Goethe in heutiger Sicht [Reprint 2019 ed.]
 9783486775402, 9783486775396

Table of contents :
VORBETRACHTUNG
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
IX.
X.
ANMERKUNGEN

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FRITZ

GERATHEWOHL

GOETHE IN HEUTIGER SICHT

lll K ô W

M Ü N C H E N U N D B E R L I N 1942

V E R L A G VON

R.OLDENBOURG

Die Arbeit stellt die erweiterte Fassung einer Rede dar, die in Verbindung mit dem Vortrag Goethescher Dichtungen an Hand einiger Stichworte in der GoetheGesellschaft zu Dresden gehalten wurde.

Druck von R. Oldenbourg, München Printed in Germany

Den Freunden im Felde ALFRED MAYERHOFER WALTER RAMOTH MAX STADLER

VORBETRACHTUN G Wer sich in der Neigung und Absicht des Forschers d&r Dichtung nähert, wird in ihr fürs erste einen Gegenstand zu erfassen suchen. Er ist bemüht, in größtmöglicher Entfernung zu ihr die Voraussetzungen ihres Entstehens zu untersuchen und ihre durch Gestalt und Gehalt gleicherweise bedingte Erscheinung zu ergründen. Er sieht in ihr, wie der Philologe in der Sprache, in erstem Betracht ein Ergon, eine geschichtlich bedingte Erscheinung, ein in der Vergangenheit gewordenes Gebilde, das abzutasten, festzustellen und zu ergründen ist. Der Historiker kann in dieser Annahme ein gut Stück Weges gehen und wird auch zu mancherlei unbedingt gültigen Ergebnissen vorstoßen. Aber die Grenzen der ErgonBetrachtung sind enger gezogen, als es der Geschichtsfreund oft wahrhaben möchte: Ehe er sichs versieht, ist er über sie hinausgedrungen, geht er seine Wege im Bereiche einer Energeia-Schau. Soferne er nämlich in irgendeiner Hinsicht zu urteilen beginnt, wird ihm Geschichte zu einem Werdegang, zu einem Geschehen in der Vergangenheit. Das Gewesene, das ihn zum Urteil anregt, wird vor das Forum des — in ihm — Gegenwärtigen zitiert, und alle weiteren Bemühungen um die Abstandnahme können nicht verhindern, daß der Gegenstand sich zu einem Wirkenden umbildet: wie das Jetzige das Künftige enthält, ist nach Goethes Worten „im Gegenwärtigen Vergangenes" eingeschlossen, und es gilt des Dichters Erfahrung: „Vergangenheit und Gegenwart in eins". Das Leben ist ein ewiger Fluß vom Unendlichen her zum Unendlichen hin. Pflanze und Tier werden von seinen Wassern getragen, unfähig durch eigenen Willen zurück- oder, in schnelleren Stößen, als die Natur sie ihnen vorschreibt, vorauszuschwimmen: dem Menschen 5

allein ist es gegeben, kraft seines Bewußtseins und seiner Vorstellungskraft vorübergehend die Richtung des Erlebens zu verändern und vom Hier und Jetzt zu einem Dort und Damals oder einem Später sich hinzu bewegen. Aber wenn sich auch die Strömungen wandeln, so bleibt er doch in demselben Flusse, und das Hier und Jetzt des Lebens, das ihn selber erfüllt, bestimmt seinen Sinn, mit dem er das Ehedem wahrnimmt oder ein Künftiges ahnt. Wer in diesem Wissen über die Ergon-Forschung hinaus Geschichte betreibt, wird darum nicht ärmer sein in den Erwartungen, mit denen er an seine Arbeit geht, als derjenige, der seine Werk-Untersuchung überschätzt. Er weiß, daß er in seinem Urteil über menschliche Auswirkungen der Vergangenheit kaum zu ewig gültigen Schlüssen vordringen kann, aber er ist darum keinem schaffensfeindlichen Subjektivismus ausgesetzt. In organisch-biologischer Weltschau ist er sich bewußt, daß die Vergangenheit weit mehr seine Gegenwart bestimmt, als es „Individualisten" wohl je zugeben wollten — C. G. Jung erweist in unseren Jahren die Berechtigung jener Formel Goethes mit seiner Lehre von den kollektiven Archetypen bis in die Urzeiten menschlichen Erlebens hinein (1) — er wird darum demütig vor den ewigen Mächten, die seine Leib-Seele durchdringen und vergangen-gegenwärtig in ihm wirken. Aber er wird auch stolz sein in seinem Beginnen, denn jene Mächte strömen durch sein Werk ja auch in das Künftige hinüber, und niemand wird nach ihm an der Erkundung desselben Vorganges der Vergangenheit mit dem Bewußtsein letzter Verantwortung schaffen, der nicht die Kraft aufnähme, die er selbst verströmte. Gewiß, er sah die Welt, in die er gestellt war, bewußt als subjektbedingt an, aber über jeden pessimistischen Subjektivismus führte ihn die Erkenntnis davon hinaus, daß er kein ichhaft verwirkter Einsamer ist. Er fühlt sich vielmehr wie an die Gewalt 6

