Betrachtungen der Architektur: Versuche in Ekphrasis 9783839449943

Bauwerke sind aufgrund ihrer lebensweltlichen Bewandtnis ein ebenso aufschlussreicher »Gegenstand« für die eingehende Be

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Betrachtungen der Architektur: Versuche in Ekphrasis
 9783839449943

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Tim Kammasch (Hg.) Betrachtungen der Architektur

ArchitekturDenken 11



Architektur Denken

Architekturtheorie und Ästhetik

Herausgeber: Jörg H. Gleiter, Berlin Beirat: Nathalie Bredella, Berlin

Tim Kammasch, Bern Dietrich Neumann, Providence

Tim Kammasch (Hg.)

Betrachtungen der Architektur Versuche in Ekphrasis

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de/ abrufbar. © 2020 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Lektorat: Monika Kopyczinski, Berlin Umschlaggestaltung & Innenlayout: Philipp Heinlein, Berlin Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN (Print) 978-3-8376-4994-9 ISBN (PDF) 978-3-8394-4994-3 https://doi.org/10.14361/9783839449943 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Die Erstellung des Objektkatalogs wurde dankenswerter Weise finanziell ermöglicht durch Eternit (Schweiz) AG

Inhalt

Vorwort

Geleitwort · Hanspeter Bürgi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Versuchsanordnung · Tim Kammasch . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Zur Einführung

Lebensweltliche Bewandtnis – was die Ekphrasis an Bauten zeigt · Tim Kammasch . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Der Spiegel der Seele. Architektonische Ekphrasis in antiken Quellen · Dirk Baltzly, Graeme Miles . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Architektur im Bild: Eine Frau · Andreas Vogel . . . . . . . . . . . 46 Versuche in Ekphrasis

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Wohnhaus: Haus Faraday, Bern

Wohnen im Kupfermantel · Hubertus Adam . . . . . . . . . . . . 59 „Se non é vero, é ben trovato“· Andri Gerber . . . . . . . . . . . 66 2

Wohnkomplex: Pallasseum, Berlin

Das Stadtschiff · Sebastian Bührig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Mäandernde Betrachtungen · Frank Seehausen . . . . . . . . . . 87 3

Siedlung: Zwicky Süd, Dübendorf

Ungewollte oder literarische Erinnerungen? Christina Horisberger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

Pilotprojekt eines offenen Stadtquartiers · Florentine Sack . . .107 4

Schulanlage: Gymnasium Strandboden, Biel/Bienne

Vier Pavillons im Park und eine helle Unterwelt · Sandi Paucic . 117 Außen Agora, innen Forum · Dieter Schnell . . . . . . . . . . . . .127 5

Universitätsgebäude: Domain House, Hobart

(K)eine Universität · Ingo Farin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .137 Die Universität träumen · Jeff Malpas . . . . . . . . . . . . . . . .144

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Industriegebäude: Eternitfabrik, Payerne

Vom Beschreibbaren und dem Unsagbaren · Marcel Bächtiger . 155 Leichtigkeit: zur Konkretisierung abstrakter Eigenschaften · Sylvain Malfroy . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 7

Bürogebäude: Roche-Hochhaus, Basel

Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der Architektur · Axel Gampp . . . . . . . . . . . . .177 Ein Versuch über Lesarten, Deutungen und Projektionen · Rainer Schützeichel . . . . . . . . . . . . .188 8

Gemeindehaus: Farelhaus, Biel/Bienne

Religion in Städten · Jürg Graser . . . . . . . . . . . . . . . . . . .199 Ein Lob dem Leerraum · Michael von Allmen . . . . . . . . . . . .206 9

Arkaden: Lauben, Bern

Dichtung und Verdichtung in kollektivem Kunstwerk Dorothea Franck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

Metrik und Rhythmus einer Altstadt · Konrad Tobler . . . . . . .224 10 Monument: Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Berlin Produktives Scheitern der Ekphrasis · Jörg H. Gleiter . . . . . . .235 Gebaute Erinnerung · Ludger Schwarte . . . . . . . . . . . . . . . 243 11 Friedhof: Heilly Station Cemetery, Méricourt-l’Abbé Rest in Peace(s) · Marco Bakker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .251 Brothers in Arms · Dorothee Messmer . . . . . . . . . . . . . . . . 260 Anhang

