Gotthold Ephraim Lessing 9783406688355

Gotthold Ephraim Lessing gilt als der mustergültige Vertreter der Aufklärung in Deutschland. Der überzeugte Toleranzdenk

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German Pages 131 Year 2016

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Gotthold Ephraim Lessing
 9783406688355

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== “ z C.H.BECK Friedrich Vollhardt GOTTHOLD EPHRAIM LESSING-

C.H.BECK MWISSEN

Als Student in Wittenberg schrieb er Rettungen verkannter Au-

toren der Reformationszeit, als Gouvernementssekretär unter preußischen Offizieren sammelte er Material für das Schauspiel Minna von Barnhelm, als Dramaturg in Hamburg verfasste er eine Wirkungsästhetik des Theaters und als Bibliothekar in Wolfenbüttel löste er mit der Publikation der offenbarungskritischen Fragmente eines Ungenannten eine der größten Kontro-

versen des 18. Jahrhunderts aus: Leben und Werk Gotthold Ephraim Lessings (1729-1781) sind vielschichtiger und abgründiger, als das zur Routine gewordene Porträt des «Repräsentanten der Aufklärung» vermuten lässt.

Friedrich Vollhardt ist Professor für Deutsche Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Friedrich Vollhardt

GOTTHOLD EPHRAIM LESSING

Verlag C.H.Beck

Originalausgabe © Verlag C©.H.Beck oHG, München 2016 Satz, Druck und Bindung: Druckerei ©.H.Beck, Nördlingen Umschlagabbildung: Anna Rosina de Gasc, Gotthold Ephraim Lessing, Gleimhaus, Halberstadt Umschlaggestaltung: Uwe Göbel, München Printed in Germany ISBN 978 3 406 68835 5 www.beck.de

Inhalt

Musteraufklärer?

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Herkunft, Studium, literarische Anfänge

(1729-1755)

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Komödien ı5 Journalismus 21 Anakreontik und Lehrdichtung, Pope ein Metaphysiker! 24 Rettungen

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Schriftsteller und Kritiker (1755-1759) 36

Theorie und Praxis der Tragödie 36 (Miß Sara Sampson 38, Faust 45, Briefwechsel über das Trauerspiel 50) 36 Fabeln und Fabelabhandlungen 55 Literaturbriefe 58 Krieg und Patriotismus: Philotas 65 . Breslau und letzte Berliner Jahre (1760-1766) 68

Studien zur Geschichte der christlichen Religion Laokoon 73 . Das Nationaltheater in Hamburg

(1767-1770)

80

Minna von Barnhelm 82 Hamburgische Dramaturgie

86

HS)

VI. Bibliothekar in Wolfenbüttel

(1770-1781)

92

Emilia Galotti 96 Fragmentenstreit 105 Die Erziehung des Menschengeschlechts Nathan der Weise 114 Literaturverzeichnis Register 126

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I. Musteraufklärer?

Wer die Person und das Werk Gotthold Ephraim Lessings (1729-1781) zu beschreiben versucht, sieht sich mit einem Bündel von Fragen konfrontiert. Zum einen lassen sich die Stationen seines Lebens nicht - wie in den älteren Biographien - als die vom Nachruhm ausgehende Geschichte eines Klassikers darstellen; zu viel ist dem Autor misslungen oder versagt geblieben. Es ist von den Zufällen im Leben Lessings zu sprechen, den plötzlichen und unangekündigten Ortswechseln - seinen Fluchten -, die für ihn ebenso charakteristisch sind wie seine Abneigung gegen höfische Etikette, formelles Verhalten und Autoritäten. Nicht verschwiegen werden dürfen seine Leidenschaft für das Glücksspiel, der Hang zur Depression und eine Angst vor festen Bindungen (der späten und immer wieder verzögerten Heirat mit Eva König ging eine unglückliche Beziehung mit einer anderen Witwe, Ernestine Reiske, voraus). Zum anderen scheint seinen Schriften ein integrierendes Moment zu fehlen. Die Vielfalt der literarischen Formen, Streitschriften und Polemiken, altertumswissenschaftlichen Untersuchungen und religionsphilosophischen Abhandlungen ist nur schwer zu überschauen. Dazu kommen die vielen nicht verwirklichten Pläne und Entwürfe sowie die zwar in Druck gegebenen, aber Fragment gebliebenen Arbeiten. Diese Vieldimensionalität hat die neuere Forschung mit den Begriffen «Pluralismus» und «Perspektivismus» zu fassen versucht, wodurch das Werk unerwartet moderne Züge annimmt. Steht ein Gedenkjahr bevor, werden dagegen die Erfolgsgeschichten wiederholt und aufgefrischt, die sich ebenfalls mit dem Namen Lessings verbinden lassen. Da ist dann von dem neuen, in Deutschland bis dahin unbekannten Typus des freien Schriftstellers und Intellektuellen die Rede, der sprachlichen Eleganz seiner Schriften und der Unbestechlichkeit des Kriti-

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I. Musteraufklärer?

kers. Vor allem aber wird an den Kosmopolitismus Lessings erinnert, sein Eintreten für die Emanzipation der Juden und seine Freundschaft mit Moses Mendelssohn. Ganz in der Gegenwart angekommen ist man, wenn die von Nathan dem Weisen erzählte Ringparabel als noch immer gültige Anleitung zu einer Verständigung der Religionen beschworen wird. Es ist zur Routine geworden, Lessing als einen, vielleicht sogar als den Repräsentanten der Aufklärung in Deutschland zu porträtieren. Doch stimmt diese Einschätzung? In den letzten Jahrzehnten ist wiederholt versucht worden, das aus den Festreden vertraute

Lessing-Bild zu retuschieren, wobei das Misstrauen gegenüber der Aufklärung ein Leitmotiv bildete. Ein Theaterbesuch kann das leicht bestätigen. Dafür sind verschiedene Gründe anzuführen, etwa die immer noch geläufige Vorstellung von einer Dialektik der Aufklärung oder ein am Poststrukturalismus geschultes Denken, das in den Grundmustern der Modernisierung repressive Kontrollmechanismen aufzudecken versucht. Der Begriff der Aufklärung bleibt umstritten; zu erklären ist, ob er als Partei- und Programmname, Denkstil, Reformprozess oder Epoche verstanden wird. In einem zweiten Schritt wäre dann zu verdeutlichen, wie man Lessings poetische Entwürfe und sein historisch-kritisches Argumentationsverfahren jenen kulturellen Transformationen zuordnet, die sich im 18. Jahrhundert vollzogen haben - mit anhaltender Wirkung. Sicher ist nur, dass der Autor nicht jenem Idealbild des Aufklärers entspricht, das der Historiker Robert Darnton für die französischen Zeitgenossen Lessings gezeichnet hat, die bei ihm als radikale Religionskritiker, stilbewusste Literaten und mondäne philosophes erscheinen, gut vernetzt im Zentrum der Macht. Für die deutschen Aufklärer lässt sich eine solche Kollektividentität nicht nachweisen, und die gelehrten protestantischen Theologen, zu denen Lessings Vater gehörte, waren andere Gegner als die katholische Kirche in Frankreich. Diese Denkhorizonte können im Folgenden nur andeutungsweise beschrieben werden, wobei stets von den Situationen und Konstellationen auszugehen ist, in denen Lessing mit seinen Schriften auf bestimmte Problemlagen reagiert: Als Student in

I. Musteraufklärer?

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Wittenberg schreibt er Rettungen verkannter Autoren der Reformationszeit, als Gouvernementssekretär unter preußischen Offizieren sammelt er Material für das Schauspiel Minna von Barnhelm, als Dramaturg in Hamburg verfasst er eine Wirkungsästhetik des Theaters und als Bibliothekar in Wolfenbüttel löst er mit der Publikation der offenbarungskritischen Fragmente eines Ungenannten einen Sturm der Entrüstung und eine der größten Kontroversen des Jahrhunderts aus. Die Darstellung rekonstruiert die für Lessing wichtigen Kommunikationsräume, das Netz seiner Gesprächspartner und Freunde, aber auch die Strategien, mit denen er vor einem aufmerksamen Publikum seine Gegner seziert. Die Wirkung war unerhört und ist noch heute spürbar, vor allem in den theologischen Streitschriften der Wolfenbütteler Jahre. Der von Lessing entwickelte, auf Destruktion zielende Stil lässt sich nicht mit einer heutigen Floskel als kommunikative Auseinandersetzung verharmlosen oder unter den schon etwas abgestandenen Begriff der Streitkultur fassen. Es handelt sich um mehr als eine nur spielerische Infragestellung von Meinungen, denn es geht Lessing auch - ein gewisses Pathos lässt sich hier nicht vermeiden - um Wahrheit, die allerdings nicht leicht zu haben ist. Vielleicht ist dieser Zug für sein Werk sogar charakteristi-

scher als das Bekenntnis zum Streit. Das Konstruktive der Kritik zeigt sich von Beginn an im Medium der Rettungen, für die Lessing die methodischen Vorgaben bei Pierre Bayle findet. Und hier kommt zugleich die für seine großen Werke so charakteristische Skepsis ins Spiel, die seine Anschauungen «entschieden provisorisch» (Hugh B. Nisbet) erscheinen lässt. Hieraus folgt jedoch weder ein Relativismus noch eine Verantwortung abweisende Resignation, vielmehr fordert Lessing die Bewahrung tradierter und die Verteidigung pragmatischer Werte. Daher ist sein gesamtes Werk von den Fragen nach der Moral und der Selbstgewissheit des Individuums durchzogen. Nicht zu vergessen: das humane Ethos der Toleranz. Doch gerade bei der Thematisierung dieses Gebots sind Missverständnisse nicht selten. Wenn etwa der Bundespräsident bei seiner Ansprache zum 275. Geburtstag Lessings im Jahr 2004 betonte, er wolle über

Io

II. Herkunft, Studium, literarische Anfänge (1729-1755)

das Thema des Nathan sprechen, nämlich «über das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religionen», dann liegt dem, vorsichtig formuliert, eine unterkomplexe Deutung des Stücks zugrunde. Lessings jahrzehntelange Auseinandersetzung mit dem Islam und dem Christentum war eine intellektuelle, die auf die Wahrheitsfrage und nicht auf neue Formen der interkulturellen Verständigung oder einfache Handlungsmaximen zielte. In diesem zur Einführung gedachten Buch kann nur eine beschränkte Auswahl der als profilbildend betrachteten Werke Lessings präsentiert werden. (Wer sich im Detail genauer informieren möchte, sei auf die im Jahr 2008 publizierte Biographie von Hugh B. Nisbet verwiesen, die seit 2013 auch in einer überarbeiteten englischen Fassung vorliegt.) Für die Charakterisierung des Autors war vor allem die Beobachtung von Bedeutung, dass Lessings Wissen um die Begrenztheit der menschlichen Erkenntnis - unser asylum ignorantiae - mehr mit dem Späthumanismus der Leibniz-Ära als mit dem Subjekt- und Freiheitsbegriff der Weimarer Klassik gemeinsam hat, auf den es gleichwohl vorausweist.

Il. Herkunft, Studium, literarische Anfänge

(1729-1755)

Lessing wird am

22. Januar

1729

in einem

protestantischen

Pfarrhaus geboren. Sein Vater, Johann Gottfried Lessing (16931770), ist Pastor Primarius an der Hauptkirche St. Marien in Kamenz, einer kleinen Stadt in der sächsischen Oberlausitz. Die

frühesten Briefe Lessings zeigen, wie er in diesem Milieu aufwächst und mit welchem Elan er sich dieser Lebenswelt zu entziehen versucht, deren Einfluss für ihn gleichwohl bestimmend geblieben ist. «Setze dich, nach Empfang dieses, sogleich auf die Post, und komme zu uns. Deine Mutter ist todkrank, und verlangt dich

II. Herkunft, Studium, literarische Anfänge (1729-1755)

BT

vor ihrem Ende noch zu sprechen.» (B XV/r 10) Mit dieser erfundenen Nachricht drängt Johann Gottfried seinen Sohn im Januar 1748 zur Heimreise nach Kamenz. Lessing hat zu diesem Zeitpunkt bereits einige Semester in Leipzig studiert und gerade die Uraufführung seiner Komödie Der junge Gelehrte erlebt. Den Eltern konnte nicht verborgen bleiben, dass der Student der Theologie sich in dieser Zeit mehr für das Theater, die Abfassung von Bühnentexten, literarische Zeitschriften und philosophische Vorlesungen als für sein eigentliches Studienfach interessierte. Die dringende Aufforderung zu einem Gespräch erscheint von daher verständlich, in ihrer Dramatik - hier wird

zum Äußersten gegriffen - wirkt sie gleichwohl hilflos. Nach der erzwungenen Aussprache gibt der junge Lessing sein Theologiestudium auf und kehrt im April 1748 als Student der Medizin nach Leipzig zurück. Seine Briefe an die Eltern unterschreibt er zwar weiterhin mit «Dero gehorsamster Sohn», doch diese Formel steht im Kontrast zu dem Selbstbewusstsein,

mit dem er die bald danach getroffene Entscheidung für ein Leben als «Comoedienschreiber» rechtfertigt. Mit Recht ist darauf hingewiesen worden, dass es bei dem beschriebenen Konflikt im Hause Lessing zwei Themen gegeben hat, die das schriftstellerische Werk des Sohnes bestimmen sollten: die Frage nach der Wahrheit der christlichen Religion und die Leidenschaft für das Theater (Jürgen Stenzel). Erste Erfahrungen mit der Komödie und der modischen Poesie konnte Lessing bereits während seiner Schulzeit auf der Fürstenschule St. Afra in Meißen sammeln. Die Landesschule in Meißen gehörte mit denen in Grimma und Pforta zu den hohen Bildungseinrichtungen im Kurfürstentum Sachsen, wo vor allem der Nachwuchs an Theologen und Regierungsbeamten auf das Studium vorbereitet wurde. Nach der Reformation gegründet, war die Fürstenschule in einem ehemaligen Kloster untergebracht, das mehr als nur einen äußeren Rahmen für das Leben der Schüler abgab: Der Tagesverlauf, die Gebetszeiten und die Disziplin entsprachen mönchischen Idealen, selbst die Kleidung erinnerte an ein Leben im Orden, von dem es kaum Urlaub gab. Das Studienprogramm war ebenso streng geregelt, im Mittel-

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punkt stand neben der alten Sprachen, Seit dem Beginn formbestrebungen,

der religiösen Unterweisung das Erlernen alle Gespräche waren lateinisch zu führen. des 18. Jahrhunderts gab es allerdings Redie ihre Wirkung in Lessings Meißener Jah-

ren zu entfalten begannen. Außer Frage steht, dass die Fürsten-

schule ein zum Studium befähigendes Wissen auf höchstem Niveau vermittelte und, wie von Lessing selbst erwähnt, die Zeit für eigene Lektüre und erste schriftstellerische Versuche im Bereich des Lustspiels - mit der antiken Typenkomödie als Vorbild -, der Anakreontik und des Lehrgedichts ließ. Ein deutlich aufklärerischer Akzent wurde mit der Vermittlung mathematischer und neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse gesetzt. Allerdings konnte dieser Unterricht nur gegen Widerstand und auf den ausdrücklichen Befehl des Königs eingeführt werden. Der Mathematiker und Astronom Johann Albert Klimm, seit 1729 Vertreter des Faches in Meißen, musste lange um seine Anerkennung in dem von Theologen und Philologen beherrschten Kollegium kämpfen. Die begabteren Schüler schätzten dagegen den hochgebildeten Naturwissenschaftler, der es mit unkonventionellen Mitteln verstand, Interesse für seine Gegenstände zu wecken und das Wissen in einem kleinen Kreis zu vertiefen. Überdies hat er seine Schüler auf die deutsche Literatur der Zeit und aktuelle Journale hingewiesen. An diesen Gesprächen hat sich Lessing beteiligt und für seine Abgangsrede kaum zufällig ein in das neue Fach gehörendes Thema gewählt: De mathematica barbarorum. Unter Anleitung seines Lehrers hat er zudem einige Bücher des Euklid übersetzt und dabei vielleicht auch einen neueren Kommentar benutzt, den der Theologe und Mathematiker William Whiston (1667-1752), der Nachfolger Isaac Newtons in Cambridge, in den 1720er Jahren vorgelegt hat. Lessing hat sich in den folgenden Jahren immer wieder auf Whiston und bestimmte Fragen der New science bezogen. Seine spätere Entscheidung für die medizinische Fakultät wird erst vor diesem Hintergrund verständlich. Will man das literarische und kulturelle Leben der sächsischen Metropole in der Mitte des 18. Jahrhunderts beschreiben,

sind zwei Besonderheiten zu beachten. Zum einen stand die

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Handelsstadt mit ihrer reichen Kaufmannschaft nicht, wie zu vermuten wäre, im Gegensatz zur Residenz des Hofes, sondern

war eng eingebunden in den Staatsverband des Kurfürstentums. Bei den Institutionen des bürgerlichen Gemeinwesens und der Verbreitung aufklärerischer Denkweisen in neuen Zeitschriften und auf dem Theater sollte daher nicht vorschnell auf antifeudale Einstellungen geschlossen werden. Zum anderen besaß Leipzig im Unterschied zu Frankfurt oder Hamburg eine alte Universität. Diese bestimmte jedoch weder das soziale noch das kulturelle Leben der Stadt und konnte auch den Studenten nicht das Bewusstsein vermitteln, eine eigene Korporation zu bilden. In der Jahrhundertmitte wird das Lehrangebot der protestantischen Hochschule zwar nicht mehr ausschließlich von den als konservativ geltenden Theologen bestimmt und kontrolliert, doch der Einfluss der Orthodoxie ist noch deutlich spürbar. Neuerungen lassen sich zunächst außerhalb der Universität erkennen, etwa bei der seit 1740 in Leipzig ansässigen Societas Alethophilorum, einer der leibniz-wolffschen Philosophie verpflichteten Gesellschaft, zu deren Mitgliedern zahlreiche Adlige gehörten. Dieser Kreis richtete eine Eingabe an den Kurfürsten, um - gegen den Widerstand der Theologen - den aus Halle vertriebenen Philosophen Christian Wolff für die Universität zu gewinnen. Diese auch am Hof zu bemerkende Offenheit für die neue Philosophie hat mit der komplizierten politischen und konfessionellen Situation im Land zu tun. Nach der Konversion Augusts des Starken zum Katholizismus bestand bei der Regierung ein hohes Interesse an einer Verständigung mit den Funktionseliten über die Standes- und Konfessionsgrenzen hinweg. Zu den Mitgliedern der Alethophilen zählte auch Johann Christoph Gottsched, der seit 1734 eine Professur für Logik und Metaphysik an der Leipziger Universität bekleidete. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Gottsched bereits einen Namen als Poetiker und Dichter (Versuch einer Critischen Dichtkunst, 1730; Sterbender Cato, 1732), vor allem aber als Popularisator Wolffs gemacht (Erste Gründe der gesammten Weltweisheit, 1733/34). Zudem war er als Herausgeber von Moralischen Wochenschriften und wissenschaftlichen Journalen, aber auch als

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Gründer und Organisator gelehrter Gesellschaften und anderer Sozietäten erfolgreich. Es gehört zu den Merkwürdigkeiten in der Biographie Lessings, dass er keine Begegnung mit dem berühmten Universitätslehrer suchte. Stattdessen hörte er die Vorlesungen des Historikers, Philologen und Archäologen Johann Friedrich Christ (der ihm Anregungen zu den Rettungen gab) und besuchte die Veranstaltungen des Mathematikers, Philosophen und Epigrammatikers Abraham Gotthelf Kästner, in dessen Kolloquium «sich einige Studirende im Disputiren» übten; es handelte sich um das «einzige Collegium», das Lessing - wie sich Karl Gotthelf in seiner dem Bruder gewidmeten Biographie (1793) erinnert - längere Zeit besucht habe: «Die vom Disputiren nicht viel halten, werden vielleicht da den Grund zu Lessings gelehrter Streitsucht gelegt finden [...].» Zu seinen Lehrern gehörte auch der Professor der Eloquenz Johann August Ernesti, der später zu einem führenden Theologen der Aufklärung werden sollte (Neue theologische Bibliothek, Leipzig 1760-69). Nur an zwei Projekten Gottscheds hat Lessing intensiv Anteil genommen. Da sind zum einen die von dem Wissenschaftsorganisator initiierten Übersetzungen aus dem Französischen zu nennen, die einen Zugang zur westlichen Aufklärung eröffnen sollten. Von größter Bedeutung war hier das Dictionnaire historique et critique Pierre Bayles (1647-1706), mit dessen metho-

dischen Vorgaben sich Lessing auseinandergesetzt hat. Gottsched hat das Werk mit Erläuterungen versehen und eine deutsche Fassung 1741/44 in Leipzig veröffentlicht - kurz vor der Immatrikulation des Fürstenschülers an der Universität. Zum anderen zeigte sich Lessing vom Theaterleben der Stadt angezogen, das noch ganz im Zeichen der Reformbemühungen Gottscheds stand. Allerdings war es bereits zu einem Bruch mit Friederike Karoline Neuber gekommen, deren Schauspieltruppe bis dahin die programmatischen Ideen des Aufklärers auf dem Theater umgesetzt hatte. In dieser von Konkurrenz und gegenseitigen Schuldzuweisungen bestimmten Situation kommt es zur Aufführung des

Jungen Gelehrten durch die Neuberin. Da das Theater von vie-

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len Studenten besucht wurde - was zu wiederholten Protesten der Universitätsleitung führte -, hat Lessings Milieuschilderung ihr Publikum sofort gefunden. Aber auch die Leipziger Bürger dürften sich über die Karikatur eines überstudierten Gelehrten

amüsiert haben. Die Mischung des Publikums war jedoch nicht allzu bunt, da es zwischen den beruflichen Gruppen und Ständen Trennungen gab, die den sozialen Bewegungsraum und damit die Möglichkeiten des Gesprächs oder des Kulturkonsums beschränkten. Komödien

Der junge Gelehrte. - Einen in der Meifßener Schulzeit angefertigten Entwurf des Stücks hat Lessing nach einer eingehenden Beratung durch A.G. Kästner für die Leipziger Bühne ausgeführt und später noch einmal für den Druck überarbeitet. In der Vorrede zu dieser 1754 erfolgten Publikation verweist er auf die eigene Erfahrung, um den Realitätsbezug zu unterstreichen. Die drastische Wortwahl soll das aggressive Potential der Satire vorweg andeuten: «Ein junger Gelehrte, war die einzige Art Narren, die mir auch damals [nämlich in St. Afra] schon unmöglich unbekannt sein konnte. Unter diesem Ungeziefer aufgewachsen, war es ein Wunder, daß ich meine ersten satyrischen Waffen wider dasselbe wandte?» (BI 1054) Ob Lessing in der Titelfigur tatsächlich einen Fürstenschüler porträtieren wollte? Im Studium hat er weitere Spielarten weltfremder Gelehrsamkeit kennengelernt, so dass sich nach konkreten Vorbildern wohl kaum fragen lässt. Die Figur des Damis zeichnet sich durch Eigenschaften aus, die nicht auf den Typus des komischen Bücherwurms zu reduzieren sind. Er wird als eitel und egoistisch geschildert, ohne moralischen Anstand und Umgangsformen, mit einem gestörten Verhältnis zur Realität und überdies als gänzlich unbelehrbar. Am Ende fühlt er sich verkannt und verlässt aufgrund einer scheinbaren Enttäuschung das Land. In Wahrheit ist ihm nur eine öffentliche Demütigung erspart geblieben, da ein Freund die von Damis beantwortete wissenschaftliche Preisfrage zurückbehalten hat: Der junge Gelehrte

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hatte nicht, wie von der Akademie gefordert, einen Kommentar

zur Leibnizschen Philosophie verfasst, sondern nur den Begriff der Monade etymologisch untersucht und mit diesem antiquarisch-philologischen Verfahren die an eine rationalistisch begründete Wissenschaft gestellten Ansprüche verfehlt. In der Tat gab es 1747 eine solche Preisfrage, einige der Beiträger ließen sich ermitteln; die scherzhaften Anspielungen Lessings haben einen konkreten historischen Gehalt, da in den eingereichten Schriften tatsächlich Erklärungsmuster zu finden sind, wie sie in der Komödie verspottet werden. Es liegt nahe, im Angriff auf ein überlebtes Gelehrtenideal -

den Polyhistor - das Ziel der Satire zu erkennen. Doch diese Deutung befriedigt nur zum Teil, da Lessing keinen direkten Hinweis auf die Verfasser der verbreiteten Kompendienliteratur gibt und das historische Phänomen als solches nicht leicht zu erfassen ist. Zu bedenken ist auch, dass Lessing einzelne Elemente seiner Gelehrtensatire aus dem Motivreservoir des lateinischen Humanismus gewinnt — die Misogynie, das Ideal der Einsamkeit und der puer senex -, die im Polyhistorismus nur konserviert wurden. Und schließlich ist daran zu erinnern, dass Exponenten der Frühaufklärung wie Christian Thomasius den Polyhistor von Daniel Georg Morhof (erschienen 1688, zweite Auflage durch J. A. Fabricius 1732) als ein Werk betrachteten, das alte Autoritäten in Frage stellte und für ein modernes, eklektisches Wissenschaftskonzept eintrat. Die Norm der Satire wird erst erkennbar, wenn man die Ge-

genfigur zu Damis näher betrachtet. Auch Valer hat gelehrte Studien getrieben, doch aus diesen völlig andere Schlussfolgerungen gezogen, die ganz nebenbei, ohne pädagogische Anstrengung und dazu - um die Wirkung zu steigern — von Damis missgünstig beschrieben werden: Valer habe «seit einigen Jahren die Bücher bei Seite gelegt» und «sich das Vorurteil in den Kopf setzen lassen, daß man sich vollends durch den Umgang, und durch die Kenntnis der Welt geschickt machen müsse, dem Staate nützliche Dienste zu leisten». (BI 193) Nirgends wird die Differenz gegenüber der ebenso fruchtlosen wie nur auf Reputa-

tion bedachten Anstrengungen der Hauptfigur deutlicher als in

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diesem Plädoyer für eine Kenntnis der Welt. Die Wissenschaft soll ihren Zweck nicht in sich selbst, sondern im Bezug auf die Gesellschaft finden, betont wird die pragmatische Dimension des Studiums. Damit stellen sich zugleich Anforderungen an die Selbständigkeit im Denken und Urteilen sowie die Fähigkeit zur Selbstdarstellung im Umgang und der Konversation - eigene Defizite, wie sie Lessing in den Briefen an seine Eltern beklagt -, die weit über das hinausgehen, was im älteren Schul-

und Universitätswesen vermittelt wurde. Diese Praxisorientierung entspricht dem Erziehungs- und Bildungsideal, das Christian Thomasius am Beginn des 18. Jahrhunderts entworfen hat. Es bereitet einen neuen, mondänen Typus von Gelehrten auf seine Laufbahn vor, die von einer zunehmenden Differenzierung und Abgrenzung der Kompetenz- und Wissensbereiche gekennzeichnet ist; der Anspruch auf universales Wissen, den der junge Gelehrte erhebt, endet dagegen im Pedantismus. Als Lessing 1754 seine Jugendkomödie aus dem akademischen Milieu für den Druck überarbeitet, hat er selbst gerade sein Studium in Wittenberg abgeschlossen. Den Magister-Titel erwirbt er sich mit Forschungen zur Biographie des spanischen Arztes Juan Huarte (1529-1588), dessen Hauptwerk er übersetzt und 1752 publiziert: Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften. Das von ihm gewählte Thema scheint in jenen vormodernen

Wissenschaftsbetrieb

zurückzuführen,

von

dem

er

sich in seinem Lustspiel distanziert hat. Was zunächst als ein Widerspruch erscheint, erweist sich bei näherer Betrachtung als durchaus konsequent. Das kann anhand von Morhofs Polyhistor gezeigt werden, der in diesem Zusammenhang überraschend Erwähnung findet: In der Vorrede zur zweiten Auflage von Lessings Übersetzung verweist der Herausgeber, Johann Jakob Ebert, auf Morhof, der bereits am Ende des 17. Jahrhunderts die mit neueren Erkenntnissen über die humane Natur nicht mehr zu vereinbarenden «Vorschläge» des Spaniers spöttisch kritisiert habe. Diese Mischung aus Fortschrittsbewusstsein und Herablassung, die der Wolffianer Ebert mit dem - noch immer geschätzten - Polyhistor Morhof teilt, hat Lessing bei seiner Beschäftigung mit Huarte ausdrücklich zu vermeiden gesucht.

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Dessen «Art zu philosophiren» sei zwar «jetzo ziemlich aus der Mode gekommen», schreibt Lessing in seiner Vorrede, und fährt fort: «Man überlege das Jahrhundert des Verfassers, man überlege seine Religion, so wird man auch von seinen Irrthümern nicht anders als gut urtheilen können. [...] Ich vergleiche ihn übrigens einem muthigen Pferde, das niemals mehr Feuer aus den Steinen schlägt, als wenn es stolpert.» Lessing hat die Originalität des Werkes erkannt, das ein neues, auf Francis Bacon

vorausweisendes Bildungskonzept enthält, mit dem sich Huarte deutlich vom enzyklopädisch-polyhistorischen Wissensideal der Folgezeit abhebt - ein alternatives Modell zu dem weltfremden Traditionalismus seines jungen Gelehrten. Die Juden. - Im Jahr 1753 erscheint bei dem Berliner Buchhändler Christian Friedrich Voß, dem Freund und Verleger Lessings, das anonyme Schreiben eines Juden an einen Philosophen nebst der Antwort. Es handelt sich um eine bemerkenswerte Schrift, die Lessing sogleich zustimmend rezensiert, da diese «Blätter» sich für einen «unterdrückten Teil des menschlichen Geschlechts» einsetzen und «sowohl der scharfsinnigen Einsicht des Verfassers, als der guten Sache Ehre» machen. Lessing zitiert eine Passage aus dieser Abhandlung, in der an die aufgeklärten Regenten appelliert wird, zu ihrem eigenen Vorteil eine «Art von Sklaverei» aufzuheben und für die rechtliche Gleichstellung der «jüdischen Nation» zu sorgen (B II 523 f.). Dazu bestand Anlass, da Friedrich II. kurz zuvor aus der gegenteiligen Annahme und mit deutlicher Antipathie eine stärkere Integration der Juden abgelehnt hatte. Die Besprechung in der Berliner Privilegirten Zeitung erinnert den preußischen König an die eigenen staatlichen Prinzipien und wirtschaftspolitischen Ziele. Die Forschung hat inzwischen den Autor des genannten Schreibens identifiziert und die näheren Umstände der Publikation als «Lessing connection» (Gideon Freudenthal) beschrieben: Verfasst wurde der brisante Text von dem jüdischen Arzt Aaron Salomon Gumpertz (1723-1769, auch bekannt als Aaron Zalman Emmerich), für dessen Veröffentlichung dann

Lessing gesorgt hat. Über Gumpertz lernte er 1754 Moses Mendelssohn kennen, noch im selben Jahr erscheinen Die Juden im

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Druck. Diese Konstellation ist nicht nur für die öffentliche Diskussion über die Komödie von Bedeutung - an der Mendelssohn sich beteiligen sollte -, sondern auch für das Schauspiel selbst, das die Frage nach dem Rechtsstatus der Juden aufgreift und sich daher, wie zu erwarten, mit Argumenten aus der gleichzeitig publizierten Emanzipationsschrift von Gumpertz berührt. Entwickelt werden diese Argumente allerdings im Rahmen einer gänzlich anderen Gattung. Zu vermuten ist, dass Lessing das Lustspiel zunächst nach dem Muster einer Typenkomödie ausführen wollte, da es unter dem Titel Der [!] Jude erstmals 1749 von Christian Nicolaus Naumann erwähnt wird (BI ı152). Lässt sich hier noch an einen gesellschaftlichen Außenseiter denken, der dem Verlachen preisgegeben wird, bringt das 1754 publizierte Stück eine Haupt-

figur auf die Bühne, die im Gegenteil den Idealen der Comedie larmoyante, des bürgerlichen Rührstücks, entspricht. Das wird im Text selbst reflektiert, wenn der Diener seinen inkognito reisenden Herrn anhand der mitgeführten Bibliothek mit dem Satz charakterisiert: «Sie besteht aus Lustspielen die zum Weinen, und aus Trauerspielen die zum Lachen bewegen |...].» (BI 467) Dieser Reisende sorgt am Ende für eine überraschende Enthüllung, auf die das Stück angelegt ist; seine wirkungsästhetischen Intentionen beschreibt Lessing in der Vorrede zum Erstdruck als «den Einfall, [...] dem Volke die Tugend da [zu zeigen], wo es sie ganz und gar nicht vermutet». (BI ırırs2) Nämlich bei den Vertretern der jüdischen Minderheit, die in den Augen der Christen als skrupellose Wucherer und Gauner gelten. Dieses Vorurteil wird widerlegt, wenn sich der Reisende, der als ein Muster an Menschlichkeit, Toleranz und Bildung eingeführt wird, am Ende als Jude zu erkennen gibt. Er rettet einen christlichen Baron, der von Straßenräubern überfallen wird, die sich als Juden verkleidet haben. Die Verbrecher gehören zu den christlichen Bediensteten des Barons -— die Namen Krumm und Stich weisen sie den komisch-lasterhaften Typen der sächsischen Komödie zu -, die ihre Maskerade gezielt eingesetzt haben, um jenes Ressentiment zu wecken, dem sie selbst anhängen. Bereits im 2. Auftritt des Stücks wird das Vorurteil von

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dem Gutsvogt ins Spiel gebracht und mit aller Schärfe formuliert. Die Juden sind für ihn ohne Ausnahme Betrüger und Diebe: «Ich dürfte nicht König sein. Ich lief keinen, keinen einzigen am Leben.» Ob dieser Satz bei den Zuschauern auf Zustimmung stieß, wissen wir nicht, deutlich ist dagegen das Bemühen Lessings, es bei der Reproduktion solcher Meinungen nicht zu belassen. Der reisende Philantrop relativiert das menschenverachtende Urteil und ermöglicht es dem Leser, Distanz zu dem christlichen Pöbel und damit zu den eigenen Klischees zu gewinnen. Auch bei dem Baron, der das jüdische Wesen schon an der Physiognomie zu erkennen glaubt — Antisemitismus ist keine Frage der Standeszugehörigkeit -, sorgt der edle Reisende für ein Umdenken,

zumindest was seine Person be-

trifft. Die wenigen Hinweise zur Handlung zeigen, dass Lessing Wert auf den Bezug zu den Lebensverhältnissen und Alltagsnormen der Leser und Zuschauer legt, sieht man von den für eine Komödie typischen, auch burlesken Elementen einmal ab. Die realistischen Züge sind vielfältig, sie reichen von den angesprochenen Vorurteilen über die Juden, die sich punktuell - und wenig überraschend - auch im Werk Lessings selbst finden, über die Erwähnung der auf die Messe fahrenden (Öst-)Juden bis zu

den jüdischen Räuberbanden, die es Mitte des 18. Jahrhunderts tatsächlich gab. Zu diesen nichtfiktionalen Faktoren gehört auch die von Gumpertz und Lessing kritisierte Gesetzgebung. Die Juden leiden unter Einschränkungen, die der Humanität widersprechen und den vom Publikum erwarteten Komödienschluss, die Heirat zwischen der Tochter des Barons und dem

unbekannten Reisenden, verhindern. Die rechtlichen Regeln der Eheschließung bilden einen Hinderungsgrund, der unversehens auftaucht, in die Handlung eingreift und das gängige Muster der satirischen Komödie

in einer Weise verändert, die in den

Schauspielen des 18. Jahrhunderts keinen Vergleich kennt. Am Ende sitzt das Publikum unerlöst auf der Zeugenbank, ohne den Antisemitismus wie einen harmlosen Verhaltensdefekt durch Lachen beseitigen zu können. Der Göttinger Theologe Johann David Michaelis hat das