jener Kräfte so auch an die Gemeinschaft derer gebunden, die mit ihm eines Blutes sind und deren Jetzt und Hier überdies dem seinen gleich ist. Er weiß wiederum mit Goethe, daß uns „die Zeiten der Vergangenheit ein Buch mit sieben Siegeln" sind, und daß es „im Grunde der Herren eig'ner Geist" ist, „in dem die Zeiten sich bespiegeln". Darum macht er sich in Betracht der Vergangenheit frei von einem irrigen Sachlichkeitsglauben und ist mit dem Verfasser der Farbenlehre davon überzeugt, daß die „Weltgeschichte von Zeit zu Zeit umgeschrieben" werden müsse. Er bekennt sich bewußt und freudig zu einer Geschichtsschreibung, die — wie Goethes Freund Herder es forderte — ausgerichtet ist „auf eine pragmatische Anwendung auf unsere Zeit". Wenn es ihm schwer fiele, diese Haltung einzunehmen, dann mag er die geschichtlichen Darstellungen auf sich wirken lassen, mag er etwa vergleichen, wie man vor fünfzig und vor zehn Jahren die Barockdichtung beurteilte, oder auch wie von Düntzer bis zu Korff immer neue Wege gefunden wurden, die zu Goethe hinführten. Sehen wir die Dichtung nicht als Forschungsgegenstand an, sondern, wie es sich für ihren Sprecher und ihre Hörer von selbst ergibt, ausschließlich als wirkenden Lebenswert, so erfahren wir noch deutlicher, daß sie kein in sich abgeschlossenes Werk, sondern eine Erscheinung ist, die weithin von dem abhängt, der sie in sich aufnimmt. Diese Erkenntnis ist nicht von heute und gestern. In Schillers Abhandlung „Uber Matthisons Gedichte" finden wir den Satz: „Der wirkliche und ausdrückliche Gehalt, den der Dichter hineinlegt, bleibt stets eine endliche, der mögliche Gehalt, den er uns hineinzulegen überläßt, ist eine unendliche Größe." Damit ist ausgedrückt, daß die Dichtung als ein Ganzes gesehen in ihrer Wirkung veränderlich ist, daß sie in ihren letzten Werten abhängt von dem, was in einem Betrachter lebendig ist, 7

der sich in ihr nähert. In jedem, der sie hört oder vor sich hinliest, klingt sie in besonderer Weise an, je nachdem die Saiten beschaffen sind, die in ihm schwingen, oder anders gesagt : je nach den Erlebnisvoraussetzungen, die er in sich trägt. Indem sie in mich eingeht, erfasse ich die Dichtung als das, was Goethe von Mozarts Werken einmal sagt, als eine „zeugende Kraft, die von Geschlecht zu Geschlecht fortwirkt". Mit meiner eigenen Lebenskraft vermählt sie sich, und wenn ich sie sprechend von mir gebe, so kann ich sie nicht zu einem immer gleichen, für sich bestehenden, „objektiven" Ausdruck bringen. Soweit ich auch die besonderen Bedingtheiten ihrer Klangform beachte, strömt sie doch aus mir in einem Rhythmus, der mir wie ihr gleicherweise eigen ist, in einer Stimme, die der Dichtung Eigenheiten vor-tragen möchte und doch die meine ist, bereichert um die Stimme, die vom Dichter her in mir nachschwingt. Ihre „endliche Größe" lese ich ihr ab als das schaubar Seiende, als ihren Ergon-Teil; ihre „unendliche Größe" ist aber ebenso durch mich wie durch sie bedingt. Schopenhauer sah die Absicht des Dichters darin, uns die Ideen zu offenbaren, an einem Beispiel zu zeigen, was das Leben, was die Welt sei, und Dilthey erkannte in der Dichtung ein „Organ des Lebensverständnisses". Für uns Sprecher und Hörer wird sie überdies zu einem Mittel der Lebensbereicherung, ja, zu einer Auswirkung des Lebens selbst. Gebannt durch das Wort teilen sich in ihr Urwerte des Lebens vom Menschen her dem Menschen mit. Notwendig dazu ist, daß wir sie nicht wie ein „Erbgut der Vergangenheit", als einen bleibenden Besitz ansehen, sondern mit den Organen, die uns gegeben sind, sie uns „einverleiben", sie ständig neu „erwerben, um sie zu besitzen". Abhängig vom Menschen also ist die Dichtung in ihren Ausstrahlungen veränderlich: sie bestimmt wie jedes wirkende Werk der Vergangenheit die Menschen, 8

und sie wird auch von ihnen bestimmt. Ihre unendliche Größe wandelt sich ab wie im Einzelnen so in der Folge der Geschlechter. Unternimmt man es aber, wie wir es heute am Werke Goethes versuchen, ihre hic et nunc gültigen Lebenswerte zeitwirkend als Redner zu vermitteln, so ist dabei Wissen und Glauben gleicherweise beteiligt: das Wissen um die Gesamtvoraussetzungen jener Werte, also auch um den Ergon-Teil der Dichtung, und der Glaube daran, daß die Lebenswerte, in die man sich eingeboren fühlt und die somit die Sonde der Betrachtung abgeben, nicht irgendwie bedingt, sondern unbedingt gültig sind.

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I

Sie werden verstehen, warum ich unseren Weg zu Goethe von dieser Grundhaltung aus suche. Seine Geschichtsschau ist weithin gesehen wieder die unsere geworden, dynamistisch bedingt wie die eines Herder oder Humboldt. Vor allem aber gibt es wenige Werke unseres Schöpfergeistes, denen es so nötig und möglich wäre wie dem Werke Goethes, im deutschen Menschen unserer Tage neu geboren zu werden, um in ihm und durch ihn neu zu wirken. Goethe schuf ja nichts an sich; er war nur immer — wir belegen es später — auf Wirkungen aus, und das Werk war ihm nur in Verbindung mit dem Menschen möglich. „Wie die Gottheit hinter dem Weltgebäude, so steht er hinter seinem Werke; er ist das Werk und das Werk ist er" — diese Deutung, die Schiller vom naiven Dichter schlechthin gibt, ist von Goethes Dasein und Wirken abgezogen. Er wußte von keiner Welt „als in Bezug auf den Menschen" und von keiner Kunst, als der, die „ein Abdruck dieses Bezuges" sei. Zwischen sich und der Welt empfand er wie der Zyklothymiker Kretschmers (2) keine Schranke, sondern er fühlte sich eins mit ihr und war ihr ständig verbunden. Sein Ich beschränkte sich nicht auf sich selbst, sondern er sog gleichsam in jedem Atemzuge die Kräfte des Alls in sich ein. Und die Menschen, die ihm wesentlich wurden, bereicherten ihn derart, daß oft kaum festzustellen ist, was sein Ursprüngliches sein möchte, und was ihm von anderen zukam, von Frauen zumal, die er liebte, weil ihr Leben für das seine wesentlich war und ihre Liebe ihn zum Schaffen segnete:

,,. . .