Objektkatalog · Henriette Lutz, Stanislas Zimmermann . . . . . . .273 AutorInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318

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Vorwort

Vorwort

Geleitwort Den Beiträgen zu diesem Buch liegen Vorträge zugrunde, die im Rahmen zweier Ringvorlesungen zum Thema „Vom kulturellen Mehrwert der Architektur – Versuche in Ekphrasis“ gehalten wurden. Basierend auf persönlicher Auseinandersetzung vor Ort nähern sich die Beiträge betrachtend und beschreibend, sowohl sinnlich anschaulich als auch gedanklich reflektierend, ausgewählten Alltagsbauten und bieten grundlegende Reflexionen über die gebaute Umwelt. Gleichzeitig spiegeln sie wichtige Aspekte unserer Architekturausbildung wider. Nach der handwerklichen Basis im Bachelor öffnet das Master­­studium mehr Raum und Zeit, sich in inhaltliche Schwerpunktthemen zu vertiefen, zu experimentieren, über architektonische Positionen zu reflektieren und eigene zu entwickeln. Es ist erfreulich, dass die Versuche in Ekphrasis nicht allein als erfolgreiche Lehrveranstaltung des Jointmasters in Erinnerung bleiben, sondern die Betrachtungen namhafter Autorinnen und Autoren als Band 11 der Reihe Architektur Denken erscheinen. Damit schließt sich ein Kreis, der sowohl unserem holistischen Verständnis von Architektur und unserem didaktischen Ansatz des wissensbasierten Entwerfens, als auch dem Anspruch nach gesellschaftlicher Relevanz und Verbindung von Theorie und Praxis entspricht. Es ist zu wünschen, dass Betrachtungen der Architektur – Versuche in Ekphrasis Fachpersonen und Studierende motiviert, genau hinzuschauen, präzise nachzudenken, neugierig zu forschen und zu erkennen, mit dem Ziel unseren Lebensraum umsichtig und zukunftsfähig zu gestalten. Das Buch mit den vielfältigen persönlichen Denkbildern bietet darüber hinaus einem breiten Publikum

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spannende Inspirationsquellen und hoffentlich auch neue Zugänge zu unserer Baukultur. Ich danke den Autorinnen und Autoren, dass sie sich auf dieses Experiment eingelassen haben. Großer Dank gebührt auch dem Herausgeber, Tim Kammasch, dafür, dass er den Impuls gegeben hat und für das anspruchsvolle Thema begeistern konnte. Wir dürfen uns auf eine herausfordernde Lektüre freuen und hoffentlich auf viele weitere Versuche in Ekphrasis – und damit auch auf engagierte Debatten über Architektur und öffentlichen Raum. Bern, im Sommer 2020 Hanspeter Bürgi

Vorwort

Versuchsanordnung „Worte zu dem zu finden, was man vor Augen hat – wie schwer kann das sein.“ Walter Benjamin1 Die im Alltag stetige, indes meisthin unscheinbare Wirkmacht der gebauten Infrastruktur, funktioniere sie als symbolischer Ausdruck oder positional-performativ, indem sie die Bewegungs- und Handlungsfelder der Menschen strukturiert, begründet die Eignung von Bauwerken als Reflexionsmedium für eine eingehende Betrachtung. Indem die Beiträge dieses Bandes sich von der Beobachtung konkreter Bauwerke zu Reflexionen inspirieren lassen, die in ihrer allgemeinen gesellschaftlichen Relevanz doch anschaulich auf die konkrete Situation bezogen und damit den Phänomenen verbunden bleiben, wird an ausgewählten Bauwerken die lebensweltliche Bewandtnis von Architektur und ihr gesellschaftlicher und kultureller Stellenwert thematisiert. Mit diesem Ansatz einer Beschreibung und Reflexion, Anschauung und Begriff eng führenden Theorie knüpfen die Beiträge in freier Weise an die über 2000-jährige Tradition der Ekphrasis (anschauliche Beschreibung) an und führen sie in verschiedene Richtungen fort, allesamt dem Versuch sich stellend, den Fokus der im Wort ‚Theorie‘ bedeuteten Schau nicht auf Begriffswolken, sondern auf konkrete Bauwerke zu richten. Nicht dass es ekphrastische Betrachtungen der Architektur noch nicht gegeben hätte, doch blieb die Ekphrasis im Verlauf ihrer langen Geschichte in der jüngeren Vergangenheit den Werken der sogenannten freien und bildenden Künste vorbehalten. Und dort, wo Werke der Architektur ihr Gegenstand wurden und werden, handelt es sich in der Regel um Einzelfälle herausragender Bauten oder

