Liebe der Ehre nachzusetzen, versucht’ ich es, ihn in Harnisch zu jagen. Ich sagte ihm Dinge, über die er sich vergass. Er stiess Beleidigungen gegen mich aus, und ich forderte Genugthuung — und forderte sie gleich auf der Stelle. — Er versetzte, dass er auf heute doch noch etwas Wichtigeres zu thun habe, als sich mit mir den Hals zu brechen. Und so beschied er mich auf die ersten acht Tage nach der Hochzeit.« Das ist Marinellis Lügenbericht und diesen weiss er so zu spicken, als ob er sein Leben für den Prinzen in die Schanze geschlagen hätte. Der Mord ist geschehen. Der Prinz soll sich seiner Beute freuen und dann erst erfahren, dass Appiani tot ist. So wird der Räuber Emilias auch als der Mörder Appianis gelten. An Marinelli wird niemand denken. Nun ist der Graf gestorben, nicht 273

Johann Karl Rösler

wie es Marinelli gewünscht hat, lautlos; er hat den Namen des Mörders noch rufen können, den Namen Marinellis. Des Bösewichtes Sicherheit ist gefährdet. Claudia kann er nicht belügen. Sie hält zwar den Prinzen für den Mörder, aber Marinelli für das Werkzeug. Was Marinelli will, ist, dass alle Welt den Prinzen für den Mörder und für das Werkzeug Angelo halten solle. Dass der Prinz dies selber befürchtet, kommt dem Höfling gerade erwünscht, dem nicht das Geringste je daran gelegen gewesen, dem Prinzen einen Dienst in Gutem oder Schlechtem zu erweisen, was doch klar und deutlich endlich aus der Antwort hervorgeht, die er dem Prinzen giebt auf dessen Worte: »Oder ich muss von Stund’ an alle Absicht auf Emilia aufgeben.« Höchst gleichgiltig entgegnet Marinelli: »Was Sie auch gemusst hätten, wenn der Graf noch lebte.« Dazu gelingt es Marinelli dem Prinzen einzureden, dass er durch seinen »Meisterstreich« es selbst verraten habe, »was er im Schilde führte.« Marinelli, der den Prinzen dahin bringt, dass er glaubt, alle Welt halte ihn für den Mörder Appianis, ist samt seinen Kreaturen bemüht, den Prinzen als den Räuber Emilias erscheinen zu lassen. So giebt Battista auf Claudias Frage nach ihrer Tochter: »Wo ist sie?« die Antwort: »O, Ihre Gnaden, sie könnte in dem Schosse der Seligkeit nicht aufgehobener sein.« Und Marinelli, der Claudia gegenüber es wagt zu lügen, wenn es ihm auch gleichgültig ist, ob sie es glaubt: »Ich war von jeher des Grafen Freund, sein vertrautester Freund«, weiss wohl, warum er es so betont: »Mit der zärtlichsten Sorgfalt ist der Prinz selbst um sie beschäftigt —.« Denn als Räuber Emilias muss der Prinz erscheinen, soll er der Mörder Appianis sein. Das genügt aber nicht. Der Prinz soll selbst eine Gewaltthat üben. Eine solche Gewaltthat weiss Marinelli schon einzuleiten. Odoardo will die Tochter mit sich nehmen. Odoardo (hitzig): »Sie soll, sie muss mit mir.« Marinelli: »O, mein Herr, — was brauchen wir uns hierüber zu ereifern? Es kann sein, dass ich mich irre, dass es nicht nötig ist, was ich für nötig halte. — Der Prinz wird es am besten zu beurteilen wissen. Der Prinz entscheide.« Dieser, dem wir es glauben dürfen, wenn er in die Worte ausbricht: »Bei Gott! Bei dem allgerechten Gott! Ich bin unschuldig an diesem Blute. — Wenn Sie mir vorhergesagt hätten, dass es dem Grafen das Leben kosten werde. — Nein, nein! und wenn es mir selbst das Leben gekostet hätte!« — ist weit entfernt davon, Emilia den Ihrigen vorenthalten zu wollen; er stellt es dem Vater frei seine Tochter zu bringen, wohin er wolle, so dass Odoardo sich gegen Marinelli wendet mit den Worten: »Nun, mein Herr!« Odoardo hat sich in dem Prinzen nicht geirrt. Da kommt Marinelli auch Odoardo gegenüber auf seine frühere Lüge zurück, indem er sich auf Claudia (!) beruft, auf die Lüge von seiner Freundschaft mit Appiani von der niemand was weiss. So fragt der Prinz: »Welche Freundschaft?« Marinelli: »Sie wissen, gnädiger Herr, wie sehr ich den Grafen liebte, wie sehr unser beider Seelen in einander verwebt schienen«. — Darauf hat der Prinz keine Worte und Odoardo nur die Frage: »Das wissen Sie Prinz?« und: »So wissen Sie es wahrlich allein.« Marinelli von Appiani zu seinem Rächer bestimmt! Die Mörder sollen entdeckt werden. Dass es geschehe, verspricht der Prinz seine kräftigste Mitwirkung, die Odoardo mit seinen heissesten Wünschen begleitet. Marinellis Ränke umschlingen den Prinzen immer enger. Es sollen nicht Räuber, es soll ein »begünstigter Nebenbuhler« gewesen sein, der den Grafen aus dem Wege geräumt. Indem nun der Prinz, der ganz in den Händen 274

Die Handlung und Charaktere in Lessings Emilia Galotti.

Marinellis ist, alles thun will, um die Mörder zu entdecken, thut er in blindem Eifer alles, was ihn selbst als diesen begünstigten Nebenbuhler erscheinen lässt. Der Prinz kennt seine Lage. Wie sehr er empfindet, dass er Marinellis Spielball ist, deuten seine Worte an: »O, Galotti, wenn Sie mein Freund, mein Führer, mein Vater sein wollten.« Die Gräfin Orsina ist eine jener Frauen, wie sie einem in der Geschichte der italienischen Fürstenhöfe der Renaissancezeit begegnen, eine Frau, die ihre ganze Macht auf den Ehrgeiz gegründet hat, einen Fürsten zu beherrschen. Ihr Geist — sie ist nach Marinellis Aussage eine Philosophin — hat den Prinzen solange an sie gefesselt, bis er bei Emilia den Zauber weiblicher Anmut empfand. Da war Orsinas Macht gebrochen. Jetzt, wo der Prinz nichts als Liebe fühlt, erscheint ihm wohl auch sein nun abgethanes Verhältnis zu Orsina im Lichte dieser, — aber eben als ein abgethanes. Orsina erfährt, dass ihr Stern gesunken. Noch einmal will sie mit dem Prinzen zusammenkommen. Ist ihre Herrschaft dahin, so soll der Prinz fallen. Sie nimmt den Dolch mit. Sie erscheint in Dosalo, wohin der Prinz, wie sie meint, auf ihren Brief hin sich begeben hat. Sie wird abgewiesen, vom Prinzen selber. Sie hat keine Gelegenheit sich selber zu rächen, so soll es ein anderer für sie thun — Odoardo. Diesem bringt sie die erste Kunde vom Tode des Grafen und dann in Ausdrücken wahnwitziger Aufregung macht sie dem Vater weitere Mitteilung über die Begegnung des Prinzen mit Emilia. Es liegt ihr daran dem Vater beizubringen, dass seine Tochter mit dem Prinzen im Einverständnis sei und dass es sich nicht handle um gewaltsame Entführung, sondern bloss um einen »kleinen Meuchelmord«. Odoardo, der seine Tochter eines Fehltrittes wohl fähig hielt, bezeichnet diese Aussage Orsinas als das, was sie ist, eine Verleumdung. Aber gerade weil Odoardo an eine gewaltsame Entführung glaubt, ist er auch gleich bereit das zu thun, was Orsina im Sinne hat. Wie schnell ist diese bereit ihm ihren Dolch in die Hand zu drücken, indem sie in trügerischer Weise ihre Sache mit der Odoardos vermengt! Wie sehr sie der dämonischen Gewalt unterliegt, zeigt sich auch darin, dass sie sich nicht scheut sich selber mit Emilia in eine Reihe »Betrogener und Verlassener« hineinzustellen und dabei doch ein gewisses Standesbewusstsein zur Schau trägt, das sie sagen lässt: »Kennen Sie mich? Ich bin die betrogene, verlassene Orsina. — Zwar vielleicht nur um Ihre Tochter verlassen. — Doch, was kann Ihre Tochter dafür?« Bis zu dem Augenblick, wo Orsina sich betrogen wähnte, mag sie auf einer gewissen Höhe gestanden haben, was wir aus den Worten des Prinzen schliessen dürfen: »Wenn ihr ein anderes Bild, das mit anderen Farben, auf einem andern Grund gemalt ist, — in meinem Herzen wieder Platz machen will; — wahrlich, ich glaube, ich wär’ es zufrieden. Als ich dort liebte, war ich immer so leicht, so fröhlich, so ausgelassen.« Doch in dem Augenblicke, wo sie beginnt auf Rache zu sinnen, sinkt sie von jener Höhe herab; indem sie zu einer »Eifersüchtigen« zu einer »vor Eifersucht Wahnwitzigen« wird, wird sie unwahr gegen sich selber und so auch gegen andere. Wäre Orsina vom Prinzen »betrogen und verlassen« worden, sie müsste sich selber rächen, um so mehr, da sie behauptet: »Ah, wenn Sie wüssten, — wenn Sie wüssten, wie überschwänglich, unbegreiflich ich von ihm beleidigt worden und noch werde: — Sie könnten, Sie würden Ihre eigene Beleidigung darüber vergessen.« Dieselbe behauptet dies, die kurz vorher in wohlberechneter kalter Weise dem Vater meldet: »Das beiher! 275

Johann Karl Rösler

Nur weiter. — Der Bräutigam ist tot, und die Braut — Ihre Tochter — schlimmer als tot.« — Orsina ist vom Prinzen nicht betrogen worden, nur ihr Ehrgeiz ist bis zu jener Grenze gewachsen, wo er nichts weiter vermag und dass sie vom Prinzen diese Schranke trennt, dass der Prinz ihr gegenüber frei ist, soll er ihr mit dem Leben bezahlen. —— Odoardo freilich erscheint die Gräfin in dem Bilde, das sie selbst von sich entworfen und gerade darum will er nun nichts zu thun haben mit der Rache des Lasters, nur die gekränkte Tugend will er retten. Ist nun Orsina vom Prinzen auch nicht verlassen und betrogen worden, so ist sie doch von ihm beleidigt worden und zwar mag es sein, dass sie »überschwenglich, unaussprechlich, unbegreiflich« beleidigt worden ist durch die Abweisung, die sie erfahren in Gegenwart eines Höflings, den sie verachtet, der in der dieser Abweisung vorausgehenden Szene das Mögliche thut Orsina dahin zu bringen, dass sie diese Beleidigung recht tief empfinde. Zwei parallele Züge zeigt die Handlung unseres Stückes. Wir hören, dass Marinelli den Grafen Appiani nicht leiden könne und werden Zeugen dessen, wie jener diesen beleidigt, ebenso hören wir, dass der Prinz seine Beziehungen zur Gräfin Orsina abgebrochen und werden Zeugen der Beleidigung, die jener dieser zufügt. Das entspricht der Forderung, wonach der dramatische Dichter über Dinge nicht (bloss) berichten, sondern dieselben vor den Augen des Zuschauers geschehen lassen soll. Wie aber Marinelli auf den Tod Appianis sinnt, bevor es noch zu jener Begegnung der beiden und zur Beleidigung kommt, so hat auch Orsina den Dolch bereit, bevor ihr die Abweisung widerfährt. Es wäre noch die Frage zu beantworten, warum Emilia stirbt? Sie verlangt nach dem Tode, weil ihr bei dem hohen Begriff, den sie von der Ehre hat, weiter zu leben unmöglich erscheint. Dass sie Appiani gemordet haben, beklagt sie, aber die Thatsache giebt ihr noch nicht den Entschluss. Als sie von seinem Tode hört, will sie fliehen aus der Nähe des Prinzen, wie sie wohl auch mit Appiani ferne vom Hof gelebt haben würde. Nun ist Flucht unmöglich. Sie soll in des Prinzen Nähe bleiben. Dass man ihr mit Gewalt nichts anhaben könne, weiss sie. Sie fürchtet sich auch nicht vor dem Prinzen, sondern vor sich selber. Sie spricht von etwas, als ob es erst später eintreten würde, und — es ist schon vorhanden. Emilia liebt den Prinzen. Das ist es, was sie den Tod suchen und finden lässt.

276

Friedrich Widder Emilia Galotti und kein Ende. [1897]

I. Die tragische Hamartie. 1. Emilia Galotti und kein Ende! Das Goethesche Wort über Shakspeare gilt auch von Lessings Tragödie: »Es ist … schon so viel gesagt, dass es scheinen möchte, als wäre nichts zu sagen übrig, und doch ist dies die Eigenschaft des Geistes, dass er den Geist ewig anregt.« Auch »hier«, sagt Erich Schmidt 1 »lernt der Darsteller, der Zuschauer, der Leser nicht aus, und seit elf Jahrzehnten wogt der Streit der Meinungen um diese Tragödie, der überreich zu Theil geworden ist, was Lessing für das Grosse verlangte: zweifelnde Bewunderung, bewundernder Zweifel«. Seit nunmehr dreizehn Jahrzehnten stellt denn auch das Verhä ltnis Emilias zu dem Prinzen Hettore G onza g a im Mittelpunkte des Streites, und »sie liebt ihn, liebt ihn nicht, liebt ihn, liebt ihn nicht, sie liebt ihn« tönt uns aus allen Erörterungen abwechselnd entgegen. Es handelt sich dabei freilich um etwas Wichtigeres als um ein litterarisches Blumenorakel. Glaubten und glauben doch viele, dass geradezu die innere Wahrscheinlichkeit und zwingende Notwendigkeit der Katastrophe mit der einen oder andern Annahme steht und fällt. Schon beim Erscheinen des Stückes hat Unzer, der Freund jenes Jakob Mauvillon, der die erste grössere Kritik über das Drama schrieb, in den gemeinsam mit diesem herausgegebenen »Briefen über den Werth einiger deutscher Dichter« (S. 49) es als einen Hauptfehler bezeichnet, dass Emilias Liebe zu dem Prinzen nicht ausgesprochen sei. »Ja! wenn uns Lessing auf eine g eheime Neig ung des Mädchens schliessen liesse, so wäre ihr Misstrauen g eg en sich sel bst auch wahrscheinlicher.« Goethe 2 nannte es sodann3 gesprächsweise das »proton pseudos, dass es nirgends ausgesprochen sei, dass Emilia den Prinzen liebe, sondern nur subintellegiert wird. Wenn j enes wäre, so wüsste man, war um sie der Vater umbring t. Die Liebe ist zwar angedeutet, erstlich in der Art, wie sie den Prinzen anhört, wie sie nachher ins Zimmer stürzt; denn wenn sie ihn nicht liebte, so hätte sie ihn ablaufen lassen; zuletzt sogar ausgesprochen, aber ungeschickt in ihrer Furcht vor des Kanzlers Hause. Denn entweder ist sie eine Gans, sich zu fürchten, oder ein Luderchen. So aber, wenn sie ihn liebe, müsse sie zuletzt sogar 1 Lessing II, 1 S. 219. 2 Riemers Mitteilungen über Goethe II, S. 663; ich citiere nach Danzel-Guhrauer, Lessing II2, S. 316. 3 Goethe war also nicht, wie man vielfach liest, der erste, der auf diesem »springenden Punkt« aufmerksam machte.

277

Friedrich Widder

lieber fordern zu sterben, um jenes Haus zu vermeiden.« Als die wilde, verwegene Jagd nach der tragischen »Schuld« begann, trug Goethes gewichtige Autorität das Ihrige dazu bei, dass man in einer Neigung Emilias zu dem Mörder ihres Bräutigams die tragische άμαρτία suchte und fand. Diese bis auf den heutigen Tag lebhaft verfochtene Ansicht ist auf ebenso lebhaften Widerspruch gestossen. Durch eine eingehende Würdigung und genaue Abwägung des Für und Wider kam Heidemann4 zu dem Resultat, dass keine Stelle des Textes im ganzen Stücke d irekt zur Annahme einer Liebe zwinge, dass auch ohne diese die einzelnen Scenen zu verstehen seien und der Todesentschluss Emilias verständlich bleibe. Allein mit Rücksicht darauf, dass einige Auftritte ein leichteres Verständnis zuliessen und dass der Todesentschluss eine passendere Erklärung finde, trat auch er f ür eine Neigung ein. Gleichzeitig erschien Kuno Fischers geistvolle Schrift: »Lessing als Reformator der deutschen Litteratur«, worin u.  a. auf Grund von Stellen, die einer Liebe geradezu widersprechen, diese mit Entschiedenheit zurückgewiesen wird.5 Damit schien diese Frage erledigt zu sein. In neuerer Zeit haben sich nun aber wieder Stimmen für die erstere Auffassung erhoben. So Heinrich Bulthaupt in seiner »Dramaturgie der Klassiker«6 und Sigmund Schott in seinen »Studien zur Emilia Galotti«7. Erich Schmidt 8 hält zwar die ganze Frage, ob Emilia den Prinzen liebe oder nicht, für schief, nimmt aber zur Erklärung der Katastrophe an, dass der Prinz in Emilia ein sinnliches, ihre Willenskraft lähmendes Wohlgefallen erweckte. Man legt dabei besonderen Wert auf jene erregte Erzählung Emilias von dem Vorfall in der Kirche (II, 6), in der schon M. Bernays 9 einen Verrat ihrer Leidenschaft und einen Kampf ihres Herzens mit einer Liebe zu dem Prinzen hat entdecken wollen. Emilia: … Und da ich mich umwandte, da ich ihn erblickte – Claudia: Wen, meine Tochter? Emilia: Rathen Sie, meine Mutter, rathen Sie. – Ich glaubte, in die Erde zu sinken. – Ihn sel bst. Schon jenes »ihn« halten die einen, und namentlich dieses »Ihn sel bst« die andern für bezeichnend, für ein Zeichen nämlich dafür, dass Emilias ganzes Sein und Denken so von der einen Gestalt erfüllt ist, dass sie unbewusst dieselbe Voraussetzung bei der Mutter macht. Nun ist doch auf den ersten Blick klar, dass zu jenem »ihn«, dem die Worte vorausgehen: »Ich zitterte, mich umzukehren, ich zitterte, ihn zu erblicken, der sich den Fre ve1 erlaub en dürfen«, dieser letzte Relativsatz zu ergänzen ist, dass nicht betont werden kann: »da ich ihn erblickte«, sondern: »da ich ihn erblickte« als Gegensatz zu: »ich zitterte, ihn zu erblicken«, wie ja auch: »da ich mich umwandte« dem »ich zitterte mich umzukehren« gegenübersteht. Aber dieses »verräterische« »Ihn sel bst«! »Der Prinz«, sagt Erich Schmidt, »der heute zum 4 Über Lessings Emilia Galotti. Progr. Saarburg 1881. 5 S. 250 ff. und S. 209. 6 I2, S. 25 ff. 7 Beilage zur Allg. Zeitung 1890 Nr. 42 und 43. 8 II, 1, S. 200 und 201 und II, 2, S. 800. 9 Morgenblatt 1863 Nr. 13 und 14. Vergl. auch Heidemann S. 12.

278

Emilia Galotti und kein Ende.

ersten Mal seine Liebe entdeckt, muss doch Emilias Gedanken sehr beschäftigen, um f ür sie ›er selbst‹ zu sein.« Und Bulthaupt: »Der Geliebte mag ›er selbst‹ sein; aber der Prinz von Guastalla, der dieses Mädchen, den dieses Mädchen ein einziges Mal in jener Vegghia bei dem Kanzler Grimaldi gesehen hat? Würde Graf Appiani f ür Emilia Ga lotti ›er selbst‹ gewesen sein?« Sagte Emilia an dieser Stelle bloss »Ihn«, so möchte darunter ganz wohl eben ihr »Er«, der Gebieter ihres Herzens, gemeint sein können, und Erich Schmidts Hinweis auf Nathan I, 410 bestünde zu Recht. So aber heisst es »Ihn sel bst«, und da liegt doch wohl die Auffassung viel näher, dass kein geringerer als Er, der Prinz, der Gebieter des Landes, nicht ihres Herzens, der Frevler ist. Just dieses »selbst« wird auch an anderen Stellen des Stückes zur Hervorhebung der Person des Prinzen angewendet: »Ich will wetten, dass der Prinz schon selbst um Ihre theure, ehrwürdige Mutter ist« sagt Marinelli zu Emilia (III, 4), und zu Claudia (III, 8): »Mit der zärtlichsten Sorgfalt ist der Prinz sel bst um sie beschäftigt« – »Wer? – Wer selbst?« Dieses »selbst« ist an unserer Stelle um so angebrachter, als es das Schlussglied einer ganz natürlichen Steigerung ist. Erst ist es ein unbestimmtes, »et wa s «, das dicht hinter Emilia seinen Platz nahm; es sprach von Schönheit, von Liebe, es klagte, es beschwor. Nach diesen Liebesbeteuerungen wird es dann zu einem bestimmteren er, den sie zu erblicken zitterte. Und endlich, da sie sich umwandte, da sie ihn erblickte, ist es – »er sel bst«. – Indes, es führt noch eine andere Erwägung zur Haltlosigkeit jener Vermutung. Das »Ihn selbst« ist die Ant wor t auf die Fra g e der Mutter. Es handelt sich also nicht darum, wer »für Em il ia «, sondern wer für die Mutter »er sel bst« ist. Die Worte: »R athen Sie, meine Mutter, rathen Sie« lassen vollends keinen Zweifel darüber, dass mit »Ihn sel bst« auf eine Person hingedeutet ist, die herauszufinden für die Mutter keine besondere Schwierigkeit sein muss. Was ist denn natürlicher, als dass die »eitle, thörichte Mutter« jene unter ihren Augen der Tochter dargebrachten Huldigungen des Prinzen, von denen sie dem strengen Odoardo »in einem Tone der Entzückung« erzählt (II, 4), wieder und wieder zum Gegenstand des Gespräches mit Emilia gemacht hat? Ja, sie hat so oft davon gesprochen, dass sie nicht einmal mehr weiss, ob sie es Odoardo schon mitteilte. »Denn hab ich Dir schon g e s a g t , dass der Prinz unsere Tochter gesehen hat?« (II, 4). »Wen« also »ihn sel bst ?« Nun, wenn denn anders als: eben den (Prinzen), von dem Sie mir so oft gesprochen, der, wie Sie wissen, sich mir gegenüber »so gnädig bezeigte«. Übrigens ist diese Beziehung dem – um mit Goethe zu sprechen – »Luder« von selbstgefällig

10 Daja: Er lässt sich wieder sehn! Er lässt sich wieder sehn! Nathan:Wer, Daja? wer? Daja: Er! er! Nathan: Er? er? – Wann lässt sich d e r nicht sehn – Ja so, Nur euer Er heisst er.

279

Friedrich Widder

ausfragender Mutter wohl ebenso klar, als sie es dem Leser oder Zuschauer sein muss, der fast unmittelbar vorher die Mitteilungen Claudias an Odoardo mit angehört hat. Einen weitern Beweis für die Neigung Emilias zum Prinzen findet man in dem Verhä ltn is zwischen App ian i und Em il ia . Es herrscht, heisst es, zwischen den beiden Verlobten ein Ton ehrerbietiger Reserve, aber niemals flammt Herz in Herz. Ein sonderbarer Hochzeiter, dieser Appiani, kein feuriger Liebhaber. Warm und feurig wird er – nicht von den Reizen seiner Braut hingerissen, sondern sobald das Gespräch auf ihren Vater kommt. Ja, nicht einmal eine ordentliche Liebeserklärung bringt er fertig. Und Emilia? Nun, auch sie spricht ja nur von »dem Grafen«, von dem »guten Appiani«, nennt ihn »Herr Graf«, niemals »Bräutigam« oder – »Gatte«. Also zu wenig Feuer und Flamme, zu wenig schwärmerische und schwungvolle Liebesbeteuerungen! Als ob alle Liebespaare Romeos und Julien sein müssten und – was die Hauptsache ist – als ob es nicht im Cha r a kt er Appianis und Emilias begründet wäre, dass sie es nicht sind! Appiani, der »ernste, würdige«, bescheidene, zurückhaltende Mann ist allerdings kein feuriger Liebhaber; auch haben ihn andere Vorzüge, nicht wie den Prinzen die »Reize« zu Emilia hingezogen. »So recht, meine Emilia! Ich werde eine fromme Frau an Ihnen haben, und die n icht sto l z auf ihre Frömmig keit ist« (II, 7). Warum sollen wir es denn da Claudia nicht glauben, dass die Liebe zusammenbrachte, »wa s f ür einander g eschaffen war«, und wenn wir es dieser nicht glauben wollen, warum nicht Odoardo, dass sie sich gefunden haben, »d ie f ür einander b estimmt waren«? (II, 4). Aber weil der »feurige« Prinz nun einmal durchaus Eindruck gemacht haben muss, deswegen darf der ernste Appiani keinen gemacht haben. Wenn dann Emilia diesen »Herr Graf« anredet, von ihm als dem »Grafen« spricht, so ist das ebenso wenig auffallend, als wenn Odoardo und Claudia sich gegenseitig und Emilia ihre Eltern mit »Sie« anreden. Überdies sagt sie ja doch auch »mein lieber Graf«, mein »guter Appiani«, wie er »meine Emilia«. »Man prüfe«, sagt Schott, »die einzige Scene, in welcher Emilia und ihr Verlobter zusammen sind, auf ihre gegenseitigen Empfindungen, und man frage sich, ob dieser die Haltung eines Bräutigams am Hochzeitsmorgen einnimmt.« Thun wir das, anstatt fort­während mit dem Feuer zu spielen, und lassen wir gerade den Schluss dieser Scene (II, 8) unbefangen auf uns einwirken: Emilia: Und was meinen Sie, das ich mir ausgedacht habe? – Was trug ich, wie sah ich aus, als ich Ihnen zuerst gefiel? – Wissen Sie es noch? Appiani: Ob ich es noch weiss? Ich sehe Sie in Gedanken nie anders als so, und sehe Sie so, auch wenn ich Sie nicht so sehe. Emilia: Also ein Kleid von der nämlichen Farbe, von dem nämlichen Schnitte, fliegend und frei – Appiani: Vortrefflich! Emilia: Und das Haar – Appiani: In seinem eigenen braunen Glanze; in Locken, wie sie die Natur schlug – Emilia: Die Rose darin nicht zu vergessen! – Recht! – recht! – Eine kleine Geduld, und ich stehe so vor Ihnen da! Da sprüht allerdings kein Feuer, da flammt nicht Herz in Herz. Aber wir stellen die Gegenfrage: Ist das wirklich nur der Ton ehrerbietiger Reserve und nicht vielmehr 280

Emilia Galotti und kein Ende.