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Stück noch im Erscheinungsjahr zustimmend rezensiert, allerdings mit dem Vorbehalt, dass die Hauptfigur nicht glaubwürdig sei, da unter der vom Handel lebenden jüdischen Minorität «allgemeine Redlichkeit kaum möglich» sei (B I 490). Lessing entgegnet, dass dies sehr wohl denkbar ist, und druckt als Beleg den Brief eines «eben so witzigen, als gelehrten und rechtschaffnen» Juden ab - der Verfasser ist Moses Mendelssohn -, für dessen «Authenticität» er sich verbürgt. Doch das entscheidende Argument lautet, dass die von Michaelis kritisierte «Unwahrscheinlichkeit wegfalle», wenn die sie verursachenden Umstände

aufhörten, das heißt die diskriminierenden Gesetze

abgeschafft würden (B I 491 f.). Lessing plädiert für die Gleichstellung des ganzen Volkes, nicht einzelner Juden, also nicht für eine Individualemanzipation auf der Grundlage von Besitz und Bildung, die zu einer Preisgabe der eigenen Identität und einer nur im Einzelfall gelingenden Assimilation führen könnte. Eben diese Intention ist Lessing jedoch zugeschrieben (und vorgeworfen) worden, wodurch sich das bewunderte Toleranzgebot auch bei ihm - ähnlich wie bei Christian Wilhelm Dohm, der 1783 eine Schrift Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden veröffentlichte - als ein zweideutiges Erbe erweisen sollte. Die Klage über das Misslingen der jüdischen Akkulturation, die fatale Wirkung der Emanzipationsforderung und das Scheitern der Aufklärung lässt sich bei keinem Autor eindrucksvoller an-

stimmen als bei Lessing. Da erscheint es nebensächlich, ob sich die vorausgesetzten Annahmen Projektionen verdanken, die aus Erfahrungen der jüngeren Geschichte gewonnen wurden. Im Falle der frühen Komödie Die Juden sind diese Fehldeutungen inzwischen korrigiert worden. Journalismus

Zu den folgenreichsten Begegnungen der Leipziger Zeit gehörte für Lessing diejenige mit Christlob Mylius (1722-1754), einem entfernten Verwandten, der ebenfalls die Kamenzer Stadtschule

besucht hatte und seit 1742 naturkundliche Fächer in Leipzig studierte. Um sein Studium zu finanzieren, schrieb Mylius - von

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II. Herkunft, Studium, literarische Anfänge (1729-1755)

Gottsched protegiert - für verschiedene Journale und gründete eigene Periodika. Bedeutsam sind die gemeinsam mit Lessing herausgegebenen Beyträge zur Historie und Aufnahme [d.h. Verbesserung] des Theaters, die in einem Band 1750 im Verlag von Johann Benedict Metzler erschienen. Lessing veröffentlichte hier Abhandlungen zu Leben und Werk des römischen Komödiendichters Titus Maccius Plautus und übersetzte dessen Lustspiel Die Gefangenen. Das für Deutschland neuartige Kulturjournal brachte vielseitige Beiträge, darunter auch Korrespondentenberichte zum Theaterleben aus den europäischen Großstädten. Über die programmatische Ausrichtung kam es jedoch zu Unstimmigkeiten zwischen den Herausgebern, was zur baldigen Einstellung des Unternehmens führte. Mit der im Verlag von Christian Friedrich Voß publizierten Theatralischen Bibliothek hat Lessing wenige Jahre später an das Projekt anzuknüpfen versucht, doch auch diese Zeitschrift wurde nach zwei Jahrgängen (1754/55) eingestellt; seine Beiträge zu dem Kompendium -— darunter die wichtige Abhandlung zu den Trauerspielen Senecas - zeigen jedoch, wie er sich in diesen Jahren nicht nur als Autor von Bühnentexten,

sondern auch in der

Theorie des Tragischen zu profilieren versuchte. Unter den zahlreichen journalistischen Tätigkeiten und Projekten von Mylius sind vor allem die Physikalischen Belustigungen (1751-1753) zu erwähnen. Diese entsprachen am ehesten den Neigungen und der Begabung des Autors, der sich mit der Popularisierung neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse einen Namen machte. Zu seinen Förderern gehörten neben Kästner auch Leonhard Euler und Albrecht von Haller, auf dessen Empfehlung hin Mylius zum Korrespondenten der Göttinger Societät der Wissenschaften ernannt wurde. Das sind die äußeren Daten einer beachtlichen Karriere, die zeigt, wie ein junger

Student in der Mitte des 18. Jahrhunderts den expandierenden Zeitschriftenmarkt zur Existenzgründung nutzen konnte. Doch Mylius ging es nicht nur um den Lebensunterhalt, sondern auch um einen eigenen Beitrag zu den intellektuellen Debatten der Zeit. Wer Aufmerksamkeit und Anerkennung in der Öffentlichkeit sucht, muss sich entsprechender Mittel bedienen - auch der

II. Herkunft, Studium, literarische Anfänge (1729-1755)

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Polemik -, Freundschaften pflegen und Konflikte austragen. Das ist der Grund, weshalb sich der lange Zeit nur in LessingBiographien genannte Name Mylius vornehmlich mit Skandalen verbindet, weniger mit den hinterlassenen Schriften, die Lessing nach dem Tod seines Verwandten in einer Auswahl veröffentlicht und mit einem merkwürdigen, auf Distanzierung bedachten Nachruf eingeleitet hat. Die Reihe dieser Skandale wird eröffnet durch ein Spottgedicht auf die Kamenzer Honoratioren - eine Anspielung trifft den Kanzelprediger der Stadt, Lessings Vater -, wofür Mylius 1743 verhaftet und zu einer Geldstrafe verurteilt wird. Von weitaus größerer Bedeutung sind jedoch die Auseinandersetzungen im Umkreis der Berliner Akademie, in die Mylius aus nicht ganz klaren Motiven mit einer satirischen Schrift (Diatribe du Docteur Akakia, 1752) eingegriffen hat, was zu einem ernsten Konflikt mit Friedrich II. führte. Mylius musste die preußische Hauptstadt verlassen. Er begibt sich auf eine naturkundliche Expedition nach Amerika, die von verschiedenen Gelehrten gewünscht und finanziert wurde. Die Reise endete mit der Erkrankung und dem frühen Tod von Mylius in London; dieses Schicksal hat ihm die Auseinandersetzung mit Betrugsvorwürfen erspart, die - das ergibt die Prüfung seines sorglosen Umgangs mit den ihm anvertrauten Geldmitteln — nicht unberechtigt waren. Während die ältere Forschung den vielseitigen Journalisten aufgrund seines bohemehaften Lebenswandels verurteilte, hat die neuere Forschung seine Person von der Biographie Lessings zu lösen und damit zu rehabilitieren versucht. Im Bemühen, seine Schriften historisch angemessener zu verstehen, ist Mylius nun als nonkonformer Denker mit Tendenzen zur radikalen Aufklärung, als Verteidiger der freien Meinungsäußerung in der Öffentlichkeit oder als ein früher, durchaus erfolgreicher Wissenschaftsjournalist und Popularisator Newtons beschrieben worden. Im Jahr 1748 übernimmt Mylius die Redaktion der Berlinischen Privilegirten Zeitung (BPZ), bei der Lessing seine Laufbahn als selbständiger Rezensent im November desselben Jahres in Berlin beginnt. Die BPZ erscheint wöchentlich in drei

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Lieferungen, für die Lessing kurze Buchanzeigen beisteuert. Drei Jahre später übernimmt Christian Friedrich Voß die 1721 gegründete Zeitschrift, die er vier Jahrzehnte leiten wird. Für diese Zeitung arbeitete Lessing bis zu seiner Rückkehr nach Leipzig im Oktober 1755 als Leiter des literarisch-kritischen Teils sowie als Redakteur der Abteilung Von gelehrten Sachen. Außerdem gründete er eine Monatsbeilage Das Neueste aus dem Reich des Witzes, die ein aktuelles Feuilleton darstellte und als Konkur-

renz zu Gottscheds Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit zu betrachten ist. Daneben schrieb er auch im Rezensionsteil der Königlich privilegirten Berliner Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, die im Verlagshaus von Philipp Jacob Spener gedruckt wurden. Lessings Sparte Von Gelehrten Sachen war bei den Lesern beliebt, weshalb es auch im Spenerschen Verlag zur Veröffentlichung der ursprünglich von Sulzer herausgegebenen (man beachte den Titel) Critischen Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit kam. Lessing scheint diese vielfältigen Engagements und die Rivalität unter den Verlagen offenbar mit Vergnügen und zum eigenen Vorteil gepflegt zu haben. Jedenfalls schrieb er Artikel für fast alle genannten Blätter - und das in großer Zahl. Doch ist die Zuschreibung der einzelnen, oft in großer Eile verfassten und bisweilen nur die Vorworte paraphrasierenden Buchbesprechungen unsicher. Forscht man nach dem authentischen jungen Kritiker, wird der Gang in die von den Berliner Verlagshäusern eingerichteten Rezensionsfabriken leicht zum «Besuch in einem Kartenhaus», wie Karl Guthke dies treffend beschrieben hat. Anakreontik und Lehrdichtung, Pope ein Metaphysiker! (1755)

In den von Mylius in den Jahren 1747/48 herausgegebenen Zeitschriften Ermunterungen zum Vergnügen des Gemüts und Der Naturforscher, eine physikalische Wochenschrift debütiert Lessing als Autor anakreontischer Gedichte. Diese entsprechen zwar dem Zeitgeschmack, erfüllen aber nur zum Teil die mit der Gattungstradition und den Motiven von Wein und Liebe ver-

II. Herkunft, Studium, literarische Anfänge (1729-1755)

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bundenen Erwartungen. An drei charakteristischen Merkmalen lässt sich zeigen, wodurch sich seine Gedichte von der herrschenden Mode unterscheiden. Da ist zunächst der Ort der Veröffentlichung: Durch die populärwissenschaftliche Wochenschrift fühlt sich Lessing angeregt, spielerisch oder parodistisch auf die von Mylius behandelten Themen zu reagieren. In einem fingierten Leserbrief wird dieser Kontextbezug - die Verbindung von Gelehrsamkeit und anakreontischer Dichtung - von Lessing eigens hervorgehoben, die «Trockenheit» der im Naturforscher behandelten «Materie» soll ihm Gelegenheit für «die feinsten Scherze von Liebe und Wein» geben (Stück 8). Mit diesen poetischen Übungen knüpft er zudem an die Tradition des Studentenliedes an; und schließlich hat Lessing viele der kurzen Gedichte aus der Sammlung seiner Kleinigkeiten (gedruckt 1751) herausgenommen und in späteren Ausgaben nicht mehr den Liedern, sondern den Sinngedichten zugeordnet, was die Nähe andeutet, in welcher der sentenzartige Stil seiner Anakreontik zu dem Konversationsideal des Witzes und der Epigrammatik steht. Unübertroffen zeigt sich dies an seinem Lied aus dem Spanischen - eine Vorlage ließ sich nicht ausfindig machen -, das 1780 im Voßschen Musen-Almanach veröffentlicht und später von Seren Kierkegaard als Motto zu einer philosophischen Abhandlung verwendet wurde (BI 834): Gestern liebt’ ich, Heute leid’ ich, Morgen sterb’ ich: Dennoch denk’ ich Heut’ und morgen Gern an gestern.

Die eben genannten Merkmale der frühen Lyrik Lessings (Kontextbezug, strophisch-liedhafte Form, Sprachwitz) seien hier an einem Beispiel etwas genauer erläutert (roof.):

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II. Herkunft, Studium, literarische Anfänge (1729-1755) DIE DREI REICHE DER NATUR.

Drei Reiche sinds, die in der Welt

Uns die Natur vor Augen stellt. Die Anzahl bleibt in allen Zeiten Bei den Gelehrten ohne Streiten. Doch wie man sie beschreiben muß,

Da irrt fast jeder Physikus. Hört, ihr Gelehrten, hört Mich an, Ob Ich sie recht beschreiben kann?

Die Tiere sind den Menschen gleich, Und beide sind das erste Reich. Die Tiere leben, trinken, lieben; Ein jegliches nach seinen Trieben. Der Fürst, Stier, Adler, Floh und Hund Empfindt die Lieb und netzt den Mund. Was also trinkt und lieben kann, Wird in das erste Reich getan.

Die Pflanze macht das andre Reich Dem ersten nicht an Güte gleich. Sie liebet nicht, doch kann sie trinken, Wenn Wolken träufelnd niedersinken. So trinkt die Ceder und der Klee, Der Weinstock und die Aloe. Drum was nicht liebt, doch trinken kann, Wird in das andre Reich getan. Das Steinreich ist das dritte Reich, Und dies macht Sand und Demant gleich. Kein Stein fühlt Durst und zarte Triebe; Er wächset ohne Trunk und Liebe. Drum was nicht liebt, noch trinken kann,

Wird in das letzte Reich getan. Denn ohne Lieb und ohne Wein, Sprich, Mensch, was bleibst du noch? Ein Stein.

Das 1747 im Naturforscher gedruckte Gedicht steht in deutlichem Bezug zu einer in derselben Zeitschrift publizierten Ab-

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handlung von Mylius, in der die Unterscheidung zwischen dem Tier- und Pflanzenreich sowie der leblosen Natur populärwissenschaftlich erläutert wird. Die Einteilung fand sich in dem Systema naturae (1735) des Botanikers Carl von Linne, der Gefühl (Liebe), Leben (Trinken) und Wachstum als klassifikatorische Elemente verwendete. Lessing folgt zunächst diesem hier-

archischen Modell, die biologische Theoriebildung wird in eine poetische Form gebracht; erst in der letzten Strophe treten Poesie und Gelehrsamkeit auseinander. Die Pointe gibt das parodistische Moment dadurch zu erkennen, dass sie die wissenschaftliche Argumentation zu einem Widerspruch führt, den der Anakreontiker mühelos durch einen Scherz auflöst. Der komische Effekt resultiert aus einem Kipp-Phänomen, dem Übergang zwischen zwei Sphären, wobei ein Zusammenhang auf überraschende Weise aufgelöst oder in Frage gestellt wird. Dabei geht es Lessing nicht um Wissenschaftskritik, sondern um die Erweiterung und Variation der von den Zeitgenossen (Hagedorn, Gleim, Uz oder Götz) verwendeten anakreontischen Motive und Themen. Parodistisch ist das Gedicht noch in einer weiteren Hinsicht, da Lessing zugleich auf ein antikes Vorbild anspielt. Seitdem Henricus Stephanus, d.i. Henri Estienne (1531-1598) eine Sammlung und Übersetzung von Texten vorgelegt hatte, die man dem griechischen Dichter Anakreon (6.]h.v. Chr.) zuschrieb, verfügten die europäischen Autoren über ein neues Genre Iyrischer Dichtung und eine artifizielle Schreibart, die bereits im 16. Jahrhundert große Beliebtheit gewann. Lessing entnimmt der 19.Ode dieser Anthologie einige Motive und ver-

bindet sie mit der von Mylius besprochenen Lehre von den drei Reichen der Natur. Wie genau er die Überlieferung der Anakreonteen kannte, zeigt seine Bearbeitung der 15.Ode - veröffentlicht in den Ermunterungen zum Vergnügen des Gemüts (BI s8f.) -, für die er nicht nur die 1746 erschienene deutsche Übersetzung von Götz und Uz verwendete, sondern auch das griechische Original, die lateinische Version Estiennes und die französische Nachdichtung von Pierre Ronsard aus dem Jahr 1560. Aus den Vorlagen entsteht bei Lessing jedoch keine nur

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der rhetorischen Technik und philologischen Kombination verpflichtete Kunstübung — wie die ältere Forschung meinte -, sondern ein eigenständiger lyrischer Text (B I roof.) mit einem lakonischen Witz, der auch bei den Lesern ankommt, die das

intertextuelle Spiel nicht erkennen. In stilistischer Hinsicht zeigt sich Lessing ähnlich unabhängig, da er bei seiner Übertragung als einer der wenigen Autoren der Zeit auf das griechische Original zurückgreift. Bemerkenswert ist, dass die anakreontische Mode, vermittelt durch die französische Renaissancelyrik, auch die galante Poesie und Lieddichtung beeinflusst hat, besonders im Kreis um Johann Christian Günther (1695-1723) in Leipzig. Lessing schließt mit seinen Gedichten an die in seiner Universitätsstadt gepflegte Tradition an; die zahlreichen Kompositionen belegen die gesellschaftliche Funktion seiner musa iocosa, die der Geselligkeit dient. Mit ihren Bildern von paradiesischer Natur und Harmonie, fröhlichem Weingenuss und erotischer Glückserfüllung schafft sie zugleich eine fiktionale Gegenwelt zur bürgerlichen Lebenswirklichkeit. Das imaginierte Handeln ohne Sündenangst ließ die heilsgeschichtliche Perspektive vermissen und enthüllte so den religionskritischen Gehalt der scheinbar harmlosen Lieder. Gleichwohl wird in den Gedichten ein der Weisheit und Tugend verpflichtetes Leben beschworen und überraschend oft auch dessen Ende vor Augen geführt, da zu einem gelingenden Leben auch das Sterben gehört - oder doch nicht? Eines der populärsten Gedichte Lessings ist ein solches auf den Tod. Erstmals 1747 in den Ermunterungen erschienen, ist es in die Kleinigkeiten aufgenommen und später erfolgreich vertont worden. Der Ernst des Themas wird in diesem Trinklied ganz ins Scherzhafte aufgelöst. Geschildert wird die Begegnung eines zechenden Medizinstudenten mit dem Sensenmann («Gestern, Brüder, könnt ihrs glauben? / Gestern, bei dem Saft der Trauben, / (Stellt euch mein Erschrecken für!) / Gestern kam der Tod zu mir»), den er zum Wein einlädt, um, was auch ge-

lingt, verschont zu werden (B I 59f.). Der Witz erschöpft sich bei Lessing jedoch nicht in solchen auf gesellige Konversation

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und komischen Effekt berechneten Liedern. Er verdichtet, ja übersteigert die Mittel des witzigen Sprechens und reflektiert so das poetische Verfahren und dessen Grenzen. Doch diese Kleinigkeiten befriedigten nicht die Ansprüche des gelehrten Autors, der in einer Besprechung für die BPZ im Jahr 1751 notierte: «Unsers Wissens hat sich die Epoche des gereinigten Geschmacks unter den Deutschen mit vortrefflichen Lehrgedichten angefangen.» (B II 2or) In dieser Gattung hat sich Lessing daher mehrfach versucht, besonders hervorzuheben ist der Erste Gesang eines Fragment gebliebenen Gedichts über Die Religion, das ebenfalls 1751 in der Monatsbeilage der Berliner Zeitung veröffentlicht wurde. Zwischen 1730 und 1760 genoss die didaktische Poesie höchstes Ansehen, trotz der Vorbehalte, mit denen schon die antike Dichtungstheorie dem Lehrgedicht die Legitimität bestritten hat. Vorbereitet wurde diese spezifisch neuzeitliche Wertschätzung durch die Poetiken des Humanismus, die dem Dichter eine besondere Erkenntnisfähigkeit zusprachen und seine Schöpfungen von dem Nachahmungspostulat befreiten. Im 18. Jahrhundert entwickelte sich die lehrhafte Dichtung vom ästhetischen Grenzphänomen zu einer Gattung hohen Ranges, die wichtige Funktionen des Epos übernahm. Die Popularität der Gattungsform bedingte eine entsprechend große Konkurrenz, erwähnt sei nur Albrecht von Hallers Über den Ursprung des Übels (1734) und Louis Racines Gedicht La Religion, das 1744 ins Deutsche übersetzt wurde. Mit diesen Vorbildern teilt Lessing die Form der Alexandrinerdichtung und das Thema: Der anthropologisch-religiöse Lehrgehalt richtet sich auf Fragen der Theodizee, die aus den «Labyrinten der Selbsterkenntnis» (B II 264f.) beantwortet werden sollen, doch kommt der erste Gesang nicht über eine selbstquälerische, Glaubenszweifel stimulierende Schilderung der menschlichen Sündhaftigkeit und der Herrschaft des Bösen hinaus. Ob das

«geschilderte Elend» tatsächlich, wie es in der Vorerinnerung heißt, einen «Wegweiser zur Religion» bilden kann, bleibt offen. Auffallend ist, dass das Lehrgedicht an derselben Stelle abbricht

wie die etwa gleichzeitig entstandene Abhandlung über Das

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Christentum der Vernunft (vgl. BII 1004), in der Lessing den Versuch einer Verteidigung wesentlicher Elemente der Offenbarung unternimmt, unter Einschluss der Trinitätslehre. Die in einer strengen Paragraphenfolge und in spekulativer Form vorgetragene Argumentation endet bei Problemen der Moralität und einem eingeschränkten Optimismus, was das menschliche Handeln betrifft. Lessing hat diese in der Tradition der Leibnizschen Metaphysik gestellten Fragen später immer wieder aufgenommen und weitergedacht, gerade auch in seinem dramatischen Werk. Zur Lehrdichtung ist er dann noch einmal in der gemeinsam mit Moses Mendelssohn verfassten Schrift Pope ein Metaphysiker! (1755) zurückgekehrt. Lessing stellt hier eine ästhetische Reflexion voran, in der - vielleicht auch in Erinnerung an seine eigenen Versuche in der Gattung - gefragt wird, ob «ein Dichter, als ein Dichter, ein System haben könne?» (B III 617) Die Antwort fällt negativ aus: «Ich leugne nicht, daf$ man ein System in ein Sylbenmaß, oder auch in Reime bringen könne; sondern ich leugne, daß dieses in ein Sylbenmaß oder in Reime gebrachte System ein Gedicht sein werde.» (618) Das dezidierte Urteil steht freilich in einem komplizierten Kontext, der zu berücksichtigen ist, da sich unter dem genannten Begriff offenbar ganz verschiedene Dinge verstehen lassen; darauf wollen Lessing und Mendelssohn mit ihrer Pope-Schrift hinaus. Den Anlass zu dem Pamphlet gab die von der Preußischen Akademie der Wissenschaften im Jahr 1753 gestellte Preisaufgabe, in der nach dem von Alexander Pope in seinem berühmten Essay on Man vertretenen «systeme de l’optimisme» gefragt wurde, woraus die Zeitgenossen auf das bekannte Ressentiment der Akademie gegenüber der Leibnizschen Theodizee schlossen. Lessing und Mendelssohn geben das Thema am Beginn ihrer aufßser Konkurrenz veröffentlichten Streitschrift daher mit einer kleinen, aber bedeutenden Nuance wieder: «Die Akademie verlangt eine Untersuchung des Popischen Systems, welches in dem Satze alles ist gut enthalten ist. Und zwar so, daß man Erstlich den wahren Sinn dieses Satzes, der Hypothes seines Urhebers gemäß, bestimme. Zweitens ihn mit dem System des Optimis-

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mus, oder der Wahl des Besten, genau vergleiche, und Drittens die Gründe anführe, warum dieses Popische System entweder zu behaupten oder zu verwerfen sei.» (614 f.)

Unter dem verwunderten Ausruf Pope ein Metaphysiker! wird mit einer subtilen und zugleich ironischen Beweisführung gezeigt, dass die Frage selbst falsch gestellt ist, was jeden Versuch einer Beantwortung von vornherein zum Scheitern ver-

urteilt. Während im Original bei der dritten Teilfrage nur von «ce systeme» die Rede war, was zwei Deutungen zulässt, entscheiden sich die beiden Autoren für den Namen Popes, womit der Preisfrage die auf Leibniz und Wolff gerichtete Spitze genommen wird. Zudem muss aus den bereits angedeuteten poetologischen Erwägungen die Frage nach einem System des Lehrdichters für unsinnig erklärt werden. Ein Gedicht, auch ein Lehrgedicht, ist schließlich nichts anderes als «eine vollkommene

sinnliche Rede»

(617), wie Lessing in Übereinstim-

mung mit der wolffianischen Ästhetik definiert. Damit wird nicht gesagt, dass ein Gedicht keine Lehre enthalten könne. Das moralische Anliegen der didaktischen Poesie wird von dem ästhetischen Vorbehalt ausgenommen. «In den besondern moralischen Sätzen», heißt es an einer späteren Stelle in Anspielung auf Leibniz und Pope, «kommen alle Weltweisen überein, so verschieden auch ihre Grundsätze sind.» (636) Ein Lehrgedicht, das stets in der einen oder anderen Weise mit der Orientierung menschlichen Verhaltens zu tun hat, überzeugt nicht durch die abstrakte Demonstration eines Gegenstandes, sondern durch die Lehre, die es selbst zu vermitteln weiß. Dass Pope diese schwierige Aufgabe vorbildlich zu lösen wusste, haben die beiden Kritiker mehrfach betont. Neben den philoso-

phischen Gedichten Hallers gehörte der Essay on Man in Deutschland zu den vieldiskutierten Mustern der Gattung; in keinem Land Europas ist das Gedicht so häufig übersetzt worden. An diesem prominenten Beispiel zeigen die beiden jungen Kritiker, wie an die Stelle des fixierten Lehrgegenstandes und seiner rhetorischen Vermittlung die Vorstellung von der Erzeugung der Wahrheit durch die poetische Ausführung tritt. Die Dichtung beansprucht einen eigenen Raum der Reflexion, in

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dem an die Stelle der nur sinnlichen treten kann.

eine höhere Erkenntnis

Rettungen

Im Juni 1752 erinnert Lessing, der sich zu diesem Zeitpunkt bereits ein halbes Jahr in Wittenberg aufhält, in einem Epigramm an einen noch nicht lange zurückliegenden Provinzskandal. Georg Matthias Bose, Professor der Physik an der lutherischen Universität, hatte einige seiner Arbeiten an den Papst gesandt, den er als einen Beschützer der Wissenschaften - auch der Naturforschung - mit einer Widmung ehren wollte. Benedikt XIV. galt als liberaler Intellektueller, von dem man wusste, dass er mit Voltaire korrespondierte, was sein öffentliches Ansehen in bestimmten Kreisen erhöhte, in anderen schädigte. Ein solches Pro und Contra gab es in Wittenberg nicht, die lutherische Orthodoxie reagierte in der Angelegenheit erwartungsgemäß eindeutig, nämlich mit Ermahnungen und Angriffen. Die Affäre hat Lessing in seinen Versen Auf den Streit des Herrn Bosens mit den Wittenbergischen Theologen festgehalten (B II 398): Er hat den Papst gelobt, und wir, zu Luthers Ehre, Wir sollten ihn nicht schelten? Den Papst, den Papst gelobt? Wenn’s noch der Teufel wäre, So liefen wir es gelten.

Das inquisitorische Vorgehen der Orthodoxie musste Lessing an einen ganz parallel gelagerten Fall aus der Reformationsgeschichte erinnern. Der Schweizer Simon Lemnius, seit 1534 Student in Wittenberg, veröffentlichte 1538 einen Band mit Epigrammen, in dem der Erzbischof von Mainz, Luthers Gegner Albrecht von Brandenburg, als Mäzen und Friedensfürst gelobt wurde. Der Reformator geriet außer sich und wollte den Autor unter Arrest stellen lassen. Diesem gelang die Flucht, woraufhin Luther die Ergreifung und die Todesstrafe für den, so wörtlich, «Scheifßpoeten» forderte. Bereits die Sprache deutet an, mit welch drastischen Mitteln der Kampf geführt wurde und fortge-

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setzt werden sollte, auch durch die satirischen Schriften von Lemnius. Lessing konnte den über zweihundert Jahre zurückliegenden Streitfall vor Ort recherchieren und eine Verteidigung des von Luther verfolgten Humanisten entwerfen. In einer Folge von Briefen, konzentriert auf den Dialog mit dem zeitgenössischen Leser, entwirft Lessing sein ausführliches Protokoll der Vorgänge, die er exemplarisch verstanden wissen will. Bei den ersten Reformatoren und vor allem bei Luther entdeckt er, was diese so entschieden negieren: den Geist des Papsttums und folglich jene «Gesinnungen, welche man noch bis auf den heutigen Tag auf dieser hohen Schule beizubehalten scheinet». (B II 659) Mit dieser Hochschule ist selbstverständlich die Universität Wittenberg gemeint und damit die Analogie zum Fall Bose als Grund genannt, aus dem heraus das Gespräch mit den Toten gesucht wird. Die Aneignung der Tradition dient der Forderung nach Toleranz, insbesondere im Streit der Konfessionen. Die Lemnius-Briefe tragen zwar keinen eigenen Titel, doch wählt Lessing auch hier die literarische Form der vindicatio, also der Schutzschrift, eine von ihm in diesen Jahren bevorzugte Schreibweise. Korrigiert werden sollte das Urteil über historische Personen, die zu Unrecht verleumdet und verfolgt worden sind. Nichts anderes meint der Titel Rettungen, den Lessing für eine Gruppe von Texten verwendet, die in Wittenberg entstehen. Es handelt sich um drei Prüfungen der historischen Urteilsbildung, genauer: Vorurteilsbildung, die alle in die Zeit des Humanismus und der Reformation führen. Im Zentrum dieser Rettungen stehen Hieronymus Cardanus und der Luther-Gegner Cochläus sowie das Werk des Inepti Religiosi, eine anonyme religionskritische Schrift aus der Mitte des 17. Jahrhunderts. Den unmittelbaren Gegenwartsbezug der Lemnius-Briefe lassen diese Texte allerdings vermissen. Von welchen Motiven sich der Anwalt Lessing bei der Wahl seiner Klienten leiten ließ, ist umstritten. Gerade seine heftigsten Konfrontationen zeigen oft wenig Engagement für die Sache, vielmehr — das wird in der Forschung immer wieder betont - für den Disput als solchen: Was Lessing eigentlich interessiere, sei die den Gegner treffende

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II. Herkunft, Studium, literarische Anfänge (1729-1755)

Polemik, verbunden mit der Reflexion über die Argumentationsweise, kurz die Methode. Dieses Bild des unprogrammatischen, den Inhalten gegenüber distanzierten, nur am Verfah-

ren orientierten Intellektuellen ist so alt wie die ersten Nachrufe auf den Schriftsteller. Die Berechtigung dieses Urteils ist an jedem einzelnen Streitfall zu prüfen. Den zweiten Teil seiner Schrifften aus dem Jahr 1753 - eine frühe Gesamtausgabe seiner Werke, die sein Freund Voß verlegte - beschließt Lessing mit einem Brief, in dem er seine Kritik an dem zwei Jahre zuvor gedruckten Compendieusen Gelehrten Lexicon von Christian Gottlieb Jöcher veröffentlicht. Seine Korrekturen hatte Lessing gleich nach dem Erscheinen des Handbuchs zusammengestellt und auf eigene Kosten drucken lassen. Das Original dieser erst Anfang des 20. Jahrhunderts wiederentdeckten Druckbogen ist aufschlussreich: Lessing hat diese exakt nach dem Vorbild von Pierre Bayles Dictionnaire eingerichtet. Das Vorwort macht zudem deutlich, dass der Kritiker auch im Stil und in der Intention an das Baylesche Projekt anschliefst: «Es ist wahr, daß ich eine allgemeine Critik des Jöcherschen Gelehrten Lexicons unter Händen habe; es ist wahr, daf schon wirklich einige Bogen davon gedruckt sind. [...| Wann ich nun hinzufügte daß ich nichts weniger als jenes große Werk zu vermehren suche, sondern bloß nach meinen Kräften die unzähligen Fehler darinne vermindern wolle?» (BI 709) Damit ist ziemlich genau das Programm Bayles charakterisiert, für den allein historische Fakten eine sichere Erkenntnis bieten, anders als nur abstrakte Vernunfteinsichten. Dazu bedarf es allerdings verlässlicher Quellen und der genauen histo-

risch-kritischen Prüfung des in den vorhandenen Enzyklopädien gesammelten Wissens. Lessing übernimmt diese methodischen Vorgaben und schult sich an dem pathosfreien, mit Ironie spielenden Stil Bayles, der — das ist für Lessing von besonderer Bedeutung — genügend Raum für gelehrte Digressionen bot, ganz zu schweigen von dem beeindruckenden Kommentarwerk der Fußnoten. Wie Lessing die genannten Formvorgaben umgesetzt hat, lässt sich gut an der Abhandlung über Girolamo Cardano zei-

II. Herkunft, Studium, literarische Anfänge (1729-1755)

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gen, dessen Autobiographie - De propria vita, entstanden kurz vor seinem Tod 1575/76 - Lessing sehr geschätzt hat. Im Jahr 1732 hat der protestantische Geistliche Johann Vogt einen Catalogus historico-criticus librorum rariorum vorgelegt, in dem er den geläufigen Vorwurf wiederholt, Cardano sei Atheist gewesen. Um dieses Urteil zu korrigieren, interpretiert Lessing eingehend ein Kapitel aus der Schrift De subtilitate und übersetzt das hier von Cardano inszenierte Gespräch zwischen einem Juden, einem Christen, einem Muslim und einem Heiden über die Wahrheit der Religion, dessen Ausgang der italienische Humanist angeblich offen gelassen habe. Die eigentliche Untersuchung des Streitfalls leitet er mit der Feststellung ein, dass solche fiktiven Religionsgespräche in jeder Hinsicht von Nutzen seien, da «der Christ, bei der Vergleichung der Religionen, nichts verlieren, der Heide, Jude und Türke aber unendlich viel gewinnen kann»; natürlich nur unter der Voraussetzung - Lessing nennt die übliche Implikation mit zunächst kaum merkbarer Ironie -, dass die «Gründe der falschen Religionen» nicht zu stark und die «der wahren» nicht zu schwach dargestellt werden. (B III 208) Dabei habe Cardano allerdings nicht die

erforderliche Neutralität gezeigt, sondern die christliche Seite bevorzugt; wie man

ihm das zum

Vorwurf machen

konnte,

muss vollkommen unerfindlich erscheinen. Um seine Behauptung zu belegen, verweist Lessing auf die von Cardano angeführten historischen Gewissheiten, die er im Einzelnen aufzählt. Unvermerkt beginnt er an diesem Punkt ein Spiel mit der Dignität des historischen Wissens, womit eine unerwartete Wendung ins Gegenwartsgespräch erfolgt, die Lessing mit der Bemerkung einleitet, Cardano «sei mit keiner einzigen Religion aufrichtig verfahren, als mit der christlichen; die übrigen alle hat er mit den allerschlechtesten Gründen unterstützt, und mit noch schlechtern widerlegt». (212) Um diesen Mangel

auszugleichen, setzt Lessing an die Stelle der Rettung eine Korrektur, indem er das Religionsgespräch fortschreibt und einen Mohammedaner auftreten lässt, der - in wörtlicher Rede — die Sache seiner Religion mit Erfolg vertritt: «Nur der braucht Wunder zu tun, welcher unbegreifliche Dinge zu überreden hat,

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III. Schriftsteller und Kritiker (1755-1759)

um das eine Unbegreifliche mit dem andern, wahrscheinlich zu machen. Der aber nicht, welcher nichts als Lehren vorträgt, deren Probierstein ein jeder bei sich führet.» (215) Nämlich die Vernunft, die sowohl die Grundsätze einer natürlichen Religion verteidigt als auch davor warnt, die Grundsätze der Offenbarung mit Hilfe eines historischen Tatsachenbeweises rationalisieren zu wollen, was einen Bedeutungsverlust des bis dahin als sicher angenommenen Wissens zur Folge haben könnte. Lessing benutzt das Religionsgespräch des italienischen Humanisten, um nach dem Stand der Religionskritik in seiner Zeit zu fragen.