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um Bauten von Stararchitekten (was nicht unbedingt dasselbe ist), selten genug aber um Bauwerke, die uns im Alltag – nah und fern – umgeben. Doch was bedeutet überhaupt das Wort „Ekphrasis“? Dazu

ausführlicher in den beiden ersten Texten zur Einführung über Architektur als Gegenstand der antiken Ekphrasis: Hier verkürzt nur so viel: Der Begriff entstammt der antiken griechischen Rhetorik und bezeichnet ursprünglich jenen Teil einer Rede (und die entsprechende rhetorische Technik), der ein Ereignis, eine Sache, einen Sachverhalt oder auch ein Kunstwerk beschreibt. Die römische Rhetorik wählte dafür den Ausdruck ‚descriptio‘. Beschreiben lässt sich ein Gegenstand in sachlicher Nüchternheit, im Bemühen, an ihm nur das objektiv Feststellbare darzustellen. In der Ekphrasis geht es hingegen darum, das beschriebene Objekt möglichst anschaulich zur Sprache zu bringen. Unter Verwendung von (text-) rhetorischen Strategien verfolgt sie das Ziel der lebendigen Veranschaulichung (enargeia) bzw. das Ideal eines transparenten Signifikanten: Die Rede ermöglicht den Rezipierenden gleichsam, die beschriebene Sache selbst vor Augen zu haben. Die Arbeit an einer Ekphrasis/Descriptio erfordert ein genaues und geduldiges Blicken und Betrachten. Mit der Ekphrasis verbindet sich von Anfang an der Anspruch, Exemplarisches zu sagen, in der Beschreibung dessen, was sinnlicher Anschauung konkret zugänglich ist – im Besonderen – auch Allgemeingültiges, Ideales aufscheinen zu lassen. Schon in der Antike reflektieren Ekphraseis auch ihre eigene Machart, ihren Beschreibungs- und Interpretationsansatz,2 so auch die Betrachtungen in diesem Band: Anders als in vielen Fällen der antiken und spätantiken Ekphrasis, da der beschriebene Gegenstand fingiert wird, – so in der stilprägenden Beschreibung des Schilds von Achill in der Ilias – haben die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes für ihre Betrachtungen die ausgewählten Gebäude vor Ort in Augenschein genommen. In ihren akkuraten, aber unvermeidbar stets auch selektiven Beschreibungen des in sinnlicher Anschauung unmittelbar gegebenen Gegenstands verbinden sich wie in der antiken Ekphrasis Reflexionen zu abstrakten, allgemeinen normativen, existentiellen, ästhetischen und kulturellen Themen. Eben darin besteht eine bemerkenswerte und vielleicht unerwartete Entsprechung zwischen dem Diskurs-Genre der Ekphrasis und ihrem Gegenstand der Architektur. Denn auch diese vermittelt