Die du mir Jugend Und Freude und Mut Zu neuen Liedern Und Tänzen g i b s t . . . " 10

Goethe hatte für sich das überwunden, was Philipp Lersch die „Binnenhaftigkeit" oder „Selbstbefangenheit" des Seelischen nennt. Fürwahr, seine Seele hatte die „Möglichkeit der Transzendenz", und man könnte an Goethes Leben erweisen, was Lersch schlechthin für gültig hält, daß nämlich „seelisches Leben sich nicht erschöpft im Innewerden inselhafter subjektiver Zustände und Vorgänge, sondern recht eigentlich ein Angerufenwerden von der Welt und eine Begegnung mit ihr darstellt" (3). Die Liebe zum All, zur Gott-Natur und zum Menschen war die Triebkraft, die Goethe über sich selbst hinaus wachsen ließ; sie brachte ihm ständig die Bereicherungen seines Ich. Sie Heß ihn aber auch zu einem Menschen werden, der sich mit-teilen, der sein Ich an ein Du verströmen mußte, wie er andererseits das Du der jeweils ihm wichtigen Begegnung in sich aufnahm, sei es eine Pflanze oder sei es ein Mensch gewesen. So war er wie der Quell in „Mahomets Gesang". Dessen Wasser mischte sich mit dem der Bruderquellen, die er mit sich riß, „Und die Flüsse von der Eb'ne Und die Bäche von den Bergen Jauchzen ihm und rufen Bruder! Bruder, nimm die Brüder mit. Und so trägt er seine Brüder, Seine Schätze, seine Kinder Dem erwartenden Erzeuger Freudebrausend an das Herz." Der gewaltige Strom, gespeist von unendlich vielen Wässern, will sagen das innerlich reichste Leben, das je ein Mensch zu führen vermochte, es fließt auch in uns ein, es ist auch unserem Herzen bestimmt, wenn wir uns nur ihm öffnen, wenn wir nur zu hören verstehen auf das, was es uns zu sagen und zu deuten hat. Freudvoll und 11

leidvoll braust die Melodie des Stromes dahin, den -wir Goethes Dasein und Wirken nennen. Sie klingt in Tönen schweren Schmerzes und jubelt in göttlicher Heiterkeit. Bald lag blau-froher Sonnenhimmel über dem Lande, das er durchfloß, bald war die Sonne verfinstert und die Erde um ihn schien zu bersten. Sie wissen, was diese Bilderreihe Ihnen sagen soll: ihn, den man so oft als den harmonisch in sich Ausgeglichenen hinstellte, ihn warf, wie er in „Dichtung und Wahrheit" betont, „die Natur von einem Extrem ins andere". Nur dadurch, daß er wie irgendwer den Schmerz ahnte, wußte er auch vom Segen des Glücks, aber der Schmerz war ihm eine größere Gabe als das Glück, denn zu sagen, was er litt und damit das Leid zu fruchtbarem Antrieb werden zu lassen, ist ihm wie keinem anderen gegeben. Mahnt er uns nicht wie alle Großen im Reiche der schöpferischen Welt daran, wie Schiller oder Beethoven, wie Grillparzer oder Mozart, den Schmerz nicht als eine Strafe des Himmels, sondern als einen Anruf der Götter aufzunehmen, ihn nicht zu verwünschen, sondern an ihm zu wachsen und zu reifen? Und sollten wir nicht immer wieder den Dichter befragen, wenn uns der eigene Schmerz sinnlos erscheint ? Er überließ uns „Bruchstücke einer großen Konfession"; er bekennt sich vor uns zu sich selbst und befreit sich damit von seinem Leide, wie er uns, wenn seine leidlösenden Worte in uns eingehen, den Schmerz zu lindern vermag, den wir empfinden, wenn wir unseres Treibens müde sind oder als friedlos Irrende vergeblich Ruhe suchen. Seine Bilder und Gestalten sind dabei nebensächlich, nur Gleichnisse seines und unseres Lebens, denn wie der Naturforscher in ihm am Spiegel des Lichtes, am Regenbogen, das Wesen des Lichtes erkannte, so stellt der Dichter „am farb'gen Abglanz" das Leben dar.

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II Daß man dieses Wort in seinem tiefen Sinne übersah, ergibt einen Vorwurf gegen viele, die Goethe fremd wurden. Sie nahmen ihn allzu „wörtlich", hielten sich an Kulisse und Kostüm seiner Dichtungen und lehnten mit Handlungsmotiven, die ihnen ferne lagen, unbewußt auch die Lebenswerte ab, die den fraglichen Dichtwerken innewohnen. Wir leugnen nicht, daß der „Abglanz des Lebens" im „Werther" oder in den „Wahlverwandtschaften" weitab von unserer Welt liegt und Szenen wie die klassische Walpurgisnacht uns schwer zugänglich sind. Aber man lese nur einmal die Werther-Briefe etwa vom 10. Mai und vom 18. August: Welch tiefe Schau in das Geheimnis der unendlich-ewigen Natur offenbart sich hier! In eh' wie je gültiger Lebensweisheit ist ferner das hintergründige Schicksal jener vier Menschen gestaltet, die einander wahlverwandt waren. Und die klassische Walpurgisnacht ? Sie ist die Ausdeutung dessen, was uns Heutigen erst recht zum Bildungsideal geworden ist: die Vermählung des nordischen mit dem hellenisch-klassischen Geiste. Nein, der „Abglanz" darf so wenig als das über die Zeiten hin gültige Leben selbst angesehen werden wie die Tiefenschau des Dichters mit der Flächensicht eines Schriftstellers zu verwechseln ist, dessen Gegenstände und Fabeln wir ohne tiefere Bedeutung, lediglich der Unterhaltung wegen, aufnehmen. Aber ist es nicht allzuschwer für uns geworden, den Schlüssel zu jenem Herzenstor zu finden, durch das der Goethesche Lebensstrom in uns einmünden könnte ? Zu schwer für uns schnellebig Kämpfende, tatkräftig Strebende, ihn zu ergründen in den Tiefen seiner Gewässer ? Wie sollten wir das zeitlich Bedingte vom ewig Gültigen des Goetheschen Werkes abzuziehen vermögen ? Vielen von uns war Goethe nie der ewig Gültige, sondern der ewig Ferne. Sein Dichten war ihnen, so sagen sie wohl, 13