Ill. Schriftsteller und Kritiker (1755-1759) Theorie und Praxis der Tragödie

Im Februar 1755 schreibt Moses Mendelssohn aus Berlin einen Brief an Lessing, in dem er dessen längere Abwesenheit beklagt und ankündigt, «auf einige Stunden zu Ihnen zu kommen» (B XV/1 62) - nach Potsdam nämlich, wohin sich Lessing zurückgezogen hatte, um ungestört an einem Theaterstück zu arbeiten. Mendelssohn gehörte zu den wenigen, die von diesem Vorhaben wussten, über dessen Zustandekommen eine - allerdings etwas zweifelhafte - Anekdote von Friedrich Wilhelm von Ramdohr berichtet: «Lessing war mit Mendelsohn bey der vorstellung eines der französischen weinerlichen dramen zugegen. Der letzte zerfloss in thränen. Am ende des stücks fragte er seinen freund, was er dazu sagte? Das es keine Kunst ist, alte Weiber zum heulen zu bringen [...]. Was gilt die wette, sagte Lessing, in sechs wochen bringe ich ihnen ein solches stück.» (GBL 569.) Tatsächlich hat Lessing während seines Potsdamer Aufenthaltes ein solches Stück verfasst, wohl auch, um in den sechsten Teil seiner bei Voß erscheinenden Schrifften eine Tragödie aufnehmen zu können, die das Gattungsspektrum abrunden sollte. Zur Ostermesse 1755 erschien dieser Band mit dem Erstdruck der Miß Sara Sampson, einem, wie der Untertitel näher ausführt, bürger-

IIl. Schriftsteller und Kritiker (1755-1759)

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lichen Trauerspiel, in fünf Aufzügen. Bei dem revidierten Neudruck im Jahr 1772 hat Lessing den Zusatz «bürgerlich» streichen lassen, die Typisierung haftet dem Stück jedoch noch heute an. Darauf ist vorab kurz einzugehen, da sowohl die Kategorie des Bürgertums als auch die Abgrenzung der Gattung des bürgerlichen Trauerspiels Kontroversen in der Forschung hervorgerufen haben, die seit langem andauern und in einzelnen Aspekten noch immer der Klärung bedürfen. Will man verstehen, was bürgerlich (im Unterschied zu natürlich) in der Mitte des 18. Jahrhunderts heißt, wird man auf die Theorie des Naturrechts und die Rechtssprache zurückgehen müssen: De offıcio hominis et civis lautet der Titel des vielgelesenen, 1673 erstmals gedruckten Kompendiums von Samuel Pufendorf, in dem erklärt wird, wie der Bürger eines Staates (civis) im Unterschied zu einem Menschen im Stand der Natur

(homo) bestimmte Pflichten gegenüber Gott und der Gemeinschaft, aber auch gegenüber sich selbst zu erfüllen hat. Es sind die modernen Funktionseliten aus den Bereichen der staatlichen Verwaltung, der Universität und der Kirche, die sich mit dem älteren städtischen Bürgertum verbinden und in literarischen Medien, die sie ihren Intentionen anpassen oder eigens entwickeln - dazu zählen seit dem Anfang des Jahrhunderts die Moralischen Wochenschriften -, eine Verständigung über diese gemeinsamen Handlungsorientierungen und Normvorstellungen (officia) suchen, mit denen sich die Folgen der gesellschaftlichen Differenzierung, aber auch individuelle Orientierungsprobleme bewältigen liefen. Was die gesellschaftlichen Gruppen teilen, sind zunächst kulturelle Gemeinsamkeiten, kein eigenes Standes- oder gar Klassenbewusstsein, das -— wie in der älteren Forschung angenommen wurde - auf politische Emanzipation oder Partizipation zielte. Die neuen, vor allem aus der soziologischen Systemtheorie gewonnenen Perspektiven haben die Frage nach den bürgerlichen Werten und Sozialitätskonzepten sowie den sich wandelnden Stil- und Geschmacksregeln angemessener erklären können als die älteren sozialgeschichtlichen Ansätze; ein solcher Konsens ist im Blick auf die Gattung des bürgerlichen Trauer-

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III. Schriftsteller und Kritiker (1755-1759)

spiels noch nicht abzusehen. Zwar verfügen wir inzwischen über eine genauere Kenntnis der über zweihundert Texte, die sich diesem Dramentyp zuordnen lassen (vgl. Mönch 1993), womit jedoch die Frage, ob Lessings Trauerspiel - das am Beginn der Reihe steht - für die Gattung vorbildlich war (vgl. Guthke 2008) oder eine Ausnahmestellung einnimmt, noch nicht abschließend beantwortet ist. Wenn es zutrifft, dass die Mehrzahl der untersuchten Texte auf eine abschreckende, keineswegs der Mitleidsdramaturgie verpflichtete Wirkung setzt — das Böse wird seiner gerechten Strafe zugeführt, wobei die Sym-

pathielenkung dem Tugend-Laster-Schema folgt -, dann wären Miß Sara Sampson und Emilia Galotti nicht repräsentativ für die Entwicklung der Gattung im 18. Jahrhundert. Es ist daher von «zwei Modellen für das bürgerliche Trauerspiel auszugehen» (Fick 161), die in unterschiedlicher Weise den erhöhten moralischen Reflexionsbedarf des Publikums zu decken versuchten. Worin bestand dieser Bedarf, und worin unterscheidet sich Lessings Trauerspiel von der Trivialdramatik? Miß Sara Sampson

Die Uraufführung des Trauerspiels fand am 10. Juli 1755 in Frankfurt an der Oder statt. Da Lessing gemeinsam mit Karl Wilhelm Ramler die Vorstellung besucht hat, konnte er sich vom Gewinn der Wette vor Ort überzeugen. In einem wenig später geschriebenen Brief berichtet Ramler über die Reaktionen des Publikums: «Herr Leßing hat seine Tragödie in Franckfurt spielen sehen und die Zuschauer haben drey und eine halbe Stunde zugehört, stille geseßen wie Statüen, und geweint.» (GBL 85) Lessing hatte die Vorlagen für sein Familienstück offenbar gut gewählt - dazu gehörte eine ältere Komödie, Thomas Shadwells The Squire of Alsatia (1688) - und eine Reihe von englischen Namen eingeführt (Arabella, Norton, Betty, Solmes, Belfort u.a.), bei denen sich die Zuschauer an ihre Lektüre des empfindsamen Briefromans Clarissa von Samuel Richardson erinnern konnten, der 1748/51 ins Deutsche übersetzt worden war. Die Titelfigur des Romans erleidet ähnliche Qualen wie Sara, ihr Schicksal zwischen Verführung, Schuld

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und Tod wurde zum vielfach kopierten Muster empfindsamer Affekterregung. Auch Lessing versteht es, Gefühle zu schildern (auf der Bühne wird ausgiebig geweint) oder diese bis zu einem extrem leidenschaftlichen Verhalten zu steigern, um beim Publikum eine Rührung zu erzeugen, die Mitleid hervorbringen soll: Die positive Naturanlage des Menschen - seine Fähigkeit zum sympathetischen Fühlen — wird bestimmten Normen des sozialen Handelns, etwa der Verzeihensbereitschaft, zugeordnet und so zu einem Argument erhoben, dessen Lehrgehalt sich vorzüglich in dramatischen Experimenten wie der Sara Sampson prüfen und bestätigen ließ. Das Stück war beim zeitgenössischen Publikum ein großer Erfolg, doch auf lange Sicht sollten frühe Kritiken wie die von Johann Jakob Dusch Recht behalten, wonach die Handlung des Trauerspiels zu schleppend und unmotiviert erscheint und die Wirkung sich — gleichsam überdeterminiert - in der Erregung von Emotionen und Flüssen von Tränen erschöpft, doch auch das nur in der kurzen Phase, in der die empfindsame Sprache des Herzens vom Publikum verstanden wurde. Das 19. Jahrhundert hat sich mit dem weinerlichen Rührstück wenig befasst, symptomatisch ist das Urteil des Mediziners Paul Albrecht, der auf seiner unermüdlichen Suche nach Plagiaten im Werk Lessings nebenbei die Frage stellte, an welchem Gift die Hauptperson stirbt und diese auch gleich selbst beantwortet: «Am Theatrin!» Die Schemata von Tugend und Laster, Gut und Böse, Hof und Familie, Verstellung und Natürlichkeit bilden den Ausgangspunkt für zahlreiche Interpretationsversuche, in denen auch auf den neuen Gefühlskult und die im Stück diskutierte Ambivalenz der Empfindungen hingewiesen wird. Nun steht außer Frage, dass der dramatische Konflikt auf einem Fehler des «zärtlichen Herzens», also der Liebesfähigkeit der Titelheldin beruht, der sie von der behüteten Welt des Vaterhauses trennt. Die Tragik entsteht jedoch erst aus ihrer Unfähigkeit, die vom Vater gewährte Verzeihung zu akzeptieren, wodurch sich eine Verbindung zwischen den beiden Welten (und deren Normvorstellungen) wieder herstellen ließe. Verfährt Lessing hier also

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III. Schriftsteller und Kritiker (1755-1759)

sozialkritisch, indem er einen Vater-Tochter-Konflikt inszeniert, der die mitfühlenden Zuschauer über fatale, die Persönlichkeit

zerstörende Folgen der Tabuisierung weiblicher Sexualität und den schädlichen Zwang familiärer Rollenmuster aufklären soll? Auf solche Standarddeutungen bewegen sich viele Analysen des Dramas zu. Sara und Marwood stünden einander dann konträr gegenüber und veranschaulichten mit ihrem Verhalten den Gegensatz von Adel und Bürgertum, Libertinage und Tugendhaftigkeit. Solche Deutungen erweisen sich in der Regel als unterkomplex, da hier neben der raffinierten ethischen Versuchsanordnung auch die religiöse Dimension des Stückes übersehen wird. Einer der ersten Rezensenten, der Göttinger Theologe Johann David Michaelis, schrieb 175 5 in den Göttingischen Anzeigen von Gelehrten Sachen über die letzten Augenblicke der Titelfigur: «Wir haben nicht leicht so etwas rührendes gelesen, als dieses Trauer-Spiel, so uns mit Schauder und Vergnügen erfüllet hat. Die Sittenlehre, daf3 der, so selbst Ursache hat Vergebung zu wünschen, vergeben soll, ist unvermerckt eingebracht [...]. Sollte Hr. Leßing nicht hier einen Haupt-Gedancken aus dem Buche [sc. das Neue Testament] geborget und ihn nur umgekleidet haben, aus dem sich die philosophische Sittenlehre so sehr bereichert hat?» (B III ır218f.) Bevor diese Beobachtungen zusammengeführt werden und am Beispiel der Szene IV 8 - der berühmten Anagnorisis-Szene — auf die Frage nach dem Textsinn zu beziehen sind, einige Hinweise zum Handlungsverlauf. Miß Sara Sampson ist zusammen mit ihrem Geliebten Mellefont aus dem Haus ihres Vaters in ein Gasthaus geflüchtet.

Während Mellefont sich nach einem ausschweifenden Leben nicht zu einer Heirat durchringen kann, macht Marwood, seine

ehemalige Geliebte, den Aufenthaltsort der Flüchtigen ausfindig, um den Vater ihrer Tochter zurückzugewinnen. Doch dieser lässt sich nicht zu einer Rückkehr bewegen. Saras Vater, Sir William, ist ebenfalls eingetroffen und zeigt sich bereit, der Tochter

zu verzeihen. Marwood freundet sich unter falschem Namen und als angebliche Verwandte Mellefonts mit Sara an, lüftet dann jedoch ihr Geheimnis und nutzt eine Ohnmacht der Gegenspielerin, um diese zu vergiften. Das sterbende Opfer vergibt

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der Mörderin und versöhnt sich mit ihrem Vater, der Mellefont als seinen Sohn betrachten soll, doch dieser verübt Selbstmord.

Sir William bleibt nur, für die Tochter der Marwood zu sorgen. Ein Detail ist hervorzuheben: Am Beginn des Dramas erzählt Sara ihrem Geliebten einen Traum, in dem auf wichtige Handlungszüge vorausgedeutet wird. Das Orakel mindert jedoch nicht die Spannung und bringt auch kein - wie zeitgenössische Kritiker meinten — phantastisches oder irrationales Element ins Spiel, sondern kommentiert auf subtile Weise das sich anbahnende Geschehen: Aber noch schlief ich nicht ganz, als ich mich auf einmal an dem schroffsten Teile des schrecklichsten Felsen sahe. Sie [sc. Mellefont] gingen vor mir her, und ich folgte Ihnen mit schwankenden ängstlichen Schritten, die dann und wann ein Blick stärkte, welchen Sie auf mich zurückwarfen. Schnell hörte ich hinter mir ein freundliches Rufen, welches mir stille zu stehen befahl. Es war der Ton meines Vaters - Ich Elende! [...]; indem ich mich nach dieser bekannten Stimme umsehen wollte, gleitete mein Fuß; ich wankte und sollte eben in den Abgrund herab stürzen, als ich mich, noch zur rechten Zeit, von einer mir ähnlichen Person zurückgehalten fühlte. Schon wollte ich ihr den feurigsten Dank abstatten, als sie einen Dolch aus dem Busen zog. Ich rettete dich, schrie sie, um dich zu verderben. (B III 441.)

Zwei Fragen sind hier zu beantworten. Zunächst: Welchem Verderben ist Sara ausgesetzt, so dass sie einer helfenden Hand bedarf? Und warum entdeckt sie eine Ähnlichkeit mit ihrer Retterin, vor der sie dann — paradox genug - größte Furcht empfindet? Die erste Frage lässt sich leicht aus dem Kontext der Stelle erklären. Mellefont hat seiner Geliebten angeboten, über das Meer nach Frankreich zu fliehen, um dort ihre Verbindung vor neuen Freunden zu legitimieren. Die Versöhnung mit dem Vater, dessen freundliches Rufen sie im Traum gerade vernommen hat, wäre ausgeschlossen, folgte sie ihrem Geliebten auf die vorgeschlagene Reise. Sara gerät außer sich: «Sollen die Zeugen unsrer Verbindung sein? - Grausamer! [...] So soll ich mein Vaterland als eine Verbrecherin verlassen? Und als eine solche,

glauben Sie, würde ich Mut genug haben, mich der See zu ver-

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III. Schriftsteller und Kritiker (1755-1759)

trauen?» (445) Das Eintreffen der Marwood verhindert die geplante Flucht ins libertine Frankreich; eine allerdings nur kurzfristige Verlängerung des Aufenthalts an den «väterlichen Küsten» (ebd.), wie sich zeigen wird. Damit zu der zweiten Frage, der merkwürdigen Ähnlichkeit Saras mit der im Traum

erscheinenden Retterin. Hier ist noch einmal auf die eben zitierte Passage zu verweisen, die deutlich auf die antike Medea des Euripides (aber auch Senecas) verweist, die in der Tat ihre Heimat über das Meer als Verbrecherin verlässt. Warum aber diese Anspielung auf das Medea-Schicksal, womit zugleich «eine mir ähnliche Person» -— eine Beziehung auch zur Marwood hergestellt wird, die das Stück in der Folge gerade zu leugnen scheint? Im zweiten Akt, wo die Bezugnahme auf die attische Tragödie besonders deutlich hervortritt, gibt sich Marwood gegenüber ihrem ehemaligen Geliebten als eine zu jeder Grausamkeit bereite Rächerin zu erkennen. Nach dem Ausruf: «Sieh in mir eine neue Medea!» (464), zieht sie einen Dolch, um Mellefont zu erstechen. Ganz anders der analog aufgebaute dritte Akt, der im Zeichen der Versöhnung zwischen Vater und Tochter steht und damit eine Reversion der Medea-Geschichte bietet: Vergebung statt Rache. Die Rollen scheinen nun klar verteilt: Sara ist dem Zuschauer längst als «zärtliche Tochter» (471) und als Inbegriff tugendhafter Weiblichkeit vorgestellt worden, während Marwood als «schändliche Buhlerin» (462) den Gegenpol bildet. In der Trivialdramatik wäre nun allein noch der Sieg der Tugend über das Laster zu schildern. Anders bei Lessing, der diese Publikumserwartungen weckt, um mit ihnen zu spielen. Im vierten Akt taucht unvermittelt der Dolch wieder auf, jenes «Mördereisen», mit dem die rasende Marwood den Vater ihres Kindes zu töten versuchte. Und in ebendiesem Moment bemerkt Mellefont gegenüber seinem Diener, dass er dem Wunsch der Marwood zugestimmt habe, ihre Konkurrentin kennenzulernen, worauf Norton antwortet: «Das hätte ich nicht gewagt.» (492f.) Der Leser oder Zuschauer ist nun gewarnt. Die Begegnung könnte eine glatte Lösung nach dem

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Schema von Tugend und Laster aufschieben, vielleicht sogar zur Verstärkung der Wirkung und zur nachdrücklichen Bestätigung der überlegenen moralischen Position - den Untergang der Identifikationsfigur bewirken. Wie auch immer, der poetischen Gerechtigkeit wäre Genüge getan. Lessing weckt diese Erwartung, indem er Mellefont zunächst ganz im Sinne eines solchen Moralkonzepts sprechen und handeln lässt: Auf die Frage seiner ehemaligen Geliebten, ob er sie «einer jungen Närrin» aufopfern wolle, antwortet er im gelehrt-anspielungsreichen Ton der höfischen Konversation, um die Welten getrennt zu halten,

wobei er Marwood jedoch in einer übertrieben groben Weise beleidigt: «Aufzuopfern? Sie machen, daß ich mich hier erinnere, daß den alten Göttern auch sehr unreine Tiere geopfert wurden.» (462) Mehr noch: Mellefont macht sich zum Anwalt

der Tugend, um Marwood in der direkten Konfrontation mit Sara noch stärker zu demütigen - das ist der Grund, warum ihn sein Diener zur Vorsicht mahnt. Eine selbstgefällige Moralität führt zur Selbstverfehlung und damit in die Katastrophe. Die Unterschiede von Tugend und Laster, Glück und Leid, Schuld

und Strafe lassen sich nicht leicht entkoppeln; im Handeln von Mellefont erkennt man die Nachbarschaft von Gut und Böse,

womit Lessing die auf das triviale Schema fixierten Erwartungen des Publikums unterläuft. Die fragliche Relation und den als lehrreich zu denkenden Übergang zwischen den beiden Sphären hat Lessing dann in der Szene IV 8, in der Begegnung der beiden Frauen, ins Zentrum gestellt. Hier findet sich zunächst eine nachgeholte Exposition: In der Rolle der Lady Solmes schildert die Marwood den bis dahin unbekannten Verlauf des eigenen Lebens, sie wird zu einer Figur mit anrührendem Schicksal, die - wie immer es um die Wahrheit ihrer Erzählung bestellt sein mag - eine moralische Verurteilung im Sinne einfacher Schemata nicht mehr zulassen soll. Umgekehrt versagt Sara im Gespräch mit ihrer Gegnerin, die sie nicht als solche erkennt, an den Ansprüchen, die zuvor für das eigene Verhalten formuliert worden sind: Selbstlosigkeit, Mitgefühl und die Bereitschaft zur Verzeihung, «schimpfliche Schwierigkeiten», wie Marwood kommentiert. Sara schei-

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tert auch deshalb an dieser Probe der Feindesliebe, weil sie hier die im Traum erahnte Ähnlichkeit mit der Buhlerin verleugnet. Von Marwood darauf hingewiesen, redet sie sich in Rage und

beruft sich auf die Entsühnung für der Himmel gewährt habe: «er nimmt schenkt mir einen Vater wieder». Hier nen Höhepunkt. Marwood gibt sich zu

ihren Fehltritt, die ihr die Strafe von mir, und erreicht der Konflikt seierkennen, aber erst nach

dem Fußfall Saras, die erschrocken ausruft: «Um ihre Freundschaft, Lady [sc. Solmes] - Und wo ich diese nicht erhalten kann, um die Gerechtigkeit wenigstens, mich und Marwood

nicht in einen Rang zu setzen.» (508) Was danach folgt, ist der sichtbare Übergang von Gut zu Böse, die Verwandlung Marwoods in eine Mörderin. Doch wichtiger ist vielleicht noch wenn auch ohne die theatralische Wirkung der Medea-Handlung - ein weiterer, eher unmerklicher Übergang, der sich am Ende des Gesprächs vollzieht. Gemeint ist Saras Changieren zwischen hohen ethischen Forderungen und einer moralisch bedenklichen Selbstgerechtigkeit («nicht in einen Rang»), die Lessing mit einem ironischen Unterton einführt, der in der Trivialdramatik undenkbar wäre: «Sara fleht ihre Gegnerin um jenes Minimum an Freundschaft und Gerechtigkeit an, das sie selbst ihr eben damit verweigert.» (Ter-Nedden 1986, $. 106)

Um die Logik dieser Interaktionen formelhaft zu beschreiben, lässt sich auf eine hellsichtige Überlegung Waitwells verweisen, der zusammen mit dem Vater Sampson das mörderische Spiel überlebt und am Ende für eine mögliche Wiedergutmachung steht. In Szene III 3 sagt er an Sara gerichtet: «Ich weiß wohl, es gibt eine Art von Leuten, die nichts ungerner, als Vergebung annehmen, und zwar, weil sie keine zu erzeigen gelernt haben.» (477) Dieses Plädoyer für die Bereitschaft zur Vergebung - das zentrale Motiv für den dramatischen Aufbau - hat ihr Vorbild im neutestamentlichen Liebesgebot. Sollte Johann David Michaelis also Recht behalten? Allerdings dramatisiert das Stück nicht einfach die Bergpredigt (hier ist dem frühen Rezensenten zu widersprechen), sondern vergegenwärtigt die Ambivalenzen, die unser alltägliches Handeln bestimmen. Was in der bildlichen Sprache der Religion den Zusammenhang von Sünde und

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Gnade illustrieren, zur Buße auffordern und zur Besserung anleiten sollte, wird als unvermeidlicher Konflikt dem individu-

ellen Handeln zugerechnet. Dieses Grundproblem der conditio humana hat Lessing immer wieder beschäftigt. In einer Abhandlung des Spätwerks, die dem größten Theodizee-Denker des Jahrhunderts gewidmet war (Leibnitz von den ewigen Strafen, 1773), hat er die am Ende seines Trauerspiels gestellten Fragen wieder aufgegriffen und zu lösen versucht. Eine Antwort sollte auch ein Faust-Drama geben, das Lessing unmittelbar im Anschluss konzipiert hat. Faust

Über zwanzig Jahre hat sich Lessing mit dem Fauststoff befasst, die frühesten Zeugnisse gehören in die Mitte der 1750er Jahre. In gewisser Hinsicht zählt auch das Faust-Drama zu den Rettungen, da der Stoff jede Dignität für das hohe Schauspiel, die Tragödie, verloren hatte. Moses Mendelssohn reagiert denn auch betont heiter, als er von dem Plan eines solchen «bürgerlichen Trauerspiel[s]» erfährt: «Eine einzige Exclamation, o Faustus! Faustus! könnte das ganze Parterre lachen machen.» (B XV/1 69) In der Jahrhundertmitte ist sowohl der historische als auch der durch das Puppenspiel und das Volksdrama vermittelte Doktor Faustus zur lächerlichen Figur geworden, wie sich an den launigen Zauberkünstler-Episoden der Moralischen Wochenschriften oder an den Publikationen der Gottschedianer zeigen liefge, die im Zusammenhang mit Lessings Plan einer Faustdichtung, der sich herumgesprochen hatte, nur eine Komödie erwähnen. Dass Lessing ein ernstes Schauspiel ankündigt, ist also ein risikoreiches Unternehmen, seine Konzeption darf daher nicht, wie es immer wieder geschieht, vom Ende des 18.Jahrhunderts her und im Vergleich mit dem Stück Goethes betrachtet werden, da sich die Voraussetzungen für die Verwirklichung eines solchen Dramas in wenigen Jahrzehnten völlig gewandelt hatten. Die von Mendelssohn erwähnte Gattungsbezeichnung des bürgerlichen Trauerspiels sollte der Verständigung über dasjenige dienen, was nicht beabsichtigt war, nämlich eine Tragödie im

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Stil des französischen Klassizismus. Ebensowenig war wohl an ein sentimentales Rührstück gedacht. Doch woran dann? Der siebzehnte der Briefe, die neueste Litteratur betreffend,

veröffentlicht am 16. Februar 1759, bringt jene bekannte Abrechnung mit der Theaterreform Gottscheds, die über Generationen Literaturgeschichte geschrieben hat: Das «französierende Theater» sei der «deutschen Denkungsart» nicht angemessen, Shakespeare dagegen ein geeignetes Vorbild. Die Begründung lautet, «daß wir in unsern Trauerspielen mehr sehen und denken wollen, als uns das furchtsame französische Trauerspiel zu sehen und zu denken giebt; daß das Große, das Schreckliche, das Melancholische, besser auf uns wirkt [...]; daß uns die zu grosse Einfalt mehr ermüde, als die zu große Verwickelung etc.» In den folgenden Abschnitten scheint das Ideal des verwickelten Denkspiels jedoch bereits vergessen, hier heißt es: «Nach dem Oedipus des Sophokles muß in der Welt kein Stück mehr Gewalt über unsere Leidenschaften haben, als Othello, als König Leer, als Hamlet etc.» (BIV soof.) Nach diesen Ausführungen

zum Potential unterschiedlicher Tragödienformen ist der Leser gespannt, welche Poetik das im Anhang gedruckte Faust-Fragment umsetzt: Hat Lessing eine die Ratio beanspruchende komplexe Dramenhandlung oder ein die Affekte reizendes und überwältigendes («Gewalt») Schauspiel konzipiert? Faust wird als Gelehrter des Humanismus eingeführt, der um Mitternacht bei der Lampe sitzt, «sich mit verschiednen Zweifeln aus der scholastischen Weltweisheit» (B IV 60) herumschlägt und, offenbar enttäuscht, zum wiederholten Male versucht, den Teufel zu beschwören. Die Zuschauer blicken in eine fremd gewordene Welt hermetischer Gelehrsamkeit und Magie, denkbar weit von dem Ambiente eines bürgerlichen Trauerspiels entfernt. Nach einem kurzen Vorspiel wird zur dritten Szene des zweiten Akts übergeleitet, welche «Faust und sieben Geister» (61) in einer Unterredung zeigt, die einer Disputation gleicht: Faust sucht für seinen Pakt den schnellsten der Teufel. Damit stellt er die Höllengeister auf die Probe, ihre Unfähigkeit wird mit Sarkasmus gestraft. Die in der empirischen Welt wirkenden Untertanen Satans - schnell wie das Licht oder die Pfeile

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der Pest - versagen sofort, am Ende bleiben nur zwei Teufel in der engeren Wahl, die allein in der Sphäre des Intellekts agieren: FAUST |...] - zum sechsten Geiste Sage du, wie schnell bist du? — DER SECHSTE GEIST So schnell als die Rache des Rächers. Faust Des Rächers? Welches Rächers? DER SECHSTE GEIST Des Gewaltigen, des Schrecklichen, der sich allein die Rache vorbehielt, weil ihn die Rache vergnügte. — Faust Teufel! Du lästerst, denn ich sehe, du zitterst. - Schnell, sagst du, wie die Rache des - Bald hätte ich ihn genennt! Nein, er werde nicht unter uns genennt! — Schnell wäre seine Rache? Schnell? Und ich lebe noch? Und ich sündige noch? DER SECHSTE GEIST Daß er dich noch sündigen läßt, ist schon Rache! Faust Und daß ein Teufel mich dieses lehren muß! - Aber doch erst heute! Nein, seine Rache ist nicht schnell, und wenn du nicht schneller bist als seine Rache, so geh nur. Zum siebenden Geiste - Wie schnell bist du? DER SIEBENDE GEIST Unzuvergnügender Sterbliche, wo auch ich dir nicht schnell genug bin - — FAusT So sage; wie schnell? DER SIEBENDE GEIST Nicht mehr und nicht weniger, als der Übergang vom Guten zum Bösen. — Faust Ha! Du bist mein Teufel! So schnell als der Übergang vom Guten zum Bösen! - Ja, der ist schnell; schneller ist nichts als der! -— Weg von hier, ihr Schnecken des Orcus! Weg! — Als der Übergang vom Guten zum Bösen! Ich habe es erfahren, wie schnell er ist! Ich habe es erfahren! etc. -- (B IV 63)

Nur selten hat Lessing bei seinen Lesern so viel Desinteresse erregt, wie mit diesem Entwurf. Auf die von ihm an das Ende des Literaturbriefs gestellte Frage: «Was sagen Sie zu dieser Scene? Sie wünschen ein deutsches Stück, das lauter solche Scenen hätte? Ich auch!» (BIV 5o1) - antwortete die Lessing-Philologie nicht selten mit einem «nein Danke, ohne sich in dieser Geschmacksfrage zu längeren Erklärungen genötigt zu sehen. Im Unterschied dazu haben die Zeitgenossen für ihre Kritik an der Teufelsszene Argumente angeboten. Das wichtigste Zeugnis bildet eine Stelle aus den Briefen, die Einführung des Englischen

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Geschmacks in Schauspielen betreffend (Frankfurt und Leipzig 1760), eine Replik der Gottschedianer: «Man sieht |[...] leicht, daß diese Teufel nicht die Bedürfniß der Handlung, sondern des Poeten waren, er wollte gerne noch einige Sternchen, einige Flimmerchen anbringen; Er wollte den Zuschauern das seltsame Vergnügen machen, einen Teufel katechisiren zu hören [...].» Richtig ist die daran angefügte Beobachtung, dass die Szene «ganz epigrammatisch» sei, eine empathische Regung also nur schwer auslösen könne. Vielleicht hat Lessing es auch nicht darauf, sondern auf eine Reflexion angelegt, die nicht wie die Gottschedianer unterstellten — auf eine «Hyperbole» zielte: «Dergleichen Spiele des Witzes können Lachen erregen: aber das Sinngedicht will etwas mehr» (B VII 203), heißt es in den Anmerkungen über das Epigramm. Gegen die «neurern Lehrer der Dichtkunst» - erwähnt werden Scaliger, Boileau und Batteux — will Lessing die Frage nach den Merkmalen nicht auf die Kürze des Gedichts eingeschränkt wissen: «Ich sage nemlich: das Sinngedicht ist ein Gedicht, in welchem [...] unsere Aufmerksamkeit und Neugierde auf irgend einen einzeln Gegenstand erregt, und mehr oder weniger hingehalten werden, um sie mit eins zu befriedigen.» (B VII 183, 185) Der Allgemeinheitsgrad dieser Definition erlaubt es, enge Gattungsgrenzen zu überspringen, das heißt deren Konventionalität aufzukündigen und, ähnlich wie bei dem Genre der Rettungen, die Anwendung einer Schreibweise zu empfehlen (später sollte Lessing mit der Bezeichnung Dramatisches Gedicht experimentieren). Für die Zeitgenossen war es offenbar selbstverständlich, eine solche Verbindung zwischen den Gattungen und speziell zwischen dem Epigramm und dramatischen Stücken herzustellen, wie Christian Gottfried Schütz, der Be-

gründer der Allgemeinen Litteratur-Zeitung, in seiner LessingBiographie (1782) bestätigt: «Und hierinn kommen, so entfernt sonst die Gattungen von einander zu sein scheinen, Lessings Schauspiele mit seinen Fabeln und Sinngedichten überein; auf alle ist der Stempel des Denkers geprägt, der gerade nur so viel Schmuck von der Poesie entlenet, als hinreichend ist um uns seine Leren interessant zu machen [...].»

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Worin dieser durch Scharfsinn gestiftete Mehrwert besteht, soll mit wenigen, notwendig unvollständig bleibenden Überlegungen angedeutet werden. Zunächst: In dem Faust-Fragment wird keine an dem aristotelischen Modell orientierte Theorie des Tragischen und seiner moralischen Wirkung exemplifiziert, sondern es werden umgekehrt Grundfragen der Ethik in äußerster Zuspitzung exponiert. Es sind, wenn man will, scholastische Probleme, deren Lösung durch kein theologisches Konzil und keine philosophische Schule garantiert wird, was sie für eine poetische Darstellung umso mehr qualifiziert. Ein Drama zur Symbolfigur der Neuzeit bietet sich dafür an, einmal gründlich - so die Wortwahl der Gottsched-Partei - nach der Möglichkeit moralindifferenter Handlungen, dem Verhältnis von Gutem und Bösem oder Wahrheit und Tugend zu fragen. Diese zweite Dimension des Ethischen im Werk Lessings, neben der Affekttheorie der Tragödienwirkung (vgl. Nisbet 1993), ließ sich vorzüglich an dem Stoff des 16. Jahrhunderts entwickeln. Wenn der sechste Teufel behauptet, schneller als die Rache des höchsten Rächers zu sein, antwortet Faust selbstsicher: «Und ich sündige noch?» Worauf der Geist repliziert: «Daß er dich noch sündigen läßt, ist schon Rache!» Faust zeigt sich zunächst

verblüfft

(«Und

daß

ein Teufel

mich

dieses

lehren

muß!»), um dann wieder gefasst zu antworten: «Aber doch erst heute!», womit

er andeutet,

dass eine Rache, von

der man

nichts spürt, einer leeren Drohung ähnelt. Oder verkennt diese Deutung eine Anspielung auf Bibelzitate, nach der viele Interpreten gesucht haben? Wie auch immer - ein Kommentar, der sowohl die literarischen Anspielungen als auch die religionsphilosophischen Topoi aufzuschließen versucht, wird den Kontext weiter fassen und auf Grundfragen der Leibnizschen Metaphysik und Ethik verweisen müssen, vor allem auf die bereits er-

wähnte Schrift aus der Wolfenbütteler Zeit, in der sich Lessing noch immer mit der Faustlegende befasst hat. Was Lessing besonders interessierte, war jener aus dem Prinzip der Kontinuität abgeleitete «fruchtbare Satz», dass «in der Welt nichts insulieret, nichts ohne Folgen» ist. Der Grundsatz wird von Lessing dann wie folgt reformuliert: «Genug, daß jede Verzögerung auf

so

III. Schriftsteller und Kritiker (1755-1759)

dem Wege zur Vollkommenbheit in alle Ewigkeit nicht einzubringen ist, und sich also in alle Ewigkeit durch sich selbst bestrafet.» (B VII 491, 493) Eben das ist die Rache des Rächers, von welcher der sechste Teufel spricht, die selbstverschuldete Regression auf dem Weg zur Perfektion, zum metaphysisch Guten, die - ganz im Sinne der Überlieferung - als Strafe Gottes zu begreifen ist. Der Übergang zwischen Gut und Böse ist als «unzertrennte Fortschreitung» im Rahmen des Leibnizschen Systems zu begreifen: «wenn es wahr ist, daß der beste Mensch noch viel Böses hat, und der schlimmste nicht ohne alles Gute ist», so

müssen wir uns Himmel und Hölle als «durch unendliche Stufen» (496) verbunden vorstellen. Charakteristisch für Lessing ist die Kunst, aus der Kombination von Stoff (Teufelspakt),

Form (Dialog) und Problemgehalt (Verdammung) ein Denkspiel zu entwickeln, in dem das alte Motiv der sündhaften Wissbe-

gierde auf das problematische Verhältnis von Selbstbestimmung, Schuld und Strafe bezogen wird. Ob Lessing für seinen Faust, den Teufelsbündler, eine Bekehrung vorgesehen hatte spätere Entwürfe deuten dies an -, ist eine offene Frage. Briefwechsel über das Trauerspiel

In der ersten Hälfte des Jahres 1755 hat Lessing den Entschluss gefasst, seine Stelle als Redakteur aufzugeben und Berlin zu verlassen. In einem Brief an den Vater erwähnt er das Angebot, «nach Moscau zu gehen, wo |[...] eine neue Universität angelegt wird». (BXV165) Offensichtlich ist sein Wunsch nach Veränderung, verbunden mit der Suche nach attraktiven Angeboten. Im Oktober zieht er - ohne dies seinen Freunden anzukündigen nach Leipzig, wo er Christian Gottfried Winckler kennenlernt, einen wohlhabenden

Kaufmannssohn,

der ihn zu einer mehr-

jährigen Europareise einlädt. Lessing willigt ein und schließt mit Winckler einen Vertrag als Begleiter, was sich als wichtig erweisen wird. Zur Vorbereitung des Unternehmens verbringt er einige Wochen in den Dresdener Kunstsammlungen und der Brühlschen Bibliothek, wobei er Gespräche mit dem Philologen Christian Gottlob Heyne führt. Die Reise beginnt im Mai 1756. Die Route führt die kleine Gruppe durch Norddeutsch-

