Gotthold Ephraim Lessings Religionsphilosophie im Kontext: Hamburger Fragmente und Wolfenbütteler Axiomata 9783110253887, 9783110253870

The conflict about the fragments of "Apologia or Defense for the Rational Reverers of God" by the Hamburg scho

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Gotthold Ephraim Lessings Religionsphilosophie im Kontext: Hamburger Fragmente und Wolfenbütteler Axiomata
 9783110253887, 9783110253870

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Biographische Betrachtungen. Zum Verhältnis von Leben und Werk bei Lessing
Theologische Ansichten im Hintergrund der Axiomata
Lessings Fragment Die Religion und das Saatgut, das in Die Erziehung des Menschengeschlechts aufgegangen ist
Aus lauter dunkelen Begriffen der Kabbalisten und Platonischen Juden Hermann Samuel Reimarus als Ausleger des Johannesprologs
Ein mittelalterlicher Fund für das aktuelle Gespräch. Lessings Berengarius Turonensis
›Enthusiasmus der Spekulation‹. Zur fehlenden Vorgeschichte von Lessings Erziehungslehre
Das Menschengeschlecht im Zeitalter des Heiligen Geistes. Eine Hypothese zu Ursprung und Gestalt von Lessings Anthropologie
Lessings origenistische Eschatologie
Zur Logik der Erziehungs-Schrift. Widerspruch oder Kohärenz?
Hermeneutische Optionen und rhetorische Inszenierung
The Miraculous Crossing of the Red Sea. What Lessing and his Opponents during the Fragmentenstreit did not see
»Elementarbuch« oder »Kanon«. Lessings Deutung des Neuen Testaments
Was sind Axiomata? Lessing und die Suche nach religiöser Wahrheit
Lessings Axiomata (1778) als eine hermeneutische Programmschrift
Wahrheit und Rhetorik. Lessings Theologiekritik im Fragmentenstreit
Leistung und Wirkung der Spätschriften Lessings
Lessings dramatisierte Religionsphilosophie. Ein philologischer Kommentar zu Emilia Galotti und Nathan der Weise
Lessing, Paalzow und die »Historische Einleitung in die Offenbarung Johannis«
Personenregister

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Frühe Neuzeit Band 159

Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt

Gotthold Ephraim Lessings Religionsphilosophie im Kontext Hamburger Fragmente und Wolfenbütteler Axiomata Herausgegeben von Christoph Bultmann und Friedrich Vollhardt

De Gruyter

ISBN 978-3-11-025387-0 e-ISBN 978-3-11-025388-7 ISSN 0934-5531 %LEOLRJUD¿VFKH,QIRUPDWLRQGHU'HXWVFKHQ1DWLRQDOELEOLRWKHN Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen 1DWLRQDOELEOLRJUD¿HGHWDLOOLHUWHELEOLRJUD¿VFKH'DWHQVLQGLP,QWHUQHWEHU http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/ New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis

Christoph Bultmann, Friedrich Vollhardt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hugh Barr Nisbet Biographische Betrachtungen. Zum Verhältnis von Leben und Werk bei Lessing . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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THEOLOGISCHE ANSICHTEN IM HINTERGRUND DER AXIOMATA Barbara Mahlmann-Bauer Lessings Fragment Die Religion und das Saatgut, das in Die Erziehung des Menschengeschlechts aufgegangen ist . . . . . .

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Dietrich Klein Aus lauter dunkelen Begriffen der Kabbalisten und Platonischen Juden ... Hermann Samuel Reimarus als Ausleger des Johannesprologs . . . . . . .

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Volker Leppin Ein mittelalterlicher Fund für das aktuelle Gespräch. Lessings Berengarius Turonensis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Friedrich Vollhardt ›Enthusiasmus der Spekulation‹. Zur fehlenden Vorgeschichte von Lessings Erziehungslehre . . . . . . . . .

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Ralph Häfner Das Menschengeschlecht im Zeitalter des Heiligen Geistes. Eine Hypothese zu Ursprung und Gestalt von Lessings Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wilhelm Schmidt-Biggemann Lessings origenistische Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ingrid Strohschneider-Kohrs Zur Logik der Erziehungs-Schrift. Widerspruch oder Kohärenz? . . . . .

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HERMENEUTISCHE OPTIONEN UND RHETORISCHE INSZENIERUNG Ulrich Groetsch The Miraculous Crossing of the Red Sea. What Lessing and his Opponents during the Fragmentenstreit did not see . . . . . . . . . . .

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Christof Landmesser »Elementarbuch« oder »Kanon«. Lessings Deutung des Neuen Testaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Merio Scattola Was sind Axiomata? Lessing und die Suche nach religiöser Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

219

Christoph Bultmann Lessings Axiomata (1778) als eine hermeneutische Programmschrift .. 242 Ernst-Peter Wieckenberg Wahrheit und Rhetorik. Lessings Theologiekritik im Fragmentenstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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LEISTUNG UND WIRKUNG DER SPÄTSCHRIFTEN LESSINGS Gisbert Ter-Nedden Lessings dramatisierte Religionsphilosophie. Ein philologischer Kommentar zu Emilia Galotti und Nathan der Weise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Martin Mulsow Lessing, Paalzow und die »Historische Einleitung in die Offenbarung Johannis« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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PERSONENREGISTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351

Christoph Bultmann, Friedrich Vollhardt

Einleitung

In der Wissenschaft gibt es Konventionen, die über lange Zeiten hin Bestand haben. So auch in der Geschichte der Theologie: Niemand kann vom 18. Jahrhundert sprechen, ohne den Streit zu erwähnen, der durch die ›Wolfenbütteler Fragmente‹ ausgelöst wurde. In Hans Blumenbergs Betrachtungen zur Legitimität der Neuzeit (1966/1988) wird die von Hermann Samuel Reimarus verfaßte Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes als das »Hauptwerk« der deutschen Aufklärung bezeichnet, aus dem Lessing den »Sprengstoff« für seine Veröffentlichung entnommen habe. Diese Verhältnisbestimmung gehört zu den Gemeinplätzen der Forschung: Der radikale Religionskritiker trifft auf einen kongenialen Provokateur, der sein hinterlassenes Werk publiziert und damit eines der größten Medienereignisse des Jahrhunderts auslöst. Die ideengeschichtliche Bedeutung des Vorgangs ist von verschiedenen Disziplinen beschrieben und gewürdigt worden, wobei die Einschätzung Blumenbergs in der Regel geteilt wird – der Wolfenbütteler Fragmentenstreit bildet fraglos den Höhepunkt der Aufklärung in den deutschen Territorien. Die in Frage stehenden Texte wurden von Lessing in den Jahren zwischen 1771 und 1778 in seiner Funktion als Herzoglicher Bibliothekar in der von ihm gegründeten Zeitschrift Zur Geschichte und Litteratur. Aus den Schätzen der herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel herausgegeben. Insofern sind es ›Wolfenbütteler Fragmente‹; doch handelt es sich um Texte, die von Reimarus als einem Gelehrten verfasst worden waren, der von 1728 bis zu seinem Tod am Akademischen Gymnasium in Hamburg unterrichtete, weshalb vielleicht eher von ›Hamburger Fragmenten‹ zu sprechen ist – den Entstehungskontext gilt es zu beachten. Für den Werkzusammenhang ist nämlich wichtig festzuhalten, dass die Fragmente neben erfolgreichen Büchern, ja Bestsellern dieses Autors stehen, der um die Mitte des 18. Jahrhunderts einen ausgezeichneten Ruf als Religionsphilosoph besaß. Mit seinen Abhandlungen über Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion (1754, 51781), Die Vernunftlehre als eine Anweisung zum richtigen Gebrauche der Vernunft in der Erkenntniß der Wahrheit (1756) und Allgemeinen Betrachtungen über die Triebe der Thiere, hauptsächlich über ihre Kunst-Triebe. Zum Erkenntniß des Zusammenhanges der Welt, des Schöpfers und unserer selbst, vorgestellet (1760) stand Reimarus kaum einem Professor an einer Universität nach. Umgekehrt soll jedoch auch der Wolfenbütteler Bibliothekar durch die vorgeschlagene Bezeichnung der genannten Texte als ›Hamburger Fragmente‹ angemessener in seiner Bedeutung als Philosoph und Theologe zu erkennen sein. Zu fragen ist nicht nur nach der explosiven Wirkung der in Hamburg entstandenen Fragmente, sondern nach

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dem konstruktiven, dabei ganz originären Charakter der von Lessing in diesem Streit publizierten Schriften. Erst im Zusammenspiel der kritischen Dynamik von Reimarus’ Analyse der biblischen Tradition als einem Fall von positiver Religion und der konstruktiven Dynamik von Lessings Modell einer biblischen Hermeneutik zur Erschließung der ›inneren Wahrheit‹ historisch kontingenter kanonischer Texte erweist sich die Bedeutung der öffentlichen Kontroverse für eine aufgeklärte Adaptation des Konzepts einer ›natürlichen Religion‹. Lessings wichtigster Beitrag zu der Debatte war eine Abhandlung unter dem Titel Axiomata, die nicht in seiner Bibliothekszeitschrift, sondern als selbständige Druckschrift erschien; sie steht im Zentrum seiner theologischen Studien aus den Wolfenbütteler Jahren und gehört zugleich in eine Reihe von Entwürfen zur Religionsphilosophie, die seit den frühen 1760er Jahren – Lessing hielt sich zu dieser Zeit in Breslau auf – entstanden. Mit diesen Texten unternahm Lessing den Versuch einer Positionsbestimmung. Dass er nicht nur die Rolle eines Mediators spielen wollte, ist zwar oft bemerkt, aber nur selten zum eigentlichen Gegenstand der Untersuchung gemacht worden. Die Betrachtung seiner Position zwischen den Extremen rationalistischer Kritik und ekklesialer Beharrung führt zwangsläufig zu Abgrenzungen oder Statusbestimmungen, die aus der Logik eben dieser Argumentationssysteme gewonnen werden oder auf diese bezogen bleiben. Lessings Beiträge erscheinen dann als rein anlassbezogene Stellungnahmen zur Bibelkritik des Ungenannten, den Angriffen seiner orthodoxen Gegner oder den Einlassungen religionsphilosophisch geprägter Neologen. Mehr noch: Auf die unterschiedlichen Adressaten scheint sich der Autor mit einem Wechsel der Perspektiven eingestellt zu haben, der – trotz gleicher Distanz zu den streitenden Parteien – die Ausbildung eines eigenen Lösungsmodells erschwerte. Zu fragen ist jedoch, ob der in den Axiomata greifbare, durchaus eigenständige Ansatz durch die Binnenargumentationen, die variationsreiche Polemik (oder Parodie) und den Einsatz unterschiedlicher literarischer Formen nur verdeckt wurde; zu rekonstruieren ist dieser Ansatz nicht unter teleologischen Vorgaben (Neospinozismus, Klassik oder Frühidealismus in Deutschland), sondern in Bezug auf historische Traditionen und zeitgenössische Wissens- und Handlungskontexte, kurz: auf präzise zu bestimmende Voraussetzungen und Konstellationen. In der auf die Publikation der Fragmente folgenden Debatte wird Johan Melchior Goeze (1717–1786) zum einflussreichsten Kontroversautor, auf den Lessing nicht nur mit den Axiomata, sondern auch mit unerbittlich als AntiGoeze. Erster bis Zwölfter durchgezählten Pamphleten antwortet; als Höhepunkt der öffentlich geführten Diskussion gilt üblicherweise die zunächst (1777) in dreiundfünfzig, danach (1780) in einhundert Paragraphen ausgearbeitete Abhandlung Die Erziehung des Menschengeschlechts. Doch könnte es sein, dass sich bei einer verstärkten Beachtung der Axiomata im Zusammenhang der Polemiken, die aus Kirche und Universität gegen Lessing gerichtet wurden, insgesamt eine Rekonfiguration im Bild seiner Publikationen ergibt. Im vorliegenden Band kommen vielfältige Gesichtspunkte zur Deutung des religionsphilosophischen Furors im 18. Jahrhundert zur Geltung, der trotz der

Einleitung

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hohen Auflagenzahlen apologetischer religionsphilosophischer Schriften der Zeit nirgends besser greifbar ist als in den genannten Publikationen des Fragmentenstreits (mit der Ausnahme vielleicht von Immanuel Kants Der Streit der Fakultäten von 1798). Es geht dabei einerseits um eine Bilanzierung und Standortbestimmung der verschiedenen Forschungsansätze, andererseits um Überlegungen, welche die gesamte Epoche übergreifen und Leitlinien einer künftigen literatur-, theologie- und philosophiegeschichtlichen Forschung zu den religiösen Kontroversen in der Spätaufklärung explorieren. Das kann nicht aus der Perspektive vornehmlich einer Disziplin geschehen. Die Herausgeber haben aus diesem Grund Vertreter der Theologie, der Literaturwissenschaft, der Philosophie und der Ideengeschichte zu einem internationalen Kolloquium eingeladen, das vom 22. bis 25. Oktober 2008 in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel stattgefunden hat. Für die bei dieser Veranstaltung geführten Gespräche und Erkundungen jenseits der Grenzen der eigenen Disziplin war es von entscheidender Bedeutung, dass die beteiligten Wissenschaftler unterschiedlichen Forschungstraditionen und -paradigmen verpflichtet sein konnten. Wie die Tagung selbst, so wird auch die vorliegende Dokumentation mit einem Vortrag von HUGH BARR NISBET eröffnet, dessen neue Lessing-Biographie (München: C. H. Beck 2008) sich nicht zuletzt dadurch auszeichnet, dass sie in wohl abgewogenen Proportionen Lessings Äußerungen und Schriften zu den theologischen Debatten berücksichtigt. Für die Organisatoren der Tagung war es eine Bestätigung ihres Vorhabens, dass Nisbet in seiner Biographie über Lessings Axiomata urteilt: »Mit ihrer verstandesklaren und präzis argumentierenden Verteidigung dieser Feststellungen [der »Gegensätze« von 1777] sind die Axiomata seine bei weitem gewichtigste Schrift in der Kontroverse mit Goeze.« (S. 726) Durch seine Zeichnung Lessings als eines Autors, den »seine vorläufige Lebensweise [...] ohnehin dazu geneigt [gemacht habe], alle Wahrheiten als vorläufig – das heißt als relativ – zu betrachten«, verbunden mit der Beobachtung, dass Lessing »in den frühen Wolfenbüttler Jahren [angefangen habe], sowohl in der Philosophie als auch in der Theologie eine theoretische Begründung für diese Überzeugung zu suchen«, unterstreicht Nisbet die Herausforderung, die sich für das Studium von Lessings Traktaten dieser Jahre stellt. Und nicht zuletzt mag die Provokation weiter wirken, die Nisbet ausspricht, indem er aus den Axiomata zitiert: »Die Hermeneutik? Jeder hat seine eigene Hermeneutik. Welches ist die wahre? Sind sie alle wahr? oder ist keine wahr?« Zudem gibt Nisbet Einblick in seine umfassende Monographie zum Leben des Autors, in der er sich als ein souveräner Kenner nicht nur der Texte Lessings und ihrer Kontexte, sondern der gesamten europäischen Aufklärung erweist. Entstanden ist kein biographischer Essay, sondern eine ›biographie intellectuelle‹, die in der Literaturwissenschaft seit den Debatten über den vermeintlichen Tod des Autors zunächst abgeschafft erschien, seit dessen Rückkehr aber wieder beträchtlich an Geltung gewinnt, methodisch rehabilitiert gewissermaßen. Vielleicht konnte dieses Buch, das auf zwanzig Jahren Forschungsarbeit gründet, nur in Cambridge entstehen, wo man ironisch-

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amüsiert und mit dem nötigen Abstand vom Kontinent jene zeitgeistgefälligen Streitigkeiten um Autorschaft und Schrift verfolgen konnte, in denen Argumente allzuoft durch Behauptungen ersetzt wurden. Die Tagungsbeiträge sind im vorliegenden Band unter drei Rubriken gestellt. In der ersten Abteilung »Theologische Ansichten im Hintergrund der Axiomata« vermessen die Autoren das Diskursfeld für eine kritische Analyse der christlichen Traditionen, Lehrmeinungen und Institutionen im 18. Jahrhundert im Hinblick sowohl auf Lessings Schriften aus unterschiedlichen Phasen seiner Autorschaft als auch auf eine Zahl von Zeitgenossen, die als direkte oder indirekte Bezugsautoren in diesen Schriften präsent sind. Unter der Überschrift »Hermeneutische Optionen und rhetorische Inszenierung« verengt sich der Fokus auf die Axiomata sowie auf die Fragmente, die Lessings »Gegensätze« veranlasst haben; zwei exemplarische Studien sind hier dem intellektuellen Profil des Hamburger Gelehrten gewidmet, eine dritte Studie gibt einen Ausblick auf die Wirkungsgeschichte der Kontroversen. Die dritte Abteilung, »Leistung und Wirkung der Spätschriften Lessings«, verweist einerseits darauf, dass Lessing trotz seiner »Desillusionierung gegenüber dem deutschen Publikum« (Nisbet) auch Werke für das Theater geschrieben hat, die im Themenzusammenhang von Religionskritik und Religionsphilosophie nicht übersehen werden dürfen, und öffnet andererseits den Blick auf publizistische Folgen von Lessings Veröffentlichungen. Im Rahmen der vorliegenden Einleitung können die Beiträge nur mit wenigen Strichen vorgestellt werden. BARBARA MAHLMANN-BAUER zeigt in ihrem Beitrag, dass beim Thema ›Lessing und die Theologie‹ auch von einem Berliner Fragment die Rede sein muss: Dem 366-zeiligen Gedicht Die Religion, das Lessing, als er es 1751 in einer Zeitschrift und dann 1753 in seinen gesammelten Schriften publizierte, als ersten Gesang einer breit (auf sechs Gesänge) angelegten Dichtung vorstellte, von der jedoch nie etwas Weiteres erschien. Lessing geht hier, so MahlmannBauer, »mit seinen Religionsskrupeln an die Öffentlichkeit«; das Rollen-Ich seiner Dichtung möchte an sich »ausprobieren, in welcher Verfassung ein junger Mensch reif für die Wohltaten einer Religion sei. Der Krisenverlauf der Selbstbefragung suggeriert ihm, welche unzumutbaren Anforderungen er an Gott als Retter stellen müsste.« Als Anknüpfungspunkte, die Lessing direkt bekannt gewesen sein dürften, stellt Mahlmann-Bauer Abhandlungen und Dichtungen von Gottfried Wilhelm Leibniz, Albrecht von Haller, Alexander Pope, Louis Racine und Johann Joachim Spalding vor, ferner Pascal – auf einem möglichen Vermittlungsweg über Louis Racine bzw. Voltaire – sowie Shaftesbury. Als biblische Orientierung wird aus dem Kontext von Röm 6–7 direkt Röm 7,15 nachgewiesen, dazu ein berühmtes Bildwort in Jer 13,23; genannt werden könnte ferner wohl der Galaterbrief (vgl. bes. Gal 1,6f.; 4,21; 5,10; 6,15f.) und vielleicht sogar die Gruppe der sogenannten ›Bußpsalmen‹ (vgl. bes. Ps 130,6). Während Racine jedoch seine Dichtung als »Apologet der Gnadentheologie in der Tradition Augustins und Thomas [von Aquins]« inszeniere,

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bleibe die Selbsterforschung des lyrischen Ichs bei Lessing aporetisch und werde, so die These, erst in den Schlussparagraphen von Die Erziehung des Menschengeschlechts einer Lösung zugeführt. Deutlich sei für die Entstehungszeit des Gedichtes in jedem Fall eine Distanz zu Spalding ebenso wie zu dessen Kritiker Goeze im Hinblick auf deren Kontroverse in den Jahren 1748/49. Dass die Hamburger Fragmente als Dokumente zur Auslegungsgeschichte der Bibel nicht nur im Hinblick auf ein Thema wie den Exodus Israels aus Ägypten oder die Auferstehung Jesu betrachtet, sondern schon für Reimarus selbst in einem weiteren Kontext gesehen werden sollten, zeigt DIETRICH KLEIN mit Bezug auf einen Abschnitt einer Manuskriptfassung, die Lessing wohl nicht zur Verfügung stand. Hier geht es um die Frage, inwiefern der Prolog des Johannesevangeliums, die Dichtung über den göttlichen logos, als authentische Offenbarung oder als eine durch frühe jüdische und christliche Rezeptionsformen des Platonismus bedingte Missdeutung des Gottesbegriffes zu verstehen sei. Reimarus’ Untersuchungen haben eine nicht nur in historischer Skepsis begründete Seite von Dogmenkritik, die hier auf die »Kritik der Trinitätslehre und ihres wichtigsten biblischen Grundes, des Johannesprologs« zielt und in radikalisierter Form eine Argumentationslinie weiterführt, die schon Fausto Sozzini in seiner Kritik der nizänischen Trinitätstheologie verfolgt hatte. Einen weiteren Schritt hin zu Lessings Zeitschrift Zur Geschichte und Litteratur führt der Beitrag von VOLKER LEPPIN, der als Kirchenhistoriker die »Rettung« eines verzeichneten und zensierten Intellektuellen durch Lessing darstellt. Auf einer Synode in Rom 1059 musste Berengar von Tours seine Lehrmeinung über die Elemente im christlichen Abendmahl widerrufen, und in der Überlieferung sah es so aus, dass sein Gegner Lanfrank von Bec (später Erzbischof von Canterbury) das letzte Wort in der entsprechenden Kontroverse behalten würde. Ein Manuskriptfund in der Wolfenbütteler Bibliothek erlaubte es Lessing 1770, Berengar aufgrund seiner Antwort an Lanfrank exemplarisch als einen »Wahrheitssucher« zu stilisieren, als einen »Aufklärer avant la lettre, in dessen Tradition Lessing sich spielerisch selbst hineinstellt«. Und Lessing geht das Risiko ein, sich bei dieser Gelegenheit in einem zeitgenössisch gerade wieder heftig diskutierten Feld dogmatisch-konfessioneller lutherischer, calvinistischer oder römisch-katholischer Lehrmeinungen zu bewegen. FRIEDRICH VOLLHARDT fokussiert seinen Beitrag auf Die Erziehung des Menschengeschlechts, §§ 87–90, in denen Lessing einer »Schwärmerei« nachgeht, die er im Hinblick auf eine religionsphilosophische Überwindung der Lehre von Lohn und Strafe in einer jenseitigen Welt aktualisiert, sei es in einem Gedankenexperiment, sei es in einer geschichtsphilosophischen Vision. Rekonstruiert wird eine Diskurskonstellation, in der sich Lessing durch einen Beitrag von Christian Joseph Jagemann in Wielands Teutschem Merkur von 1779 zu einer »Rettung« des Joachim von Fiore veranlasst sehen konnte, und er zeigt für die Rezeptionsgeschichte, wie Johann Georg Rosenmüller 1784 ein heilsökonomisches Modell verteidigt, das für Lessings Argumente und Spekulationen keinen Raum lässt.

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Der Schrift Die Erziehung des Menschengeschlechts, die ja mit ihrer Publikation 1777 bzw. 1780 die Axiomata in gewisser Weise rahmt, widmet auch RALPH HÄFNER seinen Beitrag, in dem es um die Trinitätslehre geht, die »in absoluter Weise in Beziehung auf die innertrinitarische Verfasstheit Gottes«, »in relativer Weise in Beziehung auf die Schöpfung (Welt)« aussagbar sei. Häfner zielt auf die §§ 91–100 der genannten Schrift, in der Lessing das Thema einer geschichtlichen Annäherung an die Vollkommenheit des Menschengeschlechts reflektiert, und diskutiert Bezüge zu scholastischen, kabbalistischen, neuplatonischen und pantheistischen Denklinien, die Lessing nachweislich z. B. in seinem Manuskript Das Christentum der Vernunft (um 1752), in seiner »Rettung« des Girolamo Cardano (1754) oder seinen Unterhaltungen mit Friedrich Heinrich Jacobi über Spinoza (1780) beschäftigt haben. Mythologeme, die im Neuen Testament Ausdruck in Texten wie Joh 1,1–3; 17,3–5; 1 Kor 8,6; 15,23–28; Eph 1,20–23; 3,8–12 oder Kol 1,15–20 gefunden haben, erweisen sich hier als Herausforderung für eine Deutung der christlichen Offenbarung, bei der Christus mehr als Schöpfungsmittler denn als Erlöser betrachtet wird. Einen Diskurszusammenhang, den Lessing 1773 im ersten Heft seiner Bibliothekszeitschrift Zur Geschichte und Litteratur. Aus den Schätzen der herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel mit einem Aufsatz zu Leibniz vergegenwärtigte, bevor er 1774 im zweiten Heft mit der Veröffentlichung der Hamburger Fragmente begann, stellt WILHELM SCHMIDT-BIGGEMANN vor. Mit Bezug auf Origenes als den »spekulativsten aller Kirchenväter« und zur Entschlüsselung neutestamentlicher Texte wie Apg 3,21; 1 Kor 15,28 und Offb 14,6 wurde um 1700 über die Vollendung der Geschichte und das Problem einer Ewigkeit der Höllenstrafen diskutiert. Diese Debatte fand um 1770 bei Moses Mendelssohn und Johann August Eberhard eine Fortsetzung, auf die Lessing wiederum im Rückgriff auf Leibniz reagierte (Leibnitz von den ewigen Strafen). Geht es hier einerseits um geschichtsphilosophische Probleme, so andererseits auch um die Frage, inwiefern das Konzept einer natürlichen Religion die jüdische wie auch die christliche Tradition absorbieren konnte. Dass die Hamburger Fragmente auch »allgemeinere Thesen zur Religionsauslegung« enthalten, ist der Ausgangspunkt für INGRID STROHSCHNEIDERKOHRS, die für Lessings Verständnis von Religion eine Differenzierung von Vernunft und Offenbarung festzuhalten sucht, deren Auflösung in einem reinen Vernunft-Modell unzutreffend wäre. In einem Spannungsfeld, das sich durch die aus 2 Kor 10,3–6 herleitbare Metapher von einer »Gefangennehmung« der Vernunft einerseits und Lessings Begriff eines »wechselseitigen Dienstes« von Offenbarung und Vernunft andererseits beschreiben lässt, untersucht sie das Problem einer Gotteserkenntnis, auf welche die Vernunft »von selbst nimmermehr« gekommen wäre (Die Erziehung des Menschengeschlechts, § 77). Dabei wird nicht nur die Lessing-Rezeption der Gegenwart in den Blick genommen, sondern auch die Lessing-Lektüre(n) des Novalis um 1800 und Kierkegaards um 1846. Zu Beginn der Abteilung, die sich »Hermeneutischen Optionen und rhetorischen Inszenierungen« widmet, beschäftigt sich ULRICH GROETSCH exempla-

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risch mit der Frage, welche Bedeutung die später unter dem Titel Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes gedruckte Schrift für die philologische und historiographische Gelehrsamkeit von Reimarus hatte. In einem Durchgang durch die Fluten von Kommentaren des 16., 17. und frühen 18. Jahrhunderts zum Exodus Israels aus Ägypten weist er nach, dass sowohl die Frage des Ortes (»mare rubrum sive erythraeum«) als auch die Frage der Zeit (»tam paucis horis«) von Reimarus in kritischer Auseinandersetzung mit der philologischen Tradition erörtert wurden. Während Autoren wie Jean le Clerc, Hadrian Reland, Augustin Calmet, Johann Matthias Hase, Johann Christoph Harenberg oder Paul Ernst Jablonski den gelehrten Diskurs der Zeit repräsentieren, verdeutlicht Johann Ludwig Stumpf als Autor eines ›schediasma academicum‹ den Argumentationsbedarf im Hinblick auf Spinozas Religionsphilosophie. Anders als einigen Apologeten, die gegen die Fragmente zur Feder griffen, war Lessing klar, dass die historische Kritik des alttestamentlichen Zentralwunders »noch nie so gründlich, so ausführlich, allen Ausflüchten so vorbeugend« vorgeführt worden war. Aus der Sicht der heutigen Exegese des Neuen Testaments fragt CHRISTOF LANDMESSER nach dem Verhältnis von »natürlicher Religion« und »Lehre Christi« bzw. »Religion Christi«, um daran anschließend der weiteren Differenzierung zwischen der »Religion Christi« und der »christlichen Religion« nachzugehen. »Die Religion Christi unterscheidet sich nach Lessing wesentlich von der christlichen Religion dadurch, dass sie eine größere Unmittelbarkeit zur natürlichen Religion hat.« Exegetische Urteile über das Matthäusevangelium und das Johannesevangelium, über die Entgegensetzung von »Buchstabe« und »Geist« nach 2 Kor 3,6 und über den Begriff des »ewigen Evangeliums« nach Offb 14,6 sind bei Lessing Teil einer Debatte, in der der Status des Neuen Testaments als »Elementarbuch« reflektiert werden darf und soll. Von der Seite der Philosophiegeschichte legt MERIO SCATTOLA dar, wie in der Bildungswelt von Lessing und Goeze der Begriff ›Axiomata‹ verstanden werden konnte und musste. Über Goezes Begriffslinie ›Gegensätze‹ – ›Grundsätze‹ – ›Axiome‹ entstand eher zufällig ein Titel, mit dem Lessing die epistemologische und naturrechtliche Debatte des 18. Jahrhunderts anklingen lässt. So erläutert z. B. Heinrich Köhler 1738 »axiomata divina« als ein Prinzip des Naturrechts, wenn er schreibt: »Die Autoren dieser ehrwürdigen Disziplin haben gewöhnlich das Natur- und Völkerrecht entweder aus der Betrachtung von der Natur des Menschen und der anderen Dinge allein oder aus den göttlichen Grundsätzen (ex axiomatibus divinis) oder aus diesen beiden Quellen geschöpft.« Auch die Wahrheiten der Religion, so Scattola, »sind laut Lessing unmittelbar evident und haben also die Struktur des Axioms«. »In der Mitte der Auseinandersetzung stand [...] der hermeneutische Kreis, in dem die christliche Wahrheit eingeschlossen bleibt, wenn sich die Geschichte vollständig säkularisiert hat.« Vor diesem Hintergrund ist Lessings Rede von der »inneren Wahrheit« der Religion zu verstehen, auch wenn im Hinblick auf die Schrift Axiomata die Frage »was erkennt man [...] bei der internen Wahrheit an?« nicht leicht zu beantworten ist.

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Zwar kann der ›Fragmentenstreit‹ als eine Kontroverse über die narrativen Texte der Bibel aufgefasst werden, die im 18. Jahrhundert als Überlieferungen von Wundern – sei es bei Mose beim Auszug aus Ägypten, sei es bei Jesus im Galiläa und Judäa der Römerzeit – eine zentrale Funktion für die christliche Apologetik erhalten hatten. Doch wenn Lessings Axiomata als eine hermeneutische Programmschrift verstanden werden sollen, ist es, so CHRISTOPH BULTMANN in seinem Beitrag, unverzichtbar, die ganze Breite von literarischen Gattungen biblischer Texte im Blick zu behalten. Lessing kann sich zu Recht auf die Reformatoren berufen, wenn er sich gegen die Prävalenz historischer Beweisansprüche wendet und für eine offenbarungstheologische Umschreibung der natürlichen Religion das Argument der »inneren Wahrheit« bestimmter Glaubenssätze in Anspruch nimmt, um einen gehaltvollen Begriff des Glaubens darzulegen. Im Zentrum steht dabei der Gedanke der Barmherzigkeit Gottes. Der Beitrag von ERNST-PETER WIECKENBERG steuert aus der Perspektive eines Experten für das Werk Johan Melchior Goezes die Einsicht bei: »Religionspolitisch sind die Pastoren und ist vor allem Goeze der Mächtigere.« Polaritäten wie jene von Wahrheit und Rhetorik, Apologie und Kritik, Offenbarung und Vernunft, Theologie und Religion werden einer luziden Analyse unterzogen. Gegen Lessings Begriff des »inneren Gefühls« von den Wahrheiten der Religion erinnert Wieckenberg an Immanuel Kants Kritik des »inneren Gefühls« als eines »Prätendenten zum Amte eines Auslegers« der Bibel. Der Beitrag mündet in einen Ausblick auf Ernst Troeltschs Abhandlung Die Selbständigkeit der Religion (1895/96) und gibt damit einen Impuls dafür, auch für Lessings Schriften zur Theologie eine rezeptionsgeschichtliche Skizze und Dokumentation zu versuchen, wie sie für Lessings Schauspiele in der Reihe »Lessing im kulturellen Gedächtnis« schon begonnen wurde. Der Auftakt des dritten Abschnitts »Leistung und Wirkung der Spätschriften Lessings« betont, dass Lessing auch in seiner Wolfenbütteler Zeit nicht vornehmlich als Traktatist zu betrachten ist, da er sich selbst weiterhin als Kunsttheoretiker und Theaterautor verstand. In eingehenden Suchbewegungen wendet sich GISBERT TER-NEDDEN »Lessings dramatisierter Religionsphilosophie« zu, die er in seinem Beitrag, abgesehen von einer kurzen abschließenden Skizze zu Nathan der Weise, in erster Linie im Trauerspiel Emilia Galotti findet, das unmittelbar vor Lessings Publikation der Hamburger Fragmente entsteht (1772). Die »Art und Weise, wie Lessing hier sein Drama zum Medium der religiösen Aufklärung zu machen« gesucht habe, habe ihn »zum Bruch mit den gängigen Plotmustern und zur Entwicklung einer eigenen dramatischen Zeige-Technik, einer Sprache der frommen Blasphemien, der tragischen Ironie, der kognitiven Dissonanzen« gezwungen, die sich als »Lessing-Code« bezeichnen lasse. »Worin liegt der Grund für die Konfusion, die Lessing in den Köpfen seiner Leser und Interpreten angerichtet hat?« lautet Ter-Neddens rezeptionskritische Frage, bevor er mit Hilfe des Modells eines »Sündenfalls« die Gestalten der Emilia und des Odoardo zu entschlüsseln sucht. »Ich will doch sehn, [...] wer mich zwingt, – wer der Mensch ist, der einen Menschen zwingen kann«, erklärt Emilia auf der Bühne (V/7): Zu vermessen bleibt die Spannung zu einem mit

Einleitung

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Lessings Bezugnahme auf Luther begründeten Interpretationsvorschlag, nach dem in Lessings Welt »das Gute in der Überschreitung der Egozentrik unseres Wollens und nicht in ihrer selbstzerstörerischen Behauptung« liege. »Ein Christentum, das den Gläubigen zum Selbstmord ermächtigt, um nicht in Sünde zu fallen, gibt es nicht [...]. Eine providentielle Fügung, die dafür Sorge trägt, dass eine verlassene Mätresse sich [...] rächen kann, bietet das Beispiel einer nicht weniger monströsen perversitas.« – Im zweiten Teil seines Beitrags macht Ter-Nedden auch Orsinas Versuch, mit dem Grundsatz »das Wort Zufall ist Gotteslästerung. Nichts unter der Sonne ist Zufall« (IV/3) die Vorsehung Gottes zu deuten und den Prediger Salomo (Koh 9,11f.) auszuhebeln, zum Gegenstand seiner Frage nach Lessings dramatisierter Religionsphilosophie als einer besonderen Kommunikationsform. Mit seinem Beitrag zu clandestinem Wissen und seiner Verbreitung in Texten des späten 18. Jahrhunderts lenkt MARTIN MULSOW schließlich den Blick auf die Nachwirkungen von Lessings religionsphilosophischen Schriften. Lessings Gesamtwerk verliert dabei allerdings einige Seiten, nämlich jene, die seit Karl Lessings Ausgabe von theologiekritischen Schriften aus seinem Nachlass (1784) als ein Wolfenbütteler Fragment galten, nach Mulsows Untersuchungen jedoch als Beginn seiner Übersetzung eines Traktats von Firmin Abauzit (1679–1767) zu identifizieren sind, der sich mit dem kirchlichen Ansehen der Johannesoffenbarung beschäftigt. Gleichzeitig gewinnt Lessing hierdurch, da man von einer neuen Seite aus darauf aufmerksam gemacht wird, dass er einer »kleinen Komödie« um Johann Salomo Semler eine energischer bestimmte Auswahl aus dem Manuskriptkonvolut von Reimarus vorzog. Das französische Original von Abauzits Abhandlung, gedruckt »‹Londres› 1770«, wird dem deutschen Lesepublikum schließlich in einem kleinen Bändchen zugänglich gemacht, das 1794 in Halle erscheint – dank der religionskritischen und publizistischen Gewandtheit von Christian Ludwig Paalzow (1753–1824), der mit zwei anonymen Bänden zur Prüfung und Vertheidigung der christlichen Religion von 1785 bzw. 1793 ein nur in Kreisen der radikalen Aufklärung bekannter Religionskritiker blieb. Als Organisatoren des Symposions gilt unser Dank allen Beteiligten, die zum Gespräch über Religionsphilosophie und Hermeneutik der Bibel bei Reimarus und Lessing beigetragen haben, darunter auch Raimund Bezold und Monika Fick sowie Markus Fauser und Jürgen Stenzel, die einzelne Diskussionen in den Sektionen geleitet haben. Daß die Veranstaltung in Wolfenbüttel stattfinden konnte, haben wir der Herzog-August-Bibliothek zu verdanken; die Lessing-Akademie hat die Teilnehmer zudem durch einen Abendempfang im Lessinghaus geehrt. Für die großzügige Finanzierung der gesamten Tagung danken wir der Fritz-ThyssenStiftung. Bei der Vorbereitung des Kolloquiums hat Christine Hott, die Sekretärin im Münchener ›headquarter‹, große Umsicht und Professionalität bewiesen und damit wesentlich zu dem Gelingen der Veranstaltung beigetragen.

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Christoph Bultmann, Friedrich Vollhardt

Die Einrichtung der Manuskripte und die Arbeit am Register lag in den Händen von Cornelia Rémi, der wir für das – nicht selbstverständliche – Engagement und die Sorgfalt bei der schwierigen redaktionellen Tätigkeit herzlich danken. Schließlich gilt unser Dank Birgitta Zeller und Ulrike Krauß von der ›Edition Niemeyer‹ im Verlag De Gruyter sowie den Kollegen von der ›Frühen Neuzeit‹, die das Erscheinen des Bandes ermöglicht haben

Erfurt und München, im Juli 2010

CB / FV

Hugh Barr Nisbet

Biographische Betrachtungen Zum Verhältnis von Leben und Werk bei Lessing

Daß eine neue, umfassende Lessing-Biographie längst fällig ist, wird seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in der Lessingforschung allgemein anerkannt. Ich habe den Versuch gemacht, diese Lücke zu füllen.1 Im Rahmen eines Vortrags ist es freilich unmöglich, ein solches Projekt ausführlich zu beschreiben. Ich will mich stattdessen auf einige grundlegende Tendenzen in Lessings Leben und Werken konzentrieren, die seiner Biographie eine gewisse Einheit und seiner Persönlichkeit ihre einzigartige Identität verleihen. Und da dieser Vortrag als Auftakt zu einer Tagung über Lessings theologische Schriften dienen soll, will ich nebenbei versuchen, auf die religionsphilosophischen Schriften seiner Spätzeit einige Streiflichter zu werfen. Lessings Biographie ist kein Lebenslauf in aufsteigender Linie. Die einzige Ambition, zu der er sich in seiner Frühzeit bekennt – nämlich »ein deutscher Molière«2 zu werden –, wurde spätestens bis 1767 verwirklicht, als Minna von Barnhelm erschien; und seine anhaltenden Versuche, die deutsche Literatur zu reformieren, gingen zwei Jahre später mit dem Scheitern des Hamburger Nationaltheaters und der Vollendung der Hamburgischen Dramaturgie zu Ende. Sein lange gehegter Wunsch, als unabhängiger Schriftsteller zu leben, fiel gleichzeitig durch, als er mit erheblichem finanziellen Verlust von dem Projekt eines Selbstverlags für deutsche Autoren zurücktreten mußte. Von diesem Zeitpunkt an vernimmt man in seinen Äußerungen eine Desillusionierung gegenüber dem deutschen Publikum und dem deutschen literarischen Leben der Gegenwart: in seinen späteren Jahren beschäftigt er sich lieber mit der Vergangenheit (zum Beispiel mit mediävistischer Philologie und Kirchengeschichte) und mit der langfristigen Zukunft der Menschheit (wie in den drei bedeutendsten Werken seiner letzten Jahre). Das letzte Jahrzehnt seines Lebens steht auch im Zeichen wiederkehrender Depression und zunehmender Krankheit. Aus all diesen Gründen läßt sich kaum behaupten, daß Lessing je versucht hätte, sein Leben nach einem konsequenten Plan oder zielgerichteten Ehrgeiz zu führen. Im Gegenteil reagiert er meistens unreflektiert auf die herrschenden

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Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. München 2008. Lessing an Johann Gottfried Lessing, 28. April 1749. In: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe. Hg. von Wilfried Barner und anderen. Frankfurt am Main 1985–2003, Bd. 11/1, S. 24 (im folgenden zitiert als FA für ›Frankfurter Ausgabe‹ mit Band- und Seitenzahl).

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Hugh Barr Nisbet

Umstände, ohne den Versuch zu machen, sie nach eigener Absicht zu ändern. So sagt er einmal, als Arbeit und Stiefkinder ihn in Wolfenbüttel festhalten: »Wie oft wünsche ich, mit eins in meinen alten isolierten Zustand zurückzutreten; nichts zu sein, nichts zu wollen, als der gegenwärtige Augenblick mit sich bringt!«3 Diese Tendenz wird durch die feste Überzeugung untermauert, daß das Leben vor allem durch Unwägbarkeiten und nicht durch bewußte Absichten determiniert sei. Wie sein Bruder berichtet: »Er gab [...] auch nie guten Rat, weil auf das Ungefähr, das niemand nur wahrscheinlich bestimmen kann, sehr viel, ja fast alles ankommt, und der Mensch wagen muß«;4 oder in Lessings eigenen Worten: »Muß man nicht oft unbedachtsam handeln, wenn man das Glück anreizen will, etwas für uns zu tun?«5 Die gleiche Einstellung wird auch in seinen gelehrten Beschäftigungen sichtbar: in den Worten seines Bruders:6 Bei seinem Studieren gab er keiner Wissenschaft aus Ueberlegung und Wahl den Vorzug, sondern hielt sie alle für gleich wichtig, überließ sich folglich ganz dem Zufall und dem gelegentlichen Eindrucke.

Aus demselben Grunde ergab er sich in der zweiten Hälfte seines Lebens eifrig dem Glücks- und Lotteriespiel – trotz der wiederholten Erfahrung, daß es seine ständige finanzielle Not nur verschlimmerte. Lessings Abneigung gegen verbindliche Zukunftspläne beruht auf einem Charakterzug, der sich früh manifestiert, aber in späteren Jahren immer ausgeprägter wird, nämlich seinem Bedürfnis nach Abwechslung. Er litt sehr an Langeweile, wie Friedrich Jacobi bemerkte:7 Mit der Idee eines persönlichen schlechterdings unendlichen Wesens, in dem unveränderlichen Genusse seiner allerhöchsten Vollkommenheit, konnte sich Leßing nicht vertragen. Er verknüpfte mit derselben eine solche Vorstellung von unendlicher Langerweile, daß ihm angst und weh dabey wurde.

So antwortete er auch, als ein Bekannter das Erscheinen der grünen Blätter im Frühling begrüßte: »Ach, es ist schon so oft grün geworden, ich wollte es würde einmal roth.«8 Selbst das Bewußtsein, daß ein bestimmter Ort ihm liebgeworden war, konnte bei ihm den Wunsch auslösen, das Weite zu suchen. Er behauptete selbst, »[daß] nichts herauskommt, lange an einem Orte zu sein, wo es einem gefällt«.9 So konnte auch einer, der ihn gut kannte, ihm in seinen späteren Jahren schreiben: »Nun leben Sie fein vergnügt, das ist, fein unruhig. Denn die Unruhe ist ja wohl Ihr Element.«10 Hier scheint etwas wie ein physiologisches 3 4 5 6 7 8 9 10

FA 12, S. 184. (Lessing an Elise Reimarus, 9. August 1778). Karl Gotthelf Lessing: Gotthold Ephraim Lessings Leben. Hg. von Otto F. Lachmann. Leipzig [1888], S. 127. FA 12, S. 184 (Lessing an Nicolai und Mendelssohn, 29. März 1757). Lessing im Gespräch. Berichte und Urteile von Freunden und Zeitgenossen. Hg. von Richard Daunicht. München 1971, S. 593. Die Hauptschriften zum Pantheismusstreit zwischen Jacobi und Mendelssohn. Hg. von Heinrich Scholz. Berlin 1916, S. 95f. Daunicht (s. Anm. 6), S. 526. FA 11/1, S. 652 (Lessing an J. A. Ebert, 28. Dezember 1769). FA 12, S. 148 (K. A. Schmid an Lessing, 7. Mai 1778).

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Bedürfnis am Werk zu sein: es erzeugt bei Lessing einen Lebensrhythmus des ständigen Wechsels zwischen Beständigkeit und Abwechslung; wenn er »das ewige, liebe Einerlei«11 einer Situation nicht mehr aushält, stellt sich zuletzt eine krampfhafte Fluchtreaktion ein, und wenn die Flucht nicht möglich ist – wie so oft in Wolfenbüttel –, erlebt er einen Rückfall in die Depression. Dieser Rhythmus entgegengesetzter Impulse läßt sich kaum mit jenem Modell der organischen Entwicklung der Persönlichkeit vereinbaren, das dem deutschen Bildungsroman und vielen deutschen Biographien des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts zugrunde liegt. Die Form einer Biographie sollte meines Erachtens ohnehin durch kein literarisches Modell bestimmt werden, sondern durch die eigentümliche Dynamik des dargestellten Lebens selbst. Lessing hielt also nichts vom Ideal der Bildung im Sinne der in sich ruhenden, voll entwickelten Persönlichkeit, das Winckelmann und fast alle führenden Gestalten der deutschen klassischen Zeit wie Wieland, Herder, Goethe, Schiller und Wilhelm von Humboldt schätzten. Statt dessen wurde bei ihm die Überzeugung immer stärker, daß der Sinn des Lebens nicht in einer abschließenden Leistung oder in persönlicher Erfüllung zu suchen sei, sondern im fortlaufenden Prozeß der Tätigkeit selbst. Daß dieser Prozeß, in dem der Zufall eine dominante Rolle spielt, letztlich Sinn und Kontinuität hat, garantiert für Lessing das Walten einer alles zum Besten lenkenden Vorsehung, deren Wirken allerdings erst im Nachhinein – wenn überhaupt – begreiflich wird. An diesem Glauben hielt er lebenslänglich fest, trotz der wiederholten Erfahrung, daß die Vorsehung ihn äußerst selten zu begünstigen schien. Lessings rastloses, impulsives Wesen hatte auch negative Konsequenzen für ihn selbst und für seine Freunde. Schon in der Schule bemerkten seine Lehrer »daß er bisweilen gezügelt werden muß, sich nicht über Gebühr zu zersplittern«.12 Er neigte auch später dazu, seine Energie zu verzetteln: zahlreiche Projekte wurden nie zu Ende geführt, und selbst mitten im Druck wurde die Arbeit an mehreren Werken plötzlich abgebrochen. Seine Freunde wurden durch seine unangemeldeten Abreisen, uneingehaltenen Termine, plötzlichen Sinnesänderungen und Unzuverlässigkeit als Briefschreiber schwer geprüft; Moses Mendelssohn bemerkte, »daß Lessings gantz gewiß kaum so viel ist als eines andern vielleicht«.13 Daß seine Freunde trotz alledem so treu zu ihm hielten, ist Beweis genug für die große Anziehungskraft, die von ihm ausging – nicht zuletzt auf die Frauen. Aber Lessings sprunghaftes Naturell hatte nicht nur negative Wirkungen. Es liegt auch der außerordentlichen Vielseitigkeit seiner Interessen zugrunde, die den Vergleich mit Diderot, Voltaire und Rousseau nicht zu scheuen braucht. Es ist ebenfalls für die Offenheit und Beweglichkeit seines Denkens verantwortlich, für sein Mißtrauen gegenüber dogmatischen Systemen und für seine

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FA 11/2, S. 437 (Lessing an Eva König, 27. Juni 1772). Daunicht (s. Anm. 6), S. 16. Ebd, S. 141.

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Bereitschaft, sich mit den unkonventionellsten, auch ketzerischen Meinungen – wenn auch nur vorläufig – zu identifizieren. Auf die vielen ungelösten Widersprüche, die sich in Lessings Werken daraus ergeben, will ich in Kürze zurückkommen. Zuerst möchte ich ein paar Worte über das Verhältnis zwischen seinem Leben und seinen Werken sagen. Lessings Werke sind keine Bruchstücke einer großen Konfession. Zwar enthalten seine Dramen viel Zeitkritik und viele Anspielungen auf bestimmte Zustände und Persönlichkeiten, die längst nicht alle bisher erkannt worden sind. Aber es gibt auch ab und zu Fälle, wo Spannungen in seinem persönlichen Leben sich auf unerwartete Weise in seinen Werken widerspiegeln. Ein bisher unbemerkter Fall mag hier als Beispiel dienen. Ich habe schon anderswo zu zeigen versucht, wie tief der junge Lessing von dem skandalösen Schicksal seines Freundes und Verwandten Christlob Mylius erschüttert wurde.14 Im Jahre 1753 gelang es dem ehemaligen Bohemien und Zeilenschinder Mylius der sich mittlerweile ein gewisses Ansehen als Naturwissenschaftler verschafft hatte, unter der Schirmherrschaft Albrecht von Hallers genug Geld zusammenzubringen, um eine Forschungsreise nach Amerika zu unternehmen. Aber statt direkt nach Amerika zu reisen, genoß Mylius in vollen Zügen seine Rolle als Weltreisender auf einer gemächlichen Wanderschaft durch Norddeutschland, Holland und England, bis er nach einem Jahr das Geld für fast zwei Jahre verschwendet hatte. Schwerkrank und tief verschuldet starb er schließlich in London, nachdem er in Verzweiflung Bettelbriefe an Haller geschrieben hatte, der sich bereits anschickte, Mylius als Betrüger zu entlarven. Bald nach Mylius’ Tod setzte Lessing ihm ein Denkmal, indem er eine umfangreiche Auswahl aus Mylius’ Veröffentlichungen mit einer Vorrede herausgab, die aus sechs fiktiven Briefen besteht. Lessings Reaktionen in dieser Vorrede sind außerordentlich widerspruchsvoll: zwischen Trauer und Ärger, Sympathie und Mißbilligung hin- und hergerissen, scheint er seinen Freund bald als Opfer mangelnder Unterstützung zu entschuldigen, bald als Gauner bloßzustellen. Einerseits zitiert er im ersten Brief folgende Zeilen aus einem jetzt verlorenen Lobgedicht, das er kurz vor Mylius’ Abreise seinem Freund gewidmet hatte: »Wohin, wohin treibt dich mit blutgen Sporen, / Die Wißbegier, dich, ihren Held?«15 Andererseits weist er im letzten der sechs Briefe, der das Datum 20. Juni 1754 trägt, auf einen frühen Aufsatz hin, in welchem Mylius den satirischen Vorschlag gemacht hatte, Leute mit mehr Geld als Verstand zu überreden, ihr Geld in Weltreisen von »irrenden Rittern, Don Quixoden und Wagehälsen«16 zu stecken, die Entdeckungen von wissenschaftli-

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Hugh Barr Nisbet: Lessings Umgang mit Außenseitern. In: Lessings Skandale. Hg. von Jürgen Stenzel u. Roman Lach. Tübingen 2005, S. 79–100, hier S. 89–93. Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Schriften. Hg. von Karl Lachmann. 3. Auflage. Hg. von Franz Muncker, 23 Bde., Stuttgart 1886–1924, Bd. 6, S. 393. (Im Folgenden zitiert als LM mit Band- und Seitenzahl). LM 6, S. 406ff.

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chem Wert machen könnten – oder auch nicht. Lessing druckt diesen Aufsatz wieder ab und schickt ihm die Vignette eines gehörnten Teufels voraus.17 Man weiß, daß Lessing Mitte der fünfziger Jahre ein Faust-Drama plante, und man nimmt gewöhnlich an, daß er einer Vorstellung des Volkstücks über Faust durch Franz Schuchs Truppe am 14. Juni 1754 in Berlin beiwohnte18 – d. h. nur sechs Tage vor dem Datum des letzten Briefes der Mylius-Vorrede; und im ersten erhaltenen Entwurf seines eigenen Faust-Dramas hebt Lessing ausdrücklich die »Wißbegierde« hervor als diejenige Eigenschaft, mit der die Teufel Faust verführen wollen.19 Zwei Jahre später trat Lessing eine Reise nach England mit dem Leipziger Kaufmann Winckler an. Obgleich die Reise nach Ausbruch des Siebenjährigen Kriegs in Amsterdam abgebrochen wurde, nahm der Reiseweg, der von Lessing geplant wurde, genau die umwegige Route, die Mylius nach Holland eingeschlagen hatte.20 Es scheint also, daß es ein unausgesprochener Zweck Lessings war, mehr über Mylius’ verhängnisvolle Reise zu erfahren und sich mit dem Geist des verstorbenen Freundes auszusöhnen. Schon vor seiner Abreise hatte Lessing auch über den Faust-Plan gesagt, »Ich verspare die Ausarbeitung der schrecklichsten Scenen auf England [...], wo die überlegende Verzweiflung zu Hause ist.«21 Es ist unnötig, die weitere Entwicklung von Lessings Faust-Plan ausführlich zu besprechen. Es genügt die Feststellung, daß das geplante Stück in den siebziger Jahren völlig aufhört, eine Tragödie zu sein, indem die ganze Handlung am Schluß als bloßer Traum des wirklichen Faust ausgewiesen werden sollte.22 Mit anderen Worten: der Widerspruch zwischen Fausts lobenswerter Wißbegierde und seinem selbstverschuldeten Verderben wird nicht aufgelöst, sondern einfach ausgeschaltet – ganz wie es Lessing nicht gelungen war, die Verwandlung seines Jugendfreundes vom angesehenen Naturwissenschaftler zum selbstzerstörerischen Versager befriedigend zu erklären. Auf die weitreichenden Folgen von Lessings optimistischer Umdeutung der Faust-Legende für die deutsche Literatur brauche ich hier nicht einzugehen. Andere schwer zu lösende Spannungen in Lessings Innenleben, die er nur selten ausdrücklich erwähnt, haben nur wenige Spuren in seinen Schriften hinterlassen, obgleich sie manchmal aus seinen Handlungen und zerstreuten Bemerkungen erschlossen werden können. Zwei solche Fälle, die für seinen künftigen Lebensweg von entscheidender Bedeutung waren, dürfen hier als Beispiele dienen.

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Christlob Mylius: Vermischte Schriften. Hg. von Gotthold Ephraim Lessing. Berlin 1754 (Reprint Frankfurt 1971), S. 280–291. Siehe z. B. Erich Schmidt: Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. 2 Bde. 4. Ausgabe Berlin 1923. Bd. 1, S. 355; FA 4, S. 826; Monika Fick: Lessing-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart u. Weimar 2000, S. 177. LM 3, S. 380. Siehe FA 11/1, S. 102 (Lessing an Johann Gottfried Lessing, 3. August 1756). FA 11/1, S. 79f. (Lessing an G. A. von Breitenbauch, 12. Dezember 1755). Siehe LM 3, S. 389.

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Anfang 1775 erhält Lessing einen Brief von seiner Verlobten Eva König, an die er neun Monate lang nicht geschrieben hatte, in dem sie ihm mitteilt, daß sie nach fast dreijähriger Abwesenheit in Wien endlich imstande sei, nach Braunschweig und Hamburg zurückzukehren.23 Sie plant, Lessing um die gleiche Jahreszeit aufzusuchen, in der sie ihn vor drei Jahren verlassen hatte – das heißt in der zweiten Februarhälfte. Obgleich Lessing ihr darauf antwortet, sie solle ihm mitteilen, wann sie in Braunschweig eintreffen will, fährt er plötzlich Mitte Februar nach Leipzig, ohne auf Evas Antwort zu warten.24 Er fährt nach Leipzig, um die verwitwete Ernestine Reiske zu besuchen, die sich, wie er schon wußte, leidenschaftlich in ihn verliebt hatte.25 Nach einer Woche in Leipzig fährt er nach Berlin weiter, aber die überschwengliche Reaktion Ernestines in den nächsten Wochen läßt keinen Zweifel, daß Lessing ihr nichts von seiner Verlobung mit Eva gesagt hatte und daß sie noch Hoffnung hatte, daß er sie heiraten wollte.26 Nur der Zufall, daß Eva mittlerweile krank geworden war, verhinderte, daß sie während Lessings Abwesenheit in Braunschweig eintraf. Feinfühlig wie sie war, hatte sie aus Lessings langem Schweigen und ziemlich unverbindlichem Brief richtig geahnt, daß etwas nicht stimmte. Es scheint, daß der ehrliche, ängstliche Ton ihrer Antwort,27 die mit der hemmungslosen Emotionalität Ernestines vorteilhaft kontrastierte, Lessing noch rechtzeitig aus der Ungewißheit befreite. Ein ähnlicher Zwiespalt läßt sich in Lessings Reaktionen auf seine Italienreise feststellen. Einerseits beschwert er sich ständig in seinen Briefen an Eva über Hitze, Krankheit und lästiges Hofzeremoniell: typische Bemerkungen sind etwa »wahrlich von der Reise selbst habe ich weder viel Vergnügen, noch viel Nutzen«28 oder »ich sehne mich herzlich wieder nach Deutschland«.29 Aber sowohl vor wie nach der Zeit dieser Bemerkungen schreibt er in einem viel positiveren Ton an andere Leute über seine italienischen Erlebnisse. Schon aus Mailand schreibt er an den Bruder: »Dieser Vorschmack [...] hat meinen alten Gedanken, in Italien zu leben und zu sterben, auch schon wieder ganz erneuert«.30 Auf der Rückreise in Wien sagte er einem Bekannten, »daß ihm Italien und vorzüglich Rom, so ausserordentlich gefallen, daß er wahrscheinlich eine zweyte und längere Reise dorthin vornehmen dürfte«.31 Und Maler Müller, der bald darauf nach Italien übersiedelte, berichtet später, daß Lessing, der inzwischen glücklich verheiratet war, ihm »auf das feyerlichste« versichert habe, »daß er die lezte Epoche seines Lebens gewiß mit mir, sey es in Italien 23 24 25 26 27 28 29 30 31

FA 11/2, S. 682ff. (Eva König an Lessing, 28. Dezember 1774). FA 11/2, S. 689 (Lessing an Eva König, 10. Januar 1775). Vgl. FA 11/2, S. 694f. (J. A. Ebert an Lessing, 10. Februar 1775). Vgl. Daunicht (s. Anm. 6), S. 338f., 343, 357; Heinrich Schneider: Lessing. Zwölf biographische Studien. Bern 1951, S. 133. FA 11/2, S. 695f. (Eva König an Lessing, 16. Februar 1775). FA 11//2, S. 720 (Lessing an Eva König, 2. Juni 1775). FA 11/2, S. 726 (Lessing an Eva König, 12 Juli 1775). FA 11/2, S. 715 (Lessing an Karl Lessing, 7. Mai 1775). Vgl. Lessing. Dokumente zur Wirkungsgeschichte 1755–1968. Hg. von Edward Dvoretzky, 2 Bde., Göppingen 1971. Bd. 1, S. 56.

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oder sonst wo, beschließen wolle«.32 In diesem Falle wurde die Spannung zwischen zwei unvereinbaren Wünschen Lessings zwar nicht gelöst, aber durch äußere Umstände unwirksam gemacht. Ich komme jetzt auf die vielen ungelösten Widersprüche zurück, die in Lessings Denken immer wieder begegnen – zum Beispiel zwischen der Nachahmungsästhetik von Laokoon und der Wirkungsästhetik der Hamburgischen Dramaturgie, zwischen der Gefühlsethik von Lessings Tragödientheorie und der Vernunftethik der Erziehung des Menschengeschlechts oder zwischen seiner positiven Behandlung der Lutherischen Orthodoxie in den frühen siebziger Jahren und seinen gleichzeitigen Vorbereitungen, Reimarus’ Angriff auf die Bibel zu veröffentlichen. Ich möchte insbesondere auf die positiven Maßnahmen hinweisen, die er in den siebziger Jahren traf, solche Widersprüche auf dem Hintergrund der zeitgenössischen Philosophie zu erläutern und erkenntnistheoretisch zu legitimieren. Schon als Schüler und Student wußte Lessing mit dem Rationalismus Christian Wolffs umzugehen, ohne sich dem Wolffschen System als ganzem anzuschließen. Er fühlte sich ebenso stark zu offeneren Denkmodellen hingezogen, wie zum Beispiel zur eklektischen Philosophie, die in der Frühaufklärung neben dem Rationalismus weiterlebte, und zum Skeptizismus von Pierre Bayle. Seine vorläufige Lebensweise machte ihn ohnehin dazu geneigt, alle Wahrheiten als vorläufig – das heißt als relativ – zu betrachten. Aber in den frühen Wolfenbüttler Jahren fing er an, sowohl in der Philosophie als auch in der Theologie eine theoretische Begründung für diese Überzeugung zu suchen. So notiert er zum Beispiel in seinem Kollektaneenbuch mit anscheinender Zustimmung einen Grundsatz der rabbinischen Schriftgelehrten, nach welchem wechselseitig unvereinbare Interpretationen derselben Schriftstelle als gleich wahr anzusehen seien, vorausgesetzt, daß sie keinen bereits feststehenden Wahrheiten widersprechen.33 Um die gleiche Zeit lobt er den Leibnizschen Perspektivismus in folgenden Worten:34 Leibnitz nahm, bey seiner Untersuchung der Wahrheit, nie Rücksicht auf angenommene Meynungen; aber in der festen Ueberzeugung, daß keine Meynung angenommen seyn könne, die nicht von einer gewissen Seite, in einem gewissen Verstande wahr sey, hatte er wohl oft die Gefälligkeit, diese Meynung so lange zu wenden und zu drehen, bis es ihm gelang, diese gewisse Seite sichtbar, diesen gewissen Verstand begreiflich zu machen.

Aber auch das Gegenteil trifft zu: in den theologischen Streitigkeiten fünf Jahre später wird ihm klar, daß es keine unfehlbare Hermeneutik, keine unanfechtbare Methode gibt, die Wahrheit der biblischen Berichte zu ermitteln, weil nur wenige Stellen des ganzen N[euen]. T[estaments]. bey allen Menschen die nehmlichen Begriffe hervorbringen [...] Welches sind die rechten, die hervorgebracht werden sollen? Wer soll das entscheiden? Die Hermeneutik? Jeder hat seine eigene Hermeneutik. Welches

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Daunicht (s. Anm. 6), S. 427. LM 15, S. 353f. LM 11, S. 470.

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Hugh Barr Nisbet ist die wahre? Sind sie alle wahr? oder ist keine wahr? Und dieses Ding, dieses mißliche, elende Ding soll die Probe der innern Wahrheit seyn! Was wäre denn ihre Probe?35

Es erhellt aus dieser und anderen ähnlichen Behauptungen, daß viele Grundsätze des Rationalismus in den siebziger Jahren nicht nur für Kant sondern auch für Lessing ihre Glaubwürdigkeit verloren hatten. Wie Lessings Freund Kästner in einem Brief an Kant über seine Gespräche mit Lessing im Jahre 1777 berichtet:36 bey unsern Gesprächen über die izige Philosophie äuserte er die Hoffnung, es müsse damit bald anders werden, denn sie sey so seicht geworden daß die Seichtigkeit selbst bey Leuten die nicht viel Denken anwenden wollen sich doch nicht in Ansehen erhalten könne.

Auch in der Theologie scheint Lessing in seinen letzten Jahren empfunden zu haben, an der Schwelle einer neuen Epoche zu stehen. So nimmt er Girolamo Cardanos Prophezeiung aus dem sechzehnten Jahrhundert ernst, daß ein bedeutsamer Wandel im Christentum um 1800 bevorstünde:37 Maler Müller, den Lessing 1777 besucht hatte, erinnerte sich später an ein diesbezügliches Gespräch:38 Lessing meinte, daß die gegenwärtige Verfassung des Christentums kein halbes Seculum mehr dauern könne, und daß es vernünftiger gethan sey, einen so morschen Bau abzutragen, damit solcher beym Einstürzen nicht zu viel ruiniere.

In diesem Zusammenhang hielt Lessing es für vollkommen gerechtfertigt, Reimarus’ Angriff auf das Christentum zu veröffentlichen. Mit einem Wort: sowohl in der Philosophie als auch in der Theologie sah Lessing in seiner Spätzeit bedeutende Entwicklungen voraus und trug nach Kräften dazu bei, sie herbeizuführen. Er übertrug sein Lebensgefühl auf sein Denken, indem es ihm besser gefiel, Inkonsequenz oder sogar Selbstwiderspruch in Kauf zu nehmen, als irgendetwas zu tun, was den ununterbrochenen Fortgang der Debatte aufhalten könnte. So legte er in seinen Spätschriften ein ganzes Instrumentarium rhetorischer und poetischer Stilmittel an, um seine eigenen Behauptungen in Frage zu stellen, sobald sie geäußert waren, indem er zum Beispiel erklärt, daß die Lehre von der Einheit Gottes »in den Büchern des Alten Testaments sich findet, und sich nicht findet«39 oder daß die Bücher des Neuen Testaments »den menschlichen Verstand [...] mehr als alle andere Bücher erleuchtet [haben], sollte es auch nur das Licht seyn, welches der menschliche Verstand selbst hineintrug«40 oder (nach Augustinus) daß alles, was in der Erziehung des Menschengeschlechts enthalten ist, »aus denselben Gründen in gewisser Hinsicht wahr, aus denen es in gewisser Hinsicht falsch ist«.41 Aus ähnlichen Gründen ist es auch der Fall, wie Wolfgang Kröger nachgewiesen hat, daß 35 36 37 38 39 40 41

LM 13, S. 130f. Daunicht (s. Anm. 6), S. 432. LM 16, S. 397f.; vgl. LM 15, S. 177f. FA 12, S. 591. LM 13, S. 419. LM 13, S. 429. LM 13, S. 413.

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Lessings Antworten auf seine Gegner im Fragmentenstreit nicht als dogmatische Behauptungen oder persönliche Glaubensbekenntnisse zu verstehen sind: sogar seine berühmte Aussage über den »garstigen breiten Graben«, über den er nicht kommen kann, soll eher die Konsequenzen aus seines Gegners (Schumanns) historisch fundiertem Glauben ziehen als echte Gewissensqualen von seiten Lessings zum Ausdruck bringen.42 Angesichts der vieldeutigen, oft ironischen und ausweichenden Antworten Lessings auf seine Kritiker nimmt es nicht Wunder, daß sein Hauptgegner Goeze mehr als einmal verlangte, daß Lessing »sein vollständiges Glaubensbekenntnis« angebe und ohne Ausreden erkläre, »was für eine Religion er selbst als die wahre erkenne und annehme«.43 Es scheint in der Lessingforschung als ausgemacht zu gelten, daß Lessing diese Frage nie beantwortet hat44 – nicht zuletzt, weil er in einem Brief an Elise Reimarus ausdrücklich sagt, daß er die Antwort darauf umgehen wolle.45 Aber auch wenn er die Frage nicht öffentlich beantwortete, so läßt sich doch nachweisen, daß er sie privat durchaus beantwortet hat. Die Herausgeber seiner Werke (z. B. Franz Muncker und Arno Schilson) haben folgendes Fragment aus Lessings sogenannten »Selbstbetrachtungen und Einfällen«, die Georg Gustav Fülleborn 1799 aus jetzt verschollenen Handschriften veröffentlichte, in den Winter 1777–78 datiert und mit Lessings Erwiderung auf Schumann (Über den Beweis des Geistes und der Kraft) in Zusammenhang gebracht.46 Aber da das betreffende Fragment sich ausdrücklich als persönliches Bekenntnis und als Antwort auf eine Frage von theologischer Seite gibt, ist es so gut wie sicher als Lessings Antwort von Mai/Juni 1778 auf Goezes Forderung zu betrachten. Hiermit also Lessings persönliche Aussage (leicht gekürzt) über sein Verhältnis zur christlichen Religion (man beachte, wie er seine Aussagen immer wieder einschränkt):47 Ich glaube sie und halte sie für wahr, so gut und so sehr man nur irgend etwas historisches glauben und für wahr halten kann. Denn ich kann sie in ihren historischen Beweisen schlechterdings nicht widerlegen. Ich kann den Zeugnissen, die man für sie anführt, keine andere entgegen setzen: es sey nun, daß es keine andere gegeben, oder daß alle andere vertilgt oder geflissentlich entkräftet worden. [...] Mit dieser Erklärung, sollte ich meynen, könnten doch wenigstens diejenigen Theologen zufrieden seyn, die allen christlichen Glauben auf menschlichen Beyfall herabsetzen, und von keiner übernatürlichen Einwirkung des heiligen Geistes wissen wollen. Zur Beruhigung der andern aber, die eine solche Einwirkung noch annehmen, setze ich hinzu, daß ich diese ihre Meynung allerdings für die in dem christlichen Lehrbegriffe gegründetere und von Anfang des Christenthums hergebrachte Meynung halte, die durch ein bloßes philosophisches Raisonnement schwerlich zu widerlegen steht. Ich kann die Möglichkeit der unmittelbaren Einwirkung des heiligen Geistes nicht leugnen: und thue wissentlich gewiß nichts, was diese Möglichkeit zur

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Wolfgang Kröger: Das Publikum als Richter. Lessing und die ›kleineren Respondenten‹ im Fragmentenstreit. Nendeln 1979, S. 31, 42f., 117f. u. passim. FA 9, S. 128 u. 371f. So z. B. Arno Schilson in FA 9, S. 1081f. FA 12, S. 185 (Lessing an Elise Reimarus, 9 August 1778). Siehe Franz Muncker in LM 16, S. 536 u. Arno Schilson in FA 10, S. 1007. LM 16, S. 536.

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Hugh Barr Nisbet Wirklichkeit zu gelangen hindern könnte. Freylich muß ich gestehen _ [Hier bricht das Fragment ab.]

Bei dieser Erklärung ist es also – wie so oft beim späten Lessing – wie beim Schälen der sprichwörtlichen Zwiebel: sie ist mit so vielen Vorbehalten umgeben, daß man nie zu einem festen, verbindlichen Kern gelangen kann. Es geht ihm auch hier, wie bei allen seinen Versuchen, dogmatische Ansprüche zu verleugnen, vor allem darum, den geringsten Anschein zu vermeiden, daß er andere überreden will, seine eigenen Grundsätze für mehr als nur vorläufig zu halten. Und darum konnte er diese Erklärung freilich nicht veröffentlichen. Damit komme ich zum letzten Hauptthema dieses Vortrags, nämlich Lessings positivem Glauben an die Autonomie des einzelnen und an das unveräußerliche Recht des einzelnen auf Selbstbestimmung. Schon in einer seiner frühesten philosophischen Äußerungen, dem Fragment Das Christenthum der Vernunft (1753), definiert er das Grundgesetz des sittlichen Menschen wie folgt: »Handle deinen individualischen Vollkommenheiten gemäß.«48 Besonders bedeutend ist hier das Wort ›individualisch‹ Denn während es den meisten Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts hauptsächlich um die von ihnen so genannte ›Natur des Menschen‹ oder ›das Wesen des Menschen‹ geht – das heißt, was allen Menschen gemeinsam ist –, ist es Lessing mehr um das zu tun, was die Menschen unterscheidet. Er meint, daß jeder Mensch es in der Hand haben sollte, seine individuellen Bestrebungen zu verwirklichen, wie bescheiden, unbeliebt, unkonventionell oder ketzerisch diese auch sein mögen – vorausgesetzt, daß sie die Freiheit anderer Menschen nicht beeinträchtigen, das gleiche zu tun. Daß Lessing die Entwicklung des einzelnen zu fördern sucht, indem er seine Leser zum Selbstdenken anregt, ist oft bemerkt worden. Das ist freilich im Jahrhundert der Aufklärung nichts Ungewöhnliches, insofern überlieferte Anschauungen häufig in Zweifel gezogen und neue an ihrer Stelle zur Diskussion gestellt werden. In Lessings späteren Schriften verfeinert sich jedoch die Art und Weise seiner Argumentation in dem Maße, wie seine eigenen Ansichten sich (wie schon erwähnt) zunehmend der Festlegung entziehen. So stößt man etwa in der Erziehung des Menschengeschlechts auf seine oft mit allem Nachdruck ausgesprochenen Ansichten und stimmt ihnen zu – oder auch nicht –, nur um dann, wenn man weiter und genauer liest, zu entdecken, daß sie vielleicht doch nicht seine Ansichten sind und daß andere Ansichten, die er früher zu verwerfen schien, in neuer und scheinbar plausibler Gestalt wiederkehren. Daraus ergibt sich, daß der Leser sich veranlaßt sieht, nicht nur in Frage zu stellen, was er zunächst für Lessings Ansichten hielt, sondern auch seine eigenen – bis ihm schließlich aufgeht, daß von je verschiedenem Gesichtspunkt aus einige dieser Ansichten oder alle, die auf den ersten Anblick unvereinbar schienen, wenigstens relativ wahr sein könnten.

48

LM 14, S. 178.

Biographische Betrachtungen

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Was Lessing mit dieser Strategie beabsichtigt, ist jedoch nicht, universellen Zweifel zu säen, sondern nur zu verhindern, daß sich seine eigenen Ansichten oder die Ansichten, die er bespricht, zum Dogma verhärten, auf das sich intolerante und tyrannische Autorität seit undenklichen Zeiten gestützt hat. Auf der anderen Seite greift er seine Gegner im Fragmentenstreit – zum Beispiel Reß und Goeze – nicht so sehr deswegen an, weil er ihre Ansichten unbedingt für falsch hält, als weil sie intolerant sind und ihre Glaubenssätze anderen Leuten aufdrängen wollen. Trotzdem hört man noch ab und zu die Anklage gegen Lessing, daß er seinen vermeintlichen säkularen Rationalismus oder Deismus für absolut wahr halte und andere Leute – besonders die Anhänger der geoffenbarten Religion – dazu bekehren wolle.49 Eine der bekanntesten Parolen der Aufklärung ist das Wort ›Toleranz‹, das Aufklärungsphilosophen von John Lockes Letters concerning Toleration (1689–1692) bis zu Voltaires Traité sur la tolérance (1763) ständig im Munde führen. Sogar Lessings Großvater Theophilus Lessing hat schon im Jahre 1669 eine Abhandlung De religionum tolerantia veröffentlicht. Wenn im Zusammenhang der deutschen Aufklärung von Toleranz die Rede ist, denkt man auch in erster Linie an Lessing selbst als ihren einflußreichsten Befürworter. Es war für mich daher eine Überraschung, als ich unlängst den Versuch machte, die Häufigkeit des Wortes ›Toleranz‹ in Lessings Schriften zu ermitteln: ich habe nur zwei Fälle gefunden. Der erste Fall ist in einer Anmerkung zur Rettung des Lemnius von 1753 (obgleich die Anmerkung nicht in der von Lessing selbst veröffentlichten Fassung sondern nur in der Neuausgabe Karl Lessings von 1784 erscheint); in dieser Anmerkung heißt es, daß die Reformatoren des sechzehnten Jahrhunderts von der Lehre von der Toleranz nichts hielten.50 Der zweite Fall kommt in der Hamburgischen Dramaturgie vor, wo Lessing die Kreuzfahrer in Cronegks Tragödie Olint und Sophronia als intolerant kritisiert.51 In beiden Fällen handelt es sich um vergangene Epochen, nämlich Reformation und Mittelalter, wo Toleranz kaum bekannt war, und in beiden Fällen will Lessing nicht so sehr die Toleranz als positiven Wert der Gegenwart empfehlen denn deren Ausbleiben in der Vergangenheit – das heißt, die Intoleranz – brandmarken. So kommt auch das Adjektiv ›tolerant‹ sehr selten in Lessings Schriften vor, und dann auch nur, um die Intoleranz der jeweils angegriffenen Personen oder Überzeugungen hervorzuheben: so zum Beispiel beim Tempelherrn in Nathan der Weise, der in seiner Wut Nathan als »toleranten Schwätzer« bezeichnet.52 49

50 51 52

Siehe z. B. Hans Mayer: Der Weise Nathan und der Räuber Spiegelberg. In: Lessings ›Nathan der Weise‹. Hg. von Klaus Bohnen. Darmstadt 1984, S. 350–373, hier S. 363–367; Ritchie Robertson, ›Dies hohe Lied der Duldung‹? The Ambiguities of Toleration in ›Die Juden‹ and ›Nathan der Weise‹. In: Modern Language Review 93 (1998), S. 105–120, hier S. 116–118; Friedrich Weber: Über die Grenzen von Lessings Toleranzbegriff. Vortrag, gehalten am 10. Oktober 2006 im Rathaussaal Wolfenbüttel. Wolfenbüttel 2007 (Wolfenbütteler Vortragsmanuskripte 4), S. 5. LM 5, S. 40 u. 45. LM 9, S. 210. LM 3, S. 127; vgl. auch FA 12, S. 50f. (Lessing an Karl Lessing, 20. März 1777).

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Hugh Barr Nisbet

Um diesen Tatbestand zu erklären, muß man sich vor Augen halten, daß das Wort ›Toleranz‹ zu Lessings Zeiten im religiösen Kontext das friedliche Umgehen mit sogenannten ›Irr-Gläubigen‹ bedeutet.53 So wird es zum Beispiel von Reimarus im von Lessing herausgegebenen Fragment Von Duldung der Deisten als gleichbedeutend mit ›Duldung‹ verwendet.54 Das heißt, Reimarus verlangt von den Orthodoxen nicht, daß sie ihren Glauben an die absolute Wahrheit der eigenen Dogmatik aufgeben, sondern nur, daß sie aufhören sollten, Deisten und andere Häretiker zu verfolgen. Das war freilich für Lessing nicht genug. Weit davon entfernt, daß er nicht imstande war (wie ein Kritiker von kirchlicher Seite unlängst behauptet hat), einen pluralistischen Toleranzbegriff und die »Akzeptanz wirklich fremder Orientierung« anzunehmen,55 trat er im Gegenteil immer wieder für Außenseiter jeder Art ein, wie für den gerade aus dem Braunschweiger Gefängnis entlassenen Juden Alexander Daveson oder den atheistischen Landstreicher Könemann, ohne ihre Ansichten als irrig zu bezeichnen oder Bekehrungsversuche an ihnen vorzunehmen.56 Auch enthält er sich jedes negativen Urteils in seinem langen Aufsatz über den lutherischen Pastor Adam Neuser, der infolge calvinistischer Verfolgung in die Türkei flüchtete und zum Islam konvertierte.57 Lessing plädierte also nie für Toleranz im damals geläufigen Sinne, weil solche Toleranz für ihn nur ein erster Schritt zur Anerkennung des Rechts jedes einzelnen auf freie Selbstbestimmung war. So konnte er es auch nicht über sich bringen, den Erzaußenseiter der europäischen Literatur, nämlich Faust, der Verdammnis zu überantworten, noch seinen verunglückten Jugendfreund Mylius endgültig zu verurteilen. Heute fällt Lessing auch manchmal der pauschalen Kritik der Postmoderne an der Aufklärung zum Opfer. Ein typisches Beispiel ist die Dankrede von Botho Strauß für den Lessing-Preis der Stadt Hamburg im Jahre 2001.58 Von der Aufklärung im allgemeinen sagt Strauß: »Wir brauchen keine weitere Aufklärung mehr. Wir sind aufgeklärt bis zur innersten Zerrüttung.« Und von Lessing selbst behauptet er: Welch ein trauriges, ungerechtes Los für einen Menschen, einzig als der politisch korrekteste Klassiker der Deutschen zu überleben! Jemand, den man niemals vom Piedestal stoßen kann, den man ›aufarbeiten‹, nicht umdeuten, nicht neu entdecken und letztlich auch nicht fortsetzen kann.

In seiner tief pessimistischen Beurteilung der Gegenwart beruft sich Strauß zugleich auf Francis Fukuyamas These vom ›Ende der Geschichte‹, welche in den westlichen Demokratien den verlorenen Optimismus der Aufklärung ersetzt habe. Doch die Geschichte begräbt regelmäßig ihre Totengräber, und so auch in 53 54 55 56 57 58

Vgl. Karl S. Guthke: Lessings Horizonte. Grenzen und Grenzenlosigkeit der Toleranz. Göttingen 2003, S. 10f. LM 12, S. 256, 260f. u. 264. Weber (s. Anm. 49), S. 5. Vgl. Hugh Barr Nisbet: Lessings Umgang mit Außenseitern (s. Anm. 14), S. 97ff. LM 12, S. 201–254. Botho Strauß: Der Erste, der Letzte. Warum uns der große Lessing nicht mehr helfen kann. In: Die Zeit, 6. September 2001, S. 51–52.

Biographische Betrachtungen

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diesem Fall. Im Rückblick ist es höchst ironisch, daß nur fünf Tage nachdem Strauß’ Rede am 6. September 2001 erschien war, die Geschichte noch einmal bewies, wie lebenskräftig sie noch ist. Plötzlich sahen sich die westlichen Demokratien viel ernsteren Problemen gegenüber als dem, mit ihrem vermeintlichen eigenen Endstadium fertigzuwerden – und das waren Probleme, die in der Geschichte der deutschen Literatur niemand denkwürdiger und konstruktiver behandelt hatte, als gerade Lessing. Ich komme zum Schluß. Sie fragen sich vielleicht, ob ich keine neuen Einsichten in dieses oder jenes von Lessings Hauptwerken zu bieten habe. Es gibt wohl verschiedene, aber ein Beispiel muß hier genügen. Es scheint der Lessingforschung bisher entgangen zu sein, daß nicht nur zwei bedeutende Werke Lessings – nämlich Die Juden und Nathan der Weise – schon im Titel eine Anspielung auf die Juden enthalten. Das Gleiche gilt auch für ein drittes Hauptwerk. In den dreißiger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts kam ein jüdischer Kabbalist aus Osteuropa nach Deutschland und machte sich bald durch Zauberkünste, Alchimie und Geisterbeschwörungen besonders in Freimaurerkreisen bekannt. Sein Name war Samuel Jacob Falk.59 Falk führte ein Wanderleben und besuchte unter anderen Graf Jörgen Ludwig Albrecht von Rantzau auf dessen Gut im Braunschweigischen, wo er Geister beschwor, verborgene Schätze entdeckte, alchimistische Experimente machte und Explosionen verursachte. Als dies den Braunschweigischen Behörden zu Ohren kam, wurde Rantzau aufgefordert, ihn auszuweisen. Bald nachher wurde Falk in Westfalen festgenommen und kam mit knapper Not mit dem Leben davon, weil Zauberei noch ein Kapitalverbrechen war.60 Er entkam nach Holland und schließlich nach England, wo er es in freimaurerischen Kreisen wieder zu Berühmtheit brachte und als »der Ba’al Shem [das heißt ›Herr des göttlichen Namens‹] von London« bekannt wurde;61 er knüpfte auch Verbindungen zu Swedenborg und Cagliostro. In seinen späteren Jahren – er starb im Jahre 1782 – wurde er in deutschen Freimaurerkreisen verehrt als einer der sogenannten ›unbekannten Oberen‹ (superiores incogniti) der internationalen Freimaurerei, oder sogar als der einzige.62 Daß Lessing und seine freimaurerischen Freunde in Braunschweig von Falk und seinem Ruf nichts gewußt hätten, ist unvorstellbar, und der Titel von 59

60

61 62

Mein Dank gilt an dieser Stelle Jim Reed und Marsha Schuchard, die mich zuerst auf Samuel Jacob Falk aufmerksam gemacht haben. Vgl. besonders Marsha Schuchard: Dr Samuel Jacob Falk. A Sabbatian Adventurer in the Masonic Underground. In: Jewish Messianism in the Early Modern World. Hg. von Matt D. Goldish, Richard H. Popkin. Dordrecht 2001, S. 203–226. Vgl. Michal Oron: Dr Samuel Falk and the Eibenschuetz-Emden Controversy. In: Mysticism, Magic and Kabbalah in Ashkenazi Judaism. Hg. von Karl Erich Grözinger, Joseph Dan. Berlin u. New York 1995, S. 243–256, hier S. 246. Vgl. Hermann Adler: The Baal Shem of London. In: Transactions of the Jewish Historical Society of England 5 (1908), S. 148–173. Vgl. Marsha Schuchard: Yeats and the ›Unknown Superiors‹. Swedenborg, Falk, and Cagliostro. In: Secret Texts. The Literature of the Secret Societies. Hg. von Marie Mulvey Roberts u. Hugh Ormsby-Lennon. New York 1995, S. 114–168, hier S. 140 und 142.

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Hugh Barr Nisbet

Lessings Ernst und Falk. Gespräche für Freymäurer enthält zweifellos eine Anspielung auf den Ba’al Shem von London. Aber genau wie die sogenannten ›wahren Freimaurer‹ in Lessings Dialogen auf einer höheren und aufgeklärteren Ebene handeln als die wirklichen zeitgenössischen Freimaurer mit ihrer Tempelherrnlegende und ihren gehaltlosen Geheimnissen, so erscheint auch Lessings Falk als ein aufgeklärterer Gegenspieler zum wirklichen Samuel Jacob Falk mit seinen alchimistischen Experimenten und Geisterbeschwörungen. In diesem Sinne bezeugt Ernst, der Gesprächspartner Falks in Lessings Dialogen, seinen Unwillen über die »Querköpfe« unter den Freimaurern, die »Gold machen« und »Geister beschwören« wollen.63 Heißt das aber nicht, daß auch Lessing den Juden Falk und seinesgleichen als »Querköpfe« verurteilt? Keineswegs: auch in diesem Fall wird deutlich, daß Lessing im positivsten heutigen Sinne tolerant bleibt, auch wenn er vom Stein des Weisen und vom Spiritualismus nichts hält. Denn auf Ernsts Spott über die Goldmacher und Geisterbeschwörer antwortet der aufgeklärte Lessingsche Falk: »Daß ich in allen diesen Träumereyen Streben nach Würklichkeit erkenne, daß sich aus allen diesen Irrwegen noch abnehmen läßt, wohin der wahre Weg geht«.64

63 64

LM 13, S. 392. LM 13, S. 393.

THEOLOGISCHE ANSICHTEN IM HINTERGRUND DER AXIOMATA

Barbara Mahlmann-Bauer

Lessings Fragment Die Religion und das Saatgut, das in Die Erziehung des Menschengeschlechts aufgegangen ist

Der Streit um die Reimarus-Fragmente und seine poetischen und publizistischen Folgen in den Jahren 1777–1781 sind ein Höhepunkt der deutschsprachigen Aufklärungsliteratur. Die Kontroverse um die Fragmente, die durch Lessings kommentierte Edition eröffnet wurde, zeigt die protestantische Theologie in einer kritischen Phase. Ein Skandalon für die Literaturkritiker und Theologen seiner Zeit war, daß Lessing seine religiösen Überzeugungen im Feuerwerk seiner stilistisch brillanten Kommentare und Erwiderungen verborgen hielt. Er folgte dem Prinzip, seine Haltung mit Rücksicht auf den jeweiligen Gegner zu ändern und dem Gegenstand des Streites, je nach Streitwert, anzupassen. Lessings Vexierspiel entlockte Friedrich Nicolai, der sich auf alles schnellstens einen Reim zu machen versuchte und das Ohr am Puls der Zeit zu haben glaubte, den entnervten Kommentar: »Die Theologen glauben, daß Sie ein Freigeist sind, und die Freigeister, daß Sie ein Theolog geworden sind.«1 Noch heute streiten sich Literarhistoriker darüber, ob Lessing eher »Fideist« oder »Spinozist«2 sei, aber so einfach und klar erscheinen die Fronten nur demjenigen, der das seit Mitte des 18. Jahrhunderts sich auffächernde Spektrum der theologischen und philosophischen Reaktionen auf die Herausforderungen des Deismus, der französischen Libertins und der englischen moral sensePhilosophen nicht kennt. Hermann Samuel Reimarus und Lessing sind »Schlüsselfiguren« in der Diskussion über das Verhältnis von »Philosophie und Theologie, Vernunft und Offenbarung, Textkritik und Schriftzeugnis«,3 gerade weil jener mit seiner Offenbarungskritik seiner Zeit voraus war und dieser es wagte, sie mit seinen eigenen kritischen »Grundsätzen« zu veröffentlichen. Die Freude am provozierenden Vexierspiel, an der Annahme und dem Wechsel von Rollen und das Liebäugeln mit radikalen, Anstoß erregenden Haltungen ist nicht erst für den späten Lessing typisch. Der Journalist und Lustspieldichter verweigerte allerdings für religiöse Zweifel und Identitätskonflikte Lösungen der Art, wie sie einerseits orthodoxe Theologen aufgrund des Dogmas von Erb1 2 3

Friedrich Nicolai an Lessing, 24. April 1777. In: Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. München 2008, S. 739. Ebd. Ebd., S. 702. Das Corpus der Schriften zum Fragmentestreit umfasst in Arno Schilsons Ausgabe schon mehr als tausend Seiten. In: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe. Hg. von Wilfried Barner und anderen. Frankfurt am Main 1985–2003. (Im folgenden zitiert als FA für ›Frankfurter Ausgabe‹ mit Band- und Seitenzahl). Hier FA 8, S. 115–134, S. 173–610 und FA 9, S. 9–482 und S. 691–713 sowie die Kommentare dazu.

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Barbara Mahlmann-Bauer

sünde, Erlösung und Gnade, andererseits die für englische Einflüsse empfänglichen Neologen anboten. Ein beträchtliches Konfliktpotential ohne Lösung ballt sich in Lessings Gedichtfragment Die Religion, von dem er 366 Verse mit einer Einleitung über die Entstehungsgründe in der seit März 1751 erscheinenden Beilage »Das Neueste aus dem Reich des Witzes« zu den Berlinischen Staats- und Gelehrten Zeitungen publizierte. Lessing war vom 18. März bis zu seiner Abreise nach Wittenberg im Dezember 1751 für die Füllung dieser Gelehrtenbeilage zuständig. Jürgen Stenzel vermutet, »unveröffentlichte Gedichte« hätten Lessing seit Juli 1751 als »Blattfüllsel« gedient, und dafür habe im November 1751 das fragmentarische Lehrgedicht Die Religion herhalten müssen.4 Nisbet glaubt, daß Lessing für die Veröffentlichung dieses Gedichtfragments in »Das Neueste aus dem Reich des Witzes« mit Bedacht die Form des poetischen Fragments gewählt habe; dies sei ein »bewußter Kunstgriff für die Erörterung religiöser Zweifel oder ketzerischer Meinungen«, und er habe sich mit seinem Rollengedicht in diese Tradition gestellt.5 In diesem Gedicht werden religiöse Fragen erörtert, die den Dramendichter und FragmenteHerausgeber noch umtreiben werden. Dazu wird die beängstigende Folge religiöser Skrupel aufgezeigt, die einen zwanzigjährigen Berufsanfänger eher umwerfen konnte als den erfahrenen Schriftsteller: Melancholie und Misanthropie.6 Den Lösungsangeboten der Orthodoxie und Neologie gleichermaßen aus dem Weg gehend, bricht der junge Autor seinen ersten Gesang ab. Eine theoretisch-philosophische Lösung der um die Theodizee und das Wesen des Menschen kreisenden Fragen ist noch nicht in Sicht, die sich erst aus der Dialektik von menschheitlicher Entwicklungsgeschichte und Exegesegeschichte in Die Erziehung des Menschengeschlechts ergeben wird. Die Fragen, wie das Böse in die Welt kam, wie es mit dem Wesen Gottes, seiner Güte und Gerechtigkeit, vereinbar ist, und die Beobachtung, daß das physische und moralische Übel zwar alle Menschen, aber in unterschiedlichem Maße trifft, finden in Lessings Dichtungen zeitlebens Widerhall. Die Besinnung auf den unbegreiflichen Ratschluß Gottes brachte Nathan dazu, Recha an Kindes Statt aufzunehmen.7 Empörend war hingegen für Reimarus und seinen Kommentator die Vorstellung, daß nur ein Bruchteil der Menschheit das Glück hatte, das Evangelium zu empfangen und die Bedingung zu erfüllen, zu den Erwählten zu gehören, während alle, die das Pech hatten, Heiden zu bleiben, der Gefahr ewiger Höllenstrafen ausgesetzt sein sollten.

4 5 6

7

FA 2, S. 742. Nisbet (s. Anm. 1), S. 153. Ebd., S. 154. Nisbet folgend, vermeide ich eine Interpretation als autobiographisches Zeugnis. Allerdings sehe ich in dem Gedichtfragment mehr als nur konventionelle, spielerische Argumente, vielmehr berührt das lyrische Ich Fragen, auf die zeitgenössische Dichter und Theologen ihm nur unbefriedigende Antworten zu geben vermochten und die er im dritten Teil von ›Die Erziehung des Menschengeschlechts‹ wieder aufgreift. Ingrid Strohschneider-Kohrs: Vernunft als Weisheit. Studien zum späten Lessing (Hermaea NF 65). Tübingen 1991, S. 55–89.

Lessings Fragment »Die Religion«

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Karl S. Guthke hat vorgeführt, wie die Theologie des Nathan-Schauspiels als Antwort auf die des Hermann Samuel Reimarus zu verstehen sei. Seine Engführung von Aussagen aus Lessings Drama mit Erklärungen aus der Einleitung des Reimarus und dem zweiten Fragment (von der Unmöglichkeit einer Offenbarung, die alle mit guten Gründen glauben könnten) zielt darauf zu zeigen, daß die Saat, die Reimarus in seinen Reflexionen ausstreute und die aus dem Deismus von Pierre Bayle, David Hume und anderen ihre Kraft zog, im Nathan und in Die Erziehung des Menschengeschlechts aufgegangen sei. Nathan sei mehr als nur ein Anti-Goeze auf dem Theater, zum Teil auch ein Pro-Reimarus, deutlicher vielleicht als in Lessings Annotationen zu den von ihm edierten Fragmenten eines Ungenannten.8 Demnach gebe es in allen Religionen gute Menschen, und die echte Religion erweise sich in den wohltätigen Folgen ethisch verantwortungsvollen Handelns. Nathan gibt sich, aus des Tempelherren Sicht, als vernünftigen Verehrer Gottes (in Reimarus’ Sinn) zu erkennen, da er das Christenmädchen »in keinem Glauben auferzogen,/ und sie von Gott nicht mehr nicht weniger/ gelehrt, als der Vernunft genügt« (IV, 2). Genau dies macht ihn im Denksystem des Patriarchen freilich zu einem gefährlichen Ungläubigen.9 Nathans religiöse Haltung, seine Erziehung des Tempelherrn, Saladins Folgerungen aus der Ringparabel und Sittahs Vorbehalte gegenüber dem Fanatismus der Christen – überhaupt alle Religionsdiskurse der dramatis personae – haben, wie Lessing seinem Bruder schrieb, ihren Zweck erreicht, wenn »unter tausend Lesern nur Einer daraus an der Evidenz und Allgemeinheit seiner Religion zweifeln lernt«.10 Guthkes Frage nach dem »Saatgut« möchte ich auf Lessings frühe Dichtung ausdehnen. Sind Religionsskrupel und Bibelkritik, die Lessing zum Projekt animierten, Reimarus’ Fragmente herauszugeben, schon im Gedichtfragment Die Religion zu erkennen? 1750, also in der Entstehungszeit dieses Gedichts, im Fragment Gedanken über die Herrenhuter, beschwor Lessing einen »Mann«, in dem wir bereits die Konturen Nathans erkennen, »der auf die wichtigsten Verrichtungen unserer Gelehrten von der Höhe seiner Empfindungen verächtlich herabsehen könnte, welcher mit einer sokratischen Stärke die lächerlichen Seiten unserer so gepriesenen Weltweisen zu entdecken wüßte« und dessen »Ermahnungen und Lehren [...] auf das einzige, was uns ein glückliches Leben verschaffen kann, auf die Tugend« zielten.11 Gehörten die Relativierung aller positiven Offenbarungen und das Postulat, das Gute aus vernünftiger Einsicht zu tun, schon zum intellektuellen Grundgepäck des jungen Lessing? Oder hat die Erfahrung der historisch begrenzten Autorität heiliger Texte, die Reimarus, wie er im Vorbericht schreibt, zu seiner Schutzschrift veranlaßte, erst

8 9 10 11

Karl S. Guthke: Die Geburt des ›Nathan‹ aus dem Geist der Reimarus-Fragmente. In: Lessing Yearbook 36 (2004/2005), S. 15–47, hier S. 15f. Ebd., S. 39. Ebd., S. 24. Lessings Brief an Karl Lessing, 18. April 1779. In: FA 12, S. 247. FA 1, S. 942.

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Barbara Mahlmann-Bauer

den Verfasser der Paragraphen über das Christentum der Vernunft und die Entstehung der geoffenbarten Religion 1763/64 elektrisiert?12 Guthke hat in seiner kritischen Sichtung der Rezensionen, die Lessing zugeschrieben werden, davor gewarnt, in die journalistischen Gelegenheitsarbeiten bereits das Reflexionsniveau des späteren Dramatikers und Polemikers hineinzugeheimnissen.13 Eingedenk dieser Ermahnung werde ich nicht den späten Lessing in die Verse über die Religion und deren editorische Vorbemerkung hineinlesen. Es bleibt mir, das zu erhellen, woran der wenig über Zwanzigjährige bei der Suche nach Selbstvergewisserung anknüpfen konnte: an das für ihn zeitlebens bedeutsame Thema der Vereinbarkeit von Vernunftgläubigkeit und Religiosität, an Geschichtsoptimismus und Vorsehungsglauben – ein Thema, zu dem er vielleicht schon aus Leibniz’ Theodicée schöpfen konnte, an Albrecht von Hallers Lehrgedicht Ueber den Ursprung des Uebels, das 1742 vollendete Gedicht von Louis Racine La Religion und Johann Joachim Spaldings Erstlingsschrift Die Bestimmung des Menschen (1748).

1 Lessings Fragment Die Religion – Textanalyse Lessing befindet sich 1749/50, als dieses Gedicht entstand, auf dem Weg vom Lehrdichter auf Albrecht von Hallers Spuren zum dramaturgischen Experimentator. Sein Interesse als Bühnendichter gilt emotionalen Krisensituationen, in denen Menschen als soziale Wesen mit entsprechenden sozialen Kompetenzen gefordert sind. Abraham Gotthelf Kästner und Christlob Mylius stellten in ihren Kometengedichten 1744 in spekulativen Visionen von extraterrestrischen Welten und einem unendlich gestuften Reich der Natur Hypothesen auf, die der empirischen Naturforschung in Zukunft erst den Weg weisen sollten und die Eigenschaften und das Streben der Erdbewohner aus kosmischer Totalsicht mit den klimatischen Gegebenheiten der Erde und ihrer Zonen erklärten.14 Dies genügt Lessing, dem Bühnendichter, nicht mehr. Er ist beun-

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Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Hg. von Herbert G. Göpfert, bearbeitet von Helmut Göbel. Bd. 7. München 1976, S. 278–283 und S. 846–848. Karl S. Guthke: Lessings Rezensionen. Besuch in einem Kartenhaus. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1993), S. 1–59. Christlob Mylius: Lehrgedicht von den Bewohnern der Kometen. In: Belustigungen des Verstandes und des Witzes. Mai 1744, S. 383–392; auch in: Christlob Mylius: Vermischte Schriften, gesammelt von Gotthold Ephraim Lessing. Berlin 1754, Ndr. Frankfurt am Main 1971, S. 349–362; Abraham Gotthelf Kästner: Philosophisches Gedicht von den Kometen (1744), abgedruckt in Rainer Baasner: Abraham Gotthelf Kästner. Tübingen 1990, S. 243– 248 und Interpretation S. 248–260; Gunther E. Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung. Tübingen 1983, S. 703–719; Barbara Mahlmann-Bauer: Bodmers ›Noachide‹, ein unbiblisches Epos? In: Anett Lütteken und Barbara Mahlmann-Bauer (Hg.): Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Göttingen 2009, S. 231–295, hier S. 274f.

Lessings Fragment »Die Religion«

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ruhigt von der m e n s c h l i c h e n Natur, den unvorhersehbaren, affektgesteuerten Entscheidungen und der gefährlichen Leichtigkeit, Böses zu tun und zu bewirken. Ihn fasziniert auch die Fähigkeit zur Einfühlung in Mitmenschen, das Mitleidsphänomen. Ihn irritiert, daß es Bernard Mandeville, Jean-Jacques Rousseau und Francis Hutcheson höchst unterschiedlich erklärten. Sein Forschungsgebiet als Dramatiker sind vor allem junge Menschen als soziale Wesen, die aufgrund ihrer Entdeckung, daß Wollen und Können nicht im Einklang stehen, und angesichts ihrer Konflikte zwischen ihren Zielen, Triebbedürfnissen, den sozialen Einschränkungen und Normanforderungen, mitleidfähig sind. Ein entsprechendes Forschungsprogramm, wie tragische Situationen zu entwerfen seien, welche ein Höchstmaß an Empathie hervorrufen könnten, und welche Anforderungen an die figurae dramatis zu stellen wären, entfaltet Lessing 1756/57 im Briefwechsel mit Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai. Das Gedicht schweift nicht in extraterrestrische Welten aus, sondern fingiert ein unsicheres Ich und seine Rollenrede in Alexandrinern, die gegen Ende mehr und mehr ins Stocken kommen. Der Herausgeber präsentiert den ersten fragmentarischen Gesang aus einem grossen Gedicht über die Religion als Werk eines anderen: eines Dichters, der mit seinem großen Plan sich »vielleicht am meisten den Beifall der Kenner« werde erwerben müssen. Mit Zweifeln »wider alles Göttliche aus dem innern und äußern Elende des Menschen« beginne das Gedicht. Sie werden in Form eines Selbstgesprächs vorgetragen, welches er »in der Stille geführt« habe. Wenn es so scheine, als verliere sich der Dichter »in den Labyrint[h]en der Selbsterkenntnis«, beruhigt der Herausgeber die Leser vorweg, daß diese »allezeit der nächste Weg zu der Religion, und [...] der sicherste« sei. Dafür gibt er ein Rezept: »Man schieße einen Blick in sich selbst [...]. Man gehe auf den ersten Tag seines Lebens zurück.« Lessings Ankündigung wirft ein Netz von Reizwörtern aus, die in berühmten Prätexten vorkommen. Sein Gedankengang übertrifft sie jedoch an Radikalität, wie zu zeigen sein wird. Lessing mißt sein Gedicht am Anspruch von Leibniz. Leibniz spricht in der Vorrede zu seinem Essai de Theodicée von zwei berühmten »Labyrinthen«, in denen sich die Vernunft oft verwirre, »das eine betrifft die große Frage der Freiheit und Notwendigkeit, besonders bei der Erzeugung und dem Ursprunge des Bösen, das andere besteht in der Erörterung der Kontinuität und deren als unteilbar anzusehenden Elemente, womit auch das Problem des Unendlichen eng zusammenhängt.«15 Die drei Teile des Essais bietet er als Ariadnefaden an, mit dessen Hilfe die Vernunft nicht vor den Fragen der göttlichen Vorsehung zu verzagen brauche. Lessing verspricht, daß aus dem Labyrinth der Selbsterkenntnis, das allerdings durch die Tiefen der Selbstanklage und Gotteszweifel führt und in einer Sackgasse endet, in der Fortsetzung des Gedichts ein sicherer Weg zur Religion führen werde.

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Gottfried Wilhelm Leibniz: Die Theodizee. Übersetzung von Arthur Buchenau. Hamburg 21968, S. 7 (Vorrede. Vgl. Abschnitt 2 und 6).

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Barbara Mahlmann-Bauer

Mit »Ich sehe« beginnt auch Johann Joachim Spaldings epochale Meditation Die Bestimmung des Menschen (1748). Er empfiehlt die Selbsterforschung der Gedanken und Empfindungen als direkten, also gerade nicht labyrinthischen, Weg, um – ohne auf die Bibel zu rekurrieren – zu den Begriffen von Gott und Unsterblichkeit zu gelangen.16 Die Idee, über die eigene Bestimmung in Form eines Selbstgesprächs nachzudenken bzw. die Suche nach einem Weg zur Religion als Rollengedicht zu gestalten, scheint von Shaftesburys Soliloquy (1710) inspiriert zu sein.17 Lessing gelangt allerdings zu anderen Ergebnissen als Spalding und stellt dessen optimistische Anthropologie in Frage. In Alexandrinern schrieb Albrecht von Haller den größten Teil seines philosophischen Gedichts Ueber den Ursprung des Uebels. Es beginnt in freien Rhythmen mit einer Meditation des Ichs in freier Natur während der Dämmerung.18 Aus der regelmäßigen Versform bricht auch sein Unvollkommenes Gedicht über die Ewigkeit aus,19 das mit Lessings unordentlichen, labyrinthischen Grübeleien noch eine andere Gemeinsamkeit hat. Während Spaldings Ich nur auf die Jahre zurückblickt, in denen die Triebe erwachen und die sinnlichen Verlockungen Macht haben, empfiehlt Lessing, die Selbsterkenntnis mit der Vergegenwärtigung der Geburt und der frühesten Lebensphase zu beginnen, in der noch jedes Bewusstsein, Mensch zu sein, fehle. Im Nachdenken über die lange Abhängigkeit und Unmündigkeit des Kindes ging Albrecht von Haller Lessing voraus. Sein Unvollkommenes Gedicht über die Ewigkeit bricht nach fruchtlosen, riskanten Spekulationen über die Unermeßlichkeit Gottes jäh ab. Die letzten 20 Verse rekapitulieren die conditio humana, die der Embryologe und Arzt erforscht.20 Der Mensch komme als »Wurm« zur Welt und sei ein schutzbedürftiges Wesen, das lange fremder Hut und Pflege bedarf, ehe es zum Mann wird. Und selbst in diesem Zustand sei keine Besserung in Sicht: denn da übermannten ihn die Triebe. Während er dieses Gedicht schrieb und zu verbessern suchte, war Haller ein erfolgreicher Lehrer in Göttingen. Seine Selbstzweifel und Selbstvorwürfe wegen seines Strebens nach Anerkennung, seiner Ruhmbegierde, vertraute Haller wohlweislich nur dem Tagebuch an, das wir einzig aus der nicht autorisierten postumen Edition

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Johann Joachim Spalding: Die Bestimmung des Menschen (1748). In: Johann Joachim Spalding: Kritische Ausgabe. Abt. I, Bd. 1. Hg. von Albrecht Beutel, Daniela Kirschkowski und Dennis Prause. Tübingen 2001. Ausgabe von 1748 auf S. 1–25, danach folgt eine Synopse der Erstausgabe mit den zehn späteren Auflagen. Vgl. auch die Ausgabe der Erstfassung von 1748 mit dem Anhang zur dritten Ausgabe von 1749. Hg. von Horst Stephan. Gießen 1908. Ausführlich zu Spalding s. Abschnitt 5. Anthony Ashley Cooper Shaftesbury: Soliloquy or Advice to an Author. London 1710; Clemens Schwaiger: Zur Frage nach den Quellen von Spaldings ›Die Bestimmung des Menschen‹. Ein ungelöstes Rätsel der Aufklärungsforschung. In: Die Bestimmung des Menschen. Hg. von Norbert Hinske. Aufklärung 11 (1996), S. 7–20, hier S. 11. Haller hat es in der Auflage von 1748 auf 1734 datiert. In: Albrecht von Hallers Gedichte. Hg. von Ludwig Hirzel. Frauenfeld 1882, S. 118–142. Albrecht von Haller: Unvollkommenes Gedicht über die Ewigkeit. In: Hallers Gedichte (s. Anm. 18), S. 150–154. Zu Hallers Prätexten vgl. Abschnitt 3. Ebd., V. 94–125.

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kennen.21 Lessing aber geht mit seinen Religionsskrupeln an die Öffentlichkeit, obwohl er doch auch seinen Generationenkonflikt, sein Bedürfnis nach Selbständigkeit und das Bestreben, sich von den Werten und Normen des Elternhauses zu lösen, in Briefen an den Vater durcharbeitet. Haller setzte im Unvollkommenem Gedicht über die Ewigkeit seine Hoffnung auf Einsicht, Selbstkritik und Selbstbeherrschung, die mit der intellektuellen und körperlichen Reifung wachse. Lessings lyrisches Ich ist dagegen skeptisch, ob mit zunehmendem Alter und wachsender Einsicht tatsächlich eine Wende zum Besseren erfolge.22 Dem Streben nach Wahrheit misstraut er ebenfalls: der Geist sei wenig göttlich, der nur irrt und sich im Wahn des Scheinwissens verrennt. Der menschliche Körper sei zwar ein mechanisches Wunderwerk, als welches ihn Haller ebenfalls (im zweiten Teil seines Gedichts Ueber den Ursprung des Uebels) schildert, aber in seiner Hinfälligkeit, der naturbedingten Anfälligkeit für scheußliche Krankheiten, zeuge er nur von »der Hand eines Stümpers«.23 Der Titel des Gedichtes beschwört den Vergleich mit Louis Racines Gedicht La Religion in sechs Gesängen herauf, das 1742 vollendet wurde.24 Im zweiten Gesang übergibt Racine die Rede an ein Ich, das auf der Suche nach Glaubensgewißheit Bücherwelten durchmißt und sich in Zweifeln verzehrt, deren methodische Funktion der Dichter in seinem Selbstkommentar allerdings betont und die in den folgenden Gesängen und in gelehrten »Notes« durchgearbeitet werden. Lessing regt die Leser zu einem Gedankenexperiment an, das er auch seinen Dichter auf dem Weg zur Gewißheit über sich selbst und seine Beziehung zu Gott machen läßt: »man setze alles was man weiß, als wüßte man es nicht, bei Seite; auf einmal ist man in einer undurchdringlichen Nacht.«25 Lessings Rat, man solle sich in die Einsamkeit zurückziehen und auf sich selbst besinnen, dann werde man undurchdringliche Nacht gewahr werden, setzt Blaise Pascals Beobachtung um, daß die meisten Menschen aus Furcht vor sich selbst die Einsamkeit flöhen und Zerstreuungen suchten, dafür aber einen teuren Preis bezahlten, den Mangel an Selbsterkenntnis.26

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Albrecht von Haller: Tagebuch seiner Beobachtungen über Schriftsteller und sich selbst. Zur Karakteristik der Philosophie und Religion dieses Mannes. 2. Bde. Hg. von Johann Georg Heinzmann. Bern 1787. Dazu Sibylle Schönborn: Das Buch der Seele. Tagebuchliteratur zwischen Aufklärung und Kunstperiode. Tübingen 1999. FA 2, S. 265, Z. 5. Ebd., Z. 30. Louis Racine: La Religion. Poeme. In: Œuvres Complètes. Tome I. Ndr. der Ausgabe Paris 1808. Genf 1969, S. 113–220, mit den »Notes du poème de la religion« S. 221–541. Stenzel verweist in seinem Kommentar zu Lessings Gedicht auf Racines Vorbild und die deutsche Übersetzung von 1744. In: FA 2, S. 902. Nisbet schließt aus den Anklängen an Racines Gedicht »La religion«, daß Lessing in seinem Gedicht eine traditionelle Pose annehme. Nisbet (s. Anm. 1), S. 155. Dazu ausführlich in Abschnitt 4. FA 2, S. 264, Z. 23ff. (Die Religion. Erster Gesang). Blaise Pascal: Pensées. Hg. von Charles-Marc des Granges: Pensées. Edition de Brunschvicg. Paris 1925, S. 104. (Kapitel III: Misères, Nr. 139). Vgl. Abschnitt 4.

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Die Selbsterforschung des poetischen Ichs werde also bis zu den Säuglingsjahren zurückgeführt, in denen jedes Bewußtsein von sich selbst noch fehle, jede Spur von Geist und Empfindung. Sobald der Geist rege werde und sich das Bewußtsein seiner selbst einstelle, finde das Ich »Laster« in sich gelegt, wohingegen die »Tugenden« »ein leerer Ton« zu sein scheinen.27 Keine Rede davon, daß, wie in Spaldings Meditation, die unangenehme Erfahrung der mahnenden Gewissensstimme uns dazu bringen würde, die Laster zu meiden; die »Besserungen« seien allein durch die »Veränderung unserer Säfte« bedingt. Der Hang zum »Übeltun« beherrsche die Weisesten wie den Pöbel, nur habe der fleißige Dichter dazu weniger Muße. Überall, wohin man blicke, finde man nur Laster und den Hang zu ihnen, nicht aber, wie Spalding glaubt, untrügliche Empfindungen, die uns auf natürlichem, direktem Wege zum tugendhaften Handeln bewegen. Mögen diese dem Ich in Spaldings Meditation eine Ahnung von einer weisen, gütigen Weltregierung vermitteln – in Lessings unglücklichem Dichter-Ich wecken sie nur »[m]arternde Zweifel«, ob seine deprimierende Neigung zum Laster von Gott gewollt sei. Während das Auskosten geistiger Genüsse Spaldings Ich rasch näher zur natürlichen Gotteserkenntnis bringt, verstärkt sich bei Lessings Dichter-Ich die Skepsis, ob denn »unser Geist« eine Spur göttlicher sei als der in den ersten Lebensjahren ganz von diesem entblößte Körper. Der Geist beschreite Irrwege, auf denen uns Wahn wie Wahrheit erscheine, während der Körper »abscheulicher Krankheiten« fähig ist, »die die Hand eines Stümpers verraten«. Ein junger Dichter werde einzig von Ruhmbegierde getrieben, also lasterhaften Motiven. Daher dürfe er sich glücklich preisen, nicht genügend »Zeit zum Übeltun» zu haben, da doch der Hang dazu unhintergehbar sei.28 Die Selbsterforschung am Leitfaden der Empfindungen und geheimen Neigungen führt zum Schluß, dieser Mensch sei »zu schlecht für einen Gott; zu gut fürs Ungefehr«.29 Am Ende wehrt der anonyme Herausgeber den möglichen Verdacht ab, hier äußere sich ein Skeptiker und Gottesleugner, indem er auf die demnächst folgenden Gesänge verweist. Das Versprechen, daß dort derlei »Einwürfe [...] widerlegt werden« und das in sich wahrgenommene »Elend selbst der Wegweiser zur Religion werden muß«, wird aber nie eingelöst werden – es sei denn, man sieht in der Hypothese am Ende der Erziehung des Menschengeschechts, daß »jeder einzelne Mensch« die umwegige Bahn durchlaufen müsse, auf der das Menschengeschlecht erst im Laufe vieler Jahrhunderte zur Vervollkommnung seines Vernunftbesitzes und -gebrauchs gelangen könne, eine Anknüpfung an die Selbsterkundungen des Zwanzigjährigen.30 Der Zugang zur Religion in den ersten fünf Versen des Gedichts ist externalistisch: Religion sei das, was dem Ungläubigen Anlaß zum Spott gibt, eine Geburt krankhafter Schwermut; sie stelle sich dem Abergläubischen in Gestalt 27 28 29 30

Diese und die folgenden Zitate aus der »Vorerinnerung zum ersten Gesang«. In: FA 2, S. 265. Ebd., S. 264f. Ebd., S. 265, Z. 33. FA 10, S. 98 (Die Erziehung des Menschengeschlechts, § 93).

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frommer Teufel dar. Religion sei nur für Gläubige ein Geschenk aus der Hand des Schöpfers, das den Menschen in seiner Schwäche »krönt«.31 Glaube sei Produkt der Furcht und Unwissenheit. Der Wunsch nach einer übernatürlichen Antwort auf die Frage nach dem »Wie?« sei für die einen »Irrlicht«, für andere »Leitstern«.32 Die unterschiedlichen Mutmaßungen der Gläubigen seien eine Quelle von Völkerbündnissen, ebenso aber von Streit, Krieg und Verwüstung, weil keine Einigkeit über das Wesen, die Manifestationen, Darstellungen und Verehrungsformen Gottes bestehe. Diesem ambivalenten Kulturphänomen in der Geschichte der Menschheit widmet der Dichter sein »rührend Lied«.33 Die Berufung auf die emotionale Ergriffenheit durch das »Feur«34 der Religion und der Wunsch, daß es auch auf den Geist übergreife, löst den Musenanruf des Messias-Sängers ab. Damit gibt Lessing zu verstehen, daß er mehr will als nur das dogmatisch begründete, in Katechismen vermittelte Heilsgeschehen infolge der Erlösung durch Christus den Herzen näherzubringen. Klopstock kommuniziert nur mit ohnehin schon gläubigen Christen und möchte ihrem Glauben durch erhabene kosmische Visionen das »Feur« der Begeisterung geben. Die Gefühle von Lessings Ich bilden mit dem »Geweb aus Laster, Fehl und Tugend«,35 in dem es seine »Jugend« abgespiegelt sieht, ein unentwirrbares psychisches Knäuel. Dieses Ich verspürt in sich widersprüchliche Regungen: es dürstet nach Wahrheit, mehr noch nach Ehre und Bestätigung, es sucht die Einsamkeit, um seinen »flüchtgen Geist« zu bannen und, aus Mangel an fremder Hilfe, sich selbst besser kennenzulernen.36 Das von Schwermut volle Herz sei taub und fühllos in der Nacht, hoffe aber auf »lauter Licht«.37 Den gänzlichen Mangel an Selbsteinsicht findet der Grübelnde erschütternd. Das Ich möchte an sich ausprobieren, in welcher Verfassung ein junger Mensch reif für die Wohltaten einer Religion sei. Der Krisenverlauf der Selbstbefragung suggeriert ihm, welche unzumutbaren Anforderungen er an Gott als Retter stellen müßte. Das Bedürfnis nach Religion als Trostmittel müßte der Einsicht entspringen, daß der Jugendliche in einem Netz moralischer Forderungen und innerer Triebe zum Laster verstrickt sei. Mit dem Wunsch nach radikaler Selbstvergewisserung, die Selbstentblößung in Kauf nehmen wird, schließt das Prooemium. Der nächste Abschnitt38 rechnet mit der »Schulweisheit [...] weiser Toren« ab, welche mehr zu wissen behaupten, als sie zu beweisen vermögen. Sie verabscheuten den Zweifel als methodisches Prinzip der Wahrheitssuche und sähen im Forschen nach Wahrheit nur Gefahren. Die weisen Toren häuften »Lügen« und seien auf ihre Verblendung stolz, »Natur und Geist und Gott [...]

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FA 2, S. 266, Z. 5. Ebd., Z. 14. Ebd., Z. 23. Ebd., Z. 24. Ebd., Z. 28. Ebd., Z. 29–34. Ebd., S. 266, Z. 36–S. 267, Z. 1. Ebd., S. 267, Z. 8–18.

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unverhüllet« vor sich liegen zu sehen. Vergnügen des Geistes zu entdecken, die Reizungen der Sinne zu überwinden und auf den Wogen wollüstiger Empfindungen Gott auf die Spur zu kommen – diesen Weg beschreitet Spaldings Ich. Es macht sich, folgt man Lessings Selbsterforschung, aber seine Sache zu leicht; denn was der Mensch sei und an Bösem vermöge, lasse sich nicht durch emotionale Selbsterfahrung, dank angeborenem ›moral sense‹, ausloten. Der Blick des Biologen schaffe ebenso wenig Klarheit, worauf die natürliche Folge von Werden und Vergehen, Geburt und Tod abzwecke, ob aus dem »Staub«, der vom Lebewesen übrig bleibt, »neues Leben«39 erwachse. Bevor das dichterische Ich nach seiner Identität sucht, fragt es nach der Besonderheit des Menschen im Vergleich mit anderen Lebewesen. Ob nach dem körperlichen Tod sich durch den Wink Gottes neues Leben daraus entwickeln wird, darauf gebe die Wissenschaft keine Antwort. Von halb Verstandenem, das mit der Stimme Gottes leichtfertig identifiziert werde, von Wahngebilden und einem »philosophisch Rasen«, das für die Wahrheit selbst gehalten werde und in dem der Schwärmer »verwegne Wunder denkt« (268, 4f.), befreit ein »böser Arzt«40 das Ich und stürzt es vollends ins Elend. Das Ich wünscht Belehrung, angesichts einer Situation, in der das Wissen über Vergangenheit und Zukunft verdunkelt sei und die Gegenwart statt Freude nur Leiden verheiße. Lessings Ich rekapituliert, vielleicht nach dem Vorbild Hallers und Racines, aber ausführlicher und umwegiger als diese,41 die Stationen früher Kindheit und allmählicher Reifung, während welcher »Neigung Sinn und Witz« »noch in finstern Banden«42 lagen. Für den jungen Dichter ist aber, anders als für Haller und Racine, keineswegs gewiß, ob sich aus dem Wesen, das in den ersten Lebensjahren nur körperlichen Regungen folge und nicht wisse, ob es für die eigene Mutter vielleicht »unbewußt [...] schon Lieb und Scheu«43 empfinde, jemals ein gesunder Geist entwickeln würde. Bevor der Mensch in der Lage sei, sich selbst zu empfinden und nach Erkenntnis über sich und die Welt zu streben – mit dieser Spätphase der Ich-Entwicklung hebt Spaldings Ich an –, vermittle ihm niemand, ob das Bündel körperlich-mechanischer Regungen einen Anspruch »auf den edlern Teil« der Gattung habe und ob sein Gehirn überhaupt »gedankenfähig« sei.44 Zäh und mühsam vollzieht sich der Spracherwerb; allmählich lernt der junge Mensch Selbstkontrolle.45 Während Tiere, »vom sichern Trieb regiert,« das für sie Bekömmliche anstrebten, verleiteten die Regungen des Bluts Jugendliche nur zu »Zeitvertreib«, »Müßiggehen« und »Spiel«.46 Kinder und Jugendliche handelten aus »Stolz, Ruhmsucht, Eigen-

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Ebd., Z. 31. Ebd., S. 268, Z. 9. Ebd., S. 268 Z. 20–S. 270, Z. 7. Ebd., S. 268, Z. 37. Ebd., Z. 34ff. Ebd., S. 269, Z. 5 und Z. 9. Ebd., Z. 11–23. Ebd., Z. 33f.

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sinn«,47 ohne Ahnung zu haben, daß diese Triebe lasterhaft seien. Sie verspürten gar keine Neigung zur Tugend, geschweige denn, wie Spalding meint, »Empfindungen der Güte und der Ordnung«. Erst recht sähen sie von selbst nicht ein, daß »in meinen Empfindungen Richtigkeit, in meinen Begierden Ordnung« herrsche, gar »eine Wollust [...], die über alles sinnliche Misvergnügen triumphiret«.48 Das Bild einer vom Laster beherrschten Seele des Jugendlichen, gänzlich ohne Unterscheidungsvermögen zwischen Gutem und Bösem49, ist von Luthers Anthropologie geprägt, wonach der Mensch, infolge der Erbsünde, von sich aus nichts anderes vermag als Böses zu tun und den Regungen zum Laster zu folgen. Die Natur führe ihn von sich aus nicht zur Tugend hin, behauptet Lessing im Einklang mit der Tradition von Luthers Abhandlung De servo arbitrio, im Gegensatz zu Hallers und Spaldings Anthropologie einer angeborenen Gewissensstimme. Nein, in der Seele dieses Ichs war das Kriterium, Gutes von Bösem zu unterscheiden, nicht von sich aus wirksam.50 Als das Bewußtsein davon erwachte, fühlte es sich schon »bestimmt« in seiner »Wahl zu fehlen«,51 ohne »Waffen« gegen diesen heimtückisch groß gezogenen Feind im eigenen Busen zu haben. Als freiwillige Präferenz des Lasters mag das lyrische Ich die unwillkürlichen Triebentscheidungen des Jugendlichen nicht werten. Die Erfahrung, die der Jugendliche durch Selbsterforschung macht, wurde von der orthodoxen Theologie als Folge der Erbsünde erklärt. Während Lessing im Gedichtfragment die Erbsündenlehre ausspart, stellt er sie in Die Erziehung des Menschengeschlechts direkt in Frage: Und die Lehre von der Erbsünde – Wie, wenn uns endlich alles überführte, daß der Mensch auf der ersten und niedrigsten Stufe seiner Menschheit, schlechterdings so Herr seiner Handlungen nicht sei, daß er moralischen Gesetzen folgen könne?52

Hier verlagert Lessing in die hypothetischen Anfänge der Gattungsgeschichte,53 was das Ich in Die Religion am Anfang seiner bewußten Existenz erfährt. Ein Sünden- und Schuldbewußtsein fehle; von der, nach Spalding so heilsamen und früh erfahrbaren, angeborenen Stimme des Gewissens ist im Gedichtfragment keine Rede. Erst wenn der Jugendliche in seiner Entwicklung so weit fort47 48

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Ebd., S. 270, Z. 6. Johann Joachim Spalding (s. Anm. 16), S. 80 und S. 98. (Die Bestimmung des Menschen). Vgl. auch den Nachdruck der Erstausgabe von Horst Stephan (s. Anm. 16), S. 20 und S. 21. FA 2, S. 270, Z. 13–17. Ebd., Z. 12f. Ebd., Z. 15. FA 10, S. 94 (§ 74). Isaac La Peyrère hat aufgrund seiner Lesart von Röm 5,13–14 den Prä-Adamiten die Fähigkeit abgesprochen, nach einem moralischen Gesetz zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können, das es vor Adams Übertretung des göttlichen Verbots noch gar nicht gegeben habe, und damit die Lehre der Erbsünde relativiert. Denn in der Zeit vor Verkündung des Gesetzes sei die Sünde zwar in der Welt gewesen, aber, solange es das Gesetz nicht gab, dem Sünder nicht angerechnet worden. Vgl. Richard H. Popkin: Isaac La Peyrère (1596–1676). His life, work and influence. Leiden 1987, S. 43–48.

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geschritten ist, daß er die »himmlische[n] Tugenden« kennt und nach ihnen zu »brennen« vermag, merkt er, daß das Laster ihn beherrscht, ohne daß er eine Wahl hätte.54 Ohne Verstandesnachhilfe wäre ein moralisches Gesetz nicht zu erkennen, geschweige denn, daß es zur Maxime des Handelns würde. Späte Reue evoziere zwar Tränen, habe aber keine Kraft, den »Geist« aus den »Banden« des Lasters zu befreien. Kann ein huldreicher Gott55 solch konträre Strebungen in eine Seele pflanzen? Kann dieser Gott das bestrafen, was er dem Menschen selbst zum Erbe gegeben hat und wogegen dieser als Lasterknecht wehrlos ist? Wer mag an einen Gott glauben, der »voller Rach, die Schwäche mir zur Schuld«56 anrechnet, mich für unverschuldete Vergehen haftbar macht? Dieses göttliche Wesen »straft die Lasterbrut, die es mir aufgedrungen«!57 Daß es außerdem wenige Erwählte gäbe, wie es Calvins Lehre von der doppelten Prädestination erklärte, kommt im Gedicht nicht in Betracht.58 Die Selbsterforschung der natürlichen Neigungen und Gefühle bringt auch das aufgeklärte Bild eines Schöpfers in Mißkredit, der alle Lebewesen und die ganze Welt als Optimum erschaffen haben soll.59 Selbstquälerisch wird die schmerzhafte Erfahrung des Widerspruchs zwischen Wollen und Können, Bewußtsein der Laster und Ahnung der Seelenstärke, die nötig wäre, sie zu fliehen, ausgekostet. Mit der Einsicht, bloße »Schlüsse haben nie das Bös in uns zerstört«,60 widerspricht der Dichter Spaldings Überlegungen, der aus den Erfahrungen des Mißvergnügens, des Ärgers und der Reue über Vergehen auf die Existenz eines moralischen Gefühls schließt. Es sucht vergeblich nach Auswegen aus diesem Labyrinth, in dem Gott als menschenverachtend erscheint. Es äussert den dunklen Verdacht, »Israels Verwirrer«61 hätten ihm mit ihrer »Weisheit« dieses anrüchige Gottesbild aufgedrängt. Ob dies eine Anspielung auf den Verfasser des Buchs Hiob ist? Oder greift Lessing hier Luthers Übersetzung von »conturbavit/ turbavit« aus der Vulgata in 1 Reg 18,17 auf? Achab wirft hier Elia vor, der Verwirrer Israels zu sein; dieser kontert: nicht er verwirre Israel, sondern Achab tue dies durch die Vermischung der heimischen Religion mit dem fremden Baalskult. Lessing lässt offen, wen er für die Verwirrer Israels hält, vielleicht beide, weil sie sich streiten. Diese Anspielung auf eine Formulierung im ersten Buch der Könige

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FA 2, S. 270, Z. 20–23. Ebd., S. 270, Z. 36–S. 271, Z. 1. Ebd., S. 271, Z. 1. Ebd., Z. 2. Jean Calvin: Institutio christianae religionis 1559. Hg. von Peter Barth und Wilhelm Niesel. In: Jean Calvin. Opera selecta. Vol. IV. München 1959. Hier besonders Buch III, Kapitel 21, S. 370, Z. 15 und S. 374, Z. 11–17. Siehe auch Ioannes Calvin: De aeterna Dei praedestinatione – De la predestination éternelle. Hg. von Wilhelm H. Neuser. Ioannis Calvini Opera omnia III, 1. Texte français établi par Olivier Fatio. Genf 1998, S. 20; Johannes Calvin: Von der ewigen Vorherbestimmung. Hg. und übersetzt von Wilhelm H. Neuser. Düsseldorf 1998, S. 8. FA 2, S. 271, Z. 6. Ebd., Z. 14. Ebd., Z. 14.

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und die Exemplifizierung, wie sich »Adams Fluch«62 auswirke, sind in Lessings Gedicht Die Religion die einzigen Indizien dafür, daß die Bibel Antworten auf die existentiellen Fragen des Ichs enthalten könnte. Wie verloren diese biblischen Anspielungen sind, merkt man, wenn man – mit dem biblischen Bildungswissen, das Lessing gerade nicht einspielt – die Ambiguität beider Genitive aufzulösen versucht.63 Da er die biblische Heilsgeschichte ausklammert, entfernt sich Lessing von Louis Racine, hat allerdings auch einen zu seiner Zeit schon berühmten Vorgänger: Johann Joachim Spalding. In der Einsamkeit möchte das Ich sein Herz erkunden. Lessings lyrisches Ich begnügt sich bloß mit der Hilfe »Begriffner Bücher« auf »Tisch und Tielen«.64 Rührend ist der Appell an das Herz, die tiefsten Falten, wo das Laster sich »schlau versteckt«, offenzulegen; »nur Gott und ich allein«65 sollen die Stimme des Herzens hören. Bücherwissen eröffnete ihm nicht den Zugang zu »Vergnügen des Geistes«, wie Spalding sie kennt, vielmehr verwirrten schwere Fremdsprachen den Grübelnden. Der »Altertümer Schutt« entfernte ihn von »Geschmack und Schönheit«.66 Der Rückblick, den das Ich auf seine Ausbildung in Sprachen, Altertumskunde, Rhetorik und Poesie wirft, ist deprimierend. Die »Dichtkunst«, die Gott ihm »zum letzten Anker« gegeben habe, sei »in Sturm und Nacht« völlig haltlos.67 Indem der Dichter sich an fremden Vorbildern orientierte, habe das Laster unbemerkt Besitz von ihm ergriffen. Das Ich gibt zu, von »Ruhmsucht«68 besessen zu sein: zwar erklärte es sie für »Raserei« und verlachte sie voller »Selbstbetrug«, währenddessen erhielt sie jedoch in ihrem »Hinterhalt«69 neue Nahrung. Das Ich habe in wahnsinniger Selbstüberschätzung Lob für seine Dichtung erwartet, während es doch hätte erkennen müssen, daß eine mangelhafte Ausbildung (»unversorgte Jugend«) es vom Weg zu »Wissenschaft und Tugend« und einem ehrwürdigen Amt abgehalten habe.70 Hat das Ich einmal bemerkt, daß ein Laster, die Ruhmsucht, im Hinterhalt lauert, hat es Grund, andere, ärgere Laster zu fürchten, weil es sie nicht zu erkennen vermag, besonders »Geiz und Neid«,71 die im Alter sich gern einschlichen. Während es in sich hineinhorcht, um die Triebkräfte seines Strebens und Handelns zu ergründen, gerät die Rede des lyrischen Ichs mehr und mehr außer Form: Die mühevolle Jagd nach Reimen wird durch Aposiopesen und

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Ebd., Z. 27. »Adams Fluch« ist als Verfluchung Adams (Genitivus obiectivus) durch den Herrn auflösbar (Gen 3,17). Stenzels Kommentar geht über diesen Nachweis auch nicht hinaus (FA 2, S. 906). FA 2, S. 272, Z. 13. Ebd., Z. 15 und Z. 21. Ebd., Z. 31–35. Ebd., S. 273, Z. 3f. Ebd., Z. 25. Ebd., S. 274, Z. 2. Ebd., Z. 6f. Ebd., Z. 27f.

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Correctiones vergegenwärtigt.72 Diese Redefiguren häufen sich, je klarer dem Ich wird, daß sein Gesang nur »ein leerer Ton« sei, den ihm »der innre Schalk, erhitzt nach fremder Ehre«, eingebe.73 Dem stolzen, auf soziale Distinktion Wert legenden Dichterling Marcus Bavus nachzueifern, der gold- und machtgierig und hartherzig gegen die Armen sei, findet der Dichter nicht beneidenswert.74 Neid entfache seinen Ehrgeiz, neue Lieder zu dichten und sieht nur von außen wie frommer Eifer aus. Neugier auf die verborgensten Regungen des Herzens75 verkehrt sich »in melancholisch Grauen«,76 angesichts der Ahnung, daß noch größere Übel im Seelen-»Schacht« lauerten und verdrängt würden.77 Das Ich erschrickt über die Vielzahl und die Abgründigkeit seiner Laster, die sich einer gewissenhaften »Mustrung« entziehen, und zieht aus der Selbsterforschung den Schluß, »daß ich sündige, und doch die Sünde hasse«.78 Die Weisen des Altertums unterschieden sich in nichts vom eigenen Ich; ihre von Altertumsforschern gepriesenen Tugenden seien sämtlich trügerisch und aufgesetzt. Ganz anders klang es in Lessings Fragment Über die Herrenhuter, wo Sokrates wegen seiner Ermahnung zur Selbsterforschung, in der gleichsam »Gott durch den Sokrates« sprach, vorteilhaft gegenüber modernen Weltweisen abschneidet.79 Lessings poetisches Fragment schließt mit einem ohnmächtigen abgetanen Appell an das eigene »Herz, schwarz wie der Mohr, und fleckigt wie der Panther«.80 Es möge sich vor der Lästerung hüten, Gott für den Schöpfer dieser Verunstaltung (Schwärze und Flecken) zu erklären. Lessings subjektive Begründung, wie ein von Lastern beherrschtes Ich nach den Wohltaten der Religion verlangt, kommt ohne christliche Mythologie aus. Der Schöpfergott und sein Gegenspieler Satan, Engel und Dämonen, Adams und Evas Sündenfall und Christi Kreuzestod werden nicht zur religiösen Stabilisierung des Ichs beschworen. Nur auf den vergeblichen Anstrengungen der Menschen »scheint Adams Fluch zu liegen«.81 Verbotsübertretung und Paradiesvertreibung werden angespielt, aber der Kausalzusammenhang mit der Frage, ob gottgewollte Sünde als Schuld anzurechnen sei, wird verdunkelt.82 Auch an der Hiob-Figur arbeitet sich das an Gottes Güte und Gerechtigkeit zweifelnde Ich nicht ab. Stattdessen spielt der Dichter auf die Büchse der Pandora an, durch die das Übel in die Welt gekommen sei.83 Die Verfehlung des

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Ebd., Z. 6–12. Ebd., S. 275, Z. 9–17 und Z. 24–29. Ebd., S. 274, Z. 24–36. Die Karikatur erinnert an Hallers Aufzählung verantwortungsloser Regenten mit römischem oder griechischem Namen in »Die verdorbenen Sitten« (1731). In: Albrecht von Hallers Gedichte (s. Anm. 18), V. 97–184. FA 2, S. 272, Z. 14. Ebd., S. 275, Z. 34. Ebd., Z. 35–38. Ebd., S. 276, Z. 6. Vgl. Röm 7,15. FA 1, S. 957 (Gedanken über die Herrenhuter, 1750). Jer 13,23. FA 2, S. 271, Z. 27. Ebd., S. 270, Z. 12–15 und S. 270, Z. 35–S. 271, Z. 5. Ebd., S. 276, Z. 30.

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Prometheus, seine Hybris, den Göttern das Feuer zu stehlen, steht zu diesem Strafmittel der Götter in gleichem Verhältnis wie der Sündenfall der ersten Menschen zur Vertreibung aus dem Paradies, »Adams Fluch« also. Die Zweifel an Gott als Schöpfer der schmerzlich gefühlten Unvollkommenheit sind die Schlussfolgerung aus der qualvollen Selbsterforschung. Lessing verweigert eine Lösung, wie sie Haller am Ende seines Gedichts Ueber den Ursprung des Uebels halbherzig erklärte – die Zuflucht zum irrationalen Glauben –, und mißachtet einen Trost, den er in Pope, ein Metaphysiker? mit Leibniz’ Formulierung als »Weltweisheit der Faulen« verspotten wird. Lessing vollzieht nicht wie Haller eine klare Trennung zwischen Wissen, das doch einmal an seine Grenze gelangt, epistemisch bedingtem Zweifel und Glauben an den unbeweisbaren Gott. Diese Trennung mochte nur solange überzeugen, wie der Forscherdrang auf ein metaphysisches Verständnis des Gesamtzusammenhangs zwischen der Unvollkommenheit der Menschen, der Mängel der Welt und ihrem Schöpfer abzweckte. Ein solches Verständnis geht Lessings lyrischem Ich ab. Für das Ich in Hallers Theodizee-Gedicht bleibt nach der Bankrotterklärung des Wissenkönnens allein der an sich unbegründbare Glaube. Lessings Ich kapituliert vor dem Abgrund, der sich bei der Selbsterforschung eröffnet, welche doch Spaldings Ich von selbst und direkt zur Idee von Religion führte. Statt durch Scheinschlüsse aus dem bloß Möglichen über das Scandalum der ererbten Sündhaftigkeit hinwegzutändeln, wie Johann Melchior Goeze 1748 Spalding vorwarf, stolpert Lessings Ich, sobald es Bewußtsein und Urteilsfähigkeit erlangt, über unhintergehbare Neigungen zum Laster. Wenn das Ich in den Schacht der Seele hinabsteigt und selbst Gegenstand der Wissbegierde ist, stockt es vor der Konsequenz, Gott zum Urheber seiner selbsterkannten Ur-Schlechtigkeit zu machen.

2 Leibniz’ Théodicée Lessing exzerpierte sich 1772/73 eine Begründung des Leibnizschen Optimismus »in wenigen Worten« und fand sie »vortrefflich«: »Tous les desordres particuliers sont redressés avec avantage dans le total, même en chaque monade«.84 Leibniz betreibt Metaphysik aus der Perspektive des Schöpfers. Das macht seine Theodizee – noch für die Versuche Bertrand Russells und Nicolas Reschers – so interessant, Gottes Präferenz für die existierende Welt aus vielen anderen möglichen Szenarios modallogisch, also dreiwertig, zu rekonstruieren. Leibniz liefert Gründe dafür, wieso Gott die reale Welt aus einer unendlichen Zahl möglicher Welten ausgewählt und sie mit Geschöpfen besiedelt hat, die mehr oder weniger unvollkommen, aber mit Freiheit zu handeln begabt sind. Leibniz will »was den Ursprung des Bösen in Ansehung Gottes anlanget«,

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Lessing: Einige Auszüge aus Leibnizens Schriften (aus dem Nachlaß). In: Gotthold Ephraim Lessing: Werke (s. Anm. 12), Bd. 8, S. 545.

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»seine Vollkommenheiten auf eine solche Art und Weise« verteidigen, »wodurch nicht weniger seine Heiligkeit, Gerechtigkeit und Güte, als seine Größe, Macht und Independenz, erhöhet wird. Es wird gezeiget, wie es möglich sey, daß alles von ihm abhänge, daß er bey allen Handlungen der Geschöpfe mitwirke, ja daß er die Geschöpfe alle Augenblicke erschaffe, und daß er dennoch nicht der Urheber der Sünde sey«.85 In den §§ 7–54 des ersten Teils charakterisiert Leibniz den Schöpfer als klugen Planer, der das Wahre erkennt, das Gute will und zu diesem Zweck den Menschen Willensfreiheit zubilligt. Leibniz nötigt seinen Lesern die theomorphe Perspektive auf. Danach verhält sich der Mensch und sein Wohnort nur wie »ein physischer Punkt« zum gesamten weitgehend unbekannten Universum. Es sei als ein »Ocean« zu betrachten, »darin die Flüsse aller seligen Creaturen sich ergießen; wenn sie in dem sichtbaren Weltgebäude, oder in der Sternenwelt zu ihrer Vollkommenheit gelangt sind.«86 Nicht ausgeschlossen sei, daß es dort irgendwo vollkommenere Wesen gebe, mit Rücksicht auf die der Schöpfer die irdischen Unvollkommenheiten in Kauf genommen hat – freilich aus uns uneinsichtigen Gründen, weil wir diese Wesen nicht kennen. Die nachdrückliche Unterscheidung der Leibnizschen Metaphysik von den philosophischen Aussagen in Alexander Popes Lehrgedicht Essay on Man, die Mendelssohn und Lessing 1755 anmahnten, läuft auf eine Rettung der Leibnizschen Theo-Philosophie eines allumfassenden kausal und teleologisch strukturierten Wirkungszusammenhangs in der real existierendenWelt hinaus.87 Leibniz’ Definitionen und Schlüsse gehen in ihrer begrifflichen Klarheit und Differenziertheit weit über das hinaus, was ein Gedicht mit der Illustration der These, »whatever is, is right« leisten konnte. Beide, Leibniz und Pope, stimmten allerdings in ihrer Entlastung Gottes vom Vorwurf überein, er habe das Übel gewollt; es sei indes unumgänglich aufgrund der Freiheit menschlicher Wahl und deswegen von Gott zugelassen worden.88 Indem Lessing jedes Gedicht als »eine vollkommene sinnliche Rede« definierte,89 befreite er den Dichter von der Verpflichtung, ein philosophisches System oder gar eine mit dem christlichen Dogma kompatible Metaphysik darzustellen. Das sei von Pope nicht zu fordern, und damit wäre auch er, Lessing, überfordert, wenn jemand die ergebnislosen Suchbewegungen seines lyrischen Ichs im Fragment Die Religion an einem 85

86 87 88 89

Hier und im folgenden gebe ich bei längeren Zitaten den Wortlaut der Gottschedschen Übersetzung wieder. Gottfried Wilhelm Freiherr von Leibniz: Theodicee. Das ist, Versuch von der Güte Gottes, Freyheit des Menschen und vom Ursprunge des Bösen. Übersetzt von Johann Christoph Gottsched. Hannover, Leipzig 41744, S. 28. Vgl. auch Buchenaus Übersetzung (s. Anm. 15), S. 17. Zu Gottscheds Leibniz-Übersetzung im Kontext der Bemühungen um eine deutsche Wissenschaftssprache vgl. Dietmar Till: Leibniz-Rezeption und Leibniz-Übersetzung im 18. Jahrhundert. In: Daphnis 31 (2002), S. 643–699; zur Qualität von Gottscheds Übersetzung von 1744 und ihrer Wirkung S. 681–684. Leibniz: Theodicee, Teil I, § 19. In Buchenaus Übersetzung (s. Anm. 15), S. 109, in Gottscheds Übersetzung (s. Anm. 84), S. 169. Bernhard Meyer: Lessing als Leibnizinterpret. Diss. Erlangen 1967, S. 49–81, hier S. 56. Ebd., S. 70. FA 3, S. 617 (Lessing und Moses Mendelssohn: Pope, ein Metaphysiker, S. 614–650).

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solchen Anspruch messen wollte. Die theozentrische Perspektive, die Leibniz für seinen Beweis sich aneignete, daß der Schöpfer – trotz allem, was uns als Übel erscheint, – die beste aller möglichen Welten geschaffen habe, ficht Lessings lyrisches Ich jedoch nicht an, weil es sich immer mehr von der Idee einer göttlichen Vorsehung zum Wohle der Menschen entfernt, je tiefer es in sich hineinhorcht, aber nichts als Triebkräfte zum Bösen findet. Eine rationale Entlastung des Schöpfers vom Vorwurf, Urheber des Bösen zu sein, findet das Ich bei seiner Suche nach Religion nicht.

3 Albrecht von Hallers Lehrdichtung Lessing und Albrecht von Haller seien von dem »gleichen speziellen philosophischen Zweifel« befallen gewesen, urteilt Karl Guthke. Beide äußern in den Gedichten, die um die Theodizee kreisen, den »Verdacht [...], daß der Herrgott ein Stümper oder ein Sadist sei«. Bei beiden erscheint der Sprung von der radikalen Skepsis zum gefühlsmäßigen Glauben wenig überzeugend. Um ihren Glauben steht es kritisch; sie werden beide mit ihren »Anfechtungen nicht mehr recht fertig«.90 Ich betone im folgenden eher die Unterschiede. Albrecht von Haller gibt der Reflexion Ueber den Ursprung des Uebels eine persönliche Note, indem sein lyrisches Ich die Aussicht vom Gurten, dem Berner Hausberg, aus betrachtet.91 Was sich ihm eröffnet, ist ein Gleichnis: Die Erde schwimmt grundlos im lichten Blau des Himmels. Die Schönheit dieser menschenfernen, Menschen nutzlosen Eis- und Gletscherwelt legt die Annahme nahe, daß die Welt »zu ihrer Bürger Glücke« gemacht sei und »ein allgemeines Wohl [...] die Natur« beseele (»alles trägt des höchsten Gutes Spur«). Mit der einbrechenden Dunkelheit verdüstert sich der Blick des Wanderers. Er sieht eine »innre Welt«, die »der Hölle gleich« sei, verseucht von physischem und moralischem Übel. Da machen sich nimmersatte Menschen gegenseitig das Leben schwer. Im ersten Buch des Gedichts malt Haller ein wenig erfreuliches Bild von der »Bosheit« des Menschen. Sein Geist betrügt ihn nur, die Vernunft vermag nicht, »[d]er Lüste wilde See« »mit dem leichten Kahn« zu steuern.92 Masslosigkeit und Unzufriedenheit seien »ein verdeckter Feind«, woraus unser »Unmuth« fließt:

90

91 92

Karl S. Guthke: Literarisches Leben im 18. Jahrhundert. München, Bern 1975, S. 122f. Thomas Kaufmann sieht in der religiösen Sozialisierung Hallers im reformierten Bern die Grundlage für seine bibelgestützte Frömmigkeit, die durch seine wissenschaftliche Karriere nicht beeinträchtigt worden sei und vor allem in den späten Polemiken gegen Voltaire und die »Freygeister« zum Ausdruck komme. Auf die religiösen Überzeugungen in Hallers Gedichten geht Kaufmann leider nicht ein. Thomas Kaufmann: Über Hallers Religion. Ein Versuch. In: Albrecht von Haller im Göttingen der Aufklärung. Hg. von Norbert Elsner und Nicolaas A. Rupke. Göttingen 2009, S. 307–379. Albrecht von Haller (s. Anm. 18), »Ueber den Ursprung des Uebels«, S. 118–142. Ebd., V. 74, V. 93–96.

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Barbara Mahlmann-Bauer Im Haß mit seinem Gott, mit sich selbst ohne Frieden, Von allem, was er liebt, auf immer abgeschieden, Gepresst von naher Qual, geschreckt von ferner Noth, Verflucht er ewig sich und hoffet keinen Tod.93

Der Befund ist so erschütternd, daß der Ausruf des Dichters an Hiob gemahnt: Wäre doch »der wüste Stoff« ewig »im öden Schlund« des Chaos unerschaffen geblieben! Gottes »Rathschluß«94 ist unbegreiflich. Daher begnügt sich der Lehrdichter mit der Spekulation über die abstrakte, unbegreifliche Güte eines Schöpfers, der unserer »Welt vor nichts den Vorzug« gegeben habe, aus Sehnsucht nach lebendiger Wärme sich ihm ähnliche Wesen geschaffen habe, um sie mit seiner ihm entströmenden Seligkeit beglücken zu können.95 Derartiges Spekulieren führe aber den Menschen auf Abwege, da ja Gott »von uns zu thun und nicht zu wissen« fordere. Seinen Willen kennen wir nur, insoweit wir wissen, daß wir die Laster fliehen sollen; ihn weiter zu erforschen, sei vergebens. Aber »stummer Glauben« sei angesichts der Gefahr zu irren keineswegs ausreichend. Verläßlicher als dieser sei die »Wahrheit«, deren Strahlkraft sich auf natürliche Weise durchsetze und deren Licht sich das lyrische Ich wünscht. Im zweiten Teil des Gedichts setzt Haller mit der poetischen Imagination der Welterschaffung Leibniz’ ersten Teil der Theodizee um, stattet aber den Schöpfer mit Gefühlen aus, da er ihm die Sehnsucht nach Wesen, die ihm gleichen und ihn preisen können, eingibt. Einsichtig wird als erstes die Erschaffung der »Geister-Welt«96 beschrieben, also der Engel, die tausende von Sinnen besitzen und daher Gottes Herrlichkeit besser als wir erkennen und empfinden könnten. Gott hat die Menschen mit Willensfreiheit ausgestattet, weil Gott »keinen Zwang« liebt und kein »Reich von Willen-losen Engeln«.97 Wäre »die Welt ein Uhrwerk, von fremdem Trieb beseelt«, gäbe es weder Tugenden noch Laster. Gott aber ziehe es vor, Wesen mit einem freien Willen auszustatten, die sich, durch die Sinne verführt, irren und das Falsche wählen können, anstatt Automaten zu erschaffen, die er beliebig dirigieren kann. Menschen seien ein »zweideutig Mittelding von Engeln und von Vieh«. Der Arzt und Psychologe liefert im folgenden eine anthropologische Begründung für den Sündenfall und seine Folgen. Der Mensch in seiner psycho-physischen Beschaffenheit hat zwei Triebe mitbekommen, den Selbsterhaltungs- und den Geselligkeitstrieb.98 Beider Nutzen für die Erhaltung der Art, die Gründung von Familien und Gesellschaften wird anerkannt, aber auch die Gefahren werden offengelegt, die in diesen beiden Erbgütern schlummern, nämlich übermäßige Selbstliebe und sinnliche Lust. Dem Irritabilitätsforscher eröffnet sich aus theomorpher Sicht ein besonderer Blick auf die Zweckmäßigkeit von Schmer93 94 95 96 97 98

Ebd., V. 115–118. Ebd., V. 125. Ebd., V. 133–136. Ebd., V. 21. Ebd., V. 33f. Ebd., V. 113f.

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zen, eine Quelle physischer Übel. Zwar streben wir danach, sie zu fliehen, aber einmal da, indizieren sie auf heilsame Weise, was Menschen um der Selbsterhaltung willen meiden sollten. Schmerz sei also »der bittre Trank, womit der Leib sich heilet«.99 Körperliche Schmerzen haben nach Haller ein seelisches Pendant. Auch das »Gewissen«100 sei im Menschen zum Zwecke der moralischen Selbsterhaltung eingepflanzt, ein Schutzmechanismus zur Vermeidung existenzgefährdender Laster. Medizinisch und psychologisch betrachtet, habe jede Kreatur dieselben Startbedingungen: einen empfindungs- und aktionsfähigen Körper und ein alertes Gewissen. Aber aufgrund der Knappheit aller Güter habe nicht jeder Mensch den gleichen Zugang zu ihnen. Dies schärfe Witz und Erfindungskraft. Daher kämen ungleiche Lebensbedingungen, Lebenspläne und Verwirklichungschancen zustande. Diese unterschiedlichen Zugänge zu Bequemlichkeiten und Gütern seien nur »Zierat«,101 gemessen am eingebornen Licht, nämlich dem Gewissen, an der »Natur Gebot« und den allen gleichermaßen eingeschriebenen sozialen Pflichten.102 Nach der Begründung, wie der Schöpfer für das Überleben der Menschen sorge und was zu ihrer Grundausstattung gehöre, schreitet Haller im dritten Teil zur Erklärung fort, wieso die beiden Grundtriebe uns eher zum Verderben ausschlügen als zum individuellen Heil. Der Selbsterhaltungstrieb degeneriere zur »Mordsucht«, zum Trieb, andere zu beherrschen, sie sich untertan zu machen und sie zu überleben. Der Trieb zu Wollust, Wohlleben und Üppigkeit entspringe aus dem Trieb, Schmerzen und Mühsal zu meiden. Übertrieben ins Maßlose gesteigert, wird gerade er aber zu einer kontraproduktiven Quelle von Schmerzen. Besonders fatal ist, daß Menschen, von den Trieben geleitet, diktatorisch die Stimmen von »Gewissen und Vernunft« ersticken, um das vernunftmäßig erkannte Übel abzuwehren. Ungleichheit und Elend, Verlust von Vertrauen und Selbstbestimmung resultieren erstens aus der krankhaften Überhandnahme des Strebens nach »Gold, Ehr und Wollust« – also des moralischen Übels – und zweitens aus der Knappheit an Ressourcen für alle, also dem physischen Mangel. Haller handelt abstrakt über das, was alle Menschen als Adamskinder auszeichnet, das Streben nach »Geld, Ehre, Wollust, Tand«,103 deren Genuß nur »des Verlusts Gefühl«104 zurücklassen. Der Arzt und Psychologe gelangt zur Einsicht, daß nur eine kleine Schar nach dem wahren Wert der Dinge urteilt und sich »ihre Pflicht zum Ziel von allen Thaten macht«.105 Das Übel aber überwiegt: »In allen Arten ist das Loos des guten kleiner, / Wo tausend gehn zur Qual, entrinnt zur Wohlfahrt einer«.106

99 100 101 102 103 104 105 106

Ebd., II, V. 178. Ebd., V. 181. Ebd., V. 205. Ebd., II, V. 207–212. Ebd., III, V. 145. Ebd., V. 148. Ebd., III, V. 164. Ebd., V. 173f.