ein Bekenntnis, aber eines nur um der eigenen Erleichterung willen. Sein Leben ist für sie abwegig gewesen, das Streben eines ichhaften Höflings, eines großen Egoisten, der sich selbst genügte und in der Vollendung seiner selbst das Lebensziel erblickte. „Er ist uns wesensfremd; er hat uns nichts zu sagen": so deutete Eduard Spranger im Jubiläumsjahr 1932 das Verhältnis aus, das viele Deutsche zu Goethe glaubten finden zu müssen (4). Wie recht er mit dieser Feststellung hatte, mag daraus zu erkennen sein, daß fünf Jahre nach ihm ein sonst von uns geschätzter Dichter eine „Ent-Goethung" für durchaus verständlich und angebracht hielt. Als diejenigen Werte, die Goethe „vor allem" verkörpere, sieht dieser Gewährsmann an: „Humanität und Humanismus, Bildung, Bürgertum, Besitz, Kultur, Persönlichkeit", und er meint dann, daß „statt ihrer beherrschend in den Vordergrund der große Wert und Gedanke der Volksgemeinschaft" getreten sei. Ein sinnfällig schiefes Urteil, entstanden aus willkürlicher Auswahl und falscher Gegenüberstellung, ein Urteil aber, das dem oberflächlichen Betrachter noch heute naheliegt. Es mochte Hans Carossa im Gedächtnis sein, als er in seiner Ansprache vom Jahre 1938 meinte: „In den letzten Jahren war viel die Rede von der GoetheFerne und Goethe-Entfremdung unserer Zeit und wirklich schien es zuweilen, als wäre sein Gestirn für breite Schichten unseres Volkes versunken" (5). Bildung, Kultur, Persönlichkeit ? Bei Gott, das sind Züge seines Gesichtes, die wir gelten lassen, vorausgesetzt, daß man unter „Persönlichkeit" nicht stillschweigend die gemeinschaftsfremde Einstellung eines „Individuums" verstünde! Fordern wir heute etwa keine Persönlichkeiten ? Zielen wir nicht gerade darauf hin, mehr denn je alle im Einzelnen wirkenden Kräfte zu harmonischer Ganzheit heranzubilden ? Unterscheidet sich nicht ein deutscher Sozialismus vom Gegenpol des 14

Marxismus dadurch, daß er den „Massenmenschen" ablehnt und die gemeinschaftsverbundene Einzelpersönlichkeit als Voraussetzung eines völkischen Lebens ansieht ? Bürgertum, Besitz ? Will heißen Philistertum, Sattheit und antisoziale Haltung ? Da haben Sie die Verzerrung des Goethe-Bildes in letzter Deutlichkeit: Die Spießbürger des 19. Jahrhunderts hatten ihn für sich in Anspruch genommen und ihn abgestempelt auf ihre Bedürfnisse und Pseudoideale. Er war ihnen einer der „Oberen" bürgerlicher Kaste, der pensionsberechtigte Fürstendiener, der auch als Dichter die „Untertanen" zu braver Genügsamkeit und Selbstbescheidung ermahnte. Daß der Herr Staatsminister und Geheime Rat in seiner Jugend ein Stürmer und Dränger gewesen war und auch im Alter noch manches Zeugnis eines bewegten Lebenswandels aufwies, war wohl nicht zu leugnen, paßte aber im Grunde wenig in das Bild des doch vor allem „klassischen" „Dichterfürsten". Löblicherweise wurde ja nun der Sturm und Drang durch die italienische Reise „restlos überwunden". Erneuert, wie der Phönix aus der Asche steigt, ging der Dichter jener Philister in den heiligen Tempel Winkelmannscher „edlen Einfalt und stillen Größe" ein, und aus dem Dynamiker formte sich gleichsam über Nacht das Ideal des statischen Menschen, der nicht als ständig Erwerbender, sondern als satter Besitzender angesehen wurde. Und seine Humanität ? Ist sie Ausdruck einer Gesinnung, die uns heutigen Deutschen schlechthin fremd wäre oder sein sollte ? Sind uns nicht vielmehr manche Forderungen Goethescher Humanität nähergerückt, als sie denen waren, die ihn vor uns aufnahmen ? Die sittliche Zucht etwa, wie sie Iphigenie eignet und Tasso zu seinem Unheil vermissen läßt ? Die Pflicht, für die Menschen der zuständigen Gemeinschaften zu schaffen und zu sorgen, das unermüdliche Streben, den Kampf gegen die niederen, d. h. auch für Goethe gemeinschaftsfeindlichen 15