der stillseligen, herzinniglichen Liebesglücks, ein dem Charakter dieses Liebespaares völlig entsprechender Ton, der Dutzende der feurigsten Liebesschwüre aufwiegt? Man nimmt ferner Anstoss an dem Verha lten Emilias nach Appianis Tode und sagt: »Wenn diese Verbindung Emilias ganzes Glück ausmachte, wenn dieser Mann ihr ganzes Herz ausgefüllt haben würde, so konnte sie nach seinem Tode so r u h ig nicht sein, wie sie es in Wirklichkeit ist. Denn als sie es erfährt, dass der Graf tot ist, kein Wort der Klage, keine Thräne: nur unmittelbar die Frage: ›Und warum er tot ist? Warum?‹ Eine wirklich liebende Braut hätte doch ihrem Schmerze Ton verliehen, ehe sie an die Verstandesfrage ›Warum?‹ gedacht hätte.« Das eine Mal zu wenig Feuer und Flamme, das andere Mal zu wenig Trauer und Thränen! Mag sein, dass »eine« andere Braut in ihrem Schmerze zusammengebrochen wäre; aber das ist nun einmal nicht Em il ia s – »Ar t« (IV, 8); denn, sagt die Mutter, »sie ist die Furchtsamste und Entschlossenste unseres Geschlechts. Ihrer ersten Eindrücke nie mächtig, aber nach der geringsten Überlegung in a l les sich findend, auf a l les gefasst.« Haben wir es aber hier (V, 7) mit »ersten Eindrücken« zu thun? Hat sie denn nicht schon mit dem Gedanken sich vertraut gemacht, dass »alles verloren« ist, dass sie »wo h l r u h ig sein muss «? Hat sie denn nicht schon »die ganze schreckliche Geschichte in den nassen Augen ihrer Mutter gelesen«? Ob diese Ruhe mit dem Ewig-Weiblichen vereinbar ist oder nicht, darüber mögen die Kritiker streiten, mit wem sie wollen. Unbestreitbar ist und für uns die Hauptsache, dass diese Ruhe ihrem Charakter entspricht, eben ihre – »Ar t« ist. »Die Gesinnungen«, heisst es in der Hamburgischen Dramaturgie (II), »müssen in dem Drama dem angenommenen Charakter der Person, welche sie äussert, entsprechen; sie können also das Siegel der a b s o l ut en Wahrheit nicht haben; genug, wenn sie p o e ti s c h wa hr sind.« – Auffallend soll auch sein, dass Emilia in der grossen Bestürzung mehr von ihrer Mutter als von ihrem Verlobten spricht, dass sie nach der Ermordung Appianis, als Emilia ausser Atem ins Schloss geführt wird, zu er st fragt: »Wo bleibt meine Mutter« und dann erst : »Wo bleibt der Graf ?« Das alles soll beweisen, dass nicht die allbezwingende Liebe Emilia mit Appiani verbunden gehabt. Nun könnte es an sich noch lange keine Gleichgiltigkeit gegen ihren Bräutigam bedeuten, wenn eine Braut in solcher Lage zuerst an ihre Mutter dächte. Aber man sehe sich doch die Stelle (III, 4) einmal unbefangen an: »Aber Gott, Gott! wo bin ich? – Und so ganz allein? Wo bleibt meine Mutter? Wo bleibt der Graf ? Sie kommen doch nach? mir auf dem Fusse nach?« Aus diesen erregten, hastig hervorgestossenen Fragen, in denen sie die ihrem Herzen gleich nahestehenden Personen so zu sagen in e i n e m Atem nennt, eine Gefühlslokation herauslesen wollen, das heisst denn doch den »rechnenden« Dichter überrechnen. Ausserdem stimmt diese Lokationsberechnung nicht einmal. Denn gleich nachher, wo der Schuss erwähnt wird, sagt Emilia: »Und das hat den Grafen oder meine Mut t er getroffen.« Allein darin soll gerade der Witz liegen. Diese einzige Umstellung scheint Schott eine »psychologische Feinheit des denkenden Dichters«. Denn bei dem Gedanken an ein Unglück zagt und scheut sie, den Namen der ihrem Herzen näher stehenden Person zu nennen. Schott selbst scheint bei dieser Interpretationsweise etwas bange geworden zu sein. Ist er doch darauf gefasst, dass 281

Friedrich Widder

man seinen Versuch mit der Bezeichnung »Deuterkunststücke« abzufertigen suchen wird. Für die pedantische Art, mit der hier in die lebendig bewegte Rede peinlich nüchterne Erwägungen hineingeheimnisst werden, ist das eine verhältnismässig noch recht wohlklingende Bezeichnung. Es wird also schon dabei bleiben müssen, dass keine Textesstelle zur Annahme einer Liebe Emilias zum Prinzen zwingt, dass aus den angeführten Stellen nicht einmal dann eine solche Neigung herausgelesen zu werden brauchte, wenn diese aus andern Gründen unzweifelhaft feststünde. Für den letztern Fall nun ruft man die Schauspielkunst zu Hilfe. Sie soll dem Verständnis des Zuschauers nahe legen, was des Dichters Worte dem Leser und Hörer vorenthalten haben. Heidemann weist dabei hin auf E. Devrients Worte11: »Dies Stück vollendete die Wohlthaten, welche Lessing der Schauspielkunst erwiesen. Er gab ihr darin Charaktere, welche an innerm Reichthum und Vollendung von keinem spätern Dichter übertroffen worden sind und dennoch den Darsteller so viel zwischen den Zeilen zu lesen, zu errathen und zu ergänzen übrig lassen. An sämtlichen Rollen von Emilia Galotti kommt die Schauspielkunst niemals zu Ende, sie findet unerschöpfliche Anregungen und Aufgaben darin.« Man citiert ferner den Ausspruch Goethes: »Wenn alle so vortrefflich spielten, wie Madame Wolf … dass sie diese Maske ausfüllten, ja noch mehr dahinter zu errathen liessen, so würde man nicht wissen, was man zu sehen bekäme, so gewönne alles mehr Sinnlichkeit« u. s. w. Was sagt denn aber Lessing sel bst dazu? In einer Note zu demselben Brief, in dem er wünscht, dass Lessing von der Verf ü hr ung etwas auf dem Theater hätte vorgehen lassen sollen, erzählt Nicolai12: »Über eine andere Anmerkung, die ich Lessingen damals – bei seiner Anwesenheit in Berlin 1775 – mittheilte, wäre er beinahe böse geworden. Madame Starkin, die grosse Schauspielerin, hatte mir einmal gesagt: ›die Rolle der Emilia kö n n e nie gespielt werden, so wie sie gespielt werden sollte; denn sie erfordere ein ganz junges Mädchen, die doch die vollkommenste Schauspielerin sein müsste, um der Rolle Genüge zu thun‹. Diese Bemerkung theilte ich Lessingen mit und setzte hinzu: es möchte diese grosse Schauspielerin wohl Recht haben. Lessing rief aus: ›Hol der T-- die Frau mit ihrer Bemerkung! Die R o l le der Emilia erforder t g ar keine Kunst ! Na iv und natürlich spielen kann ein junges Mädchen ohne alle Anweisung‹«. Nach all’ dem dürfte in dieser Frage nicht ohne Interesse sein ein Vergleich mit Lessings Virginia und der des spanischen Dichters Montiano y Luyando, einer Tragödie, die namentlich in der Gestaltung der Charaktere Odoardos und Emilias von nachhaltigem Einfluss auf Lessing war.13 In jener sagt Claudius zu Rufus:14 »Du weisst, sie ist versprochen, mit dem jungen Icilius versprochen, und wie zär tl ich l iebt s ie ihn, dieses Schosskind des Volkes …« Und in dem Auszug, den Lessing in seiner

11 Geschichte der deutschen Schauspielkunst II, 251. 12 Hempel XX, 2, 586. Danzel-Guhrauer II2, 325. 13 Volkmann »Zu den Quellen der Emilia Galotti in der Festschrift zur 50jährigen Gedenkfeier etc. des Realgymnasiums in Düsseldorf 1888. 14 Hempel IX, 2, S. 632.

282

Emilia Galotti und kein Ende.

Theatralischen Bibliothek von der Dichtung des Spaniers giebt, heisst es15: »Nicht zwar, als ob sie (Virginia) sich fürchte, sich von dem Appius erweichen zu lassen, nein, ihr Herz ist einzig und allein mit dem, was sie dem Icilius, dem sie von ihrem Vater versprochen worden, schuldig ist, erfüllet und gänzlich unfähig, irgend einen andern Eindruck aufzunehmen … Sie beklagt ihr Schicksal, welches sie ihrem Vaterlande zu einem traurigen Schauspiel mache, ohne dass sie sich gleichwohl das Geringste in ihrer Liebe für den Icilius in ihren Gedanken und Handlungen vorzuwerfen habe.« Also: sie liebt ihn n icht ! 2. Wenn nun aber nur mit der Annahme einer Liebe alles »planmässig, klar motiviert und folgerichtig« sein soll, verlieren wir denn da trotz alledem mit ihrer Verwerfung nicht zu viel? Man bedenke: »Welch’ ein tragischer Conflict, wenn die Unglückliche sich gestehen muss, dass die Kugel des Bravo im Grunde ihr eigenes Herz nicht mitverwundet hat, da es dem Todten nur aus Pflicht sich zugeneigt hatte, dass durch dieses Verbrechen ein Weg frei gemacht wird, der zu einem heimlich ersehnten Ziele führen würde und den nur ihre Ehre zu betreten ihr verbiete!«16 Welche tragische Schuld, wenn Emilia das Bewusstsein hat, »im eigenen, tiefsten Herzen dem Prinzen gegenüber nicht ganz frei zu sein«17, wenn »ihr Gewissen ihr Vorwürfe macht, dass sie, die Braut eines so trefflichen Mannes, wie Appiani geschildert wird, einem Gefühle für den Prinzen Raum gab!«18 Und eine tragische Schuld muss doch Lessing angenommen haben, wenn anders sein auf Aristoteles abgelegtes Glaubensbekenntnis ernst gemeint und sein Drama die Probe auf das in der Hamburgischen Dramaturgie aufgestellte Exempel sein soll. Indes ist auch von dieser Seite her die Annahme einer Liebe zum allermindesten nicht notwendig. Nur muss man die aristotelische άμαρτία nicht einseitig als »moralische« Schuld auffassen, die man mit Hilfe des Strafgesetzbuches oder der bürgerlichen Moral beurteilt, muss auf den Glauben an das Dogma von der poetischen Gerechtigkeit verzichten wollen, der in jeder Tragödie eine »adaequate Schuld«, eine gerechte Verhältnismässigkeit von Schuld und Sühne findet.19 Vor allem aber muss betont werden, dass Lessing selbst die Hamartie in diesem Sinne nicht fasste. Am klarsten geht dies aus dem Briefe an Moses Mendelsohn vom 18. Dezember 1756 hervor:20 »Unterdessen ist es doch auch wahr, dass an dem Helden eine gewisse άμαρτία ein gewisser Fehler sein muss, durch welchen er sein Unglück über sich gebracht hat. Aber warum diese άμαρτία, wie sie Aristoteles nennt? Etwa, weil er ohne sie vollkommen sein würde und das Unglück eines vollkommenen Menschen Abscheu erweckt? Gewiss nicht. Ich glaube, die einzige Ursache gefunden zu haben, sie ist diese: weil ohne den Fehler, der das Unglück über ihn zieht, sein 15 Hempel XI, 1, S. 256, 258. 16 Paul Heyse in einem Briefe an Schott: Allg. Zeitung a. o. O. 17 Heidemann, S. 12. 18 Nölting, Über Lesssings E. G. Progr. Wismar, 1878 S. 5. 19 Wie z.  B. Günther. Grundzüge der tragischen Kunst. 20 Hempel XX, 1 S. 90.

283

Friedrich Widder

Charakter und sein Unglück kein Ganzes ausmachen würden, weil das eine nicht in dem andern gegründet wäre und wir jedes von diesen zwei Stücken besonders denken würden.« Und aus der Hamburgischen Dramaturgie (82) hoben B. Arnold 21 und K. Fischer 22 den Satz hervor: »Ein Mensch kann sehr g ut sein und mehr als eine S chwach heit, mehr als einen Feh ler begehen, wodurch er sich in unabsehliches Unglück stürzt, das uns mit Mitleid und Wehmuth erfüllt, ohne im geringsten gräss­ lich zu sein, weil es die natürliche Folge seines Fehlers ist.« Diesen »Fehler« sehen beide mit Recht darin, dass Emilia aus G ehorsam gegen ihre Mutter das Zusammentreffen mit dem Prinzen und das Erlebnis in der Kirche ihrem Bräutigam in der besten Absicht verheimlichte. Denn hätte Appiani nur eine Andeutung empfangen, so konnte der Mord nicht geschehen, die Unterlassung Emilias »verschuldet« den Tod Appianis. Dem gegenüber verhallt wirkungslos des Grafen von Schack kraftgenialisches Donnerwort:23 »Man muss ein von ästhetischer Duselei ganz erweichtes Gehirn haben, um nicht einzusehen, dass eine Schuld, die einen tragischen Untergang herbeiführen soll, auch eine entsprechend schwere sein müsste, wie die von Macbeth oder Wallenstein, und dass irgend eine leichte Verschuldigung, wie man sie etwa für Emilia Galotti austüfteln konnte, hiezu nicht ausreicht.« Aber auch Heidemanns und Schotts Bedenken fallen, dass derselbe Lessing G ehorsam als Schuld soll angesehen haben, der über eben diese Emilia Galotti an seinen Bruder Karl schreibt:24 »Ich kenne an einem unverheiratheten Mädchen keine höheren Tugenden als Frömm ig keit und G e h or s a m .« Denn dass auch Tugenden, in reinstem und edelstem Wollen ausgeführte oder unterlassene Handlungen unendliches Weh herbeiführen, dass die Personen der Tragödie ihr Leid »verschulden«, wenn auch nicht verdienen, dieses Schuldlos-schuldig, das ist eben der Fall der Tragödie. Wenn Deianira, um den von ihr mit aller Hingebung und Treue geliebten Herakles noch fester an sich zu ketten, diesem das Nessosgewand überschickt und ihm d a d ur c h den qualvollsten Tod bereitet; wenn Kriemhilde, um ihren Siegfried vor jedem Unfall zu bewahren, ihm in zärtlich liebender Sorgfalt das Kreuzchen auf das Gewand näht und da durc h seinen Tod verschuldet:25 so liegt darin, in diesem Gegensatz von guter Absicht und schlimmen Folgen, erschütternde und ergreifende Tragik und eine der vornehmsten Quellen tragischen Mitleids. Möglich, sicher vielleicht, dass sich jene Unterlassung Emilien später als Schuldbewusstsein aufdrängt. Dass sie dieses aber auch ausspricht, »in schonungsloser Selbstanklage sich leidenschaftlich vorrückt«, wenn sie in der vorletzten Scene auf die Frage des Vaters: »Was nennst Du alles verloren? Dass der Graf todt ist?« antwortet: »Und war um er todt ist! War um !« vermögen wir Kuno Fischer26 und Erich 21 Lessings E. G. in ihrem Verhältnis zur Poetik des Aristoteles und zur Hamb. Dramat. S. 15. 22 S. 198. 23 Perspektiven I, S. 4. 24 10. Februar 1772 Hempel XX, 1 S. 482. 25 Mit klassischer Schärfe und Kürze bezeichnen diesen tragischen Kontrast die Worte des Nibelungenliedes: si wânden helt vristen: ez was ûf sinen tôt getân. 26 a. o. O.

284

Emilia Galotti und kein Ende.

Schmidt 27 u.  a. nicht zuzugeben. Dies »Wa r um « kann nicht den Sinn haben: weil ich Appiani das Zusammentreffen mit dem Prinzen verheimlichte, schon deswegen nicht, weil gleich nachher Emilia an diese Worte die Aufforderung zu schleuniger Flucht knüpft: »Denn, wenn der Graf todt ist, wenn er dar um todt ist – dar um ! was ver wei len wir noch hier? La ssen Sie uns fl iehen, mein Vater!« Dieses »Warum«, dieses »Darum«, dieses Etwas, was sie nicht auszusprechen wagt, kann somit nur bedeuten: weil der Prinz, in dessen Schloss wir uns befinden, durch die Ermordung des Grafen die Bahn hat frei machen wollen für sein frevles Begehren. Nicht also eine Selbstanklage liegt in jenem Ausrufe, sondern ein Hinweis auf die ungeheure Gefahr, der sie entfliehen müssen. Noch eine weitere Folgerung, die Kuno Fischer an diese Hamartie Emilias knüpft, scheint uns nicht gerechtfertigt zu sein: »Wie kann«, sagt er28, »Appiani auf die fürstlichen Wünsche, die der Höfling ihm überbracht hat, überhaupt eingehen?« »›Die Gnade des Prinzen, die Ihnen angetragene Ehre bleiben, was sie sind; und ich zweifle nicht, Sie werden sie mit Begierde ergreifen.‹« »›Allerding s‹«, antwortet der Graf »›nach einig er Überleg ung‹« (II, 10). Ich möchte wissen, wa s er sich überlegt hat? Gesagt wird es nicht; es ist schwer zu errathen. Aus dem Charakter und der Sinnesart Appianis wäre zu vermuthen, dass er den Antrag einfach ablehnte. Auch sehe ich nicht, wie er beim besten Willen denselben ausführen wird, da er schon in der nächsten Stunde heirathen und sogleich auf seine väterlichen Güter nach Piemont abreisen will. Fassen wir ihn und seine Situation a l lein ins Auge, so ist jenes überlegte »Allerdings« eine so befremdliche Wendung, dass man versucht sein könnte, sie aus einem anderweitigen (weniger Appiani, als vielmehr) dem Dichter unentbehrlichen Motiv zu erklären. Hätte der Graf gewusst, was ihm Emilia verschwiegen, so würde er den Antrag Marinellis auf eine Art zurückgewiesen haben, die dem letztern sein Concept völlig verrücken musste. Der Dichter lässt ihn daher einen Schritt thun, der unmöglich war, wenn er die Absichten des Prinzen gekannt hätte: einen Schritt, der a ls d ie nächste Fol g e der Unterla ssung Em il ia s erscheinen so l l und erscheint. Dass Appiani diesen unwillkommensten und ungelegensten aller Aufträge erfüllen will, um dem Prinzen einen Dienst zu erweisen, zeigt uns den völlig arglosen Mann, der dem Spiele Marinellis verfällt, während ein Wort seiner Braut ihn davor bewahrt hätte. D i e S chu ld Em il ia s wird durch App ian is arg lose B ereit wil l ig keit sofor t erleuchtet : dies war die Absicht des Dichters, ab er da s Motiv Appia nis bleibt fra g lich .« Fraglos ist, dass Appiani seinem Chara kter gemäss auf den Antrag nicht eingehen kann. Wie, wenn er es mit der Antwort »Allerdings« auch gar nicht thäte, wenn dieses »Allerdings« eine im Ernste zustimmende Antwort auch gar nicht enthielte? Der Mann, der zu dem Höfling das stolze Wort spricht: »Ein Herr, den man sich selber wählt, ist unser Herr so eigentlich nicht. Ich gebe zu, dass S i e dem Prinzen unbedingtern Gehorsam schuldig wären. Aber nicht ich. Ich kam 27 II, 1 S. 203 u. 213. 28 II S. 230 und 231.

285

Friedrich Widder

an seinen Hof als Freiwilliger. Ich wollte die Ehre haben, ihm zu dienen, aber nicht sein Sklave werden. Ich bin der Vasall eines grössern Herrn«, der kann Redensarten wie: »Die G na d e d e s Pri n z en , die Ihnen angetragene Ehr e bleiben, was sie sind. und ich zweifle n icht, Sie werden sie m it B e g ierde ergreifen« nur mit einem iron isch zustimmenden, mit einem die Gesinnung Marinellis und dessen Worte ironisierenden »Allerdings« beantworten. Was hätte er auch antworten sollen? Im Ernste zustimmen kann er nicht, schlechthin ablehnen will er nicht, bevor die »plaudernde Hofschranze« sich ausgeplaudert hat. Darum giebt er – und das ist das Resultat seiner kurzen »Üb erle g ung « – eine doppelsinnige Antwort, die Marinelli vorerst als Zustimmung auffassen mag. Dieser die Denkungsart Marinellis ironisierende Ton kehrt ja auch gleich nachher wieder: Appiani: Und ich hoffe, dass der Prinz selbst meine Entschuldigung wird gelten lassen. Marinelli: Die bin ich begierig zu hören. Appiani: O, eine Kleinig keit. S ehen Sie, ich soll noch heut eine Frau nehmen . Die Ansicht aber, dass jene verhängnisvolle Unterlassung Emilias tragische »Schuld« ist, bleibt nichtsdestoweniger unangetastet bestehen.

II. Die tragische Katastrophe 1. Mit der Annahme einer Liebe oder sinnlichen Bezauberung glaubte man endlich auch den Schlüssel gefunden zu haben zu einer passenden Erklärung jener vielumstrittenen Worte Emilias, mit denen sie Odoardos Vertrauen auf ihre Entschlossenheit und Unschuld, »die über alle Gewalt erhaben ist«, verwirft: »Aber nicht über alle Verführung. Gewalt! Gewalt! Wer kann der Gewalt nicht trotzen? Was Gewalt heisst, ist nichts: Verführung ist die wahre Gewalt. Ich habe Blut, mein Vater; so jugendliches, so warmes Blut, als eine. Auch meine Sinne sind Sinne. Ich stehe für nichts. Ich bin für nichts gut. Ich kenne das Haus der Grimaldi. Es ist das Haus der Freude. Eine Stunde da, unter den Augen meiner Mutter; – und es erhob sich so mancher Tumult in meiner Seele, den die strengsten Übungen der Religion kaum in Wochen besänftigen konnten. – Der Religion! Und welcher Religion! – Nichts Schlimmeres zu vermeiden, sprangen Tausende in die Fluthen und sind Heilige! – Geben Sie mir, mein Vater, geben Sie mir diesen Dolch.« Wie kommt dieses Mädchen dazu, nicht etwa äussere Gewalt, sondern Verführung zu fürchten, ihr eigenes warmes Blut, ihre Sinne anzuklagen, »mit den Vorstellungen einer übermächtigen Sinnlichkeit zu ringen?«29. Schon der Wandsbecker Bote hat 29 Fr. Kern, deutsche Dramen als Schullektüre, S. 10, wo wegen dieses Seelenzustandes Emiliens unser Stück als zur eingehenderen Klassenlektüre gänzlich ungeeignet bezeichnet wird. Über die pädagogische Behandlung vergl. Wendt, der deutsche Unterricht S. 73 und 116.

286

Emilia Galotti und kein Ende.

dies »eine Ding nicht recht in Kopf bringen können … Mich dünkt, ich hätt’ an ihrer Stelle nackt durch ein Heer der wollüstigen Teufel gehen können, und keiner hätte es wagen sollen, mich anzurühren.« Gerade gegen diesen Punkt wenden sich denn auch die Vorwürfe neuerer Kritiker zum Teil mit besonderer Bitterkeit und Schärfe, Vorwürfe, die einen mehr als einmal an Lessings beherzigens­werte Worte aus dem 73. Stücke der Hamb. Dramaturgie erinnern: »Ich bin überzeugt, dass das Auge des Künstlers grösstenteils viel scharfsinniger ist, als das scharfsinnigste seiner Betrachter. Unter zwanzig Einwürfen, die ihm diese machen, wird er sich von neunzehn erinnern, sie während der Arbeit sich selbst gemacht und sie auch schon sich selbst beantwortet zu haben.« – Die einen behaupten nach Herders Vorgang, Lessing habe die zarte Weiblichkeit nicht gekannt, andere, er habe sich rücksichtslos gegen die Reinheit der jungfräulichen Natur, gegen die Wahrheit jungfräulicher Empfindung versündigt, sprechen von einem durchaus unmotivierten und eben darum um so hässlicheren und die Teilnahme schwächenden Makel, der auf Emilia falle, von einer erkaltenden und abstossenden Wirkung der nackten Formulierung dieses Seelenzustandes.30 Nur dann ist man so nachsichtig, dieses »erste Erwachen einer bisher latent gebliebenen glühenden Sinnlichkeit« für erträglich zu halten, wenn man annehmen darf, dass der Prinz, dieses geborenen Verführers dämonische Persönlichkeit verborgene Tiefen der Leidenschaft in Emilia aufgewühlt, sie so in seinen Zauberkreis gebannt hat, dass sie sich von ihm umstrickt, fasciniert sieht wie der bezauberte Vogel von der Schlange.31 Einen Punkt aber, der von so einschneidender Bedeutung, von so entscheidender Wichtigkeit ist, dass von ihm die Wahrscheinlichkeit des Todesentschlusses Emilias abhängt, den sollte Lessing so wenig hervorgekehrt, so »latent« gelassen haben, etwa um uns am Schlusse noch das »armselige Vergnügen einer Überraschung«32 zuteil werden zu lassen? Gottfried Keller, der sich f ür eine Neigung aus­spricht, sagt selbst: »Um so mehr hätte Lessing die Sache durchsichtiger behandeln sollen, was sich weder die Alten, noch Shakspeare, noch Schiller hätten entgehen lassen.« Und Lessing doch wohl erst recht nicht! Denn es steht geschrieben in der Hamb. Dramaturgie: »Für den Zuschauer muss Alles klar sein. Er ist der Vertraute einer jeden Person; er weiss Alles was vorgeht, Alles was vorgegangen ist … Wir wollen es auf der Bühne sehen, wer die Menschen sind, und können es nur aus ihren Thaten sehen.« Die Folgerung muss darum anders fallen als bei Bulthaupt. Nicht: trotzdem Lessing diesen Punkt so wen ig herausgearbeitet hat, ist die Annahme einer Liebe gerechtfertigt, sondern: w e i l er es überhaupt n i c ht gethan, deshalb haben wir kein Recht, uns auf eine solche Annahme zu stützen. Merkwürdig! Bei Besprechung der Schuld der Jungfrau von Orleans argumentiert Bulthaupt ganz anders. »Schiller, der so planvoll arbeitete, würde entschieden nichts versäumt haben, diesen Punkt genügend hervorzu­heben, wenn er ihm schon während des Schaffens als der entscheidende aufgegangen wäre« (S. 281). Aber welcher Dramatiker arbeitete denn planvoller als Lessing, und wo hätte 30 So auch Hettner, Geschichte der deutschen Litteratur im 18. Jahrhundert II3 S. 538 und Erich Schmidt II, 1, 214. 31 Bulthaupt, S. 26. 32 Hamb. Dram. 48.