Vorwort

von ihren Anfängen an symbolisch die Sphäre des sinnlich erfahrbaren Materiellen mit derjenigen unsichtbarer, immaterieller Idealität. Darauf haben so unterschiedliche Autoren wie Hegel oder Adolf Loos hingewiesen und gemeint, an Beispielen von Grabund Denkmalen ihre verallgemeinernde Behauptung begründen zu können, dass in solcher Vermittlung sogar der ursprüngliche bzw. wesentliche Impetus zur Architektur bestanden habe.3 Im Gegensatz zur der heute fast schon mit Anspruch auf methodische Alleingültigkeit propagierten metrischen Erfassung der Wirklichkeit, für die als ,Fakt‘ nur in Betracht kommt, was in Zahlen sich darstellen lässt, versuchen sich die Betrachtungen im Verfolg eines anderen Theorieideals, das Architektinnen und Architekten attraktiv erscheinen muss, wenn sie es denn ernst meinen mit dem Anliegen, in ihren Entwürfen auf die Einzigartigkeit und Komplexität des jeweiligen Ortes reagieren zu wollen. Denn wenn es ein gewiss vages modernes methodisches Leitbild gibt, an dem sich nicht wenige der in diesem Band unternommenen Betrachtungen orientieren, so sind es die von Walter Benjamin mit „zarter Empirie“ (J.-W. Goethe) zu Denkbildern verarbeiteten Versuche, das, „was nie geschrieben wurde, [zu] lesen“ (Hugo v. Hofmannsthal). So verbinden sich in ihnen theoretische Reflexion und konkrete Anschauung auf eine Weise, die den Phänomenen in ihrer Komplexität Beachtung schenkt. Sie wagen ein Mehr an Erfahrung, mehr noch, sie lassen sich von den sinnlichen Qualitäten des Betrachteten affizieren, und stellen sicher, dass diese nicht begrifflicher Abstraktion zum Opfer fallen. Die Realität – auch die gebaute – ist zu facettenreich, als dass es nur eine richtige Sicht der Dinge geben könnte. Wenn es eine zutreffende Beschreibung gibt, dann gibt es unendlich viele. Das klingt nach Relativismus, doch geht fehl, wer das als Plädoyer für eine konstruktivistische oder gar ,postfaktische‘ Beliebigkeit auffasst. Denn wer seinen Thesen Evidenz verleihen will, bleibt gehalten, die ,Grenzen der Interpretation‘ (Umberto Eco) zu bedenken. Das Faktum der möglichen Pluralität verschiedener Sichtweisen und Interpretationen erlegt jeder einzelnen von ihnen die Forderung auf, ihre Aussagen über die kulturelle Bedeutung der Architektur, über deren Potenzial, das Leben der Menschen zu beeinflussen, durch genaue Beschreibungen konkreter Situationen abzustützen, die Position der Betrachtenden und Interpretierenden zu reflektieren und sich die Frage zu stellen, wofür und inwieweit

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die beschriebene Situation überhaupt als Beispiel bzw. normatives Vorbild dienen kann, bzw. inwiefern die aus ihrer Betrachtung gewonnenen Einsichten verallgemeinerbar sind. Beschreibung und Reflexionen beeinflussen sich in der Ekphrasis wechselseitig: Abstrakte Gedanken werden in der Beschreibung veranschaulicht, gleichzeitig sind es nicht selten eben die allgemeinen normativen Reflexionen und Erkenntnisinteressen, die bereits in der Wahrnehmung den selektiven Blick leiten und bestimmen, welche Aspekte eines Objekts überhaupt beachtet und beschrieben werden und welche nicht. Aufbau des Buches Ob und inwieweit die Autorinnen und Autoren dieses Bandes sich von einem der in der ersten Einführung erwähnten Aspekte, aufgrund derer die antike Ekphrasis für die Betrachtung von Architektur Relevanz hat, haben anregen lassen (oder ob sie an einen anderen anschließen), das war ihnen überlassen. Auf eine dichte, zuweilen auch dichterische Beschreibung und reflektierende Betrachtung der Bauwerke haben sie sich alle eingelassen und sind doch dabei sehr verschiedene Wege gegangen. So präsentiert sich in der Lektüre ein breites Spektrum von Beschreibungs- und Interpretationsansätzen, mal orientiert an akademisch etablierten Methodenstandards, indes nicht ohne diese um Querbezüge aus anderen Disziplinen zu erweitern; mal in freier essayistischer oder narrativer Form von mitunter auch phantastisch anmutenden Erfahrungsberichten, die darin der antiken Ekphrasis verbunden sind, dass sie ihren Gegenstand keineswegs aus dem Blick verlieren, sondern durch das gewählte Narrativ, unseren ,Schönheits- und Möglichkeitssinn‘ für die uns alltäglich umgebende Architektur erweitern. Die Auswahl der Bauwerke hat der Herausgeber in Absprache mit den Autorinnen und Autoren getroffen, da eine lebensweltliche Verbundenheit mit dem zu betrachtenden Gebäude als notwendige Voraussetzung angesehen wurde. Zur Orientierung für die Auswahl der Gebäude diente gleichwohl eine nach Gesichtspunkten lebensweltlicher Bewandtnis erstellte Typologie von Gebäuden: Vom Kreissaal bis zur Abdankungshalle sollten Gebäudetypen betrachtet werden, mit denen es jede und jeder im Leben auf die eine oder andere Weise zu tun hat. Freilich war hier keine Vollständigkeit zu erreichen, nicht nur, weil es immer mehr Lebenswelten bzw. Teilbereiche der Lebenswelt gibt, sondern auch, weil diese perma-