Triebe zu führen ? Und vor allem darf nicht übersehen werden: Die Goethesche Humanität, sein Glaube an den Menschen und das Gute in ihm schließt den Glauben an das Leben und an die Welt in sich. „Wie es auch sei — das Leben es ist gut", war sein Bekenntnis, und „Weltfrömmigkeit" sein von ihm in den „Wanderjähren" geprägtes Verhältnis zum Diesseits (6). Den Menschen so innig wie der Natur verbunden sein, nicht als Vereinzelter sich ihnen verschließen, ihnen dienstbar sein und sie dienend führen — das sind Strebungen Goethescher Humanität, wie wir sie heute beachten sollten. Nicht aber, was flüchtig urteilende Zeitgenossen hierunter verstehen möchten: Gefühlsduselei und internationaler Verbrüderungsrummel. Diese Art von Humanität lehnte Goethe selber ab. Hier haben Sie den Beweis: „Ich halte es für wahr", heißt es in der „Italienischen Reise", „daß die Humanität endlich siegen wird; nur fürcht' ich, daß zu gleicher Zeit die Welt ein großes Hospital und einer des andern humaner Krankenwärter sein wird." Und mit klarem Blick für die Wirklichkeiten erkannte er die Schranken, die einer Annäherung der Menschen gesetzt sind: „Je mehr ich die Welt sehe", sagt er in denselben Aufzeichnungen, „desto weniger kann ich hoffen, daß die Menschheit je eine weise, kluge, glückliche Masse werden könne." III Seine Widersacher nannten Goethe schon in seinen Jahren das „Zeitablehnungsgenie". Es läßt sich nicht leugnen, daß er manche wesentliche Erscheinung seiner Zeit verkannte und vor allem, daß er für den Kampf seines Volkes um Bestand und Freiheit wenig Verständnis aufbrachte. Aber wir dürfen hierbei doch jene stolze Erklärung nicht übersehen, die er zu seinem Verhalten in den Freiheitskriegen abgab: „Wie hätte ich 16

die Waffen ergreifen können ohne Haß und wie hätte ich hassen können ohne Jugend! Hätte jenes Ereignis mich als einen Zwanzigjährigen getroffen, so wäre ich sicher nicht der letzte geblieben, allein es fand mich als einen, der bereits über die ersten Sechzig hinaus war. Auch können wir dem Vaterlande nicht auf gleiche Weise dienen, sondern jeder tut sein Bestes, je nachdem Gott es ihm gegeben. Ich habe es mir ein halbes Jahrhundert lang sauer genug werden lassen. Ich kann sagen, ich habe in den Dingen, die die Natur mir zum Tagwerk bestimmt, mir Tag und Nacht keine Ruhe gelassen, sondern immer gestrebt, geforscht und getan, so gut und soviel ich konnte. Wenn jeder von sich dasselbe sagen kann, so würde es um uns alle gut stehen. Kriegslieder schreiben und im Zimmer sitzen! Das wäre meine Art gewesen ?.. In heutiger Sicht müssen vor allem diejenigen Zeugnisse seiner Gesinnung aufgedeckt werden, die Goethe als einen Deutschen erscheinen lassen, der manches vorausschaute, was seinem Volke viel später erst zum Erlebnis wurde. Man darf, wenn man seine Stellung zum Vaterlande beurteilt, nie vergessen, daß Deutschland zu seiner Zeit noch ein Traumbild war. Bitter sagt er einmal: „Einen vortrefflichen Nationaldichter kann man nur von der Nation fordern." Die Ideen Freiheit, Volk und Vaterland bestimmten auch seine Weltschau. „Diese Ideen sind in uns", heißt es in seinem Gespräche mit dem Historiker Luden, „sie sind Teil unseres Wesens, und niemand vermag sie von sich zu werfen." Scharf beleuchtete er die Fehler seiner Landsleute. So etwa die Ausländerei mit den Worten Aurelies im „Wilhelm Meister": „Es kann ein Deutscher keinen Schuh zuschnallen, der es nicht von einer fremden Nation gelernt hat." Und bei aller Weite seines Gesichtsfeldes, bei aller Einsicht in die Werte anderer Nationen ruft er den Deutschen zu: „Für eine Nation ist nur das gut, was aus ihrem eigenen Kern und ihrem ganzen allge2

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meinen Bedürfnis hervorgegangen ist, ohne Nachäffung einer anderen." Er erhoffte die Einigung Deutschlands schon in früher Jugend. Wie er es in „Dichtung und Wahrheit" ausführt, sind „der Traum des Fünfzehnjährigen ein Kaiser, der schon in der mächtigen Gestalt den Kleinodien Karls des Großen gewachsen ist und eine Menge, die, nur von einem Willen bewegt, ein germanisches Ganzes bildet" (7). Und im Jahre 1828, in einer Zeit also, in der viele Deutsche, die jünger und politisch aktiver waren als er, schon längst den Einigungstraum in sich begraben hatten, sagt er zu Eckermann: „Mir ist nicht bang, daß Deutschland nicht eins werde." Er wünscht ihm, daß es „eins in Liebe untereinander und immer eins gegen den auswärtigen Feind" sei. Antipartikularistisch, gemeindeutsch, um nicht zu sagen „reichlich" dachte Goethe auch auf einem Gebiete künstlerischer Gestaltungsarbeit, nämlich der Bühnensprache. Was sich für das ganze deutsche Sprachgebiet erst 1898 durch das Siebs'sche Werk erreichen Heß (8), die Anerkennung der mundartfreien Hochlautung, hatte er in seinen „Regeln für Schauspieler" für die Weimarer Schaubühne schon 1803 als Gesetz festgelegt, wenn er sagte: „Kein Provinzialismus taugt auf die Bühne!" Als „das Erste und Notwendigste für den sich bildenden Schauspieler" sieht er an, „daß er sich von allen Fehlern des Dialekts befreie und eine vollständige reine Aussprache zu erlangen versuche". So sehr Goethe auch gewillt ist, den Deutschen durch Aurelie die Tapferkeit zubilligen zu lassen, so weiß er doch von seinen Landsleuten, daß sie nur dann diese „erste Eigenschaft eines Volkes" in dem ihnen möglichen besonderen Ausmaß einsetzen können, wenn sie — recht geführt werden. Weniger bekannt als seine Äußerungen in politischer Hinsicht sind unserem Volke einige uns Heutigen besonders nahe Sätze über die Juden. Mit 23 Jahren, in 18