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Angesichts dessen sei die Frage erlaubt, wie sich mit Gottes »Huld«107 die vielfältige menschliche »Qual«108 vertrage, ob den Vater das durch sie selbst verschuldete Elend seiner Kinder denn vergnüge und ob er nicht eine Welt hätte erschaffen können, die ganz ohne Übel auskäme.109 Typisch für Haller ist das Eingeständnis, daß Gottes huldvolle Wege den Menschen »verborgen« seien, ihn jedoch »keine Schuld«110 an ihrem Unglück treffe. Um die Rettung eines weisen, gerechten und schuldlosen Gottes zu rechtfertigen, greift Haller auf das Leibnizsche Argument zurück, wonach unsere Erde als »Punkt der Welt«111 vielleicht im gesamten »großen All zu der Vollkommenheit«112 diene.113 Hinzu kommt eine Spekulation, die auf Hallers reformierte Sozialisation hindeutet, von Lessing aber gemieden wird: »Vielleicht ersetzt das Glück vollkommener Erwählten / Den minder tiefen Grad der Schmerzen der Gequälten«.114 Trost schöpft der Dichter schließlich aus der Betrachtung der Zweckmäßigkeit der Schöpfung im Kleinen: wenn Gott für die Erhaltung der Raben sorgt,115 so wird er – a minori ad maius – auch »Menschen nicht verstoßen«,116 und dies verpflichte uns zur Dankbarkeit. Haller ist kein Theologe, sondern ein Zweifler, der seinen Glauben – gerade wegen seiner Kenntnis der Gebrechlichkeit von Körper und Seele – in einem Sprung retten will, da er mit seiner Suche nach Gründen für physische und moralische Unzulänglichkeiten an Grenzen stößt, nämlich den Glauben an den gerechten, allwissenden, allmächtigen, gütigen, weisen Gott.117 Erst im Angesicht des göttlichen Lichts werden die Geretteten »des Schicksals Buch« und »der Thaten Grund« verstehen und Gott »recht verehren« können.118 In der vierten Auflage seines Versuchs schweizerischer Gedichte distanzierte sich der selbstkritische Dichter von seinem Jugendwerk von 1733. Ein Freund habe ein Missfallen über das inkonsequente »Ende« ausgedrückt, es sei »zu kurz, zu abgebrochen und zu unvollständig«. Der Dichter entschuldigt sich jedoch mit dem Argument, das auch Lessing zugunsten von Pope anführen wird: »Ein Dichter ist kein Weltweiser, er malt und rührt und erweiset nicht.« Bei der Überarbeitung seiner Gedichte kam es Haller 1748 aber »unverantwortlich« vor, in seinem Lehrgedicht die Mittel der Erlösung verschwiegen zu

107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118

Ebd., V. 178 und V. 183. Ebd., V. 174 und V. 178. Ebd., V. 179–182. Ebd., V. 183f. Ebd., V. 199. Ebd., V. 200. Leibniz: Theodicee, Teil I, § 19. In Buchenaus Übersetzung (s. Anm. 15), S. 109, in Gottscheds Übersetzung (s. Anm. 84), S. 169. Albrecht von Haller (s. Anm. 18), »Ueber den Ursprung des Uebels«, drittes Buch, V. 193f., S. 141. Ps 147,9; Lk 12,24. Albrecht von Haller (s. Anm. 18), »Ueber den Ursprung des Uebels«, 3. Buch, V. 220f., S. 142. Ebd., V. 224–226. Ebd., V. 228–230.

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haben, welches Gott durch »die Menschwerdung Christi« »zum widerherstellen der Seelen angewandt« habe.119 Diese Einsicht zeugt von der Lektüre der ersten drei Gesänge von Klopstocks Messias, der Ankunft und Leiden des Erlösers zum Zentralgeschehen erhob, das aus schwindelerregender kosmisch-theozentrischer Perspektive geschildert wird. Könnte Hallers Gedicht Lessing zu seinem poetischen Fragment Die Religion angeregt haben? War der Schritt von Leibniz’ Theodizee zu Hallers Gedicht Ueber den Ursprung des Uebels einer, der von der theozentrischen zur anthropozentrischen Sicht führte, so konnte diese subjektive Wende Lessing aber nicht befriedigen. Hallers Blick auf den Menschen und seine triebmäßige Grundausstattung ist der des medizinischen und psychologischen Menschenkundlers. Die Reflexion über den Ursprung des Übels nimmt nicht vom Individuum ihren Ausgang, das arm oder krank ist und sich fragt, wieso es leiden müsse, andere aber nicht. Auch kehrt die Erklärung existierender Mängel in der Güterverteilung mithilfe der arttypischen Triebstruktur nie zu den Existenznöten des benachteiligten Individuums zurück. Hallers nur empirische, mit dem Wissen des Arztes und Menschenforschers begründete Expedition in das Reich des Menschen bleibt ohne direkte, praktische Folgen für ihren Glauben. Glaubensgewißheit läßt sich aus Hallers Bestandsaufnahme der conditio humana und ihrer Folgen, die Gott kannte, vorherwußte und nicht verhüten wollte, nicht herleiten. Gleichwohl flüchtet sich das Ich in den Glauben. Hallers Gedicht ist eine Frucht der Leibnizlektüre. Es beschreibt, wie es in Gottes Schöpfungsplan zur Erschaffung des Menschen als defizitäres Mittelding kommt. Er erklärt, wie aus der Kombination menschlicher Eigenschaften mit irdischen Orten, wo sich Menschen behaupten müssen, eine ungleiche Verteilung von Vor- und Nachteilen, mithin mehr oder weniger große physische und moralische Übel erwachsen. Aber der Dichter rechtfertigt nicht Gottes Handeln als Schöpfer, der viele notwendig existierende Übel in Kauf nimmt, und steht zu seinem Unvermögen als Gläubiger, dies zu können. Aufschlußreich ist Hallers Urteil über Leibniz’ Essai de Théodicée in seinen privaten Aufzeichnungen von 1729.120 Demnach sei auch Leibniz die »justification« missglückt, wenn auch seine Gründe für die unterschiedliche Verteilung von »Bien Physique« und »Mal Moral & Physique« sehr gut seien. Haller referiert die kosmische Begründung, wonach unser Planet nur ein Punkt im Universum sei, in dem es vielleicht »Mondes plus glorieux, que la notre« und »Genies plus parfaits« gebe. Aber dies ist nicht mehr als eine hypothetische, eigentlich sogar kontrafaktische Hypothese. Und was leistet sie nach Hallers Meinung? »Raisons tres bonnes dans leur genre, mais qui ne font qu’adoucir la condition de l’Univers sans la j u s t i f i e r . Aussi prend-il [Leibniz] recours à la Profondeur des Desseins de Dieu pour le justifier entierement.«121 Genau diese 119 120

121

Albrecht von Haller (s. Anm. 18), »Versuch schweizerischer Gedichte«, S. 119f. Albrecht von Haller: Libri recensiti annorum 1730–1732 (Bern, Burgerbibliothek: N Haller 62), fol. 73v–74v: »Essai de Theodicee de M. de Leibniz. Amsterdam 1720 (8. Oct. 1729)«. Ebd., Fol. 74v (Hervorhebung von mir).

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Funktion hat auch das Gedicht, es versüßt dem zweifelnden Leser die conditio humana und empfiehlt ihm zum Trost, eine Perspektive aus großer Höhe und Entfernung einzunehmen, wonach die Erde ein Punkt und a fortiori das individuelle Leben eine quantité negligeable sind. Nach den Reflexionen, die in drei aufeinander aufbauenden Teilen erfolgen, wendet sich das gläubige Ich vertrauensvoll an Gott mit dem Vergleich zwischen der Versorgung des Raben und der des Menschen. Hallers Schlußverse appellieren an den Glauben, machen aber vor der »justification« von Gottes undurchschaubarer Gerechtigkeit Halt. In Lessings Rollengedicht Die Religion werden die Lektüren des HallerGedichts sowie weiterer philosophischer Lehrgedichte der vierziger Jahre – Popes Essay on Man und Louis Racines La Religion – durch intertextuelle Markierungen transparent. Lessings lyrisches Ich betreibt in radikaler Introversion Gewissenserforschung. Im Essay Pope ein Metaphysiker! liefert Lessing nachträglich die Begründung dafür, wieso das Gedicht Die Religion ohne Lösung und Trost abbricht und gibt uns eine Idee, wieso er auf eine 1751 noch angekündigte Fortsetzung verzichtet hat und stattdessen dramatische Szenarien zur Erörterung der Theodizee-Frage bevorzugte. Was Alexander Pope in seinem poetischen Essay on Man angeblich nicht geschafft habe, das müsste sich auch der Lehrdichter Haller von Lessing und Mendelssohn vorhalten lassen. Der philosophische Anspruch einer Theodizee gehe weit über die Erklärungsleistung hinaus, die den Trostgründen des Volksglaubens zukommt. Wie hoch die Anforderungen an eine Theodizee nach Lessings und Mendelssohns Auffassung sind, wird in ihrer Schelte »der Weltweisheit der Faulen« deutlich. Mit der bequemen Ausrede »Gott hat es so haben wollen, und weil er es so hat haben wollen, muß es gut sein« gelange der Philosoph nie auf sicheren Boden.122 Hat aber Hallers Lehrgedicht am Ende mehr anzubieten? Die Frage ist nach Lessing und Mendelssohn, ob dies der Dichter überhaupt wollte, und ihre Antwort lautet: wohl nicht. Das Vorhaben, die Leibnizsche Metaphysik in ein System zu bringen, die conditio humana durch Abgrenzung von Engeln und Tieren zu begründen und die Theodizee sub specie Dei darzustellen, verträgt sich nicht mit dem, was Poesie als »vollkommene sinnliche Rede« leisten kann und will.123 Der Dichter baut keine metaphysischen Systeme, sondern gefällt sich in der Erschaffung einer Oberflächenstruktur, die den Leser gefangen nimmt. Er verwendet sein Genie auf die Wahl schöner Worte und Figuren, anstatt einen philosophischen Standpunkt mit Argumenten zu untermauern. Er argumentiert rhetorisch, mit Rücksicht auf den finis oratoris, die Kommunikationssituation und das eventuelle Lesepublikum, wird also einmal »mit dem Epikur« sprechen, »wo er die Wollust erheben will«, ein andermal eher »mit der Stoa, wo er die Tugend preisen soll«.124 Hier wehrt Lessing möglicherweise eine autobiographische Lesart seines Gedichtfragments ab und suggeriert, man möge es als Rollengedicht lesen. Misstrauen gegenüber

122 123 124

FA 3, S. 615 (Lessing und Moses Mendelssohn: Pope, ein Metaphysiker). Ebd., S. 617. Ebd., S. 620.

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dem Systemanspruch ist nach Lessings (und Mendelssohns) Argumentation angebracht, dem auch Haller durch die Dreiteilung seiner Reflexion Ueber den Ursprung des Uebels Nahrung gibt. Hallers Gedicht suggeriert nur Folgerichtigkeit, vermag aber nicht den Glauben »an Macht, an Gnad, an Weisheit« Gottes zu begründen.125 Überhaupt ziele ein Dichter eher darauf, »das sinnlich Schöne aus allen Systemen zusammen zu suchen, und sein Gedicht damit auszuschmücken, als sich selbst ein eignes System zu machen«.126 Haller erklärt die Neigung zum Bösen anthropologisch-psychologisch mit der Triebausstattung. Lessings Ich nimmt dagegen die Perspektive des Individuums ein, welches das Gute will, aber aus Ohnmacht der Vernunft das Böse tut. Da im Religionsfragment ein zwanzigjähriger spricht, gibt der Dichter praktisch Hallers Tableau von der Entwicklung des Menschen am Ende der Unvollkommenen Ode über die Ewigkeit recht. Das Ich hält hier Adoleszente für besonders gefährdet, weil sie Triebe in sich registrieren, die sie nicht zu beherrschen verstünden. Die unheimlich leichte Neigung zum Bösen diagnostiziert Lessings lyrisches Ich in sich, damit aber auch seine Gottferne. Was Haller in abstrakten Gedankengängen nicht vermag, den subjektiven Glauben und Gottvertrauen zu begründen, schafft auch der Sprecher in Die Religion nicht, nachdem er die vielfältige Motivation zum Laster in sich ausgelotet hat. Erst Lessings Dramenplan zu D. Faust könnte den Anspruch erheben, Leibniz’ Instrumentalisierung des Teufels im Schöpfungsganzen poetisch zu veranschaulichen.127 Das Gedicht Die Religion inszeniert die Zurücknahme von Hallers Versuch, den Ursprung des Übels poetisch zu begründen. Es ist eine Misstrauenserklärung an Leibniz’ Argumentation in der Theodizee, mit Verweis auf das nur für Gott einsehbare Totum die Unvollkommenheiten der Individuen darin zu beschönigen.

4 Louis Racines Gedicht La Religion und das Erbe Pascals Als Lessing 1753 das Fragment aus dem ersten Gesang Die Religion in seine erste Gesamtausgabe einfügte, behauptete er, sechs Gesänge »größtenteils [...] ausgearbeitet« zu haben. 128 Von ihnen erfahren wir weiter nichts. Lessing bekennt, daß ihm die Zeit zur Ausführung der sechs Gesänge gefehlt habe, »und vielleicht wird es [!] mir noch lange fehlen.«129 125

126 127 128 129

Alan Menhennet: Haller’s »Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben«: Structure and Mood. In: Forum for modern language studies 8, No. 2 (1972), S. 95–119. Dazu Barbara Mahlmann-Bauer: Albrecht von Haller. Satiriker auf den Spuren Voltaires und Swifts. In: Albrecht von Haller zum 300. Geburtstag. Themenheft Nr. 1 der Schweizer Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts. Hg. von Jean-Daniel Candaux, Alain Certuschi, Anett Lütteken und Jesko Reiling. Zürich 2008, S. 7–43, hier S. 23, Anm. 40. FA 3, S. 636. Vgl. Abschnitt 6. Zitiert im Kommentar zu »Die Religion« von Jürgen Stenzel. In: FA 2, S. 901. FA 2, S. 903 (Ausgabe von 1753).

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1742 war in Paris ein Gedicht mit dem gleichen Titel in sechs Gesängen erschienen. Es stammt von Louis Racine (1692–1763), dem jüngsten Sohn Jean Racines. Dieser ließ Louis bei Charles Rollin (1661–1741), seit 1699 Prinzipal des Collège de Beauvais, sorgfältig ausbilden. Sein Dichten mußte er vor der Mutter, die als Witwe mit bescheidenen Einkünften auskommen mußte, geheim halten, da sie argwöhnte, der Sohn eines großen Dichters könne unmöglich selber berühmt werden. Sie fürchtete, Dichten bringe, wie die Fortune des Vaters zeige, letztlich nichts ein. Also studierte Racine Jus, wurde Advokat, trat in den Orden der Oratorier von Notre-Dame des Vertus ein und dichtete in der Hut der Oratorier sein erstes Gedicht über die Gnade (La grâce).130 Dies sei ein ungewöhnlicher Weg für einen jungen Dichter, mit der »austère théologie« jansenistischer Prägung berühmt werden zu wollen, kommentiert sein Lobredner Charles Le Beau. Mit dieser aus vier Gesängen bestehenden Apologie der göttlichen Gnade eroberte sich Racine gleichwohl die Herzen derer, die schon seinen Vater verehrten. Er wurde Assistent beim Kanzler Henri-François d’Aguesseau (1668–1751) und fand bei ihm Muße zu dichten. 1719 wurde er mit 27 Jahren Mitglied der Académie des Belles-Lettres und wurde mit Hilfe des Kardinals André-Hercule de Fleury (1653–1743) auch in die Académie française aufgenommen. Als Inspektor der Landgüter des Königs in der Provence arbeitete er in seinen Mußestunden in Marseille an seinem Gedicht La Religion, übersetzte Miltons Paradise Lost und präparierte eine Werkausgabe und Biographie seines Vaters. Die Heirat mit der Tochter eines Sekretärs des Königs, Marie Presle, 1729 ermöglichte es ihm, sich den Studien zu widmen. Der Tod seines einzigen Sohnes während eines Aufenthaltes in Cadiz durch einen Tsunami, der vom Erdbeben in Lissabon im November 1755 ausgelöst wurde, brachte Racine aus dem Gleichgewicht. Zurückgezogen von der Welt, feilte er an seinen beiden Gedichten und pflegte seinen Blumengarten. Charles Le Beau schwärmt in seinem Eloge historique de M. Louis Racine (1763) von den Schönheiten des Gedichts La Religion und rühmt seine Qualitäten im Vergleich mit Vergil und Homer. Er lobt die von Milton inspirierten Schlußvisionen, worin Racine mit Moses, David und den Propheten konkurriere.131 Für Racine sei die geistliche Poesie eine Angelegenheit des Herzens, die Mysterien der Religion emotional nahebringen und zur Liebe Gottes begeistern möchte; von satirischer Raillerie in Versen halte er nichts. »Plus les objets sont grands, plus la poésie est digne de les décrire«; sie wisse aber auch »les plus petites choses« würdig zu malen.132 Die poetische Karriere Lessings nahm einen zu dieser entgegengesetzten Verlauf. Wurde Racine von Bewunderern seines Vaters protegiert und verschaffte er sich als Apologet der Gnadentheologie in der Tradition Augustins und Thomas poetische Anerkennung, mußte Lessing um seine intellektuelle

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Charles Le Beau: Eloge de Louis Racine. In: Louis Racine: Œuvres Complètes (s. Anm. 23), S. 1–14. Ebd., S. 7f. Louis Racine (s. Anm. 23), S. 49f. (Preface zu La Grâce).

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Anerkennung fern vom Elternhaus kämpfen und die Kritik seiner Eltern verkraften. Racine sieht in La grâce von subjektiven Urteilen über Gott, Kirche und Religion ab und stellt das Geschenk der Gnade durch die Geburt und das Leiden Christi nicht als persönliches Glaubenserlebnis dar, sondern als ein zu Dank und Liebe verpflichtendes Ergebnis der Heilsgeschichte, die aus dem Sündenfall der ersten Eltern entwickelt wird. Racine begreift seine poetische Rolle ähnlich wie Klopstock, wenn er erklärt, »Ce fils, l’unique espoir de l’humaine impuissanc,/ A défendre sa cause approuve mon ardeur;/ mais animant ma langue, échauffe aussi mon coeur.«133 Das persönliche Streben erhält seine Berechtigung durch das von Christus bewirkte Heil und die Lehrüberlieferung der Kirche. Der Dichter appelliert an das Herz, indem er die Wirkung der Gnade den Forderungen der Vernunft entgegenhält. Sein lyrisches Ich weiß sich aufgehoben im Urteil der Kirche über die falschen, blasphemischen Lehren Luthers und Calvins und verabscheut »cet horrible blasphême«.134 Trost verschafft es ihm, sich in den Schoß der Kirche zu flüchten und seine Hoffnung auf »Sainte Jérusalem, ô chère éternité« auszurichten, wenn es sich klar macht, daß jeder Mensch die Freiheit habe, die Gnade zurückzuweisen.135 Auch sein zweites Gedicht beginnt Racine mit einer Erklärung, er finde in der christlichen Religion alle Zeichen von Gewißheit, die er sich wünsche, und würde sich am liebsten ihr unterwerfen, wenn er nicht durch die »obscurité de ses mystères et par la sévérité de sa morale« abgeschreckt würde. Im Gedicht komme er zur trostreichen Einsicht, daß die christliche Moral mit den Bedürfnissen des Herzens konform gehe und die Religion ebenso liebenswert wie respekteinflössend sei.136 Der poetische Plan folgt einer Pensée von Pascal, die sich an die Verächter der Religion richtete. Diesen wolle Pascal zeigen, daß die Religion nicht der Vernunft entgegen sei, daß sie Verehrung verdiene, liebenswert sei und nicht nur den Wunsch wecke, sie möge wahr sein, sondern tatsächlich wahr sei.137 Er fordert die Leser auf, die sechs Gesänge als apologetischen Argumentationszusammenhang zu verstehen, wo der erste Gesang den zweiten zur Folge habe usf. Wenn er im zweiten Gesang ein Ich einführt, das auf der Suche nach Selbsterkenntnis und Gott sei, nachdem es in sich Widersprüche registriert und Anlässe zum Zweifeln entdeckt habe, weiß der Leser doch, daß dies eine Rolle ist, die der Dichter zum Zwecke der Demonstration der eingangs mit Pascal illustrierten Wahrheit annehme. Die Gefährdung des Ichs wird zur Probe vorgeführt, und der Dichter versichert selbst, daß sie vorübergehend sei. Lessing dagegen hat vor Die Religion sein Glaubensbekenntnis weder in Versen noch in Prosa offenbart. Dieses Fragment setzt im freien Fall ein, ohne daß der Leser weiß, von wem das bedrohte Ich gehalten oder aufgefangen werden könne. Dabei bringt er eine paradoxe Grund133 134 135 136 137

Ebd., S. 32 (La Grâce, chant I). Ebd., S. 55 (La Grâce, chant II). Ebd., S. 55f. Ebd., S. 115 (La Religion, Preface). Ebd. Die Quelle in: Pascal: Pensées (s. Anm. 25), chap. III. De la nécessité du pari, Nr. 187, S. 118.

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befindlichkeit zur Sprache, die dem Ich, auch wenn es christlich sozialisiert ist, den Glauben an die Perfektibilität der Gattung nimmt. Die Leichtigkeit, mit der auch der Tugendhafteste durch Ungunst der Umstände, Widrigkeiten des Schicksals, tragisch fallen kann, treibt noch den Dramatiker um, bis er in seinen theologischen Spätschriften das Dilemma zwischen gelehrten Studien, Tugendstreben und Hang zum Bösen wieder aufgreift und seine Lösung auf die Zukunft im Vernunftzeitalters verschieben wird. Aufgrund unterschiedlicher Startbedingungen mag dem jungen Dichterjournalisten die Selbstgefälligkeit aufreizend erschienen sein, mit der Louis Racine Selbstzweifel, Glaubensskepsis, Identitäts- und Berufskrise als bloßes »Problema«, wie das Wort von Lessings Patriarchen lauten wird,138 übungshalber darstellt. Racine begnügt sich mit der Rolle des bescheidenen »Versificateur«, der seinen Sinn darin sehe, Wahrheiten, die alle interessieren, leichter dem Gedächtnis einzudrücken.139 Der erste Gesang vollzieht den kosmologischen Gottesbeweis aus den Wundern der Natur und ihrer Harmonie nach, woraus man auf die Einheit des schöpferischen Plans schließen könne. Der zweite Gesang argumentiert aus der Sicht eines Jünglings, der reumütig auf die ersten Jahre seines Erwachsenendaseins zurückblickt und sein Heil in der Selbsterforschung sucht. Auf die Kindheit zurückblickend, vermag das Ich nur zu sehen, wie viel Zeit für die blosse Entwicklung der körperlichen Kräfte und sinnlichen Vermögen sowie für sinnlose, lächerliche Spiele vergeudet werde. Auch das Studium der modernen Naturphilosophie Newtons und Descartes bringe aufgrund ihrer Abstraktion und Spekulativität den Grübelnden persönlich nicht weiter. Er konsultiert Pope und Bayle und sucht bei Platon Auskunft über die Grundfragen seiner Existenz. Auch die antiken Dichter, Homer, Vergil und Lukrez, gewähren ihm keinen Trost. Er sucht nach Religion, findet aber nichts als wüste Dunkelheit und Ungewissheit. Als der Jüngling zu sich selbst kommt, wird er sich seiner existentiellen Verlassenheit in Worten bewusst, die an die in Blaise Pascals Pensées ergreifend dargestellte existentielle Verunsicherung erinnern: Je ne suis que mensonge, erreur, incertitude; Et de la vérité je fais ma seule étude. Tantôt le monde entier dans un profond silence A mes regards errans n’est plus qu’un vide immense. [...] Que d’orgueil! C’est ainsi qu’à moi-méme contraire, Monstre de vanité, prodige de misère, Je ne suis à la fois que néant et grandeur.140

Popes Maxime aus dem Essay on Man, daß alles gut sei, wird verspottet: Dies hält das lyrische Ich für ein trauriges Attribut eines schönen Schauspiels.141 Seine unordentlichen Verse und wirren Argumente sprächen dagegen. Pope könne ihm nichts zum Trost anbieten, wenn er sich von Gott vernachlässigt 138 139 140 141

FA 9, S. 580 (Nathan, IV, 2, V. 219). Louis Racine (s. Anm. 23), S. 122 (La Religion, Preface). Ebd., S. 144 (La Religion. Chant II, V. 67–72, 83–85). Ebd., S. 145.

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fühle: »Etre partout présent, quoique toujours caché, / Des maux de tes sujets quand seras-tu touché?« Die Aussicht, daß Gottes Güte den Unglücklichen eines Tages entschädigen werde, nütze dem unglücklichen Ich nichts. Der Gottlose zerstört ihm mit einem Referat materialistisch-atomistischer Philosophie die letzten Hoffnungen auf ein Weiterleben nach dem Tode. Der optimistische Rationalismus verheiße dem Suchenden ebenso wenig Orientierung wie die Lehre Epikurs, wonach Leben und Sterben des Menschen keinen höheren Zweck habe. Bei Lukrez und Epikur findet das Ich keinen Trost, sondern sehnt sich nach Aufklärung durch Vernunft. Auch die antiken und modernen Dichter verstärkten seine Gewißheit, daß sie mit ihren Fiktionen lediglich Bilder liefern könnten, so flüchtig und vorübergehend wie Funken und Dünste. Die Hoffnung, mit der doch der Gläubige sich trösten könne, daß unsere Seele für die Ewigkeit geschaffe sei, führe er auf seine vanité zurück. Die Glaubenswahrheiten erscheinen ihm zweifelhaft: Dans un corps, il est vrai, je suis emprisonné; Mais pour quel crime affreux y suis-je condamné? Cruellement puni sans me trouver coupable, Et toujours à moi-même énigme inconcevable. Qu’ai-je fait? Par pitié, raison, sois mon soutien: Réponds-moi. Mais, hélas, tu ne me dis plus rien!142

Zum Schluß werden Montaigne und Bayle aufgerufen, die unsere Zweifel nährten. Der Deist gebe sich mit der Vernunft zufrieden, die ihn allein aufkläre. Aber das Ich findet bei ihr kein Genügen und ruft ihm zu, »Tu la verras bientôt me conduire à la foi«.143 Dorthin also führen den Dichter die Zweifel und Widersprüche. Die Anmerkungen, die Racine seinem zweiten Gesang hinzugefügt hat, machen den Eindruck vollends zunichte, daß ein jugendliches Ich über seine Existenznöte spreche. Die kunstvoll versifizierten Zweifel und Wahnideen werden gewissenhaft als Lesefrüchte belegt. So stamme beispielsweise der Gedanke, »Je veux m’éterniser« von Saint-Evremond: »La preuve, dit-il, la plus sensible que j’aie trouvée de l’immortalité de l’âme, est le désir que j’ai de toujours être.«144 Die gelehrten Anmerkungen werden umso ausführlicher, je mehr in den Versen Anspielungen auf zeitgenössische Philosophen, Deisten, Materialisten und Atheisten aufgedeckt werden. Dagegen hält Racine in den Notes Kommentare von Pascal (»›Exclure la raison et n’admrettre que la raison‹ dit M. Pascal, ›sont deux excès également dangereux‹«) und Verse aus dem Anti-Lucretius des Kardinals Melchior de Polignac, in denen Spinoza widerlegt wird – ein Name, der im zweiten Gesang selbst nicht vorkommt. Die Notes entschärfen die Verse im Sinne einer nützlichen Gedankenübung im Philosophieunterricht.

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Ebd., S 153. Ebd., S. 58. Ebd., S. 151 und notes, S. 250.

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Von solch gelehrtem Unernst ist Lessings Fragment frei, und die Veröffentlichung dieses Fragments in der Gelehrtenbeilage einer Tageszeitung erscheint vergleichsweise riskant. Vielleicht eingedenk der Absicherungen Racines versichert jedoch auch der anonyme Herausgeber seinen Lesern, die vom lyrischen Ich vorgebrachten »Einwürfe« würden »in den folgenden Gesängen widerlegt werden«, dort erwiese sich das vom Ich erlebte »Elend« sogar als »Wegweiser zur Religion«.145 Pope hat sich übrigens gegen Racines Interpretation seines Essay on Man verwahrt. Er protestierte dagegen, daß Racine ihm »principes« zuschreibe, die er selbst verabscheue (»que j’abhorre«), und erklärte, sein Denken habe mit Pascal wesentlich mehr Gemeinsamkeiten als mit Leibniz oder Spinoza.146 Diese Beflissenheit könnte Lessing mit dazu veranlasst haben, in Pope ein Metaphysiker! Leibniz’ theologische Metaphysik von Popes poetisch vorgetragenem Optimismus zu trennen und aufzuwerten. Die Themen des Gedichtfragments, das Verlangen nach Selbsterkenntnis, das Bewußtsein, sich in einem Chaos widersprüchlicher Triebe zu verlieren, anstatt dort einen Halt zu finden, wo die Religion ankern könnte, das Mißtrauen gegenüber persönlichem Streben, aus Angst, all dieses sei von lasterhaften Trieben veranlaßt – diese Themen konnte Lessing, wie schon sein Vorgänger Louis Racine, in den Pensées Pascals finden. Hier einige Auszüge aus den Pensées, an die Lessings Verse anklingen: Selbsterkenntnis: Il faut se connaître soi-mème: quand cela ne servirait pas à trouver le vrai, cela au moins sert à régler sa vie [...]147

Gegensatz zwischen Schein und Sein, Selbstverblendung, Selbsttäuschung: Amour-propre. [...] il veut être grand, il se voit petit; il veut être heureux, et il se voit misérable; il veut être parfait, et il se voit plein d’imperfections. [...] il met tout son soin à couvrir ses défauts et aux autres et à soi-même [...].148

Anfälligkeit für Irrtümer: L’homme n’est qu’un sujet plein d’erreur [...]. Rien ne lui montre la vérité. Tout l’abuse; ces deux principes de vérités, la raison et les sens, outre qu’ils manquent chacun de sincérité, s’abusent réciproquement l’un l’autre.149

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FA 2, S. 265 (Die Religion). Lettre de Alexander Pope à M. Racine, London 1. September 1742. In: Louis Racine: Oeuvres I (s. Anm. 23), S. 444–447. Blaise Pascal: Pensées (s. Anm. 25), chap. II: »Misère de l’homme sans Dieu«, Nr. 66, S. 79; Lessing: Die Religion (s. Anm. 144), S. 266, V. 34 und S. 266, V. 36–S. 267, V. 3. Blaise Pascal: Pensées (s. Anm. 25), Misères Nr. 100, S. 96; Lessing: Die Religion (s. Anm. 144), S. 267, V. 10–18 und S. 270, V. 22–25. Blaise Pascal: Pensées (s. Anm. 25), Misères Nr. 83, S. 93; Lessing: Die Religion (s. Anm. 144), S. 267, V. 8–15.

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Unfähigkeit zur Erkenntnis: Car enfin, qu’est-ce que l’homme dans la nature? .. Infiniment éloigné de comprendre les extrèmes, la fin des choses et leur principe sont pour lui invinciblement cachés dans un secret impénétrable, également incapable de voir le néant d’où il est tiré, et l’infini où il est englouti. Que fera-t-il donc, sinon d’apercevoir [quelque] apparence du milieu des choses, dans un désespoir éternel de connaître ni leur principe ni leur fin?150

Der Mensch, ein Nichts: Car enfin, qu’est-ce que l’homme dans la nature? Un néant à l’égard de l’infini, un tout à l’égard du néant, un milieu entre rien et tout.151

Natürliche Neigung zum Selbstbetrug und zum Bösen: L’homme n’est donc que déguisement, que mensonge et hypocrisie, et en soi-mème et à l’égard des autres. Il ne veut donc pas qu’on lui dise la vérité. Il évite de la dire aux autres; et toutes ces dispositions, si éloignées de la justice et de la raison, ont une racine naturelle dans son coeur.152

Zerstreuungssucht und Furcht vor Einsamkeit und Rückzug in sich: Quand je m’y suis mis quelquefois à considérer les diverses agitations des hommes et les périls et les peines où ils s’exposent [...] d’où naissent tant de querelles, de passions, d’entreprises hardies et souvent mauvaises, etc., j’ai découvert que tout le malheur des hommes vient d’une seule chose, qui est de ne savoir pas demeurer en repos, dans une chambre.153

Verderbliche Ruhmsucht: La vanité est si ancrée dans le coeur de l’homme [...] les philosophes mêmes en veulent; et ceux qui écrivent contre veulent avoir la gloire d’avoir bien écrit; et ceux qui le lisent veulent avoir la gloire de l’avoir lu; et moi qui écris ceci, ai peut-être cette envie [...]. La gloire. L’admiration gâte tout dès l’enfance. O que cela est bien dit! O qu’il a bien fait, qu’il est sage, etc.154

Ist denkbar, daß sich Lessing direkt von Pascals Pensées zur Konzeption seines Rollengedichts anregen ließ und nicht nur auf dem Umweg über Racines Gedicht auf Pascals Pensées stiess? Louis Racine beruft sich mehrfach auf Pascal, wenn er betont, der Glaube sei Herzensangelegenheit, aber dabei der Vernunft nicht entgegengesetzt.155 Lessing könnte Pascals Pensées in der

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Blaise Pascal: Pensées (s. Anm. 25), Misères Nr. 72, S. 81f.; ähnlich auch Nr. 73 und 75, S. 83; Lessing: Die Religion (s. Anm. 144), S. 267, V. 22–30. Blaise Pascal: Pensées (s. Anm. 25), Misères Nr. 72, S. 81; Lessing: Die Religion (s. Anm. 144), S. 267, V. 26–30. Blaise Pascal: Pensées (s. Anm. 25), Misères Nr. 100, S. 98; Lessing: Die Religion (s. Anm. 144), S. 270, V. 10–21. Blaise Pascal: Pensées (s. Anm. 25), Misères Nr. 139, S. 104; Lessing: Die Religion (s. Anm. 144), S. 272, V. 6–12. Lessings Ich strebt gerade dorthin, wo es nach Pascal die wenigsten aushalten. Blaise Pascal: Pensées (s. Anm. 25), Misères Nr. 150 und 151, S. 112; Lessing: Die Religion (s. Anm. 144), S. 273, V. 25–29 und S. 274, V. 2f. Louis Racine (s. Anm. 23), S. 115 (Préface).

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Ausgabe von Pierre-Nicolas Desmolets 1728 gelesen haben.156 Er könnte sich die Pensées freilich auch durch die Brille Voltaire angeeignet haben, der im gleichen Jahr die Aphorismen, die ihm besonders misanthropisch erschienen, kommentierte und ihren Gehalt dekonstruierte.157 Da Lessings Gedicht abbricht, wissen wir nicht, wie er sich die geplante Widerlegung der »Einwürfe«, wonach der Mensch zu schlecht für einen Gott sei, vorstellte, ob er, braver, dem Muster Racines zu folgen gedachte oder, kecker, auf Voltaires Spuren wandeln wollte. Voltaire erklärte sich zum Anwalt der beleidigten Humanität gegen den erhabenen Misanthropen. So wie Pascal den Menschen an einem Tag, an dem er in schlechter Stimmung gewesen sei, charakterisiert habe, sei er nicht wirklich. Seine Karikatur betreffe nur einen kleinen Teil, denn die meisten seien weder so bösartig, noch so unglücklich, wie Pascal sie schildere.158 Im ersten Aphorismus, den Voltaire kommentiert, erklärt Pascal, was er von der veritablen Religion erwarte: sie gründe auf der vollständigen Kenntnis der menschlichen Natur, die zutiefst widersprüchlich sei, und ihre Aufgabe bestehe darin, uns zu erklären, »ce qu’elle [die menschliche Natur] a de grand & tout ce qu’elle a de misérable«. Die christliche Religion würde dieser Erwartung zweifellos besser gerecht als alle anderen, die man deswegen durchmustern könne. Er formuliert als rhetorische Frage, ob sie denn die Philosophen belehren könnte, die auf der Suche nach einem optimistischen Menschen- und Weltbild seien und »uns das Gute in uns als Grund für ein gutes Ganzes vorschlagen«.159 In den von Voltaire ausgewählten Pensées erscheint die Religion als Lückenbüßer für das, was Biologen, Anthropologen und Philosophen nicht zu erklären vermögen, die gegensätzlichen Strebungen der menschlichen Natur – oder als Trostpflaster. Lessings erklärter Plan, durch Selbsterforschung die unergründlichen Rätsel der menschlichen Natur aufzudecken und auf diesem Weg zu einer ordentlichen, gegründeten Beziehung zu Gott (nichts anderes heißt religio) zu gelangen, klingt, als würde er sich von Pascal leiten lassen. Voltaire lehnt diese Argumentation als unphilosophisch ab. Auch die griechische Mythologie liefere mythische Erklärungen für die Widersprüchlichkeiten der Menschennatur. Der 156

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Blaise Pascal: Oeuvres Posthumes, ou Suite des Pensées de M. Pascal, extraites du manuscrit de M. l’abbé Périer son neveu. In: [Pierre-Nicolas Desmolets:] Continuation des Mémoires de littérature et d’histoire. Bd. 5.2. Paris 1728, S. 271–331; Wilhelm SchmidtBiggemann: Blaise Pascal. München 1999, S. 147 und S. 160. Voltaire: Remarques sur les Pensées de M. Pascal. In: Collection complètes des oeuvres de M. de Voltaire. Première édition, Tome III. Paris 1756, S. 267–317. Nach dieser Ausgabe wird im folgenden zitiert. Eine moderne Übersetzung hat Karl Löwith vorgelegt. Voltaires Bemerkungen zu Pascal (1967). In: Karl Löwith: Aufsätze und Vorträge 1930–1970. Frankfurt 1971, S. 100–123. In der Berlinisch Privilegierten Zeitung vom 18. August 1753 wurde eine deutsche Übersetzung (von R. Rohde) eines Gedichts von Voltaire über Pascal rezensiert; diese Kritik, die vor allem die Holprigkeit der Vers-Übertragung rügt, wird Lessing zugeschrieben. Vgl. FA 3, S, 179f. Voltaire (s. Anm. 156), S. 268. In Löwiths Ausgabe (s. Anm. 156), S. 105. »Qu’on examine sur cela toutes les Religions du Monde, & qu’on voye, s’il y en a une autre que la Chrétienne, qui y satisfasse. Sera-ce celle qu’enseignaient les philosophes, qui nous proposent pour tout bien, un bien qui est en nous? Es-ce là le vrai bien?« Voltaire (s. Anm. 156), S. 267f. In Löwiths Ausgabe (s. Anm. 156), S. 106.

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Anspruch, diese zu erklären, sei kein Kriterium, um die wahre Religon von einer falschen zu unterscheiden. Die Religion eigne sich nicht als Lehrerin der Metaphysik. Philosophen ließen sich nicht von der Religion belehren. Nur wenn ein Philosoph aufhöre, Philosoph zu sein, werde er zum Propheten.160 Wenn schon die menschliche Natur unbegreiflich sein solle, werde sie nicht verständlicher, wenn man sie mit noch unbegreiflicheren Mythen und Mysterien erkläre. Im Kommentar zum dritten Aphorismus bringt Voltaire ein weiteres Argument gegen die Vermischung von Religion und Philosophie vor. Pascal begreift den »Abgrund der Erbsünde« als Weg zu einer Erklärung der Widersprüche in der menschlichen Natur. Ohne die Annahme der Erbsünde sei der Mensch unbegreiflicher als wenn man von der Idee eines ersten Sündenfalls ausgehe.161 Voltaires Antwort darauf lautet: Es sei unsinnig, etwas Unerforschtes, Unbekanntes durch noch Unbekannteres, Unerklärlicheres erklären zu wollen. Die Religion könne nicht der Philosophie auf die Sprünge helfen, hier sind nach Voltaire andere Wissenschaften gefordert, Biologie und Psychologie. Voltaire zählt, ähnlich wie Lessing in der poetischen Selbsterforschung, auf, welche biologisch-physiologischen Funktionen wir nicht erklären könnten: die Geburt, das Wachstum, die Verdauung, das Denken, das Zusammenspiel von Willen und dem Gehorsam der Muskeln. Wäre es nicht vernünftiger, die eigene Unwissenheit zu bekennen, als zur Erklärung noch tiefere Mysterien, die der Religion, bemühen zu wollen?162 Die Tatsache, daß Lessing den von Pascal empfohlenen Schritt zur Religion nicht vollzieht, ihn vielleicht nicht ›packt‹, könnte darauf hindeuten, daß er Voltaires Bedenken gegen Pascals Argumentation zugunsten einer Rettung der Religion teilte! Der Weg Pascals, den Voltaire nachzuvollziehen sucht, führt von den Rätseln der menschlichen Existenz zur Religion, in der es aber noch mehr Rätsel gibt, weil Gott durch Abwesenheit glänzt, weil er sich den Menschen nicht offenbart, sondern allenfalls die Israeliten in den Genuss einer direkten Kommunikation mit ihm kommen ließ. Boyle hat diese Begründung für das komplementäre Verhältnis zwischen Glauben und Vernunft und für die Superiorität der christlichen Religion als »argument from despair« bezeichnet. Der späte Lessing arbeite sich daran noch ab, aber auch bei Warburton und Voltaire könne man es finden.163

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Voltaire (s. Anm. 156), S. 268. Ebd. Ebd., S. 269. In Löwiths Ausgabe (s. Anm. 156), S. 106f. Nicolas Boyle: Pascal, Warburton, Lessing: The argument from despair. In: Nation und Gelehrtenpolitik. Lessing im europäischen Zusammenhang. Hg. von Wilfried Barner und Albert M. Reh. Sonderband des Lessing Yearbook. Detroit 1984, S. 239–247. Die Anhänger des Arguments »from despair« konjizieren aus der Vermutung, daß Gott in den Gang der Geschichte auf verborgene Weise eingreife, aber für die Menschen unerkennbar sei, daß seine Offenbarung nicht allen gleichermaßen zugänglich, sondern geheim sei. Dieses Argument hat folgende Form: Die Welt ist geprägt durch eine Abwesenheit Gottes. Die Annahme seiner Existenz ist aber intellektuell zwingend, gerade weil Gott sich nicht unserer Wahrnehmung offenbart, sondern sich dem Begreifen entzieht. Sein Wirken sei am ehesten ablesbar in der einzigartigen Geschichte des jüdischen Volkes und im Leben und Wirken Jesu. In der Geschichtsreflexion Pascals, Warburtons, Louis Racines und auch Les-

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Boyle vermutet, daß noch Lessings Erziehung des Menschengeschlechts von Pascals Version des Arguments »from despair« inspiriert sein könnte. Dort erprobt Lessing einen Schlüssel, um der indirekten Kommunikation zwischen Gott und dem Menschengeschlecht auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen auf die Spur zu kommen. Das Prinzip, welches die Entwicklungsgeschichte der Völker und ihrer Religionen zu leiten scheint, entlehnt Lessing aus der Pädagogik und schreibt Gott das Handeln eines Vaters zu, der Verständnis für den Entwicklungsstand seiner Kinder hat, aber doch ihre Fortschritte fördern will. Das Ich in Die Religion fühlt »despair« angesichts des Deus absconditus, der dem Sünder seine Schwäche als Schuld anrechne und »die Lasterbrut«, die er dem Menschen aufdringe, brutal bestrafe, ergreift aber nicht Pascals von Voltaire verurteilten Ausweg.

5 Spalding: Die Bestimmung des Menschen (1748) Johann Joachim Spalding (1717–1804) hat mit seiner ersten selbständigen Schrift Die Bestimmung des Menschen den Weg gezeigt, wie ein junger Mensch, der christlich sozialisiert wurde, bloß durch natürliche Antriebe und von seinem Erfahrungswissen ausgehend, ohne in die Bibel zu schauen oder sich an Katechismus- und Konfirmationsunterricht zu erinnern, zu den Prinzipien selbstverantwortlicher Lebensführung und Weltorientierung gelangen kann, die den meisten von Spaldings Zeitgenossen eher aus dem Religionsunterricht vertraut gewesen sein durften.164 Dieses »Erfolgsbuch«, von dem bis 1794 elf Auflagen erschienen, provozierte; es löste Streit und Diskussionen aus und machte Shaftesburys Moralphilosophie in Deutschland populär. Die Impulse, die von diesem Büchlein auf die »Karriere der philosophischen Anthropologie im 18. Jahrhundert« ausgingen, sind an der Kon-

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sings ist das jüdische Volk jeweils besonders herausgehoben. Er erscheint dem Historiker als exklusiver Träger und Empfänger von Fingerzeigen dieses verborgenen Gottes. Er habe es als sein Bundesvolk ausgezeichnet und mit Auserwählten wie Abraham und Mose direkt kommuniziert. Das Auftreten Jesu wurde und wird von Christgläubigen aber anders als von den Juden interpretiert. Die Christen glaubten an seine Verheißungen und leiteten aus seinem Wirken und Leiden den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele ab, während den Israeliten des Alten Testaments der Gedanke eines Weiterlebens nach dem Tode fremd sei. Spalding: Bestimmung des Menschen (1748), in: Spalding KA I,1 (s. Anm. 16) und Spalding: Bestimmung des Menschen (1748) nach der Ausgabe von Stephan (s. Anm. 16). Zum Vergleich ziehe ich auch die Ausgabe von 1774 heran, die, wie auch schon frühere, im Anhang einen Zusatz zur 3. Auflage von 1749 enthält, der auf Johann Melchior Goezes Kritik reagiert. Zur Übersicht der Ausgaben zu Lebzeiten Spaldings s. Beutels Einleitung in KA I,1 (s. Anm. 16) nach S. XLIX (Titelblätter der elf Auflagen). Zu Spalding s. Karl Aner: Die Theologie der Lessingzeit. Halle 1929, S. 79–82; Joseph Schollmeier: Johann Joachim Spalding: Ein Beitrag zur Theologie der Aufklärung. Gütersloh 1967, bes. S. 56– 69 und zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte S. 233.

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junktur der Leitvokabel ablesbar, die zu einer tragenden »Grundidee der deutschen Aufklärung« avancierte.165 Eine natürliche Ethik und Gesellschaftsbzw. Soziabilitätslehre wird in Form eines Selbstgesprächs entwickelt. Gestützt auf die Stimme des Gewissens, wendet sich das Ich von den sinnlichen Begierden wegen ihrer unvorhersehbaren, riskanten Folgen ab, strebt lieber nach »Vergnügen des Geistes«, entdeckt das »Wolgefallen oder Misfallen an Handlungen, die ich für anständig oder schändlich halte«, lernt die Gefühle von Scham und Reue kennen und verabscheuen und lernt so, rein aus innerer Neigung und vernünftiger Einsicht, Tugend, Ordnung und Gerechtigkeit zu schätzen. Die ersten Wörter nach dem Motto von Persius bilden den Protokollsatz »Ich sehe«, betonen mithin den subjektiven, empirischen Zugang zur existentiellen Frage nach der menschlichen Bestimmung.166 In späteren Auflagen erklärt Spalding, welcher Mensch »in dem Folgenden spricht«, nämlich einer, der »seiner ersten Erziehung die gewöhnlichen Grundsätze der Sittlichkeit und Religion zu danken gehabt« hat und der »das Wesentliche davon« in seinem Herzen zu fühlen vermag.167 Die Absage an die Verlockungen der »Sinnlichkeit« wird selbst hedonistisch begründet: Ekel, Überdruß, Schmerz und Krankheiten konditionieren mich zur Einsicht, das »Vergnügen der Sinne« so maßvoll zu genießen, daß ich »für seine schlimmen Früchte sicher bleibe«, den »Furien« nämlich, die mein »inwendiges zerreissen« würden.168 Umgekehrt wecken Richtigkeit der Empfindung, Ordnung der Begierden und selbstbeherrschtes, koordiniertes Handeln Gefühle der »Wollust in mir, die über alles sinnliche Misvergnügen triumphiret«.169 Die Vernunft werde also Dienerin der Empfindungen, indem sie mit diesen mich lehre, »die Ergetzungen dieses Lebens mit aller Fürsichtigkeit und Sorgfalt« zu genießen.170 Umwerfender Optimismus in Bezug auf die natürlichen Anlagen zu Mitleid, Mildtätigkeit, »Großmuth gegen die Feinde selbst«, Anständigkeit und den Mitmenschen nützliche Betätigung durchzieht Spaldings Meditation. »Scham« und »Reue«, »Verfolgungen einer inwendigen Anklage«,171 also die unläugbare, untrügliche Stimme des Gewissens, sind das Steuer, mit dem ich mich vor triebhaften 165

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Norbert Hinske: Eine antike Katechismusfrage. Zu einer Basisidee der Aufklärung. In: Norbert Hinske (s. Anm. 17), S. 3–6 und Clemens Schwaiger: Zur Frage nach den Quellen ebd., S. 7–19 sowie Giuseppe d’Alessandro: Die Wiederkehr eines Leitworts. Die »Bestimmung des Menschen« als theologische, anthropologische und geschichtsphilosophische Frage der deutschen Spätaufklärung. S. 21–48. Spalding: KA (s. Anm. 16), S. 1 und S. 308f. (Kommentar von Beutel). Das Persiuszitat begegnet schon bei Shaftesbury. Vgl. Clemens Schwaiger (s. Anm. 17), S. 13. Vgl. Persius: Satura III, 67. Ich zitiere die Stelle, die Spalding als Motto wählte, syntaktisch vollständig: »o miseri causas cognoscite rerum/ quid sumus et quidnam victuri gignimur [...]« (Unselige! Forschet nach Grund und Wesen der Dinge: was wir sind, und wozu wir ins Leben geboren [...]). In: Die Satiren des Persius. Lateinisch und deutsch. Hg. von Otto Seel. München 1950, S. 36f. Spalding: KA (s. Anm. 16), S. 1 und S. 39. Ebd., S. 4, Z. 19 und Z. 31f. Ebd., S. 10, Z. 26f. Ebd., S. 5, Z. 15 und Z. 21f. Ebd., S. 20f.

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Anfechtungen und rücksichtslosem Ausleben des Egoismus bewahren kann. Das Ich ist erleichtert darüber, »einen so ehrwürdigen Lehrer und Gesetzgeber an meinem Gewissen« zu haben, dessen »Sprache [...] sich ohne Unterlaß in dem innersten Grunde meiner Sele hören lässet« und Aufmerksamkeit, ja Gehorsam verdiene.172 Auf die »höhern und edlern Triebe meiner Sele« sei Verlaß; ich »erkenne, daß sie billig regieren müssen« und sich nicht »durch den Tumult der Leidenschaften und der eigennützigen Begierden« betäuben lassen.173 Durch die Betrachtung der Schönheit und Regelmäßigkeit im Reich der Natur kommt das Ich auf die »Vorstellung von einem Urbilde der Vollkommenheiten, von einer ursprünglichen Schönheit, von einer ersten und allgemeinen Quelle der Ordnung« und findet Gefallen an diesem Gedanken.174 Auf natürliche Weise wird sein Herz zu »Bewunderung, Ehrerbietung, und [...] Anbetung« eines »unendlichen Geist[s]« gestimmt, der alles gütig zum Wohle der Menschen regiere. Er schließt von der Ordnung im Kleinen, Überschaubaren auf eine der Erhaltung des Menschengeschlechts im Ganzen förderliche Ordnung. Die gleichsam in natürlicher Folge sich entwickelnden Überlegungen weiten sich ins Spekulative, Transzendente aus. Der Gedanke meiner »Kleinheit in der unermäßlichen Natur, und gegen die noch unermäßlichere Gottheit« erschreckt das Ich nicht nachhaltig. Unzweifelhaft müsse der »alles regierende Verstand [...] im Ganzen gut seyn«.175 Zuversicht und Geborgenheit stellen sich ein bei der – allerdings höchst gewagten, auf keinerlei Gewißheit gebauten – Erkenntnis der »Oberherrschaft einer unendlichen Liebe«176 und enden bei der sicheren Hoffnung auf Unsterblichkeit. Dieser Gedanke folgt aus der als gewiss angenommenen Hypothese einer den Menschen wohlgefälligen Weltordnung. Unter dieser Prämisse müsse, falls ein Mensch auf Erden nicht den vollen Genuß der Güter dieser Ordnung erhalte, sondern von Übeln geplagt werde, irgendwann und irgendwo einmal »ein besseres Verhältniß der Dinge da seyn, sollte ich dieß auch in seiner völligen Klarheit ausser dem Bezirk dieses Lebens zu suchen haben«.177 Die Hypothese, daß es ein ewiges Leben der Seele geben müsse, gründet Spalding allein auf die »unwandelbaren Regeln der Billigkeit«. Diese fordern, daß rechtschaffenes Handeln eine Belohnung verdiene. Es sei unschicklich, »daß Unschuld und Recht verdammet werde? Daß die Tugend unter Hunger und Blösse und Verachtung seufze [...] und daß hergegen Treulosigkeit und Mordsucht [...] die Lust und die Vortheile dieses Lebens an sich reissen«.178 Aus dieser Beobachtung folgert Spalding, daß, wenn nicht auf Erden, anderswo »ein jeder das erhält, was

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Ebd., S. 17, Z. 8–12. Ebd., S. 11, Z. 28 und S. 13, Z. 16f. Ebd., S. 15, Z. 19–21. Ebd., S. 16, Z. 14–16 und Z. 31–33. Ebd., S. 18, Z. 31f. Ebd., S. 20, Z. 8–10. Ebd., S. 19, Z. 19 und Z. 27–33.

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ihm zukömmt«.179 Erst »eine entfernte Folge von Zeiten« werde »die volle Ernte von der gegenwärtigen Saat [...] vermittelst einer allgemeinen richtigen Vergeltung« erhalten.180 Mit dieser durch kein Erfahrungsurteil gedeckten Spekulation vermag sich das Ich sogar über gegenwärtiges Unglück hinwegzutrösten. So viel Vertrauen auf höchst Zweifelhaftes, Transzendentes und Zukünftiges zu setzen, obwohl es sich meinen Sinnen vollständig entzieht, mußte dem, der – wie Lessings Ich – einmal Anlaß hat, an den von Spalding empfohlenen Selbstermächtigungs- und Selbstheilungskräften, somit an Gottes Existenz oder an der Heilswirkung von Christi Erlösungstat zu zweifeln, wie ein ungedeckter Blanko-Scheck vorkommen. Johann Melchior Goeze mißbilligte – in diesem Sinn – in seiner Rezension dieser Schrift (Halle 1748) Spaldings Schlüsse von bloßer Möglichkeit auf die Wirklichkeit. Durch die Beobachtungen der Veränderungen in der Seele mögen die einen auf deren Unsterblickeit schließen, gab Goeze zu bedenken. Mit gleichem Recht führten jedoch diese Tatbestände Voltaire zum genau entgegengesetzten Schluß.181 Goeze zweifelte, ob der Mensch tatsächlich die hochgesteckten sittlichen Forderungen, die Spalding aufgrund der jedem eingeborenen Stimme des Gewissens für erfüllbar hält, einlösen könne. Spalding mogele sich über das Problem der Sünde hinweg.182 Die Begeisterung für die Philosophie Shaftesburys183 mag Spalding zu seiner optimistischen Sicht hingerissen haben, daß der Mensch, wenn er nur auf sein Gewissen vertraue und sich an die peinigenden Gefühle von Scham und Reue erinnere, die durch böses, unrechtes Handeln entstünden, auf geradem Wege tugendhaft und glücklich werden könne. Shaftesbury gründete die Erkenntnisfähigkeit von Gut und Böse auf ein ursprüngliches Gefühl von Recht und Unrecht, ein angeborenes moralisches Gefühl. Dieses steuere menschliches Tun und Lassen in eine Richtung, die

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Ebd., S. 20, Z. 10 und Z. 30f. Ebd., S. 20, Z. 10f. und Z. 30f. [Johann Melchior Goeze:] Gedanken über die Betrachtung von der Bestimmun des Menschen in einem Sendschreiben entworfen von G. … nebst dem Abdruck gedachter Betrachtung selbst. Halle [zu Ostern] 1748, S. 9ff. Spalding war bekannt, von wem diese Rezension stammte. Goeze sei damals Pfarrer zu Aschersleben gewesen. Vgl. Johann Joachim Spaldings Lebensbeschreibung von ihm selbst aufgesetzt und hg. mit einem Zusatze von dessen Sohne Georg Ludewig Spalding. Halle 1804, S. 33. Der Hallenser Druck war mir im Original nicht zugänglich und wurde von Beutel in der KA (s. Anm. 16) leider nicht mit abgedruckt. Vgl. Beutels Einleitung in KA I,1 (s. Anm. 16), S. XXXV, Anm. 82 und XXXIXf.; Hans Nordmann: Spalding und seine Zeitgenossen. In: Jahrbuch für brandenburgische Kirchengeschichte 26 (1931), S. 100–120, hier S. 103. Goeze: Gedanken (s. Anm. 180), S. 18. (Nach Nordmann: Spalding und seine Zeitgenossen [s. Anm. 180], S. 103). Spalding hatte zwei wichtige Texte Shaftesburys 1746/47 übersetzt. Anthony Ashley Cooper Earl of Shaftesbury: Die Sittenlehre oder Erzählung philosophischer Gespräche, welche die Natur und die Tugend betreffen. Aus dem Englischen des Grafen von Shaftesbury übersetzt [von Johann Joachim Spalding]. Berlin 1745; Untersuchung über die Tugend. Aus dem Englischen des Grafen von Shaftesbury übersetzt [von J. J. Spalding]. Rostock 1747; Schollmeier (s. Anm. 163), S. 238 und S. 152–154.

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durch die Religion, die Annahme einer göttlichen Vorsehung, verstärkt werden könne.184 Goeze mag sich daran gestoßen haben, daß gemäß dieser Anthropologie Religion als »das nur Mögliche, Sekundäre, Erworbene« und nicht mehr an die biblische Offenbarung gebunden erscheint.185 Spalding leiste dem Eindruck Vorschub, »die Vernunft sei aus eigener Einsicht zur höchsten Religion fähig«; folglich könnte seine Bestimmung des Menschen von Kritikern des Christentums mißbraucht werden.186 Auf Goezes Vorwurf, die Erbsünde und deren Tilgung durch Christi Erlösungstod kämen bei Spalding nicht vor, entgegnet dieser im Anhang von 1749, er habe nur »die gerade Straße« zur wahren Bestimmung des Menschen aufzeigen wollen, nicht aber »Wege und Mittel [...], wodurch ein Verirrter wieder darauf zurück gebracht werden kann«.187 Goezes Kritik ist auf den 18. März 1748 datiert, mithin zwei Monate vor Spaldings Erstausgabe, seine Gedanken erschienen aber erst im Herbst 1748.188 Unbekannt ist, woher Goeze das Manuskript bekommen hat.189 Es ist anzunehmen, daß Lessing Spaldings Erstlingsschrift kannte,190 vielleicht sogar in Goezes unautorisierter Ausgabe (Halle 1748). Möglich ist auch, daß Lessing als Verantwortlicher für den Rezensionsteil der Berliner Privilegierten Zeitung die dritte Auflage (Berlin 1749) mit dem auf Goeze reagierenden Zusatz Spaldings – vielleicht auch die spätere Auflage von 1751 – gesehen und gelesen hat. Aus dem Brief an seinen Vater vom 30. Mai 1749 erfahren wir, daß Lessing die von den Eltern vermittelte »Xliche Religion« in Frage gestellt hat. Er wirbt beim Vater um Verständnis dafür, daß »der, der einmal klüglich gezweifelt hat, und durch den Weg der Untersuchung zur Überzeugung gelangt ist, oder sich wenigstens noch darzu zu gelangen bestrebet«, der bessere Christ sei als einer, der »in die Kirche geht, und alle Gebräuche mit macht, weil sie gewöhnlich sind«, ohne sie jedoch zu verstehen.191 Den Argwohn des Vaters, er sei ein Freigeist und nehme es mit den moralischen Forderungen nicht ernst, weist er empört von sich. Demnach befand er sich auf der Suche nach einer überzeugenden Begründung des christlichen Glaubens. In Die Erziehung des Menschengeschlechts wird er die Spekulationen über den Ursprung der Religion, ihr Verhältnis zur geoffenbarten Religion und die historische Wahrheit ihrer Zeugnisse als schickliche »Übungen des menschlichen Verstandes überhaupt« bezeichnen, die statthaft seien, »so lange das menschliche Herz über184 185 186

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Schollmeier (s. Anm. 163), S. 151f. Ebd., S. 152; Clemens Schwaiger (s. Anm. 17), S. 15, Anm. 40. Gerhard Freund: Theologie im Widerspruch. Die Lessing-Goeze-Kontroverse. Stuttgart, Berlin u. a. 1989, S. 124. Freund arbeitet heraus, inwieweit Goeze in dieser frühen Spalding-Kritik schon die Argumente vorbringt, um die es dann im Fragmentestreit mit Lessing geht (S. 124–129). Spalding: Bestimmung, Anhang bey der dritten Auflage (Berlin 1749). In Horst Stephans Edition (s. Anm. 16), S. 36. In: KA (s. Anm. 16), S. 215, Z. 14–16. Beutels Einleitung zur KA (s. Anm. 16), S. XXXVIf. Ernst-Peter Wieckenberg: Johan Melchior Goeze. Hamburg o.J. [2007], S. 87; Beutels Einleitung zur KA (s. Anm. 16), S. XXXVI. Auf diese Idee brachte mich Dr. Jesko Reiling (Bern), dem ich dafür herzlich danke. FA 11/1, S. 26 (Brief an Johann Gottfried Lessing, 30. Mai 1749).

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haupt, höchstens nur vermögend ist, die Tugend wegen ihrer ewigen glückseligen Folgen zu lieben.«192 Für den aber, der – wie Lessing – erklärtermaßen vom rechten Weg abirrte, in alle Richtungen suchte und seinen Verstand dabei üben wollte, hatte Spalding seine Meditation gar nicht geschrieben. Der bräuchte eine ganz andere Kost. Lessing aber wird 1780 noch darauf beharren, daß es nicht wahr sei, »daß die kürzeste Linie immer die gerade ist«, sondern die Schritte der Vorsehung uneinsehbar seien.193 Konnte Goeze mit seinem der Orthodoxie entsprechenden Verständnis von »Buße«, »Versöhnung mit Gott« und der »Kraft der Gnade«194 dem zwanzigjährigen Pfarrerssohn etwa Hilfe bieten, der betonte, er wolle die christliche Religion gerade nicht »von seinen Eltern auf Treue und Glaube annehmen«? Eine negative Antwort auf b e i d e Angebote zur Selbstvergewisserung über die eigene Bestimmung – sowohl das neologische Spaldings, der auf den moral sense vertraute, als auch das Goezes, der die traditionellen soteriologischen Trostmittel empfahl – enthält das Rollengedicht Die Religion. Die Selbsterforschung des lyrischen Ichs führt gerade zum entgegengesetzten Ergebnis im Vergleich zu Spalding, nämlich gerade nicht zur Gewißheit, daß es zur Tugendhaftigkeit und Gotteserkenntnis aus den Schöpfungswerken bestimmt sei; vielmehr entdeckt es im Grunde seines Herzens nichts als Antriebe zum Bösen: »Welcher Anblick! In dem ganzen Umfange des menschlichen Herzens nichts als Laster zu finden!« Ein junger Mensch, der Triebe in sich entdeckt und mit wechselnden Leidenschaften fertig werden muß, klimmt nicht so leicht die Stufen empor, die Spalding in seiner Meditation, von den Erfahrungen der »Sinnlichkeit« und dem »Vergnügen des Geistes« ausgehend, schnurstracks zu den Ideen der Religion und Unsterblichkeit nimmt. Mit seinem Rollengedicht hebelt Lessing das Ich in Spaldings Meditation als leichtgewichtiges Konstrukt aus, dem seine christliche Sozialisation in Kombination mit der Shaftesbury-Lektüre schneller, als es die Vernunft allein vermöge, auf die Sprünge hülfe. Lessings Ich ist in seinen Selbstzweifeln radikaler als Racines Ich im zweiten Gesang von La Religion und Spaldings Ich. Kernsätze, die den Widerspruch zwischen intellektueller Einsicht und unfreiem Willen betreffen, zielen vielleicht auf die Widerlegung von Spaldings intuitiven, induktiven Schlüssen: Die Laster kenn ich all, doch kann ich alle meiden? Hier hilft kein starker Geist, von Wissenschaft genährt, und Schlüsse haben nie das Bös in uns zerstört.195 […] Nichts hab ich mehr entdeckt, Wann ich auch eins vor eins, die Mustrung gehen lasse, Als daß ich sündige, und doch die Sünde hasse.196

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FA 10, S. 95 (Die Erziehung des Menschengeschlechts, § 79). Ebd., S. 97f. (§ 91). Dies sind die Begriffe Spaldings im Anhang von 1749. In der Ausgabe von Stephan (s. Anm. 16), S. 36. FA 2, S. 271, V. 12–14 (Die Religion). Ebd, S. 276, V. 6. Vgl. Röm 7,15.

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6 Ein Weg zum Faust-Drama und Leibniz’ Lösung Die öffentlich-publizistisch bekundete Identitätskrise des jungen Dichters 1751 hat zwei Tiefpunkte. Die Selbstbezichtigung macht nicht einmal vor der eigenen Fähigkeit zu dichten und dem hehren Plan Halt, mit der Dichtkunst das Leben zu fristen, ja, sich Ansehen zu erwerben. Dem Ich graust schließlich vor dem unwandelbaren Herzen. Es scheut jedoch am Ende davor zurück, Gott als Urheber der in sich entdeckten Lasterhaftigkeit zu bezichtigen. Von der Möglichkeit oder Hoffnung, daß diese Selbsterkenntnis auch zur tröstenden Einsicht ermächtigt, es müsse jemanden geben, der diese unverschuldete Schlechtigkeit wieder von ihm nehmen könnte, fehlt jede Spur. Damit begeht das Ich aber die Sünde wider den heiligen Geist197 und die Sünde Kains und des Judas,198 Sünden, für die der Doktor Faustus der Historia von 1587 seine ewige Verdammnis hinnehmen mußte, wie der anonyme Erzähler dieser Geschichte erklärt.199 Wenn aber keiner mehr angerufen wird oder werden kann, der sich zur Vergebung anböte, wenn ebenso jeder andere Weg zur Selbstheilung rigoros abgeschnitten erscheint, da die Motivation jeglichen eigenständigen Versuchs, sich zu rechtfertigen oder aus eigenen Stücken etwas zu leisten, sogleich als Aktualisierung des angeborenen, im Seelenschacht verkrochenen Lasters angesehen wird, ist der Schritt nicht mehr groß, den Dr. Faustus vollzog, um den Pakt mit dem Teufel zu schließen und von Gott abzufallen. Er ist in Lessings fragmentarischer Bearbeitung der Faust-Geschichte ebenfalls motiviert durch den Überdruß am Schulwissen und der Sucht, darüber hinauszugelangen, um in verborgenen Tiefen die Wahrheit zu ergründen. Die Beschwörung des Teufels im ersten Auftritt des ersten Aufzugs ist – für die Leser dieses Dramenfragments erkennbar – Resultat einer planmäßigen Attacke von sieben Teufeln im Wettstreit auf die Seele des Faust.200 Dieser erscheint dem dritten Teufel, der besser als seine beiden Rivalen die Technik beherrscht, die Seele seines Opfers zu verderben, als dankbares Opfer wegen seiner unstillbaren Wißbegierde: »Zu viel Wißbegierde ist ein Fehler; und aus einem Fehler können alle Laster entspringen, wenn man ihm zu sehr nachhänget«, räsonniert dieser Teufel. Er weiß genau, an welchem Punkt eines durch unablässiges, vergebliches Forschen mürbe gemachten Ichs er am wirkungsvollsten ansetzen muß, um es zu verführen.201 Das frustrierte Ich zaudert in Lessings Gedicht vor dem Schritt, schlimmer als Hiob mit Gott zu rechten und ihn anzuklagen. Die Konsequenz, die unter anderen noch Leibniz erwägt, nämlich den Teufel hier zur Entlastung Gottes ins

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Röm 7,24–25. Gen 4,13; Mt 27,3–5. Historia von D. Johann Fausten. Hg. und kommentiert von Stephan Füssel und HansJoachim Kreutzer. Stuttgart 1988, Kapitel 16, 64 und 68, außerdem S. 36, S. 114 und S. 121. Lessing: D. Faust, II, 3. In: Lessing. D. Faust. Hg. von Karl S. Guthke. Stuttgart 1968, S. 8; auch in: FA 4, S. 63. FA 4, S. 59 (D. Faust, I,1).

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Spiel zu bringen, zieht das Ich aber auch nicht. Der Autor eines neuen FaustDramas phantasiert sie indes in Ansätzen aus. Gerade aufgrund seines Drangs, der Wahrheit auf den Grund zu kommen und der Bereitschaft, über die angelernten Schulmethoden hinauszukommen, wird Dr. Faust zum Opfer teuflischer Verführung, deren Werk er freilich durch seine gelungene Teufelsbeschwörung seiner eigenen Kunst zuschreibt. Was auf der Bühne aussieht wie eine Teufelsbeschwörung, nach welcher ein Geist erscheint, der den Gelehrten anspricht, ist nach dem Arrangement des Autors, das am Hiob-Prolog Maß nimmt, längst als Verführungsstrategie verabredet. Diese Verabredung erweist sich später gar als Schachzug Gottes, Faust zu schrecken. Die Teufelsvision erweist sich als Disziplinierungsmittel, das Gott benutzt, um ihn auf die Probe zu stellen. Analog auf die Selbsterforschung des Ichs in Die Religion angewandt, wäre diese das Resultat einer in jedem Fall nicht durch das Ich verschuldeten Attacke eines Teufels, der vom Ich als unausrottbares, unhintergehbares Laster hinter all seinem Tun diagnostiziert wird. Wäre das wißbegierige Ich ebenso zu retten wie der grenzenlos wissensdurstige Faust nach Lessings mutmaßlichem Plan, müßte es zur Einsicht reifen, daß seine Selbsterforschung bis zur äußersten Verzweiflung gerade von Gott angezettelt sei, in der wohlwollenden Absicht, es zu warnen und zur Umkehr zu bringen. Faust wähnt sich so mächtig zu sein, daß er glaubt, Teufel beschwören zu können, während der Zuschauer weiß, daß die Teufel ihn planmäßig verführen. Später wird er darüber belehrt, daß diese Teufelei ihrerseits von Gott, dem Herrn, in Gang gesetzt worden ist. Der FaustDichter befreit also seine Figur von der Last, eigenmächtig den Teufel beschworen zu haben, weil dieser den ihm bekannten Trieb Fausts, die Wahrheit auf unkonventionelle Weise auszuloten, schlau ausgenutzt hat, aber selbst – nolens oder volens – in höherem Auftrag gehandelt hat. Vielleicht ist der Entwurf eines Rollen-Ichs, welches den Tiefpunkt seiner Selbstvergewisserung, einen Höhepunkt des unbedingten Wissensdrangs, erreicht hat, die eigene Identität und das Können in Frage stellt und an Gottes Gerechtigkeit zweifelt, nur ein erster Schritt zur Konzeption des Faust-Dramas als Schauspiel eines Ausnahmemenschen, mit dem Gott, vermöge seiner teuflischen Knechte, ein besonderes Prüfungsspiel anstellt. Nicht die Religion in ihrer anfangs ausgemalten Ambivalenz – eine Falle für Abergläubische und eine Krönung für Glaubensfeste zu sein – steht in dem Fragment zur Diskussion, sondern das Ich forscht nach der Quelle seiner Neigung, das Laster anstelle der Tugend zu bevorzugen. Es begnügt sich weder mit der Identifizierung eines Gottes oder Teufels als Urheber des in sich erkannten Lasters, sondern erkennt nach Aufdeckung einer Triebfeder des Lasters nur weitere, schlimmere im Seelenschacht verborgene Lasterquellen, ohne an ein Ende zu kommen. Lessings Faust-Plan setzt dort ein, wo das Fragment Die Religion abbricht, nämlich mit der moralischen Entlastung des Ausnahmemenschen und der Projektion seiner Schuld auf drei Teufel. Hinter der Motivation der Teufel, ausgerechnet den Doktor Faust zu verführen, steckt zudem das Anliegen eines fürsorglichen Gottes, diesen besonderen »Knecht« schrecken zu wollen, um ihn durch eine solche Prüfung zum Widerstand gegen teuflische Verführung fit zu

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machen. Das Faust-Drama entwirft mithin, so scheint es, eine »Rettung« des Ich durch die Expropriation (d. h. die Aussiedlung) des Lasters und die Funktionalisierung der Teufel im Spiel des göttlichen Planers mit besonders begabten, gleichzeitig aber auch gefährdeten Subjekten wie Faust. Der Teufel ist in dieser besten Welt ein agent provocateur, auf den die Freiheit, das Böse zu wählen, projiziert wird. Diese Rettung, zu welcher das Ich am Ende des poetischen Religionsfragments noch nicht gelangt, kann sich auf eine Passage im dritten Teil der Leibnizschen Theodizee berufen, wo die biblische Existenzbegründung der Teufel rational rekonstruiert wird. Der Teufel vermag erstens als »Vater der Bosheit« den Verdacht von Gott zu nehmen, selber Urheber des Bösen zu sein. Zweitens kann er den Menschen an dem Punkt, wo er frei ist, angreifen, um ihn zu verführen. Nicht das bodenlos lasterhafte Ich ist der Mörder der Vorstellung eines gütigen, gerechten Gottes, sondern der Teufel ist, so Leibniz, »Mörder vom Anfange« und wurde dafür mit dem Sturz in die Finsternis bestraft.202 Daß die Anklage Gottes ein Fehlschluss wäre, scheint das Ich in Die Religion zu befürchten. Auch Leibniz will Gott davor behüten. Im dritten Teil der Théodicée sucht Leibniz »den Ursprung des Bösen in der Freiheit der Creaturen«.203 Adam und Eva haben freiwillig gesündigt, wenn auch der Teufel sie dazu verführt hat. Die Vorgeschichte, die biblische Schriftsteller erzählen, um die Bedingung der Möglichkeit des Sündenfalls und der Erbsünde zu erklären, gibt Leibniz folendermaßen wieder: Die gefallenen Engel seien verantwortlich für die erste Schlechtigkeit, denn die Teufel sündigten von Beginn an, und Christus mußte kommen, um die Werke des Teufels zu zerstören.204 »Der Teufel ist ein Mörder vom Anfange, und ist nicht bestanden in der Wahrheit«.205 Daher habe Gott die Teufel in die Hölle hinabgestürzt, wo sie bis zum Gericht ausharren müssen.206 Die Funktion von Apk 12,7–8 sei, »sowohl den alten Fall des ersten Feindes, als auch einen neuen Fall eines neuen Feindes, zugleich andeuten« zu wollen.207 Nun stamme die Bosheit aus dem Wesen des Teufels, nämlich seinem Willen. Ein solches Wesen werde gebraucht, um zu erklären, wie »in dem Buche der ewigen Wahrheiten, welches noch vor allen Rathschlüssen Gottes die möglichen Dinge in sich enthielt, geschrieben stand, diese Creatur würde sich frey zum Bösen lenken, wenn sie würde geschaffen seyn. Eben so ist es auch mit Eva und Adam; denn ob sie zwar der Teufel verführet hat, so haben sie doch freywillig gesündiget«.208 Wer dies getan habe, also dem Teufel gefolgt sei, werde von Gott im Stich gelassen. Er entziehe dem Sünder

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Vgl. Joh 8,44. Leibniz: Theodicee (s. Anm. 84) S. 483. Auch die moderne Übersetzung Buchenaus sei hier zitiert (s. Anm. 15), 3. Teil, §§ 273–279, S. 310–313, hier S. 310. Vgl. 1 Joh 3,8. Leibniz (s. Anm. 84), § 273, S. 483; Buchenau (s. Anm. 15) übersetzt »Mörder seit Urbeginn«, S. 310. Vgl. Joh 8,44. Vgl. 2 Petr 2,4. Leibniz (s. Anm. 84), § 274, S. 484; bei Buchenau (s. Anm. 15), S. 311. Leibniz (s. Anm. 84), S. 484; bei Buchenau (s. Anm. 15), S. 311.

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seine Gnade, ohne sie ihm jemals geschuldet zu haben. Der Teufel ist eine Projektion, ein Instrument, welches sich zwischen den Schöpfer und seine Geschöpfe placiert und den Willen des Schöpfers ausführt, wenn seine Geschöpfe ihre Freiheit zu sündigen wahrnehmen. Leibniz versucht, die Bibelstellen, die vom Wirken Satans sprechen und den Ursprung des Bösen mit dem Mythos des Engelsturzes erklären, in Einklang mit seiner Auffassung zu bringen, daß die ersten Menschen sich frei für die Sünde entschieden haben und genau diese »das ganze Universum umfassende Kombination« der Umstände, die sie zur Übertretung des Verbots getrieben habe, aus Sicht des allwissenden Schöpfers die für das Ganze beste gewesen sei.209 Dort, wo in der Bibel vom Teufel mit seiner perfiden Kunst die Rede ist, erscheint er wie eine Hypostasierung der gottgewollten menschlichen »Freiheit« zur Sünde. Diese wollte Gott nur z u l a s s e n ; das Verbrechen sei »nur conditio sine qua non«, nicht aber Gegenstand göttlichen Wollens. Gott habe also das menschliche Verbrechen geduldet und dulden müssen, ohne gegen seine Bestimmung zu handeln oder die Regel vom Besten zu verletzen.210 In §§ 275ff. referiert Leibniz Bibelstellen, die seiner Deutung entgegenkommen, wonach ein Mittler zwischen Gott und Menschen diese zum Bösen anstachele, also Gott etwa einen »Geist der Lügen« entsandt habe, der Menschen zum Glauben an Lügen veranlaßt habe.211 Leibniz sammelt Stellen, die weiter nichts sagen sollen, »als daß die Sachen die Gott gethan, der Unwissenheit, dem Irthume, der Bosheit, und den bösen Thaten zur Gelegenheit gedienet, und etwas dazu beyzutragen; indem sie Gott vorher gesehen, und sich derselben zu seinen Absichten bedienen wollen.«212 Wo das Verderbnis so klar am Tage liegt, müsse auch seine Überwindbarkeit erkannt werden. Sowie aber der Schritt zu sündigen aus Freiheit erfolge, müsse auch die dargebotene Hilfe freiwillig angenommen werden, folgert Leibniz.213 In seinem Faust-Plan führte Lessing diese Konzeption zur Entlastung Gottes und zur Rettung seiner Geschöpfe mit Hilfe des bühnenwirksamen Teufelspersonals weiter. Hier agiert Gott zum Wohle des Gelehrten Dr. Faustus, indem er ihm in einem Warntraum seine teuflischen Knechte erleben läßt, gerade weil er das Verderben des Sünders nicht will, sondern die Rettung dessen, der nach Erkenntnis strebt. Faust entscheidet sich freiwillig für den siebten Teufel als dienenden Geist, und seine Bewahrung vor der Verführung durch das Böse erfolgt dann ebenfalls freiwillig aufgrund der Einsicht in die Lektion des Warntraums. Faust ist (im dritten Auftritt des zweiten Aktes) fasziniert von einem Dämon, der ihn flugs und ohne daß er es wollen, steuern oder verantworten müßte, vom Guten ins Reich des Bösen überführen könnte. Was Lessings poetisches Ich noch als »Adams Fluch« erlebt, den es abschütteln möchte, aber nicht kann, nimmt Faust positiv wahr. Dieser geschwindeste 209

Leibniz (s. Anm. 84), II. Teil, § 159, S. 219; bei Buchenau (s. Anm. 15), S. 351. Leibniz (s. Anm. 84), § 157f. 211 Vgl. 1 Kön 22,23; 2 Thess 2,11. 212 Leibniz (s. Anm. 84), S. 486; bei Buchenau (s. Anm. 15), § 276, S. 312. 213 Leibniz (s. Anm. 84), S. 483–488; bei Buchenau (s. Anm. 15), S. 310–313. 210

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Teufel könnte über ihn völlige Macht haben und ihn von der Verantwortung für Böses, das flugs aus dem Gutgemeinten hervorginge, freisprechen. Die Erfahrung, daß der Schritt von der guten Intention zur bösen Tat im Nu vollzogen ist und keiner vor ihm gefeit ist, führt Lessing an der gar nicht so heiligen Sara Sampson im Streitgespräch mit Marwood vor, als jene in Selbstgerechtigkeit über diese auftrumpft,214 bevor Faust wegen der Möglichkeit, einen solchen Schritt in Windeseile zu vollziehen, den sechsten Teufel auswählt. Damit lokalisiert der Bühnendichter den Teufel in der Seele jedes Menschen, in der die Vernunft als Korrektiv und Regulativ der Empfindungen nicht funktioniert. Der Zwanzigjährige wollte seine Eltern davon übezeugen, daß seine Zweifel nur ein besonders ernsthafter Versuch zur Rettung seines Christenglaubens seien.215 Dies gelingt ihm ansatzweise in der Vision einer Art Piscator-Bühne im Faust-Drama, von dem leider nur wenige Szenen überliefert sind. Nur die Zuschauer überblicken die Bühne in allen Teilen, nicht aber die dramatis personae. Während Faust in seinem Studiolo über Aristoteles’ philosophische Lösungsangebote verzweifelt und einen Geist beschwört, sieht man schon die Teufel im Kirchenchor, wie sie sich um Fausts Seele feilschend bemühen. Und über diesem Arrangement, so muß man es sich vorstellen, thronten Gott und die Engel. Diese versetzen Faust in einem dritten Bühnenzimmer in einen Traumzustand, der schließlich seinem künftigen Heil, also seiner Rettung, dient. Was Faust wollte, schlägt ihm nicht eigentlich zum Bösen aus. »Aber der Engel der Vorsehung, der unsichtbar über den Ruinen geschwebt hat, verkündiget uns die Fruchtlosigkeit der Bestrebungen Satans, mit den feierlich aber sanft gesprochenen Worten, die aus der Höhe herabschallen: Ihr sollt nicht siegen! – – –«216

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Miß Sara Sampson, IV, 8. In: FA 3, S. 507f.; Lessing: D. Faust, II,3. In: FA 4, S. 63. Dieses Licht warf Friedrich Vollhardt auf »Miß Sara Sampson« in einem Berner Vortrag im April 2008, der einige systematische Überlegungen seines Aufsatzes »Lessings Lektüre« weiterführt. Dort betont Vollhardt, wie sich der Stoff des 16. Jahrhunderts dazu eignete, »Grundfragen der Ethik in äußerster Zuspitzung« zu exponieren, insbesondere solche scholastischen »Probleme, deren Lösung durch kein theologisches Konzil und keine philosophische Schule garantiert wird« (S. 380). Friedrich Vollhardt: Lessings Lektüre. Anmerkungen zu den »Rettungen«, zum »Faust«-Fragment, zu der Schrift über »Leibniz, von den ewigen Strafen« und zur »Erziehung des Menschengeschlechts«. In: Euphorion 100 (2006), S. 359–393, bes. S. 377–383. Brita Hempel entlastet Sara Sampson in IV, 8. Brita Hempel: Sara, Emilia, Luise: drei tugendhafte Töchter. Das empfindsame Patriarchat im bürgerlichen Trauerspiel bei Lessing und Schiller. Heidelberg 2006, S. 60–63. Der Brief wird von Jürgen Stenzel im Kommentar zu »Die Religion« ebenfalls zitiert. In: FA 2, S. 901. FA 4, S. 68 (An den Herausgeber des theatralischen Nachlasses).

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7 Das Ende der Selbsterforschung – die »Xliche Religion«, durch individuelle Zweifel errungen, und »die Zeit der Vollendung« und eines »neuen ewigen Evangeliums« Jürgen Stenzel rückt Lessings poetisch unvollendeten, vielleicht unvollendbaren Begründungsversuch eines Wegs zur Religion in einen Zusammenhang mit zwei etwa gleichzeitig entstandenen ebenfalls Fragment gebliebenen Abhandlungen, dem Christenthum der Vernunft (1752) und den Gedanken über die Herrenhuter (1750).217 Karl Lessing hat beide Textfragmente 1784 aus dem Nachlaß ediert. An diesen Versuchen könne man studieren, wie Lessing gleichzeitig eine spekulative, scheinbar rationale Begründung der Trinität und der Beziehung zwischen Gott und dem Handeln der Menschen in Angriff nehme und am Beispiel der Herrenhuter erstmals das Paradigma für seine späteren Rettungen ausarbeite. Die Herrenhuter-Apologie sammelt Vorbehalte gegen die Schultheologie, die sich zu Unrecht über die Herrenhuter erhaben dünke, und zeugt vom Respekt für die Herrenhuter Separatisten, die nach einer gefühlshaften Begründung ihres Glaubens suchten und sich dabei ähnlich wie das poetische Ich von den »weisen Thoren« abwandten. Hält man sich vor Augen, wie Lessing die Trinität in § 73 der Erziehungsschrift ableiten und den vernunftmäßigen dem gefühlshaften Zugang zum Glauben entgegensetzen wird, erkennt man die Kontinuität seines Fragens (1) nach der Text- und Überlieferungsgrundlage des Glaubens und (2) nach den Wahrheitsansprüchen konkurrierender Offenbarungsreligionen. Was für die einen »Irrlicht«, für die andern »Leitstern« sei, »was Völker knüpft und trennt«218 – die Religion – beruht auf heiligen Texten, über deren Autorität und Kanonizität man sich ahrhundertelang streitet. Dies erklärte der Dichter für sein »rührend Lied«.219 Lessings Ich in Die Religion probiert den Weg in die Abgründe der Seele und zurück zu ersten Regungen des Bewußtseins aus, in der Hoffnung, dadurch einen Zugang zum Verständnis des Schöpfers und seiner Geschöpfe zu erlangen. Die eigene Entwicklungsgeschichte gibt ihm jedoch alles andere als Anlaß, seinen Schöpfer und Erhalter zu preisen. Sobald es die ersten geistigen Regungen verspürt, die ihm ein Gefühl von sich selbst geben, wird ihm bewußt, daß das Laster sein Fühlen und Denken beherrscht. Mit Recht fragt sich das Ich: »Kann das ein GOtt zugleich in eine Seele legen?«220 Es verabscheut die Sünde, während es sündigt. Diesen Begriff, den Spalding in Die Bestimmung des Menschen unterdrückt oder umgeht, gebraucht Lessing in dieser Anspielung auf Röm 7,15, allerdings ohne die Herkunft der Sünde als leidige Erbschaft Adams dogmatisch zu erklären. Wenn die Vermutung berechtigt ist, daß das Gedicht Die Religion als Entgegnung auf Spaldings optimistische Anthropologie geplant war, wenn darüber

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FA 2, S. 403–405 und S. 902. FA 2, S. 266, Z. 14. Ebd., Z. 23. Ebd., S. 270, Z. 36.

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hinaus auch fest steht, daß das Gedicht das, was Goeze an Spaldings Abhandlung vermißte, die Erfordernis von Buße und Gnade zum Zwecke der Versöhnung mit Gott, nicht mehr als Remedium gegen Ohnmacht und Sündenbewußtsein aufbietet, endet das Gedicht mit einer trostlosen Sicht auf die conditio humana. Nach Nisbets Deutung ist die pessimistische Anthropologie nur eine spielerisch eingenommene Pose. Wie wäre es aber (um eine Frageform aus der Erziehungsschrift aufzugreifen), wenn das Problem, welches das Gedicht aufgibt, nämlich durch individuelle Selbsterforschung einen Weg zur Religion zu finden, und worüber Voltaire mit Pascal nicht einig wurde, endlich im dritten Teil der Erziehungsschrift einer Lösung zugeführt wird? Spaldings angeblich ganz direkter Weg von der Selbstbefragung zum Glauben an Gott und die Unsterblichkeit der Seele bleiben einem künftigen Zeitalter der Vernunft vorbehalten. Für dieses ist charakteristisch, daß der Mensch allein durch vernünftige Einsicht angeregt wird, tugendhaft zu handeln, ohne ein Disziplinierungsmittel wie eine biblische Offenbarung hierzu nötig zu haben. Dann hätten Spalding und sein Kritiker Goeze beim jungen Pfarrersohn etwas in Gang gebracht, was in der späten, durch Reimarus’ Offenbarungskritik und SpinozaLektüre geschulten Theologie als berechtigte Zukunftshoffnung ausgegeben wird! So scheint auch der § 77 als Antwort auf Spaldings Vernunftspekulation über die Bestimmung des Menschen gemeint zu sein: Fürwahr, auf einen solchen Begriff »vom göttlichen Wesen, von unserer Natur, von unsern Verhältnissen zu Gott«, könnte »die menschliche Vernunft von selbst nimmermehr gekommen« sein. Dazu reicht eine Vernunft, die unter der Annahme eines moral sense ganz den Empfindungen dient, nicht hin. Diesen Begriff könnte nur eine »Religion« nahelegen, die gleichwohl mit so vielen – von Voltaire und Reimarus beklagten – Imponderabilien biblisch-textueller Überlieferung belastet ist wie die christliche. Wie schon Goeze argwöhnte: auch Spalding setzte dazu bereits die Vertrautheit mit der biblischen Offenbarung voraus.221 Nisbet zufolge war Lessings »lebenslanger Glaube an Gott und die wohlwollende Vorsehung [...] seit der Schulzeit in St. Afra durch den metaphysischen Optimismus von Leibniz und Wolff untermauert« gewesen. Zweifel an der Theodizee sei für ihn immer nur vorübergehend gewesen, »Symptom einer zeitweiligen Depression, eben eines ›einsamen Tages des Verdrusses‹«.222 Eine solche Vorsehung waltet in der Menschheitsgeschichte. Daher besteht Aussicht, daß die Menschen einmal zur Kompetenz ethischer Autonomie gelangen würden, die ihnen Spalding in jugendlichem Optimismus schon 1748 zutraute. Dazu müsse sein Verstand und Empfindungsvermögen geschult werden, wozu das biblische Erziehungsbuch dauerhafter sich eigne als Trauerspiele.

221

222

Wenn wir § 77 auf Spaldings Argumentation beziehen, fällt der Unterschied zu § 4 ins Auge. Diesen Bedeutungsunterschied arbeitet auch Ingrid Strohschneider-Kohrs heraus: Historische Wahrheit der Religion. Hinweise zu Lessings Erziehungsschrift. Göttingen 2009, S. 41–43. Nisbet (s. Anm. 1), S. 154.

Lessings Fragment »Die Religion«

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»Nein; sie wird kommen [...] die Zeit der Vollendung, da der Mensch, je überzeugter sein Verstand einer immer bessern Zukunft sich fühlet, von dieser Zukunft gleichwohl Bewegungsgründe zu seinem Handlungen zu erborgen, nicht nötig haben wird; da er das Gute tun wird, weil es das Gute ist, nicht weil willkürliche Belohnungen darauf gesetzt sind, die seinen flatterhaften Blick ehedem bloß heften und stärken sollten, die innern bessern Belohnungen desselben zu erkennen.«223 Selbst- und Glaubenszweifel können ein Individuum vorübergehend an der Vorsehung verzweifeln lassen; diese lege manchmal Seiten- oder Rückschritte ein, weil nicht immer »die kürzeste Linie [...] die gerade ist«.224 Das individuelle Rad kann sich geschwinde rückwärts drehen, während es auf einem größeren montiert ist, welches langsam »das Geschlecht seiner Vollkommenheit näher bringt«.225 Die individuelle »Bestimmung« fügt sich ein in die »moralische Bestimmung unserer Natur«, die nur als regulative Idee die Entwicklung der Gattung leitet. Dem Zwanzigjährigen erschien Spaldings Anleitung, auf natürlichem, direktem Wege zur Religion zu gelangen, zu optimistisch. Der späte Lessing integriert die individuelle Bildung, so krisenhaft sie verlaufen mag, auf ähnliche Weise in das Panorama der Gattungsgeschichte wie Kant in seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht und in der Kritik der praktischen Vernunft.226

Zusammenfassung Ungewöhnlich ist die Radikalität der Selbsterforschung, die mit der Infragestellung des Schriftstellerberufs einen Höhepunkt erreicht. Wenig später findet Lessing seinen »Flickstein«, die Mission für das Theater und das Sendungsbewußtsein als Bühnendichter.227 Die Durcharbeitung der Identitäts- und Glaubenskrise wird einige Jahre später mit der Faust-Figur und dem Teufelspakt

223 224 225 226

227

FA 10, S. 96 (Die Erziehung des Menschengeschlechts). Ebd., § 89, S. 98. Ebd., § 92. Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. In: Kants Werke. Akademie Textausgabe. Bd. 8. Abhandlungen nach 1781. Unveränderter photomechanischer Abdruck des Textes der von der Preußischen Akad. der Wiss. 1902 begonnenen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften, Berlin 1912/23. Berlin 1968, S. 17–31; Kant: Kritik der praktischen Vernunft. In: Kants Werke. Akademie Textausgabe. Bd 5. Kritik der praktischen Vernunft. Kritik der Urtheilskraft. Unveränderter photomechanischer Abdruck des Textes der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnenen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften, Berlin 1908/13. Berlin 1968. »Von der der praktischen Bestimmung des Menschen weislich angemessenen Proportion seiner Erkenntnißvermögen«, S. 146–148. Dazu d’Alessandro: Die Wiederkehr eines Leitworts (s. Anm. 164), S. 23 und S. 46. FA 11/1, S. 18 (Brief an die Mutter Justina Salome, 20. Januar 1749); Monika Fick: Lessing Handbuch. Leben. Werk. Wirkung. Stuttgart 22004, S. 19.

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versucht, für den sich Gott gerade diesen wißbegierigen Gelehrten ausgesucht haben soll. Lessing begründet im Briefwechsel mit Nicolai und Mendelssohn die Fähigkeit zum Mitleiden mit einer angeborenen Disposition zur sinnlichen Empfindung und glaubt, daß sie durch den Besuch von Trauerspielen zur sozialen Fertigkeit geschult werden könne. Voraussetzung für die Wirkung der Tragödie sei weniger die rationale Urteilskraft als eine edle Neigung, die, wenn wir ihr folgen, uns angenehmste Empfindungen erregt.228 Lessing war mit der moral sense-Philosophie vielleicht schon früher, dank Spaldings ShaftesburyÜbersetzungen, bekannt geworden. Das anthropologische Modell, von dem Spalding in Die Bestimmung des Menschen ausgeht, vertraut auf gutartige Neigungen und sinnliche Empfindungen als Wegbereiter zur Religion und zum Unsterblichkeitsglauben. Dieses Vertrauen auf die angeborenen und trainierbaren Neigungen zur Tugend und zur Soziabilität erweist sich in der Selbsterforschung des lutherisch sozialisierten lyrischen Ichs in Die Religion als grundlos. Dort, wo Spalding sukzessive die positive Urkraft zur Vermeidung von Lastern freizulegen meint, entdeckt Lessings Ich die unhintergehbare, unausrottbare Herrschaft des Lasters. Erziehungsarbeit durch Eltern und Kirche fruchtet bei einem solcherart verbildeten, prädisponierten Individuum nicht. Die Lösung, bei der Goeze stehen blieb, akzeptiert Lessing nicht mehr. In Die Erziehung des Menschengeschlechts projiziert Lessing stattdessen die von Spalding vorausgesetzte Anthropologie, wonach die Vernunft den natürlichen Neigungen folge, in die Zukunft. Geschult werde der Vernunftgebrauch aber in der Geschichte der Völker durch die biblische Offenbarung als Erziehungsbuch. Für diese positive Entwicklung habe die göttliche Vorsehung selbst mit Hilfe dieses Erziehungsmittels Sorge getragen. An sich selbst registrierte Lessings Ich, daß es sich nur Anstrengungen auferlege, wenn Belohnungen durch Ehre, Ruhm und Anerkennung in Aussicht stünden. Spalding hingegen schrieb dem Gewissen als Steuer der Vernunft die erzieherische Wirkung zu, in jungen Menschen die Neigung zum tugendhaften Handeln zu konditionieren. Lessing entwirft für die Zukunft, die »Zeit der Vollendung«, ein Ideal ethisch verantwortungsvollen Handelns, das allein durch die Wirkung des Guten motiviert sei und attraktiv bleibe, auch wenn »nicht [...] willkürliche Belohnungen darauf gesetzt sind«.

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Vgl. FA 4, S. 671 (Brief an Nicolai vom November 1756). Auch Franz Hutcheson: Sittenlehre der Vernunft. Aus dem Englischen übersetzt (wahrscheinlich von Lessing). Berlin 1756. In: FA 4, S. 748f. Zum Verhältnis der Einflüsse Hutchesons und Rousseaus auf Lessings Seelenmodell in seinen Briefen über das Trauerspiel s. Arnold Heidsieck: Der Disput von Lessing und Mendelssohn über das Trauerspiel. In: Lessing-Yearbook 11 (1979), S. 734.

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Aus lauter dunkelen Begriffen der Kabbalisten und Platonischen Juden ... Hermann Samuel Reimarus als Ausleger des Johannesprologs

1 Die ›Fragmente‹ und der ›Fragmentist‹ Durch die Publikation der Fragmente Aus den Papieren des Ungenannten hat Lessing dem Hamburger Gymnasialrektor und Philologen Hermann Samuel Reimarus einen zweifelhaften Ehrenplatz in der Geschichte der deutschen Aufklärung verschafft. Aus dem gefeierten lutherisch-orthodoxen Schulmann Reimarus, dem Gräzisten, Hebraisten, Popularphilosophen und physikotheologischen Beobachter des tierischen Triebverhaltens ist in der Folge des Fragmentenstreits der ungenannte Fragmentist geworden, der radikalste antiorthodoxe Kritiker der deutschen Aufklärung, der bibelkritische Argumente des englischen Deismus aufnimmt, um den biblisch-historischen Wahrheitsgrund orthodoxer Dogmatik zu beschädigen. Reimarus, so scheint es, verfügte über zwei Gesichter, das eine orthodoxiekonform und öffentlich bekannt, das andere radikal antiorthodox bibelkritisch und vor der Öffentlichkeit über Jahrzehnte hin sorgfältig verborgen. Dieses Urteil über den doppelgesichtigen Kritiker Reimarus geht auf die Fragmente zurück, die Lessing ausgewählt und ediert hat. Die Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, das immerhin fast 2000 Seiten umfassende Werk, aus dem die Fragmente entnommen sind, ist über Jahrhunderte unbekannt geblieben, so dass auch das Bild, das die Fragmente von Reimarus und dessen kritischem Werk zeichnen, auf längere Zeit hin unhinterfragt übernommen werden konnte.1 Kann man Lessing vorwerfen, er habe durch seine Auswahl der Fragmente den wahren Charakter der Apologie verfälscht und Reimarus so mutwillig in die Rolle des radikalen Deisten gezwängt, als der er dem historischen Gedächtnis präsent ist? Wer die Apologie im Ganzen und die Lessingschen Fragmente vergleichend liest, der bemerkt in der Tat gewisse Verschiebungen und Akzentuierungen, die einen besonderen Charakter der Fragmente im Gegenüber der Apologie begründen: »Duldung der Deisten« fordert Reimarus zu Beginn und 1

Den wohl geschicktesten Versuch, das Ganze der Apologie bekannt zu machen, stellt dar: David Friedrich Strauß: Hermann Samuel Reimarus und seine Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Leipzig 1862. Eine vollständige Edition der Apologie erfolgte erst 1972: Hermann Samuel Reimarus: Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. 2 Bde. Hg. von Gerhard Alexander. Frankfurt am Main 1972.

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zum Schluss der Apologie, in der weiteren Durchführung des Werks spielt sie aber kaum eine Rolle. Die dogmatische Marginalisierung menschlicher Vernunft oder »Verschreyung der Vernunft auf den Kanzeln«, folgt in der Einleitung des ersten Teils der Apologie zwar aus seiner Kritik der Sündenlehre, die Theologen in die biblische Urgeschichte hineinlesen. Die Sündenlehre ihrerseits diskutiert Reimarus in der Apologie jedoch als das späteste der christlichen Zentraldogmen, das die Christen genutzt haben, um ihre übrigen ebenso falschen wie unvernünftigen Dogmen gegen vernünftige Rückfragen zu immunisieren. Die im zweiten Fragment diskutierte prinzipielle Unmöglichkeit einer allgemeinen und zugleich geschichtlich vermittelten Offenbarung erkennt Reimarus seit den frühesten Vorarbeiten zur Apologie, in der gesamten Kritik aber insbesondere der theologischen Lehrgehalte des Alten Testaments ist davon kaum mehr die Rede. Es überwiegt die Kritik vom Standpunkt der vernünftigen Religion und Moral aus, die vor allem die Lehre von der Unsterblichkeit umfasst, ein Kritikpunkt, der im vierten Fragment enthalten ist. Die Kritik des Meerwunders im dritten Fragment schließlich bietet sicher eines der amüsantesten Beispiele Reimarus’scher Wunderkritik, insbesondere für die Kritik der mosaischen Theokratie aber ist der Passus zum Meerwunder kaum repräsentativ, weil Reimarus den Bericht hier aufgrund interner Widersprüche als Ganzes zu den literarischen Erfindungen der Geschichtsschreiber zählt. Weit häufiger hält Reimarus die Wunderberichte für historische Tatsachenberichte und klagt die angeblichen Offenbarungsmittler – also vornehmlich Mose, seinen Gehilfen Josua aber auch die Jünger Jesu – an, die Wunder durch betrügerische Tricks vor dem Volk inszeniert zu haben. Das fünfte Fragment, das nach der Zusammenstellung von Widersprüchen innerhalb der Berichte von der Auferstehung die Jünger mit dem Betrugsvorwurf belegt, zeugt von diesem für die Apologie charakteristischen Typus der Wunderkritik. Zu beachten ist aber auch hier, dass der Fokus der Reimarus’schen Kritik des Neuen Testaments nicht auf der Kritik des Auferstehungswunders liegt, sondern bei dem jüdischen Messiasglauben und dem unrechtmäßigen Gebrauch der messianischen Weissagungen, dessen sich die ersten Christen schuldig gemacht haben. Immerhin verweist das letzte Fragment Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger auf das hier im Hintergrund stehende Anliegen einer umfassenden Relektüre des Neuen Testaments im Kontext der jüdischen Religionsgeschichte und reicht so teilweise zumindest die Voraussetzungen zum Verständnis der Kritik der Auferstehung nach. Hinter diese Verschiebungen zwischen der Apologie und den ›Fragmenten‹ muss man zurückgehen, will man Genese und Intention der ursprünglichen Kritik des sonderbaren Hamburger Aufklärers Hermann Samuel Reimarus rekonstruieren. Solche Rekonstruktion kann jeweils nur an einem konkreten Gegenstand geschehen, den im Folgenden die Dogmenkritik der Apologie bilden soll und hierbei insbesondere die Kritik der Trinitätslehre und ihres wichtigsten biblischen Grundes, des Johannesprologs. Sie ist geeignet, einen in der Intention ebenso radikal kritischen wie seiner Genese nach lutherisch-orthodoxen Aspekt der Apologie zu beleuchten und so auf die Gemeinsamkeiten der

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beiden scheinbar gegensätzlichen Gesichter des ungenannten Fragmentisten hinzuweisen.

2 Johanneische Logoslehre und Platonismus der Kirchenväter Will man den Ort der Kritik der Trinitätslehre und der johanneischen Logoslehre in der Apologie angeben, muss man auf die letzte, üblicherweise gezählt als die dritte Fassung2 der Apologie zurückgehen, die, anders als es die Abfolge der von Lessing edierten Fragmente erkennen lässt, in ihrer Grundstruktur ein fortlaufender Bibelkommentar ist, in den systematisch reflektierende Passagen wie etwa die im zweiten Fragment publizierten Bedenken hinsichtlich der »Unmöglichkeit einer Offenbarung, die alle Menschen auf eine gegründete Art glauben könnten« eingeschoben sind. Solcherlei kritische Einschübe bildeten in der ersten Fassung der Apologie der 1730er Jahre die Kapitelstruktur des damals noch keineswegs als ein Bibelkommentar konzipierten Werks, so dass Lessing, der selbst über eine verhältnismäßig späte Fassung der Apologie verfügt zu haben scheint, mit seiner Darbietung der Fragmente in mancher Hinsicht der ersten Fassung der Apologie nahe kommt.3 Zu den kritisch reflektierenden Einschüben der Apologie letzter Fassung gehören auch dogmenkritische Exkurse, die Lessing zu großen Teilen vermutlich nicht gekannt hat und in seiner Edition der Fragmente auch nicht berücksichtigt. Sie finden sich am Anfang des ersten Teils der Apologie sowie gegen Ende des zweiten Teils, wo sie der Kritik der neutestamentlichen Schriften und der Rekonstruktion der Geschichte des frühen Christentums angefügt sind.4 Sie betreffen, folgt man der historischen Abfolge ihrer Entstehung, wie Reimarus sie rekonstruiert, die Lehren von der Versöhnung, von der Trinität nebst christologischer Zwei-Naturen-Lehre und von der Sünde. Diese Reihenfolge bedeutet einen Bruch mit der zeitgenössischen Kirchen- und Dogmengeschichtsschreibung wie sie seit dem 17. Jahrhundert um Gottfried Arnold, Lorenz von Mosheim, Johann Salomo Semler oder Christian Wilhelm Franz Walch entsteht.5 Denn der orthodox-dogmatische Standpunkt erfordert es, mit der In-

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Zu den Fassungen vgl. Hermann Samuel Reimarus: Handschriftenverzeichnis und Bibliographie. Hg. von Wilhelm Schmidt-Biggemann. Göttingen 1979, S. 19ff., und Dietrich Klein: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Das theologische Werk. Tübingen 2009, S. 48ff. Es ist vorstellbar, dass Lessing über mündliche Informationen über Reimarus’ jahrzehntelange Arbeit an der Apologie verfügt hat, die ihm durch Mitglieder der Familie Reimarus zugänglich gemacht worden sind. Für einen Überblick über die Dogmenkritik der Apologie im Ganzen vgl. Klein (s. Anm. 2), S. 149ff. Vgl. Friedrich Loofs: Art. ›Dogmengeschichte‹. In: Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche 4 (1898), S. 752–764. Zu Mosheim vgl. E. P. Meijering: Mosheim und die Orthodoxie. In: Johann Lorenz Mosheim (1693–1755). Theologie im Spannungs-

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karnation des göttlichen Logos in dem Gottmenschen Christus einzusetzen und die Versöhnungslehre ihr sachlich und auch historisch nachzuordnen. Der Grund für Reimarus’ Verkehrung der orthodox-dogmengeschichtlichen Reihenfolge liegt in einer zweiten, durch Lessings fünftes Fragment lediglich nur in einem kleinen Ausschnitt berührten Absicht der Apologie: Reimarus rekonstruiert die gesamte biblische Heilsgeschichte von Adam an als eine Geschichte des durch weltliche Interessen motivierten Religionsbetrugs, die sich, lediglich kurz durch Jesu Predigt einer vernünftigen und praktischen Religion unterbrochen, im Zeitalter der Apostel und frühen christlichen Gemeinden fortsetzt.6 Für Reimarus ist die frühe christliche Dogmengeschichte Teil einer weit längeren Geschichte des Religionsbetrugs. Die ersten Christen waren nach der Kreuzigung ihres vermeintlichen Messias Jesus enttäuscht, fingierten zur Kompensation dieses Rückschlags das Auferstehungswunder und bemühten sich, die Schar ihrer Anhänger zu vermehren. Konnte man unter den Juden mit der Messianität Jesu werben, bedurfte es zur Mission unter den Heiden eines anderen Mittels, das die frühen Christen in der Lehre von einer universalen, durch den Kreuzestod Jesu erwirkten Versöhnung fanden. Den Übergang nun von der einmal angenommenen Versöhnungslehre zur Trinitätslehre findet Reimarus, indem er das alte von Anselm von Canterbury7 wirkungsstark in die westliche Dogmatik eingebrachte Argument cur deus homo umkehrt: Hatte Anselm gelehrt, Gott habe in Christus die menschliche Natur angenommen, damit im Kreuzestod des Gottmenschen Christus ein menschliches Opfer von Gott gemäßem (aliquid maius quam omne quod praeter deum est) satisfaktorischem Wert erbracht werden könne, stellt Reimarus die missionspragmatisch motivierte christliche Behauptung eines unendlichen Werts des Christusopfers voran und betrachtet die Aufwertung des menschlichen Messiasprätendenten Jesus zum Gottessohn als eine Folge, so dass das Anselmsche Argument in der Reihenfolge cur homo deus gelesen und betrugstheoretisch fruchtbar gemacht wird.8

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feld von Philosophie, Philologie und Geschichte. Hg. von Ralph Häfner u. a. Wiesbaden 1997, S. 261–275, hier S. 263ff. Die Möglichkeit eines Religionsbetrugs, den der als erster Priester agierende Adam vor seinen Kindern inszeniert, deutet Reimarus (s. Anm. 1) an, vgl. ebd. Bd. 1, S. 198. Vgl. Anselm von Canterbury: Cur deus homo II,6. »Si ergo, sicut constat, necesse est ut de hominibus perficiatur illa superna civitas, nec hoc esse valet, nisi fiat praedicta satisfactio, quam nec potest facere nisi deus nec debet nisi homo: necesse est ut eam faciat deushomo.« Vgl. Reimarus (s. Anm. 1), Bd. 2, S. 429f.: »Eben diesen gekreutzigten oder aufgehenkten Jesum unternahmen nun die Apostel, selbst wegen seines Leydens, zu dem ehrwürdigen Namen eines Messias, Christs, oder Heilands der gantzen Welt zu erheben; so, daß alle Menschen, welche gläubten, daß er von Gott zum Versühn-Opfer für sie bestimmet worden, Vergebung ihrer Sünden empfahen sollten. Dies gab seiner Person und seinem Schiksal ein erhabenes Ansehen. Denn wer wollte wohl nicht Vergebung der Sünden und Gnade bey Gott haben, wenn er sie auf eine so leichte Weise, durch die Genugthuung eines andern, erhalten konnte? Allein, das kam auf guten Glauben der Menschen an. An sich hatte es keine Verknüpfung: Ein Menschenkind wird zum Tode verurtheilt, ich will auch setzen, unschuldig verurtheilt; also stirbt er für mich, ja für alle Menschen, nach dem Raht

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Um zu rekonstruieren, wie die Aufwertung Jesu zum wesensgleichen Gottessohn geschah, verweist Reimarus zunächst auf die biblischen Berichte von der jungfräulichen Geburt und von der Auferstehung Jesu. Neben diesen Wunderberichten seien es vor allem die zahlreichen christologischen Einzelverse des Neuen Testaments gewesen, die eine Beteiligung der Person Christi am inneren Wirken Gottes bezeugen. Im Kreis solcher christologischer Verse sticht hervor der Johannesprolog, in dem durch die Identifikation Jesu mit dem Logos und des Logos mit Gott erstmals, wie Reimarus sagt, »ohne Umschweiffe« die Behauptung gewagt wurde, »Jesus sey ein Gott«.9 Von hier aus geht Reimarus zu seiner hauptsächlichen These über, es sei die dem Platonismus entstammende Gewohnheit zur Hypostasierung göttlicher Eigenschaften, die in ihrer Anwendung auf die Logoschristologie des Johannesprologs die Behauptung einer wesentlichen Gottheit der Person Christi allererst ermöglicht habe: Nämlich, was Johannem betrifft, so wäre eine grosse Frage, ob er nicht nach den dunklen Platonischen Ideen, durch ȜȩȖȠȢ vielmehr Vernunft oder Weißheit verstanden, welche im Anfang der Schöpfung Gott beygewohnt hätte, und also Gottes wesentliche Eigenschaft, oder Gott selbst, gewesen wäre, nach welcher er die Welt geschaffen, und welche er besonders in seinem geliebten Sohne Jesu offenbaret hätte. Denn ȜȩȖȠȢ heist nicht allein Wort oder Rede, sondern auch Vernunft, Verstand und Weißheit. Die Platoniker aber waren gewohnt, abgesonderte Ideen zu realisieren, und Eigenschaften zu personificiren; so wie auch die Hebräer von der Weißheit zu reden pflegten, als z. B. in den Sprüchen Salomons. [...] Daher sind viele Ausleger der Meynung, daß in diesem Capittel der Sprichwörter von der wesentlichen Weißheit, dem Sohne Gottes gehandelt werde: indem sie den wahren Schlüssel solcher mystischen Ausdrücke nicht kennen, und, wie der Jude Philo auf eine mehr philosophische Art gethan, in dieser abstrakten Idee eine Substantz, ein verbum substantiale, oder eine Person erblicken, welche auf Jesum Christum zu deuten sey. Man mag denn von Johanne selbst denken was man will, woher er doch diesen fremden Ausdruck genommen habe: so ist doch gewiß, daß die nachfolgende Kirchenlehrer fast alle Platoniker gewesen sind, und also der ȜȩȖȠȢ, aus ihrer verblühmten Sprache, endlich zu einer göttlichen Person gedien sey.10

So weit bietet Reimarus nicht mehr als einen dogmenkritischen Allgemeinplatz. Fausto Sozzini hatte bereits im 16. Jahrhundert auf die notwendige Unterscheidung zwischen der ursprünglichen johanneischen Logoslehre auf der einen und

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Gottes, zur Versöhnung unsrer Sünden. Denn, wie viele sind wohl nicht unter den Juden, in der tumultuarischen Republik, auch unschuldig, hingerichtet worden? Folgt es deswegen, daß sie für fremde Sünden, nach göttligem Willen, gestorben sind? Folgt es, daß ihr Leyden und Sterben bey Gott eine Versühnung anderer Sünder wirke, wenn sie das glauben, oder sichs einbilden? Selbst Propheten und Männer Gottes waren ja, wie die Historie sagt, vielfältig, ungeachtet ihrer Wunder, unschuldiger Weise getödtet worden. Wurden sie darum für geistliche Erlöser des menschlichen Geschlechts, oder der Juden, gehalten? Man sieht hieraus die Ursache, warum die Apostel Jesum besonders, noch weiter als alle vormaligen Propheten, zu erheben suchten, und nach gerade daran arbeiteten ihn nach seinem Tode zu vergöttern.« Ebd., S. 435. Reimarus diskutiert die Trinitätslehre zweimal. Die folgende Darstellung hält sich an die ausführlichere Diskussion innerhalb des Kapitels »Lehrgebäude der Apostel und ersten Kirche«. Ebd., S. 435f.

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späteren platonischen Ausdeutungen auf der anderen Seite hingewiesen und den Johannesprolog als Beweisstelle der Trinitätslehre so diskreditiert.11 Der Johannesprolog, so die Überzeugung Sozzinis, lehre nicht die substantielle Gottheit Christi, sondern die Beauftragung Jesu mit der prophetischen Verkündigung des Wortes Gottes. Erst unter dem Einfluss des Platonismus sei es dann zu der falschen Auslegung im Sinne der nizänischen Trinitätslehre gekommen, die den Logos als zweite Person des dreieinigen Gottes deutet und den mit dem Logos begabten Menschen Jesus so zum Gottmenschen erhebt, ein Fehler, den Johannes selbst durch die Verwendung des schillernden Begriffs ȜȩȖȠȢ freilich nahe gelegt habe.12 Solche Kritik betraf den Kern protestantischer Dogmatik: die biblische Begründung ihrer Lehre.13 Nicht allein am Beispiel der Trinität hatte die sozinianische Kritik gezeigt, dass der protestantische Versuch, die christlichen Dogmen sola scriptura zu begründen, eben dort scheitern muss, wo das sola scriptura allzu ernst genommen wird und man die Schrift allein, und das heißt für Sozzini und die frühen Sozinianer ohne die dogmatischen Zielvorgaben des altkirchlichen Bekenntnisses auszulegen beginnt. Die protestantische Exegese aber funktioniert nicht ohne das Bekenntnis. Geht sie ohne die dogmatischen Normen einer hermeneutica sacra zu Werk, wird sie als Begründungsinstanz der Dogmatik untauglich – der Zusammenbruch des alttestamentlichen Weissagungsbeweises zeugt davon.14 Den Weissagungsbeweis retten kann die protestantische Exegese nicht ohne den Rekurs auf das Bekenntnis, das die trinitätstheologische Auslegung messianischer Verse des Alten Testaments als rechtmäßig und wahr erweist. Umgekehrt kann sie aber auch das Bekenntnis nicht retten ohne den Rekurs auf die Bibel. Die protestantische Theologie verschiebt die Beweislast ihrer Dogmatik im Kreis und muss auf den dogmatischen Lehrkonsens der altkirchlichen Bekenntnisse umso größeres Gewicht

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Zu den Anfängen der sozinianischen Dogmenkritik vgl. Delio Cantimori: Italienische Haeretiker der Spätrenaissance. Übers. von W. Kaegi. Basel 1949, S. 336–348. Zum Sozinianismus vgl. Zbigniew Ogonowski: Der Sozinianismus. In: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 4.2: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Nord- und Ostmitteleuropa. Hg. von Helmut Holzhey, Wilhelm Schmidt-Biggemann, Vilem Mudroch. Basel 2001, S. 871–881. Sozzinis Auslegung wird ausführlich erklärt von Wilhelm Schmidt-Biggemann: Apokalypse und Philologie. Wissensgeschichte und Weltentwürfe der Frühen Neuzeit. Hg. von Anja Hallacker und Boris Bayer. Göttingen 2007, S. 85–90. Zu den mannigfaltigen Variationen des reformatorischen Schriftprinzips in der protestantischen Theologiegeschichte der Neuzeit vgl. Jörg Lauster: Prinzip und Methode. Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart. Tübingen 2004. Zu den Aporien des reformatorischen Schriftprinzips und den frühen Versuchen seiner systematischen Begründung vgl. Schmidt-Biggemann (s. Anm. 12), S. 23–51. Die Kritik des Weissagungsbeweises und Reimarus’ Bruch mit der hermeneutica sacra hat die Reimarusforschung lange Zeit beschäftigt. Vgl. hierzu insbesondere Peter Stemmer: Weissagung und Kritik. Eine Studie zur Hermeneutik bei Hermann Samuel Reimarus. Göttingen 1983 und Wolfgang Gericke: Zur theologischen Entwicklung von Hermann Samuel Reimarus. In: Theologische Literaturzeitung 114 (1989), Sp. 859–862.

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legen, je weniger sie sich auf die Bibel und deren Auslegung verlassen kann. In dem apologetischen Spiel, das die sozinianische Kritik einleitet, steht das Bekenntnis zunehmend für sich, gewinnt die Lehrentwicklung der ersten Jahrhunderte immer mehr an Interesse. Es muss daher nicht verwundern, dass protestantische Theologen empfindlich reagierten, als der französische Jesuit Denis Pétau15 in den 1640er Jahren begann, die Lehrentwicklung in der Zeit vor dem Konzil von Nizäa zu analysieren und zeigen konnte, dass einige der vornizänischen Kirchenväter anstatt einer dogmatisch orthodoxen, immanenten Trinitätslehre häretische, vorwiegend subordinatianische Platonismen vorgetragen hatten, die den göttlichen Logos lediglich hinsichtlich seiner Funktion als Schöpfungsmittler betrachteten und das nizänische Dogma mithin verfehlten. Die Möglichkeit einer solchen kritischen Haltung Pétaus den vornizänischen Vätern gegenüber verdankte sich dem Umstand, dass die katholische Theologie seit dem Tridentinum das Trinitätsdogma in einem consensus patrum begründet sein ließ, der seinerseits das Maß seiner Orthodoxie im Heiligen Geist findet, der exklusiv innerhalb der katholischen Kirche wirkt. Der Jesuit Pétau brauchte sich um den Bestand der Trinitätslehre also nicht zu sorgen, als er die vornizänischen Väter untersuchte.16 Anders Pétaus protestantische Rezipienten. Angeregt durch Pétaus Untersuchungen zum Platonismus der Kirchenväter begann innerhalb des Protestantismus eine rege Debatte, wie mit den vorwiegend subordinatianischen Häresien der vornizänischen Väter umzugehen sei. Fast scheint es, als wäre Reimarus angesichts dieser Problemlage auf den radikalen Lösungsvorschlag Sozzinis zurückgegangen, der auf eine Ablehnung der platonischen Ausdeutung des Johannesprologs im Sinne der Trinitätslehre hinauslief. Als ein Vorbild hätte hierbei Jacques Souverain fungieren können, der im Jahr 1700 mit seinem Platonisme devoilé17 die Position Sozzinis erneut zur Diskussion gestellt hatte. Souverain hatte Sozzinis Unterscheidung zwischen ursprünglichem Johannesprolog und dessen platonischer Deutung aufgenommen und weiter präzisiert. Der johanneische Logos sei vom Hebräischen her zu verstehen als der dabar Gottes, d. h. als Gottes Wort im Sinne seines Befehls oder seiner Kraft. Die Deutung des Logos als zweite Person des drei-

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Denis Pétau: Opus de Theologicis Dogmatibus. Lutetia Parisorum 1644/50. Zur Wirkung Pétaus vgl. Walther Glawe: Die Hellenisierung des Christentums in der Geschichte der Theologie von Luther bis auf die Gegenwart. Berlin 1912; Wilhelm Schmidt-Biggemann: Die philologische Zersetzung des christlichen Platonismus am Beispiel der Trinitätstheologie. In: Philologie und Erkenntnis. Beiträge zu Begriff und Problem frühneuzeitlicher ›Philologie‹. Hg. von Ralph Häfner. Tübingen 2001, S. 265–301, und Martin Mulsow: Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680– 1720. Hamburg 2002, S. 261–307. Schmidt-Biggemann (s. Anm. 15), S. 274f. und 279–283. Matthieu [=Jacques] Souverain: Le Platonisme devoilé. Cologne 1700; dt. Übersetzung: Matthieu [=Jacques] Souverain: Versuch über den Platonismus der Kirchenväter. Oder Untersuchung über den Einfluß der Platonischen Philosophie auf die Dreyeinigkeitslehre in den ersten Jahrhunderten. Übers. und hg. von Josias Friedrich Christian Loeffler. Züllichau Freystadt 1792.

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einigen Gottes aber folge einem aus Platons Timaios bekannten Schema, nach dem einzelne Eigenschaften des Schöpfergottes zu eigenständigen Hypostasen erhoben werden können, und sei als unbiblisch abzulehnen.18 An einer solchen Erneuerung des alten sozinianischen Arguments ist Reimarus jedoch ganz offensichtlich nicht interessiert. »Man mag denn von Johanne selbst denken was man will« äußert er an der eingangs zitierten Stelle und hält die Entscheidung über Johannes so scheinbar in der Schwebe. Andernorts spricht er sich deutlicher aus über den »mystische[n] Evangelist[en] Johannes [...] der sein System aus lauter dunkelen Begriffen der Kabbalisten und Platonischen Juden zusammengesetzt ha[b]e«.19 Der Lösungsvorschlag Sozzinis und Souverains wird hier in einem nicht unerheblichen Punkt modifiziert. Denn anders als Sozzini und Souverain spart Reimarus den Evangelisten Johannes nicht aus von der Kritik. Johannes selbst griff auf die dunklen Lehren des Platonismus zurück, so dass die Kirchenväter keine fremden Begriffe an das Evangelium herantragen mussten, als sie mit ihrer platonisierenden Exegese begannen. Das Gegenteil ist der Fall: Die Väter brachten dogmatisch zur Entfaltung, was der Evangelist Johannes in seinem Prolog selbst andeutet, sie brachten – wenn man so will – den Platonismus des Johannes auf den Begriff. Reimarus entscheidet sich damit gegen die sozinianische Lösung des Problems und schließt den zuletzt noch von Souverain beschworenen Graben zwischen Bibel und Dogma, zwischen Johannesprolog und Trinitätslehre. Wer hieraus jedoch ableiten möchte, Reimarus engagiere sich für die Verteidigung der orthodoxen Lehre gegen die Angriffe des Sozinianismus, der findet sich enttäuscht, denn der Sieg, den Reimarus über das sozinianische Argument erringt, ist ein Pyrrhussieg, der die Johannesauslegung mit einem neuen, weit schwerwiegenderen Problem konfrontiert, dem Problem des Platonismus. Man muss sich die Ambivalenz vor Augen halten, die dem sozinianischen Argument eignet. Es trennt die Trinitätstheologie der Alten Kirche von ihrem biblischen Grund und ist insofern dogmenkritisch, aber es beschützt zugleich das biblische Zeugnis und grenzt die biblische Lehre als allein wahr ab von den häretischen Platonismen der Kirchenväter. Reimarus weiß das und bringt die sozinianische Scheidewand zwischen biblischem Johannesprolog und platonischer Trinitätslehre zum Einsturz. Diese Entscheidung ist fatal, bedenkt man, wie der Platonismus innerhalb der lutherischen Orthodoxie insbesondere in Wittenberg seit Jakob Thomasius diskutiert worden ist.20 Der Platonismus wurde hier nicht allein gesehen als der Nährboden, auf dem die subordinatianischen Häresien vornizänischer Väter gewachsen waren. Auch die antiken antichristlichen Polemiken eines Porphyrius 18 19 20

Das Argument Souverains erklärt ausführlich Wilhelm Schmidt-Biggemann (s. Anm. 12), S. 114–121. Vgl. Reimarus (s. Anm. 1), Bd. 2, S. 65. Jakob Thomasius: Schediasma historicum [...]. Leipzig 1665. Zur Wirkung vgl. Ralph Häfner: Jacob Thomasius und die Geschichte der Häresien. In: Christian Thomasius. Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Hg. von Friedrich Vollhardt. Tübingen 1997, S. 142–164.

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oder Julian Apostata waren platonisch begründet.21 Die theosophische Mystik Jakob Böhmes, derer sich Pietisten und Schwärmer bedienten, funktionalisierte die platonische Idee des Einen zum Zwecke mystischer Selbsterlösung – Versuche, die die Autorität des orthodoxen Klerus als Vermittler des in Christus objektiv erworbenen Heils untergruben.22 Die Kabbala mit ihren im Kern platonischen Emanationslehren galt als gefährlich, stand seit der Debatte um Johann Georg Wachter unter Spinozismusverdacht.23 Das sind die antiplatonischen Allgemeinplätze der Wittenberger Orthodoxie. Ergänzt sei ein Hinweis auf Nikolaus Hieronymus Gundling, dessen Plato atheos24 Reimarus vermutlich zur Kenntnis genommen hat.25 Es war Gundling, der die Platonismuskritik auf die Spitze getrieben hatte, indem er nicht allein Spielarten des Platonismus, sondern die ursprüngliche Philosophie Platons selbst für atheistisch erklärte und die platonische Hypostasenlehre mit der spinozistischen Lehre von den zwei Attributen Gottes parallelisierte.26 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Reimarus’ Ablehnung der sozinianischen Unterscheidung zwischen Johannesprolog und späterer Trinitätslehre keineswegs auf eine Rettung des Dogmas hinausläuft. So sehr die Trinitätslehre in Kontinuität steht zur ursprünglichen Intention des Evangelisten Johannes, so sehr sie also biblisch ist, muss man sie doch ablehnen als einen gefährlichen Platonismus der zur mystischen Schwärmerei und letztlich zum Spinozismus oder Atheismus hinführt. Aufschlussreich ist hier Reimarus’ Spott über »fanatische« Auslegungen des Johannesevangeliums, die die platonischen Argumentationsfiguren der Trinitätslehre übernehmen und ad absurdum führen: Die Unio fidelium cum Deo oder cum Christo, ist ja in der vernünftigen Theologorum Gedanken keine individualis, substantialis oder essentialis, obgleich dieser und jener Fanaticus, in dem finstern Abgrund seiner Einbildungen, sich selbst verliert, und mit seinem verbo interno, oder Deo inhabitante, aus heiliger Brunst, in eins geflossen zu seyn träumet. Wollten wir die mystischen Ausdrücke Jesu von seiner Einheit mit dem Vater, wie sie Johannes aufgezeichnet hat, nicht auf eine vernünftige sondern fanatische Weise erklären: so würden wir uns einen Gott bilden müssen, an dessen einem Wesen nicht allein

21 22 23 24 25 26

Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann (s. Anm. 15), S. 279f. Ebd. S. 292ff. Vgl. Mulsow (s. Anm. 15), S. 281–283. Durch Buddes Kontroverse mit Wachter war Reimarus mit diesem Problemkomplex früh bereits vertraut. Nikolaus Hieronymus Gundling: ›Plato atheos‹. In: Neue Bibliothec, 31. Stück. Halle 1713, S. 1–31. Hierzu s. u. die Ausführungen zu Reimarus’ Antrittsrede des Jahres 1728. Vgl. Gundling (s. Anm. 24): »Quemadmodum enim Spinoza Numen suum duabus inprimis proprietatibus, cogitatione & extensione instruxit; ita ad latus DEI Platonici duae hypostases observantur, quarum una materia est extensa & animata, altera cogitans, seu ȜȩȖȚțȠȢ. Quod Plato ਫ਼ʌȠıIJȐıȚȞ, seu principium oratorio modo vocat; id Spinoza nude & secundum Cartesii idioma adtributum nominat.« Zitiert nach Mulsow (s. Anm. 15), S. 290, wo Gundlings Kritik vor dem Hintergrund der Debatte um Wachters »Spinozismus im Jüdenthumb« ausführlich dargestellt wird.

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Dietrich Klein Jesus, sondern auch alle Gläubige Theil nähmen, oder das aus unendlich vielen Personen bestünde; welches vom Spinozismo nicht weit entfernt ist.27

Anspielungen auf Böhmes Mystik und möglicherweise auch auf Gundlings Parallelisierung von platonischer Hypostase und spinozistischem Attribut werden hier greifbar. Reimarus befürchtet, dass die johanneische Logoslehre und ihre dogmatische Ausformulierung in der Trinitätslehre Denkfiguren bereitstellt, die jederzeit in mystische oder atheistische Verirrungen hinüberführen können.28 Das gesamte Spektrum der Gefahren des Platonismus ist in der johanneischen Theologie voll präsent und braucht nur aktiviert zu werden.

3 Der Weg zur Kritik des Johannesprologs Wie Reimarus zu seiner im dogmatischen Ergebnis fatalen Verlagerung der Platonismuskritik auf das Johannesevangelium gekommen ist, lässt sich aus den erhaltenen handschriftlichen Materialien aus dem Reimarusnachlass nicht mehr lückenlos nachvollziehen. Die zitierten Passagen entstammen allesamt der Endfassung der Apologie, so dass der Eindruck entsteht, Reimarus habe die Konsequenz seiner Bibelkritik im Blick auf den Johannesprolog und die Trinitätslehre sehr spät erst gezogen. Verhältnismäßig früh lässt sich Reimarus’ kritische Beschäftigung mit der Versöhnungslehre zurückverfolgen bis hin zu einem Fragment zu Johann Konrad Dippels Vera demonstratio evangelica.29 Auch der Gliederungsentwurf zur Apologie erster Fassung sieht ein Kapitel zu Dippel vor.30 Entsprechende Vorarbeiten fehlen zur Kritik der Trinitätslehre. Liegt der springende Punkt der Kritik des Johannesprologs jedoch darin, dass Reimarus die Trennung zwischen der Bibel und ihrer antiken Umwelt aufhebt und eine Wirkung der häresieverdächtigen platonischen Philosophie auf die Theologie des Johannes annimmt, so kann ein bislang wenig beachtetes Stück aus dem Reimarusnachlass herangezogen werden, nämlich seine im Juni 1728 gehaltene Antrittsrede am Akademischen Gymnasium in Hamburg, die in einem handschriftlichen Entwurf erhalten ist.31 In dem 41 eng beschriebene 27 28

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Vgl. Reimarus (s. Anm. 1), Bd. 2, S. 68. Der Gedanke einer durch Christus ermöglichten Vereinigung des trinitarischen Gottes mit dem gläubigen Menschen ist auch der lutherisch-orthodoxen Lehre des 17. Jahrhunderts nicht fremd. Die unio darf aber keinesfalls den Unterschied zwischen Gott und Mensch aufheben und auch nicht als eine Bedingung der Rechtfertigung vorgeordnet werden, vgl. Theodor Mahlmann: Die Stellung der unio cum Christo in der lutherischen Theologie des 17. Jahrhunderts. In: Unio. Gott und Mensch in der nachreformatorischen Theologie. Hg. von Matti Repo und Rainer Vinke. Helsinki 1996, S. 72–199. Das Fragment ist abgedruckt in Hermann Samuel Reimarus: Kleine gelehrte Schriften. Vorstufen zur Apologie. Hg. von Wilhelm Schmidt-Biggemann. Göttingen 1994, S. 371– 396. Staatsarchiv Hamburg 622-1 Familie Reimarus A 13 a. Vgl. Staatsarchiv Hamburg 622-1 Familie Reimarus A 1. Die Seitenangaben folgen der Bleistiftpaginierung auf dem Manuskript.

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Seiten umfassenden Entwurf rekonstruiert Reimarus die Wege und den Umfang des Studiums griechischer Literatur unter den Hebräern und geht mit seiner Analyse weit zurück bis in die Entstehungszeit der biblischen Bücher. Den alten Hebräern gesteht Reimarus lediglich einen durch die ägyptische Weisheit vermehrten Katalog von Grundlehren der vernünftigen Religion zu, der von der heidnischen Philosophie zunächst unberührt blieb.32 Gottes Wesen und Eigenschaften seien ihnen bekannt gewesen, auch seine Schöpfung der Welt und des Menschen, den Gott zum Gebrauch der Vernunft und zum Halten des Gesetzes befähigt habe. Von einer breiten, auch philosophischen Gelehrsamkeit könne bei den alten Hebräern aber noch keine Rede sein. Erst nach Alexander dem Großen habe das Judentum begonnen, sich den heidnischen Philosophien zu öffnen und das Studium heidnischer Literatur zuzulassen, darunter auch die Schriften Platons.33 Reimarus beruft sich auf Pierre Bayles Dictionaire34 und auf dessen lutherische Leser Christian Thomasius, Hieronymus Gundling, Johann Franz Budde und August Heumann, die durch die These einer späten Hellenisierung des Judentums die alte Ansicht einer Polymathie der alten Hebräer zu ersetzen angetreten seien.35 Die alten Hebräer – so die durch Bayle angeregte These – waren von sich aus philosophisch ungebildet und haben erst von den Griechen gelernt. Damit verschiebt sich die Perspektive auf den Zusammenhang von Bibel und platonischer Philosophie, denn nun hat nicht Platon als ein attischer Mose die

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Vgl. Staatsarchiv Hamburg 622-1 Familie Reimarus A 1, S. 15: »Esse scilicet Deum aliquem, unum non varium, aeternum non factum genitumve, infinitum non circumscriptum spatiis locorum: Naturam ejus simplicem esse puram incorruptam, perfectam, nulli adstrictam corpori, nulla labe vitiore foedatam: Eum nosse cuncta, et nihil non verbulo posse efficere, velle autem pro summa sua sapientia ac benignitate: tanti vero opificis pulcherrimam fabricam esse mundum, non ex sese natum quidem coecoque concretum impletu aut initio et finibus carentem, sed factum, sed circumscriptum sed sapienter dispositum: Curam vero gerere Deum machinae a se extructae et in primis rebus propedere humanis: Hominem enim spiritu s. mente ornatum a Deo esse, quae capax sit rationis atque legum.« Vgl. Staatsarchiv Hamburg 622-1 Familie Reimarus A 1, S. 6: »Principio quidem haud dificile fuerit intelligere, si graecae tantum nominandae sint illae literae, quae Graecis Magistris, usuque graecorum docti Judaei coeperint adamare, vix ultra Alexandri M. memoriam initia illarum posse referri. Nam ante ejus in Asiam adventum nulla intercesserunt utrique genti inter se commercia, neque ita multo ante Graeci animum ad contemplationem rerum adjecerant. Sed Graecitatis a. grae¢ ²arum literarum, certe humanitatis nomine solet quoque appellari omne genus artium, quod qui omnino Judaeis ante graecorum tempora abjudicant elegantiorem eruditionem omnem.« Die Durchsetzung der griechischen Bildung innerhalb des Judentums beschreibt Reimarus noch einmal ausführlich auf S. 18–23. Gemeint ist hier der Artikel ›Adam‹. Vgl. Staatsarchiv Hamburg 622-1 Familie Reimarus A 1, S. 7: »Baelium autem secuti sunt Viri Summi Christianus Thomasius Hieron: Gundlingius, Joh. Fr. Buddeus, Aug: Heumannus, qui ipsi dum in eo sunt, ut praejudicatam de Polymanthia priscorum Ebraeorum opinionem tollant, parum abest, quin eos habeant in numero barbarorum, et rudes omnium artium fuisse atque miseram et agrestem traduxisse vitam existiment, ut una propemodum arte pascendi pecora, omnem eorum scientiam definiant atque complectantur.«

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Weisheit der alten Hebräer adaptiert. Vielmehr haben umgekehrt die Hebräer die heidnischen Philosophien studiert, und zwar sehr spät erst in hellenistischer Zeit. Gewissermaßen am Vorabend des Neuen Testaments wurde das Judentum von der heidnischen Philosophie der Griechen durchtränkt, so dass es nahe liegt, auch im Blick auf das Johannesevangelium einen Einfluss der griechischen Philosophie anzunehmen und dem »mystische[n] Evangelist[en] Johannes« vorzuwerfen, er habe »sein System aus lauter dunkelen Begriffen der Kabbalisten und Platonischen Juden« zusammengesetzt. Ein solcher Blick auf die jüdische Philosophiegeschichte ist 1728 freilich nicht mehr neu. Schon Reimarus’ Lehrer, Johann Albert Fabricius hatte sich 1693 in einer Exercitatio de Platonismo Philonis Judaei36 zur Rezeption antiker heidnischer Philosophie im antiken Judentum geäußert. Fabricius wehrt hier den Versuch des Frankfurter Gymnasialrektors, Johannes Jonsius37 ab, die Philosophie Philos aus dem Strom des antiken Platonismus auszuscheiden.38 Gegen Jonsius, der insbesondere auf Schwächen in der äußeren Bezeugung eines Platonismus bei Philo in antiken Quellen hinweist, betont Fabricius die inhaltliche Nähe der Philonischen Schriften zur platonischen Tradition und kommt hierbei auch kurz auf die Rezeption platonischer Philosophie bei den Juden zu sprechen. Ähnlich wie Reimarus im Jahr 1728 verweist auch Fabricius auf die jüdische Geschichte in hellenistischer Zeit, in der Platonrezeptionen insbesondere in der Schule von Alexandria stattgefunden haben.39 Den Primat biblischer Offenbarungswahrheit vor der platonischen Philosophie stellt Fabricius aber nicht infrage. Er hält – freilich in vorsichtiger Formulierung – fest an den Vätern, denen zufolge Platon »in Oriente[ ] »ʌĮȡĮ IJȠȣȢ ʌȡȠijȒIJĮȢ« gelernt habe und schlägt auch keine Brücke zum Johannesprolog und dessen Logoslehre, so dass der dogmatische Rekurs auf die Bibel als eine Quelle eigenständiger trinitarischer Wahrheit möglich bleibt.40

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Johann Albert Fabricius: Exercitatio de Platonismo Philonis Judaei viro doctissimo Johanni Jonsio opposita. Lipsiae 1693. Zu Johannes Jonsius vgl. Christian Gottlieb Jöcher: Allgemeines Gelehrten-Lexicon. Bd. 2. Leipzig 1750, Sp. 1962. Johannes Jonsius: De scriptoribus historiae philosophicae Libri IV. Hg. von Johann Christoph Dorn. Ienae 1716 (zuerst Francofurti 1659), Buch III, Kapitel 4, d.i. S. 14ff. in der Ausgabe 1716. Fabricius (s. Anm. 36) VII: »Dixi vicissim, Judaeos Hellenistas longe plura accepisse à Platone. Quod non obscurum fore arbitror, si quis cogitet, quomodo non tantum sanas Philosophi doctrinas, quarum forte plerasque jampridem noverant, sed & errores, atque adeo una cum frugibus etiam scarabaeos cum suis tabernaculis in horreum suum congesserint, inque Philosophiam suam receperint Judaei. Quod cum Philonis exemplo latius paulo post sim demonstraturus, hoc duntaxat jam addidisse sufficiat, nihil fuisse Alexandriae Platonis nomine dogmatisque celebrius : quod infinitis Platonicorum, qui ex Alexandrina schola prodiere, exemplis, & aliis scriptorum veterum posset comprobari testimoniis, nisi jam, qui de eo dubitaret, esset nemo.« Ebd. VI: »Dixi, Platonem fortassis pauca quaedam ab antiquioribus accepisse Judaeis. Nam plura accepisse vel omnia ille demum affirmarit, qui Platonis & antiquiorum doctrinae Philosophorum, & religionis Judaicae sit juxta ignarus. At quaedam accepisse, probabilem fidem faciunt, conspirans in doctrinis quibusdam naturae lumini vix percipiendis veritas :

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Auch Reimarus zieht in der öffentlich gehaltenen Antrittsrede von 1728 die Konsequenz im Blick auf die johanneische Theologie noch nicht. Mindestens ihm selbst, vermutlich aber auch großen Teilen des philologisch und theologisch geschulten Publikums könnte es jedoch klar gewesen sein, welches bibel- und dogmenkritische Potential in der gelehrten Darbietung des frisch berufenen Professors lag. Wer den Diskurs über den Platonismus der Kirchenväter und die apologetische Notlage in Sachen Johannesprolog kannte, der konnte sich einen Reim auf die Antrittsrede des jungen Reimarus machen, und an entsprechend gelehrten Zuhörern fehlte es im Umfeld des Hamburger Akademischen Gymnasium gewiss nicht. Jean Le Clerc, den Reimarus wenige Jahre vor seiner Antrittsrede während der akademischen Reise besuchte, hatte in seinen Epistolae Criticae et Ecclesiasticae41 bereits darauf hingewiesen, dass das Neue Testament von der hellenistischen Beeinflussung des zeitgenössischen Judentums keineswegs ausgenommen war. Johannes selbst sei von der platonischen Philosophie des Judentums, wie sie insbesondere durch Philo repräsentiert wird, insofern beeinflusst worden, als er die formale und begriffliche Struktur seiner Theologie aus dem Platonismus gewonnen habe, wodurch er die für die weitere trinitätstheologische Entwicklung charakteristische Liaison mit dem Platonismus ermöglicht und nahe gelegt habe. Um die dogmenkritische Konsequenz im Blick auf den Johannesprolog nicht ziehen zu müssen, hält er ihn jedoch in inhaltlicher Hinsicht weiterhin für eigenständig dem Platonismus gegenüber, so dass die biblische Offenbarungswahrheit selbst vor den Untiefen des Platonismus geschützt bleibt.42 Reimarus hat die Begegnung mit Jean Le Clerc in seinem Reisetagebuch festgehalten. Der Johannesprolog wird hier nicht erwähnt, wohl aber Le Clercs Plädoyer für die Lektüre des Buchs Hiob im Kontext der heidnischen antiken Literatur.43 Das mag eine Chiffre sein, die für die Aufhebung der Grenzen von Heiligem und Profanen auch in anderen Teilen der Bibel steht und den jungen Reimarus dazu gebracht hat, auch Le Clercs Auslegung des Johannesprologs geringfügig anders zu verstehen, als sie formuliert ist. Der Grundgedanke zur Kritik der johanneischen Logoslehre könnte also zu den ältesten Stücken der Reimarus’schen Kritik zählen, auch wenn er sich in der Apologie erst verhältnismäßig spät findet. Die Kritik des Johannesprologs und

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tum antiquorum testimonia, qui Platonem jam cum Alexandrino Clemente ĭȚȜȩıȠijȠȞ ਥȟ ਬȕȡĮ઀ȦȞ, jam ex Numenio Mosen Atticissantem, jam cum eodem Clemente ਥț IJ૵Ȟ ȂȦȨı੼ȦȢ ੩ijİȜȘș੼ȞIJĮ vocant, & passim similibus afficiunt titulis. Huc refer alteram partem proverbii ਵ ʌȜ੺IJȦȞ ijȚȜȦȞȓȗİȚ [der erste Teil lautet bei Jonsius ਵ ijȓȜȦȞ ʌȜĮIJȠȞȓȗİȚ], quod nihil aliud sonat ac si dicas ǿȠȣįĮ૘ȗİȚ.« Jean Le Clerc: Ars critica. Bd. 3: Epistolae criticae et ecclesiasticae. Amstelodami 1700. Le Clerc (s. Anm. 41), S. 315f. Ähnlich bereits ders.: Priora Commata capitis primi Evangelii S.Joannis paraphrasi et animadversionibus illustrata. Amstelodami 1695, S. 4. Die Stellen werden eingehend diskutiert bei Walther Glawe (s. Anm. 15), S. 48ff. Vgl. Martin Mulsow: From Antiquarianism to Bible criticism? Young Reimarus visits the Netherlands. In: Between Philology and Radical Enlightenment: Hermann Samuel Reimarus. Hg. von Martin Mulsow. Erscheint in Leiden voraussichtlich 2010.

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der in ihm grundgelegten Trinitätslehre steht in der Mitte der Reimarus’schen Dogmenkritik und stellt den wohl schwersten Angriff auf die Dogmatik der lutherischen Orthodoxie dar, den die Apologie zu bieten hat. Bemerkenswert ist, dass Reimarus die Summe aus der vorausliegenden Diskussion des Johannesprologs zieht, ohne kritische Ideen ›von außen‹ gegen die orthodoxe Lehre ins Feld zu führen. Seine Kritik trägt weitgehend orthodoxe Züge, steht, wenn man so will, in der Tradition Wittenberger Theologie und Gelehrsamkeit. Die sozinianische Unterscheidung von biblischem Johannesprolog und späterer trinitätstheologischer Ausdeutung, die Debatte um die platonischen Häresien der vornizänischen Väter, die Einsicht, dass die platonische Philosophie zum Atheismus leiten kann, wenn sie nicht gar selbst atheistisch ist, so wie die Philosophie Spinozas – das alles zusammengenommen musste zur Ablehnung der Trinitätslehre führen. Wer an der orthodoxen, biblisch begründeten Trinitätslehre festhält, der ist letztlich Atheist nach dem Urteil der Orthodoxie. Das ist das kuriose Resultat der lutherischen Apologetik, um das Reimarus nicht herum kommt.

4 Schluss Hat Lessing Reimarus’ Kritik des Johannesprologs gekannt? Obwohl das Manuskript, aus dem Lessing die Fragmente entnommen hat, verschollen ist, darf diese Frage aller Wahrscheinlichkeit nach mit Nein beantwortet werden. Zwar ist aus Andreas Riems Edition der Uebrige[n] noch ungedruckte[n] Werke des Wolfenbüttelschen Fragmentisten44 ersichtlich, dass Lessing mehr Material zur Apologie besessen hat, als er dem Publikum in seiner Edition der Fragmente präsentieren konnte. Man möchte aber annehmen, dass Lessing die literarisch gut isolierbaren Stücke zur Kritik des Johannesprologs publik gemacht hätte, wenn sie ihm zur Verfügung gestanden hätten. Nur zu gut passen sie zu Lessings Interesse an der destruktiven Dynamik orthodox-theologischer Apologetik und Polemik, die er früh bereits beobachtet und etwa im Berengarius Turonensis mit subtilem Geschick vor dem Publikum inszeniert.45 Der Umstand freilich, dass die Kritik der johanneischen Logoslehre in der Lessing’schen Publikation der Fragmente keine Berücksichtigung finden konnte, bedingt es, dass dieses ebenso kuriose wie aufschlussreiche Stück lutherischer Theologiegeschichte dem historischen Gedächtnis entfallen ist. Es beleuchtet einen heute weithin vergessenen Ausschnitt der deutschen theologi44

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[Hermann Samuel Reimarus]: Uebrige noch ungedruckte Werke des Wolfenbüttlischen Fragmentisten. Ein Nachlaß von Gotthold Ephraim Leßing. Hg. von C.A.E. Schmidt (=Andreas Riem). 1787. Vgl. Friedrich Vollhardt: Kritik der Apologetik. Ein vergessener Zugang zum Werk G. E. Lessings. In: Gotthold Ephraim Lessing. Neue Wege der Forschung. Hg. von Markus Fauser. Darmstadt 2008, S. 182–198. Zum Berengarius Turonensis vgl. den Beitrag von Volker Leppin in diesem Band.

Hermann Samuel Reimarus als Ausleger des Johannesprologs

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schen Aufklärung, für den die protestantische Theologiegeschichtsschreibung mit ihrer Fixierung auf die Neologie als den Motor theologischer Innovation nur schleppend eine Sensibilität entwickelt. Karl Aner mit seinem Buch zur Theologie der Lessingzeit46 hat hier nachhaltig gewirkt, ebenso wie auch Emanuel Hirsch mit seiner Geschichte der neuern evangelischen Theologie47. Die Neologie hält Hirsch für »[w]ichtiger als alle besondern Einflüsse«,48 zu denen unter anderem auch die radikale Bibelkritik der Apologie zählt – das Werk eines »Anhänger[s] des radikalen englischen Deismus«,49 durch das »die deistische Sturmflut« Englands auf Deutschland einwirkt. Der historiographische Dualismus zwischen dem radikalen Deismus außerhalb und der gemäßigten Neologie in der deutschen Aufklärung, die leibnizwolffsche Vernunft und theologische Offenbarungswahrheit miteinander versöhnt, sitzt tief und macht es noch immer schwierig, das kritische Werk des Reimarus, sofern es nicht mit den Lessing’schen Fragmenten übereinstimmt, als Teil der deutschen Aufklärungsgeschichte angemessen zu würdigen.50 Die Argumente, die Reimarus gegen die Trinitätslehre anführt, entstammen weitgehend der gelehrten orthodox-theologischen Tradition, die schon im 17. Jahrhundert eingebettet in die gelehrten Netzwerke der respublica literaria in gesamteuropäischen Diskussionszusammenhängen steht, und machen deutlich, welches destruktive Potential die lutherische Theologie in ihrem apologetischen Kampf um die Begründung dogmatischer Wahrheit lange vor der Neologie entwickelt hat. Zumindest was die Trinitätslehre angeht, greift Reimarus die Orthodoxie nicht ›von außen‹ an. Vielmehr führt er die apologetischen Debatten der Orthodoxie zu einem Ende, das in ihnen selbst angelegt ist. Darin zeigt sich eine orthodox-theologische Rückseite des ›radikalen Deisten‹ Reimarus, auf die durch Lessings Edition der Fragmente so gut wie kein Licht fällt.

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Karl Aner: Die Theologie der Lessingzeit. Halle 1929. Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens. Bd. 4,1/2. Gütersloh 51975. Vgl. Hirsch (s. Anm. 47), Bd. 4,2, S. 8. Vgl. Hirsch (s. Anm. 47), Bd. 4,1, S. 145. Vgl. z. B. die kurzen Erwähnungen in Albrecht Beutel: Aufklärung in Deutschland. Göttingen 2006, S. 221, 227 und S. 292f

Volker Leppin

Ein mittelalterlicher Fund für das aktuelle Gespräch Lessings Berengarius Turonensis

Der Berengarius Turonensis gehört zu den eher unbekannten Schriften Lessings.1 Da mag es auch eine Rolle spielen, dass der Traktat schon zu seinen Lebzeiten gerade auch unter Lessings Freunden Irritationen hervorrief: »Es muß Ihnen sehr kirr däuchten, sich von Orthodoxen gesegnet zu sehen«, so schrieb Christian Gottlob Heyne an ihn2 und brachte damit die Schwierigkeit des Berengarius-Textes auf den Punkt: Tatsächlich schien Lessing hier Partei für eine lutherische Auslegung des Abendmahls zu nehmen, und das mitten in einer Zeit, in der aufgeklärte Theologie auch im Luthertum eher dazu neigte, die Differenzen der Reformationszeit in dieser Frage einander anzugleichen – ja, in seinen Gedanken über die Herrnhuter hatte Lessing sogar einst selbst den Abendmahlsstreit zwischen Luther und Zwingli als bloßen Streit um Worte charakterisiert.3 Dass, wie Johannes Schneider vermutet hat,4 hinter der scheinbaren Wendung zur Orthodoxie auch das Werben um den Vater stand – das ja übrigens auch die Gedanken über die Herrnhuter mit beeinflusst haben dürfte, legt sich wenigstens nahe, wenn man auf das Schreiben schaut, mit dem Gotthold Ephraim Lessing seinen Fund dem alten Kamenzer Pastor Primarius am 27. Juli 1770 mitteilte: Gleich Anfangs habe ich unter den hiesigen Manuscripten, deren an 6000 vorhanden, eine Entdeckung gemacht, welche sehr wichtig ist, und in die Theologische Gelehrsamkeit einschlägt. Sie kennen den Berengarius, welcher sich in dem XIten Jahrhunderte der Lehre der Transsubstantiation widersetzte. Von diesem habe ich nun ein Werk aufgefunden, von dem ich sagen darf, daß noch kein Mensch etwas weiß; ja dessen Existenz die Katholiken schlechterdings geleugnet haben. Es erläutert die Geschichte der Kirchenversammlungen des gedachten Jahrhunderts, die wider den Berengarius gehalten worden, ganz außerordentlich und enthält zugleich die unwidersprechlichsten Beweise, daß Berengarius voll-

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Vgl. aber die ihm gewidmete Studie von Kurt Flasch: Lessing e la storia della filosofia medievale. In: Giornale critico della filosofia italiana 61 (1982), S. 253–277. Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Wilfried Barner und anderen. Frankfurt am Main 1985–2003 (im folgenden zitiert als FA für ¿Frankfurter Ausgabe¾ mit Band- und Seitenzahl), hier Bd. 11/2, S. 116,12f. (9. Dezember 1770). Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Schriften. Hg. von Karl Lachmann. 3. Auflage. Hg. von Franz Muncker, 23 Bde., Stuttgart 1886–1924, hier Bd. 14, S. 159 (im Folgenden zitiert als LM mit Band- und Seitenzahl). Johannes Schneider: Lessings Stellung zur Theologie vor der Herausgabe der Wolfenbüttler Fragmente. ’s-Gravenhage 1953, S. 174.