287

Friedrich Widder

er dies mehr gethan als in der Emilia Galotti? Es hilft alles nichts, wir müssen ohne diese geheime Neigung auszukommen suchen. Einen radikalen Versuch macht Bertling 33. Ausgehend von der »bisher unbeachtet gebliebenen schriftstellerischen Eigentümlichkeit Lessings, in guter Absicht die Unwahrheit zu gebrauchen«, und von der merkwürdigen Gewohnheit des Dichters, gerade die edleren Personen seiner Dramen durch irgend eine gutgemeinte Unwahrheit ihren Edelmut und ihre Selbstlosigkeit an den Tag legen zu lassen, nimmt er an, Emilia denke gar nicht daran, dass sie von dem schändlichen Prinzen sich könnte verführen lassen, sie spreche einfach die Unwa hrheit, um den Vater zu bewegen, dass er ihr das unerträglich gewordene Leben nehme. Sehr »einfach« in der That, aber auch sehr banausisch! Wäre d a s des Rätsels Lösung, dann könnte man Lessings Frage: »Wozu die saure Arbeit der dramatischen Form?« (H. D. 80) an ihn selbst richten. Denn es wäre gerade die innere Wahrscheinlichkeit der Katastrophe, der Angelpunkt des ganzen Stücks mit auf ein Motiv gestellt, das mit dem Chara kter Emilias in gar keiner Beziehung steht; es wäre ein Armutszeugnis, das der Dichter sich selbst ausstellte, der nicht zu leisten vermocht hätte, was er selbst gefordert, in der That »der Abschluss eines gewöhnlichen Possenspiels«34. Man berufe sich doch auch nicht auf die Worte am Schlusse der Tragödie: Emilia: Nicht Sie, mein Vater – Ich selbst – ich selbst – Odoardo: Nicht Du, meine Tochter – nicht Du! Gehe mit keiner Unwa hrheit aus der Welt. Emilias Worte enthalten mit nichten eine Unwahrheit; es ist ihr mit ihrer Behauptung bitter ernst. Denn sie hat dem zaudernden, zögernden Vater den Dolch in die Hand gedrückt, ihm die That wider seinen Willen entrissen; sie kann darum auch in vollem Ernste diese That die ihrig e nennen. 2. Wenn alle Fäden des dramatischen Gewebes durch den Kern der Charaktere hindurchgehen, diese die Handlungen und Schicksale der Personen bestimmen müssen, so kann die Lösung nur auf diesem Wege gesucht werden. Denn: »Hab ich des Menschen Kern erst untersucht, so weiss ich auch sein Wollen und sein Handeln.« Daran hat sich Kuno Fischer gehalten. Mit Recht legt er zur Erklärung des To des ­ entsch lusses Emilias besondern Nachdruck auf den christl ichen Charakter der Jungfrau. In dieser drangvoll fürchterlichen Enge erscheint dem frommen Mädchen der freiwillige Tod als der einzige Ausweg, als die einzige Rettung seiner Seele vor dem Verderben auf ewig. Verlassen, wie es ist, von aller und jeder irdischen Hilfe, ruft sein frommer Glaube ihm zu: »In einer solchen Gefahr giebt es nur eine solche Rettung! Flüchte Deine Seele zu Gott!« Die Behauptung35, dass wir nicht einsehen, dass der Heldin in ihrer Lage unbedingt kein anderer Ausweg bleiben soll als der selbstge33 »Die Unwahrheit in Lessings Schriften« i. d. Jahrb. für Philologie und Pädagogik 1888, S. 535 ff. Der Erklärungsversuch findet sich schon bei Arnold a. o. O. S. 16. 34 Jeep »Der Tod der Emilia Galotti« in d. Jahrb. f. Phil. u. Päd. 1890. S. 580 ff. 35 Franz, der Aufbau der Handlung in den klassischen Dramen S. 41.

288

Emilia Galotti und kein Ende.

wählte Tod, verrückt den Standpunkt der Betrachtung. Es muss wiederholt werden: »Die Gesinnungen müssen dem angenommenen Charakter der Person, welche sie äussert, entsprechen; sie können also das Siegel der abso luten Wahrheit nicht haben; genug, wenn sie p o etisch wahr sind.« Und wie rechtfertigt doch Schiller im 12. Briefe über Don Carlos den Entschluss seines Posa?: »Es kommt hier nicht darauf an, wie nothwend ig , wie natürl ich, wie nütz l ich diese Auskunft in der That war, sondern wie sie demjenigen vorkam, der sie zu ergreifen hatte. Es ist also weit weniger die Lage der Dinge, als die Gemüthsverfassung dessen, auf den diese Dinge wirken, was hier in Betracht kommen muss. Sind die Ideen, welche den Marquis zu diesem Heidenentschluss führen, ihm g eläufig und bieten sie sich ihm leicht und mit Lebhaftigkeit dar, so ist der Entschluss auch weder gesucht noch gezwungen.« Wie steht es nun aber mit dem heikelsten Punkte des Dramas, auf den schon so viele sittliche und ästhetische Entrüstung verschwendet wurde, mit Emilias Furcht vor Verf ü hr ung ? Kuno Fischer leitet diese aus den ungewöhnlichen und ersten Eindrücken der grossen und glänzenden Welt im Hause der Grimaldi her, die auf die kindliche, harmlose und phantasievolle Natur ihre Macht ausgeübt und wie ein lockender Zauber fortgewirkt haben, einer Welt, deren innerste Verdorbenheit sie völlig erkannt hat, so dass sie nach der ersten Erfahrung, die sie an sich selbst gemacht, sich jetzt nicht für gerüstet und fähig hält, eine zweite Probe zu bestehen.36 »Aus Furcht vor ihrem den ersten Eindrücken erliegenden Temperament begehrt Emilia – der der Dichter einen Reiz der Sinnlichkeit ins Blut gelegt – den Tod«, sagt Erich Schmidt 37. Allein mit solchen Reflexionen würde Emilia eine Selbst-, Welt- und Menschenkenntnis, eine Einsicht in ihre eigene und die menschliche Natur bekunden, wie sie das trotz jenes Erlebnisses doch noch zu unerfahrene Mädchen schlechterdings nicht haben kann. D i e s e Emilia denkt viel zu philosophisch, und »die jungfräulichen Philosophinnen sind gar nicht nach meinem Geschmack. Ich kenne an einem unverheiratheten Mädchen keine höheren Tugenden als Frömm ig keit und Gehorsam, antwortet Lessing seinem Bruder Karl, der nach der Lektüre der noch unvo l lende ten Tragödie es rationalistisch getadelt hatte, dass er seine Emilia nur als fromm und gehorsam schilderte, dem ihre Frömmigkeit und »das Pedantische der Religion« etwas verächtlich vorkam.38 Anders des Bruders Urteil über die vo l lendete Tragödie39: »Du erinnerst Dich noch, dass mir die Emilia im Anfang nicht so vorzüglich gefallen. Du hast mir daher einige Deiner Gründe angeführt, von denen aber keiner Stich zu halten schien, als der letzte, da Du sagtest: ›Am Ende wird denn auch freilich der Charakter der Emilia interessanter, und sie selbst thätiger.‹ Denn das ist nicht allein geschehen, sondern … der Schluss hätte auch nicht so werden können, wenn Du sie nicht von Anfang an so geschildert hättest. Höchst religiös, die Tugend der Keuschheit für die höchste Tugend haltend ist Emilia; und das letzte hat sie bloss durch ihre fast blinde Anhänglichkeit an die katholische Religion werden können.« 36 »Ist sie doch Italienerin« findet Jeep für gut erläuternd hinzuzufügen. 37 II, 1 S. 214 u. 203. 38 1. Februar 1772, Hempel XX, S. 553 u. 554. 39 12. März 1772, Hempel XX, 2 S. 570 u. 571.

289

Friedrich Widder

Hier liegt für uns die Entscheidung. Auch ihre Furcht vor Verführung erscheint uns als ein Ausfluss ihres frommen Glaubens. Das ist nicht eine aus dem tiefsten Grunde einer sinnlich angelegten Natur organisch herauswachsende, durch Erfahrung und Selbsterkenntnis gezeitigte Furcht, nein, die fromme Jungfrau fürchtet, weil ihre R el ig ion sie die Verführbarkeit der menschlichen Natur fürchten lehrte.40 Diese lehrte sie: »Der G eist ist wil l ig « –: »Will mich reissen, will mich bringen: will! will! als ob wir keinen Wil len hätten, mein Vater! … Gewalt! Gewalt! wer kann der Gewalt nicht trotzen?« Aber sie lehrte sie auch: »Das Fleisch ist schwach« und »das Fleisch gelüstet wider den Geist«, und dar um sagt sie: »Ich habe Blut, mein Vater, so jugendliches, so warmes Blut, als eine. Auch meine Sinne sind Sinne. Ich stehe für nichts. Ich bin für nichts gut.« Die Gelegenheit, bei der diese Befürchtung sich verwirklichen könnte, sieht sie schaudernd vor sich: sie soll in das Haus der Grimaldi. Schon einmal hat sie hier die Freuden der Welt erblickt, ein Erlebnis, das sie in ihres Herzens Frömmig keit als ein sündhaf tes empfand und das dar um einen Tumult in ihrer Seele hervorrief, den nur »die strengsten Übungen der R el ig ion besänftigen konnten«. »Der R el ig ion ! Und welcher R el ig ion?« Derjenigen, die sie nicht bloss die Schwachheit des Fleisches fürchten lehrte und ihr in einer Lage, wo noch viel mehr als am Morgen »fremdes Laster sie wider ihren Willen zur Mitschu ld ig en macht«, den Tod, der Sünde Sold, als religiöse Pflichterfüllung erscheinen lässt, sondern die ihr auch für eine solche That den herrlichsten Lohn, die Mär t yrerkrone, verheisst. »Nichts Schlimmeres zu vermeiden, sprangen Tausende in die Fluthen und sind Heilig e !« Dem gegenüber ist dieses Leben für sie eine völlig wertlose Ware, die sie, die wie Philotas »zu sterben weiss«, von sich wirft. »Dieses Leben ist alles, was die Lasterhaften haben. Mir, mein Vater, mir geben Sie diesen Dolch.« Es geht ein asketischer Zug durch Emilias Worte, und es ist vielleicht auch kein »Zufall«, dass sie bei den Dominikanern in die Kirche ging. Somit beruht Emilias ganzes Denken und Handeln auf jenen zwei Charakterzügen, die Lessing mit Beziehung auf unser Drama als die höchsten Tugenden eines Mädchens bezeichnete. Der G ehorsam erklärt ihre tragische »Schuld«, die Frömm ig keit ihre Furcht vor Verführung und ihren Todesentschluss. 3. Auch in der T hat O d o a r d o s hat man die innere Wahrscheinlichkeit vermisst. Und doch ist auch sein Charakter gleich von vornherein gerade auf diese That angelegt. Der Mann, der uns bei seinem ersten Auftreten den Ort bezeichnet, wo er 40 Vergl. die wenn auch nicht durchaus vergleichbare Scene aus Goethes Götz von Berlichingen (I). Ma r i a: Ich bitt Euch, lasst mich. Einen Kuss hab ich Euch zum Gottespfennig erlaubt. Ihr scheint aber schon von dem Besitz nehmen zu wollen, was nur unter Bedingungen Euer ist. We i s l i n g e n: Ihr seid zu streng, Maria! Unschuldige Liebe erfreut die Gottheit statt sie zu beleidigen. Ma r i a: Es sei! Aber ich bin nicht dadurch erbaut. Man lehrte mich, Liebkosungen seien wie Ketten, stark durch ihre Verwandtschaft, und Mädchen, wenn sie liebten, seien schwächer als Simson nach dem Verlust seiner Locken. We i s l i n g en: Wer lehrte Euch das? Ma r i a: Die Äbtissin meines Klosters …

290

Emilia Galotti und kein Ende.

»am tödtlichsten zu verwunden ist«, den der blosse Gedanke schon in Wuth setzt, der schon so wild war, als er hörte, dass der Prinz seine Tochter jüngst »nicht ohne Missfallen« betrachtete, der in seinem Zorn den unschuldigen Gegenstand des Verbrechens mit dem Verbrecher verwechselt haben würde, der, durch all’ das Erlebte und Empfundene, durch all’ die furchtbaren Seelenkämpfe, durch Orsinas moralische Dolchstösse, durch Marinellis und des Prinzen schurkische Anschläge an die Grenze des Wahnsinns gebracht, das Schicksal seiner an sich selbst verzweifelnden Tochter in dem Bilde einer zerpflückten Rose vor sich sieht und schliesslich mit Hinweis auf des alten Römers That den furchtbaren Vorwurf eines pflichtvergessenen Vaters sich machen hört: der Mann soll »bei diesem Grade der Leidenschaft, bei dieser Lage der Sachen nicht von einem so fatalen Strom dahin gerissen werden können, Dinge zu begehen, die wir bei kaltem Geblüte noch so weit von uns entfernt zu sein glauben«?41 Und nun kommt man mit der verwünscht gescheiten Frage, ob es denn »in Guastalla nicht auch noch ordentliche Menschen giebt, die das Hofleben noch nicht corrumpiert hat, unter deren Obhut Emilia hätte bleiben können«42. Gewiss giebt es die; die Dominikaner z.  B. wären zweifellos die vortrefflichsten Tugendwächter gewesen. Auf diesen die verengte Situation mit eins durchbrechenden Gedanken wäre Odoardo, vielleicht mit einiger Beihilfe Claudias, sicherlich auch noch gekommen, hätte er nur nicht so unüberlegt zugestossen und noch ein Weilchen zugewartet. Ja, wenn dieses Warten diesen Odoardos nur nicht gar so schwer, so ganz unmöglich wäre! Wem das nicht einleuchtet, der lasse sich durch die Ausführungen belehren, mit denen Schiller seinen Posa verteidigt: »Was hätte der ruhige Zuschauer nicht gekonnt, und wie viel weiser und klüger würde dieser … gewirthschaftet haben! Schade nur, dass sich der Marquis weder dieser glücklichen Kaltblütigkeit, noch der Musse zu erfreuen hatte, die zu einer so vernünftigen Berechnung nothwendig war« – oder er beherzige Kuno Fischers klassische, einem Lessing kongeniale Worte43: »Wenn in der Kette des tragischen Causalnexus überall das Ungefähr ausgeschlossen sein und alles so geschehen soll, dass es nicht anders geschehen konnte: so muss auch jede tragische Handlung ihren genau bestimmten Z eitpunkt haben. Was nicht jetzt geschieht, unterbleibt für immer; der einmal verlorene Moment ist unwiederbringlich verloren. Was geschieht, geschieht j e t zt oder n i e! Jeder Moment ist gekettet an die vorhergehenden und bindet die folgenden. Es gibt in der Tragödie keine Opportunität, keine so bedächtige Wahl und günstige Lage der Zeitpunkte, dass alle schlimmen Folgen der Handlung weislich verhütet werden: keine Zeitpunkte, die man erwartet, wie die bequemen Spaziergänger das gute Wetter. Die tragischen Leidenschaften gehen nicht spazieren, sie sind eilig und haben keine Zeit zu verlieren, wie der Prinz das Todesurteil ungelesen unterschreiben will, um schneller in Emiliens Nähe zu sein. Die Zeit in der Tragödie 41 Hamb. Dram. 32. 42 Bulthaupt S. 24. 43 S. 256 bis 258. Ähnlich Nietzsche »Menschliches, Allzumenschliches« I S. 63. Nr. 61 »›Warten können!‹« – »Das Warten-können ist so schwer, dass die grössten Dichter es nicht verschmäht haben, das Nicht-warten-können zum Motiv ihrer Dichtungen zu machen … Die Leidenschaft will nicht warten« …

291

Friedrich Widder

ist f u r c h t b a r, wie das Schicksal selbst, und ich kenne kein Trauerspiel, worin mir diese Furchtbarkeit so eingeleuchtet hätte, wie hier, keines, worin jede Handlung und jede Unterlassung so wie hier an ihren Zeitpunkt gekettet wäre. Dies gilt auch von dem Moment, worin Emilia den Entschluss zu sterben fasst; auch von dem Augenblick, worin Odoardo sie tödtet. Dadurch wird die Notwendigkeit der Handlungen nicht abgemindert, sondern in Wahrheit erst vollendet.«

292

Gustav Marseille Die Urbilder der Frauengestalten in Lessings Meisterdramen. [1904]

»Ich würde so arm, so kalt, so kurzsichtig sein, wenn ich nicht einigermassen gelernt hätte, fremde Schätze bescheiden zu borgen, an fremdem Feuer mich zu wärmen und durch die Gläser der Kunst mein Auge zu stärken«. Mit diesen berühmten Worten spricht sich Lessing am Schluss der Hamb. Dramaturgie mit unumwundener Deutlichkeit über die Art seines dramatischen Dichtens aus. Es liegt mir fern, diese vielleicht allzubescheidenen Worte mit den berufsmässigen Verkleinerern Lessings zu seiner Herabsetzung zu missbrauchen, aber wir dürfen ihnen doch die bestimmte Anweisung entnehmen, bei allen seinen dramatischen Gestalten immer nach einem literarischen Urbild zu suchen. Es gilt, allen literarischen Zusammenhängen nachzuspüren, alle Motive in ihrer allmählichen Umwandlung zu verfolgen, die literarische Entwicklungsgeschichte der einzelnen Gestalten aufzudecken. Es ist eine reizvolle Aufgabe, Lessing in seinem Schaffen zuzusehen, und zu verfolgen, wie er aus fremdem Gut eignes macht. Gewiss liegt ja die Gefahr gewaltsamen Konstruierens nahe, aber immerhin wird uns die historisch-genetische Betrachtung seiner Gestalten ein besserer Weg zu ihrem Verständnis sein, als apriorisches Raisonnement nach ästhetischen Grundsätzen. Die folgende Studie befasst sich nur mit den Frauengestalten seiner Meisterdramen und bemüht sich, ihre Urbilder aufzudecken. Bei der Fülle der einschlägigen Literatur konnte sie oft nur die Andeutungen anderer ausführen und die Resultate der Forschung kritisch zusammenstellen. Minna von Barnhelm. Das Intriguenmotiv des wandernden Verlobungsringes führt uns zunächst auf Farquhars »The constant couple«1, dann aber noch weiter zurück auf Shakespeares Kaufmann von Venedig. Dass hier, und nicht bei Farquhar, das eigentliche Urbild liegt, ergibt sich mit ziemlicher Evidenz daraus, dass in beiden Dramen das Motiv an derselben Stelle auftritt, nämlich da, wo die eigentliche Handlung erschöpft ist und es an Stoff für einen fünften Akt mangelt. Bei beiden erscheint der Gedanke als ein plötzlicher Einfall, eingegeben von der übermütigen Lust zu intriguieren und zu necken. O. Ludwig hat zuerst auf die Beziehung zwischen Lessing und Shakespeare aufmerksam gemacht,2 aber er geht noch weiter und behauptet rundweg: »Minna und Franziska sind Porzia und Nerissa«. Er begründet seine Behauptung nicht weiter; sie erscheint mehr als eine gelegentliche Anmerkung, aber sie verdient doch, auch 1 E. Schmidt, Lessing I S. 466. 2 O. Ludwig, Gesammelte Schriften Bd. V S. 330.

293

Gustav Marseille

wenn es nicht gerade O. Ludwig wäre, volle Beachtung. In der Tat: Porzia steht zu Nerissa im wesentlichen geradeso wie Minna zu Franziska: die Herrinnen, die beide »Liebhaberinnen der Vernunft« sind, lassen sich gern von dem hausbackenen, gesunden Verstand ihrer Dienerinnen, die zugleich ihre Freundinnen sind, beeinflussen. Beide Dienerinnen zeigen dieselbe Neigung zu sprichwörtlichen Redensarten und finden denselben Beifall bei ihren Herrinnen. »Gute Sprüche und gut vorgetragen«, sagt Porzia (I 2) und: »Siehst du, Franziska? da hast du eine sehr gute Anmerkung gemacht«, sagt Minna (II 1). In beiden Stücken ferner haben die Frauen dieselbe herzerquickende, gesunde Natürlichkeit des Empfindens, dieselbe Sicherheit des Gefühls, zumal den Männern gegenüber, dasselbe heitere, neckische, sonnige, liebenswürdigegoistische und doch gutherzige Wesen. Es sind dies ja nur allgemeine Züge, die sich schliesslich mehr auf die Instanz des Gefühls berufen müssen, um beweiskräftig zu werden, aber ein Zusammenhang wird nicht wohl in Abrede gestellt werden können, und zu Unrecht spricht E. Schmidt mit Beziehung auf O. Ludwig von einer »wilden Motivjagd«. (I 465). Eine andere, wichtigere Spur führt uns auf die französische Komödie. Zwar sagt E. Schmidt:3 »Oder bedurfte Tellheim eines idealeren, [nämlich als Farquhar’s The Recruiting officer] doch matten Vorbildes in La Chaussées École des maris), des in seiner Ehre gekränkten, wider Willen verabschiedeten Offiziers Monrose, der darum Hortensen entsagen will?« Bedurfte, oder nicht – das ist hier nicht die Frage, sondern es handelt sich hier zunächst um die Anerkennung der Tatsache, dass Monrose allerdings ein Urbild für Tellheim ist. Eine Vergleichung der beiden Handlungen wird das deutlich machen. Monrose liebt Hortense, das Mündel seines Oheims, und sie ist ihm vom Oheim als Braut zugesagt. Der Oheim stirbt in der Schlacht, Monrose wird verwundet. Er hinterlässt ihm keine Güter, da er in seiner Stellung als General und Statthalter einer Provinz sein Vermögen aufgezehrt hat. Monrose bewirbt sich in der Zeit seiner Genesung bei Hof um das Amt seines Oheims. In Hoffnung auf die Stellung macht er grossen Aufwand, stürzt sich in Schulden und gerät, da die Sache sich hinzieht, in die drückendste Lage. Seine Gläubiger bedrängen ihn äusserst. Er lebt mit Hortense in einem Hause, weigert sich aber standhaft, sie zu sehen, trotz aller Vermittlungsversuche seiner Freunde, kleiner Intriguen der treuen Zofe und zarter Annäherungsversuche des Fräuleins selbst, fest entschlossen, sie nicht in sein Unglück mit hineinzuziehen. Die Lage verschlimmert sich durch mannigfache Intriguen, scheinbar wenigstens, immer mehr. Er entschliesst sich, sein Regiment zu verkaufen, um seine Gläubiger zu befriedigen, aus dem Dienst auszuscheiden und Hortense zu entsagen. »Die Ehre forderts und Hortensens Vorteil«. »Die Ungleichheit ist zwischen uns zu gross« (II 10). Schliesslich fällt er noch in einen höchst unwürdigen Verdacht, ja er muss glauben, indirekt an dem Unglück Hortensens schuld zu sein, da sie scheinbar durch die Untreue ihres Vormundes ihr Vermögen verloren hat. »Sein Unglück lässt ihn kalt: das ihrige erregt ihm bittre Qual«. Trotzdem drehen sich seine Gedanken mehr um seine Ehre als um seine Liebe. Die Ehre ist ihm wie eine 3 E. Schmidt I 461. École des m a r i s ist offenbar Druckfehler für École des a m i s .

294

Die Urbilder der Frauengestalten in Lessings Meisterdramen.

fixe Idee, die ihn völlig beherrscht, für alles andere blind macht und ihn nicht merken lässt, wie er in einen lieblosen Egoismus fällt. Unnoble Mittel, die ihm seine Freunde an die Hand geben, verschmäht er. »Ein Mann von Ehre anerkennt nur sich; nur er ist hier sein Richter, nie ein andrer« (III 15). Er wird verhaftet, er verzweifelt, aber er bleibt fest. Schliesslich löst sich die verschlungene Intrigue in der schönsten Weise. Seine Unschuld offenbart sich, seine Ehre wird glänzend wieder hergestellt, er erhält die erhoffte Stellung, die Braut wird ihm zu teil. Die Ähnlichkeit der Handlung der beiden Dramen und der hervorstechendsten Charaktere in ihren die Handlung bestimmenden Eigenschaften springt in die Augen. Auch in einem einzelnen scenischen Moment findet sich eine überraschende Ähnlichkeit, die auf einer Reminiscenz zu beruhen scheint. Monrose (welcher weggehen will): O, lassen Sie mich fliehen! Hortense (ihn zurückhaltend): Sie wollen von mir! Monrose: Lassen Sie mich los! Das ist das Urbild der Scene zwischen Tellheim und Minna, wie sie der Wirt erzählt (III 3).4 Hortense ist Minna, Chlorine Franziska, Monrose ist Tellheim; ein mattes Vorbild – zugegeben, wenn E. Schmidt damit nicht das Mass der Abhängigkeit bezeichnen will, sondern den Abstand in der Stärke der Charaktere. Freilich: die Empfindungswelt der École des amis ist eine ganz andere, als die der »Minna«. Dort französisch galantes Wesen, larmoyante Empfindsamkeit, die schöne Handlung in der Glorie der Tugend und Aufopferung, hier männliche Ritterlichkeit, natürlicher Edelsinn, der gesunde Egoismus aufrichtiger Menschen. Doch sind diese Veränderungen, die die Übersetzung aus dem Gallischen in das Germanische, aus der Welt des französischen Hofes in die gut bürgerlich deutsche mit sich brachte – dass die führenden Personen von Adel sind, verschlägt nichts – die Veränderungen in Ton und Colorit, die sich mit der Übersetzung in das Lessingsche von selbst ergeben, nicht die einzige Veränderung, und nicht einmal die wichtigste. Die hauptsächlichste Änderung, die Lessing an der Handlung vornimmt, besteht darin, dass er ihren Schwerpunkt verschiebt. Bei La Chaussée ist die Hauptsache, wie der Titel sagt, »die Schule der Freunde«; es kommt ihm vor allem darauf an, den Typus des wahren, selbstlosen Freundes darzustellen gegenüber dem falschen, der mit der Maske des Freundes nur den eigenen Nutzen sucht. Auch die Liebe erscheint ganz wesentlich unter diesem Gesichtspunkt. Hortense erscheint weniger als Liebende, denn als Freundin. Nur von der Freundschaft erhält die Liebe zwischen den Geschlechtern die Würde, die sie zu einer »Tugend« macht. Daneben erscheint das Motiv des Offizieres, der auf die Hand der Geliebten aus Rücksicht der Ehre verzichtet, doch nur als ein sekundäres. Dies Motiv ist aber dramatisch das bei weitem wirksamere; und so leidet die Einheit der Handlung ganz empfindlich. Das erkennt Lessing mit scharfem Blick, und hier greift 4 Nivelle de la Chaussée, L’école des amis. Übersetzt von G. Bröse. Programm, Naumburg a. S. 1902. Mit Recht bezeichnet es K. Fischer als einen feinen Zug Lessings, dass die Verzweiflungsscene nicht auf der Bühne erscheint. Sie würde in ihrer ergreifenden Bedeutung verlieren und in das Komische fallen.

295

Gustav Marseille

er mit seiner Änderung ein. Was bei La Chaussée Nebensache ist, wird bei Lessing zur Hauptsache. Aus der »Schule der Freunde« wird die »Schule der Ehre«. Ganz einheitlich wird die Handlung nun unter diesen Gesichtspunkt gestellt. Die »Schule der Freunde« läuft nur nebenher, beachtenswert genug, aber doch immer ohne die eigentliche Haupthandlung zu stören. Es zeigt sich hier bei Lessing der bewundernswerte, eminente Sinn für das Wesentliche, der immer darauf hindrängt, das Vielerlei unter einem obersten Gesichtspunkt zu ordnen und in seiner natürlichen logischen Organisation zur Anschauung zu bringen. Es ist einleuchtend, dass die Verschiebung des Schwergewichts der Handlung vor allem die Bedeutung der Frauen in der Ökonomie des Ganzen verstärken muss. Die Vereinfachung der Handlung bringt es mit sich, dass das Gegenspiel allein in den Händen der Frauen liegt. Der Konflikt zwischen Ehre und Liebe kann nur dann dramatisch wirksam werden, wenn die Liebe wirklich in tätigem Handeln als ein machtvoller Nebenbuhler der Ehre erscheint. So gewinnt der Charakter Minnas und ihrer Verbündeten viel energischere und bedeutendere Züge, als sie der Charakter ihrer Urbilder aufweist, die doch nur schwache Konturen haben. Die Liebe Hortensens bewegt sich durchaus in den Formen conventioneller Schicklichkeit. Ehe die Liebe die Sanktion durch die Ehe erhalten hat, glaubt sie ihre Neigung weder dem Geliebten noch auch sonst jemand verraten zu dürfen, ja nicht einmal haben zu dürfen. Mit Freuden opfert sie dem Geliebten ihr ganzes Vermögen auf, entsagt in Gedanken an das Refugium des Klosters nicht allzuschwer seinem Besitz, froh, wenn sie »den Freund« retten kann. Ganz anders Minna. So gar nichts Reflektiertes und Resignierendes; frisch im Handeln und ohne alle Rücksicht auf das Urteil der Welt, voll bezaubernder Unmittelbarkeit. »Sie ist eigentlich nur von einem und zwar dem gewöhnlichsten weiblichen Gedanken erfüllt: sie will unter allen Umständen ihren Mann.«5 Kühn wie ein Husar zieht sie auf Eroberung aus und kämpft tapfer um ihren Bräutigam. Ganz Weib und ohne alle Emancipiertheit, wenn auch – um der notwendigen Energie des Gegenspiels willen – bis hart an die Grenzen des Weiblichen heranstreifend. Auch vom Dichter selbst trägt sie einige Züge. Sie hat Lessingschen Verstand, wie Goethe sagt. Lessingsch ist auch »ihre nicht eigentlich generöse, sondern absolut nebensächliche Art, das Geld zu. behandeln.«6 Ihr reicht das Geld nicht bis an die Seele, wie auch Tellheim nicht und all den andern guten. Lessingsch ist auch ihr deutsches Selbstgefühl gegenüber französischer Anmassung, Lessingsch ist ihre Sprache, Lessingsch die ungemeine Sachlichkeit, mit der sie immer rasch bis zu dem Kern der Dinge vordringt. Auch die politische Tendenz, die in dem Lustspiel deutlich, doch ohne sich vorzudrängen, mit anklingt, hat den Charakter formieren helfen. Lessing hatte in seinem eignen Empfinden schon längst einen glücklichen Ausgleich zwischen seinem angeborenen Sachsentum und dem erworbenen, ihm innerlich verwandten, männlicheren Preussentum vollzogen und sich von der Überenge der partikularistischen 5 Borinski, Lessing I 136. 6 Borinski, Lessing I S. 138.