einer Buchbesprechung, drückt Goethe einmal aus, wir möchten dem Juden „auf den Wegen, auf denen wir unsere Ideale suchen, nicht mehr begegnen". Bald darauf, im „Jahrmarktsfest zu Plundersweiler" geißelt er jüdisches Wesen mit folgenden Worten: „Der Jude liebt das Gold und fürchtet die Gefahr. Er weiß mit leichter Müh, und ohne viel zu wagen, Durch Handel und durch Zins Geld aus dem Land zu tragen. . . Das alles ließe sich vielleicht auch noch verschmerzen: Doch finden sie durch Geld den Schlüssel aller Herzen, Und kein Geheimnis ist vor ihnen wohl verwahrt. Mit jedem handeln sie nach einer eignen Art." Mögen diese Sätze noch als gangbare Münze im Urteil der Zeitgenossen gegolten haben, so weisen die folgenden Verse über eine lässig-abfällige Kritik hinaus, in den Bereich, den wir in unseren Jahren erst eigentlich erlebten: „Und dieses schlaue Volk sieht e i n e n Weg nur offen: So lang' die Ordnung steht, so lang' hat's nichts zu hoffen. Es nährt drum insgeheim den fast getischten Brand, Und eh' wir's uns versehn, so flammt das ganze Land." Daß Goethe auch im Altei^ an seiner Abneigung gegen die Juden festhielt, erweist u. a. ein Brief an Zelter vom 19. 5. 1823, in dem er zwar den alttestamentlichen Mythen seine Achtung nicht verweigert, jedoch fortfährt: „Wie aber jene Heroen in die Gegenwart treten, so fällt uns ein, daß es Juden sind, und wir fühlen einen Kontrast zwischen den Ahnherren und den Enkeln, der uns irre macht und verstimmt." Bezeichnend für ihn als Staatsmann ist es ferner, daß er, wie der Kanzler Müller 1823 erzählt, „seinen leidenschaftlichen Zorn über unser neues Judengesetz ausgoß, welches die Heirat zwischen beiden Glaubensverwandten gestattet". 2*

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IV

Für meine weiteren Versuche, vor Ihnen aufzuzeigen, "wie nahe uns Goethe wieder gekommen ist, muß ich etwas weiter ausholen, als Ihnen vielleicht fürs erste nötig erscheint. Zwei Namen darf ich Ihnen ins Gedächtnis zurückrufen, von denen man, wie ich glaube, die beiden Richtungen ableiten kann, die in der Geschichte seit 2500 Jahren für die Weltschau der abendländischen Menschen maßgebend sind: Parmenides und Heraklit. „Starre — Stoff — Zergliederung" wollen wir die Wegweiser des einen nennen und „ Bewegung — Seele — Ganzheit" die des anderen Denkers. Parmenides erkannte nur das Seiende als bestehend an, und er fragte, wie das Seiende zugrunde gehen, wie es entstehen könne; „entstand es, so ist es nicht und ebensowenig, wenn es erst in Zukunft einmal sein sollte". Es existierte für ihn schlechthin. Das Viele und Wechselnde war ihm ein bloßer Schein, ein Sinnentrug (9). Die Gestalt, in der des Parmenides Geist sich im Laufe der Zeiten am wirksamsten äußerte, war Descartes. Sein „cogito, ergo s u m " wird zum Grundsatz des Rationalismus und leitet über zu einer Weltschau, die das ganzheitlich bedingte Wesen der Natur nicht zu erfassen vermochte. Einen, wenn auch für sein Sosein wesentlichen Teil des menschlichen Vermögens setzt er willkürlich für das Ganze, wenn er das Bewußtsein und die Fähigkeit des- logischen Denkens als Voraussetzung der Seinserkenntnis annimmt. Die Seele ist für ihn „weder Stoff noch Kraft, sondern eine res cogitans, d. h. eine Substanz, deren Wesen lediglich im Bewußtsein liegt. . . Auch Wollen, Fühlen, Empfinden, Einbilden usw. sind nur modi cogitandi" (10). Von Descartes weisen die Richtungspfeiler „Starre — Stoff — Zergliederung" über den psychophysischen Parallelismus zur materialistischen Schau Darwins, für den das Leben erklärt war als „Auto20

matismus eines mechanischen Systems" (11)* Man kann sich heute kaum noch vorstellen, wie sich die Hybris eines Gelehrtendünkels oder der Wahn, die tiefsten Wunder der Natur lösen zu können, indem man einfach alles leugnete, was man nicht sezieren und atomisieren konnte, im Jahrhundert der materialistischen Weltschau auswirkte. So schreibt Reinhold Demoll in einer kurzen Geschichte der Zellenforschung: „Die fertige Form, das Lebendige, war nun nichts weiter als ein Zellaggregat, eine Summe. Die Quantität wurde hiermit in den Vordergrund geschoben. Die Idee des Ganzen wurde durch das starre Hinblicken auf die Teile, auf die Bausteine, ertötet. Daß in dem Organismus eine Ganzheit vorliegt, daß sich in ihm gewissermaßen eine Idee verwirklicht, wurde zwar zunächst noch nicht übersehen, galt aber als belanglos und unproblematisch. Der Sinn für Unfaßbares wurde von dem Denken in Teilstücken, in Mengen und Zahlen erstickt, die Gefahr der Uberschätzung der Erkenntnismöglichkeit war gegeben. Das Leben wurde zum mathematischen Problem" (12). Man ging so weit, anzunehmen, daß sich das Lebendige vom Anorganischen „nur durch größere Komplikation der chemischen Zusammensetzung unterscheide", und meinte, „daß Empfindungen meßbar und addierungsfähig sind wie die Reizstärke" (12). Lediglich was man errechnen, messen, zergliedern konnte, galt als seelisch vorhanden, und alle Erkenntnisse der Weisen und Dichter, der großen Ahner und Deuter der menschlichen Seele wurden als „unwissenschaftlich" über Bord geworfen. Die Sprache des Menschen, noch von Herder als „Ausdruck der Seele" angesehen, galt nur mehr als „Ausfluß der Verstandestätigkeit" (13), und den Vorgang des Sprechens erklärte man sich damit, daß „die Muskelbewegungen des Sprechapparates durcb Kräfte des Denkens und Wollens hervorgerufen" würden (13). Sowenig wie von den eigentlichen seelischen Voraussetzungen 21