Lessings »Berengarius Turonensis«

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kommen den nachherigen Lehrbegriff Lutheri von dem Abendmahle gehabt hat, und keines Wegs einer Meinung davon gewesen, die der Reformierten ihrer beikäme. Ich werde das ganze Manuskript herausgeben, und lasse bereits vorläufig eine Ankündigung drucken, die ich Ihnen nächstens senden will.5

Trotz dieser Ankündigung griffe man freilich zu kurz, wenn man den Berengarius nur in der melodramatisch anmutenden Perspektive wahrnähme, dass der frischgebackene, endlich sozial einigermaßen gesicherte Wolfenbütteler Bibliothekar seinem Vater kurz vor dessen Tod eine Etüde in Orthodoxie habe liefern wollen. Schon in der Ankündigung steckt mehr: die Auseinandersetzung mit den römischen Katholiken, der historische und philologische Eifer, nicht zuletzt der Stolz des Bibliothekars, der sich als Herr über die Handschriften in deren Dienst stellt – und dabei nach der verbreiteten Deutung eine weitere seiner vielen ›Rettungen‹ vornimmt.6 Diese Einordnung des Textes ist sicher zutreffend, doch ist der Text um einiges facettenreicher. Um die Vielfalt der Ebenen nachvollziehen zu können, auf denen Lessing in ihm argumentiert, muss man sich freilich die historische Konstellation vergegenwärtigen, die Lessing bei seinem Vater als bekannt voraussetzen konnte:7 den zweiten Abendmahlsstreit des 11. Jahrhunderts, der wiederum auf den ersten Abendmahlsstreit des 9. Jahrhunderts zurückgriff.

1 Lessings Fund und seine Geschichte Im Jahre 1059 musste Berengar von Tours auf einer Synode in Rom ein Bekenntnis sprechen, in dem er sich in aller nur möglichen Drastik zur Realpräsenz Christi in den eucharistischen Elementen bekannte:8 Ego Berengarius […] cognoscens veram et apostolicam fidem, anathematizo omnem haeresim, praecipue eam, de qua hactenus infamatus sum; quae adstruere conatur, panem et vinum, quae in altari ponuntur, post consecrationem solummodo sacramentum, et non verum corpus et sanguinem Domini nostri Iesu Christi esse, nec posse sensualiter, nisi in solo sacramento, manibus sacerdotum tractari vel frangi vel fidelium dentibus atteri. Con5 6

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FA 11/2, S. 32,23–33,3. Vgl. zu dieser Einordnung im Horizont der ›Rettungen‹ auch Monika Fick: LessingHandbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2000, S. 114; Henri Kowalewicz: Lessing et la culture du Moyen Age. Hildesheim 2003 (Spolia Berolinensia 23), S. 104. 263; Klaus Bohnen: Grenzsetzungen. Zensur-Kritik und Selbstzensur bei G.E. Lessing. In: Zensur im Jahrhundert der Aufklärung. Geschichte – Theorie – Praxis. Hg. von Wilhelm Haefs, York-Gothart Mix. Göttingen 2007, S. 133–143, 139; Edith Welliver: Lessing’s Approach to Medieval Literature. In: Lessing-Yearbook 17 (1985), S. 121–132, 124. Wie wenig bekannt sie heute ist, zeigt etwa Peter J. Brenner: Gotthold Ephraim Lessing. Stuttgart 2000, S. 240, der im Blick von Berengar von »ziemlich freien Auffassungen über die Offenbarung und insbesondere über die Dreifaltigkeit« spricht – tatsächlich ging es (wie auch Lessings eigene Schrift überdeutlich zeigt) um das Abendmahl. Vgl. zum Folgenden, der Rekonstruktion der Lehre des Berengarius und seiner Gegner: Volker Leppin: Theologie im Mittelalter. Leipzig 2007 (Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen I/11), S. 57–64.

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Volker Leppin sentio autem sanctae Romanae Ecclesiae et Apostolicae Sedi, et ore et corde profiteor de sacramento dominicae mensae eam fidem me tenere, quam dominus et venerabilis papa Nicolaus et haec sancta Synodus auctoritate evangelica et apostolica tenendam tradidit mihique firmavit: scilicet panem et vinum, quae in altari ponuntur, post consecrationem non solum sacramentum, sed etiam verum corpus et sanguinem Domini nostri Iesu Christi esse, et sensualiter, non solum sacramento, sed in veritate, manibus sacerdotum tractari et frangi et fidelium dentibus atteri. (Ich, Berengar, […] erkenne den wahren und apostolischen Glauben und belege jede Häresie mit dem Anathema, besonders aber jene, deretwegen ich bisher beschuldigt wurde: sie wagt zu behaupten, das Brot und der Wein, die auf den Altar gelegt werden, seien nach der Konsekration lediglich ein Sakrament und nicht der wahre Leib und das wahre Blut unseres Herrn Jesus Christus; auch könnten sie nicht sinnenhaft – es sei denn allein im Sakrament – mit den Händen der Priester berührt oder gebrochen oder mit den Zähnen der Gläubigen zerrieben werden. Ich stimme aber der heiligen Römischen Kirche und dem Apostolischen Stuhl zu und bekenne mit Mund und Herz, dass ich in Bezug auf das Sakrament des Herrenmahles jenen Glauben festhalte, den der Herr und ehrwürdige Papst Nikolaus und diese heilige Synode kraft evangelischer und apostolischer Autorität festzuhalten überliefert und mir bestätigt hat: dass nämlich das Brot und der Wein, die auf den Altar gelegt werden, nach der Konsekration nicht nur ein Sakrament, sondern auch der wahre Leib und das wahre Blut unseres Herrn Jesus Christus sind und sinnenhaft – nicht nur im Sakrament, sondern in Wahrheit – mit den Händen der Priester berührt und gebrochen und mit den Zähnen der Gläubigen zerrieben werden.)9

Dieses Bekenntnis stellte im Modus liturgischer Sprache eine Selbstverurteilung dar, der in den gewundenen Formulierungen, mit denen Berengars vorherige Lehre zusammengefasst wurde, durchaus anzumerken ist, dass an ihr gefeilt und wohl auch Berengars Widerworte bis zu einem gewissen Grade einbezogen wurden. Als Bekenntnis zu einer Lehrfestlegung erhielt es dogmatisch und kirchenrechtlich bindende Kraft und ist als Kanon »Ego Berengarius« auch in das Decretum Gratiani eingegangen.10 In dieser Fassung wurden Berengar und seine nur durch die Selbstwiderrufung erkennbare Position der Nachwelt bekannt – bis hin zur Reformation. In der Schrift Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis hat Luther sich 1528 ausdrücklich dazu bekannt, dass in dieser Verurteilung des Berengar die mittelalterlichen Päpste doch einmal etwas Christliches getan hätten.11 Das Schicksal, das Berengar damit hatte, teilt er mit vielen Ketzern der Kirchengeschichte: dass sie mehr durch die Perspektive ihrer Verurteiler als durch ihre eigenen Äußerungen bekannt sind. Diese Konstellation wurde im Falle Berengars noch dadurch verschärft, dass er namhafte Gegner gehabt hatte, unter ihnen Lanfrank von Bec, Erzbischof von Canterbury und Lehrer sowie in mehreren Positionen Amtsvorgänger von Anselm von Canterbury. Seine Widerlegung Berengars diente zur Grundlage der Rekonstruktion von dessen Ge-

9 10 11

Heinrich Denzinger: Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Hg. von Peter Hünermann. 40. Auflage. Freiburg 2005, Nr. 690. Corpus Iuris Canonici. Hg. von Emil Friedberg. Bd. 1, Leipzig 1879 (= Graz 1955), Sp. 1328f. D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 26. Weimar 1883ff., S. 442,39– 443,3.

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danken wie auch des Verlaufs des kirchlichen Vorgehens gegen ihn – hierdurch erschien Berengar als ein widersetzlicher Mönch, der immer wieder durch die Kirche zur Einsicht gezwungen worden war, sich der erreichten besseren Einsicht aber immer wieder entzogen hatte. Für die »Autorität der ganzen heiligen Kirche« setzte er sich gegen Berengar als den »Feind der katholischen Kirche« ein.12 Er warf Berengar vor, die heiligen Autoritäten beiseitezulassen und Zuflucht in der Dialektik zu suchen.13 Er selbst hingegen wolle lieber ungelehrt, als idiota, bei den Gläubigen bleiben als mit Berengar ein Häretiker zu werden.14 Im 18. Jahrhundert meinte man, mit diesen Schriften alles zu haben, was man von dem Streit wissen konnte – und, wie Lessing im Brief an seinen Vater andeutete: Man meinte wenigstens auf katholischer Seite auch, Berengar habe auf diese Schrift Lanfranks gar nicht mehr reagiert. Der Fund Lessings aber stellte genau diese vermeintlich nie existente Schrift dar: Berengars Antwort auf Lanfrank. Tatsächlich hat Berengar sich auf Lanfrank eingelassen und dabei zu erkennen gegeben, woher seine eigenen Zweifel an einer bestimmten Form von Präsenzlehre stammten: Er selbst war auf den sogenannten ersten Abendmahlsstreit gestoßen.15 Seinerzeit hatte Paschasius Radbertus eine Eucharistielehre vertreten, nach der das Fleisch Christi in den Elementen als veritas und figura zugleich gegenwärtig sei: Die noch neuplatonisch beeinflusste Vorstellung eines Realsymbols hatte hier ein starkes Gewicht auf Seiten der Realität erhalten. Dem hatte auf Anforderung des Hofes Karls des Kahlen der Mönch Ratramnus eine Schrift entgegengestellt, die in der Folgezeit unter dem Namen des karolingischen Hoftheologen Johannes Scotus Eriugena kursierte und als solche sowohl von Berengar als auch noch von Lessing angesehen wurde. Ratramnus ist so wenig wie Paschasius Radbertus einfach mit Hilfe der späteren dogmatischen Begriffe zu verstehen. Das Anliegen seiner Schrift aber ist deutlich erkennbar: Was Paschasius zusammengehalten hatte, eine Präsenz in veritate et figura, fiel bei ihm auseinander: Bei veritas und figura handele es sich um Alternativen, und in veritate könnten in diesem Sinne nur die äußeren Elemente präsent sein, Christus selbst hingegen sei nur in figura präsent. Der Streit wurde durch diese Schrift nicht entschieden, auch wenn die Tatsache, dass Ratramnus im Auftrag des karolinigischen Hofes geschrieben hatte, zeigt, dass seine stärker das Symbolische betonende Deutung des Realsymbols in ihrer Zeit jedenfalls auf der Ebene der theologisch führenden Hofschule mehr Resonanz fand als die Auffassung des Paschasius, der freilich eine größere Nähe zu jenen Frömmigkeitsformen zukommt, wie sie etwa durch die Dialoge Gregors des Großen weiter Verbreitung gefunden hatten. Gemeinsam ist beiden Auffassungen – und das macht ihre spätere Rekonstruktion so schwierig –, dass sie in einer Begriff-

12 13 14 15

PL 150, Sp. 407A. PL 150, Sp. 416D: »Relictis sacris auctoritatibus, ad dialecticam confugium facis.« PL 150, Sp. 414 B-C. Vgl. Leppin (s. Anm. 8), S. 57.

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lichkeit voraristotelischer, ja, auch vorboethianischer Theologie des westlichen Mittelalters argumentieren, anders gesagt: dass Vorstellungen von Substanz und Akzidens mit ihnen noch nicht das Geringste zu tun haben. Letztlich besteht die dogmenhistorische Bedeutung Berengars gerade darin, diese Begriffe in die Debatte eingebracht zu haben: Seine Aufnahme des vermeintlichen Eriugena-Traktates verband er mit den zu seiner Zeit neu etablierten Möglichkeiten boethianisch-aristotelischer Dialektik. Die Frage, ob und inwiefern Jesus Christus in den Elementen der Eucharistie tatsächlich präsent sein könne, beantwortete er mit Hilfe der Unterscheidung des Zugrundeliegenden und der zufälligen Eigenschaften – nach der später erst im lateinischen Aristotelismus verfestigten Terminologie also Substanz und Akzidens. Der ontologische Gedankengang war dabei wünschenswert klar und einfach: Es sei, so Berengar, unmöglich, dass ein Akzidens, das doch per definitionem an anderem anhange, erhalten bleibe, während sich das, woran es anhange, die Substanz, ändere. Wenn dem aber so ist, so der klare, dialektisch vernünftige Schluss Berengars, dann kann es nicht sein, dass sich die Substanz des Brotes (und des Weins) in die Substanz von Leib und Blut Christi ändert, während die äußere Erscheinung gleich bleibt. Damit ist die sakramentale Vergegenwärtigung Jesu Christi in Berengars Augen keineswegs bestritten, aber eben ihre real-ontologische Form. Was Lessing noch nicht bewusst war, ist, dass Berengar sich damit nicht etwa gegen eine vorhandene Lehre der Transsubstantiation wandte, sondern die mittlerweile überwiegende Auffassung einer ontologischen Realität der Gegenwart Christi in den Elementen seinerseits in der neuen dialektischen Begrifflichkeit formulierte und als unmöglich erwies. Tatsächlich ist diese Begrifflichkeit erst in der Antwort auf Berengar auch in kirchliche Texte eingegangen16 und hat sich dann in einem mehr als ein Jahrhundert langen Prozess zu der Vorstellung von einer Transsubstantiation verdichtet, wie sie das vierte Laterankonzil 1215 dogmatisiert hat. Berengars Einwände waren mittlerweile durch verschiedene Verurteilungen unterdrückt worden, auch wenn sie der Sache nach immer wieder auflebten.17

2 Der stolze Bibliothekar Die Causa Berengar war im 18. Jahrhundert gut bekannt: Nicht nur bei seinem Vater konnte Lessing Kenntnis hiervon voraussetzen, sondern auch und vor allem die wissenschaftliche Öffentlichkeit war verschiedentlich damit befasst: Insbesondere die Gelehrten der Mauriner,18 die sich in der benediktinischen

16 17 18

Vgl. Leppin (s. Anm. 8), S. 64. Vgl. etwa Leppin (s. Anm. 8), S. 143f. Daniel-Odon Hurel: Les Mauristes, éditeurs des Pères de L’église au XVIIe siècle. In: Les Pères de l’église au XVIIe siècle. Hg. von Emmanuel Nury, Bernard Meunier, Paris 1993,

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Reformkongregation von Saint-Maur scharten,19 hatten durch ihre umfassende editorische Arbeit die Aufmerksamkeit neu hierauf gelenkt: 1648 hatte Luc d’Achery die Briefe Lanfranks herausgegeben – und damit die erste große Edition der Mauriner vorgelegt, der viele weitere folgen sollten.20 Jean Mabillon (1632–1707)21 hatte sich Lanfranks Biographie gewidmet und diese heiligmäßig stilisiert. Auch im deutschen Sprachraum hatte man neu auf die Ereignisse geblickt: Conrad Arnold Schmid, Professor am Braunschweiger Carolinum, hatte einen Brief Adelmanns von Lüttich (gest. 1061) herausgegeben, in dem dieser sich als einer der ersten gegen Berengar gewandt hatte.22 All dies waren aber Editionen von Schriften der Gegner Berengars – Lessing hatte nun aufgrund seines Fundes die Gelegenheit, ein Original des verurteilten Ketzers vorzulegen. Und die Schätze der Wolfenbütteler Bibliothek waren so geartet, dass dies, wie Lessing ausführte, keine Entdeckung, sondern ein Fund gewesen sei, denn man entdecke, was man suche, finde aber Unerwartetes.23 So reich, so liest man hier, sind die Schätze, dass man selbst da, wo man es nicht erhofft, noch Kostbares findet. Und Lessing wusste sehr genau, wie kostbar sein Fund war. »Es müssen aber, schon zu des Flacius Zeiten, die Schrifften des Berengarius so gut als aus der Welt gewesen seyn«,24 stellte er fest und verwies auf die bekannte Sammelleidenschaft des Flacius, dem es aber nicht gelungen sei, eine Handschrift des Berengarius aufzutreiben, obwohl er diesen in die Reihe seiner testes veritatis aufgenommen habe. Freilich basierte diese Einschätzung Lessings auf einem doppelten Irrtum: Tatsächlich hatte einerseits Flacius Berengar nicht in seinen Catalogus testium veritatis aufgenommen, sondern diese Erwähnung erfolgte erst in Bearbeitungen des Catalogus nach seinem Tode.25 Andererseits entstammte der Berengar-Kodex durchaus der in Wolfenbüttel verwahrten Biblio-

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20 21 22 23 24 25

S. 119–134; David Lunn: Art. Mauriner. In: Theologische Realenzyklopädie 22. Berlin, New York 2000, S. 281–283, 283, weist darauf hin, dass das Bemühen der maurinischen Reformkongregation nicht mit diesen editorischen Arbeiten zu identifizieren ist: Nach heutigen Berechnungen war lediglich ca. ein Prozent der Mitglieder der Kongregation ausschließlich mit wissenschaftlichen Aufgaben befasst. Zur Gründung der Kongregation aus Reformimpulsen s. Manfred Weitlauff: Die Mauriner und ihr historisch-kritisches Werk. In: Historische Kritik in der Theologie. Beiträge zu ihrer Geschichte. Hg. von Georg Schwaiger, Göttingen 1980, S. 153–209, 161; Yves Chaussy: Les Bénédictins de Saint-Maur. Bd. 1: Apercue historique sur la Congrégation. Paris 1989, S. 11–33. Vgl. den Überblick bei Hurel (s. Anm. 18), S. 120. Zu ihm: Weitlauff (s. Anm. 19), S. 179–209. Adelmanni Brixiae episcopi De veritate corporis et sanguinis domini ad Berengarium Epistola. Hg. von Conrad Anton Schmid. Braunschweig 1770. LM 11, S. 73. LM 11, S. 63. Hans Butzmann: Die Weissenburger Handschriften. Frankfurt am Main 1964 (Katalog der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel. Die Neue Reihe 10), S. 15f; vgl. Martina Hartmann: Humanismus und Kirchenkritik. Matthias Flacius Illyricus als Erforscher des Mittelalters. Stuttgart 2001 (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 19), S. 163 Anm. 158.

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thek des Flacius, war aber aus nicht ganz geklärten Gründen in die Sammlung der Weißenburger Handschriften geraten.26 Der eine wie der andere Irrtum brauchte aber Lessings Stolz als Bibliothekar nicht zu hemmen: Er machte in seiner dem Vater avisierten Ankündigung des Berengar-Textes, dem er freilich nie eine Edition folgen ließ, deutlich, um welche Sensation es sich bei dieser Entdeckung handelte: Was meynen Sie, wenn ich Ihnen sage, daß ein Werk des Berengarius, ein umständliches, ausführliches Werk, welches allem Ansehen nach sein wichtigstes Werk gewesen ist; daß so ein Werk, dessen kein Mensch gedenket, von dessen Wirklichkeit sich niemand träumen lassen; daß so ein Werk, von dem solcher Dinge sonst sehr kundige Männer so gar behaupten, daß es nie existiert habe, auf dessen Nichtseyn eben diese Männer ganze Gebäude von frommen Vermuhtungen und Lügen aufführen: was meynen Sie, wenn ich Ihnen sage, daß ein solches Werk noch vorhanden, daß es hier bey Uns, unter den ungedruckten Schätzen der hiesigen Fürstlichen Bibliothek vorhanden?27

Und Lessing wäre nicht Lessing, wenn er eine kleine Spitze gegen Schmid, an den er sich mit diesen öffentlichen Zeilen wandte, unterdrückt hätte: »Nicht wahr, das wäre noch ein anderer Fund, als Ihr Adelmann, der Ihnen unter eben diesen Schätzen so glücklich in die Hände gerieth?«28 Die fürstliche Bibliothek in Wolfenbüttel als Hort unnennbarer Schätze: Lessing meint gar, er dürfe im Vergleich mit anderen Bibliotheken »mit Fug und Recht behaupten, daß unsere Fürstliche an dem wiedererkannten Werke des Berengarius ein Kleinod besitzet, dessen sich keine andere rühmen kann, ja dessen gleichen auch nur, sowohl an Seltenheit, als am innern Werthe, ihnen allen schwer seyn möchte, uns entgegen stellen zu können«29 Eben diese Vorstellung inszenierte Lessing mit einer Ankündigung des Berengarius, und zugleich inszenierte er sich selbst als den von den Aufgaben der Hamburgischen Dramaturgie Entlasteten und ganz zum Bibliothekarshandwerk Übergegangenen.

3 Der Philologe Die erwähnte Bemerkung, es handle sich beim Berengar für Lessing nicht um eine Entdeckung, sondern um einen Fund, leitet Lessings kleine Fundgeschichte ein, in der er sich selbst als den pfleglichen Bibliothekar darstellt:30 Er sei an die Weißenburgischen Codices gegangen und habe sie »Stück nach Stück vor die Hand« nehmen wollen, um sich eine »hinlängliche Idee davon« zu machen. Welche Sorgfalt dies bedeutete, machte er zugleich auch durch einen Schlenker deutlich, in dem er darauf verwies, dass die Geschichte dieser Sammlung als 26 27 28 29 30

Hartmann (s. Anm. 25), S. 249; Kowalewicz (s. Anm. 6), S. 25 Anm. 4, geht noch von der traditionellen Zuordnung zu den Handschriften aus dem Kloster Weißenburg aus. LM 11, S. 70f. LM 11, S. 71. LM 11, S. 78. Zum Folgenden: LM 11, S. 73.

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solche ja aus der Bibliotheksgeschichte Jacob Burckhards von 1744 bekannt sei.31 In diesem Zusammenhang nun sei er auf einen Band gestoßen, der eine jüngere Aufschrift »De Coena Domini et Transsubstantiatione« getragen habe,32 und indem Lessing dies benennt, bietet er nicht nur eine äußere Beschreibung des Bandes: Es handle sich um eine Pergamenthandschrift im Quartformat mit 114 Blättern, geschrieben vermutlich im 11. oder 12. Jahrhundert.33 Noch ehe er diese Bibliothekarspflicht erfüllt, bietet er eine philologisch fundierte Identifikation des Textes und damit die eigentliche Begründung der angekündigten Sensation: Der Band habe verschiedentlich Rasuren eines Namens aufgewiesen, lediglich der Anfangsbuchstabe »S« sei erhalten geblieben,34 und der Vergleich von diesem Namen zuzuordnenden Zitaten mit Zitaten in Lanfranks Schrift habe ergeben, dass es sich bei diesem ausradierten Namen nur um Johannes Scotus handeln könne – also Eriugena, den man, wie erwähnt, noch im 18. Jahrhundert für den Autor desjenigen Traktates hielt, der tatsächlich von Ratramnus geschrieben war. Es folgen in Lessings Beschreibung weitere philologische Beobachtungen, insbesondere die eines dialogischen Charakters: Verschiedentlich wende sich der Autor der Handschrift mit einem »Tu Lanfrancus« unmittelbar an Lanfrank, und dann komme auch gelegentlich ein »Ego Berengarius« vor35 – damit ist für Lessing die Identifikation des Textes als das Reskript Berengars an Lanfrank erwiesen. Unklar ist freilich noch die Datierung. Um ihretwillen muss Lessing sich notwendigerweise mit der Datierung der Lanfrankschrift auseinandersetzen, gegen die Berengar sich ja wendet, und hier wiederum steht Lessing einer Datierung durch die Mauriner gegenüber, nach der Lanfrank erst nach 1079 geschrieben habe. Diese Datierung brächte es mit sich, dass Lanfrank erst gegen Berengar geschrieben hätte, nachdem dieser 1079 ein zweites Mal, nun unter Gregor VII., zum Widerruf gezwungen worden war36 und dies zum zweiten Mal revoziert hätte. Der Zusammenhang ist deswegen wichtig, weil Lessing das Interesse an einer solchen Datierung hellhörig wahrnimmt, Lanfrank zum Sieger der Debatte zu erklären: Wenn er tatsächlich erst auf den zweiten Widerruf Berengars reagiert und dieser seinerseits dagegen geschwiegen hätte, wie die Mauriner meinten, dann wäre es Lanfrank zu verdanken, dass der Häretiker endlich doch besiegt und zur Einsicht gekommen wäre – und dies im Kontext einer Beweisführung der mit Lanfrank im Orden der Benediktiner verbundenen Mönche von St. Maur, die sich Lanfrank im Orden verbunden fühlten. Die Philologie der Mauriner, so die deutlichen Hinweise Lessings, ist durchaus

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HISTORIA | BIBLIOTHECAE | AUGUSTAE | QUAE | WOLFFENBUTTELI | EST; | DUOBUS LIBRIS COMPREHENSA| […] A| IACOBO BURCKHARD, | […]. Leipzig: Christoph Meisner [1744], S. 256f. LM 11, S. 73. LM 11, S. 75. LM 11, S. 74. 76. LM 11, S. 75. Vgl. Denzinger (s. Anm. 9), 700.

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interessegeleitet, unterliegt einer Hagiographisierungstendenz zugunsten Lanfranks, zu deren Opfer neuerlich Berengar wird. Eben hierauf reagiert Lessing seinerseits philologisch-kühl, und auf sehr bezeichnende Weise: Er könnte in seiner Argumentation damit beginnen, dass das Werk Berengars selbst in mehreren Einzelzügen eine Situation vor 1079 widerspiegelt – da es als Antwort auf Lanfranks Schrift für diese einen klaren terminus ante quem darstellt, wäre damit die gesamte Datierung klar, denn die Argumente sind unmittelbar einleuchtend: Berengar erwähnt nur den Widerruf von 1059, nicht aber den von 1079, obwohl es ihm doch darum geht, seinen Widerruf zu korrigieren, was auch den letzten mit einschließen müsste. Er spricht konsequent von Kardinal Hildebrand, nicht, wie es 1079 angemessen gewesen wäre, von Papst Gregor VII., und er tituliert Lanfrank nicht als Bischof, sondern als monachus, was nur bis 1070 angemessen war.37 Doch diese Argumente kommen, sehr lakonisch, erst am Ende der Auseinandersetzung zur Datierungsfrage. Viel mehr Aufwand betreibt Lessing damit, schon aus sich heraus nachzuweisen, dass das Werk Lanfranks aus seiner Zeit in Bec stamme, und dabei die Argumente der Mauriner zu destruieren: Es geht ihm nicht nur um das Rechthaben, sondern auch um den Aufweis, wo, inwiefern und vor allem: warum die Gegner geirrt beziehungsweise gefälscht haben. Das erste Argument in diesem Zusammenhang ist, dass die Mauriner einerseits dem spätmittelalterlichen Gelehrten John Brompton in der Titelangabe des Werkes Lanfranks zu folgen bereit seien, nicht aber seiner Angabe folgten, dass Lanfrank es als Prior von Bec geschrieben habe38 – diese Notiz macht Lessing sich hingegen zu eigen. Wichtiger aber ist Lessing das Argument, dass Lanfrank sich in seiner Schrift gegen ein Werk Berengars richte, das in den Kontext der Verurteilung von 1059 gehörte, nicht aber in die von 1079. Warum, so Lessings Frage, solle Lanfrank einerseits so lange geschwiegen und sich dann zu dem früheren Vorgang geäußert haben?39 Hinzu komme, dass Lanfrank Berengar vorwerfe, sich einer persönlichen Begegnung zu entziehen, was eine geographische Nähe voraussetze und schlecht zu einer Trennung durch den Kanal passe, wie sie seit dem Wechsel Lanfranks auf den Erzbischofsstuhl von Canterbury 1070 gegeben war. Angesichts dieser Argumente, unter denen sicherlich die Frage eines Bezuges auf einen zwanzig Jahre alten Text das stärkste ist, 37 38

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LM 11, S. 95f. LM 11, S. 86. Genau betrachtet, bestätigt allerdings Brompton die Deutung der Mauriner, insofern er zwar in der Tat Lanfrank als Prior von Bec einführt, aber gleichzeitig auch erklärt, dass Lanfrank Berengar zum Schweigen gebracht habe: Nach einer kurzen Notiz über Berengar nämlich schließt Brompton in seinem Chronicon an: »Contra quem iste Nicholaus papa concilium celebravit, in quo idem Berengarius errorem suum retractavit; sicut habetur de Consecratione distinctione secunda, Ego Berengarius etc. Lanfrancus Beccensis Prior tonantem librum contra eundem edidit, quem Scintillarum intitulavit. Post haec Berengarius sancte vixit et obitum suum paredixit« (HISTORIAE | ANGLICANAE | SCRIPTORES X, | […] EX | VETUSTIS MANUSCRIPTIS, | Nunc primum in lucem editi |, […]. London: Bee 1652, S. 952). Damit aber belegt er genau die Abfolge der Ereignisse, die Lessing bestreiten will. LM 11, S. 88f.

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muss Lessing sich freilich mit einem weiteren philologischen Befund auseinandersetzen – in der maßgeblichen neuen Ausgabe Lanfranks von d’Achery aus dem Jahre 1648 findet sich ein wörtliches Zitat des 1079 erfolgten Widerrufs. Mit diesem textlichen Befund scheint ein klarer terminus a quo gegeben. Doch schlägt Lessing hier nun wiederum in einer signifikanten Verbindung aus philologischer Sorgfalt und Tendenzkritik an den Maurinern zu:40 D’Achery war nicht der erste, der den Traktat herausgab, sondern dem gingen zwei weitere Ausgaben voraus: eine von Franciscus Quadratus in Rouen 1540 und eine weitere aus dem Jahre 1528 von Johannes Sichardus in Basel, die Quadratus nicht bekannt war. Allein bei Quadratus fand sich das fragliche Zitat von 1079, nicht aber bei Sichardus, und dieser folgte der Mehrheit der Handschriften. Aufgrund dieses Handschriftenbefundes, den Quadratus versehentlich, D’Achery aber wissentlich ignoriert hatte, kommt Lessing zu dem Ergebnis, es müsse sich bei dem Zitat um eine Interpolation handeln – und damit ist der letzte Grund fortgefallen, Lanfranks Text nach 1079 zu datierten, mithin rückt dieser, wie auch der von Berengar selbst, mitten in die Auseinandersetzungsphase zwischen 1059 und 1079 hinein – anders gesagt: Lanfrank hat nicht das letzte Wort behalten. Und die Mauriner damit auch nicht.

4 Der Historiker Mit diesen Datierungsfragen ist der Philologe unweigerlich auch schon Historiker, doch Lessing will mehr: Er will die Geschichte des Berengar neu erzählen. Die durchgängige inhaltliche Nähe der Berengar-Schrift zu den frühen ›Rettungen‹ zeigt sich hier besonders deutlich: Der seit Jahrhunderten verfemte Ketzer soll unter den Schichten einer Geschichtsschreibung herausgeholt werden, die Lanfrank geprägt hat und deren Grundtenor der ist, dass es sich bei Berengar um einen von Anfang an verstockten Ketzer handle, dem die Wahrheit der Kirche mit Gewissheit und Festigkeit entgegengestellt werden musste: und es ist allerdings ein höchst melancholischer Gedanke, zu erfahren, wie leicht durch die Aussage eines einzigen Zeugen die Wahrheit auf immer kann unterdrückt werden. Getrost, nicht auf immer!41

Das Bild, das Lessing der Verzeichnung durch Lanfrank entgegenhält, ist das des Wahrheitssuchers: Lanfranks Darlegungen, schon 1050 sei in Rom und Vercelli Berengars Lehre verurteilt worden, hält dieser und mit ihm Lessing entgegen, damals habe Berengar selbst noch gar keine Gewissheit über seine Lehre gehabt, diese habe also gar nicht verurteilt werden können,42 und die Wahrheitssuche sei auch legitim gewesen, da Scotus – das heißt: Ratramnus –

40 41 42

Zum Folgenden: LM 11, S. 91. LM 11, S. 86. LM 11, S. 104.

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noch keineswegs verurteilt gewesen sei.43 Und nicht einmal kirchenrechtlich habe Berengar sich etwas zuschulden kommen lassen, als er auf der Synode von Vercelli nicht erschien: Hier habe er sich ganz im Rahmen der gallikanischen Freiheiten bewegt,44 was zwar für das 11. Jahrhundert eine Verzeichnung ist, aber in der aktuellen Situation, im Blick auf die Mauriner-Kongregation, die sich im von gallikanischen Freiheiten profitierenden Frankreich entfaltete, durchaus einen Sitz im Leben hat. Auch habe die gegen Berengar gerichtete Verfolgung nicht die Dichte und Kontinuität gehabt, wie man seit Lanfrank und anderen Kritikern meinte: Im Einzelnen legt Lessing dar, dass im Zuge der fünfziger Jahre weder unter Viktor II. noch unter Stephan IX. weitere Maßnahmen gegen Berengar ergriffen worden seien,45 sondern erst wieder unter Nikolaus II., unter dem dann die erwähnte Verurteilung von 1059 stattfand. Bemerkenswert und interessant an dieser Konstellation ist nun vor allem die Haltung Kardinal Hildebrands, auf den Berengar sich wiederholt beruft.46 Der spätere Papst Gregor VII., neben Kardinal Humbert von Silva-Candida der wichtigste und mächtigste Vertreter des Reformpapsttums an der Kurie, erscheint als Beschützer und Verbündeter, er wird in einer Zuspitzung Lessings zu demjenigen, »welcher von der Rechtgläubigkeit des Berengarius überzeugt war«.47 Mit dieser Umkehr der Erzählung, deren Einzelheiten mit Argumenten von sehr unterschiedlichem Gewicht vorgetragen werden, entsteht nun freilich eine ganz neue Kräftekonstellation: Gegen die traditionelle katholische Erzählung von dem hartnäckigen Ketzer Berengar, dem mit aller Macht Lanfrank schließlich erfolgreich entgegenstand, wird nun die Geschichte von einem Lanfrank gestellt, der voller Bitternis von früh an auf die Verurteilung eines Mönches drang, der selbst noch nach der Wahrheit suchte, der darauf bauen konnte, dass, worauf er sich berief, noch nicht verurteilt war und was er sagte, im Rahmen des Denk- und Lehrbaren möglich war. Nicht der Ketzer ist der hartnäckig Festgelegte, sondern er wird zum Ketzer gemacht, indem man seine offene Position im Modus des Urteils festlegt. Und während er, gedrängt vom Widerruf zum Widerruf des Widerrufs, bei seiner Überzeugung bleibt, ist es die andere Seite, die wankelmütig wird: Hildebrand bzw. Gregor VII., der in der deutschen Geschichte als Canossa-Papst deutlich genug als Problemgestalt festgelegt ist: Noch in den ersten Jahren seines Pontifikats habe er sich um Gerechtigkeit für Berengar bemüht, doch nicht mit letztem Einsatz, und am Ende sei seine Überzeugung eben umgeschlagen:

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LM 11, S. 122. LM 11, S. 122. LM 11, S. 145f. LM 11, S. 146. LM 11, S. 153.

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An Einsicht fehlte es ihm gewiß nicht: aber ein Mann von seinem Ehrgeize setzet die Wahrheit nur alsdenn mit aller Macht durch, wenn er sein Ansehen und seine Gewalt mit ihr zugleich befestigen kann48.

Mit diesen Sätzen ist die ›Rettung‹ vollendet und die Umdeutung der Wertungen auf eine höchst subtile Weise vollzogen: Lessing holt seine deutschen Leser bei ihren Vorurteilen gegen Gregor VII. ab und wendet dies nun gegen das von den katholischen französischen Forschern philologisch untermauerte Erzählmuster: Aus der Geschichte vom hartnäckigen Ketzer Berengar und seinem aufrechten Gegner Lanfrank wird die Erzählung vom aufrechten Wahrheitssucher Berengar und dem charakterlosen Papst49 samt einem Lanfrank, der am Ende die Geschichte zu seinen Gunsten zurechtbiegt und dadurch als Heuchler50 und Lügner51 erscheint.

5 Der Aufklärer Schon dieser an die ›Rettungen‹ erinnernde Charakter der Berengar-Schrift macht deutlich, dass die Irritation der Zeitgenossen, Lessing habe sich hier womöglich allzu sehr auf orthodoxe Denkmuster eingelassen, allzu oberflächlich auf die behäbig-gelehrte Art des Traktates reagiert, die bis heute den Zugang erheblich erschwert. Der Subtext, den Lessing vermittelt, ist ein anderer, tiefergehender: Der Wahrheitssucher, als den Lessing Berengar stilisiert, ist ganz offenkundig der Aufklärer avant la lettre, in dessen Tradition Lessing sich spielerisch selbst hineinstellt, wenn er den Gedanken durchspielt, Berengar könne sich tatsächlich durch Lanfranks Traktat geschlagen gegeben haben: Ein Mann, wie Berengarius, hätte die Wahrheit gesucht; hätte die gesuchte Wahrheit in einem Alter, in welchem sein Verstand alle ihm mögliche Reife haben mußte, zu finden geglaubt; hätte die gefundene Wahrheit muthig bekannt, und mit Gründen andere gelehret; wäre bey der bekannten und gelehrten Wahrheit, Trotz allen Gefahren, Trotz seiner eignen Furchtsamkeit vor diesen Gefahren, dreyssig, vierzig Jahre beharret: und auf einmal, in eben dem Augenblicke, da unter allen erworbenen Schätzen, dem Menschen keine werther seyn müssen, als die Schätze der Wahrheit, die einzigen, die er mit sich zu nehmen Hoffnung hat, – eben da, auf einmal, hätte seine ganze Seele so umgekehret werden können, daß Wahrheit für ihn Wahrheit zu seyn aufhörte? – Wer mich dieses bereden könnte, der hätte mich zugleich beredet, allen Untersuchungen der Wahrheit von nun an zu entsagen. Denn wozu diese fruchtlosen Untersuchungen, wenn sich über die Vorurtheile unserer ersten Erziehung doch kein dauerhafter Sieg erhalten läßt?52

48 49 50 51 52

LM 11, S. 154. S. LM 11, S. 154 über Gregor VII.: »so kennen Sie seine Geschichte und seinen Charakter zu wohl«. LM 11, S. 103.110. LM 11, S. 130. LM 11, S. 79.

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Suche nach Wahrheit, Kampf gegen das Vorurteil, die Verbindung der eigenen Wahrheitssuche mit der des Berengar – alle diese Aspekte gemeinsam machen eine über die Geschichte hinweg greifende Gemeinsamkeit zwischen dem mittelalterlichen Wahrheitssucher und dem Aufklärer aus. So wie auch gelegentlich heute in der Mediävistik, etwa von Kurt Flasch, »Aufklärung im Mittelalter« gesucht wird,53 so hat auch Lessing solche Aufklärung gesucht und gefunden und nimmt Berengar als deren Exponenten. Lanfrank hingegen ist der Repräsentant der autoritätsfixierten Normalgläubigkeit, von der ein Lessing sich ebenso distanziert wie ein Berengar.

6 Der Liebhaber der Theologie Trotz dieser aufgeklärten Filiation, die Lessing nachzeichnet, ist der Vorwurf, sich in orthodoxes Fahrwasser begeben zu haben, nicht ganz ohne Anhalt: Tatsächlich ist der Berengar-Text wohl sein am stärksten konfessionell ausgerichteter Text. Die gegen katholisch-benediktinische Hagiographie gerichteten Spitzen sind schon verschiedentlich erwähnt worden. Tatsächlich handelt es sich hier um eine Auseinandersetzung, deren Bedeutung über den Moment weit hinausgeht: Die philologische Arbeiten der Mauriner wird man unter die herausragenden Leistungen frühmoderner Wissenschaft auf der Grenze zwischen Späthumanismus und Frühaufklärung rechnen dürfen, und als solche sind sie bis heute viel zu wenig gewürdigt. Lessing hat sie wahrgenommen und hat zugleich auch wahrgenommen, dass die Erstellung von Editionen Wirklichkeiten schafft, die jeder Interpretation vorausliegen: Der ausführliche Nachweis der Irrtümer Lanfranks dient dazu, eben diese Beherrschung und Bestimmung des Wirklichkeitsbildes durch bloß eine Perspektive zu destruieren, und zugleich destruiert Lessing den Mythos der Gelehrsamkeit, indem er den Maurinern Parteilichkeit nicht nur unterstellt, sondern auch nachweist und die Tendenz ihrer Arbeiten, insbesondere in Fragen der Datierung nachweist: Aufklärung klärt sich über sich selbst auf – und die römisch-katholische Vorgabe wird in eleganter und ihrerseits höchst gelehrter Manier zurückgewiesen. Doch nimmt Lessing, und das machte wohl den Kern der Irritation aus, auch innerhalb des evangelischen Lagers Partei. Berengar galt bis dato den Reformierten als Zeuge dessen, dass die symbolische Deutung der Gegenwart Christi im Abendmahl die ursprünglichere sei.54 Lessing kam nun zu dem Ergebnis, Berengar habe zwar die Transsubstantiation bestritten, nicht aber die reale Gegenwart Christi im Abendmahl.55 So falsch diese Deutung Lessings nach

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Vgl. Das Licht der Vernunft. Die Anfänge der Aufklärung im Mittelalter. Hg. von Kurt Flasch, Udo Reinhold Jeck. München 1997. Vgl. Lessings Belege in LM 11, S. 66 Anm. *. LM 11, S. 156.

Lessings »Berengarius Turonensis«

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heutigem Kenntnisstand der Lehren Berengars ist,56 so interessant ist sie doch auch, denn Lessing führt sie weiter zu einer höchst spekulativen Folgerung für die Dogmengeschichte, die er skizzenhaft auf den letzten Blättern seiner Schrift entfaltet:57 Er unterscheidet hier drei Typen von Abendmahlslehre: die mittelalterlich-römisch-katholische der Transsubstantiation, die Lehre von den bloßen Zeichen, die er, der Sache nach verkürzend,58 den Reformierten zuordnet, und eine Lehre, die er als Lehre von den »prägnanten Zeichen« einführt, und unter der er die Lehre Luthers versteht und, nach seinen Ausführungen, auch die Berengars. Gegenüber dem bislang unter anderem mit Berengar gestützten reformierten Anspruch, die Lehre von den bloßen Zeichen sei die ursprüngliche gewesen, wendet er nun ein, dass es schwerlich vorstellbar sei, wie aus dieser Lehre dann die Transsubstantiationslehre hätte entstehen sollen, und legt dar, schlüssiger sei es, die Lehre von den »prägnanten Zeichen« an den Anfang zu setzen, die anderen beiden aber daraus folgen zu lassen. »Ich weiß nicht, ob Sie mich recht verstehen;« enden diese Überlegungen, »ich weiß nicht, ob ich nicht etwas frage, worauf man schon längst geantwortet hat: aber ich weiß, daß daraus wenigstens ein Gespräch unter uns werden kann, und daß ich mich auf jedes Gespräch mit Ihnen freue«.59 Das nächstliegende Verständnis seiner Ausführungen ist nun in der Tat: Er plädiere dafür, dass die ursprüngliche Abendmahlslehre die lutherische sei – das musste in der Tat als Zustimmung zu einer orthodoxen Haltung gelesen werden, und dies in einer Zeit, in der die Frage der lutherischen Abendmahlslehre höchst akut war: Sechs Jahre vor dem Erscheinen des Berengarius Turonensis hatte August Friedrich Wilhelm Sack aus dem Nachlass des Göttinger Theologieprofessors Christoph August Heumann (1681–1764) eine Schrift unter dem provokanten Titel Erweis, dass die Lehre der reformierten Kirche von dem heiligen Abendmahle die rechte und wahre sei60 herausgebracht, die eine Fülle von Gegenschriften, unter anderem von Johann August Ernesti, und eine offizielle Distanzierung durch die Göttinger Universität nach sich zog.61 Lessings Schrift reagierte nicht unmittelbar auf diesen Streit, stand ihm aber zeitlich nahe genug, dass ein inhaltlicher Bezug sich geradezu aufdrängt, zumal

56 57 58 59 60

61

Vgl. hierzu Flasch (s. Anm. 1), S. 271–273. Zum folgenden: LM 11, S. 161f. Vgl. Kowalewicz (s. Anm. 6), S. 256. LM 11, S. 162. D. C. A. Heumanns | Erweiß, | daß | die Lehre | der Reformirten Kirche | von dem | Heil. Abendmahle | die rechte | und | wahre sey.|, Eisleben / Wittenberg 1764; s. hierzu und zum gesamten Heumannschen Streit Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie. Bd. 4, Gütersloh 1952, IV 90–93; vgl. Inge Mager: Die theologische Lehrfreiheit in Göttingen und ihre Grenzen. Der Abendmahlskonflikt um Christoph August Heumann. In: Theologie in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe. Hg. von Bernd Moeller. Göttingen 1987 (Göttinger Universitätsschriften A 1), S. 41–57, die den langanhaltenden Streit um Heumann und seine Abendmahlsdeutung darstellt; er selbst hatte dafür gesorgt, dass der Erweis erst postum erscheine (ebd., S. 54). Mager (s. Anm. 60), S. 55.

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Heumann selbst zu jenen gehörte, die für die Ursprünglichkeit der reformierten Lehre nicht nur exegetisch, sondern auch historisch argumentierten. Vor allem listete er eine Fülle von Gelehrten auf, die dem reformatorischen Lager zugerechnet werden – auch Melanchthon wird ihm zum Zeuge der Wahrheit der reformierten Abendmahlslehre,62 und in diesem Zusammenhang kommt er auch auf die früheren Entwicklungen zu sprechen: Der »Irrthum von dem Essen des wahren und also ganzen Leibes Christi« sei, so Heumann, erst durch Paschasius Radbertus im 9. Jahrhundert aufgekommen,63 Und er geht sogar knapp auf den Berengarstreit ein, und zwar pikanterweise im direkten Anschluss an die Mauriner: Er rekurriert auf eine Erzählung, wonach Gregor VII. sieben Kardinälen befohlen habe, zu fasten, und Gott zu bitten, daß er ein Zeichen geben möge, ob die Römische Kirche oder Berengarius recht lehre: er habe also gezweifelt, ob im Heil. Abendmahle der Leib in den Mund genommen werde. Doch Mabillon zeiget in seinen Annalibus Benedictinis Tomo V. lib. 95 §. 55. fol. 140. daß diese Nachricht Bennonis falsch sey.64

Auch wenn Lessing nicht unmittelbar auf diese Äußerungen oder auch generell auf den Heumannschen Streit rekurriert, machen diese Auseinandersetzungen doch die theologiegeschichtliche Debattenlage deutlich, in die hinein aus dem nicht weit von Göttingen entfernten Wolfenbüttel Lessing schrieb. Vor diesem Hintergrund lässt sich der Berengarius auch als implizites Plädoyer für das Pochen auf lutherische Positionen lesen. Doch ist, wie oft bei Lessing, so auch hier, die subkutane Botschaft viel subtiler. Man muss nur zwei Sätze nebeneinander halten, um deutlich zu machen, wie vorsichtig-ironisch Lessing auch mit der eigenen lutherischen Partei umgeht:65 Derselbe Lessing, der den Benediktinern vorwirft, dass für sie »das sicherste Zeichen der historischen Wahrheit dasjenige zu seyn scheinet, was seiner Religion am meisten Ehre macht«,66 erklärt zu Beginn seines Traktates scheinbar kirchenfromm: »Aber wer errähtet auch nicht, welche Urtheile allein entscheiden können? Unstreitig nur, die Urtheile der Theologen u n s e r e r Kirche«.67 Der Kotau vor der kirchlichen Autorität aber bleibt bei ihm Spiel,68 denn noch eine weitere Wendung bleibt in dem Text verborgen, wenn man ihn nur als Bestätigung der lutherischen Position liest: dass Lessing ausdrücklich Luther und den ihm folgenden Lutheranern, von denen er hier nur Flacius ausnimmt,69 vorwirft, 62 63 64 65 66 67 68 69

Heumann (s. Anm. 60), S. 60f. Heumann (s. Anm. 60), S. 30. Heumann (s. Anm. 60), S. 47. Vgl. mit ähnlicher Einschätzung auch Willi Jasper: Lessing. Aufklärer und Judenfreund. Biographie. Berlin, München 2001, S. 247f. LM 11, S. 94. LM 11, S. 60. Freilich wird man den realen Zusammenhang mit der Zensurproblematik, auf den Bohnen (s. Anm. 6), S. 136, hinweist, nicht völlig ignorieren dürfen. Horst Althaus: Marginalien zu Lessings Wolfenbütteler Berengarforschung. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 72 (1961), S. 336–344, 338, weist auf das positive Urteil Gottfried Arnolds hin und betont zugleich zu Recht, dass dies für Lessing gerade »wegen Arnolds festliegender theologischer Position geringeres Gewicht« hatte als das Urteil des Flacius.

Lessings »Berengarius Turonensis«

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Berengar zu Unrecht verurteilt zu haben.70 So kann man lutherisch sein, muss sich aber jedenfalls im historischen Einzelurteil gegen den autoritativen Anspruch Luthers selbst und der Vertreter der Orthodoxie wenden. Sollten denn tatsächlich die Orthodoxen, wie Heyne es vermutete, Lessing gesegnet haben – so haben sie mit ihm eine Wahrheitssuche gesegnet, die sich, wie stets, der einfachen Festlegung entzog.

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LM 11, S. 64f.

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›Enthusiasmus der Spekulation‹ Zur fehlenden Vorgeschichte von Lessings Erziehungslehre

Wenn Literarhistoriker die methodischen Voraussetzungen ihrer Arbeit reflektieren, verwenden sie gerne Begriffe, die sich durch eine hohe Prägnanz auszeichnen sollen, was die Verständigung nicht immer erleichtert. Gegenwärtig ist dann oft von Wissensformationen oder epistemologischen Konfigurationen die Rede, deren Regelhaftigkeit ganze Epochen kennzeichne. Der einzelne Text wird hier zu einem Element zwischen benachbarten diskursiven Ereignissen, nach dessen besonderen Voraussetzungen nicht weiter zu fragen ist. Die philologische Untersuchung tritt gegenüber der Beschreibung des Diskursfeldes zurück, obwohl dieses im 18. Jahrhundert bereits selbst zum Gegenstand der literarischen Reflexion1 wird. Mit dieser vielleicht etwas schwerfällig anmutenden Beschreibung aktueller Positionsnahmen läßt sich ein altes Problem der Lessing-Forschung neu fassen, das heißt dem Stand unserer Theoriedebatte anpassen. Ob es damit auch einer Lösung näherkommt, wird sich zeigen. Gemeint ist die Frage nach den Quellen, genauer: den möglichen Voraussetzungen der Erziehung des Menschengeschlechts, kurz dem intellektuellen Klima,2 in dem Lessing seine provozierenden Thesen zur Heilsökonomie formulierte und mit einer Anspielung auf Joachim von Fiore verband.

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2

Ich schließe mich hier den Überlegungen von Klaus W. Hempfer an: Zum Verhältnis von ›Literatur‹ und ›Aufklärung‹. In: Aufklärung. Hg. von Roland Galle, Helmut Pfeiffer. München 2007 (Romanistisches Kolloquium 11), S. 15–54, bes. S. 21. – Zu danken habe ich dem ›Kränzchen‹ aus altphilologischen, romanistischen, anglistischen und germanistischen Freunden aus München und Köln, in dem ich den Text zur Diskussion stellen konnte. In den Schriften dieser Jahre ist besonders genau auf ironische Anspielungen und satirische Angriffe zu achten, daneben auch auf Parteizugehörigkeiten und persönliche Begegnungen, kurz eine Kultur der Konversation (für die sich die ›Diskursarchäologie‹ gerade nicht interessiert). Um die für Lessing wichtigen Gesprächslagen und Denkhorizonte zu rekonstruieren, wird man – um einen von Dieter Henrich eingeführten und gerade lexikonfähig gewordenen Begriff zu verwenden – ›Konstellationsforschung‹ treiben müssen.

Zur fehlenden Vorgeschichte von Lessings Erziehungslehre

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I Die genannte Schrift gilt als Vermächtnis Lessings, obwohl man die von ihm hinterlassenen geistigen Kapitalien eher gering einschätzt, vermißt wird die eigene denkerische Leistung. »Die göttliche Akkommodation«, schreibt Erich Schmidt, »war Frommen und Unfrommen eine ganz geläufige Vorstellung«, die »Neologie hantierte ja fortwährend« mit dieser Annahme.3 Es sei »der alte apologetische Gedanke«, heißt es bei Leopold Zscharnack, »der uns überall begegnet, wo man von Clemens Alexandrinus im ›Pädagogen‹ an die Religion nicht isolieren will, und wo man die Aufklärung der Vorstellungen für das Wichtigste hält.«4 Wer unter den Kirchenvätern noch zu den Ideengebern gezählt werden konnte, war zuvor bereits ausführlich diskutiert worden. Daß die Grundidee der Erziehungsschrift »nicht neu« sei, stellt auch Emil Ermatinger in einer vielbenutzten Klassikerausgabe fest, wobei er Namen nennt: Die von Lessing formulierte »Beziehung zwischen Vernunft und Offenbarung ist durch Locke und Toland ein sicheres Besitztum der Theologie« geworden, während der »Gedanke der rastlosen Vervollkommnung des Menschen« ihn mit »den größten Denkern der Aufklärung« verbindet, insbesondere mit »Spinoza und Leibniz.«5 Das ist Konsens der Forschung geblieben, auch wenn die zuletzt genannte Auswahl an Namen inzwischen ergänzt wurde, vor allem, was die protestantische Theologie des 18. Jahrhunderts betrifft. Der Kommentar zu der Werkausgabe von Wilfried Barner begnügt sich nicht mehr mit den schon bei Helbig6 zusammengefaßten Hinweisen auf Spalding, Jerusalem und Lüdke, denn »unmittelbar verwandte Gedanken«7 finde man auch bei so unterschiedlichen Autoren wie Lüderwald, Nösselt, Steinbart, Teller, Bahrdt oder Johann Georg Rosenmüller, auf den noch zurückzukommen ist, da er als einziger in dieser Reihe mit einem einschlägigen Titel zitiert wird (sein Beitrag zum Fragmentistenstreit8 ist auch in der Reimarus-Literatur verzeichnet worden). 3 4

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Erich Schmidt: Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. Zweiter Band. Dritte durchgesehene Auflage. Berlin 1909, S. 473 und 483. Leopold Zscharnack: Lessing und Semler. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Rationalismus und der kritischen Theologie. Giessen 1905, S. 242; ähnlich Martin Bollacher: Lessing: Vernunft und Geschichte. Untersuchungen zum Problem religiöser Aufklärung in den Spätschriften. Tübingen 1978 (Studien zur deutschen Literatur 56), S. 288 passim. Emil Ermatinger: Durch Aufklärung zur wahren Menschlichkeit. Leipzig 1932 (Deutsche Literatur, Reihe Klassik 2), S. 19 und 21. Louis Ferdinand Helbig: Gotthold Ephraim Lessing. Die Erziehung des Menschengeschlechts. Historisch-kritische Edition mit Urteilen Lessings und seiner Zeitgenossen, Einleitung, Entstehungsgeschichte und Kommentar. Bern, Frankfurt am Main (Germanic studies in America 38), S. 46ff. Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Wilfried Barner u. a. Frankfurt am Main 1985–2003 (im folgenden zitiert als FA für ›Frankfurter Ausgabe‹ mit Band- und Seitenzahl), hier Bd. 10, S. 807. Vgl. Hermann Samuel Reimarus: Handschriftenverzeichnis und Bibliographie. Hg. von Wilhelm Schmidt-Biggemann. Göttingen 1979 (Veröffentlichung der Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften 37), S. 125 (Nr. 258).

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Man sieht, wie sich das heilsgeschichtliche Konzept Lessings in diskursive Formationen einfügt und aus diesen ableiten läßt. Dabei geht die Frage nach individuellen Motiven und Intentionen in die nach möglichen Innovationseffekten über, welche sich aus der Kombination aktueller Theoreme oder dem NeuArrangement von Traditionsbeständen ergeben. In seiner Studie zur Religionsphilosophie der Goethezeit hat Hermann Timm dies wie folgt pointiert: »Die Erziehungsschrift ist eine Montage von Topoi der theologischen Tradition. Materialiter bringt sie nichts Neues. Ihre Originalität resultiert vielmehr aus einer erstmaligen Zuordnung heterogenster Überlieferungselemente, motiviert vom Willen, alles zu vereinen.«9 Doch diesem apodiktischen Urteil folgt nur wenige Seiten später eine etwas ratlose Einschätzung jener »systematische[n] Verschränkung von ontologischer und ökonomischer Trinität«, die der späten Schrift Lessings einen charakteristischen Zug verleiht und für die es »in der Tradition kaum Anhaltspunkte« gibt. Aus welchen Elementen hat Lessing diese Denkfigur entwickelt? Timm deutet hier in das Dunkel entlegener Diskurszonen, etwa in die »Winkeltradition« der Theosophia Revelata Jakob Böhmes oder die pietische Föderaltheologie, wo »die Erwartung des dritten Reiches der Apokalypse lebendig geblieben« war. Es bleibt bei diesen Vermutungen, die durch zwei Ergänzungen noch weiter eingeschränkt werden. Zum einen lasse sich nämlich »nicht mehr ermitteln«, was Lessing »davon im Einzelnen gekannt hat,« und zum anderen werde man die »eigentliche Pointe seines Konstrukts« dort – in dem etwas schmuddeligen Winkel – »auch vergebens suchen.«10 Denn das kommende »Zeitalter soll mit der trinitarischen Selbstoffenbarung Gottes die Erziehung der menschlichen Intelligenz vollenden, indem die äußere Teleologie der göttlichen Pädagogik in das Begreifen des inneren Entwicklungsganges der Vernunft eingeholt wird.«11 Diese Schlußfolgerung kann auch als ein genuiner Gedanke Lessings interpretiert werden, der damit einen neuen wichtigen Faktor in die zeitgenössischen Debatten einführt, »which had not […] played any significant part in Trinitarian thought during the Enlightenment, or indeed since the Reformation, namely history.«12 Doch im Unterschied zu einem früheren Entwurf in der Abhandlung über Das Christentum der Vernunft beruft sich Lessing in der Erziehung des Menschengeschlechts ausdrücklich auf »gewisse Schwärmer des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts«, die vielleicht »einen Strahl« des »neuen ewigen Evangeliums aufgefangen hatten« (§ 87), wobei – das ist entscheidend – auch sie »die nemliche Ökonomie des nemlichen Gottes« (§ 88) voraussetzten. Der Bezug auf Joachim von Fiore und die von seiner Prophetie ausgehenden geschichtstheologischen Entwürfe oder, wie Lessing schreibt, fort9

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Hermann Timm: Gott und die Freiheit. Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit. Band 1: Die Spinozarenaissance. Frankfurt am Main 1974 (Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts 22), S. 80. Ebd., S. 94. Ebd., S. 95. Hugh Barr Nisbet: The Rationalisation of the Holy Trinity from Lessing to Hegel. In: Lessing Yearbook 31 (1999), S. 65–89, hier S. 73.

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während anschlußfähige »Schwärmerei[en]« (§ 90) bleibt erklärungsbedürftig. Der Verweis auf die Diskursmechanismen der Zeit hilft an dieser Stelle nicht weiter, da die Rezeptionsgeschichte der Schriften des kalabresischen Abtes nur schwer zu überblicken ist und für das 18. Jahrhundert kaum Zeugnisse kennt. Gibt es für Lessings Joachim-Anspielung überhaupt einen zeitgenössischen Gesprächszusammenhang? Wenn hier weder die Diskursanalyse noch die überlieferungsgeschichtliche Methode Auskünfte erteilen, wird man sich mit einer traditionellen Kontextuntersuchung behelfen müssen. Dafür hat jüngst auch Daniel Cyranka plädiert, der seine Interpretation »auf den historisch nachweisbaren, zeitgenössischen Kontext und nicht auf ideengeschichtliche Linien bezogen« hat. Es gilt der alte hermeneutische Grundsatz, daß den in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Erziehungsschrift entstandenen Texten Vorrang eingeräumt wird, was nicht bedeutet, daß es künftig zu dem Dreigestirn Leibniz, Spinoza oder Locke nichts mehr zu sagen gibt. Versucht wird lediglich, »systematisierende Einschätzungen und Alternativen methodisch zurückzuhalten, die den Blick für die Bedeutung anderer Autoren bzw. Debatten […] eher verstellen als erhellen.«13 Das klingt vielversprechend, führt jedoch nicht immer zum Erfolg: Lessings Bezugnahme auf spiritualistische Traditionen des Mittelalters ist »historisch nicht konkret zu belegen«,14 und wen er unter seinen Zeitgenossen als Schwärmer anspricht, läßt sich nicht »klar identifizieren«.15 An zeitgenössischen Denkern bleiben dann nur die bekannten Größen übrig, William Warburton etwa oder Charles Bonnet sowie Adam Ferguson und sein Essay on the History of Civil Socienty (1767). In einem Brief an Moses Mendelssohn vom Januar 1771 hat sich Lessing neugierig nach diesem gerade ins Deutsche übersetzten Buch erkundigt. Ob sein Konzept der Religionsgeschichte auf bestimmten Einsichten Fergusons16 gründet, ist jedoch fraglich: »The evidence is very meagre.«17 Zwar verbinden beide Autoren bei ihrem Gedankenexperiment die Vorstellung der frühen Entwicklungsstufe eines Volkes mit der Kindheitsmetapher, aber mit entscheidenden Unterschieden: »This fundamental disagreement emerges clearly from a comparison of the last two-thirds of the Essay with the second half of Die Erziehung. Christianity, for Lessing, devalues the role of nations as units of progress [...], national differences become uninportant for Lessing’s historical narrative. Since, for him, human pro-

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Daniel Cyranka: Lessing im Reinkarnationsdiskurs. Eine Untersuchung zu Kontext und Wirkung von G. E. Lessings Texten zur Seelenwanderung. Göttingen 2005 (Kirche – Konfession – Religion 49), S. 318. Ebd., S. 383. Ebd., S. 387. Vgl. Daniel Cyranka: Natürlich – positiv – vernünftig. Der Religionsbegriff in Lessings Erziehungsschrift. In: Aufklärung. Stationen – Konflikte – Prozesse. Hg. von Ulrich Kronauer und Wilhelm Kühlmann. Eutin 2007, S. 39–61, besonders S. 44. Fania Oz-Salzberger: Translating the Enlightenment. Scottish Civic Discourse in Eighteenth-Century Germany. Oxford 1995, S. 222.

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gress is purely epistemological and moral, he remains uninterested in the social and political aspects of history.”18 Bevor das eigene Vorhaben zu skizzieren ist, noch ein letzter Blick in die Forschungsgeschichte und hier auf den Beitrag von Friedrich Mahling, der in der Frage nach den Text-Kontext-Verhältnissen noch immer maßgebliche Auskünfte erteilt.19 Der Kirchenhistoriker untersucht drei Quellen, die für Lessing von Bedeutung gewesen sein können: die Magdeburger Centurien, eine ältere Helmstedter Dissertation und die Mosheimsche Kirchengeschichte. Bezeichnend ist, daß Mahling zwischen der angeführten akademischen Abhandlung aus dem Jahr 1700 und einer kirchengeschichtlichen Studie von 1832 – aus einem Zeitraum von mehr als einhundert Jahren – keine weitere Literatur zum ›Joachimismus‹ anführen kann, womit Lessings Anspielung noch spektakulärer erscheint. Das Vorbild anderer Prophetien wird gleichzeitig ausgeschlossen, etwa Verbindungen zu Gottfried Arnold oder der Philadelphischen Gemeinde. Mit seinem Hinweis auf Matthias Flacius Illyricus beweist Mahling großes Gespür, da sich in dessen Privatbibliothek – von ihm nicht erwähnt, da um 1900 wohl noch unbekannt – zwei seltene Exemplare eines joachimitischen Kommentars befanden, darunter eine Handschrift aus dem 13. Jahrhundert, »die zuvor der Augustiner-Eremit und spätere Bischof von Lombez Johannes Hiltalingen«20 aus Basel († 1392) besessen hatte: eines der spärlichen Zeugnisse der frühen Rezeptionsgeschichte. Die Auswertung sowohl der Helmstedter Dissertation als auch der Magdeburger Centurien bringt jedoch, folgt man Mahling, für das Verständnis der Lessingschen Erziehungsschrift keinen wirklichen Ertrag. Als dritte Quelle bleibt dann nur die Kirchengeschichte von Johann Lorenz von Mosheim, die Lessing wohl gekannt hat. Hier findet sich zu der symbolischen Theologie des mittelalterlichen Theologen und seiner Lehre von den drei Weltaltern folgender Eintrag: Ad hanc primam de vero regulae sensu concertationem accedebat non minor alia. Circumferebantur ab exordio saeculi in Italia, aliisque etiam provinciis, variae vaticinationes celeberrimi IOACHIMI, Sorensis in Calabria Abbatis, quem vulgus hominem divinitus afflatum et vatem antiquis parem esse censebat. Pleraeque libro quodam comprehensae erant, qui Evangelium aeternum, vulgo etiam liber Ioachimi, nuncupari solebat. Praedicebat IOACHIM hic, sive verus, sive fictus, cum alia multa, tum potissimum ecclesiae 18

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Ebd., S. 225. – Zu bedenken ist auch, ob es sich bei der deutschen Rezeption von Fergusons »stadial theory of progress« nicht um den Reimport einer naturrechtlichen Denkfigur handelt, die sich ähnlich bei Samuel Pufendorf findet, worauf Lisa Hill hingewiesen hat: The Passionate Society. The Social, Political and Moral Thought of Adam Ferguson. Dordrecht 2006 (Archives internationales d’histoire des idées 191), S. 65; zur Bedeutung Pufendorfs für die schottische Moralphilosophie vgl. auch Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer 2001 (Communicatio 26), besonders Kap. I/7: »Das Gershom-Carmichael-Problem«. Friedrich Mahling: Die johanneische Kirche, das ewige Evangelium und das dritte Reich. In: Neue kirchliche Zeitschrift 26 (1915), S. 571–632. Sabine Schmolinsky: Der Apokalypsenkommentar des Alexander Minorita. Zur frühen Rezeption Joachims von Fiore in Deutschland. Hannover 1991 (Monumenta Germaniae Historica. Studien und Texte 3), S. 11.

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Romanae, cuius morbos et vitia severe caftigabat, deftructionem, novique ac perfectioris Evangelii in Saeculo Spiritus sancti per viros pauperes a Deo legatos promulgationem. Bina enim aiebat imperfecta saecula, id est, Deum colendi rationes praeteriisse, patris et filii, tertium imminere his excellentius, Spiritus nimirum sancti. Haec oracula et quaecumque IOACHIMO tribuebantur scita, cupidissime amplectebantur fratres Spirituales, homines magnam partem boni quidem, at mente capti ac fanatici, atque ad se, videndique rationem a FRANCISCO praescriptam, trahebant: Hunc enim verum tradidisse Evangelium atque angelum illum esse, praedicabant, quem IOHANNES vidisset per coelum volantem.21

Bemerkenswert an dieser knappen Charakterisierung ist dreierlei: (1) Nach einer kurzen Vorstellung des Abtes, den das Volk für einen inspirierten Propheten hielt (»quem vulgus hominem divinitus afflatum […] censebat«), folgt eine Anmerkung, die diesen Volksglauben in die richtigen Relationen bringt: Denn wie die Engländer den Zauberer Merlin verehren, die Iren den Bischof Malachias und die Franzosen Nostradamus, so haben auch die Italiener ihren Weissager22 – um nicht zu sagen: Betrüger (die dem Heiligen Malachias zugeschriebenen Prophezeiungen sind im 17. Jahrhundert als Fälschungen entlarvt worden). Zudem dürfe man (2) nicht annehmen, daß die unter dem Namen Joachims umlaufenden Schriften diesen tatsächlich zum Verfasser haben; das gilt auch für jenes berühmte Evangelium aeternum, das Mosheim einem anderen Autor zuschreibt, einem verdorbenen Obskuranten (»opus hominis obscuri et inepti«). Gleichwohl sei dessen Lehre von den drei Zeitaltern – den zwei unvollkommenen des Vaters und des Sohnes, dem das vollendete des Heiligen Geistes folgen werde – von den Franziskanerspiritualen begierig aufgenommen worden, die zwar zu einem großen Teil aufrichtige Leute waren, dabei aber ihres Verstandes beraubt und fanatisch (»at mente capti ac fanatici«). (3) Nur in einem Punkt zeigt Mosheim ein Interesse an diesen vergangenen Schwärmereien Joachims, der hauptsächlich – das wird eigens hervorgehoben (»potissimum«) – den Untergang der römischen Kirche vorausgesagt habe, deren Krankheiten und Laster von ihm scharf gerügt wurden. Von einem »Strahl« des neuen und ewigen Evangeliums, der im späten Mittelalter aufgefangen worden sei, kann hier keine Rede sein.23 Sollte sich 21

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Johann Lorenz Mosheim: Institvtionvm historiae ecclesiasticae antiqvae et recentioris libri qvatvor es ipsis fontibvs insigniter emendati, plvrimis accessionibvs locvpletati, variis observationibvs illvstrati. Helmstadii 1755, S. 523. Ebd., Anm. c): »Quod Anglis MERLINVS, Hibernis MALACHIAS, Gallis NOSTRADAMVS, id Italis est Abbas IOACHIMVS, homo fatidicus, qui futura rei publicae utriusque fata iussu divino cecinit. Plurimae eius vaticinationes et olim circumferebantur: Saepissime etiam oracula eius edita sunt, immo non paucos nacta sunt interpretes. Praedixisse quaedam IOACHIMVM, et futuram etiam ecclesiae emendationem, quam necessariam videbat, praedixisse, non dubito. At pleraeque vaticinationes, quae ei tributae quondam sunt, sine controversia alios auctores habent. Et in his etiam pono Evangelium aeternum, opus hominis obscuri et inepti, qui somnia sua spendido IOACHIMI nomine exornabat, quo magis placerent.« In der Forschung wird verschiedentlich darauf hingewiesen, daß Mosheim Passagen aus der mittelalterlichen Kontroversliteratur zusammenfasse, die Anklänge an die Paragraphen 87 bis 89 der Erziehung des Menschengeschlechts erkennen lassen. Scheinbar gut dokumentiert findet sich diese Annahme bei Mahling (s. Anm. 19), S. 625f.; dieser bezieht sich jedoch nur indirekt auf Mosheim, der bei den fraglichen Stellen – für die bei Mahling die

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Lessing tatsächlich auf die Darstellung Mosheims bezogen haben – Georges Pons hält sie für seine kirchengeschichtliche Hauptquelle24 –, dann in Form einer Kontrafaktur. Zu fragen ist, ob das von Mosheim gezeichnete Bild des Joachim von Fiore dem geläufigen protestantischen Wissen der Zeit entspricht, das sich ähnlich auch in populären, nicht streng kirchenhistorischen oder lehramtlichen Beiträgen findet. Zeugnisse dieser Art könnten zeigen, wie im intellektuellen Klima des 18. Jahrhunderts der historische Diskurs den prophetischen endgültig verabschiedet und durch säkulare Denkfiguren (Perfektibilität etc.) ersetzt hat. Doch gibt es eine solche Joachim-Diskussion im Entstehungskontext der Erziehungsschrift? Die Forschung hat eine solche bisher nicht ausgemacht, wozu in den beiden folgenden Abschnitten (II und III) erste Ansätze gewonnen werden sollen. Die an unterschiedlichen Beispielen entwickelte These lautet: Es sind keine spiritualistischen ›Winkeltraditionen‹ an die Lessing anzuschließen versucht – die er gleichwohl gekannt haben mag –, sondern es ist der offizielle Schwärmer-Diskurs mit seiner Vorverurteilung25 des Evangelium aeternum, dem er widerspricht. Damit wiederholt Lessing noch einmal das vor allem im Frühwerk geübte Baylesche Verfahren der Kritik, ein aus drei Komponenten bestehendes Muster der ›vindicatio‹: Den Anlaß geben aktuelle Publikationen zu einem vergessenen Autor und seiner Geschichtstheologie, die sich als ignorant und daher als korrekturbedürftig erweisen; die Richtigstellung erweitert unser Wissen, womit die gelungene Auslegung der historischen Zusammenhänge in deren normative Wertung übergeht. Am Ende der Erziehung des Menschengeschlechts läßt sich diese Applikation in der Verbindung von Trinitätslehre und Geschichtstheologie erkennen, womit Lessing einen wesentlichen Zug im Werk Joachims bemerkt haben könnte – das heißt, dem mittelalterlichen Denker gerechter wird als seine Kritiker von der Scholastik bis in die Aufklärung –,26 und zugleich seine eigene Argumentation zum Abschluß bringt, indem er sich auf einen Vorläufer beruft, für den die »Unabschließbarkeit christlicher Schriftauslegung«27 eine vergleichbare existentielle Bedeutung besaß. Im vierten Teil (IV) soll dann umgekehrt gefragt werden, ob es in der

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Belege fehlen – auf Vorgänger und ältere Darstellungen verweist (S. 524f. Anm. g), ohne wörtlich zu zitieren. Georges Pons: Gotthold Ephraïm Lessing et le christianisme. Paris 1964 (Germanica 5), S. 386 Fn. 78: »[...] la principale source d’information«. Für einen ersten Überblick noch immer hilfreich Marjorie Reeves: The influence of Prophecy in the Later Middle Ages. A Study in Joachimism. Oxford 1969, S. 105: »Joachim’s reputation was, of course, vulnerable on two counts: not only might he be doubted as a prophet, but his orthodoxy could be called in question.« Zu dem monastischen Trinitätstheologen und Kirchenreformer, der selbst kein Prophet sein wollte, vgl. zusammenfassend Kurt-Victor Selge: Trinität, Millennium, Apokalypse im Denken Joachims von Fiore. In: Gioacchino da Fiore tra Bernardo di Clairvaux e Innocenzo III. Hg. von Roberto Rusconi. Roma 2001 (Centro internazionale di studi gioachimiti S. Giovanni in Fiore 13), S. 47–69. Ebd., S. 65; vgl. auch Kurt-Victor Selge: Die Stellung Joachims von Fiore in seiner Zeit. Trinitätsverständnis und Gegenwartsbestimmung. In: Ende und Vollendung. Eschatologische Perspektiven im Mittelalter. Hg. von Jan A. Aertsen und Martin Pickavé. Berlin, New York 2002 (Miscellanea Mediaevalia 29), S. 481–503.

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neologischen Literatur der Zeit vergleichbare geschichtstheologische Entwürfe gibt, die den Hintergrund bilden könnten, vor dem sich der Entwicklungsgedanke Lessings noch genauer konturieren läßt. Als Beispiel dienen mir hier die beiden Auflagen des erwähnten Werkes von Johann Georg Rosenmüller, das den Status eines Gerüchts besitzt, nachdem es als einer der möglichen Bezugspunkte Lessings Erwähnung gefunden hat. Abschließend (Teil V) kann dann danach gefragt werden, wie die Berufung auf den mittelalterlichen Theologen zu verstehen ist.

II In seiner Studie über Lessing und die mittelalterliche Philosophie (1931) hat Hans Liepmann den Versuch unternommen, die Joachim-Literatur des 18. Jahrhunderts zu mustern, dabei aber neben den schon genannten Werken nur auf eine François Armand Gervaise zugeschriebene Monographie verwiesen, die 1745 in Paris erschienen ist.28 Einen Einblick in die deutsche Diskussion gibt ihm der einschlägige Artikel bei Jöcher, von dem für Lessing sicher keine Anregung ausgegangen ist, da nur »die sorgfältigste Beschäftigung« es ermöglicht, aus dem »Gestrüpp« des Textes »einen klaren Gedanken herauszuschälen.«29 Als »erschöpfende Darstellung«30 akzeptiert daher auch Arno Schilson im Joachim-Kapitel seiner Untersuchung die Darstellung Mahlings, ohne weitere Beiträge anzuführen. Wider Erwarten lassen sich diese im engeren Kontext von Lessings Erziehungsschrift durchaus finden. Im Jahr 1760 hat Johann Gottfried Weller (1712– 1780) – ein protestantischer Geistlicher und Landsmann Lessings, seit 1763 Superintendent in Zwickau – eine umfangreiche Abhandlung über Joachim von Fiore veröffentlicht. Bereits im Titel deutet Weller an, daß seine »Nachricht« aus den »gedruckten Schriften« des Abtes, also aus den Quellen gearbeitet sei. Das von ihm benutzte Corpus wird dann ausführlich vorgestellt, auch um ältere Bibliographien wie die von Johann Albert Fabricius zu prüfen. Diese Drucke werden »von den Kennern rarer Bücher für ausserordentlich selten gehalten. […] Man kann auch leichte merken, daß die, so von diesem Joachim reden, meistentheils seine Schriften nicht selbst gesehen haben.« Und mit dem Selbstbewußtsein des bibliophilen Kenners fügt er hinzu: »Da ich die meisten von

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Vgl. Hans W. Liepmann: Lessing und die mittelalterliche Philosophie. Studien zur wissenschaftlichen Rezeptions- und Arbeitsweise Lessings und seiner Zeit. Stuttgart 1931 (Tübinger Germanistische Arbeiten 13), S. 132. Ebd., S. 133. Arno Schilson: Geschichte im Horizont der Vorsehung. G. E. Lessings Beitrag zu einer Theologie der Geschichte. Mainz 1974 (Tübinger Theologische Studien 3), S. 229 Fn. 36.

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diesen so raren Schriften in Händen habe, so glaube ich ein sehr gutes Werk zu thun, wenn ich davon eine vollständige Nachricht gebe.«31 Wer nun eine detailgenaue antiquarische Studie erwartet, sieht sich getäuscht. Denn es geht Weller auch um die Lehre des Abtes, die bereits von Papst Innozenz III. auf dem Laterankonzil im Jahr 1215 »verworfen und verdammt«32 worden sei. Offenbar nicht ganz zu Unrecht, da Weller nach dieser Notiz sofort auf Mosheim verweist, der ihm – neben Johann Franz Budde – die Leitsätze zur Beurteilung der joachimitischen Häresie an die Hand gibt; die historische Darstellung erhält eine polemische Spitze, sie tritt in den Dienst des Konfessionsstreits: Bey dem Anfange des dreyzehenden Jahrhunderts wurde ein Buch in Italien bekannt unter dem Titel: Evangelium æternum; auch Liber Joachimi. […] Der Zweck dieses Werks war, dem damals neu entstandenen Orden der Dominicaner und Franciscaner ein Ansehen zu machen. Denn in diesem ewigen Evangelio wurde gelehret, es sey diesem Orden das Evangelium des H. Geistes, welches viel vortreflicher als das Evangelium Christi, anvertrauet, und eben dieses unterwiese die Christen weit besser in den Dingen, die zu ihrer Seeligkeit gehöreten, als die Apostel. Man widersetzte sich diesen Meynungen und widerlegte sie. Es kam endlich dahin, daß dieses Buch [...] auf Befehl des Pabsts verbrannt wurde.33

Kommentare dieser Art durchziehen die gesamte Abhandlung, die sich jedoch dadurch auszeichnet, daß aus den entlegenen Drucken des frühen 16. Jahrhunderts ausführlich zitiert wird, der Leser sich also ein eigenes Bild von der symbolischen Theologie Joachims machen kann, übrigens auch von seiner biblischen Hermeneutik: »Der Verfasser achtet sensum historicum wenig, mehr aber moralem, tropologicum, contemplativum & anagogicum.«34 Die Lehre von den drei Zeitaltern faßt Weller wie folgt zusammen: Er hat drey Status mundi. Er theilet sie also ein, primus Status, qui claruit sub lege & circumcisione, initiatus est ab Adam; Secundus, qui claruit sub Evangelio, initiatus est, ab Ozia; tertius qvantum datur intelligi ex numero generationum a tempore sancti Benedicti, cujus precellens claritas expectanda est circa finem. [...] Er sagt darbey, ordo monachorum, cui extrema magna tempora data sunt, ad Spiritum Sanctum pertinent.35

Die Verschränkung mit dem Dogma der Trinität wird in diesem Zusammenhang kurz erwähnt (der »erste Status soll vor GOtt den Vater, der andere vor GOtt den Sohn, und der dritte vor GOtt den Heiligen Geist gehören«) und weitere Ausdeutungen genannt (in »primo Statu mundi viguit Ecclesia laicorum, in

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Johann Gottfried Weller: Nachricht von des Abts Joachims, eines Weissagers und Prophetens in dem XIIten Jahrhunderte, gedruckten Schriften. In: Altes aus allen Theilen der Geschichte, oder Alte Urkunden, alte Briefe, und Nachrichten von alten Büchern, mit Anmerkungen. Zweytes Stück. 1760; [Fortsetzung und Schluß] Drittes Stück. 1760; zit. nach dem ersten Band der Buchausgabe Chemnitz 1762, S. 206–219 und 319–334, hier S. 211. Ebd., S. 209. Ebd., S. 209f. Ebd., S. 321. Ebd., S. 214.

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secundo Clericorum, in tertio monachorum«), womit die gesamte Lehre auf das Legitimationsbedürfnis der Bettelorden zurückgeführt werden kann: Den völligen Ausbruch des dritten Status setzet er um das Jahr 1200. Das war eben die Zeit, da die Bettelmönche ihren Ursprung nahmen […]. Es verdreußt mich mehr anzuführen. Aberglaube und zugleich ein fanatischer Geist, herrschet durch und durch. Nichts, oder doch sehr wenig kluges trift man in dieser Erklärung der Offenbarung an.

Auf einen Aspekt legt Weller besonderen Wert: die Kritik am päpstlichen Hof, die Joachim zu einem Vorläufer der Reformation zu machen scheint, da er den moralischen Verfall der Kirche in einer Weise beschreibt, wie man es »einem alten Werke dieser Zeit« nicht zutraut, weshalb diese Stellen ausführlich zitiert werden: Der summus pontifex und der Clericus, wird ecclesia carnalis genennet. Er nennet fornicatores clericos, gigantes famosos prælatos, Alii infirmabant in fide, ut laici; alii male disposuerunt domum suam, ut clerici; alii frustra se privatos videbantur a seculo ut religiosi, & primi erant, qvasi languens Lazarus, scatens vermibus seu vitiis, & foetens exemplis in monumento seculi & carnis. Laici male vivunt, Clerici sui & illorum curam negligunt, & religiosi lepidi & tediosi sunt.36

Hier ist für Weller die prophetische Aussage der Schriften zu finden, »schickt sich doch« vieles »auf die Reformation D. Luthers, und auf die Umstände der damaligen Zeit.« Joachim als Wegbereiter Luthers? Der protestantische Theologe legt diese – offenbar geläufige – Deutung nahe und bestreitet sie zugleich vehement, da ihm die »Träume des Verfassers von dem dreyfachen Statu der Kirche [...] alles verdächtig« machen; von Joachim ist dabei nicht mehr die Rede, die häretische Prophezeiung wird zu einer »Erfindung der Dominicaner= und Franciscanermönche«37 erklärt. Die Dokumentation wandelt sich zur interkonfessionellen Streitschrift, deren Polemik und die bemühten Disputationsmuster zum Zeitpunkt ihres Erscheinens bereits veraltet wirkten. Ein so verzeichnetes Bild des mittelalterlichen Theologen konnte Lessing allenfalls zu einer ›Rettung‹ provozieren. Zu vermuten ist, daß die heilsgeschichtliche Periodenlehre auch wegen ihrer bedeutenden Wirkung im Jahrhundert der Reformation bestritten wird. Weller möchte nicht mit jenen Spiritualisten, Exegeten der Apokalypse und Anhängern Joachims in Verbindung gebracht werden, die sich, wie Melchior Hoffman (ca. 1495–1543), in ihren Antichrist-Prophetien gegen Luther wandten38 oder, wie der religiöse Dissident Jacopo Brocardo, Einfluß auf die Entwicklung der Föderaltheologie im 17. Jahrhundert gewannen. Der zum Calvinismus konvertierte Venezianer wird in Pierre Bayles Dictionnaire als ein »apokalyptischer Schriftsteller« porträtiert, der zu den »ehrlichen Träumern des XVI Jahrhun-

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Ebd., S. 322. Ebd., S. 324f. Vgl. Bernard McGinn: Reading Revelation: Joachim of Fiore and the Varieties of Apocalypse Exegesis in the Sixteenth Century. In: Storia e figure dell’Apocalisse fra ‘500 e ‘600. Hg. von Roberto Rusconi. Roma 1996 (Centro internazionale di studi gioachimiti S. Giovanni in Fiore 7), S. 11–35, besonders S. 22.

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derts«39 zu rechnen sei, da er nicht betrügerisch agierte, sondern an seine Vorhersagen glaubte, die wesentlich von der joachimitischen Drei-Zeiten-Lehre bestimmt waren. Die ungelösten Fragen der Eschatologie hielten auch im 17. und frühen 18. Jahrhundert das Interesse an solchen Bewegungen wach, in denen Brocard zu einem »Bindeglied«40 zwischen dem vorreformatorischmittelalterlichen und dem föderaltheologischen Prophetismus wurde. Vor allem die Nachfolger von Johannes Coccejus (1603–1669) orientierten sich an dem Gedanken einer ›paidagogia Dei‹, der »zu einem detaillierten Stufenplan der Heilsgeschichte ausgebaut«41 werden konnte. In diese Tradition gehört auch der reformierte Theologe Friedrich Adolf Lampe (1683–1729), dem im zweiten Reimarus-Fragment eine Statistenrolle als »Catechismus-Gläubiger« zugewiesen wird, da dieser trotz aller Verdienste um die Bibelauslegung »sein erlernetes Glaubens-Formular« nicht hinter sich lassen konnte.42 Lampe hat ein außerordentlich umfangreiches, im 18. Jahrhundert vielfach aufgelegtes heilshistorisches Werk hinterlassen, in dem jedoch nur beiläufig eine »Secte, die aus dem Mönchsorden der Minoriten« hervorging, als »fürnehmste Ursach« erwähnt wird, weshalb man Joachim von Fiore »verkätzert hat«;43 seine Weltepochen bilden kein Gliederungsprinzip für das evolutionäre Verständnis des ›ordo salutis‹.44

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Herrn Peter Baylens [...] Historisches und Critisches Wörterbuch, nach der neuesten Auflage von 1740 ins Deutsche übersetzt [...] von Johann Christoph Gottscheden. Erster Theil. Leipzig 1741, S. 686f. – Zu Bayles ambivalenter Haltung gegenüber dem Chiliasmus vgl. John Christian Laursen: Bayle’s Anti-Millenarianism: The Dangers of Those who claim to Know the Future. In: Millenarianism and Messianism in Early Modern European Culture. Volume IV: Continental Millenarians: Protestants, Catholics, Heretics. Hg. von John Christian Laursen und Richard H. Popkin. Dordrecht, Boston 2001 (Archives internationales d’histoire des idées 176), S. 95–106, zu Brocard S. 99. Jürgen Moltmann: Jacob Brocard als Vorläufer der Reich-Gottes-Theologie und der symbolisch-prophetischen Schriftauslegung des Johann Coccejus. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte, Vierte Folge IX, 71 (1960), S. 110–129, hier S. 129. Hermann Timm: Thomas Wizenmann über Lessings »Erziehung des Menschengeschlechts«. In: Düsseldorf in der deutschen Geistesgeschichte (1750–1850). Hg. von Gerhard Kurz. Düsseldorf 1984, S. 171–177, hier S. 173. FA 8, S. 223. Friedrich Adolf Lampe: Geheimnis des Gnaden=Bunds, In den Haushaltungen der Seligkeit, und sonderlich In der Haushaltung des Evangeliums. Dem Bundes=GOTT zu Ehren, und Heylbegierigen Seelen zur Erbauung geöfnet [...]. Vierten Theils erster Band, vierdte Auflage. Bremen 1738, S. 615. Vgl. Willem J. van Asselt: The federal theology of Johannes Cocceius (1603–1669). Leiden, Boston 2001 (Studies in the history of Christian thought 100), S. 294f. sowie Appendix III, S. 336–340.

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III In einen ganz anderen Kommunikationsraum führt das zweite Beispiel. Im Februar 1779 erschien im Teutschen Merkur ein Aufsatz über den, wie es im Titel heißt, »berühmten Propheten Joachim«. Der Verfasser war Christian Joseph Jagemann (1735–1804), ein katholischer Weltgeistlicher und gebildeter Italianist – Übersetzer Dantes –, der 1775 zum Protestantismus konvertierte und Hofrat in Weimar wurde. Sein Beitrag steht in einem deutlichen Zusammenhang mit den vom Herausgeber Christoph Martin Wieland 1776 im Merkur gestellten Fragen, ob »durch die Bemühungen kaltblütiger Philosophen und Lucianischer Geister gegen das was sie Enthusiasmus und Schwärmerey nennen, mehr Böses oder Gutes gestiftet? Und, in welchen Schranken müßten sich die Anti-Platoniker halten, um nützlich zu seyn?«45 Der Aufruf traf auf eine Zeitstimmung und provozierte eine Flut von Reaktionen, die »Vielfalt und Vielzahl der Texte dieser Debatte ist schier unüberschaubar [...].«46 Bekanntlich hat auch Lessing einen Entwurf zur Beantwortung dieser, wie er notiert, »zeitige[n] Aufgabe« hinterlassen, der enge Verbindungen zu dem geschichtsphilosophischen Entwurf aufweist; die Verwandtschaft der beiden Abhandlungen, auf die noch näher einzugehen ist, spricht zugleich für eine zeitlich nahe Abfassung.47 Allerdings hat Lessing das Augustinus-Motto und den Vorbericht erst 1780 der Publikation der gesamten Erziehungsschrift vorangestellt, die wohl – wie der Kommentar von Arno Schilson festhält –, »bereits 1777 ganz oder zumindest in wesentlichen Teilen ausgearbeitet vorgelegen hat.«48 Nicht ganz auszuschließen ist demnach, daß der Beitrag Jagemanns – publiziert an prominenter Stelle kurz vor der Fertigstellung des vierten Aufzugs von Nathan dem Weisen49 – einen Anlaß dazu gab, am Ende der Erziehung des Menschengeschlechts mit dem Hinweis auf Joachim von Fiore an diese Facette der Schwärmer-Debatte zu erinnern und mit Überlegungen aus seinem eigenen, vermutlich 1776 oder 1777 entstandenen Entwurf zu verbinden, der zu Recht als »das authentischste Werkstattprotokoll«50 Lessings bezeichnet worden ist. Diese über eine Zeitige Aufgabe angestellte Reflexion will Lessing keineswegs nur an das aktuelle Tagesgespräch gebunden wissen: »Enthusiasmus! 45

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Der Teutsche Merkur, Jänner 1776, S. 82. – Zu den in Wielands Zeitschrift geführten theologischen Debatten vgl. Martin Kessler: Der Götterbote und die Götter. Theologische Diskurse im Teutschen Merkur zur Zeit des Fragmentenstreits. In: »Der Teutsche Merkur« – die erste deutsche Kulturzeitschrift? Hg. von Andrea Heinz. Heidelberg 2003, S. 214– 253. Manfred Engel: Das ›Wahre‹, das ›Gute‹ und die ›Zauberlaterne der begeisterten Phantasie‹. Legitimationsprobleme der Vernunft in der spätaufklärerischen Schwärmerdebatte. In: German Life and Letters 62:1 (2009), S. 53–66, hier S. 58. Vgl. Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. Aus dem Englischen übersetzt von Karl S. Guthke. München 2008, S. 752. FA 10, S. 796. Vgl. Wolfgang Albrecht: Lessing. Chronik zu Leben und Werk. Kamenz 2008, S. 139. Jürgen Schröder: Gotthold Ephraim Lessing. Sprache und Drama. München 1972, S. 14.

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Schwärmerei! – Nennt man diese Dinge erst seit gestern? Haben diese Dinge erst seit gestern angefangen, ihre Wirkungen in der Welt zu äußern. Und ihre Wirkungen – ihre seligen und unseligen Wirkungen – sollten nicht längst dem ruhigen Beobachter ihr innerstes Wesen aufgeschlossen haben?«51 Was der Schwärmerei, »welche die Durchsetzung gewisser Religionsbegriffe zur Absicht« hat, zugrundeliegt,52 muß sich vernünftig aufklären lassen. Für den wahren Philosophen kann die einseitige Parteinahme schädlich sein, wenn er mit dem »Enthusiasmus der Spekulation« zugleich eine »reiche Fundgrube neuer Ideen« und »eine so lustige Spitze für weitere Aussichten« verliert, kurz: »unter den Schwärmern sieht der Philosoph so manchen tapfern Mann […] mit dem er, wenn Zeit und Umstände ihn aufforderten, eben so gern schwärmen, als zwischen seinen vier Mauern Ideen analysieren würde.«53 Diese Umstände traten dann mit der notwendigen Erwiderung auf die Hamburger Fragmente ein. Im Vorbericht und in den letzten Paragraphen der Erziehung des Menschengeschlechts setzt Lessing die gegebene Ankündigung in die Tat um. Die Miszelle zu Joachim von Fiore im Teutschen Merkur könnte ihn dabei zusätzlich herausgefordert und bestärkt haben. Auch Jagemann versucht sich an einer Rettung des mittelalterlichen Klerikers, über den »so verschiedene Urtheile gefällt« worden sind: »Einige schildern ihn als einen heiligen Mann ab, der mit dem übernatürlichen Licht der Weissagung begabt war. Andere beschreiben ihn als einen Heuchler und Betrüger.«54 Der Beitrag dreht sich nun ganz um die Frage, wie diese »Wundertaten« aus der Sicht des aufgeklärten 18. Jahrhunderts einzuschätzen sind. Obwohl selbst Dante – für den Philologen ein respektabler Zeuge – ihn für einen »wahren Propheten« hielt (»Il Calabrese Abate Giouachimo / Di profetico Spirito dotato«), wäre es dennoch »lächerlich«, den Fall nach mehr als fünfhundert Jahren »zu seinem Vortheil entscheiden« zu wollen: »Wer versichert uns aber, daß diese und dergleichen Weissagungen, die sich in seinen hinterlassenen Schriften finden, nicht von fremder Hand erst nach erfolgten Begebenheiten und nach Joachims Tode eingeschaltet worden sind?«55 Durch die skeptischen Fragen Wielands läßt sich der Literarhistoriker nicht irritieren, dessen »gesunde Vernunft« jedes prophetische Wissen »theils für untergeschoben, theils für vorhergesehene Folgen natürlicher Ursachen« hält. Joachim kann so als ein »frommer Schwärmer« porträtiert werden, der seine Weissagungen nicht – wie ihm vorgeworfen wurde – in taktischer Absicht verkündet habe: »Wer weiß aber nicht, daß zwischen Schwärmerey und Betrug ein großer Unterschied sey?«56 Mit keinem Wort erwähnt werden dagegen die drei Verständnisstufen

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FA 8, S. 669. Ebd., S. 672. Ebd., S. 674. Christian Joseph Jagemann: Von dem berühmten Propheten Joachim, Abt des Cisterzienser-Ordens. In: Der Teutsche Merkur, Februar 1779, S. 149–154, hier S. 149. Ebd., S. 151f. Ebd., S. 154.

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des göttlichen Mysteriums; der Biograph57 blendet die theologischen Konzepte Joachims völlig aus. Nach neuen Einsichten, einem Blick in die Zukunft oder höheren Wahrheiten ist hier nicht weiter zu fragen.

IV Wie nimmt sich die Originalität Lessings nun im Blick auf kompatible geschichtstheologische Entwürfe der Zeit aus? Dieser Frage soll abschließend am Beispiel einer Schrift von Johann Georg Rosenmüller nachgegangen werden, die in zwei Auflagen 1767 und 1784 erschienen ist. Die spätere Fassung nimmt direkt auf Lessings in der Zwischenzeit publizierte Erziehung des Menschengeschlechts Bezug und suggeriert damit zugleich, daß es bereits vorher Übereinstimmungen in der Konzeption gegeben habe. Es lohnt daher, die beiden Auflagen zu kollationieren, deren Titelblätter bereits Auskunft über einen Stil- und damit Theoriewandel geben, der in nur wenigen Jahren stattgefunden hat: Während der Erstdruck noch deutlich das Prinzip der göttlichen Oikonomia hervorhebt (Bey den verschiedenen Haushaltungen in seiner Kirche hier auf Erden) und damit eine geläufige Formel der Tradition58 zitiert, verspricht die zweite Auflage eine historisch-eschatologische, also spekulative Konstruktion (Abhandlung über die Stufenfolgen der göttlichen Offenbarungen), ergänzt durch einen werbewirksamen Hinweis auf die Erziehung des Menschengeschlechts. Der evangelische Theologe ist nur wenig jünger als Lessing. Geboren wird er 1736 in der Nähe von Hildburghausen, besucht die Schule in Nürnberg und studiert 1756 bis 1760 in Altdorf. Seine Karriere verläuft geradlinig. Sie führt ihn vom Pfarramt über eine Stelle in Königsberg auf Professuren in Erlangen und Gießen, 1785 wird er Präsident des Oberkonsistoriums in Leipzig und Pastor an der Thomaskirche, bis er zum Domherrn und Prälat des Hochstifts Meißen ernannt wird; er stirbt 1815 in Leipzig. Prägend war für ihn die Studienzeit in Altdorf, aus der er sich – aus welchen Gründen auch immer – eine moderate Haltung zum Sozinianismus bewahrt hat. Für Karl Aner59 ist allein dieser Umstand erwähnenswert, das heißt eine der letzten Veröffentlichungen Rosenmüllers aus dem Jahr 1814: Kurze Darstellung des eigen57

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Lebensbeschreibungen in Form eines Essays waren im Merkur beliebt und wurden gerne plagiiert; so auch im Fall des Jagemannschen Textes, was in der von Friedrich Nicolai verlegten Allgemeinen deutschen Bibliothek noch Jahre später mißbilligend vermerkt wurde (Bd. 67, 1786, S. 260f.), wobei ein zusätzlicher Hinweis auf die Studie von Johann Gottfried Weller den Joachim-Diskurs abrundete. Zur Einführung noch immer hilfreich Wolfgang Marcus: Der Subordinatianismus als historologisches Phänomen. Ein Beitrag zu unserer Kenntnis von der Entstehung der altchristlichen ›Theologie‹ und Kultur unter besonderer Berücksichtigung der Begriffe OIKONOMIA und THEOLOGIA. München 1963, S. 52ff. und 72ff. Karl Aner: Die Theologie der Lessingzeit. Hildesheim 1964 (Nachdruck der Ausgabe Halle 1929), S. 36 Forts. Fn. 3 von S. 34.

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thümlichen Lehrbegriffs der Unitarier in Siebenbürgen. Auf »ähnliche Ausbrüche des damaligen Zeitgeschmacks«60 wird auch in biographischen Artikeln hingewiesen. Dazu zählen seine lateinisch und deutsch erschienene Abhandlung über die älteste Geschichte der Erde sowie die Briefe über die Phänomene des thierischen Magnetismus und Somnambulismus, vor allem aber – im Blick auf Lessing von besonderem Interesse – die bereits 1774 in Erlangen publizierte Lehre von der Wiedergeburt, die bislang nicht eingesehen werden konnte. Im folgenden soll nur auf drei Aspekte eingegangen werden, die verdeutlichen, wie sich der Erziehungsgedanke Lessings von diesen ›diskursiven Ereignissen‹ in der Nachbarschaft abhebt. Vorhandene Übereinstimmungen, naheliegende Korrespondenzen und gemeinsame Vorbilder – auch Rosenmüller beruft sich etwa auf William Warburton61 und erwähnt Montesquieu u. a. – werden zugunsten der Stichworte Apologetik, Ökonomie und Praxis übergangen. (1) Bibelkritik und Apologetik. – In beiden Ausgaben des Textes stehen am Beginn ganz allgemeine Erwägungen über die Schöpfung, Theodizee und Anthropologie, also die Lehre von der Gottebenbildlichkeit und vom Sündenfall. Das wäre nicht weiter erwähnenswert, fände sich nicht bereits in der ersten Auflage eine gut plazierte Fußnote, in der Rosenmüller demonstriert, daß er nicht nur keine Berührungsängste mit freigeistigen Religionsspöttern kennt, sondern seine Schrift auch als Remedium gegen diese Formen radikaler Bibelkritik empfehlen kann: Wir wollen von denen nichts gedenken, die aus dem Baum des Erkenntnisses ein Gespötte machen, und daher, wenn sie auch das Ansehen haben wollen, als hätten sie noch einige Hochachtung gegen die heilige Schrift, ihre Zuflucht zu allerhand gezwungenen Auslegungen nehmen.62

Verwiesen wird hier auf zwei kurz nacheinander anonym publizierte deutsche Bearbeitungen von Hadrian Beverlands Schrift Peccatum Originale kat exochen (1678), in der die Verführung Evas als amouröses Abenteuer persifliert wird.63

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C. Siegfried: [Art.] Rosenmüller, Johann Georg. In: Allgemeine Deutsche Biographie Bd. 29 (1889), S. 219–221, hier S. 220f. Johann Georg Rosenmüller: Abhandlung von den weisen Absichten GOttes Bey den verschiedenen Haushaltungen in seiner Kirche hier auf Erden. Hildburghausen 1767, S. 68, 88 und 175. Ebd., S. 7f. Ebd., S. 8 Anm. *): »Ein neueres Beyspiel hat uns eine gewisse Schrift geliefert, die zu Berlin 1760 [...] herausgekommen [...]. Zulezt erschiene noch: Der Zankapfel an dem Baum der Erkänntnis des Guten und Bösen. 1763 [...] und diese Schrift scheint fast noch weit gefährlicher zu seyn, als die erste.« – Zu Beverlands Abhandlung vgl. Friedrich Vollhardt: Christliche und profane Anthropologie im 18. Jahrhundert: Beschreibung einer Problemkonstellation im Ausgang von Siegmund Jacob Baumgarten. In: »Vernünftige Ärzte«. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung. Hg. von Carsten Zelle. Tübingen 2001 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 19), S. 68–90, besonders S. 83–87, sowie Martin Mulsow: Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissen, Libertinage und Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Stuttgart, Weimar 2007, besonders S. 40ff.

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Rosenmüller erwähnt den Namen des niederländischen Späthumanisten nicht, was Wilhelm Abraham Teller nachholt, der die Schrift in der Allgemeinen deutschen Bibliothek besprochen und deren apologetischen Wert an der eben genannten Stelle der Argumentation festgemacht hat: »Sollte es denn zwischen dem profanen Witz eines Beverlands und seiner Gefährten und der schweren Erklärungsart unsrer Exegeten, die so viel Zweifel auch bey Redlichen gebiehrt, kein drittes geben?«64 Diesen dritten Weg weist die Heilsökonomie, die Rosenmüller in der »gewöhnlichen Eintheilung« beschreibt, »nach welcher man drey verschiedene Haushaltungen annimmt, nemlich unter der Verheißung, unter dem Gesetz, und unter dem Evangelio, oder von Adam auf Mosen, von Mose bis auf Christum, und von Christo bis auf das gegenwärtige Welt=Alter. Wir wollen uns bemühen, denen Ursachen nachzudenken, welche GOtt bewogen, mit den Menschen so verschiedene Wege zu gehen, und seine Weisheit, die sich auch in diesem Stücke so gar oft muß tadeln lassen, zu rechtfertigen.«65 In der Ausgabe von 1784 hat Rosenmüller die Anmerkung zu der obszönen Allegorese der Paradieserzählung beibehalten und mit Hinweisen auf die in der Zwischenzeit erschienenen »scharfsinnigen Erklärungen«66 von Jerusalem, Leß, Eichhorn und Döderlein ergänzt. Neu hinzugekommen ist gleich zu Beginn auch, pikant genug, eine Erwähnung von Hermann Samuel Reimarus’ Vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion, und zwar nach der »neuesten Ausgabe«67 aus dem Todesjahr Lessings. Die Konstellation läßt auf Anhieb erkennen, wie unterschiedlich das Niveau der Gegner ist, auf welche sich die geschichtstheologisch angelegten Verteidigungsschriften beziehen: BeverlandAdaptationen auf der einen, die Hamburger Fragmente auf der anderen Seite – über deren Autor man, wie der Fall aus der Mitte der 1780er Jahre zeigt, auch in sonst gut informierten Theologenkreisen noch nichts wußte. (2) Oikonomia und Vernunft. – Der Theologe muß nicht lange erläutern, weshalb die Erzählung von der Vertreibung der ersten Menschen aus dem Paradies wie die Handlung eines Vaters gegenüber seinen Kindern zu deuten ist, die ein weises Gebot übertreten haben, das »ihrem damaligen Zustande« angepaßt war, den man sich als einen nur sinnlichen vorzustellen hat. Die Vernunft der Menschen konnte »nicht anders als stufenweise gebildet« werden, da sie »den Unterschied des Guten und Bösen erst nach und nach mußten kennen lernen.«68 Diese Denkfigur ist grundlegend für die gesamte Schrift, welche die »Regierungs=Art« Gottes auf Erden »je nachdem […] Maß der Erkänntnis seiner Unterthanen« beschreibt, das in den verschiedenen historischen

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Allgemeine deutsche Bibliothek 8/2 (1769), S. 110–126, hier S. 112. Rosenmüller (s. Anm. 61), S. 19. Johann Georg Rosenmüller: Abhandlung über die Stufenfolgen der göttlichen Offenbarungen. Zwote und gebesserte Ausgabe. Nebst einem Anhang über einige Gedanken in Leßings Erziehung des Menschengeschlechts. Hildburghausen 1784, S. 8 Anm. Ebd., S. 2 Anm. *). Ebd., S. 11.

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Stadien »größer oder geringer«69 war. In der ersten Ausgabe bezeichnet Rosenmüller diese in direktem Bezug auf das Corpus Paulinum des Neuen Testaments als »Haushaltungen«, die er nach der genannten Dreiteilung unterscheidet; in der zweiten Auflage verabschiedet er diesen Begriff als »etwas unbequem«70 und spricht nun neutraler von ›Perioden‹. Das Eingreifen Gottes und seine übernatürliche Offenbarung sind dabei jedoch von entscheidender Bedeutung, wie Rosenmüller kritisch gegenüber Lessings Erziehungsgedanken einwendet: Aber nur halb wahr ist, was Leßing ferner sagt: Erziehung giebt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selber haben könnte etc. [...] Herr Leßing scheint solche Menschen voraus zu setzen, die schon in ihrer Kindheit einige Erziehung gehabt haben, und wenn einmal der Grund gelegt ist, durch eigenes Nachdenken auf manche Wahrheiten kommen können, die ihnen von ihren Lehrern beygebracht worden sind, nur mit dem Unterschied, daß es in jenem Falle langsamer und schwerer zugehen würde, als in diesem. Aber alsdenn ist die Vergleichung der Offenbarung mit der Erziehung eines einzelnen Menschen nicht mehr passend.71

Weniger verklausuliert: die Vernunft darf nicht sich selbst überlassen werden. Die damit verbundene Frage lautet, ob nicht doch ein weiteres Zeitalter vorstellbar ist, wie es Lessing in seiner Schrift erhofft und ankündigt. Rosenmüller will sich hier nicht festlegen, da, wie es in der Abhandlung aus den 1760er Jahren heißt, die »gegenwärtige Haushaltung […] freylich so vollkommen, als noch keine der vorhergehenden gewesen ist; aber es ist doch noch eine vollkommenere möglich.«72 Er verknüpft diese Hoffnung mit einem vorsichtigen Hinweis auf die Offenbarung des Johannes, die Missionstätigkeit der Kirchen und einem angedeuteten Chiliasmus: Sollte es dem HErrn gefällig seyn, noch vor dem Ende der Welt eine neue Oeconomie zu errichten, welches wir jetzo weder bejahen, noch mit genugsamer Gewißheit verneinen können, [...] so würde er in diesem Fall die jezt geschriebene Offenbarung mit solchen Zusätzen bereichern, die zur Erreichung dieses Zwecks hinlänglich wären.73

Ganz anders in der Schrift von 1784. Hier fügt Rosenmüller – von Lessing provoziert – einen Hinweis auf die Grundsätze des »berüchtigten Abtes Joachim« ein, ergänzt durch eine Zusammenfassung der letzten Paragraphen der Erziehung des Menschengeschlechts. Das Fazit ist ablehnend, da Lessing von »den Schwärmern des dreyzehnten und vierzehnten Jahrhunderts […] viel zu günstig« urteile: »Die Spiritualen, die von einem neuen Evangelio sprachen,

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Rosenmüller (s. Anm. 61), S. 14. Rosenmüller (s. Anm. 66), S. 21. Ebd., S. 16f. Rosenmüller (s. Anm. 61), S. 59. Ebd., S. 217. – Ähnlich argumentiert der von Rosenmüller mehrfach erwähnte Tübinger Mathematiker und Theologe Heinrich Wilhelm Clemm: Vollständige Einleitung in die Religion und gesammte Theologie. Zweyten Bandes Drittes Stück. Tübingen 1764, S. 367: »Sollte es aber dem HErrn gefallen, eine neue Oeconomie vor dem Ende der Welt noch auf Erden einzuführen; so begreift man von selbst, daß und warum GOtt in solchem Fall auch seine heilige Offenbarung mit solchen entweder mündlichen oder geschriebenen Zusätzen bereichern müßte, die sich für die von ihm beliebte Oeconomie am besten schickten.«

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wollten ihre Zeitgenossen nicht zu Männern, sondern zu Kindern machen.«74 Der Versuch, eine Denkfigur Lessings gegen dessen eigene Argumentation zu lenken, scheitert jedoch, da Rosenmüller bei den vermeintlichen »Kindereyen« der Franziskaner nur die bekannten Vorurteile gegen das monastische Leben rekapituliert. Auf den spekulativen Gehalt des Fortschrittsdenkens läßt sich der Autor nicht ein, für ihn sind die Wahrheiten des Neuen Testaments und des damit erreichten Stadiums der Heilsgeschichte noch längst nicht ausgeschöpft, was er – in suo tempore – zur eigentlichen Aufgabe erklärt: »Ich kann mich mit Leßing nicht überreden, daß eine Zeit kommen dürfte, da uns das N. T., als Religionsbuch betrachtet [!], gewissermaßen entbehrlich seyn dürfte, weil alsdenn die Wahrheiten, die wir jezt als geoffenbarte annehmen, als Vernunftwahrheiten mit der Zeit erkannt werden könnten.«75 (3) Christliche Verkündigung und ethische Praxis. – Das heilsökonomische Denken gehörte für die neologischen Theologen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu den noch unangreifbar erscheinenden Teilstücken der Apologetik. Dieses suggestive Lehrangebot für Gebildete und Laien will sich der Autor der Abhandlung über die Stufenfolgen der göttlichen Offenbarungen nicht bezweifeln oder zerreden lassen, weshalb er mit einer harschen Ablehnung der vernunftbetonten Erziehungslehre reagiert. Dabei stehen noch einmal die im Fragmentenstreit aufgeworfenen Fragen zur Debatte, bei denen Rosenmüller – trotz partieller Zustimmung – vor allem eine destruktive Wirkung erkennt; eine Replik Lessings hatte er nicht mehr zu befürchten: Bey der ersten Gründung des Christenthums gab es dreyerlei Arten der Beweise, wodurch sich Jesus als einen zuverläßigen Lehrer legitimirte: Weissagungen – Wunder – seine Wiederbelebung oder Auferstehung. Aber diese Beweise waren nur für jene Zeiten. [...] Wir können also jene Beweise zur Noth entbehren. Es wäre zu wünschen, daß er [Lessing] sich hierüber bestimmter erklärt hätte. Denn etwas wahres liegt allerdings in dieser Behauptung, wie ich bald ausführlicher zeigen werde. Aber darinnen gehet er zu weit, daß er es dahin gestellt seyn läßt; ob Jesus wahre Wunder verrichtet habe oder nicht? ob er nach seinem Tode wieder lebendig worden sey oder nicht? [...] Und nun fragt sichs: woraus können wir, in unsern Zeiten überzeugt werden, daß Jesus ein zuverläßiger Lehrer war, wenn alle historische Beweise ihre Kraft verlohren haben?76

Stellvertretend für das durch die Argumente des ›Ungenannten‹ irritierte Publikum übernimmt Rosenmüller die Rolle des kritischen Opponenten. Er scheut sich nicht, die von Reimarus in dem Fragment Über die Auferstehungsgeschichte77 aufgestellte und als besonders skandalös empfundene Betrugshypothese zu referieren und zu prüfen. Rosenmüller hält dabei starr am Schema der Apologetik fest und fragt, ob man das Wunder der Auferstehung beweisen könne oder mit Lessing in Zweifel ziehen müsse: »Und wenn das wirklich noch zweifelhaft ist, so sehe ich nicht ein, wie man Jesum und seine Apostel von dem

74 75 76 77

Rosenmüller (s. Anm. 66), S. 64. Ebd., S. 65. Ebd., S. 234f. FA 8, S. 277–311.

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Friedrich Vollhardt

Verdacht einer frommen Betrügerey freysprechen kann.« Der Versuch eines Widerspruchs bleibt jedoch aus, da eine solche argumentative Bemühung eine epistemische Theorie voraussetzen würde, über die der Verteidiger der Offenbarungslehren nicht verfügt. An die Stelle des begründeten Einwands, den der Leser erwartet, tritt die bloße Behauptung des umstrittenen Sachverhalts: »Zum Glück sieht es mit der Wahrheit dieser Begebenheiten nicht so mißlich aus, wie Leßing glaubt. Sie sind so glaubwürdig, als nur irgend eine historische Wahrheit seyn kann.« Doch der Autor ist selbstkritisch genug, der Erklärungskraft seiner apologetischen Formeln zu mißtrauen. Die von Lessing veröffentlichten Fragmente kündigen auch für Rosenmüller einen Paradigmenwechsel an: »Eine andere Frage ist es: ob es wohl gethan sey, wenn man noch jezt den Beweis der Wahrheit des Christenthums mit der Berufung auf Weissagungen und Wunder anfängt? Nach meiner Einsicht muß diese Frage mit Nein beantwortet werden.«78 Wenn es darum geht, einen Ungläubigen von der Wahrheit des Christentums zu überzeugen, müsse man »die umgekehrte Ordnung« wählen und ihm die »Vortreflichkeit« der religiösen Lehren für die eigene Lebenswelt, das heißt – in der Sprache des aufklärererischen Eudämonismus – für seine »Glückseligkeit« vor Augen stellen. Was vom Dogma bleibt, verbindet sich mit einem gemäßigten Sozinianismus: »Die Praxis wurde vernachläßiget, und die so wohlthätige, durchaus praktische Religion Jesu wurde entstellt [...]. Ich wundre mich, daß Leßing, der doch in der Kirchengeschichte kein Fremdling war, der entgegengesetzten Meinung seyn konnte.«79 Ob das zutrifft, muß hier nicht untersucht werden.

V Die Selbstkritik Rosenmüllers läßt erkennen, wie sich die Glaubwürdigkeit einer akkomodationsbereiten Theologie im anti-apologetischen Diskurs der Zeit80 zersetzt, den Lessing forciert und mit der Erziehung des Menschengeschlechts zu einem Höhepunkt geführt hat. Die von ihm in den 1770er Jahren publizierten Schriften haben jedoch auch einen konstruktiven, ganz originären Charakter, wie die nachfolgende Generation sofort erkannte.81 Mit seinen Über78 79 80

81

Ebd., S. 239–242. Ebd., S. 242 und 252. Dazu ausführlicher Friedrich Vollhardt: Kritik der Apologetik. Ein vergessener Zugang zum Werk G. E. Lessings. In: Prägnanter Moment. Studien zur deutschen Literatur der Aufklärung und Klassik. Festschrift Hans-Jürgen Schings. Hg. von Peter-André Alt u. a. Würzburg 2002, S. 29–48. Hinweise bei Friedrich Vollhardt: Lessings Lektüre. Anmerkungen zu den Rettungen, zum Faust-Fragment, zu der Schrift über Leibnitz von den ewigen Strafen und zur Erziehung des Menschengeschlechts. In: Euphorion 100/3 (2006), S. 359–393, besonders S. 387ff. sowie Peter Trawny: Die Zeit der Dreieinigkeit. Untersuchungen zur Trinität bei Hegel und Schelling. Würzburg 2002, besonders S. 191f.

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legungen zum trinitarischen Heilshandeln Gottes im Geschichtsverlauf hat Lessing ein Projekt skizziert, das im Tübinger Stift fortgeführt werden sollte: Im Griff zurück hinter die Kantische Moraltheologie ließ sich eine Theorie der Offenbarung entwerfen, welche die von Lessing problematisierte Beziehung zwischen kontingenten Geschichts- und notwendigen Vernunftwahrheiten aufzunehmen und zu klären versuchte.82 Es war diese Frage, die Lessing im Fragmentenstreit wiederholt gestellt und deren Beantwortung er als unmöglich abgewiesen hat. In seinem Essay Über den Beweis des Geistes und der Kraft (1777), der als eine Antwort »an den Herrn Director Schumann, zu Hannover« adressiert war, macht er dabei zugleich deutlich, daß er sich über die Wahrheitsfrage in religiösen Dingen nicht schulgerecht zu äußern gedenkt. Fragen dieser Art werden von ihm poetisch eingeklammert und ironisiert, wie gleich am Beginn des Schumann-Briefes eine Anspielung auf den Mythos von Erysichthon zeigt, der – ähnlich wie Reimarus – im heiligen Hain Bäume gefällt hatte und sich zur Strafe in unstillbarem Hunger selbst verzehren mußte: Mein Herr, Wem konnte es angelegner sein, Ihre neue Schrift sofort zu lesen, als mir? – Ich hungere nach Überzeugung so sehr, daß ich, wie Erisichton, alles verschlinge, was einem Nahrungsmittel nur ähnlich sieht. – Wenn Sie mit diesem Bogen es eben so machen: so sind wir, einer des andern Mann. Ich bin mit der Hochachtung, welche Untersucher der Wahrheit gegen einander zu tragen, sich nie entbrechen, Ihr etc.83

Auch die Erziehung des Menschengeschlechts ist, was oft vergessen wird, ein poetischer Text. Das läßt sich etwa am Gebrauch der rhetorischen Stilmittel zeigen, mit denen Lessing die Eindeutigkeit eines Sachverhaltes zugunsten einer starken Anschaulichkeit zurückstellt, woraus sich nur der Schluß ziehen läßt, daß ihm an Eindeutigkeit hinsichtlich der angeführten Offenbarungsinhalte nicht gelegen war. Bereits das Augustinus-Motto stellt den Text unter das Argumentationsprinzip der Uneigentlichkeit, so wie sich die Analogie zwischen Erziehung und Offenbarung als literarisches Gleichnis interpretieren läßt. Die Organisation in genau einhundert Paragraphen könnte ein Formzitat sein, mit 82

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Im Detail hierzu Dieter Henrich: Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus Tübingen – Jena (1790–1794). Erster Band. Frankfurt am Main 2004: »Der neue Grundansatz, auf dem die nachkantische Religionstheorie beruht, hat auch die Situation verändert, in der die Frage nach dem Verhältnis von Weltform und exzeptioneller Tatsache zu stellen ist. Nicht nur die Möglichkeit, sondern auch das wirkliche Geschehen einer Offenbarung samt Ort, Zeit und Umständen ihres Ergehens sind im Verstehen des einen Prozesses der Selbstmanifestation eingeschlossen, über den sich das Unbedingte im Wissen erschließt. [...] Die Voraussetzung dafür war aber gewesen, daß der Offenbarungsbegriff neu konzipiert und auf einer ganz neuen Grundlage in Gebrauch genommen wurde. So war also die Frage zu stellen, ob mit diesem Gedanken nunmehr Mißbrauch getrieben werde [sc. durch die orthodoxe Theologie] – dieselbe Frage, die zuvor schon an Lessings Konzeption einer Erziehung des Menschengeschlechts durch Offenbarung gerichtet worden war, auf den sich Schelling und Hegel, als ›Vertraute Lessings‹, am leichtesten berufen konnten.« (S. 876f. und 880f.) FA 8, S. 439.

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dem der gelehrte Traktat parodiert wird, und das Spiel mit den Rollen von Verfasser und Herausgeber verleiht der Schrift einen fiktionalen Modus. Mehr noch: bei der Betrachtung der biblischen ›Elementarbücher‹ wird ausführlich über deren »Einkleidung und den Stil« (§ 48) nachgedacht und es werden die literarischen Techniken der Anspielung untersucht, die Neugier auf höhere Einsichten wecken sollen. Denn das Alte und Neue Testament sind nur »Vorübungen« (§ 47) für das kommende dritte Zeitalter; am Ende setzt sich bei Lessing die Vernunftreligion durch, die positiven Religionen haben ihre erzieherische Rolle erschöpft. Doch der Selbstverständlichkeit, mit der auf der einen Seite die religiöse Tradition beschrieben und in ihrer Bedeutung erfaßt wird, entspricht auf der anderen Seite ein nicht leicht abzuwehrender Zweifel im Blick auf die Zukunft und den zu erwartenden Fortschritt: »Nein; sie wird kommen, sie wird gewiß kommen, die Zeit der Vollendung [...].« (§ 85)84 Lessing läßt, wie bemerkt, eine Neigung zur Skepsis erkennen, besonders »in den letzten großen Werken sind seine Anschauungen entschieden provisorisch.«85 Aus dieser Skepsis folgt jedoch weder ein extremer Relativismus noch eine Verantwortung abweisende Resignation, vielmehr fordert Lessing die Bewahrung ererbter (»geschrieben oder überliefert«) und die Verteidigung pragmatischer Werte. Daher sind auch seine letzten Werke von den Fragen nach Moral, handlungsorientierenden Überzeugungen und der Autonomie des Individuums durchzogen. Was fehlt, ist der Pessimismus der Moralistik, mit dem die französischen Aufklärer – etwa der von Lessing geschätzte Denis Diderot – »die Möglichkeit einer systematischen Deduktion von Glück aus Tugend«86 negiert haben. In dem eher selten zitierten § 80 der Erziehung des Menschengeschlechts heißt es dazu: Denn bei dieser Eigennützigkeit des menschlichen Herzens, auch den Verstand nur allein an dem üben wollen, was unsere körperlichen Bedürfnisse betrifft, würde ihn mehr stumpfen, als wetzen heißen. Er will schlechterdings an geistigen Gegenständen geübt sein,

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FA 10, S. 96. Spürbar ist zudem ein Unbehagen an der prophetischen Rolle, die der (anonyme!) Autor des dem Erziehungsgedanken gewidmeten Elementarbuchs notwendig einnehmen muß, worauf Hermann Timm hingewiesen hat: Eine theologische Tragikomödie. Lessings Neuinszenierung der Geistesgeschichte. In: Zeitschrift für Religionsund Geistesgeschichte 34 (1982), S. 1–17, besonders S. 15: »Er hatte kein rundum gutes Gewissen bei dem Unternehmen und konnte es nicht haben, weil er als Schriftführer unter den eigenen Systemzwang geriet, sich selbst [...] als den johanneischen Parakleten, den ›Führer in alle Wahrheit‹ verstehen zu sollen, was für ihn so viel heißen mußte, wie den Teufel mit Beelzebub auszutreiben.« Nisbet (s. Anm. 47), S. 868. Zu diesem Grundzug im Spätwerk Lessings vgl. auch Friedrich Vollhardt: Wahrheit suchen, skeptisch bleiben. Zu Hugh Barr Nisbets LessingBiographie. In: Merkur 63 (2009), S. 254–260; überbetont wird der Aspekt bei Thomas Berger: »Grenzvernunft« und Theodizee – Zum Verhältnis von Skepsis und Heilsgewissheit in Lessings Spätwerk. In: Wezel-Jahrbuch 10/11 (2007/2008) [2009], S. 195–219. Rainer Warning: Philosophen als Erzähler. Über Schwierigkeiten der Aufklärung mit der Moral. In: Das 18. Jahrhundert. Hg. von Paul Geyer. Regenburg 1995 (Eichstätter Kolloquium 3), S. 173–192, hier S. 184.

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wenn er zu seiner völligen Aufklärung gelangen, und diejenige Reinigkeit des Herzens hevorbringen soll, die uns, die Tugend um ihrer selbst willen zu üben, fähig macht.87

Ist die Formulierung eines solchen Tugendideals nicht lebensfern? Die Moral Nathans scheint sich allenfalls für die Bühne zu empfehlen, nicht für den Alltag.88 Daß Lessing an der Möglichkeit ihrer Verwirklichung festhält, verbindet seine Vorstellung einer ›emendatio vitae‹ stärker mit der humanistischen Theologie des 16. Jahrhundert als mit dem Gefühls- und Subjektbegriff der nachkantischen Religionsphilosophie.89 Dabei leugnet er keineswegs die Erfahrung, sondern versucht sie historisch zu erhellen: Es kann nach dem Sinn von Geschichte nur gefragt werden, wenn man ihr Ziel auch dann zu verstehen versucht, wenn sich dieses nicht enthüllt: »O Geschichte! O Geschichte! Was bist du?« – heißt es im letzten der Gespräche für Freimäurer.90 Es sind die Unsicherheiten eines Zwischenzustands, die ihn dann an »gewisse Schwärmer des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts« (§ 87) denken lassen. Hier ist ein Grund für seine Erwähnung des kalabresischen Abtes zu suchen – nicht in den Inhalten der Heilstheologie, sondern in den Irrtümern, die aus Ungeduld erwachsen und der Übereilung, mit der ein neues Zeitalter verkündet wird. Lessing erinnert an eine häretische Bewegung des späten Mittelalters, um sich selbst zur Ordnung zu rufen: »Der Schwärmer tut oft sehr richtige Blicke in die Zukunft: aber er kann diese Zukunft nur nicht erwarten.« (§ 90)91



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FA 10, S. 95. Wobei jedoch in Nathan der Weise gleich im zweiten Auftritt vor ›grausamen Schwärmerinnen‹ gewarnt wird und die Hauptfigur den Leser und Zuschauer ermahnt: »Begreifst du aber, / Wie viel andächtig schwärmen leichter, als / Gut handeln ist? wie gern der schlaffste Mensch / Andächtig schwärmt, um nur, – ist er zu Zeiten / Sich schon der Absicht deutlich nicht bewußt – / Um nur gut handeln nicht zu dürfen?« (FA 9, S. 495 und 497). Vgl. Walter Sparn: »Humanistische Theologie« als Phänomen der Epochenschwelle zur frühen Neuzeit. In: Humanismus und Theologie in der frühen Neuzeit. Hg. von Hanns Kerner. Nürnberg 1993 (Pirckheimer-Jahrbuch 1993), S. 207–211. FA 10, S. 59. FA 10, S. 97.

Ralph Häfner

Das Menschengeschlecht im Zeitalter des Heiligen Geistes Eine Hypothese zu Ursprung und Gestalt von Lessings Anthropologie

Lessings späte intellektuelle Entwicklung im Umkreis der Erziehung des Menschengeschlechts hat in den vergangenen dreißig Jahren zu unvermindert kontroversen Diskussionen Anlaß gegeben. Arno Schilson und Axel Schmitt haben in ihrem 2001 erschienenen Kommentar mit Nachdruck darauf bestanden, daß Lessing seine Überlegungen ausdrücklich als »Hypothese« bezeichnet habe und daß es folglich verfehlt wäre, wollte man Lessings »Weltanschauung« einer Schrift entnehmen, der es – nach Auffassung der beiden Kommentatoren – an jeglicher »Strenge einer konsequent systematisch-geordneten und logisch strikt folgernden und voranschreitenden Argumentation« mangele. Schilson und Schmitt kommen deshalb zu folgendem Ergebnis: Alle voreiligen Versuche, die Erziehung des Menschengeschlechts in der einen oder anderen Richtung einer Lessingschen Weltanschauung oder eines ihm eigenen, systematisch ausgearbeiteten Standorts zu interpretieren, müssen allein schon aus diesen sehr formalen und äußeren Gründen mit Vorsicht aufgenommen werden.1

Dieses Ergebnis ist insofern sehr unbefriedigend, als es den in der Erziehung des Menschengeschlechts vertretenen Standpunkten eine gewisse Beliebigkeit und Unverbindlichkeit auferlegt. Ich glaube, es ist sinnvoller, die Spätschrift als die letzte Fassung von Problemen zu nehmen, die Lessing spätestens seit dem Beginn der 1750er Jahre und insbesondere seit der Breslauer Zeit mit unverminderter Intensität beschäftigt hatten. Hugh Barr Nisbet hat 1999 in seinem ebenso materialreichen wie luziden Aufsatz The Rationalisation of the Holy Trinity from Lessing to Hegel diese Entwicklung im Blick auf die Frage nach der innertrinitarischen Verfaßtheit Gottes rekonstruiert.2 Für Schilsons und Schmitts Auffassung, Lessing habe bewußt auf formale Konsistenz und logische Stringenz seiner Argumentation verzichtet, scheint zu sprechen, daß er sich in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Publikation der

1

2

Arno Schilson und Axel Schmitt: Kommentar zu: Gotthold Ephraim Lessing. Werke 1778– 1781. In: Gotthold Ephraim Lessing. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Wilfried Barner u. a. Frankfurt am Main 1985–2003 (im folgenden zitiert als FA für ›Frankfurter Ausgabe‹ mit Band- und Seitenzahl), hier Bd. 10, S. 848. – Zur Entwicklung von Lessings geschichtstheologischem Denken vgl. Arno Schilson: Geschichte im Horizont der Vorsehung. G. E. Lessings Beitrag zu einer Theologie der Geschichte, Mainz 1974. Hugh Barr Nisbet: The Rationalisation of the Holy Trinity from Lessing to Hegel. In: Lessing Yearbook 31 (1999), S. 65–89.

Eine Hypothese zu Ursprung und Gestalt von Lessings Anthropologie

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Erziehungsschrift gegenüber Friedrich Heinrich Jacobi im Sinne einer bestimmten Form des Spinozismus hatte aussprechen können. Wie sollte dieser Spinozismus mit der Gedankenentwicklung der Erziehungsschrift in Einklang gebracht werden können? Auch wenn man die unbestreitbaren Inkonsistenzen in Jacobis Überlieferung von Lessings vorgeblichem Bekenntnis zu Spinoza in Rechnung stellt, wie sie Erwin Quapp nachgezeichnet hat,3 so bleibt es doch gewiß, daß Lessing in der Formel »Hen kai pan« oder »Hen ego kai pan« oder »Hen ego kai panta« einen für seine Denkform wertvollen Begriff gesehen hat. Wie man im einzelnen auch Quapps Ergebnisse beurteilen mag, so hat er doch erstmals in umfassender Weise den Versuch unternommen, Lessings Erziehungsschrift »auf der Grundlage der Formel ›hen ego kai pan‹« zu interpretieren. Angelpunkt all dieser Überlegungen ist offensichtlich das Problem, welche Stellung die christliche Trinitätslehre zusammen mit ihrer geschichtlichen Herleitung innerhalb von Lessings Gedankengang einnimmt. In seinem wegweisenden Aufsatz von 1982, dem in der Lessing-Forschung seltsamerweise kaum einmal Beachtung geschenkt wird, hat Klaus Hammacher »Lessings Spinozismus« vor dem Hintergrund der frühneuzeitlichen Kabbala und insbesondere im Kontext von Christian Knorrs von Rosenroth Kabbala denudata zu erklären versucht. Über die innertrinitarische Verfaßtheit Gottes legte Hammacher dar, daß Knorr von Rosenroth Jesus Christus in die Stelle eines »vermittelnden göttlichen Wesens« gebracht habe, »nicht jedoch als erlösenden Mittler, sondern als welterschaffenden.« Hammacher folgert daher: Da die Entfaltung einer Welt aus der höchsten göttlichen Einheit gemäß den Vorstellungen der Kabbala, wie sie allein dem 18. Jahrhundert vermittelt wurden, sich über eine Ausdehnung oder Expansion Gottes in einem Urraum vollziehen soll, läßt sich aus diesen Lehren ein Pantheismus entwickeln.4

Hammacher erkennt in »Lessings Spinozismus« eine Entwicklung, die von allem Anfang an darauf gerichtet gewesen sei, das Problem der innertrinitarischen Verfaßtheit Gottes zu klären. Nimmt man Hammachers These ernst, so steht mit der Erziehungsschrift am Ende von Lessings Denken also nicht eine weitere beliebige »Hypothese« neben anderen, sondern eine solche »Hypothese«, die als Résumé eines lebenslangen Denkprozesses aufzufassen ist, der jetzt in einem Pantheismus kabbalistischer Provenienz kulminiert. Hammacher kommt zu dem Schluß: Seit seinen frühesten philosophischen Aufzeichnungen sucht Lessing durch seinen Begriff vom denkend Wirklichkeit schaffenden Verstand Gottes mit dem Trinitäts-Problem fertigzuwerden. ›Gott schuf sich von Ewigkeit her als ein Wesen, welchem keine Voll3

4

Vgl. Erwin Quapp: Lessings Theologie statt Jacobis ›Spinozismus‹. Eine Interpretation der »Erziehung des Menschengeschlechts« auf der Grundlage der Formel »hen ego kai pan«. 2 Bde. Bern u. a. 1992. Klaus Hammacher: Lessings Spinozismus aufgezeigt an seinem Beitrag zur Wandlung der philosophischen Grundfragen nach Gott, Freiheit und Unsterblichkeit in der Aufklärung. In: Tijdschrift voor de studie van de verlichting en van het vrije denken 10 (1982), S. 87– 110, hier: S. 91.

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Ralph Häfner

kommenheit mangelte, die er selbst besaß‹, so heißt es im Paragraphen 5 seiner Schrift Christentum der Vernunft von 1753. Und weiter: ›Dieses Wesen nennt die Schrift den Sohn Gottes‹ – und dieser Harmonie des Gleichen ist er sich als ›Geist‹ bewußt. An dieser Deutung der Dreieinigkeit hält Lessing selbst noch bis zur Erziehung des Menschengeschlechts fest, wie der […] § 73 zeigt.5

Setzt man demnach einen inneren Zusammenhang zwischen Lessings Erziehungsschrift und dem vorgeblichen Bekenntnis zum Spinozismus voraus, wie ihn die sogenannte Pantheismus-Formel zu enthalten scheint, so ist die Frage allerdings berechtigt, aus welchem Grunde Lessing in demselben Kontext sich hatte überzeugen können, daß Goethes Prometheus-Hymnos denselben Grundgedanken zum Ausdruck brachte. Die Frage, die ich zur Diskussion stellen möchte, lautet also folgendermaßen: Gibt es eine Grundlage, das triadische Geschichtsmodell der Erziehungsschrift vor dem Hintergrund des Problems der innertrinitarischen Verfaßtheit Gottes, wie es Lessing seit dem Christentum der Vernunft thematisiert hat, mit der sogenannten Pantheismus-Formel in eine solche Konsistenz zu bringen, daß sich daraus zugleich der Gehalt, den er dem Prometheus-Hymnos Goethes allem Anschein nach zugemessen hat, extrahieren läßt? Um eine Antwort auf diese implikationsreiche Frage zu finden, möchte ich Lessings Trinitätsdenken zunächst von seinem sachlichen Ausgangspunkt her entwickeln. Denn es scheint mir methodisch grundsätzlich problematisch, zu einem Verständnis von Lessings Gedanken durch die Möglichkeit seiner Kompatibilität mit Spinoza oder Leibniz zu gelangen, wie es in den Forschungen der zurückliegenden Jahrzehnte häufig genug versucht worden ist. Vollends unbefriedigend scheint mir eine Aufstellung möglicher Quellen aus dem historischen Binnenraum des 18. Jahrhunderts, solange nicht der Nachweis geführt werden kann, daß sich Lessing auf eine bestimmte Diskussion habe beziehen wollen: Versteht es sich doch von selbst, daß das Trinitätsproblem auch im Jahrhundert der Aufklärung noch auf sehr breiter Basis kontrovers diskutiert worden ist. Von daher ist es eine kluge Entscheidung der Herausgeber Schilson und Schmitt gewesen, Lessings Denkhorizont bis in die Epoche der Patristik hinein zurückzuverfolgen. Ich möchte indes mit einem sachlich und historisch etwas anders akzentuierten Denkhorizont beginnen. In der Schrift Das Christentum der Vernunft wählt Lessing die innertrinitarische Vollkommenheit Gottes zum sachlichen Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Für jeden Zeitgenossen wurde somit klar, daß Lessing auf einen bestimmten Aspekt des scholastischen Trinitätsdenkens zurückzugreifen gedachte: Es handelte sich um den Beweis der »Selbigkeit« (aequalitas) des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes in Beziehung auf Gottes ›Größe‹ (magnitudo) oder Vollkommenheit (perfectio). Thomas von Aquin – auf den wir uns hier von der Sache her beziehen, ohne ihn als Lessings ›eigentliche‹ Quelle namhaft machen zu wollen – hatte im 4. Artikel der 42. Quaestio des ersten Teils der Summa theologiae die Frage so formuliert:

5

Ebd., S. 92.

Eine Hypothese zu Ursprung und Gestalt von Lessings Anthropologie

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»Utrum Filius sit aequalis Patri secundum magnitudinem« (»Ist der Sohn dem Vater gleich gemäß der Größe?«). Thomas definiert zunächst die »Größe Gottes« als »Vollkommenheit seines Wesens«: »Magnitudo enim Dei non est aliud quam perfectio naturae ipsius.«6 Im Gegensatz zur Zeugung eines Menschen, so argumentiert Thomas ganz aristotelisch, ist der Hervorgang des Sohnes Gottes aus dem Vater keine Umwandlung eines bloß Möglichen in ein Wirkliches. Denn weder ist das Zeugungsvermögen Gottvaters mangelhaft, noch gelangt Gottes Sohn erst nach und nach und durch eine Umwandlung eines Möglichen in ein Wirkliches zur Vollkommenheit (»Nec potest dici quod virtus Dei Patris fuerit defectiva in generando; neque quod Dei Filius successive et per transmutationem ad perfectionem pervenerit.«). Thomas schließt: »Daraus folgt mit Notwendigkeit, daß der Sohn dem Vater von Ewigkeit her im Blick auf die Größe gleich gewesen ist« (»Unde necesse est dicere quod [Filius] ab aeterno fuerit Patri aequalis in magnitudine.«). Fragen wir zunächst: Was haben wir mit dem Rückgriff auf Thomas von Aquin gewonnen? Wir haben damit nicht nur den sachlichen Ausgangspunkt von Lessings Trinitätsdenken in der Schrift Das Christentum der Vernunft bestimmt; wir können vielmehr beobachten, daß Lessing in seinen Überlegungen über die Größe (oder Vollkommenheit) Gottes vielmehr auch terminologisch präzise an die hochscholastische Diskussion anknüpft, indem er darlegt: [§ 5] Gott dachte sich von Ewigkeit her in aller seiner Vollkommenheit; das ist, Gott schuf sich von Ewigkeit her ein Wesen, welchem keine Vollkommenheit mangelte, die er selbst besaß. [§ 6] Dieses Wesen nennt die Schrift den Sohn Gottes, oder welches noch besser sein würde, den Sohn Gott. Einen Gott, weil ihm keine von den Eigenschaften fehlt, die Gott zukommen. Einen Sohn, weil unserm Begriffe nach dasjenige, was sich etwas vorstellt, vor der Vorstellung eine gewisse Priorität zu haben scheint.7

An diese Überlegung lassen sich mehrere Beobachtungen anschließen: (1) Lessing reproduziert in vereinfachter Form die scholastische Deduktion der Größe (oder Vollkommenheit) Gottes. (2) Lessing bezieht sich auf die Heilige Schrift, um das Wesen, das sich Gott von Ewigkeit her schuf, zu benennen: Sohn Gottes. (3) Lessing nennt dieses gleichursprüngliche Wesen – konform mit dem Athanasischen Glaubensbekenntnis – »Sohn Gott«. Weshalb wählt Lessing diese Formulierung? Die Antwort ist eindeutig: Der Ausdruck »Sohn Gott« macht deutlich, daß Lessing im Rückgriff auf das Symbolum Athanasianum schon terminologisch (und grammatisch) jeden Anschein eines Subordinationismus vermeiden möchte. Lessing hält an dem – orthodoxen – Ausdruck »Sohn Gott« fest, als er zur Bestimmung des Heiligen Geistes übergeht: »Gott und der Sohn Gott« ist »Harmonie«, »und die Harmonie, welche zwischen ihnen ist, nennt die Schrift den Geist, welcher vom Vater und Sohn ausgehet.«8

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Thomas von Aquin: Summa theologiae I,42,4. Gotthold Ephraim Lessing: Das Christentum der Vernunft. §§ 5 und 6. In: Gotthold Ephraim Lessing: Werke. 8 Bde. Hg. von Herbert G. Göpfert u. a. München 1970–1979 (im folgenden zitiert unter der Sigle ›G‹ mit Band- und Seitenzahl), hier Bd. 7, S. 278. Ebd., § 10. In: G 7, S. 279.

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Setzen wir die Frage beiseite, ob man Lessings Bestimmung der innertrinitarischen Verfaßtheit Gottes eine dogmatische oder auch nur innere Stringenz zuzusprechen vermag. Er arbeitet offenbar mit Analogieschlüssen, die von einer dogmatischen Verbindlichkeit im Sinne des Athanasianums ebenso weit entfernt sind wie von einer logisch zweifelsfreien Deduktion. Gleichwohl können wir resümierend feststellen, daß sein Trinitätsdenken wesentliche Lehrstücke der scholastischen Bestimmung der »Größe Gottes« annähernd korrekt wiedergibt. Auffallend ist jedoch die Terminologie, die er zur Bezeichnung der mit sich selbst identischen drei göttlichen Personen wählt: Gottvater ist »Gott«, Christus ist »Sohn Gott«, der Heilige Geist ist »Gott und der Sohn Gott«. Diese Bestimmung des Heiligen Geistes ist bemerkenswert, und man wird sich fragen müssen, weshalb Lessing eine derartige Perspektivierung des Problems der innertrinitarischen Verfaßtheit Gottes vorgenommen hat. Bevor wir eine Antwort auf diese Frage versuchen, bedenken wir noch einmal die Vermittlerrolle, die dem »Sohn Gott« zukommt. Klaus Hammacher hat richtig gesehen, daß Jesus Christus für Lessings vorgeblichen Spinozismus nicht sowohl »als erlösender Mittler, sondern als welterschaffender« aufzufassen sei. Ich bin jedoch skeptisch, ob man Lessings Trinitätsdenken so eng an die Kabbala Christian Knorrs von Rosenroth wird anschließen können, wie Hammacher nachweisen zu können geglaubt hat. Von einer ausgesprochenen Nähe Lessings zur Denkform der frühneuzeitlichen Kabbala ist sonst nichts bekannt. Halten wir jedoch zusätzlich im Blick, daß der von Ewigkeit her geschaffene und daher mit dem Vater identische »Sohn Gott« nach Lessing die Bedingung für die Möglichkeit des Allgesamt geschaffener Wesen ist, welches er »Welt« nennt. Christus, der »Sohn Gott«, ist also in absoluter Weise alles, denn er erkennt und enthält wirklich alles, was der Mensch erst nur in seiner raumzeitlichen Entwicklung als »Welt« überhaupt zu erkennen vermag. Anders formuliert: Allein für Christus ist alles Mögliche zugleich und auf einmal absolut wirklich. Worin also unterscheidet sich die »Welt« von Gott? Lessings Argumentation in der Abhandlung Das Christentum der Vernunft entfaltete bisher diejenigen Vollkommenheiten, die Gott »auf einmal« denkt oder vorstellt. Die göttliche Trinität ist auf einmal und zugleich absolute Vollkommenheit. Die geschaffenen Wesen sind demgegenüber nur insofern vollkommen, als sie an der absoluten Vollkommenheit Gottes teilhaben; mit Lessings Worten: Gott dachte seine Vollkommenheiten zerteilt, das ist, er schaffte [!] Wesen, wovon jedes etwas von seinen Vollkommenheiten hat […] Alle diese Wesen zusammen, heißen die Welt.9

Das Allgesamt der geschaffenen Wesen ist also in absoluter Weise wirklich in Gott grundgelegt, insofern er sich »auf einmal« und zugleich denkt. Die »Welt« ist demgegenüber das Allgesamt der geschaffenen Wesen, insofern es Gott »zerteilt« denkt, d. h. insofern er es in seiner zeiträumlichen – geschichtlichen – Entfaltung denkt oder, was dasselbe ist, verwirklicht. Der Heilige Geist, der

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Ebd. §§ 13 und 14. In: G 7, S. 279f.

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innertrinitarisch nichts anderes als die Harmonie von »Gott« und »Sohn Gott« ist, tritt in der Harmonie, die dieses nach Graden der Vollkommenheit gestufte Allgesamt der geschaffenen Wesen zusammenhält, zeiträumlich – d. h. geschichtlich – als Vorsehung in Erscheinung. Nach diesem Aufriß der Sachproblematik, um die es Lessing im Blick auf die Trinität offenbar von allem Anfang an zu tun ist, können wir jetzt die Frage nach den denkgeschichtlichen Hintergründen derselben sinnvoll stellen. Man weiß, daß sich Lessing immer wieder mit dem Werk des italienischen Gelehrten Girolamo Cardano beschäftigt hat. Das Interesse an dessen Werk reicht von der Rettung des Cardano (1754) bis zu der vermutlich 1777/1778 entstandenen Abhandlung Eine Prophezeiung des Cardanus, der wir uns noch zuzuwenden haben. Julius Caesar Scaliger hatte in einem 1557 publizierten Traktat mit dem Titel Exotericae exercitationes insbesondere den neuplatonischen Denkfiguren in Cardanos Buch De subtilitate (1550) seine kritische Aufmerksamkeit geschenkt. Scaliger, dessen Schrift zu den Glanzstücken der frühneuzeitlichen Kontroversliteratur gehört,10 widmete sich in der 365. Abhandlung unter anderem auch den »Märchen der Platoniker« (»Platonicorum commenta«) im Blick auf die triadische Struktur Gottes und konfrontierte sie mit einem aus den Schriften des Aristoteles gewonnenen Verständnis der Trinität (»De Trinitate ex Aristotele«). Ausgangspunkt ist auch hier die uns von der Scholastik her vertraute Frage nach der »Größe« oder Vollkommenheit Gottes (»de magnitudine Dei«). Scaliger beginnt den Abschnitt mit einer Bestimmung der Trinität im Sinne des Neuplatonismus. Sie lautet folgendermaßen: Dort, wo sie von der Größe Gottes gehandelt haben, haben Proklos, Iamblich, Porphyrios und Plotin beinahe überall dreierlei festgestellt und es so bestimmt: Das Erste: Eines. – Der Geist: Eines Alles. – Seele: Eines und Alles (IJϲ ʌȡЗIJȠȞ ςȞ. ϳ ȞȠІȢ ςȞ ʌȐȞIJĮ. ȥȣȤχ ςȞ țĮϠ ʌȐȞIJĮ). Weil Gott das erste Eine ist, sei er nichts anderes als Ursache; welcher, da er schafft, durch den Geist schafft. Der Geist ist also Schöpfer: Deshalb wollen sie, daß er Alles sei. Die Seele ist die Lenkerin, sie sei weniger einfach und vom Ursprung weiter entfernt. Deswegen sei der Geist, ohne Konjunktion, Eines Alles [All-Eines], die Seele, mit Konjunktion, Eines und Alles: [und zwar] aus dem Grunde, weil sie die Lenkung vom Schöpfer erhalten hat und ihm nachgeordnet ist.11

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Zu diesem Streit vgl. Georges Kouskoff: La querelle entre Jérôme Cardan et Jules-César Scaliger. Le De subtilitate ad Hieronymum Cardanum. In: Acta Scaligerana. Actes du Colloque International organisé pour le cinquième centenaire de la naissance de JulesCésar Scaliger (Agen, 14–16 septembre 1984) réunis par J. Cubelier de Beynac et M. Magnien. Agen 1986, S. 207–220. S. auch Ian Maclean: The interpretation of natural signs. Cardano’s De subtilitate versus Scaliger’s Exercitationes. In: Occult and scientific mentalities in the Renaissance. Hg. von Brian Vickers. Cambridge/Mass. 1984, S. 231–252. Julius Caesar Scaliger: Exotericarum exercitationum liber quintus decimus, de subtilitate, ad Hieronymum Cardanum, Paris 1557, fol. 472r/v: »Cum de magnitudine Dei scriberent, Proclus, Iamblichus, Porphyrius, Plotinus, penè ubique tria statuerunt. Quae ab illis ita digesta sunt. IJઁ ʌȡ૵IJȠȞ ਪȞ. ੒ ȞȠ૨ࢫ ਨȞ ʌ੺ȞIJĮ. ȥȣȤ੽ ਨȞ țĮ੿ ʌ੺ȞIJĮ. Quia Deus sit IJઁ ʌȡ૵IJȠȞ ਨȞ,neque aliud, quam ĮੁIJ઀Į. Qui cùm creat, creat per ȞȠ૨Ȟ. Est ergo ȞȠ૨ࢫ creator : iccirco faciunt illum esse omnia. Anima verò gubernatrix est, minus simplex, & remotior à principio. Ideo ȞȠ૨ࢫ, absque coniunctione, ਨȞ ʌ੺ȞIJĮ. Anima cum coniunctione, ਨȞ țĮ੿

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Ralph Häfner

Scaligers Kritik steht ganz offensichtlich im Horizont der lang andauernden Diskussion um das Verhältnis von (Neu-)Platonismus und Christentum. Wie zu erwarten, setzt er denn auch zu einer harschen Polemik gegen den Subordinationismus an, den er diesem neuplatonischen Verständnis Gottes entnimmt. Proklos und die Neuplatoniker irrten, so Scaliger ganz im Sinne der aristotelisch-scholastischen Deduktion der »Größe Gottes«, wenn sie den Geist dem Einen nachordneten; Jesus Christus sei vielmehr gleichewig mit dem Vater. Ebenso absurd sei es, die Seele mit dem Heiligen Geist gleichzusetzen und ihr mit Proklos den dritten Rang nach dem Einen und dem Geist anzuweisen. Lessing hat nun in der Abhandlung Das Christentum der Vernunft gerade diese triadische Struktur aufgenommen und das von Scaliger aufgeworfene Problem des Subordinationismus zu lösen versucht, indem er diese triadische Struktur in zweierlei Rücksichten glaubte verstehen zu können: einmal im Hinblick auf die innertrinitarische Einheit Gottes und dann im Hinblick auf das Allgesamt der geschaffenen Wesen. Vergleicht man Lessings Triade mit derjenigen Triade, die Scaliger aus den Neuplatonikern extrahiert hat, so ergeben sich im Hinblick auf die innertrinitarische Einheit Gottes die folgenden Entsprechungen: Scaliger: ›Das erste Eine‹

Geist: ›All-Eines‹

Seele: ›Eines und Alles‹

Lessing: ›Gott‹

Christus: ›Sohn Gott‹

Hl. Geist: »Gott und der Sohn Gott‹

In Lessings Interpretation der innertrinitarischen Einheit ist jeder Ansatz für einen Subordinationismus ausgeschlossen. Gott denkt sich »auf einmal«, d. h. Gott ist zugleich und auf einmal »Sohn Gott« und »Gott und der Sohn Gott«. Wir erinnern uns indes, daß Lessing im Blick auf die zeiträumliche Entfaltung der göttlichen Vollkommenheiten das Allgesamt der geschaffenen Wesen als »Welt« bezeichnet hatte. Die göttliche Trinität ist also auf zweifache Weise aussagbar: einmal in absoluter Weise in Beziehung auf die innertrinitarische Verfaßtheit Gottes, ein anderes Mal in relativer Weise in Beziehung auf die Schöpfung (Welt). Christus ist »All-Eines«, insofern er Grund von Allem ist; Christus ist »All-Eines«, insofern er sich zeiträumlich – sowohl schöpfungswie auch heilsgeschichtlich – im Allgesamt der geschaffenen Wesen auswirkt. Insofern sich Gott »auf einmal« denkt, ist die Harmonie zwischen »Gott« und »Sohn Gott« Heiliger Geist (»Gott und der Sohn Gott«); insofern sich Gott »zerteilt« denkt, ist die Harmonie zwischen dem Einen und dem All-Einen die »Seele des Alls« (»Eines und Alles«). Hält man sich diesen doppelten Sinn der Lessingschen Triade bewußt – es handelt sich ja nur um verschiedene Bedeutungsrichtungen ein und desselben Ausgangsproblems, nämlich der Frage nach der »Größe Gottes« –, so lassen

ʌ੺ȞIJĮ. Propterea quòd rectionis officium accepuit à Creatore: & posterior est.« – Vgl. z. B. Plotin: Enn. V 1,823–27.