Vorwort

nentem Wandel ausgesetzt ist. So fand sich z.B. kein Kreissaal bzw. kein Autor dazu und auch die Abdankungshalle bleibt einer Leserin überantwortet, die dieser Band vielleicht anregt, ihre gebaute Lebenswelt einer Betrachtung zu würdigen. Ebenso fehlen Kirche, Moschee und Synagoge oder andere Sakralbauten, aber für ein ehemaliges Gemeindehaus und einen Friedhof, für ein Mahnmal, ein Schul- und Universitätsgebäude, für Laubengänge und Wohnbauten verschiedener Art und Weiteres mehr konnten erfahrene Autorinnen und Autoren gewonnen werden. Entscheidend für deren Auswahl war eine professionell ausgebildete, intellektuelle Sensibilität für Architektur und deren räumliche Qualitäten, insbesondere für das Potenzial der im Alltag nur beiläufig rezipierten gebauten Lebenswelt als Kulturbeiträgerin. Glücklich fügte sich, dass die 22 Betrachterinnen und Betrachter beruflich, bio- und geografisch aus sehr verschiedenen Gebieten und Tätigkeitsfeldern kommen (siehe Kurzbiografien im Anhang), sodass in den Ekphraseis sogar ein und desselben Gebäudes möglichst unterschiedliche Aspekte zur Sprache kommen. Denn darin, dass jedem der 11 Bauwerke zwei unabhängig voneinander verfasste Betrachtungen gewidmet sind, entspricht der Band in seinem Aufbau einem normativen Begriff von Kultur bzw. ,Kulturwert‘, der anders als der von Georg Simmel geprägte Begriff, die aktuelle Realität einer multikulturellen pluralistischen Gesellschaft reflektiert. Dafür, sich insbesondere auf diesen Aspekt der Versuchsanordnung eingelassen zu haben, sei den Autorinnen und Autoren gedankt. Denn in ihrer Konstellation eröffnen die unabhängig voneinander, parallel entstandenen Betrachtungen der Leserschaft einen diskursiven Zwischenraum, den die Beschreibungen aufgrund der Verschiedenheit von ,Blickstand‘, ,Blickhabe‘ und ,Blickbahn‘ der Interpreten durch ihre Differenzen und zuweilen Gegensätze aufspannen: Je nachdem, war die ,hermeneutische Situation‘ der Betrachtung eine andere bzw. der intentionale Gegenstand ein anderer.4 Die den phänomenalen Wert eines Gebäudes mitkonstituierende Kraft des jeweiligen Narrativs wird dergestalt in der Lektüre deutlich. Die Beitragenden haben zudem den Konzeptvorschlag des Herausgebers beherzigt und in ihren Betrachtungen den von ihnen durchgeführten Beschreibungs- und Interpretationsansatz reflektiert und meisthin auch die für diesen grundlegende Literatur angegeben (auch dies auf sehr verschiedene, dem jeweiligen Betrachtungsansatz entsprechende

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Weise). Der Objektkatalog ermöglicht es, sich von den besprochenen Bauwerken anhand anderer Medien – Fotografien, KontextPläne, Schnitte und Grundrisse – selbst ein, natürlich nicht unmittelbares Bild zu machen. Dafür dürften auch die Beiträge von Nutzen sein, die den Betrachtungen der Bauwerke vorangehen und aus verschiedenen Richtungen in die Thematik der ekphrastischen Architekturbetrachtung einführen: Als erster Einstieg wird die Relevanz der Ekphrasis für eine an der lebensweltlichen Bewandtnis von Bauwerken interessierten Architekturbetrachtung verdeutlicht. Der zweite Einstieg informiert aus philosophischer und altphilologischer Perspektive über Architektur als Gegenstand antiker und spätantiker Ekphrasis; der dritte Einstieg besteht aus einer Ekphrasis, die die kunstwissenschaftliche Beschreibung eines Gemäldes vorführt, das nota bene auch ein Bild der Architektur ist. Dank Habent sua fata libelli, Bücher haben ihre Schicksale:

Anders als es der aus einem Lehrgedicht des antiken Grammatikers Terentianus Maurus stammende und seine Aussage an sich selbst bewahrheitende, weil zum Sinnspruch verselbständigte Hexameter für gewöhnlich zu verstehen gibt, setzt das Schicksal von Büchern, auch von verhältnismäßig schmalen wie diesem, nicht erst mit ihrer Rezeption oder deren Ausbleiben ein, sondern bereits mit ihrer Herstellung. Dem Herausgeber ist diese mögliche Lesart des Verses in den Jahren der auf dieses Buch verwendeten Arbeit als Erfahrung zuteil geworden; wohl kaum ein Wechselfall des Lebens ist diesem Buchprojekt und jenen, die an ihm mitwirkten, erspart geblieben, auch das Äußerste nicht. Umso mehr gilt es, all jenen zu danken, die an seiner Entstehung Anteil hatten, so denjenigen, die vor vielen Jahren mäeutisch zur Arbeit an ihm angeregt haben – jenen zuerst, die es nicht mehr lesen können: Bernd Riede, Jean-Pierre Schobinger, Franz-Georg Maier, Arno Gruen und Roger Scruton. Ebenfalls für instruktive Gespräche und wertvolle Hinweise ist jenen zu danken, mit deren konstruktiver Kritik zu rechnen, ja auf die zu hoffen ist: Stefan Baumann, Jürg Berthold, Sebastian Bott, Kurt W. Forster, Beat Näf, Caroline Torra-Mattenklott, Florinel Radu, Ralph Schneider, Marie-Louise von Wartburg, Philip Ursprung, Jörg Trempler und Hanns Zischler. Zu danken ist weiter den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen, Kolleginnen und Kollegen des Fachbereichs Architektur an der Berner Fachhochschule sowie des Studiengangs Joint Master of Architecture,

Vorwort

mit denen zusammen der Herausgeber während zwei Semestern Theorieseminare zur ekphrastischen Betrachtung der lebensweltlichen Bewandtnis von Gebäuden und öffentlichen Räumen hat erarbeiten und durchführen können – und natürlich den Studierenden, deren Beiträge zum Seminar für dessen Weiterentwicklung hilfreich waren. Ebenso gilt Dank den Referentinnen und Referenten: Sie haben maßgeblich zum Gelingen beider Seminare beigetragen. Die meisten der von ihnen vorgetragenen Betrachtungen haben in überarbeiteter Form den Weg in dieses Buch gefunden. Dass es schließlich als Band 11 in der Reihe Architektur Denken erscheinen kann, geht zurück auf eine Soirée im Rahmen des anlässlich der Architektur Biennale 2018 als Theorie-Beitrag der Schweiz im Palazzo Trevisan ausgerichteten Salon Suisse, an der Jörg Gleiter, der Herausgeber der Reihe, diesen Vorschlag machte – wofür ihm herzlich zu danken ist. Dafür, dass sie mit dem Salon Suisse eine nun schon viele Jahre sich bewährende internationale Plattform des Ideenaustausches geschaffen hat, die solche Kontakte befördert, ist der Schweizer Institution für Kulturförderung Pro Helvetia nachdrücklich zu danken und auch der Firma Laufen Bathrooms AG, die den Salon seit Beginn großzügig unterstützt. Bei Pro Helvetia möchte der Herausgeber dieses Bandes sich auch dafür bedanken, dass sie ihn eingeladen hat, den Salon Suisse 2018 unter dem Titel „En Marge de l’Architecture – Encounters beyond the Discipline“ kuratieren zu dürfen, was dank der Zusammenarbeit mit den Co-Salonniers Stanislas Zimmermann und Marcel Bächtiger zu einer Architekturvermittlung der besonders diskursiven Art geriet, in der die gesellschaftliche Relevanz von Architektur aus ungewohnten Perspektiven thematisiert wurde. Zu Dank verpflichtet ist der Herausgeber auch all denen, die das Anliegen des Buches unterstützten und dessen Finanzierung sichergestellt haben: den Leitern des Fachbereiches und Studiengangs Architektur der Berner Fachhochschule (BFH), Daniel Boermann, Hanspeter Bürgi und Urs Heimberg sowie ihren im Joint Master of Architecture (JMA) verbundenen Kollegen, den Leitern der Masterstudiengänge an der Haute école d’ingénierie et d’architecture Fribourg, Eric Tilbury, und der Haute école du paysage d’ingénierie d’architecture de Genève, Nicolas Pham, sowie dem Präsidenten des JMA, Robin Schori. Den Autorinnen und Autoren gilt Dank nicht nur für ihre Beiträge und die ihnen vorausgehenden Gespräche, die hoffent-