•wußte man auch in diesem Bezirke der Forschung vom ewigen und allgemeingültigen Gesetze der Ganzheit und der Bewegung: man glaubte eine sprachliche Erscheinung zu untersuchen, wenn man sinnlose Silben zusammenstellte und abmaß; eine Lautfolge galt als Summe einzelner, für sich bestehender Laute, von denen jeder einzelne erzeugt wird, „während die Sprachorgane fest eingestellt sind" (14). Der Allgemeinheit besonders deutlich prägte sich der Geist eines Zeitalters statisch-materialistischer Grundhaltung auf dem Gebiete der Heilwissenschaft aus. Ähnlich wie der Biologe Demoll urteilt der Anatom Clara über Geist und Methode jener Epoche: „So wie die Physik die Wärme eines Körpers als die Summe der Bewegungsenergien der Moleküle betrachtete oder die Chemie die Stoffe in elementare Einheiten, Moleküle, Atome, Elektronen usw. zerlegte, so versuchte man auch das Geheimnis des organischen Seins und Geschehens durch Auflösung in elementare Einheiten und Prozesse und durch nachfolgende Summierung dieser Elemente und Elementarvorgänge endgültig aufzuklären" (15). Summativ wurde auch die Vererbungslehre betrachtet : „An die Stelle der Bewertung des ganzen Menschen trat die Überbewertung von einzelnen Untersuchungsbefunden, von Kurvenauslegungen und automatischen Organmessungen". Am Ende wurde der lebendige Organismus auch dem Arzte „nichts anderes als eine vom Baumeister Natur sehr geschickt zusammengesetzte Maschine" (15). Wir können es uns ersparen, weitere Urteile über eine Schau anzuführen, die in der Welt und ihren Erscheinungen ein im Grunde starres Gebilde zu erkennen glaubte und den eigentlichen Sinn des Lebens außer acht ließ. Goethe, der von sich sagte, Trennen und Zählen läge nicht in seiner Natur, hat das Urteil vorausgenommen, wenn er Mephisto bemerken läßt: 22

„Wer will das Lebendige erkennen und beschreiben, Sucht erst den Geist herauszutreiben, Dann hat er die Teile in seiner Hand, Fehlt, leider! nur das geistige Band."

y Sie wissen, daß die deutsche Revolution die politischen Folgen einer atomistisch-summativen, antibiologischen Weltschau überwand und den Primat der Ganzheit anzuerkennen lehrte. Wie für die Seelen- oder Sprachwissenschaft hatte ja auch für die Staatstheorien die Auffassung gegolten, daß ihr Objekt eine Menge von in sich selbst bestehenden Einheiten sei: Ein Volk wurde als die Summe seiner „Individuen" angesehen, deren „Eigengesetzlichkeiten" zu schützen eine der wichtigsten Aufgaben des Staates sei. Ich brauche Sie nicht darauf hinzuweisen, welche Auswirkungen die Anerkennung des biologischen Ganzheitsprinzips im Gesamtleben unseres Volkes gefunden hat. Wir waren alle Zeugen davon, wie der politische Wille die Lehre von der „Autonomie des Individuums" endgültig zerbrach und dem Wissen um die organische Ganzheit eines Volkes zum Siege verhalf. Wir erfuhren an uns, wie ein Gesetz der Natur, das jeder Mensch an seiner eigenen leib-seelischen Existenz feststellen kann, auch für das Leben eines Volkes Gültigkeit gewann, für das es nur durch die Spaltungstendenzen individueller Gedanken- und Willenskräfte immer wieder außer Kraft gesetzt wurde. Auf dem Wege zu einer biologischen Weltschau auf wissenschaftlichem Gebiet hatte Hans Driesch durch sein berühmtes Experiment mit dem Seeigel-Ei bereits 1891 eine „Mosaiktheorie" als unberechtigt erwiesen, und mit seiner „Philosophie des Organischen", die 1909 erstmalig erschien, versetzte er der mechanistischen Weltschau einen schweren Stoß. Er erkannte die Ganzheit als 23

„Grundkategorie alles Lebendigen" und widerlegte die Auffassung, wonach das organische Leben aus einer Summe von Stoffen oder Kräften zu erklären sei. Ich muß mich auch jetzt mit einigen kurzen Hinweisen begnügen, wenn ich aufzuzeigen versuche, wie sich die Ganzheitsschau in den Wissenschaften bisher auswirkte: Nachdem Driesch „Metermaß und Zirkel aus der Hand gelegt gegenüber dem Unwägbaren, Unmeßbaren, gegenüber dem Leben und seiner Eigengesetzlichkeit", mehrten sich nach seiner Entdeckung die Stimmen, nach denen „die Gesamtleistung mehr ist als die Summe von Einzelleistungen wie die Melodie mehr ist als die Summe von Tönen" (12). Man erkannte, daß jedes Glied seine Eigenart „nur im Zusammenhang mit dem Ganzen bewahrt, zu dem es gehört" (16). Das mechanistische Kausalgesetz, nach dem nur Physisches auf Physisches wirkt, kam zu Fall und „alle biologischen Forscher mußten scheitern, die nur die physische Kausalität kannten und anwandten" (10). Somit schloß sich die Kluft, die Descartes zwischen Körper und Seele aufrichtete, „fast bis zur Greifbarkeit der Einheit des Lebens" (17). Beschränkt auf den Bereich des Geistig-Seelischen hat Wilhelm Dilthey am Ende des 19. Jahrhunderts den „Ganzheitsbegriff" in die Seelenkunde eingeführt. Wie Hans K. G. Günther darlegt, hat er in seiner Abhandlung „Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie" geltend gemacht, daß es „kein additives Verhältnis von isolierten Elementen" im Seelenleben, keine Zusammensetzung aus Teilen geben könne. Das Seelenleben wächst nach seiner Erkenntnis „nicht aus Teilen zusammen; es bildet sich nicht aus Elementen; es ist ein Kompositum, nicht ein Ergebnis zusammenwirkender Empfindungsatome oder Gefühlsatome; es ist ursprünglich und immer eine übergreifende Einheit" (18). Über Dilthey hinaus führt Eduard Spranger, wenn er sagt: „Wie in einem physischen Organismus jedes Organ durch 24