296

Die Urbilder der Frauengestalten in Lessings Meisterdramen.

Anschauungen seiner Zeit erhoben zu der Höhe gemein-deutschen Empfindens. Derselbe Prozess vollzieht sich in seinem Lustspiel. Gegenüber dem Preussentum Tellheims vertritt Minna in glücklichster Weise das Sachsentum; der Bund ihrer Herzen präformiert prophetisch und erzieherisch den Bund der feindlichen Stämme zu neuer gemeinsamen Wirksamkeit im Dienst einer Sache, vor der schliesslich alle Unterschiede der Stämme und der Völker ihre Bedeutung verlieren. So vereinigen sich in der Person Minnas Züge mannigfachster Art: politischerzieherische, spezifisch-Lessingsche, literarische. So überzeugend auch der Charakter als Ganzes wirkt, man kann doch nicht sagen wie Grillparzer, er sei »ganz aus einer Anschauung entstanden, ohne Begriff.«7 Die Intuition ist niemals bei ihm das stärkere, ursprüngliche, zeugende. Ein bestimmtes lebendes, individuelles Vorbild existiert nicht. Nur in ihrem Namen haben wir vielleicht eine leise Hindeutung auf eine bestimmte Persönlichkeit, auf Wilhelmine von der Goltz, die unglückliche Liebe seines Freundes Kleist. Was von Minna gilt, das gilt bis zu einem gewissen Grad auch von Franziska. Kaum je erscheint in der dramatischen Literatur bis zu Lessing hin die Herrin ohne die vertraute Dienerin, und so nimmt Franziska ganz ohne weiteres teil an der literarischen Verwandtschaft, in der Minna steht. Ihre spezifische Ähnlichkeit mit Nerissa oder mit Chlorine ist indess so blass, dass hier von einem Vorbild eigentlich kaum noch die Rede sein kann, zumal Nerissa und Chlorine so wenig ausgeprägte individuelle Züge haben. Dennoch ist die Franziska keine freie Schöpfung Lessings; aber ihr Urbild ist nicht in der einen oder anderen Persönlichkeit zu suchen, sondern in einer ganzen Gattung: der Spezies der Kammerzofen der französischen Bühne. Der Typus der Zofe, wie wir ihn bei Marivaux, Destouches, de la Chaussée und ihren Nachahmern finden, steht in seinen wesentlichen Eigenschaften ganz fest. Das individuelle Leben dieser Figuren fällt ganz zusammen mit dem Leben der Gattung; die Variationen zeigen alle nur einen quantitativen Unterschied in der Mischung der einmal feststehenden typischen Eigenschaften. Dass es sich nur um einen Typus handelt und nur darum handeln soll, deutet sich schon an durch die immer wiederkehrenden Namen: es ist immer eine Lisette oder eine Finette, allenfalls auch einmal eine Chlorine. Lisette ist die Vertraute ihrer Herrin; sie übernimmt damit zugleich die Funktionen, die unserem Empfinden nach billig die Mutter haben sollte, und die wir bei Shakespeare so häufig die Amme ausüben sehen. An der Intrigue hat sie den tätigsten Anteil; ist sie nicht immer die Erfinderin, so ist sie doch meist die Hauptspielerin; auf sie lädt der Dichter gern das Odium ab, das der Intrigue etwa anhaftet. Als Mitwisserin auch der delikatesten Geheimnisse hat sie das Heft sehr oft in der Hand und weiss daraus unbeschadet der Treue gegen ihre Herrin allerlei Vorteile für sich zu ziehen. Im Gefühl ihrer Wichtigkeit darf sie jedermann, nicht nur ihrer Herrin, ihre Meinung gerade heraussagen; sie ist nicht eingeengt durch irgendwelche Schranken der Schicklichkeit, und so ist ihre Redeweise bald anmutig und graziös, bald mutwillig und neckisch, schnippisch oder frech. Häufig genug erscheint in Sprache und Gebärde aller Unterschied zwischen Herrin und Dienerin verschwunden; sie erscheint als Dame, ganz 7 Grillparzer, Studien zur deutschen Literatur. Werke ed. Sauer Bd. 18 S. 44.

297

Gustav Marseille

ohne Rücksicht auf die intellektuelle und soziale Bedingtheit ihres Standes. Nie aber erscheint sie in eigentümlichem Leben, sie bleibt immer Maske. Dieser Lisettentypus ging auch in das deutsche Lustspiel über; er zeigt sich unverändert in den Lustspielen J. E. Schlegels, er zeigt sich auch deutlich in den Lustspielen und Lustspielfragmenten Lessings. Am erfreulichsten immer noch im »Schlaftrunk«. Hier ist die Finette nicht völlig mehr Schablone; sie hat doch schon mehr Blut und Leben, und entfernt sich in ihrer ehrlichen Derbheit und Natürlichkeit um ein Erkleckliches von dem gezierten, soubrettenhaften, witzelnden Wesen ihrer französischen Schwestern, zeigt aber noch gar nicht den eigentümlichen Charme der Franziska. Das Unnatürliche in dem Typus der Lisette wurde übrigens bereits in Frankreich erkannt. Schon Riccoboni der Jüngere tadelt in seiner Schauspielkunst das immer stärker werdende Bestreben der Lustspieldichter, »de donner de la noblesse aux Soubrettes«, »die Rollen der Mädchen edler zu machen«, ihnen eine Bildung und einen Witz zu geben, der ihrem Stand nicht angemessen sei.8 Der erwachende Realismus verlangt kategorisch, dass die Naturwahrheit beobachtet werde, und schon Gellert kann behaupten: »Ein Schauspiel, welches einem Mägdchen von geringem Stande Zierlichkeit, Witz und Lebensart geben wollte, würde den Beifall der Zuschauer wohl nicht erlangen.«9 Diese Richtung auf realistische Darstellungsweise sehen wir bei Lessing zum ersten Male wirksam in seiner Sara. Von da an bestimmt sie sein dramatisches Schaffen immer stärker. Realismus aber führt zum Individualisieren, denn das Reale ist niemals der Typus, sondern die Einzelerscheinung. Im Fortschritt seines dramatischen Dichtens bekommen seine Gestalten immer mehr individuelles Leben, die Masken verschwinden, und blutwarme, lebendige Menschen kommen zum Vorschein: an die Stelle der Lisette z.  B. tritt eine Franziska. Die Verwandtschaft ist noch deutlich erkennbar; aber die Lisette ist ins deutsche übersetzt und mit so kräftigen Zügen persönlichsten Lebens ausgestattet, dass man begreifen kann, wenn Grillparzer keinen einzigen Zug mehr vom französischen Kammermädchen in ihr erkennen wollte.10 Auch sie ist die Vertraute ihrer Herrin, aber nicht ihre Meisterin, auch sie nimmt teil an der Intrigue, aber die Verantwortung trägt allein die Herrin, sie ist zu ehrlich, um Freude daran zu haben, sie ist »zur Komödiantin verdorben« (V12). Auch sie ist redselig und schnippisch, ja herausfordernd und keck, aber es kommt alles bei ihr aus eigenstem Empfinden und warmem Herzen. Sie ist wirklich naiv, während es die Lisetten nur zu sein vorgeben, sie darf es wagen, ihrem Wachtmeister sich geradezu anzubieten, und sie steigt fast in unsrer Achtung. Auch sie ist witzig, ja geistreich wie eine Lisette, aber sie darf es sein, denn sie ist nicht nur die Zofe des Fräuleins, sondern zugleich ihre »liebste Gespielin«, mit der sie von klein auf alles geteilt und gemeinschaftlich gelernt hat. Auch derb und unverblümt in ihrer Rede kann sie sein, wie eine Lisette, aber niemals frech oder gar gemein. Sie ist kein »Fräulein« geworden; sie hat das 8 Riccoboni, die Schauspielkunst. Übersetzt von Lessing. Hempel 11/i S. 168 f. 9 Lessing, Abhandlungen von dem weinerlichen oder rührenden Lustspiele. Hempel 11/i S. 227. 10 Grillparzer, Bd. 18 S. 44.

298

Die Urbilder der Frauengestalten in Lessings Meisterdramen.

Fühlen des niederen Standes, aus dem sie gekommen ist, nicht verloren und darf die Dinge bei ihrem Namen nennen. Von dort her hat sie auch ihre kindliche Treuherzigkeit, ihre Menschenkenntnis und ihr gesundes Misstraun, von dort her auch ihre kindlich-rigorose Moral. Sie kann weder an einem schlechten Menschen die gute, noch an einem guten Menschen die schlechte Seite aufsuchen und fasst immer gleich die Totalität der Erscheinung ins Auge. Alles in allem eine herrliche Erscheinung, ohne Vorbild im Leben, auch sie nicht völlig aus Anschauung ohne Begriff entstanden, aber »es fiel nicht auf sie die Last seines Kunstverstandes.« Emilia Galotti Ganz offen zu Tage liegt das Urbild der Emilia. Der Vater, der seine Tochter tötet, um ihre Ehre zu retten, weist hin auf Virginius; in der Virginia haben wir das Urbild der Emilia. Indessen, wie uns Livius und Dionysius die Geschichte der Virginia erzählen,11 ist sie nur ein Nebenmotiv in der grossen Haupt- und Staatsaktion: der Umwälzung der Staatsverfassung und Vertreibung der Decemvirn. Virginia ist das unschuldige Opfer; sie verhält sich durchaus nur leidend; dementsprechend ist auch ihr Charakter nur mit wenigen Strichen angedeutet: sie ist ganz Unschuld, Reinheit, Schönheit. Es kann nicht überraschen, dass Lessing seiner Emilia diese selben allgemeinen Züge gegeben hat. Nicht ganz so selbstverständlich ist es, wenn auch Emilia gerade so wie Virginia noch mehr Kind ist als Jungfrau, wenn auch Emilia gerade so wie Virginia der Schule noch nicht völlig entwachsen ist.12 Noch weniger selbstverständlich ist die Beibehaltung des sozialen Gegensatzes, »in der virgo plebeia erkennen wir die bürgerliche Emilia wieder.« Auch die vom Prinzen auf Anraten Marinellis verfügte vorläufige Verwahrung Emiliens findet bei Livius ihr Urbild in dem Urteil, durch das Appius den vorläufigen Besitz Virginiens seinem Klienten zuerkennt, der sie als Sklavin anspricht, und mag als eine direkte Entlehnung Lessings angesehen werden.13 Lessing hat aber die Anregung für sein Drama nicht unmittelbar aus der Lektüre der alten Autoren gewonnen, sondern aus der dramatischen Bearbeitung des Stoffes, wie er ihn bei dem Spanier Montiano und dem Franzosen Campistron vorfand.14 11 Livius III 44 ff. Dionysius Halicarn. antiquitt. Rom. XI 28 ff. Vgl. Volkmann, Zu den Quellen der E. Galotti. Festschrift zur 50jährigen Gedenkfeier des Düsseldorfer Realgymnasiums. Düsseldorf 1888. S. 239. 12 Der Diener des Appius ergreift die Virginia auf dem Wege zum forum, ibi namque in tabernis literarum ludi erant. (Livius III 44.) Ταύτην τὴν κόρην ἐπίγαμον οὖσαν ἤδη ϑεασάμενος Ἄππιος Κλαύδιος … ἀναγινώσκουσαν ἐν γραμματιστοῦ (Dionysius Cap. 30). 13 Hebler, Lessingiana. Bern 1877. S. 18. 14 Die Virginia des Don Augustino de Montiano y Lyando erschien im Jahre 1754 in einer französischen Übersetzung von Hermilly. Lessing gibt noch im selben Jahr in der Theatralischen Bibliothek einen ausführlichen Auszug dieser Tragödie des »grössten tragischen Dichters, den itzt Spanien aufweisen kann.« Die Bekanntschaft Lessings mit der Virginia Campistrons (1750) ist nicht absolut sicher bezeugt; da er aber in seinem Entwurf zum Alcibiades die gleichnamige Tragödie Campistrons als Quelle nennt, so darf angenommen werden, dass er auch seine Virginia gelesen hat (vgl. Volkmann), um so mehr, da innere Gründe die Annahme bestätigen.

299

Gustav Marseille

Beiden Dichtern ist die Befreiung des Volkes nicht mehr der Hauptgegenstand der Handlung; sie machen beide das Schicksal der Virginia zur Hauptsache, die Staatsumwälzung bildet den Hintergrund. Denselben Weg ging auch Lessing. Zunächst hatte er die Absicht, diesen Vorbildern unmittelbar zu folgen und gleichfalls eine Virginia zu dichten. Er nahm damit ein altes Motiv wieder auf, das ihn schon früher beschäftigt hatte: das verwandte Schicksal der Lucretia. (Vgl. den dramatischen Entwurf »Das befreite Rom«.) Eine Szene nur ist uns aus diesem Versuch der »Virginia« erhalten geblieben; aber so kurz sie ist: es lässt sich doch die Verwandtschaft mit den Vorbildern kaum verkennen. Auch in seine vollendete Emilia sind individuelle Züge wenigstens aus Campistron übergegangen: Virginia wird von dem Altare weg aus der Vermählungsfeier durch Clodius entführt und in den Palast des Appius gebracht und zwar ohne von Appius dazu beauftragt zu sein.15 In der Hauptsache aber geht Lessing weit über Montiano und Campistron hinaus. Bei ihnen ist die Handlung immer noch eine doppelte, so sehr sie auch bestrebt sind, die Handlung der Virginia gegenüber der Staatsaktion in den Vordergrund zu schieben. Erst in der Katastrophe münden die beiden Handlungen in einander. Das Interesse des Zuschauers wendet sich notwendig in gleicher Stärke beiden Handlungen zu. Das Schicksal der Virginia würde unerträglich peinlich sein, wenn nicht der herrliche Preis ihres Todes die Freiheit eines geknechtet gewesenen Volkes wäre. Noch weiter zu gehen in der Zurückdrängung des politischen Motives hinderte sie die eigentümliche Natur des Virginiamotives mit seiner immanenten Duplicität der Handlung, noch weiter zu gehen hinderte sie auch ihr »dramatischer Kodex«, der im falschen Verständnis des Aristoteles Handlungen verlangte, »bei denen das Staatswesen interessiert war«. Hatte doch Campistron dieser Theorie zu Liebe aus der Plebejerin Virginia gar eine vornehme Dame gemacht, »die viel von der Rücksicht, die sie ihren Vorfahren schuldet, und viel von den Überlieferungen der Familie zu deklamieren weiss.«16 Mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit drückt sich der Fortschritt in der Auffassung Lessings in dem berühmten Brief an Nicolai vom Januar 1758 aus.17 »Sein jetziges Sujet ist eine bürgerliche Virginia, der er den Titel Emilia Galotti gegeben. Er hat nämlich die Geschichte der römischen Virginia von allem dem abgesondert, was sie für den ganzen Staat interessant machte; er hat geglaubt, dass das Schicksal einer Tochter, die von ihrem Vater umgebracht wird, dem ihre Tugend werter ist als ihr Leben, für sich schon tragisch genug und fähig genug sei, die ganze Seele zu erschüttern, wenn auch gleich kein Umsturz der ganzen Staatsverfassung darauf folgte«. Freilich ist das Schicksal eines solchen Mädchens tragisch genug, aber wenn ihr Schicksal nicht mehr verbunden ist mit einer Umwälzung der Staatsverfassung, so ist das Mädchen keine Virginia mehr. Aus der Virginia ist die Emilia geworden. Die Namensänderung ist also keine Willkür, sondern entspricht durchaus den veränderten Verhältnissen. Leider ist uns diese Emilia vom Jahre 1758 in 3 Akten nicht mehr 15 Vgl. Volkmann a. a. O. S. 241. 16 Volkmann a. a. O. S. 240. 17 1758, Jan. 21. Hempel 20/i S. 145.

300

Die Urbilder der Frauengestalten in Lessings Meisterdramen.

erhalten, und so können wir nur Vermutungen darüber wagen, was Lessing veranlasst hat, das höchst wirkungsvolle Motiv aus seinem allbekannten Zusammenhang zu lösen. Seine eigne Angabe, dass er sein Drama mit allen Freiheiten der englischen Bühne gearbeitet habe, bringt uns in ihrer Unbestimmtheit keinen Schritt weiter. Reizte ihn die Schwierigkeit des Problems? Steht er schon hier unter dem Einfluss der Shakespeareschen Charaktertragödie und will er das Schicksal der Personen nur aus ihrem Charakter ableiten, nicht aus dem Zwang äusserer Umstände? Oder liegt aller Nachdruck auf der b ü r g e r l i c h e n Virginia? Lockte es ihn, von neuem den Spuren Diderots zu folgen und im Gegensatz gegen die französische Klassizität das Motiv herauszulösen aus der Welt der grossen politischen Geschehnisse und seine Wirksamkeit um so stärker zu zeigen in der bürgerlichen Welt auf dem Boden einfach menschlicher Verhältnisse? Störte seinen stets auf das Einfache hindrängenden Geist auch hier wieder die Duplicität der Handlung und glaubte er etwa, mit der gesonderten Betrachtung des Schicksals der Virginia »den eigentlich tragischen Kern herauszuschälen?«18 Das letzte möchte ich für diese Zeit noch nicht annehmen, wohl aber glaube ich, dass es den Ausschlag gibt, als er sich in der Hamburger Zeit von neuem mit der Emilia beschäftigt. Von der Hamburger Dramaturgie her können wir die Entwicklung verfolgen. Es handelt sich ganz wesentlich um den Charakter der Emilia. Durch erneutes Studium des Aristoteles und fortgesetzte kritische Beschäftigung und Übung am Hamburger Theater vertiefte sich seine Erkenntnis vom Wesen des Tragischen. Jetzt ist ihm Montiano der grosse Dichter nicht mehr und seine »Virginia« in der pseudo-aristotelisch korrekten Manier der Franzosen lehnt er ab; aber auch das Virginiamotiv überhaupt hat er jetzt nicht mehr als ein tragisches im vollen Sinne gelten lassen können. Zweifellos erweckt das Schicksal der Virginia, die vom Geschick dazu ausersehen ist, durch ihren Tod ihrem Volke zur Freiheit zu verhelfen, tragisches Mitleid , und zwar in um so höherm Grade, je reiner, je unschuldiger sie ist. Aber um so weniger vermag sie uns das Gefühl der tragischen Fu r c h t zu erwecken. Der wahrhaft tragische Held aber im Aristotelisch-Lessingschen Sinne soll in uns durch sein Schicksal beide Empfindungen in gleichem Masse erwecken. Das Schicksal der Virginia ist nur das Ergebnis der »unwiderstehlich zwingenden Macht der Verhältnisse«, von einem ἁμάρτημα ihrerseits ist bei Montiano und Campistron nichts zu sehen, es verträgt sich auch schlechterdings mit dem Virginiamotiv nicht. Erst in der Gestalt, die Lessing dem Motiv gibt, wirkt es tragisch im vollen Sinn. »Man nenne mir das Stück des grossen Corneille, welches ich nicht besser machen wollte«.19 Hier in der Emilia haben wir den einzigen Versuch Lessings, sein kühnes Wort wahr zu machen. Gerade in den Punkten aber, in denen er von der korrekten französischen Manier des Montiano und Campistron abweicht, muss Lessing doch wenigstens das haben zeigen wollen, dass er das Wesen des Tragischen besser erkannt habe. Ich vermag deshalb Baumgart nicht zu verstehen, wenn er sagt, Lessing habe vorsätzlich nur

18 Volkmann a. a. O. S. 242. 19 Hamb. Dramaturgie St. 101 – 104.

301

Gustav Marseille

die mitleidswürdige Seite herausgearbeitet, vorsätzlich die furchtbare zurücktreten lassen.20 Das Gegenteil ist m. E. der Fall. Gerade der Umstand, dass das Schicksal der Virginia nur M i t l e i d , aber keine Fu r c h t erregt, hat Lessing bewogen, das Motiv in seiner alten Form endgültig fallen zu lassen. Inwiefern es in der Fassung, die Lessing ihm gab, im stande ist, tragische Fu r c h t zu erregen, wird später zu erweisen sein. Mit der Ausscheidung aller politischen Verhältnisse, mit der Übertragung des Virginiamotivs in die bürgerliche Welt muss auch die Katastrophe aufhören, eine Folge der brutalen Macht der äusseren Verhältnisse zu sein; nun ist sie die Folge eines Konfliktes, der sich im Herzen der handelnden Personen abspielt. Nach der neu gewonnenen Einsicht in das Wesen des Tragischen, des Verhältnisses von Schicksal und Schuld, müssen in Emilias Charakter selbst die Ursachen ihres Todes liegen. Danach gestaltet sich der Charakter der Emilia. Nach diesem seinem Grundzug ist der Charakter nicht ein natürliches Phänomen, sondern Lessing findet ihn gewissermassen durch Konstruktion seines Kunstverstandes. Ebensowenig schöpferisch ist Lessing in der Art und Weise, wie er inhaltlich die Schuld der Heldin bestimmt, wie er Schuld und Katastrophe zusammenknüpft. Das Problem, das der Charakter der Emilia enthält, ist seinem eignen Innern vollständig fremd, es ist durchaus anempfunden. Es ist ein eigentümliches und durchaus nicht anziehendes Schauspiel, einen Mann von der sittlichen Simplicität Lessings sich abmühen zu sehen mit einem so intimen, der Pikanterie nicht entbehrenden Problem. Nehmen wir noch hinzu, dass Lessing derjenige von den deutschen Dichtern ist, den eigene Erfahrung und Neigung am wenigsten befähigten, in die Geheimnisse einer weiblichen Seele einzudringen, so haben wir doppelt Ursache, nach den Quellen zu suchen, aus denen das so gar nicht Lessingsche Problem geflossen ist. Von vornherein dürfen wir annehmen, dass es eine starke Macht gewesen sein muss, die ihn in ihren Bann zieht. Es ist der Geist der Zeit, der ihm das Problem gibt. Unverkennbar ist es eine Zeit mächtigen Aufschwungs. Lang zurückgehaltene Kräfte streben gewaltsam empor. Die ausserordentliche Ungunst der politischen Verhältnisse verhindert vorläufig die strebenden Kräfte, sich nach aussen zu richten und die Spannung der Seele zu entladen in Taten grossen Stils. Zum metaphysischen Hochflug ist die Seele noch nicht stark genug, ihre religiöse Schwungkraft ist ermüdet unter dem bleischweren Druck einer schliesslich geistlos und gewalttätig gewordenen Orthodoxie, und so wendet sie sich mit aller Leidenschaft auf das eigene Ich. Mit fanatischem Wahrheitseifer und lüsterner Neugier untersucht sie in dem Abgrund ihres seelischen Lebens die Quellen ihres Lebens. Man will der Seele ihr Geheimnis abzwingen, indem man in peinlichster Selbstbeobachtung die feinsten Würzelchen ihres Lebens blosslegt. In Tagebüchern und Briefen wird auch das Zarteste, das ewig verhüllt bleiben sollte, mit einer Rücksichtslosigkeit dargelegt und ausgesprochen, die ein gesundes Empfinden abstösst. Neben der Ängstlichkeit der differenziertesten, zartesten Sittlichkeit die Brutalität frivoler Lüsternheit. Das sexuelle Leben wird als ein Hauptproblem empfunden und dominiert in der Literatur und im ganzen Empfinden der Zeit; selbst in 20 Baumgart, Poetik S. 491.

302

Die Urbilder der Frauengestalten in Lessings Meisterdramen.

der Stimmungswelt der neu entstehenden sektiererischen Gemeinschaften macht es sich oft genug als ein höchst fatales Ingredienz bemerkbar. Der Charakter der Literatur ist dementsprechend durchaus feministisch. Das Weib bildet den Mittelpunkt, zumal das gefallene Weib, oder vielmehr das fallende.21 Richardson mit seinen Romanen, Rousseau mit seiner Nouvelle Heloïse sind die Propheten der Zeit. Auch Lessing hat sich von dem herrschenden Zeitgeschmack nicht frei erhalten können. Auch er behandelt erotische Probleme, die wegen ihres geradezu pathologischen Charakters eigentlich nicht Gegenstände künstlerischer Behandlung sein sollten. Seine »Fatime« und seine »Matrone von Ephesus« hat er glücklicherweise wieder fallen lassen, in der Sara hat er das moderne Problem vollständig ausgeführt, in der Emilia nimmt er es von neuem auf. Wie sehr Lessing in seiner Sara abhängig ist von Richardson, ist bekannt. Dass von dort auch eine Menge Fäden zur Emilia hinüberlaufen, dass auch hier Lessing von R. bewusst oder unbewusst stark abhängig ist, das hat Kettner überzeugend nachgewiesen.22 Gerade in dem Charakter der Emilia ist die Abhängigkeit besonders gross, so gross, dass man Clarissa direkt als das eigentliche Urbild der Emilia bezeichnen muss. Kettner hat durch genaue Vergleichung evident gemacht, dass Lessing in der Anlage und Entwicklung der Charaktere den Spuren Richardsons folgt. Ich hebe hier nur kurz die Hauptpunkte heraus: die Gleichheit der äusseren Lebensbedingungen, die Ähnlichkeit der Elternpaare, das Ängstliche und Unfreie der Sittlichkeit der Mädchen, die übermässige Empfindlichkeit und Zartheit des Gewissens, das durch die kleinste Antastung seiner Reinheit in die schwersten Kämpfe gestürzt wird, die Neigung zu selbstquälerischem Grübeln, die unwiderstehliche Macht der Sinnlichkeit, die seltsame Mischung von Furcht und geheimer Neigung dem Verführer gegenüber, und schliesslich das leidenschaftliche Begehren für die Schuld zu büssen, die bei beiden nur in einer Unbedachtsamkeit besteht. Auch der Gang der Handlung und die Örtlichkeit zeigt in Rücksicht auf die Heldinnen bemerkenswerte Ähnlichkeit: beide eifrige Kirchgängerinnen, die entscheidende Annäherung in der Kirche, der Überfall der Geliebten in der Kutsche, das Haus der Grimaldi. Beide erniedrigen sich in der Angst ihrer Seele zu demütigen Bitten und zum Fussfall vor dem Verführer, beide sind willens, ihr Leben selbst zu enden, um ihre Freiheit zu retten. Der Hauptunterschied ergibt sich daraus, dass Lessing das antike Virginiamotiv nicht hat fallen lassen, sondern mit dem modernen der Clarissa »kontaminiert« hat. Demgemäss bleibt Emilia vor dem Schicksal der Clarissa bewahrt. »Eine Rose gebrochen, ehe der Sturm sie entblättert.« Andere Unterschiede ergeben sich aus der Verschiedenheit der Dichtungsart; das Drama musste sich damit begnügen, nur anzudeuten, wo der Briefroman sich in breitester Motivierung ergehen konnte. Aber in dem, was er nicht sagt, sondern nur andeutet, zeigt sich vielleicht weniger ein Unterschied der dargestellten Charaktere als ein Unterschied in der Empfindungsweise 21 Vgl. dazu besonders die Charakteristik der vielgelesenen Briefe Chesterfields an seinen Sohn bei Honegger, Kritische Geschichte der französischen Kultureinflüsse. S. 292. 22 Kettner, Lessings E. Galotti und Richardsons Clarissa. Zeitschrift für den deutschen Unterricht. XI. S. 445.