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SI

land und Holland bis nach Amsterdam, in auffallender Übereinstimmung mit den Stationen, die Mylius drei Jahre zuvor auf seinem Weg nach England gemacht hat. Im September erreicht sie die Nachricht vom Ausbruch des Krieges und dem Einfall

preußischer Truppen in Sachsen, woraufhin Winckler sofort zurückkehrt. In Leipzig entlässt er seinen Begleiter, ohne eine Entschädigung zu zahlen, die Lessing einzuklagen versucht. Der Prozess sollte erst Jahre später zugunsten des Klägers entschieden werden; die Eröffnung des Verfahrens verhindert zunächst die Rückkehr Lessings in den Kreis der Berliner Freunde. Als Ersatz für die lebendige Konversation, an der Lessing so viel gelegen war, entwickelt sich ein reger Briefwechsel zwischen Berlin und Leipzig, in dem sich der Autor der Sara Sampson mit Friedrich Nicolai und Moses Mendelssohn über Fragen der Mitleidsdramaturgie austauscht. Dazu hatte Lessing bereits auf der Reise eine Anregung gegeben, als er im Juli 1756 an Nicolai schrieb, er «habe eine Menge unordentlicher Gedanken über das bürgerliche Trauerspiel aufgesetzt |[...]; aber ich wünschte, daß Ihnen auch Herr Moses seine Gedanken darüber sagen möchte». (B III 663) Von November 1756 bis Mai 1757 entsteht eine Korrespondenz, die sehr direkt geführt wird und mit saloppen Formulierungen das Alltagsgespräch imitiert («Wer Geier heißt Ihnen ein falsches System haben», «Nicht ein Wort mehr»),

wobei

die Briefpartner verschiedene

Interessen

und

Perspektiven einbringen. Während Nicolai an einer Abhandlung vom Trauerspiele arbeitete, die er 1757 im ersten Band seiner Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste veröffentlicht, hatte Mendelssohn gerade seine Briefe Über die Empfindungen (1755) herausgebracht, in denen er auf der Grundlage der leibniz-wolffschen Metaphysik die affektiven Regungen auf die Vorstellung eines mehr oder weniger vollkommenen Gegenstandes bezieht und sowohl psychologisch als auch ästhetisch ausdeutet. Der Zweck des Trauerspiels besteht für ihn, wie für Nicolai, in der Erregung von Leidenschaften; doch diese nur intuitive («sinnliche») Wahrnehmung ist der eigentlichen («höheren») Einsicht in die Vollkommenheit, dem «Endzweck der

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III. Schriftsteller und Kritiker (1755-1759)

Schöpfung», untergeordnet. Das Mitleid spielt dabei ebenfalls eine Rolle, doch erst in den Zusätzen zu den Briefen über die Empfindungen, die Mendelssohn 1761 unter dem Titel Rhapsodie veröffentlichte, hat er eine Konzeption dieser ästhetischen Emotion entwickelt, die Lessing zu überzeugen vermochte. Ganz anders im Briefwechsel, wo Lessing Mühe hat, seine Auffassung vom moralischen Wirkungszweck der Tragödie, die sich ganz auf den Begriff des Mitleids konzentriert, gegen die Einwände seiner Berliner Freunde zu verteidigen, die in der bloßen Empfindung keine ethische Komponente erkannten. Zum genaueren Verständnis dieser Kontroverse ist eine wei-

tere Schrift Mendelssohns heranzuziehen, die bereits zu Beginn des Jahres 1756 erschienen war. Es handelt sich um das Sendschreiben an den Herrn Magister Lessing, das als Eröffnung der Diskussion zu betrachten ist, da sich Mendelssohn hier mit den

provozierenden Thesen aus Rousseaus Abhandlung von dem Ursprunge der Ungleichheit unter den Menschen befasst, die er übersetzt hatte und deren Publikation sein an Lessing adressiertes Schreiben begleitet. Die Bedeutung des Mitleids wird hier nur beiläufig behandelt, im Mittelpunkt steht das Grundprinzip der modernen Naturrechtslehre, das gegen die Einwände Rousseaus verteidigt werden soll. Mendelssohn entwickelt seine Argumente, indem er dem Affekt des Mitleids, den Rousseau dem primitiven Menschen als Naturtrieb zugestanden hat, die «wesentliche Beschaffenheit» des Menschen entgegenhält, aus der sich die Gesetze des Gemeinschaftslebens notwendig ableiten, nämlich den Leitgedanken der Geselligkeit (socialitas). Für Mendelssohn ist er keine ursprüngliche Neigung, sondern ein erst durch die Sozialität gestiftetes Gefühlsvermögen, das näherhin als gemischte Empfindung bestimmt werden kann. Mendelssohns Überlegung bildet eine der Voraussetzungen für Lessings Poetik des Trauerspiels und seine bekannte Definition des Mitleids, die er in dem genannten Briefwechsel formuliert und im 76. Stück der Hamburgischen Dramaturgie wiederholt. Aus der Beweiskette zieht er das Element des Mitleids heraus, das er in Abweichung von Mendelssohn als elementare natürliche Regung verstanden wissen will, ohne es aus dem Be-

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zug zur Sozialität - Grund und Ziel der Morallehre für die Bühne - herauszulösen. Die wirkungspoetische Intention war aus den Vorgaben Mendelssohns, nicht jedoch aus dem gedanklichen Experiment Rousseaus abzuleiten: Der Deuxieme Discours ist im Kontext der Lessingschen Dramentheorie nur insoweit zu berücksichtigen, als er ein produktives Missverständnis über den präreflexiven Charakter des Mitgefühls geschaffen hat. Auch wenn Lessings Begriff des Mitleids nicht mit Rousseaus pitie übereinstimmt, kann an dessen Bedeutung für den im Anschluss an Mendelssohns Sendschreiben geführten Briefwechsel kaum gezweifelt werden. Inwieweit hier auch an einen Einfluss der schottischen moral-sense-Lehre zu denken ist, bleibt dagegen ebenso offen wie die Frage, ob Lessing der Über-

setzer von Francis Hutchesons A System of Moral Philosophy war, dessen deutsche Fassung ebenfalls 1756 erschienen ist. Die frühe Rezeption der schottischen Morallehre hat einer Aneignung und Bestätigung der bereits vielfach variierten Denkmuster des Naturrechts entsprochen, wie sie in Deutschland in der Nachfolge Pufendorfs entstanden sind. Dafür liefern Mendelssohns philosophische Schriften (und seine Rousseau-Kritik) ein Beispiel. Wie auch immer - an Nicolai schreibt Lessing im November 1756 (B III 67r): Das Schrecken braucht der Dichter zur Ankündigung des Mitleids, und Bewunderung gleichsam zum Ruhepunkte desselben. Der Weg zum Mitleid wird dem Zuhörer zu lang, wenn ihn nicht gleich der erste Schreck aufmerksam macht, und das Mitleiden nützt sich ab, wenn es sich nicht in der Bewunderung erholen kann. Wenn es also wahr ist, daß die ganze Kunst des tragischen Dichters auf die sichere Erregung und Dauer des einzigen Mitleidens geht, so sage ich nunmehr, die Bestimmung der Tragödie ist diese: sie soll unsre Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, erweitern. Sie soll uns nicht bloß lehren, gegen diesen oder jenen Unglücklichen Mitleid zu fühlen, sondern sie soll uns so weit fühlbar machen, daß uns der Unglückliche zu allen Zeiten, und unter allen Gestalten, rühren und für sich einnehmen muß. Und nun berufe ich mich auf einen Satz, den Ihnen Herr Moses vorläufig demonstrieren mag, wenn Sie, Ihrem eignen Gefühl zum Trotz, daran zweifeln wollen. Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch,

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zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmut der aufgelegteste. Wer uns also mitleidig macht, macht uns besser und tugendhafter, und das Trauerspiel, das jenes tut, tut auch dieses, oder - es tut jenes, um dieses tun zu können. Bitten Sie es dem Aristoteles ab, oder widerlegen Sie mich.

Das Gefühl des Mitleids erhält eine ethische Funktion. Was von hoher Evidenz zu sein scheint, entspricht jedoch eher einer Behauptung als einer Begründung. Mendelssohn erwidert daher mit einem «Nein!» (676) und dem Verweis auf die Bewunderung, die als höhere Empfindung das Mitleid einschließt. Da Lessing den Heroismus ablehnt, wiederholt er sein Argument noch einmal, wobei er den Effekt der Mitleidserregung ganz entschieden von der Moralität der Handlung trennt und damit erneut den Übergang von Gut zu Böse thematisiert: «Gesetzt auch, daß mich der Dichter gegen einen unwürdigen Gegenstand mitleidig macht, nemlich vermittelst falscher Vollkommenheiten, durch die er meine Einsicht verführt, um mein Herz zu gewinnen. Daran ist nichts gelegen, wenn nur mein Mitleiden rege wird, und sich gleichsam gewöhnt, immer leichter und leichter rege zu werden.» (698) Da alles auf die Wirkung ankommt, braucht weder Tugend gezeigt noch die Vernunft bemüht werden; das moralische Urteil wird der rationalen Erkenntnis entzogen. Doch das gilt nur für die Poetik des Trauerspiels, nicht für andere Gattungen. In einer Abhandlung Von der Herrschaft über die Neigungen, die Moses Mendelssohn während des Briefwechsels an Lessing übersendet, hat er die Differenz ihrer Standpunkte wie folgt zusammengefasst: «Wer die Empfindlichkeit eines Menschen vermehrt, hat ihn dadurch noch nicht tugendhaft gemacht, wenn er nicht zugleich seine Urteilskraft gebessert hat.» Diese Stelle findet sich am Ende eines Abschnitts, in dem Mendelssohn auf der Grundlage der Wolffschen Vermögenspsychologie die Leistungen einer «anschauenden Erkenntnis» erörtert. Eben diesen Begriff macht sich Lessing zu Eigen, um in seiner wenig später entworfenen Theorie der Fabel den Unterschied zwischen den Gattungen und ihren Funktionen zu

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erklären: Während der Dramatiker «die Erregung der Leidenschaften zu [seinem] vornehmsten Endzwecke» macht, hat der Fabeldichter «mit unsern Leidenschaften nichts zu tun, sondern allein mit unserer Erkenntnis». (BIV 367) Neben die auf Emotionen gegründete Morallehre tritt eine Ethik, die auf Vernunft setzt und nach den Motiven des Willens fragt. Lessing hat beide Optionen gebraucht, ohne diese zu vereinigen. Deutet das auf einen Widerspruch in seinen wirkungsästhetischen Annahmen? (NISBET 354) Zu bedenken ist, dass der Theaterpraktiker eine Analyse von Gefühlsabläufen vornimmt, nicht aber das Ziel einer Handlung bestimmt; eben darum geht es dem Fabeldichter, der nicht beim Moralisieren enden darf, sondern seine Einsichten zur Anwendung bringen soll. Fabeln und Fabelabhandlungen

Bereits in den 1760er Jahren hat Johann Gottfried Herder an einer Schrift Über Bild, Dichtung und Fabel gearbeitet, mit der er Lessing als Erneuerer und modernen Theoretiker der Fabel ehren wollte. Die alte Gattung stand nämlich in der Gefahr, aufgrund einer selbsterzeugten «Langeweile» unterzugehen: «wenn wir eine Reihe Fabeln ohne Anwendung auf bestimmte Fälle des Lebens nach einander lesen», schreibt Herder in seinen Zerstreuten Blättern (1787), sei dies, «als ob uns ein Sack voll moralischer Lehren und Anschauungen über das Haupt geschüttet würde». Dieses Problem habe Lessing erkannt und mit seiner Lehre vom «heuristischen Nutzen» der Fabel zu lösen versucht. Lessing war mit der Gattung und ihrer Geschichte wohlvertraut. Da die Fabel seit vielen Jahrhunderten als erzählerische Einlage in der Kanzelrede gebraucht wurde, hat er die populären Sittenlehren vielleicht als Kind in der Kirche seines Vaters oder während der Schulzeit in St. Afra kennengelernt; nicht auszuschließen ist, das sich bei diesen Predigtexempeln die von Herder beschriebene Wirkung einstellte. Im Studium dürfte ihn sein Lehrer Johann Friedrich Christ mit den Fragen der Überlieferung griechischer, mit dem Namen Aesops (6. Jh. v. Chr.) verbundener Fabeln vertraut gemacht haben. Im Jahr seiner

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Einschreibung an der Leipziger Universität ließ Christ eine Dissertation De Phaedro eiusque fabulis prolusio (1746) verteidigen, in der mit philologischen Argumenten die Echtheit der Fabeln des lateinischen Schriftstellers Phaedrus bestritten wurde. Auch Lessing äußert sich in späteren Aufzeichnungen distan-

ziert Über den Phäder, wobei er einige Einwände Christs korrigiert und nebenher andeutet, wie die antike Morallehre auf aktuelle Streitfälle zu applizieren sei (Anwendung!), etwa den Aufsehen erregenden Betrugsvorwurf Voltaires gegenüber dem königlichen Schutzjuden Hirschel (B IV 429). Mit der Überliefe-

rung antiker Fabeln hat sich Lessing noch in Wolfenbüttel befasst. Hier gelingt ihm der noch heute gültige Nachweis, dass eine verbreitete mittelalterliche Fabelsammlung (Der Edelstein)

in das 14. Jahrhundert gehört und dass als ihr Verfasser der aus einer Berner Bürgerfamilie stammende Dominikanermönch Ulrich Boner zu identifizieren ist. Bei seinen eigenen Dichtungen hat sich Lessing zunächst von der Versfabel Jean de La Fontaines (1668/93) und seiner deutschen Nachfolger wie Gellert oder Gleim anregen lassen. Erst in den 1759 bei Voß gedruckten Fabeln. Nebst Abhandlungen mit dieser Dichtungsart verwandten Inhalts findet er zu einem eigenen Prosastil und der für ihn charakteristischen Kurzform der Erzählung, die -— wie die poetologischen Abhandlungen erläutern — auf «Klarheit» der «anschauenden Erkenntnis» abzielt, um auf den Willen einzuwirken. (B IV 373) Da Lessing die Terminologie Christian Wolffs verwendet und den berüchtigten moralischen Lehrsatz anführt - den man anschauend erkennen soll (376) -, scheint sich seine Fabeltheorie auf den ersten Blick im Mainstream des 18. Jahrhunderts zu positionieren. Doch dieser Eindruck täuscht, der Vorgang des Erkennens verläuft genau umgekehrt zu dem von der Regelpoetik vorgeschriebenen Verfahren: «Der Endzweck der Fabel, das, wofür die Fabel erfunden wird, ist der moralische Lehrsatz.» (357) Dieser enthüllt sich erst im Gang der Erzählung und durch unsere Wahrnehmung, die ästhetisch produktiv werden muss: Das ist mit dem Begriff der anschauenden Erkenntnis gemeint. Da es nicht zu den Aufgaben der Gattung gehört, fertige

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Lehrsätze zu illustrieren, will Lessing «von dem moralischen Nutzen der Fabeln» gar nicht reden; dieser «gehöret in die allgemeine praktische Philosophie: und würde ich mehr davon sagen können, als Wolf gesagt hat?» (407) Die Abgrenzung ist deutlich. Stattdessen setzt er auf das, was «man den bevristischen Nutzen der Fabeln nennen» könnte, ein Moment der Theoriebildung, das Herder besonders beeindruckt hat: «Warum fehlt es in allen Wissenschaften und Künsten so sehr an Er-

findern und selbstdenkenden Köpfen?» (408) Die Fabel soll ein Medium bilden, um dieses Denken anzuregen, das heißt komplexe ethische Fragestellungen selbst aufzuklären und auf die eigenen Lebensbedürfnisse zu beziehen. Entscheidend bleibt die Anwendung, das Allgemeine muss auf den besonderen Fall, das uns betreffende Exempel, bezogen werden. Lessing hat die Gattung in dieser Weise zu modernisieren versucht und an die Stelle der eher erbaulichen Zwecksetzungen ein nicht nur anschauendes, sondern auch korrigierend-prüfendes Erkennen gesetzt. An einem Beispiel aus seinem Fabelbuch soll dies kurz gezeigt werden (BIV 309): XVII. DIE SPERLINGE.

Eine alte Kirche, welche den Sperlingen unzähliche Nester gab, ward ausgebessert. Als sie nun in ihrem neuen Glanze da stand, kamen die Sperlinge wieder, ihre alten Wohnungen zu suchen. Allein sie fanden sie alle vermauert. Zu was, schrieen sie, taugt denn nun das große Gebäude? Kommt, verlaßt den unbrauchbaren Steinhaufen!

Das Bild fügt sich in die lange Reihe der von Lessing entworfenen Gebäudemetaphern. Die frische Renovierung der alten Kirche deutet auf die in der Zeit allgegenwärtigen Baumaßnahmen der neuen Vernunfttheologen, der Neologen, mit denen Lessing keinesfalls verglichen werden wollte. Diese Abneigung hat er in zahlreichen Briefen und Gesprächen zum Ausdruck gebracht. Die Architekten des Neuen haben den alten, Raum und Schutz gewährenden Kirchenbau für das einfache Sperlingsvolk unbewohnbar gemacht. Die Vernunftreligion bietet vielleicht unbekannte, den Betrachter beeindruckende Stilelemente, den

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Wunsch nach einem Nest kann sie jedoch nicht befriedigen der unbrauchbare Steinhaufen wird verlassen; es fehlt das Ver-

trauen in die von der Offenbarungsreligion gestifteten Formen und Konventionen. Religion soll dem Menschen nun einmal Sicherheit bieten - als solche ist sie Teil unserer Kultur und Tradition, die zu bewahren ist, ungeachtet der verschiedenen theologischen Zugangsweisen. Insofern kann Lessing für eine gewisse Gefangennehmung der Vernunft «unter den Gehorsam des Glaubens» (B VII 177) plädieren: Das lehrt die Geschichte von den Sperlingen, mit welcher der Leser leicht fasslich in die aktuellen Religionsdebatten eingeführt wird. In den Augen Lessings ging der Versuch, den Kirchenbau a la mode umzugestalten, das heißt die Theologie nach rationalen Grundsätzen einzurichten und so dem Zeitgeist anzupassen, mit

der Beseitigung einer älteren Tradition einher, bei der sich die Reformpartei rücksichtslos verhält, ohne die eigene Fehlbarkeit einzubeziehen; auch das gibt die Fabel zu bedenken. In einer wenig später in den Literaturbriefen veröffentlichten Kritik hat Lessing seine Einwände dann ganz offen formuliert. Literaturbriefe

Zu den für das deutsche Kritikwesen im 18. Jahrhundert wichtigen Verlagsprojekten gehörten die von Friedrich Nicolai verlegten Briefe, die neueste Litteratur betreffend, ein neuartiges Periodikum, zu dem Lessing die Anregung gab. Angekündigt wurde die wöchentlich erscheinende Zeitschrift wie folgt: «Diese Briefe werden alle Donnerstage in der Nicolaischen Buchhandlung im Düfourschen Hause in der Brüderstrasse zu Berlin ausgegeben und sind auch in den auswärtigen Postämtern und Buchhandlungen zu haben. Der auf ein Vierteljahr pränumeriret zahlet dafür 12 Gr.[oschen] sonst kostet jeder Bogen | Gr.» (BIV rosof.) Aus dem Werbeflyer wird hier so ausführlich zitiert, um zu verdeutlichen, wie sich die Literaturbriefe in der Erscheinungsweise, der Aufmachung und Distribution an dem noch immer erfolgreichen Modell der Moralischen Wochenschriften orientieren. Auf den ersten Blick scheint das auch

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für die Präsentation der Inhalte zu gelten, da die Form des Briefes gewählt wird, der das persönliche Gespräch ersetzen kann, also eine sehr publikumsnahe Kommunikation anzukündigen scheint. Wir werden sehen. Der erste Artikel erschien am 4. Januar 1759, der letzte - es handelte sich um die Nummer 333 - wurde am 4.Juli 1765 publiziert, dazu gab es drei Buchausgaben im Verlag Nicolais. Lessing verfasste 55 Artikel, was einem Anteil von unter zwanzig Prozent am Gesamtumfang entspricht. Nachdem er 1760 Berlin verlassen hat, kommt es nur noch zu sporadischen Beiträgen. Dennoch ist seine Mitwirkung an der Zeitschrift von größter Bedeutung, er hat das Unternehmen, das einen Geschmacksund Stilwandel bewirken sollte, konzipiert und deutlich auf Polemik ausgerichtet. Wie entscheidend dies für ihn gewesen ist, zeigt die Reihe der Abkürzungen - in der Regel nur ein Buchstabe -, die er für seine anonym erschienenen Beiträge verwendete; die Reihe lautet: O, Fr, L, E, G und A, was sich zu einem

Anagramm für das lateinische FLAGELLO zusammenfügt, ich geißele. Seine Polemik ist dabei auf ein Ziel ausgerichtet und lässt ein Muster durchscheinen, was die Wahl der Gegner betrifft: Es sind die meinungsbildenden Literaturkritiker und führenden Theoretiker der Dichtkunst, also Gottsched und die Schweizer (Bodmer, Breitinger, auch Wieland) sowie der Kopenhagener Kreis um Johann Andreas Cramer. Auf die Kritik an der zuletzt genannten Gruppe wird gleich näher einzugehen sein. Doch zuvor noch ein Wort zur Polemik. Lessing hat sie, daran ist zu erinnern, im Studium kennengelernt, wo die Kunst der Disputation geübt wurde. So wie die rhetorische Übung auf den Dialog hin angelegt ist, ist es in fingierter Form auch der Brief. Kritik wird vornehmlich im Gesprächston vorgebracht und auf das Publikum ausgerichtet. Das unterscheidet Lessings Polemik von der älteren, in seiner Zeit noch präsenten Schmähschrift, dem ganz auf den Gegner fixierten, eher monologisch gehaltenen Pasquill. Zwar findet sich auch bei Lessing eine personalisierte Kritik, sie tritt jedoch stets argumentierend auf. Das unterscheidet sie wiederum von der Satire, die eher auf komische Momente abzielt - die einer

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Polemik gleichwohl integriert werden können. Lessing hat diese Kombination virtuos gehandhabt, was sich bereits in seinem VADE MECVM für den Hrn. Sam. Gotth. Lange aus dem Jahr 1754 zeigt, das sich ebenfalls der Briefform bedient, wobei die persönliche Anrede spöttische Züge annimmt: «Ein Glas frisches Brunnenwasser, die Wallung ihres kochenden Geblüts ein wenig niederzuschlagen, wird Ihnen sehr dienlich sein, ehe wir zur ersten Unterabteilung schreiten. Noch eines Herr Pastor! - - Nun lassen sie uns anfangen.» (B III 107) Lessing erzeugt so eine dramatische Situation, um sich bei der simulierten Schulstunde in eine überlegene Position zu bringen. Indem er die nur angemaßtte Autorität des Gegners zerstört, führt er dem Leser vor, wie man durch eine kritische Prüfung der «Bettelge-

lehrsamkeit» (121) zum eigenen Urteil findet. Die Grundzüge des von Lessing inaugurierten Verfahrens sind nun an einem Beispiel genauer zu beschreiben. Stellvertretend für das lesende Publikum macht sich Lessing zum Anwalt einer Kritik, die das aufklärerische Unternehmen der Moralischen Wochenschriften mit den veränderten Ansprüchen an Stil und Form einer auf Wirkung bedachten Literatur konfrontiert. Es soll ein Exempel statuiert werden; als Beispiel dient Der Nordische Aufseher, ein 1758-60 in Kopenhagen und Leipzig verlegtes Wochenblatt: «Ich habe ihn», so Lessings Auftakt, «gelesen; ob ich mir es gleich sonst fast zum Gesetze gemacht habe, unsere wöchentliche Moralisten ungelesen zu lassen.» (B IV 597) Gezielt wird auf die ungeschriebenen Konventionen der Gattung. Lessing geht es um eine detailgenaue Kritik, die ausführliches Zitieren notwendig macht, wobei das Zitierte sich oft genug selbst entlarvt. Sobald sich der Kritiker zu einem ausführlichen, das einzelne Argument hin- und herwendenden Kommentar herablässt, wird dem Gegner jede Möglichkeit des Rückzugs genommen. Inkonsequenz oder Ungeschicklichkeit werden durch eine Polemik geahndet, die Lessing schnell den Ruf eines literarischen Inquisitors eingetragen hat. Diesem Ruf wird er auch in der langen Auseinandersetzung mit Johann Andreas Cramer und Johann Bernhard Basedow gerecht. Sie umfasst 15 Beiträge von seiner Seite, darunter den

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gesamten sechsten Teil der Briefe, die neueste Litteratur betreffend (1760). Bei dem Herausgeber und dem gegen ihn auftretenden Verteidiger des Nordischen Aufsehers vermeidet Lessing nicht die gelehrte Kontroverse, für die er bisweilen in die Fachsprache der Philosophie und Theologie wechselt, um seine unkonventionellen, nur den Alltagsverstand fordernden Pointen dann noch treffsicherer zu platzieren. Er besteht auf der Wiederholung bereits ausgebreiteter Argumente, die vom Gegner falsch verstanden oder verfälscht wurden, wodurch ein gewisser Leerlauf, zugleich aber auch ein überaus komischer Effekt entsteht. Die begriffsstutzigen Tugendlehrer der Nation erhalten von einem jugendlichen Rezensenten die nötigen Ratschläge für eine solide Gedankenführung und eine wiederholte Warnung vor heterodoxen Anwandlungen. Was die englischen Vorbilder der Gattung und ihre frühen Nachahmungen in Deutschland auszeichnete, hat sich in den 1750er Jahren erschöpft oder wird zunehmend vernachlässigt: die formale Gestaltung und die abwechslungsreiche Vermittlung der moralischen Lehrgehalte. Der Nordische Aufseher bildet da keine Ausnahme, und weil das so ist, zielt das berühmt gewordene Urteil Lessings auf einen verbreiteten Typus des Wochenschriftautors: «Sein Stil ist der schlechte Kanzelstil eines seichten Homileten, der nur deswegen solche Pnevmata herprediget, damit die Zuhörer, ehe sie ans Ende derselben kommen, den Anfang schon mögen vergessen haben |[...].» (614) Die Adressaten sind immerhin so bekannte Autoren wie Johann Andreas Cramer oder Klopstock, die paradoxerweise und das dürfte die Schmähung Lessings provoziert haben ihrem eigenen Unternehmen indirekt eine ähnliche Diagnose gestellt haben, ohne daraus Konsequenzen zu ziehen. Der Sittenlehrer dürfe sich nicht scheuen, so die Forderung des Aufsehers, bekannte und oft wiederholte Wahrheiten noch einmal zu sagen, ohne dabei originell erscheinen zu wollen. Eine Zensur der guten Gesinnung befindet über Stil und Inhalt. Lessings Reaktion erfolgt daher im Namen der missbrauchten Begriffe von Wahrheit und Geschmack: «Der schlechte Scribent [...], der

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III. Schriftsteller und Kritiker (1755-1759)

das Bekannteste für das Nützlichste hält, hofft vergebens, sich einzig durch seine gute Absicht lesenswürdig zu machen. Ist er nun vollends gar so schlecht, daß auch nicht einmal seine Einkleidungen der abgedroschensten Wahrheiten original und neu sind: was hat er denn noch, meine Neubegierde im geringsten zu reizen?»

(611) Oder, möchte

man

hinzufügen, überhaupt

zum Widerspruch anzuregen? Die zitierte Invektive ist ein Resümee der Stilfragen, bei denen sich Lessing nicht lange aufhält. Ihm geht es um Grundsätzliches, um eine Argumentation, die er

durch eine Spielart der theologischen Aufklärung gefährdet sieht, die weder dem überlieferten Glauben noch der Vernunft gerecht werden kann. Zielstrebig sucht er gleich zu Beginn den Nordischen Aufseher mit den Positionen «der neumodischen Rechtgläubigkeit» (603), der Neologie, zu identifizieren. Der Kritiker sucht damit zugleich eine höhere Ebene der Auseinandersetzung, er schafft Konfliktstoff und für sich selbst ein Thema der Kritik, das zu einem Lieblingsthema werden sollte. In den folgenden Jahrzehnten wird Lessing den Streit aus verschiedensten Anlässen wiederaufnehmen und variieren, am wirkungsvollsten mit der Publikation der Wolfenbütteler Fragmente. Der im 49. Literaturbrief genannte Anlass erscheint im Vergleich dazu eher unbedeutend. Es handelt sich um einen einzigen Satz, dem man zunächst kaum ansieht, weshalb er den Unmut des Rezensenten hervorruft: «Die Orthodoxie ist ein Gespötte worden; man begnügt sich mit einer lieblichen Quintessenz, die man aus dem Christentume gezogen hat, und weichet allem Verdachte der Freidenkerei aus, wenn man von der Religion überhaupt nur fein enthusiastisch zu schwatzen weiß. Behaupten Sie z. E. daß man ohne Religion kein rechtschaffner Mann sein könne; und man wird Sie von allen Glaubensartikeln denken und reden lassen, wie Sie immer wollen.» (602)

Lessing zielt auf die Vertauschung der Aufgaben und Kompetenzen, über deren Folgen sich die geistlichen Autoren des Nordischen Aufsehers offenbar nicht im Klaren sind. Die Theologie unterliegt einem fatalen Irrtum, wenn sie meint, verlorene Autorität auf dem Gebiet der Tugendlehre zurückgewinnen zu

II. Schriftsteller und Kritiker (1755-1759)

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können. Und das ausgerechnet durch die Berufung auf eine säkulare Ordnung von Verhaltensnormen. Ob unter Rechtschaffenheit die Beobachtung nur solcher Pflichten verstanden wird, die von der natürlichen Religion gelehrt werden, lässt der Aufseher bewusst offen. Er spielt mit der Äquivokation, um mit Argumenten, die vernunftkonform erscheinen, Pierre Bayles noch immer Anstoß erregenden Gedanken von der Tugendhaftigkeit eines Atheisten aus der Welt zu schaffen. Dass sich Lessing und mit ihm Herder, Winckelmann und Mendelssohn gegen die immer neu versuchte Einebnung kritischer Intentionen des Bayleschen Werkes wendeten, kann kaum verwundern. Was Lessing jedoch besonders provoziert, ist der Versuch des Autors, die profane Aufklärung mit ihren eigenen Mitteln zu

widerlegen,

indem

er von

Beweis,

Grundsatz

und

Schlussfolgerung spricht und sich damit auf Instrumentarien der logischen Analyse beruft, die eine entsprechende Handhabung verlangen. Und da besteht Lessing auf bewährten Trennungen. So weit hatte der Kritiker für notwendige Korrekturen gesorgt, als Johann Bernhard Basedow durch eine Verteidigungsschrift für den Nordischen Aufseher eine noch ausführlichere Duplik notwendig machte. Zunächst zeigt Lessing, welchem Lager der Gegner zugehört: «Ich weiß gar nicht, was Herr Basedow will. Für ihn schick«ve es sich am allerwenigsten, der Verfechter des Nordischen Aufsehers zu werden. Er hat Lobsprüche darin erhalten, die seine Unparteilichkeit sehr zweifelhaft machen müssen.» (712) Tatsächlich hat Cramer in seiner Wochenschrift Basedows Practische Philosophie für alle Stände (1758) sofort nach ihrem Erscheinen positiv besprochen und jene Sätze hervorgehoben, gegen die sich Lessings Kritik richtete: Ein Christ habe stärkere «Gründe, Pflichten für Pflichten zu halten», als ein bloßer Philosoph. Auf derselben Grundlage versucht Basedow in seiner Gegenschrift den von Lessing widerlegten Satz («ein Mann ohne Religion könne kein rechtschaffener Mann sein») erneut zu beweisen; vergeblich, wie ihm Les-

sing durch «eine ganz trockene Prüfung» (728) der auf äquivoken Begriffen aufgebauten Argumentation demonstriert.

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III. Schriftsteller und Kritiker (1755-1759)

Der 107. Literaturbrief bringt die Zusammenfassung und den Höhepunkt der Auseinandersetzung: «Da steht der Beweis; und er ist noch dazu schön gesagt. Nun will Herr Cramer weiter gehen. Aber indem überlegt er seinen Beweis noch einmal: «[...] Ja, nun habe ich zu wenig bewiesen. Vorhin zu viel, itzt zu wenig: wie werde ich es noch machen, daß ich mich mit meinem from-

men Paradoxo durchbringe?» - So denkt er, und schleicht sich stillschweigend aus dem Paradoxo in die angrenzende Wahrheit. Anstatt zu beweisen, daß ohne Religion keine Rechtschaffenheit sein könne, beweiset er, daß da, wo Religion ist, eher Rechtschaffenheit zu vermuten sei, als wo keine ist. Das, sage ich, beweiset er; versichert aber jenes bewiesen zu haben, und schließt. - [...] Wie gesagt: so muß es Herrn Cramern hier gegangen sein. Er versprach etwas zu beweisen, wobei wir alle die Ohren spitzten, und currente calamo bewies er etwas, was keines Beweises braucht.» (734f.)

Es bleibt dabei: In die Sprache der Wochenschriften hat der «Kanzelstil seichter Homileten» Einzug gehalten. Ihre Sittenlehre ist in Formeln erstarrt, die im Alltagsgebrauch gedankenlos mit religiöser Apologetik vermischt werden. Wenn die Kritik schon nichts gegen die von den Periodika verbreitete Langeweile ausrichten kann - hier zumindest kann sie eingreifen und die selbstgefällige Irrtumslosigkeit der Moralprediger auf ein Niveau rationaler Argumentation zurückholen, das die praktische Philosophie seit langem mit Erfolg verteidigte. Der Duktus der Argumentation bot Lessing die erwünschte und erwartete, wohl auch die gesuchte Angriffsfläche, da der Aufseher für ihn die schlechte Kompromissbereitschaft der Neologie verkörperte. Die Polemik stellt sich in den Dienst der Allgemeinheit, sie gibt sich mondän, ja intellektuell und zeigt, was ein sich als überlegen erweisendes Argument an Aufklärung leistet. Diese Aufgabe der Kritik hat Lessing an einigen Stellen der Literaturbriefe selbst reflektiert, besonders deutlich im 65., der eine seiner Abrechnungen mit Gottsched enthält. Vornehme Zurückhaltung oder Geschäftsinteressen zählen für den Kritiker nicht, wenn er - wie Lessing ausführt - «die Wahrheit für keine

Ill. Schriftsteller und Kritiker (1755-1759)

Schmeicheleien

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verleugnet, und überzeugt ist, daß die nach-

drückliche Warnung vor einem schlechten Buche ein Dienst ist, den man dem gemeinen Wesen leistet, und der daher einem cehrlichen Manne weit besser anstehet, als die knechtische Geschicklichkeit, Lob für Lob einzuhandeln». (663) Krieg und Patriotismus: Philotas

Im Mai 1758 kehrt Lessing nach Berlin zurück, wo er eine Wohnung in der Nachbarschaft von Carl Wilhelm Ramler (17251798) nimmt. Wie in früheren Jahren besucht er den «Montagsclub», in dem sein Verleger Voß, der Musiker Joachim Quantz, der Philosoph Johann Georg Sulzer sowie der Dichter und Offizier Ewald von Kleist verkehren. Das lange entbehrte Gespräch mit seinen Freunden Mendelssohn und Nicolai ist nicht mehr allein auf den Brief angewiesen. Man trifft sich in der «Baumannshöhle», einem Weinkeller, der seinen Namen dem dort wirtschaftenden Küfer verdankte, wie einem Brief Ramlers an Gleim vom April 1759 zu entnehmen ist, der auch über die Art der Verabredung Auskunft gibt: «Ich kan mich hier mit Herrn Lessing abrufen oder wenigstens absehen, wenn ich mit ihm Ihre Gesundheit bey Wittens trincken will. Wir hängen alsdann einen rothen Band aus, das ist das Signal zur Ausflucht in die Baumanns Höhle; denn Sie müssen wissen, der Kieper heifst Baumann!» (GBL 133) Von der gesellig-heiteren Atmosphäre, wie sie die Briefstelle mitteilt, dürfte in der Hauptstadt Preußens allerdings wenig zu spüren gewesen sein. Seit dem Kriegsausbruch hatte die Begeisterung für die militärischen Erfolge und die kompromisslose Machtpolitik Friedrichs II. einen Patriotismus erzeugt, dem sich Lessing wohl nur schwer entziehen konnte, auch wenn er in einem Brief an Nicolai später daran erinnert, dass er «im vorigen Kriege zu Leipzig für einen Erzpreußen, und in Berlin für einen Erzsachsen bin gehalten worden», obwohl er «keines von beiden» gewesen sei (B XII 78). Dennoch hat er, aus welchen Gründen auch immer, im August 1758 Gleims Preussische Kriegslieder herausgegeben und mit einer Vorrede versehen, in

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III. Schriftsteller und Kritiker (1755-1759)

der er sich jedoch nicht den chauvinistischen Parolen für den vaterländischen Krieg anschließt, sondern die Gedichte formal und allenfalls kulturpatriotisch würdigt. Das bleibt eine Episode, denn noch im Dezember desselben Jahres schreibt er an Gleim, dass ihm bei der Lektüre von dessen blutrünstiger Ode Der Grenadier an die Kriegsmuse nach dem Siege bey Zorndorf «vor Entsetzen die Haare zu Berge gestanden» hätten, und fährt fort: «Der Patriot überschreiet den Dichter zu sehr [...]! Vielleicht zwar ist auch der Patriot bei mir nicht ganz erstickt, obgleich das Lob eines eifrigen Patrioten, nach meiner Denkungsart, das allerletzte ist, wonach ich geizen würde; des Patrioten nemlich, der mich vergessen lehrt, daß ich ein Weltbürger sein sollte.» (B XV/1 305) Dem war (und ist) nichts hinzuzufügen; es sollte noch weitere Missverständnisse zwischen den befreundeten Autoren geben. Lessing hat eine neutrale, auf Vermittlung bedachte Haltung nicht nur persönlich einzunehmen versucht, sondern die Fragwürdigkeit eines fanatischen Patriotismus auch öffentlich in einem Drama zur Diskussion gestellt, das lange falsch verstanden wurde. Im März 1759 übersendet er das anonym erschienene Trauerspiel Philotas an Gleim, vermutlich um zu prüfen, ob die in dem Stück verschlüsselte Botschaft verstanden wurde. Gleim hat die Prosafassung sogleich in Verse umgearbeitet und dabei auch in die Handlung eingegriffen, um den offenbar schwer verständlichen Schluss eindeutig auf den kriegerischen Heroismus (Tod für das Vaterland) auszurichten. Als Lessing diese Propaganda-Version seines Textes erhält, schreibt er mit unverkennbarer Ironie einen Dank an Gleim «für ihren Philotas», ohne seine Autorschaft preiszugeben: «Sie haben ihn zu dem ihrigen gemacht, und der ungenannte prosaische Verfasser kann sich wenig oder nichts [!] davon zueignen.» (B XV/r321f.) Das Testergebnis war eindeutig. Die Zeitstimmung lief es offenbar nicht zu, in eine nüchterne Diskussion über Heldentum und Versöhnung, bedingungslose Opferbereitschaft und verantwortliche Politik einzutreten; der Patriotismus versperrte die alternativen Denkwege, zu denen Lessings Stück einlädt.