Eine Hypothese zu Ursprung und Gestalt von Lessings Anthropologie

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sich zwei Grundprobleme der Erziehung des Menschengeschlechts etwas genauer fassen: die Geschichtstheologie und das Unsterblichkeitsproblem. (1) Geschichtstheologie. – Lessing hat den Anbruch eines Reiches des Heiligen Geistes – das Zeitalter eines »neuen ewigen Evangeliums«, wie er es in § 86 dieser Schrift nennt – anhand der triadischen Geschichtstheologie Joachims von Fiore erläutert. Für Lessing ist diese Geschichtstheologie indes nurmehr im Horizont der zeitgenössischen Anthropologie verständlich.12 Offenbarung ist die Form, in der sich das menschliche Bewußtsein über sich selbst verständigt. Eine derartige Auffassung der Schriftoffenbarung war übrigens zumindest seit Theophylakt, dem byzantinischen Gelehrten und Historiker des 7. Jahrhunderts, nicht mehr ganz ungewöhnlich. Theophylakt hatte das Gesetz des Alten Testaments der »Asthenie« der Menschen in der Frühzeit der Geschichte entsprechen lassen.13 Im Lichte der Bewußtseinstheorie des 18. Jahrhunderts – man denke an John Locke, Johann Georg Sulzer, Herder und Charles Bonnet – konnte Lessing Offenbarung im Sinne einer sukzessiven »Aufklärung« auffassen, die den einzelnen Menschen ebenso wie das Menschengeschlecht im ganzen der »Vollkommenheit näher bringt« (§ 92). Im Blick auf die Geschichte der christlichen Religion hat sich Lessing abermals mit bemerkenswerter Insistenz auf Cardano beziehen wollen. In dem fiktiven Briefwechsel Über eine Prophezeiung des Cardanus, die christliche Religion betreffend hatte er Überlegungen aus den Collectaneen weiter ausgeführt. Cardano hatte geweissagt, daß um das Jahr 1800 eine – so Kerolt in dem fiktiven Brief – »sehr große Veränderung in der christlichen Religion erfolgen werde«.14 Wie sollte diese Weissagung verstanden werden? Der Briefsteller hatte dargelegt, daß es wahre Propheten gegeben habe, die – wie Jonas den Untergang Ninives – Falsches geweissagt hätten. Cardano taugte ihm umgekehrt zum Beispiel für die »wahre Prophezeiung eines falschen Propheten«, denn: Was ist wahrscheinlicher, als daß diese Prophezeiung werde erfüllt werden? Oder vielmehr, was ist unstreitiger, als daß diese Prophezeiung schon erfüllt worden? Das Christentum dieses 18ten Jahrhunderts, wie sehr ist es von dem Christentum aller vorhergehenden siebzehn Jahrhunderte verschieden!15

Am Ende fügt er noch hinzu: »Und gleichwohl war Cardanus höchstens nur ein sehr gelehrter Charlatan; aber im mindesten kein Prophet.«16 Der kurze fiktive Briefwechsel ist ein Meisterstück Lessingscher Argumentationskunst. Wahrheit und Irrtum, Aufrichtigkeit und Charlatanerie treten in eine scheinbar unauslotbare Oszillation. Für einen Augenblick scheint es, als seien wir in die venezia12

13 14 15 16

Ich versuche also Arno Schilsons im Kern unbefriedigende These einer »Verschränkung« der theozentrischen und der anthropozentrischen Perspektive anhand dieses anthropologischen Interpretationsrahmens aufzulockern. Vgl. Arno Schilson: Lessings Christentum. Göttingen 1980, S. 69. Theophylaktos: PG 124, col. 500. Gotthold Ephraim Lessing: Über eine Prophezeiung des Cardanus, die christliche Religion betreffend. In: FA 8, S. 660. Ebd. Ebd.

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nische Diskussionsrunde von Jean Bodins Colloquium heptaplomeres versetzt, das Lessing sehr gut gekannt hat.17 Fragen wir dennoch: Läßt sich Lessings eigene Auffassung angesichts dieser vorgeblichen Weissagung Cardanos rekonstruieren? Ja, wenn wir auf die erwähnten Collectaneen zurückgreifen. Dort hatte Lessing die astrologischen Überlegungen Cardanos zur Geschichte des Christentums anhand von Zitaten aus Girolamo Fracastoro und Giovanni Battista Riccioli detailliert erläutert,18 um die Berechnungen der gelehrten Charlatane am Ende in einer Fußnote mit ebenso viel Lakonismus wie Sarkasmus zu konterkarieren. Lessing zitiert aus dem von ihm offenbar außerordentlich hoch geschätzten Politischen Testament des Grafen von Belle-Isle folgende Reflexion: Ein moderner Autor (La Beaumelle) hat gesagt: ›Die römisch-katholische Religion wird in 500 Jahren zugrunde gehen; sie wird aus Mangel an Untertanen zugrunde gehen‹. – Dieser Autor, obwohl er Kalvinist und folglich suspekt ist, könnte bedauerlicherweise die Wahrheit vorausgesagt haben. Die Klöster, die sich (doch) rühmen, den (ganzen) Himmel zur Unterstützung der Religion in Bewegung zu setzen, werden sie [sc. die römischkatholische Religion] durch die gewaltige Zahl der Klosterbürger zu Fall bringen, die darin [sc. in den Klöstern] ihren Müßiggang verbergen möchten.19

Stilistisch20 beruht die Pointe dieses glänzenden Aphorismus auf der rhetorischen Figur des Parallelismus: »faute de sujets« – »mangels (gläubiger) Untertanen«, steht parallel zu »nombre immense de citoyens« – »gewaltige Zahl der (Kloster-)Bürger«. Lessing hatte offensichtlich nicht nur besondere Freude an der gelungenen rhetorischen Figur; er fand in dem Kalvinisten La Beaumelle vielmehr ein weiteres Beispiel für den Typus des Charlatans, der Wahres voraussagt. Charlatane dieses Typs, so könnte man die Pointe fortführen, sind 17

18 19

20

Zur Verbreitung des Colloquium heptaplomeres im 18. Jahrhundert vgl. Winfried Schröder: Jean Bodins Colloquium Heptaplomeres in der deutschen Aufklärung. In: Jean Bodins Colloquium heptaplomeres. Hg. von Günter Gawlick und Friedrich Niewöhner. Wiesbaden 1996 (Wolfenbütteler Forschungen 67), S. 121–137; zum Stil vgl. Ralph Häfner: Die Geisterlehre Jean Bodins und der literarische Stil des Colloquium heptaplomeres. In: Bodinus polymeres. Neue Studien zu Jean Bodins Spätwerk. Hg. von Ralph Häfner. Wiesbaden 1999 (Wolfenbütteler Forschungen 87), S. 179–196. Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Collectaneen. In: FA 10, S. 497–499. Ebd., Zitat aus: Charles Louis Auguste Fouquet de Belle-Isle: Testament politique du Maréchal duc de Belle-Isle. Hg. von François Antoine Chevrier. Amsterdam [d.i. Paris] 1761, S. 178f.: »Un auteur moderne (la Beaumelle) a dit: La Religion catholique Romaine périra dans 500 ans; elle périra faute de sujets; cet Ecrivain, quoique Calviniste, et par consequent suspect, pourroit malheureusement avoir predit la verité; les Cloîtres, qui se glorifient d’interesser le Ciel pour le soutien de la Religion, la feront tomber par le nombre immense de Citoyens qui vont y cacher leur oisiveté.« – Ausgangspunkt des Gedankens von de Belle-Isle ist, die Klöster und ihre Insassen zu besteuern mit dem Ziel, aus »frommen Nichtstuern« »nützliche Untertanen« zu machen (»je change de pieux faineans en des sujets utiles«). Durch die zusätzliche Anzahl an Steuerzahlern werde es möglich, das Volk von der drückenden Last »außerordentlicher Steuern« zu befreien. Auch wenn es pedantisch erscheinen mag, erlaube ich mir die vollständige Übersetzung des Zitats (in der vorhergehenden Anmerkung) und die etwas ausführlichere Erläuterung, weil die FA (FA 10, S. 1183) den Galimathias der Göpfertschen Ausgabe (G 7, S. 680) noch ein Stück weit überboten hat.

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offenbar deshalb zur Weissagung befähigt, weil sie besonders aufgeklärt sind. Nach La Beaumelle veraltete das Christentum aus dem einfachen Grunde, weil außer den Mönchen niemand mehr an die Offenbarungen desselben glaubte (»faute de sujets«)! Vom anderen Ende her, aus der Perspektive der »Schwärmer des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts«, kommt Lessing dann in der Erziehung des Menschengeschlechts (§ 87f.) zu demselben Ergebnis: »daß der neue Bund eben so wohl antiquieret werden müsse, als es der Alte geworden.« (§ 88) (2) Unsterblichkeit. – Im Lichte der Bewußtseinstheorie seiner Zeit war Lessing offenbar zu der Überzeugung gelangt, daß die Menschheit bereits in das Zeitalter des Heiligen Geistes eingetreten sei. Versuchen wir daher abschließend, seine Überlegungen zur Unsterblichkeit der Seele aus der zeitgenössischen Erkenntnislehre zu verstehen. In den Jahrzehnten, die zwischen George Berkeley und dem späten Charles Bonnet liegen, hat sich eine Theorie des Bewußtseins mit bemerkenswerten Fortschritten ausformen können. Auch nach Lessings Verständnis sind für uns nur die ›Dinge‹ unseres Bewußtseins wirklich. Ebenso wie es unmöglich ist, daß Dinge außer Gott wirklich sind,21 ist auch all das, wovon wir glauben, daß es wirklich ist, mit unseren Bewußtseinsinhalten identisch. Hätten wir mehr und andere als die uns gegebenen fünf Sinne, würden wir unsere Bewußtseinsinhalte wesentlich erweitern können.22 Wichtigstes Ergebnis der seit der Mitte des 18. Jahrhunderts sich konstituierenden ›Physik der Seele‹23 ist es demnach, daß man die Fortdauer derselben aufgrund der Daten, die uns unsere Sinnesorgane liefern, gerade nicht ausschließen kann. Johann Georg Sulzer hatte in dem 1764 erschienenen Aufsatz Von dem Bewußtseyn und seinem Einflusse in unsre Urtheile dargelegt, daß die »Kraft der Seele« analog zu den »immerwährenden Kräften der Materie« niemals »abgenutzt« werde, und er folgerte: Wir schließen aus diesem allen, daß die gänzliche Zerstörung des organisirten Körpers die Seele in einen Todesschlaf versenken, und ihre ganze Wirksamkeit ersticken würde, ohne daß ihre Kräfte zu bestehen aufhöreten.24

Träumende, Ohnmächtige und Scheintote beweisen, »daß die Seele selbst alsdann, wenn sie keine klare sinnliche Empfindungen, und folglich auch kein Be-

21 22

23 24

Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Über die Wirklichkeit der Dinge außer Gott. In: G 8, S. 515f. Vgl. Lessing: Daß mehr als fünf Sinne für den Menschen sein können. In: G 8, S. 557–560. – Ich habe vor Jahren vermutet, daß Lessing sich diesen Gedanken in Auseinandersetzung mit Gottfried Ploucquet (Principia de substantiis et phaenomenis. Frankfurt am Main, Leipzig 1753, S. 129) entwickelt hat (vgl. Ralph Häfner: Johann Gottfried Herders Kulturentstehungslehre. Hamburg 1995, S. 129); das Problem wurde freilich weithin diskutiert, so auch etwa von Sulzer und Bonnet. Vgl. Häfner (s. Anm. 22), S. 123–148. Johann Georg Sulzer: Von dem Bewußtseyn und seinem Einflusse in unsre Urtheile (1764). In: Johann Georg Sulzer: Vermischte philosophische Schriften. Bd. 1. Leipzig 1773, S. 199–224, hier: S. 204.

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wußtseyn hat, in keiner gänzlichen Unwirksamkeit sey.«25 Der »Grad der Vollkommenheit« des Bewußtseins bemißt sich demnach an dem Vermögen desselben, Ideen möglichst deutlich und vollständig vorzustellen.26 Dieser Gedanke einer stetigen Vervollkommnung liegt bekanntlich auch Lessings Argumentation in den Paragraphen 92 bis 100 der Erziehungsschrift zugrunde. In einer Weise, die an Herders Polemik im Brief an Moses Mendelssohn vom April 1769 erinnert,27 legt Lessing dem gegenwärtigen Bewußtsein im Verhältnis zu Vergangenheit und Zukunft den größten Wert bei, weil es dem Individuum ebenso wie dem ganzen Menschengeschlecht den jeweils größtmöglichen Grad der Glückseligkeit sichere. »Die Erinnerung meiner vorigen Zustände«, so Lessing in § 99 der Erziehung des Menschengeschlechts, »würde mir nur einen schlechten Gebrauch des gegenwärtigen zu machen erlauben.« Diesen Gedanken hat Lessing auch im Blick auf zukünftige Zustände des Bewußtseins formuliert: Über die Bekümmerungen um ein künftiges Leben verlieren Toren das gegenwärtige. Warum kann man ein künftiges Leben nicht eben so ruhig abwarten, als einen künftigen Tag?28

Über die Fortdauer des Bewußtseins fügt Lessing, wiederum in § 99 der Erziehungsschrift, dann fragend hinzu: »Und was ich auf itzt vergessen muß, habe ich denn das auf ewig vergessen?« Die Anthropologie-Forschung der letzten beiden Jahrzehnte hat sehr oft den Begriff des »ganzen Menschen« bemüht, so zwar, als sei damit immer und in jedem Fall eine seelisch-leibliche Ganzheit zu verstehen, wie sie dem Zeitalter grundsätzlich eigentümlich sein soll. Diese Auffassung ist der Sache nach falsch. Darüber ist nämlich vergessen worden, daß die platonische animushomo-totus-Lehre29 – gerade auch über Cardano – bis ins 18. Jahrhundert mächtig fortgewirkt hat. Das Problem der Fortdauer der Seele ist nur vor diesem Hintergrund angemessen zu würdigen, wenn anders man die Anthropologie der Aufklärung nicht in die Nähe zum Gespensterglauben – den es bekanntlich auch gegeben hat – rücken will. Die Wiederkehr der individuellen Persönlichkeit, so wie sie Lessing in der Erziehungsschrift in Anregung gebracht hat, gründet also in der Auffassung, daß die Seele in einer organischen Materie sich wieder verkörpert oder, wie Herder sagen würde, daß sie sich einen Körper in dem sie wirksam in Erscheinung treten kann, ›baut‹. Der Körper ist ihr Sensorium, so wie die Welt das

25 26 27 28 29

Ebd., S. 205. Vgl. ebd., S. 206. Vgl. den Kommentar (mit Literatur) von Günter Arnold. In: Johann Gottfried Herder: Briefe. Bd. 11. Kommentar zu den Bänden 1–3. Weimar 2001, S. 93–102. Gotthold Ephraim Lessing: ‹Womit sich die geoffenbarte Religion am meisten weiß, macht mir sie gerade am verdächtigsten›. In: FA 8, S. 664. Vgl. Platon: Acibiades primus 130 c5–6.

Eine Hypothese zu Ursprung und Gestalt von Lessings Anthropologie

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Sensorium Gottes ist.30 Es ist jetzt auch leicht einzusehen, daß Lessing erst vor dem Hintergrund der animus-homo-totus-Lehre den rätselhaft anmutenden Fragesatz am Schluß der Erziehungsschrift sinnvoll stellen konnte: »Ist nicht die ganze Ewigkeit mein?« Im Horizont der Lehre vom aufgeklärten oder sich aufklärenden Bewußtsein können wir diese Frage auch anders formulieren: ›Bin ich nicht die Seele meiner Welt? Klärt sich nicht mein Bewußtsein von ihr fortwährend auf?‹ Noch radikaler formuliert: ›Bin ich nicht von aller Ewigkeit her der Heilige Geist oder ein Aspekt desselben, der sich am Ende seiner selbst bewußt geworden sein würde? Bin ich nicht Prometheus, der Schöpfer meiner Welt?‹ Öffnet man Lessings Erziehungsschrift im Blick auf die Bewußtseinslehre der Zeit, so muß man in ihr eine Antwort auf die Anthropologie der Aufklärung sehen, die in ihrer Radikalität erstaunt. Auch wenn Lessing in ihr die Gegenwart Cardanos – des gelehrten Charlatans – verschleiert hat, machte er doch seine eigene Auffassung hinreichend deutlich: daß wir inzwischen ins Zeitalter des Heiligen Geistes getreten sind, in dem »alle geoffenbarte Religion« so obsolet wie die Astrologie eines Cardano geworden sein würde.31 

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31

Hintergrund ist die umstrittene Formulierung Isaac Newtons in den Opticks (1704) und die daran sich entzündende Leibniz-Clarke-Kontroverse. Vgl. (mit Literatur) Häfner (s. Anm. 22), S. 155 mit Anm. 390. Lessing (s. Anm. 28), S. 664.

Wilhelm Schmidt-Biggemann

Lessings origenistische Eschatologie

Einleitung: Geschichten über Zukunft Der formale Grund für die besondere Struktur der Geschichtszeit ist, dass Geschichtszeit Handlungszeit ist. Die Struktur der Handlung wird auf die Zeit übertragen: Omne agens agit propter finem. Wenn dieses agere personal verstanden wird, dann impliziert es eine bewusste Intention auf ein Ziel hin, um dessentwillen die Handlung unternommen wird. Historische Zeit ist freilich auch dann Handlungszeit, wenn nicht klar ist, wer das Subjekt der Geschichte ist oder ob es überhaupt eines gibt. Immer dann, wenn eine Epoche ihr Ende erreicht hat, ist sie vollendet, aber auch vergangen. Diese Dialektik gilt auch für die Weltgeschichte – sofern man sich überhaupt auf sie einzulassen traut. Aber das muss man, wenn man denn von der Einheit der Geschichte ausgeht. Diese Einheit kann man nicht vermeiden, sofern man von ¿Geschichte¾ redet. Und jede Geschichte wird, als Ganzes betrachtet, zu einer Gesamt-Geschichte. Ihre unvermeidliche Einheit ist ein Ganzes – und ein Ganzes hat bekanntlich einen Anfang, eine Mitte und ein Ende; das gilt für Dinge und eben auch für Geschichten. Nur wenn sie vollendet sind, können sie als Einheit betrachtet werden, und nur dann sind sie hermeneutisch zu erfassen. Damit etwas in ¿seinem¾ Sinn begriffen werden kann, muss es als Ganzes vorausgesetzt werden; und es muss als ein Zweckzusammenhang, ein ¿Umwillen¾ gefasst werden. Der Zweck und das Ziel sind ununterscheidbar. Nun hat die Weltgeschichte, wie alle Geschichten, die die Gegenwart einschließen, eine Besonderheit: Sie ist noch nicht zu Ende. Die Zukunft ist noch Teil ihrer Vollendung. Wenn man also den Sinn der Gegenwart begreifen will, muss man von der Zukunft reden. In welcher Redeweise tut man das? In der Gattung Prophetie. Lessings Erziehung des Menschengeschlechts erfüllt alle Kriterien dieser von der Zukunft bestimmten Geschichtstheologie. Das Büchlein zeigt zugleich, wie stark die Geschichtsphilosophie von der Theologie abhängig ist und dass die Geschichtsphilosophie von einem Ganzen her denkt, das einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hat. Nach diesen Kriterien muss Geschichte erzählt werden.

Lessings origenistische Eschatologie

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1 Lessing: Erziehung des Menschengeschlechts; der religiös heilsgeschichtliche Rahmen Lessing bietet sozusagen das Grundmuster des aufgeklärten Erziehungsoptimismus – allerdings in deutlich theologisch-heilsgeschichtlicher Terminologie. Die Erziehung des Menschengeschlechts wurde als Pamphlet in der Auseinandersetzung um den theologischen Rationalismus geschrieben. Auslöser dieser heftigen Diskussion war die Veröffentlichung von Fragmenten aus Hermann Samuel Reimarus’ Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Lessing gibt in seiner Geschichtstheologie drei Stadien vor: Das Alte Testament deutet er als göttliches Erziehungsprogramm zum Monotheismus. Das Geschichtsziel des Neuen Testaments ist die Erziehung zur Moral. Die dritte, das Neue Testament ablösende Phase erzieht zur vernünftigen und erhofft bekömmlichen Selbständigkeit. Diese Zielbestimmung ist im Rahmen der Theodizee nicht überraschend: Ende gut, alles gut. Es handelt sich bei diesen Zukunftserwägungen, wissenstypologisch gesehen, um Verheißungen. Formal geht es um die Intentionalität, unter der die Weltgeschichte in der Theodizee überhaupt nur betrachtet werden kann: dass es nämlich die Absicht des guten Gottes ist, es mit der Welt gut ausgehen zu lassen. Diese Erwägungen teilt Lessings Erziehung des Menschengeschlechts. Die Gliederung der kleinen Schrift ist einigermaßen übersichtlich: Das Alte Testament wird in den ersten 52 Paragraphen behandelt. In §§ 1–5 geht es um die Erziehung im theologischen Rahmen, von §§ 6–12 um die adamitische Religion und das Verhältnis von Monotheismus zum Polytheismus. Das alttestamentliche Konzept des Monotheismus und des Einen (§§ 13–15) schließt diese Thematik ab. Nach den Entwürfen zur Moral des Alten Testaments (§§ 16–21) und der Feststellung, dass das Alte Testament die Unsterblichkeit der Individualseele noch nicht kenne (§§ 22–26), geht es Lessing um die zukunftsweisenden Momente: Die Vernunft-Emanzipation werde durch das AT angestoßen (§§ 27–36); der Einfluss der Chaldäer in der Exilzeit habe das Judentum aus seiner Isolierung gelöst (§§ 37–42), die Typologie gebe Fingerzeige auf das Kommende (§§ 43–47). Den Schluss dieses Abschnitts bilden Thesen zum Stil und zum Lehrbuchcharakter des Alten Testaments. Das Neue Testament wird in den §§ 53–80 verhandelt. Lessing beginnt mit der »neuen Lehre der Unsterblichkeit«, die Christus verkündet habe (§§ 53–58). Er ignoriert die orthodoxe Christologie von Inkarnation und Kreuzesopfer und bestimmt die Moral als Kern des Christentums (§§ 59–61). Das Neue Testament, das er als Lehrbuch interpretiert, sei 1700 Jahre das non plus ultra der religiösen Erleuchtung gewesen, »sollte es auch nur durch das Licht sein, welches der menschliche Verstand selbst hineintrug«. (§§ 62–67). Jetzt stehe das Menschengeschlecht am Ende seiner Kindheitsphase (§§ 68–71) und erkenne, welches der moralische Sinn der Lehren von Trinität, Erbsünde und Genugtuung sei (§§ 72–75). Lessing schließt die Behandlung des Neuen Testaments mit fragenden Erwägungen zum Verhältnis von Religion und Vernunft:

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Und warum sollten wir nicht auch durch eine Religion, mit deren historischer Wahrheit, wenn man will, es so misslich aussieht, gleichwohl auf nähere und bessere Begriffe vom göttlichen Wesen, von unserer Natur, von unsern Verhältnissen zu Gott, geleitet werden können, auf welche die menschliche Vernunft von selbst nimmermehr gekommen wäre? (§ 77) Vielmehr sind dergleichen Spekulationen – mögen sie im einzelnen doch noch ausfallen, wie sie wollen – unstreitig die schicklichsten Übungen des menschlichen Verstandes überhaupt, solange das menschliche Herz überhaupt höchstens nur vermögend ist, die Tugenden wegen ihrer ewigen glückseligen Folgen zu lieben. (§ 79)

Den Schluss der Erziehung des Menschengeschlechts (§§ 81–100) bilden Mutmaßungen zum Dritten Reich. Hier geht es um die joachitisch-origenistische Konzeption der Eschatologie und um Metempsychose als moralische Vollendungsidee. Lessing erinnert zunächst an das evangelium aeternum Offb 14,6 (§§ 81–87) und berichtet kurz von den »Schwärmern des joachitischen Zeitalters« (88–90). Als Prophetie und sogar in Gebetsform kündigt er das kommende Reich an (§§ 91,92) und beschreibt in origenistischem Duktus das Ewige Ende (§§ 93– 100). Hier erwägt er auch die Seelenwanderung (§ 94): »Aber warum könnte jeder einzelne Mensch auch nicht mehr als einmal auf dieser Welt vorhanden gewesen sein?« Es scheint ihm darum zu gehen, dass der Einzelne und die Menschheit durch Metempsychose verbessert werden: (§ 98) »Warum sollte ich nicht so oft wiederkommen, als ich neue Kenntnisse, neue Fertigkeiten zu erlangen geschickt bin. Bringe ich auf einmal nicht soviel weg, dass es der Mühe wiederzukommen etwa nicht lohnet?« Lessings Rekurs auf origenistische Fragen ist nicht verwunderlich; die Dogmatik des spekulativsten aller Kirchenväter spielte im 18. Jahrhundert gerade in aufgeklärten theologischen Diskussionen eine Schlüsselrolle.

2 Apokatastasis Panton um 1700 Die Lehre von der Apokatastasis panton ist die bekannteste Lehre des Origenes. Ihr Kern ist schnell beschrieben: Im Anschluss an die Apostelgeschichte (3,21), wo Petrus von der Wiederkunft Jesu und den »Zeiten der Wiederherstellung von allem« redet, als Reminiszenz an die Stelle aus dem 1. Korintherbrief (12,6), dass am Ende »Gott alles in allem sein werde«, und an Philos Idee, dass Gott die Welt nach einem vorher konzipierten Plan (»Primordialwelt«) geschaffen habe, konstruierte Origenes die Heilsgeschichte folgendermaßen: Gott hat zunächst die geistige Urwelt geschaffen, in der alles gut war und die von seiner Weisheit erleuchtet wurde. Die freien menschlichen Geister dieser Vorwelt missbrauchten ihre Freiheit und sündigten. Sie wurden zur Strafe in die zweite Schöpfung, die materielle Welt, verbannt. Alle Menschen in der materiellen Welt sind Inkarnationen von gefallenen Geistwesen aus der Urwelt. Ihre Strafe besteht in irdischer Krankheit und in körperlichem Tod. Sie werden erlöst,

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indem sich die unsterblichen Seelen der reinen Geister durch Frömmigkeit und Askese reinigen und sich in immer geistigeren Körpern so lange reinkarnieren, bis sie sich am Ende ihres Durchlaufs durch die Äonen als reine Geistwesen vorfinden. Dieser Prozess ist ein Gnadenakt Gottes, der mit dem Licht seiner Güte und Weisheit die Materialität der Erde durchdringt und sie am Ende so weit durchleuchtet und vergeistigt, dass er alles in allem sein wird. Als diesen Prozess begreift Origenes die Apokatastasis panton, die Auferstehung aller Wesen. In diesem Prozess löst Gott alle Materialität auf, an die die Bösen zur Strafe gebunden sind. Das heißt, auch das Böse verschwindet, es wird keine ewigen Strafen geben, und am Ende wird auch der Teufel erlöst sein. Dogmatisch kurzgeschlossen bedeutet das: Es gibt keine Hölle außerhalb der Welt, es gibt keine ewigen Strafen, auch der Repräsentant des Bösen, der Teufel, ist kein ewiger Widersacher Gottes. Seit den großen Ausgaben der Werke des Origenes von Merlin, Erasmus und Génébrard im 16. Jahrhundert waren die Gedanken des Origenes den gelehrten Theologen und Philologen vertraut. Die Haupttopoi: Zeitlichkeit der Sündenstrafen, die Auflösung der Hölle, die innerweltlichen Strafen, die Vergeistigung der Leiber und die Seelenwanderung wurden bald zu Diskussionsfeldern vor allem heterodoxer Frommer. Die Vergeistigung der Leiblichkeit und damit aller Körperlichkeit konnte auch als Hauptziel der Alchimie beschreiben werden, die Natur zu ihrer reinen Form zu erlösen. Das konnte durch Feuer oder Wasser geschehen; allemal ging es darum, die Welt insgesamt zu vergeistigen.1 Die origenistische Idee, die Existenz von Geistwesen in der materiellen Welt als Strafe für Sünden in der Primordialwelt zu begreifen, wurde in besonderer Weise umgedeutet: Die Primordialwelt spielte in der Diskussion keine Rolle, aber die Hölle als eigener Ort wurde aufgelöst. Die Übel in der Welt wurden als die Strafen für die Sünde aufgefasst. Die Unsterblichkeit der Seele war nur noch als Instanz der Begnadung und des Fortgangs zur schließlichen Gottesnähe denkbar. Dieser Weg war durchaus als Metempsychose vorstellbar. Dabei wurde die Apokatastasis panton als Möglichkeit interpretiert, die schließliche Seligkeit auch der ¿Heiden¾ zu propagieren. Es ist nicht verwunderlich, dass diese Theologie in jenen Kreisen Anklang fand, die Alchemie und Spiritualität miteinander koppelten; das waren vor allem die Anhänger Jakob Böhmes. Die Rezeption Böhmes fand zuerst in England statt, in der englischen Revolution wurden Böhmes Bilder und politische Prophezeiungen zur polittheologischen Propaganda benutzt; die geistliche Alchemie und Naturerlösungslehre spielte vor allem in den Kreisen der englischen Böhmisten eine Rolle. Böhmes Werke waren seit 1645 vor allem von John Sparrow und John Elliston ins Englische übersetzt worden.2 Sie hatten erheb-

1 2

Vgl. z. B. Oswald Crollius: Basilica Chymica. Frankfurt 1606. Vgl. Michael Halls: Die Böhme-Rezeption. In: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 3.1: England. Hg. von Jean-Pierre Schobinger. Basel 1988, S. 75–82, hier S. 76.

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lichen Einfluss auf spirituelle Kreise im England der Restauration. Der Zirkel um John Pordage (1607–1681) und Thomas Bromley verband das BöhmeStudium mit magischen Experimenten. Unter anderem versuchten die Mitglieder, mit Engeln zu kommunizieren – eine magische Praxis, die deshalb in den Zusammenhang des Origenismus hineinpasst, weil die Engel als Primordialexistenzen aufgefasst werden konnten, mit denen auf die Erde verbannte Geister Verbindung suchten. Der Kreis um John Pordage bildete auch den Kern der Philadelphian Society. Die Hauptfigur dieser Vereinigung, die gegen Ende des Jahrhunderts ihre Blütezeit erlebte, war Jane Lead (1623–1704). In den Zusammenhang der philadelphischen Bewegung gehören offensichtlich auch Anne Conway, Franciscus Mercurius van Helmont, Christian Knorr von Rosenroth3 und Johann Wilhelm Petersen, der Verfasser jenes Buches über die Apokatastasis, das Leibniz rezensieren sollte. Johann Wilhelm Petersen eröffnete die Diskussion um die Bedeutung des Origenismus im Pietismus gleich zu Beginn des neuen Jahrhunderts. Er wurde 1649 in Osnabrück geboren, wo sein Vater Vertreter der Stadt Lübeck bei den Verhandlungen zum Westfälischen Frieden war, wuchs in Lübeck auf und studierte in Rostock. Er wurde durch Philipp Jacob Spener zum Pietismus bekehrt und lehrte danach als philosophischer Magister in Gießen. Nach seiner Rückkehr nach Lübeck 1676 fiel er durch Polemik gegen die Katholiken auf; der Auslieferung an den Kaiser Leopold I. entging er durch die Annahme einer Professur für Poesie in Rostock. Gleichwohl wurde er unter dem zum Katholizismus konvertierten Herzog Johann Friedrich, Leibniz’ erstem Dienstherrn in Hannover, zum Prediger an der Aegidienkirche ernannt. 1678 wurde er im Alter von 29 Jahren Superintendent und Hofprediger in Eutin, 1680 heiratete er das fünf Jahre ältere Fräulein Sophie von Merlau, die ihrerseits eine Affinität zur Mystik hatte. 1686 wurde er in Rostock zum Dr. theol. ernannt; 1688 wurde er nach langen Streitigkeiten Superintendent in Lüneburg; es war dies die Stelle des höchsten evangelischen Geistlichen im Herzogtum Braunschweig-Lüneburg. Petersen hatte sich schon seit seiner Eutiner Zeit immer stärker mit chiliastischen Ideen befasst, er hatte darüber veröffentlicht und befestigte diese Lehre als Prediger. Diese Heterodoxie sowie seine unnachsichtige Verdammung von Oper und Theater trugen ihm 1692 die Amtsenthebung in Lüneburg ein. Die Unterstützung des Berliner Kammerpräsidenten von Knyphausen und anderer adeliger preußischer Gönner, darunter auch Eberhard von Danckelmanns, ermöglichten ihm, sich ein kleines Landgut bei Magdeburg (Nieder-Dodeleben) zu kaufen, wo er mit seiner Frau wohnte, das er aber später verkaufte. Er starb 1727 in Thymern bei Zerbst. Petersen war als radikaler Pietist, Millenarist und Origenist ausgewiesen. 1692 hatte er mit einer Flugschrift dargestellt, dass es auch nach der Himmel-

3

Vgl. dazu das Kapitel über Knorr, Conway und Helmont in meiner Geschichte der christlichen Kabbala; erscheint 2011.

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fahrt Christi Erscheinungen des Herrn gebe4 – diese Schrift hatte den Streit ausgelöst, der zu seiner Entlassung als Superintendent führte. In seinem Bekänntnüß Von dem Zukünfftigen herrlichen Reiche JEsu Christi (Magdeburg 1693) hatte er sich zum Millenarismus, das heißt der Lehre vom 1000jährigen Reich Christi nach der ersten Auferstehung der Toten (Offb 20) bekannt, 1698 hatte er als Mitglied der »Philadelphischen Gesellschaft«5 die Eschatologie insgesamt origenistisch als Das ewige Evangelium der Allgemeinen Wiederbringung Aller Creaturen (o. O. 1698) charakterisiert. In seinem umfangreichen Sammelwerk Apokatastasis Panton (1700) stellte er seine eschatologische Gelehrsamkeit zugleich mit seiner Überzeugung der Öffentlichkeit vor. In schönster barocker Art gibt der Titel ein vollständiges Verzeichnis der Absichten und Inhalte des Buches: ȂȊȈȉǾȇǿȅȃ ǹȆȅȀǹȉǹȈȉǹȈǼȍȈ Ȇǹȃȉȍȃ, Das ist: Das Geheimniß Der Wiederbringung aller Dinge/ Darinnen Jn einer Unterredung zwischen PHILALETHAM und AGATHOPHILUM gelehret wird/ Wie das Bse und die S(nde/ Die keine Ewige Wurtzel hat/ sondern in der Zeit geuhrst ndet ist/ wiederum g ntzlich solle auffgehoben/ und vernichtet; Hergegen die Creaturen Gottes/ Die nach seinem Willen das Wesen haben/ doch eine jegliche in ihrer Ordnung / von der Sünde/ und Straffe der Sünden/ nach Verfliessung in der göttlichen Oeconomie darzu bestimmten Perioden, und nach Auß(bung der Gerechtigkeit/ krafft des ewigen Rath=Schlusses Gottes/ durch JESUM CHRISTUM, Den Wiederbringer aller Dinge/ Zum Lobe und Preiß seines herrlichen Namens/ sollen befreyet und errettet werden/ auff daß da bleibe Das Gute/ Und Gott sey Alles in Allen / Offenbahret durch Einen Zeugen Gottes und seiner Wahrheit.

Das ist durchaus schon das komplette Programm dieser umfänglichen Sammlung, die ähnlich wie Gottfried Arnolds Kirchen- und Ketzerhistorie viele Dokumente dieses Origenismus mit abdruckt und als Zeugen der verborgenen Wahrheit aufführt. Das Werk entfaltet drei wichtige Topoi: 1. Die Typologie Adam-Christus ist mit der kabbalistisch-neuplatonischen Idee verbunden, dass im göttlichen Logos das Ain soph, das Unsagbare, zur Erscheinung komme und dass diese Erscheinung des ursprünglichen Adam der Adam Kadmon, der erste primordiale Adam und der Baum der Sephiroth sei, den die Kabbalisten kennen. Petersen beruft sich dabei auf Johann Georg Wachters Spinozismus im Jüdentum, der seinerseits auf Abraham Herreras Porta Coelorum fußt.6 2. Petersen geht von der Erlösung des Teufels – das heißt von der schließlichen Aufhebung des Bösen aus. Begründung: Die Freiheit des göttlichen Willens spiegelt sich in der Gottebenbildlichkeit seiner willentlich freien Geschöpfe wieder. Das gilt auch für den Teufel. Der Teufel kann also, wenn das Böse in 4

5 6

Send-Schreiben An einige Theologos und Gottes Gelehrte / betreffend die Frage Ob Gott nach der Auffahrt Christi nicht mehr sich offenbahren wolle / und sich dessen ganz begeben habe? Sammt einer erzehlten Specie Facti Von einem Adelichen Fräulein, was ihr vom siebenden Jahr ihres Alteres biß hieher von Gott gegeben ist. o.O. 1692 Dazu vgl. Daniel Pickering Walker: The Decline of the Hell. Seventeenth Century Discussions of Eternal Torment. London 1964. Er behandelt Petersen im Übrigen nicht. Die Porta Coelorum war zuerst in Knorr von Rosenroths Kabbala denudata (1677/84) erschienen.

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der Welt aufgehoben und wieder vergöttlicht wird, aus seiner gefallenen Form wieder erlöst werden und damit zu seiner Gottebenbildlichkeit zurückkehren.7 3. Die Wiederbringung des Herrn findet nach dem apokalyptischen Millennium statt. Über das Millennium hinaus gibt es eine ewige Wiederbringung der Dinge im Durchlauf von Äonen. Diese Vollendung ist mit Joachim von Fiore als »Ewiges Evangelium« (Offb 14,6) bestimmt.8 Am Ende werden alle Geistwesen in sich »das verlohrene Ebenbild / in und durch den andern Adam / den HERRN vom Himmel wiederbringen/ so werden wir denn auch von der übrigen Schöpffung und derer Wiederbringung mit Macht zeugen können«.9 Leibniz kannte Petersens und der Philadelphier Ideen lange durch eigene Lektüre des Origenes; sie waren ihm zusätzlich durch Franciscus Mercurius van Helmont (1614–1698) nahe gebracht worden.10 Er war van Helmont schon 1671 in Mainz begegnet und durch dessen Vermittlung auch mit Knorr von Rosenroth bekannt geworden. 1679 hatte Leibniz Helmont erneut getroffen; die beiden scheinen intensiv über Kabbala und Seelenwanderung diskutiert zu haben. 1696 war van Helmont wiederum in Hannover, wo er mit der Kurfürstin und Leibniz lange und eindringliche Gespräche zur Schöpfungs- und Heilsgeschichte führte, die Leibniz protokollierte. Als Leibniz das Buch Petersens zur Apokatastasis panton in die Hand bekam, war er über den Umkreis der Diskussionen wohlinformiert. Die Besprechung ist zwar nur kurz, aber sie zeigt, mit wieviel Sympathie Leibniz der Lehre des Origenes begegnete. Leibniz’ Rezension erschien im Monathlichen Auszug aus allerhand neu herausgegebenen, nützlichen und artigen Büchern bei Förstner in Hannover, einer kurzlebigen Zeitschrift, die wohl nur von 1700–1702 überlebte.11 Leibniz hebt in dieser Besprechung, die sich zwar nicht allein auf die Inhaltsangabe beschränkt, aber seine eigenen Ansichten zu diesen Kernfragen der Theodizee doch durchaus verbirgt, einige Punkte heraus, die er für Petersens Argumentation ausgibt:

7 8 9 10

11

Petersen: Apokatastasis Panton, III, 145. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt am Main 1998. S. 583 Petersen: Apokatastasis Panton III, S. 176. Vgl. Schmidt-Biggemann (s. Anm. 8). S. 584. Vgl. Wolf Peter Klein: Franziscus Mercurius van Helmont. In: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 4.1: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Nord- und Ostmitteleuropa. Hg. von Helmut Holzhey, Wilhelm Schmidt-Biggemann, Vilem Mudroch. Basel 2001, S. 48–54. Allison P. Coudert: Leibniz and the Kabbala. Dordrecht 1995 (International Archive of the History of Ideas 142), S. 25–34. Zur Metempsychose bei van Helmont vor allem das vorzügliche Kapitel über van Helmont und Leibniz in Helmut Zander: Geschichte der Seelenwanderung in Europa. Alternative religiöse Traditionen von der Antike bis heute. Darmstadt 1990, Kap. 19 und 21. Hier S. 274. Hier: Gottfried Wilhelm Leibniz: Deutsche Schriften. Hg. von Gottschalk E. Guhrauer. Bd. 2. Berlin 1840. Reprint Hildesheim 1966, S. 342–347.

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1. Die göttliche Liebe schließt ewige Höllenstrafen aus. Das Böse ist ohne »ewige Wurzel«,12 d. h. dem Bösen wird keine eigene Substanz zugesprochen. Gott wird »alles in allem« sein. Es gibt nur eine Ewigkeit, in der alles sich ereignen wird, die Wiederkehr von Äonen ist ausgeschlossen. 2. Es gibt keine ewige Verdammnis. Das gilt sowohl für die »vielen Menschen, die die Wahrheit nie gehöret«13 haben, also die Heiden, als auch für die verdammten Christen; und deshalb ist es für Petersen, wie Leibniz meint, unverständlich, dass »mit vielen Schwachheiten sterbende Christen sogleich in den himmlischen Saal kommen sollten«.14 Diese seine Ansicht über die Seligkeit frommer Heiden findet Petersen durch das Buch einer »englischen Gräfin« Principia philosophiae recentissimae et antiquissimae von 1690 bestätigt.15 Leibniz kennt das Buch, und van Helmont hat ihm berichtet, dass die Verfasserin Lady Conway sei, die Freundin Henry Mores. Darüber hinaus stellt Leibniz hier auch die Demonstratio Theologica et Philosophica, quod aeterna impiorum supplicia non arguant Dei justitiam, sed injustitiam vor; die von dem Altdorfer Sozinianer Ernst Soner stammt. Dieses Büchlein versuche – im übrigen mit unzureichenden Argumenten, wie Leibniz betont – die Widersinnigkeit der ewigen Höllenstrafen zu beweisen.16 3. Der juristische Begriff ›Gerechtigkeit‹ erfordert nach Leibniz’ PetersenDeutung, dass die Sünde nach ihrer Schwere bestraft wird. Mit diesem Argument wird die lutherisch-calvinische Rechtfertigungslehre zurückgewiesen. 4. Petersen rehabilitiert das Fegefeuer und die Lehre von der Apokatastasis panton. Leibniz hält seine Meinung im Bezug auf diese Lehre bedeckt. Er hat sie in der Vorrede zu der geplanten Ausgabe von Soners Schrift über die Ewigkeit der Höllenstrafen, die Lessing 1773 ediert hat, dargestellt. Die Lehre von den ewigen Höllenstrafen impliziere, dass das Böse mit Gott gleich ewig sei. Dieses »manichäische« Problem werde durch die Lehre von der Apokatastasis gelöst. Die elaborierteste Fassung des Origenismus findet Leibniz in van Helmonts Cogitatae in Genesim.17 Dort sind die Ideen der Metempsychose18 dargestellt, die Leibniz durchaus teilt: Gott habe nur eine bestimmte Anzahl von Seelen geschaffen. Diese würden durch revolutiones an Körper gebunden und ständig verbessert. Die wichtigste Wiederverkörperung primordialer Seelen sei Christus, in dem sich Adam reinkarniert habe. Der ideale makrokosmische Mensch, der im Sündenfall verloren ging, sei zugleich der Christus, die »Weisheit«, »in dem alle andre menschliche Seele zuerst gewesen, und wieder in ihm und mit 12 13 14 15 16 17

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Ebd., S. 342. Ebd., S. 343. Ebd. Anne Conway: The Principles of the Most Ancient and Modern Philosophy. Hg. von Peter Loptson. New York ²1998. S. u. den Abschnitt zu Lessing über Leibniz von den ewigen Strafen. Quaedam praemeditatae & consideratae Cogitationes super Quatuor priora Capita Libri Primi Mosis, Genesis nominati. Amsterdam 1697. Dt. Einige Gedanken über die vier ersten Capitel des ersten Buchs Mosis, Genesis genannt. O.O. 1698. Zander (s. Anm. 10), S. 257–273.

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ihm zur Vollkommenheit kommen müssten.«19 Diese Idee des primordialen kosmischen Christus findet Leibniz auch in Johann Georg Wachters Spinozismus im Jüdentum (1700) wieder.20

3 Origenismus in Leibniz’ Theodizee und Monadologie Leibnizens Rezension zu Petersen macht, oberflächlich gelesen, den Eindruck, als handele es sich bei Petersens Ideen um Leibniz eher fernstehende Gedanken, die aus der Distanz referiert werden. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn man sich Leibniz’ Theodizee- und Monadologiekonzept anschaut, findet man an wichtigen Stellen seiner Theorie Übereinstimmungen mit dem Origenismus; einige origenistische Theorien werden auch charakteristisch uminterpretiert. 1. Auch bei Leibniz gibt es, wie bei Origenes, nur eine begrenzte Anzahl von Seelen, die geschaffen werden. 2. Die Frage nach der Metempsychose ist bei Leibniz nicht deutlich durchformuliert. Aber die Theorie der Seelenwanderung spielt für das Monadenkonzept eine wichtige Rolle. Leibniz scheint davon auszugehen, die Monaden verkörperten sich immer wieder neu und seien die geistigen Punkte, an denen sich Materie sozusagen anlagere.21 Wie man sich dabei den Tod und die Reinkarnation genau vorzustellen hat, bleibt offen. Jedenfalls handelt es sich, anders als bei Origenes, bei Leibniz’ Verkörperungskonzept der Monaden nicht um Strafaktionen für Verfehlungen in einem primordialen Leben. 3. Leibniz teilt im Prinzip das Freiheitskonzept der Origenisten. Die menschliche Freiheit ist mit der Gerechtigkeit Gottes, seiner Allmacht und seinem Allwissen insofern vereinbar, als Gott dem Menschen Raum für seine Handlungen gewährt und sie im Nachhinein sanktioniert. Die Seelen bleiben in 19 20

21

Leibniz (s. Anm. 11), S. 347. Er ist Wachter gegenüber allerdings sehr skeptisch. Er schreibt: »Ich habe mit dem Auctore Mosis Germanici zu Berlin gesprochen, er sagte mir, daß er Professor zu Düsburg werden sollte. Mich deuchte, er hatte selbst viel von den Grillen des Mosis, den er refutiren wollte, und unter solchen Grillen gingen etliche etwas weit, so war auch eine große Į੝ș੺įİȚĮ dabey. Sein Zweck aber war auch, die Cabbalam Philosophicam zu resuscitiren, aber zu einem rechten Philosopho gehöret gar viel. Die Leute haben keine distinctos conceptus, schleppen sich mit terminis metaphoricis, als lumine, spiritu und dergleichen.« Leibniz (s. Anm. 11), S. 176 (Leibniz an Jablonski, März 1701). Vgl. Winfried Schröders Vorwort in: Johann Georg Wachter: De primordiis Christianae religionis. Elucidarius cabalisticus. Origines juris naturalis. Mit einer Einleitung hg. von Winfried Schröder. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995 (Freidenker der europäischen Aufklärung I.2), S. 17. Vgl. Zander (s. Anm. 10), S. 274–284. Gottfried Wilhelm Leibniz: Die philosophischen Schriften. Bd. 6. Hg. von C. J. Gerhardt. Berlin 1885. Reprint Hildesheim 1978 (Olms Paperback 16), S. 619 (Monadologie, § 72): »Ainsi l’ame ne change de corps que peu à peu et par degrés, de sorte qu’elle n’est jamais depouillée tout d’un coup de tous ses organes; et il y a souvent metamorphose dans les animaux, mais jamais Metempsychose, ny transmigration des Ames: il n’y a pas non plus des Ames tout à fait séparées, ny des Genies sans corps. Dieu seul en est detaché entierement.«

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jeder Verkörperungsstufe frei und sind deshalb fähig zur Sünde, die wiederum Strafen nach sich zieht. 4. Leibniz’ Variation der Apokatastasis-Lehre ist folgende: Mit der zentralen Rolle des Konzepts der besten aller möglichen Welten ist keine unveränderliche Endzeit kompatibel. Leibniz muss deshalb von der Fortsetzung und von der ewigen Verbesserung der Welt ausgehen, in der sich allmählich die in ihr angelegte Perfektion vollendet. Dieser Prozess ist allerdings nie abgeschlossen, sondern vollzieht sich als asymptotische Annäherung an die Idealwelt. Die Welt dauert für Leibniz ewig; sie wird sich als ewige auf die Dauer nicht vom Himmel, der die Idealwelt ist, unterscheiden. Schließlich ist die göttliche Rationalität in ihr vollständig verwirklicht; und diese wird sich in ihrer Perfektion auch äußerlich auf die Dauer zeigen, wenn die »vérités de fait« und die »vérités de raison« sich unendlich annähern. 5. Im Origenismus gibt es keine Hölle als eigenen Ort, denn die Welt ist selbst schon der Ort der Strafe für die primordial gefallenen Seelen. Die Sünden müssen sich in der Welt selbst bestrafen – hier teilt Leibniz Origenes’ Vorstellungen – und zwar durch die Sündenfolgen. Da die Seelen ja in ihrer Unsterblichkeit ständig frei bleiben, bleibt ihnen auch zukünftig die Möglichkeit der Sünde. Die Sündenfolgen werden deshalb – das ist Leibniz’ Uminterpretation der Sündenstrafen – in Ewigkeit weiter wirken, weil die Freiheit stets als Möglichkeit bestehen bleiben muss.

4 Mendelssohns Phädon als origenistisches Lehrstück Mit der Diskussion um den Origenismus zu Beginn des 18. Jahrhunderts setzte sich die Lehre durch, dass sich Sünden und Verbrechen der Menschen selbst im Verlauf der Welt bestraften.22 Das zentrale Anliegen des Origenes war ebenso evident wie virulent: In einer sich ständig verbessernden Welt, die vom allmächtigen Gott als die beste aller möglichen geplant war, konnte es am Ende kein absolut resistentes Böses mehr geben. Dieses Argument widersprach durchaus der Lehre von der Notwendigkeit des christlichen Glaubens für die Seligkeit, wie sie Paulus formuliert und Augustinus dogmatisch zugespitzt hatte. Denn mit der ewigen Verdammnis derjenigen, die nicht glaubten, war die allmähliche vollkommene Vollendung der Welt nicht möglich. Das anti-origenistische Skandalon hieß extra ecclesiam nulla salus; das Problem bestand in Bezug auf die Gotteslehre im göttlichen Voluntarismus der Gnadenwahl. Dieses Thema war im Laufe der theologischen Polemik am Schicksal der ungetauften Kinder und an der Frage nach der Seligkeit frommer Heiden exemplifiziert worden. Und für diesen zweiten Fall war Sokrates der Prototyp.

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Vgl. ebd., Theodizee I, §§ 16–19; II, §§133, 134; Causa Dei, § 14.

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Es ist evident, dass Mendelssohn sich als Jude mit dieser paulinischlutherischen Theologie des göttlichen Voluntarismus nicht anfreunden konnte. Sein theologisches Konzept bestand darin, die jüdische Religion nicht, wie die eigene Tradition nahe legte, als Ritus und Gesetz aufzufassen, sondern sie als die wichtigste Repräsentanz der natürlichen Theologie zu begreifen. Zunächst fasste er diese Idee nicht unmittelbar im Bezug auf das Judentum, das geschah später in Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (1783). Moses Mendelssohns Erstling Phädon (1767) handelt prima vista von der Frage der Unsterblichkeit der Seele, das ist eine Bedingung des Origenismus, die ein Standardthema der Aufklärung war. Das Buch ist einfach angelegt: Zunächst berichtet Mendelssohn vom Leben des Sokrates, danach paraphrasiert er den platonischen Phädon in drei Gesprächen. Das erste Gespräch handelt von der Vergänglichkeit der Einzeldinge und der Ewigkeit der Genera, das zweite von der Harmonie und der Schönheit der Welt, die auf den Schöpfer Rückschlüsse zulasse, und das dritte liefert einen Beitrag zum leibnizianischen Origenismus, indem es darstellt, wie die Welt, von der Materie angefangen, über die Sinne bis zur Vernunft sich beständig verbessere und so zugleich ein Muster und ein Inzitament für die Tugendhaftigkeit des Menschen sei. Emphase ersetzt in diesem Werk häufig die Argumentation; das zeigt sich gerade im Bezug auf den Origenismus des dritten Teils. Das Appellieren ans Gefühl und die vorgreifende Hoffnung sind der erbauliche Teil des Arguments. Mendelssohns Unsterblichkeitsbeweis bedient diese Erbaulichkeit: »Vielleicht führet uns die Gottheit«, beendet Sokrates sein erstes Gespräch im Phädon, »dereinst in verklärten Freundschaften einander in die Arme. O! mit welchem Entzücken werden wir uns alsdann des heutigen Tages erinnern«.23 Bei Mendelssohn beweisen Harmonie und Schönheit der Welt die Einfachheit der Seele und den guten Willen des Schöpfers. Für ihn zeigt sich, wie die vielen geschaffenen Geister, die untereinander verschieden sind, sich zu einem optimalen Ganzen verbinden. Aus diesem Standardargument zieht Mendelssohn nun im dritten Gespräch des Phädon weitgehende, leibnizianisch-hoffnungsvolle Konsequenzen, die zugleich Origenes’ Vorstellung von der allmählichen Vergöttlichung der Welt im Processus universitatis variieren: Die unsterbliche Seele wird aus ihrem unbewussten Todeszustand auferweckt, hofft Mendelssohn, und sie nimmt Teil an einem universalen Fortgang der Vervollkommnung, die den Prozess der irdischen Seelenstufung ins Reich der Geister verlängert und dort ständig steigernd vollendet. Die leblose Welt dient den empfindenden und denkenden Wesen zum Werkzeug; die sinnlichen Naturen »werden sich in die Sphäre der Geister emporschwingen«,24 die vernünftigen Geister erlangen wahre Begriffe von Gott.25 »Das Ziel dieses Bestrebens bestehet, wie das Wesen der Zeit, in der Fortschreitung«,26 die in Ewigkeit währt. Deshalb ist der 23 24 25 26

Moses Mendelssohn: Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele. Hg. von Dominique Bourel. Hamburg 1979 (Philosophische Bibliothek 317), S. 77. Mendelssohn (s. Anm. 23), S. 110. Mendelssohn (s. Anm. 23), S. 112. Mendelssohn (s. Anm. 23), S. 113.

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Schrecken des Todes gebannt, das Sterben ist Teil des lebendigen Werdens und Vergehens, und so »kennt das Fortstreben in dem menschlichen Leben keine Grenze«.27 Genau dieser natürliche Drang zum Fortschritt liefert Mendelssohn das eigentlich schlagende Gefühlsargument seines theologisch-metaphysischen Origenismus: »Wir können sagen, dieses unermessliche Weltgebäude sey hervorgebracht worden, damit es vernünftige Wesen gebe, die von Stufe zu Stufe fortschreiten, an Vollkommenheit allmählich zunehmen, und in dieser Zunahme ihre Glückseligkeit finden mögen. Daß diese nun sämtlich mitten auf dem Wege stille stehen, nicht nur stille stehen, sondern auf einmal in den Abgrund zurück gestoßen werden, und alle Früchte ihres Bemühens verlieren sollten, dieses kann das allerhöchste Wesen unmöglich beliebet, und in den Plan des Weltalls gebracht haben, der ihm vor allen wohlgefallen hat.«28 Dieses göttliche Weltenwerk lässt gar keinen anderen Weg zu als den der allmählichen Vervollkommnung der Welt; der Fortschritt ist alternativlos, logisch-moralische Folge einer göttlich guten Weltgeschichtsvernunft.

5 Eberhards Neue Apologie des Sokrates als origenistische Kampfschrift Der Hallenser Theologe Johann August Eberhard war der engagierteste Theologe, der die origenistischen Konsequenzen aus Leibnizens Theodizeekonzept theologisch durchfocht. Er tat das als Polemik gegen die augustinische Ekklesiologie, gemeint war aber auch der lutherische voluntaristische Gottesbegriff. Eberhards Neue Apologie des Sokrates (1772) denunziert denn auch die augustinisch-lutherische Gnadenlehre als sinnlich-rachsüchtig, ungerecht, unnatürlich und deshalb als unchristlich. Eberhards Kirche besteht in der Gemeinschaft derer, die guten Willens sind; seine Gegner sind diejenigen, die den Kirchenbegriff enger fassen als er selbst und die damit alle von der Seligkeit ausschließen, die nicht zu dieser Kirche gehören. Wegen der göttlichen Liebe zu allen Menschen, die für Eberhard axiomatisch vorausgesetzt wird, und weil der gute Wille niemandem im Grund abgesprochen werden kann, sind die anthropologischen Fundamente des theologischen Origenismus garantiert.29 Es gibt keinen Grund, weshalb nicht alle Menschen selig werden sollten. Der Kern von Eberhards Theologie ist nicht Christologie, sondern Ethik. Seine Polemik richtet sich gegen die augustinisch-lutherische Rechtfertigungslehre, die er freilich bei Calvin lokalisiert; er schließt damit an Leibnizens

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Ebd. Mendelssohn (s. Anm. 23), S. 114. Johann August Eberhards weiter Kirchenbegriff entspricht im Übrigen weitgehend dem der Jesuiten im 17. und 18. Jahrhundert. Vgl. etwa den ›Ritenstreit‹ in der China-Mission – aber diese Debatte ist Eberhard nicht bekannt. Er unterstellt vielmehr den ›Scholastikern‹ – die er gar nicht kennt – den augustinischen Kirchenbegriff der protestantischen Orthodoxie.

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Calvin-Polemik in der Theodizee30 an und radikalisiert sie. Allerdings wirft er Leibniz vor, seine Meinung nicht radikal genug vertreten zu haben und sich den Lehren der Orthodoxie bis zur Verstellung akkommodiert zu haben. Die Neue Apologie des Sokrates, die in einer flammenden Anklage des Helden Sokrates gegen die wohlfeilen Gegner »Orthodoxie« und »Jesuitismus« gipfelt, ist zugleich eine Rede gegen die paulinische Christologie der Erlösung und gegen das stellvertretende Leiden Christi. Johann August Eberhard favorisiert die Theorien des englischen neuplatonischen Latitudinarismus und des niederländischen Arminianismus zur Unterstützung der deutschen Neologie. Die Tradition der natürlichen Theologie gilt ihm als Kern des Christentums: »Die unverdorbene Lehre desselben setzt die tröstliche Wahrheit der Erkenntnis Gottes in das vortheilhafteste Licht, und erweitert das Herz zu nichts als reiner Liebe und Tugend, aber einer milden Tugend. Denn diese Lehre ist eben so glimpflich im Urtheilen, als ihre Eiferer grausam sind.«31 Unter diesen Voraussetzungen ist für jeden Religiösen die Sicherheit seiner Gotteserkenntnis evident, denn alle bange Ehrfurcht ist der Einsicht gewichen: »Gott kann den rechtschaffenen Liebhabern der Tugend nicht anders als hold sein«.32 Eberhard klagt ¿die¾ Orthodoxen mit dem allerbesten Gewissen aus der Sicherheit seiner Moralität heraus an; er braucht weder Offenbarung noch Erlösung. Der Sokrates der Neuen Apologie beerbt aufs legitimste den mendelssohnschen Sokrates, der die jüdische Religion mit der natürlichen zu identifizieren sich anschickte. Bei Eberhard hat die natürliche Religion auch das Christentum assimiliert; natürliche Tugend ist wichtiger als Erlösungstheologie.

6 Lessings Origenismus: Leibniz von den ewigen Strafen; Erziehung des Menschengeschlechts Lessing veröffentlichte 1773 in den Beiträgen zur Geschichte und Literatur. Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek in Wolfenbüttel Leibnizens Vorrede zu Ernst Soners (1572–1612) Traktat Demonstratio Theologica et philosophica, quod aeterna impiorum supplicia, non arguant Dei justitiam, sed injustitiam. Das war die Schrift, auf die Leibniz in seiner Rezension zu Petersen hingewiesen hatte. Lessings Veröffentlichung hatte durchaus provokativen Charakter. Leibniz hatte den Traktat, der angeblich 1654 in Holland oder Belgien gedruckt worden war, auf seiner Reise nach England 1673 abge-

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Z. B. Leibniz (s. Anm. 21), Theodizee, Disc. Prél. § 49. Hauptteil: §§ 49, 79, 158, 178, 182. Johann August Eberhard: Neue Apologie des Sokrates. Bd. 1. Berlin 1776. Reprint Brüssel 1968. S. 456. Ebd. S. 456.

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schrieben und das Vorwort 1708 verfasst.33 In seiner Vorrede hatte Leibniz die These verteidigt, dass die Sündenstrafen ewig seien. In der Neuen Apologie des Sokrates polemisierte Eberhard gegen diese Lehre und warf Leibniz vor, er habe sich der Orthodoxie zu weit akkommodiert. Lessing wendet sich nun seinerseits gegen Eberhards Leibniz-Interpretation: Nach Leibnizens Theodizee und in der Folge seiner Gedankengänge sei es evident, dass jede Tat ewige Folgen hätte. Es stimme gar nicht, wie Eberhard unterstelle, dass Leibniz ein Anhänger der Apokatastasis panton sei. Schon gar nicht akzeptiere Leibniz Ernst Soners Argument, es sei unmöglich, dass aus zeitlichen Sünden ewige Strafen folgten.34 Leibniz’ Argument sei vielmehr anders situiert. Verlange Leibniz’ Theorie nicht vielmehr geradezu, dass »in der Welt nichts insulieret, nichts ohne Folgen, nichts ohne ewige Folgen ist? Wenn daher auch keine Sünde ohne Folgen sein kann, und diese Folgen Strafen der Sünde sind: wie können diese Strafen anders als ewig dauern?«35 Leibniz habe, findet Lessing, sich diese große Wahrheit der Ewigkeit der Höllenstrafen gefallen lassen, weil sie mit »seiner esoterischen Philosophie mehr übereinstimme, als die gegenseitige Lehre. Freilich nahm er sie nicht in dem rohen und wüsten Begriffe, in dem sie so mancher Theologie nimmt. Aber er fand, dass selbst in diesem rohen und wüsten Begriffe noch mehr wahres liege, als in den eben so rohen und wüsten Begriffen der schwärmerischen Verteidiger der Wiederbringung: und nur das bewog ihn, mit den Orthodoxen lieber der Sache ein wenig zu viel zu tun als mit den letzteren zu wenig.«36 Lessing akzeptiert Eberhards These, dass sich Leibniz in seiner »exoterischen« Philosophie der Orthodoxie akkomodiert habe; aber die Unterstellung Eberhards, Leibniz habe diese Akkomodation bis zur Verlogenheit getrieben, geht ihm zu weit. Lessing findet Leibniz’ Lösung plausibel, ewige Sündenstrafen und Hölle seien nicht dasselbe. Dieses Argument bedeutet allerdings, dass die Sündenstrafen zu Sündenfolgen naturalisiert werden, dass nicht mit Schuld und Sühne, sondern mit Ursache und Wirkung argumentiert und Strafe durch Kausalität ersetzt wird. Die Folgen der Sünden seien deren Strafen; wegen der Unabschließbarkeit der Kausalitätsketten dauerten die Folgen schlechterdings ewig. Lessing unterscheidet deshalb, bei Leibniz werde zwar nicht die Ewigkeit der natürlichen Strafen geleugnet, aber doch die Ewigkeit der 33

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Gotthold Ephraim Lessing: Werke. 8 Bde. Hg. von Herbert G. Göpfert u. a. München 1970–1979 (im Folgenden zitiert unter der Sigle ›G‹ mit Band- und Seitenzahl), hier Bd. 7, S. 795. Eine Veröffentlichung, die Mosheim geplant hatte, kam nicht zustande. G 7, S. 171–197, hier S. 175f. Leibniz’ Vorrede; Soner hatte argumentiert: Die Sünde der Menschen sei nicht unendlich, also dürfe die Strafe nicht ewig sein. Leibniz’ Argument gegen Soner: »Etiamsi igitur concederemus ipsi, nullum peccatum per se infinitum esse; revera tamen dici potest, damnatorum infinita numero peccata esse; revera tamen dici potest, damnatorum infinita numero peccata ese; quoniam per totam aeternitatem in peccando perseverant. [Das ist das eigentliche Argument, dass die Verdammten weiter sündigen!] Quare si aeterna sunt peccata, justum est, ut aeternae etiam sint poenae.« (Ebd., S. 176.) G 7, S. 188. Ebd., S. 184.

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Hölle. Die angedrohten Strafen der Schrift seien keine anderen »als die natürlichen, welche auch ohne diese Androhung auf die Sünde folgen würden«.37 Mit diesem Argument wirft Lessing Eberhard vor, er konstruiere einen Graben zwischen Himmel und Hölle; so kämen die »Ungereimtheiten« zustande, »die sowohl mit dem Wesen der Seele, als mit der Gerechtigkeit Gottes streiten«.38 Für jeden werde also seine Unsterblichkeit in der eigenen Hölle und seinem eigenen Himmel bestehen;39 und »wenn es wahr ist, dass der beste Mensch noch viel Böses hat und der schlimmste nicht ohne alles Gute ist: so müssen die Folgen des Bösen jenem auch in den Himmel nachziehen, und die Folgen des Guten diese auch bis in die Hölle begleiten; ein jeder muß seine Hölle noch im Himmel, und seinen Himmel noch in der Hölle finden.«40 Damit sind Himmel und Hölle keine extramentalen Orte, es sind Zustände der Seele nach dem Tode, Zustände, die der natürlichen Kausalität entsprechen. Was ist an alledem origenistisch? Ein Kriterium des Origenismus ist die Lehre von dem primordialen Leben der Seelen, ihrer Sünde und ihrer Bestrafung durch den Fall in die Körperlichkeit. Der Wiederaufstieg, das heißt die Entkörperlichung in den Glücksstatus der Primordialität ist das Ziel aller irdischen Existenz – das gilt auch für die Materie selbst, die sich verzehren muss und als Kristall sublimiert wird. Die Theorie der göttlichen Gerechtigkeit auf der Erde ist mit diesen Ideen verbunden und besteht nach Origenes darin, Himmel und Hölle als seelische Zustände nach dem Tode zu begreifen. Die Strafen für die Sünden gelten als »Verdauungsbeschwerden« der unsterblichen Seele, die Belohnungen für gute Taten sind Schritte beim Aufstieg zu ihrer Vergeistigung. In diesem Sinne ist Lessing mit Leibniz Origenist, und er rettet seinen Origenismus als die »feinere Wahrheit«. Der Leitsatz der Lehre von der Apokatastasis panton ist, dass Gott am Ende »alles in allem« sein werde. Am Ende aller Äonen (wie lange das dauert, ist auch bei Origenes nicht ausgemacht) wird sich das Gute verwirklichen – und das bedeutet auch, dass das Böse aufgehoben sein wird. In diesem Sinne behauptet Lessing in Leibniz von den ewigen Strafen, Leibniz sei, strikte genommen, kein Origenist, denn die Kausalität böser Taten wirke in Ewigkeit fort. In der Erziehung des Menschengeschlechts vernachlässigt er dieses Argument. Hier kombiniert er von § 88 an die origenistische Apokatastasis-Lehre mit Joachim von Fiores Drittem Geist-Reich und verbindet diese Topoi mit der Seelenwanderungslehre, die in dieser Fassung gleichfalls von Origenes stammt und wiederum auf die Apokatastasis hinweist. Er nennt diese Ideen zwar »schwärmerisch«, aber er interpretiert diese Schwärmerei in seinem Sinne

37 38 39 40

Ebd., S. 190. Ebd., S. 192. Ebd., S. 193. Ebd., S. 193.

Lessings origenistische Eschatologie

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genau so um, wie er Leibniz unterstellt, dass dieser die Ewigkeit der Höllenstrafen uminterpretiert habe. Die Topoi sind klar: Es geht um die ewige Seligkeit der unsterblichen Seele, um die Apokatastasis panton und die allmähliche Verbesserung der Welt, die sich in einem langen Prozess vollenden wird; dieser Prozess reicht über das Leben eines Einzelnen hinaus. Lessing verteidigt nun die origenistischen Schwärmer, er akzeptiert ihre Lehre und tadelt allein ihre Ungeduld: »Der Schwärmer tut oft sehr richtige Blicke in die Zukunft: aber er kann diese Zukunft nur nicht erwarten. Er wünscht diese Zukunft beschleuniget; und wünscht, dass sie durch ihn beschleuniget werde. Wozu sich die Natur Jahrtausende Zeit nimmt, soll in dem Augenblicke seines Daseins reifen. Denn was hat er davon, wenn das, was er für das Bessere erkennt, nicht noch bei seinen Lebzeiten das Bessere wird?«41 Lessing sieht den Ausweg aus der Klemme zwischen Naherwartung und Fernerfüllung in der Lehre von der Metempsychose, die er als geschichtsphilosophische Parallelität von Phylo- und Ontogenese interpretiert: »Eben die Bahn, auf welcher das Geschlecht zu seiner Vollkommenheit gelangt, muss jeder einzelne Mensch (der früher, der später) durchlaufen haben« (§ 92). Das Fortschrittskonzept, das in der Seelenwanderung mündet, beginnt mit moralischer Besserung, denn »Schritte zur Vervollkommnung, welche bloß zeitliche Strafen und Belohnungen den Menschen bringen können« (§ 96), betonen den pädagogischen Effekt der Strafen. Es geht Lessing auch bei der Metempsychose nicht um die abstrakten ewigen Folgen von guten Taten und Sünden, sondern um die Vervollkommnung des Einzelnen durch Erziehung. Das ist anders als bei Leibniz von den ewigen Strafen. Lessing geht hier, in der Erziehung des Menschengeschlechts, davon aus, dass die unsterbliche Seele »so oft wiederkommen« kann, wie sie »neue Kenntnisse, neue Fertigkeiten zu erlangen geschickt« ist (§ 98). Und das ist ein Prozess, dessen zeitliche Erstreckung den origenistischen Äonen durchaus entspricht. Es gehe dabei nicht zuviel Zeit verloren, »– Verloren? – und was habe ich denn zu versäumen? Ist nicht die ganze Ewigkeit mein?« (§ 100).

41

Gotthold Ephraim Lessing. Werke 1778–1781. Hg. von Arno Schilson, Axel Schmitt. In: Gotthold Ephraim Lessing. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Wilfried Barner u. a. Frankfurt am Main 1985–2003, hier Bd. 10, S. 97 (Erziehung des Menschengeschlechts, § 90).

Ingrid Strohschneider-Kohrs

Zur Logik der Erziehungs-Schrift Widerspruch oder Kohärenz?

In Lessings gesamtem Œuvre hat kaum ein anderes Werk so viele Thesen und Deutungskontroversen hervorgerufen und so viel Anlaß zu immer neu aufflammenden Disputen gegeben wie die Schrift über Die Erziehung des Menschengeschlechts.1 Auch wenn hier von der Menge und Vielfalt der Thesen und Auslegungstendenzen nicht die Rede sein kann und soll, so ist doch deutlich zu konstatieren, daß in fast keiner der Auslegungen ein Hinweis auf den sogenannten Widerspruch zwischen den §§ 4 und 77 fehlt.2 Und von früh an ist offenkundig gewesen und wird auch in gegenwärtigen Diskursen stets thematisiert, daß die vermeintlich widersprüchlichen Paragraphen von nicht geringer Relevanz für die Deutung der in der Erziehungs-Schrift hauptsächlich bestimmenden Fragen seien, wenn nicht über diese Schrift hinaus auch für die Deutung des gesamten Lessingischen Spätwerks: die Fragen nach Präponderanz oder alleiniger Dominanz von Vernunft oder Offenbarung. Es mag schon hier zu erwähnen nicht unangebracht sein, daß in der heutigen Lessing-Literatur, wie es in einem 2008 erschienenen Sammelband über Neue Wege der LessingForschung heißt, ein deutliches »Plädoyer für Lessings Vernunftreligion«3 zu Worte komme. Mit diesem Begriff ist eine Problematik berührt, die gerade in gegenwärtigen, sehr intensiv geführten Auseinandersetzungen viel Beachtung findet.4 Anderseits fehlt es diesem oder dem etwas geläufigeren Begriff einer

1

2

3 4

Die Lessing-Texte werden zitiert nach der Ausgabe: Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Schriften. Hg. von Karl Lachmann und Franz Muncker, 23 Bde., Stuttgart 1886–1924. (Im folgenden zitiert als LM mit Band- und Seitenzahl). Aus der Sekundärliteratur werden hier bestimmte Probleme nur dort und so kurz wie möglich genannt, wo spezielle Auslegungsfragen dazu Anlaß geben. Eine ausführlich informierende Übersicht über die Forschung liegt vor in der Ausgabe: In: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Wilfried Barner u. a. Frankfurt am Main 1985–2003 (im folgenden zitiert als FA für ›Frankfurter Ausgabe‹ mit Band- und Seitenzahl), hier Bd. 10, S. 851–864. G. E. Lessing. Neue Wege der Forschung. Hg. von Markus Fauser. Darmstadt 2007, S. 12. Hinzuweisen ist auf neuere Publikationen wie folgende: Ansprache von Benedikt XVI.: Glaube, Vernunft und Universität. Erinnerungen und Reflexionen. Copyright 2006. Libreria Editrice Vaticana, sine pag. – Jürgen Habermas: Ein Bewußtsein von dem, was fehlt. Über Glauben und Wissen und den Defaitismus der modernen Vernunft. In: Neue Zürcher Zeitung, 10./11. Februar 2007, S. 30f. – Michael Reder (Hg.): Ein Bewußtsein von dem, was fehlt. Eine Diskussion mit Jürgen Habermas. Frankfurt am Main 2008. – Die

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Ingrid Strohschneider-Kohrs

›vernünftigen Religion‹ in den heutigen Tags allgemeineren und weit gestreuten Diskursen nicht an mancherlei Beliebtheit, – so als ob damit eine zureichende Orientierung oder eine Art Ausgleich für bislang strittige Religionsauslegungen gegeben sei. – Das mag einen gewissen Anlaß bieten, schon hier ein LessingWort anzuführen: Über ein in seiner Zeit sogenanntes »vernünftiges Christenthum« hat Lessing skeptisch angemerkt: Schade nur, daß man so eigentlich nicht weiß, weder wo ihm die Vernunft, noch wo ihm das Christentum sitzt.5

Es will mir möglich und nützlich scheinen und darf vielleicht gar als eine »zeitige Aufgabe«6 verstanden werden, auf eine der älteren Lessing-Rezeptionen und Deutungen hinzuweisen, die auf entscheidende Voraussetzungen Lessingischer Denkweisen und Probleme aufmerksam zu machen imstande gewesen ist: auf Søren Kierkegaards Lessing-Deutung in seiner Unwissenschaftlichen Nachschrift der Philosophischen Brosamen von 1846. Es sind ungewöhnlich eigenwillige Hinweise, mit denen Kierkegaard die exzeptionelle Position Lessings und vornehmlich seine Religionsfragen betreffenden Auslegungen zu charakterisieren vermocht hat. Auf die Fragen nämlich – so Kierkegaard wörtlich – »Hat er das Christentum angenommen, hat er es verworfen, hat er es verteidigt, hat er es angegriffen?« habe Lessing »kein Resultat« präsentiert. Und Kierkegaard wiederholt mit fast emphatischer Betonung: »keins, da ist keine Spur von einem Resultat«.7 Aber eben dies: dieser ›Mangel an Resultat‹ ist eine signifikante, Lessings ›Standort‹ auszeichnende Besonderheit und kennzeichnet seine Problemorientierungen. Es ist begründet in seiner Einsicht und seinen Erfahrungen und leitet sich her – so hat es Kierkegaard formuliert – aus der »Einsicht des Denkens«,8 mit der das »dialektisch Entscheidende«9 sich resultativen Aussageweisen entzieht.

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Vernunft der Religion. Hg. von Notger Slenczka. Berlin 2008 (Berliner Theologische Zeitschrift, Beiheft 2008). LM 7, S. 271. Zu dieser den Neologen geltenden Skepsis Lessings bildet der Titel seiner frühen fragmentarischen Schrift »Das Christenthum der Vernunft« (1752) insofern keinen Gegensatz, als diese Schrift auf fremde Anregung (Johann Wilhelm Hecker) und Lektüren zurückgeht. Schon kurze Zeit später verweist Lessing in der Cardan-Schrift auf die Spannungen zwischen Vernunft oder der ›natürlichen Philosophie‹ und ›Glaube‹. Vgl. dazu den Brief Friedrich Nicolais vom 8. März 1771. Näheres über die vielen Bezüge der Frühschrift vgl. Jürgen Stenzel, in: FA 2, S. 995–1002. LM 16, S. 293. Søren Kierkegaard: Philosophische Brosamen und Unwissenschaftliche Nachschrift. Unter Mitwirkung von Niels Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaard-Gesellschaft hg. von Hermann Diem und Walther Rest. Ungekürzte Ausgabe. München 1976, S. 192. Die geisteswissenschaftlich sehr aufschlußreiche Unterscheidung Kierkegaards von Lessing kann hier nicht gekennzeichnet werden. Kurze Hinweise dazu bei Ingrid StrohschneiderKohrs: Historische Wahrheit der Religion. Hinweise zu Lessings Erziehungs-Schrift. Kleine Schriften zur Aufklärung. Hg. von der Lessing-Akademie. Göttingen 2009, Anm. 36 und 62. Kierkegaard (s. Anm. 7), S. 191. Ebd, S. 196.

Zur Logik der Erziehungs-Schrift

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Die hier im folgenden vorgelegte Erörterung ist der Versuch, die zentrale Thematik der Erziehungs-Schrift in ihrer durchgehenden Gedankenlinie in einem Problemaufriß so textnah wie möglich aufzuzeigen und argumentativ zu verdeutlichen.10 Im umfangreichen Gesamtkomplex von Lessings theologiekritischen Schriften der Spätzeit hat die Erziehungs-Schrift eine deutlich erkennbare Sonderstellung. Es sind nicht nur die Entstehungsvoraussetzungen oder Publikationsdaten, denen diese Sonderstellung abzulesen ist. Es ist vielmehr die spezielle und eigenständige Thematik, mit der diese Schrift sich von den erst später, etwa nach einem Jahr, einsetzenden Debatten mit den Theologen unterscheidet und sich von ihnen deutlich abgegrenzt zeigt. Während diese Theologen-Debatten in ebenso detaillierten wie ausladenden und polemisch eskalierenden Auseinandersetzungen um Grundthemen christlicher Glaubenslehre kreisen, stehen in der Erziehungs-Schrift vornehmlich systematische Fragen im Mittelpunkt. Die Publikationsdaten und die Modalitäten, mit denen Lessing die Erziehungs-Schrift hat erscheinen lassen, sind von einigem Interesse. Den ersten Teil der Schrift hat Lessing zu Anfang des Jahres 1777 veröffentlicht; und zwar in einem umfangreichen Konvolut, das nicht nur fünf der Reimarus-Fragmente enthält, sondern auch die als Gegensätze des Herausgebers annoncierten Texte: die Entgegnungen auf die Thesen und Themen seines Ungenannten. Unmittelbar auf die Gegensätze folgt der Anfangsteil der ersten 53 Paragraphen der Erziehungs-Schrift. Da die Schrift, obschon in vollständiger Form erst geraume Zeit später (1780) von Lessing veröffentlicht, bereits seit 1777 ausgearbeitet gewesen ist – und dies ist die in der Forschung seit geraumer Zeit allgemein vertretene Auffassung –, sollte von der Erziehungs-Schrift nicht als Lessings ›letzter Schrift‹ die Rede sein. Lessing hat seine Anonymität für beide Veröffentlichungen zu wahren versucht. Es mag sein, daß die späte, vollständige Publikation den Anlaß zu diesem Wort von der ›letzten Schrift‹ hat geben können. Überdies gibt es auch Hinweisworte wie die, die Schrift sei als Lessings »Testament«,11 sein Vermächtnis, zu verstehen. Eine Deutung, die vielleicht eher auf den von Lessing 1780 hinzugefügten »Vorbericht des Herausgebers« zu beziehen möglich ist, da gerade diesem – wenn auch relativ kurzen – Text eine nicht geringe, durchaus auch gedankliche Bedeutung zu eigen ist.12

10

11 12

Das heißt auch, daß die geistesgeschichtliche Lessing-Forschung, die in den letzten Jahrzehnten von besonderer Intensität gewesen ist, hier nahezu gänzlich unerwähnt bleibt. Wenn im folgenden die textinternen Bezüge besonders zu betonen sind, so auch deswegen, da sie die unentbehrlichen und entscheidenden Voraussetzungen sind, aufgrund deren von der Einheitlichkeit der Lessingischen Intentionen und seiner Gedankenführung in der Erziehungs-Schrift zu sprechen möglich ist. Lessings »letzte Schrift«, so im Kommentar FA 10, S. 863f., S. 797 u. ö. »Testament«: S. 797. FA 10, S. 851. Hier wird der »Vorbericht« als hermeneutischer Schlüssel für die Erziehungs-Schrift genannt.

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Ingrid Strohschneider-Kohrs

Lessing selber hat die enge Verbindung, die zwischen seinen auf die Reimarus-Fragmente replizierenden Gegensätzen und der Erziehungs-Schrift besteht, ausdrücklich hervorgehoben. Am Ende seines »Vierten Gegensatzes« kündigt er als Herausgeber die nachfolgende Schrift an, deren Anfang, so fügt er eigens hinzu, sich auf »den Inhalt unsers vierten Fragments so genau beziehet.« Und überdies erwähnt er hier mit deutlicher Betonung die »Lauterkeit der Absichten des Verfassers«, der »bey weitem so heterodox nicht [sei], als er bey dem ersten Anblicke scheinet«.13 – Nicht weniger aufschlußreich ist eine andere, ebenfalls andeutend-vorgreifliche Kennzeichnung der Erziehungs-Schrift: die etwas spätere Briefäußerung, in der Lessing den Sohn des Reimarus über die wie bisher, so auch hier gewahrte Anonymität der Fragmente und die Erziehungs-Schrift wissen läßt: Diese Hypothese nun würde freylich das Ziel gewaltig verrücken, auf welches mein Ungenannter im Anschlage gewesen.14

Das bestätigt einesteils die von Lessing stets betonte Distanz zur Position von Reimarus; andernteils wird auch das nicht weniger deutlich, daß es die aus der Reimarus-Kontroverse weitergeführten und diese überbietenden oder übersteigenden Probleme sind, die in der Erziehungs-Schrift zur Sprache kommen. Einen entscheidenden Einblick in die in der Erziehungs-Schrift bündig zusammengefaßten Fragen und in die systematisierend dargelegten Probleme können diejenigen der Gegensätze geben, in denen Lessing auf Reimarus’ allgemeinere Thesen zur Religionsauslegung eingegangen ist. Diese Lessingischen Entgegnungen bieten aufgrund ihrer genauen Argumentation ein nachgerade unentbehrliches Vorverständnis für die die gesamte Erziehungs-Schrift bestimmende Thematik und deren religionsphilosophische Problematik. Denn diese in den Gegensätzen formulierten Repliken auf die Reimarus-Fragmente sind von kaum zu überschätzender Bedeutung nicht nur als dezidierte Stellungnahmen im zeitbedingten theologiekritischen Disput. Sie sind darüber hinaus von übergreifender Bedeutung, da in ihnen eine der Explikationsformen jener – aus den Denkvoraussetzungen der frühen Neuzeit resultierenden15 – Problemkonstellationen zu erkennen ist, die – vornehmlich deistischen und einigen der neologischen Dispute zufolge – erneuter Klärung bedurften. In den philosophischen und theologiekritischen Kontroversen gerade dieser Jahrzehnte um die Jahrhundertmitte gewinnt – ob in orthodoxen oder neologischen Positionen – eine besondere Thematik eine neue, hochgradige Aktualität: die ins Grundsätzliche weisende Frage nach einer möglichen und angemessen zu begründenden Kompatibilität von Vernunft und Offenbarung. Veranlaßt von mehr als einer der polemischen Thesen seines Ungenannten, hat Lessing diese Grundbegriffe genaueren Erörterungen unterzogen; nicht 13 14 15

LM 12, S. 446. LM 18, S. 269 (Brief vom 6. April 1778). Diese weitausgreifende Thematik ist in besonders klarer und informativer Form dargelegt von Konrad Feiereis: Die Umprägung der natürlichen Theologie in Religionsphilosophie. Ein Beitrag zur deutschen Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts. Leipzig 1965.

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allerdings in definitorischer Absicht, sondern um diese Begriffe in ihrem Umfeld und vor allem in ihrem inneren Zusammenhang verstehbar zu machen; – sie gerade in der aktuellen theologiekritischen Diskussion in einer ihnen angemessenen Zuordnung zueinander aufzuweisen. Daß Lessing diese Erörterung – im Unterschied zu Reimarus und den noch weiterhin wirksamen Denkweisen der Wolff-Schule – mit dem Gedanken geschichtlicher Entwicklung verbunden hat, auch die Begriffe ›Vernunft‹ und ›Offenbarung‹ in das generelle Wissen von geschichtlichem Bedingtsein einbezieht, das mußte der vorgegebenen Problemkonstellation, zumal in der Frage nach einer möglichen und tragfähigen Kompatibilität von Vernunft und Offenbarung, neue Dinglichkeit und Brisanz verleihen und konnte zu neuartigen Problembestimmungen herausfordern. Die im folgenden in sparsamer Auswahl angeführten Texte aus den Gegensätzen nennen vornehmlich die von Lessing näher erläuterten Fragen, die um eine genauere Kennzeichnung der Relation von Vernunft und Offenbarung kreisen. Dem ersten Fragment »Von der Verschreyung der Vernunft auf den Kanzeln« – des Reimarus Invektive gegen theologische Usancen seiner Zeit – hält Lessing zunächst entgegen: gegenwärtig sei doch »von nichts, als von dem innigen Bande zwischen Vernunft und Glauben« die Rede, so als sei die Vernunft »raisonnirender Glaube geworden«.16 Und er gibt unter Hinweis auf das Korinther-Wort über die ›Gefangennehmung der Vernunft unter den Gehorsam des Glaubens‹ zu bedenken: – das Wort Gefangennehmung scheinet Gewaltsamkeit auf der einen, und Widerstreben auf der andern Seite anzuzeigen, – die Vernunft giebt sich gefangen, ihre Ergebung ist nichts als das Bekenntniß ihrer Grenzen, sobald sie von der Wirklichkeit der Offenbarung versichert ist. 17

»Wirklichkeit der Offenbarung«: diese etwas ungewöhnliche Wendung meint mehr als nur schlichte Abgrenzung gegen Täuschung oder Aberglauben; sie gehört in den Kontext der seit geraumer Zeit, auch bei Reimarus, ventilierten Frage nach möglichem Übergang von der vernünftigen zu einer geoffenbarten Religion. – Einen solchen ›Grenzübergang‹ hat bereits Leibniz in seiner Theodizee als »Fehler der Gebietsverwechslung« bezeichnet. Würden nämlich Grundsätze der Vernunft »auf das die Vernunft Übersteigende angewendet«, so könne man »Mißbrauch damit treiben und die natürlichen mit den geoffenbarten Wahrheiten unpassend vermengen«.18 Auch in Lessings Antwort fehlt ein Hinweis auf das die Vernunft Übersteigende nicht: wenn die ›rechte‹ Offenbarung »einmal ausfündig gemacht worden: so muß es der Vernunft eher noch ein Beweis mehr für die Wahrheit derselben, als ein Einwurf darwider seyn, wenn sie Dinge darinn findet, die ihren Begriff übersteigen.«19

16 17 18 19

LM 12, S. 431. LM 12, S. 433. Gottfried Wilhelm Leibniz: Die Theodizee. Übersetzung von Artur Buchenau. Hamburg 21968, S. 46. LM 12, S. 432.

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Da Reimarus im ersten der von Lessing 1777 veröffentlichten Fragmente den Mangel, genauer: die von den Theologen praktizierte Verurteilung der Vernunft im Religionszusammenhang anprangert und jede Verbindung oder einen Übergang von der vernünftigen zur geoffenbarten Religion radikal verneint, ist Lessings Antwort darauf von grundsätzlichem Gewicht: Die geoffenbarte Religion setzt im geringsten nicht eine vernünftige Religion voraus: sondern schließt sie in sich.20

Die generelle Bedeutung dieses Gedankens läßt sich als der Grund dafür vermuten, daß Lessing im gleichen Textabschnitt diesen eminent gewichtigen Gedanken in erneuter Explikation wiederholt. Die »geoffenbarte Religion«, so heißt es hier, sei ohne die »vernünftige« nicht etwa »unverständlich«; es erweise sich vielmehr, daß sie »alle Wahrheiten enthält, welche jene lehret.« Es gibt in Lessings früher Schrift Über die Entstehung der geoffenbarten Religion eine thesenhafte Aussage, in der die geoffenbarte ›positive Religion‹ als ein ›Zusatz‹: ein gleichsam abträglich hinzukommendes Element zur »natürlichen Religion« gedeutet wird.21 Diese einem schlicht pragmatischen Argumentationsmuster folgende Auslegung aus Lessings Breslauer Zeit, die von deistisch-rationalistischen Tendenzen geprägt gewesen ist,22 sollte allerdings nicht zur Erläuterung solcher Probleme herangezogen werden, die Lessings Spätzeit, dem Jahrzehnt nach der Zäsur von 1770, zugehören.23 Die von Lessing in den Gegensätzen so dezidiert dargebotene Deutung: die geoffenbarte Religion schließe die vernünftige mit deren Wahrheiten ein, dieser Problemgedanke einer besonderen Inklusion, läßt unweigerlich manch zusätzliche Frage aufkommen. Vornehmlich die Frage danach, wie diese Inklusion des näheren vorzustellen ist, – unter welchen Bedingungen sie entstehen und zustandekommen kann. Bevor auf diesen Fragenkomplex, der zum zentralen Gedankenzusammenhang der Erziehungs-Schrift gehört, einzugehen ist, sind noch die Hinweise anzuführen, in denen Lessing speziell zu Auslegungsproblemen des Offenbarungs-Begriffs Stellung genommen hat. So wie Lessing in seinen Entgegnungen auf das erste der Reimarus-Fragmente gesucht hat, die Frage nach der möglichen Relation zwischen Vernunft und Offenbarung genauer zu kennzeichnen, so ist es ebenfalls die Thematik des zweiten Fragments, die ihn veranlaßt hat, hier speziell die der Offenbarung geltenden Deutungsfragen mit dem Problem der Geschichtlichkeit zu verbinden. Obgleich Lessing der sehr allgemein gefaßten Aussage im Titel dieses Fragments von der »Unmöglichkeit einer Offenbarung, die alle Menschen auf eine gegründete Art glauben könnten«, vorbehaltlos zustimmt, ist ihm doch in aller Entschiedenheit daran gelegen, auf die Bedeutung der Unterschiede hinzuweisen. Er deutet auf die real20 21 22 23

LM 12, S. 434. LM 14, S. 313. LM 14, S. 312 (Anmerkung von Franz Muncker). Über die Bedeutung dieser Zäsur von 1770 vgl. Ingrid Strohschneider-Kohrs: Vernunft als Weisheit. Studien zum späten Lessing. Tübingen 1991, S. 128 ff.

Zur Logik der Erziehungs-Schrift

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geschichtlichen und kulturhistorischen Gegebenheiten, die auch für die ›Erteilung‹ der Offenbarung von besonderem Belang sind. Wenn er – zusätzlich zu seinen Hinweisen auf den ›mählich sich bildenden Menschenverstand‹24 – verschiedene Völker und Sprachen erwähnt und davon spricht, die Offenbarung werde nicht stets zu »gleicher Zeit und in gleichem Grade« erteilt,25 so kommt schon damit die geschichtliche Pluralität des Offenbarungsgeschehens zu Wort. Auch in unmittelbar expliziter Form hat Lessing auf die in ihrer geschichtlichen Erscheinungsweise wahrnehmbare Offenbarung hingewiesen – und zwar in folgender unmißverständlich klar formulierter Unterscheidung: Daß man zwischen der Offenbarung und den Büchern der Offenbarung einen Unterschied machen müsse: daß jene nur eine […] Wahrheit sey, deren Geschichte in diesen enthalten;26

Im »Vierten Gegensatz« hat Lessing – wenn auch in etwas komplizierten und redundanten Umschreibungen – diese Unterscheidung erneut zur Sprache gebracht: Ich will es den Gottesgelehrten gern zugeben, daß aber doch das Seligmachende in den verschiedenen Religionen immer das Nehmliche müsse gewesen seyn: wenn sie mir nur hinwiederum zugeben, daß darum nicht immer die Menschen den nehmlichen Begriff damit müssen verbunden haben. Gott könnte ja wol in allen Religionen die guten Menschen in der nehmlichen Betrachtung, aus den nehmlichen Gründen selig machen wollen: ohne darum allen Menschen von dieser Betrachtung, von diesen Gründen die nehmliche Offenbarung ertheilt zu haben.27

Unmißverständlich ist damit hier die nicht stets gleiche Offenbarung gemeint, die trotz anderer Namentlichkeit und Erscheinung von gleicher Funktion und Sinnbestimmung sein kann. Und es ist damit auf zweierlei verwiesen: sowohl auf die Pluralität und Vielfalt der Religionserscheinungen, – wie zugleich damit auf ein ihnen jeweils eigenes und in ihnen gleichartig wirksames ›Seligmachendes‹ als ein sie übersteigendes Element. In diesen Zusammenhang gehört auch Lessings Hinweis: »Denn was ist eine Offenbarung, die nichts offenbart? Ist es genug, wenn man nur den Namen beybehält, ob man schon die Sache verwirft?«28 Es ist anzumerken, daß die von Lessing genannte Offenbarungsdeutung, – vornehmlich die Unterscheidung der Offenbarung und der Büchern der Offenbarung, die deren Geschichte enthalten, die Fragen nach den Überlieferungen, – die Einsicht in die Medialität der Religionstexte berührt. Die Thematik also, die nicht erst nach der Erziehungs-Schrift im Dialog mit den zeitgenössischen Theologen einsetzt; die vielmehr von Lessing schon 1777 in der »Einleitung zu den Gegensätzen« als notwendige Unterscheidung von ›Geist und Buchstabe‹ oder ›Religion und Bibel‹ aufs deutlichste vorgebracht und gefordert worden ist.

24 25 26 27 28

LM 12, S. 445. LM 12, S. 436. LM 12, S. 437. LM 12, S. 446. LM 12, S. 432.

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Obgleich Lessing am Ende des »Vierten Gegensatzes« in aller Form und Deutlichkeit darauf hingewiesen hat, die nachfolgende Schrift über Die Erziehung des Menschengeschlechts beziehe sich »genau« auf den »Inhalt« des vierten Fragments, so handelt der Anfang der Erziehungs-Schrift davon noch nicht. Anders als in diesem so ostensibel betonten Annoncement kommt die Thematik dieses vierten Fragments von der im Alten Testament existierenden Religion erst später zu Wort. Lessing hat an den Anfang der Erziehungs-Schrift in knappen und hochkonzentrierten Einleitungsparagraphen auf die begrifflichen Voraussetzungen und die mit ihnen sich anbahnenden leitenden Fragen vorausgewiesen. Der im Brief an Johann Albert Hinrich Reimarus verwendete Begriff ›Hypothese‹ läßt sich als eine Art Kennwort oder eine Vororientierung verstehen, die in besonderem Maße für die Introduktion in den §§ 1–5 gelten darf. Wird doch in diesen Paragraphen der Titelbegriff ›Erziehung‹ mit der der Offenbarung koordiniert und mit einigen Analogien oder Umschreibungen erläutert. Bereits in § 2 wird die Offenbarung – wenn auch nur kurz – als geschichtliches Geschehen bezeichnet: ›Offenbarung‹ – so die Tempusformen des Satzes – »die geschehen ist und noch geschieht«; dann ergänzt in § 5: bei der »Gott […] eine gewisse Ordnung, ein gewisses Maß [hat] halten müssen«. Von der Konstellation von Offenbarung und Vernunft ist zum ersten Mal in § 4 die Rede – in einer ebenso klaren wie plausiblen Aussage, in der jedoch keine näheren, konkreten Hinweise gegeben werden – weder für den einen, noch für den anderen Begriff. Lessing hat hier den Vergleichshinweis gewählt: Wie die Erziehung dem Menschen nichts gibt, was er nicht auch »aus sich selbst haben könnte«. Also giebt auch die Offenbarung dem Menschengeschlechte nichts, worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde: sondern sie gab und giebt ihm die wichtigsten dieser Dinge nur früher.

In dieser Satzsequenz wird mit dem wiederholten ›nichts‹ und ›nichts worauf‹ und mit dem Hinweis auf die ›wichtigsten Dinge‹ deutlich, daß hier die abstrakt oder relativ allgemein gehaltenen Angaben überwiegen. Eine Art komplementärer Fortsetzung ist § 6 zu entnehmen, der auf eine erste (›sofortige‹) Ausstattung verweist, in der »der erste Mensch« den Begriff von der Einheit Gottes: von »einem Einigen Gotte« erhalten habe, und zwar, wie es hier durchaus signifikant heißt: als einen ›mitgetheilten‹, nicht ›erworbenen‹, von der Vernunft nicht schon ›bearbeiteten‹ Begriff. Um zu einem ersten, näheren Aufschluß über diesen Gedankengang und für den § 4 zu gelangen, sei auf Lessings Hinweis in § 70 verwiesen: Du hast in der Kindheit des Menschengeschlechts an der Lehre von der Einheit Gottes gesehen, daß Gott auch bloße Vernunftwahrheiten unmittelbar offenbaret […].

Beide Begriffe, der von Lessing in § 4 in abstrakter Bedeutung verwendete Begriff ›Vernunft‹29 wie der Terminus der ›Vernunftwahrheiten‹, gehören ganz 29

Zu der Frage, ob Lessing für diesen § 4 einen Text von Charles Bonnet als Quelle benutzt hat vgl. Klaus Bohnen: Lessings Erziehung des Menschengeschlechts (§ 4) und Bonnets

Zur Logik der Erziehungs-Schrift

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offenkundig in den Zusammenhang der ›natürlichen‹ Religion. Und es ist Reimarus, der in seiner frühen Schrift von 1754 Die Vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion betont hat, daß der Begriff ›Gott‹ oder die Vorstellung von der ›Einheit Gottes‹ zu den ersten unter den grundlegenden Begriffen zu diesen Wahrheiten gehöre.30 Lessing hat entsprechende Aussagen an den Anfang seiner frühen Schrift Über die Entstehung der geoffenbarten Religion gestellt.31 Und noch im 9. Anti-Goeze nennt er, um seinem Ungenannten »Gerechtigkeit widerfahren zu lassen«, diese Schrift von Reimarus – mit dem Bemerken, er wisse niemanden, »bey dem ich von der bloß vernünftigen Religion so wahre, so vollständige, so warme Begriffe gefunden hätte, als bey ihm.«32 Diese Texte, diese authentischen Hinweise geben zureichend deutlich zu erkennen, daß beide Begriffe, der der ›natürlichen‹ und der der ›vernünftigen‹ Religion, übereinstimmenden Sinnes sind. Darüber hinaus dürfte sich ebenfalls klar genug abzeichnen, daß der in den §§ 4 und 6 dargetane Gedanke, bestätigt durch die Hinweise aus § 70, in ungeschmälerter Bedeutung dem Vernunftbegriff, nach Auslegung der ›ersten Grundbegriffe‹, den ›vernünftigen Wahrheiten‹ der ›natürlichen Religion‹ entspricht. – Daß damit wohl der Ausgangspunkt, nicht aber das von Lessing intendierte Grundproblem der Erziehungs-Schrift angegeben ist, dürfte kaum fraglich sein. Im Anschluss an die ersten Einführungs-Paragraphen handeln die nachfolgenden Paragraphen in relativ kurzer Form von einer Art archaisch-vorhistorischer Zeit von ›vielen Millionen Jahren‹, in der die »sich selbst überlassene menschliche Vernunft« (so § 6) auf Irrwege wie Viel- und Abgötterei geraten sei, bis ein neuer Richtungsstoß Gottes sie in eine »bessere Richtung« gelenkt habe (§ 7). Erst in § 8 setzt Lessing mit der Darlegung der konkret geschichtlichen Entwicklung und Fortbildung der israelitischen Religion ein. Von ausschlaggebender Bedeutung ist es – und wir kommen damit in die Kernzone des Problemfeldes –, daß Lessing diese historische Thematik, seine Konzeption der zeitlichen Stufenfolge religionsgeschichtlicher Entwicklung, mit der systematischen Frage nach deren inhärenten Voraussetzungen verbindet.

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Palingenesie. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 31 (1981), S. 362; oder zu der Verleichung mit einem französischen Text aus dem frühen 18. Jahrhundert vgl. Martin Keßler: Zu einer Unbekannten Quelle von Lessings Erziehung des Menschengeschlechts. Göttingen 2009. Zudem wäre zu erwägen: Es hat im frühen 18. Jahrhundert wohl eine Art kollektiver Topik gegeben, deren Denk- und Sprachmuster möglicherweise in die genannten Texte, auch den von Lessing nach- und hineingewirkt haben könnte. Hermann Samuel Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion in zehn Abhandlungen auf eine begreifliche Art erklärt und gerettet. Hamburg 1754. – »Wer eine lebendige Erkenntnis von Gott hat, dem eignet man billig eine Religion zu: und so ferne diese Erkenntnis durch die natürliche Kraft der Vernunft zu erhalten ist, nennt man es eine natürliche Religion.« Aus der Einleitung der sechsten Auflage, Hamburg 1791, unpag. LM 14, S. 312: »Einen Gott erkennen, sich die würdigsten Begriffe von ihm zu machen suchen, auf diese würdigsten Begriffe bey allen unsern Handlungen und Gedanken Rücksicht nehmen: ist der vollständigste Inbegriff aller natürlichen Religion«. LM 13, S. 196. Lessing betont in diesem ausführlichen Abschnitt erneut gerade auch »die speculativen Wahrheiten der vernünftigen Religion«.

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Das heißt genauer: es kommen damit die Frage und ein Problementwurf zu Wort, mit dem auf eine Entsprechung verwiesen wird, in der der ›sich mählich entwickelnde Verstand‹ und ein jeweils eigentümliches »Maß« von Offenbarung einander zugeordnet erscheinen. Aufgrund dieses Gedankens hat Lessing eine für den gesamten religionsgeschichtlichen Prozess eminent bedeutsame Bedingung aufzuweisen und verstehbar zu machen gesucht. Und es ist eben diese Kombination – oder wiederum genauer: diese als notwendig zu denkende Komplementarität geschichtlicher und systematischer Frageweise, aus der die exzeptionelle Argumentationsform und Strukturbesonderheit der Schrift hervorgegangen ist. Die besonders ausführlichen Darlegungen, in denen Lessing im ersten Teil der Erziehungs-Schrift auf Fragen der alttestamentlichen Religionsentwicklung eingeht, haben die Deutungsthesen zum Anlaß, in denen Warburton33 und Reimarus darüber urteilen, daß dem Alten Testament die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele fehle. Lessing hat mit seinen Ausführungen zu dieser Thematik Erläuterungen des Inhalts zu verbinden gewußt, die den leitenden Gedanken der Erziehungs-Schrift entsprechen. Wenn er für die Frühzeit der israelitischen Religionsentwicklung davon spricht, daß Gott sein »erwähltes Volk durch alle Staffeln einer kindischen (d. h. der Kindheitsstufe ›angemessenen‹) Erziehung geführt« habe (§ 20), so sind es zwei elementare Bedingungen, die diesen Erziehungsprozeß ermöglichen. Einerseits die durch die Offenbarung mitgeteilten Gottesbegriffe; zum anderen eine ebenfalls unentbehrliche Mitwirkung des menschlichen Vernunftvermögens, das einer zureichenden Einsicht in die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele gleichwohl »(noch) so wenig gewachsen« sei (§ 17). Im folgenden kann von Lessings differenzierten Ausführungen zu dieser zwiefältigen Thematik nur in rigoros abbreviierter Form die Rede sein. So heißt es zunächst, daß die Israeliten, wenn auch auf langwierig-mühsamen Wegen,34 den Begriff von Gott als dem »Einigen« (§ 13) anzunehmen gelernt hätten. Doch es wird einschränkend hinzugefügt, dies sei gleichwohl nicht schon der »wahre« Gottesbegriff, den die »Vernunft so spät erst« zu erschließen lernte (§ 14); ein Hinweis übrigens, der in § 34 erneut erwähnt wird. – Im zweiten Gedankenkreis, der in § 16 als »moralische Erziehung« bezeichnet ist, geht Lessing den Problemen des menschlichen Vernunftvermögens und Verhaltens nach. Nicht jedoch in allgemein gehaltenen oder abstrakten Hinweisen auf Moralitätsnormen. Vielmehr charakterisiert er hier in genauen Deskriptionen die inhaltlichen Besonderheiten der altjüdischen Lebens- und Glaubenswelt, um auf eine religionsgeschichtlich sich anbahnende Veränderung aufmerksam zu machen. In den ersten dieser Hinweise ist von dem »im Denken ungeübten Israelitischen Volk« (§ 27) die Rede, das in seiner Kindheitsstufe zu »keiner andern« als einer »Erziehung durch unmittelbare sinnliche Strafen und Belohnungen« (§ 16) fähig gewesen

33 34

William Warburton: The divine Legation of Moses demonstrated on the principles of religious deist. 2 Bde. London 1737–1741. In deutscher Übersetzung 1751–53. Von diesen Wegen des Erlernens ist von § 11 an in mehreren Paragraphen die Rede.

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sei. Es habe eben jener ausschließlich auf das »irdische Leben« bezogenen Vergeltungslehre angehangen und diese als eine vermeintlich ›gerechte‹ und gottgewollte Lebensordnung angesehen. Unweigerlich habe daraus die Erfahrung eines Mißverhältnisses zwischen Lehre und Lebenswirklichkeiten entstehen müssen.35 Lessing nennt dies einen »Knoten« und verweist in einem besonders betonten und nachdenkenswerten Hinweis darauf, daß »der menschliche Verstand ohne jenen Knoten noch lange nicht – und vielleicht auch nie« (§ 28) auf andere Überlegungen, bessere Einsichten und damit einen »Schritt der Wahrheit näher gekommen wäre« (§ 31). Wenn das Israelitische Volk zuvor – so heißt es in § 17 – von keiner »Unsterblichkeit der Seele« und »keinem künftigen Leben« gewußt habe, diesen »Dingen«, denen »seine Vernunft (noch) so wenig gewachsen war«, so sei doch der Erfahrung des »Knotens« die Bedeutung zuzuerkennen, daß damit eine gewisse Annäherung an die wenn auch »noch ungeläufige Wahrheit« (§ 30) entstehen konnte. Gleichwohl habe das Jüdische Volk damit noch nicht den »rechten Begriff« von Gott zu erlangen vermocht. Und so sei denn »die Zeit« da gewesen, »daß diese seine Begriffe erweitert, veredelt, berichtiget werden sollten« (§ 34). Das ›Mittel‹, dessen Gott sich dazu ›bediente‹, sei gewesen, daß das Jüdische Volk in der Gefangenschaft von den Persern und deren »geübterer Vernunft« (§ 35) seine Begriffe von Gott zu erweitern und veredeln lernte: Die Offenbarung hatte seine Vernunft geleitet, und nun erhellte die Vernunft auf einmal seine Offenbarung. (§ 36)

Im nächsten Paragraphen, § 37, faßt Lessing dies in eine kurze und systematisierende Aussage zusammen: Das war der erste wechselseitige Dienst, den beyde einander leisteten; und dem Urheber beyder ist ein solcher gegenseitiger Einfluß so wenig unanständig, daß ohne ihm eines von beyden überflüssig seyn würde.

Die hier genannten Begriffe »wechselseitiger Dienst« und »gegenseitiger Einfluß« lassen die Vorstellung einer intern sich vollziehenden Zuordnung entstehen, in der beide, Vernunft und Offenbarung, notwendig aufeinander angewiesen, gleichsam in actu miteinander wirksam werden. Und zwar in einer Weise der Zuordnung, in der beide als konstitutive Elemente von gleichem Anteil und Wirkungsgrad zu denken sind, – ohne daß ihre Differenz aufgehoben, geschmälert oder negiert wäre. Sie sind, wie ich es nenne möchte, als eine – oder in einer diese Differenz bewahrend-einschließenden Synthese zu denken. Novalis hat anläßlich seiner Lektüre des Erziehungs-Schrift von »gegenseitiger Necessitation« gesprochen.36 Eine Art Wirkungsverknüpfung, wie sie etwa mit 35

36

Lessing hat auf diese Lehre vom Tun und Ergehen und auf die daraus entstehenden Probleme in den §§ 27–30 besonders ausführlich hingewiesen. In diesem Zusammenhang nennt er im § 29 ausdrücklich das Buch Hiob. Vgl. dazu Ingrid Strohschneider-Kohrs: Lessings Hiob-Deutung im Kontext des 18. Jahrhunderts. In: Edith Stein Jahrbuch 8 (2002), S. 255–268. Novalis hat in den ›Fragmenten und Studien‹ um 1800 die Formulierung notiert: »gegenseitige Necessitation« und »Unzertrennlichkeit der angebornen, der analytischen

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dem Begriff der Interferenz von einander überschneidenden Kraftlinien oder Wirkungsenergien vorzustellen ist. Demnach muß es aufgrund der in diesen Paragraphen vorgegebenen Formulierung als unangemessen gelten, einem solchen dialektischen Zuordnungsverhältnis mit Fragen oder Thesen zu begegnen, die die alleinige oder absolute Dominanz nur des einen dieser beiden konstitutiven Elemente als eines der Ergebnisse für die Auslegung der ErziehungsSchrift zu behaupten suchen. Mögen allzu einseitige, undifferenzierte Deutungen selten geworden sein, so gibt es doch Auslegungen, die aufgrund dieses von Lessing in § 37 formulierten dialektischen Problemgedankens der kritischen Korrektur bedürfen. Die eine dieser Auslegungsweisen tendiert zur Vorstellung eines alles umgreifenden Vernunftprinzips, – einer Art von Welt- oder ›Universalvernunft‹, in der die Spannung oder Differenz zur Offenbarung nicht mehr existiert. Es sind Auslegungsweisen, die in ihrer Grundtendenz eine gewisse Nähe zur Lessing-Deutung Karl Aners erkennen lassen. In seinen überaus differenzierten Darlegungen handelt Aner nicht nur vom »Kampf Lessings gegen die verhaßte Offenbarung«,37 sondern er spricht vor allem, wenn auch in mehrfach variierten Hinweisen, von der »Identität von Vernunft und Offenbarung«38 und verweist auf die für Lessing zu beobachtenden »Etappen auf dem Weg zur Religion der Vernunft«.39 – In tendenziell vergleichbarer Weise thematisiert Martin Bollacher die »Implikation der Vernunftwahrheiten in der [sic!] Offenbarung«;40 es werde somit eine »Antizipation einer sich selbst ergreifenden Universalvernunft«41 vorstellbar. – Wenn es neuerdings in vereinfachter Form heißen kann: »Die Offenbarung schließt die Vernunft in sich«,42 so wird hier, wie bei Bollacher, Bezug genommen auf Lessings Satz: »Die geoffenbarte Religion« schließe die vernünftige in sich.43 Beide Male aber wird das Wort ›Religion‹, mit dem Lessing die geschichtlich überlieferte, ›geoffenbarte Religion‹ meint, fortgelassen und sinnverändernd nur von ›Offenbarung‹ gesprochen, so daß damit Lessings Aussagen über die besondere Relation von Vernunft und Offenbarung übergangen werden. – In Kurzform sei ein anderes Beispiel genannt: Das in § 76 genannte Diktum von der »Ausbildung geoffenbarter Wahrheiten in Vernunftwahrheiten« wird erläutert als: »Umsetzung sich offenbarender [sic!]

37 38 39 40 41 42 43

und der gegebenen, oder synthetischen Religion – i.e. Der natürlichen und Geoffenbarten. Ihre gegenseitige Necessitation«. In: Novalis’ Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. 2. Aufl. in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Darmstadt 1968. Bd. 3, S. 669. Karl Aner: Die Theologie der Lessingzeit. Halle [1929], Ndr. 1964, S. 346. Ebd, S. 354 u. ö. Ebd, S. 352. Martin Bollacher: Lessing. Vernunft und Geschichte. Untersuchungen zum Problem religiöser Aufklärung in den Spätschriften. Tübingen 1978, S. 302. Ebd, S. 303. Monika Fick: Lessing-Handbuch. Leben. Werk. Wirkung. Stuttgart, Weimar 2000, S. 431. LM 12, S. 434.

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Vernunft in menschliche Vernunft«.44 Diese Beispiele – pars pro toto – für versäumte Genauigkeit in der Textauslegung. Andere, grundsätzlich andersartige Auslegungen deuten den ›Widerspruch‹ – sensu stricto – »als konstitutives Strukturelement der Lessingischen Religionsphilosophie«.45 Dies jedoch nicht im Sinn des Lessing-Gedankens vom »wechselseitigen Dienst«, sondern so, als sei es Lessing nicht gelungen, die mit der ›Krise der Aufklärung‹ existierenden ›Pole‹ des Selbst- und Weltverständnisses »völlig miteinander auszusöhnen«.46 In anderem Zusammenhang hat Ernst Cassirer Lessings ›Idee‹ oder Auffassung der Religion in einer Weise umschrieben, die als Bestätigung der dialektischen Kennzeichnung in § 37 zu lesen ist. Cassirer spricht von einem ›Ineinanderwirken‹ der Momente oder von »Wurzeln« als einer »lebendigen Konkreszenz« und betont, sie liege jeder geschichtlichen Religion zugrunde.47 Cassirer verwendet hier guten Grundes den Begriff ›Religion‹, wie es explizit heißt, für die ›geschichtlichen‹ Religionen. Wo Lessing in den Gegensätzen von der ›geoffenbarten Religion‹ spricht, ist eben diese Bedeutung von der ›geschichtlichen Wirklichkeit der Religion‹ gemeint. Nicht anders ist es in der Erziehungs-Schrift, allerdings an zwei Stellen – nur dort, wo von geschichtlich konkreten, in Überlieferungen dokumentierten Religionen die Rede ist. So in § 17, in dem die jüdische Gesetzesreligion erwähnt ist, und in den §§ 76/77, hier mit explizitem Hinweis auf deren ›historische Wahrheit‹. In allen anderen Paragraphen ist von der Genese, von dem Prozeß der Religionsentstehung die Rede, als deren Ermöglichung der »wechselseitige Dienst« von Offenbarung und Vernunft und deren Komplementarität zu denken ist. Diese Thematik ist Anlaß, auf die aus den Gegensätzen zitierte Formulierung zurückzukommen, daß die ›geoffenbarte Religion die vernünftige einschließe‹ – auf die Frage also, wie und unter welchen Bedingungen eine solche Inklusion zu denken sei. Lessing hat diese Thematik in deutlicher Übereinstimmung mit dem Problemgedanken des 37. Paragraphen im zweiten Teil der Erziehungs-Schrift genauer differenziert und zur Sprache gebracht. Anzuknüpfen ist an die in Zusammenhang mit § 4 bereits zitierte Formulierung aus § 70: Wie in der Kindheits- oder ersten Entwicklungsstufe »bloße Vernunftwahrheiten unmittelbar geoffenbaret« worden seien, so sei es jetzt in der zweiten Entwicklungsstufe für die »geoffenbarten Wahrheiten« und mit deren Elementarbuch, dem Neuen Testament (§ 72). Und es sei die Aufgabe der Vernunft, diese Wahrheiten der Offenbarung mit ihren eigenen »ausgemachten Wahrheiten«, also den Vernunftwahrheiten, zu »verbinden«. Diese Aufgabe, so wird in § 72

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Wolfgang Albrecht: G. E. Lessing. Stuttgart, Weimar 1997, S. 95. Karl S. Guthke: Gotthold Ephraim Lessing. Stuttgart 31979, S. 89. Leonard P. Wessell: Das widersprüchliche Wesen der Lessingschen Auffassung von Theologie. In: Lessing in heutiger Sicht. Beiträge zur Internationalen Lessing-Konferenz Cincinnati, Ohio 1976. Hg. von Edward P. Harris. Bremen, Wolfenbüttel 1977, S. 194. Ernst Cassirer: Die Idee der Religion bei Lessing und Moses Mendelssohn. In: Festgabe zum zehnjährigen Bestehen der Akademie der Wissenschaft des Judentums. 1919–1929. Berlin 1929, S. 29.

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ausgeführt, ist als ein Vorgang des ›Lernens‹ zu verstehen. Lessing hat – durchgehend durch die gesamte Erziehungs-Schrift – in immer neuen Hinweisen von diesem Prozeß des Erlernens gehandelt; sei es, daß von den zu bearbeitenden ›mitgetheilten‹ Begriffen (§ 6) die Rede ist oder vom langen Weg zu »besseren Begriffen« von der »Einheit Gottes« (§ 22, § 34 u. ö.). Und für die »zweyte bessere Stufe« und deren Elementarbuch, das Neue Testament (§ 71f.), deutet Lessing auf die mögliche »Annehmung« (§ 59) der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele: eine ›Annehmung‹, die in »Ausübung seiner [des Menschen] Vernunft« erfolge (§ 55). Und ergänzend heißt es § 71: Sie werde »als Offenbarung geprediget«, – nicht schon »als Resultat menschlicher Schlüsse gelehret«.48 Gleichen Sinnes handelt davon der sehr bekannte und oft zitierte § 76 in ausführlicher und auch bildlicher Form. Ich führe daraus nur den wichtigsten Satz an: Die Ausbildung geoffenbarter Wahrheiten in Vernunftwahrheiten ist schlechterdings nothwendig, wenn dem menschlichen Geschlechte damit geholfen seyn soll.

Auch in diesem Paragraphen ist – anders als zuweilen gemeint wird – nicht von absoluter Dominanz des Vernunftprinzips die Rede, sondern wie zuvor in den genannten 70er-Paragraphen von dem notwendigen Postulat einer ›Bearbeitung‹ (§ 6) und Verbindung von Vernunft und Offenbarung. Überdies ist zu bemerken, daß die Frage, die Lessing im unmittelbar nachfolgenden § 77 formuliert hat, der gedanklichen Intention dieses vorausgehenden § 76 keineswegs zuwiderläuft. Der unverkürzte Text von § 77: Und warum sollten wir nicht auch durch eine Religion, mit deren historischen Wahrheit, wenn man will, es so mißlich aussieht, gleichwohl auf nähere und bessere Begriffe vom göttlichen Wesen, von unsrer Natur, von unsern Verhältnissen zu Gott, geleitet werden können, auf welche die menschliche Vernunft von selbst nimmermehr gekommen wäre?

Jede Sprachwendung in diesem den gesamten Paragraphen durchziehenden Fragesatz muß genau bedacht sein. Allerdings ist der erste Nebensatzhinweis auf die so mißlich aussehende ›historische Wahrheit der Religion‹ nur unter Vorbehalt zu deuten. Er läßt sich auf die zeitgenössische Situation beziehen, in der beide, Orthodoxie wie Neologie, auf der ›Evidenz‹ ihrer Auslegungen und ›Beweise‹ bestehen. Deutlich aber dürfte auch ohne nähere Explikation sein, daß das Wort ›historische Wahrheit‹ hier keineswegs ›Tatsachen-Wahrheit‹ meint. Von besonderer Relevanz ist der Mittelteil dieses Paragraphen. Die hier angeführten Begriffe zeigen eine höchst aufschlußreiche Entsprechung und gedankliche Nähe zu den zuvor in den §§ 73–75 jeweils kurz annoncierten Glaubensthemen. Eine Entsprechung allerdings – und das ist näher zu erläutern – nur im gedanklichen Gehalt, keineswegs in der Terminologie und sprachlichen Darbietungsweise. Hier, in § 77, sind es altbekannte, relativ transparente 48

Wenn im Lessing-Handbuch zu lesen ist: ›Die Offenbarung ist für Lessing die sinnliche Erkenntnis Gottes‹ und nochmals: ›Offenbarung und Vernunft verhalten sich wie die sinnliche zur deutlichen Erkenntnis‹, so steht das in offenkundigem Gegensatz zur Formulierung in § 70 über ›unmittelbar geoffenbarte Wahrheiten‹ – und ist schlicht falsch. Monika Fick: Lessing-Handbuch (s. Anm. 42), S. 431.

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und philosophisch neutrale Begriffe oder Grundworte: ›göttliches Wesen‹ – ›unsre Natur‹ – ›unser Verhältnis zu Gott‹. Die in den vorausgehenden Paragraphen genannten Begriffe sind: »Dreyeinigkeit« – »Erbsünde« – »Genugthuung des Sohnes«. Bedeutsamer als diese erkennbare Umformulierung des jeweiligen inhaltlichen Wortsinnes ist der augenfällige, andersartige Aussagemodus: ein nachgerade eklatanter Unterschied in der Sprachstilisierung. Die §§ 73, 74 und 75 werden jeweils mit einem Hinweis auf die »Lehre von« den drei Glaubensbegriffen eingeleitet; danach läßt Lessing in jeweils völlig gleichartiger Aussage-Stilisierung einen Satz in konjunktivisch-hypothetischer Frageform folgen: § 73: Wie, wenn diese Lehre den menschlichen Verstand […] endlich auf den Weg bringen sollte, zu erkennen, […]. § 74: Wie, wenn uns endlich alles überführte […]. § 75: Wie, wenn uns alles endlich nöthigte, anzunehmen: […].

Das sind ganz offenkundig Möglichkeits-Erwägungen; und es ist unverkennbar, daß sie einem noch anhaltenden, zur Zeit noch unabgeschlossenen Prozeß möglichen Erlernens und begreifend-vernünftigen Verstehens gelten.49 – Von Interesse ist es, daß Lessing am Anfang von § 76 hinzufügt: »Man wende nicht ein, daß dergleichen Vernünfteleyen über die Geheimnisse der Religion untersagt sind«; zudem nimmt er in den §§ 78 und 79 – anders als im vorher peiorativ-ironischen Wort ›Vernünfteleyen‹ – diesen Gedanken gleichsam ergänzend wieder auf: Es ist nicht wahr, daß Speculationen über diese Dinge jemals Unheil gestiftet, […]. In § 79: Vielmehr sind dergleichen Speculationen – mögen sie im Einzeln doch ausfallen, wie sie wollen – unstreitig die schicklichsten Uebungen des menschlichen Verstandes überhaupt […].

Die Bemerkungen in diesen §§ 76-Anfang, 78 und 79 sind mehr als ein nur äußerer Rahmen zum § 77. Sie beziehen sich einerseits auf die vorausgehenden Themen und Erwägungen, denen diese Spekulationen gelten. Anderseits sind sie nicht ohne eine gedanklich-sinnvolle Korrespondenz zu der den § 77 durchziehenden, problemträchtigen Frage, die – den vorherigen hypothetischen Erwägungen vergleichbar – ebenfalls als völlig offen erscheint. Um diese Frage – 49

Es dürfte deutlich sein, daß die genannten Glaubenslehren eben die Themen betreffen, die in den theologischen und philosophischen Diskursen während des 18. Jahrhunderts höchst aktuell gewesen und auch in Lessings Schriften explizit zu Wort gekommen sind. Die in § 73 umschriebene Trinitäts-Problematik, die hier im Rahmen meines Themas nicht inhaltlich zu erörtern ist, hat Lessing von früh an in besonderem Maße interessiert und als weiterhin offene Frage beschäftigt. So bezeugt es nicht nur die z. T. wortgleiche Frühschrift von 1752 (s. Anm. 5), sondern auch der Briefaustausch von 1774 mit Moses Mendelssohn. Vgl. speziell dazu Ingrid Strohschneider-Kohrs: Lessings letzter Brief an Mendelssohn. Text und Kontext. In: ›Disiecta Membra‹. Festschrift für Karlfried Gründer. Basel 1989. Zur Trinitätsauslegung: Hugh Barr Nisbet: The Rationalisation of the Holy Trinity from Lessing to Hegel. In: Lessing Yearbook 31 (1999), S. 65–89.

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und damit den leitenden Gedanken des § 77 – so deutlich wie möglich hervorzuheben, seien aus der logisch-linearen Satz- und Grundform dieses Paragraphen die folgenden wenigen, aber deutlich informierenden Worte nochmals angeführt: warum sollten wir nicht […] durch eine Religion […] gleitet werden können?

Die Frage gilt der durch die Religion ermöglichten Hinleitung auf ›nähere, bessere Begriffe‹ von den hier genannten drei metaphysischen Problemen: Gott – Menschennatur – Verhältnis zu Gott. Doch diese anderen, näheren Begriffe, auf welche die Religion mit den ihr inhärenten Offenbarungswahrheiten leiten könnte, sind – so wird in dezidierter Form mit der Schlußwendung des Paragraphen betont – von der Art, auf welche die menschliche Vernunft von selbst nimmermehr gekommen wäre.

Mit dieser Aussage ist zunächst in aller Klarheit von einer Limitation, von der Grenze des Vernunftvermögens die Rede. Und es muß kaum noch betont werden, daß dieser Gedanke von den der Vernunft gesetzten Grenzen – generell zumindest in den Spätschriften – zu den Gravamina in Lessings Verständnis und Deutung der Religionsproblematik, zu seinen religionsphilosophisch essentiellen Intentionen gehört. Anläßlich der Schlußwendung im § 77 sei erinnert an die Hinweise in den Gegensätzen, die in sehr genauer Weise den Sinn dieser Wendung bestätigen: die Hinweise darauf, daß die Vernunft in der Offenbarung »Dinge findet, die ihre Begriffe übersteigen«. Die Schlußwendung des § 77 ist – wegen ihres scheinbaren Widerspruchs zum § 4 – als eine der »schwierigsten Aussagen« der Erziehungs-Schrift bezeichnet worden.50 Wenn allerdings die beiden Paragraphen unmittelbar nebeneinander gerückt oder Teilsätze daraus isoliert werden, dann mag es sein, daß der Wortlaut zumal wegen der beiden Ausschließlichkeits-Vokabeln: ›nichts‹ und ›nimmermehr‹ widersprüchlich genug erscheint. So unangemessen oder unzulässig schon ein solches Vorgehen ist, so ist darüber hinaus der Kontextzusammenhang als notwendige Verstehensvoraussetzung gänzlich unbeachtet geblieben. Zusätzlich zum Kontext in den anderen Paragraphen und den Gegensätzen gibt es in Lessings Frühschrift Rettung des Hier. Cardanus einen Textpassus, der den mit den §§ 4 und 77 sich abzeichnenden Gedankenzusammenhang bestätigen und verdeutlichen kann.51 Dieser Text handelt von 50

51

FA 10, S. 875. Hier werden die verschiedenen Deutungen in kurzer Form charakterisiert. Zusätzlich sei hier eine der jüngsten Auslegungen genannt über diesen, wie es hier heißt, »berühmtesten unter Lessings Antagonismen«, der bereits »den Status eines Kalauers« erlangt habe. Zu fragen wäre, ob es Lessing »nicht mehr gelungen sei, die argumentative Widerlegung dieses angeblichen Antagonismus anders als selber antagonistisch darzulegen?« Daniel Müller-Nielaba: Aussicht. Einige Überlegungen zur LektürePoetologie in der ›Erziehung des Menschengeschlechts‹. In: Lessings Grenzen. Hg. von Ulrike Zeuch. Wiesbaden 2005 (Wolfenbütteler Forschungen 106), S. 253f. Helmut Göbel hat auf diesen Text kurz hingewiesen, ohne jedoch dessen kontextuelle Bedeutung für den § 77 zu erwähnen. Helmut Göbel: Lessing und Cardano. Ein Beitrag zu Lessings Renaissance-Rezeption. In: Aufklärung und Humanismus. Hg. von Richard

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des Cardan Religionsauffassung und seinem Verhältnis zur Vernunft und ›natürlichen Religion‹. Aus der etwas komplizierten Satzsequenz sind es vornehmlich zwei Sätze, die im Vergleich mit den strittigen Deutungen der ErziehungsSchrift-Paragraphen von besonderem Aufschluß sind. Der eine bietet auf die Frage, ob Cardan »die Aufopferung der Vernunft so geradehin gefordert« habe, die folgende Antwort: Er behauptet vielmehr, daß die ganze Lehre Christi nichts enthalte, was mit der Moral und mit der natürlichen Weltweisheit streite, oder mit ihr in keine Einstimmung könne gebracht werden […].52

Dann heißt es im zweiten Hinweis auf diesen Fragenkomplex darüber, daß Cardan durchaus nicht zum Gegenteil »ausgeschweift sey«: Man sage nicht, daß er [...] unsrer Religion ihre eigenthümlichen Wahrheiten, auf welche die Vernunft, vor sich allein, nicht kommen kann, absprechen wolle. Wenn dieses seine Meinung gewesen wäre, so würde er sich ganz anders ausgedrückt haben; die Lehre Christi, hätte er sagen müssen, enthält nichts anders, als was die Moral und natürliche Philosophie enthält; nicht aber: was sie enthält, harmoniert mit diesen.53

Dieser Text, dessen kritische Unterscheidung auf der scheinbar so geringfügigen Differenz der Sprachwendungen: ›enthält nichts‹ und: ›enthält nichts anders‹ beruht, verweist auf zweierlei. Er konstatiert einerseits, daß die Lehre Christi mit der ›natürlichen Philosophie‹ nicht streite; und betont anderseits, daß die christliche Religion »Wahrheiten« enthalte, »auf welche die Vernunft, vor sich allein, nicht kommen kann«. Diese zweite Aussage ist ganz offensichtlich von gleichem Sinn wie die Schlußwendung des § 77, die ebenfalls auf die der Vernunft gegebene Grenze verweist. Wenn Lessing in § 77 der ErziehungsSchrift statt der schlichten und dezidierten Indikativ-Form wie im Cardan-Text die kompliziertere konjunktivische Sprachform hypothetischen Umschreibens verwendet, so hat das mit mehr als einer sowohl sprachlogischen wie gedanklichen Voraussetzung zu tun. Die Schlußwendung gehört ganz ohne Zweifel zu dem den gesamten § 77 durchziehenden und gedanklich dominierenden Fragesatz. Zu eben jener Frage also, die auf den vorausgehenden Problemzusammenhang weist, der von dem noch offenen Lernprozeß (§ 76) und solchen Glaubensbegriffen und ›Lehren‹ handelt (§ 73–75), die möglichem Verständnis noch nahezubringen wären (›wie wenn uns alles nötigste anzunehmen …‹). Damit aber ist – sensu stricto – der von Lessing in § 77 verwendete Terminus ›Religion‹ mitzubedenken. Die Religion könnte auf solche Begriffe leiten, auf die die Vernunft »gewiß nicht« (so lautet der Auslegungsvorschlag für das Wort ›nimmermehr‹) gekommen wäre.54 Anderseits geht der Vorschlag, dies als

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Toellner. Heidelberg 1980 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 6), S. 167–186, hier S. 177. Martin Bollacher zitiert den Cardan-Text im Zusammenhang mit seiner detaillierten Kritik an Helmut Thielike. Martin Bollacher (s. Anm. 40), S. 330ff. LM 5, S. 321. LM 5, S. 322. Karl Eibl: »…kommen würde« gegen »…nimmermehr gekommen wäre«. Auflösung des Widerspruchs von Paragraph 4 und Paragraph 77 in Lessings ›Erziehung des Menschen-

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»bisher noch nicht« zu verstehen, ganz offenkundig an der zuvor mehrfach betonten Offenheit des noch ausstehenden und postulierten (§ 72 u.a.) Lern- und Entwicklungsprozesses vorbei, auf den auch die in § 77 formulierte Frage zu beziehen ist: warum »durch eine Religion« eine Hinleitung auf bessere Begriffe nicht möglich sein könnte. Läßt sich somit aufgrund näherer Überprüfung dieser besonderen Sprachwendung zureichend deutlich resümieren, daß nicht nur der Schein einer Übereinstimmung zwischen dem Cardan-Text und dem § 77 existiert, so sollte zudem beachtet werden, daß Lessing in beiden Texten den Begriff ›Religion‹ verwendet hat. Eben den Begriff, mit dem von einer geschichtlichen, geoffenbarten Religion die Rede ist. Und so wie im Cardan-Text betont ist, daß zwischen dieser und der ›natürlichen Philosophie‹ keine Streit bestehe; – wie denn auch in den 70er-Paragraphen der Erziehungs-Schrift dargetan ist, daß Vernunft und Offenbarung nicht als einander ausschließende Gegensätze, sondern in einer als ›notwendig‹ (§ 76) bezeichneten Zuordnung zueinander zu verstehen seien –, so verdeutlicht dieser für Lessings religionsphilosophische Intention so gravierende Gedanke erneut das im »Ersten Gegensatz« explizit formulierte Inklusions-Problem: die Aussage darüber, daß die geoffenbarte Religion die vernünftige einschließe. Das heißt jedoch keineswegs, daß damit die Differenz dieser einander zugeordneten konstitutiven Elemente aufgehoben sei. Sie verschmelzen nicht zu unterschiedsloser Einheit oder Indifferenz. Lessing hat stets und durchaus deutlich deren Unterscheidbarkeit im »wechselseitigen Dienst« betont; nicht nur in mehr als einem Wort über das in den geschichtlichen Religionen die Vernunft ›Übersteigende‹. Er hat in der Erziehungs-Schrift mit dem oft zitierten Diktum vom ›Fingerzeig‹ auf eines der Zeichen in der Erscheinungsweise schriftlich überlieferter Religionen aufmerksam gemacht und damit einen sehr nachdenkenswerten Gedanken hinzugefügt. Er nennt einen »Fingerzeig, was schon irgend einen Keim enthält, aus welchem sich die noch zurückgehaltene Wahrheit entwickeln läßt« (§ 46). Auch diese Formulierung läßt eine ergänzende Übereinstimmung erkennen mit den Hinweisen auf das noch Offene, dem Vernunftverständnis noch Aufgegebene – oder mit einem heute oft verwendeten Begriff: noch »Unabgegoltene«55 in der möglichen Entwicklung der Religionen. Es dürfte deutlich sein, daß es eben dieser Gedanke von der »noch zurück-

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geschlechts‹. In: Germanisch-Romanische-Monatsschriff. NF 34 (1984), S. 461–464. Der resümierende ›Auflösungs-Satz‹ lautet: so ist der Paragraph 77 zu lesen: ›Und warum sollten wir nicht … gleichwohl auf nähere und bessere Begriffe … geleitet werden können, auf welche die menschliche Vernunft von selbst bisher gewiß noch nicht gekommen wäre? So gelesen ist Paragraph 77 völlig mit Paragraph 4 vereinbar.‹ – Ohne Auslegungsbemühungen dieser Art hat Volker Dörr in einer exzellenten Darlegung in kurzer Form über den »scheinbaren Widerspruch« erklärt: »Die konstruierte Dichotomie findet im Text keine weiteren Stützen«. »Die Reihe bisheriger Lektüren hat das Dilemma mehr oder minder buchstabengetreu nur verdoppelt«. Volker Dörr: Offenbarung, Vernunft und fähigere Individuen. Die positiven Religionen in Lessings ›Erziehung des Menschengeschlechts‹. In: Lessing Yearbook 36 (1994), S. 29–54, hier S. 31. So Jürgen Habermas (s. Anm. 4).

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gehaltenen Wahrheit« ist, der in der von Lessing im § 77 formulierten Frage wiederzuerkennen ist. Es mag nötig sein, die Frage nach dem gedanklichen Sinn und Zusammenhang der in den §§ 4 und 77 vorliegenden Formulierungen in kurzer Form wiederaufzunehmen. So ist erneut daran zu erinnern, daß – dem Stil der Introduktion gemäß – in § 4 der Begriff ›Vernunft‹ ohne nähere Bestimmung in einer sehr allgemeinen, näherhin abstrakten Bedeutung genannt wird. Dies entspricht, wie der Hinweis auf ›sofortige Ausstattung‹ des Menschen (§ 6) nahelegt, der Vorstellung von Vernunft als einer ›idea innata‹. Sie ist demnach als generelle Voraussetzung und als mit- und fortwirkendes Konstituens in der geschichtlichen Entwicklung zu denken. – Im § 77 ist anderseits und gänzlich unmißverständlich von ›Religion‹ und zwar als einer geschichtlichen Erscheinung und deren »historischer Wahrheit« die Rede, zu der die Vernunft als konstitutives, komplementäres Element gehört. Es läßt sich somit resümieren, daß mit den Formulierungen in den §§ 4 und 77 verschiedene Stufen innerhalb des geschichtlichen Entwicklungsprozesses gekennzeichnet sind. Mögen sie sich zeitlich-historisch unterscheiden, so stehen sie keineswegs in Gegensatz oder Widerspruch zueinander. Beide haben in den verschiedenen Stufen des von Lessing hypothetisch dargelegten Gesamtzusammenhangs ihren jeweiligen Ort und Sinn und die ihnen angemessen zugeordnete und begründete Signifikation. Weder mangelt es Lessings Aussagen und den von ihm gewählten Begriffen an Kohärenz noch an logischer Stringenz. Von einem Widerspruch der genannten Paragraphen sollte nicht die Rede sein. Diese so ausführlich traktierte Sonderfrage kann und soll den Blick nicht verstellen auf die in der Erziehungs-Schrift zentrale und durchgehend bestimmende Thematik: die Frage nach Art und Möglichkeit einer Kompatibilität von Vernunft und Offenbarung. Wenn Lessing deren besondere, komplementäre Verbindung als konstitutiv für die geschichtlichen Religionen darlegt, so doch stets mit deutlicher Betonung von deren bleibender und signifikanter Differenz. Diese Differenz ist es, die – wie darzulegen war – den Anlaß gibt zu den Fragen und ›Speculationen‹ über das in den Religionen noch Unbegriffen-Offene. Und sie ist als eine der Voraussetzungen anzusehen für die bleibend-beunruhigende Gewißheit von Unwißbarem: das Wissen von der Unerreichbarkeit und Unverfügbarkeit der »reinen Wahrheit«.56 – Eine in den geschichtlichen Religionen stets erneut aufbrechende Frage, die wie eine gleichsam stets fortwirkende ›vis motrix‹ den Geschichtsprozeß durchzieht und begleitet. Unter solchem Vorzeichen, einer fortwirkend offenen Frage, steht auch der letzte Teil der Erziehungs-Schrift. Auch in diesem Teil ist von Approximation, nicht von Realpräsenz, vom Ausblick in Zukünftiges, nicht von einem erreichten Ziel die Rede.

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LM 13, S. 24.

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Dominierendes Thema in etlichen der Paragraphen ist jene besondere Moralität, die über die erste und zweite Stufe der Entwicklung hinaus zu solchen reinen »Bewegungsgründen« des Handelns gelangt ist, da das Gute getan werde, »weil es das Gute ist« (§ 85). Es ist die Stufe, die als die »höchste Stufe der Aufklärung« gelten darf (§ 81) und die dem ›Ziel‹ der »menschlichen und göttlichen Erziehung« nahekommt (§ 84). Lessing kennzeichnet hier diese erhoffte »Zeit der Vollendung« (§ 85) mit dem alten Traditionsbild eines »dritten Weltalters« (§ 88/89) und als die »Zeit eines neuen Evangeliums« (§ 86). Daß dies ›Dritte Weltalter‹, wie bei Joachim da Fiore, als ›Zeitalter des Geistes‹ nicht ins Jenseits verlegt, sondern für ein Leben auf Erden gedacht wird, entspricht genauen Sinnes dem Apokalypse-Text Offb 14,6, in dem die visionäre Verkündigung denen gilt, »die auf Erden wohnen, und allen Heiden und Geschlechtern und Sprachen und Völkern«. Lessing versagt seine Zustimmung diesem »Blick in die Zukunft« (§ 90), mit dem einst »gewisse Schwärmer« – »einen Strahl dieses neuen ewigen Evangeliums aufgefangen hatten« (§ 87), ebenso wenig wie deren Lehre, »daß der Neue Bund eben so wohl antiquiret werden müsse, als es der Alte geworden« (§ 88). Bereits in § 72 kommt dieser Gedanke völlig gleichen Sinnes zu Wort. Und wenn Lessing § 68 von dem ›fähigen Individuum‹ spricht, das, am »letzten Blatte« des zweiten Elementarbuches ›glühend‹ beschäftigt, ›etwas wittert‹ »oder schon zu sehen« beginnt, so deutet auch dies auf den über den ›Neuen Bund‹ hinausgehenden, ›itzt‹ noch offenen Prozeß der Religionsentwicklung. Eine besondere Übereinstimmung mit Hinweisen, die Lessing in den Gegensätzen über die nicht nur einem Volk und in einer Sprache erteilte Offenbarung formuliert hat, ist § 88 abzulesen, aus dem hier im Wortlaut zitiert sei. Über »die Bahn, auf welcher das Geschlecht zu seiner Vollkommenheit gelangt« (§ 93) heißt es hier – auf die Lehre der Chiliasten bezogen: Es blieb auch bei ihnen immer die nehmliche Oekonomie des nehmlichen Gottes. Immer – sie meine Sprache sprechen zu lassen – der nehmliche Plan einer Erziehung des Menschengeschlechts.

Die letzten Paragraphen, beginnend mit § 91, sind dem Ausblick in eine ferne, zeitenthobene Zukunft vorbehalten: einem Entwurf der Möglichkeit, mit der die Menschheit mit dem »unmerklichen Schritt [der] ewigen Vorsehung« der »Vollkommenheit näher« (§ 91f.) gebracht werde. Wenn Lessing für diese weitausgreifenden Gedanken eine besondere Sprachform gewählt hat: die IchForm und eine Reihe inständig betonter Fragen, so offensichtlich, um das Mögliche und Offene eines ins Unabsehbare führenden »ewigen« Weges (§ 92) des Menschengeschlechts anzudeuten. In diesen Zusammenhang gehört auch sein Hinweis auf die ›älteste der Hypothesen‹: auf die Reinkarnations-Vorstellung (§ 94f.). Dafür ist nicht allein an die antikisch-griechische Gedankenwelt zu erinnern.57 Lessing hat bereits im »Vierten Gegensatz« mit nicht wenig Respekt

57

Im Kommentar FA 10, S. 987ff. wird für diese Textstelle auf Pythagoras und Platon hingewiesen.

Zur Logik der Erziehungs-Schrift

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auf die »heiligen Bücher der Braminen« hingewiesen,58 so daß sein Erinnern an die ›älteste Hypothese‹ auch diese Sphäre außerabendländischer Religionen zu bedenken Anlaß bietet. Ob es angemessen ist, diesen weitausgreifenden Gedankenzusammenhang im letzten Abschnitt der Erziehungs-Schrift mit dem Begriff der ›Eschaton‹ oder – wenn auch ins Säkulare übertragen – dem der ›Eschatologie‹ zu verbinden, ist, wie ich meine, zumindest fraglich.59 Vor allem wegen des in diesem Begriff vorgegebenen Grundsinns von etwas ›Letztem‹, unüberbietbar Endgültigem oder einer Art von Endstadium. – Lessings im Schlußteil der Schrift dargetaner Entwurf meint anderes. Sein Ausblick in eine ferne Zukunft gilt dem Gedanken eines Nicht-Endenden, einer zeitlos und unabsehbar weiterführenden Progression, wie er es mit bildhaften Umschreibungen wie der von der als »ewig« apostrophierten Vorsehung und deren »unmerklichem Schritt« zu kennzeichnen gesucht hat. Diese Idee unendlicher Approximation und die Gedankenbilder von Unverfügbarem, unmittelbarem Erkennen Entzogenem weisen auf den gleichen essentiellen Sinn wie die Lessings gesamtes Spätwerk bestimmende Problematik und die Frage nach ›Wahrheit‹, – auch und gerade die, die der Frage nach Wahrheit der Religionen gilt. Es ist dies besondere noëtische Problem und das Bewußtsein von der Grenze der Vernunfterkenntnis, die Lessing noch einmal wieder aufgenommen hat und in höchst abbreviierter, doch ungewöhnlich prägnanter Form im »Vorbericht« zur Erziehungs-Schrift zur Sprache bringt: Vorbericht des Herausgebers. Ich habe die erste Hälfte dieses Aufsatzes in meinen Beyträgen bekannt gemacht. Itzt bin ich im Stande, das Uebrige nachfolgen zu lassen. Der Verfasser hat sich darinn auf einen Hügel gestellt, von welchem er etwas mehr, als den vorgeschriebenen Weg seines heutigen Tages zu übersehen glaubt. Aber er ruft keinen eilfertigen Wanderer, der nur das Nachtlager bald zu erreichen wünscht, von seinem Pfade. Er verlangt nicht, daß die Aussicht, die ihn entzücket, auch jedes andere Auge entzücken müsse. Und so, dächte ich, könnte man ihn ja wohl stehen und staunen lassen, wo er steht und staunt! Wenn er aus der unermeßlichen Ferne, die ein sanftes Abendroth seinem Blicke weder ganz verhüllt noch ganz entdeckt, nun gar einen Fingerzeig mitbrächte, um den ich oft verlegen gewesen! Ich meyne diesen. – Warum wollen wir in allen positiven Religionen nicht lieber weiter nichts, als den Gang erblicken, nach welchem sich der menschliche Verstand jedes Orts einzig und allein entwickeln können, und noch ferner entwickeln soll; als über eine derselben entweder lächeln, oder zürnen? Diesen unsern Hohn, diesen unsern 58 59

LM 12, S. 445. Volker Dörr spricht von einem »Blick auf das Eschaton der Vernunftgeschichte«, fügt aber einschränkend hinzu, daß deren Grenzen sich als nur »vorläufig« erwiesen. Volker Dörr (s. Anm. 54), S. 39. Mit anderem Wort verweist Wilm Pelters auf eine ›säkulare Eschatologie‹ im Zusammenhang der These von der Dominanz des Vernunftprinzips. Wilm Pelters: Lessings Standort. Sinndeutung der Geschichte als Kern seines Denkens. Heidelberg 1972, S. 51. Wird schließlich die von Lessing angedeutete Seelenwanderung-Lehre im Sinn einer »unbegrenzten Selbstschöpfungspotenz« verstanden, so geht das an mehr als einer Formulierung im Schlußteil der Erziehungs-Schrift auf willkürliche Weise vorbei. Norbert Altenhofer: Geschichtsphilosophie. Zeichentheorie und Dramaturgie in der Erziehung des Menschengeschlechts. In: Nation und Gelehrtenrepublik. Lessing im europäischen Zusammenhang. Hg. von Wilfried Barner, Albert M. Reh. Detroit, München 1984 (Lessing Yearbook, Sonderband), S. 25–36, hier S. 34.

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Ingrid Strohschneider-Kohrs

Unwillen, verdiente in der besten Welt nichts: und nur die Religionen sollten ihn verdienen? Gott hätte seine Hand bey allem im Spiele: nur bey unsern Irrthümern nicht?

Dieser Text verlangt eigentlich stets eine besonders sorgsam-genaue Auslegung. Wenn hier gleichwohl davon in einer nur allzu kurzen Skizze die Rede sein soll, so um Wiederholungen der relativ ausführlichen Darlegungen zu vermeiden, die in meinem Lessing-Buch von 1991 oder erneut zur speziellen Frage nach »unsern Irrthümern« vorliegen.60 Dieser von Lessing 1780 der vollständigen Veröffentlichung der ErziehungsSchrift hinzugefügte Vorbericht des Herausgebers gibt bereits aufgrund dieses Datums einiges zu bedenken. Ist dies doch die Zeit nach mehreren für Lessing ungemein schwierigen und dunklen Jahren, in denen ihm sowohl der Fragmenten-Streit mit etlichen schwerwiegenden Mißdeutungen seiner kritischen Aktivitäten belastet hat und auch das Nathan-Drama nicht ohne Mißverständnisse aufgenommen worden war. Um so mehr darf es erstaunen, welch sprachlicher und gedanklicher Gestus diesen Vorbericht-Text bestimmt. Auch das 1780 dem Erziehungs-Schrift-Titel hinzugefügte Motto gehört diesem Stil und Gedankenzusammenhang in engerem Sinne zu: Haec omnia inde esse in quibusdam vera, unde in quibusdam falsa sunt.

Wenn hier auf diesen Text nochmals aufmerksam zu machen ist, hat das damit zu tun, daß in manchen – auch den jüngsten Auslegungen – Deutungen zu lesen sind, die von einem in diesem Motto sich bekundenden ›spielerischen‹ oder ›rhetorischen‹ Relativismus Lessings oder einer fast willkürlichen Beliebigkeit sprechen.61 Daß aber mit diesem von Lessing verkürzt zitierten Augustinus-Satz aus den Soliloquien ein ganz anderer und durchaus schwerwiegender Gedanke dargeboten ist, sollte nicht übergangen werden: Quod putas, nisi haec omnia inde esse in quibusdam vera, unde in quibusdam falsa sunt, et ad suum verum hoc solum eis prodesse, quod ad aliud falsa sunt? Doch Folgendes: diese Dinge sind alle aus dem gleichen Grund einerseits wahr, wie sie anderseits Täuschung sind. Und dazu, daß sie wahr sind, verhilft allein, daß sie in anderer Hinsicht Täuschung sind.62

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Ingrid Strohschneider-Kohrs: Vernunft als Weisheit (s. Anm. 23). Ingrid StrohschneiderKohrs: Lessings dictum memorandum von ›unsern Irrthümern‹. Hinweise auf eine Grenzerfahrung. In: Lessings Grenzen. Hg. von Ulrike Zeuch. Wiesbaden 2005 (Wolfenbütteler Forschungen 106), S. 233–251. Eines der Beispiele: »Das Augustinus-Motto stellt den Gesamttext [der Erziehungs-Schrift] unter das Vorzeichen der Uneigentlichkeit«. Mit diesem Satz referiert Monika Fick die Deutung von Karl Eibl (aus dem Aufsatz ›Laue Bilder und Gleichnisse […]‹. In: DVjs 59 [1985]). In: Monika Fick: Lessing-Handbuch (s. Anm. 42), S. 426. – In seiner vor kurzem erschienenen vorzüglichen Lessing-Biographie betont Hugh B. Nisbet, das AugustinusMotto bestätige, daß Lessing, zumal in seinen Spätschriften, »widersprechende Standpunkte« unaufgelöst lasse, da sie sich »gegenseitig gleicherweise einseitig relativieren.« Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. Aus dem Englischen übersetzt von Karl S. Guthke. München 2008, S. 751. Aurelius Augustinus: Selbstgespräche. Lateinisch und deutsche Übersetzung, Erläuterungen und Anmerkungen von Hanspeter Müller. München, Zürich 1986, S. 110f.

Zur Logik der Erziehungs-Schrift

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An dieser zur Rede stehenden Textstelle der Soliloquien hat Augustinus eine Schauspieler-Metapher verwendet, um den ›im Gegenstand‹ wahrzunehmenden Modus ›bifrons‹ zu demonstrieren: eben jenes Zusammensein von ›Wahrheit‹ und ›Täuschung‹, – so wie ein Erscheinendes mit seiner Art von Täuschung den Blick auf das »ganze Antlitz der Wahrheit« (»totam faciem veritatis«) verwehre.63 Damit kommt ein Problem zur Sprache, das Lessing gleichen Grundsinns in seinen Ausführungen über die Bedingtheit positiver, geschichtlicher Religionen stets betont hat: ein Problem von religionsphilosophischer Bedeutung. Lessing hat im letzten Abschnitt des Vorberichts dieses Problem nochmals erwähnt. Er erinnert zunächst in überdeutlich expliziter Form an die geschichtliche Bedingtheit ›aller positiven Religionen‹. Im nachfolgenden Hinweis wird dieser Gedanke ergänzend weitergeführt, hier aber ins Indirekte, ins Bildsprachliche gewendet. In diesem ans Textende gerückten, ebenfalls zur Frage stilisierten Satz ist von der ›Hand Gottes‹ die Rede, die »bey unsern Irrthümern« (gemeint: innerhalb der Religionen) beteiligt zu denken oder vorzustellen sei. Es dürfte nicht unmöglich sein, dieser aufs Äußerste abbreviierten bildhaften Wendung den Gedanken zu entnehmen, mit dem Lessing die in der Erscheinungswirklichkeit der positiven Religionen angezeigte oder ›enthaltene‹, doch nie vollständig erkennbare »noch zurückgehaltene Wahrheit« angedeutet hat. Immerhin hat Lessing mit dem Deiktikon vom ›Fingerzeig‹ (diesem in § 46 mit dem eben zitierten Wahrheitshinweis verbundenen Wort) auf den letzten Textabschnitt und diesen Problemgedanken (»ich meyne diesen«) vorausgewiesen. Allerdings gehört das Wort ›Fingerzeig‹ in den näheren Zusammenhang des ersten Vorbericht-Teils und steht am Ende der ersten größeren Bildersequenz. Lessing nennt hier als anonymer Herausgeber den ebenfalls ohne Namen belassenen Verfasser der jetzt vollständig vorliegenden ErziehungsSchrift, der den »Weg seines heutigen Tages zu übersehen glaubt« und – auf eine Anhöhe gelangt – staunend innehält vor der »Aussicht«, die sich ihm bietet. Auch diese bildhaft objektivierenden Herausgeber-Hinweise sind nicht imstande, den besonderen Erfahrungsanteil des realen Autors Lessing und seinen Rückblick auf den eigenen Denkweg zu verbergen und unbedacht zu lassen. Einen nochmals höheren Grad der Teilhabe, – ja: deren höchste Intensität – kommt in der augenfällig herausgehobenen Bild- und Satzfolge in der Mitte des »Vorbericht«-Textes zum Ausdruck. In jenem außerordentlichen Bildhinweis, in dessen gedanklicher wie sprachlich-metaphorischer Prägnanz Lessings Problemgedanke der Erkenntniserfahrung in aller Klarheit wahrzunehmen ist: in dem Bildwort von der »unermeßlichen Ferne, die ein sanftes Abendroth seinem Blicke weder ganz verhüllt noch ganz entdeckt«. Mit dieser exzeptionellen Bildersprache hat Lessing die Problematik zu umschreiben gewußt, die beides umfaßt: das Erkenntnisvermögen und die ihm zugehörende Erkenntnisgrenze.

63

Ebd, S. 150.

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Ingrid Strohschneider-Kohrs

Es ist kaum zu verkennen, daß dieser Problemhinweis in hochgradiger Übereinstimmung steht mit der das gesamte Spätwerk Lessings bestimmenden Thematik: mit der Lessing immer erneut bewegenden Frage nach der Möglichkeit einer Wahrheits-Vergewisserung – auch und gerade im Erfahrungs- und Gedankenbereich der Religionen. Und wenn es die in den verschiedenen theologischen und philosophischen Positionen seiner Zeit existierenden unhaltbaren und strittigen Deutungsansprüche gewesen sind, die Lessing zu kritischem Eingreifen veranlaßt haben, so waren es nicht zuletzt auch die in seinen Gegensätzen entworfenen, durchgehend und konsequent die Thematik der Erziehungs-Schrift bestimmenden Grundfragen, die in der geschichtlichen Konstellation der Zeit zu gravierenden Klärungen beitragen konnten. Vor allem in der genau und neuartig begründeten Frage nach der Differenz wie einer angemessenen Relation von Vernunft und Offenbarung. Auch wenn Lessing für diese Frage nicht mit definitorischen und einseitig-einfachen ›Resultaten‹ aufwartet, so doch mit einem religionsphilosophischen Problementwurf, der weit in die nachfolgende Zeit und in die Diskurse der sogenannten Moderne vorausweist. Das Lessings Intentionen und diesem Problementwurf Zugrundeliegende – so darf zu wiederholen erlaubt sein – ist der Gedanke und das untrügliche Bewußtsein von dem bleibend Fragenswürdigen der »noch zurückgehaltenen Wahrheit«, wie es mit Lessings eigenem Diktum genannt sein mag. Darauf verweist der durchgehende Gedankenweg der Erziehungs-Schrift; davon spricht mit einem exzeptionell einprägsamen Bild der dieser Schrift hinzugegebene »Vorbericht«: dieser letzte von Lessing selbst veröffentlichte – vielleicht als sein Vermächtnis zu verstehende Text.