303

Gustav Marseille

der beiden Dichter. Lessing selbst war nicht im mindesten empfindsam. In feinem sittlichen Takt vermeidet er es, auch nur den Versuch zu machen, den seelischen Zustand der Emilia in den Stunden, wo sich in ihr die Katastrophe vorbereitet, genauer darzulegen, fast auf Kosten des künstlerischen Eindrucks. Emilia spricht kein Wort mehr, als wie unbedingt unerlässlich ist, um die Katastrophe herbeizuführen. Die genetische Betrachtung, wie wir sie im Vorhergehenden angestellt haben, kann natürlicherweise nicht ohne Einfluss bleiben für die Auffassung des Charakters der Emilia und zumal der Katastrophe. Sie wird uns einen festen Standort geben innerhalb des krausen Gewirres der widersprechenden Meinungen. Nur unter Berücksichtigung der zeitlichen Bedingtheit, nur wenn man die psychologischen Voraussetzungen fest im Auge behält, die Lessing bestimmen, wird man im stande sein, das zu erkennen, was Lessing mit dem Charakter der Emilia gewollt hat. Alle Untersuchungen, die diesen Zusammenhang ausser acht lassen, wie z.  B. die von K. Fischer und Bernays,23 so glänzend sie auch sind, können uns nicht weiter bringen. Auch Baumgart berücksichtigt in seiner scharfsinnigen und pietätvollen Untersuchung diesen Zusammenhang nicht genug; er legt an den Charakter der Emilia den Masstab des modernen Empfindens an und imputiert so Lessing einen schweren ästhetischen Fehler. Baumgart macht aus dem Charakter der Emilia ein ganz »singuläres Phänomen« mit einer so einzigartigen »Hyperästhesie des sittlichen Bewusstseins«, dass wir ihn nicht mehr als die einzelne Erscheinung eines Gesetzes, dem auch wir unterworfen sind, ansehen können. Ihrem Geschicke fehle durchaus die Allgemeinheit, welche die Vorstellung desselben tragisch-furchtbar mache.24 Indessen: so fremd der Charakter unserem modernen Empfinden ist, er entsprach doch dem Empfinden seiner Zeit, die an derselben, geradezu pathologischen Unsicherheit und Hyperästhesie des moralischen Bewusstseins litt. Nicht einen singulären Charakter hat Lessing in seiner Emilia dargestellt, sondern einen solchen, der unter Berücksichtigung seiner zeitlichen Bedingtheit als normal gelten kann, jedenfalls auch von ihm so aufgefasst worden ist, denn er schreibt an Nicolai: »Die Rolle der Emilia erfordert gar keine Kunst. Naiv und natürlich spielen kann ein junges Mädchen ohne alle Anweisung.« Nichts anderes sieht er in ihr als ein Mädchen mit den normalen Tugenden der Frömmigkeit und des Gehorsams.25 Nicht einmal ein hervorstechender Charakter soll sie sein.26 Dem Charakter kommt also, wenn wir ihn, wie billig, von den psychologischen Voraussetzungen der Zeit aus betrachten, durchaus das Prädikat der Allgemeinheit zu, und damit lallt der Einwand, den Baumgart gegen die tragische Wirksamkeit der Katastrophe macht. Dass allerdings an der Katastrophe irgend etwas nicht in Ordnung ist, dass sie zum mindesten nicht überzeugend ist, das beweist gegen die wenigen unbedingten Verteidiger die grosse Zahl der Dichter und Kritiker, die sich mehr oder weniger ablehnend verhalten. Nur hätte man nicht dem Beispiel Goethes folgen sollen, der zur 23 Bernays, Über den Charakter der E. Galotti. Ges. Schriften Bd. III. 24 Baumgart S. 459 ff. 25 An Karl Lessing 1772, Febr. 10. Hempel 20/i S. 482. 26 Ebenda.

304

Die Urbilder der Frauengestalten in Lessings Meisterdramen.

Erklärung der Katastrophe eine geheime Neigung der Emilia zum Prinzen glaubte »subintelligieren« zu müssen und es als den Grundfehler der Tragödie bezeichnete, dass dies nirgends ausgesprochen sei. Wäre das Lessings Meinung gewesen, so würde dies der Meister dramatischer Technik nicht nur angedeutet, er würde Emilia sicher als verliebt handelnd eingeführt haben. Noch weniger darf man sich das Verständnis der Katastrophe dadurch erleichtern wollen, dass man die Tat Odoardos als eine Übereilung auffasst; die Perspektive, die dieser Gedanke eröffnet, würde die Tragödie vollends aus den Angeln heben. Auf einen falschen Weg führen m. E. auch alle die Deutungsversuche, die an dem klaren Sinn der Worte, mit denen Emilia ihren Vater zur entscheidenden Tat treibt, etwas hinweginterpretieren wollen. Sie müssen in ihrem wörtlichen, harten Verstand genommen werden. Emilia fürchtet tatsächlich, dass sie sich verlieren könnte – Lessing will es so – und die Angst und Verwirrung ihrer Seele lässt sie alle Rücksicht vergessen. Alles drängt auf einen heroischen Ausgang hin. Aber befangen in den psychologischen Voraussetzungen seiner Zeit27 hat Lessing alles getan, um den Charakter seiner Emilia, selbst in der Katastrophe so wenig heroisch erscheinen zu lassen, wie nur möglich war, und das ist wohl der Grund dafür, dass die Katastrophe so wenig überzeugend und tragisch wirksam ist. Mitspielen mag noch seine antike Geringschätzung des weiblichen Geschlechtes überhaupt, stärker noch im besonderen seine Abneigung gegen das falsche, rhetorische Pathos der Heroinen der französischen Bühne28, es mag eine logische Konsequenz seines deterministischen Standpunktes sein: so ist eben diese Konsequenz in ästhetischer Hinsicht verhängnisvoll, so hat eben der Kritiker und Philosoph den Sieg über den Dichter davongetragen. Jedenfalls behält das Drama in der Kompliziertheit seiner Detailbeziehungen stets für unsere Phantasie etwas Inkommensurables. »Mein Ding von einer Tragödie«,29 so nennt Lessing sein Werk selbst, und in einem Brief an Voss gibt er seiner Unzufriedenheit noch schärfer Ausdruck, wenn er schreibt: »Ich habe Ihnen eine neue Tragödie versprochen, aber wie gut oder wie schlecht – davon

27 Bestärkt wurde Lessing in seiner Anschauungsweise zweifellos durch die Nouveaux essais sur l’entendement humain Leibnizens. Excerpte und Übersetzungsfragmente (Hempel 13 340 f.) beweisen, dass Lessing das Werk gleich nach seinem Erscheinen im Jahre 1765 genau studiert hat, also gerade zu einer Zeit, wo er sich eifrig mit der Emilia beschäftigte. Leibniz hat als erster den dunklen Untergrund des seelischen Lebens untersucht und gezeigt, welche Bedeutung auch die kleinsten, unbewussten und unfreiwilligen, aber beständig wirksamen Vorstellungen für die Entstehung der einzelnen Willenshandlungen und des gesamten Charakters haben. Der Raum verbietet mir, auf die interessante und wichtige Beziehung näher einzugehen, doch vgl. Kettner, der in seiner Pförtner Gratulationsschrift für die Schola Afrana zuerst auf den Zusammenhang aufmerksam gemacht hat. 28 »Die jungfräulichen Heroinen und Philosophinnen sind gar nicht nach meinem Ge­ schmacke. Wenn Aristoteles von der Güte der Sitten handelt, so schliesst er die Weiber und die Sklaven ausdrücklich davon aus.« 1772, Febr. 10. 29 Ebenda.

305

Gustav Marseille

habe ich nichts gesagt. Je näher ich gegen das Ende komme, je unzufriedener bin ich selbst damit. Und vielleicht gefällt Ihnen auch schon der Anfang nicht.«30 Ein lebendes Urbild lässt sich für Emilia in keinem einzigen Zuge nachweisen. Doch etwas Eigentümliches von seinem Wesen hat Lessing seiner Emilia gegeben; es zeigt sich in ihren letzten Worten, in denen sie eine befremdende und der Situation anscheinend so gar nicht angemessene Neigung zur Geistreichigkeit zeigt. »Es, war Lessings Art, dass er wirklich in Not und Verzweiflung Briefe voll bitteren Witzes schrieb. Emilia spricht, wie Lessing als Mensch sprach, nicht wie er es als Dramaturg forderte.«31 Fast 20 Jahre hat sich Lessing mit seiner Tragödie getragen; aus mancherlei Quellen sind ihm während dieser Zeit die Züge zusammengeflossen für den Hauptcharakter, für die Emilia. Das ist der Einheit ihres Charakters nicht zu gute gekommen. Anders steht es mit der Orsina. Sie ist in viel höherem Grade die Schöpfung des Genies. Zwar die Geburt eines Augenblicks ist auch die Gestalt der Orsina nicht; auch sie hat ihre kleine Entstehungsgeschichte. Nicolai spricht in einer Anmerkung zu Lessings Brief vom 21. Jan. 1758 von einer dreiaktigen Emilia, deren Plan er 1745 in Berlin gesehen habe. »Nach demselben war«, so fährt er fort, »die Rolle der Orsina nicht vorhanden, wenigstens nicht auf die jetzige Art.« An diese Bemerkung anknüpfend hat Werner versucht, die dreiaktige Emilia ohne die Orsina zu rekonstruieren. Da aber zwischen dieser dreiaktigen Emilia von 1758 und der vollendeten von 1772 noch die fünfaktige, nur für die Aufführung bestimmte und uns ganz unbekannte Bearbeitung von 1768 mitten innen steht, so ist allerdings »der Operationsboden so schlüpfrig«, dass man an der Möglichkeit einer auch nur einigermassen zuverlässigen Rekonstruktion verzweifeln muss.32 Indes können wir doch in dem dramatischen Kalkül des Dichters genau die Stelle angeben, wo die Gestalt der Orsina entsprungen ist. O. Ludwig drückt es schroff aus, wenn er sagt, Orsina verdanke ihre Entstehung einem blossen Notbehelfe; sie sei geschaffen, um Odoardo den Dolch in die Hand zu spielen und seine Leidenschaft zu steigern.33 Die Sache liegt doch tiefer; eine Waffe wenigstens wäre auf einfachere Weise zu beschaffen gewesen. Der natürliche, nächstliegende Verlauf der Handlung wäre der gewesen, dass Odoardo den Prinzen tötet, und das liegt auch in Odoardos Plan; aber »die tragische Kunst verlangt den Tod Emiliens«. Diese Änderung in dem Plane Odoardos zu vermitteln und zu begründen ist die Aufgabe, die Orsina zu erfüllen hat, freilich ohne dass sie sich dessen bewusst wäre oder dass sie es gar wünschte.34 Odoardo empfängt von ihr die Aufklärung über die Vorgänge, deren Zusammenhang ihm noch verborgen ist, er empfängt dann auch aus ihren Händen 30 1772, Jan. 25. 31 R. Meyer, Lessings Theater. Vierteljahrschrift für Literaturgeschichte Bd. III S. 298 f. 32 Dies das Urteil E. Schmidts. Vgl. seine Besprechung von Werners Schrift in dem Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur. Bd. IX S. 61 ff. 33 O. Ludwig V 327. 34 cf. Arnold, Lessings E. Galotti in ihrem Verhältnis zur Poetik des Aristoteles und zur Hamb. Dramaturgie. Progr. Chemnitz 1880.

306

Die Urbilder der Frauengestalten in Lessings Meisterdramen.

den Dolch zu dem Zweck, den Prinzen zu töten. Aber nun erscheint er sich zu sehr als der Beauftragte der Orsina; es wird ihm ein unerträglicher Gedanke, zugleich mit seiner Tochter auch eine Orsina zu rächen. »Was hat die gekränkte Tugend mit der Sache des Lasters zu schaffen?« Er gibt den Plan, den Prinzen zu töten, völlig auf; Emilia geht allein in den Tod, niemand wird »gewürdigt«,35 ihr dahin zu folgen. So muss die Gestalt der Orsina für die Emilia schliesslich noch als »dunkle Folie« dienen, auf der sich ihr reines Wesen in lichter Klarheit abhebt; doch ist die Orsina zugleich edel genug, dass wir rückschließend auch die Angst der Emilia gegenüber der dämonischen Anziehungskraft des Prinzen begreifen. Schon einmal hat sich Lessing in der Gestaltung einer ähnlichen Figur versucht; die Orsina geht zurück auf die Marwood. Beide sind Maitressen; die um einer anderen Liebe willen verlassen wurden, beide sind Furien der Rache. In dem Charakter der Marwood indes verrät sich noch keine grosse künstlerische Gestaltungskraft, es sind in ihm die widersprechendsten Elemente mit einander verbunden. Auf der einen Seite ist sie uneigennützig, der Entsagung fähig, offenherzig, voll des zärtlichsten Gefühls, auf der anderen masslos selbstsüchtig, gefühllos, komödiantenhaft und heuchlerisch. Einmal ist sie bereit, Mellefont alle galanten Zwischenabenteuer nachzusehen, wenn er nur immer wieder zu ihr zurückkommt, und dann zeigt sie wieder eine wahnsinnige Eifersucht. In der Gemeinheit ihrer Gesinnung erinnert sie noch stark an die Milwood Lillos, in ihrer »blutdürstigen Eifersucht« gelegentlich an die Medea; wie diese will sie ihr eigenes Kind töten, um den ungetreuen Vater ins Herz zu treffen. Aber was hat doch eine Milwood mit einer Medea gemein! Es konnte Lessing nicht gelingen, aus der Kombination zweier so urverschiedener Typen eine einheitliche Gestalt zu schaffen. Wie anders dagegen Orsina eine Gestalt aus einem Guss! Lessings Gestaltungskraft erreicht in ihr einen Höhepunkt, »der noch über alle Geburten der deutschen dramatischen Literatur siegend hinwegschaut«.36 Er hat mit ihr der dramatischen deutschen Literatur das »Modell des stolzen, leidenschaftlichen Frauencharakters« gegeben, das seither oft nachgeahmt, aber bisher noch nicht übertroffen wurde.37 Hier ist keine Milwood, sondern eine dem Edlen zugewandte Seele. Sie hat in der Maitresse nicht das Beste von ihrem Selbst verloren, und im quälenden Bewusstsein ihrer unwürdigen Stellung doch noch ihre Würde zu behaupten vermocht. Hier ist auch keine Medea; ihr Stolz ist mächtiger als ihre Eifersucht. Nicht die Nebenbuhlerin, an die sie alles verloren hat, ist der Gegenstand ihrer Rache. Gewiss: auch sie vereinigt in sich anscheinend ganz widerstrebende Eigenschaften, aber die Einheit ihres Charakters ist durch solche Verbindung von Widersprechendem nicht in Frage gestellt.

35 Rohleder, Lessings E. Galotti als Lektüre für Prima. Stargard Programm 81. 36 O. Ludwig VI S. 423. 37 Borinski, Lessing I S. 135. E l o e s s e r meint, die Milwood eröffne die Reihe der sogenannten Machtweiber, wenn man ihr die grossen Züge wiedergebe, die ihr in der deutschen Übersetzung durch die Beseitigung des fünten Aktes genommen seien. Eloesser, das bürgerliche Drama, S. 24.

307

Gustav Marseille

So ist die Orsina in der Tat Lessings »ureigenste Schöpfung«, wenn sich ihm auch der Ausdruck bacchantischer Raserei gestaltet haben mag unter dem Einfluss der »Bakchai« des Euripides und der Novellen Bandellos,38 wenn er auch von dort her – wie ich vermuten möchte – manche glutvollere Farbe borgte, die ihm auf seiner Palette fehlte. Auch von seinem eignen Wesen hat Lessing hinzugetan. Nicht nur ihre sententiösgeistreiche Redeweise im allgemeinen, so trefflich motiviert sie auch ist, erinnert stark an Lessing selbst; ganz Lessingsch ist im besondern nach Kettners treffender Bemerkung die Form der Gebetsapostrophe, in die ihr Erguss über den Zufall ausklingt. Lessing pflegt sie selbst anzuwenden in seinen theologischen Streitschriften, »wenn ihn die Betrachtung an die Grenzen des Menschlichen führt und er sich gleichsam von dem unmittelbaren Gefühl des göttlichen Waltens hingerissen fühlt.39 Noch viel weniger selbständige Bedeutung als Orsina hat die Mutter Claudia. Bei Montiano haben wir noch an Stelle der Mutter die Amme Publicia. Aber Lessing konnte sich nicht wie Montiano mit einer Amme begnügen. Dem Rate einer Amme hätte Emilia an dem entscheidenden Punkte, wo sie in der Verschweigung der Begegnung mit dem Prinzen die tragische Schuld auf sich lädt, nicht folgen können, ohne uns direkt leichtfertig zu erscheinen und damit allzusehr an Sympathie einzubüssen. Darum lässt Lessing eine Autorität auf sie wirken, der gegenüber sie in entscheidungsvoller Stunde erklären mag: »Nun ja, meine Mutter! Ich habe keinen Willen gegen den Ihrigen.«40 Nicht nur in diesem einzelnen Zuge, sondern durchweg ist der Charakter der Mutter darauf angelegt, den Charakter der Emilia zu exponieren und die Katastrophe wahrscheinlich zu machen. Gutmütig beschränkt und kleinlich alltäglich, gerade eben rechtschaffen und tüchtig genug, um die Hingebung der Tochter an ihre Leitung begreiflich zu machen, aber weder hochsinnig noch einsichtig genug, um auf ihr innerstes Denken einen wesentlichen Einfluss gewinnen zu können, und in ihrer nüchternen Gesinnung unfähig, das Herz der Emilia mit ihrer schwärmerischen Anlage zu verstehen und richtig zu leiten.41 So wird es verständlich, dass die hochsinnige, grundehrliche Emilia in der Not ihrer Seele nicht bei der Mutter, sondern beim Vater ihren Halt sucht. Dass der Mutter ein weit geringerer Einfluss auf die Tochter eingeräumt ist, hängt zusammen mit dem männlichen Charakter der ganzen Aufklärungszeit. Diese Zeit übersieht die stillen, aber doch sehr starken Einflüsse, die zumeist durch die Art der Mutter bestimmt sind. Die Mutter erscheint selten im Drama; selbst in Diderots beiden Meisterdramen tritt keine Mutter auf, deren Gestalt doch erst das Familienbild vervollständigen würde. Wo die Mutter erscheint, ist sie häufig nur ein beschränktes, sinnliches Wesen. Das mochte oft genug der Wirklichkeit entsprechen, denn für die

38 E. Schmidt II 35. 39 Kettner, a. a. O. S. 16. 40 Vgl. Volkmann a. a. O., S. 251, der mir allerdings in der Entlastung der Emilia zu weit geht. 41 cf. Baumgart a. a. O. S. 487.

308

Die Urbilder der Frauengestalten in Lessings Meisterdramen.

Bildung des weiblichen Geschlechtes geschah ja überhaupt in dieser Zeit fast nichts. Der Vater erscheint als der von der Natur bestimmte Lehrer und Pädagog.42 Für das Verhältnis der Claudia zu ihrem Mann mag ein literarisches Urbild sein das Verhältnis der Mutter Clarissens zu ihrem Vater. Näher liegt es, an das lebendige Urbild zu denken, das Lessing in seinen eignen Eltern hatte. Es war ein trübes Bild, das sich vor seinen Augen entrollte, wenn er seines Vaterhauses gedachte. »Das Herz blutet mir, wenn ich an unsere Eltern denke«, so schreibt er an seinen Bruder Karl gerade zu der Zeit, wo er mit der Emilia eifrig beschäftigt war.43 Der Vater ausserordentlich heftig und heissblütig, durch die Not des Lebens, Miseren aller Art und unbefriedigten Gelehrtenehrgeiz verbittert. Die Mutter daneben schon von Haus aus ängstlich und kleinmütig, schliesslich kränklich und von der Sorge um das tägliche Brot ganz darniedergedrückt. Sie musste neben diesem Manne, dem sie auch geistig nicht gewachsen war, bald völlig verschüchtert werden, und sie mag nur zu sehr in dem Verhältnis zu ihrem Manne das Verhältnis Claudias zu Odoardo vorbilden. Nathan der Weise. Um einen festen Standort für die Beurteilung zu gewinnen, müssen wir fest ins Auge fassen, dass der Nathan eine Streitschrift ist, dass ihn »Polemik hat entbinden helfen.«44 Zwar sind auch Lessings andere bedeutendere Dramen Streitschriften – was wäre bei Lessing nicht Streitschrift! – aber die Polemik ist da doch rein formaler Natur: nur durch seine Form streitet das Kunstwerk gegen das Hergebrachte. Anders beim Nathan. Nicht um die Kunstform des Dramas ist es Lessing hier zu tun, sondern um seinen materiellen Inhalt, nicht um einen ästhetischen Eindruck, sondern um einen moralisch-religiösen. Ein Anti-Götze soll das Drama werden, ein letztes Wort in dem theologischen Streit, ein wuchtiger, vernichtender Schlag gegen seinen Gegner, der Form nach nur ein notgedrungener »dramatischer Absprung.«45 Das Kunstwerk ist ihm durchaus Nebensache; deshalb schreibt er es auch nicht in Prosa – »meine Prosa hat mir von jeher mehr Zeit gekostet als Verse«46 – sondern er braucht die ihm bequemere, lässigere Form des Verses, ohne sich um seine Schönheit sonderlich viel zu bemühen. Die ästhetische Wirkung auf der Bühne ist ihm gleichgiltig, »wenn er sich mit Interesse nur liest und unter 1000 Lesern nur einer daraus an der Evidenz und Allgemeinheit seiner Religion zweifeln lernt.«47 Nicht der Künstler will zu Worte kommen, sondern der Philosoph, der die Summe seiner Lebensanschauung zieht, der Prediger, der auf seiner »alten Kanzel, auf dem Theater«48 kündet, was sich ihm von dem Geheimnis Gottes offenbart hat. Dass Nathan trotzdem so viele poetische Schönheiten aufweist, wie vielleicht keines seiner anderen Werke, zeigt, wie stark 42 Vgl. Eloesser, a. a. O., besonders S. 30 ff. und S. 73. 43 1769, Juli 6 Hamburg. 44 Lessing an Jacobi 1779, Mai 18. 45 Lessing an seinen Bruder Karl 1778, Okt. 20. 46 Ebenda 1778, Dez. 1 (7?) 47 Ebenda 1779, April 18. 48 Lessing an E. Reimarus 1778, Sept. 6.

309

Gustav Marseille

doch der Dichter in dem Kritiker war, wenn wir auch freilich »wegen des Anlasses, der dazu nötigte, von der kritischen Strenge schon etwas nachlassen« müssen.49 Gewiss: »er ist Lessings würdig, wenn er auch weniger ein Drama, als Philosophie in dramatischer Form wäre.«50 »In deinem Nathan sind vortreffliche Charaktere, aber als Stück taugt es nichts.«51 Die theologisch-polemische, religiös-moralische, philosophisch-humane Tendenz bestimmt bis in die kleinsten Züge hinein den Charakter aller handelnden Personen, Nathans und Saladins sowohl, als auch aller Nebenpersonen, auch der drei Frauengestalten. Und diese wiederum, dienen nur dazu, um das Wesen der beiden Hauptpersonen, »die auf der Menschheit Höhe wandeln, zu durchleuchten.«52 So stehen Recha und Daja neben Nathan, Sittah neben Saladin. Das behandelte Problem führt seiner Natur nach »mehr auf leidenschaftslose Betrachtung als auf dramatische Verwicklung« und ist niemals vor Lessing dramatisch behandelt worden, vielfach dagegen in der Form der didaktischen Erzählung. Hier sind alle Nebenpersonen entbehrlich, ja geradezu störend; so kommt es, dass alle Nebenfiguren in Nathan keine literarischen Urbilder haben, sondern selbständige Schöpfungen Lessings sind. Dies Urteil scheint eine Einschränkung erleiden zu müssen hinsichtlich der Recha. Die Fabel der Geschwister, die ohne Ahnung ihrer Verwandtschaft von Liebe zu einander ergriffen werden – im dramatisch-technischen Sinne die Hauptfabel – ist nicht völlig eine Erfindung Lessings. Die Beziehung zu Diderots »Le fils naturel« mag zweifelhaft sein, sicher aber ist Lessing beeinflusst von Voltaires »Zaïre«, trotz der absprechenden Kritik in der Dramaturgie. Die Vorfabel der Zaïre hat grosse Ähnlichkeit mit der Fabel des Nathan. Auch hier haben wir in demselben Boden des heiligen Landes und in derselben Zeit der Kreuzzüge »die natürlichen Voraussetzungen für die wunderbaren Schicksale eines Geschwisterpaares, das durch die Kriegsstürme getrennt, später wieder zusammengeführt in Zuneigung sich ahnungslos zusammenfindet.« Bei Voltaire setzt nun die Haupthandlung ein mit der Liebe zwischen Orosman und Zaïre und dem schweren Konflikt, den sie der Zaïre bringt, dem Konflikt zwischen der Liebe, Religion und Verwandtschaft des Blutes. Derselbe Konflikt erscheint auch im Nathan; aber während er bei Voltaire in unlösbarem Widerstreit die Katastrophe herbeiführt, verliert er hier sehr rasch seine Bedeutung. Bei Recha ist kaum noch von einem Konflikt zu reden; schon im Voraus löst sie »mit dem ahnenden Instinkt einer tiefen und reinen Natur die Aufgabe, eine leidenschaftliche Neigung zur reinen Geschwisterliebe zu läutern.«53 Die Abhängigkeit also, so weit sie überhaupt vorhanden ist, bezieht sich nur auf die äusseren Umstände der Fabel. Die Charaktere zeigen durchaus ein anderes Leben, 49 Lessing an Chr. F. Weisse 1779, April 27. 50 Leisewitz, Auszug aus seinen Tagebüchern. Heinemann, zur Erinnerung an G. E. Lessing. Briefe und Aktenstücke. S. 131. 51 Grillparzer, Friedrich d. Gr. und Lessing. (Ein Gespräch im Elysium.) Bd. XIII S. 169. 52 E. Schmidt II 323 ff. 53 D. F. Strauss, Gesammelte Schriften Bd. II S. 8.