III. Schriftsteller und Kritiker (1755-1759)

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Dieses wurde auch in der Lessing-Forschung lange als Kriegsdrama mit einem jugendlichen Helden gelesen, dessen exaltiertes Handeln nicht leicht nachzuvollziehen war, Identifikation also kaum ermöglichte und Mitleiden erschwerte. Auch ließ sich das Stück nicht einfach der Gattung des heroischen Trauerspiels zuordnen, da die parodistischen, ja komischen Züge nicht zu übersehen waren. Der Opfertod der Titelfigur legte eine heroische Deutung jedoch ganz selbstverständlich nahe; nicht ohne Grund gehörte Lessings Philotas 1941 zu den Themen für den deutschen Abituraufsatz. Erst in den 1960er Jahren ist erkannt worden, dass es in dem Stück nicht um die Verherrlichung der heroischen Tat eines Einzelnen geht, sondern um die durch den Krieg hervorgebrachte Verblendung und Inhumanität im Umgang miteinander. Das Stück lässt sich so als eine Parabel betrachten, als ein Denkspiel zur «Simulation von Konfliktverläufen» (Ter-Nedden 2007, $. 331). Zu diesem Zweck hat Lessing eine Versuchsanordnung geschaffen, in der die handelnden Personen vor die Wahl gestellt werden, einen selbstzerstörerischen Konflikt fortzuführen oder das Angebot einer Versöhnung anzunehmen: Philotas, ein jun-

ger Prinz, ist bei Kampfhandlungen in die Gefangenschaft von Aridäus, dem König des Nachbarstaates, geraten; umgekehrt befindet sich dessen Sohn Polytimet in der Hand des Vaters von Philotas. Nun könnte ein Austausch der beiden Thronfolger stattfinden und zugleich - im Blick auf deren Zukunft und das Wohl der Völker - ein dauerhafter Friede geschlossen werden, wie Aridäus sogleich vorschlägt. Der erste Satz bei seinem ersten Auftritt lautet: «Kriege, die Könige unter sich zu führen gezwungen werden, sind keine persönlichen Feindschaften. - Laß dich umarmen, Prinz!» (BIV ı5) Doch Philotas zeigt sich nicht bereit, auf das Angebot kluger Diplomatie einzugehen; die ihm gezeigte Empathie lehnt er schroff ab. Um seinem Vater «den Sieg noch in die Hände spielen» zu können, verschafft er sich eine Waffe und sucht den Freitod, den er als heldenhafte Kampfhandlung imaginiert: «indem er sich selbst betrachtet - Ha! Es muß ein trefflicher, ein großer Anblick sein: ein Jüngling gestreckt auf den Boden, das Schwert in der Brust!» (28) Die wie

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IV. Breslau und letzte Berliner Jahre (1760-1766)

für ein Militärgemälde entworfene Szene macht die egoistischen und narzisstischen Antriebe sichtbar, die hinter der Tat stecken. Indem Philotas sein Schicksal zur Projektionsfläche kollektiver Vorstellungen von Heroismus und Patriotismus macht, erweist

er sich als unfähig, den Konflikt richtig einzuschätzen. Seine Weigerung, die Freundschaft und die Vergebung von Aridäus anzunehmen - sein Vater hatte den Krieg grundlos ausgelöst -, erinnert an die Selbstgerechtigkeit der Sara Sampson gegenüber ihrer Konkurrentin. Am Ende macht das sinnlose Selbstopfer keine der Parteien zum Sieger. Den letzten Satz spricht Aridäus. Er fasst resigniert zusammen, was das von der Kriegsideologie bestimmte Geschehen lehrt: «Glaubt ihr Menschen, daß man es nicht satt wird?» (35) Lessings Kommentar zu den Ereignissen im Siebenjährigen Krieg dürfte kaum anders gelautet haben. Um so unerklärlicher ist es, dass er Ende Oktober 1760 - nach der Besetzung Berlins durch österreichische und russische Truppen —- ohne Ankündigung die Stadt verlässt und in Breslau die Stelle eines Gouvernementssekretärs bei der preußischen Armee übernimmt. Es ist ausgerechnet der Krieg, der ihm ein sicheres Einkommen verschafft. Doch was hat ihn so fluchtartig aus Berlin vertrieben? Wir wissen es nicht.

IV. Breslau und letzte Berliner Jahre

(1760-1766)

Im November 1760 trifft Lessing in Breslau ein, um bei dem Gouverneur Friedrich Bogislaw von Tauentzien die Stelle eines Sekretärs zu übernehmen. Über Ewald von Kleist, der ein Jahr zuvor im Krieg gefallen war, hatte er den hochdekorierten Offizier und Festungskommandanten kennengelernt, den er geschätzt haben muss; «meinen alten ehrlichen Tauentzien» nennt er ihn in einem Brief an den Bruder Karl (B XII 93). Für geraume Zeit führt Lessing ein Leben mit geregelter Zerstreuung,

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dreigeteilt zwischen

Amtsgeschäften

Studien und Bücherkäufen

(vormittags),

(nachmittags)

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gelehrten

sowie Theater und

Spielgesellschaft (am Abend). Die Forschung ist immer wieder der Versuchung erlegen, die Heterogenität der Entwürfe und Skizzen, die in dieser Zeit entstehen, mit der Lebensführung des

Autors in Verbindung zu bringen. Im Folgenden werden keine weiteren Spekulationen angeschlossen, auch seine im Umgang mit den Offizieren entwickelte «Spielsucht», von der sein Bruder Karl berichtet, sei nur am Rande erwähnt, da es außer eini-

gen mündlichen Berichten kaum Zeugnisse zum Leben Lessings in Breslau gibt. In den ersten Briefen, die er an Mendelssohn und Ramler schreibt - die Korrespondenz bleibt über die Jahre auffallend gering -, bereut er die offenbar spontan getroffene Entscheidung; auch macht sich seine Neigung zur Depression bemerkbar. Das ändert sich erst 1763 mit dem bevorstehenden Friedensschluss und einer Dienstreise in Begleitung Tauentziens, bei der er seine Freunde trifft, an sein früheres Leben anknüpfen kann und Gespräche über das Laokoon-Projekt führt. Dieser von Juli bis Oktober dauernde Aufenthalt in Potsdam und Berlin stand in einem denkbar scharfen Kontrast zu den Ereignissen im Jahr zuvor. Ab August 1762 hat Lessing an der von Tauentzien durchgeführten Belagerung der Festung Schweidnitz teilgenommen und dabei eine der kriegsentscheidenden militärischen Aktionen aus nächster Nähe erlebt. Nach langen Artilleriekämpfen und ergebnislosen Stellungsänderungen hatte er im Auftrag Tauentziens über die zermürbenden Routinen des Kriegsalltags zu berichten, etwa über den Leiter des Minenkommandos: «Daß aber bei dem Major Le Febvre der Kopf manchmal in die Runde gehet und er bey den geringsten Zufällen ehrlichen Leuten lieber allerley zu imputiren als sich zu fassen und dem Übel abzuhelfen sucht [...].» (Kessel/ Lindner 2007, 5.697) In dieser festgefahrenen Situation kam den Preußen der Zufall zu Hilfe; die Explosion eines Pulvermagazins führte am rı. Oktober zur Kapitulation der österreichischen Besatzer. Der Bericht an den König verzeichnete auf

der Seite des Belagerungskorps 751 Gefallene, 351 Verstorbene, 1905 Verwundete und 416 Deserteure. Das war die Bilanz eines

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Feldzuges, über den Lessing im Detail informiert war, auch was

die beteiligten Offiziere betrifft, unter denen ein gewisser Werner am 1. November Ordre wegen des Winterquartiers erhielt (ebd., S.716). Zweifellos bilden die Erlebnisse im Feld und in

der Festung Breslau den Hintergrund für die Komödie Minna von Barnhelm, von der es im Titel heißt, sie sei 1763 «verfertiget» worden, was nicht zutrifft. Lessing erwähnt das Stück erstmals 1764 in einem Brief an Ramler, erschienen ist es 1767, im Jahr der Uraufführung in Hamburg. Die Jahresangabe sollte an das Ende des Siebenjährigen Krieges und bestimmte Zeitereignisse erinnern, von denen noch zu sprechen ist. Zurück in Breslau hat Lessing zunächst am Laokoon gearbeitet, wozu er um die Jahreswende 1763/64 auch Johann Joachim Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums las. Da ihn die Stelle als Gouvernementssekretär nicht auf Dauer befriedigen konnte, sollte die kunsttheoretische Abhandlung bei der Stellensuche behilflich sein. Im Mai 1765 kehrt Lessing nach Berlin zurück, wo er den ersten Teil seiner Abhandlung über die Grenzen der Mahlerey und Poesie zum Abschluss bringt. Nach fünf Jahren, in denen Lessing keinen Text zum Druck gebracht hat, erscheint der Laokoon im Frühjahr 1766 im Verlag von C. F. Voß. Die wenigen in Breslau entstandenen religionskritischen Schriften und Entwürfe hat er nicht zur Publikation vorgesehen; aus gutem Grund. Studien zur Geschichte der christlichen Religion

In drei Fragmenten, die einen engen Bezug zueinander aufweisen, zeigt Lessing mit einer gewissen Lust an der Disputierkunst - in der man jeden Satz behaupten und zugleich bestrei-

ten kann -, wie gefährlich es für die christliche Theologie sein kann, mit historischen und philologischen Beweisverfahren die Wahrheit der Religion verteidigen zu wollen. Als Motto zu den drei Abhandlungen kann man einen Satz aus der Schrift Über die Elpistiker herausgreifen: «Mutmaßungen und Wahrscheinlichkeiten erfüllen das Gehirn des Litterators; wo soll der Platz

darin für die Wahrheit herkommen?»

(B V/r 417) Die gesamte

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Studie über die Anhänger der Hoffnung dient weniger dem Nachweis der Zugehörigkeit der Elpistiker zu einer der spätantiken Philosophenschulen als vielmehr der Gleichordnung des frühen Christentums mit diesen - als einer Sekte unter anderen. In dem Fragment Über die Entstehung der geoffenbarten Religion heifßst es dann noch provozierender, dass alle positiven Religionen gleich wahr und gleich falsch seien: «Die beste geoffenbarte oder positive Religion ist die, welche die wenigsten conventionellen Zusätze zur natürlichen Religion enthält, die guten Wirkungen der natürlichen Religion am wenigsten einschränkt.» (424f.) Die Lösung der Ringparabel scheint hier vorformuliert zu sein, allerdings nicht im Rahmen eines Religionsvergleichs oder eines Toleranzgesprächs. Nimmt man einen weiteren Paragraphen des Fragments hinzu, löst sich die scheinbare Parallele ganz auf: «Die Unentbehrlichkeit einer positiven Religion, vermöge welcher die natürliche Religion in jedem Staate nach dessen natürlicher und zufälliger Beschaffenheit modificiert wird, nenne ich die innere Wahrheit derselben, und diese innere Wahrheit derselben ist bei einer so groß als bei der andern.» Die Forschung hat darauf aufmerksam gemacht, dass auf der Seite des Wahren hier sowohl die Universalität der natürlichen Religion als auch die Unentbehrlichkeit der tradierten Religion steht, das heißt ihre die Gesellschaft stabilisierende Funktion. Auf der Seite des Falschen stehen dagegen die «conventionellen», also kontingenten Inhalte. Vielleicht ist die Schrift deshalb Fragment geblieben, weil Lessing hier noch nicht die Antwort auf die Kritik von Reimarus geben konnte, die er später im Fragmentenstreit entwickeln sollte. Im Anschluss an die Frage nach der Entstehung der Offenbarungsreligion untersucht Lessing in einem dritten Text die Art und Weise der Fortpflanzung und Ausbreitung nun speziell der christlichen Religion; so lautet der vollständige Titel des Fragments, mit dem er auf einen Hauptbeweis der apologetischen Schriften zielt: «Unter den Gründen für die Wahrheit der christlichen Religion ist derjenige keiner von den geringsten, der von der Art und Weise ihrer Fortpflanzung und Ausbreitung hergenommen wird. Hierin soll sich die unmittelbare Hand Gottes

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zeigen. Ich leugne nichts; aber um mich davon zu überzeugen, darf ich doch wohl den natürlichen Lauf der Dinge etwas genauer betrachten, um zu sehen, wie weit es durch diesen allein

mit einer Religion hätte gedeihen können, deren anderweits erwiesene Richtigkeit ich so lange bei Seite setze.» (426) Ganz beiseite lässt er die Deutung der Weissagungen jedoch nicht, wenn beiläufig von den «erdichtete[n] Prophezeiungen» (431) die Rede ist, mit der die ersten Christen ihre «doctrina arcani» (430) zu erhärten suchten.

Doch im Mittelpunkt steht das Wunder der Ausbreitung des Christentums, das von Lessing mit einer drastischen Commonsense-Prüfung entzaubert wird. Dass so viele Sklaven zu den römischen Christen fanden, erklärt er mit den üppigen Feiertagen; Verfolgung und Martyrium seien nichts anderes als von der Obrigkeit gebotene Mafsnahmen, um das Verbot nächtlicher Zusammenkünfte durchzusetzen. Lessing wörtlich: «Ja, ich setze frei hinzu: sie [sc. die Christen] verdienten bestraft zu werden |[...]. Wozu also das Zusammenlaufen? wozu die nächtlichen Versammlungen ganzer Scharen von allerlei Alter und Geschlecht? Diese mußten notwendig einer guten Policei verdächtig sein.» (438) Das Wozu erklärt er mit dem Hinweis auf wollüstige «Bacchanalien» (439); danach folgt eine Beweisführung unter Berufung auf den Alltagsverstand: «Die ersten Dutzend Anhänger sich zu schaffen, recht blinde, gehorsame, enthusiastische Anhänger, ist für den neuen Religionsstifter das Schwerste. Hat er aber nur erst die, so geht das Werk weit besser von Statten. [...] Besonders die Weiberchen! Es ist zu bekannt, wie vortrefflich sie sich alle Häupter neuerer Religionen und Sekten, gleich dem Stifter der ersten - - - im Paradiese, zu Nutze zu machen gewußst haben.» (441) Das ist der natürliche Lauf der Dinge, erklärt «durch ganz natürliche Mittel» (445). Lessing hat diese, seine eigenen Fragmente im Stil von Reimarus nicht veröffentlicht.

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Laokoon

Lessings kunsttheoretische Hauptschrift ist unvollendet geblieben. Der Fragmentcharakter hat die Wirkung des Laokoon jedoch kaum beeinträchtigt, der Text gehört zu den meistzitierten Abhandlungen im Feld der Ästhetik. Die im Laokoon entwickelten Überlegungen stehen am Beginn einer Theoriebildung, in der die Wirkung von Kunst nicht mehr auf ein Konzept der Nachahmung der Natur zurückgeführt wird, sondern auf die Vorstellungstätigkeit des Rezipienten. Die epochale Bedeutung der Schrift ist bereits von den Zeitgenossen erkannt worden, wofür Goethe in seinen autobiographischen Aufzeichnungen eine treffende Formulierung gefunden hat: «Man muß Jüngling sein, um sich zu vergegenwärtigen, welche Wirkung Lessings Laokoon auf uns ausübte, indem dieses Werk uns aus der Region eines kümmerlichen Anschauens in die freien Gefilde des

Gedankens hinriß. Das so lange mißverstandene: ut pictura poesis, war auf einmal beseitigt, der Unterschied der bildenden und Redekünste klar, die Gipfel beider erschienen nun getrennt [...].» Goethes Rückblick verrät etwas über die Begeisterung, die das Erscheinen des Buches ausgelöst haben muss. Die Abstraktionskraft des Autors und der systematische Anspruch seiner Untersuchung werden hierfür als Gründe genannt - die Forschung des 20. Jahrhunderts sollte diese unter dem Stichwort Semiotik zusammenfassen -, weniger die Originalität der Ausführungen. Die von Lessing behandelten Probleme waren bekannt, die von ihm gewählten Leitkonzepte und die zur Lösung vorgeschlagenen Grenzbestimmungen sind in den Jahrzehnten zuvor bereits diskutiert worden. Doch diese Ergebnisse hat Lessing nicht einfach übernommen; er hat sie reorganisiert und auf die neue, durch Johann Joachim Winckelmann eingeführte Sprache und Methode der Kunstbeschreibung bezogen. Lessing hat sich erst nach einer Reihe von Entwürfen dazu entschlossen, seine Abhandlung mit dem Titel Laokoon zu versehen. In einem fortgeschrittenen Stadium der Arbeit ist ihm bewusst geworden, dass er das Interesse seiner Leser am ehesten durch die Infragestellung jener Deutung erregen konnte, die

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Winckelmann der Skulptur gegeben hatte. Was in Lessings Laokoon einer kritischen Prüfung unterzogen wird, sind die Gründe und die «Allgemeinheit der Regel», die Winckelmann für seine berühmte, auf die griechische Skulptur bezogene Formel von der edlen Einfalt und stillen Größe einführt. In Zweifel gezogen wird die Deutung der Figurengruppe im Sinne der stoischen Morallehre: Lessing konfrontiert sie mit einer alternativen wirkungsästhetischen Auslegung. Er verfolgt dabei das Ziel, die Gestaltungsmöglichkeiten der Literatur im Vergleich zu denen der bildenden Kunst aufzuwerten. Hier gewinnt die Schrift ihren Gegenwartsbezug, da gleich im ersten Kapitel der «mißbilligende Seitenblick» moniert wird, den Winckelmann in seinen Gedancken über die Nachahmung der griechischen Werke (1755) auf Vergils poetische Laokoon-Darstellung wirft. Aus der Differenz von Sprach- und Bildzeichen versucht Lessing die Unterschiedenheit der Künste abzuleiten und deren systematische Trennung zu begründen, worin die Zeitgenossen sofort die große Bedeutung des Laokoon-Essays erkannten. Die Argumentation Imitatiobegriff,

nimmt ihren Ausgang von dem umstrittenen um dann zwei kategoriale Unterscheidungen

einzuführen: Wenn es wahr ist, daß die Malerei zu ihren Nachahmungen ganz andere Mittel, oder Zeichen gebrauchet, als die Poesie; jene nemlich Figuren und Farben in dem Raume, diese aber artikulierte Töne in der Zeit; wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten haben müssen: So können neben einander geordnete Zeichen, auch nur Gegenstände, die neben einander, oder deren Teile neben einander existieren, auf einander folgende Zeichen aber, auch nur Gegenstände ausdrücken, die auf einander, oder deren Teile auf einander folgen. Gegenstände, die neben einander oder deren Teile neben einander existieren, heißen Körper. Folglich sind Körper mit ihren sichtbaren Eigenschaften, die eigentlichen Gegenstände der Malerei. Gegenstände, die auf einander, oder deren Teile auf einander folgen, heißen überhaupt Handlungen. Folglich sind Handlungen der eigentliche Gegenstand der Poesie. (B V/2 116)

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Raum und Zeit, Körper im simultanen Ensemble (Malerei) und

sukzessive Handlungsverläufe (Dichtung): mit diesen elementaren Begriffspaaren werden den Künsten ihre Gegenstände zugeordnet. Dem entsprechen die je verschiedenen «Mittel, oder Zeichen», die «ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten haben müssen»: eben die unserer Erfahrungswelt nahen Media der Malerei im Unterschied zu den auf Konvention beruhenden sprachlichen Verständigungsmitteln der Poesie. In der Forschung ist darauf hingewiesen worden, dass die so einprägsamen Gegenüberstellungen von Raum/Körper versus Zeit/ Handlung einerseits; jene von natürlichen versus willkürlichen Zeichen andererseits epistemisch nicht gleichrangig sind, was den Inhalt der Rubriken betrifft. Die erste Differenz lässt sich rein deskriptiv erfassen, während bei der zweiten eine Wertung hinzutritt, da uns die natürlichen Zeichen, wie eigens betont wird, zu einer unmittelbareren Illusionsbildung verhelfen. Die-

sen Nachteil kann die Poesie indes leicht ausgleichen, verfügt sie doch, wie es bereits in der Vorrede heißt, über Sprache, also «die ganze weite Sphäre» (14) von realen und imaginierten Gegenständen, und dazu über die Möglichkeit der Abstraktion. Nach diesen lehrbuchgerechten Erläuterungen beeilt sich Lessing hinzuzufügen, dass er «diese trockene Schlufßkette» bereits an der Praxis geprüft habe. Sein Kronzeuge ist Homer, welcher nichts anderes schildere «als fortschreitende Handlungen, und alle Körper, alle einzelne Dinge malet er nur durch ihren Anteil an diesen Handlungen». (117) Die von Lessing angeführten Bilder der homerischen Schildbeschreibung und deren Deutung - von den Zeitgenossen bewunderte Zeugnisse altertumswissenschaftlicher Gelehrtheit - können die ihnen zugedachte Belegfunktion für die Sukzessionsregel allerdings nicht erfüllen, gleichwohl aber prägnante Momente darstellen, die Schlüsselsituationen der Haupthandlung gleichnishaft spiegeln. Doch auch die Malerei kann Handlungen nachahmen, sofern sie in «ihren coexistierenden Compositionen», wie es in Kapitel XVI heißt, jenen Augenblick trifft, der in der Lage ist, «das Vorhergehende und Folgende» eines Geschehens begreiflich zu machen. Dieser Moment markiert die Grenze zwischen zwei

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entgegengesetzten Verläufen und ist daher in gewisser Weise zeitenthoben. Zweifellos hat Lessing diesem die kreative und imaginative Tätigkeit bestimmenden Moment höchste Bedeutung beigemessen, er gehört zu den Zentralbegriffen seiner Kunst- und Literaturtheorie. Auch dieses Konzept hat er bei anderen Autoren vorgefunden, hinzuweisen ist etwa auf den Earl of Shaftesbury und erneut Moses Mendelssohn; aber er hat für die wirklichkeitsüberschreitende Kraft einer solchen expressiven Konstellation eine Formel gefunden, die sich vom Zeitgespräch löst und auf das Vokabular der idealistischen Ästhetik vorausweist: «so ist es gewiß, daß jener einzige Augenblick [...] nicht fruchtbar genug gewählet werden kann. Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können.» (32)

Überblickt man die Argumentation des sechzehnten Kapitels, dann zeigt sich, dass von der Kritik an zeitgenössischen Konzepten im Namen der Illusion bis zu den Deutungen der IliasVerse eine mehrstufige Argumentation durchlaufen wird: Lessing übernimmt bestimmte Prämissen der Imitatio-Lehren und reformuliert diese unter formalen Gesichtspunkten in einem zeichentheoretischen Schema. Die Medienästhetik bildet jedoch keineswegs den Abschluss seiner Überlegungen, die sich immer wieder auf die nur andeutungsweisen Schilderungen, die Leerstellen richten; ihre Ausfüllung durch den Leser oder Betrachter erfordert einen kommunikativen Akt, der das Werk erst als Ganzes realisiert und zur Wirkung kommen lässt. Die Frage nach dem inneren Bezugspunkt der Einbildungskraft oder, anders formuliert, die Suche nach dem Wesen der Imagination bildet das unsichtbare Zentrum von Lessings Kunsttheorie und Poetik.

Der ein Beobachtungsverhältnis schaffende Künstler muss jenen «einzigen Augenblick» der ästhetischen Wirkung treffen und dabei die «höchste Staffel» des Affekts vermeiden, um der Imagination ein freies Spiel zu ermöglichen: «Wenn Laokoon also seufzet, so kann ihn die Einbildungskraft schreien hören [-.].» (32) Der Betrachter soll sich von dem Vorgefundenen lö-

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sen, latente Motive erschließen und eigene Vorstellungen erzeugen, wobei seiner produktiven Freiheit allerdings Grenzen gesetzt sind, da er dem ins Bild gebrachten Mythos keine neue, selbsterdachte Fassung geben kann; der fragliche Augenblick ist nämlich dann am «prägnantesten» gewählt, wenn aus ihm, wie bereits erläutert, auch «das Vorhergehende und Folgende am begreiflichsten wird». (117) Lessings Analyse deckt auf, wie komplex der Wahrnehmungsvorgang des Rezipienten ist. Und sie macht zugleich darauf aufmerksam, dass dort, wo es scheinbar nur um die Vollkommenheit der Naturnachahmung und eine der Täuschung dienende Gegenstandsrepräsentation geht, de facto immer auch eine Vergegenwärtigung von ganz anderer Art ins Werk gesetzt wird, selbst dann, wenn sie gar nicht das Ziel einer artikulierten künstlerischen Absicht gewesen sein sollte. Für die Hervorbringung einer ästhetischen Illusion ist

also nicht die Beherrschung des künstlerischen Materials entscheidend, sondern die beim Betrachter ausgelöste Wirkung, seine subjektive Reaktion. Das lässt sich an der Schilderung körperlicher Schönheit in der Poesie besonders eindrucksvoll zeigen. Denn hier geht es nicht um die Vergegenwärtigung eines ein-

nehmenden Körpers in der Weise, wie der bildende Künstler etwas zur Anschauung bringt (und damit entsprechende Regungen hervorruft), sondern um die Umkehrung dieses Vorgangs: «Wer glaubt nicht die schönste vollkommenste Gestalt zu sehen, sobald er mit dem Gefühle sympathisieret, welches nur eine solche Gestalt erregen kann?» (155) Wir nehmen die Schönheit nur imaginativ wahr, vergleichbar einem «Nachbild» (170), das sich mit den durch die literarische Schilderung erregten, das heißt sprachlich vermittelten Empfindungen einstellt. Daneben gibt es noch ein zweites Verfahren, um Schönheit zu evozieren, nämlich durch die Verwandlung in einen «Reiz», der diese in «Bewegung» versetzt, kurz «ein transitorisches Schönes, das wir wiederholt zu sehen wünschen. Es kömmt und geht |[...].» (155) Damit grenzt sich Lessing einerseits gegenüber Winckelmann und seiner Formel von der stillen Größe ab, andererseits nähert er sich den dynamischen Bestimmungen der Schönheit,

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wie sie in der englischen Philosophie der Zeit zu finden waren: Schönheit wird nicht mehr als Eigenschaft des Objekts, sondern als subjektive Empfindung aufgefasst, womit die Wende zur

modernen Ästhetik markiert ist. Poesie und Malerei stimmen allerdings darin überein, dass sie beim Rezipienten sinnliche Vorstellungen zu erwecken versuchen, mehr noch: Augenblicke einer vollständigen ästhetischen Illusion herstellen können. Insofern will auch der Dichter «malen», das heißt «die Ideen, die er in uns erwecket, so lebhaft machen, daß wir [...] uns der Mittel, die er dazu anwendet, seiner Worte bewußt zu sein aufhören». (124) Für die willkürlichen Zeichen der Dichtkunst eröffnet sich dabei ein weit größerer Raum der Gestaltung, eine vom Widerstand des Materials entlastete Freiheit der Darstellung, die selbst das für die sinnliche Wahrnehmung Unsichtbare einschließt: «Bei dem Dichter ist ein Gewand kein Gewand; es verdeckt nichts; unsere Einbildungskraft sieht überall hindurch.» (58f.) Die Erzeugung von Illusion ist für die Dichtung jedoch keine nur der Unterhaltung dienende Angelegenheit oder gar Selbstzweck. An der eben zitierten Stelle, an der Lessing die Vorstellungskraft unseres inneren Auges beschreibt, hält er zugleich fest, dass es keineswegs gleichgültig sei, durch welchen Gegenstand wir getäuscht werden: «Erfordert es einerlei Fähigkeiten, ist es einerlei Verdienst, bringt es einerlei Ehre, jenes oder diesen nachzuahmen?» (58) Eine rhetorische Frage, die sich auf die innere Beziehung von Ethik und Ästhetik richtet. Im Laokoon hat Lessing auch nach den Kriterien gefragt, mit denen der Vorrang einer Kunst ethisch

zu begründen ist. Entscheidend ist der durch die Formgebung erzielte Ausdruck, wie man an der von Winckelmann beschrie-

benen Skulptur sehen kann: Denn man reiße dem Laokoon in Gedanken nur den Mund auf, und urteile. Man lasse ihn schreien, und sehe. Es war eine Bildung, die

Mitleid einflößte, weil sie Schönheit und Schmerz zugleich zeigte; nun ist es eine häßliche, eine abscheuliche Bildung geworden, von der man gern sein Gesicht verwendet, weil der Anblick des Schmerzes Unlust erregt, ohne daß die Schönheit des leidenden Gegenstandes diese Unlust in das süße Gefühl des Mitleids verwandeln kann. (29)

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Die stoische Unempfindlichkeit ist für Lessing dagegen «untheatralisch», die Bewunderung des heroisch ertragenen Schmerzes nur «ein kalter Affekt» (zr). Deutlicher kann der Widerspruch

gegen die Feier der edlen Einfalt und stillen Größe nicht formuliert werden. Das Urteil trifft dabei nicht das Marmorbild, sondern ein Missverständnis, das durch die moderne klassizistische

Auslegung erzeugt wird. In der Wirkungsästhetik, genauer: in der auf das Mitleid gegründeten Ethik hat Lessing das Argument ausgeführt, das er in dem 1756/57 geführten Briefwechsel über das Trauerspiel nur im Ansatz entwickelt hat. Für Lessing diente die Kunstwahrnehmung der moralischen Selbstverständigung: Die Schmerzen Laokoons und die Klage Philoktets machen beide zu «menschlichen Helden», an deren Schicksal wir Anteil nehmen, ohne das Werk vorschnell in einen SchuldStrafe-Konnex einzubinden und damit die unmittelbare Wirkung aufzuheben - das ist «das Höchste, was die Weisheit hervorbringen, und die Kunst nachahmen kann». (45) Das Mitleid sollte auch in Lessings ernster Komödie über das

Soldatenglück zu einem die Handlung bestimmenden Moment werden. Lessing hat das Stück nicht mehr in Berlin abgeschlossen, sondern nach Hamburg mitgenommen. Im Dezember 1766 ist er dort mit den «Entrepreneurs» eines neuen Theaters einig geworden, für ein stattliches Jahresgehalt als Dramaturg zu arbeiten. Der Aufbruch folgt, wie bei Lessing üblich, im April 1767 in großer Eile und vermutlich ohne Bedauern über den Abschied aus Berlin. In einem Brief an Nicolai hat er später einen Vergleich zwischen den Zensurpraktiken in verschiedenen Ländern gezogen und dabei ein vernichtendes Urteil über das tolerante Selbstverständnis und die intellektuelle Atmosphäre der Stadt abgegeben: Wien mag sein wie es will, der deutschen Literatur verspreche ich doch immer noch mehr Glück, als in Eurem französierten Berlin. Wenn der Phädon [sc. das 1767 erschienene Werk Mendelssohns über die Unsterblichkeit der Seele] in Wien confisciert ist: so muß es bloß geschehen sein, weil er in Berlin gedruckt worden, und man sich nicht einbilden können, daß man in Berlin für die Unsterblich-

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keit der Seele schreibe. Sonst sagen Sie mir von Ihrer Berlinischen Freiheit zu denken und zu schreiben ja nichts. Sie reduciert sich einzig und allein auf die Freiheit, gegen die Religion so viel Sottisen zu Markte zu bringen, als man will. [...] Lassen Sie es aber doch einmal einen in Berlin versuchen, über andere Dinge so frei zu schreiben, als Sonnenfels [Prof. für politische Wissenschaften] in Wien geschrieben hat; lassen Sie es ihn versuchen, dem vornehmen Hofpöbel so die Wahrheit zu sagen, als dieser sie ihm gesagt hat; lassen Sie einen in Berlin auftreten, der für die Rechte der Untertanen, der gegen Aussaugung und Despotismus seine Stimme erheben wollte, wie es itzt sogar in Frankreich und Dänemark geschieht: und Sie werden bald die Erfahrung haben, welches Land bis auf den heutigen Tag das sklavischste Land von Europa ist. (B XV 1 622 f.)

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Drei Jahre hat Lessing in Hamburg gelebt. Er hat Freundschaften geschlossen und dabei seine spätere Frau kennengelernt, er ist seiner Leidenschaft für das Glücksspiel nachgegangen und hat, natürlich, am Theaterleben teilgenommen. Es ist sogar denkbar, dass er sich niederlassen wollte, da er sein mitgebrachtes Vermögen in einen Hamburger Verlag investierte. Eine glückliche Zeit? Erwähnt werden muss zunächst das ambitionierte Projekt des Nationaltheaters, das Lessing nach Hamburg bringt. Das Vorhaben scheitert nach kurzer Zeit, da es sich um die Initiative einiger Bürger, nicht aber der gesamten Bürgerschaft handelte. Die reichen Patrizier dachten nicht daran, das Schauspielhaus ausreichend zu finanzieren. Zu dem Bankrott haben sicher auch die Intrigen unter den Schauspielern und die Unstimmigkeiten in der Theaterleitung beigetragen, über die

Lessing in einem Brief an den Bruder Karl berichtet: «Mit unserm Theater (das im Vertrauen!) gehen eine Menge Dinge vor, die mir nicht anstehn. Es ist Uneinigkeit unter den Entrepreneurs, und keiner weiß, wer Koch oder Kellner ist.» (B XI/ı 467)

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Am Ende zieht er ein ernüchterndes Fazit: «Über den gutherzigen Einfall, den Deutschen ein Nationaltheater zu verschaffen, da wir Deutsche noch keine Nation sind!» Worauf er noch zur Erläuterung anfügt: «Ich rede nicht von der politischen Verfassung, sondern bloß von dem sittlichen Charakter. Fast sollte man sagen, dieser sei: keinen eigenen haben zu wollen.» (B VI 684) Das könnte darauf hindeuten, dass Lessing die Reformideen des Gründers und Direktors des Theaters, Johann Friedrich Löwen (1727-1771), als weltfremd ablehnte und darin eine Ursache für den Fehlschlag des Unternehmens erkannte. Löwen hatte in einer Programmschrift zur Veränderung des Hamburgischen Theaters (1766) eine Nationalbühne gefordert, die - noch ganz im Sinne Gottscheds - der «Sittenlehre» dienen und die «reichsten Schätze einer geläuterten Moral» (B VI 907) vermitteln sollte, doch das mit einem Spielplan, der vom französischen Klassizismus beherrscht war. Die Zuschauer blieben aus, was unter anderem auch auf den am Musiktheater geschulten Geschmack des stadtbürgerlichen Publikums zurückzuführen sein dürfte; eine Oper nämlich war in Hamburg bereits wesentlich früher gegründet worden, eine kulturelle Einrichtung mit dauerhaftem Erfolg. Dieser klare Blick für Effizienz fehlte Lessing bei dem eigenen Wirtschaftsunternehmen, dem erwähnten Buchverlag, den er zusammen mit dem Druckereibesitzer Johann Christoph Bode

gründete. Trotz der Warnungen seines Freundes Nicolai - selbst ein erfahrener Verleger - hat Lessing bei der Planung so gut wie alles falsch gemacht, von der Wahl des Papiers bis zum Buchformat. Das ökonomische Risiko musste er mit dem gesamten Erlös aus der Versteigerung seiner zuvor in Breslau gekauften Bibliothek bezahlen. Die verlegerische Praxis kannte Lessing bis dahin nur aus der Sicht des stets an Geldmangel leidenden Honorarempfängers, der sich zudem noch durch den herrschenden Raubdruck geschädigt sah. Mit dem eigenen Buchhandel sollte der Gewinn gerechter verteilt werden, hier lag ein Anreiz zur Schaffung eigener Vertriebswege, deren Sicherung in den zahlreichen Territorien des Reiches jedoch kaum zu leisten war. Auch Lessings Hamburgische Dramaturgie hatte unter einem

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Raubdruck zu leiden, «durch den man» - so lautet das von Les-

sing zitierte Argument - «diese Blätter gemeinnütziger machen wollen» (690), ohne den Autor am Profit teilhaben zu lassen.