die Form des Ganzen bedingt ist und das Ganze nur durch das Zusammenwirken aller Teilleistungen lebt, so ist auch das Seelische ein teleologischer Zusammenhang, in dem jede einzelne Seite allein vom Ganzen her verständlich wird und die Einheit des Ganzen auf den gegliederten Teilleistungen der Einzelfunktionen beruht." Danach ist Strukturpsychologie „jede Psychologie, die die seelischen Einzelerscheinungen aus ihrer wertbestimmten Stellung im einheitlichen Ganzen und aus ihrer Bedeutung für solche totalen Leistungszusammenhänge versteht" (18). Daß auch die Seele in sich keine abgeschlossene Ganzheit darstellt, sondern als „weltoffen und weltunmittelbar" anzusehen ist, erwies neuerdings Philipp Lersch. „Die Seele als Trägerin einer sogenannten ,Innenwelt'", so meint er, „und die sogenannte Außenwelt sind in ihrer Unterscheidbarkeit aufeinander zugeordnet als Pole einer Einheit, sie bedingen und durchdringen einander" (3). Alles Lebendige als beseelte Ganzheit anzusehen war die Forderung, die immer dringender auch von den Ärzten erhoben wurde. Erwin Liek hat sie vielen Tausenden seiner Berufskameraden nahegebracht (11), und an die Seelenärzte wandten sich in unseren Jahren u. a. R. G. Heyer oder Fritz Künkel mit der Mahnung, der Arzt müsse darauf verzichten, „entweder nur den Körper oder nur die Seele oder aber sowohl den Körper wie auch die Seele als selbständige, in sich geschlossene Organismen zu betrachten" (19). Was Clara vom Knochen aussagt, daß er nämlich vom Ganzen her seine Prägung erhält und auf die augenblicklichen Erfordernisse des Organismus ausgerichtet ist, wird als biologisches Prinzip schlechthin erkannt, und die Medizin wandte sich von dem „anatomisch-lokalisierten Krankheitsbild wieder dem erkrankten Gesamtorganismus zu. Sie stellt den kranken Menschen als leib-seelische Einheit, als kranke Gesamtpersönlichkeit in den Mittelpunkt ihrer Diagnose und Therapie" (15). 25

Wieweit der Wandel zur Ganzheitssch.au in der Heilkunde schon vor zwölf Jahren als notwendig angesehen wurde, ergibt sich aus diesem Beschluß, der auf dem Kongreß der Gesellschaft für innere Medizin im Jahre 1930 gefaßt wurde: „Die klinische Medizin der Gegenwart erkennt den Organismus nicht mehr als eine Summe von Einzelheiten wie einst die Zellularpathologie Yirchows. Das Schlagwort vom Zellenstaat genügt ihr nicht mehr, wenn sie die Wechselbeziehung zwischen den einzelnen Teilen betrachtet. Das Wesen der Organisation wird aber in der Krankheit als ein verändertes Gesamtverhalten gesehen, zu dem der Gesamtorganismus seine Einstellung findet" (20). VI Hören Sie hierzu die folgenden Worte: „In jedem lebendigen Wesen sind das, was wir Teile nennen, dergestalt unzertrennlich vom Ganzen, daß sie nur in uns mit denselben begriffen werden können, und es können weder die Teile zum Maß des Ganzen noch das Ganze zum Maß der Teile angewendet werden." Dieser Satz stammt nicht von einem Biologen unserer Tage, findet sich nicht in einer Untersuchung Driesch'scher Schau, sondern er ist nachzulesen in der „Philosophisch-morphologischen Studie", die J. W. Goethe 1784 niederlegte. Ja, Goethe wußte, daß in der lebendigen Natur nichts geschieht, was nicht in Verbindung mit dem Ganzen steht. Erst die Ubereinstimmung mit dem Ganzen machte für ihn „jedes Geschöpf zu dem, was es ist". Und so verstehen wir, daß er ebenso, wie er 1812 in einer Eintragung ins Tagebuch die Abkehr von der „mechanischen und atomistischen Vorstellungsart" voraussagte, in der Niederschrift „Analyse und Synthese" von 1829 die Wissenschaft davor warnen mußte, sich „vor der Synthese zu fürchten". Heute beginnen wir seine Mei26

nulig gründlich zu beachten. Wir sind so weit, von einer „Goetheanistischen Wissenschaftsmethode" zu sprechen (21). In ihrem Sinne traten neuerdings Gelehrte verschiedener Wissenschaftsgebiete zusammen, um „Goethes morphologischen Auftrag" zu erfüllen. Man bekennt sich dabei zum „ewig Einen" Goethes, „das sich in der Mannigfaltigkeit der Gestalt vielfach offenbart" (22). Während der „sentimentalische" Idealist Schiller bemerkte: „ehret ihr immer das Ganze, ich kann nur einzelne achten, immer im einzelnen nur hab' ich das Ganze erblickt", war für Goethe, den „naiven" Schauer, der Blick zuvörderst immer auf das Ganze gerichtet. Die '¿?j>-j