310

Die Urbilder der Frauengestalten in Lessings Meisterdramen.

besonders auch die Charaktere der Zaïre und der Recha. Zaïre ist ganz Heldin, Heroine grossen Stils, Recha dagegen hat gar nichts Heldenhaftes an sich. Ihr Charakter ordnet sich streng einheitlich dem pädagogisch-polemischen Grundgedanken unter. Mit ihrem Charakter gibt Lessing gewissermassen die Probe auf das Exempel. Lessing will zeigen, dass jede Religion im Unrecht ist, die ausschliessliche Allgemeingültigkeit von sich behauptet; er will zeigen, wie sich der wahrhaft weise Fromme in jeder der drei Religionen auf eine höhere, reinere Stufe der Gottesverehrung erhebt, die von jeder der drei Religionsformen aus zu gewinnen ist: Ergebung in Gottes Willen und Nächstenliebe. In diesem Glauben hat der Jude das Kind des Muhamedaners und der Christin erzogen, ohne alle differenzierenden Dogmen, ohne alle Theologie, »ohne alle geoffenbarte Religion, wovon sie kaum den Namen kennt, aber voll Gefühl des Guten und Furcht vor Gott.« Ohne eine bestimmte Konfession ist sie aufgewachsen, und ohne alle »kalte Buchgelehrsamkeit, die sich mit toten Zeichen ins Gehirn nur drückt;« schlichte Frömmigkeit, Ergebung und Gehorsam und daneben »kühle Vernünftigkeit« sind die hervorstechenden Züge in ihrem Charakter. Nicht recht will sich aber dazu reimen ihr schwärmerisches Wesen, das sie zu Anfang zeigt. Die Tendenz hat hier einen unharmonischen Zug in das Charakterbild eingetragen; so wundergläubig schwärmerisch ist Recha nur, um die ganze Überlegenheit des Standpunktes Nathans zu zeigen, der sie mit wenigen Worten, fast mehr noch durch die beruhigende Gegenwart seiner Persönlichkeit heilt. Mit ihm kommt gleich »ihre ganze schöne, ruhige, helle Seele« wieder,54 und in dieser harmonischen Ruhe wird sie kaum einen Augenblick gestört, auch als ein schwererer Konflikt an sie herantritt und sie sich in Gefahr sieht, ihren Vater zu verlieren. Keinen Augenblick schwankt sie in ihrem Gefühl; sie will gar nicht wissen, wer ihr leiblicher Vater ist; sie hält fest an dem Vater; den ihr die Liebe gegeben hat. »Aber macht denn nur das Blut den Vater? Nur das Blut?«55 Das sittliche Band ist stärker als das physische. Alles ist für Nathan bewiesen und die Richtigkeit seines Standpunktes, auf dem alle Unterschiede der Nationalität, der Religion und der Familienzugehörigkeit verschwinden, wenn er solch ein frommes, holdes, ihm ganz ergebenes Kind gross zu ziehen vermochte. Als lebendes Urbild der Recha führt man gern Lessings Stieftochter Malchen an. Es ist nun allerdings gar nicht Lessings Art, lebendige Menschen aus seinem Lebenskreis mit Haut und Haar, porträtähnlich auf die Bühne zu bringen, und er hat es auch hier nicht getan. Man kann kaum einen deutlich ausgeprägten Zug einer besonderen, individuellen Ähnlichkeit angeben. Sicherlich ist aber das Verhältnis, in dem Lessing zu seiner Stieftochter Malchen stand, vorbildlich geworden für das Verhältnis Nathans zu Recha. Beiden Männern hat ein hartes Schicksal Weib und Kind genommen, beide 54 Entwurf. 55 Diese Worte haben ein merkwürdiges Gegenstück in den Worten der Jessica (Shakespeare, Kaufmann v. Venedig II 3): »Ach wie gehässig ist es nicht von mir, dass ich des Vaters Kind zu sein mich schäme; doch, bin ich seines Blutes Tochter schon, bin ich’s nicht seines Herzens«. Sollte diese Stelle Lessing nicht vorgeschwebt haben? Will er vielleicht auch durch diesen Zug ein Gegenbild zu Shylock geben? Auch die Bezeichnung der Christen so schlechtweg als »Schweinefleischesser« erinnert noch einmal an Shakespeare.

311

Gustav Marseille

suchen und finden Ersatz in einem holden Kinde, das durch Liebe und Erziehung ihr eigen wird. Aus persönlichster Erfahrung hat Lessing alle die zarten Züge gewonnen für das rührende Bild von Nathan und Recha. Wie Recha und Daja neben Nathan stehen, so steht auch neben Saladin ein weibliches Wesen. Lessing bestimmt es als Schwester; er wird dies weniger der historischen Überlieferung zu Liebe getan haben als deshalb, weil dies die einzige Möglichkeit bot, »um innerhalb des muhamedanischen Lebenskreises ein reines und edles Verhältnis zu erzielen«.56 Im Verkehr mit seiner Schwester Sittah offenbart sich uns Saladin in den wesentlichsten Zügen seines Charakters. Danach bemisst sich die Bedeutung, die Sittah für das Ganze des Dramas hat. Auch diesen Charakter hat die theologische Tendenz bilden helfen: Sittah ist die Aufgeklärte, die Philosophin. Die Gestalt ist mit offenbarer Sympathie gebildet, und doch wissen wir, dass Lessing sonst von der geistigen Kapacität der Frau keine grossen Begriffe, und an dem Typus der geistreichen und dabei unfrommen Frau gar kein Wohlgefallen hat. »Husch mit den Büchern weg! Die Mannsleute lachen uns doch nur aus, wenn wir armen Mädchens ihnen zu Gefallen gerne ein wenig klüger sein möchten«; diese Worte der Cölestine dürfen wohl als Lessings eigne Meinung angesehen werden.57 Man sollte auch meinen, dass die im Grunde doch positive religiöse Tendenz des Dramas eine energische Betonung des d e n n o c h Fr o m m e n bei aller Vernünftigkeit geradezu verlange. Ich glaube daher, dass sich Lessing diesmal stärker als sonst je durch ein lebendes Urbild hat bestimmen lassen, durch seine Freundin Elise Reimarus. Als Vermutung ist es oft ausgesprochen worden; wir wollen sie auf ihre Richtigkeit hin prüfen durch eine Vergleichung der beiden Charaktere. Für eine Charakteristik der Elise besitzen wir ausreichendes Material in ihren Briefen an Lessing und besonders in den Briefen an den Schwager ihres Bruders den Kammerherrn v. Hennings.58 Auch nur bei flüchtigem Einblick wird jeder Leser der Briefe den Eindruck gewinnen, dass sie eine Frau von hervorragenden geistigen Fähigkeiten ist. Aus allem spricht ein klarer, scharfer, logisch geschulter Verstand. Für eine Frau und für die damalige Zeit besitzt sie eine grosse, ja geradezu eine gelehrte Bildung. Sie übersetzt mit Geschick aus fremden Sprachen und ist tief genug in die Philosophie eingedrungen, um selbst von einem Lessing eingehender Gespräche über ihre schwierigsten Probleme gewürdigt zu werden, tief genug, um seinen Spekulationen mit Verständnis, ja mit Kritik folgen zu können. Der Verstand überwiegt in ihr bei weitem das Gefühl; ihre ganze Empfindungsweise hat etwas Unweibliches, und dementsprechend ist der Ton ihrer Briefe mitunter von einer Derbheit, die man einer Frau nicht zutrauen sollte. Ihre leidenschaftliche Verehrung für Lessing beruht wesentlich in der Anerkennung seines grossen Intellekts. Sie bewundert ihn, weil er so »ganz Verstand ist.« Unfähig ist sie aber eigentlich, die positive Kraft seines Gemütes zu verstehen. Was über den Aufklärer bei ihm hinausgeht, bleibt ihr fremd. Für Religion scheint ihr jedes Organ 56 D. F. Strauss, Ges. Schr. II 54. 57 Die Grossmütigen. Hempel 11/ii S. 766. 58 Vgl. die Briefe der Elise Reimarus an Hennings bei W. Wattenbach, Neues Lausitzisches Magazin Bd. 38 (1861) S. 193 ff.

312

Die Urbilder der Frauengestalten in Lessings Meisterdramen.

zu fehlen; Moral ist alles. Ganz ohne Verständnis für den pädagogischen Takt und die weise Zurückhaltung, die Lessing in dem Fragmentenstreit übt – trotz aller persönlicher Streitlust und Verbitterung voll Ehrfurcht vor dem Unbegreiflichen, dem auch er sich beugt – wird sie bei dem Erscheinen seiner »Erziehung des Menschengeschlechts« fast völlig irre an ihm: »seine Erziehung des Menschengeschlechts verwirrt vollends Denker und Undenker.«59 Die Verachtung alles positiv Religiösen geht bei ihr so weit, dass sie nichts dabei finden würde, wenn er um äusserer Vorteile willen »meinetwegen auch katholisch« würde.60 Dieselbe Kühle der Empfindung zeigt sie in der Auffassung der sinnlichen Beziehungen zwischen den beiden Geschlechtern. Dass Lessing sich verheiratet, erscheint ihr fast verächtlich. Ich glaube nicht, dass es Eifersucht gegen Eva König ist, was sie aufreizt, sondern ganz eigentlich der Mangel jeglicher Sinnlichkeit. Wäre es anders, handelte es sich bei ihr um getäuschte Hoffnungen: sie würde geschwiegen haben. So viel Selbstzucht und Einsicht in sich selbst dürfen wir ihr entschieden zutrauen. Dass Philosophen heiraten, erscheint ihr als ein Verrat an der Wahrheit. »Mendelssohn rechnet es zwar irgendwo in seinen Briefen mit unter die Zeichen von düsteren Zeiten, wo die Philosophen heiraten, aber er selbst hat doch schon reuelos das Beispiel davon gegeben.«61 Alles Gefühles bar zeigt sie sich, wenn sie in einem andern Briefe an Hennings schreibt: »Dass Lessing sich verheiratet, wird Ihnen vermutlich ebenso besonders vorkommen, als dass Jerusalem sich erschoss, und doch wird es bald ebenso wahr,«62 und gar in einem anderen: »Lessing, der arme Lessing, hat die Torheit, eine Frau für diese Welt genommen zu haben, teuer bezahlen müssen. Kaum ein Jahr, und sie stirbt ihm im ersten Wochenbett, und ohne ihm einen eigenen Sohn zu hinterlassen, lässt sie ihm die Sorge für fünf fremde Kinder. Er hätte sich mit so einem Mädchen als die Wahrheit zur Maitresse schon behelfen können, die sogar in der andern Welt, wenn’s für uns eine gibt, ihren Reiz behält.«63 »Ehedem als Junggeselle stand er für einen Mann und hatte keine Complicen. Jetzt ist Frau und jeder Hausgenosse sein Verräter.« Fast gehässig, wenn sie nicht ohne Behagen fortfährt: »Man spricht von seinem Hause und den Kindern als einer Brut von jungen Teufeln, die keinen Gott noch Teufel glauben.«64 Doch ist dieser Zug von Härte nicht der bestimmende in ihrem Charakter; er ist der Fehler ihrer Tugend. Ihre Wahrheitsliebe wird zum Wahrheitsfanatismus. Im Grunde ist sie eine edle, freimütige, aller Verstellung abholde, sicherlich auch warmherzige Natur; wie hätte sie sonst neben Eva König die einzige Freundin des gemütvollen Lessing sein können! In den wesentlichen Zügen finden wir Elise in Sittah wieder. Auch bei ihr überwiegt augenscheinlich »das Hirn« das Gemüt. Wie Elise, so besitzt auch Sittah ein grosses Bücherwissen, wenn sie auch nicht stolz darauf ist, ja offenbar deutlich fühlt, wie leicht doch unter diesem Ballast eine weibliche Seele an Reiz und Anmut verliert 59 An Hennings 1777, März 28. 60 An Lessing 1780, Nov. 10. 61 An Hennings 1776, Aug. 28. 62 1776, Aug. 20. 63 An Hennings 1778, Jan. 16. 64 An Hennings 1777, Sept. 26.

313

Gustav Marseille

und »verkünstelt« zu werden droht. Fast mit Neid sieht sie auf die naive Recha, die ohne kalte Büchergelehrsamkeit nur aus Nathans Munde lernt, was ihrer Seele Not tut. Ja allerdings, Bücher machen nicht weise! Wie gut durchschaute doch Lessing seine Freundin! »Wie beschämt steht doch Sittah-Elise in ihrer kurzsichtigen, miss­trau­ ischen Weiberweisheit vor dem gläubigen Optimismus Saladin-Lessings!« Auch der Zug von Härte, den wir bei Elise sehen, fehlt bei Sittah nicht. Ihr »kalter« Verstand macht auch sie mitunter gefühllos und fast grausam. Das zeigt sich deutlich in der Skrupellosigkeit, mit der sie die Intrigue gegen Nathan anzettelt. Trotz einer gewissen Superiorität, die der Bruder ihr in manchen Dingen willig einräumt, steht sie doch tief unter ihm. Sie ist nicht durchaus sein guter Geist. »Und dass die Weiber doch so gern den Mann zu sich herunter hätten.« Das ist keine »misogyne Anwandlung«,65 sondern bezeichnet scharf die Anschauung Lessings von dem principiellen Verhältnis der Geschlechter zu einander. Wie Elise, so steht auch Sittah zu aller positiven Religion als aufgeklärte Philosophin. Ganz in ihrem Geiste, ganz auch in ihrer Sprechweise ist Sittahs scharfer, fast gehässiger Ausfall gegen die christliche Religion (II 1). Allerdings, sie ist Muhamedanerin; aber sie spricht nicht eigentlich als Muhamedanerin, sondern als Anhängerin der vernünftigen Religion überhaupt. Ihre Worte richten sich gegen jede positive Religion. Vergebens sucht man bei ihr nach einem warmen Wort schlichter Frömmigkeit; Elise hat nichts mehr vom Christentum, Sittah nichts mehr vom Islam. Das Organ für Religion fehlt beiden. Trotzdem ist auch Sittah eine im Grunde durchaus edle Natur. Gütig und herzlich besonders in ihrem Benehmen gegen Recha, herzlich auch in ihrem Benehmen gegen ihren Bruder. In ihrem Verhältnis zu Saladin mag sich manches spiegeln aus dem Verhältnis Elisens zu ihrem Bruder und zu Lessing. Ihre Aufopferungsfähigkeit freilich sollte man nicht zu stark betonen. Wir sollen und wollen sie glauben; aber aus ihrer Generosität in Geldsachen kann man nicht zuviel schliessen. Geld hat ja bei allen dramatischen Gestalten Lessings keinen Wert; erst wenn es ihnen fehlt, wird es eine Sache, »von der leider zu reden ist«. Haben sie aber Geld, dann gehen sie alle ganz erstaunlich gleichmütig damit um. Die Unerschöpflichkeit der Geldquellen ist der Wunder grösstes in dem Drama. Wie Elise, so hat auch Sittah einen gewissen Mangel an Sinnlichkeit. Nenn’ mich dein Mütterchen! – Ich könnte das ja schier auch sein,« sagt sie zu Recha (V 6). Und doch ist noch von sehr ernsthaften Heiratsprojekten die Rede, und Sittah spricht recht eindrucksvoll mit Bezug auf sich von der Liebe, »womit der Schöpfer Mann und Männin ausgestattet« (II 1). Es verträgt sich doch nicht recht mit dem »Mütterchen«. Wie alt ist sie eigentlich? Wenn wir nachrechnen, so finden wir, dass sie eigentlich doch nicht mehr als höchstens 23 Jahre zählen kann, da sie gar keine Vorstellung mehr von dem vor 20 Jahren verschollenen Bruder Assad hat. Durchaus jugendlich erscheint sie in dem Entwurf; es heisst da (V 4): »Ihr Bruder führt ihr Kurden zu … Sittah errötet und lässt den Schleier wieder fallen.« Dieser Zug ist in der Ausführung ganz getilgt; das 65 E. Schmidt II S. 384.

314

Die Urbilder der Frauengestalten in Lessings Meisterdramen.

Bild der Sittah ist da dem der Elise auch hierin ähnlich geworden. Das oben erwähnte Heiratsprojekt, eine Reminiscenz aus der Geschichte, spricht nicht dagegen. Die Andeutung ist im Ton frostig genug und von Lessing vielleicht nur deshalb beibehalten, weil sie den bequemen Anlass zu einem scharfen Hieb auf die Unduldsamkeit der Christen gibt. Einen Zug allerdings trägt Sittah, der nicht von Elise stammt; das ist ihre Intriguenlust. Elises offener, wahrheitsfanatischer Charakter ist ganz frei davon; ihr war alles Larvenwesen verhasst und sie litt geradezu unter der Verstellung, zu der sie in dem Fragmentenstreit durch die vorsichtige und diplomatische Stellungnahme Lessings und ihres Bruders gezwungen war. Ganz anders Sittah. Mit der Kühle ihres Verstandes vereinigt sie eine gute Dosis Pfiffigkeit, Gewandtheit und Sophisterei. Ihre Ehrlichkeit ist nicht ganz einwandfrei. »Was hätt’ ein Weiberkopf erdacht, das er nicht zu beschönen wüsste« (III 4). Woher der fremde Zug, das ist oben bereits angedeutet. Auf Saladins Charakter sollte kein Makel fallen; Sittah trägt für ihn das Odium der Intrigue, die nun einmal für den Gang der Handlung unentbehrlich war. Auch der vorsichtigste Vergleich zwischen zwei Charakteren wird immer etwas gewaltsam Konstruiertes bekommen, schon durch die blosse Gegenüberstellung, zumal aber, wenn das Resultat dem Wunsche bequem ist. Hier sind aber der identischen Züge so viel, dass das Endurteil nicht zweifelhaft sein kann. Elise allerdings, das scheint mir zweifellos, zeigt in den Briefen, in denen sie vom Nathan spricht, nirgends, dass sie sich bewust wäre, Modell zu sein; ihre Art davon zu reden lässt diesen Gedanken bei ihr vielmehr als völlig ausgeschlossen erscheinen. Trotzdem wird es dabei sein Bewenden haben müssen, dass wir in Elise das Urbild für Sittah zu suchen haben.

315

Anhang

Editorische Notiz

Der Abdruck der Quellentexte im vorliegenden Band wurde chronologisch vorgenommen, die Textfassungen der Druckvorlage folgen der entsprechenden Programmschrift. Im Druckbild erkennbare Hervorhebungen des jeweiligen Verfassers, dessen Zitierweise sowie durch denselben vorgenommene Abkürzungen von Namen und Titeln sind dabei originalgetreu belassen worden. In den Originaltexten enthaltene Seitenverweise auf wissenschaftliche Beiträge von Kollegen, deren Beiträge in diesem Band abgedruckt sind, wurden originalgetreu belassen und entsprechen somit der Seitenzählung im Quellentext. Im Originaldokument enthaltene Anmerkungen bzw. Verweise auf verwendete Literatur wurden jeweils nummeriert und erscheinen als Fußnoten. Für den Neuabdruck erwiesen sich Änderungen am Layout des Textes zur Verbesserung der Lesbarkeit teilweise als unabdingbar. Diese wurden jedoch so behutsam wie möglich vorgenommen. Stillschweigend korrigiert wurden offensichtliche Druckfehler sowie fehlerhaft zitierte Personennamen, Buch- und Zeitschriftentitel sowie Textstellen. Nicht nachvollziehbare Abweichungen in der satztechnischen Behandlung gleicher Inhalte wie auch Abweichungen in der Schreibweise von Verfassernamen innerhalb einer Abhandlung sind vereinheitlicht worden. Im abschließenden Personenverzeichnis wurden nur Daten aus den edierten Beiträgen erfasst.

319

Biobibliographische Angaben

Biobibliographische Angaben

Vorbemerkungen Da mit den herkömmlichen Kompendien wie dem Deutschen Biographischen Index und dem Deutschen Biographischen Archiv in der Regel die biographischen Da­ ten zu den hier versammelten Autoren nicht oder nur begrenzt zu ermitteln waren, wurde wie auch in den vorangegangenen Quellenbänden zu »Nathan dem Weisen« bzw. »Minna von Barnhelm« Informationen und Hinweisen von verschiedenen Archiven nachgegangen. Unser Dank für weiterführende Informationen gilt insbe­ son­dere Karen Petzold (Förderverein Fürstliches Pädagogium zu Putbus e. V.), Jutta Fabritius und Hannelore Schnabel (Siebenbürgen Institut Gundelsheim) sowie Norbert Perkuhn (Stadtarchiv Düsseldorf ). Trotz Hinzuziehung des von Franz Kössler erstellten »Personenlexikons für Lehrer des 19. Jahrhunderts«1 und handschriftlicher Personalbögen aus der Archivdatenbank der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung konnten nicht alle Autorenda­ ten ermittelt werden. Bei den weiteren Veröffentlichungen wurde, soweit diese ermittelbar waren, eine Auswahl getroffen. Auf die Angabe der Programmnummer bei den Schulprogramm­ schriften ist verzichtet worden.

Albert Bernhard Arnold (geb. 1849)2 Geboren am 11. November 1849 in Dresden. Von Michaelis 1860 bis Ostern 1868 besuchte Albert Bernhard Arnold die dortige Kreuzschule, anschließend studierte er bis 1871 klassische Philologie in Leipzig und absolvierte das Examen für Kandidaten des höheren Schulamtes. Anfang 1872 trat er sein Probejahr am Gymnasium zu Bautzen an und war dort ab Ostern 1872 pro­ visorischer Oberlehrer mit dem Ordinariat der Sexta. Bis Ostern 1876 war Bernhard Arnold in Bautzen tätig. 1873 wurde er zum Dr. phil. promoviert. Nachdem Arnold mehr als neun Jahre als Oberlehrer am Königlichen Gymnasium Chemnitz tätig war, wurde er 1885 erneut nach Bautzen berufen, wo er von Michaelis 1885 bis 1893 lehrte. 1 Kössler: Franz: Personenlexikon von Lehrern des 19. Jahrhunderts: Berufsbiographien aus Schul-Jahresberichten und Schulprogrammen 1825 – 1918 mit Veröffentlichungsverzeich­ nissen: http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2008/6106/. 2 Vgl. dazu: Kössler, Personenlexikon; Programme des Gymnasiums zu Bautzen [1885/86]. Bautzen: Monse, 1886; [1886/87]. Bautzen, 1887; [1892/93]. Bautzen: Monse, 1893; Jahres­ bericht des Königlichen Gymnasiums in Chemnitz für das Schuljahr Ostern 1914 bis 1915. Chemnitz: Pickenhahn & Sohn, 1915.

321

Anhang

Durch Verordnung vom 17. Dezember 1886 wurde ihm der Professorentitel verliehen. Zum 1. April 1893 erfolgte die wiederholte Berufung nach Chemnitz als Rektor und Professor am Königlichen Gymnasium.3 21 Jahre lang wirkte Bernhard Arnold an die­ ser Einrichtung als Rektor. Im Mai 1914 erfolgte die Ernennung des Oberstudienrats Arnold zum Geheimen Studienrat. Am 25. September 1914 trat Arnold in den Ruhestand.4 Weitere Veröffentlichungen: — De Atheniensium saeculi a. Chr. n. quinti praetoribus/scripsit Bernardus Arnold. Leipzig, Univ., Diss., 1873. — De Atheniensium praetoribus. Dissertatio altera. Bautzen: Monse, 1876. (Pro­ gramm Gymnasium Bautzen 1876). — Bericht über die Feier des 25jährigen Bestehens der Anstalt. Chemnitz 1894, S. 31 f. (Programm Gymnasium Chemnitz 1894). — Hans Sachs’ Werke. Hrsg. v. B. Arnold. 2 Bde. Berlin, Stuttgart, 1884/85.

Adolf Gustav Emil Dietrich (geb. 1851)5 Geboren am 16. Mai 1851 zu Rosenthal6 bei Carolath7 im Kreis Freistadt, evangelischer Konfession. Von Ostern 1863 bis Michaelis 1867 besuchte Dietrich das Gymnasium zu Neisse, von Michaelis 1867 bis Michaelis 1870 das evangelische Gymnasium Gross-Glogau, wo er am 2. September 1870 die Reife erhielt. Anschließend studierte er in Breslau bis Michaelis 1875 zunächst Theologie, dann Philologie. Von 1875 bis Michaelis 1876 war er als Lehrer am Andreas-Institut in Sulza, von Michaelis 1876 bis Ostern 1878 an der Privatschule in Hohenmölsen bei Weissenfels tätig. Am 20. Juli 1877 bestand Dietrich in Breslau die Prüfung pro facultate docendi sowie eine Nachprüfung am 17. Januar 1879. Von Ostern 1878 bis Juli 1879 absolvierte er sein Probejahr am Gymnasium zu Wittenberg, wo er zugleich die Stelle eines wissenschaftlichen Hilfslehrers innehatte. Anschließend war er bis Ostern 1881 als ordentlicher Lehrer an der höheren Bürger­ schule zu Delitzsch tätig, bevor er im April 1881 an das Progymnasium Weissenfels berufen wurde. Dietrich unterrichtete in den Fächern Religion, Latein, Deutsch, Hebräisch und Geographie. Am 1. Oktober 1888 schied er aus dem Dienst als Lehrer einer Mädchen­ schule.

3 Vgl. Jahresbericht des Königlichen Gymnasiums Chemnitz 1892/93, S. 5. 4 Vgl. Jahresbericht 1914/15, S. 4 ff. 5 Vgl. dazu: Kössler, Personenlexikon; Programm des Progymnasiums zu Weissenfels. Weis­ senfels: Leopold Kell, 1882, S. 22.; BBF/DIPF/Archiv, Gutachterstelle des BIL – Personal­ bögen der Lehrer höherer Schulen Preußens. 6 heute Różanówka. 7 heute Siedliska.

322

Biobibliographische Angaben

Gustav Heidemann (1845 – 1905)8 Geboren am 6. Januar 1845 in Lichtenau/Westfalen. Gustav Heidemann besuchte das Gymnasium in Preußisch Minden und legte dort 1864 die Reifeprüfung ab. Anschließend studierte er an den Universitäten in Tübingen, Göttingen, Berlin und Bonn. 1870/71 nahm er als Soldat am Krieg teil. Heidemann absolvierte sein Probejahr vom 1. Juni 1871 bis 23. März 1872 an der Realschule zu Neumünster, anschließend war er an der Schleidenschen Schule in Hamburg tätig. Am 1. April 1873 wurde er als ordentlicher Lehrer am Gymnasium zu Saarburg/Lothringen angestellt, 1879 erhielt er den Status eines Oberlehrers. Im Herbst 1882 erfolgte die Versetzung an das Lyzeum in Colmar im Elsass. Bis Februar 1904 unterrichtete er dort in den Fächern Lateinisch, Griechisch und Deutsch. Am 25. April 1892 wurde Gustav Heidemann zum Professor ernannt9, ein Jahr später erhielt er den Rang des Rates vierter Klasse.10 Im Dezember 1904 wurde ihm durch den Kaiser der Adlerorden 4. Klasse verliehen. Auf eigenes Ersuchen trat Heidemann ab 1. Januar 1905 in den Ruhestand. Er starb am 27. Januar 1905.11 Im Nachruf des Colmarer Lyzeums für das Schuljahr 1904/05 heißt es: »Zu besonderem Dank ist das Lyzeum dem Dahingegangenen verpflichtet, weil derselbe (neben zahlreichen anderen Legaten für die Kinder seiner Freunde und Kollegen sowie für frühere Schüler) der hiesigen Anstalt eine Summe von 1000 M vermacht hat zur Förderung des deutschen Unterrichts in Prima, welchen der Verstorbene selbst viele Jahre hindurch erteilt hat.«12

Karl Georg Ludwig Hölscher (1814 – 1902)13 Geboren am 16. Oktober 1814 zu Herford, evangelischer Konfession. Von Ostern 1824 bis Ostern 1832 besuchte er das Gymnasium Herford, wo er am 9. April 1832 sein Reifezeugnis erhielt. Hölscher studierte von Michaelis 1832 bis Ostern 1834 in Bonn Theologie, im Anschluss Philologie in Berlin. Am 24. Juni 1837 promovierte er in Berlin. Sein Probejahr absolvierte er von Januar 1838 bis Johannis 1839 am Gymnasium zu Herford. Ab Ostern 1839 war er als ordentlicher Lehrer an der Realschule I. Ordnung zu Siegen tätig. Von Ostern 1843 an bis zu seiner Pensionierung am 1. Oktober 1883 arbeitete Hölscher am Gymnasium zu Herford. 1860 erfolgte die Ernennung zum Professor. 8 9 10 11

Vgl. dazu: Kössler, Personenlexikon. Vgl. Jahresbericht Colmar 1891/92, S. 21. Vgl. Jahresbericht Colmar 1893/94, S. 24. Vgl. Jahresbericht des Lyceums zu Colmar im Elsass für das Schuljahr 1904 – 1905. Col­ mar: Decker, 1905, S. 23. http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ulbdsp/periodical/structu­ re/4000429. 12 Jahresbericht 1904  – 1905, S. 23. 13 Vgl. dazu: Kössler, Personenlexikon (hier: Karl Gustav Ludwig Hölscher); BBF/DIPF/ Archiv, Gutachterstelle des BIL – Personalbögen der Lehrer höherer Schulen Preußens.