Um die Bedeutung der Hamburger Jahre für das Werk Lessings zu erschließen, lohnt eine Beschreibung des Reisegepäcks: Bei der Ankunft hat er sein Lustspiel Minna von Barnhelm dabei, das im September 1767 nach einigen Querelen mit dem Senat in Hamburg - der preußische Gesandte hatte ein Verbot erwirkt - uraufgeführt wird. Bei seiner Abreise nimmt er eine Handschrift mit, die ihm die Kinder des verstorbenen Gelehrten

Hermann Samuel Reimarus überlassen haben. Diese wird er stückweise als Fragmente eines Ungenannten veröffentlichen, um die Anonymität und damit das Ansehen des Verfassers zu wahren und seine Hamburger Freunde zu schützen, was sich als richtig erweisen sollte, da die Publikation der radikal bibelkritischen Schrift einen der größten Skandale des Jahrhunderts auslöste. Hans Blumenberg hat die von Reimarus verfasste Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes zu Recht als das «Hauptwerk» der deutschen Aufklärung bezeichnet. Doch das in Hamburg entstandene Manuskript gehört bereits in die Wolfenbütteler

Zeit und damit, anders als die

Minna, in einen anderen biographischen Zusammenhang. Eine Verbindung bleibt - neben den privaten Freundschaften - dennoch bestehen: Lessings prominentester Gegner im Streit um den Fragmentisten wird der Hamburger Hauptpastor Johan Melchior Goeze. Minna von Barnhelm

Das noch unter dem Eindruck der Kriegsereignisse geschriebene Stück ist Theater für Zeitgenossen. Viele der beiläufigen Hinweise auf militärische Operationen oder die Krisen der Nachkriegszeit bleiben dem heutigen Leser oder Zuschauer unverständlich. Während sich bestimmte zeitgeschichtliche Bezüge rasch erläutern lassen - etwa die friderizianische Besatzungspolitik in Sachsen, die Rolle der Freikorps in der preußischen Armee oder die desolate Versorgung invalider Soldaten -, be-

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darf es bei der von Paul Werner erwähnten «Affaire bei den Katzenhäusern» (B VI 26) oder der hierauf bezogenen Bemerkung Justs, «als wir von Nürnberg weggiengen» (49), eines detaillierten Stellenkommentars, um die Anspielungen zu erschließen. Doch die Einbettung in das Zeitgeschehen hat das Drama nicht veralten lassen, es wird - als einzige deutsche Komödie aus der Zeit vor 1800 - noch immer aufgeführt; in jeder Theatersaison gibt es neue Inszenierungen, die sich nicht allein dem KlassikerBonus verdanken. Das hat mit den kunstvollen, technisch perfekt eingerichteten Dialogen, der niveauvollen Komik, dem Konflikt der Hauptpersonen und, vor allem, mit einer neuen Frauenfigur zu tun:

Minna unterscheidet sich wohltuend von den «dramatischen Tugendpuppen» (Karl Eibl) der älteren Typenkomödie, das ihr eigene Selbstbewusstsein und die Natürlichkeit ihres Auftretens formen einen nicht unproblematischen Charakter, der noch heute Interesse weckt. Verständlich ist, dass sich die Zeitgenossen auch irritiert über das nonchalante Auftreten der Titelfigur zeigten, die ihren Verlobten im «Negligee» empfängt, was Franciska mit dem Satz kommentiert: «O, Sie kennen Sich, mein Fräulein.» (41) Für einen der ersten Rezensenten ist das «Fräulein von Barnhelm» zwar «recht so, wie sie sich für den Tellheim schickt», zugleich aber eine «Amazone, wenn wir sie so nennen dürfen, tugendhaft, aber mehr, um es zu seyn, als um es

zu scheinen»; jedenfalls weniger eindeutig, als es die Konventionen der Gattung verlangten, weshalb man dem Stück bei seinem Erscheinen gleich «einen Originalcharakter» (Berlinische Privilegirte Zeitung, 9. April 1767) zuschrieb. Einen Grund für die ungebrochene Wirkung wird man in dieser Uneindeutigkeit der Charaktere zu suchen haben, die bereits den ersten Lesern aufgefallen ist. Minna erscheint anders als sie ist, was mit ihrer moralischen Haltung zu tun haben dürfte. Die Komödie baut ihre Spannung aus den egozentrischen und zugleich mitfühlenden Zügen der Hauptfiguren auf; es geht menschlich zu, auch, was den aus früheren Dramen bekannten Übergang von Gut zu Böse betrifft. Bevor dieser Konflikt genauer beschrieben wird, noch ein

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Wort zu der in der Forschung so stark betonten Wirklichkeitsnähe des Geschehens. In einer neueren Studie (Birgfeld 2012) ist der Realismus der Darstellung bestritten worden, wohl aufgrund übertriebener Erwartungen, was die Beschreibung von Schlachten oder brennenden Städten betrifft. Nur in Hinsicht auf den Ort und die genaue Datierung der Handlung wird der Gegenwartsbezug nicht in Frage gestellt: Minna trifft am 22. August im «König von Spanien» ein, einem Gasthof, der für die Zeitgenossen leicht in Berlin zu lokalisieren war. Es handelt sich um den Tag, an dem von Friedrich II. eine Wechselkommission eingesetzt wurde, die dafür sorgen sollte, dass zahlungsunfähig gewordene Kaufleute eine Geschäftsgrundlage behielten. Der Grund für die zahlreichen Bankrotterklärungen war die Münzentwertung, über die der König seine Kriegsausgaben zum Teil finanziert hatte. Um die immensen Kosten zu decken,

waren zudem Kontributionen notwendig, die Friedrich von seinen Offizieren in den besetzten Ländern eintreiben lief. Auf seinen Befehl hin durfte man sich bei den Zahlungen nicht mit der niedrigsten Summe begnügen. Hieraus erklärt sich die prekäre Lage Tellheims, gegen den der Vorwurf der Bestechlichkeit erhoben wurde, da er den sächsischen Ständen weit entgegengekommen und zudem mit einem Wechselgeschäft behilflich gewesen sei. Erst im vierten Akt erklärt Tellheim seiner Verlobten die Gründe, aus denen er angeklagt wurde und sich in seiner Ehre gekränkt sieht: «Die Stände gaben mir ihren Wechsel, und diesen wollte ich, bei Zeichnung des Friedens, unter die zu ratihabierende Schulden eintragen lassen. |[...] Man zog spöttisch das Maul, als ich versicherte, die Valute bar hergegeben zu haben. Man erklärte ihn für eine Bestechung, für das Gratial der Stände, weil ich sobald mit ihnen auf die niedrigste Summe einig geworden war, mit der ich mich nur im äußersten Notfall zu begnügen, Vollmacht hatte.» (83) Es handelt sich um eine schwerwiegende Anklage, die im Falle einer Verurteilung ein hohes Strafmaß nach sich gezogen hätte. Nun wird erkennbar, warum sich Tellheim nicht länger an sein Eheversprechen gebunden fühlen darf. Dass diese Erklärung so spät erfolgt, ist nicht als eine nachgeholte Exposition

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und damit als Schwäche im dramaturgischen Aufbau zu verstehen, sondern Teil der analytisch verfahrenden Handlung, die allmählich enthüllt, was sich bereits vor dem Beginn des Spiels vollzogen hat: Das Rehabilitationsschreiben des Königs ist ausgefertigt und abgesandt, der Prozess ist zugunsten von Tellheim entschieden und das den sächsischen Ständen geliehene Geld befindet sich auf dem Weg nach Berlin. Doch zuvor lernt der Zuschauer einen abgedankten, ins Unglück geratenen Major kennen, der sich mit seiner Situation nicht abzufinden weiß und Bedauern erregt: «Nach allem, was wir von ihm hören, muß es ihm übel gehn», äußert Franciska gegenüber dem Fräulein und fügt hinzu: «Das jammert mich.» (39) Den Ausdruck von Mitleid nimmt Minna kurz vor ihrem ersten Treffen mit dem Major auf, um ihn ins Gegenteil zu wenden: «Mich jammert er nicht. Unglück ist auch gut. Vielleicht, daß ihm der Himmel nahm, um ihm in mir alles wieder zu geben!» (41)

alles

Was nun folgt, ist ein bis an den Rand des Tragischen reichendes Wechselspiel zwischen Minnas Eigenliebe und Tellheims Stolz, wobei jede Seite ihre Menschlichkeit verleugnet: Der Major lehnt das ihm gezeigte Mitgefühl und jede Hilfe ab, worin Minna nur ein übertriebenes Ehrgefühl und «unverzeihliche[n] Stolz» erkennt, weshalb sie ihn mit ihrer Verstellung «ein wenig zu martern» (68) gedenkt. Hier ist auf die Wortwahl zu achten, da das Fräulein an keiner Stelle davon spricht, dass sie Tellheim eine Lektion erteilen oder von einem falschen Ehrbegriff abbringen wolle, was dem Intrigenschema der Typenkomödie entspräche (diese zum Klischee gewordene Deutung lebt in genderorientierten Interpretationen des Stücks fort). Stattdessen will sie ihn etwas «martern», um an seinen eigentlichen Charakter zu appellieren und zugleich seinen Starrsinn zu bestrafen. Ihre Künste haben Erfolg, der Geliebte ändert sein Verhalten und zwar, wie er selbst erkennt, in einer Bewegung des Mitleids, welches «die Nebel zerstreuet, und alle Zugänge meiner Seele den Eindrücken der Zärtlichkeit wiederum öffnet». (95) Eine Änderung der charakterlichen Eigenschaften findet jedoch nicht statt, das Schauspiel dient keiner einfachen moraldidaktischen Unterweisung.

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Erst vor kurzem ist bemerkt worden, dass Lessing bei der Individualisierung der Hauptfiguren nicht nur die Annahmen seiner Mitleidsdramaturgie umsetzt, sondern ganz gezielt auch eine Durchbrechung der älteren Komödienmuster beabsichtigt. In der gleichzeitig konzipierten Hamburgischen Dramaturgie heißt es über die «Collision der Charaktere» im Typenlustspiel: «Diese kann allerdings nicht anders, als durch Nachgebung und Veränderung des einen Teiles dieser Charaktere, geendet werden; und ein Stück, das wenig oder nichts mehr hat als sie, nähert sich nicht sowohl seinem Ziele, sondern schläft vielmehr nach und nach ein.» (B VI 670) In Lessings Minna von Barn-

helm ist das Gegenteil der Fall: Die Handlung wird bis zuletzt durch die rechtliche Auseinandersetzung Tellheims mit der Hofstaatskasse vorangetrieben, durch die - hier findet die Umkehrung statt - auch eine «Kollision der Protagonisten» ermöglicht wird (Kornbacher-Meyer 2003, $.296). Die inneren Konflikte

lösen sich folglich nicht durch das königliche Handschreiben, sondern durch die wiedergefundene Humanität der Akteure, vor allem in dem Moment, wo Tellheim seinen «ganze[n] Ehr-

geiz [!]J» darin erkennt, künftig «ein ruhiger und zufriedener Mensch zu sein» (100), statt Ruhm im Militärdienst zu suchen. Hamburgische Dramaturgie

Eine Ankündigung seiner dramaturgischen Untersuchungen veröffentlicht Lessing im April 1767. Er verspricht wöchentlich erscheinende Lieferungen, die das Hamburger Theaterunternehmen in seiner Neuartigkeit beschreiben, aber auch kritisieren und damit stabilisieren sollen. Er nimmt sich vor, für alle

gespielten

Stücke

ein «kritisches

Register»

anzulegen

«und

jeden Schritt» zu begleiten, «den die Kunst, sowohl des Dichters, als des Schauspielers, hier tun wird». (185) Ein Jahr später

erscheint die letzte Lieferung (Nr. r01-104), in der Lessing diesen Satz noch einmal wiederholt, um selbstkritisch Rückschau zu halten. Die Beurteilung der Schauspielerleistungen musste er aus naheliegenden Gründen bald aufgeben und auch die erste Hälfte des Versprechens ließ sich nur zum Teil einlösen. Statt-

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dessen habe er seine Betrachtungen zur Technik und den Formgesetzen des Dramas vertieft, um eine eigene Poetik zu entwickeln: «Ich war also genötiget, anstatt der Schritte, welche die Kunst des dramatischen Dichters hier wirklich könnte getan

haben, mich bei denen zu verweilen, die sie vorläufig tun müßte, um sodann mit eins ihre Bahn mit desto schnellern und größern zu durchlaufen. Es waren die Schritte, welche ein Irrender zurückgehen muß, um wieder auf den rechten Weg zu gelangen, und sein Ziel gerade in das Auge zu bekommen.» (685) Gefordert wird eine Rückkehr zu den Ursprüngen des europäischen Theaters, vor allem zu den «Meisterstücken der griechischen Bühne», aus denen Aristoteles seine noch immer maßgebliche Poetik abstrahiert habe, die Lessing «für ein eben so unfehlbares Werk» hält, «als die Elemente des Euklides nur immer sind». (686) Nur durch das Studium dieser großen Vorbilder und die Aneignung der antiken Quellen zur Theorie der Kunst und Rhetorik ist eine Befreiung von den Konventionen des Zeitgeschmacks möglich. Erst dann wird man, wie Lessing im 19. Stück (Juli 1767) schreibt, in die «Natur der Sache» eindringen. Was die Wirkungsbedingungen des Dramas angeht, wird dabei auf Verallgemeinerungen gezielt. Ein Dichter hat durchaus Regeln zu beachten, etwa auf der Ebene der Figurenzeichnung und des dramatischen Geschehens: Auch wenn ein und dieselbe Handlung mit unterschiedlichen Charakteren verbunden werden kann, so besteht «das Lehrreiche nicht in den bloßen Factis, sondern in der Erkenntnis», dass «diese Charak-

tere unter diesen Umständen solche Facta hervor zu bringen pflegen, und hervor bringen müssen». (346) Beobachtungen zu einzelnen Bühnenwerken oder Inszenierungen verdichten sich zu Geltung beanspruchenden Lehrsätzen oder eröffnen überraschend weite Perspektiven. Lessing hat aus diesen Resultaten jedoch kein «dramatisches System» geformt, weshalb er sich auch nicht verpflichtet sieht, «alle die Schwierigkeiten aufzulösen, die ich mache». (655) Die Forschung hat diese einschränkende Bemerkung dankbar aufgegriffen, um die konzeptionellen Schwächen der Dramaturgie, ihren essayistischen Charakter und die bisweilen sprunghafte Argumentation

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zu erklären. Dennoch lassen sich größere thematische Einheiten erkennen, die dem Werk eine Struktur geben: Am Beginn stehen Empfehlungen zur Schauspielkunst (körperliche Beredsamkeit) sowie Überlegungen zur musikalischen Komposition, gefolgt von Untersuchungen zum Handlungszusammenhang und zur Wirkung der Tragödie; am Ende werden, wie bereits angedeutet, Probleme der Charakterschilderung erörtert. Da sich die Vielfalt der behandelten Gegenstände und der Detailreichtum kaum angemessen darstellen lassen, beschränken sich die meisten Forschungsbeiträge auf die Stücke 74 bis 83, in denen Lessing seine Mitleidsästhetik in der Auseinandersetzung mit Aristoteles reformuliert. Obwohl sich diese Passage mit guten Gründen als Kern der Abhandlung betrachten lässt - sie wird auch hier im Zentrum stehen -, verdeckt die Debatte um

die richtige Aristoteles-Deutung die nicht weniger wichtige Kritik an der französischen doctrine classigque, dem Dramenwerk von Corneille, Racine und vor allem Voltaire, der an der Hamburger Bühne mit zehn Stücken und über vierzig Aufführungen vertreten war. Er «wüßte keinen Schriftsteller in der Welt», schreibt Lessing im 70. Stück (Januar 1768), an dem er seine in der Dramaturgie angewandte Methode besser erläutern könne: Ein (Theater-)Kritiker «suche sich nur ersten jemanden, mit

dem er streiten kann: so kömmt er nach und nach in die Materie, und das übrige findet sich. Hierzu habe ich mir in diesem Werke, ich bekenne es aufrichtig, nun einmal die französischen Scribenten vornehmlich erwählet, und unter diesen besonders den Hrn. von Voltaire.» (535) Der Streit dreht sich um die be-

reits im Briefwechsel mit Mendelssohn und Nicolai behandelten Fragen nach dem moralischen Nihilismus im Blick auf unsere Fähigkeit, Mitleid zu empfinden, sowie nach dem zulässigen Maß von Bewunderung: «der Dichter ist äußerst zu tadeln», heißt es zu einem Drama von Corneille, «der aus Begierde etwas Glänzendes und Starkes zu sagen, uns das menschliche Herz so verkennen läfst, als ob seine Grundneigungen auf das Böse, als auf das Böse, gehen könnten». Um das Wirkungspotential einer

dramatischen Handlung auszuschöpfen, muss sich der Autor bei der Formung der tragischen Charaktere selbst Grenzen set-

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zen: «Es ist wahr, alles atmet bei ihm [sc. Corneille] Heroismus; aber auch das, was keines fähig sein sollte, und wirklich auch

keines fähig ist: das Laster.» (33 1 f.) Diese aus einer Aufführung des Trauerspiels Rodogune gewonnenen Einsichten - die Besprechung verteilt sich über mehrere Lieferungen - werden in dem Aristoteles gewidmeten Exkurs systematisiert. Mit philologischen Vorstudien zu dieser Neuinterpretation hat Lessing bereits im Anschluss an den Briefwechsel über das Trauerspiel begonnen. Am 2. April 1757 schreibt er an Nicolai, dass er nach der Lektüre des Originaltextes der aristotelischen Poetik, in die er auch die Rhetorik und Ethik einbezogen habe, nicht verstehen könne, weshalb die neueren Kommentatoren den bei Aristoteles mit dem Mitleid verbundenen Begriff Pößocg

(phobos) mit «Schrecken» (terreur, crainte) wiedergegeben hätten, wo doch «Furcht» die angemessene Übersetzung sei. Diese stelle «keine unmittelbare Wirkung des Trauerspiels» dar, sondern «weiter nichts als eine reflectierte Idee» (B XV ı 179); diese abgekürzte, nur für die briefliche Kommunikation gedachte Formulierung wird zu einem Ausgangspunkt für die berühmte Aristoteles-Auslegung in der Hamburgischen Dramaturgie. Hier muss Lessing weiter ausholen, um zu erklären, inwiefern

die auf unser Reflexionsvermögen bezogene Furcht zu den Voraussetzungen der Mitleidsdramaturgie gehört. «Zur Sache» - mit dieser an die Aufmerksamkeit der Leser gerichteten Forderung leitet er seine theoretischen Betrachtungen mit dem 74. Stück (Januar 1768) ein. Am Beginn steht zwar der Rückblick auf ein zuvor besprochenes Drama von Christian Felix Weiße, doch nur, um die an dessen Charakterdarstellung geübte Kritik zusammenzufassen und die Unterscheidung zwischen zwei elementarästhetischen Begriffen einzuführen. Wenn «unter Schrecken das Erstaunen über unbegreifliche Missetaten» zu verstehen ist, dann hat Weißes Richard der Dritte seinen fragwürdigen Zweck erfüllt, den eines vorbildlichen Trauerspiels jedoch verfehlt: «Das Wort, welches Aristoteles braucht, heißt Furcht: Mitleid und Furcht, sagt er, soll die Tragödie erregen; nicht, Mitleid und Schrecken.» Die Furcht wird als ein auf uns selbst bezogener Affekt verstanden, ausgelöst durch die

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in der Tragödie geschilderten Unglücksfälle, in die sich der Zuschauer hineinversetzen und als künftiges Opfer imaginieren soll: «Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid», wodurch dieses - eine wichtige Ergänzung der bereits entwickelten Theorie - «gleichsam zur Reife» gebracht wird. Das gelingt umso leichter, je mehr wir uns mit den handelnden Personen identifizieren können. Mit Aristoteles fordert Lessing daher die Einführung mittlerer Charaktere, während er die moralischen Ungeheuer Corneilles oder Weißes ablehnt, die in ihrem Handeln alle tradierten Normvorstellungen negieren. (B VI 552-559) Zu ergänzen blieb noch der dritte Grundbegriff der aristotelischen Tragödiendefinition, die katharsis, also die Reinigung der tragischen Leidenschaften, die das Wirkungsziel der Tragödie bildet. Damit war zugleich der Übergang von der sinnlichen Affekterregung zur ethisch-humanitären Läuterung zu vollziehen, vom gefühlten Mitleid zur normativen Handlungsorientierung. Wie ließ sich die moralische Besserung im Rahmen der aristotelischen Poetik begründen? Nur schwer, folgt man der gräzistischen Forschung. Die Frage ist jedoch nicht, ob Lessing die aristotelischen Begriffe falsch verstanden hat, sondern wie er sie in seine Theorie der Mitleidsempfindung integriert. Der entscheidende Abschnitt aus dem sechsten Kapitel der Poetik von Aristoteles lautet in der neuen Übersetzung von Arbogast Schmitt: «Die Tragödie ist also Nachahmung einer bedeutenden Handlung, die vollständig ist und eine gewisse Größe hat. In kunstgemäß geformter Sprache setzt sie die einzelnen Medien in ihren Teilen je für sich ein, lässt die Handelnden selbst auftreten und stellt nicht in Form des Berichts geschehene Handlungen dar. Durch Mitleid und Furcht bewirkt sie eine Reinigung eben dieser Gefühle.» Den letzten Satz erläutert Lessing mit der Bemerkung, dass die Tragödie Mitleid und Furcht erregen soll, nur «um diese und dergleichen Leidenschaften, nicht aber alle Leidenschaften ohne Unterschied zu reinigen». (569) Umstritten war (und ist), wie der im griechischen Text enthal-

tene Genitiv ausgelegt werden kann. Lessing entscheidet sich für den genitivus obiectivus, womit seine Deutung eine moralische Konnotation

erhält, die in der neueren

Aristoteles-For-

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schung auf Ablehnung gestoßen ist. Sie befindet sich jedoch das ist nicht genügend beachtet worden - in Übereinstimmung mit zahlreichen seit der Renaissance ausgebildeten KatharsisModellen, in denen nicht nur der medizinische Aspekt einer Affektentladung, sondern zugleich die moralische Reinigung, das heifst ein rationalistisch-ethischer Ansatz betont wird (vgl. Huss 2009). Ganz ähnlich findet sich bei Lessing eine Verbindung zwischen dem elementaren, durch die dramatische Handlung hervorgebrachten Gefühl des Mitleidens und dem ethischnormativen Mitleid. Damit zwischen unserem präreflexiven Vermögen und der praktischen Vernunft keine logische Differenz entsteht, führt Lessing den aristotelischen Begriff phöbos ein und interpretiert diesen als eine Empfindung der Furcht, durch die gleichzeitig unsere Reflexionsbereitschaft geschult wird. Zweifellos steht diese Konzeption den christlich-ethischen Tugendvorstellungen näher als dem psychophysischen Prozess der aristotelischen Katharsis (was man, die historischen Zusammenhänge vernachlässigend, Lessing vorgeworfen hat). Doch ist hier die Frage nach den Quellen noch längst nicht geklärt;

zu vermuten ist, dass Lessings Studium der Kirchenväter ebenso viel zur Entwicklung seiner Mitleidstheorie beigetragen hat wie die zeitgenössische Diskussion über Rousseau und die schottische moral-sense-Lehre (vgl. Westerkamp 2009). Unmittelbar nach Beendigung der Dramaturgie schreibt Lessing an seinen Bruder Karl Gotthelf, der sich Rat als Theaterautor einholen wollte; über dessen erste dramatische Versuche urteilt er mit deutlichen Worten und in großer Offenheit: «Ich habe Dir es schon oft mündlich gesagt, woran ich glaube, daß es Dir fehlt. Du hast zu wenig Philosophie, und arbeitest viel zu leichtsinnig.» (B XV/1 616) Auf Anhieb lassen sich hier die Vorgaben erkennen, denen Lessing selbst gefolgt ist. Es ist das Ineinandergreifen von literarischer Gestaltung und philosophisch-ästhetischer Reflexion, die sein Werk zu einem der anspruchvollsten des Jahrhunderts gemacht haben. Für seine literarischen Entwürfe verwendet er tradierte Form- und Denkmuster neben neuen Konzepten, zu seinem Weltwissen gehören die antike Tragödie und die patristische Theologie ebenso wie

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die aktuellen künstlerischen Debatten und die Problemstellungen der Philosophie, insbesondere jene, die auf Leibniz zurückgehen. Die Beschäftigung mit dessen Schriften bildet eine Konstante in seinem Werk. So wird es dem Tragödiendichter zur Aufgabe gemacht, in der eigenen Arbeit dem «ewigen unendlichen Zusammenhange aller Dinge» nachzugehen, über den das 79. Stück der Dramaturgie weiter ausführt: «In diesem ist Weisheit und Güte, was uns in den wenigen Gliedern, die der Dichter herausnimmt, blindes Geschick und Grausamkeit scheinet. Aus

diesen wenigen Gliedern sollte er ein Ganzes machen», um - bei strenger Beachtung der kausalen Zusammenhänge in unserer unvollkommenen Welt - einen «Schattenriß von dem Ganzen des ewigen Schöpfers» zu erzeugen. (577) Selten ist der Zusammenhang von Tragödie und Theodizee so eingehend durchdacht worden: Der Dichter soll gerade nicht den Versuch unternehmen, die Vollkommenheit der göttlichen Schöpfung abzubilden, sondern in einem Ausschnitt das umfassende Ganze sichtbar werden lassen. Die «unbegreiflichen Wege der Vorsicht» dürfen in diesen «kleinen Zirkel» nicht mit eingeflochten werden, der ganz aus sich selbst begreifbar werden soll. Das tragische Schicksal der handelnden Personen muss sich aus deren moralischer Fehlbarkeit auch dann erklären, wenn der tragische Held ganz ohne Schuld unterzugehen scheint. Nur so gewinnen wir Einsicht in die unmerklichen Übergänge von Gut zu Böse, von Glück zu Unglück, und stärken dadurch unsere Disposition zum Mitleiden. Theodizee heifgt für Lessing wie auch sonst: «mehr Varietät bei noch verläßlicher Ordnung» (Niklas Luhmann).

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Mit dem Beginn der zweiten (und letzten) Spielzeit des Hamburger Nationaltheaters im Frühjahr 1768 hat Lessing die Arbeit an seiner Dramaturgie beendet. In den folgenden Wochen veröffentlicht er eine Reihe von polemischen Abhandlungen,

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die er im Laufe des Jahres zu einem Buch zusammenfasst, das im Verlag von Friedrich Nicolai erscheint. Den ersten Teil seiner Briefe, antiquarischen Inhalts - ein zweiter folgt 1769 - versteht er, wie er an Nicolai schreibt, als eine «Kriegserklärung gegen Hrn. Klotz». (B XV/ır 526) Gemeint ist der klassische Philologe und preußische Geheimrat Christian Adolph Klotz (1738-1771), Professor in Halle, der im selben Jahr eine Schrift Über den Nutzen und Gebrauch der alten geschnittenen Steine - die antike Gemmenkunst - veröffentlicht hatte, in der er den Verfasser des Laokoon eines «unverzeihlichen Fehlers» zu überführen versuchte. Die Reaktion war außerordentlich scharf, sie zielte darauf ab, den wissenschaftlichen Ruf des Gegners zu zerstören. In Klotz sah Lessing einen akademischen Karrieristen und halbgelehrten Vielschreiber, an dem er ein Exempel statuieren wollte, was ihm aufgrund seiner altertumswissenschaftlichen Kenntnisse und der journalistischen Erfahrung, vor allem aber durch die virtuos gehandhabte Polemik auch gelungen ist. Die Auseinandersetzung erreichte eine große Öffentlichkeit, trotz des scheinbar unbedeutenden Gegenstandes, um den gestritten wurde. Doch unser heutiger Eindruck täuscht, im 18. Jahrhundert bildeten die antiquarischen Studien ein Modefach, in dem man seine Kompetenz in Fragen der antiken Kunst beweisen und sich für Stellen an der Universität oder an Akademien empfehlen konnte - und Lessing war, wieder einmal, auf der Suche nach einer solchen Anstellung. Daher ließ er ein Jahr später bei Voß in Berlin noch eine weitere, sachlich gehaltene und mit Illustrationen versehene Untersuchung Wie die Alten den Tod gebildet folgen, in der er nachwies, dass die antiken Künstler den Tod nicht als Skelett abgebildet haben: dem christlichen Schreckbild wird der Tod als Bruder des Schlafs gegenübergestellt. Der antiquarische Streit dürfte mit dazu beigetragen haben, dass Lessing im Oktober 1769 das Angebot erhält, die mit Renommee versehene Bibliothekarsstelle in Wolfenbüttel und damit die Leitung einer europaweit bekannten Büchersammlung zu übernehmen. Er reist nach Braunschweig, wo er bei mehreren Audienzen mit dem Erbprinzen und späteren Herzog

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Carl Wilhelm Ferdinand zusammentrifft, einem gebildeten und aufgeklärten Regenten, der die Bedeutung und die schriftstellerische Leistung Lessings einzuschätzen weiß. «Schade, daß der Erbprinz Prinz ist, und in diese Classe nicht so recht pafßst», schreibt Lessing nach diesen Begegnungen an Johann Arnold Ebert, der das Angebot vermittelt hatte. (B XV/2 9) Im Dezember wird die Berufung Lessings nach Wolfenbüttel in den Zeitungen

gemeldet, kurz bevor die Nachricht eintrifft, dass der Hamburger Kaufmann Engelbert König auf einer Geschäftsreise in Venedig verstorben sei. Lessing kannte dessen gastfreundliches Haus am Neuen Wall und war Pate des jüngsten Sohnes der Familie. Zwei Jahre später verlobt er sich mit der Witwe Eva König, doch sollten noch weitere fünf Jahre vergehen, bevor das Paar am 8. Oktober 1776 in der Nähe von Hamburg heiraten kann. In der Zwischenzeit musste Eva die Geschäfte ihres Mannes regeln und den Verkauf von zwei Manufakturen in Wien vorbereiten. Die Trennung dauert über drei Jahre, erst im März 1775 sehen sich die Verlobten in Wien wieder. Inzwischen hält man brieflich Kontakt, die Korrespondenz gehört zu den großen Zeugnissen der Briefkultur des 18. Jahrhunderts, eine «ganz aus dem wirklichen Leben genommene Unterhaltung», wie Hegel über den zuerst 1789 separat gedruckten Briefwechsel urteilte. Allerdings kam es auch zu längeren Unterbrechun-

gen im Briefverkehr, die auf Lessings mangelnde Verlässlichkeit zurückzuführen sind, verursacht durch depressive Zustände (mehrfach ist von «Hypochondrie» die Rede) und wohl auch durch die zeitweilige Annäherung an eine andere Frau, Ernestine Reiske, die Witwe eines mit Lessing befreundeten Philologen. In Wien ist Lessing mit großen Ehren empfangen worden. Seine Stücke stehen auf dem Spielplan des Burgtheaters und die Kaiserin Maria Theresia sowie Joseph II. bitten ihn zu einer Audienz: «Nie ist noch ein deutscher Gelehrter hier mit solcher Distinction aufgenommen worden», berichtet der Freiherr von Gebler im Juli 1775 an Nicolai und fährt fort: «Als Emilia Galotti in seiner Gegenwart vorgestellt wurde, erschallte der laute Ruff: Viva Lessing!» (GBL 332) Fast gleichzeitig trifft Julius Leo-

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pold von Braunschweig, der jüngste Sohn des Herzogs, in Wien ein. Lessing erhält den Auftrag, den Prinzen auf einer Bildungsreise nach Italien zu begleiten, wodurch sich die Heirat mit Eva König noch einmal verzögert. Die Reise führt durch die Lombardei und Venetien nach Florenz und an die toskanische Küste, wo Lessing in Livorno mit jüdischen Gelehrten zusammentrifft und die berühmte Synagoge besucht. In Rom und Neapel hält sich die Gruppe länger auf, der Vatikan und große Kunstsammlungen werden besichtigt, man trifft mit Kardinälen zusammen und nimmt an einer Audienz bei Pius VI. teil. Obwohl Lessing eine Art Tagebuch führt, wissen wir nur wenig über seine Reiseeindrücke. Erst im Januar 1776 kann er von Wien über Prag nach Dresden zurückkehren und im August des Jahres die Hochzeit mit Eva König vorbereiten, nachdem ihm

der Erbprinz eine lange versprochene Gehaltserhöhung und ein saniertes Wohnhaus zugesagt hat. Für den Bibliothekar und seine Familie - Eva bringt vier Kinder in die Ehe ein - scheint sich ein lange erwartetes Glück zu erfüllen. Bei der Verwaltung der Bibliothek wurden Lessing kaum Vorschriften gemacht, man liefß ihm genügend Freiraum, den eigenen Interessen nachzugehen. Die herzogliche Familie legte offenbar Wert auf Eigeninitiative und einen souveränen Umgang mit den Beständen, erwartet wurden Entdeckungen, deren Veröffentlichung das Ansehen der Bibliothek (und des Herzogtums) erhöhen sollte. Zu diesem Zweck gründete Lessing 1773 eine eigene Zeitschrift Zur Geschichte und Litteratur - Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel, für die er Zensurfreiheit erhielt. Mit der neuen Aufgabe zeigt er sich zunächst zufrieden, die Stelle sei so, «als ob sie von je her für mich gemacht wäre», wie er an den Vater schreibt: «Eigentliche Amtsgeschäfte habe ich dabei keine andere, als die ich mir selbst machen will. Ich darf mich rühmen, daß der Erbprinz mehr darauf gesehen, daß ich die Bibliothek, als daß die Bibliothek mich nutzen soll.» (BXJ/2 32) Zugleich kann er von dem ersten Fund berichten, einem unbekannten Manuskript des Berengar von Tours zum Abendmahlsstreit im elften Jahrhundert: De sacra coena adversus Lanfrancum. Im September 1770 erscheint zur

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Leipziger Buchmesse seine Rettung des mittelalterlichen Gelehrten, den er als einen Vorläufer der reformatorischen Abend-

mahlslehre verteidigt. Das war die erfreuliche Seite der gelehrten Existenz als Bibliothekar. Sie steht in einem starken Kontrast zu den depressiven Verstimmungen, ja der Verzweiflung, die Lessing in seinen