HERMENEUTISCHE OPTIONEN UND RHETORISCHE INSZENIERUNG

Ulrich Groetsch

The Miraculous Crossing of the Red Sea What Lessing and his Opponents during the Fragmentenstreit did not see.1

On 20 March 1777, Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) wrote a letter to his brother Karl. Just a few months previously, he had published further installments from Reimarus’s Apology as the fourth contribution to his series Beyträge zur Geschichte und Litteratur. Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel [Contributions to History and Literature: Treasures from the Ducal Library in Wolfenbüttel]. To his dismay, however, the response of orthodox theologians had been somewhat cautious.2 Little did he know at that time that dark storm clouds were already gathering on the horizon, ready to unsettle his idyllic existence in Wolfenbüttel. Less than a year later, Lessing would not only mourn the death of his beloved wife Eva König, but his dispute with Johan Melchior Goeze (1717–1786) would already be in full swing. For the time being, however, he seemed to have found some satisfaction in discussing the issues raised in the fragments with his brother Karl: Your objections to my hypothesis of the crossing of the Israelites through the Red Sea are not irrefutable – even though Scripture states: ›and Pharaoh and his army went across as well.‹ Excuse me? For obvious reasons, should it not say: Pharaoh and his army wanted to go across as well. They only wanted to pursue the Israelites, without knowing that they had entered a dried up branch of the Red Sea. – Your idea that God had elevated the bed of the Red Sea, which is approximately how Lilienthal3 also portrays it, only explains how the

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For suggestions and comments I am particularly grateful to Andrew McKenzie-McHarg and Martin Mulsow. A few days later, Lessing writes to his brother Karl: »Daß die Theologen zu den Fragmenten meines Ungenannten so schweigen, bestärkt mich in der guten Meinung, die ich jederzeit von ihnen gehabt habe. Mit der gehörigen Vorsicht kann man ihrentwegen schreiben, was man will. Nicht das, was man ihnen nimmt, sondern das was man an dessen Stelle setzen will, bringt sie auf, und das mit Recht. Denn wenn die Welt mit Unwahrheiten soll hingehalten werden, so sind die alten, bereits gangbaren, eben so gut dazu, als neue«. In: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Ed. by Wilfried Barner et al. Frankfurt am Main 1985–2003 (all subsequent references are to this edition, listed as FA for ›Frankfurter Ausgabe‹, including the number of the respective volume and page), here FA 12, Nr. 1293, p. 79 (letter to his brother Karl, 25 May 1777). Theodor Christoph Lilienthal: Die gute Sache in der heiligen Schrift alten und neuen Testaments enthaltenen Göttlichen Offenbarung, wider die Feinde derselben erwiesen und gerettet. Vol. 9. Königsberg 1760, p. 153: »Wir glauben Ursache zu haben anzunehmen, daß Gott durch ein Erdbeben den Grund des Meeres in die Höhe gehoben habe, auf welchem die Israeliten trocken hinüber gehen können. Es ist sonst nicht ungewöhnlich, daß

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Ulrich Groetsch

sea became dry land; but it does not explain how so many people were able to cross within such a short period of time. That is what is key here.4

As this passage indicates, Lessing is discussing here the Israelites’ crossing of the Red Sea,5 which had been the subject of the third fragment of the notorious Wolfenbüttel fragmentist.6 But Lessing’s emphasis of the problem of a ruck of people crossing a large body of water within a short period of time provides only a glimpse of the overall complexity this episode posed to early modern scholars at the time. In his Apology, the infamous author of the fragments, the Hamburg scholar Hermann Samuel Reimarus (1694–1768),7 had subjected the biblical account of the story to a devastating criticism, showing what he perceived as the impossibility of about three million Israelites accomplishing this feat unscathed within just one single night.8 In his analysis, Reimarus devoted considerable time and space to discussing the actual crossing, paying particular attention to the overall mass of people and livestock involved, the potential hazards of traveling across a still slippery seabed, and both the duration of the event and the distance covered. Several scholars – Johann Salomo Semler (1725–1791) was probably the most famous one – have focused on this exercise in arithmetic, either applauding its wittiness9 or exposing its apparent flaws.10 This is, of course, not entirely unjustified. The logistics of the actual crossing and the multitude of people involved have undoubtedly always been major issues of dispute among early modern faithfuls and their opponents and remain, as becomes apparent in Lessing’s letter to his brother, key components to either embrace the biblical account as historically accurate or to

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Erdbeben in dem Grunde des Meeres ihre Wirckung beweisen: und man hat Exempel, daß dadurch gantze Insuln aufgeworfen worden [...].« FA 12, Nr. 1257, p. 52 (Lessing to his brother Karl, 20 March 1777): »Deine Einwürfe gegen meine Hypthese von dem Durchgange der Israeliten durch das rote Meer sind nicht unbeantwortlich. – Wenn es gleich in der Schrift heißt: ›und Pharao und sein Heer gingen auch herüber;‹ was denn? muß dieses nicht offenbar heißen: Pharao und sein Heer wollten auch herübergehen. Sie wollten den Israeliten nur folgen, ohne zu wissen, daß sie durch einen ausgetrockneten Arm des roten Meeres gegangen waren. – Deine Vorstellung, daß Gott das Bett des roten Meeres in die Höhe gehoben, welches ungefähr auch Lilienthals4 Vorstellung ist, erklärt auch nur, wie das Meer trocken geworden, nicht aber, wie so viele Menschen in so kurzer Zeit hinüber kommen können. Und das ist hier die Hauptsache.« See Ex 13.17–14.2. FA 8, p. 236–246. Dietrich Klein: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Das theologische Werk. Tübingen 2009. Hermann Samuel Reimarus: Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Ed. by Gerhard Alexander. Vol. 1. Frankfurt 1972, p. 299–326. Henning Graf Reventlow: Epochen der Bibelauslegung. Vol. 6: Von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert. München 2001, p. 160. Johann Salomo Semler: Anhang zur Beantwortung der Fragmente des Ungenannten. Halle 1779, p. 15–32; on Semler see Gottfried Hornig: Johann Salomo Semler. Studien zu Leben und Werk des Hallenser Aufklärungstheologen. Tübingen 1996 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 2); also Eric Carlsson: Johann Salomo Semler, the German Enlightenment and Protestant Theology’s Historical Turn. Pd.D. diss., University of Wisconsin-Madison 2006.

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reject it as the vivid creation of an imaginative mind. Yet, much scholarship that surfaced in the course of the fragment controversy and beyond has almost exclusively spent its time with such mathematical equations, thereby failing to acknowledge not only the complexity of the episode itself, but also the depth of Reimarus’s scholarship. In fact, although the third fragment selected by Lessing focuses almost entirely on the problem of the actual crossing, a closer look at the problems the Exodus episode posed for early modern scholars will reveal the philological intricacy of the tradition Reimarus was confronting. It will also become apparent that simply reading the fragments published by Lessing or the printed edition of the Apology almost inevitably leads to an underestimation of the profundity and range of Reimarus biblical criticism. Throughout the early modern period, numerous theologians and scholars had racked their brains and tried to imagine, picture, portray, and describe how and where this remarkable event might have taken place. Up to the seventeenth century, hardly any theologian or biblical scholar dared to question even remotely the miraculous nature of the event, let alone the historical veracity of the biblical account. It was the culmination of the Exodus narrative, where God manifested his power to his chosen people. More importantly, however, the Red Sea episode was viewed as a spiritual baptism that could be tied to Paul’s words in his letter to the Corinthians.11 To Isidor Clarius (1495–1555), Bishop of Foligno, for example, »the sea was a figure of baptismal water, the cloud a figure of the spirit, and the manna a figure of the bread of life, which was Christ.«12 But typological interpretations were not just the exclusive specialty of Catholic theologians such as Clarius. Johann Biermann, professor of theology at the Academia Nassauensis in Herborn, pointed out that the event was a reference to the Church of the New Testament. Just as the Egyptian pharaoh and his chariots pursued the ancient Israelites, so was the Early Church subject to persecution in its infancy. According to Biermann, Christ’s death on the wooden cross opened a path for his disciples, just as Moses parted the Red Sea with his staff and opened a path for his people.13 The crossing itself foreshadowed, Biermann suggests, the sacrament of baptism. Accordingly, 11

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1 Cor 10.2 (New Revised Standard Version Bible): »I do not want you to be unaware, brothers and sisters, that our ancestors were all under the cloud, and all passed through the sea, and all were baptized into Moses in the cloud and in the sea, and all ate the same spiritual food, and all drank the same spiritual drink. For they drank from the spiritual rock that followed them, and the rock was Christ.« See Clarius in: Critici Sacri: sive Annotata Doctissimorum Virorum in Vetus ac Novum Testamentum. Tomus vii, pars ii. Amsterdam 1698, p. 1085: »Mare ergo figura fuit aquae Baptismatis; nubes, Spiritus; manna, panis vitae, qui Christus est.« Johann Biermann: Moses und Christus: oder Erklärung der vornehmsten Fürbilder des Alten Testaments [...]. Frankfurt 1714, p.753: »Wie die Israeliten/ die kaum aus Egypten auffgebrochen und erlöset waren/ so bald wiederum von Pharao und seinen Reuthern verfolget wurden/ Exod. XIV,4–7. So hat die Kirche des Neuen Testaments/ nachdem sie eben von der Dienstbarkeit der Sünde und des Gesetzes erlöset war/ den Verfolgung ihrer Feinde und ihrer fleischlichen Brüder wiederum müssen offen liegen/ Cant. I,6 [...]. Wie Moses mit seinem Wunder-Stab die Wasser theilte/ zum Heyl und Erlösung Israels/ und mit demselben die Wasser über die Egypter/ über ihre Wagen und Reuther wieder brachte:

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the Israelites, when they passed under the cloud through the sea, were most likely sprinkled with drops of seawater from the cloud extending above them and the wall of water that was raised to the right and left of them, just as we are sprinkled with water at our own baptism.14

But although the velamen Mosis,15 as Matthias Flacius (1520–1575) had referred to it, may have kept hidden the true and genuine meaning of the passage, it could in the eyes of the early modern faithful not obscure the historicity of the event. Especially after the publication of Spinoza’s Tractatus,16 theologians and exegetes felt increasingly pressured to prove not only that the event had actually taken place, but that the description in the Bible was completely credible and accurate.17 This was, for a number of reasons, a challenging undertaking.

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Also versammlet Christus mit dem Stab seines Worts seine Kinder/ und bahnet ihnen durch das Holtz seines Creutzes/ einen frischen und lebendigen Weg nach dem Himmel [...].« Ibid., p. 755: »Wie die Israeliten/ die durchs Meer und unter der Wolcke giengen/ aller Wahrscheinlichkeit nach mit einigen Tropffen/welche zum Theil aus dem Wasser des Meeres/das ihnen zur Rechten und zur Linken war/ und zum Theil aus der über ihnen ausgebreiteten Wolcken/ in die Höhe gezogen/ besprenget wurden/ also werden wir in unserm Tauff auch mit Wasser- Tropffen besprenget.« Matthias Flacius Illyricus: Clavis Scripturae seu de Sermone Sacrarum Literarum, plurimas generales Regulas continentis, Altera Pars. Basel 1567. I am using the Leipzig edition from 1695. See ibid., p. 606–612: »Doctrina de Velamine Mosis, multum lucis toti Legi adferret; si aliquanto plenius exponeretur [...]. Velamen Mosis, est quaedam obscuritas Legis, ut ejus primarius, verus, ac genuinus sensus aut scopus, non plene aut perspicue perspici possit [...]. Deinde, Mosaicae ceremoniae valde celabant in se verum nucleum, in intimis latebris involutum [...]. Detraxit igitur, in novo Testamento, Christus, hujus Populi Rex & Dominus, velamen Mosis, in judiciali aut Politice Lege [...].« On Flacius see, for example, Oliver K. Olson: Matthias Flacius and the Survival of Luther’s Reform. Wiesbaden 2002 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissance-Forschung 20); also, Jure Zovko: Die Bibelinterpretation bei Flacius (1520–1575) und ihre Bedeutung für die moderne Hermeneutik. In: Theologische Literaturzeitung 132 (2007), p. 1169–1180. Spinoza had disputed the existence of miracles: »nothing happens in nature that contradicts its universal laws [...]; the only thing that we can understand by a miracle in Holy Scripture is, as I have said, a phenomenon of nature that surpasses human understanding [...]; everything narrated in Scripture actually happened naturally, and yet it is all ascribed to God, since it is [...] the intention of the Bible [...] to speak of things that commonly occupy people’s imaginations, and to do so in a manner and style calculated to inspire wonder about things and thus impress devotion upon the minds of the common people [...]; if we find certain things in the Bible for which we cannot attribute a cause [...] we should be fully persuaded that whatever happened, happened naturally. This is also confirmed by the fact that some of the details of miracles are sometimes omitted in the telling [...]; these details of such miracles, however, plainly show that they involve natural causes [...]. If anything is found which can be demonstrated conclusively to contradict the laws of nature or which could not possibly to follow from them, we must accept in every case that it was interpolated into the Bible by blasphemous persons. For whatever is contrary to nature, is contrary to reason, and what is contrary to reason, is absurd, and accordingly to be rejected.« See Benedict de Spinoza: Theological-Political Treatise. Ed. by Jonathan Israel. New York 2007 (Cambridge Texts in the History of Philosophy), p. 83–90. See, for example, Johann Ludwig Stumpf: ʳʥʱ ʭʩ ʺʲʷʡ Seu de Divisione Rubri Maris Miraculosa. Giessen, undated, p.4: »Equidem Benedicti Spinozae maledicta impietas tam manifesta a ea in parte est, ut caeteris quorum nunc animo observatur memoria non debeat accenseri, quando tractat. Theol. Pol. p.69.70 omnia existimat quae in Scriptura S. vere

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According to the biblical text, the Israelites originally settled in the land of Goshen [Ģ ĄŘŠć  ęĜīĄ Ąē ąė].18 They leave Egypt from a place called Rameses [Ĥ ăĤġþ ĥþ īą ],19 but do not take the direct route [ĔŬą ă ŦĘą   ĠĜėžÿ Ă ē],20 which would Ą ėžÿ Ă ē have led them towards the land of the Philistines [Ġ ĆĚĆģćēğ þĘĨīĄ ĄēźīĄ šĠĜ ĠĜųŘ Ă ğĂ Ůþ ] but travel through the wilderness toward the Red Sea [ī ĆşĖþ ŪĂ ąėźīĄ šĄ ĦţĤĠąĜ]21 and encamp first at Succoth [ĭŨ ć Ŭĉ ġţĥ Ă Ĥþ ĂŦąĘ],22 then at Etham [ţģąĚąþ ŦĘą 23 Ġ Ćĭ ăēĔþ ]. In order to mislead the pursuing Egyptians, God commands Moses to turn back and set up camp »in front of Pi-hahiroth, between Migdol and the sea, in front of Baal-zephon« [Ĝăģħþ ğţģą Ă Ěąþ Ĝ þĘ Ĝăģħþ ğĠĆ Ă ŦėĢĜ ą ăĔţğ ćš þĕġĢĜ Ă ăşĭī ć ĜĚĂ ąėĜŮĂ Ģħ ć ĩğ þ ąĥ ąş].24 When the pharaoh’s army seems to have sealed the Israelites’ fate and their defeat appears inevitable, God powerfully intervenes on behalf of his chosen people. A strong east wind [ĠĜĖĂ ĆĪĚąţīşþ ]25 clears a path, through which the Israelites cross over to the other side. The returning waters swallow the entire Egyptian army, and the Israelites, after praising God for their salvation, continue their odyssey through the wilderness of Etham [Ġ Ćĭ ăē ī ąşĖġĂ şþ ],26 where further challenges are awaiting them. While the actual crossing of the Israelites and the drowning of the Egyptians is a matter of just a few hours, early modern scholars estimated that the journey of the Israelites from Egypt to the banks of the Red/Reed Sea took about three days.27 Establishing the historical veracity of this narrative, however, posed many problems to early modern scholars and theologians alike. Not surprisingly, historical geography becomes a key component in this undertaking.28 Johann

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narratur contigisse, ea secundum leges naturae & omnia necessario contigisse, imo si quid reperiatur, quod apodictice demonstrari possit legibus naturae repugnare aut exiis consequi non potuisse, plane credendum id a sacrilegis hominibus SS. literis adjectum esse. Plane sacrilege! alibi providentiam nihil esse re vera praeter Naturae Ordinem: Miraculi nomen in sacris nonnisi respective ad hominum opinionem intelligi posse, nihil aliud significare quam opus, cujus causam naturalem exemplo alterius rei solitae explicare possumus. Haec utique spinosi hominis portenta non mirabitur, qui norit Deum & Naturam unum idemque prorsus fuisse Atheo.« See, for example, Ex 9.26. Ex 12.37. Ex 13.18. Ex 13.17. Ex 13.20. Ex 13.20. Ex 14.2. Ex 14.21. See Num 33.8. See, for example, Johann Christoph Harenberg: Beweisgründe über die Lagen und Ortsbestimmungen seiner Landkarte vom Heil. Lande. In: Kosmographische Nachrichten und Sammlungen auf das Jahr 1748. Nürnberg 1750, p. 190: »In drey Tagen, seit des Auszugs, kamen die Israeliten bis zum Meere, durch welches sie giengen.« On the subject of the geographia sacra see Zur Shalev: Geographia Sacra: Cartography, Religion, and Scholarship in the Sixteenth and Seventeenth Centuries. Pd.D. diss., Princeton University 2004, as well as Alessandro Scafi: Mapping Paradise: A History of Heaven on Earth. Chicago 2006.

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Christoph Harenberg (1696–1771),29 theologian and geographer from Braunschweig, who spent considerable time trying to locate places of revelation history, undoubtedly viewed his scholarly study of sacred geography and chronology as a defense of the Bible against »skeptics and mockers« when he pointed out that »it was an issue of utmost importance to describe the geography of the holy books of the Bible as clearly and accurately as possible.«30 But whereas modern biblical scholars occasionally leave their desks, exchanging their pencils – or laptops – for measuring tape, trowel, and shovel, the savants of the seventeenth and eighteenth centuries could observe and imagine potential locations of salvation history only from afar. To be sure, there had always been some adventurous young noblemen31 and floods of pilgrims over the course of time who were braving the heat and hazards of the Levant to visit the sites of salvation history and to provide narratives for those left at home.32 For the most part, however, biblical scholarship until the mid-eighteenth and early nineteenth centuries was conducted by armchair archeologists, whose discoveries were not buried under desert sand but in the pages of the mighty tomes of their libraries. Up to the time of Carsten Niebuhr (1733–1815),33 scholars such as Edward Pococke 1604–1691)34 who had actually traveled to Palestine to search, examine, and study the actual sites of revelation history, remained an exception.35 Instead, the sages of the sixteenth, seventeenth, and eighteenth centuries had to rely on their philological skills to interpret and verify the biblical account. But, as the complexity of the narrative may already suggest, this was not an easy task. It might have been difficult for the fleeing Israelites not to lose their way in the »uncultivated, barren, and dry regions« of the Levant and Arabian Peninsula, »that have become wretched by drought and devastated 29

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See Uwe Ohainski: Harenberg, Johann Christoph. In: Braunschweigisches Biographisches Lexikon: 8. bis 18. Jahrhundert. Ed. by Horst-Rüdiger Jarck et al. Braunschweig 2006, p. 300f. »Die Zweifler und Spötter pflegen die Geschichte zu verrufen, wenn sie dagegen einen erheblichen Einwurf aus der Chronologie oder Geographie machen können. Es ist demnach anitzt eine höchstnöthige Sache, daß die Geographie der Bücher der heiligen Schrift so deutlich und fest erörtert werde, als es immer geschehen kann. Dieser Umstand hat mich veranlasset, daß ich zuweilen einige müssige Stunden auf die Chronologie und Geographie der heiligen Schrift gewendet habe.« Cf. Harenberg (see note 27), p. 185. See, for example, Christoph Fürer von Haimendorf: Itinerarium Aegypti, Arabiae, Palaestinae, Syriae, Aliarumque Regionum Orientalium. Nürnberg 1620. On the subject of pilgrimage and travel see F. Thomas Noonan: The Road to Jerusalem: Pilgrimage and Travel in the Age of Discovery. Philadelphia 2007. Carsten Niebuhr: Reisebeschreibung nach Arabien und andern umliegenden Ländern. 3 vols. Copenhagen and Hamburg 1774–1837. On Pococke see, for example, Peter Holt: An Oxford Arabist: Edward Pococke. In: Peter Holt: Studies in the History of the Near East. London 1973, p. 1–26. On the subject of ›oriental‹ scholarship, see Robert Irwin: Dangerous Knowledge: Orientalism and its Discontents. New York 2006; also, Michael Carhart: The Science of Culture in Enlightenment Germany. Cambridge/Mass. 2007, p. 27–68; Haim Goren, ›Zieht hin und erforscht das Land‹. Die deutsche Palästinaforschung im 19. Jahrhundert. Trans. from the Hebrew by Antje Clara Naujoks. Tel Aviv 2003; also Jonathan Hess: Germans, Jews and the Claims if Modernity. New Haven 2002, p. 69–79.

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by he burning heat of the sun and provide nourishment neither to humans nor vegetation.«36 However, it was by no means an easy task for biblical scholars thousands of years later to identify the correct route of God’s chosen people. Not surprisingly, the starting point for early modern exegetes was almost always a philological examination of the Greek and Hebrew sources available to them. If digging in the sand and visiting the places of revelation history in person was not always possible, then philology was a powerful tool in exploring Near Eastern territory and dispelling what were in the eyes of these scholars grave misconceptions. Such misconceptions, however, did not always stem from their early modern contemporaries. In fact, the divergence in opinions among ancient authors on issues of toponomy posed a challenge to early modern sages. Strabo, for example, had speculated that the ›Red‹ or ›Erythrean Sea‹ may have derived its name presumably from the reflection of sunlight from the adjacent mountains onto its waters, but it could also come from a spring of reddish water that emptied into the sea, as Ctesias of Cnidus had suggested.37 Pliny, on the other hand, had suggested that the term might also be derived from a king by the name of Erythras.38 None of these explanations seemed to completely satisfy early modern savants such as the English theologian Nicholas Fuller (1557–1623)39 or the extremely able and talented Arabist from Utrecht Hadrian Reland (1676– 1718).40 It is not entirely surprising that several of them turned to the Greek ਥȡȣșȡ੽ ș੺ȜĮııĮ without even referring to the ĦţĤĠąĜ of the Hebrew text, since they considered the Greek and the Latin texts as the oldest and thus most reliable versions of the Sacred Bible, as Nicholas Fuller suggested.41 The latter devoted a lengthy portion of his much celebrated Miscellaneorum sacrorum libri (1616) to the »various causes why the Erythrean or Red Sea was called as such.«42 According to Fuller, the term ›Erythras‹ or ›Erythrus‹ was a reference to Esau, the elder son of Isaac, »a strong and excellent individual with a

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Salomon Deyling: De Angelo Domini, Israelitarum per vastas Arabiae Solitudines Ductore. In: Salomon Deyling: Observationum sacrarum miscellanearum pars IV. Leipzig 1747, p. 743: »Eijusmodi enim regiones incultae, steriles, siccitate squalidae, & solis ardore exustae, nec hominem alunt, nec frugem.« Strabo, Geographia 16.4: »ਫȡȣșȡ੹Ȟ Ȗ੹ȡ ȜȑȖİȚȞ IJȚȞ੹Ȣ IJ੽Ȟ șȐȜĮIJIJĮȞ ਕʌઁ IJોȢ ȤȡȠȚ઼Ȣ IJોȢ ਥȝijĮȚȞȠȝȑȞȘȢ țĮIJ’ ਕȞȐțȜĮıȚȞ, İ੅IJİ ਕʌઁ IJȠ૨ ਲȜȓȠȣ țĮIJ੹ țȠȡȣij੽Ȟ ੕ȞIJȠȢ İ੅IJİ ਕʌઁ IJ૵Ȟ ੑȡ૵Ȟ ਥȡȣșȡĮȚȞȠȝȑȞȦȞ ਥț IJોȢ ਕʌȠțĮȪıİȦȢ· ਕȝijȠIJȑȡȦȢ Ȗ੹ȡ İੁțȐȗİȚȞ· ȀIJȘıȓĮȞ į੻ IJઁȞ ȀȞȓįȚȠȞ ʌȘȖ੽Ȟ ੂıIJȠȡİ૙Ȟ ਥțįȚįȠ૨ıĮȞ İੁȢ IJ੽Ȟ șȐȜĮIJIJĮȞ ਥȡİȣș੻Ȣ țĮ੿ ȝȚȜIJ૵įİȢ ੢įȦȡ.« Pliny the Elder, nat. hist. 6.28: »Incrumpit deinde et in hac parte geminum mare in terras, quod Rubrum dixere nostril, Graeci Erythrum a rege Erythra aut, ut alii, solis repercussu talem redid existimantes colorem, alii ab harena terraque, alii tali aquae ipsius natura.« On Fuller see G. Lloyd Jones: Fuller, Nicholas. In: Oxford Dictionary of National Biography 21 (2004), p. 154–155. Hadrian Reland: Dissertatio de Mari Rubro sive Erythraeo. In: Thesaurus Antiquitatum Sacrarum. Ed. by Blasius Ugolinus. Vol. 7. Venice 1747, p. 447–494. Nicholas Fuller: Miscellaneorum sacrorum libri. In: Critici Sacri (see note 12), tomus viii, pars 2. Amsterdam 1697, p. 1069: »Quid igitur fiet antiquissimis S. Bibliorum versionibus, Graecae & Latinae?« Ibid., p. 1058: »De variis causis cur Mare Erythraeum sive Rubrum ita sit dictum […].«

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distinguished lineage,«43 who, as the Bible in Gen 25.30 records,44 often also went by the name ›Edom‹. ĠĘĖē, however, is the Hebrew equivalent to the Greek ȆȣȡȡંȢ or ਫȡȣșȡંȢ, which means Ruber in Latin.45 This led Fuller to suggest that the term must come from the Hebrew ėġĖē, which, according to him, does not simply mean ›earth‹ or ›land‹, but technically terra rubra, ›red land‹.46 The name mare rubrum was, according to Fuller, not at all corrupted or incorrectly translated.47 Naturally, the waters of the Red Sea did not have a reddish color, but the rubrum was simply a possessive quality, referring to Esau. Accordingly, the entire region surrounding the Red Sea must have been part of Esau’s dominion.48 Several Hebraists such as Paul Fagius (1504–1549),49 however, thought that the term ›Red Sea‹ was simply wrong. In his Exodus commentary, Fagius, a student of the distinguished Hebraist and reformer Conrad Pellican (1478– 1556), lameted that both »Septuagint and Vulgate translated the term ĦţĤĠąĜ everywhere as mare rubrum [Red Sea], although the term ĦĘĤ in fact signified not rubrum [red] but carex [rush; reed-grass] or papyrum [papyrus].« Fagius based his conclusion to a large part on the elucidations of the Jewish scholar Rashi, who had suggested that the ĦţĤĠąĜ was a reference to ĘĔĠĜğĖĕŘĠĕē ĠĜģĪ [a wetland where a lot of reed is found].50 43

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Ibid., p. 1060: »Viro huic, quantum ad hoc speculum, summa aderant omnia: robustus animus & bellicosus, egregia generic claritas, eximia corporis forma planeque […] region principatu digna, İੇįȠȢ, ਙȟȚȠȞ IJȣȡʌĮȞȞ઀įȠȢ […].« Gen 25.30: »Esau said to Jacob, ›Let me eat some of that red stud, for I am famished!‹ (Therefore he was called Edom.)« Fuller (see note 41), p. 1059f.: »Erythras sive Erythrus planissime is est quem nominee quidem Sacrae literae Esauum appellant, cognomina autem Edomum, Isaaci filium grandiorem, Jacobi vero fratrem. Est enim ʭʥʣʠ Graece Ȇȣ૦૧ઁȢ; sive ਫȡȣșȡઁȢ, Latine Ruber, 2. Reg. 3.22. Isa. 63.2. Hujus coloris specie Historia Sacra ad hoc ipsum nomen Edom venuste alludens […].« Ibid., p. 1060: »Ex hoc fonte vox ʤʮʣʠ derivata putatur, quae ex recondita notionis vi significet, non terram simpliciter, sed terram rubram.« Ibid., p. 1071: »Dicit aliquis, Veruntamen non rubet mare illud natura. Quasi scilicet ignorarint Lxx ili doctissimi sapientissimique viri rem tam in promptu, tam in proximo positam. Nihilo fecius cum saepenumero ਫȡȣșȡ੹Ȟ ș੺ȜĮııĮȞ mare rubrum usurparint, non toties falsum aut scripserunt aut probarunt, sed indubitatam Sacrae Geographiae Historiaeque fidem secuti versionem suam elaborarunt. Non ita falso appellarunt sed appellatione more possessivo (ut creberrime usu venit) a nomine principali Edom, quod est ਫȡȣșȡઁȢ vel Ruber, derivata, mare quoque Edom, i. ਫȡȣșȡઁȞ vel Rubrum, & vere & vulgo dici noverunt, quod IJȠ૨ ਫȡȣșȡȠ૨ Rubri esset, sive ad IJઁȞ ਫȡȣșȡઁȞ ad Rubrum illum spectaret. Itaque vocabula ਫȡȣșȡઁȢ & Ruber in hoc loquendi genere propria sunt non appellativa, țIJȘIJȚț૵Ȣ non ijȣıȚț૵Ȣ adhibita, possessionis non naturae respectu intelligenda.« Ibid, p. 1061: »Porro Edomus iste, quia totius regionis seu provinciae Dominus ac Princeps evasit, imperio item maris eandem regionem praeterfluentis simul potitum esse cousentaneum apparet.« On Fagius see, for example, Richard Raubenheimer: Paul Fagius aus Bergzabern. Sein Leben und Wirken als Reformator und Gelehrter. Roxheim 1957. Cf. Fagius in: Critici Sacri (see note 12), tomus i, pars 1, p. 259: »Hunc locum annotare libuit propter vocem Hebraicam ʳʥʱ ʭʩ, quam Lxx. & Vulg. Interpres. ubique mare rubrum

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But what exactly was the Red or Reed Sea and where was it located? This question occupied the minds of numerous theologians of the period and prompted the biblical scholar from Göttingen Johann David Michaelis (1717– 1791)51 to include it in his catalogue of questions which he forwarded to Niebuhr and his colleagues so that they could search for possible answers during their sojourn in the Holy Land.52 Naturally, place names mentioned in þ Ěąþ ŦĘą ], Succoth the biblical account such as Rameses [Ĥ ăĤġþ ĥþ īą ], Etham [Ġ Ćĭ ăēĔţģą ć Ŭĉ ], Migdol [ğżš þĕġĂ ], Pi-hahiroth [ĭī ć ĜĚĂ ąė ĜŮĂ ], and Baal-zephon [ ğ ąĥ ąş [ĭŨ Ģħ ć ĩþ ] served as important pointers, although not all exegetes were determined enough to convert them into exact geographical coordinates. Difficulty arose especially where profane authors were virtually silent, as it was the case with þ ğ ąĥ ąş].53 This called for the input of skilled the term Baal-zephon [Ģ ćħĩ Hebraists, who were intimately familiar with the work of the rabbis. The results, however, were often mixed and their practical value questionable. One of them was Christopher Cartwright (1602–1658), an extremely able Hebraist from York, whose work was justifiably included into the Protestant Critici sacri.54 Cartwright derived the name of Baal-zephon from the enchantments of Egyptian Magi. The term Ģ ćħĩþ , Cartwright suggest, probably comes from the Hebrew term ėħĩ , which means ›to look out‹ or ›to spy‹. According to Cartwright, Baal-zephon derived its name from an Egyptian idol that was buried in the sand, watching over fleeing Egyptian slaves and, if necessary, holding them back before they could cross the border.55 This would perfectly align with the term Pi-hahiroth, since, as Cartwright suggested, the term ĭĘīĜĚ meant ›freedom‹,

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interpretantur, cum tamen ʳʥʱ Hebrais non rubrum sed caricem seu papyrum sonat. Hinc Hebraei ʳʥʱ ʭʩmare caricosum vel papyrosum appellari dicunt, eo quod ad ejus litora copiosissima sint carecta sive papyriones [...]. R. quoque Salomo hoc idem sentit, ʠʥʤ ʳʥʱʥ ʭʩʰʷ ʥʡ ʭʩʬʣʢˇ ʭʢʠ ʯʥˇʬ.« On Michaelis see Michael Legaspi: Reviving the Dead Letter: Johann David Michaelis and the Quest for Hebrew Antiquity. Ph.D. diss., Harvard University 2006. Michaelis writes: »Was ist das ʳʥʱ , davon das rothe Meer den Nahmen hat? wie auch dasjenige, so im Nil wächset? Von diesem, meiner Meinung nach gedeppelten Suph, wird eine genaue botanische Beschreibung und Abzeichnung, wie auch ene Nachricht von der Farbe des im rothen Meer befindlichen Suph verlanget [...]«. See Johann David Michaelis: Fragen an eine Gesellschaft Gelehrter Männer, die auf Befehl Ihro Majestät des Königes von Dänemark nach Arabien reisen. Frankfurt 1762, p. 1. Augustin Calmet: Dissertatio de Transfretatione Erythraei Per Hebraeos. In: Commentarius Literalis in Omnes Libros Veteris et Novi Testamenti. Vol. 1. Luca 1730, p. 368: »Beelsephon sola Moysis relatione nota Urbs, nihil habet sive in Scriptura, sive apud Authores profanos, quo de ejus situ quidquam innotescat.« See Nicolas Keene: Critici Sacri: Biblical Scholarship and Criticism in England c.1650– 1710. Pd.D. diss., Royal Holloway University of London 2004. Cf. Cartwright in: Critici Sacri (see note 12), tomus i, pars i, p. 293: »Et quoniam ʯʥʴʶ Zephon deductum videtur, a ʤʴʶ Zapha speculari, ideo Hebraei (uti etiam Fagius testatur) tradunt Baal Zephon idolum fuisse, arte magorum Aegyptiorum comparatum, atque in isto loco collocatum, ut servos ex Aegypto fugientes observaret, ac retineret. Hujus igitur idoli virtute Israelitas illic retentos credidisse Aegyptios.«

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undoubtedly a reference to the Israelites’ escape into freedom.56 More practical information came from the Benedictine scholar Dom Augustin Calmet (1672– 1757) in a small treatise on the subject, which was part of his massive Commentaire littéral sur tous les livres de l’Ancien et du Nouveau Testament (1707–1716). To Calmet it was clear that the Israelites moved from Rameses, the city they probably built during their serfdom, to Lower Egypt. According to Calmet, the name of their first stop, Succoth, could be derived from the Hebrew root ėĞĤ [booth], which must refer to a temporary kind of enclosure with booths for cattle. The Romans called these kinds of shelter scenae, which prompted Calmet to suggest that Succoth may not have been far from the ancient Scenae Veteranorum.57 To make sense of the name of the Israelites’ camp ›Etham‹, Calmet has to muster all his powers of erudition. The Septuagint uses two different terms to mark this part of the journey, namely »੗șઆȝ [Othom] by the wilderness,«58 and ǺȠȣș੺Ȟ [Buthan], »which was part of the wilderness.«59 Calmet then concludes that ›Ethan‹, as he spells it, must have been the last Egyptian city before crossing the border into Arabia. It would also fit nicely with Herodotus description of a city by the name of ǺȠȣIJઆ [Buto], which the ancient historian situates not far from Arabia.60 This means then that Etham seu Butan must have been on the edge of the desert, towards the Gulf of Suez.61 Calmet points out that, according to Pliny, the Arabs call this part of the Red Sea Aias, the Greeks Sinus Heroopoliticus after the city Heroum, situated close to its banks.62 This part of the Red Sea appeared to be the most plausible part for a potential crossing, because, as the Arminian scholar Jean Le Clerc observed,63 the sea must have been very narrow to make a crossing even 56 57

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Ibid., p. 293: »ʺʥʸʩʧ Hiruth Hebraeis libertatem significat; R. Sal. igitur ait locum hunc sic dictum, quod Israëlitae nunc liberi facti essent [...].« Augustin Calmet (see note 53), p. 367: »Ramesses Urbs est Israëlitatum [sic] laboribus sive condita, vel saltem novis accessionibus aucta: eo autem omnes Hebraeorum copiae ante secessionem ex Aegypto reductae sunt [...]. E Ramesse moventes Hebraei, regia via ex Aegypto inferiori ad Sinai deducente in Socoth venerunt. Porro nomen illud Socoth Hebraice sonat tentoria; quare non longe constitutum locum censemus ab urbe Scenae Veteranorum apud Geographos.« Ex 13.20 [LXX]: »ਥıIJȡĮIJȠʌ੼įİȣıĮȞ ਥȞ ੗șઅȝ ʌĮȡ੹ IJ੽Ȟ ਩ȡȘȝȠȞ.« Num 33.6 [LXX]: »ʌĮȡİȞ੼ȕĮȜȠȞ İੁȢ ǺȠȣș੹Ȟ, ੖ ਥıIJȚ ȝ੼ȡȠȢ IJȚ IJોȢ ਥȡ੾ȝȠȣ.« Herodotus, Hist. 2, 75: »ਯıIJȚ į੻ Ȥ૵ȡȠȢ IJોȢ ਝȡĮȕ઀ȘȢ țĮIJ੹ ǺȠȣIJȠ૨Ȟ ʌંȜȚȞ [...].« Calmet (see note 53), p. 367: »Socoth relicta, Etham ascenderunt in extremis finibus solitudinis in extrema scilicet ora deserti, Arabiam Petraeam, & Aegyptum interjacentis, quam sane vastissimam esse solitudinem Geographi omnes conveniunt. Hanc Urbem ipsissimam esse Buthum Herodoti nullus dubito.« Augustin Calmet: Commentarius Literalis in Omnes Libros Veteris et Novi Testamenti. Vol. 1. Luca 1730, p. 444: »Quo innui videtur, Ethan postremam Aegypti urbem esse constituendam, Arabiam versus; desertum vero ad extremam oram maris rubri, nomen suum ex illa eadem urbe repetere. Apud Arabes, teste Plinio, Aeant est Sinus ille maris rubri a Graecis dictus Heroopoliticus, cui Urbs Heroum adjacet. Profecto Aeant ipsissimam esse Ethan, vix dubito.« On Jean Le Clerc in general see Annie Barnes: Jean Le Clerc (1657–1736) et la République des Lettres. Paris 1938; Samuel Golden: Jean Le Clerc. New York 1972; Jacques Le Brun: Jean Le Clerc. In: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die

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possible. Relying on the testimony of Strabo, Le Clerc suggests that at the point of the Israelites’ passage, namely at the northernmost tip of the Sinus Arabicus, the sea was no wider than two Roman miles – around 1.6 miles – and it was thus no major obstacle even for such a myriad of people to cross within just a few hours.64 Such conjectures were often the only alternative when all attempts at toponomy failed or offered a number of solutions. According to Calmet, the ć ĜĚĂ ąė ĜŮĂ ] could be interpreted in several different ways. term Pi-hahiroth [ĭī However, since this part of the sea must have been in the vicinity of the city of Heroum, Pi-hahiroth must have been located close to the Sinus Arabicus as well, since this was the only possibility as to where the Israelites could have crossed.65 Many scholars, however, felt somewhat hard-pressed about the idea that the Israelites could have completed their journey from Egypt to the banks of the Red Sea in just three days and were thus looking for plausible alternatives.66 But their classical sources often provided help. In his radical work, Reimarus had emphasized that »all ancient authors, just like the Jews, considered the Red Sea as the one which the Israelites crossed.«67 This, however, is not entirely true. Reland pointed out that many ancient authors defined the Red Sea not only in narrow terms as the Sinus Arabicus but much broader. Herodotus, for example, had divided all of the world’s ocean waters into three parts, namely the Mediterranean, the Atlantic, and the Red Sea, which he still separated from the Caspian Sea, and, even more drastically, Aristophanes had identified the Red

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Philosophie des 17. Jahrhunderts. Vol. 2.2: Frankreich und Niederlande. Ed. by Jean-Pierre Schobinger. Basel 1993, p. 1018–1024; Maria Cristina Pitassi: Entre croire et savoir: le problème de la méthode chez Jean Le Clerc. Leiden 1987; more specifically Henning Graf Reventlow: Bibelexegese als Aufklärung. Die Bibel im Denken des Johannes Clericus (1657–1736). In: Historische Kritik und biblischer Kanon in der deutschen Aufklärung. Ed. by Henning Graf Reventlow et al. Wiesbaden 1988, p. 1–19. Jean Le Clerc: Dissertatio de Maris Idumaei Trajectione. In: Joannis Clerici Commentarius in Mosis Prophetae Libros Quinque. Tübingen 1733, p. 614f.: »Primum est eum sinum qua desinit, arctissimum esse, ut omnes testantur, qui de eo egerunt; quod aliquot testimoniis firmare, cum res sit hoc in loco maximi momenti, supervacaneum non erit. Strabo Lib. II. p. 69. Ed. Gen. ਝȡ੺ȕȚȠȢ țંȜʌȠȢ ʌȠIJĮȝȠ૨ į઀țȘȞ ıIJİȞંȢ ਥıIJȚ țĮ੿ ȝĮțȡંȢ [...]. Haec circiter duobus milliaribus a se invicem distant.« Calmet (see note 53), p. 367: »Phihahirot, sive tantum Hirot, ut in Libro Numerorum, & apud Eusebium, & S. Hieronymum appellatur, situm habet variis diversorum conjecturis incertum. In Commentario nostro sententiam quorundam adduximus, qui confundendam censent cum urbe Heroum, ad extremam oram sinus Arabici, apud veteres Geographos notissima [...]. Ex pluribus autem Intinerariis [sic] constat, an extrama maris ora usque ad eum locum nullam patere viam exercitui deducendo, ut proinde Israelitae facile eo loci mare tranasse credendi sint.« Cf. Harenberg (see note 27), p. 190: »In drey Tagen, seit des Auszugs, kamen die Israeliten bis zum Meere, durch welches sie giengen. Wie? Läßt sich dieser Umstand auch einigermassen auf den arabischen Meerbusen ziehen? Zwischen Heracleopolis und dem Meerbusen hätten sie leicht drey Wochen zugebracht.« Cf. Reimarus (see note 8), p. 315: »[...] daß alle alte Profan-Scribenten, so wie die Juden selbst, das rothe Meer für dasjenige gehalten haben, wodurch die Israeliten gekommen seyn sollten [...].«

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Sea as the body of water surrounding the entire globe. Plutarch, on the other hand, had suggested that the gulf areas that are created by the Ocean’s erosion of landmass are »the Mediterraean, the Caspian Sea, and then IJȠઃȢ ʌİȡ੿ IJ੽Ȟ ਫȡȣșȡ੹Ȟ șȐȜĮIJIJĮȞ, namely all those bays that are in the area of the Red Sea, namely the Gulf of Arabia, Persia, and the Mouths of the Ganges which are all created when this large body of seawater hits the landmass.«68 The Hebrew text, on the other hand, could provide completely different leads. If, for example, the root ĦĘĤ is read as ĦżĤ and not as ĦţĤ, then this would furnish ĦĘĤĠĜnot with a physical quality, but a geographical one. The Red or Reed Sea would then be converted into a ਲ ș੺ȜĮııĮ ਲ ਥıȤ੺IJȘ or a mare posterius vel postremum [farthest or lowest sea],69 which could also be interpreted as a reference to the Mediterranean Sea,70 because it borders Egypt to the North. Such broad and loose definitions obviously provided early modern scholars with some level of flexibility when they were contemplating the exact route the fleeing Israelites had taken out of Egypt. It should thus not surprise us that not all of them were willing to settle for the geographical Red Sea as the body of water in question. To Johann Matthias Hase (1684–1742),71 professor of mathematics at the University of Wittenberg, for example, the Bible itself provided the essential clue for a correct identification of the sea in question. Hase points out that in Num 33. 7 the biblical text states that the Israelites »turned back to Pi-hahiroth [ĭī ć ĜĚĂ ąė ĜŮĂ ]« after they had left Etham.72 This means that the crossing must have occurred further north than many had generally assumed. For Hase a potential candidate of the biblical Red Sea is 68

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Reland (see note 40), p. 443–444: »Pari modo Aristophanes conjungit imperium maris rubri cum imperio totius telluris [...]. Herodotus lib. 1. circa finem, universum Oceanum praecipue in has tres partes dividit, Mediterraneum, Atlanticum & Rubrum, & hoc omne idem esse mare affirmat, contra ac Caspium quod cum alio non commiscetur [...]. Ita & Plutarchus, sinus, quibus Oceanus in terras irrumpit, descripturus in lib. de facie in orbe Lunae, unum ait esse mare Mediterraneum alterum sinum Caspium quem ex Oceano ducere originem credebant, & dein IJȠȣIJȠઃȢ ʌİȡ੿ IJ੹Ȟ [sic] ਩ȡȣșȡĮȞ șĮȜĮIJIJĮȞĮ, illos sinus, qui sunt circa mare rubrum, i.e. sinum Arabicum, Persicum, Cangeticum, & c. qui ex magno illo mari, terras ingresso, formantur.« Fuller (see note 41), p. 1069: »Tertius locus est I Reg. 9.26. illic enim ਲ ș੺Ȝ੺ııĮ ਲ İȤı੺IJȘ [sic] transferetur, quasi ʳʥʱ Soph pro ʳʥʱ Souph legerit Interpres, aut certe legendum putarit; & tanquam perinde valeat ʳʥʱ ʭʩ atque ʯʥʸʧʠ ʭʩʤ , i. ਲ ș੺ȜĮııĮ ਲ ਥıȤ੺IJȘ, mare posterius vel postremum.« Ibid., p. 1070: »siquidem ਲ ș੺ȜĮııĮ ਲ ਥıȤ੺IJȘ Mare extremum, h.e. in extremitate positum, utrique ex aequo convenit, tam mari Mediterraneo quam rubro: quippe duabis hisce extremitatibus (quod quidem ad Orum & Occasum attinet) terram Israeliticam inclusit Dominus Exod. 23.31.« See Ratzel: Hasius, Johann Matthias. In: Allgemeine Deutsche Biographie 10 (1879), p. 748f. Johann Matthias Hase: Regni Davidici et Salomonaei Descriptio Geographica et Historica una cum Deineatione Syriae et Aegypti [...]. Nürnberg 1739, p. 198f.: »Phi Hachiroth, fauces Chirotharum reddunt, & Junio placent plane fauces montium. Enimvero vocem Phi ostium, vel exitum, aut fauces etiam canalium vel fretorum norare posse, nemo non videt. Sane inde sunt conjecturae nostrae superius allatae de Phibeseth & Phacusa.«

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Lake Sirbonis, located close to the shores of the Mediterranean Sea. Basing his hypothesis on the work of the eccentric philologist from Helmstedt Hermann van der Hardt (1660–1746),73 Hase suggests that the Greek ıȚȡȕȦȞ઀Ȣ must simply be just a graecized form of the Hebrew ĦĘĤ. According to Hase, it was fairly common in Greek to interpolate an additional letter for phonetic reasons, as was the case in Sesostris and Sesosis, Bactra and Balch, or Tartar and Tatar.74 But support for Hase’s theory of Lake Sirbonis came also from elsewhere. In his Bibliotheca Historica, the ancient historian Diodorus Siculus pointed out that Lake Sirbonis »brings upon those who approach it in ignorance unexpected dangers.«75 Since the lake is surrounded by sandy dunes and the wind blows constantly sand over it, the surface of the lake becomes indistinguishable from solid land. According to Diodorus, this had led to the drowning of numerous people. The mixing of sand, water, and soil has turned the consistency of the lake into a marshy and slimy mass, which makes an escape for those who have been trapped virtually impossible.76 Naturally, as Hase’s analysis implies, this could also have happened to the pharaoh and his army when they were pursuing the Israelites. Still, what certainly perplexed some early modern scholars was that Moses and his flock set up camp at Etham, but ended up in the wilderness of Etham again after the crossing had already taken place. Also, how could the Israelites have witnessed the dead bodies of the Egyptians lying on the shore, as it is

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On van der Hardt in general see Deutsches Biographisches Archiv 473, p. 165–328; also Ralph Häfner: Tempelritus und Textkommentar. Hermann von der Hardts ›Morgenröte über der Stadt Chebron.‹ Zur Eigenart des literaturkritischen Kommentars im frühen 18. Jahrhundert. In: Scientia Poetica 3 (1999), p. 47–71; Ralph Häfner: ›Denn wie das buch ist, muß der leser seyn‹ – Allegorese und Mythopoiesis in den Hohen und hellen Sinnbildern Jonae des Helmstedter Gelehrten Hermann von der Hardt. In: Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter des Konfessionalismus. Ed by Herbert Jaumann. Wiesbaden 2001, p. 183–201; Martin Mulsow: Sintflut und Gedächtnis: Hermann von der Hardt und Nicholas-Antoine Boulanger. In: Sintflut und Gedächtnis. Ed. by Jan Assmann et al. Munich 2006, p. 131–161. Hase (see note 72), p. 203: »Nam cum [Hardtius] a Graeco ıȚȡȕȦȞ઀Ȣ Suph petat, ex sua hypothesi scilicet nimis ab omni verisimilitudine abhorrenti, quod omnia promiscu vocabula Hebraea ex Graecia ortum suum repetant. Nobis contra videtur ex Hebraeo Suph a Graecis factum esse Surph, Sirbo, Sirbonis, interposita litera r. Cujus generis interpositionum a Graecis pro rotunditate oris sui, affectata maximam partem, exampla numero plurima occurrunt: Sesostris pro Sesosis, Sethosis, Bactra pro Balch, Tigris pro Degilat, Hiddekel, nec apud nostros inusitata sunt, qui Carton pro Coton, Spalatro pro Aspalathum, Tartar pro Tatar & c. dicunt.« Diodorus Siculus: Bibliotheca Historica I, 30.4: »[...] ʌȡȠıĮȖȠȡİ઄İIJĮȚ ȝ੻Ȟ ȈİȡȕȦȞ઀Ȣ, IJȠ૙Ȣ į’ਕʌİ઀ȡȠȚȢ IJ૵Ȟ ʌȡȠıʌİȜĮȗંȞIJȦȞ ਕȞİȜʌ઀ıIJȠȣȢ ਥʌȚij੼ȡİȚ țȚȞį઄ȞȠȣȢ.« Ibidem, I, 30.5–9: »ıIJİȞȠ૨ Ȗ੹ȡ IJȠ૨ ૧İ઄ȝĮIJȠȢ ੕ȞIJȠȢ țĮ੿ IJĮȚȞ઀઺ ʌĮȡĮȠȜȘı઀Ƞȣ, șȚȞ૵Ȟ IJİ ȝİȖ੺ȦȞ ʌ੺ȞIJૉ ʌİȡȚțİȤȣȝ੼ȞȦȞ, ਥʌİȚį੹Ȟ ȞંIJȠȚ ıȣȞİȤİ૙Ȣ ʌȞİ઄ıȦıȚȞ ਥʌȚıİ઀İIJĮȚ ʌȜોșȠȢ ਚȝȝȠȣ. Į੢IJȘ į੻ IJઁ ȝ੻Ȟ ੢įȦȡ țĮIJ੹ IJ੽Ȟ ਥʌȚij੺ȞİȚĮȞ ਙıȘȝȠȞ ʌȠȚİ૙, IJઁȞ į੻ IJોȢ Ȝ઀ȝȞȘȢ IJ઄ʌȠȞ ıȣȝijȣો IJૌ Ȥ੼ȡı૳ țĮ੿ țĮIJ੹ ʌ઼Ȟ ਕįȚ੺ȖȞȦıIJȠȞ. įȚઁ țĮ੿ ʌȠȜȜȠ੿ IJ૵Ȟ ਕȖȞȠȠ઄ȞIJȦȞ IJ੽Ȟ ੁįȚંIJȘIJĮ IJȠ૨ IJંʌȠȣ ȝİIJ੹ ıIJȡĮIJİȣȝ੺IJȦȞ ੖ȜȦȞ ਱ijĮȞ઀ıșȘıĮȞ IJોȢ ਫ਼ʌȠțİȚȝ੼ȞȘȢ ੒įȠ૨ įȚĮȝĮȡIJંȞIJİȢ [...]. ੒ Ȗ੹ȡ ਫ਼ʌઁ IJȠ૨ IJ੼ȜȝĮIJȠȢ țĮIJĮʌȚȞંȝİȞȠȢ Ƞ੡IJİ Ȟ੾ȤİıșĮȚ į઄ȞĮIJĮȚ, ʌĮȡĮȚȡȠȣȝ੼ȞȘȢ IJોȢ ੁȜ઄ȠȢ IJ੽Ȟ IJȠ૨ ıઆȝĮIJȠȢ ț઀ȞȘıȚȞ [...].«

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stated in the Bible,77 if they had already successfully crossed over to the other side?78 This led Hugo Grotius (1583–1645), for example, to suggest that the route of the crossing must have been something remotely similar to a semicircle.79 Grotius, however, was only reiterating what others had proposed already decades earlier. The aforementioned Paul Fagius, for example, pointed out that the Jews have brought forth arguments from which they conclude that the sons of Israel did not cross into the innermost part of the sea, but, after having entered it only to a certain point in a semicircle, they returned to the same shore.80

As the passage might already indicate, Fagius was referring to the works of Jewish sages such as Ibn Ezra’s Exodus commentary or Hezekiah ben Manoah’s commentary on the Pentateuch.81 Such questions and the broad sources early modern scholars adduced to tackle and solve them provide only a glimpse of the demands biblical scholarship required. Looking at Reimarus’s radical work and the sources that were available to him, it becomes clear that he was aware of such debates and took them into account when he was confronting the biblical text. Although Lessing’s published excerpt, for the most part, leaves out Reimarus’s discussion of toponomy, the finished version of his Apology proves that he engaged with the problem of historical geography. There, we encounter Reimarus not only mocking the desperate attempt of Jean Le Clerc to help the Israelites across the Red Sea,82 but we also catch a glimpse of him as an able philologist and Hebraist, evaluating classical sources and utilizing them to his advantage. Just like many of the sages of the sixteenth and seventeenth centuries, Reimarus uses the meaning of the Hebrew text as his starting point. Most likely, he observes, the term ĦĘĤĠĜ derived its name from the reed, shrubs, and weed that grew in abundance in that particular body of water, as the French biblical 77 78

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Ex 14.30: »Israel saw the Egyptians dead on the shore of the sea.« See, for example, Johannes Osiander: Commentarii in Pentateuchum pars secunda. Sive Commentarius in Exodum [...]. Tübingen 1677, p. 138: »Ratio eorum est, Primo, quod non videantur tam paucis horis Israelitae potuisse in oppositam ripam pertingere. Secundo, quod Israelitae post Maris rubri transitum viderint Aegyptiorum cadavera in littore; solet autem mare cadavera ejicere ad littus propinquius [...].« See Grotius’s remarks on Ex 15.22 in his Annotationes ad Vetus Testamentum [1644], in: Hugonis Grotii Opera Omnia. London 1679, tomus i, p. 32: »Per medium sicci maris] Semicirculo in mari facto: non a littore ad littus oppositum.« Fagius in: Critici Sacri (see note 12), tomus i, pars i, p. 279: »Habent quoque Hebraei & alia argumenta quibus colligunt filios Israël non penitus trajecisse mare, sed tantum aliquousque per modum semicirculi ingressos, rediisse ad idem littus.« Ibid., p. 279: »R. Hizkuni super hunc locum scribit ʩʰʡ ʥʸʡʲˇ ʠʬ ʭʩʤ ʪʥʺʡ ʬʠʸˇʩ ʩʰʡ ʥʠʡʩʥ ʥʱʰʫʰˇ ʪʩʸʶ ʤʩʤ ʠʬ ʠʬʠ ʯʲʰʫ ʵʸʠ ʯʩʡʥ ʭʩʸʶʮ ʵʸʠ ʯʩʡ ʷʩʱʫʮ ʭʩʤ ʯʩʠˇ ʲʥʣʩ ʩʫ ʥʡʧʸ ʪʸʣ ʭʩʤ ʺʠ ʬʠʸˇʩ ʭʩʤ ʯʮ ʲʡʨʩʥ ʭʤʩʸʧʠ ʤʲʸʴ ʱʰʫˇ ʩʣʫ ʷʸ ʤʡ .« Reimarus (see note 8), p. 326: »Es ist hier bey Clerico nicht Unbedachtsamkeit, nicht Unwissenheit, Unbelesenheit und dergleichen, Ursache an der mangelhaften und verkehrten Vorstellung, sondern eine grobe Partheylichkeit. Konnte aber wohl was elenderes von einem sonst geschickten Manne zur Rettung des Israelitischen Durchganges vorgebracht werden?«

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scholar Samuel Bochart (1599–1667),83 for example, had noted in his Geographia Sacra.84 Bochart, in return, had based his conclusion on a passage in the work of the ancient grammarian Hesychius, who had qualified as Polymnia a sea »ਲ ʌȠȜઃ ijȣț઀ȠȞ ਩ȤȠȣıĮ« [a sea that contains much sea-weed].85 Alternatively, the name Suph could also be a reference to a city or town in the vicinity of the sea such as Heroum, probably modern day Suez, as Reimarus suggests. Since, however, Strabo had recorded that the distance between the ancient city of Pelusium and the Isthmus of Suez was around a three to four days’ journey, the trip of the Israelites from Rameses to Pi-hahiroth must have taken much longer.86 Therefore, Reimarus concludes, several scholars have acknowledged the impossibility of the crossing of the geographical Red Sea and have thus looked for alternative explanations: Recently, some who have recognized the impossibility of the crossing of the Red Sea and so they have proposed, alternatively, Lacum Sirbonis, which is separated from the Mediterranean Sea by a small stretch of land and whose opening (Ekregma) to the Mediterranean is in the West. Accordingly, [these scholars] believe that the Israelites, whose gathering place was not far from the royal residence of Zoan or Tanis at Ramses, which is the city Heracleotis parva, crossed the Ekregma or the lake’s opening to the Mediterranean Sea to the small stretch of land and only then turned towards the Arabian Desert.87

Citing explicitly Hermann van der Hardt, Johann Matthias Hase, and Johann Christoph Harenberg, Reimarus points out that this scenario, which these scholars suggest, could under no circumstances have occurred. If the Israelites

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On Bochart cf. Zur Shalev (see note 28), p. 154–217. Reimarus (see note 8), p. 314: »Es ist also dasselbige Meer, was beym Mose und in den Psalmen Jam Suph genannt wird [...]. Unterdessen ist doch auch wahr, und von vielen erwiesen, daß an diesem Meere und auf dessen Boden viel Schilf und Grünigkeit wächst.« Bochart writes: »Hinc obiter collige, cur Mare Rubrum seu Sinum Arabicum Hebraei ʭʩ ʳʥʱ, id est, mare algosum, appellent: nempe ab algae copia, cujus aggeres ad littora coacervati praebent accolis aedium usum. Graece ʌȠȜȣȝȞ઀ĮȞ dixeris. Hesychius; ȆȠȜȣȝȞ઀Į, ਲ ș੺ȜĮııĮ ਲ ʌȠȜઃ ijȣț઀ȠȞ ਩ȤȠȣıĮ; Polymnia, mare, quod multam algam habet.« See Samuel Bochart: Geographia Sacra, seu Phaleg et Canaan [...]. Leiden 1692, p. 283. Reimarus (see note 8), p. 316: »Wir mögen und demnach winden und drehen wie wir wollen, so müssen wir doch an den Durchgang durchs Rothe Meer. Strabo giebt den Abstand des Isthmi zwischen Pelusium und dem rothen Meer an von 3 bis 4 Tagereisen. Das träfe noch ziemlich mit dem Zuge der Israeliten, von Raemses bis gen Suchot, von Suchot bis gen Etham, von Etham bis gen Pihachirot, überein; aber der Zug eines gantzen Volks mit vielem Vieh und Packwagen müste doch viel länger als drey Tagereisen bis an die Zunge des Rothen Meeres gedauret haben.« Reimarus (see note 8), p. 312f.: »Denn es sind in neueren Zeiten einige gewesen, welche die Unmöglichkeit des Durchgangs durchs rohte Meer wohl eingesehen, und statt dessen den Lacum Sirbonis angegeben haben, welcher von dem Mittelländischen Meere nur durch eine schmale Erdzunge abgesondert war, und seinen Ausbruch (Ecregma) in das Mittelländische Meer am westlichen Ende hatte. Sie meynen demnach, die Israeliten, welche ihre Versammlung nicht weit von der königlichen Residentz Zoan oder Tanis zu Raemses, d.i. in der Stadt Heracleotis parva gehabt, wären über das Ecregma, oder den Durchbruch des Sirbonischen Sees ins Mittelländische Meer zu dem schmalen Landstrich übergegangen, und hätten sich hernach erst zu der arabischen Wüste gewandt.«

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had taken this alternative route, they would not only have risked a confrontation with the powerful and belligerent Philistines but they would also have become victims of the lake’s treacherous accumulation of sand. To bolster his argument, Reimarus not only adduces the already mentioned description of Lake Sirbonis by Diodorus Siculus,88 but he also utilizes Strabo,89 who had provided what must have seemed to Reimarus a fairly accurate description of this stretch of land to the north, between the Philistine city of Gaza in the East and Lake Sirbonis to the West.90 But even the printed version of the Apology provides only hints at the role philology and classical sources played in Reimarus attack on the Bible and how meticulously he had dissected the entire episode. More substantial evidence can be found among the Reimarus papers in the archives in Hamburg. Among them are a few loose sheets with notes from an eclectic range of sources. They have been lumped together under the title Auszüge aus der Literatur und wissenschaftliche Notizen [Excerpts from Literature and Scholarly Notes].91 One of these unnumbered sheets contains the Hebrew term ĦĘĤ ĠĜ, followed by a number of a few bibliographic citations. The works listed include Olof Celsius’s Hierobotanicon (1745–1747), Henry Justel’s Recueil De Divers Voyages Faits En Afrique et En l'Amerique (1674), and Paul Ernst Jablonski’s Pantheon Aegyptiorum (1750). The page numbers which Reimarus had noted down lead all to passages that are dealing with the vegetation of the Red Sea region in general and the meaning of ĦĘĤ in particular. The segment Reimarus had selected from Jablonski, for example, discusses the various Egyptian deities and cults associated with the Nile. From the pages of Jablonski, for example, the 88

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See note 75; Reimarus (see note 8), p. 315: »Dagegen Diodorus an einem andern Orte den Sirbonischen See nicht allein als entsetzlich tief, sondern auch die Gegend umher, als eine sumpfige Wüste beschreibt, welche nur obenhin mit etwas Sand bedeckt sey, so daß wer sich einmal dadurch verleiten lassen hinein zu gehen, nohtwendig darin versinken müste [...]. Die Israeliten hätten so wenig als Pharao, mit ihren vielen Wagen, in die Tieffe des Grundes über das Ecregma hinunter, und die Israeliten and das gegenseitige steile Ufer wieder hinan fahren können: und wenn diese denn doch am Ende des schmalen Erdstrichs hätten wieder vor den Philistern umkehren wollen, so würden sie in die sumpfigte Wüste an der mittägigen Seite des Sirbonischen Sees, d.i. nach Diodori Beschreibung, in die Barathra gerahten und sämtlich versunken seyn.« Strabo: Geographica 16.2,32: »ȀĮ੿ Į੝IJ੽ ȝ੻Ȟ Ƞ੣Ȟ ਲ ਕʌઁ īȐȗȘȢ Ȝȣʌȡ੹ ʌ઼ıĮ țĮ੿ ਕȝȝȫįȘȢ· ਩IJȚ į੻ ȝ઼ȜȜȠȞ IJȠȚĮȪIJȘ ਲ ਥijİȟોȢ ਫ਼ʌİȡțİȚ- ȝȑȞȘ, ਩ȤȠȣıĮ IJ੽Ȟ ȈȚȡȕȦȞȓįĮ ȜȓȝȞȘȞ ʌĮȡȐȜȜȘȜȩȞ ʌȦȢ IJૌ șĮȜȐIJIJૉ ȝȚțȡ੹Ȟ įȓȠįȠȞ ਕʌȠȜİȓʌȠȣıĮȞ ȝİIJĮȟઃ ȝȑȤȡȚ IJȠ૨ ਥțȡȒȖȝĮIJȠȢ țĮȜȠȣȝȑȞȠȣ, ȝોțȠȢ ੖ıȠȞ įȚĮțȠıȓȦȞ ıIJĮįȓȦȞ, ʌȜȐIJȠȢ į੻ IJઁ ȝȑȖȚıIJȠȞ ʌİȞIJȒțȠȞIJĮ IJઁ į’ ਩țȡȘȖȝĮ ıȣȖțȑȤȦıIJĮȚ. İੇIJĮ ıȣȞİȤ੽Ȣ ਙȜȜȘ IJȠȚĮȪIJȘ ਲ ਥʌ੿ IJઁ ȀȐıȚȠȞ, țਕțİ૙șİȞ ਥʌ੿ IJઁ ȆȘȜȠȪıȚȠȞ.« Reimarus (see note 8), p. 313: »Daraus ist sonnenklar, daß der Geschichtschreiber durch das Schilfmeer oder Jam Suph nicht den Lacum Sirbonis gemeynt habe. Denn der Durchgang über dessen Ausbruch ins Mittelländische Meer würde sie gerades Weges auf den schmalen Landstrich, welcher auf die äusserste Stadt der Philister, Gaza, zugeht, gebracht haben. So führt uns Strabo rückwerts von Gaza, über den schmalen Landstrich, bis an das Ecgregma oder den Ausbruch des Sirbonischen Sees. Folglich wandte sich das Volk von diesem Wege, und zugleich vom Lacus Sirbonis weg.« Staatsarchiv Hamburg (StA HH), Reimarus Nachlaß, 622:1, A 7, Auszüge aus der Literatur und wissenschaftliche Notizen.

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reader learns that the Ethiopians called the Nile Siris, which eventually was also adopted by the Egyptians, most likely due to commercial relations with the former. However, Jablonski notes, Theophrastus in his Historia plantarum reported that the Egyptians knew a particular kind of rush, which grew in the water and which they called Sari. Since this Sari grew in abundance in the Red Sea region, the Copts called it Mare Sari. From this Jablonski concludes that the Hebrew ĦĘĤ is just another term for Sari, from which the name ĦĘĤ ĠĜ originated.92 Most likely – this is at least what their content suggests – these sheets are part of the larger project of Reimarus radical work. They provide us with important clues about how Reimarus orchestrated his meticulous attack against revelation. The published edition of the Apology conveys the impression that Reimarus divided his work into two parts, one part about the Old Testament, the other part about the New Testament. Although this is, for the most part, true, it does not fully capture Reimarus’s approach. It seems, in fact, very plausible that Reimarus also had a certain spectrum of subtopics in mind, which were the essential components of each biblical episode. Reimarus must have considered these topics essential for understanding a certain passage or event. He basically broke down episodes into manageable parts – one could almost call these portions ›clippings‹ – examined each one of these parts individually, and then, after completing his ›dissection‹, zoomed out again to evaluate the entire biblical event based on his findings. Obviously, his final judgment is almost always the same: the episode as recorded in the Bible is implausible and anything based on it – Christian doctrine, for the most part – worthless. This process then involves different stages: breaking down an episode into smaller parts, accumulating a bibliography for each part, and then evaluating each part based on the information available. With regards to the Exodus episode, the topics Reimarus must have had in mind were the multitude of the people who were involved but also about the meaning of the ĦĘĤ ĠĜ, its nature and location.93 The notes that I have discussed earlier are then part of this

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Paul Ernst Iablonski: Pantheon Aegyptorum sive de Diis eorum Commentarius. Frankfurt 1750, lib. vi, p. 150f.: »Quandoquidem asserui, ex testimonio veterum omnium, nomen Siris, Nilo impositum, ex Aethiopum lingua arcessendum esse, dubius mecum ancepsque haereo, ausimne illius originationem lectori ex lingua Aegyptiorum petitam offerre [...] Venit igitur mihi aliquando in mentem, posse nomen hoc derivari a voce Sari, quae in Aegyptiorum dialecto reperitur, et cuius etiam antiqui meminerunt. Est autem aliqua iunci species, olim in Aegypto sic nominata. De ea THEOPHRASTUS, histor. Plantar. Lib. IV. cap. IX. ubi Papyrum, idque, quod vocant SARI, coniungit. De Sari vero sigillatim, ibidem haec addit: SARI in aqua provenit, circa paludes, inque campis, quos Nilus recedens dereliquit [...]. Ab eadem Copti Sitium maris Arabici, quem vulgo mare rubrum vocant, dixerunt [...] Mare Sari, id est iunceum, quemadmodum Hebraei, ab Aegyptiis edocti, mare idem simili nomine ʳʥʱ ʭʩ, mare iunceum appellant. Nam mare hoc magna iunci, sive Sareos copia abundat. Quemadmodum vero mare illud, a iunco, et apud Aegyptios, et apud Hebraeos, nomen traxisse certum est [...].« Another group of bibliographical resources, for example, focuses on the ›manna‹. It includes references to Diodorus Siculus, Johann David Michaelis, and Matthaeus Hiller’s

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bibliography, which, in almost every case, would include many classical and rabbinical sources, travel accounts, as well as scientific and philosophical works. This information then is worked into the Apology, where it becomes submerged into the text and virtually invisible to the reader.94 Unfortunately, this tremendous amount of learning remained also invisible to both Lessing and his opponents during the fragment controversy. Under these circumstances, however, it still seems quite telling that Lessing remarked that, although »these objections were nothing new, they had never been made so meticulously, thoroughly, with all possible refutations already in mind.«95 Hardly any of the respondents, however, seemed to grasp the meticulousness the fragmentist had utilized when he dismantled the Exodus episode. In fact, some of them such as Johann Heinrich Daniel Moldenhawer (1709–1790) even faulted him for having read his sources uncritically or for not having understood them properly.96 Most of the respondents focused entirely on the problem of a multitude of people crossing within a short period of time, without even touching upon the larger philological questions involved. One of the few exceptions was a treatise by Gottlob Heinrich Richter (1718–1796), a fairly unknown and insignificant science teacher from Grimma, who more or less conceded that the crossing could not have happened at the geographical Red Sea, thereby making much of Reimarus’s argument his own.97 His investigation leads Richter to conclude that the body of water in question must have been Lake Sirbonis. According to Richter, the term ĦĘĤĠĜ referred not only to the lake’s abundance of vegetation but also to its geographical location. As several savants from earlier periods had noted, the ĦĘĤ could also be interpreted as Soph, ›end‹. Richter points out that this was most likely a reference to the location of Lake Sirbonis on the edge of the Egyptian territory.

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Onomasticum Sacrum (1706), which underlines the importance philology played for Reimarus. Martin Mulsow has made a similar observation in his From Antiquarianism to Bible Criticism? Young Reimarus visits the Netherlands. In: Between Philology and Radical Enlightenment: Hermann Samuel Reimarus. Ed. by Martin Mulsow. New York, forthcoming. FA 8, p. 324 (Gegensätze des Herausgebers): »Der Einwurf des dritten Fragments ist schon oft gemacht, und oft beantwortet worden. Aber wie ist er beides? Sicherlich ist er noch nie so gründlich, so ausführlich, allen Ausflüchten so vorbeugend gemacht worden, als hier.« Johann Heinrich Daniel Moldenhawer: Prüfung des dritten Fragments aus der Wolfenbüttelschen Bibliothek von dem Durchgange der Israeliten durch das rothe Meer. Hamburg 1779, p. 19, n. 50: »Ob sich gleich der Verfaßer das Ansehen eines großen Weltweisen giebet, so hat er doch bey den Zeugnissen, die er anführet, und bey den Folgen, welche er aus denselben ziehet, alles philosophische Nachdenken bey Seite gesetzet.« Gottlob Heinrich Richter: Geographische Untersuchung ob das Meer durch welches die Israeliten bey ihrem Auszug aus Aegypten gegangen der arabische Meerbusen gewesen sey? Leipzig 1778, p. 39: »Es bleibt nichs übrig, als daß das im Text angeführte ʳʥʱ ʭʩ , dem Moses gegen über seine Stellung genommen hatte, ein Meer von einer ganz andern Lage gewesen seyn müsste. [...] [S]ey es genug gezeiget zu haben, daß unter dem im Hebräischen so genannten ʳʥʱ [...] der arabische Meerbusen nicht gemeynet seyn könne.«

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It would be wrong to dismiss such debates as relics from a time, when biblical archeology had not yet emerged, and the deciphering of hieroglyphics and the development of Comparative Semitics still lay in the future. In the past few decades, a number of publications by reputable biblical scholars have appeared that still ask fairly similar questions as the sages from those days long gone bye. Recently, the distinguished Egyptologist Kenneth Kitchen pointed out that he had come across what he termed a »dramatic alternative« interpretation of the term ĦĘĤ , which suggested that a correct translation would not be »Red/Reed Sea,« but »sea of the End.«98 Obviously, Kitchen was unaware that answers not only await discovery under Egyptian sand but are also buried in the writings of early modern sages.

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Kenneth A. Kitchen: On the Reliability of the Old Testament. Grand Rapids 2003, p. 262.

Christof Landmesser

»Elementarbuch« oder »Kanon« Lessings Deutung des Neuen Testaments

Lessing war nicht frei in seiner Deutung des Neuen Testaments. Verschiedene Pole des Diskurses prägten seine Stellungnahmen zu diesem Grundtext der christlichen Tradition, die allein durch ihre Vorgabe der Themen die spezifische Perspektive Lessings mit konfigurierten. Lutherische Orthodoxie und Deismus bestimmten wesentlich die Fragen des Wolfenbüttler Aufklärers; Goeze und der Ungenannte provozierten seine Stellungnahmen in den vielen Gelegenheitsschriften, in denen sich Spuren seiner Deutung des Neuen Testamens finden. Und zu alledem trübt auch Lessings Streit mit dem Hallenser Semler zuweilen eine klare Sicht auf die Konturen seiner Einschätzung des Neuen Testaments, ist doch diese Auseinandersetzung auf einen ersten Blick zumindest nicht leicht nachvollziehbar, wenn man von beiden der Aufklärung verpflichteten Gelehrten eine historisch-kritische, freie und vernünftige Interpretation dieser Urkunde des Christentums erwarten möchte. – Wie auch immer, es müssen die Positionen, zwischen denen sich Lessing bewegt, rasch sortiert werden, um die erkennbaren Abgrenzungen und Einsichten nachvollziehbar zu machen.

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Hinweise zum Kontext der Überlegungen Lessings

1.1 Zum Schriftverständnis der lutherischen Orthodoxie und des Hamburger Hauptpastors Die gängige kirchliche Schriftauslegung bewegte sich zur Zeit Lessings im Wesentlichen in dem Rahmen, den die altprotestantische Orthodoxie im 17. Jahrhundert formuliert hatte.1 War es für Martin Luther und Philipp Melanchthon ein weiteres Jahrhundert zuvor entscheidend, den direkten Zugang zu den biblischen Texten in ihrer Ursprache und die dazu erforderliche Ausbildung für die Theologen zu fordern, so bekommen damit die biblischen Schriften ein gegenüber der kirchlichen Tradition immer größeres Gewicht. Die damit ver1

Zur altprotestantischen Orthodoxie vgl. Johannes Wallmann: Art. ›Orthodoxie II. Christentum, 2. Historisch a) Lutherische Orthodoxie.‹ In: RGG4 6 (2003), Sp. 696–702, hier Sp. 698–700.

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bundenen Einsichten in die Bedeutung der Schrift, in der das Wort Gottes aufzuweisen sei, wurden im Raum der protestantischen Kirche aufgenommen und signifikant transformiert. Die Heilige Schrift wurde zu einer Größe, der insgesamt eine göttliche Autorität (auctoritas) zugesprochen wurde. Sie habe Vollkommenheit und Hinlänglichkeit (perfectio seu sufficientia), sie habe vollständige Klarheit (perspicuitas) und ebenso die notwendige Wirksamkeit (efficacia). Gott selbst sei ihr Urheber (causa principalis), die Verfasser der Schriften, also die Propheten und die Apostel seien nur dessen Werkzeuge (causa instrumentalis). Die Schriften rücken so in eine große Nähe zu Gott selbst,2 eine inhaltliche Distanzierung der von Aposteln und Evangelisten verfassten Texte vom Wort Gottes, wie sie in der Aufklärung später behauptet werden sollte, ist bei einem solchen Zugang zur Schrift nicht denkbar. Gewiss seien die Autoren auch der neutestamentlichen Schriften Menschen, die nicht in eigener Autorität das Wort Gottes vermitteln könnten. Genau an dieser Stelle hat das Motiv der Inspiration seinen Ort, mittels derer Gott auf seine menschlichen Werkzeuge eingewirkt habe. Die den Schriften unterstellte Verbalinspiration wurde zum Garanten der Wahrheit der biblischen Texte, aus denen fortan die Glaubenswahrheiten der lutherischen Orthodoxie deduziert werden konnten. Für Goeze ist es in der Auseinandersetzung mit Lessing dann auch entscheidend,3 dass die ganze Bibel von Gott eingegeben sei, weshalb man diese in allen ihren Teilen für unfehlbar halten müsse,4 – das sei »nicht Hypothese, sondern unwidersprechliche Wahrheit«.5 Goeze macht hier auf ein tatsächlich schwieriges Problem aufmerksam. Wollte man innerhalb der biblischen Texte nachvollziehbar unterscheiden zwischen anerkannt inspirierten Passagen und solchen, die nur möglicherweise von Gott eingegeben worden seien, dann müsste nicht nur rhetorisch gefragt werden: »Wer soll bei der Bibel fest setzen, was darin unfehlbar ist, und zu dem Wesentlichen oder Mehrern gehört?«6 Wird unterstellt, dass in der Bibel ›Wesentliches‹ und ›Mehrers‹ zu unterscheiden seien, dann kommt sofort die Frage nach den Kriterien der Unterscheidung und nach der Autorität der Interpreten auf. Diese verunsichernde Frage erübrige sich, wenn die ganze Bibel als

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Vgl. dazu mit Belegen Heinrich Schmid: Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche dargestellt und aus den Quellen belegt. Neu hg. und durchgesehen von Horst Georg Pöhlmann. Gütersloh 11979, 111990, S. 40–47. Zur Auseinandersetzung zwischen Goeze und Lessing vgl. Gerhard Freund: Theologie im Widerspruch. Die Lessing-Goeze-Kontroverse. Stuttgart 1989. Mit einer erfolgreichen Bestreitung der Verbalinspiration fiele tatsächlich die Argumentation Goezes in sich zusammen (so mit Recht Ernst-Peter Wieckenberg: Johan Melchior Goeze [Hamburger Köpfe]. Hamburg 2007, S. 192). Johann M. Goeze: Etwas Vorläufiges gegen des Herrn Hofrats Lessings mittelbare und unmittelbare feindselige Angriffe auf unsere allerheiligstes Religion, und auf den einigen Lehrgrund derselben, die Heilige Schrift. In: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Wilfried Barner u. a. Frankfurt am Main 1985–2003 (im Folgenden zitiert als FA für ›Frankfurter Ausgabe‹ mit Band- und Seitenzahl), Bd. 9, S. 11–37, hier S. 15. Goeze (s. Anm. 5), S. 15f.

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inspiriert angesehen werde, und Goeze zitiert nun alle möglichen Schriftstellen, um dies – scheinbar gut lutherisch – auch zu belegen.7 Offensichtlich meint Goeze, dem grundlegenden Problem einer differierenden und so die Glaubenden irritierenden Interpretation der Schrift zu entgehen. Dies kann er nur vor dem Hintergrund einer nicht ausdrücklich gemachten weiteren Voraussetzung unterstellen. Auch wenn alles in der Schrift inspiriert wäre, könnten ja durchaus unterschiedliche Interpretationen entstehen. Das ist nur dann nicht möglich, wenn die Schrift in allen ihre Aussagen klar und eindeutig wäre. Goeze unterstellt also einen klaren und eindeutigen Literalsinn der biblischen Texte, der Interpretationsvarianten bei gutem Willen gar nicht möglich macht. Das ist die Voraussetzung, um die in der Bibel enthaltenen und für den Glauben wesentlichen assertiones zu identifizieren und zur Grundlage der Lehre der Kirche zu machen.8

1.2 Das vernünftige Christentum des Ungenannten (Hermann Samuel Reimarus) Von außen betrachtet machen sich die Anhänger der lutherischen Orthodoxie von sekundären Autoritäten abhängig. Dem setzt Reimarus die Forderung eines Christentums entgegen, das sich »an die gesunde Vernunft in der Erkenntnis und Verehrung Gottes halten [wolle]«.9 Er beobachtet, dass die Theologen »die Vernunft und vernünftige Religion durch den Glauben verdrängen und ersticken«.10 Damit werde der mit Vernunft ausgestattete Mensch wesentlich verkannt. Eine entscheidende Folge der Vernunftbegabtheit des Menschen ist für Reimarus, »daß eine Offenbarung, so alle Menschen auf eine gegründete Art glauben könnten, eine unmögliche Sache sei«.11 Es gibt keine Offenbarung. Vielmehr gibt es eine der Vernunft zugängliche natürliche Religion,12 die identisch sei mit der »reine[n] Lehre Christi, welche aus seinem eigenen Munde geflossen ist, so fern dieselbe nicht besonders in das Judentum einschlägt,

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Goeze (s. Anm. 5), S. 16, nennt Joh 5,39, wo Jesus darauf hinweist, dass die Schrift von ihm zeuge. Ebenso nennt er 2 Tim 3,16, wo – seiner Meinung nach – Paulus notiere, dass die ganze Schrift von Gott eingegeben worden sei (ʌ઼ıĮ ȖȡĮij੽ șİંʌȞİȣıIJȠȢ). Zuletzt erinnert er an 2 Petr 1,19, wo davon die Rede ist, dass die Gemeinde sich auf das prophetische Wort sicher verlassen könne. Ein schon bei Martin Luther erkennbares hermeneutisches Problembewusstsein, das er etwa in seiner Streitschrift gegen Erasmus von Rotterdam mit dem Motiv der claritas scripturae entfaltet, ist bei Goeze nicht zu finden (vgl. Martin Luther: De servo arbitrio [1525]. In: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 18. Weimar 1883ff., S. 597–787). FA 8, S. 115–134, hier S. 116. FA 8, S. 175–188, hier S. 178. FA 8, S. 189–236, hier S. 189 (im Original kursiv). FA 8, S. 116.

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sondern allgemein werden kann«.13 Die Identität dieser natürlichen Religion mit der Lehre Christi ist durch die Vernunft gewährleistet, die zum einen durch den Satz der Identität und zum anderen durch den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch, also durch die Grundlagen der Aussagenlogik gekennzeichnet ist.14 Genau aufgrund einer so bestimmten Vernünftigkeit der natürlichen Religion wie der Lehre Christi können religiöse Sätze auch kritisiert werden, denn es gilt grundsätzlich: »Vernunftschlüsse und Gründe können falsch sein und widerlegt werden«.15 In einer durch Vernunft bestimmten natürlichen Religion können auch religiöse Argumente bestritten werden. Die Vernunft selbst bleibt sich gleich: »der Mensch [wird] innerlich genötiget der Wahrheit bei sich Platz zu geben«.16 Das optimistische Vertrauen in die allgemeine Vernunft ist die Basis der natürlichen Religion. Sehr bald – so Reimarus – haben sich die ersten Christen aber von der reinen Lehre Jesu abgewendet, da sich dessen von ihnen erwartetes irdisches messianisches Reich nicht verwirklichte. Christus starb und die Auferstehungsgeschichte wurde ausgedacht und durch den Betrug der Jünger inszeniert.17 Neben der ihr eigenen Vernünftigkeit ist die Lehre Christi durch ihre praktische Ausrichtung gekennzeichnet.18 Jesus habe keine Lehrsätze vertreten, die man für wahr halten müsste. Seine Botschaft sei vielmehr konzentriert in dem Satz: »Bekehret euch und gläubet dem Evangelium«, der noch ergänzt werden kann mit dem Zusatz: »denn das Himmelreich ist nahe herbeikommen«.19 Gemeint ist eine konsequent ethische Ausrichtung der Botschaft Jesu, des rein weltlichen Erlösers. Erst nach seinem Tod, als sich alle weltlichen Hoffnungen zerschlugen, wurde »das neue Systema von einem leidenden geistlichen Erlöser« erfunden.20 Durch solch vernunftwidrige Lehrgebäude verändert sich die authentische Religion Jesu, das entstehende Christentum erweist sich als Aberglaube und Abfall von der Lehre Christi.21 Dass alle diese Einsichten zu einer kritischen Lektüre des Neuen Testaments mit dauerhaftem Verdacht führen müssen, ist nahe liegend.

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FA 8, S. 116. Reimarus meint, man könne »die Grundregeln der Vernunft völlig mit den beiden Sätzen ausdrücken [...]: Ein jedes Ding ist das, was es ist: ein Ding kann nicht zugleich sein und nicht sein« (FA 8, S. 187). FA 8, S. 183. FA 8, S. 183. Vgl. dazu FA 8, S. 277–311. FA 8, S. 116. FA 9, S. 227 (im Original kursiv); vgl. auch FA 9, S. 281. FA 9, S. 288. Zur Theorie des Verfalls der Lehre Jesu durch die Erfindungen der frühen Christen nach dem Tod Jesu und durch die Kirchenväter nach Reimarus vgl. Stefan Alkier: Urchristentum. Zur Geschichte und Theologie einer exegetischen Disziplin. Tübingen 1993 (Beiträge zur historischen Theologie 83), S. 81–89.

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1.3 Streit unter Aufklärern (Johann Salomo Semler) Während sich Lessing mit Goeze und mit Reimarus wesentlich inhaltlich auseinandersetzte – letzterem gegenüber mit viel Sympathie, während der Hamburger Hauptpastor schärfste Polemik ertragen musste und selbst auch praktizierte –, ist der Streit zwischen Lessing und Semler – auch in seiner Schärfe – durchaus erstaunlich.22 Hier trafen zwei Aufklärer aufeinander, die beide gegen die aus ihrer Sicht verknöcherte lutherische Orthodoxie und ebenso gegen die Verbalinspiration kämpften, allerdings in ganz unterschiedlichen Positionen und mit verschiedenen Interessen. Der in Halle bestallte Neutestamentler Semler unterstellt in seiner Reaktion auf Lessings Publikation der Fragmente des Ungenannten, dessen Identität er nicht kennt, dem Verfasser der Texte eine antichristliche Argumentation. Eine solche sei auch in dem Publikationsverfahren Lessings zu erkennen, der mit der Veröffentlichung Brandstiftung betreibe und die Christenmenschen verunsichere.23 Bei dem Fragmentisten vermisst Semler die Gelehrsamkeit, und er attestiert ihm eine feindselige Weise zu schreiben. Für falsch hält Semler die Meinung, dass in der Lehre der Jünger überhaupt keine Offenbarung zu finden sei. Kurz gesagt will er die Kritik an den neutestamentlichen Schriften moderater und in der vom Ungenannten gewählten Form nicht in der Öffentlichkeit durchführen.24 Lessing reagiert scharf. In einem Brief an Elise Reimarus vom 14. Mai 1779 nennt er Semlers Kritik »Geschmiere« und beschimpft diesen als »Schubiack« und als »Esel«.25 Er wirft ihm vor, die allgemeine christliche Religion nicht hinreichend zu bestimmen und auch nicht genau anzugeben, was an der christlichen Tradition als das »Locale« zu vernachlässigen sei, um dann das »moralische Leben« für die Christen beschreiben zu können.26 Die kritische Aufgabe

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Zum Streit zwischen Lessing und Semler vgl. Harald Schultze: »Zufällige Geschichtswahrheiten«. Lessing und Semler im Streit. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 98 (2001), S. 449–463. Zum Vorwurf, dass Lessing sich mit der Herausgabe der Fragmente eines Ungenannten der Brandstiftung und damit der Verunsicherung der Gläubigen schuldig gemacht habe, vgl. das Fragment eines Gesprächs, das Semler als Herausgeber seiner Beantwortung der Fragmente eines Ungenannten insbesondere vom Zweck Jesu und seiner Jünger als Anhang beifügt. Der Autor dieses Textes ist der Hallenser Mediziner, Physiker und Mathematiker Johann Peter Eberhard, der auch Theologie studiert hatte. Das kurze Stück ist abgedruckt in FA 9, S. 1346–1350 (zur Autorschaft des Fragments eines Gesprächs vgl. Arno Schilson in: FA 9, S. 1343). Semler gibt hier den Ausschnitt eines fiktiven Gesprächs wieder, in dem der Brandstifter Sir John Bowling vorgibt, einen Brand nur deshalb gelegt zu haben, um den ›Feueranstalten‹ Gelegenheit zu geben, ihr Können unter Beweis zu stellen. Lessing, so der Vorwurf Semlers im Anschluss an dieses Gespräch, handle wie Bowling naiv und schädlich. Vgl. dazu Johann Salomo Semler: Beantwortung der Fragmente eines Ungenannten insbesondere vom Zweck Jesu und seiner Jünger. Halle 1779; jetzt neu hg. und mit einer Einleitung versehen von Dirk Fleischer. Waltrop 20003 (Wissen und Kritik 25). FA 12 Nr. 1472, S. 254f. Diese Vorwürfe Lessings gegenüber Semler sind einer im Nachlass erhaltenen Skizze Lessings zu entnehmen (FA 9, S. 719).

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erledige also der historisch kritisch arbeitende Kritiker des Ungenannten keinesfalls hinreichend. Der Kern des Vorwurfs Lessings gegenüber Semler zielt darauf, dass dieser die Aufgabe der Aufklärung in ihrer öffentlichen Dimension gerade nicht wahrnehme, sondern ihn, Lessing, der dies mit der Publikation der Fragmente unternommen habe, diffamiere. Aufklärung bedarf der Öffentlichkeit, und so markiert dieser Streit zwischen Semler und Lessing durchaus gar nicht so marginale Differenzen, es geht vielmehr um eine Bestimmung des Ortes der Vernunft und des kontroversen Diskurses.27

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Die Dignität des Neuen Testaments

2.1 Die Bestreitung der Inspiration Lessing, der Liebhaber der Theologie, der aber kein Theologe sein will,28 teilt weder die radikale Ablehnung der neutestamentlichen Schriften, wie er sie bei Reimarus wahrnimmt, noch kann er das Schriftverständnis eines Goeze akzeptieren. Er hat eine komplexe Sicht dieser Urkunde des Christentums mit vielen verschiedenen Facetten. Mit seiner berühmten Bestimmung, dass zufällige Geschichtswahrheiten niemals der Beweis für notwendige Vernunftwahrheiten werden können,29 negiert Lessing bereits jede Möglichkeit einer Schriftauslegung, mit welcher die Lehren des Neuen Testamentes zwingend aufgrund der dort berichteten Ereignisse belegt werden könnten.30 Zwar wolle er nicht bestreiten, dass in Christus alttestamentliche Weissagungen erfüllt worden seien und dass dieser Wunder getan habe; auch könne er – hier argumentiert er ebenfalls ganz anders als Reimarus – gegen die Auferstehung Christi historisch nichts einwenden.31 Wir hätten allerdings nur Berichte von solchen Wundern und Geschehnissen, die aber nicht mehr beglaubigt werden könnten, weil sich die Wunder in der Gegenwart nicht mehr wiederholten.32 Solche Berichte, die klar von den Ereignissen selbst zu unterscheiden seien, könnten einen Glauben an die Lehren Christi nicht erzwingen.

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Eine Bestätigung von Lessings Einschätzung der Haltung Semlers kann in dessen Zustimmung zum Wöllner’schen Religionsedikt gesehen werden (vgl. dazu Schultze [s. Anm. 22], S. 460). FA 9, S. 57. FA 8, S. 437–445, hier S. 441. Auch an dieser Stelle wird die Frontstellung Lessings zur lutherischen Orthodoxie, wie er sie interpretierte, deutlich. Vgl. dazu Ingrid Strohschneider-Kohrs: Historische Wahrheit der Religion. Hinweise zu Lessings Erziehungsschrift. Göttingen 2009 (Kleine Schriften zur Aufklärung 16), S. 26. FA 8, S. 442f. FA 8, S. 444.

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Ein geschichtliches Ereignis unterliegt der Kontingenz. Es kann so, es hätte aber auch anders sein können. Die Berichte der Evangelien beziehen sich gerade auf solche geschichtlichen Ereignisse, weshalb es völlig unsinnig wäre, mit Blick auf diese Texte von einer Inspiration zu reden, geben sie doch als Berichte das geschichtliche Geschehen nur wieder. Für die Zeit der Entstehung der neutestamentlichen Schriften nimmt Lessing an: »vermutlich zuckte man auch damals schon die Achseln über Leute, die etwas historisches aus Inspiration zu wissen vorgaben«.33 Mit der Negierung der Inspiration für die neutestamentlichen Schriften erreicht Lessing eine enorme Entlastung derselben wie auch der Evangelisten als deren Autoren, die er »als bloß menschliche Geschichtsschreiber« betrachten kann.34 Zugleich werden diese Texte – und mit ihnen deren Verfasser – einem öffentlichen und kritischen Diskurs ausgesetzt, der in der lutherischen Orthodoxie gerade vermieden werden sollte, sei der Schrift dort doch nur Gehorsam entgegen zu bringen. Wie Lessing Goeze vorwirft, führe die Annahme der Inspiration letztlich in »den ewigen Zirkel [...], nach welchem die Unfehlbarkeit eines Buches aus einer Stelle des nemlichen Buches, und die Unfehlbarkeit der Stelle, aus der Unfehlbarkeit des Buches bewiesen wird«.35 Dass ein solches Vorgehen einen vitiösen Zirkel darstellt, ist offensichtlich. Aber auch den Schriftbeweis, den Goeze etwa mit 2 Tim 3,16a führen möchte,36 lässt Lessing nicht gelten, sei diese Stelle doch so klar nicht, um sie als Beleg für die Inspiriertheit des ganzen Neuen Testaments zu lesen. Der griechische Text lautet: ʌ઼ıĮ ȖȡĮij੽ șİંʌȞİȣıIJȠȢ țĮ੿ ੩ijȑȜȚȝȠȢ ʌȡઁȢ įȚįĮıțĮȜȓĮȞ, wobei Lessing richtig bemerkt, dass die Konjunktion țĮȓ textkritisch umstritten ist,37 was in der nicht eindeutigen Konstruktion dieses Verses begründet sein könnte. Wird das țĮȓ als zum Text gehörig bestimmt, dann ergibt sich die von Goeze vorausgesetzte Übersetzung, wobei einschränkend bemerkt werden muss, dass auch dann noch Variationen möglich sind: ›Die ganze Schrift ist von Gott eingegeben und nütze zur Lehre‹. Lessing möchte sich dagegen Luther anschließen, der folgende Übersetzung ohne țĮȓ bietet: ›Denn alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre‹.38 Nach Goeze nehmen beide Adjektive – șİંʌȞİȣıIJȠȢ und ੩ijȑȜȚȝȠȢ – eine prädikative Stellung ein, in der Lutherübertragung gilt dies nur für das zweite Adjektiv. Nach der von Lessing bevor33 34

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FA 8, S. 637. Vgl. den Titel der im Nachlass erhaltenen Schrift: Gotthold Ephraim Lessing, Neue Hypothese über die Evangelisten als bloß menschliche Geschichtsschreiber betrachtet, FA 8, S. 629. FA 9, S. 62. Goeze (s. Anm. 5), S. 16. Es sind freilich nur wenige spätere Zeugen und Kirchenväter, die das țĮȓ wegfallen lassen (vgl. dazu Bruce M. Metzger, A Textual Commentary on the Greek New Testament. A Companion Volume to the United Bible Societies’ Greek New Testament [Fourth Revised Edition]. Stuttgart 21994, S. 580). Diese Übersetzung findet sich auch in den modernen und sprachlich überarbeiteten LutherBibeln (vgl. Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers mit Apokryphen in der revidierten Fassung von 1984. Stuttgart 1985).

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zugten Übersetzung muss zumindest die Stelle nicht als Aussage für die Inspiriertheit der ganzen Schrift anerkannt werden. Es wäre dann gemeint, dass es Schriftstellen gebe, die inspiriert sind, und genau diese, nicht aber andere, wären dann zur Lehre nütze.39 Eine vor diesem Hintergrund mögliche Unterscheidung zwischen den einen Schriftstellen und den anderen Schriftstellen käme einer wesentlichen Unterscheidung Lessings entgegen, die noch aufzudecken sein wird.

2.2 Die Religion und das Neue Testament Um die Stellung des Neuen Testaments im Denken Lessings zu verstehen, muss ein kurzer Blick darauf geworfen werden, wie dieser mit dem Begriff der Religion umgeht.40 Fundamental ist für Lessing die Unterscheidung von natürlicher und positiver Religion, die er ganz analog zu der bekannten Differenzierung von Naturrecht und positivem Recht trifft. »Einen Gott erkennen, sich die würdigsten Begriffe von ihm zu machen suchen, auf diese würdigsten Begriffe bei allen unsern Handlungen und Gedanken Rücksicht nehmen: ist der vollständigste Inbegriff aller natürlichen Religion«.41 Diese sei jedem Menschen, entsprechend seiner individuellen Möglichkeiten, zugänglich. In der Entwicklung der Religionen erwies es sich gerade aufgrund der unterschiedlichen religiösen Potentiale der Menschen als vorteilhaft, dass die Religion gemeinschaftlich mittels der Einführung von konventionellen Begriffen und Regeln organisiert wurde, »man mußte aus der Religion der Natur, welche einer allgemeinen gleichartigen Ausübung unter Menschen nicht fähig war, eine positive Religion bauen: so wie man aus dem Rechte der Natur, aus der nemlichen Ursache, ein positives Recht gebauet hatte«.42 Unter der Autorität des Stifters der Religion wurden auch deren konventionelle Dinge als sanktioniert betrachtet, diese Konventionen lassen sich aber klar von dem unmittelbar durch Vernunft zugänglichen Wesentlichen der Religion unterscheiden. Die positive Religion erweist sich geradezu als aktuale Konkretion der natürlichen Religion »in jedem Staate«.43 Das Wesentliche bleibe in allen positiven oder geoffenbarten Religionen gleich, weshalb sie alle 39 40

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Zur exegetischen Diskussion um 2 Tim 3,16 vgl. etwa Alfons Weiser, Der zweite Brief an Timotheus (EKK 16,1). Düsseldorf, Zürich, Neukirchen 2003, S. 279–283, 286–297. Diese komplexe Frage kann hier selbstverständlich nur in einigen, freilich grundlegenden Aspekten erörtert werden. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass Lessings Vorstellung von Religion durchaus Wandlungen ausgesetzt war (vgl. dazu Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. Aus dem Englischen übersetzt von Karl S. Guthke. München 2008, besonders S. 628–744). In der für unsere Frage nach Lessings Verständnis des Neuen Testaments notwendigen systematisierenden Perspektive lassen sich aber durchaus entscheidende und bleibend bedeutsame Aspekte seiner Vorstellung von Religion benennen. FA 5/1, S. 423. FA 5/1, S. 423f. (Hervorhebung C.L.). FA 5/1, S. 424.

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gleich wahr und gleich falsch seien. Wenn – wie Lessing hier meint – die beste der positiven oder geoffenbarten Religionen diejenige sei, welche die wenigsten zur natürlichen Religion hinzugefügten Konventionen aufweise, dann kann man durchaus von einer Hierarchie der positiven Religionen sprechen, freilich nur hinsichtlich ihrer konventionellen, aktualen Gestalt, nicht hinsichtlich ihres wahren Kerns, der ja in allen Religionen als die natürliche Religion gleich ist: »Die beste geoffenbarte oder positive Religion ist die, welche die wenigsten conventionellen Zusätze zur natürlichen Religion enthält, die guten Wirkungen der natürlichen Religion am wenigsten einschränkt.«44 Für die Frage nach der Stellung des Neuen Testaments in der Einschätzung Lessings ist hier von besonderer Bedeutung, dass mit der Ausbildung der positiven oder geoffenbarten Religionen über die Einfügung von Konventionen eine Distanzierung von der natürlichen Religion einsetzt, die den Zugang zu Letzterer durchaus erschweren kann, auch wenn sich die Entwicklung der positiven Religionen als unter den Bedingungen der Menschheit notwendig erwiesen habe. Eine grundsätzliche Ablehnung der geoffenbarten Religionen, wie sie bei Reimarus sichtbar wird, ist dies freilich nicht. Im Raum der christlichen Tradition ist noch eine weitere Unterscheidung von Bedeutung, die Lessing in seinen im Nachlass erhaltenen Theses aus der Kirchengeschichte45 zumindest andeutet und von der er ausdrücklich in seiner ebenfalls im Nachlass vorfindlichen und von ihm auf das Jahr 1780 datierten Schrift Die Religion Christi46 ausdrücklich spricht. Diese weitere Bestimmung mit Blick auf den Begriff der Religion hängt mit der Differenzierung von natürlicher und positiver Religion wohl zusammen, ist aber nicht einfach mit dieser identisch. Die positive Religion des Christentums fächere sich auf in die Religion Christi und in die christliche Religion, die gerade nicht identisch mit der Erstgenannten sei: »Folglich sind die Religion Christi und die christliche Religion zwei ganz verschiedene Dinge.«47 Die Religion Christi ist diejenige Religion, die der Mensch Christus selbst ausübte.48 In der davon zu unterscheidenden christlichen Religion ist der Religion Christi bereits etwas hinzugefügt, nämlich die Annahme, »daß er mehr als Mensch gewesen«, weshalb die christliche Religion »ihn selbst als solchen, zu einem Gegenstande ihrer Verehrung macht«.49 Beide, die Religion Christi wie die christliche Religion,

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FA 5/1, S. 424f. FA 8, S. 619–627. Dieser Entwurf ist wohl 1775 oder 1776 entstanden (vgl. dazu die Argumente von Arno Schilson in: FA 8, S. 1084f.). FA 10, S. 223f. Zur Datierung vgl. Arno Schilson und Axel Schmitt in: FA 10, S. 981. – Für unseren Zusammenhang ist von Bedeutung, dass diese Schrift im Kontext der Erziehungsschrift entstanden ist (vgl. dazu in Abschnitt 3: Das zweite Elementarbuch – das Neue Testament). FA 10, S. 223 (§ 2). In den Theses aus der Kirchengeschichte spricht er bereits von der Religion Christi, die den neutestamentlichen Evangelienschriften voraus lag (vgl. FA 8, S. 619 [§ 4]). FA 10, S. 223 (§ 3). FA 10, S. 223 (§ 4).

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müssen positive Religionen sein, weil sie konkrete, aktuale, an eine bestimmte Region und Zeit gebundene Ausformungen der natürlichen Religion sind. Die Religion Christi unterscheidet sich nach Lessing wesentlich von der christlichen Religion dadurch, dass sie eine größere Unmittelbarkeit zur natürlichen Religion hat. Sie sei geprägt von Christus, dem zuverlässigen und praktischen Lehrer,50 der gerade nichts anderes sei, als eben ein von Gott erleuchteter Lehrer, wie Lessing bereits in einer frühen Schrift notiert.51 Christus wollte zu seiner Zeit die Lauterkeit der Religion wieder herstellen und dadurch ihre heilsame und allgemeine Wirkung fördern, dass er sie wieder in ihre Grenzen einzuschließen versuchte.52 Die Botschaft Christi ließe sich mit den Worten des Johannes zusammenfassen: »Kinderchen liebt euch«.53 In diesem Satz sieht Lessing das Praktische der Lehre Jesu treffend zusammengefasst.54 Die Jünger Jesu existierten in einer großen Unmittelbarkeit zu Christus selbst und damit auch zu seiner Lehre.55 Dies ändert sich aber spätestens in der bereits vor der im Neuen Testament literarisch greifbaren Entwicklung der christlichen Religion. Die Jünger Jesu haben wohl die Lehre Christi »getreulich fortgepflanzt«.56 Aber sie haben diese »große Lehre noch mit andern Lehren versetzt[ ], deren Wahrheit weniger einleuchtend, deren Nutzen weniger erheblich war«.57 Von dem Lehrer Christus wird die Auferstehung behauptet, die Gottheit Christi wird unterstellt, das Heilswerk Jesu als Versöhnung und Erlösung wird von Bedeutung, Jesus wird als Mittler zwischen Gott und Mensch verstanden, – alles Entwicklungen, die nicht der Lehre Jesu entsprächen, sondern Hinzufügungen zu dieser seien. Kurz gesagt: Auch wenn die Evangelien selbst noch recht nahe an der Lehre Christi waren,58 so finden sich im Neuen Testament bereits die ersten Ansätze zur Entwicklung des kirchlichen Dogmas, das nach Lessing eben nicht identisch mit der Lehre Christi ist. Es muss an dieser Stelle an eine Überlegung Lessings erinnert werden, die für die neutestamentliche Wissenschaft wohl nicht in ihrer konkreten Ausformung, aber doch hinsichtlich ihrer Fragestellung von enormer Bedeutung geworden ist. Lessing macht sich Gedanken, wie es zu dieser bemerkenswerten Differenz zwischen der Religion Christi und der christlichen Religion kommen 50

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FA 10, S. 73–99 (Die Erziehung des Menschengeschlechts, § 58, 89). Als Gegenstand der Lehre Christi wird an dieser Stelle die Unsterblichkeit der Seele genannt. – Für Lessing ist wichtig, dass die Lehre Christi nichts der Vernunft Widerstrebendes beinhaltet. Das heißt aber nicht, dass sie darüber hinaus nicht auch eigentümliche Wahrheiten hätte, die von der Vernunft nicht eigens erfasst würden (Gotthold Ephraim Lessing, Rettung des Hier. Cardanus, FA 3, S. 198–223, hier S. 210f.; vgl dazu Strohschneider-Kohrs [s. Anm. 30], S. 42–44). FA 1, S. 935–945, hier S. 939 (Gedanken über die Herrnhuter [1750]). FA 1, S. 939. FA 8, S. 451f. (im Original hervorgehoben). FA 8, S. 452. FA 8, S. 633 (Neue Hypothese über die Evangelisten als bloß menschliche Geschichtsschreiber betrachtet, § 7). FA 10, S. 90 (Die Erziehung des Menschengeschlechts, § 62). Ebd., S. 90f. (§ 63). FA 10, S. 224 (Die Religion Christi, § 6).

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konnte. In seinen Theses aus der Kirchengeschichte notiert er die für seine Zeitgenossen recht große Zeitspanne, die zwischen dem Tod Christi und der Abfassung des ersten Evangeliums anzunehmen sei. Hier nennt er die Zahl von 16 Jahren,59 in den Gegensätzen des Herausgebers spricht er von einer »geraume[n] Zeit«, ehe der erste Evangelist – seiner Meinung nach Matthäus – schrieb, und von »eine[r] sehr beträchtliche[n] [Zeit], ehe der ganze Kanon zu Stande kam«.60 In seiner im Nachlass erhaltenen Schrift Neue Hypothese über die Evangelisten, die wohl 1777 entstanden ist, legt er sich auf »wenigstens 30 Jahr« fest, die zwischen dem Tod Christi und dem ersten Evangelium liegen sollen.61 In dem, was uns heute als Bibel oder Neues Testament vorliegt, findet sich – wie Lessing formuliert – »offenbar Mehr als zur Religion gehöriges«.62 Es gab also eine beachtenswerte und produktive Zwischenzeit zwischen dem Tod Christi und der Verschriftlichung der Nachrichten über ihn. Der in diesem Zeitraum stattfindende Tradierungsprozess verändert die Überlieferung.63 Entscheidend ist für Lessing, dass die Wahrheit der christlichen Religion nicht an den Schriften über die Religion hängt. Die Schriften, in diesem Fall das Neue Testament, wäre eine rein äußerliche Autorität. »Die Religion ist nicht wahr, weil die Evangelisten und Apostel sie lehrten: sondern sie lehrten sie, weil sie wahr ist«.64 Die Veränderung durch den Prozess der Tradierung lässt sich nach Lessings Meinung im Neuen Testament selbst beobachten. Zwischen den drei synoptischen Evangelien Matthäus, Markus, Lukas und dem Johannesevangelium und schon gar den neutestamentlichen Briefen bestehe ein gewaltiger Unterschied. Erst bei Johannes und in den Briefen setze ein Prozess der Theologisierung und der Systematisierung der Tradition ein, der so in den synoptischen Evangelien nicht zu beobachten sei.65 Die Unterscheidung der synoptischen Evangelien vom Johannesevangelium verdankt sich zwei wesentlichen Beobachtungen. Zum einen haben die synoptischen Evangelien auffallend viele sprachliche Gemeinsamkeiten, die nicht einfach auf den gleichen Inhalt, die Jesusgeschichte, zurückzuführen sind. Vielmehr muss irgendeine Form der literarischen Abhängigkeit angenommen werden. Lessing löst dies so, dass er ein hebräisches oder aramäisches Urevangelium annimmt, das zuerst von Matthäus übersetzt worden sei. Markus und Lukas seien ebenfalls Übersetzungen dieses Urevangeliums, wobei diese beiden Evangelien die Lücke zum Johannesevangelium schließen sollten.66 Die heute gängige und gut begründete Hypothese, dass das Markusevangelium das älteste

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FA 8, S. 619 (Theses aus der Kirchengeschichte, § 1). FA 8, S. 312f. FA 8, S. 637 (Neue Hypothese über die Evangelisten, § 22). FA 8, S. 312. FA 8, S. 632 (Neue Hypothese über die Evangelisten, § 5). FA 8, S. 313. Zum Verhältnis der synoptischen Evangelien Matthäus, Markus und Lukas zum Johannesevangelium vgl. FA 8, S. 650–653 (Neue Hypothese über die Evangelisten, §§ 50–64). Vgl. dazu FA 8, S. 633–650 (Neue Hypothese über die Evangelisten, §§ 8–50).

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Evangelium sei, von dem Matthäus und Lukas abhängen, war Lessing noch nicht zugänglich, mit seiner Urevangeliumshypothese regt er aber die synoptische Forschung, die dann im 19. Jahrhundert die entscheidenden Wendungen nehmen sollte, wesentlich an.67 Der Verfasser des Johannesevangeliums kannte nach Lessing wohl auch das aramäische Urevangelium und die synoptischen Evangelien. Doch er unternahm es, ein eigenes Evangelium zu schreiben, weil er etwa die inzwischen aufgekommene Vorstellung von der Gottheit Christi gefährdet sah, da die synoptischen Evangelien diese gar nicht lehrten.68 Damit wurde eine größere Distanzierung zur Lehre Jesu vollzogen, der ja nur ein, wenn auch außergewöhnlicher, so doch menschlicher Lehrer gewesen sei. Dennoch erfüllte das Johannesevangelium eine wichtige doppelte Funktion. Es gab der sich inzwischen entwickelnden christlichen Religion – nicht der Religion Christi – »ihre wahre Consistenz«,69 die gewährleistete, dass sie trotz vielerlei Angriffe von außen fortdauern konnte. Und zudem erfüllte die im Johannesevangelium erkennbare Systematisierung die Funktion, dass die Lehre vom Mittler zwischen den Menschen und der Gottheit zugänglich blieb, was so lange erforderlich sei, als es Menschen gibt, die eines solchen Mittlers bedürften. Lessing fügt hinzu: »das ist, ewig«.70 In Wahrheit hätten wir nur zwei Evangelien, das Matthäusevangelium als das Evangelium des Fleisches und das Johannesevangelium als das Evangelium des Geistes.71 Markus und Lukas wurden nach Lessing nur beibehalten, um die Lücke zwischen den beiden zuerst genannten Evangelien zu schließen, wobei Markus ein Schüler des Petrus, Lukas ein Schüler des Paulus gewesen sei.72 Aus alledem wird ersichtlich, dass – gegen Reimarus – die neutestamentlichen Schriften nach Lessing eine geschichtliche Konkretion der notwendigen positiven Religion darstellen und für diese eine wichtige Funktion erfüllen. Gleichwohl – und das wäre nach Lessing gegen Goeze festzuhalten – sind Bibel und Religion nicht identisch. Die Bibel enthalte – wie bereits erwähnt – mehr als zur Religion gehörig sei. Auch weisen die biblischen Bücher keine Homogenität auf. Gerade die von Goeze gegen Lessing notierten Bibelstellen seien gerade nicht »unwidersprechlich«,73 wodurch das flächig unterstellte Schriftprinzip der lutherischen Orthodoxie kräftig ins Wanken geraten muss. – Entscheidend ist für Lessing, dass die christliche Religion auch unabhängig von den Büchern des Neuen Testaments gedacht werden kann, ja gedacht werden muss, wäre doch sonst eine Kontinuität von der Urchristenheit in die

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Zur forschungsgeschichtlichen Entwicklung der synoptischen Frage und zum gegenwärtigen Stand der Forschung vgl. Udo Schnelle: Art. Synoptische Frage. In: RGG4 Bd. 7, Sp. 1978–1984. FA 8, S. 650–653 (Neue Hypothese über die Evangelisten, §§ 50–63). Ebd., S. 653 (§ 63). Ebd., S. 653 (§ 63). Ebd., S. 653 (§ 64). Ebd., S. 654 (§ 66); vgl. auch FA 8, S. 626 (Theses aus der Kirchengeschichte, § 50). FA 9, S. 61f.

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neutestamentliche Überlieferung nicht gegeben. Auch gegenüber dem aramäischen Urevangelium ist die christliche Religion – in der Form der regula fidei – vorgeordnet:74 »die Religion war, ehe das geringste von ihr schriftlich verfaßt wurde«.75 Dies gilt auch dann, wenn zugegeben wird, dass für uns die neutestamentlichen Schriften die einzige Quelle für unsere Kenntnis der christlichen Religion seien.76 Letztlich kommt Lessing zu der Einschätzung, dass die Lehre Christi auf mündlichem Wege auch ohne das Neue Testament überliefert worden wäre.77 Gegenüber dem aus Lessings Sicht uniformen lutherisch-orthodoxen Schriftprinzip, wie Goeze es repräsentiert, bedeutet dies nota bene eine enorme Aufwertung der Tradition, die in den Schriften Lessings immer wieder sichtbar wird.78 Dass sich damit das Problem einer an der Vernunft sich vorbei entwickelnden Autorität nur auf anderer Ebene wiederholt, diskutiert er an diesen Stellen nicht. Für das Verhältnis der Bibel zur Religion findet Lessing verschiedene Bilder. Die beiden Größen verhielten sich wie Brutto und Netto,79 wie Schachtel und Arznei,80 – hier ist die kritische Unterscheidung der Exegese gefordert. Gewiss enthalte die Bibel die Religion – hier verwahrt sich Lessing gegen den Vorwurf Goezes, dass er dies bestreite –, die Bibel sei aber nicht identisch mit dieser. Es gelte, die »innere Wahrheit«, die in einem letzten Sinn die natürliche Religion, zumindest aber die Religion Christi wäre, aufzuspüren, wobei diese an der Vernunft orientierte Wahrheit ihrerseits das Kriterium für jede hermeneutische Wahrheit sei, womit Lessing die mittels der Auslegung erarbeiteten Wahrheitsansprüche meint.81 Unterscheidung ist also gefragt bei der Lektüre des Neuen Testaments, Kritik in einem ursprünglichen Sinn. Auf Goezes und das in der lutherischen Orthodoxie vertretene Schriftverständnis unternimmt Lessing noch einen zugespitzten rhetorischen Angriff, der den von ihm vorgeschlagenen Umgang mit dem Neuen Testament gewissermaßen biblisch begründen soll. Bereits im Neuen Testament selbst findet sich eine Unterscheidung, die sich Lessing nutzbar machen möchte, wenn Paulus in 2 Kor 3,6 Buchstabe und Geist gegeneinander stellt. Sein Evangelium – so Paulus – sei nicht eines des Buchstabens, sondern des Geistes:IJઁ Ȗ੹ȡ Ȗȡ੺ȝȝĮ ਕʌȠțIJȑȞȞİȚ, IJઁ į੻ ʌȞİ૨ȝĮ ȗ૳ȠʌȠȚİ૙, ›denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig‹. Für Lessing ist die Zuordnung klar. Die Bibel als zufälligen Kanon, sofern sie bloßes Buch sei, und 74

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FA 9, S. 427–434 (Gotth. Ephr. Lessings nötige Antwort auf eine sehr unnötige Frage des Hrn. Hauptpastor Goeze in Hamburg), passim. In § 3 formuliert Lessing ausdrücklich: »Diese Regula fidei war, ehe noch ein einziges Buch des Neuen Testaments existierte.« (ebd., S. 431.) Die regula fidei sei auch älter als die Kirche (§ 4). Die Kirche gründe deshalb nicht auf der Schrift, sondern auf dieser regula fidei (§ 6). FA 9, S. 65f. Ebd., S. 80. Ebd., S. 67–71 (Axiomata VII). Vgl. ebd., S. 80. Ebd., S. 59. Ebd., S. 73. Ebd., S. 79.

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damit auch das Neue Testament, nennt er den Buchstaben, »dem bessern Teile derselben [sc. der Bibel], der Religion ist, oder sich auf Religion beziehet«, will er »den Namen des Geistes beilege[n]«.82 Was Lessing sagen möchte, ist klar. Das Wesentliche in der Bibel, die Religion, sei zu unterscheiden von dem Unwesentlichen, dem bloß geschichtlich Zufälligen, das letztlich auch geeignet sei, bei einer unsachgemäßen Gewichtung das Wesentliche zu verdecken. Sein Hinweis auf die Briefstelle des Paulus in 2 Kor 3,6 ist dabei keineswegs originell. Bereits der Mailänder Bischof Ambrosius (339–397) forderte unter Verweis auf diesen Text im Gegensatz zu einem Schriftverständnis ad litteram eine geistliche Schriftauslegung.83 Den Hinweis auf 2 Kor 3,6 übernahm Augustin,84 die Unterscheidung von Buchstabe und Geist wurde geradezu sprichwörtlich. Für Lessing jedenfalls ist es klar, dass der Geist nicht in jeder Passage der Bibel wirksam werde. Für die Geschlechtsregister der Nachkommen des Esau ließe sich doch nicht dasselbe behaupten wie für die Bergpredigt Jesu bei Matthäus.85 Dass gerade eine historisch-kritische Exegese die theologische Qualität auch der Geschlechtsregister erkennen kann, sei hier nur angemerkt.86 Aber nicht nur interpretatorische Phantasie fehlt Lessing hier, er hat an dieser Stelle seinen Kontrahenten, den Exegeten Goeze, durchaus unterschätzt. Dieser kontert den Hinweis Lessings auf 2 Kor 3,6 mit dem Argument, dass das Begriffspaar allein der Bibel entstamme, nämlich – wie er fälschlich notiert – dem Brief des Paulus in 2 Kor 4,6. Nun folgt eine exegetisch völlig korrekte Anmerkung Goezes: »Hier heißt der Buchstabe das Gesetz, der Geist aber das Evangelium«.87 Bei aller exegetischen Angemessenheit ist dann freilich die Folgerung Goezes auch nicht nachvollziehbar, wenn er die These aufstellt: »der Buchstabe ist der Geist, und die Bibel ist die Religion«.88 – Der kleine exegetische Disput zwischen Lessing und dem Hauptpastor geht aber nur vordergründig zugunsten Goezes

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Ebd., S. 63. Vgl. dazu Volker Henning Drecoll: Ambrosius als Taufvater Augustins und der ›Mailänder Kreis‹. In: Augustin Handbuch. Hg. von Volker Henning Drecoll. Tübingen 2007, S. 127– 143, hier S. 136. Augustin: Conf. 6,6. Die Unterscheidung von Geist und Buchstabe ist dann auch für Augustins De spiritu et littera strukturbildend (vgl. dazu Volker Henning Drecoll: De spiritu et littera [Über den Geist und den Buchstaben]. In: Augustin Handbuch [s. Anm. 83], S. 328–334). FA 9, S. 63. Exemplarisch kann hier auf den Stammbaum Jesu in Mt 1,2–17 hingewiesen werden, der für die inhaltliche, also für die theologische Ausrichtung des Matthäusevangeliums von wesentlicher Bedeutung ist. Besonders die ungewöhnliche Nennung von drei Frauen innerhalb dieser Genealogie, die zudem noch nichtisraelitischer Herkunft sind, lässt die universale Orientierung des Matthäusevangeliums erkennen (vgl. zur theologischen Interpretation dieses Stammbaums Ulrich Luz: Das Evangelium nach Matthäus [Mt 1–7] [EKK 1/1]. Zürich, Braunschweig, Neukirchen-Vluyn 21989, S. 89–97). Goeze (s. Anm.5), S. 13f. – Zur Exegese von 2 Kor 3,6 vgl. Otfried Hofius: Gesetz und Evangelium nach 2. Korinther 3. In: Otfried Hofius: Paulusstudien. Tübingen 21994, S. 75–120, hier S. 82–86. Goeze (s. Anm. 5), S. 14.

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aus, wenn er Lessing eine Fehlinterpretation nachweisen kann. Diese Diskussion zeigt doch nur – wie auch bereits der Verweis auf 1 Tim 3,16 –, dass die strittige Frage nach der Auslegung des Neuen Testaments mit einem Hinweis auf Bibelstellen nicht zu entscheiden ist. Der Vorteil liegt wieder bei Lessing. Der Geist öffnet das Wesentliche der Religion Christi, die im Neuen Testament zugänglich ist. Dieses Wesentliche der Religion Christi ist über den Buchstaben nicht einfach feststellbar.89 Und vor allem ist im Neuen Testament nicht alles vom Geist geprägt. Die vom Geist bestimmten Stellen der Schrift gilt es gerade kritisch zu identifizieren. Deutlich ist bei allem, dass der Geist auf »Besserung« zielt, auf eine ethische Vervollkommnung, die der Religion Christi und damit letztlich auch der Vernunft entspricht.90

3 Das zweite Elementarbuch – das Neue Testament Das Neue Testament ist keineswegs überflüssig. In seiner Auseinandersetzung mit Reimarus, die in der Erziehung des Menschengeschlechts zu einem gewissen Höhepunkt gelangt,91 kommt Lessing zuletzt zu einer positiven Bestimmung der Bedeutung des Neuen Testaments.92 In der Bibel überhaupt ist zumindest auch Religion zu finden, im Neuen Testament, insbesondere bei Matthäus – etwa in der Bergpredigt – sind die Berichte über die Religion Christi versammelt.93 Das Neue Testament ist also für die christliche Tradition die schriftliche Quelle der Religion, die eine große Nähe zur natürlichen Religion hat. Betrachtet man die Bibel als Buch, also als Buchstabe, dann kann man sich allerdings in den historischen Zufälligkeiten verfangen. Es bedarf einer höheren Warte, eines Überblicks über die Entwicklung der Menschheit insgesamt, um die Bedeutung auch des Neuen Testaments genauer bestimmen zu können. Lessing stellt sich deshalb als Herausgeber seiner kleinen Schrift Die Erziehung des Menschengeschlechts »auf einen Hügel [...], von welchem er etwas mehr, als den vorgeschriebenen Weg seines heutigen Tages zu übersehen glaubt«.94 Dieser erhobene Standpunkt verschafft ihm den Blick auf die ganze Menschheit. Und hier erkennt er das Zusammenspiel der Entwicklung des Einzelnen und der Menschheit überhaupt. 89

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Vgl. dazu Nisbet (s. Anm. 40), S. 710. Diese Interpretation des Motivs des dem Buchstaben gegenübergestellten Geistes ist für Lessing ein Moment des kritischen Gestus gegenüber der lutherischen Orthodoxie. FA 9, S. 63. Die Erziehungsschrift kann als zusammenfassende und systematisierende Präzisierung der Auseinandersetzungen um die Fragmente des Reimarus gelesen werden (mit Strohschneider-Kohrs [s. Anm. 30], S. 32). Vgl. dazu Daniel Cyranka: Lessing im Reinkarnationsdiskurs. Eine Untersuchung zu Kontext und Wirkung von G. E. Lessings Texten zur Seelenwanderung. Göttingen 2005 (Kirche – Konfession – Religion 49), S. 375–380. FA 10, S. 91 (Die Erziehung des Menschengeschlechts, § 64). Ebd., S. 74.

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Sowohl der einzelne Mensch wie auch die Menschheit überhaupt unterliegen einer Entwicklung, die Lessing mit der Metapher der Lebensalter zur Sprache bringt. Der Einzelne bedarf zu seiner Förderung der Erziehung, die Menschheit der Offenbarung, die Lessing als Erziehung des Menschengeschlechts vorstellt. Auch hier ist erkennbar, dass Offenbarung für die Menschheit eine durchaus positive Funktion hat. Vernunft und Offenbarung stehen sich auch nicht einfach gegenseitig ausschließend gegenüber.95 Die Offenbarung als Erziehung des Menschengeschlechts geschieht in einer gewissen teleologischen Entwicklung, die Erziehung hat ein bestimmtes Ziel (§ 82),96 wobei es nicht die Behauptung Lessings ist, dass das Ziel mit der anbrechenden Zeit der Aufklärung bereits erreicht worden sei.97 Auch in Lessings Gegenwart ist diese Entwicklung noch nicht abgeschlossen, die Vernunft hat die Offenbarung noch nicht überwunden.98 Lessing stellt sich vor, dass diese Erziehung des Menschengeschlechts in drei Lebensabschnitten geschehe. Am Anfang – »durch alle Staffeln einer kindischen Erziehung« (§ 20) – steht der Bund Gottes mit Israel, in dem er sich diesem als der Eine vorstellte. In den Schriften des Alten Testaments, die durchaus inhaltliche und geschichtliche Mängel aufweisen, finden sich immerhin Hinweise, genauer Vorübungen, Anspielungen und Fingerzeige, wie Lessing sie nennt, auf das, worauf die Menschheit vorbereitet werden sollte, – etwa und ganz wesentlich die Unsterblichkeit der Seele (§§ 44–47). Das Alte Testament war das erste Elementarbuch. Da jedes Elementarbuch nur für ein abgegrenztes Alter bestimmt ist (§ 51), wird ein solches irgendwann überholt und überflüssig

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Es ist im Anschluss an Lessing nicht möglich, von einem bloßen Gegensatz von Vernunft und Offenbarung oder einer vollständigen Dominanz der Vernunft gegenüber der Offenbarung zu reden (vgl. Strohschneider-Kohrs [s. Anm. 30], S. 38). Die im Folgenden genannten Paragraphen beziehen sich auf Die Erziehung des Menschengeschlechts (FA 10, S. 73–99). Im Anschluss an die Ringparabel in Nathan der Weise kann man bei Lessing tatsächlich von einer eschatologischen Perspektive sprechen, wobei das Ziel einen eschatologischutopischen Horizont bildet, der nicht Vollendung und auch nicht Erfahrung, sondern allenfalls Glaubenshoffnung zum Ausdruck bringt (vgl. Gerhard Kaiser: Aufklärung und Christentum in Lessings »Nathan der Weise«. Autonomie der Literatur seit der Aufklärung. In: Theologische Zeitschrift 63 [2007], S. 358–380, hier S. 363, 375). – Gerade diese Offenheit in der Gegenwart kann dann – im Anschluss an Nathan der Weise – zur »ethischen Verpflichtung des Menschen« werden (so formuliert, die Theodizee-Frage interpretierend, Monika Fick: Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 22004, S. 420). Vgl. Strohschneider-Kohrs (s. Anm. 30), S. 39f. Strohschneider-Kohrs weist mit Recht darauf hin, dass die in den §§ 73–75 der Erziehungsschrift angedeutete Überwindung der kirchlichen Dogmen durch die Vernunft in »konjunktivisch-hypothetischer Frageform« formuliert ist (ebd., S. 40). Diese Überwindung ist zumindest in der Zeit Lessings noch nicht vollzogen. Auch wenn sie mit der Aufklärung anfängt, so empfiehlt Lessing doch, das Neue Testament nicht beiseite zu legen: »… könnten in diesem nicht noch mehr dergleichen Wahrheiten [wie die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele; C.L.] vorgespiegelt werden, die wir als Offenbarungen so lange anstaunen sollen, bis sie die Vernunft aus ihren andern ausgemachten Wahrheiten herleiten und mit ihnen verbinden lernen?« (§ 72). Dies ist für Lessing also offensichtlich noch ein offener Prozess.

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sein. Für das Zeitalter des Jünglings bedarf es eines besseren Pädagogen, der dem Kinde das erste Elementarbuch aus den Händen reißen muss (§ 53). Christus ist der bessere Pädagoge, und seine Lehre löst das Alte Testament ab. Es ist von großer Bedeutung, dass der zweite große Schritt der Erziehung mit Christus, nicht mit dem Neuen Testament beginnt (§ 54). Christus löse die Phase der im Alten Testament praktizierten und von innerweltliche Strafen begleiteten Erziehung ab, indem er als »zuverlässige[r], praktische[r] Lehrer der Unsterblichkeit der Seele« auftrete (§ 58 [im Original teilweise kursiv]). ›Zuverlässig‹ meint, dass Christus durch Wunder und Auferweckung bestätigt worden sei (§ 59), und ›praktisch‹ sei er, da seine Lehre auf das innere und das äußere Handeln ausgerichtet sei (§ 60). Das Neue Testament komme der Lehre Christi erst nachgeordnet ins Spiel, sei in ihm die Lehre Christi zwar aufbewahrt (§ 64), aber eben nur als Bericht, mit all den Einschränkungen und Differenzierungen, die bereits erläutert wurden. Als solches aber sei das Neue Testament tatsächlich »das zweite beßre Elementarbuch für das Menschengeschlecht« (§ 64), das auch heute noch in Funktion sei. Zum zweiten Elementarbuch werde das Neue Testament ausschließlich durch die Lehre Christi, es sei dies nicht als Kanon, der doch nur zufällig zustande gekommen sei. Seine Funktion der Erziehung des Menschengeschlechts erfülle das Neue Testament durch seine enorme Verbreitung, die – wie die Vernunft auch – auf Allgemeinheit ziele (§ 66). Die Inhalte des zweiten Elementarbuchs, des Neuen Testaments also, werden in diesem wohl noch nicht für den einzelnen vernünftig erschlossen, sondern eben – wie etwa die Unsterblichkeit der Seele – gepredigt (§ 71). Aber letztlich werde die Vernunft auch diese Inhalte selbst zu erschließen in der Lage sein. Dann werde ein neues, ein ewiges Evangelium kommen (§ 86).99 Dieses bedeute eine Überwindung des Neuen Bundes, der »eben so wohl antiquieret werden müsse, als es der Alte geworden« (§ 88). Wird das Ziel so bestimmt, dass einmal das vernünftige Handeln allen Menschen durch vernünftiges Schließen selbst zugänglich sein soll, dann bleibt für das Neue Testament eine Interimsfunktion, die für die Erziehung des Menschengeschlechts zumindest im Raum der christlichen Tradition und in einer bestimmten Phase, in der sich Lessing selbst noch sieht, freilich notwendig ist. Wann diese Phase nach Lessing vorüber sein wird, wann also das Neue Testament seine Bedeutung für zumindest den Raum der christlichen Tradition verlieren wird, lässt sich kaum abschließend klären. Der Gedanke, dass das menschliche Geschlecht niemals auf die »höchste Stufen der Aufklärung und Reinigkeit« kommen könnte (§ 81), scheint für Lessing eine Lästerung zu sein (§ 82). Die §§ 81f. der Erziehungschrift müssen freilich genau gelesen werden. In § 81 erwägt Lessing den Gedanken, dass das menschliche Geschlecht die höchste Entwicklung nicht erreichen könnte, in Frageform.

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Vgl. zu dem von Lessing im Anschluss an Offb 14,6f. gewählten Begriff des neuen, ewigen Evangeliums Johannes von Lüpke: Wege der Weisheit. Studien zu Lessings Theologiekritik. Göttingen 1989 (Göttinger theologische Arbeiten 41), S. 162–173.

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§ 81: »Oder soll das menschliche Geschlecht auf diese höchste Stufen der Aufklärung und Reinigkeit nie kommen? Nie?«

Dass dies für Lessing vor dem Hintergrund seines Denkens ein durchaus möglicher, ja geradezu nahe liegender Gedanke ist, macht die Fortsetzung in § 82 wahrscheinlich. Lessing wehrt die in § 81 unterstellte Überlegung hier nicht einfach apodiktisch ab, er bezeichnet sie auch nicht nur als unsinnig oder verwerflich. Offensichtlich scheut sich Lessing vor diesem Gedanken, dass niemals die höchste Stufe der Erziehung erreicht werden könnte, der ja durchaus konsequent vorstellbar wäre, so sehr, dass er mit einer Art Stoßgebet um Beistand bittet, dass dieser Gedanke nicht beherrschend werde. § 82: »Nie? – Laß mich diese Lästerung nicht denken, Allgütiger! – Die Erziehung hat ihr Ziel; bei dem Geschlechte nicht weniger als bei dem Einzeln. Was erzogen wird, wird zu Etwas erzogen.«

Lessing muss festhalten, dass die Erziehung des Einzelnen wie des Menschengeschlechts überhaupt ein konkretes Ziel hat, weil Erziehung ansonsten desaströs unterwandert werden könnte. Dass dies etwa nur innerhalb der menschlichen Erziehung gelte und nicht bei der Erziehung des Menschengeschlechts durch Gott, bezeichnet Lessing dann in § 84 wiederum emphatisch als Lästerung.100 Es kann keine Erziehung ohne erreichbares Ziel geben. Lessing verbreitet die Zuversicht, dass dieses Ziel der göttlichen Erziehung des Menschengeschlechts auch erreicht würde (§ 85). Ohne ein solches Ziel wäre der Vorgang der Erziehung ein unsinniges Unterfangen, die Erziehung des Einzelnen wie des Menschengeschlechts würde untergraben werden. § 85: »Nein; sie wird kommen, sie wird gewiß kommen, die Zeit der Vollendung …«

Aber auch dieser Paragraph klingt mehr wie eine Beschwörung als wie eine unbestreitbare Feststellung. Lessing benötigt den Gedanken eines konkreten und erreichbaren Ziels der Erziehung des Menschengeschlechts durch Gott, die innergeschichtliche Erreichbarkeit dieses Ziels bleibt aber fraglich. Wie etwa die Formulierung in § 85 der Erziehungsschrift erkennen lässt, ist dieses Ziel in der Zeit Lessings jedenfalls noch nicht erreicht. Er muss futurisch formulieren. 100

Der Ausruf am Ende von § 84 lautet: »Lästerung! Lästerung!«. Zu beachten ist freilich, dass sich in der zweiten Ausgabe der Erziehungsschrift von 1780 (1780 b), an der sich der Nachdruck im Jahr 1785 orientieren sollte, eine kleine Abweichung findet (vgl. dazu Arno Schilson und Axel Schmitt in: FA 10, S. 794). Der Ausruf lautet hier: »Lästerung! Lästerung?«. – An dieser Stelle kann sicher nicht entschieden werden, welches die ursprüngliche Lesart oder die der Intention Lessings tatsächlich entsprechende Variante ist. Aber immerhin könnte das Fragezeichen darauf hindeuten, dass der Gedanke, ein innergeschichtlich erreichbares Ziel der Erziehung könnte bestritten werden, durchaus möglich und vielleicht sogar nahe liegend und somit wohl höchst aufregend (»Lästerung«!), aber doch richtig ist (»Lästerung?«) ist. Das Fragezeichen bedeutete dann geradezu eine Zurücknahme der Bezeichnung des indizierten Gedankens als Lästerung. Vielleicht, so könnte man Lessing dann interpretieren, ist genau das der Fall, dass die göttliche Erziehung des Menschengeschlechts doch niemals zu einem Ende kommt in dem Sinne, dass das Menschengeschlecht in einem Vollsinne von einer aufgeklärten Vernunft bestimmt wäre.

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Er schließt sich an eschatologische und chiliastische Vorstellungen an.101 Auch daran kann deutlich werden, dass Lessing nicht eine Verwirklichung der Vollendung in einem umfassenden Sinne denkt. Wohl bricht das dritte Zeitalter an,102 es ist aber noch nicht vollendet.103 Der Weg der Vorsehung zur Erziehung des Menschengeschlechts ist eben doch ein ewiger Weg (§ 92), der aufgrund seiner Langsamkeit und »Unmerklichkeit« durchaus irre werden lassen könnte (§ 91). Wieder bittet Lessing die Vorsehung, ihn nicht verzweifeln zu lassen ob der Unerreichtheit des Zieles der Erziehung des Menschengeschlechts. § 91: »Geh deinen unmerklichen Schritt, ewige Vorsehung! Nur laß mich dieser Unmerklichkeit wegen an dir nicht verzweifeln. – Laß mich an dir nicht verzweifeln, wenn selbst deine Schritte mir scheinen sollten, zurück zu gehen! – Es ist nicht wahr, dass die kürzeste Linie immer die gerade ist.«

Die Erziehung des Menschengeschlechts ist gegenwärtig jedenfalls noch nicht vollendet. Die Aufklärung hat sich noch nicht umfassend durchgesetzt. Die Menschen bedürfen nach wie vor der Reizung der Vernunft durch das Neue Testament. Gerade wenn das Neue Testament aufs Ganze der Menschheitsgeschichte gesehen eine Interimsfunktion hat, muss zumindest nach Lessing notwendig dessen gegenwärtige geschichtliche Bedeutung – sicher nicht als Kanon, aber doch als zweites Elementarbuch – aus Gründen der Vernunft erinnert werden.

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An eschatologische Vorstellungen schließt Lessing erkennbar an, wenn er in Anspielung auf Offb 14,6 vom »neuen ewigen Evangelium[ ]« spricht. Chiliastische Motive sind hier im Anschluss an Joachim de Fiore erkennbar (vgl. dazu Arno Schilson und Axel Schmitt in: FA 10, S. 877f.; vgl. dazu auch Arno Schilson: Geschichte im Horizont der Vorsehung. Gotthold Ephraim Lessings Beitrag zu einer Theologie der Geschichte. Mainz 1974 [Trierer theologische Studien 3], S. 229–237). Zudem kann als den Hintergrund mit prägender Motivbereich die alte Vorstellung vom goldenen Zeitalter benannt werden (vgl. dazu Daniel Cyranka [s. Anm. 92], S. 382–390). Dies betont gegen Johannes von Lüpke Daniel Cyranka (s. Anm. 92), S. 380, Anm. 1345. Vgl. dazu von Lüpke (s. Anm. 99), S. 171.

Merio Scattola

Was sind Axiomata? Lessing und die Suche nach religiöser Wahrheit

Warum heißt Lessings Schrift Axiomata? Warum hat er seiner Schrift diesen Titel gegeben? Auf diese Frage kann man zwei Antworten geben. Die erste und unmittelbare Antwort fällt ziemlich harmlos aus, denn sie weist auf eine Kette von Zufälligkeiten hin und kann sogar den Titel als ein ironisches Wortspiel enthüllen, das den Gegenstand des Werkes offensichtlich nicht besonders ernst nahm.1 In diesem Sinn könnte man vielleicht auch schließen, daß Lessings Axiomata keine echten Axiome enthalten. Andererseits ist der Zufall, vor allem bei einem Schriftsteller wie Lessing, besonders ernst zu nehmen, und tatsächlich ist der Titel dieser Schrift mit ihrem wichtigsten Anliegen verbunden oder ist sogar ein direkter Ausdruck ihres Zieles, denn genau gesehen ging die Polemik mit Johann Melchior Goeze um die genaue Bedeutung der unmittelbaren Wahrheit in der religiösen Erkenntnis und daher um die Frage, ob religiöse Axiome möglich sind und wie sie aussehen sollen. Der Zufall erweist sich hier also als Tarnung des wesentlichen Punktes.

1 Die Erfindung des Titels Lessings Axiomata erschienen im März 1778 kurz nach seiner Parabel. Bekanntlich antworteten beide Schriften auf den polemischen Angriff des Hamburger Hauptpastors Johann Melchior Goeze (1717–1786), der im Dezember 1777 mit zwei Beiträgen die Veröffentlichung der Wolfenbütteler Fragmente heftig kritisiert hatte. Der wahre Gegenstand dieses Angriffs waren eigentlich die »Gegensätze des Herausgebers«, in denen Lessing auch die Fragmente des Wolfenbütteler Anonymen, das heißt des Hermann Samuel Reimarus (1694–1768), ablehnend kommentiert hatte.2 Schon im Untertitel der 1

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Vgl. Arno Schilson: »Glanz der Wahrheit« oder »blendender Stil«? Überlegungen zu Gegenstand und Methode in Lessings Streit mit Goeze. In: Streitkultur. Strategien des Überzeugens im Werk Lessings. Hg. von Wolfram Mauser und Günther Sasse. Tübingen 1993, S. 56–77; Monika Fick: Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2000, S. 344–374, hier S. 365–371. Arno Schilson: Kommentar. In: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Wilfried Barner u. a. Frankfurt am Main 1985–2003 (im folgenden zitiert als FA für ›Frankfurter Ausgabe‹ mit Band- und Seitenzahl), Bd. 9, S. 838–839.

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Axiomata äußert Lessing eine ironische Intention, indem er scheinbar an der Existenz von Axiomen in der Religion zweifelt. Der vollständige Titel lautet tatsächlich Axiomata, wenn es deren in dergleichen Dingen giebt. Mit »dergleichen Dinge« sind hier selbstverständlich die theologischen Streitigkeiten gemeint. Das Motto oder die Widmung, die auf demselben Titelblatt erscheint und der lateinischen Logik Christian Wolffs entnommen ist, erklärt aber dem Leser, daß es in dergleichen Materie dergleichen Axiome doch gebe, allein man müsse einen scharfen Verstand haben und sie richtig erkennen können. Es lautet: »Für solche, die kraft ihres Scharfsinns imstande sind einzusehen, daß der Begriff des Prädikates im Begriff des Subjektes ‹enthalten und zugleich› auf unlösbare Weise damit verknüpft ist.«3 Andererseits wollte Wolff an dieser Stelle gerade den Unterschied zwischen Theoremen und Axiomen beweisen, also die Differenz zwischen beweisbaren und unbeweisbaren Aussagen erläutern. Si quis acumine pollet notionem praedicati in notione subiecti indivulso nexu cum ea cohaerentem pervidendi, is axiomata et postulata a propositionibus demonstrativis discernere valet. Etenim qui acumine isto pollet, is propositiones indemonstrabiles seu quae demonstratione non indigent (par. 262) a demonstrativis discernere valet (par. 263, 264). Sed propositiones indemonstrabiles sunt axiomata et postulata (par. 267, 269). Ergo axiomata et postulata a propositionibus demonstrativis discernere valet.4

Eine letzte Anmerkung im Titel der Axiomata erinnert uns schließlich daran, daß diese Schrift gegen den Pastor Goeze verfaßt worden ist und daß sie die zweite einer Serie ist, die mit der Parabel anfing und mit den übrigen acht (oder neun) Schriften des Anti-Goeze fortgeführt wurde. Schon in dieser frühen Phase mußte also Lessing auf eine langwierige Kontroverse gefaßt sein. Schon auf dem Titelblatt findet man also sowohl die Fragestellung als auch die Lösung des in der Schrift und vielleicht auch im ganzen Disput abgehandelten Problems. Anderes hätte man nicht von einem Schriftsteller wie Lessing erwarten können, der sachliche Argumentation und literarisches Talent eng verbindet5 und dem die Gegner auch tatsächlich vorwerfen, daß er sich mit einer »Theaterlogik« amüsiert.6 In diesem Sinne könnte man das Titelblatt als eine Bühne ansehen, auf der noch verschlüsselt und schwer erkennbar alle Figuren des Spieles auftreten und dem Leser die ganze Argumentation gleichzeitig vorwegnehmen und zusam3 4

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FA 9, S. 53: »– – – – acumine pollentibus notionem praedicati in notione subiecti indivulso nexu cum ea cohaerentem pervidendi.« Christian Wolff: Philosophia rationalis sive logica. Pars III (1728). Hg. von Jean École. Hildesheim 1983 (Christian Wolff: Gesammelte Werke I/1.3), pars 2, sect. 5, cap. 1, par. 1156, S. 810–811. Zum Programm einer geistreich gelehrten Sprache, die den Wirkungskreis aufklärerischer Auseinandersetzungen über Fundamentalfragen erweitern sollte, vgl. Werner Gaede: Die publizistische Technik in der Polemik Gotthold Ephraim Lessings. Berlin 1955, S. 62–77; Helmut Göbel: Bild und Sprache bei Lessing. München 1971, S. 23; Thomas Mann: Rede über Lessing (1929). In: Thomas Mann: Leiden und Größe der Meister. Frankfurt am Main 1982, S. 19; Schilson: Kommentar. In: FA 9, S. 789–796. Johann Melchior Goeze: Etwas Vorläufiges III (April 1778). In: FA 9, S. 119–123; Gotthold Ephraim Lessing: Anti-Goeze. Zweiter. In: FA 9, S. 149–154.

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menfassen. Das Titelblatt sagt uns nämlich dreierlei. Erstens handelt es sich hier um eine polemische Schrift gegen den Pastor Goeze; zweitens sollte sie Axiome enthalten, die hier aber auf eine Disziplin, die Theologie bezogen werden, die offensichtlich keine allgemein eindeutigen Erkenntnisse zuläßt. Insofern hätte Goeze einen Fehler begangen, indem er unbeweisbare Wahrheiten in die Diskussion einführte. Drittens kann man aber doch Axiome auch in der Theologie entdecken. Nicht alle Menschen sind aber in der Lage, sie klar anzuerkennen. Man muß acumine pollens sein, man muß Scharfsinn besitzen und Einblick in die eigentliche Beschaffenheit der Dinge haben. Und wenn man ein derartiger Mensch, also ein Mensch wie Lessing ist, kann man einsehen, wie die Axiome der Religion beschaffen sind. Sie sind nämlich rein analytischer Natur, denn die Idee des Prädikats ist vollständig und vollkommen in der Idee des Subjekts eingeschlossen, so daß man sofort alle Prädikate oder Eigenschaften eines Subjekts erkennt, sobald man dessen Begriff erfaßt hat. Diese Verbindung wird durch eine ununterbrochene Kette der Ideen hergestellt, durch einen nexus indivulsus, einen Ausdruck aus der Gnoseologie von Christian Wolff und Heinrich Köhler,7 der den logisch notwendigen Zusammenhang zwischen zwei Ideen bezeichnete. Dementsprechend wird auch die Definition des Prädikats immer mit der Definition des Subjekts konsequent (cohaerens) sein. Ein Axiom der Religion wird in diesem Sinne als ein geschlossener Kreis erscheinen, der seinen Anfang oder seine Wahrheit aus sich selbst erhält und keinen Zugriff auf eine äußere, außenstehende oder außerordentliche Quelle zuläßt. Lessing wird im Laufe seiner Argumentation dieses Gebilde als eine »innere Wahrheit« bezeichnen, »die keiner Beglaubigung von außen bedarf«.8 Diese Beobachtung enthält aber den Kern der ganzen Auseinandersetzung mit Goeze, die demzufolge im Grunde ein Disput über die Axiome und über das

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Christian Wolff: Cosmologia generalis (1731). Hg. von Jean École. Hildesheim 1964 (Christian Wolff: Gesammelte Werke II/4), sect. 1, cap. 1: De rerum nexu et quomodo inde resultet universum, S. 9–57, hier par. 55, S. 52–54: »Mundus adspectabilis est series rerum simultanearum et successivarum inter se connexarum«; Christian Wolff: Philosophia moralis sive ethica (1750). Hildesheim 1970 (Christian Wolff: Gesammelte Werke II/12), pars 1, cap. 3, par. 285, S. 440–442; Christian Wolff: Institutiones iuris naturae et gentium (1750). Hg. von Marcel Thomann. Hildesheim 1969 (Christian Wolff: Gesammelte Werke II/26), pars 1, cap. 2, par. 62, S. 32–33; Heinrich Köhler: Iuris naturalis eiusque cumprimis cogentis methodo systematica propositi exercitationes VII (1738). Hildesheim 2004 (Christian Wolff: Gesammelte Werke. Materialien und Dokumente 86), exerc. 2, par. 288, S. 69. Vgl. Hans Werner Arndt: Einführung. In: Christian Wolff: Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkenntnis der Wahrheit [Deutsche Logik] (1713). Hg. von Hans Werner Arndt. Hildesheim 21978 (Christian Wolff: Gesammelte Werke I/1), S. 7–102, hier S. 89–92; Ferdinando Luigi Marcolungo: Wolff e il problema del metodo. In: Nuovi studi sul pensiero di Christian Wolff. Hg. von Sonia Carboncini, Luigi Cataldi-Madonna. Hildesheim 1992 (Christian Wolff: Gesammelte Werke III/31), S. 11–38, hier S. 15–19; Hans Poser: Philosophia practica come sistema. La scienza nuova dell’agire di Christian Wolff. In: La filosofia pratica tra metafisica e antropologia nell’età di Wolff e Vico. Hg. von Giuseppe Cacciatore. Napoli 1999, S. 1–23, hier S. 4–5. FA 9, S. 79.

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›Axiomhafte‹ in der christlichen Religion war. Lessing erreicht dieses Ziel durch eine Doppelbewegung: Er beschreibt zehn Aussagen über die christliche Religion; diese entpuppen sich dabei als unechte Axiome, geben aber gleichzeitig wahre Auskunft über die eigentlichen Axiome des Christentums. Die Benennung für seine Schrift entleiht Lessing einer polemischen Passage Goezes, wie er schon zu Beginn seiner Argumentation erwähnt.9 In seinem ersten Aufsatz hatte Goeze nämlich eine Stelle aus dem Anfang der »Gegensätze des Herausgebers« ausgewählt – hier faßte Lessing seine Antwort auf die historische Kritik von Reimarus zusammen –,10 hatte sie in zehn getrennte Aussagen unterteilt und letztere eher ablehnend als »Axiome« bezeichnet. Ich finde in dieser ganzen Stelle auch keinen einzigen Satz, den ich in der Verbindung, in welcher er hier stehet, für richtig erkennen könnte. Der Hr. Herausgeber hat sie zwar alle als lauter Axiomen dahin gepflanzet, aber einige davon bedürfen allerdings noch einen sehr starken Beweis, die übrigen, und das sind die meisten, sind erweislich falsch.11

Zu dieser Benennung, die den abwertenden Intentionen des Verfassers vollkommen entspricht, kam Goeze durch eine rhetorische Steigerung, die etwas Zufälliges an sich hat. Er bezog sich nämlich zuerst auf Lessings Gegensätze. Er nannte sie aber später, im Verlauf seiner Argumentation, ohne einen erkennbaren Grund und wahrscheinlich aus Versehen Grundsätze. Meine Absicht ist gegenwärtig nicht, über die, in den Fragmenten enthaltene Angriffe, oder über die, in den Grundsätzen sein sollende Verteidigung der christlichen Religion, eine genaue Untersuchung anstellen.12

Offensichtlich redet hier Goeze von den Fragmenten des Unbekannten und von den Gegensätzen des Herausgebers, die aber als Grundsätze bezeichnet werden. In der Sprache der zeitgenössischen Schulphilosophie war aber Grundsatz die deutsche Bezeichnung für das Griechische Axioma.13 Wegen dieser Identität war daher der Sprung zum Namen Axioma naheliegend. So wurden auch die (Gegen-)Sätze Lessings für Axiome gehalten, und Lessing konnte diese Benennung scherzend oder im Ernst auch in seiner Antwort anwenden. Zusammenfassend: Lessing schrieb seine Gegensätze, Goeze kam offensichtlich durch ein Mißverständnis von den Gegensätzen zu den Grundsätzen und von diesen zu den Axiomen; Lessing nahm die neue Bezeichnung auf und wandte sie wieder auf seine Grundsätze, die jetzt also Axiomata hießen.

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FA 9, S. 55. Gotthold Ephraim Lessing: Gegensätze des Herausgebers. In: FA 8, S. 312–313. Johann Melchior Goeze: Etwas Vorläufiges I (Dezember 1777). In: FA 9, S. 13. Goeze (s. Anm. 11), S. 12. Alexander Gottlieb Baumgarten: Acroasis logica in Christianum l. b. de Wolff (1761). Hildesheim 21983 (Christian Wolff: Gesammelte Werke III/5), par. 169, S. 49: »Propositio indemonstrabilis theoretica est axioma (ein Grundsatz), practica postulatum (ein Heischesatz)«. Vgl. Christian Wolff: Philosophia rationalis sive logica. Pars II (1728). Hg. von Jean École. Hildesheim 1983 (Christian Wolff: Gesammelte Werke I/1.2), pars 2, sect. 1, cap. 2, par. 562, S. 428.