323

Anhang

Er unterrichtete klassische Sprachen in den oberen Klassen; Geschichte, Geogra­ phie, Religion und Deutsch in den mittleren Klassen; Hebräisch und Mathematik in den unteren Klassen. Gustav Hölscher starb am 4. April 1902. Weitere Veröffentlichungen: — De Vita et scriptis Lysiae Oratoris. Berlin: Reimer, 1837 (Diss.). — Lessing als Dramatiker. Eine literaturhistorische Abhandlung. 1. Teil: Bis zum Erscheinen der Sara Sampson. Siegen 1842. — Lessing als Dramatiker. 2. Teil. Siegen 1843. — Über das Buch des Apuleius de mundo. Programm des Friedrichs-Gymnasi­ ums zu Herford. Herford 1846. — Quaestiunculae Lysiacae. Herford 1857 (Programm Gymnasium Herford 1857). — Die Labadisten in Herford. Herford 1864 (Programm Herford 1864). — Geschichte des Gymnasiums in Herford. I. Herford 1869 — Geschichte des Gymnasiums in Herford. II. Die Reformation. Herford 1872. — Geschichte des Gymnasiums in Herford. III. 1540 – 1650. Herford 1874. — Zur Geschichte der Stadt Herford im 17. Jahrhundert. Herford, 1875. S. 1 – 18. (Programm Herford 1875). — Die älteren Druckschriften der Gymnasialbibliothek Herford. Herford 1877 (Programm Herford 1877). — Jahrbücher der Geschichte des Gymnasiums zu Herford seit 1840. Herford 1890. (Programm Herford 1891). — Unsere Taufnamen: eine Erklärung über deren Sinn und Bedeutung. Minden. 2. Auflage 1900. — Reformationsgeschichte der Stadt Herford: im Anhang: die Herforder Kir­ chenordnung 1532. Gütersloh 1888. — Diem, quo ante quinquaginta annos philosophiae doctor et artium liberalium magister creatus est … congratulantur Gymnasii Lemgoviensis rector et college. Lemgo 1887. sowie Rezensionen und kürzere Aufsätze in Zeitschriften.

Gustav [Adolf ] Kettner (1852 – 1914)14 Geboren am 29. Oktober 1852 in Magdeburg als Sohn des Königlichen ProvinzialSchul-Sekretärs Kettner, gestorben am 29. Januar 1914.15 Evangelischer Konfession. Er besuchte das dortige Königliche Domgymnasium und erhielt sein Reifezeugnis am 1. April 1870. Nach einem Studium in Halle promovierte Kettner am 6. Mai 1876 zum Thema »De accusativi apud Sophoclem usu anomalo«. Am 4. April 1889 wurde Kettner zum Professor ernannt. Kettner erhielt Ostern 1875 das Zeugnis der facultas 14 Vgl. Gansel/Siwczyk (Hgg.): Gotthold Ephraim Lessings ›Nathan der Weise‹ im Kultur­ raum Schule. Göttingen 2009, S. 397 f.; DBA, Personalblatt A für Direktoren, wissenschaft­ liche Lehrer und Kandidaten des höheren Schulamts. Archivdatenbank der BBF. 15 Der Sterbeort konnte nicht ermittelt werden, bestattet wurde Kettner in Mühlhausen.

324

Biobibliographische Angaben

docendi ersten Grades.16 Er absolvierte das Probejahr ab 1. Oktober 1874 an der Lateini­ schen Hauptschule in Halle/Saale. Zu Michaelis 1875 wurde er als Adjunkt nach Schul­ pforte berufen, wo er bis zum 30. September 1882 als Ordentlicher Lehrer, ab Oktober 1882 als Oberlehrer und ab 1. April 1897 als bestätigter Professor tätig war. Von April 1898 bis 1903 war er Mitglied der Wissenschaftlichen Prüfungskommission für Kandidaten des höheren Lehramts in Halle. Ostern 1911 wurde Kettner auf seinen Antrag hin in den Ruhestand versetzt. Er zog zunächst nach Naumburg, dann nach Weimar. Kettner äußerte sich in weiteren Programmabhandlungen und Aufsätzen zu Lessing und war auch an Werkausgaben beteiligt. Weitere Veröffentlichungen (Auswahl): — Cornelius Labeo. Ein Beitrag zur Quellenkritik des Arnobius. Naumburg: Sieling 1877 (Programm Landesschule Pforta 1877). — Herders erstes Kritisches Wäldchen. Naumburg: Sieling 1887. (Programm Landesschule Pforta 1887). — Demetrius/Friedrich von Schiller. Nach den Hs. des Goethe- und SchillerArchivs hrsg. von Gustav Kettner. Weimar: Goethe-Gesellschaft 1894. — Schillerstudien. Naumburg: Sieling 1894 (Programm Landesschule Pforta 1894) — Über Lessing’s Minna von Barnhelm. In: Gratulationsschriftder Königlichen Landesschule Pforta zum dreihundertfünfzigjährigen Jubiläum der Königli­ chen Klosterschule Ilfeld. Schulpforte 1896. (Programm Landesschule Pforta). — Über den religiösen Gehalt von Lessings Nathan dem Weisen. Naumburg a. S.: Domrich 1898. (Programm Landesschule Pforta 1898). — Fragmente. Schillers dramatische Entwürfe und Fragmente. Stuttgart: Cotta 1899. — Die Episteln des Horaz. Berlin: Weidmann 1900. — Die Lektüre der Lessingschen Dramen auf den höheren Schulen. In: Monats­ schrift für höhere Schulen. Bd. 2. Berlin 1903, S. 19 – 31. — Lessings Dramen im Lichte ihrer und unserer Zeit. Berlin: Weidmann 1904. — Lessing und Shakespeare. In: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur und für Pädagogik. Abt. 1, Bd. 19, 1907, S.  267 – 292. — [Rezension]: Briefe von und an Lessing. Hrsg. von Franz Muncker. In: Monats­ schrift für höhere Schulen 6, 1907, S. 281 – 284. — Emilia Galotti. Mit Einl. u. Anmerkungen von Gustav Kettner. Leipzig 1909. — Studien zu Schillers Dramen. Berlin: Weidmann 1909. — Goethes Drama: Die natürliche Tochter. Berlin: Weidmann 1912. — Goethes Nausikaa. Berlin: Weidmann 1912. — Lessing. Dichtungen in drei Teilen. Unter Mitwirkung von Gustav Kettner [u.  a.] hrsg. von Theodor Matthias. T. 1 – 8. Leipzig: Hesse & Becker [1922]. (Deutsche Klassiker-Bibliothek). 16 Lehrbefähigung im Lateinischen, Griechischen und Deutschen bis Oberprima und in der Religion bis einschließlich Unterprima.

325

Anhang

Gustav Marseille (1865 – 1917)17 Geboren am 20. August 1865 in Homberg (Regierungsbezirk Kassel) als Sohn des Seminar- und Taubstummenlehrers Georg Marseille, evangelischer Konfession. Er erhielt das Reifezeugnis auf dem Gymnasium Philippinum zu Marburg am 30. August 1884 und studierte an den Universitäten Marburg und Berlin Theologie und Philologie. Nach längerer Tätigkeit als Hauslehrer legte er am 3. Juli 1889 vor der theo­ logischen Fakultät zu Marburg das theologische Examen ab, am 25. Oktober 1889 vor dem Konsistorium in Kassel das Tentamen pro licentia concionandi. Marseille erhielt das Oberlehrerzeugnis am 19. Februar 1892, das er durch Erweiterungsprüfungen am 22. Februar 1896 und 31. Juli 1903 ergänzte. Am 19. Februar 1898 promovierte er an der Universität Marburg zum Dr. phil. Ostern 1892 trat Gustav Marseille das Seminarjahr am Realgymnasium zu Barmen, Ostern 1893 das Probejahr an der dortigen Oberrealschule an. Im Anschluss war er bis 30. September 1894 als kommissarischer Hilfslehrer am Gymnasium zu Kreuznach und dann bis 30. September 1895 als Hilfslehrer an der Real­ schule zu Elberfeld tätig. Vom 1. April 1896 bis 31. März 1897 arbeitete er als etatmässiger Hilfslehrer am Städtischen Gymnasium zu Düsseldorf, am 1. April 1897 wurde er hier Oberlehrer. Am 1. April 1902 wurde Marseille in gleicher Eigenschaft an das Königliche Pädagogium zu Putbus berufen. 1904 unternahm er von Putbus aus eine Studienreise nach England. Mit dem 1. Oktober 1905 erfolgte seine Versetzung als Oberlehrer und zweiter Geistlicher an die Landesschule Pforta. Ende Juli 1906 wurde Marseille beurlaubt, um die Leitung der Erziehungsanstalt Haubinda bei Hildburghausen zu übernehmen. 1907 wurde ihm die Leitung dieser Anstalt übertragen. Am 18. Januar 1908 eröffnete Marseille die »Erziehungsschule Schloss Bischofstein« bei Lengenfeld unterm Stein. Er starb am 6. November 1917 an den Folgen einer Lungen- und Rippenfellent­ zündung. Weitere Veröffentlichungen: — Studien zur kirchlichen Politik des Pfalzgrafen Wolfgang Wilhelm von Neu­ burg. Düsseldorf 1898. (Diss. Marburg 1898). — Festrede zur Schillerfeier. Putbus: Decker, 1906. S. 14  –  15. (Programm Päda­ gogium Putbus 1906). — Ist es richtig, die Hilfe der älteren Schüler in Anspruch zu nehmen zur Erzie­ hung ihrer jüngeren Kameraden. 1906. — Erziehungsschule Schloss Bischofstein. Leipzig: Drugulin, 1912. — Englische Grammatik. Marburg: Elwert, 1912. — Englisches Übungsbuch. T. 1. Marburg: Elwert, 1916. — Englisches Übungsbuch. T. 2. Marburg: Elwert, 1916  –  1923. 17 Vgl. dazu: Personalblatt A für Direktoren, wissenschaftliche Lehrer und Kandidaten des hö­ heren Schulamts. In: http://bbf.dipf.de/kataloge/archivdatenbank/digiakt.pl?id=p169779; Städtisches Gymnasium und Realgymnasium an der Klosterstraße zu Düsseldorf. Festschrift zur Feier des 75jährigen Bestehens der Schule am 28. Mai 1913. Düsseldorf 1913, S. 57; http://eichsfeld-archiv.de/person/Gustav_Marseille. Im Personenlexikon von Kössler wird die Abhandlung irrtümlich Gotthold August Johann Marseille (geb. 1852) zugeschrieben.

326

Biobibliographische Angaben

Friedrich Theodor Nölting (1811 – 1890)18 Geboren am 14. Februar 1811 in Hamburg als Sohn des Sprachlehrers Johann Benjamin Nölting, evangelischer Konfession. Der Großvater, Johann Heinrich Vincent Nölting, war Professor der Philosophie und Beredsamkeit am akademischen Gymnasium Hamburg. Friedrich Theodor Nölting besuchte zunächst das Johanneum und ab Ostern 1830 das akademische Gymnasium in Hamburg. Ab 1831 studierte er Philologie in Halle, 1833 bis Michaelis 1834 in Berlin bei Schleiermacher, Böckh, Lachmann und Trendelenburg. Am 20. September 1834 wurde er mit der Arbeit »De Zenonis Elea­ tae philosophia« von der philosophischen Fakultät Halle zum Doktor promoviert. Nach dem Studium kehrte er nach Hamburg zurück. Er gab Privatstunden und war Mitbegründer eines Institutes, das sich die Beaufsichtigung und Leitung des Privat­ fleißes der Johanneumsschüler zur Aufgabe gemacht hatte. Von Ostern bis Michaelis unterrichtete er freiwillig am Johanneum. Am 4. Januar 1836 wurde er als Ordentlicher Lehrer an der Großen Stadtschule Wismar eingeführt, an der er über 51 Jahre wirkte. Von Ostern 1873 bis zu seinem Ruhestand 1887 leitete er die Stadtschule, die sich zu einer der leistungsfähigsten Schulen im Lande entwickelte. Neben seiner Direktoren­ tätigkeit hatte er das Ordinariat der Gymnasialprima inne. Er unterrichtete Deutsch, Griechisch und Lateinisch. Sein 50jähriges Dienstjubiläum, in dessen Umfeld er zum Großherzoglichen Schulrat ernannt wurde, wurde in einzigartigem Maße begangen und zeugte von hoher Wertschätzung.19 Nölting war verheiratet mit Helene Boldemann, mit der er drei Töchter hatte. Er starb am 5. März 1890 in Wismar. Weitere Veröffentlichungen: — Ueber den genetischen Zusammenhang des Aorist. II. mit dem Perfectum II. der griechischen Sprache. Wismar 1843 (Programm Gymnasium Wismar). — Über den Gebrauch der deutschen Anredefürwörter in der Poesie. Wismar 1853 (Programm der großen Stadtschule zu Wismar für 1853). — Ueber das lateinische Deponens. Wismar 1859 (Programm Gymnasium Wismar). — Ueber den Charakter des Schicksals in Schiller’s Tragödien. Wismar 1870. (Programm Gymnasium Wismar). — Ueber Goethe’s Iphigenie. Wismar 1883 (Programm Gymnasium Wismar). — Bericht über die Feier des 50jährigen Amtsjubiläums des Dir. Dr. Nölting. Wismar 1886. S. 18 – 23. (Programm Gymnasium Wismar).

18 Vgl. dazu: Klenz, Heinrich: Nölting, Friedrich Theodor. In: ADB 52 (1906), S. 646 [Online­ fassung]; http://www.deutsche-biographie.de/pnd10175924x.html, Zugriff am 11.04.2013; Kössler, Personenlexikon; Willgeroth, Gustav: Die Lehrer der Gr. Stadtschule zu Wismar seit dem Jahre 1800 bis zur Gegenwart. Wismar: Selbstverlag 1935, S. 13 f.; Kleiminger, Ru­ dolf: Die Geschichte der Großen Stadtschule zu Wismar von 1541 bis 1945. Kiel: Schmidt & Klaunig, 1991, S. 185 ff. 19 Vgl. dazu Kleiminger, S. 197.

327

Anhang

Johann Karl Rösler (1861 – 1944)20 Geboren am 3. Februar 1861 in Sächsisch-Regen. 1880 absolvierte er das Gymnasium zu Schäßburg und studierte im Anschluss Theologie und Germanistik in Wien und Bern. Seine erste Anstellung trat er ab Februar 1886 als Lehrer in Hermannstadt an. Von November 1890 bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1926 war Rösler, zuletzt als Professor, am Evangelischen Untergymnasium in Sächsisch-Regen tätig. Er unterrichtete Ungarisch, Geographie und Geschichte, Religion, Deutsch und Naturgeschichte. Rösler starb am 10. Juni 1944 in Hermannstadt im Alter von 83 Jahren. Erste Gedichte in Reener Mundart erschienen 1889 im Siebenbürgischen Volks­ freund unter dem Pseudonym »R. H. v. R.« (Rösler Hanno von Reen). Rösler war auch als Übersetzer tätig. Weitere Veröffentlichungen: — Katalog der Bibliothek des evang. Gymnasiums A. B. in Sächsisch-Regen. (Szaszregen). III. Teil. Hermannstadt 1907. 29 S. (Programm Gymnasium Sächsisch-Regen, 1907). — Herman, Otto: Nutzen und Schaden der Vögel. Übers. v. Johann Carl Rösler. Gera-Reuss 1901.

Julius Heinrich Rohleder (geb. 1845)21 Geboren am 22. Februar 1845 in Stargard/Pommern, Kreis Saatzig, evangelischer Konfession. Rohleder besuchte das Peter-Gröning-Gymnasium in Stargard, wo er am 27. März 1863 das Reifezeugnis erhielt. Anschließend studierte er in Heidelberg und Berlin. Die Lehramtsprüfungen legte er 1868 sowie 1869 in Berlin, 1888 für Englisch in Greifswald ab. Von Ostern 1868 bis Ostern 1869 absolvierte er sein Probejahr am Domgymnasium in Colberg und war dann bis Michaelis 1873 am MarienstiftsGymnasium in Stettin tätig. Zu Michaelis 1873 erfolgte die Berufung als Ober­ lehrer an das Königliche Peter-Gröning-Gymnasium in Stargard. Im April 1884 übernahm er das Rektorat der Realschule zu Stargard. Am 10. April 1893 wurde dem nunmehr zum Direktor avancierten Heinrich Rohleder der Rang eines Rates IV. Klasse verliehen.

20 Vgl. dazu: Schriftsteller-Lexikon der Siebenbürger Deutschen. Bio-Bibliographisches Hand­ buch für Wissenschaft, Dichtung und Publizistik. Hrsg. von Harald Roth. Bd. X. Q – SCH, S. 111 f.; Kessler, Dieter: Die deutschen Literaturen Siebenbürgens, des Banates und des Buchenlandes. Von der Revolution bis zum Ende des Ersten Weltkrieges (1848 – 1918). Köln, 1997, S.  214 – 216. 21 Vgl. dazu Kössler, Personenlexikon; BBF/DIPF/Archiv, Gutachterstelle des BIL – Perso­ nalbögen der Lehrer höherer Schulen Preußens; Wegner, Ewald: Die Oberrealschule zu Stargard in Pommern. 2., erw. Aufl. Stargard 1985.

328

Biobibliographische Angaben

Ostern 1911 erfolgte die feierliche Verabschiedung des Direktors Rohleder in den Ruhestand: »Am 31. März brachten die Schüler der Anstalt ihrem scheidenden Direktor, Herrn Julius Rohleder, einen glänzenden Fackelzug. Am letzten Schultage ver­ sammelten sie sich mit ihm und sämtlichen Lehrern der Anstalt in der Aula. Hier erschien auch Herr Erster Bürgermeister Kolbe und dankte dem scheidenden Direktor in anerkennenden Worten für die treuen Dienste, die er 26 Jahre lang als Leiter der Anstalt der Schule und der Stadt in denselben Räumen geleistet hatte, in denen er schon als Knabe zu den Füßen seiner Lehrer geweilt hatte. Zum Schluss überreichte er ihm den von Sr. Majestät dem König verliehenen Roten Adlerorden. Mit bewegten Worten nahm sodann Direktor Rohleder Abschied von seinen ehemaligen Schülern und von den Räumen der Anstalt, die zur bleibenden Erinnerung an seine langjährige gesegnete Lehrertätigkeit sein von der Stadt Stargard gestiftetes und vom Stargarder Maler Herrn Tetzlaff in Öl ausgeführtes Porträt schmückt.«22

Weitere Veröffentlichungen: — The internal evidence for the determining the chronology of Shakespeare’s plays. 1887 (Programm Städtisches Realprogymnasium Stargard 1887). — Zur Geschichte der Realschule und des lateinlosen Unterrichtswesens. Star­ gard: Hendess 1903. (Programm Städtische Realschule Stargard 1903). — Zum Ausbau der bisherigen Realschule zur Oberrealschule. Stargard: Hendess 1908. (Programm Städtische Realschule Stargard 1908).

Carl Heinrich Lothar Volkmann (1858 – 1930)23 Geboren am 3. August 1858 in Halle/Saale als Sohn des Direktors des Königlichen Gymnasiums Jauer, Dr. Richard Volkmann, evangelischer Konfession. Volkmann besuchte die Gymnasien in Pyritz und Jauer und erhielt sein Reifezeug­ nis am 15. Februar 1876. Von Ostern 1876 bis Michaelis 1879 widmeter er sich an der vereinigten Friedrichs-Universität in Halle-Wittenberg philologischen und germa­ nistischen Studien. Am 20. Januar 1880 wurde er aufgrund seiner Schrift »Analecta Thesea« promoviert. Von April 1881 bis April 1882 absolvierte Volkmann seinen Einjährig-FreiwilligenDienst beim II. Posener Infanterie-Regiment Nr. 19. Nach bestandenem Examen pro facultate docendi im Juni 1881 begann er im Oktober des Jahres sein Probejahr am Gymnasium in Jauer, an dem er zuvor bereits vertretungsweise unterrichtet hatte.24 Bis Ostern 1883 unterrichtete er in Jauer, dann

22 http://www.heimatkreis-stargard.de/Schulen/Oberrealschule.htm; Zugriff am 05.09.2013. 23 Vgl. dazu: Kössler, Personenlexikon; BBF/DIPF/Archiv, Gutachterstelle des BIL – Perso­ nalbögen der Lehrer höherer Schulen Preußens; Festschrift zur fünfzigjährigen Gedenkfeier der am 28. Mai 1838 erfolgten Begründung des Realgymnasiums. Düsseldorf, 1888, S. 105 f.; Festschrift zur Feier des 75jährigen Bestehens der Schule am 28. Mai 1913. 24 Volkmanns Vater war Direktor der Einrichtung.

329

Anhang

wurde er als wissenschaftlicher Hilfslehrer an das Progymnasium in Weissenfels ver­ setzt. Von Ostern 1884 an war Volkmann als ordentlicher Lehrer am städtischen Gymnasium Düsseldorf tätig. Er unterrichtete in den Fächern Deutsch, Griechisch, Latein, Religion und Geschichte. Darüber hinaus hatte er 1887 die Befähigung zur Erteilung von Turnunterricht an öffentlichen Anstalten und selbständigen Leitung des Schwimmunterrichts erworben. 1902 erfolgte die Ernennung zum Professor und die Erhebung in den Rang der Räte IV. Klasse.25 Am 1.Oktober 1923 trat er den Ruhestand an. Professor Volkmann starb im Alter von 71 Jahren am 29. Mai 1930 in Düsseldorf.26 Weitere Veröffentlichungen: — Analecta Thesea. Diss. inaug. philol. Halle 1880. — Die tragische Hamartia bei Lessing. In: Festschrift zur Feier des 25jährigen Bestehens des Gymnasiums zu Jauer. Jauer, 1890, S. 35 – 52. — Katalog der Schul-Bibliothek des Städt. Gymnasiums und Realgymnasiums zu Düsseldorf. Düsseldorf: Voss, 1904. 99 S. (Programm Städtisches Gymnasium und Realgymnasium Düsseldorf 1904). — Lessing’s Emilia Galotti erläutert und gewürdigt für höhere Lehranstalten von Lothar Volkmann. Leipzig: H. Bredt, 1901. VII, 60 S. — Lessings Hamburgische Dramaturgie. Erläutert und gewürdigt für höhere Lehranstalten sowie zum Selbststudium. Leipzig: Bredt, 1908. IV, 119 S. — Geschichte des Städt. Gymnasiums und Realgymnasiums 1888 bis 1913. In: Festschrift zur Feier des 75jährigen Bestehens der Schule am 28. Mai 1913. Düsseldorf: A. Bagel, 1913, S. 5 – 49. — T. Lucretius Carus – der Jünger Epikurs. Gütersloh: Bertelsmann, 1913 (Gym­ nasialbibliothek; H. 55).

Friedrich Widder27 Friedrich Widder, der im Examen über Friedrich Schiller gearbeitet hatte, kam 1883 an das Gymnasium in Lahr. 1892 wurde er bei einer Schulinspektion ausdrücklich für seinen Unterricht der »Emilia Galotti« gelobt. Im Juni 1894 versetzte man ihn an das Gymnasium Lörrach, wo er bis 1900 tätig war. Vom 11. Juni 1900 bis 191128 war

25 Vgl. Jahresbericht des Städtischen Realgymnasiums und Gymnasiums Düsseldorf 1902/03, S. 23. 26 Auskunft des Stadtarchivs Düsseldorf, Sterbeurkunde Nr. 353/30 Standesamt DüsseldorfNord v. 30. Mai 1930. 27 Vgl. dazu: Kaller, Gerhard: Toleranzgedanke und Antisemitismus. Die Abiturrede von Ludwig Frank über »Lessings Bedeutung für seine Zeit« (1893). S. 329. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins – N.  F. 98. 137, 1989, S. 327 – 340. 28 Bis zum Schuljahr 1910/11 wird Widder als etatsmäßiger Lehrer im Jahresbericht der Ein­ richtung aufgeführt; 1911 erfolgt ein Hinweis auf seine Erkrankung und die Abgabe von Unterrichtsstunden. Die Jahrgänge 1911 bis 1913 konnten nicht ausgewertet werden, im Schuljahr 1914/15 ist Widder nicht mehr an der Einrichtung tätig.

330

Biobibliographische Angaben

Widder am Großherzoglichen Gymnasium Freiburg i. B. tätig29, er unterrichtete hier Geschichte, Deutsch, Latein und Griechisch. Am 9. September 1906 wurde ihm das Ritterkreuz I. Klasse des Ordens vom Zähringer Löwen verliehen.30 Weitere Veröffentlichungen: — De Tibulli codicum fide atque auctoritate. Lahr: Geiger, 1884. 37 S. (Pro­ gramm Grossherzogliches Gymnasium Lahr 1883/84). — Schiller als erzählender Dichter. Lahr: Geiger, 1885. 24 S. (Programm Gross­ herzogliches Gymnasium Lahr 1884/85).

29 Vgl. dazu: Grossherzogliches Gymnasium zu Freiburg i. B. Jahres-Bericht für das Schuljahr 1899/1900. Freiburg i. B.: Universitäts-Buchdruckerei von Chr. Lehmanns Nachf., 1900, S. 4. 30 Vgl. Programm Freiburg Schuljahr 1906/07, S. 4. sowie Eintrag im Hof- und Staatshand­ buch des Großherzogtums Baden (1910), S. 111.

331

Übersetzungen griechischer und lateinischer Anmerkungen

Mit * gekennzeichnete Seitenzahlen bezeichnen fremdsprachige Textstellen in Fußnoten.