Briefen zum Ausdruck bringt. Abgeschnitten vom städtischen Leben und dem Gespräch mit Freunden erfährt er die Einsamkeit in der niedersächsischen Provinz als bedrückend und klagt, dass ihm «noch nie das Leben so zuwider gewesen» sei (B XV/2 597). Für Ablenkung sorgen gelegentliche Ausflüge nach Braunschweig, wo er Gasthäuser besucht (Glücksspiel!) und die

am Collegium Carolinum tätigen Schriftsteller und Gelehrten trifft, neben Ebert vor allem Konrad Arnold Schmid, Johann Joachim Eschenburg und Friedrich Wilhelm Zachariä. Zum Braunschweiger Hof hält Lessing Abstand - das Verhältnis zum Erbprinzen hatte sich aufgrund einer nicht eingehaltenen Zusage verschlechtert -, nur ein Kammerherr des Herzogs, Joachim von Kuntzsch, gehört zu seinen Gesprächspartnern. Gleichwohl hat Lessing der Herzogin Philippine Charlotte, einer Schwester Friedrichs II., ein besonderes Kompliment gemacht, indem er seine Tragödie Emilia Galotti zu ihrem Geburtstag am 13. März 1772 aufführen ließ. Emilia Galotti

Die Erzählung vom Schicksal der keuschen Römerin Virginia gehört zu den großen Stoffen der Weltliteratur. Titus Livius berichtet über das angeblich historische Ereignis in seiner Beschreibung der Gründung und frühen Geschichte Roms (Ab urbe condita, 1. Jh. v. Chr.): In den Ständekämpfen des fünften Jahrhunderts suchen die Römer bei dem griechischen Gesetzgeber Solon Rat und wählen zehn mit einer befristeten Vollmacht ausgestattete Männer (decemviri), die für das Gemeinwesen Gesetze formulieren und aufzeichnen. Als diese ergänzt werden sollen, wählt man erneut Dezemvirn, die jedoch ihre Macht missbrauchen und das Volk tyrannisieren. Als ein beson-

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ders skrupelloser Gewaltherrscher erweist sich Appius Claudius. Um die schöne Virginia in seinen Besitz zu bringen, führt er einen Prozess mit bestochenen Zeugen und erklärt - trotz zwingender Gegenbeweise - das Mädchen zu seiner Sklavin, wobei er den Rechtsgrundsatz in favorem libertatis (im Zweifel für die Freiheit) ignoriert, den er kurz zuvor selbst verkündet hat. Doch bevor man ihm Virginia ausliefert, wird sie vom Vater erstochen; ihr Tod wird zum Fanal, das Volk befreit sich, die Republik wird erneuert und das Gesetz auf zwölf Bronzetafeln ausgestellt. Der Stoff ist wie geschaffen für eine heroische Tragödie, über deren Kernaussagen nicht weiter nachgedacht werden muss: die Verteidigung der weiblichen Tugend verbindet sich mit der Bestrafung eines lasterhaften Despoten. Doch erlaubt die literarische Konfiguration auch andere Deutungen. Einerseits kommt es zur Wiederherstellung der Freiheit, andererseits wird die Geltung des Zwölftafelgesetzes betont; vielleicht gehört die Opferung der Jungfrau zur Legitimation dieses weder durch eine göttliche Instanz noch die Natur begründeten Rechts? Wie auch immer — Lessing hat sich bereits in den 1750er Jahren gegen eine politische Adaptation der Legende ausgesprochen, nachdem er zuvor noch ein Lucretia-Drama unter dem Titel Das befreite Rom konzipiert hat, das - in Übereinstimmung mit der Tradition - wohl als Plädoyer für die heroische Größe gedacht war. Anders verhält es sich mit seiner erstmals 1758 erwähnten Emilia Galotti, die er von vornherein als «eine modernisierte, von allem Staatsinteresse befreiete Virginia» verstanden wissen wollte, wie er an den Bruder schreibt (B XV/2 362). Die Handlung verlegt Lessing in ein imaginäres Italien der Renaissance, lediglich einige Ortsnamen und das - seit dem 18.Jahrhundert nicht mehr bestehende - Haus von Guastalla-Gonzaga sind historisch verbürgt. Anspielungen auf die eigene Gegenwart und die höfischen Verhältnisse in Deutschland sollten ausgeschlossen werden, noch kurz vor der Uraufführung hat Lessing den Erbprinzen um sein Einverständnis bei der Wahl des trotz aller Modernisierung bedenklichen Stoffes gebeten. Die Figurenkonstellation lässt das bei Titus Livius vorhan-

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dene Grundmuster durchscheinen: Hettore Gonzaga, Prinz von Guastalla, hat sich in Emilia Galotti verliebt, deren Hochzeit mit dem Grafen Appiani unmittelbar bevorsteht. Der Prinz gibt seinem Kammerherrn Marinelli — der Klang des Namens erinnert nicht ohne Grund an Machiavelli - freie Hand, um die

Zeremonie zu verhindern, was sich dieser eigens bestätigen lässt: «Wollen Sie alles genehmigen, was ich tue?» (B VII 305) Damit nimmt das tragische Geschehen seinen Lauf, in dem alle Gelegenheiten, das Verhängnis aufzuhalten, von den handelnden Personen versäumt werden. Appiani weigert sich, eine Gesandtschaftsreise anzutreten und provoziert - statt vorausschau-

end klug zu agieren - ein Duell, dem Marinelli jedoch ausweicht, um sich gleich anschließend für die Forderung zu rächen: Die Kutsche des Grafen wird überfallen und Appiani ermordet, während Emilia und ihre Mutter auf das Lustschloss der Gonzagas gebracht werden, wo auch eine ehemalige Mätresse des Prinzen eintrifft. Im Gespräch zwischen der Gräfin Orsina und Emilias Vater Odoardo Galotti werden die Hintergründe der Intrige aufgedeckt und die Schuldigen erkannt, woraufhin die aus anderen Gründen - auf Vergeltung bedachte Gräfin ihren Dolch dem Vater von Emilia übergibt, der seine Tochter tötet. Umstritten ist bis heute der Schluss des Trauerspiels, an dem Lessing offenbar bis zur letzten Minute gearbeitet hat. Seit dem 18. Jahrhundert reichen die Reaktionen von Unverständnis (dem Autor muss ein Fehler in der Motivation unterlaufen

sein) über nachträgliche Korrekturvorschläge (Odoardo hätte anstelle seiner Tochter den Prinzen ermorden sollen) bis zu aktualisierend-entgrenzenden Interpretationen: Derzeit wird das Ende gerne mithilfe psychoanalytischer Ansätze (die Tötung Emilias entspricht einem verborgenen Inzestwunsch des Vaters oder der Tochter oder beider) oder unter gender-Aspekten analysiert, wobei es weniger um den Text als um die Anwendung eines «Theoriedesigns» (FICK 393) geht. Die in der Forschung über lange Zeit zur Diskussion gestellten sozialgeschichtlichen Kategorien (Adel versus Bürgertum, Herrscher gegen Untertan, Machtpolitik contra Moral) haben den dramatischen Konflikt in anderer Weise verfehlt.

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Worin besteht dieser? Handelt es sich um ein Drama der Selbstbestimmung und der Autonomie des Willens, über dessen Prinzipien uns Lessing im Unklaren lässt? Es ist einfacher und dennoch komplex genug: Bereits erwähnt wurde die kühl inszenierte höfische Intrige, die das grausame Spiel nur deshalb in Gang setzt, weil der empfindsam liebende Prinz nicht - ganz ungewöhnlich für seinen Stand - bereit ist, dem Rat Marinellis zu folgen und die verheiratete Ware wohlfeil aus der zweiten Hand zu erwerben, statt die jungfräuliche Braut mühsam mit Gewalt an sich zu bringen. Auf der anderen Seite erfährt Appiani nichts von der Annäherung des Prinzen und die Familie Galotti ebensowenig von dessen Unterredung mit Marinelli; es herrscht eine fatale Sprachlosigkeit, eine Störung der Kommunikation, die zu falschen Einschätzungen führt. Was bei der einzelnen Figur als Missverständnis erscheint, wird in der Interaktion zum Glied

einer Kette. Die Handlung beschleunigt sich mit beängstigender Konsequenz, alle Details greifen ineinander und jede Figur trägt zu dem tragischen Geschehen bei; es handelt sich um ein dramatisches Verfahren, das Max Kommerell als durchgeführten Funktionalismus beschrieben hat, der für den Zuschauer verdeckt bleibt. Es gibt keine funktionslosen Nebenrollen, wie sich etwa an der Unterredung zwischen Pirro und Angelo zeigen ließe, die derjenigen zwischen dem Prinzen und Marinelli bis in Einzelheiten entspricht; in diesen Szenen wird die Verführbarkeit des Menschen demonstriert und damit die Frage nach seiner Mitschuld aufgeworfen, wobei Fürst und Kammerherr sich in nichts vom Diener und Straßenräuber unterscheiden. Die lückenlose Kausalität der Handlung und ihre genaue Motivation aus den Charakteren waren Forderungen an den Theaterautor, die Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie eingehend begründet und in der Emilia genau zu erfüllen versucht hat. Nicht zu vergessen: die Fehlbarkeit des tragischen Helden, der zur Identifikation einlädt und dessen Unglück unser Mitleid erregt, wie es im 82. Stück heißt: «ein Mensch kann sehr sehr gut sein, und doch noch mehr als eine Schwachheit haben, mehr als einen Fehler begehen, wodurch er sich in ein unabsehliches Unglück stürzet, das uns mit Mitleid und Wehmut erfüllet, ohne

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im geringsten gräßlich zu sein, weil es die natürliche Folge seines Fehlers ist». (B VI 594) Immer wieder ist danach gefragt worden, ob Lessing bei der Figur der Emilia diesen Grundsatz beachtet habe; denn worin besteht ihr Fehler? Das haben sich bereits die Zeitgenossen gefragt. Johann Anton von Klein, ein Kulturpolitiker am Mannheimer Hof, veröffentlichte 1781 eine Abhandlung Ueber Lessings Meinung vom heroischen Trauerspiel und über Emilia Galotti. Den größten Mangel des Dramas erkennt er in der Rolle der Emilia. Lessing scheine vergessen zu haben, dass «die Italienerin eine ganz andere Erziehung, andere Begriffe, anderes Religionssistem» hat als die Römerin Virginia. Wozu auch der Selbstmord gehört, den die Tochter «für ein eben so groses Laster, als den Verlust der Unschuld halten» müsse, weshalb sie den Vater zu seiner mörderischen Handlung dränge. Das ist, wer könnte es bestreiten, eine zutreffende Beschreibung des dramatischen Konflikts, auch was die christliche Ethik betrifft. Doch wie genau motiviert Emilia das Handeln Odoardos? Am Ende steht bei Lessing nicht die Feier römischen Heldentums, sondern ein leicht abgewandeltes Augustinus-Zitat: «Nichts Schlimmers zu vermeiden, sprangen Tausende in die Fluten, und sind Heilige! Geben Sie mir, mein Vater, geben Sie mir diesen Dolch.» (B VI 369) Lessing wollte zweifellos, dass sein Publikum von dieser Anspielung Gebrauch machte. In De civitate dei (Kap.I 19) analysiert Augustinus den Fall der Lucretia in moraltheologischer Perspektive. Er verteidigt dort die jungen Christinnen, die eine Vergewaltigung überlebten, gegen ihre mit dem Beispiel der keuschen Lucretia argumentierenden Kritiker. Falls Lucretias Sinnlichkeit durch das Werben des Sextus Tarquinius geweckt wurde, hat sie Ehebruch begangen und ist schuldig. Ist sie jedoch keusch geblieben, so hat sie eine Unschuldige getötet, nämlich sich selbst, und ist daher schuldig: «Nun gebt euer Urteil ab! Wenn das darum angeht, weil sie nicht vor euch steht, daß ihr sie bestrafen könntet, warum erhebt ihr dann die Mörderin einer unschuldigen und keuschen Frau mit solchen Lobsprüchen?» (Aurelius Augustinus: Vom Gottesstaat; übers. v. W. Thimme)

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TOI

Der Novellist Matteo Bandello (1480-1561) geht noch einen Schritt weiter. Was von Augustinus als Konditionalsatz ausgesprochen wurde, wird nun zu einem Faktum. Bei Bandello bekennt Lucretia, dass ihr Körper bei der erzwungenen Umarmung Lust empfunden habe und diese Schuld durch ihren Tod gesühnt werden müsse. Ein solche pointierte Antithese war ganz im Geschmack

von

Giambattista

Marino

(1569-1629),

der eine Serie von Lucretia-Gedichten geschrieben hat; im letzten Gedicht dieser Gruppe meint er - die Pointe ins Zynische steigernd -, Tarquin hätte sich lieber mit Gold als mit einem Schwert wappnen sollen, um von Lucretia erhört zu werden. Lessing hat diese provokativen, seit der Renaissance beliebten Umdeutungen zweifellos gekannt, stellt er sich in der Hamburgischen Dramaturgie doch die Frage, ob ein Autor die überlieferten «Facta» beliebig verändern und eine Lucretia auch «verbuhlt» schildern dürfe. (B VI 346) Im fünften Akt tauchen nun unvermittelt jene christlichen Märtyrerinnen auf, die heiliggesprochen wurden, obwohl sie Hand an sich gelegt hätten. Deren Beispiel nimmt Emilia zur Verteidigung ihrer Tat in Anspruch, indem sie aus dem obwohl ein weil macht. In ihrem Wunsch zu sterben könnte sich dann aber zugleich jene moralische Anfechtung zeigen - das ist die bekannte Deutung Goethes -, der sie gerade zu entkommen sucht: der Verlockung des Sinnlichen. Am Ende steht die Interpretation erneut vor der in der Lessing-Forschung seit langem traktierten Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Sinnlichkeit, nun allerdings schärfer gefasst im Hinblick auf Lessings Aneignung und Überbietung der antiken Vorlagen. Bei dem Zitat darf der unmittelbar vorangehende Ausruf Emilias jedoch nicht unterschlagen werden: «- und es erhob sich so mancher Tumult in meiner Seele, den die strengsten Übungen der Religion kaum in Wochen besänftigen konnten! - Der Religion! Und welcher Religion?» (369) Von Augustinus her ist die abbrechende Rede kaum zu verstehen, im Gegenteil. Wie verträgt sie sich mit dem Modell frommer Virginität? Erst auf den zweiten Blick erschließt sich der quasiheroische Schluss genauer, ja neu: Da Emilia ihren Selbstmord nicht selbst ausführen kann,

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bewegt sie ihren Vater durch das Beispiel der christlichen Märtyrerinnen zur stellvertretenden Handlung und rechtfertigt diese zugleich durch den Hinweis auf die kirchenväterliche Ausnahmeregel. Die unmittelbar vorangehende Reflexion enthüllt das Manöver jedoch als ein rein taktisches, die Religion - ihre: die christliche — erscheint zunächst als fragwürdiges Mittel der Konfliktlösung, doch unmittelbar darauf folgt der Einsatz des Augustinus-Zitates. Die Zeitgenossen empfanden diesen Schlussdialog als spitzfindig. Genau diesen Ausdruck findet man in dem Artikel Lucretia im Dictionnaire von Pierre Bayle - einem der wichtigsten Kompendien der europäischen Aufklärung, das Lessing bewunderte. Der deutsche Übersetzer, Johann Christoph Gottsched, hat eine seiner Fußnoten zu dem genannten Artikel mit einem eigenen Titel versehen: Widerlegung des Dilemma vom heil. Augustin. Auch Pierre Bayle gab der Artikel Gelegenheit, weiter auszuholen und dabei auf sein 1682 erschienenes Kometen-Buch zu verweisen, wo er in einem der antiken Figur gewidmeten Kapitel die skandalöse Behauptung aufstellte, dass es tugendhaftes Handeln auch ohne religiöse Motivation geben könne: Lucretia habe ihre Tugend allein der Ehre wegen geliebt, nicht um den Göttern zu gefallen. Das ist der Stand der Diskussion in der Jahrhundertmitte. Lessing hat sich bei der Charakterisierung seiner Hauptperson keiner der möglichen Parteien zugeordnet. Emilias Tod im Namen der (welcher?) Religion ist gleichwohl kein heroischer im Sinne von Bayle oder im Stil der Bühne von Gottsched. Das von ihr erweckte Mitleid lässt sich jedoch ebensowenig auf christliche Werthaltungen zurückführen, gerade aufgrund des nachgereichten Kirchenvaterzitats: Emilias Normkonflikt wird durch die Religion mit ausgelöst, die am Ende ihren tragischen Tod rechtfertigen soll. Lessing hat die antiken Muster weder imitiert noch zu überbieten versucht, sondern in ein Denkspiel eingefügt, bei dem es dem Leser überlassen bleibt, das letzte Teilstück hinzuzufügen. Was ihm gelingt, ist eine bis dahin ungekannte dramatische Verdichtung: «Luzidität bis zur Rätselhaftigkeit» (Ivan Nagel).

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Wird aus einem größgeren zeitlichen Abstand nach der Bedeutung der Tragödie gefragt, dann ist grundsätzlich anzunehmen, dass Lessings dramatisches und ästhetisches Raffınement sich nicht allein dem literarischen Diskurs verdankt, sondern auch

religionsphilosophischen Problemstellungen. Die Forschung zur Emilia Galotti führt dies besonders deutlich vor Augen, kommt doch in der überwiegenden Zahl der Interpretationen das Thema Religion gar nicht vor. Das ist nicht nur ein philologisches Defizit, das sich beheben ließe, es ist vielmehr der Grund dafür, warum

der klassische Text so unverständlich erscheint:

Wie fast alle Schriften der Wolfenbütteler Jahre ist auch dieses Trauerspiel ein Beitrag zur religiösen Aufklärung. In den beiden ersten Bänden seiner Zeitschrift Zur Geschichte und Litteratur hat Lessing philologische Beiträge zur Kulturund Literaturgeschichte veröffentlicht, vorwiegend aus den von den Zeitgenossen wenig beachteten Perioden des Mittelalters sowie des 16. und 17. Jahrhunderts. Es finden sich Publikationen zur Äsopischen Fabel, zu den Fenstergemälden im Kloster Hirschau oder zu einer Flugschrift in Reimpaaren aus dem Jahr 1567, aber auch Antworten auf Anfragen auswärtiger Gelehrter, die Lessing, der «keine weitläuftige privat Correspondenz» führen will, öffentlich beantwortet. Der Bibliothekar hat seine Amtsgeschäfte ernst genommen; seine sprachgeschichtlichen Studien und die geplanten Editionen mittelalterlicher Literatur - Hugo von Trimberg, Ulrich von dem Türlin, Heinrich Steinhöwel - hat die Forschung bisher kaum berücksichtigt, über seine philologische Tätigkeit, ihre Voraussetzungen und Wirkungen wissen wir noch zu wenig (vgl. Schönert 2014). Nur verstreut finden sich in diesen Bänden Abhandlungen zur Philosophie und Religionsgeschichte, darunter die bereits erwähnte Schrift zu den Ewigen Strafen (s.o. S. 45 u. 49f.), die Lessing durch einen weiteren Leibniz-Fund ergänzt: Des Andreas Wissowatius Einwürfe wider die Dreyeinigkeit. Mit dem 1774 gedruckten dritten Band verändert sich die Publikationsstrategie. Hier veröffentlicht Lessing einen unbekannten, in der Bibliothek entdeckten Brief von Adam Neuser (1530-1576) und

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beschreibt die Verfolgung des religiösen Dissidenten, der zum Islam konvertiert und nach Konstantinopel geflohen war. Es handelt sich um eine Rettung und zugleich um ein Plädoyer für Toleranz. Die Authentischen Nachrichten über den Reformationstheologen Neuser stellt er dem ersten Fragment aus dem Nachlass von Reimarus voraus. Dieser Text kündigt die Verbindung von religiösem Nonkonformismus und Toleranz bereits im Titel an: Von Duldung der Deisten: Fragment eines Ungenannten. Hier handelte es sich nun keineswegs um eine — wie die Vorrede der Zeitschrift ankündigte -— «Bekanntmachung» aus den «handschriftlichen Schätze[n]» der Bibliothek, sondern um ein Probestück aus dem mitgebrachten Hamburger Manuskript, mit dem Lessing die Stimmung in der Öffentlichkeit testen wollte. Da es zunächst nur zu verhaltenen Reaktionen kam, reservierte Lessing den gesamten vierten Band seiner von der Zensur befreiten Beiträge Zur Geschichte und Litteratur für die Veröffentlichung weiterer Fragmente, mit denen er dann einen Sturm der Entrüstung und die größte theologische Debatte des Jahrhunderts auslöste. Vielleicht hätte Lessing diesen Streit kompromissbereiter und weniger erbittert geführt, wäre dieser nicht mit einer existentiellen Grenzerfahrung zusammengetroffen: Im Dezember 1777 stirbt sein Sohn Traugott kurz nach der Geburt, was Lessing den Braunschweiger Freunden in einem Brief mitteilt, der mit den Sätzen endet: «Ich wollte es auch einmal so gut haben, wie andere Menschen. Aber es ist mir schlecht bekommen.» Am 1o.Januar 1778 stirbt — nach nur einem Jahr der Ehe - auch seine Frau Eva. Erneut schreibt Lessing an Eschenburg, nun der Verzweiflung nahe, aber um ein Verstehen ringend, das sich von der Trauer nicht überwältigen lässt: «Meine Frau ist tot: und diese Erfahrung habe ich nun auch gemacht. Ich freue mich, daß mir viel dergleichen Erfahrungen nicht mehr übrig sein können zu machen; und bin ganz leicht.» (B XII ı 16, 119)

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Fragmentenstreit

Hermann Samuel Reimarus wurde am 22. Dezember 1694 in Hamburg geboren, wo er die Gelehrtenschule des Johanneums besuchte. Zwischen 1714 und 1721 studierte er Theologie und alte Sprachen an den Universitäten Jena und Wittenberg und absolvierte eine Studienreise nach Holland und England, wo er den Deismus kennenlernt. 1728 wurde er in Hamburg Professor für Hebräisch und orientalische Sprachen. Bis zu seinem Tod 1768 war nur wenigen Freunden bekannt, dass weder die Vernunftlehre (1756) noch die äußerst erfolgreichen Abhandlungen von den vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion (sechste Auflage 1791) seine eigentliche Hinterlassenschaft bildeten. Reimarus starb als angesehener lutherischer Gelehrter, ja als Verteidiger der Religion gegen den Unglauben. In Wahrheit verhielt es sich anders. Seit der Mitte der 1730er Jahre muss er eine Doppelexistenz geführt und heimlich an seinem Hauptwerk, der bibel- und offenbarungskritischen Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes gearbeitet haben. In der Vorrede, die Lessing vermutlich nicht kannte,

hat er beklagt, dass «ein ehrlicher Mann seinem Gemüte keine geringe Qual antun muss, wenn er sich sein ganzes Leben hindurch stellen und verstellen muss». Auch Lessing hat den Namen des Verfassers nicht preisgegeben, um dessen Kinder, die ihm eine Abschrift überlassen hatten, nicht zu gefährden. Die Apologie ist erstmals 1972 vollständig veröffentlicht worden. Eine solche Edition gehörte nicht zu den Projekten der Kirchenhistoriker oder Bibelwissenschaftler, in deren Kreisen Reimarus lange als bete noir der aufklärerischen Religionskritik galt, da am Ende des von ihm eingeschlagenen Denkweges die Bibelexegese vor «einem dogmatischen Scherbenhaufen» stand (Wilhelm Schmidt-Biggemann). Welche Ziele hat Lessing mit der Veröffentlichung der Fragmente eines Ungenannten verfolgt und wie sahen die später vernachlässigten oder vergessenen Konsensbildungen aus, zu denen er anregen wollte? Im Dezember 1780 berichtet Lessing in einem Brief an Elise Reimarus, dass er für den Herzog von

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Braunschweig an einem Gutachten über die aktuellen Religionsbewegungen in der Evangelischen Kirche arbeite. Offenbar wollte er die Gelegenheit nutzen, um nochmals seinen Standpunkt im aktuellen Streit um den Fragmentisten zu erklären und, das ist sein Hauptanliegen, gegenüber der Neologie abzugrenzen: Mit den «neuen Reformatoren» wolle er keinesfalls «verwechsel[t]» werden (B XII 368), schreibt er an die Tochter des Hamburger Gelehrten. Diese Abneigung hatte er zuvor bereits in einem Schreiben an seinen Bruder Karl aus dem März 1777 mit der erklärungsbedürftigen Unterscheidung gerechtfertigt, dass er «nur darum die alte orthodoxe (im Grunde tolerante) Theologie, der neuern (im Grunde intoleranten) vorziehe, weil jene mit dem gesunden Menschenverstande offenbar streitet, und diese ihn lieber bestechen möchte. Ich vertrage mich mit meinen offenbaren Feinden, um gegen meine heimlichen desto besser auf meiner Hut sein zu können.» (sr f.) Wo-

rin besteht die Intoleranz der Neologie? In den Augen Lessings ging der Versuch, die Theologie nach rationalen Grundsätzen einzurichten - also dem Zeitgeist anzupassen -, mit der Beseitigung einer älteren Tradition einher, bei der sich die Reformpartei in einer überlegenen und unangreifbaren («intoleranten») Position zu wissen glaubte, ohne die Vor-

läufigkeit des eigenen Standpunktes (als einer Tradition unter anderen) zu reflektieren. Die Vernunft kann in diesem Verdrän-

gungswettbewerb nicht das ausschlaggebende Kriterium bilden, da sie selbst - anders als der Rationalismus des 17. und frühen 18. Jahrhunderts bis hin zu Reimarus annahm - in zeitlichen Relationen steht, also Veränderungen unterworfen ist. Die Veröffentlichung der Fragmente sollte die neuen Reformatoren zu einer Antwort auf diese ins Grundsätzliche führende Frage herausfordern. Lessing zielte auf eine Wechselwirkung zwischen den Traditionen, um das Ergebnis von einem Standpunkt aus zu beobachten, der einen Zweifel in beiden Richtungen zuließ. Unter den fünf Fragmenten, die Lessing im Januar 1777 publizierte, enthielt das letzte Ueber die Auferstehungsgeschichte besondere Sprengkraft. Reimarus weist nach, wie sich die Evangelien in ihren Berichten über die Auferstehung widersprechen,

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womit das Wunder als solches in Frage gestellt wird. Die Leugnung des Dogmas erregte ungeheures Aufsehen und mobilisierte zahlreiche Respondenten, die in den Streit eingriffen und die christlichen Glaubenswahrheiten zu verteidigen suchten. Es ist im Rahmen dieser Darstellung nicht möglich, den Verlauf der Debatte und die Gegner des Ungenannten zu beschreiben, die sich mit ihrer Kritik stellvertretend an den Wolfenbütteler Bibliothekar wandten. Dabei hatte Lessing der Fragmenten-Reihe bereits eine Antwort hinzugefügt: Seine Gegensätze des Herausgebers distanzierten sich vom Deismus mit dem Hinweis auf die Kontingenz religiöser Lebenswelten, die zu akzeptieren sind aus Gründen der Vernunft; diesen gegen Reimarus gerichteten Argumenten hat Lessing die ersten 53 Paragraphen seiner Schrift über Die Erziehung des Menschengeschlechts angefügt. Die Rechtfertigung des Herausgebers hat den Gegnern nicht genügt. Als besonders streitbar erwies sich der Hauptpastor Johan Melchior Goeze (1717-1786), der in einer Hamburger Zeitschrift davor warnte, dass «es keine Kleinigkeit sey, Fragmente drucken zu lassen, in welchen die heil. Apostel [...] als die ärgsten Bösewichter, Leichenräuber, und Lügner gelästert werden». Der einflussreiche Geistliche ruft die Obrigkeit dazu auf, weitere Veröffentlichungen zu verbieten. Doch zunächst kann Lessing die Auseinandersetzung noch in der Öffentlichkeit und in deutscher Sprache führen. Das war von keiner geringen Bedeutung, da Goeze vorgeschlagen hatte, die Kontroverse im gelehrten Latein auszutragen und damit das Publikum auszuschließen. Lessing antwortete auf die Streitschriften und das inquisitorische Vorgehen des Lutheraners mit Eine[r] Parabel. Nebst einer kleinen Bitte, und einem eventualen Absagungsschreiben an den Herrn

Pastor Goeze sowie den Axiomata,

wenn es deren in dergleichen Dingen giebt - seinem wichtigsten Beitrag zu den theologischen Grundfragen - und schließlich, auf dem Höhepunkt des Streits, schneidend knapp mit AntiGoeze, Erster, |...] Zweyter, |...) Dritter bis zum Elften, der im Juni 1778 erschien. Nach dem Urteil Friedrich Schlegels verdienen Lessings Anti-Goeze nicht nur aufgrund der glänzenden Polemik, «sondern an Genialität, Philosophie, selbst an poeti-

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schem Geiste und sittlicher Erhabenheit einzelner Stellen, unter

allen seinen Schriften den ersten Rang». Doch war es nicht allein der prominente Hamburger Hauptpastor, der Lessing zu Entgegnungen herausforderte. In der an Johann Heinrich Reß gerichteten Duplik findet sich die vielfach erörterte Frage, wo denn «alle historische Beweise für die Wahrheit der christlichen Religion [bleiben]?» Die Antwort will Lessing ausdrücklich von allem «Scepticismus» befreit und als eigene Überzeugung verstanden wissen: Die historischen Beweise sollen bleiben, «[w]o sie wollen! Wäre es denn ein großes Unglück, wenn sie endlich einmal wieder in den Winkel des Zeughauses gestellt würden, in welchem sie noch vor funfzig Jahren standen?» (B VIII 519) Damit wird auf jene Schriften angespielt, die in großer Zahl seit den 1720er Jahren erschienen waren und sich darum bemühten, die angenommenen Offenbarungswahrheiten durch eine historisch-kritische Bibelexegese zu bestätigen: ein in den Augen Lessings nicht nur unsinniges, sondern die Theologie als Wissenschaft diskreditierendes Vorhaben. Doch gerade mit den in den Kompendien der polemischen Theologie, kurz der Apologetik, entwickelten und als unwiderleglich betrachteten Argumenten sah er sich im Fragmentenstreit konfrontiert, etwa in der umfangreichen Schrift von Johann Daniel Schumann Über die Evidenz der Beweise für die Wahrheit der christlichen Religion, in der die «gegen alle Spitzfindigkeit sich behauptenden Stützen unserer Religion» in den «erfülleten Weissagungen, und in den großen Wunderwerken» (383) gesehen wurden. Gemeint war damit die innerbiblische Typologie als Zeugnis der Heilsgeschichte und die Beweiskraft der in der Heiligen Schrift berichteten Wunder — darunter die Auferstehung -, was sowohl die Glaubwürdigkeit der Zeugen und die Prüfbarkeit ihrer Berichte als auch den Vergleich mit anderen Religionen sowie Schilderungen alltäglicher Mirakel einschließt. Den ermüdend langen Ausführungen Schumanns hat Lessing eine prägnante, ins Grundsätzliche führende Problemanalyse entgegengesetzt: «Wenn keine historische Wahrheit demonstrieret werden kann: so kann auch nichts durch historische Wahr-

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heiten demonstrieret werden. Das ist: zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis vonnotwendigen Vernunftswahrbeiten nie werden.» (441) Diese zwei Klassen von Wahrheiten sind streng zu trennen. Die Zeitgenossen haben sofort erkannt, welches Theoriepotential die von Lessing angebotene Formel enthielt: «Das Historische dient nur zur Illustration, nicht zur Demonstration», schreibt Kant im Anschluss an die vollzogene Grenzziehung. Auch Nathan bedient sich des Arguments, um der Frage des Sultans nach den «Gründen» für die Wahl einer bestimmten Religion (die doch «wohl zu unterscheiden wären») die Grundlage zu entziehen: «Denn gründen alle sich nicht auf

Geschichte? / Geschrieben oder überliefert! - Und / Geschichte mufß doch wohl allein [!] auf Treu / und Glauben angenommen werden? - Nicht ? -/[...] Wie kann ich meinen Vätern weniger, / Als du den deinen glauben?» (Vers 459-470) Die mythischen Erzählungen über die Gründer der abrahamitischen Religionen und die überlieferten Berichte von deren Leben und Taten können nur geglaubt, nicht demonstriert werden. Doch daraus erwächst weder ein Fatalismus noch, wie bei Reimarus, der Rückschluss auf Fälschung und Betrug, sondern im Gegenteil ein Vertrauen in die von den Offenbarungsreligionen gestifteten Sinnformen und die das Handeln bestimmenden religiösen Konventionen. Religion bietet dem Menschen «Hintergrundsicherheit» (Niklas Luhmann), als solche ist sie eine Errungenschaft, die zu bewahren ist, ungeachtet der verschiedenen Gründungsurkunden und Zeremonien. Mitten im Goeze-Streit erschien 1778 ein letztes Kapitel aus dem Manuskript des Ungenannten: Vom Zwecke Jesu und seiner Jünger, das Betrachtungen zur Geschichte Jesu, der Jünger und des Neuen Testaments enthielt. Es war der für die Zeitgenossen provozierendste Text, selbst Albert Hinrich Reimarus, der in die Aktion eingeweihte Sohn und Nachlassverwalter, war mit der Publikation dieses Ausschnitts nicht einverstanden. Dass der Zweck des Propheten nicht mit den Absichten seiner Jünger übereinstimmte, deutet der Titel an. Erst nach dem Tod ihres Meisters hätten die Apostel eine Lehre entwickelt, die sie auf das angebliche Faktum der Auferstehung gründeten. Ließe

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sich das Wunder zweifelsfrei beweisen, seien die auf einer Of-

fenbarung beruhenden Annahmen gerechtfertigt; wurde die vermeintliche Tatsache widerlegt, breche das System zusammen: Entlarvt wäre ein aus Enttäuschung und handfestem Eigeninteresse begangener Betrug, den Reimarus im Detail - vom Raub des Leichnams bis zur Einführung des neuen, veränderten Glaubenssystems (B IX 298) - beschreibt. Gegenfragen werden nicht gestellt. Wie wäre es aber, wenn man die Erzählung von den Ereignissen nicht als Medium, sondern als Botschaft selbst nimmt? Die Apostel hätten dann nur das verkündet, wovon sie fest überzeugt waren. In seiner fünften Antwort auf Goeze, kurz nach der Publikation des Fragments, hat Lessing diesen Gedanken entwickelt, indem er den Jüngern eine «nemliche Denkungsart» (205) zuschrieb, die nicht mit einer intendierten Täuschung oder Lüge gleichzusetzen sei. Damit war ein Perspektivenwechsel hin zur Analyse historisch gewordener Glaubensvorstellungen und Mythen vollzogen, kurz eine die pia fraus der Apostel einkalkulierende Betrachtung, die Lessings Verfahren von den bibelkritischen Ermittlungen des Reimarus grundsätzlich unterscheidet. Die Erziehung des Menschengeschlechts

In einem an Moses Mendelssohn gerichteten Brief vom Januar 1771 erkundigt sich Lessing nach einem geschichtsphilosophischen Werk, mit dem er sich «ein eigentliches Studium» zu machen gedenkt: Adam Fergusons Essay on the History of Civil Society (in deutscher Übersetzung 1768 erschienen). Ferguson schreibt eine Gattungsgeschichte unter dem Gesichtspunkt des Fortschritts, der in einer stufenförmigen Entwicklung die Menschheit von der Kindheit zum Erwachsenenalter führt. Dieser Prozess vollzieht sich naturbestimmt, kann aber durch

Erziehung beschleunigt werden. Lessing interessiert sich für solche, wie er an Mendelssohn schreibt, «Wahrheiten» des Buches. Dabei erinnert er an seine frühere Skepsis gegenüber ähnlichen

auf die Zukunft gerichteten Konstruktionen und fährt fort: «Es ist unendlich schwer, zu wissen, wenn und wo man bleiben soll,