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2 Die Sprache der Zeit Auch in diesem ersten, eher oberflächlichen, stilistisch-formalen und ›uneigentlichen‹ Sinne gelten Lessings Axiomata aber mehr als eine scherzhafte Anspielung auf die Worte des Gegners und wirken tatsächlich in ihrer philosophischen Bedeutung als »propositiones theoreticae indemonstrabiles«, wie es Christian Wolff in seiner lateinischen Logik formulierte.14 ›Axioma‹ und ›Axiomata‹ waren selbstverständlich wichtige Ausdrücke in der wissenschaftlichen Sprache der Zeit und waren aus einer langen und noch heute umstrittenen Geschichte hervorgegangen.15 Das Wort ਕȟ઀ȦȝĮ wurde schon von Aristoteles (384–323 v. Chr.) in seiner Metaphysik benutzt, um jene allgemeinen Vorstellungen oder Erkenntnisse zu bezeichnen, die sowohl für die Mathematik als auch für alle anderen Wissenschaften gelten.16 Ein Beispiel hierfür ist der Satz: »Ein Teil ist immer kleiner als sein Ganzes«, oder der Satz: »Wenn man einen gleichen Teil von zwei gleichen Größen wegnimmt, bleiben die Größen gleich«, also das, was wir heute als invariantive Eigenschaft einer Beziehung erfassen. In seinen Elementen hatte aber Euklid (365?–300? v. Chr.) drei Klassen von Prinzipien anerkannt: dreiundzwanzig ੕ȡȠȚ (definitiones), fünf ĮੁIJ੾ȝĮIJĮ (postulata) und fünf țȠȚȞĮ੿ ਩ȞȞȠȚĮȚ (notiones communes). Die ੕ȡȠȚ waren die Definitionen von Punkt, Linie, Ebene und so weiter. Die ĮੁIJ੾ȝĮIJĮ (postulata) waren die besonderen Ausgangsaussagen der Geometrie, also das, was wir heute Axiome oder Grundsätze nennen, zum Beispiel der Grundsatz der parallelen Geraden. Die țȠȚȞĮ੿ ਩ȞȞȠȚĮȚ (communes notiones) waren bei Euklid die allgemeinen und generell verbreiteten Vorstellungen, die in allen Disziplinen gelten, zum Beispiel der Satz: »Ein Teil ist kleiner als sein Ganzes«.17 Die țȠȚȞĮ੿ ਩ȞȞȠȚĮȚ des Euklid waren daher dasselbe, was die ਕȟȚઆȝĮIJĮ des Aristoteles waren. Dies ist auch der Umstand, an den die philologische Auseinandersetzung anknüpft, denn man kann annehmen, daß die Bezeichnung țȠȚȞĮ੿ ਩ȞȞȠȚĮȚ eine spätere Interpolation für die ursprünglichen ਕȟȚઆȝĮIJĮ war, und daß auch Euklid demzufolge Axiome gekannt hat. Die Rezeption durch die lateinische Theologie wurde maßgeblich von Boethius (475?–526?) bestimmt, der in seiner kleinen Schrift De hebdomadibus den Ausdruck țȠȚȞĮ੿ ਩ȞȞȠȚĮȚ mit der lateinischen Formel communes animi conceptiones übersetzte. »Communis animi conceptio est enuntiatio quam quis-

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Wolff, Philosophia rationalis (s. Anm. 13), pars 1, sect. 3, cap. 2, par. 267, S. 258. Christian Thiel: Axiom. In: Enzyklopädie. Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 1. Hg. von Jürgen Mittelstraß. Mannheim 1980, S. 239b–241a; Árpád Szabó: Axiom. I. Axiom und Postulat. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 1. Hg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer. Basel 1971, Sp. 737–741; Ludger Oeing-Hanhoff: Axiom. II. Geschichte. In: Ebd., Sp. 741–748. Aristoteles: Metaphysica, lib. III, cap. 3, 1005a 18–20. Euclides: Elementorum Euclidis libri XV ad Graeci contextus fidem recensiti. Hg. von Georg Friedrich Baermann. Lipsiae 1769, lib. I, Definitiones, S. 1–4; Postulata, S. 4; Communes notiones sive axiomata, S. 5–6.

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que probat auditam.«18 Ein weiterer Strang dieser Begriffsgeschichte setzte mit Isidor von Sevilla (560?–636) an, der in seinen Etymologien (623) die Gleichheit von natürlichen und göttlichen Gesetzen deutlich formulierte;19 das Decretum Gratiani (1147?) nahm diese Gleichstellung in sein erstes Kanon auf und interpretierte sie als die Identität von ius naturale, lex, das heißt Dekalog, und Evangelium.20 Die Glossatoren und Kommentatoren des Decretum, die sogenannten Dekretisten, vereinigten bald, schon vor dem Ende des zwölften Jahrhunderts, beide Überlieferungslinien (Aristoteles-Euklid-Stoa einerseits und Isidor-Decretum andererseits) und kamen zum Ergebnis, daß ius naturale, Dekalog und Evangelium denselben Gehalt hatten und daß sie als communes conceptiones zu verstehen waren, die Gott während der Schöpfung der menschlichen Seele eingepflanzt hatte.21 Die zehn Gebote waren also notitiae inditae oder angeborene Ideen oder angeborene Axiome. Dieser Komplex wurde von der Scholastik in den Werken von Albertus Magnus (1200?–1280) und Thomas von Aquin (1225?–1274) aufgenommen,22 bis ins sechzehnte Jahrhundert weiter überliefert und auch von der evangelischen Theologie übernommen. In diesem Sinne interpretierte Philipp Melanchthon (1497–1570) in seinen Loci theologici communes die zehn Gebote als Kompendium des göttlichen Gesetzes, das im Herzen des Menschen als eine Reihe von aktuellen notitiae inditae oder communes conceptiones oder angeborenen Axiomen vorhanden ist.23 Die katholische Spätscholastik hielt sich dagegen an die thomi18

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Anicius Manlius Severinus Boethius: Quomodo substantiae in eo quod sint, bonae sint, cum non sint substantialia bona liber. Ad Ioannem Diaconum ecclesiae Romanae [= De hebdomadibus]. In: Anicius Manlius Severinus Boethius: Opera omnia. Hg. von JacquesPaul Migne. Lutetiae Parisiorum 1847 (Patrologiae cursus completus. Series Latina 64), Sp.1311b. Isidorus Hispalensis: Etymologiarum libri XX. In: Isidorus Ispalensis: Opera omnia (1797). Hg. von Faustino Arévalo. Parisiis 1850 (Patrologiae cursus completus, Series Latina 82), lib. V, cap. 2, par. 1, Sp. 198. Gratianus: Decretum magistri Gratiani. In: Corpus iuris canonici. Hg. von Emil Ludwig Richter und Emil Friedberg. Leipzig 1879, pars 1, dist. 1, can. 1, dictum ante, Sp. 1. Rufinus: Summa magistri Rufini zum Decretum Gratiani. Hg. von Johann Friedrich von Schulte. Gießen 1892, dist. 1, Humanum genus, S. 4; Stephanus Tornacensis: Die Summa über das Decretum Gratiani. Hg. von Johann Friedrich von Schulte. Gießen 1891, dist. 1, Humanum genus, S. 7. Vgl. Johann Friedrich von Schulte: Die Geschichte der Quellen und Literatur des canonischen Rechts. I. Von Gratian bis auf Papst Gregor IX. Stuttgart 1875 (Repr. Graz 1956), Buch I, Abt. 2, Kap. 1, Par. 26, S. 121–130 und Par. 28, S. 133–136. Albertus Magnus: Super Ethica commentum et quaestiones. Hg. von Wilhelm Kübel. In: Albertus Magnus: Opera omnia. Monasteri Westfalorum 1968. Bd. 16, pars 1, S. 365–372; Thomas Aquinas: Sententia libri Ethicorum. In: Thomas Aquinas: Opera omnia. 4. Commentaria in Aristotelem et alios. Hg. von Roberto Busa. Stuttgart-Bad Cannstatt 1980, lib. V, cap. 12, par. 3, S. 188; Iohannes Buridanus: Super decem libros Ethicorum. Parrhisiis 1513 (Repr. Frankfurt am Main 1968), lib. V, cap. 19, Bl. 107r–108r und lib. V, par. 20, Bl. 108v–109r. Vgl. Merio Scattola: Das Naturrecht vor dem Naturrecht. Zur Geschichte des ius naturae im sechzehnten Jahrhundert. Tübingen 1999, S. 29–33. Philipp Melanchthon: Loci communes rerum theologicarum seu hypotyposes theologicae (1521). In: Philipp Melanchthon: Opera quae supersunt omnia. Bd. 21. Libri Philippi Melanthonis in quibus dogmata doctrinae Christianae exposuit. Hg. von Karl Gottlob Bretschneider und Heinrich Ernst Bindseil. Brunsvigae 1854, Sp. 116–117; Philipp

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stische Interpretation, daß wir actualiter keine angeborenen Inhalte besitzen, daß wir aber unmittelbar, nullo negotio, bestimmte Wahrheiten anerkennen können, sobald wir ihren Begriff erfassen.24 Sobald wir zum Beispiel die Idee des Menschen erfassen, wissen wir sofort, daß wir nicht töten, nicht stehlen oder keine Unzucht treiben sollen. Im späten sechzehnten Jahrhundert verbreitete sich aber auch die ramistische Benutzung des Wortes, die aus der galenischen Medizin übernommen wurde und ਕȟ઀ȦȝĮ eher im Sinne von į૵ȖȝĮ verstand. Ein Axiom war in diesem Sinn ein Satz, der wert (ਙȟȚȠȢ) ist, berücksichtigt zu werden, oder der als Beginn einer dialektischen Auseinandersetzung von beiden Parteien angenommen wird. Daher nannte Giambattista Vico (1668–1744) solche Sätze auch degnità, weil sie wert (degni) waren, an erster Stelle zu stehen.25 In demselben Sinn konnte man hier auch von ›Dogmata‹ oder ›Dogmen‹ reden und man bezeichnete mit diesem Ausdruck auch die Axiome oder degnità der hippokratisch-galenischen Medizin,26 die demzufolge auch als »dogmatische oder rationale Medizin« galt.27 Noch im achtzehnten Jahrhundert und zur Zeit Lessings kann man beide Bedeutungen im Gebrauch dieses Begriffs unterscheiden, die auch in den lexikographischen Werken der Zeit, zum Beispiel in Zedlers Großem Universal-

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Melanchthon: Loci praecipui theologici (1559). In: Ebd., Sp. 711–712. Vgl. Scattola (s. Anm. 22), S. 34–55; Merio Scattola, »Notitia naturalis de Deo et de morum gubernatione«. Die Naturrechtslehre Philipp Melanchthons und ihre Wirkung im 16. Jahrhundert. In: Melanchthon und die Marburger Professoren (1527–1627). Hg. von Barbara Bauer. Marburg 1999, S. 865–882. Domingo de Soto: De iustitia et iure libri decem (1556–1557). Hg. von Venancio Diego Carro. Madrid 1967–1968, Bd. 1, lib. I, quaest. 4, art. 1, S. 29b. Vgl. Merio Scattola: Naturrecht als Rechtstheorie. Die Systematisierung der res scholastica in der Naturrechtslehre des Domingo de Soto. In: Die Ordnung der Praxis. Neue Studien zur Spanischen Spätscholastik. Hg. von Frank Grunert und Kurt Seelmann. Tübingen 2001, S. 21–47, hier S. 44–47. Giambattista Vico: La scienza nuova giusta l’edizione del 1744. Hg. von Fausto Nicolini. Bari 1978, lib. I, sez. 2, par. 119, S. 91: »Per dar forma adunque alle materie qui innanzi apparecchiate sulla Tavola cronologica, proponiamo ora qui i seguenti assiomi o degnità così filosofiche come filologiche, alcune poche, ragionevoli e discrete domande, con alquante schiarite diffinizioni; le quali, come per lo corpo animato il sangue, così deono per entro scorrervi ed animarla in tutto ciò che questa Scienza ragiona della comune natura delle nazioni.« Claudius Galenus: Methodi medendi liber I[–XIV]. In: Claudius Galenus: Opera omnia. Hg. von Karl Gottlob Kühn. Lipsiae 1825, tom. 10, lib. 1, cap. 4, S. 30–39, hier S. 34; [Anonymus]: Axioma [2]. In: Grosses vollständiges Universal Lexikon Aller Wissenschaften und Künste. Hg. von Johann Heinrich Zedler. Leipzig und Halle 1732. Bd. 1, Sp. 2284: »Axioma, ਕȟ઀ȦȝĮ, communis notio, eine Maxime, ein Grundsatz, Ausspruch, dadurch man etwas bejahet oder verneinet, welches gar keinen Beweis bedarff.« Vgl. auch Mirjam Elze: Dogma. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie (s. Anm. 15), Bd. 2, Sp. 275–278. [Anonymus]: Dogmatica medicina seu rationalis. In: Grosses vollständiges Universal Lexikon Aller Wissenschaften und Künste (s. Anm. 26), Bd. 7, Sp. 1159.

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lexikon, verzeichnet und voneinander klar getrennt wurden.28 Einerseits galt die ramistische, eigentlich ausgestorbene Definition: »Axioma hieß in der alten Philosophia, und sonderlich bey denen Ramisten, eine jedwede Proposition, sie möchte nun wahr oder falsch seyn.«29 Daneben galt die eigentliche mathematisch-technische Bedeutung. In der neuern [Philosophia] aber ist es ein Grundsatz, aus welchem andere Warheiten gefolget werden. Die Mathematici halten sie vor Sätze, die nicht weiter müssen erwiesen werden, weil sie unmittelbar auf denen Sinnen beruhen […], welches zwar in der Mathesi, aber nicht in der Philosophie angehet […]. In der Philosophie sind es auch Sätze, die aus keinen andern Sätzen bewiesen werden, sondern sie werden unmittelbahr aus denen definitionibus hergenommen […]. Um eine Proposition zu einem Axiomate zu machen, werden ad rectitudinem Axiomaticam erfordert 1) accurata modalitas, 2) accurata quantitas, 3) accurata qualitas.30

Wie uns auch Lessings Motto gezeigt hat, war diese philosophische und mathematische Bedeutung die herrschende Auffassung in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, die vom Sprachgebrauch Christian Wolffs bestimmt wurde.31 In seinem Mathematischen Lexikon gibt Wolff folgende Definition: Axioma, ein Grundsatz, wird insgemein genennet ein so klarer Satz, den man ohne Beweiß zugeben kan. […] Wenn man gantz genau reden will, so sind diejenigen Sätze die rechten Grund-Sätze, in denen das Förderglied mit dem Hintergliede einerley Bedeutung hat. Im Lateinischen nennet man sie propositiones identicas. Denn diese allein werden ohne allen Beweiß angenommen; die übrigen lassen sich alle beweisen. […] Insgemein wird dieser Nahme gar sehr gemißbrauchet, sonderlich von denen, welche die mathematische Methode ausser der Mathematick brauchen wollen. Denn sie nennen Grund-Sätze, was sie nicht erweisen können; jedoch öffters höchstnötig solte erwiesen werden.32

Dieselbe Sprache war aber nicht nur den theoretischen Wissenschaften eigen, sondern auch in den praktischen Disziplinen verbreitet, denen auch die Theologie angehörte.33 Das späte siebzehnte und das ganze achtzehnte Jahrhundert 28

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Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart (1774). Wien 1811, Sp. 674–675: »Das Axiom, des -es, plur. die -e, aus dem Griech. und Latein. Axioma, ein Satz, von dessen Richtigsein, man sogleich bey dem ersten Anblicke überzeugt wird, ingleichen ein allgemeiner Satz, welchen man ohne Beweis einräumt; in beyden Fällen im Deutschen ein Grundsatz.« [Anonymus]: Axioma [1]. In: Grosses vollständiges Universal Lexikon Aller Wissenschaften und Künste (s. Anm. 26), Bd. 1, Sp. 2284. Ebd., Sp. 2284. Christian Wolff: Anfangs-Grunde aller mathematischen Wissenschaften (1710). Hg. von Joseph Ehrenfried Hofmann. Hildesheim 1999 (Christian Wolff: Gesammelte Werke I/12), Teil 1, Par. 29–32, S. 16–18; Ehrenfried Walter von Tschirnhaus: Medicina mentis, sive ars inveniendi praecepta generalia. Lipsiae 1695, pars 2, sect. 2, S. 117–118. Christian Wolff: Mathematisches Lexicon (1716). Hg. von Joseph Ehrenfried Hofmann. Hildesheim 1965, (Christian Wolff: Gesammelte Werke I/11), Axioma, Sp. 223–224. Vgl. auch Wolff: Philosophia rationalis sive logica II (s. Anm. 13), pars 1, sect. 3, cap. 2, par. 270, S. 259–260. Gerhard Sauter: Dogmatik I. In: Theologische Realenzyklopädie Bd. 9. Hg. von Gerhard Müller. Berlin, New York 1982, S. 41–77, hier S. 45 und Anm. 20, S. 71. Vgl. Bartholomaeus Keckermann: Systema sacratissimae theologiae tribus libris adornatum (1602). Hanoviae 1615, S. 9; Balthasar Meisner: Philosophia sobria. Hoc est, pia

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können nämlich als die Zeit einer bewußten Theoretisierung der praktischen Philosophie angesehen werden. Seit der Einführung des Naturrechts in die akademische Ausbildung, strebte die praktische Philosophie in ihren unterschiedlichen Varianten das Ziel an, sich in eine Wissenschaft des menschlichen Handelns zu verwandeln, die die eigenen Lehren in der Form einer streng notwendigen Theorie darstellen sollte.34 Dieses weitreichende Projekt läßt sich durch eine erkenntnistheoretische Formel zusammenfassen, die die drei Hauptbegriffe von Prinzip, System und Methode in einer einzigen Gleichung verband. Sie bestimmte ein Dreieck der moralphilosophischen Erkenntnis, in dem Prinzip und System als zwei Aggregatzustände derselben Materie galten und sich durch die Methode ineinander verwandeln konnten.35 Da das Prinzip ein synthetisiertes System ist, wird man die Hauptfrage zur Aufstellung eines wissenschaftlichen Systems erst dann lösen, wenn man sein wahres Prinzip oder seinen Grundsatz richtig bestimmt. Aber in der erwähnten Gleichung der moralphilosophischen Erkenntnis ist ›Prinzip‹ eine andere Benennung für ›Axiom‹, so daß die wissenschaftliche Hauptaufgabe auch als Problem der Identifizierung des wahren moralphilosophischen Axioms verstanden werden kann. In diesem Sinn führte Heinrich Köhler, gefolgt von Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762),36 die axiomata divina als Prinzip des Naturrechts ein und meinte mit diesem Ausdruck einen von den zwei Wegen zur Erkenntnis der sittlichen Verpflichtung. Die Autoren dieser ehrwürdigen Disziplin haben gewöhnlich das Natur- und Völkerrecht entweder aus der Betrachtung von der Natur des Menschen und der anderen Dinge allein oder aus den göttlichen Grundsätzen (ex axiomatibus divinis) oder aus diesen beiden Quellen geschöpft.37

Beide Methoden werden hier als zwei Alternativen vorgestellt: Man hat einerseits die bloße Erforschung der Natur, andererseits die göttlichen Belehrungen

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consideratio quaestionum philosophicarum, in controversiis theologicis, quas Calviniani moverunt orthodoxis, subinde occurrentium. Giessae Hassorum 1611, pars 1, S. 128; Georg Calixt: Epitome Theologiae (1619). Helmestadii 1661, S. 4, 40. Merio Scattola: »Prudentia se ipsum et statum suum conservandi«. Die Klugheit in der praktischen Philosophie der frühen Neuzeit. In: Christian Thomasius (1655–1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Hg. von Friedrich Vollhardt. Tübingen 1997, S. 333–363, hier S. 333–341; Merio Scattola: Dalla virtù alla scienza. La fondazione e la trasformazione della disciplina politica nell’età moderna. Milano 2003, S. 510–517; Merio Scattola: Krieg des Wissens – Wissen des Krieges. Konflikt, Erfahrung und System der literarischen Gattungen am Beginn der Frühen Neuzeit. Padova 2006, S. 103–107. Merio Scattola: Principium oder principia? Die Diskussion über den Rechtsgrundsatz im 16. und 17. Jahrhundert. In: Jahrbuch für Recht und Ethik 12 (2004), S. 3–26, hier S. 3–7; Merio Scattola: Il principio del diritto nella riflessione di Ugo e Guglielmo Grozio. In: Il diritto naturale della socialità. Tradizioni antiche ed antropologia moderna nel XVII secolo. Hg. von Vanda Fiorillo und Friedrich Vollhardt. Torino 2004, S. 79–101. Alexander Gottlieb Baumgarten: Ius naturae. Halae Magdeburgicae 1763, Prolegomena, par. 6, S. 3–4. Köhler (s. Anm. 7), exerc. 2, par. 286, S. 67: »Ius naturae et gentium vel ex solius naturae hominis aliarumque rerum contemplatione vel ex axiomatibus divinis vel ex utroque fonte derivare consueverunt sanctioris huius disciplinae commentatores.«

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(axiomata divina). Man würde sich aber täuschen, wenn man solche göttliche Axiome im Sinne einer Offenbarung verstünde, als einen Abstieg Gottes zum Menschen, wie es im Falle der Menschwerdung Christi, oder der angeborenen Ideen geschah. Was Köhler und Baumgarten hier beschreiben, ist eigentlich der Aufstieg der menschlichen Vernunft bis zu Gott. Die Vernunft kann sich nämlich mit den eigenen Mitteln bis zum höchsten Wesen erheben, seinen Begriff anerkennen und dessen vernünftige Notwendigkeit erfassen. In dieses erste und vollkommene Wesen, Gott genannt, setzt man auch das Prinzip des Naturrechts, und so kann Köhler behaupten, daß der Mensch, in der reinen Sphäre der Vernunft betrachtet, durch die Erkenntnis Gottes die ersten Grundlagen der Moralphilosophie bestimmen und die Notwendigkeit aller naturrechtlichen Gesetze beweisen kann.38 In Köhlers und Baumgartens Naturrecht eignete sich die Moralphilosophie einige Begriffe der rationalen Theologie an und zeichnete dadurch einen Weg von der Theologie in die Philosophie, aber der Prozeß lief auch in die entgegengesetzte Richtung, von der Philosophie in die Theologie, indem die rationale Theologie die Methodik der praktischen Philosophie zur Systematisierung theologischer Materien anwandte, wie es im Fall von Siegmund Jakob Baumgarten (1706–1757) geschah,39 der die Wolffische Methode auf die Darstellung theologischer Wahrheiten anwandte.40 Mit Johann Lorenz Schmidt (1702–1749) und dessen Wertheimer Bibel (1735) wurde diese Tendenz radikalisiert und geriet in die Mitte einer breiten öffentlichen Kontroverse um das Verhältnis zwischen Offenbarung und Vernunft.41 Johann Christoph Gatterer (1727–1799) und

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Köhler (s. Anm. 7), exerc. 2, par. 288, S. 69; exerc. 1, par. 82, S. 21. Vgl. Merio Scattola: Die Naturrechtslehre Alexander Gottlieb Baumgartens und das Problem des Prinzips. In: Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte 20 (2008) (Themenschwerpunkt: Alexander Gottlieb Baumgarten. Sinnliche Erkenntnis in der Philosophie des Rationalismus. Hg. von Alexander Aichele und Dagmar Mirbach), S. 239–265, hier S. 246–251. Siegmund Jakob Baumgarten: Unterricht vom rechtmäßigen Verhalten eines Christen oder theologische Moral. Halle im Magdeburgischen 1738; Siegmund Jakob Baumgarten: Evangelische Glaubenslehre. Halle im Magdeburgischen 1759–1760. Vgl. Friedrich Wilhelm Bautz: Baumgarten, Siegmund Jacob. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. 1. Hg. von Friedrich Wilhelm Bautz, Traugott Bautz. Hamm/Westfalen 1990, Sp. 423; Martin Schloemann: Baumgarten, Siegmund Jacob. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Bd. 1. Hg. von Hans Dieter Betz u. a. Tübingen 41998, Sp. 1180–1181; Leopold Zscharnack: Lessing und Semler. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Rationalismus und der kritischen Theologie. Gießen 1905, S. 28; Karl Aner: Die Theologie der Lessingzeit (1929). Hildesheim 1964, S. 202–203. Martin Schloemann: Siegmund Jacob Baumgarten. System und Geschichte in der Theologie des Überganges zum Neuprotestantismus. Göttingen 1974; Susanne Ehrhardt-Rein: Zwischen Glaubenslehre und Vernunftwahrheit. Natur und Schöpfung bei hallischen Theologen des 18. Jahrhunderts. Münster 1996. Gustav W. Frank: Schmidt, Johann Lorenz. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 31. Leipzig 1890, S. 739–741; Walter Sparn: Schmidt, Johann Lorenz. In: Religion in Geschichte und Gegenwart (s. Anm. 39), Bd. 7, Sp. 934; Ursula Goldenbaum: Der Skandal der Wertheimer Bibel. In: Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der

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August Ludwig Schlözer (1735–1809), zwei Göttinger Historiker, die Johann Salomo Semler (1725–1791) und dessen theologischem Komplex der historischen Hermeneutik nahe standen,42 entwickelten dagegen den theoretischen Zusammenhang von System und Prinzip auch in der Geschichtsschreibung, indem sie verlangten, daß jedes Aggregat von historischen Begebenheiten durch ein einheitliches Prinzip auf eine systematische Geschlossenheit zurückgeführt werden sollte.43 Spuren dieses Interesses für eine vollständige Systematisierung des theologischen Wissens nach dem Muster der naturrechtlichen Leitwissenschaft lassen sich auch in Lessings Axiomata auffinden. An einigen Stellen gibt Lessing offensichtlich zu, daß alle wissenschaftlichen Schilderungen systematisch erfaßt werden können, mindestens de iure, wenn nicht de facto. Ein Beispiel Goezes zum ersten Axiom ablehnend, erinnert Lessing daran, daß die Scholia eines mathematischen Systems ein nützliches Hilfsmittel sind, um auch nebensächliche Umstände in einer eher losen Form darzustellen, während die Anwendung einer strengen wissenschaftlichen Beweisführung die Abhandlung unnötig erschweren würde. Die Anwendung von Scholia besagt aber nicht, daß dieselben Materien auf keine streng deduktive Weise erklärt werden könnten. Alles kann nämlich durch die mathematische Methode systematisiert werden; ob dies geschieht, hängt nur von den eher willkürlichen Umständen der Darstellung ab. Freilich verringern die Scholia in Wolfs Elementen der Mathematik, nicht den Wert derselben. Aber sie machen doch, daß nun nicht alles darin demonstriert ist. Oder glauben Sie, daß die Scholia eben so gewiß sein müssen, als die Theoremata? Nicht zwar, als ob nicht auch Scholien demonstriert werden könnten: sondern sie brauchen es hier nur nicht. Es hieße die Demonstration verschwenden, wenn man alle die Kleinigkeiten damit versehen wollte, die man in ein Scholion bringen und auch nicht bringen kann. – Eine ähnliche Verschwendung der Inspiration ist von eben so wenig Nutzen, aber von unendlich mehr Ärgernis.44

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deutschen Aufklärung 1678–1796. Bd. 1. Hg. von Ursula Goldenbaum. Berlin 2004, S. 175–508. Gottfried Hornig: Semler, Johann Salomo. In: Theologische Realenzyklopädie (s. Anm. 33), Bd. 31, S. 142–148, hier S. 147. Johann Christoph Gatterer: Vom historischen Plan, und der darauf sich gründenden Zusammenfügung der Erzählung (1767). In: Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie. Bd. 2: Elemente der Aufklärungshistorik. Hg. von Horst Walter Blanke, Dirk Fleischer. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, S. 621–662; August Ludwig Schlözer: Vorstellung seiner Universal-Historie (1772/73). Hg. von Horst Walter Blanke. Waltrop 1997, Teil 1, Vorrede, Par. 8–10, S. 14–19. Vgl. Horst Walter Blanke: Einleitung. In: Ebd., S. IX–XLIV, hier S. XXIV–XXIX; Gabriella Valera: Introduzione. In: Scienza dello Stato e metodo storiografico nella Scuola storica di Gottinga. Hg. von Gabriella Valera. Napoli 1980, S. IX–CXVIII; Martin Peters: Altes Reich und Europa. Der Historiker, Statistiker und Publizist August Ludwig (v.) Schlözer (1735–1809). Münster 2003, S. 169–204; Merio Scattola: Johann Friedrich Le Bret. La storia e la statistica d’Italia. In: L’Accademia degli Agiati nel Settecento europeo. Irradiazioni culturali. Hg. von Giulia Cantarutti und Stefano Ferrari. Milano 2007, S. 199–217, hier S. 200–202. FA 9, I, S. 60.

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Lessing beginnt dann die Erörterung des vierten Axioms mit der Unterscheidung zwischen Grundsätzen und Beweisführungen und bemüht sich zu zeigen, daß berechtigte Einwände gegen zufällige oder ungerecht gezogene Folgen auf keine Weise die Geltung der betreffenden Grundsätze beeinträchtigen. Auch in diesem Fall geht er davon aus, daß die christliche Lehre aus einer Reihe von systematisch zusammenhängenden Sätzen besteht, die von einigen Grundsätzen oder Axiomen abgeleitet werden. Ganz gewiß hat eine Folge die Natur des Grundsatzes, aus welchem sie hergeleitet wird. Jener ist teils zugegeben, teils erwiesen. Sind Einwürfe gegen zufällige Erläuterungen der Hauptsätze der christlichen Religion, keine Einwürfe gegen die Hauptsätze selbst: so können noch weniger Einwürfe gegen biblische Dinge, die auch nicht einmal zufällige Erläuterungen der Religion sind, Einwürfe gegen die Religion sein.45

Dasselbe wird dann in den Schlußbemerkungen wiederholt, wo behauptet wird, daß jeder Theologe sein eigenes System habe.46 Diese Stellen bestätigen den Schluß, daß Lessing seiner Theologie und der Theologie im allgemeinen eine gewisse systematische Ordnung zuerkannte und daß er auch gegen die ironische Intention des Titels diesen Ausdruck eher ernst nahm. Damit ist aber nicht gesagt, daß er eine ›axiomatische Methode‹, die zu seiner Zeit noch nicht existierte, oder eine strenge methodus scientifica im Sinne Wolffs anwandte.47 Im Gegenteil, das Interesse für die wissenschaftliche Form blieb eher beschränkt und in diesem formalen Sinn war ›Axiom‹ kein maßgebender Begriff seiner Schrift.

3 Axiomata im eigentlichen Sinne Die Axiome sind nämlich auch in einem ernsteren oder wichtigeren Sinn in Lessings Schrift vorhanden, denn auch die Wahrheiten der Religion sind laut Lessing unmittelbar evident und haben also die Struktur des Axioms. In diesem Sinn – könnte man wohl sagen – ist seine ganze Schrift ein Beitrag zu dem Axiomatischen in der Religion, zu den Sätzen, »deren Richtigkeit aus der Betrachtung einer einigen Erklärung erhellet«,48 wie Ehrenfried Walter von Tschirnhaus (1651–1708) und Christian Wolff sie definierten. Die Natur der religiösen Erkenntnis war aber das eigentliche Problem des Disputs mit Goeze, der die christliche Wahrheit in einer säkularen Geschichte zum Thema hatte und zum großen Teil durch die ›Zirkularität der Beweis-

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FA 9, IV, S. 64. FA 9, X, S. 86. Christian Wolff: Philosophia prima sive ontologia (1736). Hg. von Jean École. Hildesheim 21977 (Christian Wolff: Gesammelte Werke II/3), Praefatio, Bl. b1v–b2r. Wolff: Mathematisches Lexicon (s. Anm. 32), Sp. 223. Vgl. Tschirnhaus (s. Anm. 31), pars 2, sect. 2, S. 117–118.

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führung‹ bedingt wurde.49 In der Mitte der Auseinandersetzung stand nämlich der hermeneutische Kreis, in dem die christliche Wahrheit eingeschlossen bleibt, wenn sich die Geschichte vollständig säkularisiert hat. Wie soll man die religiöse Wahrheit verstehen und aus welchen Quellen? Wenn sich Gott durch Wunder in der Geschichte oder durch das Wirken des Heiligen Geistes in der apostolischen Kirche offenbart, ist diese Frage eigentlich sinnlos und wird durch die Evidenz gelöst. Aber sowohl Lessing als auch Goeze gehen davon aus, daß Wunder einst stattgefunden haben, aber jetzt nicht mehr möglich sind. Sie sind zwar unterschiedlicher Meinung über die Dauer der charismatischen Zeit zu Beginn des Christentums, als auch Bischöfe und Priester die christliche Wahrheit aussprechen konnten. Lessing dehnt diese historische Periode weit über das Zeitalter der Apostel aus. Für beide, sowohl für Lessing als auch für Goeze, ist aber diese Epoche seit langem vollkommen beendet, und Wundertaten bleiben in unserer Zeit ausgeschlossen. Beide würden also dem Spruch von Thomas Hobbes im Leviathan zustimmen, daß das nächste Wunder das Ende der Zeit herbeiführen werde.50 In der Geschichte wirkt keine göttliche Stimme mehr. Man kann zwar die Möglichkeit einer unmittelbaren Eingebung anerkennen, sie bildet aber keinen wahren Eingriff Gottes in die Geschichte hinein, denn sie wird nur im Inneren des Menschen vernommen, und diese innere Sphäre kann sich durch äußere Zeichen und Taten auf keine Weise ausdrücken. Goeze formuliert dieses Problem und den damit verbundenen hermeneutischen Kreis ausdrücklich, wenn er Lessings zehntes Axiom kritisiert: Gut; aber derjenige, der mir die schriftlichen Überlieferungen aus ihrer innern Wahrheit erklären will, muß mich vorher überzeugen, daß er selbst von der innern Wahrheit derselben eine richtige und gegründete Vorstellung habe, und daß er sich nicht selbst ein Bild davon mache, das seinen Absichten gemäß ist.51

Wenn das Wunder aus der Geschichte verbannt wird, bleiben für die religiöse Wahrheit zwei Möglichkeiten offen: 1. Die Wahrheit wird aus der Schrift, das ist aus dem letzten historischen Wunder, erklärt, oder 2. die Wahrheit erklärt sich durch sich selbst. Wenn man dann weiter fragt, woher diese Wahrheit komme, wird auch die Antwort eine zweifache sein, denn im ersteren Fall ist die Schrift und im letzteren Fall ist die Wahrheit selbst ursprünglich. Wenn die Schrift die Quelle der Wahrheit ist, dann sollen sich alle Teile der christlichen Lehre in Aussprüche der Schrift auflösen können; wenn die Wahrheit selbst ursprünglich ist, dann müssen ihre fundamentalen Sätze als Grundsätze 49

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Vgl. Arno Schilson: Lessing and Theology. In: A Companion to the Works of Gotthold Ephraim Lessing. Hg. von Barbara Fischer, Thomas C. Fox. Rochester 2005, S. 157–183, hier 170–174. Thomas Hobbes: Leviathan, or the Matter, Form, and Power of a Commonwealth Ecclesiastical and Civil (1651). Hg. von William Molesworth. London 1839 (Repr. Aalen 1962), part 3, ch. 32, S. 362–369; Thomas Hobbes: Elementorum philosophiae sectio tertia. De cive. Hg. von William Molesworth. London 1839 (Repr. Aalen 1961), cap. 17, par. 5, S. 377f. Goeze (s. Anm. 11), Nr. 10, S. 19.

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erscheinen, die unmittelbar in sich selbst ruhen. Goeze schreibt Lessing ausdrücklich diese Auffassung des Axioms zu. Da nun Offenbarung und Bibel, in Absicht auf das Wesentliche eben das sind […], so sagt der Satz: die Religion war, ehe die Bibel war, im Grunde gar nichts, und wenn der Herr H. Vorteile daraus ziehen wollte, so hätte er solchen also abfassen müssen: auch war die Religion, ehe eine Offenbarung war; allein dieser Satz fällt gleich als falsch in die Augen, da im Gegenteile der von dem Herrn H. gewählte, blendet, und in den Augen kurzsichtiger Leser die völlige Gestalt eines Axioma hat.52

Damit wird auch die Struktur des Axioms bestimmt, das im ersteren Fall sich in einzelne Elemente, in einzelne Lehren der Heiligen Schrift zergliedern läßt und im letzteren Fall unmittelbar wahr ist, und dies unabhängig von der Art seiner Verkündigung. Von diesen zwei Möglichkeiten hängt auch das Verständnis des Axioms ab: Im ersteren Fall zergliedert sich ein Axiom in einzelne Elemente, im letzteren Fall dagegen ist ein Axiom kompakt und unmittelbar wahr. Dies sind auch die Positionen von Goeze und von Lessing.53 Vorher? Warum vorher? Indem er das eine tut, tut er ja auch das andre. Indem er mir die innere Wahrheit eines geoffenbarten Satzes erkläret, (ich sage erkläret, nicht bloß erklären will) beweiset er ja wohl genugsam, daß er selbst von dieser innern Wahrheit eine richtige Vorstellung habe.54

Beide stellen damit auch die Frage nach dem Wesentlichen und dem Unwesentlichen in der Religion und nach dem Maßstab, mit dem man das Problem entscheiden soll. Denn man kann die Überlieferung entweder nach einem internen Kriterium beurteilen, und dann ist alles wahr, was ihr, der Überlieferung und der Schrift, angehört; oder man beurteilt sie unter einem äußeren Gesichtspunkt, dem der Philologie oder der Vernunftmäßigkeit oder der Philosophie, und dann ist nur das wahr, was dieses äußere Prinzip befriedigt. Im ersteren Fall wird es aber schwierig oder sogar unmöglich zu urteilen, was in der Schrift wesentlich und was unwesentlich ist, denn man hat keinen externen und unabhängigen Maßstab. Auch das ›Überflüssige‹ soll daher unfehlbar sein. Wer soll bei der Bibel fest setzen, was darin unfehlbar ist, und zu dem Wesentlichen oder Mehrern gehört? Wir sehen die Folgen dieser verderblichen Meinung schon mehr als zu deutlich. Es finden sich schon manche so genannte Gottesgelehrte, selbst in unserer Kirche, welche von dem Mehreren und nicht unfehlbaren eine solche Rechnung machen, daß sie uns von dem Wesentlichen, oder von dem, was zur Religion gehört, nichts mehr als die Grundsätze der natürlichen Theologie übrig lassen.55

Da alles in der Schrift wahr sein muß, kann keiner unter ihren Teilen überflüssig sein. Höchstens kann man einen Unterschied im Grade der Wahrheit ausmachen

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Goeze (s. Anm. 11), Nr. 5, S. 16. Zu den Auswirkungen des Streites in der zeitgenössischen Kultur vgl. Giuseppe D’Alessandro: Kant e l’ermeneutica. La religione kantiana e gli inizi della sua recezione. Soveria Mannelli 2000, S. 88–89. FA 9, X, S. 79. Goeze (s. Anm. 11), Nr. 4, S. 15–16.

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und sagen, daß einige Aussagen zu den Hauptsätzen gehören, während alle anderen »zur Erläuterung und Bestätigung der Hauptsätze«56 dienen.

3.1 Goeze. Die innere Wahrheit der Heiligen Schrift Wie sieht aber die ›religiöse Erkenntnis‹, das ist der Zusammenhang von Wahrheit und Axiom, bei Goeze und bei Lessing, aus?57 Goeze antwortet auf die Frage nach der Beschaffenheit religiöser Erkenntnis, die er selbst formuliert, mit folgender Erklärung.58 Die Wahrheit beginnt mit den Axiomen oder Hauptsätzen der Religion. Diese sind aber an sich nicht unmittelbar eindeutig, sondern müssen in ihren Inhalt durch die genaue Definition ihrer einzelnen Begriffe bestimmt werden. Man muß also die alte methodus analytica der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Schulphilosophie oder auch die medicina mentis von Tschirnhaus und Wolffs methodus mathematica anwenden. Es ist eine wesentliche Pflicht eines Weltweisen, daß er die Worte, welche die Hauptbegriffe in seinen Sätzen ausdrücken, richtig und bestimmt erkläre, und den Lesern ohne alle Zweideutigkeit auf die bestimmteste Art, die möglich ist, sage, was, er selbst dabei denket, und was der Leser dabei denken soll. Der Hr. Herausgeber redet vom Buchstaben und Geiste, von Bibel und Religion, von dem, was zur Religion gehörig und nicht gehörig ist, ohne die Begriffe dieser Ausdrücke, unter welchen doch die meisten vieldeutig sind, im allergeringsten zu bestimmen. Was kann daher anders entstehen, als zweideutige, unbestimmte, schwankende und irrige Sätze?59

Man beginnt mit den Definitionen der Wörter und der Begriffe, und stellt fest, was Geist, Buchstabe oder Religion ist. Die Wörter und Begriffe der Religion bekommen aber ihre Bedeutung von der Offenbarung Gottes. Insofern beansprucht die Anordnung Goezes in seiner Auseinandersetzung mit Lessing, hier auch die richtige zu sein, weil sie mit der Frage nach der Quelle der Wahrheit beginnt und dabei die Identität von Geist und Buchstaben verteidigt.60 Gott offenbart sich aber dem Menschen in der Geschichte durch sein Handeln, von dem uns nur die Heilige Schrift Zeugnis ablegt.

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Goeze (s. Anm. 11), Nr. 3, S. 15. Zum Verlauf des Streites vgl. William Boehart: Politik und Religion. Studien zum Fragmentenstreit (Reimarus, Goeze, Lessing). Schwarzenbek 1988, S. 373–384; ErnstPeter Wieckenberg: Johan Melchior Goeze. Hamburg 2007, S. 186–205; Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. Aus dem Engl. übers. von Karl S. Guthke. München 2008, S. 701–745. Hans Höhne: Johan Melchior Goeze. Stationen einer Streiterkarriere. Münster 2004, S. 232–257, hier S. 238, erinnert daran, daß Goeze als erster die Polemik ausdrücklich gegen Lessing und nicht gegen Reimarus richtete. Henry E. Allison: Lessing and the Enlightenment. His Philosophy of Religion and its Relation to Eighteenth-Century Thought. Ann Arbor 1966, S. 107–110. Vgl. auch Hans Höhne: Johan Melchior Goeze im Urteil seiner Zeitgenossen und der Literatur bis heute. In: Wolfenbütteler Forschungen 45 (1989), S. 27–62. Goeze (s. Anm. 11), Nr. 3, S. 13. Karl Aner: Die Theologie der Lessingzeit. Halle 1925. Ndr. Hildesheim 1964, S. 238.

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Die Wahrheit der christlichen Religion beruhet allerdings auf sich selbst, sie bestehet in ihrer Übereinstimmung mit den Eigenschaften und Willen Gottes, und auf der historischen Gewißheit der Factorum, auf welche ihre Lehrsätze sich zum Teil gründen. Allein unsere Überzeugung von der Wahrheit der christlichen Religion beruhet doch lediglich und allein auf diesen Schriften. Würde, wenn diese Bücher nicht geschrieben, und bis auf uns gekommen wären, wohl eine Spur von dem, was Christus getan und gelehret hat, in der Welt übrig geblieben sein? Ich möchte wissen, aus welcher Quelle die Menschen die bloße historische Kenntnis davon hätten schöpfen sollen? Und ohne eine historische Kenntnis würde eine lebendige doch wohl schwerlich statt gefunden haben.61

Andere Quellen stehen nicht zur Verfügung. Der ganze Weg der religiösen Erkenntnis läßt sich nun auf folgende Weise zusammenfassen: Wir fangen immer mit komplexen Sätzen an, die die (innere) Wahrheit der Religion enthalten und die man wohl als ›Axiome‹ bezeichnen darf. Diese müssen erst in ihre ersten Bestandteile zergliedert werden. Jeder Teil muß dann genau definiert werden. Die Bedeutung der Wörter und Begriffe wird aber durch die göttliche Offenbarung bestimmt und diese ist wiederum in der Heiligen Schrift aufbewahrt. Die (innere) Wahrheit hängt damit unmittelbar von der Heiligen Schrift ab.62 Woher aber will er die Erkenntnis der innern Wahrheit der christlichen Religion nehmen, als aus den schriftlichen Überlieferungen, oder aus den Schriften der Evangelisten und Apostel, in der gehörigen Verbindung mit den Schriften des alten Testaments? […] Wir erkennen also die innere Wahrheit der christlichen Religion nur alsdenn, wenn unsere Begriffe von derselben eben diejenigen sind, welche die schriftlichen Überlieferungen, die in der h. Schrift enthalten sind, davon in unsern Seelen hervorbringen sollen.63

Selbstverständlich könnte und sollte man eigentlich weiter fragen, woher man Gewißheit über die Bibel habe, worauf man antworten würde, daß die Bibel als Zeuge der Offenbarung aus zwei Gründen glaubwürdig ist. Erstens, weil sie auf historischen Begebenheiten beruht, die auch von anderen Quellen bezeugt werden (und dies ist das Argument der Wunder), und zweitens, weil ihre Aussagen mit dem Wesen Gottes übereinstimmen. Auf dem historischen Argument, das eine religiöse Äußerung als göttlich erklärt, weil sie von einem Wunder begleitet wird, besteht Goeze unerschütterlich durch die ganze Polemik; dieses Argument kann aber durch Philologie und historische Kritik angegriffen werden. Das zweite Argument von den Eigenschaften Gottes enthält seinerseits einen logischen Kreis. Denn woher sonst kennen wir das Wesen Gottes als aus der Heiligen Schrift? Wir müssen also denken, daß die Schrift wahr ist, weil sie das wahre Wesen Gottes zeigt, und daß sie uns das wahre Wesen Gottes zeigt, weil sie wahr ist. Anders gesagt, die Bibel oder die darin enthaltene Offenbarung ist evident an sich und setzt den Glauben voraus. Die innere Wahrheit der christlichen Religion ruht auf der 61 62

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Goeze (s. Anm. 11), Nr. 7, S. 17. Vgl. Höhne (s. Anm. 57), S. 241–242. Hans-Otto Wölber: Einspruch gegen die Vernunft. Goeze kontra Lessing. In: Johann Melchior Goeze 1717–1786. Abhandlungen und Vorträge. Hg. von Heimo Reinitzer. Frankfurt am Main 1986 (Vestigia bibliae. Jahrbuch des Deutschen Bibel-Archivs Hamburg 8), S. 13–21; Peter Stolt: Warum immer Streit um die Wahrheit? Goezes Verantwortung am Beginn der Moderne. In: Ebd., S. 22–39. Goeze (s. Anm. 11), Nr. 10, S. 19.

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Wahrheit der Bibel, die ihrerseits innerlich war ist und auf sich selbst ruht. Sie ruht nämlich auf dem Glauben. So soll der oben zitierte Satz interpretiert werden, in dem Goeze über die Gewißheit der Religion redet: »Die Wahrheit der christlichen Religion beruhet allerdings auf sich selbst, sie bestehet in ihrer Übereinstimmung mit den Eigenschaften und Willen Gottes, und auf der historischen Gewißheit der Factorum, auf welche ihre Lehrsätze sich zum Teil gründen.«64

3.2 Lessing. Die innere Wahrheit der christlichen Religion Die Wahrheit, die auf sich selbst beruht, ist bei Lessing nicht die Wahrheit des Glaubens, sondern die der Vernunft. Bei Goeze erklärt sich die Bedeutung jedes Begriffs aus der Evidenz der Offenbarung oder aus der unmittelbaren Wahrheit des Glaubens; bei Lessing entspringt dagegen die Bedeutung eines Axioms den mit enthaltenen Begriffen, und letzten Endes erklärt sich die Bedeutung eines Axioms aus seinem rationalen Inhalt: Ein Axiom beweist sich nämlich aus sich selbst als wahr und behauptet sich als eine innere Evidenz.65 Die rationale Evidenz Lessings entspricht der geoffenbarten Wahrheit Goezes. Lessing ist sich bewußt, daß die Argumentation Goezes die Wahrheit der Schrift aus der Schrift selbst ableitet und spricht in diesem Fall von einem »ewigen Zirkel« der Argumentation. Und diese letztern, die Schriftstellen, werden doch wohl unwidersprechlich sein? Wenn sie das doch wären! Wie gern wollte ich den ewigen Zirkel vergessen, nach welchem die Unfehlbarkeit eines Buches aus einer Stelle des nemlichen Buches, und die Unfehlbarkeit der Stelle, aus der Unfehlbarkeit des Buches bewiesen wird.66

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Vgl. oben Anm. 61. In diesem Sinn adressierte sich die Intention Lessings, besonders in den Gegensätzen des Herausgebers, eher an die Neologen wie August Friedrich Wilhelm Sack (1703–1786), Johann Joachim Spalding (1714–1804) und Wilhelm Abraham Teller (1734–1804) als an die lutherischen Orthodoxen wie Melchior Goeze. Vgl. Fick (s. Anm. 1), S. 361–365; Hugh Barr Nisbet: Introduction. In: Gotthold Ephraim Lessing: Philosophical and theological writings. Transl. and ed. by Hugh Barr Nisbet. Cambridge 2005, S. 1–22, hier S. 7. Anderer Meinung ist Martin Kramer: Der Fragmentenstreit. In: Wilfried Barner u. a.: Lessing. Epoche – Werk – Wirkung. München 41981, S. 273–297, hier S. 291. Vgl. Aner (s. Anm. 39), S. 61–143; Allison (s. Anm. 58), S. 83–95; Gottfried Hornig: Neologie. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie (s. Anm. 15), Bd. 6, Sp. 718–720; Walter Sparn: Vernünftiges Christentum. Über die geschichtliche Aufgabe der theologischen Wissenschaften im 18. Jahrhundert in Deutschland. In: Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung. Hg. von Rudolf Vierhaus. Göttingen 1985, S. 18–57; Bernhard Lohse: Johann Melchior Goeze als Theologe des 18. Jahrhunderts. In: Johann Melchior Goeze 1717–1786 (s. Anm. 62), S. 22–39; Harald Schultze: Orthodoxie und Selbstbehauptung. Zum theologiegeschichtlichen Ort eines spätorthodoxen Theologen. In: Verspätete Orthodoxie. Über D. Johann Melchior Goeze (1717–1786). Hg. von Heimo Reinitzer, Walter Sparn. Wiesbaden 1989 (Wolfenbütteler Forschungen 45), S. 121–134. FA 9, II, S. 61–62. Vgl. Harald Schultze: Lessings Auseinandersetzung mit Theologen und Deisten um die »innere Wahrheit«. In: Lessing in heutiger Sicht. Hg. von Edward P.

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Wann und wo beginnt die Wahrheit? Sie beginnt unmittelbar mit einem Axiom, das keiner weiteren Definition bedarf. Ein Axiom, wenn es richtig verstanden wird, wird seine Wahrheit unmittelbar zeigen. Sie gehört gleichsam zu seinem logischen Aufbau, »denn wer weiß nicht, daß Axiomata Sätze sind, deren Worte man nur gehörig verstehen darf, um an ihrer Wahrheit nicht zu zweifeln?«67 Ein Axiom darf daher nicht in seine Elemente aufgelöst werden, und die historische Dimension oder die historische Erkenntnis kann auf keine denkbare Weise seinen Gehalt antasten. Und dies gilt um so mehr für die Axiome der christlichen Wahrheit. Ich. Woher die innere Wahrheit nehmen? Aus ihr selbst. Deswegen heißt sie die innere Wahrheit; die Wahrheit, die keiner Beglaubigung von außen bedarf. Er. – »als aus den schriftlichen Überlieferungen, oder aus den Schriften der Evangelisten und Apostel,« – Ich. Was müssen wir aus diesen nehmen? Die innere Wahrheit? Oder unsere erste historische Kenntnis dieser Wahrheit? Jenes wäre eben so seltsam, als wenn ich ein geometrisches Theorem nicht wegen seiner Demonstration, sondern deswegen für wahr halten müßte, weil es im Euclides steht. Daß es im Euclides steht, kann gegründetes Vorurteil für seine Wahrheit sein; so viel man will. Aber ein anders ist die Wahrheit aus Vorurteil glauben; und ein anders, sie um ihrer selbst willen glauben.68

Diese innere Verfassung des Axioms hat weitere wichtige Folgen im Hinblick auf die christliche Religion. Zur Bestimmung dessen, was die innere Wahrheit ist, stellt Lessing drei Thesen auf: (1) Die geoffenbarte Wahrheit hat einige innere Merkmale. Ihr göttlicher Ursprung hat sie charakteristisch geprägt.69 (2) Der Wert einer geoffenbarten Wahrheit hängt nicht von der historischen Wahrheit ab.70 (3) Das mündlich geoffenbarte Christentum ist weit früher gewesen, als seine schriftliche Überlieferung. Es hat sich zuerst erhalten und ausbreiten können, auch ohne aufgeschrieben worden zu sein.71 a. Die göttliche Prägung Die göttliche Wahrheit besitzt nämlich ein inneres Merkmal, das sie sofort als göttlich und also als wahr erweist. Man erkennt sie unmittelbar als solche durch eine innere Evidenz, dieselbe Evidenz, die einem Axiom eigen ist. Was schadet es, daß in diesem Falle die Grenzen zwischen menschlichen Zusätzen und geoffenbarten Wahrheiten, so genau nicht mehr zu bestimmen wären? Ist doch die Grenz-

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Harris, Richard E. Schade. Wolfenbüttel, Bremen 1977, S. 179–185; Fick (s. Anm. 1), S. 351. FA 9, S. 55. FA 9, X, S. 79. Klaus Bohnen: Geist und Buchstabe. Zum Prinzip des kritischen Verfahrens in Lessings literarästhetischen und theologischen Schriften. Köln 1974, S. 167–176 interpretiert diese Denkstruktur als Anspruch der Subjektivität. Vgl. auch Klaus Bohnen: Leidens-Bewältigungen. Der Lessing-Goeze-Disput im Horizont der Hermeneutik von ›Geist‹ und ›Buchstabe‹ (1989). In: Verspätete Orthodoxie (s. Anm. 65), S. 13–21. Neudruck in: Klaus Bohnen: G.-E.-Lessing-Studien. Werke, Kontexte, Dialoge. Kopenhagen 2006, S. 119–136. FA 9, II, S. 61. FA 9, II, S. 61. FA 9, VII, S. 67–68.

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scheidung zwischen dem moralisch Bösen und dem moralisch Guten, eben so unbestimmbar. Haben wir aber darum gar kein Gefühl vom Guten und Bösen? Würden sich deswegen gar keine geoffenbarte Wahrheiten von menschlichen Zusätzen unterscheiden? Hat denn eine geoffenbarte Wahrheit gar keine innere Merkmale? Hat ihr unmittelbar göttlicher Ursprung an ihr und in ihr keine Spur zurückgelassen, als die historische Wahrheit, die sie mit so vielen Fratzen gemein hat?72

Analytisch betrachtet, besteht die innere oder axiomatische Evidenz der göttlichen Wahrheit in ihrer Übereinstimmung mit dem Wesen Gottes. Es ist also evident, daß ihre Aussage von einem Attribut spricht, das Gott wesentlich angehört. Freilich ergibt sich auch hier ein logischer Zirkel, denn wir erkennen etwas als wahr, weil es uns von Gott spricht, aber wir haben keine andere Kenntnis von Gott außer diesen Aussagen. Die göttliche Erkenntnis ist daher immer unmittelbar und gleichsam auf sich selbst bezogen. b. Der historische Beweis Wenn sich aber die Wahrheit der christlichen Religion aus eigener Kraft erweist, dann ist jeder äußere Beweisvorgang unnötig. Genug, daß die christlichen Lehrsätze sich nicht alle auf Fakta gründen. Die übrigen gründen sich, wie zugegeben, auf ihre innere Wahrheit: und wie kann die innere Wahrheit irgend eines Satzes von dem Ansehen des Buches abhängen, in dem sie vorgetragen worden? Das ist offenbarer Widerspruch.73

Höchst äußerlich und extern ist vor allem der historische Beweis, der die Gewißheit einer göttlichen Lehre mit einer historischen Manifestation der Gottheit verbindet. Letzen Endes geht dieses Argument auf die Aussagekraft der Wunder zurück. Wenn eine Behauptung einer bestimmten Person von einem Wunder derselben Person begleitet wird, dann muß auch die Aussage so göttlich und überirdisch sein, wie das Wunderwerk überirdisch ist. Ein Wunder kann aber nur von den Zeitgenossen und den Anwesenden direkt erlebt werden. Alle anderen Generationen müssen sich dagegen auf die Erzählung und auf die historischen Belege verlassen, und so entsteht eine Kette aus drei Gliedern: Die göttliche Aussage gründet sich auf das Wunder, das sich wiederum auf ein Zeugnis beruft.74 Das erste Wunder oder das Hauptwunder der christlichen Religion ist selbstverständlich die Auferstehung Christi, die die Gottheit Christi bezeugen soll und daher seinen übrigen Wundertaten und seinen Lehren den Charakter des unmittelbar Göttlichen und nicht einfach des mittelbar Prophetischen verleihen sollte. Wenn die Wahrheit der christlichen Religion Teils […] auf sich selbst, d. i. auf ihrer Übereinstimmung mit den Eigenschaften und dem Willen Gottes, Teils auf der historischen Gewißheit der Factorum beruhet, auf die sich einige ihrer Lehrsätze gründen: entspringt

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FA 9, II, S. 61. FA 9, VII, S. 69. Gotthold Ephraim Lessing: Über den Beweis des Geistes und der Kraft (1777). In: FA 8, S. 437–445, hier S. 440: »Daran liegt es: daß dieser Beweis des Geistes und der Kraft itzt weder Geist noch Kraft mehr hat; sondern zu menschlichen Zeugnissen von Geist und Kraft herabgesunken ist.«

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nicht aus diesem doppelten Grunde, auch eine doppelte Überzeugung. […] Warum soll ich Dinge, die ich deswegen für wahr halten muß, weil sie mit den Eigenschaften und dem Willen Gottes übereinstimmen, nur deswegen glauben, weil andre Dinge, die irgend einmal in Zeit und Raum mit ihnen verbunden gewesen, historisch erwiesen sind?75

Vom Hauptwunder der Auferstehung und von seiner historischen Wahrheit ging dann der ganze Fragmenten-Streit aus, denn – wie wir schon im Falle Goezes gesehen haben –76 der historische Wahrheitsanspruch der Heiligen Schrift hat eine paradoxe Struktur. Das Wunder der Auferstehung Christi, von dem alle anderen abhängen, sollte nämlich die Aussagekraft der Schrift mit der Kraft des Faktischen bestätigen. Allein, das einzige Zeugnis des Hauptwunders ist die Schrift selbst, die also die einzige Begründung ihrer Begründung ist und sich selbst durch sich selbst bestätigt. c. Die mündliche Überlieferung Der historische Beweis ist daher einerseits fragwürdig und andererseits überflüssig: Man kann auf ihn verzichten und nur die innere Evidenz gelten lassen. Damit wird aber auch das ganze Verhältnis der göttlichen Wahrheit mit der Heiligen Schrift problematisch, denn man kann dann auch auf die Heilige Schrift als Produkt historischer Überlieferung verzichten. Wenn nämlich die historischen Beweise, das ist die Erzählung von den Wundern Christi, die in der Schrift enthalten ist, nichts zur Wahrheit der christlichen Lehre beitragen und wenn die Wahrheit, unmittelbar zu erkennen ist, dann kann man unterschiedliche und voneinander unabhängige historische Überlieferungslinien gelten lassen, in denen der Wert der Wahrheit auch ohne Schrift anerkannt wurde. Lessing hebt in dieser Hinsicht die mündliche Überlieferung hervor. Alles, was in der Welt geschieht, ließe Spuren in der Welt zurück, ob sie der Mensch gleich nicht immer nachweisen kann: und nur deine Lehren, göttlicher Menschenfreund, die du nicht aufzuschreiben, die du zu predigen befahlest, wenn sie auch nur wären geprediget worden, sollten nichts, gar nichts gewirkt haben, woraus sich ihr Ursprung erkennen ließe? Deine Worte sollten erst, in tote Buchstaben verwandelt, Worte des Lebens geworden sein? Sind die Bücher der einzige Weg, die Menschen zu erleuchten, und zu bessern? Ist mündliche Überlieferung nichts? Und wenn mündliche Überlieferung tausend vorsätzlichen und unvorsätzlichen Verfälschungen unterworfen ist: sind es Bücher nicht auch? Hätte Gott durch die nemliche Äußerung seiner unmittelbaren Gewalt, nicht eben sowohl die mündlichen Überlieferungen vor Verfälschungen bewahren können, als wir sagen, daß er die Bücher bewahret hat?77

Der Verzicht auf die äußeren Beweise zugunsten der inneren bedeutet den vollkommenen Verzicht auf jede Art von Autorität und den Anspruch, daß die

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FA 9, VII, S. 68–69. Vgl. oben Anm. 64. FA 9, VII, S. 69–70. Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Theses aus der Kirchengeschichte (um 1776). In: FA 8, S. 619–627; Gotthold Ephraim Lessing: Neue Hypothese über die Evangelisten als bloß menschliche Geschichtschreiber betrachtet. Wolfenbüttel 1778. In: FA 8, S. 629–654.

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Lehre keines Beistands bedarf, um wirksam zu sein.78 Die christliche Religion würde auch ohne Schrift nicht verlorengehen, und da sie nur aus ihrem Inhalt erkannt wird, ließe sich die Linie ihrer Überlieferung auch unterbrechen, denn man würde bei jedem Neubeginn die Wahrheit als solche erkennen. Wie? die christliche Religion selbst würde verloren gehen, wenn es möglich wäre, daß die Schriften der Evangelisten und Apostel verloren giengen?79

Die Parabel des lutherischen Predigers aus der Pfalz erklärt mit ihrem sanften Ton gerade diese Idee, daß sich das Evangelium auch unabhängig von der Schrift fortpflanzen kann.80

3.3 Ausblick Wenn man diese Idee der unmittelbaren Überlieferung zuspitzt, könnte man auch zum Schluß kommen, die christliche Lehre sei unabhängig von den historischen Figuren, die sie überliefert hätten. Sie könnte nicht nur auch ohne Evangelisten, sondern auch sogar ohne Christus fortbestehen. Wenn man die Religion an ihrem Inhalt unmittelbar erkennt, ist es nämlich gleichgültig, wer sie gepredigt hat, ob Christus oder der Apostel Paulus. Vielleicht ist es sogar gleichgültig, ob sie jemals historisch gepredigt worden ist. Wenn es nämlich gleichgültig ist – wie Lessing sagt –,81 ob ein richtiger Beweis im Buch des Euklid steht, so ist gleichermaßen gleichgültig, ob eine innere religiöse Wahrheit von Christus gepredigt wurde. Diese Wendung hängt aber vom Inhalt der christlichen Lehre ab. Was erkennt man nämlich von der internen Wahrheit? Wie sind ihre Inhalte beschaffen? Eine Frage, die in den Axiomata nicht leicht zu antworten ist.82 Man könnte die Lehre Christi, wie auch Goeze es Lessing zum wiederholten Male vorwirft,83 als eine bloß vernünftige Lehre verstehen, die die Gebote der Vernunft und der natürlichen Religion enthält. In diesem Fall sind die Wahrheiten der Religion einfach Wahrheiten der Vernunft und werden von den Menschen unbedingt anerkannt, weil sie vernünftige Wesen sind. So pflanzt sich die Lehre Christi fort, weil sie von der menschlichen Vernunft fortgetragen

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FA 9, VI, S. 66: »Muß er mir das aber einräumen: so räumt er mir ja auch zugleich ein, daß das mündlich geoffenbarte Christentum weit früher gewesen, als das aufgeschriebene; daß es sich erhalten und ausbreiten könne, ohne aufgeschrieben zu sein.« Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Nötige Antwort auf eine sehr unnötige Frage des Hrn. Hauptpastor Goeze in Hamburg. In: FA 9, S. 427–434. FA 9, VIII, S. 73. FA 9, VIII, S. 73–78. Vgl. oben Anm. 68. Zu diesen Aporien in Lessings Religionsphilosophie vgl. Nisbet (s. Anm. 65), S. 7–8. Auch Lessings Nötige Antwort, die auf die Frage reagiert »Was für eine Religion ich unter der Christlichen verstehe«, gibt keine inhaltliche Angabe, sondern behandelt nur die formale Eigenschaften der ursprünglichen Regula fidei. Vgl. Lessing: Nötige Antwort, S. 430–434. Goeze (s. Anm. 11), Nr. 4, S. 15–16.

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Merio Scattola

wird. Dies ist aber ein Dialog des Menschen mit sich selbst, denn die letzte Begründung der Religion ist die Vernunft. In diesem Sinn könnte das Christentum wohl auch ohne Evangelisten bestehen, sogar auch ohne Christus. Freilich, indem der Grund der Religion mit dem Vernünftigen gleichgesetzt wird, bleibt kein Raum mehr für das Heilige übrig. Und die Religion, mit der Vernunft gleichgestellt, wird in ihrem Wesentlichen zerstört. Christus und die historische Handlung oder das Drama der Erlösung werden tatsächlich damit vom Wesen der Religion ausgeschlossen, und man schreitet auf dem Weg der Säkularisation fort: Die Welt ist nämlich ohne Gott oder leer von Gott. Man könnte aber der religiösen Lehre auch einen nicht rationalen oder überrationalen Inhalt zuschreiben, wie die Dreifaltigkeitslehre oder die Erlösungslehre. In diesem Fall müßte man neben der Vernunft auch andere zusätzliche Erkenntnismittel voraussetzen, die eben den nicht rationalen Teil zugänglich machen würden. Und da es sich um eine nicht rationale Wahrheit handelte, sollte man ein außerrationales und göttliches Erkenntnismittel voraussetzen, einen Eingriff Gottes in die Geschichte oder ins Innere des menschlichen Herzens, was einem Wunder sehr nahe käme. Das Bestehen dieser Erkenntnis würde dann eine Wiederholung der Offenbarung Gottes in jedem einzelnen menschlichen Anerkennungsakt unterstellen. In diesem Sinn spricht auch Lessing von einem »inneren Zeugnis des Heiligen Geistes«, wenn er die Glaubwürdigkeit der Heiligen Schrift behandelt. Zu dieser Benennung [= Geist] ist derjenige sogar berechtiget, der das innere Zeugnis des heiligen Geistes annimmt. Denn da dieses Zeugnis sich doch nur bei denjenigen Büchern und Stellen der Schrift mehr oder weniger äußern kann, welche auf unsere geistliche Besserung mehr oder weniger abzwecken: was ist billiger, als nur solcherlei Bücher und Stellen der Bibel den Geist der Bibel zu nennen?84

Die Verbreitung der christlichen Lehre und ihr ganzes historisches Dasein wäre damit als eine einzige Handlung des Heiligen Geistes in der Geschichte zu betrachten. Diese unmittelbare Wirkung des Heiligen Geistes räumt Lessing auch ausdrücklich für die ersten Jahrhunderte des Christentums ein, als die Didaché herausgebildet wurde. Allerdings ist zu erweisen, daß so lange die Wundergaben, und besonders die unmittelbare Erleuchtung der Bischöfe, Statt hatten, man aus dem geschriebenen Worte weit weniger machte […]. Denn die ਥȝijȣIJȠȢ įȦȡİĮ IJȘȢ įȚįĮȤȘȢ, die in den Bischöfen war, war eben dieselbe, welche in den Aposteln gewesen war; und wenn Bischöfe das geschriebene Wort anführten, so führten sie es freilich zur Bestätigung ihrer Meinung, aber nicht als die Quelle ihrer Meinung an.85

Wie aber, wenn diese Wirkung Gottes noch möglich wäre? Man sollte dann annehmen, daß jene alte Zeit der Didaché nie wirklich zu Ende gegangen ist, sondern noch wirksam ist. Die christliche Wahrheit scheint auf diese Weise die

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FA 9, III, S. 63. Vgl. Arno Schilson: Offenbarung und Geschichte bei J. M. Goeze und G. E. Lessing. Hinweise zu einer offenbarungstheologische Neuorientierung. In: Verspätete Orthodoxie (s. Anm. 65), S. 87–119. FA 9, VI, S. 67.

Was sind Axiomata?

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Präsenz Gottes in der Geschichte zu implizieren. Um den »ewigen Zirkel« des Axioms zu lösen, muß die Welt voll des Heiligen Geistes und voll Gottes sein, und der Weg der Säkularisierung wird durch den Spiritualismus versperrt.86 Zwischen diesen Möglichkeiten, zwischen der Welt voll von Gott und der Welt leer von Gott, scheinen die Axiomata unentschieden zu bleiben.87 Die Lösung dieses Problems war vielleicht der Erziehung des Menschengeschlechts vorbehalten, die schon mit dem zweiten Fragment des Unbekannten unvollständig veröffentlicht wurde und die ganze Palette dieser Fragen aufwarf:88 Wahrheit der Vernunft, Wahrheit der Offenbarung, Zeitalter des Heiligen Geistes, sukzessive Aneignung des religiösen Gehalts, Weltseele.

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Gottfried Hornig: Lessing. In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 21. Hg. von Gerhard Müller. Berlin, New York 1991, S. 21–33, hier S. 25. Vor allem Harald Schultze und Wolfgang Gericke haben die Nähe Lessings zum theologischen Spiritualismus betont. Harald Schultze: Lessings Toleranzbegriff. Eine theologische Studie. Göttingen 1969; Wolfgang Gericke: Lessings theologische Gesamtauffassung. In: Gotthold Ephraim Lessing: Sechs theologische Schriften. Eingeleitet und kommentiert von Wolfgang Gericke. Berlin 1985, S. 14–35, hier S. 34; Wolfgang Gericke: Theologie und Kirche im Zeitalter der Aufklärung. Berlin 1989 (Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen III/2), S. 126. Vgl. auch Toshimasa Yasukata: Lessing’s Philosophy of Religion and the German Enlightenment. Lessing on Christianity and Reason. New York 2002, S. 134–139. Allison (s. Anm. 58), S. 121–162; Bohnen: Geist und Buchstabe (s. Anm. 69), S. 11–30, 184–196; Daniel Cyranka: Natürlich – positiv – vernünftig. Der Religionsbegriff in Lessings Erziehungsschrift. In: Aufklärung. Stationen – Konflikte – Prozesse. Hg. von Ulrich Kronauer, Wilhelm Kühlmann. Eutin 2007, S. 39–61. Arno Schilson: Kommentar. In: FA 8, S. 886; Arno Schilson: Kommentar. In: FA 10, S. 794.

Christoph Bultmann

Lessings Axiomata (1778) als eine hermeneutische Programmschrift

I Johann Gottfried Herder weiß in seinem Nachruf auf Lessing zu sagen, dass dieser »Fragmente eines Ungenannten [...] über die Auferstehungs- und andre Stücke der biblischen Geschichte« herausgegeben habe und dass »die ganze Art, wie er die Fragmente herausgab und, als Laie, seine Gedanken allenfalls zur Widerlegung hin und wieder sagte« »für seine reine philosophische Überzeugung« bürge, »daß er auch hiemit etwas Gutes veranlaßte und bewirkte«. Dieses Gute, so Herder, sei die »freie Untersuchung der Wahrheit, und einer so wichtigen Wahrheit als diese Geschichte für jeden der sie glaubt, und an sie glaubt, sein muß«.1 Damit tut Herder 1781, was meinem Eindruck nach bis heute die Exegeten üblicherweise tun: er betont den Zusammenhang zwischen Reimarus’ Studien und den narrativen Texten der Bibel, er hält Lessing – natürlich im Anschluss an dessen Selbstbezeichnung als »Liebhaber der Theologie« – in der Position eines »Laien« fest, und er unterstreicht formal den Impuls für eine »freie Untersuchung der Wahrheit«.2 Darüber hinaus erfährt der Leser nur, dass Lessing auch »hin und wieder« »seine Gedanken zur Widerlegung« von Reimarus gesagt habe.3 Die Frage, ob Lessing im Zusammenhang seiner Veröffentlichung

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Johann Gottfried Herder: G. E. Lessing. Geboren 1729, gestorben 1781. Zuerst in: Der Teutsche Merkur (Oktober 1781), zitiert nach: Johann Gottfried Herder. Werke. 10 Bände. Hg. von Martin Bollacher u. a. Frankfurt am Main 1985–1998. (Im Folgenden zitiert als FHA mit Band und Seitenzahl.) FHA 2, S. 689–708 (mit Kommentar S. 1346–1367), hier S. 701f. Gotthold Ephraim Lessing: Axiomata, wenn es deren in dergleichen Dingen giebt. Wider den Herrn Pastor Goeze, in Hamburg (1778). Zitiert nach: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe. Hg. von Wilfried Barner und anderen. Frankfurt am Main 1985–2003. (Im Folgenden zitiert als FA für ›Frankfurter Ausgabe‹ mit Band- und Seitenzahl). FA 9, S. 53–89 (mit Kommentar S. 838–862); hier S. 57 die Wendung »Ich bin Liebhaber der Theologie, und nicht Theolog«. Der Bezugspunkt dafür sind die »Gegensätze des Herausgebers« im Anschluss an die Textausgabe »Ein Mehreres aus den Papieren des Ungenannten, die Offenbarung betreffend« (»Erstes–Fünftes Fragment«) von 1777, zitiert nach: FA 8, S. 312–350 (mit Kommentar S. 886–910, S. 945–959). Die »Gegensätze« enthalten (hier S. 312f.) als »die allgemeine Antwort auf einen großen Teil dieser Fragmente« die Sequenz jener Sätze, die dann unter dem Titel »Axiomata« weiter erörtert werden. Auch enthalten die »Gegensätze«

Lessings »Axiomata« als eine hermeneutische Programmschrift

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von Teilen des Hamburger Manuskriptkonvoluts einen selbständigen, interessanten Beitrag zur theologischen Hermeneutik geleistet habe, wird nicht gestellt und auf diese Weise implizit verneint.4 Kaum ein anderes Bild ergibt sich aus Herders enzyklopädischen Briefen, das Studium der Theologie betreffend von 1780/81, obwohl schon ihr Anfangssatz wohl nicht nur Loyalität zum Erkenntnisprinzip »sola scriptura« der Reformation bekunden soll, sondern auch als eine direkte Reaktion auf die öffentliche Kontroverse über die Reimarus-Texte zu lesen sein dürfte: »Es bleibt dabei, mein Lieber, das beste Studium der Gottesgelehrsamkeit ist Studium der Bibel, und das beste Lesen dieses göttlichen Buchs ist menschlich.«5 Im Fortgang dieses zu seiner Zeit relativ erfolgreichen Werkes wird dann der Fragmentist mit seiner Untersuchung des »Durchgangs der Israeliten durch das rote Meer« angeführt und später des langen und breiten für seine Abhandlung »Vom Zweck Jesu und seiner Jünger« kritisiert.6 Lessing, der Herausgeber, bleibt selbst dort ungenannt, wo Herder sich direkt auf den »Beweis des Geistes und der Kraft« sowie die »Erziehung des Menschengeschlechts« bezieht.7 Die Axiomata führt er nicht einmal als Titel an; man darf sich fragen, ob Herder sie je gelesen hat (auch die Briefausgabe ergibt keinen positiven Beleg dafür) oder ob er bei seiner Art der Betrachtung des »Ort- und Zeitmäßigen« in der erzählenden Geschichtsdarstellung der Bibel mit dem Werk einfach überfordert war.8 Allen-

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(hier S. 333–346) die Serie von Reflexionen unter dem Titel »Die Erziehung des Menschengeschlechts«, §§ 1–53. Vgl. z. B. die Darstellung von Albert Schweitzer: Geschichte der Leben-Jesu-Forschung (1906, 21913). Tübingen 1951, S. 13–26, bes. S. 15f. (und damit korrespondierend S. 512); Werner Georg Kümmel: Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme. Freiburg 1958, S. 105f.; William Baird: History of New Testament Research. Vol. 1: From Deism to Tübingen. Minneapolis 1992, S. 165–177. Baird nennt die Axiomata (S. 174), doch Notizen wie »[...] Lessing himself did not agree with many of Reimarus’s opinions [...]« (S. 172) und »[a]ccording to Lessing, [...] even if the Bible were lost, the truth of Christianity would endure« (S. 174) führen nicht sehr weit; vgl. aber auch die umsichtige Vorstellung der Schrift »Über den Beweis des Geistes und der Kraft« (S. 168). Für einen eigenen Versuch des Verf., Lessings Platz in der Geschichte der biblischen Hermeneutik zu skizzieren, vgl. Christoph Bultmann: Early Rationalism and Biblical Criticism on the Continent [Reimarus, Voltaire, Lessing], in: Magne Sæbø (Hg.): Hebrew Bible / Old Testament. The history of its interpretation. Vol. 2: From the Renaissance to the Enlightenment. Göttingen 2008, S. 875–901, bes. S. 896–899. FHA 9/1, S. 139–607 (mit Kommentar S. 970–1096), hier S. 145. Das Werk erschien in zwei Bänden 1780/81, 2. Auflage 1785/86. Herder holt allerdings eine Art von Prolegomena zu Beginn des 2. Bandes nach: 25.–28. Brief (S. 382–413). Die Ermahnung, die Bibel »menschlich« zu lesen, wird im 12. Brief weiter erläutert (S. 259). Ebd. Im 4. Brief, S. 178f. bzw. im 13.–15. Brief, S. 271–294, bes. S. 276 und im 34.–36. Brief, S. 453–482, vgl. bes. S. 459, S. 466, S. 474. Als »Herausgeber« im Kontext des 34.–36. Briefes (s. Anm. 5), S. 475, die Schrift »Beweis« im Kontext des 13.–15. Briefes (bes. S. 278, S. 285), die Schrift »Erziehung« im Kontext des 26. Briefes, S. 390. Vgl. für die Texte selbst FA 8, S. 437–445 (»Über den Beweis des Geistes und der Kraft«) und FA 10, S. 73–99 (»Die Erziehung des Menschengeschlechts«; vgl. für die §§ 1–53 schon FA 8, S. 333–346). Vgl. die vielzitierte Empfehlung für die alttestamentliche Hermeneutik »[w]erden Sie mit Hirten ein Hirt, mit einem Volk des Ackerbaues ein Landmann, mit uralten Morgenländern

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Christoph Bultmann

falls ist es möglich, dass die Axiomata im Blick sind, wo Herder eine Anrede der personifizierten »Geschichte« an die personifizierte »Abstraktion« konstruiert: Meine Fakta kann ich nicht auf deine Art demonstrieren, willt du sie nicht auf meine Art erkennen, wie Fakta erkannt werden müssen, so beneide ich dir dein philosophisches Gewebe, das du aus dir selbst willt gesponnen haben, wie viel du mir davon auch schuldig seist, nicht. [...] Ich sehe, daß in der ganzen Welt Vernunft und Geschichte nicht nur zusammenhangen, sondern jene auch in einzelnen Tatsachen und gleichsam Erweckungen aus dieser hervorgegangen sei. Du abstrahierst von diesen Tatsachen und ordnest die Wahrheiten, ihre Resultate an und unter einander, um ihre Schönheit und Harmonie zu fühlen; ich gönne dir dein Gefühl und teile es mit dir: nur verleugne ich meine Menschheit und die einzelnen Quellen nicht, aus denen jene große Wahrheiten geflossen sind, und in denen ich noch immer mehr, als du in ihrem Abfluß hast, zu besitzen glaube.9

Wie stets bei Herder überwiegt die Metaphorik; das philosophische »Gewebe« wird hier zwar nicht geradezu ein Spinnweb genannt und der »Abfluss« aus den Quellen nicht geradezu ein trübes Rinnsal, doch wird auch kein Interesse an einem vernünftigen Abstrahieren und Systematisieren oder am Begriff des »Gefühls« als einer Form von Erkenntnis unter spezifischen epistemologischen Bedingungen bekundet oder beim Leser ermutigt. Sollte in dem Begriff des Gefühls eine Anspielung auf die Axiomata vorliegen, ist es nur um so auffälliger, wie Herder sich mit der Wendung »ich gönne dir dein Gefühl« von dem entsprechenden epistemologischen Konzept zu distanzieren scheint, um es sich mit der Wendung »[ich] teile es mit dir« wiederum zueigen zu machen.10 Ob es Herder seinerseits gelungen ist, eine Hermeneutik zu entwerfen, die die reinen Quellen als Quellen zu erreichen erlaubt, muss für jetzt offen bleiben. Im gegenwärtigen Zusammenhang kommt es auf das Problem an, dass der »Fragmentist« als historischer Skeptiker Lessings hermeneutische Programmschrift, die Axiomata, in der Theologiegeschichte überblendet hat. Schon Herders Überlegungen gehen auf paradigmatische Weise an Lessings zentraler These vorbei: »Genug, dass die christlichen Lehrsätze sich nicht alle auf Fakta gründen. Die übrigen gründen sich [...] auf ihre innere Wahrheit [...]«.11 Indessen hat Hugh Barr Nisbet Recht mit seinem Urteil, die Axiomata seien Lessings »bei weitem gewichtigste Schrift in der Kontroverse mit Goeze.«12 Die narrativen Texte der Bibel, also die Darstellungen mutmaßlicher Fakta, machen nur einen mehr oder weniger erheblichen Anteil an der Bibel aus – was wiederum niemand besser wusste als Herder, der sich in seinen Schriften zur

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ein Morgenländer [...]« und die weniger zitierte Empfehlung für die neutestamentliche Hermeneutik (nach Mt 11,25?) »[...] werden Sie [...] ein Kind mit Kindern«. Im 2. bzw. 37. Brief (s. Anm. 5), S. 151, S. 482. Auch weitere Umspielungen des Motivs für jüdische, griechische und römische Literatur, ebd., S. 257. Im 26. Brief (s. Anm. 5), S. 393. Vgl. in den Axiomata die Diskussion des Urteils »Was gehen den Christen des Theologen Hypothesen, und Erklärungen, und Beweise an? Ihm ist es doch einmal da, das Christentum, welches er so wahr, in welchem er sich so selig fühlet«: FA 9, S. 85f.. FA 9, S. 69 (Axiomata). Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. München 2008, S. 726.

Lessings »Axiomata« als eine hermeneutische Programmschrift

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Bibel auf die »hebräische Poesie« konzentrierte.13 Hinzu kommt, dass lange vor Lessings Kontroverse um theologische Geschichtswahrheiten etwa Hugo Grotius in den 1640er Jahren gegen André Rivet erklärt hatte, anders als die Propheten seien die biblischen Historiker nicht durch einen »afflatus Dei« zum Schreiben gekommen, sondern hätten »pio animo [...] et optima fide« geschrieben. »[...] à Spiritu Sancto dictari historias nihil fuit opus: satis fuit scriptorem memoriâ valere circa res spectatas, aut diligentiâ in describendis Veterum commentariis.«14 Richard Simon transportierte in den 1680er Jahren, wenn auch ablehnend, schon im Vorwort seiner Histoire Critique du Vieux Testament eine Überlegung des Pariser Theologen Henry Holden weiter, der zufolge das Inspirationskonzept auf die wichtigsten Lehrpunkte beschränkt werden könnte.15 Auch bezieht er sich positiv auf eine Differenzierung theologischer Probleme bei Augustin, der zufolge es Fragen gibt »qu’on peut ignorer, [et] dont on peut même parler librement, sans faire tort à la Religion«.16 13

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Vgl. schon die ausdrückliche Anknüpfung an Robert Lowth und die Auswahl von Beispieltexten in den Briefen, das Studium der Theologie betreffend, 1–12. Brief, und dann das Buch »Vom Geist der Ebräischen Poesie« (1782/83). In: FHA 5, S. 661–1308. In den 1790er Jahren folgen indessen auch Schriften über die Evangelien. Vgl. FHA 9/1, S. 1097– 1100. Hugo Grotius: Votum pro pace ecclesiastica, contra examen Andreae Riveti, et alios irreconciliabiles (1642) bzw. Rivetiani Apologetici, pro schismate contra votum pacis facti, discussio (1645), in: Opera omnia theologica. Vol. 3. Amsterdam 1679. Ndr. Stuttgart, Bad Cannstatt 1972, S. 651–676 bzw. S. 677–745; die Zitate dort S. 722b/723a. bzw. S. 672b, auch zitiert in Christoph Bultmann: Beyond the Vulgate: Hugo Grotius’s erudite response to the biblical representation of Solomon. In: Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 120 (2008), S. 92–106, hier S. 99 mit Anm. 26; vgl. ferner Henning Graf Reventlow: Epochen der Bibelauslegung. Bd. 3: Renaissance, Reformation, Humanismus. München 1997, S. 211–225 (zu Hugo Grotius; hier bes. S. 221); Henk J. M. Nellen: Growing Tension between Church Dogmatics and Critical Exegesis of the Old Testament [F. Socinus, H. Grotius, I. de La Peyrère, R. Descartes], in: Hebrew Bible / Old Testament (s. Anm. 4), S. 802–826 (hier S. 814f.). Die Differenzierung findet sich auch in Grotius’ De veritate religionis Christianae für das Alte Testament: »Hi autem quorum nomina praeferunt (sc. libri V. T.) aut Prophetae fuerunt, aut viri fide dignissimi [...]« (III.16; Opera vol. 3, S. 56b.), vgl. für das Neue Testament III.5 (S. 51a): »Matthaeus, Johannes [...] ex sodalitio illorum duodecim fuere quos Iesus vitae suae ac dogmatum testes elegerat, ita ut notitia illis eorum quae narrant deesse non potuerit.« Richard Simon: Histoire critique du Vieux Testament (1678). Rotterdam 1685. Ndr. Frankfurt 1967. Preface de l’Auteur, S. 3f. (unpag.). Simon zitiert Holden mit der These: »Auxilium speciale divinitus praestitum autori cujuslibet scripti, quod pro verbo Dei recipit Ecclesia, ad ea solummodo se porrigit, quae vel sint pure Doctrinalia, vel proximum aliquem aut necessarium habeant ad Doctrinalia respectum, in iis vero quae non sunt de instituto scriptoris, vel ad alia referuntur, eo tantùm subsidio Deùm illi adfuisse judicamus, quod piissimis caeteris autoribus commune sit.« Vgl. auch Bultmann (s. Anm. 4), S. 876. Zu Simons Werk insgesamt vgl. Sascha Müller: Kritik und Theologie. Christliche Glaubens- und Schrifthermeneutik nach Richard Simon (1638−1712). St. Ottilien 2004; zu Holden: Jacques le Brun: L’institution dans la théologie de Henry Holden (1596–1662). In: Recherches de Science Religieuse 71 (1983), S. 191–202. Simon (s. Anm. 15) S. 7, unpag. zitiert aus Augustins Schrift »De gratia Christi et de peccato originali contra Pelagium et Coelestium libri duo«, Buch 2, Kap. 23: »[...] illae [quaestiones] in quibus salva fide, qua Christiani sumus, aut ignoratur quid verum sit, et

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Und selbst wenn die dort ebenfalls vorgestellte Differenzierung zwischen einer Tradition aus vor-textlichen Quellen und dem eigentlichen Text der Schrift der Verteidigung des kirchlich ausgeweiteten Traditionsprinizps als normierender Instanz für die biblische Hermeneutik dienen soll, trägt Simon mit ihr doch auch zu einer kritischen Perspektive auf die Schrift bei.17 Der »indivulsus nexus« zwischen Offenbarungsschrift und Irrtumsfreiheit einer Geschichtsdarstellung war keineswegs so unauflösbar, wie es in Lessings Zeit einer nicht geringen Zahl von Theologen scheinen wollte. Obwohl ich bisher nicht sagen kann, wie weit die genannte Auffassung von Grotius in theologisch interessierten Kreisen, Lessing eingeschlossen, bekannt, gar geläufig war, lässt sich in jedem Fall festhalten, dass derjenige Exponent lutherischer Theologie im 17. Jahrhundert, der viele Jahre seines Lebens mit einer Biblia illustrata anti-Grotiana beschäftigt war, Abraham Calov, von Lessing zu einer Strömung des Luthertums gerechnet wurde, die – bei allem, was sonst noch über sie zu sagen wäre – ihre Zeit gehabt hatte.18 So hält Lessing in schlichter Direktheit Goeze die Frage entgegen: »Warum hat er nicht kurz und gut in Bausch und Bogen erklärt, daß meine ganze Stelle [über die Unfehlbarkeit der Schrift] den Compendien der Wittenbergischen Orthodoxie platterdings widerspreche? Zugegeben; und herzlich gern! hätte ich sodann eben so kurz antworten können.«19 Inwiefern »gegen« Calov hier »für« Grotius bedeutet, bliebe zu untersuchen. Neben der entschiedenen Absage an die Calov’sche Lehrtradition zum Status der Schrift lässt sich als ein weiterer Gesichtspunkt zur Debatte um die narrativen Texte der Bibel wohl anführen,

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sententia definitiva suspenditur, aut aliter quam est, humana et infirma suspicione conjicitur«. Im Kontext ist ein Beispiel Augustins für solche Fragen die textkritische Situation hinsichtlich der Angaben über das Lebensalter Metuschelachs (Gen 5,25–27); vgl. Opera omnia 10/1, PL 44, Sp. 398. Ebd. S. 8f. (unpag.): »Avant que la Loi eust été écrite par Moïse, les anciens Patriarches ne conservoient la pureté de la Religion, que par le moyen de la Tradition. [...] A l’egard du Nouveau Testament, la Doctrine de l’Evangile étoit établie dans plusieurs Eglises, auparavant qu’on en eust rien mis par écrit [...] On peut appeller ces Traditions un Abregé de la Religion Chrêtienne, qui a été fondée dès le commencement du Christianisme dans les premiers Eglises independemment de l’Ecriture Sainte.« Vgl. auch Grotius (s. Anm. 14), S. 723b: »[...] Haec sunt fundamentum et columna fidei nostrae; Evangelium praedicatum priùs, deinde scriptum. [...] Mansit [ante Mosem] Dei voluntas, nullo scripto consignata, in traditione parentum ad posteros. [...] Utilia ergo fuere scripta, non ita necessaria ut sine eis fides et Ecclesiae esse non possent.« Vgl. zu Calovs biblischer Hermeneutik Volker Jung: Das Ganze der Heiligen Schrift. Hermeneutik und Schriftauslegung bei Abraham Calov. Stuttgart 1999; Reventlow (s. Anm. 14), S. 225–233; für den Kontext der sog. lutherisch-orthodoxen Exegese vgl. Johann Anselm Steiger: The Development of the Reformation Legacy: Hermeneutics and Interpretation of the Sacred Scripture in the Age of Orthodoxy. In: Hebrew Bible / Old Testament (s. Anm. 4), S. 691–757; neben den üblichen Lexika ist auch die knappe Würdigung Calovs durch Theodor Mahlmann: Art. Calov, Abraham (1612–1686) zu beachten. In: Theologenlexikon. Hg. von Wilfried Härle und Harald Wagner. München 21994, S. 70f. FA 9, S. 63 (Axiomata).

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dass für Lessing als Literaturkritiker eine Unterscheidung zwischen literarischen Gattungen, also z. B. der Legende und dem Bericht, naheliegen musste. Herders Vorstellung von Lessings »theologischer Streitigkeit« mit der Fokussierung auf die biblische Geschichte ist vor allem deshalb irreführend, weil bei Lessing noch ganz andere, nicht-narrative Texte der Bibel in den Blick kommen. Mag man über geschichtliche Ereignisverläufe seine Meinung haben – wichtiger ist, dass Theologie als Wissenschaft eine praktische Wissenschaft ist, sei es im Hinblick auf den Trost des Glaubens (wie im Fall der Insulaner mit ihren Katechismus-Bretterchen20), sei es im Hinblick auf Ermahnungen für die Lebensführung. Der letztere Aspekt lässt sich aus dem Kontext der Kontroverse mit einem Beispiel im dritten »Anti-Goeze« erläutern, das geringfügiger scheint als es ist: »So hält Hr. Goeze doch wenigstens einen Spruch im Neuen Testamente für nicht eingegeben, für nicht göttlich; sondern für eine bloß menschliche gute Lehre, von welcher er Ausnahmen nach Gutdünken machen darf. Verdammet nicht, so werdet ihr auch nicht verdammt!« Lessing zitiert hier aus der sog. Feldrede im Lukasevangelium,21 der Parallele zur Bergpredigt im Matthäusevangelium,22 d. h. aus der prominentesten Komposition lehrhafter Rede Jesu im Neuen Testament. Und dies nicht zufällig. Auch in den Axiomata hatte er (in seiner Katechismusgeschichte) mit dem Ausruf »Barmherziger Gott! Unbarmherziger Priester!« auf die Feldrede bei Lukas angespielt, denn der Ausruf bezieht sich auf den Kulminationspunkt der Rede in Lk 6,36: »Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.«23 Für einen Interpreten stellt sich offenkundig die Frage, wie solche Aussprüche, d. h. Gebote Jesu, die im Kontext der Feldrede bzw. der Bergpredigt sogar ausdrücklich in ihrem Anspruch auf Gehorsam gedeutet werden,24 das Agieren in einer konkreten Konfliktsituation leiten sollen. Diese hermeneutische Frage hat mit der Frage der Inspiration des Textes oder der Frage der Historizität der Sprechsituation im Leben Jesu (»auf einem ebenen Feld« bei Lukas, »auf einem Berg« bei Matthäus) nichts zu tun. Auch bei einer »bloß menschlichen guten Lehre« – und so wären nach Grotius sowieso alle »morales sententiae« der Bibel zu bezeichnen25 – liegt nicht von vornherein nahe, dass sie »Ausnahmen nach Gutdünken« zulässt, wenigstens nicht innerhalb einer durch den Konsens derjenigen geprägten Glaubensgemeinschaft, die sie als Teil ihrer kanonischen Schriften tradiert haben. Lessing führt nun an dieser Stelle das hermeneutische Problem des Verständnisses von biblischen Ermahnungen für die Lebensführung ironisch

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FA 9, S. 73–75 (Axiomata). Vgl. Lk 6,20–49. Vgl. Mt 5,3–7,27. FA 9, S. 185–190 (Anti-Goeze. Dritter). Hier S. 185, bzw. FA 9, S. 75 (Axiomata). Die Parallelen in den Evangelien sind Lk 6,37 par. Mt 7,1 bzw. Lk 6,36 par. Mt 5,48 (jeweils variiert). Vgl. Lk 6,46.47–48.49 par. Mt 7,21.24–25.26–27. Vgl. die in Anm. 14 genannten Schriften, S. 722b faßt Grotius die »scripta historica« und die »sententiae morales« zusammen.

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weiter aus, indem er das Selbstverständnis eines lutherischen Amtsträgers anspricht und eine Umgehungsstrategie vorschlägt, die den Gebotssatz aus der Feldrede außer Kraft setzen würde: »[...] Er [Goeze] selbst verdammt ja nicht. Er wiederholt nur die Verdammung, welche der h[eilige] Geist ausgesprochen. [...] Denn da stehts! Wer nicht gläubt, der wird verdammt!« (so nach Mk 16,16). Analytisch sind hier vier Aspekte wichtig: Erstens zitiert Lessing einen Vers aus dem Markusschluss in Mk 16,9–20, von dem schon zur Zeit des Hieronymus bekannt und gerade von Richard Simon wieder dargelegt worden war, dass er nicht eindeutig als Teil des ursprünglichen Markusevangeliums gelten konnte.26 Zweitens wirft er das Problem auf, inwiefern der »Diener [des göttlichen] Wortes« im Einzelfall mit einer besonderen Einsicht in Gottes Gedanken begabt wird und deshalb also eine durch den heiligen Geist ausgesprochene Verdammung wiederholen – und zu ihrer konsequenten Realisierung bringen – kann.27 Drittens wäre zu fragen, was denn das im Text absolut gesetzte »Glauben« heißen soll (Mk 16,16: »wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden; wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden«). Heißt es, der einen, historisch kontingenten Gestalt des Hauptpastors glauben und »das nemliche [glauben], was er glaubt«, wie Lessing polemisch fragt?28 Und dann zieht Lessing, viertens, ein Register mit zotigem Nebenton, indem er den Geistlichen, der auf der Linie eines bestimmten Schriftzitats (hier Mk 16,16) durch eifriges Verdammen (bzw. Wiederholen des Verdammungsurteils des heiligen Geistes) Verdienste erwirbt und sich insofern ja wohl von seinem kirchlichen Wirken Seligkeit verspricht, neben »jene fromme Hure« stellt, die »durch Kinderzeugen selig zu werden [hoffte]«. Dazu der korrekte, unübertroffen trockene Kommentar: »Die Worte, worauf sie sich gründete, stehn auch da«29 – gemeint ist eine kuriose Passage im 1. Timotheusbrief: »[...] Adam wurde nicht verführt, die Frau aber hat sich zur Übertretung verführen lassen. Sie wird aber selig werden dadurch, dass sie Kinder zur Welt bringt [...]«.30 Eine hermeneutische Anleitung

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Richard Simon: Histoire critique de texte du Nouveau Testament. Rotterdam 1689; vgl. Werner Georg Kümmel: Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme. Freiburg 1958, S. 41–50. In »Nathan der Weise« wird dieses Problem in dem Dialog zwischen dem Patriarchen (als »Diener des Worts«) und dem Tempelherrn in IV/2 berührt (in: FA 9, S. 576). Vgl. auch das Thema der geistlichen Autorität in Lessings Epigramm auf den Tod von Voltaire (1779): »Hier liegt – wenn man euch glauben wollte, / Ihr frommen Herr’n! – der längst hier liegen sollte. / Der liebe Gott verzeih’ aus Gnade / Ihm seine Henriade, / Und seine Trauerspiele, / Und seiner Verschen viele: / Denn was er sonst ans Licht gebracht, / Das hat er ziemlich gut gemacht.« In: Sämtliche Schriften. Hg. von Karl Lachmann und Franz Muncker. Bd. 1. Stuttgart 1886, S. 49). »[...] was er sonst ans Licht gebracht« schließt sicher die Schriften Voltaires zur Religionsphilosophie mit ein. FA 9, S. 185. Im Kontext von Mk 16 ist der Begriff des Glaubens einerseits mit dem Begriff des Evangeliums verknüpft (V. 15), andererseits mit einer eigentümlichen Liste von Zeichen (ıȘȝİ઀Į), die den Glauben erkennbar machen (V. 17f.). FA 9, S. 185f. 1 Tim 2,14f.

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zur Lektüre des Neuen Testaments müsste auch dem Verstehen oder Missverstehen solcher nicht narrativen Texte gerecht werden.31 Für eine gegenüber dem Fokus auf den narrativen Texten erweiterte Problemstellung lässt sich aus der Debatte ein zweites epistemologisch gewichtiges Beispiel zitieren: Goezes Antwort auf Lessings Duplik in Lessings Schwächen (I.), »Betrachtung über eine Stelle aus Hn. L. Duplik, in welcher er der heil[igen] Schrift geradezu widerspricht, und wahren Unsinn niedergeschrieben hat«, zum Stichwort »Besitz der Wahrheit«.32 Für Goeze ist der »Besitz der Wahrheit« eine gegenwärtige Realität; die einzige Differenzierung, die er zulässt, ist – in seinen Begriffen – eine Unterscheidung zwischen der »reinen Wahrheit selbst«, über die Menschen dank der Bibel verfügen könnten, und der »allervollkommensten Erkenntnis der reinen Wahrheit«, die trotz der Bibel Gott vorbehalten bleibe. Dabei argumentiert Goeze exegetisch, um zu dem Ergebnis zu kommen, dass Lessing »durch den Satz: die reine Wahrheit gehört allein für Gott, dem Erlöser und der ganzen heiligen Schrift gerade in das Angesicht [widerspricht]«.33 Nun ist auffällig, dass Goeze insgesamt sieben neutestamentliche Zitate anführt, die in einem starken Sinn von Erkenntnis sprechen, davon charakteristischerweise drei aus dem Johannesevangelium, drei aus den Pastoralbriefen und eines aus dem Hebräerbrief: Joh 16,13; 17,3; 17,17; 1 Tim 2,4; 2 Tim 1,12; 3,7; Hebr 13,9. Dagegen bietet er kein ›dictum probans‹ für seine Unterscheidung zwischen »reiner Wahrheit« und deren »allervollkommenster Erkenntnis«, und er vermeidet eine Reflexion auf die klassischen Stellen bei Paulus im 1. Korintherbrief und im Philipperbrief über die Begrenztheit und Vorläufigkeit des Erkennens (»jetzt erkenne ich stückweise«, 1 Kor 13,9–12; »nicht, dass ich’s schon ergriffen habe oder vollkommen sei«, Phil 3,8–16), von der Abhandlung über die paradoxe Weisheit des Kreuzes in 1 Kor 1–4 oder den Ausführungen zu dem paulinischen Motto »die Erkenntnis bläht auf, aber die Liebe baut auf« in 1 Kor 8 ganz zu schweigen. Doch diese Worte (wäre zu erinnern) »stehn auch da«, und sie dürften – in Lessings Diktion – wohl zum »Netto« der biblischen Überlieferung zu rechnen sein. Zum eigentlichen Netto gehört wiederum auf Goezes Seite das Beispiel für den Begriff der »reinen Wahrheit«: das theologische Thema der Barmherzigkeit Gottes im Verhältnis zu Buße und Glaube. Ob sich Goeze hier allerdings als ein starker lutherischer Theologe erweist, wäre erst noch zu fragen, denn es ist keineswegs klar, dass der lautstarke Vertreter der sog. Orthodoxie in diesem Kontext nicht die Rechtfertigungsbotschaft durch ein Kooperationsmodell variiert, nach dem Buße und Glaube des Menschen notwendige Vorleistungen für die Zuwendung der Gnade Gottes sind. So lehrt Goeze, nachdem er Gottes 31

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Der Satz hat die Fortsetzung: »wenn sie bleiben mit Besonnenheit im Glauben und in der Liebe und in der Heiligung.« – Goeze seinerseits zitiert in »Lessings Schwächen« aus dem 1. Timotheusbrief die Sentenz: »Gott will, daß allen Menschen geholfen werde, und daß sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.« (1 Tim 2,4); vgl. in: FA 9, S. 163–184, hier S. 172. FA 9, S. 170–175. Die Duplik in FA 8, S. 505–586. Die These über den »Besitz der Wahrheit« S. 510. FA 9, S. 175.

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Barmherzigkeit als eine »Neigung, [...] zu helfen« definiert hat: »Wenn sich der Sünder von der Barmherzigkeit Gottes den Begriff macht, dass sie eine göttliche Neigung sei, den Sünder, als Sünder, ohne Buße und Glauben selig zu machen, so ist solche Vorstellung keine Wahrheit, sondern Irrtum und Lügen.«34 Hic Rhodos, hic salta! Wenn sich Lessings Axiomata zu Recht als eine hermeneutische Programmschrift bezeichnen lassen, dann müssen sie eine Bedeutung für die Interpretation der biblischen Überlieferung über das Problem hinaus haben, ob die narrativen Texte der Bibel Bericht oder Legende sind. Die für eine theologische Hermeneutik entscheidenden drei Aspekte schwingen, wie ich gezeigt habe, in der Debatte selbst mit: Welche Regeln für die Lebensführung sollen gelten? Welchen Status hat die Glaubenserkenntnis? Inwiefern bedeutet Glaube eine Ausrichtung auf die Barmherzigkeit Gottes?

II Der Zielpunkt der Axiomata als Hermeneutiktraktat ist der bekannte Satz: »Aus ihrer innern Wahrheit [d. h. der innern Wahrheit der Religion] müssen die schriftlichen Überlieferungen erkläret werden, und alle schriftliche Überlieferungen können ihr keine innere Wahrheit geben, wenn sie keine hat.«35 Für die exegetische (auch homiletische) Praxis ergibt sich daraus die Regel, dass die »innere Wahrheit« »die Probe der hermeneutischen« sein müsse. Der Exeget wird auf die Religionsphilosophie verwiesen. Nun trifft Lessing in den Axiomata eine wesentliche Unterscheidung: der Exeget als Religionsphilosoph hat nicht vor der Lektüre des Textes die richtige Vorstellung von der inneren Wahrheit der Religion, sondern er gewinnt diese Vorstellung bei der Lektüre des Textes. Das Modell einer vorgängigen religionsphilosophischen Erkenntnis bleibt eine hermeneutische Alternative, die Lessing sich ausdrücklich nicht zu eigen macht.36 Diese Alternative hat jedoch ihr Gewicht. Martin Mulsow hat mich auf die große Bedeutung der Debatte zwischen Lodewijk (Ludwig) Meyer, Baruch Spinoza und anderen Zeitgenossen hingewiesen, als ich erwähnte, dass ich in einem Brief Johann Joachim Spaldings auf die kommentierte Neuausgabe von Meyers Schrift Philosophia Sacrae Scripturae Interpres von 1666 durch Johann Salomo Semler 1776 aufmerksam geworden war.37 Reimund Sdzuj fasst in einer

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Ebd., S. 174. FA 8, S. 313 (Gegensätze); FA 9, S. 78 (Axiomata). FA 9, S. 79 (Axiomata). Vgl. Christoph Bultmann: »Die neue Sekte der Kraft- und Empfindungsmänner brauset gewaltig vorwärts.« Johann Joachim Spalding in Briefen an einen jungen Theologen. In: Claudia Taszus (Hg.): Vernunft – Freiheit – Humanität. Über Johann Gottfried Herder und einige seiner Zeitgenossen (Festschrift für Günter Arnold). Eutin 2008, S. 189–232, hier S. 219.

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Studie zu Meyer von 2005 dessen Position so zusammen: »Die Entscheidung über den Sinn [des biblischen Textes] fällt die mit der wahren Philosophie gleichgesetzte vorurteilsfreie Vernunft und zwar in mehrfacher Funktion, erstens als Erkenntnismittel, zweitens als selbst nicht interpretationsbedürftige Norm der Auslegung, indem sie das Urteil darüber fällt, in welchem Sinn die Schriftworte zu verstehen sind, und drittens als Norm der Prüfung dieser Auslegung.«38 Von dieser Position aus hätte der Exeget in der Tat »eine richtige Vorstellung« von der »innern Wahrheit der Religion«, bevor er die schriftlichen Überlieferungen aus dieser inneren Wahrheit erklärt (und nur so hat Goeze Lessings Satz aus den »Gegensätzen« aufgefasst). Demgegenüber entwirft Lessing ein Modell, nach dem der Exeget, »indem er mir die innere Wahrheit eines geoffenbarten Satzes erklärt« »beweiset«, »daß er selbst von dieser innern Wahrheit eine richtige Vorstellung habe«.39 Also in der Form von Frage und Antwort: »Woher die innere Wahrheit [der christlichen Religion] nehmen? Aus ihr selbst.«40 Aus den schriftlichen Überlieferungen, so Lessing, kommt dagegen nur »unsere erste historische Kenntnis dieser Wahrheit«, die im Prinzip ebenso gut aus einer mündlichen Überlieferung (der mündlichen Überlieferung der Kirche) oder aus einem katechetisch oder dogmatisch motivierten »Lehrbegriff«, d. h. der ›regula fidei‹, kommen kann.41 Der gedankliche Spielraum, in dem Lessing die Unterscheidung zwischen »vorher« und »indem« zu gewinnen sucht, ist indessen auch bei ihm selbst eng. Sein Vergleichsbild in der Duplik, wonach der Kritiker darauf zielt »den Bau selbst nach den eingestandenen Regeln einer guten Architektur zu prüfen«, erinnert eher an das Modell einer »philosophia scripturae interpres«, nach dem die Religionsphilosophie die »Regeln einer guten Architektur« bereit hält.42 Auch das Manuskript Über die Entstehung der geoffenbarten Religion aus der Breslauer Zeit zeigt Lessing ja, etwa zehn Jahre nach – zum Beispiel – dem Erscheinen von James Fosters Betrachtungen über die vornehmsten Stücke der natürlichen Religion und der gesellschaftlichen Tugend in Johann Joachim Spaldings Übersetzung (1751/53) oder Reimarus’ Vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion (1754) oder James Butlers Bestätigung der natürlichen und geoffenbarten Religion aus ihrer Gleichförmigkeit mit der Einrichtung und dem ordentlichen Lauf der Natur, wiederum in Spaldings Übersetzung (1756), als einen Vertreter der Überzeugung, die »beste geoffenbarte oder positive Religion« – sofern man überhaupt eine solche anerkennen und gar noch gut nennen kann! – sei diejenige, die »die wenigsten conventionellen Zusätze zur 38

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Reimund Sdzuj: »Adamus in filiis lucis non peccavit.« Die ersten Reaktionen der reformierten Orthodoxie auf Lodewijk Meyers Programmschrift Philosophia sacrae scripturae interpres (1666). In: Jörg Schönert, Friedrich Vollhardt (Hg.): Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen. Berlin 2005, S. 157–185, hier S. 165; vgl. auch J. Samuel Preus: Spinoza and the irrelevance of biblical authority. Cambridge 2001, S. 34–67. FA 9, S. 79 (Axiomata. Kursivierung C.B.). Ebd. Ebd., S. 79f. FA 8, S. 519 (Duplik).

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natürlichen Religion [enthalte], [und] die guten Wirkungen der natürlichen Religion am wenigsten [einschränke]«.43 Diese Linie des theologischen Denkens lässt sich über das 9. Heft des Anti-Goeze mit seiner eindringlichen Empfehlung von Reimarus’ offenbarungsfreier Religionsphilosophie44 bis in das Schauspiel Nathan der Weise verfolgen, wo das Verhältnis von natürlicher und positiver Religion etwas drastischer gezeichnet wird, wenn zunächst der Tempelherr dem Patriarchen bewundernd erklärt, Nathan habe, wie man sage, Recha »nicht sowohl in seinem, als / vielmehr in keinem Glauben auferzogen, / und sie von Gott nicht mehr nicht weniger / gelehrt, als der Vernunft genügt«, und dann Nathan im Hinblick auf eine mögliche Aufnahme Rechas unter Christen entsetzt entgegenhält: »Was hattet Ihr für einen Engel da gebildet, / den Euch nun andre so verhunzen werden!«45 Ist also Lessings Erklärung, dass der Exeget, »indem er [...] die innere Wahrheit eines geoffenbarten Satzes [scil. in der schriftlichen Überlieferung] erklärt, beweiset [...], daß er selbst von dieser innern Wahrheit eine richtige Vorstellung habe«, eine Irreführung Goezes (und späterer Leser) weil doch das vorgängige Wissen der Religionsphilosophie den hermeneutischen Prozess dominiert? Goeze hat es so empfunden, denn obwohl er auf die Axiomata – auch »nach dem Fest«46 – nicht wirklich eingeht,47 macht er gegen den Satz in den »Gegensätzen« bzw. den Axiomata über den möglichen folgenlosen Bibelverlust die Vermutung geltend, dass Lessing nicht anders als Matthew Tindal »unter der christlichen Religion [...] die natürliche [verstehe]« – so zuerst in Etwas Vorläufiges, danach verschärft in Lessings Schwächen. Das zweite Stück.48 Im zeitgenössischen Kontext spricht Goeze damit ein Problem an, das auf der Hand liegt, das indessen im Blick auf Lessing auch tatsächlich relevant ist. Der Kritikpunkt sollte unabhängig von Goezes Polemik betrachtet werden, dass ein Votum für die »natürliche Religion« per se schon ein »feindseliger Angriff auf die allerheiligste [christliche] Religion« sei. Nun hatte Lessing allerdings in Über den Beweis des Geistes und der Kraft zum Thema Prophezeiungen und Wunder der Überlieferung die Funktion zugeschrieben, »[dem] gesunden Menschenverstand auf die Spur [zu] helfen«, und festgestellt, dass danach, sobald das geschehen sei, der Glaubensgrund

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FA 5/1, S. 424f. FA 9, S. 401–407 (Anti-Goeze. Neunter), hier S. 403. FA 9, S. 578 bzw. 613. (Nathan der Weise, IV/2 bzw. V/5). FA 9, S. 117–144, hier S. 139 (Etwas Vorläufiges gegen des Herrn Hofrats Lessings mittelbare und unmittelbare feindselige Angriffe auf unsre allerheiligste Religion, und auf den einigen Lehrgrund derselben, die Heilige Schrift). Vgl. FA 9, S. 357–394 (Lessings Schwächen. Das zweite Stück). Zu den Axiomata bes. S. 370–382. FA 8, S. 313 (Gegensätze) und FA 9, S. 71(Axiomata). (»[...] so muß es auch möglich sein, daß alles, was die Evangelisten und Apostel geschrieben haben, wiederum verloren gienge, und die von ihnen gelehrte Religion doch bestünde«). Dazu Goeze in FA 9, S. 142 mit dem Verweis auf Matthew Tindal (Christianity as old as the creation, 1730; dt. Übers. von Johann Lorenz Schmidt 1741) bzw. FA 9, S. 370–382, bes. S, 371, S. 379, S. 382.

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wiederum nur »in den Lehren selbst« liegen könne.49 Danach hatte die Überlieferung, für die ein Offenbarungsanspruch geltend gemacht wird, zu einer bestimmten Zeit eine echte Funktion. Auch erläutert Lessing in Nötige Antwort auf eine sehr unnötige Frage die »christliche Religion« mit einem Verweis auf die offizielle konziliare Lehrbildung bis zum Nicaeno-Constantinopolitanum von 325/381, dessen anti-arianische Ausrichtung auf dem Konzil von Chalkedon 451 noch einmal bestätigt worden war.50 Von hier aus ist also zu erwarten, dass der Begriff der »inneren Wahrheit« den Aspekt der Christologie mit einschließt. So ist dann auch der Begriff des Christentums in der Feststellung zu verstehen, die Lessing in den Axiomata abschließend noch einmal aus den »Gegensätzen« wiederholt: »Was gehen den Christen des Theologen Hypothesen, und Erklärungen, und Beweise an? Ihm ist es doch einmal da, das Christentum, welches er so wahr, in welchem er sich so selig fühlet.«51 Hugh Barr Nisbet hebt in seiner Biographie zu Recht das Zitat aus einem Brief an Moses Mendelssohn von 1771 hervor, in dem Lessing notiert, er habe wohl »ein wenig zu viel mit weggeworfen [...], was [er] werde wiederholen müssen«.52

III Was könnte ein christlicher Religionsphilosoph wiederholen, der für eine Religion mit den »wenigsten konventionellen Zusätzen zur natürlichen Religion« optiert hatte? Worin eigentlich liegt der Unterschied zwischen der christlichen und der natürlichen Religion? Als religionsphilosophisches Konzept steht die natürliche Religion für Reflexionen, die auf die Existenz Gottes, seine natürlichen Attribute (Allmacht, Weisheit) und seine moralischen Attribute (Gerechtigkeit, Güte) zielen. Im Verhältnis zur Welt ist dieser Gott als Schöpfer und als Gott der Vorsehung bestimmt, im Verhältnis zum Menschen als Gott der gerechten Belohnung oder Bestrafung über den Tod hinaus. Damit wiederum verbinden sich das Thema der Ethik und das Thema der Freiheit des Handelns, und die Religionsphilosophie ist in ihrem Kern Moralphilosophie. Aus dieser Quelle speiste sich also der Bestand an religiösen Topoi, den die Philosophie als »scripturae interpres« »vorher«, d. h. vor dem hermeneutischen

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FA 8, S. 444. In: FA 9, S. 427–434, hier S. 430: »[...] daß ich unter der Christlichen Religion alle diejenigen Glaubenslehren verstehe, welche in den Symbolis der ersten vier Jahrhunderte der Christlichen Kirche enthalten sind«. Der Zeitraum: »die ersten vier Jahrhunderte der christlichen Kirche« könnte noch das Konzil von Chalkedon 451 mit einschließen; vgl. jedoch FA 10, S. 210–212. Im lutherischen Konkordienbuch steht das NicaenoConstantinopolitanum neben den von Lessing auch genannten Symbolum Apostolicum und Symbolum Athansii. FA 8, S. 312 (Gegensätze); FA 9, S. 85 (Axiomata). Nisbet (s. Anm. 12), S. 669.

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Prozess der Lektüre christlicher Offenbarungsschriften bereitstellen könnte.53 Die »innere Wahrheit« einer Religion läge danach in einer Übereinstimmung der Lehrsätze dieser Religion mit »den Eigenschaften und dem Willen Gottes«, wie sie durch die Philosophie bekannt sind. In dieser Form spielt sie in Goezes Kritik dort eine Rolle, wo er Lessing reinen »Naturalismus« vorwirft.54 Für das Christentum ist Goeze der Gedanke einer »inneren Wahrheit« nicht nachvollziehbar, denn dieses beruht seinem Verständnis zufolge auf geschehenen »Tatsachen« und »historischen Beweisen« für diese. Es sind allein diese Tatsachen, die auf den Unterschied zwischen der christlichen und der natürlichen Religion führen, d. h. konkret Tod und Auferstehung Jesu (in der Epoche des römischen Provinzstatthalters Pontius Pilatus). Diese Tatsachen selbst gehen für Goeze in ungebrochener Harmonie mit ihrer Deutung auf ein Sühnegeschehen und insofern auf eine neue Sicht der Gerechtigkeit des lohnenden und strafenden Gottes einher, während Lessing – so in Über den Beweis des Geistes und der Kraft und ähnlich in der Duplik – es als eine metabasis eis allo genos ablehnt, wenn verlangt wird, »metaphysische und moralische Begriffe« nach »historischen Wahrheiten« umzubilden.55 Gesucht wird mit dem Begriff der »inneren Wahrheit der christlichen Religion« also etwas Drittes zwischen philosophischen Sätzen und historischen Annahmen, und dieses Dritte muss eine solche Überzeugungskraft haben, dass es gerechtfertigt wäre, wenn einer nach ihm seine »Grundideen von dem Wesen der Gottheit« »abänderte«.56 Die Richtung, in der dieses Dritte zu suchen ist, ist die Christologie, in der Tod und Auferstehung Jesu theologisch gedeutet werden. In den Axiomata beschreibt Lessing dieses Dritte in einer komparatistischen Perspektive, die sicher nicht nur andere positive Religionen, sondern ebenso die natürliche Religion berücksichtigt, zum einen als eine »Einsicht«, eine Einsicht darein, dass der »Lehrbegriff« (also das Gottesverständnis) der christlichen Religion »Gott anständiger, und dem menschlichen Geschlecht ersprießlicher ist, als die Lehrbegriffe aller andern Religionen«, und zum anderen als ein »Gefühl« der Beruhigung.57 Beides, »Einsicht« und »Gefühl« sind meines Erachtens Umschreibungen für den Begriff des Glaubens als der fides qua creditur. In der Debatte mit Goeze kann Lessing das Gemeinte auch in das – aus Goezes

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An der preußischen Landesuniversität Halle war 1765 wohl nicht zuletzt auf Betreiben des neuen Berliner Oberkonsistorialrats Spalding eine entsprechende öffentliche Vorlesung in Verantwortung der theologischen Fakultät installiert worden, die Johann August Nösselt übernahm und schon 1766 in seinem Buch »Verteidigung der Wahrheit und Göttlichkeit der christlichen Religion« dokumentierte. FA 9, S. 371, vgl. S. 376 (Lessings Schwächen). FA 8, S. 443 bzw. S. 518f. FA 8, S. 443 (Über den Beweis des Geistes und der Kraft). FA 9, S. 83 (Axiomata) »[...] weil er einsieht, daß er [scil. der Lehrbegriff] Gott anständiger, und dem menschlichen Geschlechte ersprießlicher ist, als die Lehrbegriffe aller andern Religionen; weil er fühlt, daß ihn dieser christliche Lehrbegriff beruhiget«. Der Begriff »Beruhigung« ist – neben dem Begriff »Besserung« – ein typischer Begriff bei Spalding.

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Polemik adoptierte – Bild des »strohernen Schildes« übersetzen, unter dem »nur ein einzelner Mensch, die Religion im Herzen« Raum habe.58 Mit seiner emphatischen Variation des Glaubensbegriffs durch die Begriffe »Einsicht« und »Gefühl« sieht Lessing sich in der Tradition der lutherischen Bekenntnisschriften, der »symbolischen Bücher«, und dies wohl zu Recht.59 Der fides quae creditur, dem sühneschaffenden Tod Jesu, entspricht als die einzige Form einer gültigen Antwort auf Seiten des Menschen der Glaube (bzw. etwas paulinischer, der Glaube, der in der Liebe wirksam ist: Gal 5,6). So heißt es zum Beispiel in Luthers Schmalkaldischen Artikeln von 1537, die in die Bekenntnisschriften Aufnahme gefunden haben, im Kontext scharfer PapstPolemik: »[...] der Bapst will nicht lassen gläuben, sondern spricht, man solle ihm gehorsam sein, so werde man selig«; diese im »4. Hauptartikel« formulierte Polemik korrespondiert Luthers im »1. Hauptartikel« fomulierten zentralen Lehrsatz über die einzig gültige Antwort auf das Christuszeugnis: »Dieweil nu solchs muß gegläubt werden und sonst mit keinem Werk, Gesetze noch Verdienst mag erlanget oder gefasset werden, so ist es klar und gewiß, daß allein solcher Glaube uns gerecht mache [...]«.60 Der Begriff der »inneren Wahrheit« kann insofern als ein kritisches Mittel dafür gedeutet werden, eine theologische Sinnebene freizulegen, auf der eine Rede vom Glauben überhaupt eine Bedeutung erhält. Näher an das Problem eines Glaubensbegriffs im Verhältnis zur historischen Überlieferung führt die Confessio Augustana von 1530, in der in Artikel 20 die »Lehre vom Glauben« differenziert erläutert und im Verhältnis von fides quae creditur und fides qua creditur verdeutlicht wird: »Es geschieht auch Unterricht, daß man hie nicht von solchem Glauben redet, den auch die Teufel und Gottlosen haben, die auch die Historien glauben, daß Christus gelitten hab und auferstanden sei von Toten, sonder man redet von wahrem Glauben, der da glaubet, daß wir durch Christum Gnad und Vergebung der Sunde erlangen.«61 An dieser Stelle stand die evangelische Theologie der Zeit Lessings vor einem ungelösten Problem. Denn bei überzogenen Konkordanzerwartungen im Hinblick auf das Verhältnis von natürlicher und christlicher Religion wird die in

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FA 9, S. 87 (Axiomata). Goezes spöttisches Bild beruht auf Eph 6,16. Ebd. S. 86. Zitiert nach: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche (BSLK). Berlin 1930 u. ö., S. 405–468, hier S. 431 bzw. S. 415. Insofern hat es eine gewisse Plausibilität, wenn Lessing sich in »Anti-Goeze. Erster« auf »Luthers Geist« als Orientierungspunkt für den »wahren Lutheraner« beruft (FA 9, S. 95). Auch die Kritik an Goeze in »Anti-Goeze. Dritter« lässt sich im Licht der Polemik gegen den Papst, der Gehorsam verlangt, aber »nicht glauben lassen will«, lesen (FA 9, S. 185). Zitiert nach BSLK (s. Anm. 56), S. 31–137, hier S. 76; die lateinische Fassung: »Admonentur etiam homines, quod hic nomen fidei non significat tantum historiae notitiam, qualis est et in impiis et in diabolo, sed significet fidem, quae credit non solum historiam, sed etiam effectum historiae, videlicet hunc articulum, remissionem peccatorum, quod videlicet per Christum habeamus gratiam, iustitiam et remissionem peccatorum.« Die Unterscheidung zwischen »notitia, qualis est in impiis« und »fiducia, quae consolatur et erigit perterrefactas mentes« wird im Kontext auf Augustin zurückgeführt (S. 76f.).

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Frage stehende Sinnebene des christlichen Glaubens nicht mehr erreicht. Das lässt sich an einer Schrift von Johann Joachim Spalding von 1772, Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung, deutlich machen.62 Spalding erläutert die moralphilosophisch geprägte »natürliche Religion« folgendermaßen: »Das ist die Erklärung, welche Gott in der Natur getan hat, dass kein anderer Weg uns zu dem eigentlichen höchsten Ziele unserer Wünsche führe, als der Weg der Tugend. Diese Erklärung müsste durch eine andere, wenigstens eben so zuverlässige, widerrufen oder eingeschränkt sein, wenn sie nicht noch beständig das entscheidende Regelmaß unserer [scil. der lutherischen Prediger] Anweisungen bleiben sollte.« Eine solche »proof against proof«Situation wird nach Spalding jedoch durch die christliche Offenbarung nicht geschaffen, so dass es bei dem bleibt, was in der natürlichen Religion erkennbar ist: Gott siehet einmal den Menschen nicht anders an und beurteilet ihn nicht anders, als er in sich selbst, in seiner eigenen wahren Beschaffenheit ist. Er kann einen bösen Menschen nicht in seinem Urteile für gut halten: er kann dem weniger Rechtschaffenen und Aufrichtigen in seinem Urteile nicht eine größere Rechtschaffenheit und Aufrichtigkeit beilegen; das Maß der Güte, der Treue, der Redlichkeit in der Gesinnung des Menschen ist das Maß des göttlichen Wohlgefallens an ihm. So muss ich von Gott denken, oder es müssten sich erst alle meine Vorstellungen von seiner Allwissenheit, Wahrheit und Heiligkeit verwirren.

Gibt es aber nicht doch einen Weg zwischen einer solchen Religionsphilosophie als »scripturae interpres« und der Zumutung einer metabasis eis allo genos auf der Basis historischer Erkenntnisansprüche? Mit den Axiomata als einer hermeneutischen Programmschrift unternimmt Lessing den Versuch, genau aus dieser Zwickmühle herauszukommen und eine »innere Wahrheit« der christlichen Religion erkennbar werden zu lassen, die nur bei einer entsprechenden Offenheit für ein hermeneutisches Projekt zugänglich werden kann.63 Die »innere Wahrheit« ist nicht vorgängig bekannt, sondern »indem er [der Exeget] mir die innere Wahrheit eines geoffenbarten Satzes erklärt, [...] beweiset er [...], daß er selbst von dieser innern Wahrheit eine richtige Vorstellung habe«.64 Die »innere Wahrheit« als das Dritte, das jene »Einsicht« und jenes »Gefühl« begründen kann, durch die das religionsphilosophiche Konzept der natürlichen Religion offenbarungstheologisch modifiziert wird, konfrontiert im

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Vgl. Christoph Bultmann: Was ist ein theologischer Klassiker? Anmerkungen zu Johann Joachim Spaldings »Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung«. In: Albrecht Beutel u. a. (Hg.): Christentum im Übergang. Neue Studien zu Kirche und Religion in der Aufklärungszeit. Leipzig 2006, S. 129–149. Spaldings Schrift jetzt in der Neuausgabe. Hg. von Tobias Jersak. Tübingen 2002; die folgenden Zitate dort S. 128 bzw. S. 182. Auf das Problem, dass in den Axiomata die anti-voluntaristische These, »Auch das, was Gott lehret, ist nicht wahr, weil es Gott lehren will: sondern Gott lehrt es, weil es wahr ist« auch diesen epistemologisch jenseits der natürlichen Religion liegenden Glauben in gewisser Weise innerhalb der Schranken der natürlichen Religion hält, kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. FA 9, S 78. FA 9, S. 79, vgl. S. 69 (Axiomata).

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Hinblick auf das Verhältnis zwischen natürlicher Religion und christlicher Religion mit einem Problem, das in der theologischen Tradition durch den Begriff der Verheißung aufgefangen worden war: Ist in der christlichen Religion mit ihrem Offenbarungsbezug etwas neu? Wenn die mit dem Namen Jesus Christus verknüpfte Sühnetheologie neu wäre, dann wäre sie wahr, weil Gott sie lehrt und dadurch, dass er sie lehrt, als eine neue Wahrheit setzt. Ein solcher Begriff von Wahrheit wäre für Lessing, soweit ich sehe, nicht zustimmungsfähig. Im klassischen theologischen Modell der Verheißung stellt sich dieses Problem nicht, weil in entsprechender allegorischer Deutung Christus als der »Same der Frau« schon vor dem Ausgang aus dem Paradies angekündigt wird.65 Dieses Verheißungs-Erfüllungs-Modell hat in Lessings Zeit jedoch keinen sicheren Bestand mehr. Es muss deshalb durch das Konzept der Eigenschaften Gottes ersetzt werden. Dabei geht, so scheint mir, das Attribut der Barmherzigkeit Gottes in dem Sinn, wie es der Sühnetheologie entspricht (also, dass Gott dem Sünder gnädig ist), nicht in die Klasse jener Attribute über, die Gegenstand der natürlichen Religion sind. Vielmehr ist es genau dieses Attribut, dessen »innere Wahrheit« als die »innere Wahrheit der christlichen Religion« anerkannt wird oder nicht. Der »historischen« Verknüpfung dieses Attributs mit Tod und Auferstehung Jesu kann jedoch – gemäß den Grundsätzen in Über den Beweis des Geistes und der Kraft – nur die Funktion zugeschrieben werden, »dem gesunden Menschenverstand auf die Spur [zu] helfen«.66 In diesem Sinne ist es nicht als ein weiterer Konversionsappell an Moses Mendelssohn zu verstehen, wenn Lessing auf dem Theater Nathan zu der Stimme macht, die die »innere Wahrheit« dieses Gottesattributs anklingen lässt, sondern als eine Reflexion über die Zuordnung des Gottesattributes der Barmherzigkeit zu den Gottesattributen der natürlichen Religion auch außerhalb der christlichen Offenbarung.

IV Das Schauspiel Nathan der Weise enthält zwei Passagen in der Form einer Anrede Gottes in der zweiten Person Singular, in denen Lessing das Konzept einer vernunftgemäßen natürlichen Religion überbietet und insofern auf eine Einsicht aufgrund eines hermeneutischen Prozesses verweist, der auf die »innere Wahrheit« einer vorgängigen Glaubenstradition ausgerichtet ist. In beiden geht es in gewisser Weise um das Gottesattribut der Gerechtigkeit, im einen Fall im Sinne der Theodizee, im anderen Fall im Sinne der Rechtfertigung des Sünders. Beide Themen sind in der Eröffnungsszene des Schauspiels präludiert: das zweistimmige, christliche und jüdische »Gott sei Dank!« bei der Begrüßung Nathans durch Daja lässt das Thema der Vorsehung und insofern (das Theodizeethema) der verstehbaren und gerechten Führung durch Gott

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Vgl. Gen 3,15. FA 8, S. 444.

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anklingen, die starke Erklärung Nathans gegenüber Daja, sein Wohlstand sei ihm durch »Natur und Glück« zugeteilt, von seiner Pflegetochter Recha gelte jedoch: »dies Eigentum allein dank ich der Tugend«, verweist auf das Thema der Vergeltung und insofern der verstehbaren und gerechten Zuteilung von Lohn und Strafe.67 Gleich die erste Szene des Dramas führt in die Religionsphilosophie ein: Gott lenkt die Welt durch seine Vorsehung, und der Mensch schuldet ihm dafür Dank, Gott leitet den Menschen durch die Forderung des Guten und schuldet dem gehorsamen, tugendhaften Menschen Lohn (im Diesseits und, das wäre darüber hinaus impliziert, im Jenseits). Nathans Gebetsmomente in einer direkten Anrede Gottes – der eine auf der Bühne rückblickend berichtet, der andere auf der Bühne durchlebt – korrigieren beide religionsphilosophischen Selbstverständlichkeiten. Im ersten Fall die erzählte Szene in Darun nach dem Pogrom in Gath: ich hatte »drei Tag’ und Nächt’ in Asch’ / und Staub vor Gott gelegen, und geweint. – / Geweint? Beiher mit Gott wohl auch gerechtet [...] / Doch nun kam die Vernunft allmählig wieder. / Sie sprach mit sanfter Stimm’: ›und doch ist Gott! / Doch war auch Gottes Ratschluss das! ‹« – Soweit erstreckt sich das philosophische Konzept der Existenz Gottes und der Vorsehung Gottes, und die Stimme der Vernunft fährt entsprechend fort: »Wohlan! / Komm! übe, was du längst begriffen hast; / was sicherlich zu üben schwerer nicht, / als zu begreifen ist, wenn du nur willst. / Steh auf!« Doch dann bringt Lessing eine Wendung, die mir für die Frage der in den Axiomata entworfenen Hermeneutik wichtig scheint: »Ich stand! und rief zu Gott: ich will! / Willst du nur, dass ich will!«68 Der Anklage Gottes (»mit Gott gerechtet«) antwortet hier die Gebetsanrede, in der die allenfalls noch vernunftgemäße Selbstbeherrschung (»ich will«) durch den Ausdruck des Bewusstseins einer noch weitergehenden und nicht mehr verfügbaren Abhängigkeit von Gott überboten wird. Damit geht diese Passage in der zweiten Person Singular selbst über die Empfehlung der »innigsten Ergebenheit in Gott« hinaus – oder erläutert zumindest den Superlativ in dieser religionsphilosophischen Mahnrede.69 Parallel dazu läuft die Szene nach der Übergabe des genealogisch beweisenden Buches: »Gott! wie leicht / mir wird, dass ich nun weiter auf der Welt / nichts zu verbergen habe! dass ich vor / den Menschen nun so frei kann wandeln, als / vor dir, der du allein den Menschen nicht / nach seinen Taten brauchst zu richten, die / so selten seine Taten sind, o Gott! –«70 Im Vergleich zur Eröffnungsszene (»dies Eigentum allein dank ich der Tugend«) ebenso wie im Vergleich etwa mit der zitierten Position Spaldings: »Gott siehet einmal den Menschen nicht anders an und beurteilet ihn nicht anders, als er in sich selbst, in seiner eigenen wahren Beschaffenheit ist. [...] Das Maß [...] der Redlichkeit in der Gesinnung des Menschen ist das Maß des göttlichen Wohlgefallens an ihm. [...]« hat Lessing hier auf seiner Kanzel einen sehr anderen Ton getroffen und

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FA 9, S. 485 bzw. S. 486 (Nathan der Weise I/1). FA 9, S. 596f. (Nathan der Weise IV/7). FA 9, S. 559 (Nathan der Weise III/7). FA 9, S. 607 (Nathan der Weise V/4).

Lessings »Axiomata« als eine hermeneutische Programmschrift

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das vielzitierte Kernstück der paulinischen Theologie in einer zwar nicht doktrinalen, aber existentiell echten Weise vergegenwärtigt.71 Ob Lessing dabei kanonische Texte des Neuen Testaments oder einen »Lehrbegriff« (regula fidei) im Blick hat, wäre eine müßige Frage, denn gegenüber Goeze behauptet er ja ausdrücklich, dass »die innere Wahrheit der christlichen Religion« und »die Schrift« »von einander ganz unabhängig sein können«.72 Doch veranschaulicht die Szene im Nathan das hermeneutische Konzept, nach dem die »innere Wahrheit« eines geoffenbarten Satzes aus ihm selbst heraus verstanden werden müsse.73 Und es ist deutlich, dass es hier nicht um philosophische Begriffe geht, die »vorher« festgesetzt wären. Bei der vorgeschlagenen Verbindung zwischen den Axiomata und Nathan der Weise ergibt sich allerdings die Schwierigkeit, dass Lessing in den Axiomata den »christlichen Lehrbegriff« den »Lehrbegriffen aller andern Religionen« entgegenzusetzen bereit ist.74 Im Theater dagegen ist es Nathan, der Jude, der der natürlichen Religion mit ihrem Wissen um »rewards and punishments« entgegen einen religiösen Wahrheitsanspruch für ein Gottesbild geltend macht, nach dem Gott den Menschen »nicht nach seinen Taten zu richten« braucht. Anders als bei Paulus, der sich dafür auf den Kreuzestod Jesu bezieht, wird dieses Gottesbild jedoch im Sinne eines allgemein gültigen Gottesattributs präsentiert, das – so wird man ergänzen dürfen – durch das neutestamentliche »Elementarbuch« zwar erschlossen wird, doch auch unabhängig von ihm Bestand haben kann. Wahrscheinlich hätte Lessing dieses Gottesbild in der »uralten Münze, die gewogen ward« erkannt, bei der es noch nicht auf eine jüdische oder christliche oder islamische Prägung ankommt.75 Um zusammenzufassen: Lessings Versuch, für die biblische Hermeneutik einen Weg zwischen der reinen, vernunftgemäßen, textüberlegenen Religionsphilosophie auf der einen Seite, und dem in zweifacher Hinsicht untauglichen historischen Beweisanspruch auf der anderen zu finden, ist nicht inhaltsleer. Es geht um eine Erweiterung des Bestandes an Gottesattributen und dessen verstehende Erfassung, d. h. es geht um einen spezifisch gefassten Gedanken der Barmherzigkeit Gottes, für den Lessing im Kontext der Axiomata eine

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Aus dem Corpus Paulinum ließe sich z. B. der Abschluss des Berichts über einen theologischen Konflikt im Galaterbrief nennen: »Ich werfe nicht weg die Gnade Gottes; denn wenn die Gerechtigkeit [des Menschen vor Gott] durch das Gesetz kommt, so ist Christus vergeblich gestorben« (Gal 2,21) – andere Fassungen derselben Position sind bekannter (z. B. Röm 3,27f.). FA 9, S. 83 (Axiomata). FA 9, S. 79 (Axiomata). FA 9, S. 83 (Axiomata). Vgl. auch FA 8, S. 629–654, hier S. 653 (Neue Hypothese über die Evangelisten als bloß menschliche Geschichtsschreiber betrachtet [1778; Erstdruck 1784], die Reflexion über den »Mittler« nach dem Johannesevangelium). FA 9, S. 554 (Nathan der Weise III/6). Vgl. für einen möglichen Hintergrund des Bildes bei Sebastian Castellio auch Christoph Bultmann: »Improbissimae Calumniae« und »Pflichtschuldige Pastoralverhetzung der Obrigkeit«: Toleranz und ihre Gegner bei Grotius und Lessing. In: Albrecht Beutel u. a. (Hg.): Aufgeklärtes Christentum. Beiträge zur Kirchen- und Theologiegeschichte des 18. Jahrhunderts. Leipzig 2010, S. 213–231.

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Anspielung auf Lk 6,36 wählt und im Kontext von Nathan der Weise eine Anspielung auf die Glaubensvorstellung einer Gerechtigkeit vor Gott jenseits eines Lohnmodells. Darin möchte ich die eigentliche Pointe des Kriteriums der »inneren Wahrheit« erkennen. Diese Wahrheit, die Barmherzigkeit Gottes, wird nicht »von außen« aus der Perspektive der Philosophie in die Religion getragen, sie wird nicht durch historische Ereignisse (Kreuz und Auferstehung) bewiesen, sie wird also im hermeneutischen Prozess der Erschließung des Textes – ob Bibel oder Lehrbegriff –, der von ihr spricht, erkannt und muss sich im Leben bewähren. »Barmherziger Gott – barmherziger Leser« wäre dann wohl die Formel für biblische Hermeneutik in einer Theologie als praktischer Wissenschaft. Der Laie Lessing hatte sich mehr vorgenommen, als nur »hin und wieder« seine »Gedanken zur Widerlegung« von Reimarus zu sagen.

Ernst-Peter Wieckenberg

Wahrheit und Rhetorik Lessings Theologiekritik im Fragmentenstreit »Wenn das Christentum die Wahrheit ist, dann ist alle Philosophie darüber falsch.« Ludwig Wittgenstein1

I Im 18. Jahrhundert zerfiel der »orthodoxe Theologiebegriff, in dem Theologie mit Gotteserkenntnis (darum auch mit Offenbarung: theologia revelata!) bzw. Religion grundsätzlich gleichgesetzt war«.2 Die Einheit zerbrach nicht zuletzt an der Wahrheitsforderung, die unter dem Einfluß der Aufklärung an die Glaubenslehren oder, wie Lessing sagte, an den »Lehrbegriff«3 der lutherischen Kirche gestellt wurde. Vertreter der »vernünftigen Orthodoxie« wie Johan Melchior Goeze, Neologen wie Johann Joachim Spalding oder Deisten wie Hermann Samuel Reimarus antworteten in unterschiedlicher Weise auf diese Forderung: Goeze durch die Behauptung der Beweisbarkeit aller Glaubenslehren; Spalding durch eine »›praktische‹ Vereinfachung der Dogmatik«, die »diese unmittelbar mit der Ethik zu verknüpfen« erlaubte;4 Reimarus durch eine Reduktion aller ›Lehrbegriffe‹ auf die Wahrheiten der »natürlichen Religion«. Die Differenzen zwischen Orthodoxie und Neologie wurden lange Zeit nicht öffentlich ausgetragen. Goeze suchte den klärenden Streit; die Neologen wichen ihm aus; den Deisten blieb nur die Wahl zwischen clandestiner, und das heißt zumeist wirkungsloser Veröffentlichung und Schweigen. Reimarus schwieg. Gotthold Ephraim Lessing, der gelehrte »Liebhaber der Theologie«,5 nahm

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Der Vortragstext wurde für den Druck gründlich überarbeitet. Dabei habe ich Vorschläge und kritische Anmerkungen von Jürgen Stenzel und vor allem von Ingrid StrohschneiderKohrs dankbar aufgenommen. Ludwig Wittgenstein: Vermische Bemerkungen. In: Werkausgabe. Bd. 8. Hg. Von Gertrude E. M. Anscombe und Georg Henrik von Wright. Frankfurt am Main 1984, S. 568. Gerhard Ebeling: Theologie I. Begriffsgeschichtlich. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Bd. 6. Tübingen 31986, S. 766. Lessing: Axiomata. In: Gotthold Ephraim Lessing. Werke und Briefe. Hg. von Wilfried Barner und anderen. Frankfurt am Main 1985–2003. Bd. IX, S. 70. (Im folgenden zitiert als FA für ›Frankfurter Ausgabe‹ mit Band- und Seitenzahl). Walter Sparn: Neologie. In: Evangelisches Kirchenlexikon. Bd. 3. Göttingen 31992, Sp. 662–664, hier Sp. 663. FA 9, S. 57 (Axiomata).

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Anstoß daran, daß sich die Neologen der Frage nach der Wahrheit der Dogmen nicht stellten. Friedrich Nicolai hatte schon 1771 ahnungsvoll an ihn geschrieben: »Sie haben eine so merkwürdige Revolution in deutschen Köpfen verursacht, daß man sie nicht muß sinken lassen. Sie haben vielen Leuten Zweifel erregt, und dadurch die Untersuchung rege gemacht. ± Gut! werden Sie sagen; ich will der Zweifel noch mehr machen, wenn ich die Orthodoxie gegen die neuern Heterodoxen verteidige; diese werden sich alsdann verantworten und deutlicher erklären müssen.«6 Die Publikation von Teilen der Reimarus’schen Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes unter dem Titel Fragmente eines Ungenannten bot die Möglichkeit zu einer solchen Herausforderung, und mit den kurzen Vor- und Nachbemerkungen zum ersten Fragment leitete Lessing 1774 selbst die öffentliche Auseinandersetzung ein, die dann als ›Fragmentenstreit‹ in die deutsche Theologiegeschichte eingegangen ist. Wer die theologische Position rekonstruieren will, die Lessing in diesem Streit einnahm, stößt auf eine Schwierigkeit: Nirgendwo in seinen Schriften findet man festumrissene Begriffe, die es erlauben würden, eindeutig zu bestimmen, was er denn unter Theologie, Religion, Glauben verstehe, und zwar nicht deshalb, weil er zu solchen Abgrenzungen nicht fähig wäre, sondern deshalb, weil begriffliche Neufestlegungen Teil seiner Auseinandersetzung mit dem älteren Theologie- und Religionsverständnis sind. Diese Neudefinitionen macht er zumeist nicht explizit – der Leser muß sie aus den Schriften erschließen –, und er macht sie nicht ein für allemal. Das wird deutlich bei einem Blick auf den Wandel der impliziten Begriffsbestimmungen von ›Theologie‹. Schon in einer Rezension des Jahres 1751 schreibt Lessing: Dem Menschen ist alles eher angenehm zu machen, als seine Pflicht, und die Kunst das Joch der Religion als ein sanftes Joch vorzustellen, ist zu schwer, als daß sie jeder Gottesgelehrte haben sollte. Daher kommt es, daß man gegen ein Werk, von der Art wie das gegenwärtige ist, zwanzig findet, worinne man die Theologie als eine Sophisterei treibet, welche nichts weniger als einen Einfluß auf das Leben hat. Der Seelenschlaf, das jüngste Gericht, das tausendjährige Reich, die verklärten Körper werden noch jetzt in ganzen Alphabeten abgehandelt. Vortreffliche Gegenstände, welche wenigstens den Witz der Spötter tätig zu erhalten geschickt sind. Diesen aber durch ein Leben, welches der Geist der Religion beherrscht, und durch Lehrsätze zu entwaffnen, die durch eine erhabne Einfalt von ihrem göttlichen Ursprunge zeigen [!], ist ein Werk, womit man sich nur ungerne vermengt, weil es den Herrenhutern eingekommen ist, sich damit abzugeben.7

Scheint die Rezension anzudeuten, daß eine Einheit von Theologie und Religion noch denkbar wäre, so werden später Zweifel daran sichtbar, wie etwa in diesem Diktum der 1779 erschienenen Axiomata: »Aber der Theolog soll uns Christen sein gelehrtes Bibelstudium nur nicht für Religion aufdringen wollen.«8 Beide Texte aber lassen erkennen, daß Lessing über die Jahre hinweg eine Denkrichtung beibehält: Er betreibt keine wie immer geartete Apologie,

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FA 11/1, S. 172f. (Nicolai an Lessing, 8. März 1771). FA 2, S. 180f. FA 9, S. 83 (Axiomata).

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sondern eine Kritik der Theologie. Es geht darin vordergründig um die Frage, welche Forderungen sie denn zu Recht an die Religion stellen dürfe. Aber am Ende läuft das auf die Frage hinaus, ob der ›Lehrbegriff‹ der Theologie Anspruch darauf erheben kann, daß er ›wahr‹ im Sinne von ›beweisbar‹ sei, und welche ›Wahrheit‹ ihm zukommen könnte, wenn er diese Bedingung nicht erfüllt. Wie antwortet Lessing darauf? Und wie teilt er das mit? Wer das rekonstruieren will, sieht sich der weiteren Schwierigkeit gegenüber, daß der Zugang zu seinen theologischen Texten durch spätere Deutungen nicht selten eher zugeschüttet als erschlossen ist. Die Sätze zum Beispiel, in denen Lessing eine ihm von Gott angebotene Wahl und seine eigene Entscheidung imaginiert, sind früh schon als sein ›Bekenntnis‹ zum »ewig strebenden«, »rastlosen Suchen« nach der Wahrheit gelesen worden:9 Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgend ein Mensch ist, oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz – Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke, und sagte: Vater gieb! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!10

So sicher meinte man ihren Sinn erkannt zu haben, daß selbst ein erfahrener Exeget wie Karl Barth glaubte, sie bedürften keines Kommentars, weil sie den »Beweis des Lessingschen Geistes und der Lessingschen Kraft am besten durch sich selber« führten.11 Aber welche Erklärung bieten die Sätze zum Beispiel dafür an, daß hier ein seiner Grenzen bewußtes, demütiges Geschöpf die Wahrheit, die Gott ihm anbietet, mit der Bemerkung ausschlägt, »die reine Wahrheit ist ja doch nur für Dich«? Alle Wahrheit dürfte doch logischerweise die reine Wahrheit einschließen. Goeze deckt scharfsichtig und nicht ohne Ironie den inneren Widerspruch des Lessingwortes auf: »Und das mußte Herr L. Gott erst sagen?«12 – Viel spricht dafür, daß die Äußerung ihren Sinn erst dann ganz preisgibt, wenn man ihre rhetorische Funktion im Fragmentenstreit rekonstruiert. Das ›Bekenntnis‹ steht in der gegen Johann Daniel Schumann gerichteten Duplik, ist also zu einem Zeitpunkt niedergeschrieben worden, da Johan Melchior Goeze noch gar nicht in den Streit über die Fragmente des Un9

Erich Schmidt: Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. Bd. II. Berlin S. 244. Vgl. die mokanten Bemerkungen Eckhard Heftrichs zur zunehmenden Trivialisierung dieser Sätze in: Lessings Aufklärung. Zu den theologisch-philosophischen Spätschriften. Frankfurt am Main 1978, S. 72f. FA 13, S. 510 (Eine Duplik). Karl Barth: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Berlin (Ost) 31961, S. 236. Johann Melchior Goeze: Lessings Schwächen. In: FA 9, S. 174. Ich folge bei der Namensschreibung der jeweiligen Quelle, schreibe hier also ›Johann‹, obwohl Goeze in den Jahren des Fragmentenstreits seinen Vornamen längst mit nur einem ›n‹ schrieb. 31909,

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genannten eingegriffen hat. Aber es trifft doch die gesamte Orthodoxie mit ihrem Wahrheitsverständnis, und Goeze fühlt sich denn auch aufgerufen, darauf zu antworten. Er erkennt sehr wohl, daß Lessing mit diesen Worten eine seiner eigenen Theologie konträre Position einnimmt, aber er versteht sie nicht wirklich, weil er sie theologisch nicht nachvollziehen kann. Die »allervollkommenste Erkenntnis der reinen Wahrheit«, schreibt er, »gehört allein für Gott, nicht aber die reine Wahrheit selbst«.13 Die reine Wahrheit ist dem Menschen vermittelt durch biblische Offenbarungen. Die Vernunft vermag diese ihrer »inneren Natur« nach nicht wirklich zu begreifen, denn sie entziehen sich ihr als »Geheimniß«,14 aber sie kann doch aus ihnen Glaubenslehren herleiten. Goeze schreibt sogar, es sei »möglich, daß ein Gottesgelehrter seine Sätze, die er behauptet, auf eine ebenso scharfe und bündige Art erweisen kan, als der Weltweise seine Wahrheiten«.15 Die reine Wahrheit gewinnt der Mensch durch das von der Vernunft geleitete gläubige Erkennen der in den Offenbarungen enthaltenen göttlichen Lehren. In Goezes ablehnender Reaktion auf Lessings Bekenntnis, so hat Arno Schilson geurteilt, verrate sich seine »betont anti-aufklärerische Haltung«.16 Es ist sicher richtig, daß Goeze die Idee der Perfektibilität, die vor allem im ersten Absatz formuliert wird, grundsätzlich zurückweist. Sie anzuerkennen, verbietet ihm die Lehre von der allein durch persönliche Anstrengung nicht aufhebbaren Sündhaftigkeit des Menschen. Aber das würde ihn nicht schon zum Gegenaufklärer machen. Auch Lessings Freund Moses Mendelssohn zum Beispiel, dem man kaum eine anti-aufklärerische Haltung wird nachsagen wollen, äußert sich kritisch differenziert zur Idee der Perfektibilität.17 Und warum sollte Goezes Ablehnung des zweiten Absatzes gegenaufklärerisch sein? Schilson schlägt Lessings ›Bekenntnis‹ offenbar den vielen Stellen zu, an denen jener seinen »energetischen Wahrheitsbegriff«18 erkennen läßt. Damit knüpft er durchaus an eine Deutungstradition an,19 aber das macht seine Lesung nicht schon überzeugend. Denn während die einem energetischen Wahrheitsbegriff verpflichteten Stellen im Lessingschen Werk zumeist die Überholbarkeit von Aussagen über Gegenstände betreffen, die der besseren Erkenntnis grundsätzlich sehr wohl zugänglich wären, ist dies eine theologische Äußerung, die nicht durch eine ›wahrere‹ ersetzt werden könnte. Lessing be13 14 15 16 17 18 19

FA 9, S. 174. Johan Melchior Goeze: Auszüge aus seinen Sontags- Fest- und verschiedenen WochenPredigten des 1776 Jahres. Hamburg >1777@, S. 126. Johann Melchior Goeze (Hg.): Samlung auserlesener Canzel-Reden. Bd. 2. Magdeburg 1755, S. 5 (Goezes Einleitung). FA 9, S. 933. Moses Mendelssohn: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum. Hg. von Michael Albrecht. Hamburg 2005, S. 96–98. FA 3, S. 1007, 1384. Adolf von Harnack trägt eine solche Deutung bereits 1887 vor in seinem Aufsatz: Goethe gegen Lessing. In: Evangelisch-Lutherisches Gemeindeblatt für die gebildeten Glieder der evangelischen Kirchen Nr. 2 (1887), S. 22f.

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treibt in ihr gerade nicht eine unendliche »Nachforschung der Wahrheit« aus dem Geist der Aufklärung mit dem Ziel, am Ende sich doch der »reinen Wahrheit« zu versichern. Nicht um deren Erwerb geht es Lessing, sondern um eine »immer wachsende Vollkommenheit«, die durch die unermüdliche Wahrheitssuche erreicht wird, aber er sagt nicht, worin diese zunehmende Vollkommenheit bestehen könnte. Immerhin läßt schon der 11. Literaturbrief erkennen, daß sie nicht als kognitiver Prozeß zu verstehen ist: »Das große Geheimnis die menschliche Seele durch Übung vollkommen zu machen – (Herr Wieland hat es nur dem Namen nach gekannt) – besteht einzig darin, daß man sie in steter Bemühung erhalte, durch eigenes Nachdenken auf die Wahrheit zu kommen.«20 Karl Eibl deutet diese »Übung« unter Berufung auf die §§ 79 und 80 der Erziehung des Menschengeschlechts als Prozeß im intersubjektiven Handeln, also »in der ethischen Dimension«.21 Ingrid Strohschneider-Kohrs dagegen weist inhaltliche Füllungen der Aussage zurück und sieht in ihr eine Sprachgeste, die auf die anthropologisch begründete Begrenztheit menschlicher Erkenntnis verweist.22 In der Tat muß man den Satz »die Wahrheit ist ja doch nur für dich allein«, auch wenn er nicht ausdrücklich von der Vernunft spricht, wohl als Aussage über deren Vermögen oder vielmehr Unvermögen verstehen.23 Die Vernunft kann, um es mit den Worten Immanuel Kants zu sagen, »die Schranken ihrer Einsicht« nicht überschreiten,24 kann folglich über das, was jenseits ihrer Grenze liegt, keine Aussagen machen, denen man das Prädikat »wahr« oder »falsch« zusprechen könnte. Die »reine Wahrheit« ist daher nach Lessing allein Gott vorbehalten. Diese Grenzziehung lehnt Goeze ab, weil er meint, gerade sein Bündnis mit der Aufklärung, sein Vertrauen auf die Kraft der Vernunft zur Ableitung von Lehren aus Offenbarungen habe ihn in die Lage versetzt, der Wahrheit teilhaftig zu sein, die Lessing ausschlägt, und dieser Ansicht dürften nahezu alle Gegner Lessings aus dem Lager der ›vernünftigen Orthodoxie‹ anhängen. Für sie wie für Goeze ist Lessings Grenzziehung Ausdruck einer theologischen Verirrung, für jenen ist der Anspruch der Orthodoxie auf den Besitz der Wahrheit nicht gegen die Aufklärung gerichtet, er ist im Gegenteil eine Erschleichung ihrer Billigung für eine Verwischung der Grenze von Glauben und Wissen. 20 21

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FA 4, S. 479. Karl Eibl: Lauter Bilder und Gleichnisse. Lessings religionsphilosophische Begründung der Poesie. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 59 (1985), S. 224–252, hier S. 239. Ingrid Strohschneider-Kohrs: Vernunft als Weisheit. Studien zum späten Lessing. Tübingen 1991, S. 206ff. Der Begriff der Vernunft hat bei Lessing ein weiteres Bedeutungsspektrum als bei Kant. Vgl. dazu Strohschneider-Kohrs (s. Anm. 22), S. 8ff. Wenn ich ihn hier im Sinne von »Erkenntnisvermögen« verwende, so geschieht das aus zwei Gründen: Er ist Lessing in dieser Form durchaus vertraut, und er wird so von zeitgenössischen Theologen verwendet, wie das nachfolgende Zitat aus einer Schrift Johan Melchior Goezes zeigt. Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. In: Werke. Hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. VIII/2. Frankfurt am Main 1956, S. 724.