Bernhard Arnold Für die Übersetzung der Textstellen wurden folgende Ausgaben herangezogen: — Aristoteles: Poetik. Übersetzt und erläutert von Arbogast Schmitt. In: Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung. Hrsg. von Hellmut Flashar. Bd. 5. Berlin: Akademie-Verlag 2008. — Fuhrmann, Manfred: Aristoteles. Poetik. Stuttgart: Reclam 1982. — Aristoteles: Poetik. Hrsg. von D. W. Lucas. Oxford: Clarendon Press 1968. — Ebener, Dietrich: Medea. In: Euripides. Tragödien. Griechisch/Deutsch. Berlin: Akademie der Wissenschaften 1972. Bd. I. S. 129 ἔργον τῆς τραγῳδίας — die Leistung der Tragödie (Vgl. Aristoteles, Poetik. 2008, 1452 b 28.) S. 135 φόβος — Furcht (Schrecken) S. 136 δι` ἐλέου καὶ φόβου περαίνουσα τὴν τῶν τοιούτων παθημάτων κάθαρσιν — sie erreicht durch Mitleid und Furcht die Reinigung eben solcher Leiden (Ebd., 1449 b 28) ἔλεος und φόβος — Mitleid und Furcht ( Jammer und Schrecken) φόβος — Furcht (Schrecken) φόβος περὶ ὅμοιον — Furcht (Schrecken) um den, der ähnlich ist ἔλεος — Mitleid ( Jammer) S. 137 δεικνύναι ὁμοίους πάσχοντας ἤ πεπονθότας — ähnlich leidend oder gelitten habend zu zeigen ὁμοιότης — Ähnlichkeit φόβος — Furcht (Schrecken) φόβος περὶ ὅμοιον — Furcht um den, der ähnlich ist περιπέτεια — Wende der Handlung ἀναγνώρισις — Wiedererkennung περιπέτεια — Wende der Handlung

333

Anhang

Ἡ γὰρ τοιαύτη ἀναγνώρισις καὶ περπέτεια ἢ ἔλεον ἕξει ἢ φόβον — Eine solche Wiedererkennung und ein solcher Handlungsumschwung nämlich werden entweder Mitleid ( Jammer) oder Furcht (Schrecken) haben (Ebd., 1452 a 38 f.) ἔλεος und φόβος — Mitleid und Furcht ( Jammer und Schrecken) S. 138 φόβος — Furcht (Schrecken) φόβος περὶ ὅμοιον — Furcht (Schrecken) um den, der ähnlich ist ἔλεος — Mitleid ( Jammer) S. 139 φόβος — Furcht (Schrecken) ἔλεος — Mitleid ( Jammer) φοβερόν — das Schreckenerregende ἐλεεινόν — das Mitleiderregende οἰκτρόν — das Bejammernswerte δεινόν — das Schreckliche θαυμαστόν  — das Staunenbewirkende μεγαλοπρεπές — das Großartige, das Herrliche τὸ δὲ μεγαλοπρεπὲς θαυμαστόν — das Herrliche, das Erstaunen bewirkt (das Herrliche, Erstaunenbewirkende) ἔλεος und φόβος — Mitleid ( Jammer) und Furcht (Schrecken) θαυμασία — das Erstaunen — die Verwunderung ὥστε τὸν ἀκούοντα τὰ πράγματα γινόμενα καὶ φρίττειν καὶ ἐλεῖν ἐκ τῶν συμβαι­ νόντων — dass der, der die geschehenden Dinge hört, auf Grund der Ereignisse sowohl schaudert als auch Mitleid ( Jammer) empfindet (Aristoteles, Poetik. 2008, 1453 b 4 ff.) φρισσός — der Schauder φόβος περὶ ὅμοιον — Furcht (Schrecken) um den, der ähnlich ist ἐκ τῶν συμβαινόντων  — auf Grund der Ereignisse S. 140 ἔλεος — Mitleid ( Jammer) φόβος — Furcht (Schrecken) ἐπιεικεῖς — integer (Vgl. Aristoteles, Poetik. 2008, 1452 b 34); »maßvoll« (bei Bernhard Arnold) ὅμοιος — ähnlich ὁ μήτε ἀρετῇ διαφέρων καὶ δικαιοσύνῃ, μήτε διὰ κακίαν καὶ μοχθηρίαν μεταβάλλων εἰς τὴν δυστυχίαν ἀλλὰ δι` ἁμαρτίαν τινά, τῶν ἐν μεγάλῃ δόξῃ ὄντων καὶ εὐτυχίᾳ, οἷον Οἰδίπους καὶ Θυέστης καὶ οἱ ἐκ τῶν τοιούτων γενῶν ἐπιφανεῖς ἄνδρες — »derjenige, der weder durch charakterliche Vollkommenheit und Gerechtigkeit herausragt, noch durch Schlechtigkeit und Bösartigkeit ins Unglück gerät, sondern wegen eines bestimmten Fehlers zu Fall kommt und zu denen gehört, die in hohem Ansehen stehen und im Glück leben wie Ödipus und Thyest und andere berühmte Personen aus solchen Familien.« (Aristoteles, Poetik. 2008, 1453 a 8)

334

Übersetzungen griechischer und lateinischer Anmerkungen

ἁμαρτία — Fehlhandlung μήτε ἀρετῇ διαφέρων καὶ δικαιοσύνῃ — der, der weder durch charakterliche Vollkommenheit und Gerechtigkeit herausragt μετάβασις — Entwicklung (Vgl. ebd., 1449 a 37) μὴ διαφέρων ἀρετῇ — einer, der nicht durch Tugend herausragt S. 141 ἁμαρτία — Fehlhandlung ἀγνοία — Unwissenheit νῦν δὲ περὶ ὀλίγας οἰκίας αἱ κάλλισται τραγῳδίαι συντίθενται, οἷον περὶ Ἀλκμαίωνα καὶ Οἰδίπουν καὶ Ὀρέστην καὶ Μελέαγρον καὶ Θυέστην καὶ Τήλεφον καὶ ὅσοις ἄλλοις συμβέβηκεν ἢ παθεῖν δεινὰ ἢ ποιῆσαι — […] heute macht man aus der Geschichte weniger Häuser die besten Tragödien, etwa aus der Geschichte von Alkmeon, Ödipus, Orest, Meleager, Thyest, Telephos und den Geschichten einiger anderer, die etwas schreckliches erlitten oder getan haben (1453 a 18 ff.; vgl. hierzu auch Schmitts Übersetzung: »[…] die etwas erlitten oder getan haben, was schreckliche Konsequenzen hat«) ἀνάγκη — Notwendigkeit, notwendig (Vgl. z.  B. 1452 a 10) S. 141* μὴ διαφέρων — nicht herausragend S. 142 πάντως πέπρακται ταῦτα κοὐκ ἐκφεύξεται — omnino haec facta atque transacta sunt neque evitari potuerunt — gänzlich getan sind diese Dinge und können nicht vermieden werden (Euripides, Medea. 1972, 1064.) πάντως πέπρωται — gänzlich vom Schicksal bestimmt (Ebd., andere Lesart zu 1064.) πέπρωται C. πέπρακται ceteri nisi quod ω superscr. [in V.] — πέπρωται C. πέπρακται [schreiben] die Übrigen, außer dass ω überschrieben wurde in V (Textkritische Anm., C. und V. bezeichnen Handschriften; bei letzterer wurde das α mit ω überschrieben.) οἰκεία ἡδονὴ ἡ δι` ἐλέου καὶ φόβου — »spezifische« Lust, die durch Mitleid ( Jammer) und Furcht (Schrecken) (bewirkt wird) (Vgl. 1453 b 11 ff.; vgl. die Übersetzung von Schmitt.) διπλῆ σύστασις — »Doppelschluss« (Schmitt) (Vgl. Arist. Poet. 1453 a 31 f.) S. 143 ἀπόκρισις χειρόνων ἀπὸ βελτιόνων — Sonderung der schlechteren von den besseren Dingen (Pseudoplaton: Horoi — definitiones 415 d) παθήματα — Leiden solamen miseris socios habuisse malorum — für Elende ist es ein Trost, Genossen im Leid zu haben (Nach Äsops Fabel »Die Hasen und die Frösche«, volkstümlich.) S. 144 κάθαρσις τῶν παθημάτων — Reinigung von den Leiden τοιούτων für τούτων — solche für diese

335

Anhang

ἔλεος — Mitleid ( Jammer) ἐλεεινὰ, οἰκτρὰ παθήματα — jammererregende, bejammernswerte Leiden φόβος — Furcht (Schrecken) die φοβερὰ oder δεινὰ παθήματα — schreckenerregend, schreckliche Leiden ἀναγνώρισις — Wiedererkennung περιπέτεια — Wende der Handlung πάθος — Leid, Leiden ἁμαρτία — Fehlhandlung S. 145 μεγάλη ἁμαρτία — große, schwerwiegende Fehlhandlung S. 146 ἔξω τοῦ δράματος — außerhalb des Dramas, außerhalb des dramatischen Plots (1453 b 32; Schmitt übersetzt: »außerhalb der Bühnenhandlung«) S. 147 ὀρθὴ ἐπιτίμησις — gerechtfertigte Kritik (Vgl. Aristoteles, Poetik. 2008, 1461 b 19.) μοχθηρία — verbrecherische Gesinnung (Ebd.) πονηρία — verbrecherische Gesinnung ὅταν μὴ ἀνάγκης οὔσης μηθὲν χρήσηται … τῇ πονηρίᾳ — »wenn es keine Notwendig­ keit … gibt … für eine verbrecherische Gesinnung« (Ebd., 1461 b 19 ff.) ἀνάγκη — Notwendigkeit ἁμαρτία — Fehlhandlung S. 148 ἄλογον — das Vernunftwidrige μὴ διαφέρων ἀρετῇ καὶ δικαιοσύνῃ — einer, der nicht durch Tugend und Gerechtigkeit herausragt S. 149 διπλῆ ἔξοδος — »Doppelschluss« ἁπλῆ — einfacher Schluss, d.  h. jemand stürzt durch eine Fehlhandlung vom Glück ins Unglück (Vgl. Aristoteles, Poetik. 2008, 1453 a 13 ff.) διπλῆ — doppelter Schluss, d.  h. die Guten und die Bösen finden ein entgegengesetztes Ende (Ebd.)

Julius Rohleder S. 179 Melanchthons Grundsatz für die Erklärung gilt auch hier: necesse est, ordinem regionesque partium ostendere, ut singula membra considerari queant et judicari, quo modo consentiant. — Es ist notwendig, die Gliederung und die Bereiche der Redeteile aufzuzeigen, damit die einzelnen Elemente betrachtet werden und beurteilt werden kann, wie sie zueinander gehören. (Vgl. dazu: Die dispositio. In: Philipp Melanchthon: Elementa rhetorices. Hrsg., übers. u. kommentiert von

336

Übersetzungen griechischer und lateinischer Anmerkungen

Volkhard Wels. 2. Auflage. Potsdam: Postprints der Universität Potsdam 2011, S. 152 f. [Philosophische Reihe; 79] http://nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn:nbn:de:kobv:517-opus-51446)

Lothar Volkmann S. 230 Non ut aliquid ex iis novi addisceres, sed ut ea; quae in re dispersa atque infinita viderentur esse, ratione et distributione sub uno aspectu ponerentur. — »Nicht in der Absicht, dass du hieraus irgendetwas Neues hinzulernst, sondern damit das, was in dieser Angelegenheit mannigfaltig und grenzenlos erscheint, durch systematische Gliederung unter einen einzigen Gesichtspunkt gestellt werden kann.« (Quintus Tullius Cicero: Commentariolum petitionis, 1. Hrsg., übers. und komm. von Günter Laser. Darmstadt 2001.) S. 237 f.* καὶ προσέπεμψεν ἀεί τινας πρὸς τὰς τροφοὺς αὐτῆς γυναῖκας — und er schickte immer (irgendwelche) Frauen zu ihren Erzieherinnen (Dionysius von Halikarnass: Roman Antiquities. Buch XI, 28, 4; vgl. die von Earnest Cary übersetzte englische Ausgabe: Dionysius of Halicarnassus: The Roman Antiquities. Vol. 4. New Haven 1943.) S. 239 f.* ταύτην τὴν κόρην ἐπίγαμον οὖσαν ἤδη θεασάμενος Ἄππιος Κλαύδιος … ἀναγινώσκουσαν ἐν γραμματιστοῦ — Appius Claudius, als er dieses Mädchen sah, das gerade heiratsfähig war, wie sie beim Lehrer las … (Ebd., XI, 28, 3)

337

Personenverzeichnis

Das Personenverzeichnis erfasst die in den Schulschriften genannten Autoren, Künstler, Philosophen und sonstigen historischen Persönlichkeiten, wenn sie im Haupttext, Fußnoten oder Literaturangaben ausdrücklich erwähnt werden. Bei indirekter Erwähnung (wie z. B. »Wandsbecker Bote« für Matthias Claudius) stehen die Seitenzahlen in Klammern. Nicht erfasst  —  Gotthold Ephraim Lessing. Aischylos [Aeschylus]  —  135, 138, 146, 197 Aristoteles  —  104, 127, 129 – 131, 133 – 144, 146 – 150, 152, 172, 197, 205, 207, 232 f., 236, 238, 240, 283, 300 f., 305 Arnold, Bernhard Albert  —  187, 190, 205, 221, 224 f., 236, 238 f., 284, 288, 306 Auerbach, Berthold  —  127 Bandello, Matteo  —  230, 308 Banks, John  —  133, 231, 245 Baumgart, Hermann  —  238, 243, 301 f., 304, 308 Beethoven, Ludwig van  —  139 Bernays, Michael  —  187, 278, 304 Bertling, []  —  288 Biedermann, Karl  —  229 Blankenburg, Christian Friedrich von  —  85 Bohtz, August Wilhelm  —  85 Börne, Ludwig  —  85 Boie, Heinrich Christian  —  85 Bollmann, Rudolf  —  201 Borinski, Karl  —  296, 307 Bröse, Gustav  —  295 Bulthaupt, Heinrich  —  242, 278 f., 287, 291 Calderón de la Barca, Pedro  —  102 Campistron, Jean-Galbert de  —  231 – 237, 299 – 301 Carrière, Moritz Philipp  —  127, 131, 187, 190 Cicero (Marcus Tullius Cicero)  —  230 Cholevius, Carl Leo  —  190, 202 Claudi, Marie  —  129 339

Anhang

Claudius, Matthias  —  85, 101, 132, (164), 187, (286 f.) Coello, Antonio  —  (231), (244) Corneille, Pierre  —  149, 201, 301 Corneille, Thomas  —  231 Cronegk, Johann Friedrich von  —  149 Danzel, Theodor Wilhelm  —  86, 129, 187, 200, 207, 277, 282 Dawison, Bogumil  —  120, 237 Della Casa, Giovanni  —  (131) Destouches, Philippe Néricault  —  297 Devereux, Robert, 2. Earl of Essex  —  231 Devrient, Eduard  —  165, 282 Diderot, Denis  —  200, 301, 308, 310 Dindorf, Ludwig August  —  142 Dionysius von Halikarnass  —  230, 232, 235, 237 – 239, 299 Dubos, Jean-Baptiste  —  152 Dühring, Karl Eugen  —  224 Düntzer, Heinrich  —  129, 134, 187, 190 Eloesser, Arthur  —  307, 309 Engel, Johann Jakob  —  85, 92, 132, 187, 190 Euklid  —  130 Euripides  —  138, 142, 147, 149, 174, 236, 308 Farquhar, George  —  293 f. Fischer, Kuno  —  187, 190, 192, 205 f., 229, 237, 278, 284 f., 288 f., 291, 295, 304 Franz, Rudolf  —  288 Freytag, Gustav  —  133 – 135, 151, 190, 201, 206, 211, 214, 223 Friedrich II. von Preußen  —  150 Friesen, Herrmann Freiherr von  —  146 Gebler, Tobias Philipp Freiherr von  —  257 Gellert, Christian Fürchtegott  —  124, 129, 196, 298 Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von  —  239 Gervais, Eduard  —  105 Gervinus, Georg Gottfried  —  85, 190 Goethe, Johann Wolfgang (von)  —  85, 109, 124, 129 – 132, 134, 145 f., 155, 158, 165, 179, 187, 195 f., 198, 201, 206 – 208, 238, 249, 277 – 279, 282, 290, 296, 304 Gotschlich, Emil  —  141 Gottsched, Johann Christoph  —  124, 129, 196, 198 Grillparzer, Franz  —  297 f., 310 340

Personenverzeichnis

Grimm, Hermann  —  145 Großmann, Gustav Friedrich Wilhelm  —  85 Günther, Georg  —  283 Guhrauer, Gottschalk Eduard  —  124, 129, 187, 207, 277, 282 Hebler, Carl  —  124 – 127, 129, 187, 299 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  —  142 Heidemann, Gustav  —  278, 282 – 284 Heinemann, Otto  —  310 Hennings, August Adolph Friedrich  —  312 f. Herder, Johann Gottfried  —  85, 104, 131, 264, 287 Hermilly, Vaquette de  —  230, 299 Hettner, Hermann  —  120, 127, 134, 145, 187, 190, 287 Heyse, Paul Johann Ludwig von  —  283 Hölscher, Karl Georg Ludwig  —  129, 187, 190 Honegger, Johann Jakob  —  303 Horn, Franz Christoph  —  85 Imelmann, Johannes  —  264 Jacobi, Friedrich Heinrich  —  309 Justi, Carl  —  138 Jeep, Ernst  —  288 f. Keller, Gottfried  —  287 Kern, Franz Georg Gustav  —  286 Kettner, Gustav Adolf  —  303, 305, 308 Kirchhoff, Adolf  —  142 Klein, Anton von  —  85 Kleist, Ewald Christian von  —  297 Klinger, Friedrich Maximilian (von)  —  109 Klotz, Christian Adolph  —  142 Knebel, Karl Ludwig von  —  85 König, Eva  —  313 Kurnik, Max  —  85 La Chaussée, Pierre Claude Nivelle de  —  294 – 297 Laas, Ernst  —  183 Laube, Heinrich  —  231 Leibniz, Gottfried Wilhelm  —  262 – 264, 305 Leisewitz, Johann Anton  —  310 341

Anhang

Lenz, Jakob Michael Reinhold  —  109 Lessing, Karl Gotthelf  —  85, 111, 133, 162, 196, 234, 261, 284, 304, 309 Lillo, George  —  200, 307 Lippert, Julius  —  136 Livius (Titus Livius)  —  107 f., 158, 195, 199, 230 – 232, 236 – 238, 240, 299 Loebell, Johann Wilhelm  —  124 Ludwig XIV.  —  208 Ludwig, Otto  —  293 f., 306 f. Maffei, Scipione  —  149 Marivaux, Pierre Carlet de  —  297 Mauvillon, Jakob Eléazar (de)  —  277 Melanchthon, Philipp  —  179 Mendelssohn, Moses  —  195, 257, 283, 313 Meyer, Richard M.  —  306 Milton, John  —  200 Montiano y Luyando, Agustín Gabriel de Montiano  —  109, 195, 230 – 235, 237 – 240, 243, 282 f., 299 f., 301, 308 Müller, Friedrich (genannt Maler Müller)  —  257 Nicolai, Christoph Friedrich  —  85, 99, 101, 104, 132 f., 147, 159, 195 f., 242, 247, 282, 300, 304, 306 Niemeyer, Eduard  —  175 Nietzsche, Friedrich (Wilhelm)  —  291 Nodnagel, August  —  85, 129 Nölting, Friedrich Theodor  —  129, 187, 190, 199, 217, 225, 230, 232, 234, 283 Pecht, August Friedrich  —  185, 187, 189 Plautus (Titus Maccius Plautus)  —  255 Platon  —  130, 141, 143 Prutz, Robert Eduard  —  105 Pseudo-Seneca  —  141 Racine, Jean Baptiste  —  197, 201, 255 f. Raspe, Rudolf Erich  —  262 Reimarus, Elise (Margaretha Elisabeth)  —  309, 312 – 315 Riccoboni, Antoine-François  —  298 Richardson, Samuel  —  303 Riemer, Friedrich Wilhelm  —  85, 124, 187, 277 Ritter,Heinrich  —  101 f. Rohleder, Julius Heinrich  —  225, 237, 241, 307

342

Personenverzeichnis

Rötscher, Heinrich Theodor  —  85, 118, 120, 134, 187 Rousseau, Jean-Jacques  —  303 Schack, Adolf Friedrich von  —  284 Schlegel, August Wilhelm (von)  —  85, 190, 199 Schlegel, Johann Elias  —  298 Schlegel, Karl Wilhelm Friedrich (von)  —  85 Schiller, Johann Christoph Friedrich (von)  —  109 f., 124, 130, 195, 198, 201, 206, 232, 249, 253, 264, 287, 289, 291 Schink, Johann Friedrich  —  85 Schmid, Christian Heinrich  —  85 Schmidt, Erich  —  230, 233, 235, 237, 242, 244, 252, 257, 277 – 279, 284 f., 287, 289, 293 – 295, 306, 308, 310, 314 Schmidt, Julian  —  85, 127, 129, 131, 133, 147 Schott, Sigmund  —  278, 280 – 284 Schütz, Christian Gottfried  —  85 Schütze, Johann Friedrich  —  85 Scribe, Augustin Eugène  —  255 Sendel, Karl  —  135 Seydelmann, Karl  —  120, 237 Shakespeare, William  —  100, 130, 135, 137 – 140, 145 – 147, 151 f., 181, 185, 192, 195 f., 198, 201 f., 206, 273, 277, 287, 293, 297, 301, 311 Sophokles  —  135, 138, 140, 146 f., 196, 206 Sime, James  —  129, 131, 133 – 135, 140, 145, 151, (187) Stahr, Adolf Wilhelm Theodor  —  107, 163, 187, 190 Stanhope, Philip Dormer, 4. Earl of Chesterfield  —  303 Starke, Johanne Christiane  —  159, 282 Steffens, Johann Heinrich  —  85 Sterne, Laurence  —  (131) Stolberg-Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu  —  109 Strauss, David Friedrich  —  310, 312 Strodtmann, Adolf  —  129, 187 Susemihl, Franz  —  136 f., 140, 143, 236 Teichmüller, Gustav  —  137, 147 Terenz (Publius Terentius Afer)  —  255 Theokrit  —  144 Tieck, Johann Ludwig  —  85 Unzer, Ludwig August  —  277

343

Anhang

Vahlen, Johannes  —  140 Varnhagen von Ense, Rahel  —  142 Vilmar, August  —  85 Vischer, Friedrich Theodor  —  89, 93, 101, 103, 105, 107, 130, 135, 190 Volkmann, Carl Heinrich Lothar  —  282, 299 – 301, 308 Voltaire, François-Marie Arouet  —  149 f., 310 Von der Goltz, Wilhelmine  —  297 Voß, Christian Friedrich  —  305 Voß, Johann Heinrich  —  85 Wagner, Bruno Alwin  —  230 Wagner, Heinrich Leopold  —  109 Wattenbach, Wilhelm  —  312 Weiße, Christian Felix  —  124, 129, 135, 196, 310 Wendt, Gustav  —  286 Werner, Richard Maria  —  242, 306 Wille, Emil  —  136 Wolff-Malcolmi, Amelie  —  165, 282 Zedlitz, Joseph Christian von  —  102 Zeller, Eduard  —  143, 262 Zelter, Karl Friedrich  —  85, 124, 187 Zimmermann, Johann Georg  —  89 Zimmern, Helen  —  129, 131, 187

344

Quellenverzeichnis

Hölscher, Ludwig: Ueber Lessing’s Emilia Galotti./Ludwig Hölscher. Herford: E. Heidemann 1851, S. 3 – 22. (Herford; Friedrichs-Gymnasium 1851.) Nölting, Friedrich Theodor: Ueber Lessings Emilia Galotti. Wismar: Hinstorff ’sche Rathsbuchdruckerei 1878, S. 1 – 18. (Wismar; Grosze Stadtschule 1878.) Arnold, Bernhard Albert: Lessings Emilia Galotti in ihrem Verhältniss zur Poetik des Aristoteles und zur Hamburgischen Dramaturgie/Bernhard Albert Arnold. Chemnitz: J. C. F. Pickenhahn & Sohn 1880, S. 3 – 18. (Chemnitz; Königliches Gymnasium 1880.) [1880. Progr.-Nr. 447.] Heidemann, Gustav: Ueber Lessings Emilia Galotti./Gustav Heidemann. Straßburg: R. Schultz u. Comp., 1881, S. 3 – 21. (Saarburg in Lothringen; Gymnasium 1881.) Rohleder, Julius: G. E. Lessing’s Emilia Galotti als Lectüre für Prima./Julius Rohleder. Stargard: F. Hendess 1881, S. 1 – 25. (Stargard in Pommern; Königliches und Gröning’sches Gymnasium 1881.) [1881. Progr. Nr. 112.] Dietrich, Adolf Gustav Emil: Über den Bau des Trauerspiels Emilia Galotti./ Adolf Gustav Emil Dietrich. Weissenfels: Leopold Kell 1882, S. 1 – 15. (Weissenfels; Progymnasium 1882.) [1882. Progr. No. 226] Volkmann, Lothar: Zu den Quellen der Emilia Galotti./Lothar Volkmann. In: Festschrift zur fünfzigjährigen Gedenkfeier der am 28. Mai 1838 erfolgten Begründung des Realgymnasiums [Düsseldorf ]. Düsseldorf: L. Voß & Cie. 1888, S. 235 – 259. (Düsseldorf; Städtisches Realgymnasium mit Gymnasialklassen 1888.) Kettner, Gustav: Über Lessings Emilia Galotti./Gustav Kettner. Naumburg: Lippert & Soc. 1893, S. 5 – 32. (Pforta; Landesschule 1893.) Rösler, Johann Karl: Die Handlung und Charaktere in Lessings Emilia Galotti./ Johann Karl Rösler. Hermannstadt: W. Krafft 1897, S. 5 – 13. (Sächsisch-Regen; Vierklassiges evangelisches Gymnasium A. B. 1897.) Widder, Friedrich: Emilia Galotti und kein Ende./Friedrich Widder. Lörrach: C. R. Gutsch 1897, S. 3 – 15. (Lörrach; Grossherzogliches Gymnasium 1897.) [Progr.-Nr. 635] 345

Anhang

Marseille, Gustav: Die Urbilder der Frauengestalten in Lessings Meisterdramen./ Gustav Marseille. Putbus: R. Decker 1904, S. 3 – 26. (Putbus; Königliches Pädagogium 1904). [1904. Progr.-No. 169]

346

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Titelblatt der Schulprogrammschrift des königlichen Progymnasiums zu Hohenstein/Preußen für das Schuljahr 1850 –1851. In: Programm des königlichen Progymnasiums zu Hohenstein in Preussen. Eine Einladungsschrift zu der öf­fent­ lichen Prüfung im Schuljahre 1850 –1851, am 11. April 1851. Hohenstein: C. H. Harich’sche Buchdruckerei 1851. 50 S. Abb. 2: Titelblatt der Programmschrift des Realgymnasiums am Zwinger zu Breslau für das Schuljahr 1894 –1895. In: Jahresbericht des Realgymnasiums am Zwinger zu Breslau über das Schuljahr von Ostern 1894 bis Ostern 1895, erstattet von Dr. Franz Meffert, Direktor. Breslau: Druck von Graß, Barth und Comp. (W. Friedrich) 1895. 31 S. (Progr. Nr. 214.) Abb. 3: Verteilung des Unterrichtsstoffes am königlichen Progymnasium zu Ho­hen­ stein/Preußen im Schuljahr 1850 –1851. Ebd., S. 37. Abb. 4: Schulstoff für das Schuljahr 1894 –1895 des Realgymnasiums am Zwinger zu Breslau. Ebd., S. 24. Abb. 5: Schülerstatistik des Berlinischen Gymnasiums zum grauen Kloster für das Schul­jahr 1851/1852. Bellermann, Friedrich: Jahresbericht über das Berlinische Gym­ nasium von Ostern 1851 bis Ostern 1852, S. 35. In: Programm des Berlinischen Gym­ nasiums zum grauen Kloster. Berlin: Naucksche Buchdruckerei 1852. 40 S. Abb. 6: Schülerstatistik des nieder-österreichischen Landes-Realgymnasiums in Ober­hollabrunn für das Schuljahr 1869. In: Viertes Programm des nieder-öster­rei­ chi­schen Landes-Realgymnasiums Oberhollabrunn. Oberhollabrunn: Verlag des n. ö. Landes-Realgymnasiums 1896. Druck v. F. Kühkopf in Stockerau. 44 S., S. 41. Abb. 7: Lyon, Otto: Der deutsche Unterricht. In: Handbuch für Lehrer der Höheren Schulen. Leipzig und Berlin: B. G. Teubner 1906, S. 170 – 214, hier: S. 173. Titelbild: Stahlstich nach einer Zeichnung von Johann Georg Buchner. In: Panorama der deutschen Klassiker. Bd. II. Stuttgart: Karl Göpel o. J. Frontispiz. (LessingMuseum Kamenz; 4951 I)

347