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RT

und Tausenden für einen ist das Ziel ihres Nachdenkens die Stelle, wo sie des Nachdenkens müde geworden. Ob dieses nicht auch manchmal der Fall unsers Ungenannten gewesen, will ich nicht so geradezu leugnen.» (B XV/2 144f.) Spätestens hier entsteht ein denkgeschichtliches Experiment, das zur Erziehungsschrift führt. Lessings Kritik wird konstruktiv, ja spekulativ im Blick auf die Offenbarungen Gottes in der Geschichte. Diese Wendung hat nicht allein mit dem Ferguson-Impuls zu tun. Die Forschung beschäftigt seit langem die Frage, woran sich Lessing orientiert haben könnte. Die Angebote reichen von der Patristik bis zur Systemphilosophie des späten 17. Jahrhunderts (Spinoza und Leibniz), von der auf Joachim von Fiore (t 1202) zurückgehenden Prophetie der drei Zeitalter (triplex status mundi) bis hin zu zeitgenössischen Autoren wie Johann Gottfried Herder oder Johann Georg Rosenmüller und seiner 1767 publizierten Abhandlung von den weisen Absichten Gottes Bey den verschiedenen Haushaltungen in seiner Kirche hier auf Erden. Bislang ist nur in einer Frage Konsens erzielt worden, dass nämlich die Schrift wirklich von Lessing und nicht, wie lange Zeit diskutiert wurde, von Albrecht Thaer stammt. Wichtiger als die Quellenfrage erscheint jedoch die systematische Begründung, die Lessing für sein Konzept liefert. Im Fragmentenstreit hat Lessing in seinen Gegensätzen des Herausgebers nach einer Wahrheit gesucht, die nur zwischen den Extremen liegen kann. Es ist diese gegen Reimarus gerichtete und an das Publikum appellierende Schrift, in welcher der Grundgedanke der Erziehungsschrift bereits anklingt: «Die geoffenbarte Religion setzt im geringsten nicht eine vernünftige Religion voraus: sondern schließt sie in sich.» (B VIII 319) An der zitierten Stelle ist mehrfach von Beweisen, verschiedenen Beweisarten sowie dem Verhältnis von Vernunft und Offenbarung die Rede - mit zwei Folgerungen, die weit über das sonst mit diesem Vokabular geführte Streitgespräch hinausgehen. Zum einen wird der Offenbarung eine Funktion für die Vernunftreligion zugesprochen, zum anderen wird der Begriff der Wahrheit auf die Sinnlichkeit des Menschen bezogen. In der Erziehungsschrift wird dieser Gedanke dann wie folgt entwickelt:

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«Ein Volk aber, das so roh, so ungeschickt zu abgezognen Gedanken war, noch so völlig in seiner Kindheit war, was war es für einer moralischen Erziehung fähig? [...] Der Erziehung durch unmittelbare sinnliche Strafen und Belohnungen. Auch hier also treffen Erziehung und Offenbarung zusammen.» ($ 16f.,BX 78) Die Religion des Alten Testaments bildet auf dieser ersten Stufe

der Entwicklung ein noch unvollkommenes Erziehungsmittel. Auf der zweiten Stufe, der des Christentums, treffen wir dann

auf die beiden Hauptbeweise der Apologetik: die biblischen Weissagungen und Wunder. Indem Lessing ihnen «Geist und Kraft» für die eigene Gegenwart abspricht, schließt er ein Begründungsverhältnis zwischen historischen und dogmatischen Wahrheiten aus, gesteht den Wunderberichten jedoch eine Funktion im Offenbarungsgeschehen zu, da die Behauptungen der Augenzeugen dazu beigetragen haben, die Lehre Jesu zu verbreiten: «Die Menge aber auf etwas aufmerksam machen, heißt, den gesunden Menschenverstand auf die Spur helfen.» (B VIII 444) Damit behalten die Wunder ihre Bedeutung für die allmählich fortschreitende Erziehung des Menschengeschlechts, sofern sie diese einmal besessen haben. Der Anspruch auf Beweiskraft in einem strengen Sinne wird negiert, was den Offenbarungsbegriff entlastet; sein Inhalt wird ja erst im Nachhinein durch die Vernunft erkannt. Diese Wechselwirkung im Erziehungsprozess ist noch längst nicht abgeschlossen, wie die Überlegungen in den Paragraphen 73, 74 und 75 zeigen sollen. Lessing leitet diese mit dem Hinweis ein, dass im Neuen Testament «Wahrheiten vorgespiegelt werden», welche sich die Vernunft erst als wirkliche (ausgemachte) anzueignen hat: «Z.E. die Lehre von der Dreieinigkeit. - Wie, wenn diese Lehre den menschlichen Verstand, nach unendlichen Verirrungen rechts und links, nur endlich auf den Weg bringen sollte, zu erkennen, daß Gott in dem Verstande, in

welchem endliche Dinge eins sind, unmöglich eins sein könne; daß auch seine Einheit eine transcendentale Einheit sein müsse, welche eine Art von Mehrheit nicht ausschließt?» (BX 93) Das

Beispiel der Trinität ist natürlich keineswegs beliebig gewählt, ebensowenig wie die nachfolgenden Lehren, die Lessing jeweils

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mit einem aufzählenden

«Und

die...» einleitet, nämlich

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die

Erbsündenlehre und den Opfertod Christi. Es handelt sich um Grundsätze des christlichen Glaubens, die seit der Jahrhundertmitte mehr oder weniger aufgegeben oder umgedeutet worden sind. Angesichts der «unendlichen Verirrungen» im Zusammenhang mit der Lehre von der Dreieinigkeit verzichtet Lessing auf eine vernunftgemäße Reformulierung des Dogmas, die er durch die Erwartung einer trinitarischen (Selbst-)Offenbarung Gottes ersetzt. Diese Schlussfolgerung kann als ein genuiner Gedanke Lessings interpretiert werden, der damit einen neuen Faktor in die zeitgenössischen Debatten einführt, «which had not [...] played any significant part in Trinitarian thought during the Enlightenment, or indeed since the Reformation, namely history». (Nisbet 1999, $. 73) Auch die Erziehung des Menschengeschlechts trägt, was oft vergessen wird, poetische Züge. Das lässt sich etwa am Gebrauch der rhetorischen Stilmittel zeigen, mit denen Lessing die Eindeutigkeit eines Sachverhaltes zugunsten einer starken Anschaulichkeit zurückstellt, woraus sich nur der Schluss ziehen

lässt, dass ihm an Eindeutigkeit hinsichtlich der angeführten Offenbarungsinhalte nicht gelegen war. Bereits das Motto wiederum ein Augustinus-Zitat - stellt den Text unter das Argumentationsprinzip der Uneigentlichkeit, so wie sich die Analogie zwischen Erziehung und Offenbarung als literarisches Gleichnis interpretieren lässt. Die Organisation in genau einhundert Paragraphen könnte ein Formzitat sein, mit dem der gelehrte Traktat parodiert wird, und das Spiel mit den Rollen von Verfasser und Herausgeber verleiht der Schrift einen fiktionalen Modus. Mehr noch: Bei der Betrachtung der biblischen Elementarbücher wird ausführlich über deren «Einkleidung und den Stil» ($48) nachgedacht und es werden die literarischen Techniken der Anspielung untersucht, die Neugier auf höhere Einsichten wecken sollen. Denn das Alte und Neue Testament sind nur «Vorübungen» ($ 47) für das kommende dritte Zeitalter; am Ende setzt sich bei Lessing die Vernunftreligion

durch, die positiven Religionen haben ihre erzieherische Rolle erschöpft.

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Doch der Selbstverständlichkeit, mit der auf der einen Seite die religiöse Tradition beschrieben und in ihrer Bedeutung erfasst wird, entspricht auf der anderen Seite ein nicht leicht abzuwehrender Zweifel im Blick auf die Zukunft und den zu erwartenden Fortschritt: «Nein; sie wird kommen, sie wird gewiß kommen, die Zeit der Vollendung [...].» ($ 85, B X 96) Nach dem Sinn von Geschichte kann nur gefragt werden, wenn man ihr Ziel auch dann zu verstehen versucht, wenn sich dieses nicht enthüllt: «O Geschichte! © Geschichte! Was bist du?» heißt es im letzten der Gespräche für Freimäurer (BX 59). Es sind die Unsicherheiten eines Zwischenzustands, die Lessing an gewisse Schwärmer denken lassen. Hier ist ein Grund für seine Erwähnung des kalabresischen Abtes Joachim von Fiore zu suchen, nicht in den Inhalten der Heilstheologie, sondern in den Irrtümern, die aus Ungeduld erwachsen und der Übereilung, mit der ein neues Zeitalter verkündet wird. Lessing erinnert an eine häretische Bewegung des späten Mittelalters, um sich selbst zur Ordnung zu rufen: «Der Schwärmer tut oft sehr richtige Blicke in die Zukunft: aber er kann diese Zukunft nur nicht erwarten.» ($ 90; FA X 97)

Nathan der Weise

Auf dem Höhepunkt des Fragmentenstreits schreibt Lessing im August 1778 an seinen Bruder Karl, dass er noch nicht wisse, welches Ende seine Kontroverse mit dem Hauptpastor Goeze nehmen werde. Er sei auf alles gefasst, auch darauf, dass man ihm — wie von der orthodoxen Geistlichkeit gefordert - ein Publikationsverbot erteile. In dieser Lage habe er sich an ein vor vielen Jahren entworfenes Schauspiel erinnert (närrischer Einfall), dessen Inhalt eine Art von «Analogie mit meinen gegenwärtigen Streitigkeiten» hat: «Ich möchte zwar nicht gern, daß der eigentliche Inhalt meines anzukündigenden Stücks allzufrüh bekannt würde; aber doch, wenn Ihr, Du oder Moses [sc. Mendelssohn], ihn wissen wollt, so schlagt das Decamerone des Bocaccio [sic] auf: Giornata I. Nov. II. Melchisedech Giudeo. Ich glaube, eine sehr interessante Episode dazu erfunden zu ha-

VI. Bibliothekar in Wolfenbüttel (1770-1781)

115

ben, daß sich alles sehr gut soll lesen lassen, und ich gewiß den Theologen einen ärgern Possen damit spielen will, als noch mit zehn Fragmenten.» Der Brief stammt vom 11. August, eine Woche später erhält Lessing die erwartete «Resolutio» des Braunschweiger Herzogs, die ihm verbietet, dass er «in Religions-Sachen, so wenig hier als auswärts, [...] ohne vorherige Genehmigung des Fürstl. Geheimen Ministerii ferner etwas drucken» lässt. (B XII 186f.) Die Arbeit an dem dramatischen Gedicht beginnt also situationsabhängig, sie dient einem aktuellen Interesse — der Fortsetzung des theologischen Streits mit poetischen Mitteln -, auch wenn die Idee einer BoccaccioAdaptation bereits vorhanden war. Alter Entwurf und neuer Konflikt: Zu fragen ist, wie Lessing die dem Decameron entnommene Novelle seinem Stück angepasst hat. Doch zuvor ist an die 1775 absolvierte Italienreise zu erinnern, die Lessing in anderer Weise an den Plan zu einem Drama erinnert haben muss, den er kurz danach wieder aufnimmt.

Dazu dürften auch die Reisesouvenirs etwas beigetragen haben. Denn zu den mitgebrachten Büchern gehörte eine 1742 in Florenz gedruckte Istoria del Decamerone di Giovanni Boccaccio von Domenico Maria Manni. Der Verfasser war Bibliothekar der Libreria Stroziana und wie Lessing ein Philologe mit dem Hang zur Polemik, die er bei der Korrektur überlieferter Irrtümer zum Einsatz brachte. Der dritte Teil seiner Geschichte des Decamerone ist der langen Reihe von Zensurmaßnahmen gewidmet, denen der Text Boccaccios ausgesetzt gewesen ist.

Diese ganz im Sinne der Rettungen erfolgte Rehabilitation des Renaissanceautors dürfte zu Lessings Neubearbeitung der Ringparabel einen Teil beigetragen haben. Im November 1778 lag eine erste Prosafassung des Stücks abgeschlossen vor, an der Versifikation hat Lessing dann - unterstützt von Ramler - noch ein halbes Jahr gearbeitet. Das im Mai 1779 an die ca. eintausend (!) Subskribenten ausgelieferte Werk war auch ökonomisch ein Erfolg; die Leser haben zweifellos einen zwölften Anti-Goeze erwartet. Nicht erst der heutige Leser hat Mühe, einen Überblick über die etwas verwickelte Handlung des Lehrstücks Nathan der

116

VI. Bibliothekar in Wolfenbüttel (1770-1781)

Weise zu behalten. Eine kurze Zusammenfassung sei daher an den Beginn gestellt; sie stammt aus der Adrastea von Johann Gottfried Herder und zeigt, wie die Zeitgenossen das Stück verstanden und welche Akzente sie gesetzt haben: es ist eine dramatische Schicksalsfabel [...]. Ein Tempelherr wird nach Palästina geworfen, er weiß selbst kaum, wie, gefangen und allein begnadigt, er weiß selbst nicht, warum. Es entdeckt sich, einer Aehnlichkeit wegen, die er mit einem Bruder des Sultans habe, sei dieses geschehen; die Sache kommt ihm und dem Sultan aus dem Gedächtniß. Er rettet ein Judenmädchen aus dem Feuer und weiß nicht, warum; kommt dadurch in Bekanntschaft mit Nathan, den er kennen zu lernen nie Lust hatte; mit der Geretteten selbst, deren geistige und körperliche Bildung ihn mit einer Art Liebe überrascht. Der Jude zögert; der Patriarch, ein Klosterbruder, der Sultan kommen ins Spiel; es entdeckt sich endlich, daß Recha des Tempelherren Schwester, daß Beide des Sultans Bruderkinder, daß beide Religionen nahe

verwandt sind und der Jude ihr Aller Wohlthäter gewesen. (II ro)

Eine märchenhafte Geschichte, doch keineswegs zeit- und ortlos. Lessing verlegt sie in die Epoche der Kreuzzüge. Bei dem Sultan handelt es sich um den berühmten Saladin, der nach der für ihn siegreichen Schlacht bei Hattin im Jahr 1187 - die zur

Einnahme Jerusalems führen sollte - zweihundert Templer und Johanniter enthaupten ließ. Die Grausamkeit der kriegerischen Auseinandersetzungen wird in Herders Nacherzählung am Beginn kurz angedeutet (gefangen und allein begnadigt), um die Versöhnung am Schluss des Stücks besonders hervorzuheben, die auf der Einsicht beruht, dass die abrahamitischen Religionen nahe verwandt seien. Erst danach findet die Parabel Erwähnung, ohne dass sich eine genauere Auslegung anschließen würde: «Um ein Märchen von drei Ringen schlingt sich das dramatische Märchen, ein reicher Kranz von Lehre der schönsten Artıl..]:»

Die Anspielungen auf die als vorbildlich geltende Regierung und den ritterlichen Charakter des Sultans hat Lessing historischen Darstellungen entnommen, vor allem Louis Claude Marins Geschichte Saladins (2 Teile, 1761; vgl. B IX ı160ff.).

VI. Bibliothekar in Wolfenbüttel (1770-1781)

117

Doch neben diesen geschichtlichen Quellen sind es literarische Muster, aus denen sich die Handlung des Dramas aufbaut. Von Bedeutung sind vor allem die biblische Hiob-Erzählung und Anspielungen auf das antike Drama, wobei dessen tragische Konflikte (Ermordung von Verwandten, Inzest) nur im Bühnen-

hintergrund stehen, im Vordergrund wird eine Familiengeschichte erzählt. Der analytische Aufbau des Dramas dient dazu, die komplizierten Verwandtschaftsverhältnisse zu enthüllen. Auch hier erfüllt Lessing die in der Hamburgischen Dramaturgie geltend gemachten Forderungen an die Kausalität der Handlung und deren genaue Motivation aus den Charakteren. Dazu tragen ganz wesentlich die in der Vergangenheit liegenden Taten bei, über die berichtet wird: Nathan nimmt Recha als

Findelkind auf, Saladin begnadigt den Tempelherrn und dieser riskiert sein Leben, um die Tochter Nathans aus dem Feuer zu retten. An der moralischen Sensibilität der Figuren besteht kein Zweifel, alle zeigen sich bereit, selbstlos das Gute zu tun. So kann auch der durch die Machenschaften des Patriarchen entstehende Konflikt beigelegt werden, indem man sich von seinen religiös bedingten Vorurteilen löst, zur Verständigung und schließlich - durch den Bericht Nathans und das Brevier des Klosterbruders - zu einer engen familiären Bindung findet. Am Ende gehört Nathan zwar nicht zu diesem Familienbund, zweifellos aber zu der Gemeinschaft der Religionen, für die er überzeugend einzutreten weiß: Was die Haupthandlung bildlich vorführt, erhält durch die von ihm erzählte Parabel normative Bedeutung, ihre Universalität verweist auf Handlungsräume

außerhalb des dramatischen Geschehens. Um eine Vermittlung zwischen konkurrierenden Bekenntnissen herzustellen, reicht das Gebot der Neutralität und wechselseitigen Achtung nicht aus: Toleranz ist nicht gegen, sondern

aus den religiösen Selbstdeutungen und Traditionen zu begründen, deren Geltungsansprüche bestehen bleiben. Dass die perspektivenbildenden Standpunkte bei einem Plädoyer für Toleranz zu berücksichtigen sind, hat Lessing erkannt. Die Hauptfigur seines Dramas bedient sich eben dieses Arguments, um der Frage des Sultans nach den «Gründen» für die Wahl einer be-

118

V1. Bibliothekar in Wolfenbüttel (1770-1781)

stimmten Religion die Grundlage zu entziehen. Lessings Toleranzdenken zeigt in einer für das 18. Jahrhundert ungewöhnlichen, äußerst prägnanten und dabei modern anmutenden Form, wie die religiösen Selbstbeschreibungen des Menschen als historisch kontingent und zugleich als ein in kulturelle Traditionen eingebundener und zudem unhintergehbarer Deutungsakt zu betrachten sind. Erst durch diese Reflexionsleistung wird das Theaterstück zu einem ingeniösen Gedankenexperiment, das die Frage nach den Glaubensdifferenzen (und deren destruktiven Folgen) in einer visionären, dazu noch poetischen

Beweisführung zu beantworten versucht. Die Ringparabel lässt sich in vier Abschnitte gliedern, die durch einen Monolog der Hauptfigur eingeleitet werden. Dieses Vorspiel ist für den Autor offenbar von großer Bedeutung, da er sich kaum Mühe gibt, es schlüssig in den Zusammenhang zu integrieren. Genau in der Mitte des Stücks wird eine Zäsur gesetzt, welche die Parabel ankündigt, die mit dem Lehrgedicht in wechselseitige Auslegung treten soll. Szene III, 6 Nathan allein: Der Kaufmann zeigt sich informiert, er weiß um die Nöte des Sultans: «Ich bin / Auf Geld gefaßt; und er will - Wahrheit. Wahrheit!» Noch bevor er die Gesprächsstrategie Saladins durchschaut, reflektiert er in einem durch das Stichwort hervor-

gerufenen Bildbereich über den Begriff der Wahrheit, was ihn zu einem ersten Religionsvergleich führt: «als ob / die Wahrheit Münze wäre! - Ja, wenn noch / Uralte Münze, die gewogen ward!» (V. 352-357). Mit der alten Münze ist die authentische religiöse Erfahrung gemeint, die innere Wahrheit der Religion, während die späteren Prägungen, die diesen Wert verloren haben, für die verfestigten Dogmen und Lehrmeinungen der positiven Religionen stehen, die miteinander konkurrieren. In Abschnitt (r) der Ringparabel hält sich Lessing zwar eng an seine Vorlage, signifikante Abweichungen von Boccaccio zeichnen jedoch bereits die eigenen Argumentationslinien vor. So berichtet Melchisedech in der italienischen Novelle von einem großen und reichen Mann, der unter den Preziosen in seinem Schatz einen besonders schönen und wertvollen Ring besaß; von der Verzierung durch einen Edelstein ist nicht die Rede.

VI. Bibliothekar in Wolfenbüttel (770-1781)

119

In Nathans Version wird hieraus ein «Ring von unschätzbarem Wert’ /[...] Der Stein war ein / Opal, der hundert schöne Farben spielte, /Und hatte die geheime Kraft, vor Gott / Und Menschen angenehm zu machen, wer / In dieser Zuversicht ihn trug.» (V. 396-401) Warum ein Opal? Nun, in der alchemistischen Tradition symbolisierte der Halbedelstein die göttliche Gnade; und es gibt noch weitere Deutungen des Motivs, auf die

hier nicht eingegangen werden soll, da es vor allem auf das neue Element ankommt, das Lessing in die Erzählung einführt. Das ist die geheime Energie, die der Ring bei jenen entfaltet, die an eine solche mit voller Zuversicht glauben. Dabei handelt es sich allein um die ethische Gesinnung des Trägers, die lebenspraktische Wirkung hervorbringen soll: «Ich versteh dich», wirft Saladin hier ein, « Weiter!» In Abschnitt (2) kommt das Gespräch dann auf den Vater, der

sich nicht entscheiden kann, welchem seiner Söhne er den Ring vererbt, da «alle drei ihm gleich gehorsam waren», wie es bei Lessing lakonisch heißt. In der italienischen Novelle lässt der Vater zwei weitere Ringe anfertigen, die dem ersten so sehr gleichen, dass er selbst kaum einen Unterschied erkennt («appena conosceva qual si fosse il vero»). Zwar nur schwach, aber gleichwohl kann der echte Ring noch identifiziert werden. Anders Lessing. Bei ihm sendet der Vater «geheim zu einem Künstler, / Bei dem er, nach dem Muster seines Ringes, zwei andere bestellt [...]». Der Künstler erweist sich als ein Meister seines Faches, und als «er ihm die Ringe bringt, / Kann selbst der Vater seinen Musterring / Nicht unterscheiden». Saladin zeigt sich von dieser Wendung der Geschichte betroffen und verlangt zu hören, was nach dem Tod des Vaters geschieht, woraufhin Nathan ihm die Boccaccio-Lösung präsentiert: «Man untersucht, man zankt, / Man klagt. Umsonst; der rechte Ring war nicht/ Erweislich; - [nach einer Pause, in welcher er des Sultans Antwort erwartet:)», die er dann selbst gibt: «Fast so unerweislich, als / Uns itzt - der rechte Glaube.» (V. 429-447) Es handelt sich um eine vorläufige Antwort, denn nun beginnt mit dem Ausruf Saladins: «Spiele nicht mit mir! - Ich dächte, / Daß die Religionen [...] doch wohl zu unterscheiden

120

VI. Bibliothekar in Wolfenbüttel (1770-1781)

wären», der dritte Abschnitt (3) der Parabel. Es handelt sich

eigentlich nur um ein Intermezzo, in dem Nathan die konkrete Ausgangsfrage, auf der Saladin besteht, ins Abstrakte wendet und damit die von Lessing im Fragmentenstreit entwickelten Argumente aufnimmt. Während der Sultan bei der Eröffnung des Gesprächs mehrmals nach den «Gründen» für die «Wahl des Besseren» (aus «Einsicht»!) verlangt, verändert Nathan den Begriff konzeptuell: «Denn gründen alle sich nicht auf Geschichte? /[...] Und / Geschichte muß doch wohl allein auf Treu / Und Glauben angenommen werden?» (V. 459-470) Von dieser Antwort ist der Sultan so beeindruckt, dass er verstummt. Damit wird zum letzten Abschnitt (4) der Parabel übergeleitet. Nathan ergreift noch einmal das Wort: «Laß auf unsre Ring’ / Uns wieder kommen.» Was nun folgt, ist der auslegungsbedürftige Teil der Erzählung, der keine Vorlage in der Tradition hat. Ist der echte Ring verloren? Die drei zerstrittenen Söhne, die ihre Klage vor einen neutralen Richter bringen, sind «Betrogene Betrieger» (V. 508), da die vermeintliche Macht der

gefälschten Ringe nicht nach außen wirkt, sondern nur die Selbstsucht ihrer Träger steigert. Das Zentrum der Parabel ist damit erreicht, was nun folgt, ist wider Erwarten kein Urteil,

sondern eine Empfehlung: «Mein Rat ist aber der: ihr nehmt/ Die Sache völlig wie sie liegt. [...] Wohlan! / Es eifre jeder seiner unbestochnen / Von Vorurteilen freien Liebe nach!» (V. sı5532) Es handelt sich um eine Fiktion, da der Richter ausschließt,

dass einer der Söhne im Besitz des wahren Erbes sein könnte: «Eure Ringe /Sind alle drei nicht echt.» (V. 5o8f.) Gehandelt werden soll also unter einer bewusst falschen Annahme,

mit

einem Versprechen auf die Zukunft, in der sich die erfreulichen Folgen des ethischen Handelns zeigen sollen. Genau besehen, handelt es sich bei dem Rat des Richters um eine Zumutung, eine paradoxe Empfehlung. Die Betrugshypothese könnte auch etwas ganz anderes bewirken als die Ergebenheit in Gott, bestenfalls eine skeptische Indifferenz mit moralisch unwägbaren Folgen. Dem stehen jedoch eine Reihe zusätzlicher Annahmen entgegen. Zunächst: Eine Gewissheit teilen die Söhne, dass nämlich - wie der Richter zu verstehen

VI. Bibliothekar in Wolfenbüttel (1770-1781)

2:

gibt - der Vater «euch alle drei geliebt, und gleich / Geliebt: indem er zwei nicht drücken mögen / Um einen zu begünstigen». (V. 522-524) Die drei Religionen partizipieren an diesem ge-

meinsamen Ursprung, der zugleich ein moralisches Vermächtnis ist. Obwohl die positiven Religionen unecht und in ihren Lehrmeinungen falsch sein mögen, sind sie doch imstande, etwas für die Lebenspraxis ihrer jeweiligen Anhänger zu leisten. Das ist der Grund, weshalb Nathan den Glauben seiner Väter achtet

und dies auch den Muslimen und Christen empfiehlt, wobei erneut die Liebe zu einem Leitbegriff wird: «Nun wessen Treu und Glauben zieht man denn / Am wenigsten in Zweifel? Doch [...] deren, die / Von Kindheit an uns Proben ihrer Liebe / Gegeben?» (V. 463-467) Am Ende steht nicht die Botschaft von der Gleichgültigkeit gegenüber allen Religionen - wie sich der Schluss der Novelle bei Boccaccio deuten ließe -, sondern die Aufforderung zu einem Wettbewerb, aus dem sich die Lösung der keineswegs verabschiedeten Wahrheitsfrage ergeben wird: Wenn der Richter auf den «weisre[n] Mann» verweist, der in «tausend tausend Jahre[n]» das endgültige Urteil sprechen wird, dann öffnet sich die Parabel hin zu jenem dritten Zeitalter, das in der Erziehung des Menschengeschlechts als dasjenige der Vernunft beschrieben wird. Die Theorie von den drei Zeitaltern lässt sich auf die Ringparabel beziehen, sie ist deren Sinn keineswegs, wie verschiedentlich ausgeführt wurde, entgegengesetzt. Ergebenheit in Gott - das ist eine im Dramentext von Recha und Nathan zwar nur an wenigen Stellen gebrauchte Wendung, die jedoch unmittelbar zum Verständnis der lehrhaften Erzählung führt. Die dazugehörige Szene ist der 7. Auftritt im 4. Akt, das Gespräch zwischen Nathan und dem Klosterbruder, wo der Kaufmann von dem Pogrom als einer von Gott auferlegten Prüfung berichtet, die ihm fast den Verstand geraubt hat: «Doch nun kam die Vernunft allmählig wieder. / Sie sprach mit sanfter Stimm’: «und doch ist Gott! / Doch war auch Gottes Ratschluß das!» [...] Ich stand! und rief zu Gott: ich will! / Willst du nur, daß ich will!» (V. 674-681) Aus diesem Wendepunkt des Lebens erwächst ein Vertrauen in die Vorsehung, von der im selben Zusammenhang dann im Blick auf das Schicksal Rechas die

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Rede ist: «wenn sie von meinen Händen / Die Vorsicht wieder fordert, - ich gehorche!» (V. 698 f.) Diese Einsicht kennzeichnet die Einstellung Nathans, in deren Nähe man auch die Position des Autors vermuten darf.

Die theologischen Auseinandersetzungen haben Lessings letzte Lebensjahre bestimmt. Auch als ihn der junge Schriftsteller Friedrich Heinrich Jacobi (1743-1819) im Juli 1780 in Wolfenbüttel besuchte, sprachen sie über «Atheisten, Theisten und Christen» (GBL 495). Jacobi hat das Gespräch, in dem Lessing sein Interesse an der Philosophie Spinozas zum Ausdruck brachte, aufgezeichnet und 1785 publiziert. Moses Mendelssohn zeigte sich entsetzt über das angebliche Bekenntnis seines Freundes und antwortete mit einer Gegenschrift. Aus dem Konflikt entwickelte sich der Pantheismusstreit, der die nachfolgende Generation von Philosophen prägen sollte, vor allem im Tübinger Stift, wo Hegel, Schelling und Hölderlin die von Jacobi veröffentlichten Briefe Ueber die Lehre des Spinoza diskutierten. Lessing hat diesen neuen, wiederum

mit seinem Namen

ver-

bundenen Streit nicht erlebt, er starb am ı5. Februar 1781 bei einem Aufenthalt in Braunschweig. Einen seiner letzten Briefe richtete er im Dezember 1780 an Moses Mendelssohn; der Schlusssatz lautet: «Ach, lieber Freund! diese Scene ist aus! Gern möchte ich Sie freilich noch einmal sprechen!» (B XII 370)

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Register

Aesop 55 Anakreon 27 Aristoteles 54, 87-90

Eschenburg, Johann Joachim 96, 104

Augustin von Hippo roof. August III., Kurfürst von Sachsen

Stephanus) 27 Euklid 12, 87

13

Estienne, Henri II (Henricus

Euler, Leonhard 22

Euripides 42

Bacon, Francis 18

Bandello, Matteo ro1 Basedow, Johann Bernhard 60, 63

Batteux, Charles 48

Bayle, Pierre 9, 14, 34, 63, 102 Benedikt XIV., Papst 32 Boccaccio, Giovanni I14f., 118-120 Bode, Johann Joachim Christoph 81

Bodmer, Johann Jakob 59 Boileau, Nicolas 48 Boner, Ulrich 56 Bose, Georg Matthias 32 f. Brandenburg, Albrecht von 32 Breitinger, Johann Jakob 59 Cardano, Girolamo (Hieronymus

Cardanus) 33 f. Christ, Johann Friedrich 14, 55, 56 Cochläus, Johannes 33 Corneille, Pierre 88-90 Cramer, Johann Andreas 59-61,

63 f. Dohm, Christian Wilhelm 2ı Dusch, Johann Jakob 39

Fabricius, Johann Albert 16 Ferguson, Adam ııof. Friedrich II., König von Preußen 18, 23, 65, 84

Gellert, Christian Fürchtegott 56 Gleim, Friedrich Wilhelm 65 f. Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 27, 56

Goethe, Johann Wolfgang von 45, 73, I0I Goeze, Johan Melchior 82, 107, 1ogf., 114 Gottsched, Johann Christoph 13 f, 22 ZASAONSIN SIE TOR

Götz, Johann Nikolaus 27 Gumpertz, Aaron Salomon (Emmerich, Aaron Zalman) 18-20

Günther, Johann Christian 28

Hagedorn, Friedrich von 27 Haller, Albrecht von 22, 29, 3 1 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 94, 722 Herder, Johann Gottfried 55, 57, OZKLEISTLEO

Ebert, Johann Arnold 94, 96

Ebert, Johann Jakob 17 Ernesti, Johann August 14

Heyne, Christian Gottlob 5o Hirschel, Abraham 56 Hölderlin, Friedrich 122

Register

127

Homer 75 Huarte, Juan 17f.

Manni, Domenico Maria ı15

Hugo von Trimberg ro3 Hutcheson, Francis 53

Marin, Frangois-Louis-Claude 116 Marino, Giambattista 101 Mendelssohn, Moses 8, ı8f., 21,

Jacobi, Friedrich Heinrich 122 Joachim von Fiore ı 11, 114 Jöcher, Christian Gottlieb 34 Joseph II., Kaiser 94

Maria Theresia, Kaiserin 64

30, 36, 45, 51754,

63, 65, 69,

7,6, 795 88, L1LO) BEA, 122

Metzler, Johann Benedict 22 Michaelis, Johann David 2of., 40,

44 Kant, Immanuel 109

Karl Wilhelm Ferdinand, Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel

Morhof, Daniel Georg ı6f. Mylius, Christlob 21-23, 25, 27, 5ı

94 Kästner, Abraham Gotthelf ı4f., 22

Naumann, Christian Nicolaus 19

Kierkegaard, Sporen 25 Klein, Johann Anton von roo Kleist, Ewald von 65, 68 Klimm, Johann Albert ı2 Klopstock, Friedrich Gottlieb 61 Klotz, Christian Adolph 93 König, Engelbert 94 König, Eva 7, 94f., 104 Kutzsch, Joachim von 96

Neuser, Adam

La Fontaine, Jean de 56 Lange, Samuel Gotthold 60 Le Febvre, Simon 69 Leibniz, Gottfried Wilhelm ro,

Pius VI., Papst 95 Plautus, Titus Maccius 22

AO, Hin Lemnius, Simon 32f. Leopold von BraunschweigWolfenbüttel, Prinz 94f., 106, 175 Lessing, Johann Gottfried ıof., 23, so Lessing, Karl Gotthelf 14, 69, 80, 91, 97, IO6, II4

Lessing, Traugott 104 Linne, Carl von 27 Livius 97 Löwen, Johann Friedrich 81 Luther, Martin 32f. Machiavelli, Niccolö 98

103

Neuber, Friederike Karoline 14 Newton Isaac 12, 33 Nicolai, Friedrich 51, 53, 58f., 65, 79, 81, 88f., 93 f.

Phaedrus 56 Philippine Charlotte von Preußen, Herzogin von BraunschweigWolfenbüttel 96

Pope, Alexander 30f.

Pufendorf, Samuel 37, 53 Quantz, Johann Joachim 65 Racine, Jean 88 Racine, Louis 29

Ramdohr, Friedrich Wilhelm von 36 Ramler, Karl Wilhelm 38, 65, 69 f.,

IIS Reimarus, Elise ro5 Reimarus, Hermann Samuel 71f., 82, TOS-III

Reimarus, Johann Albert Hinrich 109 Reiske, Ernestine 7, 94 Reß, Johann Heinrich 108 Richardson, Samuel 38

128

Register

Ronsard, Pierre 27 Rosenmüller, Johann Georg ııı

Thaer, Albrecht ııı Thomasius, Christian ı6f.

Rousseau, Jean-Jacques 52f., 91

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph

Ulrich von dem Türlin 103 Uz, Johann Peter 27

1272

Schmid, Konrad Arnold 69 Schumann, Johann Daniel 108 Schütz, Christian Gottfried 48

Vergil 74 Vogt, Johann 35 Voltaire 88

Seneca22r 42,

Voß, Christian Friedrich 18, 22,

Shadwell, Thomas 38 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper 76 Shakespeare, William 46 Sophokles 46 Spener, Philipp Jacob 24 Spinoza, Baruch ı 11, 122

Steinhöwel, Heinrich ro3 Sulzer, Johann Georg 65

Tauentzien, Bogislaw Friedrich von 68.

24f., 34, 36, 56, 65, 70, 93 Weiße, Christian Felix 89 f. Werner, Paul 83 Whiston, William ı2

Winckelmann, Johann Joachim 63,

79, 73f. Winckler, Christian Gottfried

sof. Wolff, Christian 13, 31, 56f. Zachariä, Friedrich Wilhelm 96

(0 Ephraim Lessing gilt als der mustergültige Vertreter der Aufklärung in Deutschland. Der überzeugte Toleranzdenker, der mit «Nathan der Weise» und «Minna von Barnhelm» Theatergeschichte schrieb, legte zudem eine tiefe Skepsis bei der Suche nach letzten Gewissheiten an den Tag „und scheute vor scharfen Auseinandersetzungen nicht zurück. Neben Leben und Werk beleuchtet Friedrich Vollhardt auch das Netz der Gesprächspartner und Freunde Lessings sowie die Strategien, mit denen er seine Gegner vor einem

aufmerksamen Publikum höchst wirkungsvoll sezierte. Friedrich Vollhardt ist Professor "für Deutsche Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Originalausgabe ISBN 978-3-406-68835-5

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€ 8,95 [D]

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