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Lessing macht also in seinem ›Bekenntnis‹ nicht nur eine theologiekritische Aussage, vielmehr führt er in ihm auch einen Angriff auf den von ihm abgelehnten Wahrheitsanspruch der Orthodoxie,25 und dieser Angriff bezieht seine Energie aus der äquivoken Verwendung des Begriffs ›reine Wahrheit‹. ›Reine Wahrheit‹ ist einerseits das, was für ihn selbst schlechterdings begrifflich nicht faßbar ist, andererseits das, was für einen orthodoxen Theologen sinnerfüllt im Zentrum seines Glaubens steht. Die demütige Geste, mit der Lessing die eine Wahrheit ausschlägt, überdeckt nur unvollkommen die Zurückweisung der anderen: derjenigen der Orthodoxie. Unübersehbar ist, daß in dem ›Bekenntnis‹ Selbstmitteilung und Zurückweisung unauflöslich miteinander verbunden sind. Manches deutet zwar darauf hin, daß Lessings Wille zur Distanzierung in diesem Fall die Aussage über seine Theologie nicht ›gefärbt‹ hat. Aber darf man dessen sicher sein? Muß man nicht zumindest fragen, ob das Gegenteil wahr sein könnte? Daß das ›Bekenntnis‹ also nicht unverfälschte Selbstmitteilung ist, sondern in sich Anpassungen an die Redesituation enthält?26 Die Frage ist also, ob die Redesituation Einfluß hat nicht nur auf die Form – den hat sie ganz gewiß –, sondern auch auf den Gehalt des ›Bekenntnisses‹ und mancher anderen Lessingschen Aussagen im Fragmentenstreit.

II Die Redesituation wird nach der rhetorischen Lehre »von drei Faktoren konstituiert: Redner, Redegegenstand und Zuhörer«.27 Die Redner, in diesem Fall die orthodoxen Theologen auf der einen und Lessing auf der anderen Seite, haben unterschiedliche Rollen, und die lassen sich in Machtkategorien beschreiben. Religionspolitisch sind die Pastoren und ist vor allem Goeze der Mächtigere. Sie alle haben sich – das wird oft ignoriert – durch einen Eid auf die Bekenntnisschriften der lutherischen Kirche gegenüber der Obrigkeit ihres Territoriums dazu verpflichtet, über den wahren Glauben zu wachen.28 Der wahre Glaube ist auch um 1770 noch für den Großteil aller Akteure in den lutherischen Territorien, das heißt für Obrigkeit, Geistlichkeit und Kirchenvolk derjenige der lutherischen Orthodoxie, und dessen

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So deutet das auch Harald Schultze: Lessings Toleranzbegriff. Eine theologische Studie. Göttingen 1969, S. 82. Schultze (s. Anm. 25), S. 30f. Hier meint er sogar: »Alle Äußerungen sind von dem Anlaß und dem Gegenüber so stark geprägt, daß sie jeweils nur einen Teilaspekt zu bieten vermögen ± ja es ist deutlich, daß er seine innere, persönlichste Haltung bewußt nie preisgegeben hat. Darüber hinaus aber bieten diese verschiedenen Teilaspekte untereinander Widersprüche, die von vornherein jeden Interpretationsversuch in Frage stellen.« Rolf Specht: Die Rhetorik in Lessings ›Anti-Goeze‹. Ein Beitrag zur Phänomenologie der Polemik. Bern, Frankfurt am Main, New York 1986, S. 31. Dazu Ernst-Peter Wieckenberg: Johan Melchior Goeze. Hamburg 2007, S. 51.

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theologischer Kern ist das System der aus Offenbarungen hergeleiteten ›Lehrbegriffe‹, das sich über Jahrhunderte hinweg etabliert hat. Die Kontrahenten Lessings äußern sich als Apologeten des Christentums und als Angreifer gegen den Ungenannten. Goeze vermeidet es, Argumente zur Verteidigung des Christentums vorzubringen, vielmehr immunisiert er es gegen Kritik durch die Behauptung seiner unbestreitbaren ›Wahrheit‹. Das Vertrauen auf diese ›Wahrheit‹ demonstriert er auch dadurch, daß er den Ungenannten kaum der Widerlegung würdig findet. Er greift vielmehr Lessing an, indem er dessen Kommentare als gefährliche Irrlehre anprangert. Dabei argumentiert er auf der Grundlage der petitio principii, daß die Bibel sich der Verbalinspiration verdanke, über weite Strecken seiner gegen Lessing gerichteten Texte hinweg ganz schulmäßig mit der Absicht, ihn zu widerlegen.29 Zugleich unternimmt er es, die Aufmerksamkeit des Publikums »von der ursprünglichen causa, dem Inhalt der Fragmente, ›abzuwälzen‹ (transponere, translatio) auf Fragen nach Lessings Zuständigkeit (Lessing sei kein Theologe, kaum ein Christ), nach Lessings formalem Vorgehen (Theaterlogik, blendende Rhetorik, Mißachtung der akademischen Spielregeln) und nach der Zuständigkeit der Entscheidungsfäller (des durch die Publikationsart angesprochenen Laienpublikums).«30 Der Streit um die Zuhörerschaft ist besonders brisant. Lessing ruft das Publikum als Richter an31 und zwingt Goeze die Öffentlichkeit auf, die jener fürchtet, aber er gibt ihm damit zugleich die Möglichkeit, gerade diese Öffnung des Debattenraums als Störung der geistlichen und politischen Ordnung, wenn nicht gar als Umsturzversuch abzuurteilen und obrigkeitliche Maßnahmen gegen sie einzufordern. Goezes Schriften gegen den Ungenannten und besonders gegen Lessing folgen den Regeln des Elenchus, des geistlichen Strafverfahrens gegen Irrlehrer.32 Im Gegensatz zu seinen meisten Amtsbrüdern, so auch zu Lessings ersten Kontrahenten im Fragmentenstreit, Johann Daniel Schumann und Johann Heinrich Reß, die längst eine mildere Form des Elenchus praktizieren, übt Goeze ihn noch in seiner älteren, radikalen Form aus, die im Zweifel die Kaltstellung des Angeklagten billigt. Gegen die Anklage aller theologischen Gegner muß Lessing sich wehren, muß er sich, wie er am 25. Februar 1778 an seinen Bruder Karl schreibt, in »die Positur« setzen, daß sein Gegner ihm »als einem Unchristen nicht ankommen 29

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Zu diesem »rationalen« Zug der Goezeschen Rhetorik vgl. Helmut Schmiedt: Angebundene und freie Rede. Zur Rhetorik im Goeze-Lessing-Streit. In: Lessing Yearbook 23 (1991), S. 97–110, hier S. 105f. Vgl. auch Ernst-Peter Wieckenberg: Gottsched und Goeze. Frühaufklärung und protestantische Predigt. In: Buchkulturen. Beiträge zur Geschichte der Literaturvermittlung. Festschrift für Reinhard Wittmann. Hg. von Monika Estermann, Ernst Fischer und Ute Schneider. Wiesbaden 2005, S. 233–263. Specht (s. Anm. 27), S. 40. Über den ›status translationis‹ generell S. 39ff. Vgl. Wolfgang Kröger: Das Publikum als Richter. Lessing und die ›kleineren Respondenten‹ im Fragmentenstreit. Nendeln/Liechtenstein 1979. Dazu Wieckenberg (s. Anm. 28), S. 102f.

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kann«.33 Dabei bedient er sich, folgt man Norbert W. Feinäugle, der Polemik, wie sie in Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste des Verlegers Heinrich Zedler definiert ist: »Methode (Widerlegungs-) Methodus polemico oder elenctica«, heißt es dort, »ist der Vortrag einer Wahrheit, da dieselbe wider ihre Feinde gerettet wird.« Wie der Lexikonartikel es fordere, so Feinäugle, mache Lessing die Feinde namhaft, zitiere »abschnittsweise ihre Einsichten« und versuche dann, »sie Satz für Satz zu widerlegen«.34 Das ist indessen eine Reduktion, die wesentliche Züge der Lessingschen Gegenrede im Fragmentenstreit nicht beachtet. Er selbst hat in der Auseinandersetzung mit dem Theologen Johann Heinrich Reß die von ihm gewählte oder besser: die ihm aufgezwungene Redegattung sehr viel genauer bezeichnet. »Ich fühle es sehr wohl, daß mein Blut anders umfleußt itzt, da ich diese Duplik ende, als da ich sie anfing.« In einer Fußnote fügt er hinzu: Duplik: nicht Replik. Denn die Evangelien und mich, halte ich für den angeklagten Teil. Die Anklage erhob mein Ungenannter mit der unbilligen Äußerung, daß wegen einiger Widersprüche in Kleinigkeiten, den Evangelien aller Glaube abzusprechen sei. Hierauf ließ ich mich in meinen Gegensätzen ein, und antwortete ohne Umschweif, was ich für die kürzeste und unfehlbarste Antwort hielt.

Die Schrift von Reß, so behauptet Lessing in einer etwas gewundenen Beweisführung, wiederhole diese Anklage. »Also Duplik!«35 Arno Schilson liest das richtig als »zweite Erwiderung auf eine zuvor schon erfolgte erste Replik«,36 aber er übersieht dabei, daß die Duplik einen Ort im Strafprozeß hat. Sie ist die Antwort des Angeklagten auf die Replik des Klägers. Alle Schriften Lessings im Fragmentenstreit, nicht nur die gegen Reß gerichtete, sind, wenn nicht Dupliken, so doch Verteidigungsreden.37 Als solche haben sie zwar auch polemische Züge, aber ihre rhetorischen Strategien sind mit dem Begriff der Polemik nur unzureichend erfaßt. Lessings rhetorisches Vorgehen ist viel komplizierter, wie sich an der vielzitierten Textpassage vom Anfang der Gegensätze demonstrieren läßt: Mit Bezug auf den Ungenannten schreibt er dort: Denn wie vieles läßt sich noch auf alle diese Einwürfe und Schwierigkeiten antworten! Und wenn sich auch schlechterdings nichts darauf antworten ließ: was dann? Der gelehrte Theolog könnte am Ende darüber verlegen sein: aber auch der Christ? Der gewiß nicht. Jenem höchstens könnte es zur Verwirrung gereichen, die Stützen, welche er der Religion unterziehen wollen, so erschüttert zu sehen; die Strebepfeiler so niedergerissen zu finden, mit welchen er, wenn Gott will, sie so schön verwahret hatte. Aber was gehen dem [!] Christen dieses Mannes Hypothesen, und Erklärungen und Beweise an? Ihm ist es doch einmal da, das Christentum, welches er so wahr, in welchem er sich so selig fühlet. – Wenn der Paralyticus die wohltätigen Schläge des Elektrischen Funkens erfährt: was kümmert es

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FA 12, S. 128. Norbert W. Feinäugle: Lessings Streitschriften. Überlegungen zu Wesen und Methode der literarischen Polemik. In: Lessing Yearbook I (1969), S. 126–149, hier S. 128. FA 13, S. 585 (Eine Duplik). FA 13, S. 1055. Dazu auch Jürgen Schröder: Gotthold Ephraim Lessing. Sprache und Drama. München 1972, S. 114ff.

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ihn, ob Nollet, oder ob Franklin, oder ob keiner von beiden Recht hat? – Kurz: der Buchstabe ist nicht der Geist; und die Bibel ist nicht die Religion. Folglich sind Einwürfe gegen den Buchstaben, und gegen die Bibel, nicht eben auch Einwände gegen den Geist und gegen die Religion.38

Lessing verteidigt hier seine Veröffentlichung der Fragmente. Zwar tritt er keine Gegenbeweise gegen die »Hypothesen, und Erklärungen und Beweise« des Ungenannten an, aber er nimmt ihnen doch ihre Gefährlichkeit, indem er sie schlichtweg für irrelevant erklärt. Ein im Glauben festgegründetes Christentum, so seine Behauptung, kann durch die Fragmente nicht erschüttert werden. Diesem Argument läßt er dann ein weiteres folgen, das das erste noch zu unterstützen vorgibt, aber doch, wenn es überhaupt als Einwand gegen den Ungenannten taugt, zugleich eine Herausforderung an die Orthodoxie ist. Nun weiß man zwar aus dem Fortgang des Fragmentenstreits, daß es Lessing mit der Kritik der Theopneustie ernst ist, aber ganz kann man den Verdacht nicht unterdrücken, daß er hier ein taktisches Manöver vollzieht, dessen Ziel es ist, die Neologen zu einer Parteinahme herauszufordern. Damit schlüge er Nicolais Warnung in den Wind: »Sie [die Neologen] werden stille schweigen, und sich hinter das Schild der Orthodoxie verbergen.«39 Oder glaubt er, sein Argument sei so stark, daß selbst die Orthodoxie bereit wäre, um seiner Wirkung willen ihr Dogma der Verbalinspiration zu lockern? Noch anders gefragt: Benutzt er hier die soeben angenommne Rolle eines Verteidigers des Christentums, um in deren Schutz eines der zentralen Dogmen der Orthodoxie zu unterhöhlen? Soviel ist wohl unbestreitbar: Lessing widerlegt hier weder in polemischer Gegenrede den Ungenannten noch die neologischen oder orthodoxen Theologen; er verteidigt sich aber auch nicht in der Weise, daß er Anschuldigungen direkt zurückwiese. Vielmehr versucht er, seine Gegner in einen Diskurs zu ziehen, in dem er gängige theologische Begriffe außer Kraft setzt oder mit neuem Inhalt versieht und ihnen damit ihre vermeintliche Beweiskraft für die Wahrheit der Dogmen nimmt. Charakteristisch ist seine Instrumentalisierung der Paulinischen Entgegensetzung von Buchstabe und Geist (2 Kor 3,6; Röm 2, 29; 7, 6), von Gesetz und Evangelium,40 für eine Untergrabung der Lehre von der Theopneustie. Aber nicht immer betreibt er eine solche Neubesetzung von Begriffen, oft begnügt er sich mit Kritik an der Sprache der Orthodoxie. Die Kritik trifft deren Unfähigkeit, über die Sache, die Wahrheit der tatsächlichen oder vermeintlichen Glaubenswahrheiten, angemessen zu sprechen: Mein Ungenannter behauptet: die Auferstehung Christi ist auch darum nicht zu glauben, weil die Nachrichten der Evangelisten davon sich widersprechen. Ich erwidere: die Auferstehung Christi kann ihre gute Richtigkeit haben, ob sich schon die Nachschriften der

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FA 13, S. 312. FA 11/1, S. 173. Nicolai unterstellt freilich, Lessing werde die Orthodoxie gegen »die neuern Heterodoxen« verteidigen; »diese werden sich alsdann verantworten und deutlicher erklären müssen«. Dazu Gerhard Ebeling: Geist und Buchstabe. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Bd. 2. Tübingen 31958, Sp. 1290–1296.

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Evangelisten widersprechen. Nun kömmt ein Dritter [Johann Hinrich Reß, gegen den sich die Duplik richtet] und sagt: die Auferstehung Christi ist schlechterdings zu glauben, denn die Nachrichten der Evangelisten davon widersprechen sich nicht. Man gebe auf dieses auch darum, auf dieses obschon, auf dieses denn wohl Acht. Man wird finden, daß auf diesen Partikeln gerade nur nicht alles beruhet.41

Wie wichtig ihm diese Sätze sind, betont Lessing, indem er sie am Ende der Schrift wieder aufnimmt: Denn hier muß ich meinen Leser an die obigen Standorte erinnern, auf welchen mein Ungenannter, und ich, und mein Nachbar halten. An meines Ungenannten zu voreiliges auch darum; an mein bescheidenes obschon; an meines Nachbarn dreistes denn.42

Arno Schilson hat den Satz, »Man wird finden, daß auf diesen Partikeln gerade nur nicht alles beruhet«, so kommentiert: »[…] vermutlich meint Lessing, daß zwar viel, aber ›gewiß doch nicht rein alles‹ in den durch die genannten Partikel eingeführten Nebensätzen gesagt ist – wichtiger sind die vorangehenden Hauptsätze und ihre fundamentalen Unterschiede bzw. ihre Gegensätzlichkeit.«43 Das ist nicht zu widerlegen, aber man kann doch einen anderen danebenstellen: den nämlich, daß der Satz die Abhängigkeit theologischer Aussagen vom »Standort« des sich jeweils Äußernden zum Ausdruck bringt, daß aber der Gegenstand, um den es dabei geht, von keinem »Sehepunkt«44 aus erkennbar ist und daher auch nicht beschrieben werden könnte. So hat denn auch Ingrid Strohschneider-Kohrs den Text gedeutet: Er ist Ausdruck »jenes kritisch-bewußten Vorbehalts«, der aus der Einsicht in das »Bedingtsein menschlicher Wahrheitsfindung« entspringt.45 Diese Erkenntnis- und Sprachskepsis in Religionssachen klingt auch in dem ›Bekenntnis‹ an, ist also offenbar ein durchgängiger Zug der Lessingschen Schriften zur Theologie. Aber wer garantiert, daß nicht auch sie taktischen Erwägungen entspringt? Wenn Lessing auf Goezes Anschuldigungen und kritische Fragen mit Bildern, Gleichnissen, Parabeln und Erzählungen antwortet, dann könnte das ja auch der Versuch sein, seine Heterodoxie zu verschleiern. So jedenfalls sieht es Goeze, und daher fordert er Lessing mehrfach auf, sein »vollständiges Glaubensbekenntnis« mitzuteilen.46 Im übrigen läßt sich nicht übersehen, daß auch der hier zitierte Passus der Duplik eine polemische Spitze gegen Lessings Kontrahenten enthält. Die apo41 42 43

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FA 13, S. 507f. (Eine Duplik). FA 13, S. 584. FA 13, S. 1032. Grimm verzeichnet die Stelle nicht. Es gibt laut DWb. Bd. 5, Sp. 3551 den Fall, daß das Adv. ›gerade‹ die Verneinung akzentuiert im Sinne von ›eben, just‹, aber dieser Hinweis hilft dem Versuch einer angemesseneren Deutung auch nicht auf die Sprünge. Ich verwende hier einen Begriff, den Johann Martin Chladenius in seinem Buch ›Allgemeine Geschichtswissenschaft‹ (1752) in die Geschichtstheorie eingeführt hat. Daß Lessing, der ein anderes Buch des Chladenius zitiert, die ›Allgemeine Geschichtswissenschaft‹ gekannt habe, läßt sich nicht belegen, ist aber nicht unwahrscheinlich. Strohschneider-Kohrs (s. Anm. 22), S. 206–212, hier S. 212. So zuerst in Goeze: Etwas Vorläufiges gegen des Herrn Hofrats Lessings >…@ Angriffe. In FA 9, S. 128.

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logetischen Aussagen seines Nachbarn mit ihrem trotzigen Insistieren auf der vollkommenen Übereinstimmung der Evangelien nennt er »dreist«; dagegen präsentiert er selbst sich als ›bescheiden‹ Argumentierenden, und dabei ist die Anspielung auf die christliche Tugend der Demut wohl nicht ungewollt. Das Wort fällt ja sogar in dem nur wenige Seiten später mitgeteilten ›Bekenntnis‹: »Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke«. Also noch einmal die Frage: Welche der Lessingschen Aussagen im Fragmentenstreit verdanken sich einer Anpassung an die rhetorische Situation? Hat diese Anpassung Einfluß auf ihren Inhalt? Oder darf man davon ausgehen, daß sie sich nur auf die Form der Mitteilung auswirkt, den Inhalt der Äußerungen über Theologie und Glauben aber nicht beeinflußt?47 Vermutlich kann man diese Frage nur beantworten, wenn man sich nicht auf mikrologische48 Analysen kleiner Redeeinheiten stützt, wenn man vielmehr grundsätzliche Aussagen Lessings zur Theologie untersucht.

III Strukturell gleichen solche Aussagen dem Text, der als ›Bekenntnis‹ Lessings bezeichnet wurde. Sie ergeben zwar kein System, aber sie sind doch alle demselben Denkprinzip verpflichtet. In ihnen betreibt Lessing eine Kritik der Theologie als einer Disziplin, die Vernunftwahrheiten für sich in Anspruch nimmt.49 Dabei gehen Polemik und Bestimmung der eigenen theologischen Position eine enge Verbindung ein. Das gemeinsame Prinzip all dieser Aussagen ist die Bemühung um eine Entdogmatisierung des Christentums. Dabei geht es Lessing offensichtlich nicht darum, die ›Lehrbegriffe‹ der protestantischen Theologie grundsätzlich aufzugeben, als vielmehr darum, ihre Begründung der Kritik zu unterwerfen. »Er muß nicht so tun,« schreibt er in den an Goeze gerichteten Axiomata, »als ob 47

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Selbst Ernst Feil, der den beeindruckenden Versuch gemacht hat, Lessings Begriffe von Theologie, Religion, Glauben zu analysieren und zueinander in eine systematische Beziehung zu setzen, stellt mit Bezug auf dessen »Rekurs auf den ›fühlenden Christen‹« fest: »Es kann hier und vielleicht überhaupt nicht geklärt werden, ob Lessing diese Aussage nur in der polemischen Auseinandersetzung formuliert hat, oder ob er in der pointierten Formulierung eben doch auch seine eigene Position zum Ausdruck bringen wollte.« Ernst Feil: Religio. Bd. 4. Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Göttingen 2007, S. 550. Bei Lessing selbst taucht bekanntlich der Ausdruck ›Mikrolog‹ auf. In: FA 7, S. 505. Zum folgenden besonders Johannes von Lüpke: Wege der Weisheit. Studien zu Lessings Theologiekritik. Göttingen 1989 Meine Überlegungen kommen denen von Lüpkes oft sehr nahe; aber während ich mich auf eine Untersuchung des Fragmentenstreits beschränke und dabei den befreienden Charakter von Lessings Theologiekritik zu zeigen versuche, ist er darum bemüht, Lessings Schriften unter Einbeziehung von ›Nathan der Weise‹, ›Ernst und Falk‹ und ›Die Erziehung des Menschengeschlechts‹ als Entwurf einer Theologie zu lesen, der hinausführt aus der durch die streitenden Parteien heraufgeführten Problemkonstallation.

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der, welcher gewisse Beweise einer Sache bezweifelt, die Sache selbst bezweifelt.«50 Den Satz hat Arno Schilson als »Kritik an der neuerdings – und zwar durch Goezes Lehrer Siegmund Jakob Baumgarten […] aufgekommenen und überstrapazierten ›historischen Beweisart‹ für die Wahrheitsbehauptung des Christentums« verstanden.51 Der sich bei Lessing anschließende Satz spricht für diese Deutung: »Was kann ich dafür, daß man neuerer Zeit Nebenbeweise zu einer Gewißheit und Evidenz erheben wollen, die sie schlechterdings nicht haben können?«52 Aber Lessings Diktum geht doch wohl weiter. Man darf nicht übersehen, daß das Adjektiv ›gewiß‹ im 18. Jahrhundert sehr viel häufiger als heute ›sicher‹, ›unbestreitbar‹, ›zuverlässig‹ meint und daß die Bedeutung ›eine bekannte, aber hier nicht näher bezeichnete Sache oder Person‹ demgegenüber viel ungebräuchlicher ist.53 Der Satz würde dann nicht eine bestimmte Beweisart zuückweisen, sondern jeden sicheren (gewissen) Beweis für unmöglich erklären. So muß man auch Lessings gegen Schumann gerichtete Schrift Über den Beweis des Geistes und der Kraft lesen, in der er feststellt, daß die Nachrichten der Evangelien von »Wundern und Weissagungen eben so zuverlässig sind, als nur immer historische Wahrheiten sein können«. Da historische Wahrheiten nicht bewiesen werden könnten, so könne man auch nichts durch sie beweisen. »Das ist: zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftswahrheiten nie werden.«54 Aber wenn dieser Beweis nicht geführt werden kann, so kann sich auf die Evangelien überhaupt kein Beweis stützen. Lessings Entdogmatisierung nimmt hier die Form der Historisierung an. Waren die biblischen Texte bis dahin das durch Verbalinspiration übermittelte, immer gültige Wort Gottes, so sind sie hier nur noch historische Nachrichten über eine weit zurückliegende Vergangenheit, zu der die auf Beweise ausgerichtete Vernunft keine Brücke mehr zu schlagen vermag. Das faßt Lessing selbst in das Bild vom »garstigen Graben«, über den er »nicht kommen kann«.55 Eine Historisierung unternimmt Lessing auch im Hinblick auf das Apostolische Glaubensbekenntnis. Es sei, so schreibt Lessing bereits in den Axiomata, »offenbar mehr aus einem überlieferten Lehrbegriffe entstanden, als unmittelbar aus der Schrift gezogen worden«.56 Diesen ›Lehrbegriff‹ nennt er dann später die Regula fidei. Die, so formuliert er das in der Nötigen Antwort auf eine sehr unnötige Frage noch schärfer, »ist nicht aus den Schriften des Neuen Testaments gezogen«. Sie war, »ehe noch ein einziges Buch des Neuen Testaments

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FA 9, S. 57 (Axiomata). FA 9, S. 847f. FA 9, S. 57. Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. 2. Teil. Leipzig 21796, Sp. 667–669. FA 8, S. 441 (Beweis des Geistes und der Kraft). FA 8, S. 443. FA 9, S. 70 (Axiomata).

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existierte«. Und weiter: »Diese Regula fidei also ist der Fels, auf welchen die Kirche Christi erbauet worden, und nicht die Schrift.«57 Waren die altkirchlichen Glaubensbekenntnisse (›Symbola‹) mit ihren dogmatischen Aussagen auf die Evangelien gegründet, so wird die Regula fidei als historisch gewachsene, durch mündliche Überlieferung entstandene Glaubensausage präsentiert. Wurde für die ›Symbola‹ kraft ihrer Herleitung aus dem Neuen Testament die Anerkennung als Wahrheit gefordert, so behauptet Lessing für die Regula fidei nur noch »Authentie«. Die aber, so schreibt er, sei »viel leichter und richtiger zu erweisen, als die Authentie der Neutestamentlichen Schriften«.58 Eine andere Form der Entdogmatisierung praktiziert Lessing in seiner Auseinandersetzung mit der Offenbarung. Die Aufgabe der Lehre von der Theopneustie fordert nicht zwingend die Preisgabe des Glaubens an Offenbarungen,59 und ihn preiszugeben, ist Lessing offenbar auch nicht bereit. Wohl aber greift er immer wieder den Offenbarungsbegriff vor allem der Neologen an. »Die Kanzeln«, schreibt er zum Beispiel in den Gegensätzen des Herausgebers, »anstatt von der Gefangennehmung der Vernunft unter den Gehorsam des Glaubens zu ertönen, ertönen nun von nichts, als von dem innigen Bande zwischen Vernunft und Glauben«.60 Wer Dinge, die den Begriff der Vernunft übersteigen, »aus seiner Religion auspolieret,« heißt es gleich darauf, »hätte eben so gut gar keine. Denn was ist eine Offenbarung, die nichts offenbaret?«61 Das klingt zunächst wie eine Verteidigung des orthodoxen Begriffs von Offenbarung. Aber in Wahrheit bedient sich Lessing des überkommenen Begriffs mit der polemischen Absicht, den Neologen ihre inneren Widersprüche vor Augen zu führen. Tatsächlich betreibt er dann nicht eine Rettung des orthodoxen Offenbarungsbegriffs, sondern dessen Umdeutung. Umdeutung ist die zweite Form der Entdogmatisierung, deren er sich nicht nur in diesem Zusammenhang bedient. Wie sieht die Umdeutung des Offenbarungsbegriffs aus? »Eine gewisse Gefangennehmung unter den Gehorsam des Glaubens«, schreibt Lessing, »beruhet also gar nicht auf dieser oder jener Schriftstelle: sondern auf dem wesentlichen Begriffe einer Offenbarung.«62 Nachdem er durch die Verwendung des Paulinischen Appells im 2. Korintherbrief (10,5) seine Aussage gegen den Verdacht geschützt hat, er wolle den Begriff der Offenbarung ganz preisgeben, löst er ihn, wenn auch mit behutsam vorgetragenen Formulierungen, aus dem System orthodoxer ›Lehrbegriffe‹ heraus und gibt ihm einen veränderten Sinn:

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FA 9, S. 431 (Nötige Antwort auf eine sehr unnötige Frage, §§ 2, 3 und 6). FA 9, S. 433 (§ 15). In der Vortragsfassung dieses Beitrags hatte ich noch die Ansicht vertreten, mit der Theopneustie verliere jegliche Offenbarung ihren Grund. Für den korrigierenden Hinweis danke ich Christoph Bultmann. FA 13, S. 315 (Gegensätze des Herausgebers). FA 13, S. 316. FA 13, S. 316.

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Wie gesagt [so setzt ein zweites Mal ein]: eine gewisse Gefangennehmung der Vernunft unter den Gehorsam des Glaubens beruhet bloß auf dem wesentlichen Begriffe einer Offenbarung. Oder vielmehr, – denn das Wort Gefangennehmung scheinet Gewaltsamkeit auf der einen, und Widerstreben auf der andern Seite anzuzeigen, – die Vernunft giebt sich gefangen, ihre Ergebung ist nichts, als das Bekenntnis der Grenzen, sobald sie von der Wirklichkeit der Offenbarung versichert ist.63

Der Ausdruck »Gefangennehmung« wird ersetzt durch den des Sich-Gefangengebens. Das bedeutet, von der Offenbarung geht kein Zwang mehr aus, sei es dadurch, daß sie das Subjekt überwältigte, sei es dadurch, daß sie die Vernunft in ihren Dienst nähme. Zweifellos kommt in dieser Konzeption dem Subjekt eine neue Rolle zu. Aber welche? Man muß sich dazu den ersten der beiden zitierten Sätze noch einmal ansehen: »Eine gewisse Gefangennehmung unter den Gehorsam des Glaubens beruhet also gar nicht auf dieser oder jener Schriftstelle: sondern auf dem wesentlichen Begriffe einer Offenbarung.« Wiederum hat er eine polemische Note. Goezes Begriff von Offenbarung beruht ja darauf, das diese sich durch biblische Textstellen mitteilt; Lessing stellt ihm mit einer Sprachgeste der Zurechtweisung den »wesentlichen« Begriff einer Offenbarung entgegen. Aber der Sinn des Satzes geht in dieser Polemik nicht auf. Er ist zugleich eine grundsätzliche Aussage zu Lessings Theologie. Während der erste Teilsatz noch einen Verursacher oder Auslöser des Glaubens nennt: den biblischen Text, spricht der zweite nur noch von den Voraussetzungen, unter denen ein SichGefangengeben unter den Gehorsam des Glaubens möglich ist. Er enthüllt eine Aporie: Die Offenbarung wird als etwas Mögliches nicht preisgegeben. Wo sie sich ereignet, kann sie als solche durch den Begriff, das heißt durch die Vernunft, konstatiert werden, aber über ihren Inhalt kann man nicht mehr »vernünftig« sprechen. Sie wird nur noch greifbar, wie Lessing an anderer Stelle schreibt, im »inneren Gefühl«: »Ich habe gesagt, wenn man auch nicht im Stande sein sollte, alle die Einwürfe zu heben, welche die Vernunft gegen die Bibel zu machen, so geschäftig ist: so bliebe doch die Religion in den Herzen derjenigen Christen unverrückt und unbekümmert, welche ein inneres Gefühl von den Wahrheiten derselben erlangt haben.«64 Es mag sein, daß Kant mit seiner Kritik des »inneren Gefühls« als eines »Prätendenten zum Amte eines Auslegers« der Bibel – wie er gravitätisch und doch genau formuliert – sich gegen Lessing hat wenden wollen. »Gefühl«, schreibt er, »kann man nicht als einen Probierstein der Echtheit einer Offenbarung anpreisen, denn es lehrt schlechterdings nichts, sondern enthält nur die Art, wie das Subjekt in Ansehung seiner Lust oder Unlust affiziert wird, worauf gar keine Erkenntnis gegründet werden kann.«65 Aber er hätte damit Lessings Umdeutung des Offenbarungsbegriffs mißverstanden. Das »innere Gefühl« meint bei Lessing nur den Modus der 63 64 65

FA 13, S. 318. FA 9, S. 47 (Eine Parabel). Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. In: Werke. Hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. VIII/ 2. Frankfurt am Main 1968, S. 775f.

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Wahrnehmung einer Offenbarung oder, wie er lieber sagt, einer »inneren Wahrheit«.66 Es soll nicht belehren, keine Erkenntnis begründen, soll vielmehr etwas wahrnehmen, was sich begrifflich nicht fassen läßt, weil es jenseits der Grenzen der Vernunft liegt. Trotzdem ist seine Wahrnehmung nicht dem Belieben überlassen. Die Vernunft entscheidet, ob eine Offenbarung vorliegt und nicht etwa Wahn oder Schwärmerei sich des Gefühls bemächtigt haben.67 Der Probierstein der Echtheit einer durch das innere Gefühl erfahrenen Offenbarung aber ist die moralische Praxis. In einem der fingierten Dialoge mit dem Hauptpastor läßt Lessing jenen sagen: »Gut; aber derjenige, der mir die schriftlichen Überlieferungen aus ihrer innern Wahrheit erklären will, muß mich vorher überzeugen, daß er selbst von der innern derselben eine richtige und gegründete Vorstellung habe.« Auf diesen Satz, mit dem er Goeze als einen Vertreter der »vernünftigen Orthodoxie« sprechen läßt, antwortet Lessing im Fortgang des Dialogs: »Wenn seine Absichten keine innere Güte haben: so können die Religionssätze, die er mit beibringen will, auch keine innere Wahrheit haben.«68 Wie so oft gehen auch hier polemische Abgrenzung und Bestimmung der eigenen Position eine enge Verbindung ein. Aber der Verdacht, daß diese Verbindung zu einer Entstellung der Lessingschen Begriffe von Theologie oder Religion führe, erweist sich nicht länger als haltbar. Der Streit fordert Lessing eine quälende intellektuelle und seelische Anstrengung ab, aber nur er bietet ihm die Möglichkeit, seine ›Theologie‹ und seine Vorstellungen von Religion zu formulieren. Eine Theologie, die sich positive, überprüfbare Aussagen über Glaubensinhalte versagen muß, braucht die Redefigur der Zurückweisung oder auch nur der Verneinung, um zu sagen, worum es ihr geht. In einer kritischen, sich von Neologie und Orthodoxie abgrenzenden Untersuchung prüft Lessing die Möglichkeit vernünftiger Aussagen über eine Offenbarung, und in diesem Prozeß wird der Vernunft die Kompetenz entzogen, über etwas, das jenseits ihrer Grenze legt, Aussagen zu machen, die den Anspruch erheben, wahr zu sein. Das ist der Sinn des Satzes: »Eine gewisse Gefangennehmung unter den Gehorsam des Glaubens beruhet also gar nicht auf dieser oder jener Schriftstelle: sondern auf dem wesentlichen Begriffe einer Offenbarung.« Der Satz ist aussagenlogisch nicht stringent, denn er wechselt von einer – wenn auch im Modus der Verneinung vorgetragenen – objektsprachlichen Aussage zu einer metasprachlichen. Es ist unübersehbar, daß die Grenzziehung für die Vernunft, welche etwas jenseits ihrer selbst Liegendes nicht bestreiten will, aber begrifflich nicht fassen kann, sich hier in einer Ausdrucksnot manifestiert,

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Vgl. z. B. FA 9, S. 69 (Axiomata). – Wenn von Lüpke (s. Anm. 49) von der »Einheit von Erfahrung und Offenbarung im Begriff der inneren Wahrheit« (S. 67) spricht, so wird man ihm nicht widersprechen. Aber bei aller bewundernswerten Differenziertheit seiner Ausführungen über die »innere Wahrheit« könnte diese Formulierung das Mißverständnis fördern, Lessing habe den überkommenen Offenbarungsbegriff ohne Umdeutung in seine Theologie aufgenommen. Dazu Strohschneider-Kohrs (s. Anm. 22), S. 245. FA 9, S. 79 (Axiomata).

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einer Ausdrucksnot jedoch, die keine Artikulationsunfähigkeit ist.69 Der Sprecher kann sich offenbar nur noch mitteilen in einem Satz, der das »Bekenntnis der Grenzen« der Vernunft in sich selbst abbildet. Der garstige Graben, der laut Lessing Vernunft und Offenbarung trennt, kann eindrücklicher nicht dargestellt werden.

IV »Kann mir jemand hinüber helfen, der thu es; ich bitte ihn, ich beschwöre ihn. Er verdienet einen Gotteslohn an mir.« So hat Lessing an seine Leser appelliert.70 Folgt man Ernst Cassirer, so hätte Lessing selbst sich diesen Gotteslohn verdient: Aber weder die Theologie noch die systematische Metaphysik des 18. Jahrhunderts schloß ein Prinzip in sich, kraft dessen diese Lessingsche Frage wahrhaft beantwortet und seiner Forderung ernsthaft Genüge geleistet werden konnte. Er selbst mußte sich hier den Weg bahnen; er mußte den ›garstigen breiten Graben‹ zu füllen suchen, vor den er sich gestellt sah. Lessings letzte religionsphilosophische Hauptschrift hat diese Leistung vollbracht. In der ›Erziehung des Menschengeschlechts‹ ist eine neue Synthese des Historischen und des Rationalen vollzogen.71

Tatsächlich antwortet Lessing mit der Erziehungsschrift auf die von ihm selbst gestellte Frage, aber diese Antwort ist nun gerade nicht der Versuch, den Graben »zu füllen«, sie zeigt vielmehr die Möglichkeiten einer Koexistenz von Vernunft und Glauben, von kritischer Theologie und Religion auf, aber einer Koexistenz, die keine »Synthese« ist, die vielmehr von der wechselseitigen Anerkennung einer Grenze lebt. Cassirers Deutung verdeckt die eigentliche Leistung der Theologiekritik Lessings. In ihr wird der als kritisch verstandenen Theologie die Vollmacht zugesprochen, alle Glaubensaussagen zurückzuweisen, die mehr für sich beanspruchten als Evidenz oder ›Authentie‹; und der Religion wird das Recht zuerkannt, Machtansprüche über Glaubensinhalte abzulehnen, die sich auf ›Beweise‹ berufen. Man würde Lessings vermeintlichen Hilferuf aber auch mißdeuten, wenn man ihm den Gedanken unterstellte, das vernünftige Subjekt könne nur durch einen »Sprung« zum Glauben kommen.72 Das wäre eine existentialistische Deutung, die ihm fremd ist. Lessing plädiert weder für eine Vernunft ohne Glauben noch für einen Glauben ohne Vernunft. 69

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Dazu hat sich in jüngster Zeit im Anschluß an Søren Kierkegaards »Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken« besonders eindringlich Strohschneider-Kohrs geäußert, zuletzt in: Historische Wahrheit der Religion. Hinweise zu Lessings Erziehungsschrift. Göttingen 2009, S. 9 u. ö. FA 13, S. 443f. (Über den Beweis des Geistes und der Kraft). Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. Text und Anmerkungen bearbeitet von Claus Rosenkranz. In: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 15. Hg. von Birgit Recki. Hamburg 2003, S. 203. Damit schließe ich mich von Lüpke (s. Anm. 49) an, S. 72.

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Wohl aber schließt er aus, daß man beider ›Sprachen‹ vermischt. Es ist daher auch kaum statthaft, die Erziehung des Menschengeschlechts umstandslos zur Erläuterung von theologischen Aussagen im Fragmentenstreit heranzuziehen und am Ende doch wieder so etwas wie eine Einheit von Theologie und Religion zu konstruieren. Die Kritik der theologisierenden Vernunft, die Lessing im Fragmentenstreit betreibt, ist nichts, was er später zurückgenommen hätte. Allein die Bezeichnung der Erziehungsschrift als Hypothese wie auch die ihr beigegebenen paratextuellen Signale, zum Bespiel die Einführung eines fiktiven Herausgebers, deuten darauf hin, daß er sie nicht als Fortsetzung seiner im Fragmentenstreit entwickelten Theologie sieht. Die Erziehungsschrift ist kein theologisches Manifest, sondern der mit vielen »Sprachformen kritischen Vorbehalts«73 vorgetragene Entwurf einer Religion. Lessings Trennung von Theologie und Religion machte es möglich, daß man jedem Versuch Schranken setzte, einer anderen Religion unter Berufung auf die ›bewiesene Wahrheit‹ der eigenen Dogmen ihre Rechte zu bestreiten. Die Forderung nach Toleranz unter Berufung auf das Naturrecht wurde hier durch neue Gründe gestärkt. Daß Lessing mit einer solchen Begründung einer gewaltfreien Beziehung der Religionen zueinander die Rechnung ohne diejenigen machte, die ihre dogmatischen Aussagen der Vernunftkritik entzogen, kann man ihm nicht vorhalten; seine und anderer Denker utopische Entwürfe waren es schließlich, die dem Staat seine Pflicht zur Erzwingung des Religionsfriedens bewußt machten. Lessings Theologie schließt zugleich aus, daß man Aussagen wie die, es gebe keinen Gott oder keine Offenbarung, mit dem Anspruch vorträgt, sie seien unbestreitbar wahr. Wenn man nicht beweisen kann, daß es einen Gott oder Offenbarungen gebe, kann man auch nicht beweisen, daß sie nicht existierten. Das »Confinum, an dem ein Anderes begegnet, das weder zu bestreiten noch beweisen ist«,74 gilt für den Glaubenden wie für den Zweifler. Die ›Modernität‹ des Lessingschen theologischen Denkens erweist sich in solchen Grenzziehungen, sie wird aber auch und gerade sichtbar in dem, was es positiv für die Religion leistet. Das kann ein Vergleich von Lessings Reflexionen über Theologie und Religion mit den Gedanken demonstrieren, die Ernst Troeltsch in seinem 1895/96 erschienen Aufsatz »Die Selbständigkeit der Religion« entfaltet hat.75 Dieser Hinweis soll kein Versuch sein, Troeltsch eine Abhängigkeit von Lessings Ideen zuzuschreiben. Dafür gibt es in den wenigen, 73 74 75

Den Begriff entlehne ich aus Strohschneider-Kohrs (s. Anm. 22), S. 200. Strohschneider-Kohrs (s. Anm. 22), S. 12. Ernst Troeltsch: Die Selbständigkeit der Religion. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 5. Jg. (1895), S. 361–436; 6. Jg. (1896), S. 71–110, 167–218. Auch wenn Hans Joas in seinem Vortrag »Die Selbständigkeit der Religion als Thema der Religionsforschung« (gehalten auf dem Kolloquium zum 60. Geburtstag von Friedrich Wilhelm Graf) nicht ausdrücklich auf Lessing einging, verdanke ich doch ihm die erste Anregung zu einer solchen Lektüre der Lessingschen Schriften zu Theologie und Religion. Hans Joas stellte mir das Manuskript seines Vortrags zur Verfügung; Christian Albrecht machte mir den Text von Troeltsch in der Fassung der kritischen Ausgabe als Umbruch zugänglich. Beiden sei für ihre Großzügigkeit herzlich gedankt.

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eher beiläufig in den Aufsatz eingestreuten Hinweisen auf Lessing keinerlei Anhaltspunkte. Aber er soll dazu einladen, Lessings Schriften zu Theologie und Religion gleichsam mit von Troeltsch geöffneten Augen zu lesen. Troeltsch schreibt in einem der zentralen Sätze seiner Schrift: »Die Religionen sind in allererster Linie reine Tatsachen und spotten aller Theorien. Nur sie selbst geben die wesentliche Auskunft über sich. Alles andere kommt in zweiter Linie.«76 Religion ist also für ihn wie für Lessing etwas ›Selbständiges‹. Wie Lessing kennt Troeltsch ein »religiöses Erleben« oder »Gefühl«,77 und auch der Gedanke, »daß der an sich unsagbare Inhalt des religiösen Erlebens sich zu verdeutlichen und bestimmen sucht durch Verwendung von Analogien des menschlichen oder des Naturlebens«,78 ist dem Leser Lessings vertraut. Dieser greift ja im Bewußtsein der Grenzen der Sprache immer wieder zu Bildern und Gleichnissen. Beide hätten sich wohl auch über den »sozialen Charakter der Religion«79 verständigen können, aber es gibt kein Indiz dafür, daß Lessing Troeltschs Auffassung geteilt hätte, der Kultus sei »die wichtigste Erscheinungsform der Religion«.80 Lessings Entwurf hat für eine »institutionelle Religion«81 mit Gemeindebildung, Gottesdienst, Ritus keinen Platz. Das hat schon Wilhelm Dilthey gesehen.82 Wo immer Lessing, wie etwa im Nathan, Gestalten entwirft, die über religiöse Themen sprechen und den dabei entwickelten Ideen entsprechend zu leben suchen, läßt er sie als Individuen, nicht in irgendwelchen Formen von geistlicher Gemeinschaft auftreten. Solche Gemeinschaften, so würde sich bei genauerer Untersuchung wohl zeigen, sind ihm als möglicher Hort von Orthodoxien nicht geheuer. In dieser Institutionenferne mag einer der Gründe dafür liegen, daß Lessing eine Wirkung auf die theologische Praxis der lutherischen Kirche versagt blieb. Ein anderer Zug des Lessingschen Entwurfs einer christlichen Religion war, so könnte man meinen, immerhin anschlußfähig für eine moderne Theologie. Sein Entwurf einer von den Ansprüchen der Theologie befreiten Religion war gegründet auf Hypothesen. Aber diese Hypothesen forderten nicht auf zu Beweisen, die es nach Lessings Verständnis auch gar nicht geben konnte, sie verlangten vielmehr Bewährung durch sittliches Handeln. Das gab seiner Religion eine Dynamik, die sie hätte fähig machen können, mit den jetzt einsetzenden Modernisierungsprozessen Schritt zu halten. Zugleich garantierte die Rückbindung sittlichen Handelns an die christliche Überlieferung, daß seine Religion nicht in Moral aufging.

76 77 78 79 80 81 82

Troeltsch (s. Anm. 75), S. 379. Ebd., S. 417 bzw. 420. Ebd., S. 417. Ebd., S. 421. Ebd., S. 424. William James: Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur. Frankfurt am Main 1997, S. 61. Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Bd. 24. Das Erlebnis und die Dichtung. Hg. von Gabriele Malsch. Göttingen 2005, S. 65f.

Lessings Theologiekritik im Fragmentenstreit

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Auch ein anderer Zug hätte in die Zukunft weisen können. Die lutherische Kirche seiner Zeit – die Theologie und Religion nicht geschieden wissen wollte – war gebunden an die Dogmen. Auf die politischen, sozialen, mentalen Veränderungen konnte sie, wenn sie sich nicht in einer widerständigen Orthodoxie verschanzte, scheinbar nur mit immer neuen Akkommodationen reagieren – mit der Konsequenz, daß sie sich schon früh der höhnischen Bemerkung Lessings ausgesetzt sah: »Schade nur, daß man so eigentlich nicht weiß, weder wo ihm [dem »vernünftigen Christentum«, d. h. der Neologie] die Vernunft, noch wo ihm das Christentum sitzt.«83 Lessings Entwurf sah die Entwicklung einer religiösen Morallehre vor, aber diese Lehre blieb bezogen auf das Christentum als seinen Grund, ohne der Gefahr dogmatischer Verhärtung oder der Aushöhlung durch Akkommodation ausgesetzt zu sein. Lessing befreite die Religion aus der Vormundschaft der Theologie, aber er vermochte es nicht, für sie neue, nichtdogmatische ›Lehrbegriffe‹ zu entwerfen und damit Möglichkeiten für ihre Tradierbarkeit zu schaffen. Es ist sicher kein Zufall, daß er seine Religion am eindrücklichsten in dem »dramatischen Gedicht« Nathan der Weise vortrug. Die Dichtung aber verweigerte sich jedem Wunsch nach einer ›Lehre‹. Das mag der Hauptgrund dafür sein, daß Lessings Name, erst recht seine Religion in neueren Arbeiten, die der Aufklärungstheologie und ihrem Fortwirken in der liberalen Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts gelten, kaum vorkommen.84

83 84

Schlußsatz von Lessings Nachbemerkung zu Hermann Samuel Reimarus: Von Duldung der Deisten. In: FA 8, S. 134. Ein Beispiel ist der sonst in jeder Hinsicht anregende Aufsatz von Ulrich Barth: Religion und Vernunft. In: Berliner Theologische Zeitschrift. Beiheft 2008, S. 82–100. Auf das Nichtvorkommen Lessings in solchen theologischen Arbeiten machte mich Ingrid Strohschneider-Kohrs aufmerksam.

LEISTUNG UND WIRKUNG DER SPÄTSCHRIFTEN LESSINGS

Gisbert Ter-Nedden

Lessings dramatisierte Religionsphilosophie Ein philologischer Kommentar zu Emilia Galotti und Nathan der Weise

1

Die Dramaturgie des Sündenfalls

1.1 Der unverständliche Klassiker Lessing war im Hauptberuf weder Dramatiker noch Theologe, und er hat weder primär Literaturgeschichte noch primär Theologiegeschichte gemacht. Wohl aber war er der bedeutendste Repräsentant der religiösen Aufklärung der Deutschen. Hier liegt seine eigentliche Lebensleistung und das Thema, das sich als roter Faden durch sein so vielgestaltiges Lebenswerk zieht und auch seine Dramaturgie und Dramatik sowie seine Theologiekritik und Religionsphilosophie miteinander verbindet. Auch als Dramatiker macht er die Bühne zur Kanzel, auf der er seine Antwort auf die Frage nach der Wahrheit des überlieferten religiösen Erbes zur anschauenden Erkenntnis zu bringen sucht. Was er als Theologiekritiker und Religionsphilosoph über die Wahrheit der religiösen Mythen zu sagen hat, die auch unter den Bedingungen der Aufklärung erkannt und anerkannt werden kann, das versucht er im Medium der poetischen Mythenbildung zur Erscheinung zu bringen. So die übergreifende These, die am Beispiel der Auslegung des Mythos vom Sündenfall und der Erbsünde in seinen theologiekritischen Schriften einerseits und der Emilia Galotti andererseits entfaltet werden soll. Gemeint ist mit dieser These nicht, dass man die Emilia neben den zahllosen anderen Gesichtspunkten, die bislang geltend gemacht worden sind, auch unter religionsgeschichtlichem oder -philosophischem Gesichtspunkt lesen kann. Gemeint ist vielmehr, dass der Text überhaupt erst dann verständlich wird, wenn man ihn beim Wort nimmt, soll heißen: wenn man die Sprache der religiösen Bilder und Mythen, deren sich seine dramatis personae durchgängig bedienen, tatsächlich ernst nimmt. Die Interpretationsgeschichte der Emilia trägt von allem Anfang an bis heute in singulärer Weise die Züge eines verbalisierten Kopfschüttelns der Interpreten über ihren Autor. Vom Augenblick seines Erscheinens an ist dieses Drama mit einer Mischung aus Bewunderung für dieses Meisterstück eines »Meisterdramatikers« einerseits und aus Rat- und Verständnislosigkeit angesichts der Art der Motivierung und Plotkonstruktion andererseits aufgenommen worden. Auf der Textoberfläche scheint hier alles ganz und gar geheimnislos und bis zur Selbstverständlichkeit verständlich zu

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Gisbert Ter-Nedden

sein, und doch trägt das Ganze so befremdliche Züge, dass sich bei jedem neu hinzukommenden Leser und Interpreten zwangsläufig dieselbe Art von Ratlosigkeit und richtungslosem Herumrätseln einstellt, mit der schon die Zeitgenossen auf die Emilia reagiert haben. Der Grund für die Unverständlichkeit dieses kanonischen Textes eines Autors, der in mancher Hinsicht der fremdeste unter den deutschen Klassikern ist, liegt – so noch einmal die philologische These – in der Art und Weise, wie Lessing hier sein Drama zum Medium der religiösen Aufklärung zu machen sucht. Dieses Ziel zwingt ihn zum Bruch mit den gängigen Plotmustern und zur Entwicklung einer eigenen dramatischen Zeige-Technik, einer Sprache der frommen Blasphemien, der tragischen Ironie, der kognitiven Dissonanzen, die ich den »Lessing-Code« nenne, weil sie sich mit den üblichen stil- und formgeschichtlichen Kategorien (Ausdruckssprache, Individualisierung, gemischter Charakter, Emotionalisierung etc.) nicht angemessen rekonstruieren lässt und weil Lessing hier weder zeitgenössische Vorbilder gehabt noch Nachfolger gefunden hat.1 1

Diese These habe ich zum ersten Mal entwickelt in der Monographie: Lessings Trauerspiele. Vom Ursprung des modernen Dramas aus dem Geist der Kritik. Stuttgart 1986. Sie ist inzwischen von Cornelia Mönch anhand der Plots von über zweihundert Exemplaren der sog. ›bürgerlichen Trauerspiele‹ anschaulich belegt worden in: Abschrecken oder Mitleiden. Das deutsche bürgerliche Trauerspiel im 18. Jahrhundert. Versuch einer Typologie. Tübingen 1993. Vgl. insbesondere das Kap. »Emilia Galotti – unverstandener Protest gegen die poetische Gerechtigkeit als Strukturierungsschema«, S. 131ff. Vgl. auch Anke-Marie Lohmeier: Tragödie und Theodizee. Neues Altes über Lessings Trauerspielpoetik. In: Sabine Doering u. a. (Hg.): Resonanzen. Festschrift für Hans Joachim Kreutzer zum 65. Geburtstag. Würzburg 2000, S. 83–98. Diese Lesarten implizieren die Kritik an der älteren, von Benno von Wiese populär gemachten Deutung, nach der sich im Bruch mit der »poetischen Gerechtigkeit« ein Scheitern des Aufklärungs-Optimismus dokumentiere. Als engagierter Vertreter dieses Deutungsmusters hat Horst Steinmetz meine Kritik an ihr einer Antikritik unterzogen, die darauf verzichtet, sich mit ihr inhaltlich auseinanderzusetzen, sondern methodologisch und wissenschaftstheoretisch argumentiert. Die Literaturwissenschaft müsse sich von der Berufung »auf eine dem zu deutenden Texten zugrundeliegende feste Bedeutung (die überdies in der Regel mit der Intention des Autors identifiziert wird)« verabschieden, so die Begründung für seine Kritik an meinem Versuch, mit den Mitteln philologischer Erkenntnis zur Erweiterung, Vertiefung und Korrektur des Textverständnisses beizutragen. Vgl. Horst Steinmetz: Verstehen, Mißverstehen, Nichtverstehen. Zum Problem der Interpretation, vornehmlich am Beispiel von Lessings ›Emilia Galotti‹. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N.F. 37 (1987), S. 387–398, hier S. 398. Das späte Echo, das diese Antikritik an meiner Lessing-Deutung im Kommentar der für Schüler und Studenten bestimmten Emilia-Ausgabe in der Reihe »Suhrkamp BasisBibliothek« gefunden hat, gibt mir Anlaß zu einer Klarstellung. Steinmetz habe, so das Referat des Kommentators Axel Schmitt, »die Fragwürdigkeit des Anspruchs demonstriert, die ursprüngliche Absicht des Autors rekonstruieren zu können«. (In: G.E. Lessing: Emilia Galotti. Text und Kommentar. Suhrkamp BasisBibliothek 44. Frankfurt am Main 2004, S. 131). Dieses Argument läuft, wenn es – wie hier – dazu verwendet wird, die Kritik an der eigenen Textdeutung abzuwehren, auf eine Immunisierungsstrategie hinaus, die auf der falschen Gleichsetzung von philologischer Erkenntnis mit allen anderen Formen von literaturwissenschaftlichen Interpretationen beruht. Literarische Texte sind ebenso wie alle nichtliterarischen Texte intentionale Gebilde und können wie diese Verständnisprobleme aufwerfen, die sich mit philologischen Mitteln klären lassen. Dabei werden Bedeutungen nicht fest-, sondern freigelegt. Trivialerweise

Lessings dramatisierte Religionsphilosophie

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1.2 Der philologische Befund Alle dramatis personae der Emilia sind fromme katholische Christen, und kein Thema wird in diesem Stück so häufig und zugleich so beiläufig berufen wie das des Seelenheils, der Verdammung und der Vergebung der Sünden. Der erste, der sein Seelenheil verschwört, ist der Prinz. In höchster Erregung und »Verzweiflung« (Regieanweisung), in die er durch die beiläufige Erwähnung der bevorstehenden Vermählung Emilias gestürzt wird, macht er Marinelli buchstäblich zum Sündenbock: Verräter! – was mir ist – Nun ja ich liebe sie; ich bete sie an. […] O ein Fürst hat keinen Freund! Kann keinen Freund haben! – daß Sie, Sie, so treulos, so hämisch mir bis auf diesen Augenblick die Gefahr verhöhlen dürfen, die meiner Liebe drohte; wenn ich Ihnen jemals das vergebe, – so werde mir meiner Sünden keine vergeben! (I/6)2

Marinelli antwortet mit der gleichen Münze frommer Blasphemie: »Schwur dann gegen Schwur: Wenn ich von dieser Liebe das geringste gewußt, das geringste vermutet habe; so möge weder Engel noch Heiliger von mir wissen!« (I/6) – So geht es durch den ganzen Text hindurch weiter. Hier eine kleine Blütenlese:

2

erschöpfen sich literaturwissenschaftliche Interpretationen nicht in der Klärung und Aufklärung von Verständnisvoraussetzungen und der Beseitigung von Verständnisbarrieren. Aber nur ein verstandener Text kann zum Gegenstand literarhistorischer, sozialgeschichtlicher, theologischer oder beliebiger sonstiger Formen der Weiterverarbeitung gemacht werden. Insofern konkurriert die philologische Erkenntnis nicht mit allen möglichen anderen Spielarten von Interpretationen, sondern gibt ihnen – im Prinzip nicht anders als historisch-kritische Text-Ausgaben mit ihren Stellen-Kommentaren – allererst ihren Gegenstand, und es ist ein methodologischer und wissenschaftstheoretischer Kurzschluß, das eine gegen das andere auszuspielen. Im übrigen ist auf die Kritik von Karl Eibl an der Vorstellung zu verweisen, ein poetischer Text werde »durch den Nachweis möglichst vieler Mehrdeutigkeiten ›bereichert‹ […]. Übersehen wird, dass Bedeutung durch Selektion entsteht und dass das Zulassen möglichst vieler Bedeutungen zur Bedeutungslosigkeit führt. […] Man braucht nur einzelne Textstellen zu isolieren, schon werden sie vieldeutig. […] Wenn man vom Autor präzis monosemierte Begriffe durch Isolierung wieder in Vieldeutigkeit auflöst, bereichert man das Werk nicht, sondern setzt seine Einzelelemente in den Zustand isolierter lexikalischer Lemmata.« Karl Eibl: Das monumentale Ich – Wege zu Goethes »Faust«. Frankfurt am Main 2000, S. 249. Wer glaubt, auf die Kontrolle seiner Lektüre durch philologische Erkenntnis verzichten zu können, der produziert jene Bastelarbeiten aus selbstgesägten Bauklötzen, auf die sich die Unterscheidung von leeren und produktiven Innovationen bezieht, die Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt entwickelt und illustriert haben, und zwar ebenfalls am Beispiel der für diese Zwecke besonders geeigneten Emilia-Literatur: Sinn und Unsinn literaturwissenschaftlicher Innovation. Mit Beispielen aus der neueren Forschung zu G. E. Lessing und zur ›Empfindsamkeit‹, in: Aufklärung. Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte 13 (2001), S. 33–69. Zitate aus Lessings Dramen werden im Text durch Akt- und Szenenangabe nachgewiesen. Die anderen Lessing-Zitate nach: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in 12 Bänden. Hg. von Wilfried Barner u. a. Frankfurt am Main 1985–2003. (Im folgenden zitiert als FA für ›Frankfurter Ausgabe‹ mit Band- und Seitenzahl).

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Gisbert Ter-Nedden

»Himmel und Hölle […] Tod und Verdammnis« (II/10), so Marinellis Reaktion auf die Beleidigung, durch die Appiani ihn zum Duell zwingt; »Bei Gott! Bei dem allgerechten Gott! Ich bin unschuldig an diesem Blute«(IV/1), lautet die erste Reaktion des Prinzen auf den Mord an Appiani; »Sie könnte in dem Schoße der Seligkeit nicht aufgehobner sein.« (III/7), so blasphemisch beruhigt Marinellis Diener Battista Claudia über das Schicksal ihrer Tochter; »Marinelli war – begleitet mit einer Verwünschung – Nein, dass ich den edeln Mann nicht verleumde! – begleitet mit keiner Verwünschung – Die Verwünschung denk’ ich hinzu – Der Name Marinelli war das letzte Wort des sterbenden Grafen.« (III/8), so skrupulös verflucht Claudia den Mörder; »Schwören Sie! – Nein, schwören Sie nicht. Sie möchten eine Sünde mehr begehen – Oder ja; schwören Sie nur. Eine Sünde mehr oder weniger für einen, der doch verdammt ist! – Haben Sie keinen Anteil daran?« (IV/5) – mit so skrupulöser Frömmigkeit wird Marinelli von Orsina über das Verbrechen verhört; »Deine Sache wird ein ganz anderer zu seiner machen!« (V/2), so Odoardos Absage an die ›Rache des Lasters‹ im Vertrauen auf das rächende Gericht Gottes; »Um des Himmels willen nicht, mein Vater! – Dieses Leben ist alles, was die Lasterhaften haben.« (V/7), so gewissenhaft reagiert Emilia auf die Bereitschaft ihres Vaters, Marinelli und den Prinzen zu erstechen.

Zum Mythos von der Vergebung der Sünden und der Verdammung der Sünder gehören Engel und Teufel. Pirros Teufel trägt den sprechenden Namen »Angelo« (»Ha! Laß dich den Teufel bei Einem Haare fassen; und du bist sein auf ewig! Ich Unglücklicher!« [II/4]); Orsina entdeckt in Marinelli ihren »Teufel«, den sie »küssen« möchte (»Küssen möchte’ ich den Teufel, der ihn dazu verleitet hat […] Ja, küssen, küssen möcht’ ich ihn – Und wenn Sie selbst dieser Teufel wären« [IV/5]); Odoardo schwelgt in der Vorstellung, er könne dem Prinzen »Höllenqualen« bereiten (»und wann er dennoch den wollüstigen Arm nach ihr ausstreckt: so höre er plötzlich das Hohngelächter der Hölle, und erwache!« [V/2]) und wünscht Marinelli buchstäblich zum Teufel (»Gott verdamm ihn, den meuchelmörderischen Buben!« [V/5]); und der Prinz seinerseits macht sich mit dem letzten Satz des Stücks zum Echo Orsinas und Odoardos, indem auch er Marinelli verteufelt: »Gott! Gott! – Ist es, zum Unglücke so mancher, nicht genug, daß Fürsten Menschen sind: müssen sich auch noch Teufel in ihren Freund verstellen?« (V/8). Die leitmotivische Berufung menschlicher Teufel wird komplettiert durch die Anrufung göttlicher Rache in Gestalt der diabolischen Gottheiten, an die sich die Figuren in ihren blasphemischen Gebeten wenden: Emilia betet zu ihrem »guten Engel«, sie mit ewiger »Taubheit zu schlagen« (II/6); Orsina richtet ihr Gebet an die »allmächtige, allgütige Vorsicht« (IV/3), weil ihr durch das scheinbar zufällige, in Wahrheit von der Gottheit »unmittelbar« ins Werk gesetzte Zusammentreffen mit dem Prinzen der Weg zu seiner Ermordung eröffnet wurde; Odoardo wiederholt und überbietet diese Blasphemie, indem er das Zusammentreffen mit seiner Tochter, dem er sich eben noch entziehen wollte, als Eingriff des »Himmels« deutet, der ihn zum Kindesmord verpflichte (V/6); und auch Emilia selbst macht sich den Willen ihres Vaters zur Gewalt zu eigen (»als ob wir keinen Willen hätten!«) und legitimiert ihn durch die Berufung auf eine Religion (»Der Religion! Und welcher Religion?«), die ein Märtyrertum heilig spreche, das darin besteht, sich dem »Leiden« und »Dulden«

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durch Selbstmord zu entziehen (V/7). Am Ende steht Odoardos Anrufung des göttlichen Gerichts: Angesichts des von ihm selbst vergossenen Blutes seines Kindes, »das wider Sie um Rache schreit«, erwartet er den Prinzen »vor dem Richter unser aller!« (V/8) Der Befund, den diese durchaus unvollständige Zitat-Collage belegen soll, lautet: Lessings Übertragung des Virginia-Plots von dem antiken Rom in das neuzeitliche Italien läuft auf eine durchgängige und gleichsam mit jedem Satz nachdrücklich betonte Christianisierung hinaus. Das gesamte Personal seiner modernisierten Virginia, vom Fürsten bis zum letzten Diener, artikuliert sein Tun und Erleiden durchgängig im Medium der Sprache der religiösen Mythen und Bilder. Warum? Was hat der Virginia-Mythos mit dem Christentum zu tun? Diese Frage fehlt in der kommentierenden Literatur. Die Dominanz der Sprache der Religion gehört zu den uninterpretierten Dimensionen dieses überinterpretierten Textes. Nun hat das Schweigen der Interpreten durchaus seine Gründe. Für Lessing und seine aufgeklärten Zeitgenossen gab es all das nicht mehr, wovon seine Figuren so selbstverständlich reden. Er selbst hatte in seinem theologiekritischen Essay Leibniz von den ewigen Strafen, den er fast gleichzeitig mit der Emilia publiziert, einen bedeutsamen Beitrag zur Abschaffung jener Hölle und jenes Himmels geleistet, auf die sich seine Figuren laufend beziehen. Zudem bedient sich sein dramatisches Personal der Sprache der Religion, ohne dass man ihren Glauben oder Unglauben für ihr Tun und Lassen verantwortlich machen könnte. Sie lieben und hassen sich, sie töten und sterben nicht weil, sondern ganz offensichtlich obwohl sie alle miteinander fromme Christen sind. Die Religion seiner Figuren ist also nicht die ihres Autors. Lessing ist kein bekennender Christ, sondern von allem Anfang an stolz darauf, die Frage nach der Wahrheit der Religion(en) (als Kollektivsingular) ohne alle dogmatischen Bindungen in völliger Freiheit zu bedenken – als »Liebhaber der Theologie«, der »auf kein gewisses System geschworen hat«.3 Das Kirchen-Christentum seiner Figuren ist aber auch nicht sein ideologischer Gegner, gegen den er wie Voltaire mit den Mitteln dramatisch aufbereiteter ideenpolitischer Propaganda zu Felde zieht. Die Deutung der Religion als das Produkt abergläubischer und betrügerischer Priester verbot sich für ihn ebenso kategorisch wie die Bindung an irgendeine Orthodoxie. Hier liegt der Grund, weshalb eine auf Dogmen- und Ideologiegeschichtsschreibung programmierte Philologie mit der Sprache der christlichen Religion in Lessings Dramen nichts anfangen konnte. Die allermeisten Interpreten haben sie deshalb als ein für sich selbst bedeutungsloses sprachliches Kostüm, gewissermaßen als englisch-protestantische (in der Sara) bzw. italienisch-katholische Folklore (in der Emilia) verstanden und ignoriert. Aber auch diese Lesart ist philologisch unhaltbar. Es gehört zur unverwechselbaren geistigen Physiognomie dieses Pfarrerssohnes, dass er religiöse Wendungen niemals als bloße façon de parler benutzt, sondern sie sowohl in 3

FA 9, S. 57 (Axiomata).

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seinen öffentlichen wie in seinen privaten Äußerungen grundsätzlich immer ernst nimmt. Wenn sich seine Figuren sowohl in der Sara wie in der Emilia so durchgängig und mit solchem Nachdruck in der Sprache der Religion artikulieren, dann tun sie das darum, weil ihr Autor die poetische Bildersprache zum Medium der Auslegung der religiösen Bildersprache macht, und zwar einer Auslegung, die die radikale aufklärende Entmythologisierung mit ihrer ›Rettung‹ zu verbinden sucht. Die Bühne ist ihm die bessere Kanzel: die bessere Kanzel, weil ihm die religiöse Aufklärung zu wichtig ist, um sie den Theologen zu überlassen, und weil er – wie alle Intellektuellen der Epoche, wie Rousseau und Voltaire, Goethe und Schiller, Kant und Hegel etc. – das Monopol der kirchlich verfassten, an bestimmte Dogmatiken gebundenen, sich auf sakrosankte Textcodices berufenden Offenbarungsreligionen für die religiöse Weltund Lebensdeutung nicht mehr anerkennt. Die bessere Kanzel, weil der Dramatiker Religion nicht als geglaubte Dogmatik, sondern als gelebte, erfahrbare Lebensdeutung zur Anschauung zu bringen vermag. Die Sprache der Religion ist also nicht das Kleid, um die unsterbliche Geschichte vom frauenräuberischen Tyrannen neu zu kostümieren. Vielmehr verhält es sich genau umgekehrt: Am Virginia-Mythos interessiert ihn, wie schon der Brief an Nicolai vom 21. Januar 1758 bezeugt, einzig der Kindesmord durch den Tugendhelden, und zwar nicht als politisch-moralische Tugendprobe, die ohne den durch sie erkämpften Sturz des frauenräuberischen Despoten allerdings sinn- und funktionslos wäre, sondern als Sündenfall, der sich dazu eignet, die aufklärungsresistente Wahrheit des Mythos von der Erbsünde im dramatischen Spiel zur Erscheinung zu bringen.

1.3 Der Skandal Lessing hat mit seiner religiösen Begründung, die er sich für den Selbst- und Kindesmord seiner modernisierten Virginia einfallen lässt, den größten, bis heute andauernden Skandal der deutschen Literaturgeschichte ausgelöst. Die entscheidende Passage hier noch einmal im Wortlaut: Gewalt! Gewalt! Wer kann der Gewalt nicht trotzen? Was Gewalt heißt, ist nichts: Verführung ist die wahre Gewalt – Ich habe Blut, mein Vater; so jugendliches, so warmes Blut, als eine. Auch meine Sinne sind Sinne. Ich stehe für nichts. Ich bin für nichts gut. Ich kenne das Haus der Grimaldi. Es ist das Haus der Freude. Eine Stunde da, unter den Augen meiner Mutter; und es erhob sich so mancher Tumult in meiner Seele, den die strengsten Übungen der Religion kaum in Wochen besänftigen konnten! Der Religion! Und welcher Religion? – Nichts Schlimmers zu vermeiden, sprangen Tausende in die Fluten, und sind Heilige! – Geben Sie mir, mein Vater, geben Sie mir diesen Dolch. (V/7)

Es gibt in der gesamten deutschen Literatur keine zweite Textpassage, die die nichtphilologischen Leser, aber auch die professionellen Exegeten so irritiert und zu einer solchen Unmenge von Kommentaren provoziert hätte wie diese Textpassage. Der Grund liegt auf der Hand: Lessing lässt sich hier einen Verstoß gegen die Grammatik der literarischen und außerliterarischen Mythen-

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bildung einfallen, wie er krasser nicht gedacht werden kann. Das Motiv der Flucht der Jungfrau vor der aggressiven Sexualität frauenräuberischer Machthaber in den Tod gehört zu den zeitlosen Masterplots.4 Seine Varianten lassen sich überall antreffen: in den antiken Mythen so gut wie in Produkten der zeitgenössischen Kulturindustrie (ein aktuelles Beispiel bietet etwa die filmische Abrechnung mit den Praktiken der STASI in Das Leben der Anderen); in den Erfolgstücken des 18. Jahrhunderts (etwa in Voltaires Mahomet) wie in den Machwerken der Nazi-Filmproduktion (vgl. etwa Veit Harlands Jud Süß); in der mittelalterlichen Novellistik wie in Richardsons Clarissa und so fort ad infinitum. Darum wirkt Lessings Verkehrung dieses Motivs in ihr genaues Gegenteil so provokativ, flüchtet doch seine Heldin nicht vor der männlichen Gewalt, sondern in religiös begründeter Sündenfurcht vor der eigenen weiblichen Sexualität in den Tod. Das war und ist unerhört. So ist es durchaus verständlich, dass die Interpreten immer aufs Neue auf die Suche nach Emilias wahren Motiven gegangen sind. Aber wenn sich die Figur eines so kompetenten Philologen und Theologen auf religiöse und literarische Vorbilder beruft, dann lassen sich solche zitathaften Verweise nicht durch Einfühlung in das Gefühlsleben der dargestellten Person, sondern nur durch Philologie aufklären. Wer also sind diese Frauen, auf die Emilia sich beruft, die – um »nichts Schlimmers zu vermeiden« – in ein religiöses Märtyrertum getrieben wurden, das aus einem Selbstmord bestand, der von der katholischen Kirche heilig gesprochen wurde? Und was hat die eine mit der anderen Berufungsinstanz, was also haben die christlichen Heiligen und ihr Märtyrertum mit dem Martyrium der Virginia zu tun? Die Vorstellung, auf die sich Emilia beruft – Tausende von Jungfrauen, die auf der Flucht vor sexueller Verfolgung in die Fluten springen und deshalb heilig gesprochen werden – ist als solche äußerst befremdlich. Wer regelmäßig Kirchen und Museen besucht, der hat zwar Tausende von Märtyrern und Heiligen zu sehen bekommen, denen die ausgesuchtesten Foltern und Qualen zugefügt werden, aber männliche oder weibliche Heilige, deren Martyrium darin bestanden hätte, dass sie auf der Flucht vor ihren Verfolgern »in die Fluten sprangen«, fehlen in den Bildprogrammen der christlichen Ikonographie. Das hat seinen guten Grund. Märtyrer sind Blutzeugen ihres Glaubens, die lieber einen entehrenden Tod erleiden, als ihrem Glauben abzuschwören. Selbstmörder sind nicht darunter. Stattdessen grenzt sich das frühe Christentum durch die entschiedene Verurteilung des Selbstmords von seiner heidnischen Umwelt ab. Die Kirchenväter und Konzilien verbieten, jene als Märtyrer zu ver-

4

Vgl. Hellmuth Petriconi: Die verführte Unschuld. Bemerkungen über ein literarisches Thema. Hamburg 1953. Instruktiv auch die Arbeit der Historikerin Gabriela Signori über den topischen Charakter der einschlägigen Greuelpropaganda in mittelalterlichen Quellen: Frauen, Kinder, Greise und Tyrannen. Geschlecht und Krieg in der Bilderwelt des späten Mittelalters. In: Bilder, Texte, Rituale. Wirklichkeitsbezug und Wirklichkeitskonstruktion politisch-rechtlicher Kommunikationsmedien in Stadt- und Adelsgesellschaften des späten Mittelalters. Zeitschrift für Historische Forschung. Hg. von Klaus Schreiner und Gabriela Signori. Beiheft 24. Berlin 2000, S. 139–164.

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ehren, die durch sich selbst ihr Leben verlieren. Wer sich mit der Dogmengeschichte des Selbstmords beschäftigt, kann auf die Geschichte jener Frau stoßen, die auf der Flucht vor ihren Vergewaltigern in einen Strom gefallen und ertrunken war und der dennoch von Papst Innozenz III. das kirchliche Begräbnis gewährt wurde, weil sie nicht freiwillig den Tod gesucht habe, sondern nur zufällig in den Strom gefallen sei.5 In der christlichen Ikonographie der Tugenden und Laster bilden »patientia« und »ira« ein festes Paar. Die in den einschlägigen Bildprogrammen am häufigsten dargestellte Selbstmörderin ist die personifizierte Ira, die sich im Streit mit der Patientia ersticht, und zwar wird dabei Ira oft durch Lucretia verkörpert, während für die christliche Tugend der Patientia die heilige Crescentia einsteht, an der alle Folterqualen wirkungslos abprallen.6 Wer also die Frömmigkeit der frommen Emilia ernst nimmt, kann nur zu dem Schluss kommen, den Balthasar Ludewig Tralles in seinen Zufälligen altdeutschen und christlichen Betrachtungen über Lessings Nathan (1779) in aller Ausführlichkeit und mit allem Nachdruck (allerdings ohne jedes Echo in der Lessing-Philologie) entwickelt hat, dass nämlich die Tat der Tochter und des Vaters sich schlechterdings »mit der christlichen Religion nicht vereinbaren« lässt.7

1.4 Die falschen Märtyrerinnen des Augustinus Die meisten Kommentatoren haben sich damit beholfen, Emilias weibliche Selbstmörderinnen mit dem Märtyrertum der (männlichen) Heiligen generell gleichzusetzen. In diesem Sinn schreibt Klaus Bohnen in seinem Stellen-Kommentar: »Anspielung auf die christlichen Märtyrer, die für ›nichts geringeres‹ als die Religion in den Tod gingen.«8 Diese Lesart schreibt die Deutung fort, die Benno von Wiese in seinem während des Zweiten Weltkriegs geschriebenen Buch über den Weg der deutschen Tragödie von der Theodizee zum Nihilismus dem Todeswunsch der Emilia gegeben hatte. Emilia sei – so heißt es dort in der Sprache des Dritten Reichs – »von der fanatischen Entschlossenheit einer

5 6 7

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Vgl. Karl August Geiger: Der Selbstmord im Kirchenrecht. In: Archiv für katholisches Kirchenrecht 61 (1889), S. 225–232, hier S. 230. Vgl. Susanne Blöcker: Studien zur Ikonographie der sieben Todsünden in der niederländischen und deutschen Malerei und Graphik von 1450–1560. Münster 1993. Balthasar Ludewig Tralles: Zufällige altdeutsche und christliche Betrachtungen über Hrn. Gotthold Ephraim Lessings neues dramatisches Gedicht Nathan der Weise. Erster Theil. Breslau 1779, S. 27. FA 7, S. 958. Dem Lessing-Leser ist nicht mit der Auskunft gedient, daß die christlichen Märtyrer für ihre Religion starben. Er konsultiert den Kommentar, um Aufklärung über die Frage zu erhalten, wer die Tausende von Märtyrerinnen sein könnten, die auf der Flucht vor sexueller Verfolgung ›in die Fluten sprangen‹ und deshalb als Heilige verehrt werden. Weshalb der Kommentator den seit 1983 in der Emilia-Literatur kursierenden Hinweis auf Augustinus als Lessings Quelle ignoriert und sich statt dessen an dieser zentralen Stelle mit einer leeren Tautologie begnügt, bleibt unerfindlich.

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Heiligen erfüllt, die sich jedem irdischen Zwang entzieht«.9 Bei Gerhard vom Hofe taucht dann zum ersten Mal der Hinweis auf Augustinus als Lessings Quelle auf,10 den sich eine ganze Reihe von Interpreten zu eigen gemacht haben. So stützt etwa Horst Steinmetz seine Lesart, nach der Lessing Emilias »Freitod« durch das »Vorbild mittelalterlicher christlicher Heiliger und Märtyrer« legitimiert habe, auf das Augustinus-Zitat.11 Nun hat sich Lessing jedoch sowohl in seinen theologischen wie in seinen poetologischen Schriften durchgängig höchst abfällig über das christliche Märtyrertum geäußert. In der Rettung des Cardanus etwa lobt er Cardan dafür, dass er bei seinen Beweisen für die Wahrheit des Christentums nichts weggelassen habe, als das, was ich wünschte, daß man es immer weggelassen hätte. Das Blut der Märtyrer nämlich, welches ein sehr zweideutiges Ding ist. Er war in ihrer Geschichte, ohne Zweifel allzuwohl bewandert, als daß er nicht sehr viele unter ihnen bemerken sollte, die eher Toren und Rasende genannt zu werden verdienen, als Blutzeugen. Auch kannte er ohne Zweifel das menschliche Herz zu gut, als daß er nicht wissen sollte, eine geliebte Grille könne es eben so weit bringen, als die Wahrheit in allem ihren Glanze.12

In demselben Sinn und mit derselben Schärfe der Formulierung unterscheidet er in seinem Entwurf zu einer Abhandlung Über die Elpistiker zwischen den »wahren Bekennern« des christlichen Glaubens, die sich nicht »zur Verleugnung der erkannten Wahrheit zwingen« lassen wollten, und den »viel[en] falsche[n] Märtyrer[n]« im frühen Christentum, »die für nichts besser als für Selbstmörder zu halten sind«, weil sie ihr gegenwärtiges Leben in »der Hoffnung eines ewigen und bessern Lebens« wegwarfen, und dadurch die Hoffnung auf ein ewiges Leben zur »Zerstörerin dieses [gegenwärtigen] Lebens« machten.13 Die dramaturgischen Konsequenzen aus dieser Position zieht er am Anfang der Hamburgischen Dramaturgie, wo es ihm in programmatischer Absicht um die Klärung des Verhältnisses zwischen Theater und Kirche einerseits und 9 10

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Benno von Wiese: Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel. Hamburg 61964 (zuerst 1948), S. 38. »Der selbstgewählte Tod als Rettung vor der Sünde dieser Welt wird erst als Motiv einer eschatologisch-christlichen Ethik – wie sie von den Heiligen gelebt wird – begreiflich. Emilia beruft hier in der Tat die ›richtungweisende Vorbildlichkeit religiöser Helden‹ (Benno von Wiese); ja sie zitiert die Tradition der Heiligenlegenden und stellt sich in den Kreis der christlichen Heiligen und Märtyrer, die um des ewigen Lebens willen ihr Leben opfern. Der Vergleich mit den Tausenden, welche in die Fluten sprangen, kann sogar als literarisch vermitteltes Zitat nachgewiesen werden.« Gerhard vom Hofe: Die »heiligen Charaktere« im bürgerlichen Trauerspiel. Zum Problem der poetischen Theodizee bei Lessing. In: Euphorion 77 (1983), S. 380–394, hier S. 393. Horst Steinmetz: Emilia Galotti. In: Interpretationen. Lessings Dramen. Stuttgart 1987 (RUB 8411), S. 87–137, hier S. 127 und 131. Es versteht sich, daß er sich dabei durchgängig und ganz selbstverständlich auf die Intention des Autors bezieht, deren prinzipielle Unerkennbarkeit er gleichzeitig als Argument anführt, um meine Kritik an seiner Emilia-Deutung abzuwehren (vgl. Anm. 1). FA 3, S. 210. FA 5/1, S. 409f.

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dramatischer Poesie und Religion andererseits zu tun ist. Eine christliche Tragödie, so seine These, in welcher »einzig der Christ als Christ [also nicht als Mensch] uns interessieret«, sei bislang trotz all der Märtyrerdramen nicht geschrieben worden und sei auch nicht wirklich möglich. Die Begründung liefert die rhetorische Frage: »Widerspricht nicht etwa seine Erwartung einer belohnenden Glückseligkeit nach diesem Leben der Uneigennützigkeit, mit welcher wir alle große und gute Handlungen auf der Bühne unternommen und vollzogen zu sehen wünschen?« (2. Stück). Wer sein Leben für andere einsetzt, dem können wir unsere Achtung nicht versagen. Die Helden der Märtyrerdramen jedoch, die ihr Leben opfern, um in den Himmel ihres fundamentalistischen Glaubens einzugehen, von deren Märtyrertum sind wir eher peinlich berührt – so Lessings äußerst offensive Verteidigung der (eigenen) Bühne als der besseren Kanzel. Bereits in seiner Plautus-Abhandlung hatte der junge Autor mit aller Entschiedenheit darauf insistiert, dass nur diejenige Dramatik ihrem religiösen und ästhetischen Bildungsauftrag gerecht wird, die dem Zuschauer die Erfahrung mit- und nachvollziehbar macht, dass es möglich ist, sein Glück darin zu finden, das Gute zu tun, weil es das Gute ist, und nicht etwa darum, weil die Unterwerfung unter den »despotischen Willen« einer Gottheit mit »willkürlichen Belohnungen« verbunden ist.14 Gerhard vom Hofe erkennt denn auch einen eklatanten Widerspruch zwischen der Emilia und der Hamburgischen Dramaturgie. Der Rückgriff auf die »christlich-barocken Heiligen- und Märtyrerdramen«, so vermutet er, sei Lessing »wahrscheinlich sogar wider Willen«15 unterlaufen. Mit Benno von Wiese deutet er diesen einigermaßen monströsen Selbstwiderspruch als Indiz für das beginnende Einbrechen des Tragischen in das »harmonische Weltbild der Aufklärung«.16 In Wahrheit widerspricht Lessing hier nicht sich selbst, sondern den Erwartungen der Interpreten, die hier das getan haben, was auch jeder Leser ganz selbstverständlich zu tun geneigt ist: sie haben die Figuren, die als Sympathie-Träger fungieren, mit dem Autor identifiziert. Das führt in diesem Fall zu einer ganz grundsätzlichen Verkennung des Gestaltungsziels dieses Autors. Angesichts der hier noch immer waltenden Unklarheiten kann man nicht nachdrücklich genug betonen, dass sein Ziel nicht in der Wiederholung der konventionellen Tugendprobe in moderner Kostümierung besteht, sondern in ihrer Verwandlung in einen Sündenfall auch und gerade der frommen Tugendhelden. Dazu braucht Lessing jenen Widerspruch, in den die Figuren mit sich selbst geraten, den ich einleitend den »Lessing-Code« genannt habe, weil es sich um eine nur ihm eigene Technik der Figurenrede handelt.

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FA 1, S. 748f. Die Plautus-Abhandlung ist mit ihrer Theologie des Lachens ein eminenter Text, der den Ursprung von Lessings Poetik aus seiner Theologiekritik und Religionsphilosophie bezeugt und zugleich dokumentiert, dass seine Poetik von allem Anfang an auf den Grundbestimmungen seiner »Erziehung des Menschengeschlechts« (§ 80–85) gründet. vom Hofe (s. Anm. 10), S. 393. von Wiese (s. Anm. 9), S. 39.

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Die falsche Identifikation der Figur mit dem Autor hat die Interpreten in diesem Fall noch zu einem weiteren handfesten philologischen Kunstfehler verführt: Bei der Verifikation des Augustinus-Zitats haben sie es an der nötigen philologischen Sorgfalt fehlen lassen und das Stille-Post-Spiel eines QuellenHinweises vom Hörensagen gespielt. Wie Monika Fick nachgewiesen hat,17 wurde das Zitat dabei in sein Gegenteil verkehrt. An einer Stelle, die prominenter nicht sein könnte, nämlich im ersten Buch seines De Civitate Dei diskutiert Augustinus die Frage, ob ein Selbstmord aus Furcht vor Vergewaltigung legitim sein kann. Gibt es nicht im Bereich der Sexualität Fälle, in denen der Selbstmord der Frauen erlaubt oder gar geboten sein könne, damit sie nicht gezwungen werden, zu »leiden, was man nicht sollte«, und zu »dulden, was man nicht dürfte«, wie Emilia behauptet? Die Antwort ist negativ. Die Stimme der offenbaren Wahrheit (»veritas manifesta«) nennt es Widersinn, wenn jemand sagen würde: »Wir wollen lieber schon jetzt sündigen, um nicht vielleicht nachher zu sündigen; wir wollen schon jetzt einen Mord begehen, damit wir nicht vielleicht später in einen Ehebruch fallen«.18 In diesem Kontext zitiert Augustinus die Behauptung, auf die sich Emilia beruft, und zwar nicht als Faktum, sondern als Gerücht:

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Monika Fick: Verworrene Perzeptionen. Lessings »Emilia Galotti«. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 37 (1993), S. 139–163, hier S. 141f. Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt haben die Entdeckung des Augustinus-Zitats bereichert durch den Hinweis auf die Diskussion der Kritik des Augustinus an den Ehrenmorden des LucretiaTyps im Lucretia-Artikel des Bayleschen Wörterbuchs und auf die ergänzende Fußnote »Widerlegung des Dilemma vom heil. Augustin« in Gottscheds Übersetzung (Herrn Peter Baylens Historisches und Critisches Wörterbuch. Dritter Theil. Leipzig 1743, S. 207 [a]. Beide Dokumente belegen, wie präsent die von Lessing herbeizitierte Kritik an den antiken Ehrenmorden des Lucretia- und Virginiatyps in der zeitgenössischen Diskussion war. Vgl. Sinn und Unsinn literaturwissenschaftlicher Innovation (s. Anm. 1), S. 66–68. Buch I, Kap. 25. Zitate nach: Aurelius Augustinus’ Werke. Hg. von Carl Johann Perl. Bd. 19: Der Gottesstaat. De Civitate Dei. Paderborn 1979, hier S. 57. Eine umfassende Darstellung der Unterscheidung zwischen Selbstmord und Martyrium bei Augustinus in: Dagmar Hofmann: Suizid in der Spätantike. Seine Bewertung in der spätlateinischen Literatur. Stuttgart 2007. Selbst Ambrosius, der eloquenteste Vertreter der Sakralisierung der Virginität, spricht erstens selbstverständlich niemals von einem Selbstmord einer Christin auf der Flucht vor sexueller Verfolgung durch einen anderen Christen, sondern immer nur von sexueller Verfolgung im Rahmen der Christen-Verfolgung, durch die z. B. christliche Jungfrauen durch die Drohung, sie zur Prostitution zu zwingen, zum Abfall vom Glauben gebracht werden sollten, und leitet seine Darstellung des Martyriums der Pelagia und ihrer Gefährtinnen, das allenfalls als Beispiel für einen Freitod auf der Flucht vor der Vergewaltigung durch ihre heidnischen Verfolger gelten könnte, mit der kasuistischen Frage ein, »was von den Verdiensten derer zu halten ist, die sich von der Höhe herabgestürzt haben oder in die Strömung eingetaucht sind, um nicht in die Hände der Verfolger zu fallen, da doch die göttliche Schrift einen Christen daran hindert, sich selbst Gewalt anzutun.« (Ambrosius: De Virginibus. lateinisch-deutsch. Übersetzt und eingeleitet von Peter Dückers. Fontes Christiani. Bd. 81. Turnhout 2009, S. 325). Einen »Selbstmord aus heidnischem Ehrgefühl«, wie ihn Emilia begeht, wenn sie unter Berufung auf das Vorbild der Virginia vor der »Schande« in den Tod flieht, lehnt auch er ab. (Vgl. ebd., S. 325, Anm. 514).

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Aber manche heilige Frauen, sagt man, hätten sich in der Verfolgungszeit, um den Nachstellern ihrer Keuschheit zu entgehen, in die Todesfluten des reißenden Stromes gestürzt und so ihr Leben gelassen. Und ihre Martyrien würden in der katholischen Kirche verehrt und feierlichst begangen.19

Zwar lasse sich der Fall nicht grundsätzlich ausschließen, so lautet das GegenArgument des Augustinus, dass es Frauen gegeben habe, die »nicht aus menschlicher Täuschung [humanitas deceptae], sondern unter göttlichem Befehl [divinitus iussae], nicht als Irrende, sondern als Gehorchende [nec errantes, sed oboedientes]« gehandelt haben. »Aber deshalb handelt der oder jener nicht ohne Frevel, der sich entschließt, Gott seinen Sohn zu opfern, nur weil das Abraham auch getan hat und dafür gelobt wird.«20 Bereits Augustinus stellt also die Verbindung zwischen den Motiven Selbst- und Kindesmord her, um die es auch in der Emilia geht. Unter den Beispielen, die Augustinus anführt, um die Absurdität eines Selbstmords aus Furcht vor Sünde zu demonstrieren, gehört auch die Furcht der Frauen vor dem Leben unter einem barbarischen und schamlosen Machthaber: Was gehört für eine Stirn dazu, einem Menschen zu sagen: ›Töte dich, damit du deinen geringen Sünden nicht eine schwerere hinzufügst, wenn du unter einem unkeuschen Herrn mit barbarischen Sitten weiterleben mußt‹.21

Wer dergleichen tut oder sagt, der ist »nicht töricht, sondern irrsinnig« zu nennen (»non dico desipit, sed insanit«).22 Diese Beweisführung sei zwar – so Augustinus – zwingend, aber dennoch werde ihr das Beispiel der Lucretia entgegengehalten. Zu Unrecht, denn in Wahrheit hatte ihre Tat nichts mit Moral oder Frömmigkeit zu tun, sondern war ein reiner Ehrenmord, der die Täterin vor Schande bewahren sollte: Sie schämte sich einer fremden Schandtat, die an ihr, wenn auch nicht mit ihr begangen worden war. Und als Römerin begierig nach Ruhm, hatte sie nur eine Angst, man könnte glauben, sie hätte das, was sie gewaltsam erlitten, als sie lebte, gerne erlitten, wenn sie am Leben bliebe. […] So haben die christlichen Frauen nicht gehandelt, die ähnliches durchgemacht haben und weiter leben. Sie haben die fremde Untat nicht an sich selbst gesühnt, um den Freveln der anderen nicht auch noch eigene hinzuzufügen, wenn sie […] nun an sich selbst aus Scham Selbstmord begingen.23

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Augustinus (s. Anm. 18), Kap. 26, S. 57. Ebd., Kap. 26, S. 57. Ebd., Kap. 27, S. 61. Ebd., Kap. 27, S. 61. Ebd., Kap. 19, S. 43f. Eine veritable Verballhornung der Argumentation des Augustinus findet sich im Stellen-Kommentar der Emilia-Ausgabe der Suhrkamp BasisBibliothek (s. Anm. 1), S. 169. »Er [Augustinus] entdeckt im Selbstmord der Frau (sein Beispiel ist Lukretia) das Eingeständnis der ›Mitschuld‹, d. h. der schamerregenden Lustempfindung. Der Selbstmord sei kein Ausweg, sondern vergrößere die Schuld, die nur im Leben abgebüßt werden könne.« In der ganzen weiten Welt moralischer und sozialer Konflikte gibt es doch gewiss keine größere ›perversitas‹ als die Unterstellung, im Falle der Vergewaltigung begründe eine »unfreiwillige Lustempfindung« eine »Mitschuld« des Opfers, »die nur im Leben abgebüßt werden könne«. Man kann Augustinus gewiß manches vorwerfen, aber dieser Aberwitz geht nicht zu seinen Lasten. Vielmehr begründet er in aller Aus-

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Das also ist der Kontext, den Lessing dort herbeizitiert, wo sich Vater und Tochter dazu entschließen, den Selbst- und Kindesmord der Virginia nachzuspielen. Lessing hat mit seiner Emilia nicht versehentlich und gleichsam hinter seinem eigenen Rücken ein »christlich-barockes Heiligen- und Märtyrerdrama« geschrieben, sondern er verfasst – wie Monika Fick formuliert – »eine Kontrafaktur zur Märtyrertragödie«,24 die von den Lessing-Philologen die längste Zeit nicht als solche erkannt und mit einer misslungenen Verwandlung eines römisch-politischen Märtyrerdramas in ein christlich-religiöses Märtyrerdrama verwechselt worden ist. Im Grunde bestätigt das Augustinus-Zitat nur das, was der aufmerksame Leser auch ohne diesen Hinweis erkennen kann, dass nämlich Emilia das Ethos des ›Leidens‹ und ›Duldens‹, mit dem die christlichen Märtyrer die Nachfolge der Passion Christi antreten, ausdrücklich von sich abweist und damit die Begeisterung ihres Vaters gewinnt: ODOARDO Ich meine, du bist ruhig, mein Kind. EMILIA Das bin ich. Aber was nennen Sie ruhig sein? Die Hände in den Schoß legen? Leiden, was man nicht sollte? Dulden, was man nicht dürfte? ODOARDO Ha! Wenn du so denkest! – Laß dich umarmen, meine Tochter! (V/7)

Was darf eine Christin nicht »leiden« und nicht »dulden«? In seiner Antikritik der Hofkritik Guevaras hatte Lessing geschrieben: »Schwachheiten und Laster zu entfliehen, muß man nicht den Hof, sondern die Welt verlassen.«25 Das ist die Kurzfassung des Plots der Emilia. Wenn Vater und Tochter zu einer solchen Flucht aus der Welt entschlossen sind und dabei vor selbstzerstörerischer Gewalt nicht zurückschrecken, dann verstoßen sie damit gegen eben das christliche Ethos, auf das sie sich dabei berufen.

1.5 Der Ehrenmord der Virginia Das Augustinus-Zitat, mit dem Emilia ihre paradoxe Berufung auf ein Märtyrertum legitimiert, das darin besteht, »nicht leiden« und »nicht dulden« zu wollen, leitet ihre Berufung auf den Virginia-Mythos ein, um dessen Modernisierung es dem Dramatiker zu tun ist: EMILIA Ehedem wohl gab es einen Vater, der, seine Tochter vor der Schande zu retten, ihr den ersten, den besten Stahl in das Herz senkte – ihr zum zweiten Mal das Leben gab. Aber alle solche Taten sind von ehedem! Solcher Väter gibt es keinen mehr! ODOARDO Doch, meine Tochter doch! (Indem er sie durchsticht.) – Gott, was hab ich getan! (V/7)

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führlichkeit, daß eine unwillkürliche Lustempfindung, der der »consensus« fehlt, die also nicht als solche gewollt wird, die Keuschheit der Seele nicht beeinträchtigen kann und keine Sünde ist. Eine genaue Analyse der Argumentation des Augustinus findet sich in: Christian Tornau: Zwischen Rhetorik und Philosophie. Augustins Argumentationstechnik und ihr bildungsgeschichtlicher Hintergrund. Berlin 2006, S. 184ff. Monika Fick: Lessing-Handbuch. Stuttgart 22004, S. 338f. FA 2, S. 179.

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Unter dem Gesichtspunkt der Nachvollziehbarkeit auf der Ebene der Figurenpsychologie und Mitleidspoetik ist eine solche Demonstration gelehrter Belesenheit im Augenblick des Tötens und Sterbens selbstverständlich dysfunktional. Die Interpreten haben sich denn auch weidlich darüber mokiert, dass hier der fatale Dolchstoß als Widerlegung in einem argumentativen Dialog, gewissermaßen im Gestus der Rechthaberei, vollzogen wird. Umso deutlicher lässt sich daran ablesen, wie wichtig es Lessing ist, den denkenden Leser mit Hilfe solcher expliziten Zitate auf die Konzeption hinzuweisen, die seinen Plotkonstruktionen zugrunde liegt. Alle Stücke Lessings sind doppelt adressiert: an den Zuschauer, der das Erleben und Erleiden der Figuren miterlebend nachvollziehen können soll, und an den denkenden Leser, dem der Autor sein Gestaltungsziel begreiflich zu machen sucht.26 Wenn Marwood die antike Medea, Philotas den sophokleischen Aias, Minna gleichzeitig den Moor von Venedig und den Misanthropen Molières und Emilia sowohl die Virginia des Livius wie die falschen Märtyrerinnen des Augustinus herbeizitiert, dann legt Lessing damit für den an konzeptionellen Fragen interessierten Leser gewissermaßen seine Karten offen. Mit dem Virginia-Plot nimmt sich Lessing eine Kampfhandlung zum Vorwurf, in der die Verfügungsgewalt der Männer über eine Frau auf dem Spiel steht und in Gestalt des Sieges der einen über die andere Partei entschieden wird. Diese Kampfhandlung wird dadurch als Kampf zwischen Tugend und Laster ausgewiesen, dass auf der einen Seite ein Machthaber steht, der sich durch abscheuliche Untaten und vor allem durch das Motiv der sexuellen Gier optimal zur Erzeugung kollektiver moralischer Entrüstung eignet, während die Gegenseite ihre Tugendhaftigkeit durch die Bereitschaft unter Beweis stellt, im Kampf gegen das Laster zu töten und zu sterben. Und zwar wird diese Bereitschaft durch den väterlichen Kindesmord bezeugt, mit dem der Täter die Ehre der Sippe rettet und zugleich die kollektive Rache am Machthaber mobilisiert – darin liegt der Grund für die Erfolgsträchtigkeit dieser sensationellen Geschichte. Die Virginia- und Lucretia-Geschichten erzählen also von Sexualität und Gewalt, genauer von männlicher Gewalt gegen Frauen, erstens in der Form der Vergewaltigung, zweitens in der Form der tödlichen Gewalt, die die Frauen zur Rettung ihrer Ehre gegen sich selbst richten, und drittens in der Form der tödlichen Gewalt, die der Vater zur Rettung der Ehre der Sippe an 26

Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht, was Lessing und Mendelssohn aus Anlass der ›Sara‹ über das Verhältnis von Text, Lektüre und Aufführung verhandeln. Mendelssohn hatte behauptet, die ›Sara‹ enthalte »indeklamable Stellen« und erläutert auf Lessings Rückfragen, es seien die, »in welchen ich Sie als Weltweisen am meisten bewundere; solche, die mir für die Schaubühne allzuphilosophisch scheinen […] Ja, die vortrefflichsten Gedanken entwischen dem Zuhörer unvermerkt, die den Leser am meisten vergnügt haben.« (FA 11/1, S. 231ff., Brief vom 11. August 1757). Lessing verteidigt diese Dimension seines Textes mit dem Hinweis auf den epochalen Medienwandel, der den gedruckten Dramen-Text zum Libretto nicht nur für das Theater, sondern zunächst und zumeist für die Bewusstseinsbühne des Lesers hatte werden lassen. Er werde die philosophischen Passagen nicht streichen, nämlich »so lange nicht, als noch immer mehr Leute Trauerspiele lesen, als vorstellen sehen.« (FA 11/1, S. 236ff., Brief vom 18. August 1757).

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seinem eigenen weiblichen Kind exekutiert. Zwar ist die Gewalt der Männer gegen die Frauen bei Livius eingebettet in den gewaltsam ausgetragenen Kampf der Männer um die politische Macht, aber das ist ein aitiologischer Mythos ohne historisch-politischen Realitätsgehalt.27 Von Hause aus haben der Mord an Virginia und der Selbstmord der »matrona« Lucretia weder etwas mit Moral noch mit Politik zu tun. Es handelt sich vielmehr um klassische Exempel für die Ehrenmorde der mediterranen »honour-and-shame-societies«,28 die im Zuge der 27

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»Die bekannte Fabel richtet größtenteils sich selbst.« Mit diesem einen Satz geht Theodor Mommsen über die Lucretia-Geschichte hinweg (Römische Geschichte. Bd. 1. München 1976, Zweites Buch, 1. Kap., S. 259). Analog der Hinweis auf die »romantischen Abenteuerlichkeiten und politischen Unbegreiflichkeiten« des Virginia-Mythos (S. 298). Auch bei Livius selbst ist keineswegs Virginius der Vertreter der politischen Vernunft, sondern sein Opponent im Prozess gegen Appius Claudius, der hochbetagte Oheim des Appius aus dem Geschlecht der Claudier, der die Verbrechen seines Neffen Appius ebenso entschieden verurteilt wie Virginius, aber dennoch vor den Folgen der »ira« und des »odium« warnt und für die Wiederherstellung der »concordia« zwischen den zerstrittenen Parteien wirbt (Livius, Römische Geschichte, 3. Buch, Kap. 58). Reiches Anschauungsmaterial zu den projektiven Zügen dieses Typs poetisch-politischer Mythenbildung enthalten auch die in Anm. 4 genannten Arbeiten von Petriconi und Signori. Angesichts dieser Befunde sollte es sich eigentlich verbieten, Lessings Auflösung der pseudo-politischen Verbindung der Verfassungsgeschichte Roms mit diesen Mythen als »Entpolitisierung« zu qualifizieren. Lessing entmythologisiert einen politischen Mythos und praktiziert damit – genau wie im »Philotas« – politische Aufklärung. Vgl. Gisbert Ter-Nedden: »Philotas« und »Aias« oder Der Kriegsheld im Gefangenendilemma. Lessings Sophokles-Modernisierung und ihre Lektüre durch Gleim, Bodmer und die Germanistik. In: »Krieg ist mein Lied«. Der Siebenjährige Krieg in den zeitgenössischen Medien. Hg. von Wolfgang Adam und Holger Dainat. Göttingen 2007, S. 317–378. Vgl. z.B. Werner Schiffauer: Die Gewalt der Ehre. Erklärungen zu einem türkisch-deutschen Sexualkonflikt. Frankfurt am Main 1983. Bei Livius wird dieses Ethos mit aller Prägnanz programmatisch ausgesprochen. Virginius begründet mit dem blutigen Dolch in der Hand in seiner großen Rechtfertigungsrede vor dem Heer seine Tat mit dem Argument, es sei besser, »seine Kinder durch den Tod als durch die Schande zu verlieren« (Livius 3, 50, 6: »morte amitti melius ratum quam contumelia liberos«). Und auch die Lucretia des Livius weiß ihre Tat mit einer Kasuistik zu begründen, die sich auf dieselbe Unterscheidung zwischen Schande und Schuld beruft, aus der Augustinus die entgegengesetzte Konsequenz zieht: Zwar könne nur der Geist, nicht der Leib sündigen (»mentem peccare, non corpus«), und wo keine Absicht (»consilium«), dort auch keine Schuld (»culpa«). Aber auch wenn sie sich von der Schuld freispricht (»peccato absolvo«), kann sie sich nicht von der Todesstrafe dispensieren (»supplicio non libero«), weil sie durch die Schändung ihre »weibliche Ehrbarkeit« (»mulieri amissa pudicitia«) verloren habe (Livius 1, 58, 6–10). Auch Emilia macht von dieser Unterscheidung Gebrauch: Sie fühlt sich mit dem Laster mitschuldig, obwohl sie ihrer Mutter bestätigt, dass sie weder gesündigt hat noch hat »sündigen wollen«: »Nein, meine Mutter, so tief ließ mich die Gnade nicht sinken. – Aber, daß fremdes Laster uns wider unsern Willen zu Mitschuldigen machen kann!« (II/6). Damit nimmt sie die Verwechselung vorweg, die Claudia von ihrem Mann kennt: »In seinem Zorne hätt’ er den unschuldigen Gegenstand des Verbrechens mit dem Verbrecher verwechselt.« (II/6) Eben das macht ihn im Finale zu einem zweiten Virginius. Ausdrücklich bekennt sich auch Odoardo zu der Maxime, es sei besser, sein Kind durch den Tod als durch die Schande zu verlieren: Als ihm Orsina suggeriert, seine Tochter sei »schlimmer als tot«, lautet die Replik: »Schlimmer als tot? […] ich kenne nur ein Schlimmeres –« (IV/7), und das ist, wie das Finale zeigt, die »Schande«, vor der er sich und Emilia retten zu müssen meint.

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Globalisierung inzwischen auch die westeuropäischen Großstädte erreicht haben und zu unserem Medien-Alltag gehören. Was folgt aus diesen Befunden für Lessings Konzept einer VirginiaModernisierung? Nichts Geringeres, als dass am Ursprung seiner Auseinandersetzung mit dem Virginia-Stoff die Kritik steht. Immer schon ist den LessingLesern aufgefallen, dass seine Produktionen durchgängig einem kritischen und polemischen Impuls ihren Ursprung verdanken. Das gilt nicht nur für seine historisch-philologischen Feldzüge und seine Theologiekritik, sondern ganz ebenso für seine Dramatik. Auch hier braucht er, um produktiv zu werden, einen Gegner, der ihn zum Widerspruch reizt, und findet ihn in den konventionellen Formen der Aneignung des religiösen und profanen Erbes der Antike. Alle seine Dramen und Dramen-Projekte sind Modernisierungen antiker Vorlagen, und immer geht es dabei um die exemplarische Demonstration ›wahrer Nachahmung‹, nämlich einer Aneignung des Erbes, das die Frage nach dem Grund seiner fortdauernden Verbindlichkeit ernst nimmt, in polemischer Abgrenzung gegen die konventionellen Formen der Traditionsbildung. Mit der Virginia-Geschichte wählt er sich einen Stoff zum Vorwurf, der in hohem Maß geeignet war, ihn zu einer solchen traditionskritischen Revision der Konvention herauszufordern, war doch die Livius-Erzählung im Prozess der poetischpolitischen Traditionsbildung zu einen prominenten Masterplot der politischen Dramatik kanonisiert worden, in dem die Opferung des weiblichen Kindes durch den eigenen Vater auf dem Altar des Vaterlandes als politisch-moralische Heldentat heilig gesprochen wurde. Es ist diese Verfeierlichung eines klassischen Ehrenmords, der als solcher nichts mit Moral, Religion oder sozialer bzw. politischer Freiheit zu tun hat, in eine politisch-moralische und religiöse Tugendprobe durch das christliche Europa, die seinen Widerspruch herausfordert und ihn zu seiner Alternativ-Version inspiriert, in der sich die konventionelle Heldentat in einen exemplarischen Sündenfall verwandelt. Angesichts der betrüblichen Tatsache, dass dieser Masterplot politischer Trivialliteratur in den Emilia-Interpretationen noch immer als Maß für politische Progressivität fungiert, an dem Lessings Version gemessen und als politisches Versagen wahrgenommen wird, sei noch einmal betont: Eine Darstellung politisch-sozialer Konflikte, bei der der Repräsentant der einen Partei als sexuell getriebener Unmensch wahrgenommen wird, durch dessen soziale und physische Liquidierung die Konfliktlösung zustande kommt, erkämpft durch die Bereitschaft des Tugendhelden der Gegenpartei, über Leichen zu gehen, und sei es über die des eigenen Kindes – eine solche Form poetisch-politischer Mythenbildung gehört in das Reich politischer Greuelpropaganda. Aus solchen Geschichten sprechen nicht Freiheitsliebe und politische Vernunft, sondern einzig und allein Gewaltphantasien und politische Dummheit. Die literarischen Varianten dieser politisch motivierten Ehrenmorde gehören in das leider nur allzu umfangreiche Gebiet politischer Gewalt-Pornographie.29

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Es mag genügen, an zwei besonders bestialische Exemplare dieser Gattung zu erinnern, die beide von ihren Autoren als Überbietung der »Emilia« gedacht waren. Das eine hat sich

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Das Motiv des Kindesmords zieht sich als roter Faden durch Lessings ganzes dramaturgisches und dramatisches Werk – von seiner Analyse des Hercules furens in der Seneca-Abhandlung und seiner Analyse der Captivi des Plautus angefangen, deren Modernisierung er sich vornimmt und mit seinen späteren Dramen indirekt einlöst. In allen Fällen dienen ihm diese Geschichten als Anschauungsmaterial für menschliche Verirrungen und Verblendungen. Und dennoch wird der Lessing-Leser in den Handreichungen selbst ausgewiesener Lessing-Experten noch immer darüber belehrt, dass der Tochtermord an Emilia von ihrem Autor durch Berufung auf das Vorbild der Virginia legitimiert werden solle. So schreibt etwa Wolfgang Albrecht: Sich den Zwängen zu entziehen, indem der Vater – unbeeinflußt von Orsina, wennschon mit ihrem Dolch – die Tochter tötet, ist unter den gegebenen Umständen die einzige Möglichkeit, Emilias menschliche Integrität zu bewahren. […] Das Notwendige der Tötung in der bestehenden Zwangssituation soll offenkundig mit Emilias Bezug auf den Römer Virginius und dessen Tochter Virginia bestärkt werden.30

Die Behauptung, durch den Kindesmord werde »Emilias menschliche Integrität« bewahrt, gehört zu den Interpretationen, in denen sich die Unverständlichkeit eines Textes unmittelbar in unverständlichen Aussagen über ihn abbildet. Man würde dem Autor gewiss Unrecht tun, wenn man ihm unterstellen wollte, er selbst sei der Meinung, durch die Tötung eines Menschen lasse sich seine »menschliche Integrität« bewahren; und ebenso wenig will er sagen, dass Lessing sich damit beschäftigt, dergleichen auf dem Theater vorzustellen. Er paraphrasiert vielmehr das, was Emilias Selbstaussage über ihre Verführbarkeit auf den ersten Blick zu verstehen zu geben scheint, und kommt in der Konsequenz dieser Paraphrase und auf den Spuren der bereits zitierten, von Benno von Wiese populär gemachten Deutung zu der These, Lessing habe sich hier in eklatante Widersprüche verwickelt und, gleichsam aus Versehen, seine Figuren in eine Situation hineinmanövriert, in der sie ihre Tugend und Frömmigkeit nur noch durch ein unmenschliches und gottloses Verbrechen bewahren können. Im Klartext besagen diese Lesarten nichts anderes, als dass Lessing einen Text geschrieben hat, der seinen Interpreten unverständlich

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Friedrich Maximilian Klinger mit seiner Tragödie »Aristodymos« (1787) zuschulden kommen lassen. Hier exekutieren Vater und Tochter nicht nur das obligate vom Orakel zum Zweck der Rettung des Staates befohlene Kindesopfer; die besondere Pointe liegt hier darin, dass die Tochter gegen ihren Willen von ihrer Mutter und ihrem Verlobten durch die Notlüge gerettet werden soll, sie sei bereits schwanger, woraufhin ihr Vater sie nicht nur tötet, sondern ihre Gebärmutter herausschneidet, um ihre Jungfräulichkeit zu demonstrieren. Diese Scheußlichkeit also, auf die sich in Lessings »Kleonnis« die Qualifikation des Heldenvaters als »der kalte Mörder seiner Tochter« (FA 4, S. 48) bezieht, zelebriert Klinger auf seiner Bühne in einer Sprache, die durch Reminiszenzen an »Emilia« und Goethes »Iphigenie« geprägt ist, als Heldentat. Das andere Beispiel hat Kleist mit der Hally-Episode seiner »Hermannsschlacht« geliefert: Die von einem Römer geschändete Jungfrau wird von ihrem Vater zur Tilgung ihrer Schande getötet und – nach dem Vorbild der einschlägigen Episode im Alten Testament (Ri 19,22) – in 15 Teile zerstückelt, die den germanischen Stämmen zur Stimulierung ihrer Kampfbereitschaft zugeschickt werden. Wolfgang Albrecht: Gotthold Ephraim Lessing. Zur Einführung. Stuttgart 1997, S. 78.

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geblieben ist. Das Scheitern der Interpreten bekommt dann durch die Behauptung, hier sei nicht nur Lessing, sondern die Aufklärung gescheitert, die höheren literarhistorischen Weihen. Diesen Lesarten ist entschieden zu widersprechen. Lessing schreibt kein Virginia-Drama, sondern eine Kontrafaktur zu den konventionellen VirginiaDramen, so wie er eine Kontrafaktur zu den konventionellen Märtyrertragödien schreibt. Einen Kindesmord, durch den die »menschliche Integrität« des Kindes gerettet wird, gibt es nicht, schon gar nicht im Denken und Dichten Lessings. Emilias Herbeizitieren der Kritik des Augustinus an den römischen Ehrenmorden hat die Funktion, dem gebildeten Leser die authentische theologische Begründung für die Kritik an jenem Typ von Tugendproben in Erinnerung zu rufen, die die konventionellen Bewährungstragödien so unkritisch vorführen. Tatsächlich nennt Emilia, diese Kunstfigur des kompetentesten Philologen unter den deutschen Dramatikern, das authentische Motiv der Livius-Vorlage korrekt beim Namen: es ist die »Schande« – und eben nicht die »menschliche Integrität« –, um derentwillen der Kindesmord geschieht. Ehrenmorde des Lucretia- und Virginia-Typs lassen sich nicht religiös oder moralisch legitimieren, so wenig wie die Duell-Forderung, zu der der Graf Appiani – ein »Mann voller Ehre«, wie der Prinz zu rühmen weiß (I/6) – den Marchese Marinelli zwingt, religiös oder moralisch legitimiert oder motiviert ist. Und zwar ist es die Schande, die Odoardo von sich selbst – und nicht etwa von seiner Tochter – abzuwenden sucht: »Das gerade wäre der Ort, wo ich [!] am tödlichsten zu verwunden bin!« (II/4), so heißt es mit Nachdruck bereits in der Exposition.

1.6 »Verführung ist die wahre Gewalt« Worin liegt der Grund für die Konfusion, die Lessing in den Köpfen seiner Leser und Interpreten angerichtet hat? So lautet unsere eigentliche Frage. Warum ist es den Philologen so unendlich schwer gefallen, den verehrten Intellektuellen, dessen Scharfsinn, kritische Kompetenz und Klarheit sie so einhellig bewundert haben, in seinem Drama wieder zu finden, so dass sie sich in ihrer Not nicht anders zu helfen wussten, als diesem »Erzvater alles klugen und wachen Dichtertums« (Thomas Mann) die absurdesten und dümmsten Widersprüche zu unterstellen? Damit sind wir einmal mehr auf die Schwierigkeit verwiesen, die Sprache der tragischen Ironie und der Verblendung als solche wahrzunehmen und zu entziffern. Emilia ist »das Meisterstück der Natur« (I/5) – darin sind sich der Künstler Conti, der leidenschaftlich in sie verliebte junge Fürst, ihr Bräutigam Graf Appiani und ihr Vater Odoardo einig. Wenn sie bekennt: »Ich habe Blut, mein Vater; so jugendliches, so warmes Blut, als eine. Auch meine Sinne sind Sinne«, dann spricht sie damit von nichts anderem als von ihrer weiblichen Natur und natürlichen Sinnlichkeit, die die natürliche Basis jener Liebes-

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fähigkeit ist, »womit der Schöpfer Mann und Männin ausgestattet« hat,31 und die ihre ebenso natürliche Fortsetzung in der Liebe der Eltern zum gemeinsamen Kind findet. Wenn Emilia dieses »so jugendliche, so warme Blut« und ihre »Sinne« als unvereinbar mit der Religion erlebt und durch die »strengsten Übungen der Religion« abzutöten versucht hat, dann stimmt etwas nicht, und dieses etwas kann nicht die »Natur« sein. Die Bestätigung liefert das begeisterte Frauenlob, mit dem der unväterliche Vater auf die Absage an die christliche »patientia« antwortet, mit der sich seine fromme und gehorsame Tochter, die keinen »eigenen Willen« hat, (»als ob wir [!] keinen Willen hätten«) seinen Willen zur Gewalt zu eigen macht: Ha! Wenn du so denkest! – Laß dich umarmen, meine Tochter! – Ich hab es immer gesagt: Das Weib wollte die Natur zu ihrem Meisterstücke machen. Aber sie vergriff sich im Tone, sie nahm ihn zu fein. Sonst ist alles besser an euch als an uns. – Ha, wenn das deine Ruhe ist, so habe ich meine in ihr wiedergefunden! Laß dich umarmen, meine Tochter! (V/7)

Auch Odoardos befremdliches Frauenlob gehört zu den uninterpretierten Motiven dieses meistinterpretierten Dramas der deutschen Literatur. Es ist genauso falsch und absurd wie die religiös begründete Absage seiner Tochter an das »Leiden« und »Dulden«, das ihn zu seinem misogynen und blasphemischen Frauenlob begeistert. Nicht die Natur vergriff sich bei der Erschaffung der Frauen im Stoff, sondern er selbst ist im Begriffe, sich von seinem Misstrauen in die weiblichen Natur zur Ermordung des eigenen weiblichen Kindes hinreißen zu lassen und sich damit an der Natur und der Schöpfungsordnung zu vergreifen. Denn zwar hat ihn die Natur zum Vater gemacht, aber dieser »brausende Jünglingskopf mit grauen Haaren« und dem sprechenden Namen (odio ardo = ich brenne vor Zorn) ist der Vater-Rolle, auf die ihn nicht nur Emilia, Claudia und Appiani, sondern auch Orsina und der junge Fürst festzulegen versuchen, nicht gewachsen. Immer aufs Neue trägt die Wut über das Laster den Sieg über die Liebe zu seinem Kind davon. Auch hier ist der Leser mit einer komplexen Verstehensaufgabe konfrontiert: Er muss verstehen, dass Odoardo nicht weiß, was er da eigentlich sagt, und zugleich verstehen, dass er dabei ebenso wie seine Tochter gegen sein besseres Wissen und Gewissen verstößt. Wollte man die Implikationen seines perversen Frauenlobs ausbuchstabieren, dann käme der folgende Aberwitz dabei heraus: Die Frauen sind dem Schöpfer versehentlich zu leicht verführbar geraten. Wenn es mir verwehrt werden sollte, sein Meisterstück durch die Entfernung aus dieser Welt vor sich selbst zu schützen, vollziehe ich darum seinen Willen, wenn ich es lieber zerstöre, als es der Gefahr der Verführung auszusetzen.

Zugleich muss der Leser aus Odoardos Rede aber auch heraushören, dass er sehr wohl an sich selbst wahrgenommen hat, dass die Frauen »besser« sind nicht obwohl, sondern weil sie aus feinerem Stoff gemacht sind, und dass er 31

So die Formel des biblischen Schöpfungsberichts, mit der Sittah im Namen ihres Autors gegen das religiöse Exogamie-Verbot protestiert, das Saladins Projekt der Friedensstiftung im Religionskrieg durch die Heirat zwischen Sittah und Richard Löwenherz verhindert (Nathan, II/1).

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selbst den gröberen Stoff, aus dem er, das »Muster aller männlichen Tugenden« (II/7), besteht, als eigenen menschlichen Mangel erlebt und erleidet. Und zwar ist es der Zorn, der – wie er selbst weiß und sagt – immer wieder »mit seinem Verstand davon rennt« (V/4) und ihn immer aufs Neue zu dem Einen Schritt verleitet, von dem er selbst weiß und sagt, dass er »zu einem Fehltritt« genügt (II/2). Das Ziel dieser Gestaltungsweise ist – um die leitende These noch einmal zu profilieren – die Verwandlung einer konventionellen Tugendprobe in einen Sündenfall. Damit ist nicht einfach die Tatsache gemeint, dass der Kindesmord ein durch nichts zu entschuldigendes Verbrechen darstellt – das wäre für sich genommen eine moralische Trivialität und versteht sich ohnehin von selbst. Das eigentliche Gestaltungsziel liegt vielmehr in der Demonstration der Wahrheit des Mythos vom Sündenfall, die sich darin beweist, dass auch der Frömmste und Tugendhafteste nicht davor geschützt ist, im Zustande der leidenschaftlichen Verwirrung und Verblendung eine Untat zu begehen, mit der er gegen sein besseres Wissen und Gewissen verstößt. Natürlich weiß dieser allzu männliche Tugendheld eigentlich, dass ihn sein Misstrauen in die weibliche Natur nicht zum Kindesmord ermächtigt, und selbstverständlich könnte er, wenn er bei Sinnen wäre, erkennen, dass die Aufforderung des »Himmels« zu diesem Verbrechen, die er sich einbildet (»Er will meine Hand, er will sie!« [V/6]), nichts anderes ist als die gotteslästerliche Kostümierung seiner eigenen egozentrischen Verblendung. Es ist also die Figur des Sündenfalls selbst, verstanden als der Übergang von Gut zu Böse, von dem es im Faust-Fragment heißt, er sei der schnellste in der moralischen Welt, um dessen exemplarische Veranschaulichung es Lessing zu tun ist. Bereits mit seinem Projekt der Modernisierung des Hercules furens und mit seinen Faust-Plänen hatte er sich mit Möglichkeiten beschäftigt, die Tugend der Figuren selbst zum Ausgangspunkt ihres Sündenfalls zu machen. Verständlich werden diese Projekte erst, wenn man sie als Versuche versteht, die Wahrheit des Mythos vom Sündenfall mit poetischen Mitteln zur Anschauung zu bringen, die er auch in allen seinen religionsphilosophischen Texten – vom Lehrgedicht Die Religion angefangen bis zur Erziehung des Menschengeschlechts – durchgängig verteidigt hat. Auf diesen Zusammenhang müssen wir noch zurückkommen. Diese Wahrheit richtet sich polemisch gegen den Tugend-Laster-Moralismus, auf dem die Plotmuster beruhen, die sich an der sog. »poetischen Gerechtigkeit« orientieren. Die Einteilung der Menschen und Menschengruppen in die Guten und die Bösen ist bekanntlich ihrerseits nicht gut; sie ist vielmehr selbst das Böse, das es zu überwinden gilt – so die Evidenz, die sich durch Lessings gesamtes Denken und Dichten zieht. Sie wird hier dadurch zur Geltung gebracht, dass Emilia aus Furcht vor ihren »Sinnen« aus der Welt fliehen will, also aus Furcht vor ihrer Menschennatur, die sie mit allen Menschen und also auch mit denen, die sie als »lasterhaft« wahrnimmt, verbindet. Diese Furcht ist wahnhaft. Am Beginn ihrer Weltflucht steht Emilias Gebet an ihren »guten Engel«, er möge sie mit ewiger »Taubheit« schlagen (II/6), das sich nach Maßgabe der Logik der Selbsterfüllung verwirklicht: »meine Sinne

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hatten mich verlassen« (II/6). Auch Emilias Gebet bedarf eines philologischen Kommentars, weil es ebenso wie alle anderen religiösen Motive – also Odoardos blasphemisches Frauenlob oder seine gotteslästerlichen Ernennung des »Himmels« zu seinem Mordkomplizen – uninterpretiert geblieben ist. Engel, die die Menschen mit Taubheit schlagen, um sie vor Sünde zu bewahren, gehören ebenso zu den Ausgeburten einer wahnhaften Verkehrung der wahren Religion wie ein »Himmel«, der den Vater zum Kindesmord verpflichtet, oder wie ein christliches Märtyrertum, das sich dem Leiden und Dulden durch Selbstmord entzieht. Mit ihrem Gebet um Taubheit nimmt Emilia nicht nur ihre spätere Flucht aus der Welt vorweg, sondern auch die Perversion der Religion, auf die sie sich dabei bezieht. Die wahre biblische Botschaft lautet, sie sei dazu in die Welt gekommen, um die Blinden sehend und die Tauben hörend zu machen.32 Ich begnüge mich mit einem einzigen der einschlägigen Belege: Im Rahmen seiner Predigt gegen die Fixierung auf rituelle Reinigungsgebote lehrt Jesus: Es gibt nichts, was von außen in den Menschen hineingeht, und ihn unrein machen könnte; sondern was aus dem Menschen herauskommt, das ist’s, was den Menschen unrein macht. (Mk 7, 15)

und verbindet seine Predigt mit dem Aufruf: »Wer Ohren hat zu hören, der höre!« Begleitet und beglaubigt wird diese Predigt mit der Heilung eines Taubstummen. Der abschließende Kommentar lautet: »Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.« (Mk 7, 37) Emilia ist taub und stumm. »Auch ward ich durch die sprachlose Bestürzung, mit der Sie es [das Liebes-Geständnis] anhörten oder vielmehr nicht anhörten, genugsam bestraft.« (III/5), so der Prinz. Wer sich mit Lessings Kunst der Wortwörtlichkeit vertraut gemacht hat, kann den Ursprung für dieses Motiv erkennen – es findet sich, wie alle Motive dieses Stücks, in der Livius-Vorlage. Der Rechtsakt der »Handauflegung«, des »manum iniecere«, durch den der Dezemvir seinen Anspruch auf Virginia bekunden lässt, provoziert die Amme zu einem Geschrei, der einen Menschenauflauf verursacht, während das Mädchen selbst in den »stupor« der betäubten Schreckensstarre verfällt. Beide Motive werden von Lessing zu eigenen Szenen ausgearbeitet. Sowohl der Auftritt Claudias wie Orsinas auf Dosalo stehen im Zeichen des »clamor nutricis«. Die Szene der Handauflegung verlegt Lessing in die verdeckte Handlung. In der Vorhalle der Kirche fühlt sich Emilia vom Prinzen »bei der Hand ergriffen« (II/6) und verfällt daraufhin in jenen stupor, in jene sprachlose Betäubung und Schreckensstarre, die auf der Bühne zweimal geschildert wird, einmal aus der Sicht der betäubten Emilia und einmal aus der Sicht des Prinzen. Im Zentrum des Berichts, den Emilia ihrer Mutter gibt, steht das Gebet um

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Jürgen Schröder hat in einem schönen Aufsatz die Komödie der Blindheit und Verblendung und der Taubheit und Betäubung sicht- und hörbar gemacht, die in der Minna durchgespielt wird. Die Emilia ist dazu das genaue tragische Äquivalent. Vgl. Jürgen Schröder: Das parabolische Geschehen der Minna von Barnhelm. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 43 (1969), S. 222–259.

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ewige Taubheit; im Zentrum des Berichts des Prinzen steht das Geständnis, er habe sich von Emilias Todesschrecken anstecken lassen und »mit einer Bitte um Vergebung« geschlossen (III/3). Lessing nimmt also den ›stupor puellae‹ der Vorlage zum Ausgangspunkt, um auch ihn zur Geschichte eines religiösen Wahn-Sinns auszugestalten. »Die Furcht hat ihren besonderen Sinn, meine Tochter«, so kommentiert Claudia den Bericht Emilias. Dieser Sinn trägt hier die Züge einer religiös begründeten wahnhaften Sünden-Furcht. Die wahnhaften Züge dieser Frömmigkeit konnte der Autor nicht plakativer zur Anschauung bringen als durch ein Gebet, das darum bittet, das Versprechen des Evangeliums, die Blinden sehend und die Tauben hörend zu machen, in sein Gegenteil zu verkehren. In der Sache geht es um Emilias Furcht, »daß fremdes Laster uns wider unsern Willen zu Mitschuldigen machen kann!« (II/6). Diese Furcht steht im Widerspruch sowohl zur Lehre Jesu wie zur zitierten, am Beispiel der Lucretia entwickelten Kasuistik des Augustinus. Dabei macht der Bericht des Prinzen klar, worin die von der Sündenfurcht nach Maßgabe der Logik der Selbsterfüllung erzeugte Blindheit und Taubheit besteht: Emilia ist blind und taub für die Gewalt, die sie über den Prinzen besitzt, der nichts weniger als taub und blind ist für die Sprache der Tugend und der gerechten Empörung über das Unrecht, zu dem er sich durch die »amentia amoris«, den durch Livius vorgegebenen Wahn-Sinn der Liebe, hat verführen lassen. Ich verzichte auf die Details und rekonstruiere die Logik dieser Konstruktion als solche: Demonstriert wird im Ausgang vom Thema »Sexualität« und »Gewalt« die Gleichheit zwischen den Konfliktparteien, deren Fremd- und Selbstwahrnehmung durch die Tugend-Laster-Dichotomie geprägt ist. Die konventionellen Virginia-Versionen stehen im Zeichen des ausschließenden Gegensatzes zwischen der sexuellen Gier des Machthabers und der Keuschheit seines Opfers. Diese Konstellation liegt auch der Konflikt-Konstruktion Lessings zugrunde – aber als Wahn. Der »Wollüstling, der bewundert, der begehrt«, versetzt den Tugendhelden Odoardo schon in der Exposition in eine solche Wut, dass er kopflos davon rennt und seine Tochter ihrem Schicksal überlässt. In Wahrheit hat die Liebe, die der junge Fürst zu Emilia gefasst hat, mit der sexuellen Gier des Despoten der Trivialliteratur nichts zu tun, sondern steht im Zeichen der Öffnung für »Unschuld und Schönheit«: »Wer sich den Eindrücken, die Unschuld und Schönheit auf ihn machen, ohne weitere Rücksicht so ganz überlassen darf – ich dächte, der wäre eher zu beneiden als zu belachen.« (I/6) Odoardos Wut – die »amentia irae« der Livius-Vorlage – erweist sich als ebenso wahnhaft wie Emilias Furcht. Dieser Wahn ist dafür zuständig, dass Emilia und Odoardo die »Sinne« und natürliche Sinnlichkeit, die die Menschen miteinander verbinden und verbinden sollen, als Gemeinsamkeit nicht mit den anderen Menschen, sondern mit dem Laster wahrnehmen und als solche bekämpfen. Auf Seiten Emilias äußert sich dieser Kampf gegen ihre Sinne zunächst im Gebet um Taubheit, dann folgt – mit Hilfe des Kunstmittels der im Finale nachgeholten Vorgeschichte, dessen sich Lessing auch sonst bedient –

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der überraschende Aufschluss, dass sie von Anfang an die Freuden der Geselligkeit und das erotische Spiel der Geschlechter als unvereinbar mit der Religion erlebt und ihre aufgeregten Sinne durch asketische religiöse Übungen abzutöten versucht hatte, und am Ende steht die Flucht vor ihren »Sinnen« in den Tod. Diese Sinnen- und Sündenfurcht ist das Echo des Misstrauens in die weibliche Natur, mit dem Odoardo seine Frau vom Beginn der Exposition an in Gestalt des »alten Argwohns« (II/3) tyrannisiert, die weibliche »Eitelkeit« (II/4) und Freude an der Geselligkeit mache sie zum natürlichen Komplizen des Lasters. Als erster hatte der Prinz Emilia als das »schönre Meisterstück der Natur« (I/5) identifiziert. Man muß auch hier den Echo-Effekt in Odoardos perversem Frauenlob »das Weib wollte die Natur zu ihrem Meisterstücke machen« (V/7) mithören. Beide Männer sagen nicht nur dasselbe, sondern sind sich auch darin gleich, daß sie das von ihnen als solches erkannte Meisterstück der Natur in ihrer egozentrischen Verblendung lieber zerstören, als es dem anderen zu überlassen. Die Pointe dieser Geschichte – man ist, wie so oft bei den verblüffenden epigrammatischen Wendungen dieses Autors geradezu versucht, von ihrem ›Witz ‹ zu sprechen – liegt nun darin, dass dieser Kampf gegen das Laster, der sich in wahnhafter Weise gegen die weibliche Natur richtet, das wahre Böse der menschlichen Natur und damit die wahre Gemeinsamkeit mit dem Laster, und zwar in ihrer männlichen Ausprägung, allererst hervorbringt. Im Kampf gegen das Laster wird der Tugendheld selbst zu dem »kurzsichtigen Wüterich« (V/4), für den er seinen Gegner in seinem projektiven Wahn hält. »Verführung ist die wahre Gewalt«, so lautet das ominöse Orakel, mit dem Emilia – versteht sich: in der Sprache der tragischen Ironie – die Logik dieser Konstruktion auf den Begriff bringt. In der Tat – der Gewalt der Verführung erliegen alle Figuren der hier versammelten bürgerlichen Gesellschaft, angefangen von ihrem geringsten Glied, dem Diener Pirro, bis hinauf zum Prinzen. Lasterhafte Züge nimmt die Liebe des Prinzen, mit der der Zuschauer zunächst »sympathisieren muß, er mag wollen oder nicht«, in dem Augenblick an, in dem er sich von der »amentia amoris« zur Gewalt verführen lässt – vorweggenommen in der Bereitschaft, »recht gern« ein Todesurteil zu unterschreiben, und ominös kommentiert vom Rat Rota durch den Satz: »Ich hätt’ es ihn in diesem Augenblick nicht mögen unterschreiben lassen, und wenn es den Mörder meines einzigen Sohnes betroffen hätte.« (I/8) Dieser Verführung zur Gewalt erliegt im Finale auch der Tugendheld. Auf Emilias Bereitschaft zur selbstzerstörerischen Gewalt reagiert er mit derselben befremdlichen Begeisterung – »Laß dich umarmen, meine Tochter!« (V/7) – wie die Gräfin Orsina auf die Entdeckung des Verbrechens, das der Prinz, den sie ermorden will, begangen hat, und die sich in den verbalen Freuden-Küssen artikuliert, mit der sie den »Teufel« Marinelli überschüttet. Am Ende des Finales wird von Odoardo mit Orsinas Dolch ›recht gern‹ das Todesurteil vollstreckt, das seine einzige Tochter in seinem Namen über sich ausspricht. Die Gleichheit zwischen den Exponenten der beiden Konfliktparteien, auf die es dabei ankommt, liegt nun nicht nur in der Bereitschaft zur Gewalt als

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solcher, sondern in der Identität der Motive. Die Liebe, die der junge Fürst zu Emilia gefasst hat, ist in ihrem Ursprung natürlich und darum gut, ebenso natürlich und gut wie die Liebe des Vaters zu seinem Kind. Zum Ausgangspunkt des Übergangs vom Guten zum Bösen, also zu einem exemplarischen Sündenfall, wird diese Liebe durch ihre Egozentrik, in der sich die »Eigennützigkeit des menschlichen Herzens« dokumentiert, von der Lessing in seinen religionsphilosophischen Reflexionen zum Sündenfall spricht. »Noch bin ich mit dir zu neidisch« (I/5), heißt es in der Exposition, bezogen auf Emilias Bild, dessen Anblick er Marinelli nicht gönnt. Der Verlust Emilias könnte ihm zwar – mit Odoardo zu sprechen – »das Herz brechen«, ihn aber nicht »um den Verstand bringen«. (»Ha, Frau, das ist wider die Abrede. Sie wollten mich um den Verstand bringen: und Sie brechen mir das Herz.« – so Odoardos Replik auf Orsinas Bericht vom Tod Appianis [IV/7].) Das tut erst der Neid auf Appiani und der Gedanke an dessen Hochzeit mit Emilia: »Der Gedanke macht mich rasend!« (III/1) Im Rahmen des konventionellen Tugend-Laster-Moralismus müsste die egozentrische Liebe des Machthabers mit der selbstlosen Elternliebe kontrastiert werden. Genau darum kommt dergleichen für Lessing nicht in Frage. »Das Herz bricht mir« (II/4), so klagt Claudia über den bevorstehenden Verlust der geliebten Tochter und handelt sich damit einen strengen Verweis ihres Mannes ein: »Vermenge dein Vergnügen an ihr nicht mit ihrem Glücke.« Aber während Claudia ihre selbstlose Elternliebe dadurch beweist, dass sie über der Sorge für ihr Kind ihre Wut auf den Prinzen vergisst (IV/1), instrumentalisiert Odoardo in seinen Rache-Phantasien die Verfügungsmacht über das Kind zum Mittel, dem Prinzen buchstäblich Höllenqualen zu bereiten (V/2), und fordert mit seinen letzten Sätzen von dem »Richter unser aller« die »Rache« am Prinzen für das Blut seines Kindes ein, das er selbst vergossen hat. In der Tat – ein Kindesmord aus selbstloser Elternliebe ist ein Unding. Odoardo, der »alte Neidhardt« (V/1), wie Marinelli ihn nennt, erträgt es nicht, dass ihm für die Dauer der gerichtlichen Untersuchung die Verfügungsgewalt über seine Tochter entzogen wird. Durchgängig steht seine Wut im Zeichen derselben egozentrischen Verblendung wie die Leidenschaft des Prinzen: »Mir vorschreiben, wo sie hin soll? – Mir sie vorenthalten? – Wer will das? Wer darf das?« (V/4). Ein Wille, der seine eigene Verhinderung nicht erträgt, ist ein böser Wille, heißt es in Luthers De servo arbitrio, zu dem sich Lessing im Gespräch mit Jacobi bekennt. Wenn in der Lessing-Philologie seit dem 19. Jahrhundert die Hyperbolik bei der Behauptung des eigenen Willens sowohl im Finale des Philotas wie der Emilia als Dokument sittlicher Autonomie gefeiert wurde und wird, dann hat das mit Lessing nichts zu tun. In seiner Welt liegt das Gute in der Überschreitung der Egozentrik unseres Wollens und nicht in ihrer selbstzerstörerischen Behauptung. Unser vorläufiges Fazit lautet: Lessing verwandelt die vorgegebene konventionelle Kampfhandlung der personalisierten Tugend mit dem personalisierten Laster in eine Kette von Sündenfällen aller Figuren beider Konfliktparteien, die sich jedes Mal als Verkehrung von Vernunft in Wahn-Sinn voll-

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zieht. Sein Ausgangspunkt ist die »a-mentia amoris«, der Wahn-Sinn der Liebe, der bei Livius am Ursprung der Geschichte vom verhinderten Frauenraub des Machthabers steht. Dieses Motiv wird entfaltet in Gestalt einer Reihe von komplementären wahnhaften Verblendungen: dem Wahn-Sinn der Sündenfurcht (Emilia), dem Wahn-Sinn der Rache (Orsina) und – vor allem – der »amentia irae«, der wahnhaften Wut des Tugendhelden über das Laster. Die Antwort auf die Frage nach dem Grund der Unverständlichkeit dieses Textes liegt damit zunächst im Hinweis auf den radikalen Bruch mit den gängigen Mustern und auf die Komplexität und geistreiche Konstruiertheit dieses einzigen Exemplars seiner Gattung, die schon für sich genommen jede Lesart des ersten Blicks scheitern lässt. Lessing war stolz darauf, es sich schwer gemacht zu haben, und darum macht er es auch seinen Interpreten nicht leicht. Damit ist zweitens die überall sich durchsetzende kognitive und argumentative Grundorientierung dieses Autors verbunden, der über sich selbst ganz zu Recht festgestellt hat, er sei auch als Dramatiker mehr Kritiker als Dichter. Immer schon ist den Lesern das »Lessingisieren« seiner Dramenfiguren aufgefallen, also der argumentative Duktus ihrer Rede, die der figurenpsychologischen Einfühlung unübersteigbare Grenzen setzt. Lessing ist kein Erlebnisdramatiker; bei ihm ist – mit Goethe zu sprechen – »alles nur gedacht«.33 Als personales Erleben ist Emilias Flucht in den Tod schlechterdings nicht nachvollziehbar; in dieser Hinsicht erweist sich die Emilia als ein Text, der den weitest möglichen Abstand zu den Leiden des jungen Werther markiert. Der Wahn und die Verblendung dieser dramatis personae liegen nicht auf der psychologischen, sondern auf der kognitiven Ebene, und deshalb hilft hier nicht Psychologie, sondern nur Philologie weiter. Die dritte Antwort ist die letztlich entscheidende: Lessing macht es sich und seinen Lesern schwer, weil er sich mit seinen Dramen das überaus ehrgeizige Ziel einer poetischen Theodizee setzt. Wenn wir von der Verwandlung einer konventionellen Tugendprobe in einen exemplarischen Sündenfall gesprochen haben, dann kann mit der Vokabel »Sündenfall« z. B. nicht gemeint sein, dass Emilia mit ihrem Quasi-Selbstmord jene Todsünde begeht, die von den christlichen Kirchen dadurch geahndet wurde, dass sie den Selbstmördern ein christliches Begräbnis verweigerten. An einer Kasuistik des Selbst- oder Kindesmords oder an irgendeiner anderen Art von moralisierender Tugendlehre, etwa an einer Fürsten- oder Bürgererziehung ist Lessing völlig desinteressiert. Seine Dramaturgie des Sündenfalls ist seine Antwort auf die selbstgestellte Aufgabe, ein poetisches Gegenstück zur philosophischen Theodizee Leibnizens zu gestalten. Seine Emilia gehört ebenso wie sein Nathan zu den Gründungstexten der modernen Religion der Dichter und Philosophen, die sich zwar von der Bindung an die traditionellen Buch- und Offenbarungsreligionen gelöst hatten, aber nicht, um sich profanen Themen zuzuwenden, sondern um mit den Mitteln

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Goethe an Herder am 10. Juli 1772. In: Johann Wolfgang Goethe: Von Frankfurt nach Weimar. Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 23. Mai 1764 bis 30. Oktober 1775. Hg. von Wilhelm Große. Frankfurt am Main 1997, S. 258.

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des philosophischen Begriffs und der poetischen Mythenbildung an einer Weltund Lebensdeutung mitzuarbeiten, die an die Stelle der obsolet gewordenen traditionellen religiösen Mythen treten konnte. Diese Dimension seiner Dramatik hat weder die Aufmerksamkeit der Theologen gefunden, die sich mit Lessings Religionsphilosophie auseinandergesetzt haben, noch ist sie in mehr als marginaler Weise der germanistisch orientierten Lessing-Philologie zum Thema geworden. In den allermeisten Emilia-Interpretationen kommt das Thema »Religion« so gut wie nicht vor. Hier liegt also neben der bislang nicht als solcher wahrgenommenen Sprache der frommen Blasphemien und der tragischen Ironie das zweite philologische Defizit, zu dessen Behebung die folgenden Rekonstruktionen beitragen sollen.

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Die poetische Theodizee

2.1 Leibniz von den ewigen Strafen Im unmittelbaren Anschluss an die Emilia hat Lessing sich und der Öffentlichkeit mit seinem Essay Leibniz von den ewigen Strafen Rechenschaft darüber abgelegt, welche aufklärungsresistente Wahrheit er dem christlichen Mythos vom Sündenfall und den ewigen Höllenstrafen zuzubilligen bereit ist. Beide Texte stehen in einem wechselseitigen Erläuterungszusammenhang: Der Essay expliziert die Wahrheit der Bildersprache der Religion, deren sich die Figuren so exzessiv bedienen, und das Drama veranschaulicht die Lebenswirklichkeit, die er mit den Inhalten verbindet, die er in der Begriffssprache der Religionsphilosophie zu entfalten sucht. Zum Anlass nimmt er die Verteidigung des Mythos von der Ewigkeit der Höllenstrafen durch Leibniz. »Ich sehe« – so Lessing einleitend – »daß gegenwärtig bei unsern Theologen der Streit über die Unendlichkeit der Höllenstrafen wieder rege werden will.«34 Für die Vertreter der Orthodoxie, also z. B. den Hauptpastor Goeze, gehörte die Warnung vor und die Drohung mit den ewigen Höllenstrafen als unvermeidliche Folge des Abfalls vom wahren Glauben zum unverzichtbaren Bestandteil ihrer geistlichen Verlautbarungen. Für die dogmatisch nicht in dieser Weise Gebundenen, die mit dem göttlichen Rache-Dämon, der menschliche Fehler mit unmenschlichen Folterqualen bestraft, nichts mehr anfangen konnten, bot sich die Lehre von der Apokatastasis panton, der »Wiederbringung aller«, an. Für Lessing ist beides ungenießbar, die »rohen und wüsten Begriffe«, die die orthodoxen Theologen mit dem Mythos von den Höllenstrafen verbinden, wie die »ebenso rohen und wüsten Begriffe der schwärmerischen Verteidiger der Wiederbringung«.35 Sein eigentlicher Gegner

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FA 7, S. 472. FA 7, S. 486f.

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in dieser Auseinandersetzung ist aber, wie in seiner gesamten Theologiekritik, die aufgeklärte Theologie mit ihren Versuchen, einen Kompromiss zwischen den ererbten religiösen Mythen und der Philosophie der Aufklärung zu finden. In diesem Fall galt seine Kritik dem Berliner Pfarrer Johann August Eberhard, der in seiner Neuen Apologie des Sokrates (1772) den Rache-Dämon, der die Heiden und Ungläubigen unbarmherzig in die Hölle schickt, gleichsam humanisiert hatte. Der Grundgedanke lautet hier: Die gütige Gottheit verhängt keine rächenden, sondern nur bessernde und darum nur endliche, keine unendlichen Strafen. In dieser Argumentation erblickte Lessing einen halbherzige Vermischung der Sprache des Mythos mit derjenigen der Philosophie, bei der die für religiöse Aufklärung entscheidende Dimension des Mythos unberührt blieb, nämlich das Denken in Lohn und Strafe als solches und die Vorstellung einer personalen Gottheit, die belohnt und bestraft.36 Ohne eine radikale Entmythologisierung ist eine Antwort auf die Frage nach der Wahrheit der Mythen nicht zu haben. Lessing findet sie bei Leibniz angelegt: Ich muß zuvörderst jene esoterische große Wahrheit selbst anzeigen, in deren Rücksicht Leibniz der gemeinen Lehre von der ewigen Verdammnis das Wort zu reden, zuträglich fand. Und, welche kann es anders sein, als der fruchtbare Satz, daß in der Welt […] nichts ohne Folgen, nichts ohne ewige Folgen ist? Wenn daher auch keine Sünde ohne Folgen sein kann, und diese Folgen die Strafen der Sünde sind: wie können diese Strafen anders als ewig dauern? Wie können diese Folgen jemals Folgen zu haben aufhören?

Das, was auf der Textoberfläche eine Verteidigung der orthodoxen Position zu sein scheint, erweist sich als radikaler Bruch mit dem Denken in Sanktionen als solchem. Die Hoffnung auf Belohnung und die Furcht vor Bestrafung ist Signum des Stadiums der Unmündigkeit und gehört zu den »Vorurtheilen unserer ersten Erziehung«. Solche Begriffe, »die uns in unserer Kindheit beigebracht werden, […] sind gerade die allerflachsten, die sich am allerleichtesten durch selbsterworbene Begriffe auf ewig überstreichen lassen«37 – so Lessing in einer der seltenen persönlich und bekenntnishaft gehaltenen Passagen, in der er sich gegen die Unterstellung wehrt, der »Ketzer« Berengarius sei auf dem Sterbebett zu Kreuze gekrochen. Der mündig gewordene aufgeklärte Erwachsene kann erkennen, dass die mythische Vorstellung einer belohnenden und bestrafenden Gottheit auf eine aufklärungsfähige und -bedürftige Weise von nichts anderem als den Gesetzen der Wirklichkeit selbst spricht. Das Gute und Böse trägt seinen Lohn und seine Strafe in sich. Der Mythos von der Ewigkeit der Höllenstrafen sagt nichts anderes als die Teilhabe alles Einzelnen an dem Ganzen der Wirklichkeit im Zusammenhang von Grund und Folge, die

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Nicht die theologische, sondern die philosophische Orthodoxie »mit ihrem Vernunftcredo vom supramundanen persönlichen Richtergott, von der Tugend als Glückswürdigkeit und einer Unsterblichkeit der Seele zum Zwecke ihrer postmortalen Entlohnung« ist Lessing eigentlicher Gegner, so Hermann Timm: Gott und die Freiheit. Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit. Bd. 1. Die Spinozarenaissance. Frankfurt am Main 1974, S. 29. FA 7, S. 34.

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macht, dass »nichts in der Welt insulieret, nichts ohne […] ewige Folgen ist.«38 Nicht die Ewigkeit dieses Zusammenhangs, sondern die Deutung dieser Wirklichkeit als Lohn und Strafe muss darum Gegenstand der Aufklärung sein: Die Hölle, welche Herr Eberhard nicht ewig haben will, ist gar nicht, und die, welche wirklich ist, ist ewig. Warum also nicht lieber die abgeschmackten sinnlosen Begriffe von der Beschaffenheit dieser Hölle, sie sei nun ewig oder nicht ewig, bestreiten, als wider die noch immer eine gute Erklärung verstattende Dauer derselben zu Felde ziehen?

So verteidigt Lessing seine Argumentationsstrategie gegenüber seinem Bruder,39 der wie Nicolai mit Unverständnis auf die scheinbare Parteinahme für die Orthodoxie reagiert hatte. Höchst charakteristisch für Lessings Argumentationsweise ist dabei die Behauptung, über die bessere Philologie und damit auch über den verständnisvolleren und insoweit orthodoxeren Zugang zum biblischen Text zu verfügen als der traditionelle Buchstabenglaube. Die Unterscheidung zwischen den natürlichen Folgen und den höllischen Folterqualen beruht auf schlechter Exegese, die die unter Bilderzwang stehende religiöse Rede buchstäblich missversteht. Wer figürliche Ausdrücke wörtlich nimmt und zu Dogmatiken aufbereitet, der kommt zu jenen »rohen und wüsten Begriffen« von den ewigen Strafen, »welche die unendliche Dauer derselben so unbegreiflich, mit der Güte und Gerechtigkeit Gottes so streitend, unsern Verstand und unsere Empfindung so empörend macht, von jeher gemacht hat und notwendig machen muß.«40 Tatsächlich – so lautet der Befund dieser kulturrevolutionären Philologie – ist die Unterscheidung der Höllenstrafen von den natürlichen Folgen »weder in der Vernunft noch in der Schrift« gegründet: Doch warum bei Dingen verweilen, die niemand leugnet? Nicht die Ewigkeit der natürlichen Strafen wird geleugnet, sondern – was denn? – die Ewigkeit der Hölle. – Also ist beides nicht eines? Also ist die Hölle etwas anders, wenigstens etwas mehr, als der Inbegriff jener Strafen? – Ich weiß wohl, daß es Theologen gibt, die dieser Meinung sind. Allein ich finde […] in der ganzen Schrift ist nichts, was so etwas zu glauben nötige. Vielmehr kann und darf man mit aller Sicherheit annehmen, daß die in der Schrift angedrohten Strafen keine andere sind, als die natürlichen, welche auch ohne diese Androhung auf die Sünden folgen würde.41

Die mythische Rede von Himmel und Hölle und die Einteilung der Menschen in die Erlösten und Verdammten sprechen in Wahrheit nicht von zwei getrennten, für sich bestehenden Wirklichkeiten, sondern von unterschiedlichen Graden menschlicher Vervollkommnung: Wenn es wahr ist, daß der beste Mensch noch viel Böses hat, und der schlimmste nicht ohne alles Gute ist: so müssen die Folgen des Bösen jenem auch in den Himmel nachziehen, und die Folgen des Guten diesen auch bis in die Hölle begleiten; ein jeder muß seine Hölle noch im Himmel, und seinen Himmel noch in der Hölle finden.42

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FA 7, S. 491. FA 11/2, S. 565ff. (Brief vom 14. Juli 1773). FA 7, S. 494. FA 7, S. 493. FA 7, S. 497.

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Wer gegenüber dieser Liquidierung des Lohn-Strafe-Denkens auf dem Abschreckungs-Effekt der Strafandrohung glaubt insistieren zu müssen, der hat sich damit selbst das Urteil gesprochen: Wer hierwider im Ernste den Einwurf machen kann, daß auf diese Weise Hölle und Himmel in eines fließen, und sich jeder Sünder sonach trösten könne, über lang oder kurz dennoch einmal in Himmel zu kommen: der ist gerade derjenige, mit dem man sich über dergleichen Dinge in gar keine Erklärung einlassen müßte. Für ihn mag es nur immer bei dem Buchstaben bleiben. Denn auf ihn und seines gleichen, ward gerade bei dem Buchstaben gesehen.43

Auch in den Gegensätzen des Herausgebers zu den Reimarus-Fragmenten setzt Lessing sich mit der Deutung des Mythos vom Sündenfall auseinander und sieht sich zu einer eigenen Auslegung des Mythos herausgefordert, die für seine Theo- und Anthropologie in sachlicher wie hermeneutischer Hinsicht ebenso aufschlussreich ist wie sein Leibniz-Essay. Das Thema des Reimarus ist die Verschreiung der Vernunft auf den Kanzeln unter Berufung auf den Mythos vom Sündenfall. Auch hier ist es Lessing um die »Rettung« einer Wahrheit des Mythos zu tun, die ihm bei der Aufklärung, wie Reimarus sie betreibt, verloren zu gehen scheint: Mit einem Worte; die Macht unsrer sinnlichen Begierden, unsrer dunkeln Vorstellungen über alle noch so deutliche Erkenntnis ist es, welche zur kräftigsten Anschauung darin gebracht wird. Von dieser Macht berichtet die Mosaische Erzählung entweder die erste traurige Erfahrung, oder erteilet das schicklichste Beispiel. Factum oder Allegorie: in dieser Macht allein liegt die Quelle aller unserer Vergehungen, die dem Adam, des göttlichen Ebenbildes unbeschadet, eben sowohl anerschaffen war, als sie uns angeboren wird. Wir haben alle in Adam gesündiget, weil wir alle sündigen müssen: und Ebenbild Gottes noch genug, daß wir doch nicht eben nichts anders tun, als sündigen; daß wir es in uns haben, jene Macht zu schwächen, und wir uns ihrer eben sowohl zu guten als zu bösen Handlungen bedienen können. Dieser lehrreichen Auslegung wenigstens ist das so verhöhnte Märchen Mosis sehr fähig, wenn wir die Acommodationen, welche ein späteres System davon machte, nur nicht mit hinein tragen, und Accomodationen Accomodationen sein lassen.44

Die Einsicht in die Macht des Unbewussten und die Grenzen der Wirksamkeit der Vernunft war eines der zentralen Themen der zeitgenössischen philosophischen Anthropologie.45 Aber Lessing überschreitet hier so wenig wie sonst in seinem Werk die Grenze zur Entfaltung einer philosophischen Anthropologie im eigenen Recht. Er bleibt auch hier seinem Lebensthema ›Religion‹ treu und benutzt die begrifflichen Mittel der philosophischen Anthropologie zur Auslegung des religiösen Mythos, um ihn einerseits radikal zu entmythologisieren

43

44 45

FA 7, S. 496. Vgl. zu Lessings Argumentationsstrategie Karlmann Beyschlag: Einführung in Lessings theologisch-philosophische Schriften. In: Lessings Werke. Hg. von Kurt Wölfel. Bd. 3. Frankfurt am Main 1967, S. 602. FA 8, S. 317f. Vgl. Michael Albrecht: »Aber ich folge dem Schlechteren«. Mendelssohns mathematische Hypothese zum Problem des Handelns wider besseres Wissen. In: Moses Mendelssohn im Spannungsfeld der Aufklärung. Hg. von Michael Albrecht und Eva J. Engel. Stuttgart 2000, S. 13–35.

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und ihn zugleich gegenüber dem Vernunftglauben des Reimarus zu ›retten‹. Und zwar besteht diese Rettung im Kern darin, den Mythos vom Sündenfall als bildhafte Veranschaulichung der philosophischen Theodizee Leibnizens zu begreifen, also als Antwort auf die Frage nach dem Grund des Bösen, das die Menschen sich wechselseitig zufügen, in einer Welt, die doch als Ganze nach der Leibniz-Hypothese als vollkommen eingesehen werden kann.

2.2 Der Schattenriss der Schöpfung Lessings erklärtes Ziel ist eine Darstellung des Bösen, also des Leids, des Unrechts, der Gewalt, das sich die Menschen wechselseitig zufügen, als Theodizee. Seine Dramen sollten als Antwort auf die Frage nach dem Grund des Bösen religionsphilosophisch ernst genommen werden können. Dazu musste er das Drama für sich neu erfinden, ebenso wie er die Religion für sich neu hatte erfinden müssen. Die zeitgenössischen Plotmuster, in denen der Kampf zwischen Tugend und Laster ebenso variantenreich wie stereotyp durchgespielt wurde, gaben eine tautologische, also überhaupt keine Antwort auf diese Frage. Die Bosheit des Bösewichts ist hier der Grund für sein böses Wollen und Tun. Man kann sich die grundsätzliche Differenz zwischen den Plotkonstruktionen der ›Gattung Lessing‹ und den gängigen Plotmustern am Vergleich zwischen dem Nathan und Voltaires Mahomet vor Augen führen. Beide Autoren sind mit ihrem gleichermaßen vielgestaltigen Lebenswerk führende Vertreter der religiösen Aufklärung und haben als solche Religionsgeschichte gemacht. Beide haben sich dabei auch des Theaters bedient. Aber Voltaire, der erfolgreichste europäische Dramatiker des 18. Jahrhunderts, schreibt mit seinen Stücken effektbewusste Schema-Literatur, die ihre Epoche nicht überlebt haben. Sein Mahomet ist nichts anderes als der übliche Theater-Despot, der von seiner sexuellen Gier und seinem Machthunger tyrannisiert wird, dabei mit unbegrenzter krimineller Energie begabt ist, die von ihm gestiftete Religion dazu benutzt, seine manipulierten Anhänger zu den üblichen monströsen Verbrechen (Vatermord etc.) anzustiften, und der am Ende die tugendhafte Jungfrau durch sein sexuelles Begehren in den Selbstmord treibt. Dieser Religionsstifter ist also in Wahrheit ein ungläubiger Freigeist, aber nach Maßgabe des Bildes, das sich das klerikale Vorurteil von den Freigeistern und Ungläubigen macht: Nur wer Religion für Lug und Trug hält, kann das ganze religiöse Brimborium derart skrupellos für manipulative Zwecke nutzen, und nur wer mit der Bindung an die Religion auch jede Bindung an Moral und Menschlichkeit über Bord geworfen hat, kann sich solche Zwecke setzen. Dergleichen war für Lessing vollkommen unbrauchbar, und zwar sowohl als Darstellung der hässlichen, schlechterdings intolerablen Dimension der Religion und Religionsgeschichte, in der er sich von niemandem, auch nicht von Voltaire übertreffen lässt, wie als Darstellung ihrer Wahrheit, die es unter den Bedingungen der Aufklärung neu zur Geltung zu bringen galt.

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Das Trauerspiel hat es mit der Gewalt zu tun, die Menschen sich wechselseitig zufügen. Nicht das Sterben-Müssen, sondern das Töten und GetötetWerden ist das schlechthin aufregende brutum factum, mit dessen dramatischer Mimesis die Dramen-Autoren die Aufmerksamkeit ihrer Zuschauer zu fesseln suchen. Die gängigen Plotmuster sowohl der klassizistische Tragödie wie des bürgerlichen Trauerspiels stiften die Erlebnisgemeinschaft der Zuschauer durch die Darstellung monströser Verbrechen und bedienen den Erlebnishunger ihrer Konsumenten, indem sie ihre Straf- und Rache-Phantasien stimulieren und befriedigen. Der flüchtigste Blick auf die Produkte unser eigenen Kultur- und Unterhaltungsindustrie zeigt die transhistorische und transkulturelle Krisenfestigkeit dieses mythischen Musters. In den Varianten dieses Grundmusters konnte Lessing nur eine falsche, vorurteilshafte Darstellung des Bösen wahrnehmen. Sein erster und wichtigster dramaturgischer Grundsatz lautet: Das Böse ist kein Motiv. Wir tun das Böse nicht weil, sondern obwohl es das Böse ist. Darum ist »der Dichter äußerst zu tadeln, der […] uns das menschliche Herz so verkennen läßt, als ob die Grundneigungen auf das Böse, als auf das Böse, gehen könnten.«46 Die Trivialdramatik der Sündenbock-Rituale, des aggressiven Verlachens und Verachtens, der Stimulierung der Gewaltbereitschaft und der moralistischen Empörung ist nicht aufklärende Arznei, sondern »Gift« des Vorurteils und der Selbstgerechtigkeit. »Der Erkenntnis nach sind wir Engel, und dem Leben nach Teufel«,47 heißt es in den Gedanken über die Herrnhuter. Gegen diese Wahrheit verstößt der Tugend-Laster-Moralismus, bei dem die Figuren wissen und wollen, was sie tun, und tun, was sie wissen und wollen: die tugendhaften Gesinnungen der Tugendengel äußern sich in ihren tugendhaften Handlungen, und die lasterhaften Gesinnungen der teuflischen Bösewichter schlagen sich in ihren Verbrechen nieder. Dergleichen, so schreibt Lessing schon in seiner frühen GellertKritik, ist nichts als ein »Kompliment an die Eigenliebe des Zuschauers«, das ihm von der Tugend weiter nichts mitteilt, »als die Einbildung, daß er sie schon besitze.«48 Deshalb liquidiert Lessing den trivialliterarischen Kampf zwischen Tugend und Laster und ersetzt ihn durch den Gang seiner Figuren in die Verblendung mit tragischem oder komischem Ausgang. Das Ganze, das sich bei einer solchen Mimesis des ge- oder misslingenden menschlichen Lebens zeigt, soll sich – so das erklärte Programm – nicht in einer bloßen Tugendlehre erschöpfen, sondern einen »Schattenriß der Schöpfung«49 bieten. Religiöse Welt- und Lebensdeutungen lassen sich von der Frage der Moral nach dem Guten und Bösen zwar nicht trennen, aber auch nicht auf sie reduzieren. Wenn es auch den äußeren Himmel und die äußere Hölle der traditionellen Religionen nicht gibt, so gibt es doch den inneren Himmel und die innere Hölle, die Erfahrung von Glück und Leid, Erlösung und Verzweiflung,

46 47 48 49

FA 6, S. 331f. (Hamburgische Dramaturgie, 30. Stück). FA 1, S. 942. FA 3, S. 281. FA 6, S. 577 (Hamburgische Dramaturgie, 79. Stück).

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Fluch und Segen, Heil und Unheil. Die Frage nach der Wahrheit der Religion(en) richtet sich also auf die Frage nach der Wahrheit ihres Heilsversprechens und ihrer Unheils-Drohungen. Sie stellt sich für den jungen Autor als die Theodizee-Frage in Gestalt der Zweifel, »welche wider alles Göttliche aus dem innern und äußern Elend des Menschen gemacht werden können.«50 Sein Lebenswerk lässt sich als Abfolge von Versuchen lesen, mit den Mitteln der spekulativen Vernunft und der dramatischen Mimesis jener Lebensdramen, in denen die Menschen ihr Glück finden oder verlieren, einen verständlichen Zusammenhang zwischen dem göttlichen Grund der Welt im Ganzen und den Befunden herzustellen, die – in der Formulierung des wahren Freimaurers Falk – »in den Tagen der Schwermut die niederschlagendsten, unauflöslichsten Einwürfe wider Vorsehung und Tugend zu sein scheinen«.51 Damit stellt sich die Frage, wie die poetische Zweitfassung des menschlichen Lebens zum Spiegel des Ganzen der Wirklichkeit werden kann, und wie die Emilia sich als Einlösung dieses Zieles verstehen lässt. Für einen Leibnizianer wie Lessing versteht es sich, dass die Hypothese von der Vollkommenheit der Welt sich jeder unmittelbaren Veranschaulichung entzieht. Jeder Versuch, das Walten der Vorsehung anschaulich illustrieren zu wollen, liefe allemal darauf hinaus, dem göttlichen Grund der Wirklichkeit »unsere elende Art, nach Absichten zu handeln«52 anzudichten, und wäre damit nichts anderes als eine Variante jener Leibniz-Karikatur, die Voltaire in Gestalt des deutschen Philosophen Pangloss im Candide der Lächerlichkeit preisgegeben hatte. Von vornherein verbietet sich also jeder inhaltliche Rekurs auf Transzendenz. Die wahre Lösung dieses Programms kann nur darin bestehen, ein Analogon zum »System des Universums« durch »Proben eigener Systembaukunst«53 zu bilden und »ein Ganzes« zu gestalten, »das völlig sich rundet, wo eines aus dem andern sich völlig erkläret.«54 Derselbe Satz vom zureichenden Grund, mit dessen Hilfe er unter Berufung auf Leibniz das mythische Bild von der Ewigkeit der Höllenstrafen entmythologisiert, liegt auch seinem Konzept eines poetischen »Schattenrisses der Schöpfung« zugrunde. Lessing hat auch in dieser Hinsicht seinen Leser über die Logik der Verknüpfung der Ereignisfolgen, mit deren Hilfe er ein solches Ganzes zu bilden sucht, in programmatischer Explizitheit verständigt. Einschlägig ist hier erstens das Orsina-Diktum »Das Wort Zufall ist Gotteslästerung«, zweitens das Faust-Fragment und das Programm eines Faust-Dramas, in dem die Teufel durch eine satanische Fügung der Ereignisse ersetzt werden sollten, und drittens seine Auslegung des sophokleischen Ödipus als Lehrstück über die Logik der Selbsterfüllung des Orakelglaubens. 50 51 52 53 54

FA 2, S. 265 (Vorerinnerung zu dem Lehrgedicht Die Religion). FA 10, S. 37. So die einschlägige Formulierung im Spinoza-Gespräch mit Jacobi. Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Hg. von Herbert G. Göpfert. Bd. 8. München 1979, S. 567. Leibniz, Monadologie, § 83. Ich folge hier der Darstellung von Anke-Marie Lohmeier (s. Anm. 1), S. 96. FA 6, S. 577.

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Zudem steht für ihn von vornherein fest, dass die Aufgabe, einen solchen Schattenriss zu bilden, grundsätzlich zwei komplementäre, nämlich eine tragische und eine antitragische Lösung zulässt und verlangt. Seit seiner Sara stehen ihm dafür die Komplementarität des Emilia-Motivs des Kindesmords aus Rache am Laster einerseits und des Nathan-Motivs der Adoption des Kindes der Mörder der eigenen Kinder andererseits zur Verfügung. Deshalb steht am Ende unseres Kommentars zur Emilia der vergleichende Blick auf den Nathan als deren antitragischem Gegenstück.

2.3 »Das Wort Zufall ist Gotteslästerung« Die Folge der Ereignisse ergibt in der Emilia eine unglückliche Verkettung, zu der alle Figuren beitragen, die aber keine dramatis persona als solche gewusst und gewollt hat und die deshalb die Frage nach der Rolle der Providenz in dieser Kontingenz provoziert und provozieren soll. Als sich Marinelli über den »sonderbaren Zufall« wundert, der das fatale Treffen auf Dosalo arrangiert hat, gibt er damit Orsina das Stichwort: Zufall? Ein Zufall wär’ es, daß der Prinz nicht daran gedacht, mich hier zu sprechen, und mich doch hier sprechen muß? Ein Zufall? – Glauben Sie mir, Marinelli: das Wort Zufall ist Gotteslästerung. Nichts unter der Sonne ist Zufall – am wenigsten das, wovon die Absicht so klar in die Augen leuchtet – Allmächtige, allgütige Vorsicht, vergib mir, daß ich mit diesem albernen Sünder einen Zufall genennet habe, was so offenbar dein Werk, wohl gar dein unmittelbares Werk ist! – (Hastig gegen Marinelli.) Kommen Sie mir, und verleiten Sie mich noch einmal zu so einem Frevel!« (IV/3)

Es gibt kaum eine Emilia-Interpretation, in der dieser Satz nicht kommentiert würde. Die allermeisten Kommentatoren betreiben dabei irgendeine Art von dogmengeschichtlicher Zuordnung. Im Kommentar der Barner-Ausgabe etwa heißt es, hier bekenne sich der Autor durch den Mund seiner Figur zu einem »spinozistischen Determinismus«.55 Lesarten dieses Typs laufen jedoch auf denselben Typ von Missverständnissen hinaus wie die Behauptung, Emilias Selbstmord werde durch das Vorbild der christlichen Märtyrerinnen und/oder der Virginia legitimiert. Durchgängig bleibt nämlich die schlichte Frage ungestellt, was denn in der Wahrnehmung dieser christlichen Philosophin die Absicht der Vorsicht ist, die sich in dem scheinbaren Zufall für sie so unzweideutig offenbart. Orsina ist entschlossen, den Prinzen wegen des an ihr begangenen Liebesverrats zu ermorden. Deshalb hat sie ihn in ihrem Brief um ein letztes Treffen auf Dosalo gebeten und ist – mit dem Dolch bewaffnet – auf dem Schauplatz erschienen. Nun erfährt sie, dass der Prinz ihren Brief »nicht einmal gelesen« (IV/3) hat und doch nach Dosalo gekommen ist, wo er sie nun wider Willen treffen muss. In diesem scheinbaren Zufall erkennt sie die Fügung der Vorsehung, deren »Absicht so klar in die Augen leuchtet«: Die »allmächtige, allgütige Vorsicht« hat ihr den Prinzen sozusagen ans Messer geliefert. Und

55

FA 7, S. 953.

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zwar erkennt sie in dem vom Prinzen unvermuteten Zusammentreffen »wohl gar dein unmittelbares Werk«: Die gütige Gottheit hat also gewissermaßen persönlich in den Lauf der Dinge eingegriffen, um ihr die mörderische Rache am Prinzen zu ermöglichen. Lessing malt auch hier mit äußerst starken Farben. Höher kann man die »Gotteslästerung« und den »Frevel« nicht treiben als durch eine Deutung, die der »allgütigen Vorsicht« die Rolle einer Mord-Komplizin zuschreibt. Orsina liefert dem Tugendhelden nicht nur die Mordwaffe und das Motiv zu ihrem Gebrauch, sondern präludiert auch seiner gotteslästerlichen Auslegung einer kontingenten Ereignisfolge als Aufforderung des »Himmels« zum Mord. Diese gotteslästerliche Deutung des Zufalls gehört nun ebenfalls zu den überlesenen und uninterpretierten Motiven dieses Stücks. Die Interpreten haben sich bei Orsinas frommer Rede sozusagen nichts Böses gedacht. Ihnen ist ganz offenkundig nicht zu Bewusstsein gekommen, dass Orsina hier nicht den Weltlauf als solchen kommentiert, sondern den mörderischen Zweck, den sie mit dem Treffen verbindet, zum Zweck des unmittelbaren Eingreifens der ebenso »allmächtigen« wie »allgütigen« Gottheit macht. Der Zufall, der Orsina nach Dosalo führt und bei dem alles höchst natürlich zugegangen ist, hat sie zur Zeugin des Verbrechens an Appiani und Emilia gemacht. Wäre sie bei Sinnen, so wüsste sie, wozu die »allgütige Vorsicht« sie damit verpflichtet: Sie müsste über diesem Verbrechen ihre eigene Kränkung vergessen und sich mit dem Vater zur Rettung seines Kindes verbinden. Stattdessen tut sie das Gegenteil, sucht den Vater zum Instrument ihrer Rache zu machen und mutet ihm zu, darüber sein eigenes Kind zu vergessen: Ah! Wenn Sie wüßten – wenn Sie wüßten, wie überschwenglich, wie unaussprechlich, wie unbegreiflich ich von ihm beleidiget worden und noch werde: – Sie könnten, Sie würden ihre eigene Beleidigung darüber vergessen. (IV/7)

Auch das ist, so sollte man meinen, Klartext; mit dieser Hyperbolik treibt Lessing den »Wahnwitz« der Rache-Raserei bis zur Karikatur. Aber es ist Klartext in der Sprache des Lessing-Codes: Die Figur bringt ihr besseres Wissen in der Form der ausdrücklichen Verleugnung zur Sprache. Mit dem Verständnis des Orsina-Diktums steht – wie bei dem Verständnis des Augustinus-Zitats – nicht eine mehr oder weniger wichtige Einzelheit zur Debatte, sondern die Konzeption des ganzen Stücks und darüber hinaus das Konzept der poetischen Theodizee als solches. Auch hier liegt die Verständnisschwierigkeit zunächst darin, dass der Autor seine Konzeption nicht dadurch offen legt, dass er seine Figur zum Sprachrohr seiner Überzeugungen macht, sondern die Figur in der Sprache der Verblendung und tragischen Ironie die Wahrheit verleugnet, die zur Anschauung gebracht werden soll. Ein Christentum, das den Gläubigen zum Selbstmord ermächtigt, um nicht in Sünde zu fallen, gibt es nicht – das kann auch derjenige erkennen, dem der zitathafte Hinweis auf die so überaus nachdrückliche Kritik des Augustinus an der »insulsa perversitas« (I, 27), der »abgeschmackten Perversität« eines solchen Gedankens entgeht. Eine providentielle Fügung, die dafür Sorge trägt, dass eine verlassene Mätresse sich an ihrem treulosen Liebhaber durch seine Ermordung rächen

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kann, bietet das Beispiel einer nicht weniger monströsen perversitas. Zudem gehört es zu den Grundüberzeugungen dieses Autors, dass es auf »Unsinn oder Gotteslästerung« (Nathan, I/2) hinausläuft, »sich irgendwo auf die unmittelbare Regierung der Götter zu berufen«. In den Rettungen des Horaz findet sich z. B. die folgende Rettung der »Stoischen Beweise der Vorsehung«: Diese Weltweisen beruften sich zwar auf die natürlichen Begebenheiten, und auf die weise Einrichtung derselben; niemals aber leugneten sie ihre im Wesen der Dinge gegründeten Ursachen, sondern hielten es vielmehr für unanständig, sich irgendwo auf die unmittelbare Regierung der Götter zu berufen. Ihre Gedanken von derselben waren die gegründetsten und edelsten, die man je, auch in den aufgeklärtesten Zeiten, gehabt hat.56

Wenn also Orsina in dem aus höchst natürlichen Gründen (»Nicht einmal gelesen?« [IV/3]) vom Prinzen nicht vorhergesehenen Zusammentreffen nicht den natürlichen Lauf der Dinge, sondern das »unmittelbare Werk« der Vorsicht zu erkennen glaubt, dann besteht diese Deutung nicht nur darum aus abergläubischem und gotteslästerlichem Unsinn, weil sie damit ihren mörderischen Rache-Impuls religiös legitimiert, sondern aus denselben Gründen, aus denen Nathan Rechas und Dajas Wunder- und Engel-Glauben verwirft: Wer die Vorstellung in sich aufkommen lässt, er sei der Gegenstand einer Vorzugsbehandlung durch die Gottheit geworden, aus dem spricht nicht wahre Frömmigkeit, sondern »Stolz, und nichts als Stolz« (I/2), egozentrische Verblendung. Wie ist aber dann das Orsina-Diktum zu verstehen und auf das Ganze der unglücklichen Verkettung zu beziehen, die der Text entfaltet? Es liegt nahe und ist üblich, aus dem Orsina-Diktum den Schluss zu ziehen: wenn nichts Zufall ist, dann ist alles notwendig. Die Konsequenz dieser Lesart wäre allerdings der Befund, dass Lessing sein Gestaltungsziel auf denkbar krasse Weise verfehlt hat. Wenn es eine Tragödie gibt, die jeder Art von ›tragischer Unentrinnbarkeit‹ Hohn spricht, dann die Emilia. Hier ist alles an jedem Punkt des Geschehens buchstäblich bis zum letzten Augenblick auch anders möglich. Zwar wird alles Einzelne sorgfältig motiviert, aber dem Ganzen, das dabei entsteht, fehlt nichts so sehr wie irgendeine Art von Notwendigkeit oder Zwangsläufigkeit. Und zwar liegt der Grund für diesen Eindruck extremer Kontingenz des Geschehens, wie schon den Kommentatoren des 19. Jahrhunderts aufgefallen ist, in der singulären Rolle, die die Zeit in diesem Stück spielt. »Von einer Minute früher oder später hängt oft der ganze Fortgang der Handlung ab«, so hat Kettner richtig beobachtet und davon gesprochen, dass hier »die rein zeitliche Verknüpfung der Umstände den inneren Kausalnexus« überwuchere und das Ganze dadurch die Züge eines Schicksalsdramas gewinne.57 Seit August Wilhelm Schlegel und Eichendorff haben zahllose Interpreten daraus gefolgert, Lessing sei mit seinem Ziel, dem Geschehen die Qualität einer schicksalhaften Notwendigkeit zu verleihen, das er durch den Mund der Orsina verkünde, in krasser Weise gescheitert. Aber Lessing weiß auch hier, was er tut.

56 57

FA 3, S. 193. Gustav Kettner: Lessings Dramen im Lichte ihrer und unserer Zeit. Berlin 1904, S. 236. Ausführlich dazu das Kap. »Zeit-Fragen« bei Ter-Nedden (s. Anm. 1), S. 43–51.

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Sein Trauerspiel ist der Musterfall einer – mit Brecht zu sprechen – ›aufhaltsamen‹ Tragödie. Zwar verleiht er seinen Plotkonstruktionen den Charakter der Fügung, einer unglücklichen (Sara, Emilia) bzw. glücklichen (Minna, Nathan) Verkettung, die als solche von niemandem gewusst und gewollt wurde und darum die Deutung »Zufall oder Vorsehung« herausfordert. Aber die Antwort auf die Frage »blinde Kontingenz oder metaphysische Fatalität« kann nur heißen: keines von beiden. Das Leid, mit dem der Zuschauer mit-leiden können soll, darf weder dem blinden Ungefähr noch einer übermenschlichen Fatalität entspringen, sondern muss das natürliche Resultat einer Kette von menschlichen Sündenfällen sein, die von den Tätern im Zustand leidenschaftlicher Verblendung und Besinnungslosigkeit wider besseres Wissen und Gewissen begangen werden und von ihnen darum auf der Basis »der Kunst, es nicht gewesen zu sein« (Odo Marquard), menschlichen und göttlichen Teufeln zugeschrieben werden.

2.4 »Das hat der Satan so gefügt« Wie Maler Müller aus seinen Gesprächen mit Lessing berichtet, hatte dieser zwei unterschiedliche Entwürfe zu einem Faust-Drama gemacht, eines mit Teufeln, »das andere ohne solche, nur sollten in dem letzten die Ereignisse so sonderbar aufeinander folgen, dass bei jeder Szene der Zuschauer würde genötigt gewesen sein, auszurufen: das hat der Satan so gefügt.«58 Dieses Gedankenspiel ist erkennbar in die Konzeption der Emilia mit eingegangen und bezeichnet dasselbe Darstellungsprogramm wie Orsinas Satz »Das Wort Zufall ist Gotteslästerung.« Die Kette der Sündenfälle, aus denen die Bühnenhandlung besteht, trägt die Züge einer unglücklichen Verkettung, in der die Zeit und der Zufall ihr diabolisches Spiel mit den Menschen zu treiben scheinen. Das von Lessing publizierten Faust-Fragment besteht aus der Geschwindigkeitsprobe, die Faust mit den Teufeln anstellt, und ist für unser Thema ebenso einschlägig wie der Leibniz-Essay über die Ewigkeit der Höllenstrafen, weil im Dialog zwischen Faust und den Teufeln einmal mehr der Mythos vom Sündenfall verhandelt wird. Der sechste Teufel, der so schnell zu sein behauptet wie die »Rache des Rächers«, schafft sich einen Schöpfer nach seinem Ebenbild: einen Rache-Dämon, »der sich allein die Rache vorbehielt, weil ihn die Rache vergnügte«, und der die Menschen einzig zu dem Zweck schafft und erhält, damit sie durch ihre immer neuen Sündenfälle seiner Rache verfallen: »Daß er dich noch sündigen lässt, ist schon Rache!«59 Der siebte Teufel schließlich ist so schnell wie der Übergang vom Guten zum Bösen, ist also gleichsam der personifizierte Sündenfall selbst. Warum ist dieser Übergang der schnellste?

58 59

Lessings Faustdichtung. Mit erläuternden Beigaben. Hg. von Robert Petsch. Heidelberg 1911, S. 45. FA 4, S. 63.

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Die Antwort gibt Faust dem fünften Geist, der so schnell ist »wie die Gedanken des Menschen«: Das ist etwas! – Aber nicht immer sind die Gedanken des Menschen schnell. Nicht da, wenn Wahrheit und Tugend sie auffordern. Wie träge sind sie alsdenn!60

Die Vernunft braucht Zeit – onto- und phylogenetisch. Die religiöse »Erziehung des Menschengeschlechts« ist ebenso ein temporaler Prozess wie die Bildungsgeschichte eines jeden Einzelnen. Am Anfang steht allemal die blinde Egozentrik – das Böse, der Sieg der »dunklen Vorstellungen« über die klare Erkenntnis. Darum sind alle Sündenfälle und tragischen Katastrophen in Lessings Dramen erstens Produkte des Augenblicks; von ihnen gilt das, was er im Laokoon über die Medea sagt: »Zeit und Überlegung« dürfen keinen Raum gewinnen, ohne »diesem flüchtig überhingehenden Grade der äußersten Raserei eine Dauer zu geben, die alle Natur empöret.«61 Und zweitens sind ihre Täter typischerweise »Jünglinge«: nicht nur Mellefont, der »kindliche Held« Philotas und der Tempelherr, sondern auch Odoardo, der »brausende Jünglingskopf mit grauen Haaren«. Die im Faust-Fragment dramatisierte Theologie des Sündenfalls besitzt in mehrfacher Hinsicht Schlüsselfunktionen für die Dramaturgie des Sündenfalls, wie sie in der Emilia Gestalt gewinnt. Das betrifft erstens die Rolle der Zeit, zweitens die teuflische Verführung, als deren Opfer sich die Figuren erleben, und drittens das Motiv der göttlichen Rache Alle drei Motive zusammen sind für die Erzeugung des Eindrucks zuständig, das Geschehen gehorche einer satanischen Fügung, den sich Lessing zum Ziel seines ›Faust ohne Teufel‹ gemacht hatte. Für die Bühnenhandlung der Emilia besitzt das Verfehlen des rechten Zeitpunkts leitmotivische Funktion. Alles, was geschieht, wirkt sich verhängnisvoll aus, weil es einen Augenblick »zu früh« oder »zu spät« geschieht, und auch hier macht sich Lessing das Gesetz seiner Darstellung im Text zum Thema. Auf der Basis der Unterscheidung zwischen der Zeit in der physischen und in der moralischen Welt, die auch in dem Geschwindigkeitswettbewerb der sieben teuflischen Geister entfaltet wird, konstatiert z.B. der melancholisch verstimmte Appiani: »Ja, wenn die Zeit nur außer uns wäre! – Wenn eine Minute am Zeiger, sich in uns nicht in Jahre ausdehnen könnte! […] noch Einen Schritt vom Ziele, oder noch gar nicht ausgelaufen sein, ist im Grunde eines« (II/8). Das ist eine textimmanente Poetik der Zeit in einem Drama, das der Dramaturgie des Sündenfalls gehorcht, weil es die Psycho-Logik des Sündenfalls benennt, der das Produkt des Augenblicks, der leidenschaftlichen Besinnungslosigkeit ist. Diese innere Unendlichkeit ist der Raum, in dem sich die blitzartigen Übergänge vom Guten zum Bösen ereignen, um sich immer aufs Neue in dem Einen Schritt zu materialisieren, der – wie Odoardo eingangs in der Sprache der tragischen Ironie seinen eigenen finalen Sündenfall ominös vor-

60 61

FA 4, S. 63. FA 5/2, S. 34.

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wegnehmend erklärt – »genug zu einem Fehltritt« (II/2) ist. Als Sündenfälle im prägnanten Sinn qualifizieren sich diese Fehltritte dadurch, dass die Figuren sich durchgängig der Sprache der Religion bedienen – so der philologische Befund, von dem unsere Untersuchung ausgegangen war. Im zweiten FaustPlan sollten die Höllengeister nicht nur durch eine satanisch erscheinende Fügung der Ereignisse, sondern auch durch einen »Erzbösewicht« ersetzt werden, der »gegen einen Unschuldigen die Rolle des schwarzen Verführers vertritt«.62 Auch dieses Motiv ist in die Emilia eingegangen und wird von der Titelheldin auf den Begriff gebracht: »Gewalt! Gewalt! Wer kann der Gewalt nicht trotzen? Was Gewalt heißt, ist nichts: Verführung ist die wahre Gewalt!« (V/7) Auch der Satz »Verführung ist die wahre Gewalt« erschöpft sich nicht in seiner Funktion als situationsbezogener Figurenrede, sondern gehört zu den programmatischen Sätzen, mit denen der Autor – wie oben gezeigt – die Logik seiner Plotkonstruktion offenlegt. Dieser Gewalt der Verführung unterliegen alle dramatis personae und darum erkennen sie so durchgängig in ihren Partnern menschliche Teufel und ernennen insbesondere Marinelli zum »Erzbösewicht« in der »Rolle des schwarzen Verführers«. Der verständnisvolle Zuschauer hingegen hat weder menschliche Teufel gesehen, die »das Böse tun, weil es das Böse ist«, und deshalb die ewigen Höllenstrafen verdienen, noch ist er Augenzeuge einer diabolischen über die Figuren verhängten Fatalität geworden. Die scheinbar satanische Fügung enthüllt sich ihm vielmehr als der »fatale Strom«, auf dessen Gestaltung Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie den wahren Poeten festlegt, »bei dem wir überall nichts als den natürlichsten, ordentlichsten Verlauf wahrnehmen«.63 Im Verlauf dieses Stroms interagieren alle Figuren als verführte Verführer miteinander, die im Zustande leidenschaftlicher Verwirrung Dinge begehen, die sie im Zustand der Besinnung selbst nicht billigen und darum anderen zuschreiben. Sowohl die Rede von den »Teufeln« wie von der »Vorsicht« und dem »Himmel« stellt sich überall dort ein, wo die Figuren sich zu etwas verführen lassen, was sie selbst nicht billigen, wenn sie wieder zur Vernunft gekommen sein werden. Wir tun das Böse weder bewusst noch bewusstlos, sondern unterliegen der stärkeren Kraft der Leidenschaften. Bereits in der Sara hatte Lessing den projektiven Mechanismus, der solchen Verteufelungen zugrunde liegt, von seiner Titelheldin aussprechen lassen: Wie schlau weiß sich der Mensch zu trennen, und aus seinen Leidenschaften ein von sich unterschiedenes Wesen zu machen, dem er alles zur Last legen könne, was er bei kaltem Blute selbst nicht billiget. (V/5)

Zu diesen Wesen gehört nun auch die Schöpfer-Gottheit selbst. Der Diener Waitwell, der – ähnlich wie der Rat Rota in der Emilia – als das bessere Ich seines Herrn und die Stimme der wahren Frömmigkeit fungiert, verpflichtet Sara auf die »Wollust der Vergebung« als der Möglichkeit, an der »große[n], unüberschwengliche[n] Seligkeit Gottes« teilzuhaben, »dessen ganze Erhaltungen der elenden Menschen ein immerwährendes Vergeben ist« (III/3) – im 62 63

Petsch (s. Anm. 58), S. 45. FA 6, S. 339.

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pointierten Kontrast zur Auseinandersetzung zwischen Marwood und Mellefont, die sich wechselseitig als teuflische Verführer identifizieren und sich in der Konsequenz dieser Schuldzuweisungen zur infernalischen »Wollust der Rache« bekennen: »Ungeheuer! Ist der Teufel ärger als du, der schwache Menschen zu Verbrechen reizet, und sie, dieser Verbrechen wegen, die sein Werk sind, hernach selbst anklagt?« (II/7) – so empört sich Marwood über die Verdammung durch Mellefont und bekräftigt ihre Wut durch den frommen Wunsch, dieser möge durch die Bekanntschaft mit ihr nicht nur sein Vermögen, sondern auch seine ewige »Seligkeit« eingebüßt haben. Auf analoge Weise pervertiert sich für Orsina und Odoardo der Gott der Vergebung in den »Rächer« des sechsten Höllen-Geists. Indem sie die zeitliche Verknüpfung der Ereignisse nicht als natürlichen Verlauf, sondern als göttliche Fügung deuten, den Gott dieser Fügung jedoch nach Maßgabe ihres eigenen Rachebedürfnisses in einen Rache-Dämon verwandeln und den Ausgeburten ihres Hasses und ihrer Rachsucht den Namen »allgütige Vorsicht«, »Himmel« und »Richter unser aller« geben, gewinnt die Folge der Ereignisse die Züge einer diabolischen Verkettung. Die Pointe dieser Plotkonstruktion, durch die sich ihr Autor einmal mehr als Epigrammatiker erweist, lautet: Nicht die Zeit und der Zufall spielen ein teuflisches Spiel mit den Menschen, sondern die teuflische Deutung der kontingenten Ereignisse erweist sich als self-fulfilling prophecy. Keine metaphysische Fatalität waltet über den Figuren, sondern die ganz natürliche Logik der Selbsterfüllung.

2.5 Ödipus und die Logik der Selbsterfüllung Das ist das Stichwort für unseren letzten Baustein zur Rekonstruktion der Dramaturgie des Sündenfalls – Lessings Auseinandersetzung mit dem Ödipus des Sophokles. Das prominenteste zeitgenössische Exemplar einer Tragödie, mit der die Fügung einer Gottheit mit diabolischen Zügen auf der Bühne durchgespielt wurde, und zwar zum Zweck der antiklerikalen Polemik und Religionskritik, stammt von dem jungen Voltaire, der mit seinem Oedipe (1718) seinen ersten großen Bühnenerfolg errang. Der Grund für die Faszinationskraft des Ödipus-Mythos liegt nicht in den sensationellen Verbrechen als solchen. Dass jemand ohne sein Wissen seinen Vater tötet und mit seiner Mutter Kinder zeugt, die seine Geschwister sind, gehört für sich genommen zu den kruden Sensationsgeschichten, wie sie sich in den Archiven der Volkskunde, der Kolportageliteratur und der Massenpresse zu Tausenden finden lassen. Zu einer einzigartigen Herausforderung wird dieser Mythos – auf der Basis seiner Dramatisierung durch Sophokles – durch die fatale Rolle, die die Orakel dabei spielen. Der Orakelspruch steht am Anfang: Erst die von dem Vater Laios und dann von dem Sohn Ödipus unternommenen Versuche, das vorausgesagte Verhängnis zu vermeiden, führt es herbei und verleiht dem Ganzen damit die Züge einer besonders perfiden Falle. Die katastrophale Verkettung erscheint wie die Fügung eines deus malignus, eines

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bösen Dämons, der die Menschen nicht nur ins Unglück stürzt, sondern auch noch seinen Spott mit ihnen treibt. So jedenfalls ist die Geschichte von Voltaire aufgefasst worden, der in seinem Oedipe die Götter (und natürlich die Priester) für das teuflische Katz-und-Maus-Spiel blamiert, das sie mit den Menschen getrieben haben. Bei ihm endet das Stück mit dem berühmten stolzen Bekenntnis der Jokaste: »j’ai fait rougir les dieux, qui m’ont forcée au crime.« (V/6) – Das ist also die erste mit literarischen Mitteln gestaltete Anti-Theodizee des Autors des Candide und der Kontext, in dem Lessing zu seiner eigenen Ödipus-Lesart findet. Auch Lessings Auseinandersetzungen mit dem Ödipus-Mythos stehen im Dienst seiner Religionsphilosophie und Theologiekritik. Aber mit einer Religionskritik nach dem schlichten Strickmuster Voltaires kann er sich nicht zufrieden geben; er sieht sich genötigt, das »faire rougir« an die Menschen zurückzuadressieren. Die wahre religiöse Aufklärung kann sich nicht damit begnügen, einzelne religiöse Glaubensinhalte als Aberglaube zu entsorgen und die Priester zu Sündenböcken zu ernennen, sondern muss sich vielmehr auf den Grund richten, aus dem das fanatische und abergläubische Verständnis der Religionen entspringt. Dazu bedarf es des Ganges durch die »Labyrinthe der Selbsterkenntnis«, denn – so lautet die zentrale Evidenz seines AufklärungsProgramms – »die Selbsterkenntnis war allezeit der nächste Weg zur Religion, und ich füge hinzu, der sicherste«.64 Der einzige wahre Orakel-Spruch ist das sokratische Gnothi sauton: Der weiseste unter den Menschen, nach einem Ausspruche des Orakels, in dem es sich am wenigsten gleich war, bemühte sich die Lehrbegierde von diesem verwegenen Fluge zurückzuholen. Törichte Sterbliche, was über euch ist, ist nicht für euch! Kehret den Blick in euch selbst! In euch sind die unerforschten Tiefen, worinnen ihr euch mit Nutzen verlieren könnt.65

Bereits Hettner und Gervinus ist aufgefallen, dass es sich bei Lessings Experimenten und Plänen mit Orakel-Geschichten und insbesondere bei seinem Entwurf zu dem Trauerspiel Der Horoscop um Gedankenspiele handelt, in denen Möglichkeiten zu einer Modernisierung des Ödipus des Sophokles durchgespielt werden. Da sie – wie das ganze 19. Jahrhundert – den Ödipus als Schicksalstragödie lasen, konnten sie in Lessings Versuchen nur eine zeitweilige Verirrung in die Sackgasse des Schicksalsdramas erblicken.66 Das ist jedoch 64 65 66

FA 2, S. 265 (Vorerinnerung zu Die Religion). FA 1, S. 917 (Gedanken über die Herrnhuter). Hettner etwa fühlt sich durch den Entwurf »Der Horoscop« und die anderen einschlägigen Projekte »sehr bedenklich an die verrufenen Schicksalstragödien der Müllner und Houwald, Werner und Grillparzer erinnert.« (Herrman Hettner: Geschichte der deutschen Literatur im Achtzehnten Jahrhundert. Bd. 1. Hg. von Gotthard Erler. Berlin 1961, S. 705). Erst 1956 hat Carl Enders dieses Missverständnis korrigiert und in dem Entwurf das Projekt einer Ödipus-Modernisierung erkannt, in dem die Logik der Selbsterfüllung freigelegt werden sollte, durch die sich der Orakelglaube ohne allen Rekurs auf metaphysische Instanzen auf ganz natürliche Weise bewahrheitet und sich damit selbst als das eigentliche Übel enthüllt. Vgl. Carl Enders: Der geistesgeschichtliche Standort von Lessings »Horoscop«. In: Euphorion 50 (1956), S. 208–216.

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ein weiteres Beispiel der uns bereits vertrauten Verwechselung der Kritik mit dem Kritisierten. In Wahrheit sind alle seine einschlägigen Projekte Versuche, die ganz natürliche Psycho- und Sozio-Logik der Selbsterfüllung freizulegen und auf diesem Weg die Orakel des Aberglaubens in das wahre Orakel, den Gang in die Labyrinthe der Selbsterkenntnis, zu verwandeln. Das ist besonders deutlich ablesbar an dem Traumorakel, das im Zentrum der Exposition zur Sara steht,67 an dem Plan zu einer Codrus-Verbesserung, den er im Brief an Mendelssohn (18. Februar 1758) entwirft, und am Horoscop, der sich durch den vom Orakelspruch induzierten Kindes- und Vatermord als ÖdipusModernisierung ausweist. So wie er in seinem Vorschlag zur Modernisierung des Hercules furens den modernen Autor dazu verpflichtet, den von der Göttin verhängten Wahnsinn in das Resultat einer ganz natürlichen Interaktionsgeschichte umzugestalten,68 so transformiert er auch alle Orakel-Erfüllungen in Demonstrationen der Logik der Selbsterfüllung. Es liegt nahe, hier von »Psychologisierung« zu sprechen. Aber es geht dabei nicht um Psychologie im eigenen Recht. Die Psychologisierung ist das Mittel, die Theodizee das eigentliche Ziel und die Theologiekritik und Religionsphilosophie der relevante Kontext. Das belegt der Text aus dem Nachlass Womit sich die geoffenbarte Religion am meisten weiß, macht mir sie gerade am verdächtigsten,69 der in den Umkreis des Fragmentenstreits gehört und einen für uns einschlägigen Zusammenhang zwischen dem Ödipus des Sophokles und dem christlichen Jenseitsglauben (und damit dem Märtyrerdrama) herstellt. Ausgangspunkt ist die Behauptung, die Offenbarung – und nur sie – könne »eine völlig ungezweifelte Versicherung von der Unsterblichkeit der Seele« gewähren.70 Das ist nicht nur in kognitiver Hinsicht nicht legitimierbar. Es ist vor allem als Lebensdeutung und religiöse Lebensorientierung falsch: So viel fängt man ziemlich an zu erkennen, daß dem Menschen mit der Wissenschaft des Zukünftigen wenig gedient sei; und die Vernunft hat glücklich genug gegen die törichte Begierde der Menschen, ihr Schicksal in diesem Leben vorauszuwissen, geeifert. Wann wird es ihr gelingen, die Begierde, das Nähere von unserm Schicksal in jenem Leben zu wissen, eben so verdächtig, eben so lächerlich zu machen? Die Verwirrungen, die jene Begierde angerichtet hat, und welchen (wie ich am Ödipus zeigen kann) durch schickliche Erdichtungen des Unvermeidlichen die Alten vorzubeugen wußten, sind groß; aber noch weit größer sind die, welche aus der andern entspringen. Über die Bekümmerungen um ein künftiges Leben verlieren Toren das gegenwärtige. Warum kann man ein künftiges Leben nicht ebenso ruhig abwarten, als einen künftigen Tag? Dieser Grund gegen die Astrologie ist ein Grund gegen alle geoffenbarte Religion. Wenn es auch wahr wäre, daß es eine

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69 70

Vgl. Ter-Nedden (s. Anm. 1), S. 43–51. Im »Vorschlag für einen heutigen Dichter« in der Seneca-Abhandlung (FA 3, S. 561). Lessings Argumentation bezieht sich sowohl auf den Herakles- wie auf den ÖdipusMythos. Wenn man den Ödipus-Mythos buchstäblich nimmt, so enthält er »eben so abscheuliche und die Menschen zur Verzweiflung bringenden Grundsätze« wie der Herakles-Mythos, so der Befund. Darum darf sich der moderne Dichter nicht an die Lehre halten, »welche jetzt darinnen liegt«, sondern an die, »welche darein gelegt werden kann.« (FA 3, S. 562). FA 8, S. 663f. FA 8, S. 663.

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Religion gäbe, die uns von jenem Leben ganz ungezweifelt unterrichtete, so sollten wir lieber dieser Religion kein Gehör geben.71

Lessing liest den Ödipus also nicht – wie Gottsched, Bodmer u.a. – moralistisch, als Warnung vor Jähzorn, und auch nicht wie Voltaire als AntiTheodizee in Form einer Schicksalstragödie avant la lettre, sondern als Lehrstück, das exemplarisch die »Verwirrungen« vorführt, in die ein Handeln sich verstrickt, das sich nicht an dem orientiert, was in der jeweiligen Gegenwart das Natürliche und Vernünftige ist, sondern sich aus der Furcht vor dem irdischen und überirdischen zukünftigen Heil und Unheil dazu verführen lässt, in der Gegenwart das Böse (in Gestalt der Tötung des eigenen Kindes) zu tun und das Gute zu unterlassen, und das eben dadurch geeignet ist, auf ganz natürliche Weise das Befürchtete herbeizuführen. Die Kritik an den christlichen Jenseitsvorstellungen mit ihrer Höllen- und Sündenfurcht, die sich aus der Vorstellung einer jenseitigen Belohnung und Bestrafung speist, ist uns als Kritik am Märtyrertum und am Märtyrerdrama bereits vertraut. Frappierend ist in diesem Zusammenhang die Entdeckung des Ödipus als einem Modell für eine Plotkonstruktion, aus dem sich eine aufklärende und aufgeklärte Alternative zum Märtyrerdrama entwickeln lässt. Lessing liest den Ödipus nicht als mythische Geschichte vom Götterfluch, sondern mythologisch als Drama über die wahre und falsche Auslegung des Götterwillens und der Mythen. Am Ursprung der »Verwirrung«, von der der Mythos erzählt, stehen nicht die Orakel, sondern eine Zukunfts- und Götterfurcht, die sich im Orakel-Glaube artikuliert. Dieser Gedankenkomplex wirft noch einmal Licht auf die ominöse Rolle der Zeit in der Emilia. Nicht erst im Finale treten Vater und Tochter aus Furcht vor zukünftigen Gefahren, die der Zuschauer als wahnhaft erkennen kann und soll, die Flucht aus der Welt an; vielmehr rückt die Plotkonstruktion das Tun und Lassen der Figuren von allem Anfang an dadurch in das Licht der tragischen Ironie, dass sie sich durch die Furcht vor eingebildeten zukünftigen Gefahren daran hindern lassen, in der Gegenwart das eigentlich Natürliche und Selbstverständliche zu tun, und dadurch die wirklichen katastrophalen Wendungen allererst heraufbeschwören. Bereits die intrigante Verheimlichung der Verlobung beruht auf der projektiven Unterstellung Odoardos, der Graf werde durch die Verbindung mit der Tochter seines Feindes die Feindschaft des Fürsten auf sich ziehen, und hat zur Folge, dass sich der junge Fürst in Emilia verlieben kann, ohne zu ahnen, dass es sich um die Braut des von ihm hochgeschätzten Grafen Appiani handelt. Auch Appiani zögert aus demselben wahnhaften Grund die Erfüllung der Anstandspflicht, den Fürsten über seine bevorstehende Vermählung in Kenntnis zu setzen, um den einen entscheidenden Augenblick zu lange hinaus, so dass ihm sein Rivale Marinelli zuvorkommen und die Leidenschaft des Fürsten für seine Zwecke ausnutzen kann – ein Motiv, dessen ominöse Bedeutung durch Appianis Reflexionen auf den Einen Augenblick und den Einen Schritt in seiner Bedeutung nachdrücklich unterstrichen 71

FA 8, S. 663f.

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wird. Auch Claudia lässt sich zu derselben intriganten Geheimhaltung verführen und überredet ihre Tochter, Appiani das Liebesgeständnis des Fürsten zu verheimlichen, und begründet diesen Einen verhängnisvollen Fehltritt mit der betont weit hergeholten Furcht, der spätere Ehemann Appiani könne in Zukunft den Vorfall zum Anlass nehmen, jene eifersüchtigen und misstrauischen Züge zu entwickeln, die sie von ihrem eigenen Mann kennt. Und wenn am Ende Emilia ihrem Vater den Mord an Marinelli und dem Prinzen »um des Himmels willen« mit dem Argument untersagt: »Dieses Leben ist alles, was die Lasterhaften haben« (V/7), für sich selbst jedoch »ein zweites Leben« erhofft, das sie durch ihre Flucht in den Tod aus Furcht vor einer möglichen zukünftigen Verführung durch das Laster zu gewinnen hofft, dann wird man auch darin ein Echo dieser Deutung des christlichen Märtyrertums erblicken können.

2.6 Der »Richter unser aller« – die andere poetische Gerechtigkeit Bei Livius verbindet Virginius den Mord an seinem Kind mit dem Fluch über das Haupt des Appius Claudius und überlebt den Tod seines Kindes nur um der Hoffnung willen, Rache für ihren Tod üben zu können. Lessings Odoardo übersetzt den Fluch und die Hoffnung auf Rache in die Sprache der christlichen Religion: Reizt sie noch Ihre Lüste? Noch, in diesem Blute, das wider Sie um Rache schreiet! (Nach einer Pause) Aber Sie erwarten, wo das alles hinaus soll? Sie erwarten vielleicht, daß ich den Stahl wider mich selbst kehren werde, um meine Tat wie eine schale Tragödie zu beschließen? – Sie irren sich. Hier! (Indem er ihm den Dolch vor die Füße wirft.) Hier liegt er, der blutige Zeuge meines Verbrechens! Ich gehe und liefere mich selbst in das Gefängnis. Ich gehe und erwarte Sie als Richter. – Und dann dort – erwarte ich Sie vor dem Richter unser aller! (V/8)

Auch hier haben die Interpreten der verblendeten Sicht der Figur nach dem Munde geredet und gefolgert, hier werde ein Konflikt, für den der Autor keine befriedigende irdische Lösung habe finden können, an eine jenseitige Instanz verwiesen. Verständlicherweise konnten sie darin nur eine Verlegenheitslösung erblicken; für den Lessing-Papst Erich Schmidt etwa ist der Appell an den Richter-Gott »eine Vorladung, die im Drama nicht zieht.«72 Nun werden in der Tat vor dem Jüngsten Gericht keine Taten und Untaten erfundener Figuren verhandelt. Wenn sich Odoardo mit seinem letzten Satz an den »Richter unser aller« wendet, dann ist seine Rede doppelt adressiert. Fiktionsimmanent spielt er die Rolle des Anklägers vor der irdischen und göttlichen Gerichtsbarkeit, wie sie bei Livius vorgebildet ist. Die Endstellung des Satzes in einem Kontext, in dem der Held das eigene Tun und Leiden auf der Bühne gegen eine »schale Tragödie« abgrenzt, verweist über die Fiktionsimmanenz hinaus auf die Wirklichkeit des Theaters. Der Gott des »Schatten-

72

Erich Schmidt: Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. Bd. 2. Berlin 1923, S. 39.

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risses der Schöpfung«, der auf der Bühne zur Erscheinung kommt, ist der Autor. Für seine Kunstfiguren gibt es keinen anderen »Richter unser aller« als das Publikum. Dieser Richter vermag diese zweite Welt des Poeten so vollständig zu überschauen, wie es der ersten Welt gegenüber allenfalls einer SchöpferGottheit möglich wäre. Die Mitglieder dieses Auditoriums sind darum die berufenen »auditores« der »rota sacra et profana«,73 vor deren Richterstuhl der Autor seine Figuren zitiert. Der finale Appell an den »Richter unser aller« ist keine Verlegenheitsauskunft, sondern die abschließende ausdrückliche Aufforderung an den denkenden Betrachter, das Drama, dessen Zeuge er geworden ist, im Lichte des christlichen Mythos vom Sündenfall und der Ewigkeit der Höllenstrafen zu begreifen, und das heißt zugleich: den christlichen Mythos im Lichte seiner poetischen – entmythologisierenden – Spiegelung zu betrachten. Wie also lautet der Richterspruch der »Erleuchtetsten und Besten seiner Zeit«,74 an denen zu orientieren sich Lessing öffentlich verpflichtet hatte, und das heißt: wie lautet der Richterspruch, den er selbst für den ›erleuchtetsten und besten‹ hält? Die Antwort des Religionsphilosophen kennen wir bereits – sie lautet: Es gibt Odoardos Richter-Gottheit nicht, die auf menschliche Sündenfälle mit rächenden Strafen antwortet – es gibt nur natürliche Folgen. Die Antwort des Dramaturgen kennen wir auch. Sie lautet: Die gängigen Plotmuster, die sich an der poetischen Gerechtigkeit orientieren, bei der die Tugend belohnt und das Laster bestraft wird, sind ebenso vulgär und aufklärungsbedürftig wie die gängigen Vorstellungen von Himmel und Hölle und der Einteilung der Menschen in die (wenigen) Erlösten und die (vielen) Verdammten. Die Aufgabe des aufgeklärten Dramatikers besteht darin, ein Ganzes zu schaffen, in dem zur anschauenden Erkenntnis gebracht wird, dass sich das Gute und Böse durch sich selbst und seine natürlichen Folgen belohnt und bestraft. Die Lösung, die der Dramatiker für diese selbstgestellte Aufgabe in der Emilia gefunden hat, besteht darin, in Form einer unglücklichen Verkettung die ganz natürlichen Folgen des ebenso natürlichen Straf- und Rachebedürfnisses vorzuführen, die aus dem uns allen gemeinsamen elementaren Impuls entspringen, Böses mit Bösem zu vergelten. Rache und Furcht vor Rache zieht sich als roter Faden durch die hier vorgeführte Verkettung hindurch. Den Anfang macht der Prinz, der Marinelli in seiner Verzweiflung zum Sündenbock ernennt: »wenn ich Ihnen jemals das vergebe – so werde mir meiner Sünden keine vergeben!« (I/6). Wie so viele Sätze in diesem Drama ist auch dieser ominös und bewahrheitet sich: Am Ende steht wieder die – diesmal endgültige – Verzweiflung über die Folgen eines Verbrechens, das er weder sich noch Marinelli je wird vergeben können. Zwischen diesem Anfang und diesem Ende erstreckt sich eine Kette, die das Thema immer neu abwandelt. Aus Furcht vor der Rache seines Komplizen lässt 73

74

Das Motiv des Richters und Richtens wird in der Exposition in Gestalt des Rats Rota eingeführt. Der Name »Rota« ist (wie alle Namen in der ›Emilia‹) ein sprechender Name: Die »Sacra Romana Rota« ist, abgeleitet von der kreisrunden Richterbank (Rota = Rad), der Name des obersten päpstlichen Gerichts. Seine Richter heißen »Auditores« (Zuhörer). FA 6, S. 191 (Hamburgische Dramaturgie, Erstes Stück).

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sich Pirro ein zweites Mal dazu verführen, seinen Herrn an einen Raubmörder zu verraten. Auch Claudia hat die Wut ihres Mannes zu fürchten, der ebenso unbeherrscht wie der Prinz Sündenböcke sucht und »den unschuldigen Gegenstand des Verbrechens mit dem Verbrecher verwechselt« (II/6), und lässt sich zur Verheimlichung verführen. Appiani rächt sich für die herabsetzenden Sticheleien Marinellis dadurch, dass er ihn seinerseits tödlich beleidigt und zum Kampf auf Leben und Tod zwingt. Marinellis Rache besteht in einem feigen Meuchelmord – und so geht es durch den ganzen Text fort. Die Figur der Orsina hat Lessing eigens neu in die Figuren-Konstellation des Virginia-Plots eingefügt, um das Motiv der Ansteckung des Tugendhelden durch die Raserei der Rache ausgestalten zu können. Sogar der Bandit Angelo bekennt sich in dieser Rache-Tragödie zum Ethos rächender Vergeltung: »Ich könnte weinen um den ehrlichen Jungen! […] ich bin sein Erbe, weil ich ihn gerächet habe. Das ist so unser Gesetz: ein so gutes, mein’ ich, als für Treu’ und Freundschaft je gemacht worden.« (III/2) Wenn also Odoardo an die Richter-Gottheit in der Erwartung appelliert, dieser solle und werde am Prinzen »Rache« für das Blut seines Kindes üben, dann wird damit der Fall nicht »an eine höhere Instanz«75 verwiesen. Vielmehr spricht er sich selbst damit sein Urteil. »Was hat die gekränkte Tugend mit der Rache des Lasters zu schaffen? Jene allein hab’ ich zu retten.« – so hatte er sich selbst zur Ordnung gerufen, nachdem ihn Orsina mit ihrem »Gift« des Racheverlangens zum ersten Mal um den Verstand gebracht hatte. Aber der finale Appell an die »Rache« des göttlichen »Richters« offenbart, dass in ihm das Rache-Bedürfnis über die Liebe zum Kind triumphiert hat. Das ist sein Sündenfall – nicht deshalb, weil er damit gegen göttliche Ge- und Verbote verstoßen hätte, sondern weil die Wahrheit des Rache-Verbots in der Evidenz beruht, dass es die Menschen vor sich selbst schützt. Wenn die Interpreten immer aufs Neue den rächenden Mord am Prinzen oder zumindest dessen Sühne-Selbstmord eingeklagt haben, dann gehört das wie die ganze Schuld-und-Sühne-Kasuistik zu dem Schiller-Schaden, den die Lessing-Philologie im 19. Jahrhundert erlitten hat. Sie ist für Lessings poetische Welt schon deshalb unangemessen, weil der Tod in seiner Vorstellungswelt keine Strafe ist. Die Vorstellung des Todes als Strafe oder Sühne gehört wie die der Sexualität als Sünde für Lessing zu dem kritik- und revisionsbedürftigen Erbe der christlichen Kultur, gegen das er die antike Kultur als die bessere Alternative beruft. In seiner Mendelssohn-Rezension (1755) rühmt er mit besonderer Emphase die philosophische Behandlung des Selbstmords aus der Sicht des »Weltweisen […], welcher den Tod nicht als eine Zernichtung, sondern als einen Übergang in eine andere und vielleicht glücklichere Art von Fortdauer betrachtet.«76 Der Tod als solcher bedarf keiner Theodizee: »Jede Bewegung, im Physischen entwickelt und zerstöret, bringt Leben und Tod;

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So die Lesart in: Wilfried Barner u. a.: Lessing. Epoche, Werk, Wirkung. München 51987, S. 215. FA 3, S. 419.

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bringt diesem Geschöpfe Tod, indem sie jenem Leben bringt: soll lieber kein Tod sein, und keine Bewegung? Oder lieber, Tod und Bewegung?«77 so schreibt er gelegentlich in seinem vierten Anti-Goeze. Durch Emilias Tod sind alle bestraft, die zu ihm beigetragen haben, am meisten der Prinz und Odoardo, nicht aber Emilia selbst. Wenn Pirro zu spät begreift, sich »auf ewig« dem Teufel übergeben zu haben, wenn der Prinz die Leiche Emilias »mit Entsetzen und Verzweiflung« (Regieanweisung) betrachtet, wenn Marinelli mit der Klage »Weh mir!« die Bühne verlässt, wenn Odoardo die eigene Untat mit einem »Gott, was hab ich getan!« kommentiert, dann ist damit jedes Mal alles gesagt, was zu sagen war. Der Urteilsspruch des »Richters unser aller« steht nicht aus, sondern ist dem Geschehen immanent und besteht in dem Urteil, das die Figuren über sich selbst zu fällen gezwungen sind. Diese innere Hölle ist Lessings alternative Form der poetischen Gerechtigkeit. Wer nach der hier vorgeführten Verkettung von Sündenfällen, zu der alle dramatis personae ihren Teil beigetragen haben, noch immer nach dem Dolch des Tyrannenmörders oder dem Sühne-Selbstmord der von Odoardo berufenen »schalen Tragödien« ruft, für den hat Lessing nicht geschrieben.

2.7 Die antitragische Theodizee – Nathan der Weise Die Wirklichkeit, die durch diesen Schattenriss erschlossen wird, ist die uns allen gemeinsame Menschennatur. Wenn der Poet sein Handwerk versteht, und das heißt für Lessing: wenn er die magische Kunst beherrscht, sich »aus dem Gesichtspunkte des Erzählers«, also aus der Dritte-Person-Perspektive des Historiographen, »in den wahren Standort einer jeden Person«, also in die ErstePerson-Perspektive des personalen Erlebens zu versetzen, so dass der Zuschauer »sympathisieren muß, er mag wollen oder nicht«,78 dann hat der Zuschauer in wechselnden Gestalten immer nur sich selbst, seine eigene innere Wirklichkeit erkannt und wiedererkannt. Von dieser Wirklichkeit gilt: Das Leid, das wir uns zufügen, gründet im Verfehlen des Guten, nicht im Wollen des Bösen. Und zwar liegt der Grund für dieses Verfehlen in jener ursprünglichen Egozentrik unseres Welthabens, die nicht zu haben nicht in unserer Macht steht, ja die nicht zu haben wir nicht einmal wirklich wollen können, weil sie mit unserer Lebendigkeit identisch ist. So müssen wir – beispielsweise – mit der leidenschaftlichen Liebe, die den jungen Fürsten ergriffen hat, ebenso sympathisieren wie mit der Empörung und der Wut Odoardos über das Verbrechen; wir können nicht wirklich wollen, von dieser Leidenschaftlichkeit des Erlebens als solcher erlöst zu werden, sondern nur, vor jener leidenschaftlichen Besinnungslosigkeit bewahrt zu werden, in der

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FA 9, S. 197. So die programmatischen Formulierungen im Ersten Stück der »Hamburgischen Dramaturgie« (FA 6, S. 187).

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wir gegen unser eigenes besseres Wissen in selbstzerstörerischer Weise das Böse tun. Das Böse ist also nicht unsere einzige und letzte Wirklichkeit, sondern das im eminenten Sinne Anfängliche und Vorläufige. Darum ist die Theodizee in der Form der Tragödie prinzipiell unvollständig. Die poetische Gestaltung des Unglücks und Leids als Resultat des Verfehlens des Guten bedarf der Ergänzung durch eine dramatische Mimesis, die das Glück mit- und nachvollziehbar macht, das im Tun des Guten liegt. Wenn Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie dem poetischen »Schattenriß der Schöpfung« zur Aufgabe macht, ein Bild der menschlichen Lebensdramen zu entwerfen, in dem sich »alles zum Besten löst«, dann ist diese antitragische Mimesis mitgemeint, wie sie ihm mit seiner Minna gelungen war und mit seinem Nathan gelingen wird. »Antitragisch« nenne ich diese Plotkonstruktionen, weil sich der Glücksumschwung, der sich in der Emilia in programmatischer Ausdrücklichkeit als plötzlicher Übergang von Glück in Unglück vollzieht, hier ebenso ausdrücklich in spiegelbildlicher Umkehrung vollzieht, und zwar ist es in der Minna die Tragödie des Othello, im Nathan die des Ödipus, also die beiden von Lessing am höchsten geschätzten Tragödien überhaupt, die ihn zu antitragischen Komplementär-Versionen inspirieren. Drei Geschichten werden im Nathan ausdrücklich berufen: die Hiob-Erzählung, die Ringparabel, verbunden mit der Geschichte der Befreundung zwischen dem Sultan Saladin und dem Juden Melchisedech, und eine Familiengeschichte nach dem Muster des Ödipus, in der der Verwandtenmord und der Inzest, die im Zentrum der attischen Tragödie stehen, glücklich vermieden werden. Jede Nathan-Interpretation sieht sich mit der Aufgabe konfrontiert, den inneren Zusammenhang nachzuvollziehen, den Lessings ingeniöse Kombinatorik diesen Mythen auf der Grenze zwischen Poesie und Religion verliehen hat. Zwei Gemeinsamkeiten konnten es Lessing nahelegen, diese Geschichten in seiner Plotkonstruktion miteinander zu verbinden: Sie alle erzählen von der Interaktion zwischen den Menschen und den Göttern und spielen dabei in narrativer Form die Theodizee-Frage durch; und sie übersetzen dabei die religiöse Frage nach dem von den Göttern über die Menschen verhängten Unheil bzw. ihnen gewährten Heil in das Drama der Elternschaft: Das Unglück Hiobs besteht in dem Verlust aller seiner Kinder, und sein endliches überreiches Glück findet darin seinen Ausdruck, dass ihm aufs Neue sieben Söhne und drei Töchter geschenkt werden und dass er die Kette der Kindeskinder bis ins vierte Glied erleben darf, bevor er »alt und lebenssatt« stirbt. Das Lebensdrama des Ödipus besteht umgekehrt darin, dass sich ihm das Drama der Elternschaft in katastrophaler Weise verkehrt: Zwar rettet ihn die Adoption durch ein kinderloses Ehepaar vor dem Tod, zu dem ihn sein Vater bestimmt hat, aber nur, damit er ungewollt seinen Vater tötet und mit seiner Mutter Kinder zeugt, die seine Geschwister sind und in denen sich der Geschlechterfluch durch den wechselseitigen Brudermord zwischen Eteokles und Polyneikes und durch das tragische Geschick Antigones fortsetzt.

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Die Ringparabel schließlich übersetzt die Geschichte der drei miteinander konkurrierenden Buch- und Offenbarungsreligionen in eine Familiengeschichte, in der ein »von lieber Hand« geschenkter heilbringender Ring durch die Kette der Generationen wandert, um endlich zum Gegenstand des Erbschaftsstreits der drei Brüder zu werden, in dem das als Liebespfand gestiftete väterliche Erbe sich zum Ursprung des tödlichen Hasses zwischen ihnen verkehrt. Ich beginne meine Rekonstruktion des Nathan-Plots mit der Hiob-Erzählung, reduziert auf das, was Lessing von ihm übernimmt: Hiob ist ein ebenso reicher wie weiser und frommer Mann, dessen Reden und Taten von seinem Volk wie die eines Propheten verehrt werden. Das provoziert den Satan in der zwischen dem »Herrn« und den »Gottessöhnen« spielenden Rahmenhandlung zur satanischen Wette. Sie lautet, Hiob tue das Gute nicht, weil es das Gute ist, sondern weil ihm für seine Frömmigkeit reicher Lohn zuteil geworden sei, und werde im Unglück von Gott abfallen: Meinst du, dass Hiob Gott umsonst fürchtet? Hast du doch ihn, sein Haus und alles, was er hat, ringsherum beschützt. […] Aber strecke deine Hand aus und taste alles an, was er hat: was gilt’s, er wird dir ins Angesicht absagen! (Hiob 1, 9–11)

Von den drei Prüfungen, denen Hiob ausgesetzt wird – Verlust seines Reichtums und Ansehens, Verlust seiner Kinder, Verlust seiner körperlichen Unversehrtheit –, wählt Lessing, wie sich nach dem oben Gesagten von selbst versteht, die Tötung seiner sieben Söhne aus: Sie kommen im Haus des Bruders um, weil Satan einen Wüstensturm erregt, der das Haus einstürzen lässt und alle Kinder Hiobs erschlägt. Daraufhin liegt Hiob sieben Tage vor Gott im Staub, rechtet mit ihm und verflucht den Tag seiner Geburt. Die im biblischen Original nun folgenden umfangreichen Rede-Duelle zwischen Hiob und seinen drei Kontrahenten spart Lessing aus, bis auf das Finale dieser dialogisierten Theodizee, in der Hiob die Stimme des Herrn selbst vernimmt und (in Nathans Formulierung) zur »innigsten Ergebenheit in Gott« findet. Daraufhin wendet der Herr Hiobs Geschick. Ihm werden aufs Neue sieben Söhne und drei Töchter geschenkt. »Und es gab keine so schönen Frauen im ganzen Lande wie die Töchter Hiobs […] Und Hiob lebte danach hundertundvierzig Jahre und sah Kinder und Kindeskinder bis in das vierte Glied.« (Hiob 42, 15f.) Das ist die biblische Vorlage für Lessings antitragische Theodizee, und auch hier, wie bei seinen Faust-Dramatisierungen, stellt sich für den Dramatiker die Aufgabe, das mythische Geschehen in ein zwischenmenschliches Geschehen zu verwandeln, bei dem wir »nichts als den natürlichsten und ordentlichsten Verlauf wahrnehmen« und das sich gleichwohl als Antwort auf die Frage nach dem Heilsversprechen der Religion(en) angesichts des faktischen Leids und Unheils verstehen lässt.79

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Die einzige Arbeit, die in mehr als marginaler Weise auf die Hiob-Zitate eingeht, stammt von Ingrid Strohschneider-Kohrs: Lessings Hiob-Hinweise. In: Vernunft als Weisheit. Studien zum späten Lessing. Tübingen 1991, S. 90ff. Dort im Anhnag: »Texte zur HiobDeutung im 18. Jahrhundert«, S. 247–286. Die Plotkonstruktion des ›Nathan‹ und damit

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Die Lösung, die Lessing sich einfallen lässt, kombiniert die Hiob-Erzählung mit der Ringparabel-Novelle. In Gestalt des Sultan Saladin und des Juden Melchisedech vergegenwärtigt die Novelle die Welt der Kreuzzüge, in der sich das Hiob-Schicksal historisch konkretisieren und mit der Religionsgeschichte verbinden lässt. Im Religionskrieg bedarf es keines Satans, um einem frommen und weisen Juden seine Kinder zu rauben; das besorgen hier menschliche Teufel in Gestalt des christlichen Pöbels, der Nathans »sieben hoffnungsvolle Söhne« im Hause seines Bruders dem Feuertod ausliefert und in diesem mörderischen Tun von einer Theologie angeleitet wird, die die mörderische und selbstmörderische Gewalt im Religionskrieg heilig spricht. Auch der weise Jude Nathan liegt wie der weise Jude Hiob vor Gott in Staub und Asche und verflucht sich und die Welt. Aber nicht Gott, sondern die Menschen im Name ihres Gottes haben ihn geschlagen. Das Elend des biblischen Hiob ist das allgemeine der menschlichen Hinfälligkeit; das Elend des modernen Hiob entspringt der Religion und ist das Böse, das die Menschen einander unter Berufung auf ihre Götter zufügen. Das verleiht der Theodizee-Thematik hier ihre religionskritische Schärfe. Lessings Antwort auf die solchermaßen konkretisierte Theodizee-Frage gewinnt ihre eindringlichste poetische Gestalt in der »Geschichte vom Verlust der sieben Söhne und Rechas Adoption, die jeden, der welche hat, in die Eingeweide greift«80 – so Friedrich Schlegel über die ergreifendste Szene, die Lessing gedichtet hat. Es ist die Schlüsselszene des Nathan, in der sich alle Motive bündeln, von denen bislang die Rede war. Hiob straft den Satan dadurch Lügen, dass er auch im Unglück nicht von Gott abfällt. Seine »Ergebenheit in Gott« findet ihren Lohn in einem happy ending, in dem »Gott, wie in den Comödien der Alten zu geschehen pflegte, tanquam Deus ex machina, erscheinet, und dem Hiob alles Gute verspricht und widerfahren lässet« – so das spöttische Referat des Reimarus, das Lessing im Vierten Fragment aus den Papieren eines Ungenannten abdruckt.81 In der Tat – die Hiob-Erzählung trägt mit der finalen überreichen Wiedererstattung alles dessen, was ihm geraubt wurde, die Züge einer märchenhaften Wunscherfüllungs-Geschichte. Wenn sie dennoch für Lessings Zwecke brauchbar ist, so darum, weil sich dieses Theodizee-Drama wesentlich als Verlust und Wiedergewinnung der Kinder Hiobs vollzieht und weil ihm seit seiner Auseinandersetzung mit dem Medea-Mythos in der Sara im Motiv der Adoption des Kindes der Mörder der eigenen Kinder ein antitragisches Gegen-Motiv zum Kindesmord zur Verfügung steht, das sich dazu anbietet, das Hiob-Märchen zu entmythologisieren.

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die Deutung des Nathan-Dramas als Modernisierung der Hiob-Geschichte liegt freilich außerhalb ihrer Fragestellung. Friedrich Schlegel: Über Lessing (1797). Zit. nach: Lessing – ein unpoetischer Dichter. Dokumente aus drei Jahrhunderten zur Wirkungsgeschichte Lessings in Deutschland. Hg. von Horst Steinmetz. Frankfurt am Main 1969, S. 187. FA 8, S. 266.

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Als im Januar 1764 Lessings Bruder Gottfried stirbt, schreibt er an den Vater: Die einzige wahre Pflicht, die mir der Tod meines Bruders auflegen kann, ist diese, dass ich mein übriges Geschwister desto inniger liebe, und die Zuneigung, die ich gegen den Toten nicht mehr zeigen kann, auf die Lebendigen übertrage.82

Die Liebe, die wir den Toten nicht mehr geben können, auf die Lebenden zu übertragen, ist die natürlichste Möglichkeit, das verlorene Lebensglück zurückzugewinnen. Dem biblischen Hiob werden am Ende aufs Neue sieben Söhne und drei wunderschöne Töchter geschenkt; Lessings Hiob findet – ganz ohne den märchenhaften deus ex machina – »in dem einz’gen fremde[n] Mädchen«, mit dem ihn schon bald eine »siebenfache Liebe« verbindet, Ersatz für seine sieben Söhne – so schlicht und menschlich geht es in Lessings Theodizee zu. Die selbstlose Elternliebe bietet die stärkste phänomenale Evidenz für die Erfahrung, dass es dem Menschen möglich ist, das Gute zu tun, weil es das Gute ist, und darin ein Glück zu finden, das nicht der Logik einer vom Tun des Guten getrennten Belohnung gehorcht. Wenn Nathan die Elternrolle für das verwaiste Christenkind seines Freundes übernimmt, »der mehr als einmal mich dem Schwert entrissen« (IV/7) hat, dann tut er damit etwas, das natürlicher und selbstverständlicher nicht sein könnte. Allenfalls jener »flüchtig überhingehende Grad der äußersten Raserei« der Rache, die Medea zum Kindesmord hinreißt, hätte ihn davon abhalten können, und doch erkennt der Bruder Bonafides in seiner Liebestat das wahre Christentum: »Nathan / Ihr seid ein Christ! – Bei Gott, ihr seid ein Christ! / Ein beßrer Christ war nie!« (IV/7) – im pointierten Widerspruch zum Patriarchen, der in ihr die Todsünde der Apostasie erkennt, den Täter in effigie zum dreifachen Feuertod verdammt und – auch er ein ›frommer Mörder seines Kindes‹ – das Christenkind lieber »im Elend umgekommen« wissen will, »Als dass zu seinem ewigen Verderben / Es so gerettet ward.« (IV/5) Diese so nachdrücklich betonte Christlichkeit der Liebestat Nathans ist ernst zu nehmen. Mit dem Satz »Ihr seid ein Christ« macht der Autor die Stimme der »frommen Einfalt« zum Sprecher der Einsicht, die in dem Streitgespräch in Das Testament Johannis das »Ich« des Autors gegen den »Er«, die Stimme der theologischen Orthodoxie, verteidigt, die dem gelebten Christentum, das nicht durch die Annahme der christlichen Dogmatik »verdienstlich«83 wird, jeden Wert abspricht. Selbstverständlich ist die Position dieses Theologen, der in der Schrift belesen ist »wie der Teufel«,84 die wahre Apostasie, bekennt sich doch dieser Christ damit ausdrücklich zu jener Pseudo-Frömmigkeit, die der Satan Hiob unterstellt, wenn er ihn vor dem Herrn anklagt: »Meinst du, dass Hiob Gott umsonst fürchtet?« Wer das schwere Joch der christlichen Liebe und Tugend nur um der Aussicht auf jenseitige Belohnung willen zu schleppen bereit ist, der ist der 82 83 84

FA 11/1, S. 402 (Brief vom 9. Februar 1764). FA 8, S. 453. FA 8, S. 454.

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wahre Ungläubige und Anti-Christ. Die Begründung lässt sich am Titel des Trauerspiels ablesen, das Lessing nach Beendigung des Nathan konzipiert hat, aber wegen seines frühen Todes nicht mehr ausführen konnte: Der fromme Samariter, ein Trauerspiel in 5 Aufzügen, nach der Erfindung des Herrn Jesu Christi.85 Die Samariter waren – als verachtete jüdische Sekte, deren Anhänger als »unrein« und »abtrünnig« galten, – die Juden der orthodoxen Juden. Im Christentum geraten die Juden in die Position, die im Judentum die Samariter innehatten. Darum besetzt Lessing in seinen beiden Modernisierungen des Samariter-Gleichnisses die Rolle des frommen Samariters mit der des frommen Juden. Wenn der jüdische Wanderprediger Jesus von Nazareth seinen jüdischen Glaubensgenossen zumutet, in der Liebestat des verachteten Dissidenten die vorbildliche Einlösung des eigenen Ethos anzuerkennen, dann erkennt Lessing darin das Herzstück der »Religion Christi«, die von den Vertretern der »christlichen Religion« – hier also dem Patriarchen – in sein Gegenteil verkehrt wird. Dieses Herzstück ist für ihn von allem Anfang an das Gebot der Feindesliebe, und zwar auf der Basis der Unterscheidung zwischen der geglaubten Dogmatik und der gelebten Lebensdeutung – daher die zentrale Rolle, die das Gleichnis vom barmherzigen Samariter für ihn schon in seiner Problemkomödie Die Juden und noch im Nathan spielt. Auch Nathan ist ein frommer Samariter. Auch er überschreitet mit seiner Liebestat – wie sein Urbild im Neuen Testament – die Grenzen religiös begründeter Feindschaft, die seine Tat nicht nur als Nächsten-, sondern als tätige Feindesliebe ausweist. Dazu muss er, der »der Christenheit den unversöhnlichsten / Haß zugeschworen« hatte, freilich erst wieder fähig werden, die wahre Stimme Gottes in uns, die ›sanfte Stimme der Vernunft‹ zu vernehmen. Von der egozentrischen Verblendung, die uns dazu bringt, Böses mit Bösen vergelten zu wollen, ist »auch nicht der Weiseste«86 ausgenommen, so lautet schon der Befund in Die Religion. Auch für den weisen Nathan gilt, dass uns die Fähigkeit, das Gute zu tun, weil es das Gute ist, und darin unser Glück zu finden, nicht gegeben, sondern aufgegeben ist; und darum muss auch hier das Böse in Gestalt des Hasses und des Rachebedürfnisses, das auch den Patriarchen beseelt, am Anfang stehen, um dann in einem zweiten Schritt überwunden werden zu können. Die Ausgestaltung dieses inneren Übergangs vom tödlichen Feindeshass über das Vernehmen der ›sanften Stimme der Vernunft‹ bis zur tätigen Feindesliebe in Gestalt der Adoption des Kindes der christlichen Mörder seiner Kinder ist Lessings Lösung der Aufgabe, die Theodizee, wie sie die biblische Hiob-Geschichte erzählt, zu ›modernisieren‹, soll heißen: ihr eine Gestalt zu geben, in der ihre Gültigkeit auch dem aufgeklärten Bewusstsein einsichtig ist. Dieser innere Übergang ist damit – 85

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FA 12, S. 259 (Brief an Elise Reimarus vom 25. Mai 1779). Auf den Zusammenhang zwischen den ›Juden‹ und dem Samariter-Plan hat zuerst Johannes von Lüpke aufmerksam gemacht in: Der fromme Ketzer. Lessings Idee eines Trauerspiels ›Der fromme Samariter nach der Erfindung des Herrn Jesu Christi‹. In: Neues zur Lessing-Forschung. Hg. von Eva J. Engel und Claus Ritterhoff. Tübingen 1998, S. 127–151. FA 2, S. 265.

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auch das sollte deutlich geworden sein – das genaue Gegenstück zu seiner Modernisierung des Sündenfall-Mythos in Gestalt der inneren Handlung, in der der fromme Tugendheld Odoardo unter Berufung auf den »Himmel« sich durch seinen Feindeshass zum Kindesmord verführen lässt.87 Das Motiv der Adoption als Antwort auf den Kindesmord macht es Lessing nun möglich, das Hiob-Schicksal Nathans mit einer antitragischen Ödipus-Fabel zu verbinden. Die Adoption des verwaisten Christenkindes durch den verwaisten Juden nimmt im Nathan-Plot dieselbe Stelle ein, die der Adoption des vom Vater dem Tode ausgelieferten Kindes durch die unter ihrer Kinderlosigkeit leidenden Eltern im Ödipus-Plot zukommt. Die durch die Verstoßung und Adoption des Kindes entstandene Fremdheit zwischen den Blutsverwandten sorgt dafür, dass sie einander fremd und feindlich begegnen, und macht den Verwandtenmord wie den Inzest auf ganz natürliche Weise möglich. Im Falle des Ödipus wird das Verbrechen durch eine unwahrscheinliche Verkettung von Begegnungen herbeigeführt, im Falle des Nathan durch eine ebenso unwahrscheinliche Kette von Rettungen aus Todesnot glücklich vermieden: Die Rettung des Christenkindes durch den verwaisten Juden findet ihre Fortsetzung in der Begnadigung des christlichen Ritters durch den muslimischen Herrscher und in der Rettung der Jüdin aus dem brennenden Haus ihres Vaters, durch die der begnadigte christliche Ritter den Juden davor bewahrt, in seiner Adoptivtochter seine sieben Söhne, die die Christen dem Feuertod ausgeliefert hatten, zum zweiten Mal zu verlieren. Am Ende steht in beiden Fällen eine gleichermaßen überwältigende Anagnorisis der Familienmitglieder, in der das göttliche Orakel seine tragische bzw. antitragische Apotheose erfährt. Das Orakel des Ödipus ist der Geschlechterfluch und damit im Kern nichts anderes als der Sündenfall-Mythos; das Orakel des Nathan ist die Parabel vom heilbringenden Ring, also im Kern nichts anderes als das Heilsversprechen, mit dem die Offenbarungsreligionen den Mythos von dem Unheil, das dem Menschen als Geschlechterfluch anhaftet, beantworten. Am Anfang der griechischen und biblischen Unheilsgeschichte steht ein göttliches Verbot, das dazu da ist, übertreten zu werden, weil es sich auf das Tun des im Lebensvollzug Unvermeidlichen richtet. Die Zeugung des Kindes steht unter der Drohung des Vatermords und provoziert den Kindesmord, und – vom Baum der Erkenntnis essend – entdeckt sich der Mensch als nacktes Geschlechtswesen und zeugt Kinder, die alsbald wie Kain und Abel (oder wie 87

Auch hier hat freilich eine Lektürepraxis, die sich auf den Buchstaben der Figurenrede beruft, dafür gesorgt, daß die egozentrische Verblendung Odoardos, der den eigenen bösen Willen dem »Himmel« zuschreibt, immer wieder mit der »innigsten Ergebenheit in Gott« gleichgesetzt worden ist, die Nathan fähig macht, sich der ›leisen Stimme der Vernunft‹ wieder zu öffnen und das Rachebedürfnis zugunsten der Rettung des verwaisten Christenkindes zu überwinden. So beruht z. B. für Klaus Bohnen das »Ausrichten seines Willens nach dem Willen des Höchsten bei Odoardo« auf derselben »Einheit des auf das eigene Innere bezogenen Willens mit dem Willen des Naturganzen, wie es am präzisesten in der Kernstelle des ›Nathan‹ formuliert ist.« In: Geist und Buchstabe. Zum Prinzip des kritischen Verfahrens in Lessings literarästhetischen und theologischen Schriften. Köln, Wien 1974, S. 152.

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Eteokles und Polyneikes) in Gestalt des Brudermords die schlimmstmögliche Antwort auf die Frage geben, was gut und böse ist. Das mit dem Ring verbundene Heilsversprechen ist – wie alle Orakelsprüche – zweideutig. An seinem Ursprung steht das Versprechen, der Ring habe »die geheime Kraft, vor Gott / und Menschen angenehm zu machen, wer / in dieser Zuversicht ihn trug.« Im Zuge seiner Vererbung verbindet sich damit die Zusage, der Erbe des Ringes solle als der »liebste« Sohn des Vaters »das Haupt, der Fürst des Hauses« (Nathan, III/7) werden, das die Kinder dazu anhalten soll, sich des Ringes würdig zu machen. Auf ganz natürliche und sehr menschliche Weise – die Elternliebe gilt allen Kindern gleichermaßen – kommt es bei der Wanderung des Ringes durch die Kette der Generationen zu seiner Vervielfältigung und damit zum Erbstreit der Brüder, in dem sich das mit dem Ring verbundene Heilsversprechen auf diabolische Art in sein Gegenteil verkehrt. Der Ring, der in seinem Ursprung eine Liebesgabe war und bleiben sollte, hat denselben tödlichen Hass zwischen den feindlichen Brüdern erzeugt, der schon am Beginn der Unheilsgeschichte der gefallenen Menschheit stand. Das ist die Situation der Religionskriege, die sich im Hiob-Schicksal Nathans aktualisiert und dazu zwingt, die Wahrheit der Religionen radikal in Frage zu stellen. Die Rolle des berufenen Auslegers des Rätselspruchs, das den Menschen mit dem religiösen Heilsversprechen, das ihnen zum Unheil ausschlug, aufgegeben ist, übernimmt Nathan in der Rolle des Richters, an den sich die feindlichen Brüder der Ringparabel wenden. Seine Antwort lautet: Nicht der Geber der Liebesgabe, sondern ihr Empfänger entscheidet über ihre Wahrheit. Wem es Ernst ist mit dem Wunsch, vor Gott und Menschen angenehm zu werden, wer also das Gute will, weil es das Gute ist, dem wird die Religion – jede Religion – zur self-fulfilling prophecy; und wer darauf insistiert, der Besitzer des einzigen Ringes zu sein, dessen Besitz das Seelenheil verbürgt, der raubt eben damit der Religion – jeder Religion – ihre heilsbringende Kraft und macht sich selbst zum »betrogenen Betrüger«. Es gibt keine wahren und falschen Religionen; es gibt nur wahre und falsche Weisen, das religiöse Erbe zu denken und zu leben, und diesen Gegensatz muss jede Religion – und jeder Mensch – mit sich selbst ausmachen.

Martin Mulsow

Lessing, Paalzow und die »Historische Einleitung in die Offenbarung Johannis«1

In den Axiomata von 1778 heißt es, wie auch schon in den Gegensätzen: »Das Christentum war, ehe Evangelisten und Apostel geschrieben hatten. Es verlief eine geraume Zeit, ehe der erste von ihnen schrieb; und eine sehr beträchtliche, ehe der ganze Kanon zu Stande kam.«2 Das ist Lessings Differenzierung zwischen Buchstabe und Geist, zwischen Bibel und Religion: Das Christentum war schon mit Jesus und seiner mündlichen Lehre da, es markiert, so kann man aus den ersten 53 Paragraphen der Erziehungsschrift schließen, die an die Gegensätze angefügt waren, eine neue Stufe der Menschheitsentwicklung, der Menschheitserziehung, denn Jesus war ein »beßrer Pädagog«.3 Eine besondere Inspiration für die Evangelisten ist dann nicht vorauszusetzen, und auch viele der Probleme, die Reimarus in seiner Apologie aufgezeigt hatte, erweisen sich als nicht so desaströs, wie sie wären, wenn Bibel und Religion als identisch verstanden würden.4

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Der Text ist die modifizierte und erweiterte Fassung eines Artikels, den ich am 18.3.2009 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, S. N4, veröffentlicht habe. Der auf der Tagung in Wolfenbüttel vorgetragene Text hingegen wird in wesentlich veränderter und vermehrter Form – inlusive Textedition – in Buchform publiziert werden: Martin Mulsow: Lessing und die Kritik des biblischen Kanons. Clandestine Gelehrsamkeit und ihr Transfer im Übergang von hugenottischer Bibelwissenschaft zur neologischen Spätaufklärung 1700– 1794. Mit einer Edition der vollständigen »Historischen Einleitung in die Offenbarung Johannis« und ihrer Quelle, vorauss. Tübingen 2011. Für Hinweise danke ich Hugh Barr Nisbet und Wolfram Kinzig. Lessing: Axiomata, wenn es deren in dergleichen Dingen gibt, Axiom VI. In: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Wilfried Barner u. a. Frankfurt am Main 1985–2003 (im folgenden zitiert als FA für ›Frankfurter Ausgabe‹ mit Band- und Seitenzahl), Bd. 9, S. 66: Gegensätze des Herausgebers (1777); zu den Wolfenbütteler Fragmenten: FA 8, S. 312f. § 53: »Ein beßrer Pädagog muß kommen, und dem Kinde das erschöpfte Elementarbuch aus den Händen reißen. – Christus kam.« FA 8, S. 346. Zu Lessings Verständnis des Christentums vgl. George Pons: Gotthold Ephraim Lessing et le christianisme, Paris 1964; Arno Schilson: Theologie im Horizont der Vorsehung. G. E. Lessings Beitrag zu einer Theologie der Geschichte. Mainz 1974; Arno Schilson: Lessings Christentum. Göttingen 1980; Gerhard Freund: Theologie im Widerspruch: Die LessingGoeze-Kontroverse. Würzburg 1989; Friedrich Vollhardt: Kritik der Apologetik. Ein vergessener Zugang zum Werk G. E. Lessings. In: Prägnanter Moment. Studien zur deutschen Literatur der Aufklärung und Klassik. Festschrift für Hans-Jürgen Schings. Hg. von Peter-André Alt u. a. Würzburg 2002, S. 29–48. Vgl. allg. Hugh Barr Nisbet: Lessing: Eine Biographie. München 2008.

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Martin Mulsow

Was aber ist der Hintergrund von Lessings Aussage? Wie stand es zu diesem Zeitpunkt mit seinen Studien zur Kanonbildung des Neuen Testaments, die die Basis für den letzten Teil des Axioms bilden? Am 25. Februar 1778 hatte es im Brief an den Bruder Karl über die Axiomata geheißen: »Nächster Tage sollst Du auch eine Schrift wider Götzen erhalten, gegen den ich mich schlechterdings in die Positur gesetzt habe, daß er mir als einem Unchristen nicht ankommen kann. Doch das sind alles Scharmützel der leichten Truppen vor meiner Hauptarmee. Die Hauptarmee rückt langsam vor, und das erste Treffen ist meine Neue Hypothese über die Evangelisten, als bloß menschliche Geschichtsschreiber betrachtet.«5 Kann man aus diesen Sätzen etwas über Lessings »Hauptarmee« ableiten, also seine Bibelstudien, seine Arbeiten zur Kanonbildung? Die Treffentaktik ist eine von Scipio entwickelte und im 16. Jahrhundert erneuerte militärische Taktik, die eine bestimmte Form der Heeresaufstellung impliziert.6 Dabei stehen die taktischen Körper – die Truppenteile – so hintereinander, daß sie Bewegungsfreiheit haben und sich unmittelbar unterstützen können. Als »Treffen« werden in diesem Zusammenhang taktisch zusammengehörige Truppenteile bezeichnet, die eine gemeinsame Front bilden. Je nach Abstand zum Feind werden sie als Erstes, Zweites usw. Treffen angesprochen. Das Erste Treffen steht dem Feind unmittelbar gegenüber, die weiteren Treffen stehen entsprechend der Zahlenfolge dahinter. Meistens gibt es zwei, höchstens drei Treffen. Lessings Neue Hypothese ist also Teil eines eher schmalen Kontingents an geplanten Studien, die thematisch voneinander unabhängig sind, aber eine gemeinsame Stoßrichtung haben. Zweites Treffen wäre mit einiger Wahrscheinlichkeit eine Arbeit zur Kanonbildung geworden, vor allem anhand der Rezeptionsgeschichte der Johannesapokalypse. Dazu ist es nicht mehr gekommen. Der Streit mit Goeze hielt Lessing von seinen Untersuchungen ab, und im Februar 1781 ist er dann gestorben. Auf seinem Schreibtisch verblieben zahlreiche fertige und unfertige Manuskripte zur Religion und Theologie. 1784 schon gab sein Bruder Karl einen Teil der Papiere gesammelt unter dem Titel Lessings theologischer Nachlaß heraus. Der Band enthält zahlreiche wichtige Stücke; darunter ist auch ein unscheinbares Fragment von lediglich fünf Seiten, dem Karl Lessing den Behelfstitel Historische Einleitung in die Offenbarung Johannis gibt.7 Man hat dieses Stück für den Anfang jener größeren Arbeit gehalten, die das zweite Treffen der »Hauptarmee« hätte sein können. Wie wir sehen werden, beruht dies auf einem fundamentalen Mißverständnis.

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FA 12, S. 128. Die Neue Hypothese ist abgedruckt in FA 8, S. 629–654. Vgl. auch die Theses zur Kirchengeschichte: FA 8, S. 619–627. Vgl. etwa Hans Delbück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Das Altertum. Berlin 1900. John Warry: Warfare in the Classical World. London 1980. Im Kommentar von Helmuth Kiesel zur Briefstelle (FA 12, S. 478) ist der Begriff ›Treffen‹ nicht berücksichtigt worden. Historische Einleitung in die Offenbarung Johannis. In: Lessings theologischer Nachlaß. Hg. von Karl Lessing. Berlin 1784, S. 105–112. Neuausgabe: FA 8, S. 655–659.

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Die Johannesapokalypse war in ihrem kanonischen Status immer wieder angezweifelt worden.8 Sollte man ihr wirklich die gleiche Dignität – und Inspiriertheit – wie den Evangelien und den Apostelbriefen zubilligen? Ihre legitime oder nicht legitime Stellung im Neuen Testament war nicht zuletzt deshalb von großer Bedeutung, weil die Apokalypse besonders in der Frühen Neuzeit von vielen Seiten herangezogen wurde, um mit ihr religionsgestützte Politik zu machen: Man deutete mit ihr geschichtliche Situationen – z. B. den Papst als Antichrist – und sagte das Weltende vorher.9 Seit der Zeit um 1700, mit Männern wie Richard Simon und Jacques Basnage, gab es aber eine kritische Bibelphilologie, die unbequeme Fragen nach der Entstehung des Kanons stellte.10 Lessing summiert seine Ergebnisse stichwortartig gleich zu Beginn: »Der Canon sämmtlicher Schriften des neuen Testaments kömmt, wie auf Gerathewohl, ohne allen Plan, durch den Eifer einzelner Glieder zu Stande. Ueble Folge dieser Freyheit. Getheilte Meinungen über verschiedene Briefe. Die Offenbarung Johannis, ein Beweis, wie planlos sich der Canon des neuen Testaments gebildet.«11 Das sind Thesen, die nur zu gut zur Bibelkritik von Hermann Samuel Reimarus passen, die Lessing 1774–1778 herausgibt und die als »Wolfenbütteler Fragmente« den größten Theologenstreit der deutschen Aufklärung heraufbeschwört.12 Kanonbildungsprozesse sind in schriftlichen Kulturen mit 8

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Umfassend über die Stellung der Johannesapokalypse informiert Gerhard Maier: Die Johannesoffenbarung und die Kirche. Tübingen 1981. Vgl. auch Georg Kretschmar: Die Offenbarung des Johannes. Die Geschichte ihrer Auslegung im 1. Jahrtausend. Stuttgart 1985; Bruce M. Metzger: The Canon of the New Testament. Its Origin, Development, and Significance. Oxford 1987. Für die ältere Literatur vgl. auch Friedrich Lücke: Commentar über die Schriften des Evangelisten Johannes. Bonn 1832, S. 229ff. Vgl. allg. David S. Katz und Richard H. Popkin: Messianic Revolution. Radical Religious Politics to the End of the Second Millenium. New York 1999; Katherine R. Firth: The Apocalyptic Tradition in Reformation Britain 1530–1645. Oxford 1979. Richard Simon: Histoire critique du texte du Nouveau Testament. Rotterdam 1689; Jacques Basnage de Beauval: Histoire de l’église depuis Jesus-Christ jusqu’à present. Rotterdam 1699, Bd. 1, Buch VIII, Kap. V, S. 429–431: De la manière dont s’est formé le Canon du Nouveau Testament; Kap. VII, S. 434–436: Liberté des Orientaux pour la rejection de l’Apocalypse. Zu Basnage vgl. Gerald Cerny: Theology, Politics and Letters at the Crossroads of European Civilization: Jacques Basnage and the Baylean Huguenot Refugees in the Dutch Republic. Dordrecht 1987. Allg. vgl. Historische Kritik und biblischer Kanon in der deutschen Aufklärung. Hg. von Henning Graf Reventlow, Walter Sparn, John Woodbridge. Wiesbaden 1988. FA 8, S. 655. Hermann Samuel Reimarus: Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. 2 Bde. Hg. von Gerhard Alexander. Frankfurt am Main 1972. In den von Lessing veröffentlichten Fragmenten des Buches sind keine Abschnitte über die Kanonbildung vorhanden. Doch scheint Lessing die Absicht gehabt zu haben, auch diese zu veröffentlichen: FA 11/2, S. 671 (Lessing an seinen Bruder Karl, 11. November 1774): »Lieber wollte ich mir mit den Theologen eine kleine Komödie machen, wenn ich Komödie brauchte. Dahin bezieht sich gewissermaßen auch das, was ich Herrn Voß versprochen zu schicken. Aber vielleicht ist es ihm gerade dieserwegen auch nicht einmal angenehm, da er vielleicht S** und T** [Lessing meint Semler und Teller] zu schonen hat. Von demselben Verfasser nemlich, von welchem das Fragment über die Duldung der

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normativen Texten maßgeblich für das Aushandeln gesellschaftlicher Macht.13 Wenn er den »Eifer einzelner Glieder« der Kirche diagnostiziert, erweist sich Lessing als illusionsloser Analytiker dieser Prozesse. Freilich bleibt der Text der Historischen Einleitung enttäuschend kurz. Nach wenigen Seiten bricht er unvermittelt ab. Karl Lessing vermerkt in seiner Ausgabe, die Handschrift sei »so gut geschrieben, daß es gewiß nicht sein erster Entwurf ist, welcher vermuthlich viel mehr enthalten hat, als das vor mir habende Manuscript. Es ist aber unter seinen Pappieren nicht zu finden.«14 Mit diesem kurzen Vermerk ist das Stück in spätere Lessing-Ausgaben übernommen worden. In der Lachmann-Muncker-Ausgabe heißt es: »Das Bruchstück fällt wohl in die Nähe der Neuen Hypothese über die Evangelisten, entstammt also wahrscheinlich dem Winter 1777/78 oder den nächstfolgenden Monaten.«15 Die Evangelisten waren von Lessing nicht weniger illusionslos als »bloß menschliche Geschichtsschreiber« bezeichnet worden. Arno Schilson, der Herausgeber der heute maßgeblichen Bandes VIII der Frankfurter Ausgabe von 1989, ist etwas vorsichtiger mit der Datierung: Der Text könne aus den Jahren nach 1776, aber auch von 1774/75 stammen.16 Wo ist der Rest des Bruchstücks abgeblieben? Bis jetzt gab es keine Spur davon. Doch nun ist ein Fund zu vermelden, der die Lessing-Forschung noch länger beschäftigen wird. Ein Büchlein ist aufgetaucht, das, 1794 in wenigen Exemplaren erschienen, den vollständigen Text enthält. Zu den vorhandenen fünf Seiten kommen nun noch knapp achtzig Seiten hinzu. Kannte man bisher nur die ersten neun Paragraphen und den Anfang des zehnten, so hat man nun sämtliche einhundertsiebzehn Paragraphen in der Hand. Der Titel des Büchleins, das bisher der Forschung völlig entgangen ist: Einleitung in die Geschichte des Canons sämmtlicher Schriften des neuen Testaments, insonderheit der

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Deisten ist, wollte ich ihm ein anderes über den Canon schicken, das ich mit meiner Vorrede herauszugeben willens wäre, unter dem Titel: Eine noch freiere Untersuchung des Canons alten und neuen Testaments etc. Dieses noch freiere, siehst Du wohl, geht auf Semlers freie Untersuchung. Voß mag sich die Sache überlegen. Wenn er das Manucript drucken will, so kann er es haben so bald er will.« Es kann sich bei den ReimarusPassagen, von denen Lessing hier redet, um die Bücher VI.1, VI.2 und VI.3 handeln, die Teil des zweiten Teils der heute bekannten Apologie sind und von den Geschichtsbüchern, den Lehrbüchern und dem »Canonisch Ansehen der Bücher des Neuen Testaments« handeln; eventuell auch zusätzlich um Passagen aus dem Schluß des ersten Teils der Apologie über die Kanonisierung der Bücher des Alten Testaments. Zum Fragmentenstreit vgl. jetzt auch Dietrich Klein: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Das theologische Werk. Tübingen 2009, S. 169–181. Dort ist auch (bes. S. 174) die ältere Literatur genannt. Vgl. Aleida Assmann und Jan Assmann: Kanon und Zensur. München 1987; Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992, S. 103–129; Die Einheit der Schrift und die Vielfalt des Kanons. Hg. von John Barton, Michael Walter. Berlin 2003. Lessings theologischer Nachlaß (s. Anm. 7), S. 26. Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Schriften. Hg. von Karl Lachmann. 3. auf’s neue durchges. und vermehrte Aufl. besorgt durch Franz Muncker. 23 Bde. Stuttgart, Leipzig 1886–1924. Reprint Berlin 1968. Hier Bd. 16, S. 392. FA 8, S. 1101.

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Offenbarung Johannis.17 Nahtlos geht es dort weiter, wo das edierte Manuskript abgebrochen war. Wenn sich verifizieren läßt, daß dieser vollständige Text wirklich von Lessing stammt, dann wäre damit das Bild des späten, theologischen Lessing wesentlich bereichert, wenn es nicht gar umgeschrieben werden müßte. Lessings Neue Hypothese wäre dann – was bisher nur vermutet wurde – eingebettet in eine reiche Forschung des Schriftstellers zur Rezeption der neutestamentlichen Texte – insbesondere der Apokalypse – in der Patristik. Der Fund verdankt sich, wie so oft, einer Reihe von Zufälligkeiten. Ich bin bei meiner Arbeit an der Biographie eines vergessenen Spätaufklärers, Christian Ludwig Paalzow, auf einen Brief gestoßen, den Paalzow am 29. April 1793 an seinen Verleger schreibt, Johann Jakob Gebauer in Halle.18 Paalzow hatte bei Gebauer heimlich seine religionskritische Schrift Porphyrius drucken lassen, und weil das Buch etwas schmaler geworden war als geplant, Paalzow seinen Vorschuß aber schon erhalten hatte, schuldete er dem Verleger noch einige Seiten.19 Als Ausgleich bot er ihm zwei Manuskripte an. Interessant ist vor allem das erste von beiden. »Das erste ist einentheil nach, wie ich in dem Versuch daselber bemerkt habe, schon durch Lessings theologischen Nachlaß bekannt, wer nun dasselbe als eine von Lessing selbst verfaßte Schrift gedruckt und seinen Werken einverleibt hat, welche Umstand, wie mich dünkt, Empfehlung genug ist.«20 Dieser Satz läßt den Leser aufhorchen. Schickt 17

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Einleitung in die Geschichte des Canons sämmtlicher Schriften des neuen Testaments, insonderheit der Offenbarung Johannis. Herausgegeben von dem Verfasser des Hierokles. Halle, bey Johann Jacob Gebauer 1794. Die schmale Schrift (82 S.) ist extrem selten. Vorhanden ist sie noch in der ThUuLB Jena und in der UuLB Halle. Eine Rezeption dieser Schrift konnte ich bisher nicht feststellen. In der Lessing-Literatur ist sie völlig unbekannt. Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel, Briefsammlung Mengen, Nr. 640: Christian Ludwig Paalzow an einen ungenannten Adressaten. Ich identifiziere den Adressaten mit Gebauer, da es im Text um die Bezahlung von Paalzows Porphyrius-Buch geht, das bei Gebauer erschien. Damit ist Edoardo Tortarolo zu korrigieren, der den Adressaten für Joachim Heinrich Campe hält: La ragione sulla Sprea: Coscienza storica e cultura politica nell’Illuminismo berlinese. Bologna 1989, S. 215. Zu Paalzow (1753–1824) vgl. Allgemeine deutsche Biographie, Bd. 25 (1887), S. 35; Bibliographisches Handbuch der preußischen Verwaltungs- und Justizbeamten 1740–1806/15. Berlin 2009, S. 711. Martin Mulsow: Christian Ludwig Paalzow und der clandestine Kulturtransfer von Frankreich nach Deutschland. Erscheint in: Geheimliteratur und Geheimbuchhandel im 18. Jahrhundert. Hg. von Christine Haug, Winfried Schröder; Martin Mulsow: Von der Radikalaufklärung zum religiösen Gefühl? Christian Ludwig Paalzows ›Ästhetisches Christenthum‹. Erscheint in einem von Albrecht Beutel u. a. hg. Sammelband mit Vorträgen der Arbeitsgruppe ›Religion und Aufklärung‹ vom November 2009. Zum Verleger Gebauer vgl. Hans-Joachim Kertscher: Ein Hallescher Verleger mit naturwissenschaftlichen Ambitionen: Johann Jakob Gebauer. In: Die ›exakten‹ Wissenschaften zwischen Dilettantismus und Professionalität. Studien zur Herausbildung eines modernen Wissenschaftsbetriebs im Europa des 18. Jahrhunderts. Hg. von Robert Seidel: Cardanus 2 (2002), S. 47–73. Porphyrius oder Letzte Prüfung und Vertheidigung der christlichen Religion angestellt von den Herren Michaelis, Semler, Leß, Richard Simon, Orobio und Freret, Frankfurt und Leipzig [= Halle: Gebauer] 1793. Paalzow an unbekannt [Gebauer] (s. Anm. 18). Ich zitiere den ganzen Abschnitt des Briefes: »Allem Anschein nach habe ich mich in meiner Rechnung betrogen. Ich glaubte

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Paalzow Gebauer ein Manuskript, das zum einen Teil in Lessings Nachlaß gedruckt, zum anderen Teil aber noch ungedruckt ist? Aber warum drückt sich Paalzow dann so seltsam distanzierend aus, indem er sagt, er wisse nicht, wie es gekommen sei, daß der Text Lessing zugeschrieben wurde? Ist sich Paalzow selbst unsicher? Oder ködert er nur den Verleger? Gebauer hat den Text dann tatsächlich gedruckt, kaum ein Jahr später, mit dem Zusatz »Herausgegeben von dem Verfasser des Hierokles«. Das war der Markenname des radikalen Religionskritikers Paalzow – für Eingeweihte. 1785 hatte er das Christentum anonym mit seinem Hierokles angegriffen, und seither führte er eine Dr.-Jekyll-und-Mr.-Hyde-Existenz: Tagsüber war er braver Jurist in Berlin, und nachts sozusagen verfertigte er seine clandestinen Schriften und Übersetzungen unter dem Namen »Verfasser der Hierokles«.21 Der Inhalt des Textes erscheint heute, wo Inspiration und Kanonizität von Bibeltexten nicht mehr unmittelbares exegetisches Kampfgebiet sind, wenig aufregend, fast ein wenig akademisch. Und das, obwohl der Text keineswegs trocken geschrieben ist. Er lebt von einer gewissen Aggressivität, wenn er von Prochoros22, Justin und Irenäus angefangen Kirchenvater für Kirchenvater examiniert, ob sie die Apokalypse für kanonisch halten. Da heißt es etwa: »Es verhält sich mit den Meinungen wie mit einem Schneeballe, der durch Umwälzen immer größer wird, und endlich zu einer solchen Größe anwächst, daß man darüber sein erstes Entstehen vergißt.«23 So ist der Prozeß der Kanon-

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Porphyrius sollte 60, wenigstens einige fünfzig Bogen stark werden. Jetzt sehe ich, daß ich die Rechnung ohne Wirth gemacht habe, indessen denke ich doch, ohne daß Sie etwas dabey risquiren, Sie dennoch um 3 bis 4 L d’ore ersuchen zu dürfen, und, um sie völlig zu decken, lege ich zwey kleine M[anu]sc[rip]te by, wenn deren eines 6 und das andere wenigsten 2 Bogen stark werden wird.« Es folgt der oben zitierte Satz. Es folgt: »und das zweyte M[anu]s[cri]pt handelt von einer Materie, die in unseren Zeiten wichtig ist, und einen berühmten Mann zum Verfasser hat. Das Buch ist in England selbst selten.« Hierokles, oder Prüfung und Vertheidigung der christlichen Religion, angestellt von den Herren Michaelis, Semler, Leß und Freret. Halle [Gebauer] 1785; vgl. Paalzows Übersetzungen: Freret über Gott, Religion und Unsterblichkeit. Ein historisch-philosophischer Beytrag zur Geschichte der Meynungen über die genannten Begriffe, und zur liberalen Prüfung des Gehalts derselben. Herausgegeben vom Verfasser des Hierokles. [Dessau] 1794; Geschichte der menschlichen Ausartung und Verschlimmerung durch das gesellschaftliche Leben. Eine Schrift, die ehedem durch den Henker zu Paris verbrannt, jetzt allen Königen und Priestern zum Frommen herausgegeben worden vom Verfasser des Hierokles. 2 Bde. Altona, bey der Verlagsgesellschaft 1795; Philosophische Geschichte des Aberglaubens herausgegeben vom Verfasser des Hierokles. Cölln [Altona] 1796; Geschichte der religiösen Grausamkeit. Ein nothwendiger Beytrag zur philosophischen Geschichte des Aberglaubens und zur Geschichte der menschlichen Ausartung und Verschlimmerung durch das gesellschaftliche Leben. Vom Verfasser des Hierokles. [Mainz: Vollmer] 1800. Vgl. die wichtigen Zuschreibungen bei Winfried Schröder: Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1998, S. 154, 510f., 516. Prochoros selbst kann man nicht als Kirchenvater bezeichnen, da er lediglich in Apg 6,5 als einer der sieben Diakone der Urgemeinde in Jerusalem und sonst nur in legendarischer Literatur erwähnt wird. Ich danke Wolfram Kinzig für den Hinweis. Zu Prochoros vgl. LThK2 Bd. 8, Sp. 781 (J. Schmid). Einleitung (s. Anm. 17), S. 72, § 104.

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bildung verlaufen. Über Augustinus sagt der Autor etwas mißgünstig: »Ich freue mich, diese große Köpfe und über uns erhabene Menschen mit dem Pöbel kriechen und bisweilen eben so schlecht, als ihn, raisonniren zu sehen.«24 Menschlich, allzumenschlich geht es in der Kirchengeschichte zu. Bis zu den Konzilien von Laodicea (um 360) und Karthago (397) war die Meinung zur Apokalypse sehr unterschiedlich, erst dann wurde die Frage Kirchenpolitik und die Griechen entschieden sich dagegen, die Schrift in den Kanon aufzunehmen, die Lateiner dafür.25 Ein Konsens über die Kanonizität bildete sich erst sehr spät, etwa im zehnten Jahrhundert. Gegen Ende schwingt sich der Autor zu einer bemerkenswerten fiktiven Rede auf. Er verläßt die Beobachterpose und wendet sich in der Person des spätantiken Autors Junilius an die »protestantischen Theologen heutiger Zeit«.26 »Ich habe immer gewünscht, meine Herren, mich in einer Gesellschaft von Männern zu befinden, die so vernünftig wie Sie sind, welche alles selbst prüfen und nichts blindlings glauben.«27 Es sind offenbar die kritischen Bibelphilologen, die angesprochen sind. »Wir können 24

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Einleitung (s. Anm. 17), S. 56, § 86. Weiter: »Woher wußten die Christen besser als die Juden, welche Bücher eigentlich zum Canon des alten Testaments gehörten? Und, weil hier nur vom neuen Testamente die Frage ist, warum waren die Lateiner bessere Richter als die Griechen in Ansehung der Bücher, wovon die Morgenländer die Aufbewahrer waren, und welche die Lateiner selbst nur erst von den Griechen erhielten? Diese Methode, sich auf die nächsten Nachbarn zu berufen, beweiset, daß Augustin mit ihnen in gutem Vernehmen lebte. Sie war ohne Zweifel die allerbequemste, nur nicht die allersicherste; denn er lief Gefahr, ihre Gewogenheit auf Unkosten der Wahrheit zu erhalten.« Vgl. bes. Einleitung (s. Anm. 17), § 106–109. Freilich hat der Gegensatz zwischen Ost und West in der Frage der Kanonizität der Apokalypse in dieser Schärfe kaum bestanden, denn schließlich gehört bereits im Decretum Gelasianum die Apokalypse zu den kanonischen Büchern. Vgl. dazu eingehend Maier (s. Anm. 8) und die anderen in Anm. 8 genannten Schriften. Einleitung (s. Anm. 17), S. 65, § 99: »Ich kann mein Erstaunen nicht verbergen, als ich einen Alten so vernünftig raisonniren sah, und zugleich bemerkte, daß er so wenig bekannt ist und noch weniger gelesen wird. – Man findet ihn kaum, außer in der großen Bibliothek der Väter, wo er unter einer Menge von Autoren begraben lieget, die man niemals hätte aus der Vergessenheit reißen sollen. Es ist wahr, daß er nach seinen Grundsätzen, die im Grunde die Principien der Protestanten sind, den Canon in sehr enge Grenzen einschließt, und daß man übel mit ihm zufrieden seyn wird, wenn er die Bücher der Chronica, das Buch Hiob, das Buch Esra, das Buch Nehemia und Esther, das Buch Jesus Sirach und das Hohelied Salomonis aus dem Canon herauswirft. Er geht gar so weit, daß er auch fünf Briefe des neuen Testaments für zweifelhaft hält, ohne die Offenbarung zu rechnen. Sollte dieser Schriftsteller wieder in die Welt zurückkommen; so würde er zu den protestantischen Theologen ohngefähr folgendes sagen.« Zu Junilius vgl. E. Barnikol: Junilius Africanus. In: RGG3 Bd. 3 (Tübingen 1959), Sp. 1071 (weitere Literatur). Junilius: Instituta regularia divinae legis. Hg. von J.-P. Migne. Paris 1847 (Patrologiae cursus completus. Series Latina 68), Sp. 15–42 (= De Partibus Divinae legis Libri II). Nur von »mittlerer Autoritätsstufe« (media auctoritatis) sind für Junilius dort die Briefe Jakobi, 2. Petri, Judae, 2. und 3. Johannis und die Johannesapokalypse. Diese Ansicht steht in der Tradition des Theodor von Mopsuestia (+ 428), »des Normaltheologen der Ostsyrer, der für sie die Tradition der antiochenischen Theologenschule verkörpert.« Vgl. C. Detlef G. Müller: Art. »Julilius Africanus«. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Hg. von Friedrich Wilhelm Bautz. Bd. 3. Nordhausen 1990, Sp. 883-885. Einleitung (s. Anm. 17), S. 66, § 100.

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ein Buch nur nach dem Verhältnis der Merkmale der Gottheit, welche sich unserem Verstande anschaulich machen, für göttlich erkennen.«28 Er, Junilius, wisse nach diesem Kriterium mit der Johannesoffenbarung nichts anzufangen, und er bitte um Belehrung. Der Text hat also einiges zu bieten. Doch Vorsicht ist angebracht. So sicher, wie sie scheint, ist seine Zuschreibung an Lessing keineswegs. Theoretisch gibt es mehrere Möglichkeiten. Entweder ist der gesamte Text authentisch und stammt von einem einzigen Autor, oder das von Paalzow publizierte Stück ist eine Fälschung, die an ein echtes Lessing-Fragment eine falsche Fortführung anhängt. Wenn der Text authentisch ist, dann stammt er entweder von Lessing oder von einem anderen Autor. Wenn der Autor nicht Lessing ist, dann muß die bisherige Lessing-Forschung revidiert werden, die immer davon ausging, daß das vom Bruder edierte Fragment echt sei. Bei diesem anderen Autor handelt es sich dann entweder um den Herausgeber selbst oder um einen uns unbekannten Dritten. Für Lessing als Verfasser des ganzen Textes spricht, daß man aus Briefen und Notizen von seiner Beschäftigung mit der Thematik weiß. Hören wir noch einmal den Satz aus den Gegensätzen und den Axiomata: »Das Christentum war, ehe Evangelisten und Apostel geschrieben hatten. Es verlief eine geraume Zeit, ehe der erste von ihnen schrieb; und eine sehr beträchtliche, ehe der ganze Kanon zu Stande kam.«29 Wenn die Neue Hypothese nur ein Teil der »Hauptarmee« war, die Lessing in den Jahren um 1778 zusammenstellte – könnte der gefundene Text nicht ein weiterer sein? Wer sonst hätte zu dieser Zeit einen kanonkritischen Text schreiben können, der sich so unakademische Freiheiten herausnimmt wie eine inszenierte Rede? Was die Datierung und Einordnung des Textes aber schwierig macht, ist ein Fehlen. Es ist das Fehlen jeglichen Bezugs auf die ausführliche und weithin wahrgenommene zeitgenössische Debatte um die Kanonizität der Johannesapokalypse.30 Seit den späten 1760er Jahren hatte sich ein Streit der Interpreten 28

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Einleitung (s. Anm. 17), S. 68. Die ganze Passage: »Vielleicht rührte die Furcht, worin ich war, Menschen-Wort für Gottes Wort zu nehmen, weniger von einer weisen Behutsamkeit, als von einem nicht sonderlich aufgeklärten Mißtrauen her. Alles, was ich sagen kann, ist, daß ich die Wahrheit aufrichtig suchte, so wie ich überzeugt bin, daß Sie selbige auch suchen. Wir können ein Buch nur nach Verhältniß der Merkmale der Gottheit, welche sich unserm Verstande anschaulich machen, für göttlich erkennen. Ueber diese Principium sind wir einig. So wie Sie aus dem Canon Ihrer Vorfahren die Bücher verbannt haben, die Ihnen diese Merkmale nicht zu haben schienen; so habe ich mit verschiedenen Büchern, welchen Sie noch heutiges Tages Ihren Glauben schenken, den nehmlichen Versuch gemacht, und ich habe mich nicht unterstanden sie aufzunehmen, weil ich den Finger Gottes ihnen nicht eingedruckt fand.« Vgl. Anm. 1. Die Kontroverse ist wenig aufgearbeitet. Vgl. aber Maier (s. Anm. 8); Roberto Bordoli: L’Illuminismo di Dio: alle origine della mentalità liberale. Religione teologia filosopfia e storia in Johann Salomo Semler (1725–1791). Contributo per lo studio delle fonti teologiche, cartesiane e spinozane dell’Aufklärung. Firenze 2004, S. 105–118; Christoph Bultmann: ›Die neue Sekte der Kraft- und Empfindungsmänner brauset gewaltig vorwärts.‹ Johann Joachim Spalding in Briefen an einen jungen Theologen. In: Vernunft – Freiheit –

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entwickelt, der vor allem mit dem Namen des Hallenser Theologen Johann Salomo Semler verbunden ist. Nach ersten Beschäftigungen in akademischen, lateinischsprachigen Kontexten hatte Semler 1769 die nachgelassene deutschsprachige Arbeit eines Ansbacher Theologen, Georg Ludwig Oeder, publiziert, in der die Kanonizität der Apokalypse angezweifelt wurde.31 Darauf begann eine intensive Auseinandersetzung um diese Frage, und Kollegen aus Leipzig, Rostock und Tübingen mischten sich in das Pro und Contra ein.32 Für Semlers eigene »freie Critik des Canon« besaß der Fall der Johannesapokalypse exemplarischen Charakter; er war das Flaggschiff der entstehenden historischkritischen Wissenschaft zum Neuen Testament.33 Wir wissen von Lessing, daß er 1774 spitzbübisch vorhatte, ein Reimarusfragment unter dem Titel »Eine noch freiere Untersuchung des Canon« zu publizieren.34 Das beweist seine Beschäftigung mit dem Thema und die Kenntnis der Debatte – ob das Vorhaben aber in Beziehung mit dem nun gefundenen Text steht, ist nicht gewiß. Fest steht nur, daß in diesem Text die Debatte der 70er Jahre weder implizit noch explizit präsent ist. Doch wie könnte Lessing, ob nun 1777/78 oder 1774, eine ausführliche Analyse der Kanonizität der Johannesapokalypse verfaßt haben, ohne auch nur mit einem Wort auf die Debatte einzugehen, ja ohne die dort ausgetauschten Argumente zu berücksichtigen? Es bliebe nur der Ausweg, die Abfassung des Textes früher anzusetzen, vor Lessings Wolfenbütteler Zeit seit 1770 – nach allem, was man von seinen Beschäftigungen weiß, wäre das eher unwahrscheinlich. Stattdessen scheint jemand anderes im Text präsent zu sein, wenn auch nur versteckt: Voltaire. Der französische Aufklärer hatte 1764 in seinem Dictionnaire philosophique einen kurzen Artikel über die Apokalypse plaziert.35 Aus

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Humanität. Über Johann Gottfried Herder und einige seiner Zeitgenossen. Festschrift Günter Arnold. Hg. von Claudia Taszus. Eutin 2008, S. 189–232. Georg Ludwig Oeder: Christlich freye Untersuchung über die so genannte Offenbarung Johannes, aus der nachgelassenen Handschrift eines fränkischen Gelehrten herausgegeben. Mit […] Anmerkungen von J. S. Semler. Halle 1769. Ich nenne nur einige Schriften: Jeremias Friedrich Reuß: Dissertatio Theologica de Auctore Apocalypseos. Tübingen 1767 (gegen Semler: Observationes breves de interpretatione apocalypseos. In: Johann Jakob Wetstein: Libelli ad crisin atque interpretationem Novi Testamenti. Hg. von J. S. Semler. Halle 1766); Christian Friedrich Schmied (Schmid): Rez. von Oeders Christlich freyer Untersuchung. In: Philosophische und kritische Bibliothek 1770/71; [Friedrich Andreas Stroth:] Freymüthige Untersuchungen die Offenbarung Johannes betreffend wider Herrn Professor C. F. Schmid in Leipzig. Halle 1771; Johann Christian Commerell: Ernsthafte Widerlegung der Semlerschen Abhandlung (mir nicht zugänglich), 1774. Johann Salomo Semler: Abhandlung von freier Untersuchung des Canon nebst einer Antwort auf die tübingische Verteidigung der Apokalypsis. Halle 1771. Weitere Bände folgten. Vgl. den in Anm. 12 zitierten Brief. Voltaire: Dictionnaire philosophique (kritische Edition, hg. von Christine Mervaud, in: Les oeuvres completes de Voltaire / The Complete Works of Voltaire. Bd. 35. Oxford 1994, S. 362–368). Dazu vgl. allg. Sylvain Menant: Littérature par alphabet. Le ›Dictionnaire philosophique portatif‹ de Voltaire. Paris 1994; Voltaire et le Dictionnaire philosophique. Hg. von Marie-Hélène Cotoni. Nizza 1995.

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diesem Artikel finden sich Sätze und Satzgruppen benutzt, ja zum Teil wörtlich übersetzt, gerade auch in den von Karl Lessing veröffentlichten Anfangspassagen.36 Man hat den Eindruck, als wäre eine Lektüre des Dictionnaire geradezu der Ausgangspunkt für das Abfassen des Textes gewesen. Damit müßte der Text nach 1764 entstanden sein, und möglicherweise vor 1770, als die Debatte um Oeder und Semler immer größere Kreise zieht. Die andere Möglichkeit: der Text stammt zur Gänze nicht von Lessing. Von wem dann? Gibt es Kandidaten, etwa unter den Neologen oder Bibelkritikern? Reimarus wäre ein solcher Kandidat, allerdings sparen die kanonkritischen Teile seiner Apologie die Johannesapokalypse eher aus.37 1764 war die Apologie längst abgeschlossen, und der fragliche Text müßte ein Nachschlag, ein Anhängsel sein. Von solch einem Nachschlag ist aber in der Reimarus-Forschung nichts bekannt. Außerdem fehlt dem Text eine gewisse Kompromißlosigkeit, die Reimarus auszeichnet. Dennoch mag sich die Suche nach anderen möglichen Autoren lohnen, auch wenn das Feld derjenigen, die theologisch gebildet und zugleich bibelkritisch eingestellt waren, in Deutschland sehr begrenzt ist. Doch Paalzow scheint ja selbst Zweifel an der Verfasserschaft Lessings gehabt zu haben. Hätte er sich sonst nicht längst brüsten können, einen Lessingstext erstmals vollständig zu publizieren in der Lage zu sein? Die Verleger hätten ihm die Schrift aus dem Händen gerissen, und sie wäre groß mit Lessings Namen prangend veröffentlich worden. Nichts dergleichen ist geschehen. Kann denn Paalzow selbst, der Herausgeber, den Text zur Gänze verfaßt haben? Dann müßte dieser freilich aus der Zeit vor 1781, dem Zeitpunkt von Lessings Tod, stammen. Das wäre für Paalzow früh, der 1777 erst zu publizieren begann, aber möglich. Wie jedoch hätte Lessing an einen unpublizierten Text des jungen, gänzlich unbekannten Paalzow kommen können, der damals Student in Halle war und um 1780 als Referendar nach Berlin ging? Das ist sehr unwahrscheinlich. Bleibt schließlich noch die letzte Möglichkeit, daß das von Karl Lessing publizierte Fragment zwar echt ist, die Fortsetzung aber von einem anderen Autor stammt und also eine Fälschung ist, insofern sie sich den Anschein gibt, mit dem Anfangstext ein Ganzes zu bilden. Für die Annahme einer solchen Fälschung gibt es gewisse Indizien, wenn auch kein eindeutiges Argument. Man kann sehen, daß die sprachliche Qualität der späteren Teile leicht abfällt. Typisch Lessingsche kurze und elegante Sätze wie »Man untersuchte, man stritt, ehe man annahm« kommen nur auf den Anfangsseiten vor, später niemals.38 Der spätere Text ist eine Spur zu umständlich, um typisch für Lessing 36 37 38

Das hat schon George Pons bemerkt (s. Anm. 4), S. 344, Anm. 179. Vgl. Reimarus (s. Anm. 12). Einleitung (s. Anm. 17), S. 2, § 1. Die ganze Passage: »Das nehmliche Buch, das die einen verwarfen, nahmen die anderen an. Man untersuchte, man stritt, ehe man annahm. Der zweyte des h. Petrus war anfangs nicht in dem Canon; aber einige, sagt Eusebius, fingen an, ihn für nützlich zu halten, und so ging man an, ihn sorgfältiger zu lesen. Das nehmliche meldet er von den Briefen des h. Jacobus und des h. Judas. Nur sehr wenige von den Alten

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zu sein. Einer der besten Kenner des Lessingschen Oeuvres, Hugh Barr Nisbet, hat mir seine Einschätzung der Lage mitgeteilt und urteilt ganz in diese Richtung. Die späteren Passagen, so Nisbet, vermittelten den Eindruck, als habe sich jemand zunächst angestrengt, die Manier Lessings nachzuahmen, sei dann aber in seinen eigenen, schwerfälligeren Stil zurückgefallen. Doch auch die Fälschungshypothese hat ihre Probleme. Das größte: Die unausgesprochene Benutzung (ja Übersetzung) von Voltaire-Passagen ist nicht nur in den von Karl Lessing veröffentlichten Seiten nachweisbar, sondern auch noch einige Seiten später (»Irenäus, der nach ihm kommt […]«).39 Das ist ein starkes Argument für die Zusammengehörigkeit des gesamten Textes. Der Fälscher müßte schon sehr raffiniert gewesen sein, wenn er die VoltaireAnklänge erkannt und dann ganz bewußt solche Anklänge in seinem gefälschten Text weiterverwendet hätte. Gab es einen solchen raffinierten Fälscher? Nun, Paalzow ist VoltaireKenner gewesen. Er hat etliche Voltaire-Schriften ins Deutsche übersetzt.40 Insofern wäre ihm ein solches Bravourstück sogar zuzutrauen. In seinem Hierokles hat Paalzow zwei Kapitel der Kanonbildung des Neuen Testaments gewidmet.41 Doch warum sollte sich Paalzow 1794 die Mühe machen, achtzig Seiten Lessing zu fälschen, wenn er dann gar nicht damit auf die Pauke haut? Wenn das Büchlein nur in wenigen Exemplaren erscheint? Warum sich die Mühe machen, in den 1790ern eine Untersuchung zu fingieren, die noch keine

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hatten ihrer als göttliche Schriften gedacht. Doch entschlossen sich einige Kirchen, sie zu lesen. Der Zweifel dauerte lange und endlich fiel er ganz weg. Hieronymus sagt ebenfalls von dem Briefe des h. Jacobus, daß er sein Ansehn nach und nach mit Hülfe der Zeit erhalten habe. Auf die nehmliche Weise sind die Briefe an die Hebräer und der zweyte und dritte Brief des h. Johannes canonisch geworden. Kurz, so und nicht anders kam der Canon der heiligen Schrift allmälig zu seiner Vollkommenheit, welches besonders sehr deutlich an der Offenbarung erhellet, deren Geschichte, und wie viel Widersprüche sie erdulden müssen, wir jetzt erzählen wollen.« Einleitung (s. Anm. 17), S. 8, § 11. Die ganze Passage: »Irenäus, der nach ihm kommt, führt sie oft an unter dem Namen des Johannes, des Jüngers Jesu. Er hatte einen andern Character als Justinus, und die Stärke des Zeugnisses hängt beynahe ganz von der Beschaffenheit des Zeugen ab. Justin begab sich nach den Oertern selbst hin, er wollte die Dinge selbst sehen, ob er gleich ein sehr blödes Gesicht hatte; Irenäus hingegen sah bloß durch die Augen eines andern.39 Er giebt weiter nichts zum Gewährsmann an, als eine Tradition, aber das Zeugniß eines gewissen Alten, den man nicht kennt, und dessen Gedächtniß durch das hohe Alter ohne Zweifel sehr geschwächt war; denn sonst würde er unter andern Mährchen wol nicht erzählt haben, daß Jesus im fünfzigsten Jahre gestorben wäre, um alle Alter durchzugehen und sie zu heiligen, und sich dabey auf Joh. s. B. 56. 57. berufen haben.« Voltair’s Kommentar über Montesquieus Werk von den Gesetzen, Berlin: Pauli 1780; Ein Gespräch zwischen A.B.C. über Hobbes, Grotius und Montesquieu, in Paalzow: Politische und gelehrte Anekdoten unserer Zeiten. Bd. 1. Potsdam 1780, S. 356–376 (nicht verzeichnet in Hans Fromm: Bibliographie deutscher Übersetzungen aus dem Französischen 1700–1948. 5 Bde. Baden-Baden 1950–1953) = Voltaire: L’ABC, dialogue curieux traduit de l’anglais de Mr. Huet. »Londres 1762« (in Wirklichkeit 1768). Wahrscheinlich gibt es noch weitere zu identifizierende Kleinschriften Voltaires in Paalzows Büchern. Hierokles (s. Anm. 21), Kap. XI und XII, S. 259–335.

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Kenntnis von der Semler-Debatte der 1770er Jahre hat? Oder hatte Paalzow gehofft, Gebauer würde den Köder schlucken und das Büchlein in großer Auflage herausbringen? Dann aber hätte er im Brief sehr viel offensiver vorgehen müssen. Die Lösung muß woanders liegen. Und sie liegt woanders. Voltaire hatte seinen Artikel »Apocalypse« auf der Grundlage eines clandestinen Manuskriptes geschrieben, das um die Mitte des 18. Jahrhunderts in der französischen Schweiz zirkulierte.42 Dieses Manuskript hieß Discours historique sur l’Apocalypse.43 Es stammte von einem Hugenotten, der als Glaubensflüchtling Frankreich verlassen hatte und als Bibliothekar in Genf lebte: Firmin Abauzit.44 Abauzit war in den Niederlanden in Kontakt mit Protestanten wie Bayle und Basnage gekommen, von denen er einen historisch-kritischen Blick auf die Bibel erlernen konnte.45 Das brachte ihn dazu, Basnages Kanonkritik weiterzuführen und für den Fall der Johannesapokalypse auszuarbeiten.46 Als er 1767 starb, verbrannten seine Erben all seine nachgelassenen Schriften, weil sie sich für die Heterodoxie des Gelehrten schämten. Dennoch wurde der Discours auf der Grundlage eines der zirkulierenden Manuskripte 1770, wie so viele andere clandestine religionskritische Schriften, veröffentlicht, angeblich in »Londres«, aber wohl in der Schweiz oder den Niederlanden.47

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Vgl. Mina Waterman: Voltaire and Firmin Abauzit. In: Romanic Revue 33 (1942), S. 236– 249; vgl. weiter die kommentierenden Anmerkungen von Christiane Mervaud und ihren Mitarbeitern in der kritischen Edition des Artikels (s. Anm. 35). Vgl. die Einträge in Miguel Benítez: Le Philosophe selon le coeur de Rousseau: Firmin Abauzit et le Discours Historique sur l'apocalypse. In: Modernité et Pérennité de Jean Jacques Rousseau. Hg. von Colette Piau-Gillot, Roland Desné und Tanguy L’Aminot. Paris 2002, S. 79–104, hier S. 85f.; der Text wurde mehrmals gedruckt, teilweise aufgrund unterschiedlicher Manuskriptvorlagen: Discours historique sur l’Apocalypse. Par feu Mr. Abauzit. Londres 1770; dann in: Oeuvres diverses de M. Abauzit. Bd. 1. ›Londres‹ 1770, S. 245–326; Réflexions impartiales sur les èvangiles, suivis [sic] d’un Essai sur l’Apocalypse, imprimé sur un manuscrit du célébre Mr. Abauzit. Londres 1773; [engl. Übers.] An historical Discourse on Apocalypse. In: Miscellanies of the late ingenious and celebrated M. Abauzit, on Historical, Theological, and Critical Subjects. London 1774. Zu Abauzit (1679–1767) vgl. weiter Clément Montfajon: Firmin Abauzit, réfugié français à Genève apres la révocation de l’édit de Nantes 1679–1767. Paris 1890; Maria-Cristina Pitassi: Firmin Abauzit (1679–1767) ou de l’héterodoxie discrète. In: Bulletin de la Société de l’histoire du protestantisme français 146 (2000), S. 717–730; Bernard Dio: Firmin Abauzit ou la lumière oubliée. Paris 2000; Weiter: Bertram Schwarzbach: La critique biblique dans les Examens de la Bible et dans certains autres traités clandestins. In: La lettre clandestine 4 (1995), S. 69–86. Zum Kontakt zu Prosper Marchand und den Versuchen, den »Discours« zu publizieren, vgl. das druckfertige Manuskript des Discours, das heute in der Universitätsbibliothek Leiden liegt, Ms. March 67 (»Histoire littéraire de l’Apocalypse«). Auf dem Vorblatt steht: »Ce petit traité fut fait à la prière de Mr [Guillaume] B[urnet] dans un tems que plusieurs scavans d’A[ngleterre] s’appliquoient a des calculs sur l’Apocalypse.« Catalogue des manuscrits de la collection Prosper Marchand. Hg. von Christiane Berkverns-Stevelinck, Leiden 1988, S. 112f. Vgl. Basnage (s. Anm. 10). Vgl. Benítez (s. Anm. 43), S. 90.

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Lessing muß die Schrift – als Druck oder als Manuskript – bei seinen Bibelstudien in die Hände bekommen haben. Er interessierte sich für ihre Thesen und begann, sie zu übersetzen. Das ist das von Lessings Bruder postum veröffentlichte Fragment. Wir können jetzt sicher sagen, daß es nicht von Lessing selbst stammt, sondern nur von ihm übersetzt wurde. Lessing hatte sicherlich vor, Abauzits Arbeit zur Gänze zu übersetzen. Offenbar haben ihn drängendere Geschäfte davon abgehalten, dies zu tun. Wir können nur spekulieren, ob ihm die Übersetzung zum Auftakt für eine eigene Studie als »zweites Treffen« seiner Armee gegen die lutherische Orthodoxie gedient hätte, ob er seine eigenen Beobachtungen an diejenigen Abauzits angeschlossen hätte, oder ob er Abauzit allein hätte sprechen lassen wollen. Auf jeden Fall ist zu sagen: Karl Lessing – und mit ihm die gesamte Lessing-Forschung – haben sich getäuscht, als sie Lessing die Historische Einleitung in die Offenbarung Johannis zuschrieben. Wir müssen nun umdenken in der Rekonstruktion von Lessings spätem historisch-theologischem Denken. Und Paalzow? Er war Übersetzer und Fälscher zugleich. Paalzow war offenbar ebenso wie Lessing in Kenntnis des Textes von Abauzit gekommen, wohl in den 1780er oder frühen 90er Jahren. Er muß erkannt haben, daß das in Lessings theologischem Nachlaß publizierte Fragment nicht von Lessing selbst stammte, sondern der Anfang seiner Abauzit-Übersetzung war. Doch statt diese Erkenntnis der Lessing-Gemeinde mitzuteilen, ist er auf den Gedanken gekommen, Lessings Übersetzung weiterzuführen und seinem Stil anzunähern. Daher unsere Verwirrung wegen der ähnlichen und dann noch etwas verschiedenen Schreibweise. Am Anfang gelang es ihm noch ganz gut, Lessings Stil zu kopieren, dann aber verfiel er mehr in seinen eigenen Stil.48 Es sieht so aus, als habe Paalzow die Unkenntnis des Publikums (und seines Verlegers) benutzt, um den Text aufzuwerten und in eine Lessing-Nähe zu schmuggeln. Wir haben es also mit einem komplizierten Fall von ÜbersetzungsFälschung zu tun. Doch ganz abgesehen von der Aufdeckung dieser Kriminalgeschichte aus der Lessing-Philologie verweist der Fall auf grundsätzlichere Dimensionen. Bisher stand man oft verwundert vor dem Umstand, daß die historische Bibelkritik und Kanonforschung zwar in den Jahren um 1700 (vor allem mit Richard Simon) anhebt, dann aber offenbar wieder versackt und erst um 1770 bei Semler ein neues – und dann sich immer mehr verstärkendes – Leben beginnt.49 Der Transfer des Manuskripts von Abauzit zu Voltaire, zu Lessing und dann zu Paalzow zeigt uns ein anderes Bild. Die Latenzperiode im frühen 18. Jahrhundert bedeutet nicht, daß es damals keine Weiterführung der frankophonen Forschung gegeben hätte. Man muß nur den clandestinen

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So die Einschätzung von Hugh Barr Nisbet, dem ich für seine Expertise danke. Vgl. Lehrbücher wie Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte. Hg. von Gustav A. Benrath u. a. Bd. 3. Göttingen 1984, S. 138; Gottfried Hornig: Die Anfänge der historischkritischen Theologie. Göttingen 1961. Die Lücke wird auch nicht geschlossen in Reventlow, Sparn, Woodbridge (s. Anm. 10).

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Untergrund einbeziehen, das Zirkulieren nichtpublizierter Texte.50 Dann sieht man: Die historische Kritik war auch in diesen Jahrzehnten aktiv. Nur konnte sie sich nicht äußern, nicht öffentlich artikulieren. Erst in den 1760er und 70er Jahren kam sie, wie auch die sich ansammelnde clandestine religionskritische Polemik, an die Oberfläche, zunächst in den Raubdruckereien entlang der französischen Grenze, dann als Transfer auch in Deutschland. Ihr Auftauchen bei Lessing ist da nur Symptom eines großen Prozesses.



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Vgl. allg. Ira A. Wade: The Clandestine Organization and Diffusion of Philosophic Ideas in France from 1700–1750. Princeton 1938; La philosophie clandestine à l’âge classique. Hg. von Antony McKenna, Alain Mothu. Oxford, Paris 1997; für das hugenottische Milieu: Jens Häseler: Ein Wanderer zwischen den Welten: Charles Etienne Jordan (1700–1745). Sigmaringen 1993; Martin Mulsow: Die drei Ringe. Toleranz und clandestine Gelehrsamkeit bei Mathurin Veyssière La Croze (1661–1739). Tübingen 2001. Speziell zur Zirkulation von kanonkritischen Texten gibt es noch keine Forschung. Interessant wäre z. B. die Frage, ob Georg Ludwig Oeders Schrift zur Johannesapokalypse (s. Anm. 31), die er zu Lebzeiten nicht veröffentlicht hat, als Clandestinum gewertet werden kann oder an die Zirkulation von Schriften wie denen Abauzits angeschlossen war. Zur Präsenz der Thesen Basnages und Abauzits in England nur einige Hinweise: Vgl. Nathaniel Lardner: The Credibility of the Gospel History. London 1727–57. Dieses Buch wurde auch ins Deutsche übersetzt: Glaubwürdigkeit der evangelischen Geschichte. Berlin: Nicolai 1750/1, mit einer Vorrede von Siegmund Jakob Baumgarten.

Personenregister

Abauzit, Firmin 348f. Abraham Ibn Esra 194 Adelmann von Lüttich 93f. Aguesseau, Henri-François de 50 Albertus Magnus 224 Ambrosius von Mailand 213 Anselm von Canterbury 76, 90 Aristophanes 191 Aristoteles 223 Arnold, Gottfried 75, 108, 143 Augustinus 18, 50, 147, 176f., 213, 290f., 295f., 304, 316, 343 Bahrdt, Karl Friedrich 105 Basnage, Jacques 339, 348 Baumgarten, Alexander Gottlieb 227 Baumgarten, Siegmund Jakob 228, 272 Bavus, Markus 40 Bayle, Pierre 17, 29, 52f., 83, 348 Berengar von Tours 89–103, 309 Berkeley, George 135 Beverland, Hadrian 118 Biermann, Johann 183 Bochart, Samuel 195 Bodin, Jean 134 Bodmer, Johann Jakob 324 Boethius 223 Böhme, Jakob 81f., 106, 141f. Bonnet, Charles 107, 133, 135 Brocardo, Jacopo 113f. Bromley, Thomas 142 Budde, Johann Franz 83, 112 Burckhard, Jacob 95 Butler, James 251 Cagliostro, Alessandro 23 Calmet, Augustin 191 Calov, Abraham 246 Calvin, Johannes 38, 51, 149 Cardano, Girolamo 18, 131, 133f., 136f., 171, 291 Cartwright, Christopher 189 Celsius, Olof, der Ältere 196 Chevrier, François Antoine 134 Clarius, Isidor 183 Coccejus, Johannes 114

Conway, Anne 142, 145 Cronegk, Johann Friedrich von 21 D’Achery, Luc 93, 97 Danckelmann, Eberhard von 142 Dante 116 Daveson, Alexander 22 Descartes, René 52 Desmolets, Pierre-Nicolas 56 Diderot, Denis 13 Diodorus Siculus 193, 196 Dippel, Johann Konrad 82 Döderlein, Johann Christoph 119 Eberhard, Johann August 149–152, 309 Eichendorff, Joseph von 317 Eichhorn, Johann Gottfried 119 Elliston, John 141 Epikur 53 Ernesti, Johann August 101 Euklid 223, 239 Fabricius, Johann Albert 84, 111 Fagius, Paul 188, 194 Falk, Samuel Jacob 23f. Ferguson, Adam 107 Flacius, Matthias 93f., 102, 108, 184 Fleury, André-Hercule de 50 Foster, James 251 Fracastoro, Girolamo 134 Franciscus Quadratus 97 Fülleborn, Georg Gustav 19 Fuller, Nicholas 187f. Gatterer, Johann Christoph 228 Gebauer, Johann Jakob 341f., 348 Gellert, Christian Fürchtegott 313 Gervinus, Georg Gottfried 322 Goethe, Johann Wolfgang von 13, 128, 288 Goeze, Johan Melchior 19, 21, 41, 61–63, 70, 72, 181, 200– 202, 204–206, 211–214, 219–222, 229–235, 238f., 246, 249–255, 259, 261, 263–267, 270f., 274f., 308, 338 Gottsched, Johann Christoph 324

352 Gregor VII. (Papst) 95f., 98f., 102 Grotius, Hugo 194, 245–247 Guevara, Antonio de 295 Gundling, Nikolaus Hieronymus 81–83 Haller, Albrecht von 14, 30–49 Hardt, Hermann von der 193, 195 Harenberg, Johann Christoph 186, 195 Hase, Johann Matthias 192f., 195 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 288 Helmont, Franciscus Mercurius van 142, 144f. Herder, Johann Gottfried 13, 133, 136, 242–245 Herodot 191 Herrera, Abraham Cohen 143 Hesychios von Alexandria 195 Hettner, Hermann 322 Heumann, Christoph August 83, 101f. Heyne, Christian Gottlob 88, 103 Hezekiah ben Manoah 194 Hieronymus 248 Hiltalingen, Johannes 108 Hobbes, Thomas 231 Hoffman, Melchior 113 Holden, Henry 245 Homer 50, 52 Humbert von Silva-Candida 98 Humboldt, Wilhelm von 13 Hume, David 29 Hutcheson, Francis 31 Iamblichos von Chalkis 131 Innozenz III. (Papst) 112, 290 Irenäus von Lyon 342 Isidor von Sevilla 224 Jablonski, Paul Ernst 196f. Jacobi, Friedrich Heinrich 12, 126f., 306 Jagemann, Christian Joseph 115–117 Jerusalem, Johann Friedrich Wilhelm 105, 119 Joachim von Fiore 104, 106–117, 120, 133, 140, 144, 152, 174 Jöcher, Christian Gottlieb 111 Johann Friedrich, Herzog zu Braunschweig-Lüneburg 142 Johannes Scotus Eriugena 91, 95, 97 Johannes Sichardus 97 Jonsius, Johannes 84 Julian Apostata (Kaiser) 81 Junilius Africanus 343 Justel, Henry 196 Justin der Märtyrer 342 Kant, Immanuel 18, 71, 288 Karl der Kahle (Kaiser) 91

Personenregister Kästner, Abraham Gotthelf 18, 30 Kierkegaard, Søren 156 Klopstock, Friedrich Gottlieb 35, 47, 51 Knorr von Rosenroth, Christian 127, 130, 142, 144 Knyphausen, Dodo Freiherr von 142 Köhler, Heinrich 221, 227f. Könemann (Vorname unbekannt) 22 König, Eva 15f., 181 Ktesias von Knidos 187 La Beaumelle, Laurent Angliviel de 134f. Lampe, Friedrich Adolf 114 Lanfrank von Bec 90f., 93, 97, 95–100 Le Beau, Charles 50 Le Clerc, Jean 85, 190, 194 Lead, Jane 142 Leibniz, Gottfried Wilhelm 17, 30f., 41–43, 46f., 49, 54, 64, 66f., 70, 105, 107, 128, 142, 146f., 149– 152, 159, 307, 310, 312, 314 Leopold I. (Kaiser) 142 Leß, Gottfried 119 Lessing, Gottfried Benjamin 332 Lessing, Johann Gottfried 62, 88f., 92, 332 Lessing, Karl Gotthelf 12, 21, 69, 181, 267, 310, 338, 340, 344, 346f., 349 Lessing, Theophilus 21 Lilienthal, Theodor Christoph 181 Livius 296–298, 300, 303f., 307, 325 Locke, John 21, 105, 107, 133 Lüderwald, Johann Balthasar 105 Lüdke, Friedrich Germanus 105 Lukrez 52 Luther, Martin 37f., 51, 88–90, 101f., 113, 200, 306 Mabillon, Jean 102 Malachias von Armagh 109 Mandeville, Bernard 31 Melanchthon, Philipp 102, 200, 224 Mendelssohn, Moses 13, 31, 42, 49, 107, 136, 148–150, 253, 257, 264, 323 Merlau, Sophie von 142 Meyer, Ludwig 250f. Michaelis, Johann David 189 Milton, John 50 Moldenhawer, Johann Heinrich Daniel 198 Molière, Jean-Baptiste 296 Montaigne, Michel de 53 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat, baron de La Brède et de 118 More, Henry 145

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Personenregister Mosheim, Johann Lorenz von 75, 108–110, 112 Müller, Friedrich 16, 18, 318 Mylius, Christlob 14–15, 22, 30 Neuser, Adam 22 Newton, Isaac 52 Nicolai, Christoph Friedrich 27, 31, 262, 269, 288, 310 Niebuhr, Carsten 186, 189 Nikolaus II. (Papst) 98 Nösselt, Johann August 105 Nostradamus 109 Novalis 165 Oeder, Georg Ludwig 345f. Origenes 140f., 144, 146–148, 152 Paalzow, Christian Ludwig 341f., 344, 346–349 Pascal, Blaise 33, 51–58, 70 Paschasius Radbertus 91, 102 Pellicanus, Conrad 188 Persius 59 Pétau, Denis 79 Petersen, Johann Wilhelm 144, 142–146, 150 Philo von Alexandria 77, 84f. Platon 52, 83f., 148 Plautus 292, 299 Plinius der Ältere 187, 190 Plotin 131 Plutarch 192 Pococke, Edward 186 Polignac, Melchior de 53 Pope, Alexander 42, 46, 48, 52, 54 Pordage, John 142 Porphyrios 80, 131 Presle, Marie 50 Prochoros 342 Proklos 131 Racine, Jean 50 Racine, Louis 30, 33, 36, 39, 48–54 Rantzau, Jörgen Ludwig Albrecht von 23 Raschi (Salomo ben Isaak) 188 Ratramnus von Corbie 91, 95, 97 Reimarus, Elise 19, 204 Reimarus, Hermann Samuel 17f., 22, 27–29, 70, 73–87, 119, 121, 139, 158–160, 163f., 181–183, 191, 194–198, 200, 202–205, 211, 214, 219, 222, 242f., 251f., 260f., 311f., 331, 337, 339, 345f. Reimarus, Johann Albert Hinrich 158, 162

Reiske, Ernestine 16 Reland, Hadrian 187, 191 Rescher, Nicolas 41 Reß, Johann Heinrich 21, 268 Riccioli, Giovanni Battista 134 Richardson, Samuel 289 Richter, Gottlob Heinrich 198 Riem, Andreas 86 Rivet, André 245 Rollin, Charles 50 Rosenmüller, Johann Georg 105, 117–122 Rousseau, Jean-Jacques 13, 31, 288 Russell, Bertrand 41 Sack, August Friedrich Wilhelm 101 Saint-Evremond, Charles de 53 Scaliger, Julius Caesar 131f. Schiller, Friedrich 13, 288, 327 Schlegel, August Wilhelm 317 Schlegel, Friedrich 331 Schlözer, August Ludwig 229 Schmid, Conrad Arnold 93f. Schmidt, Johann Lorenz 228 Schuch, Franz 15 Schumann, Johann Daniel 19, 263, 272 Scipio Africanus 338 Semler, Johann Salomo 75, 182, 200, 204f., 229, 250, 344– 346, 348f. Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Earl of 32, 58, 61, 63 Simon, Richard 245f., 248, 339, 349 Sokrates 147f., 150 Soner, Ernst 145, 150f. Sophokles 321–323 Souverain, Jacques 79f. Sozzini, Fausto 77–80 Spalding, Johann Joachim 30–41, 58–63, 69–72, 105, 250f., 256, 261 Sparrow, John 141 Spener, Philipp Jacob 142 Spinoza, Baruch de 53f., 70, 86, 105, 107, 127f., 184, 250 Steinbart, Gotthelf Samuel 105 Stephan IX. (Papst) 98 Strabon 187, 191, 195f. Stumpf, Johann Ludwig 184 Sulzer, Johann Georg 133, 135f. Swedenborg, Emanuel 23 Teller, Wilhelm Abraham 105, 119 Theophrast von Eresos 197 Theophylaktos Simokates 133 Thomas von Aquin 50, 128f., 224 Thomasius, Christian 83 Thomasius, Jakob 80

354 Tindal, Matthew 252 Toland, John 105 Tralles, Balthasar Ludewig 290 Tschirnhaus, Ehrenfried Walter von 230, 233 Vergil 50, 52 Vico, Giambattista 225 Viktor II. (Papst) 98 Voltaire 13, 21, 56–58, 61, 70, 287–289, 312, 314, 321f., 324, 345, 347–349

Personenregister Wachter, Johann Georg 81, 143, 146 Walch, Christian Wilhelm Franz 75 Warburton, William 57, 107, 118, 164 Weller, Johann Gottfried 111–113 Wieland, Christoph Martin 13, 115 Winckelmann, Johann Joachim 13 Winkler, Christian Gottfried 15 Wolff, Christian 17, 70, 159, 220f., 226, 230, 233 Zwingli, Ulrich 88