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lich für sie ebenso instruktiv und inspirierend waren wie für den Herausgeber. Zu danken ist ihnen auch, dass sie mit viel Liebe zum Detail am Werk waren und große Geduld darin bewiesen haben, aufeinander, bzw. auf die sich zuletzt auch noch wegen der außerordentlichen globalen Vorkommnisse dieses Frühjahrs hinauszögernde Fertigstellung des Bandes zu warten. Dafür dass sie in aufwendiger Arbeit die Zeichnungen und Pläne sowie die technischen Angaben für den Objektkatalog angefertigt haben, ist Sophie Frank, Henriette Lutz und Stanislas Zimmerman zu danken. Der Firma Eternit (Schweiz) AG und Michèle Rüegg-Hormes sei dafür gedankt, dass sie den Objektkatalog durch einen großzügigen Beitrag ermöglicht haben. Die fotografischen Aufnahmen der Bauwerke in der Schweiz und in Frankreich hat dankenswerterweise Marco Bakker angefertigt, Ilona Schneider jene für das Domain House in Hobart/Australien. An die dort geführten, vieles klärenden Gespräche mit den beiden Heidegger-Spezialisten Ingo Farin und Jeff Malpas sowie mit dem Altphilologen Graeme Miles und dem Experten für die Philosophie der griechisch-römischen Spätantike Dirk Baltzly (alle von der University of Tasmania) erinnere ich mich gern, wie auch an andere Freunde, die ich in meinen ,Tasmanischen Jahren‘ habe kennenlernen dürfen, da ich immer wieder auf dieser herb-schönen Insel am vorliegenden Band habe arbeiten können. Das und unsagbar vieles mehr ist Rosalyn Bermudez zu verdanken; zuletzt auch der Kontakt zu Peter Walker von Cumulus Studio (Hobart), der freundlicherweise die Pläne und Grundrisse des Domain House als Vorlagen für den Objektkatalog zur Verfügung gestellt hat. Für die ausgezeichneten Übersetzungen aus dem Französischen und Englischen ist Andreas Bredenfeld und Sylvia Zirden zu danken und last but not least für die Erarbeitung des Layouts Philipp Heinlein und für die große Arbeit am letzten Schliff der Lektorin Monika Kopyczinski. Zürich, im Sommer 2020, Tim Kammasch

Vorwort

Anmerkungen 1

Walter Benjamin, „San Gimignano“ (erstveröffentlicht: Frankfurter Zeitung, 23.08.1929), in: Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser (Hg.), Gesammelte Schriften, Bd. IV, 1, Frankfurt a. M. 1972, S. 364–366, hier S. 364.

2

Ja`s Elsner, „The Genres of Ekphrasis“, in: Ders. (Hg.), Ramus 31, 1–2: The Verbal and the Visual: Cultures of Ekphrasis in Antiquity, 2002, S. 1–18, hier S. 15.

3

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, „Vorlesungen über Ästhetik“, Bd. II, in: Ders., Werke, Bd. 14, Frankfurt a. M. 1986, S. 268f., 271, für Beispiele solcher frühen Bauten S. 274f.; Adolf Loos „Architektur“ (1910), in: Ders., Sämtliche Schriften, Bd. 1, Wien, München 1962, S. 302-318, hier S. 317.

4

Martin Heidegger, „Anzeige der hermeneutischen Situation. Ausarbeitung für die Marburger und die Göttinger Philosophische Fakultät“ (1922), in: Ders., Phänomenologische Interpreta­ tionen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles zur Ontologie und Logik, Gesamtausgabe, II: Abteilung: Vorlesungen 1919–1944, Bd. 62, S. 343–399, hier S. 345–348; siehe auch Jürgen Habermas, „Vorlesungen zu einer sprachtheoretischen Grundlegung der Soziologie“ (1970/71): II. Vorlesung: „Phänomenologische Konstitutionstheorie der Gesellschaft: die fundamentale Rolle von Geltungsansprüchen und die monadologischen Grundlagen der Intersubjektivität“, in: Ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 1984, S. 35–59, hier S. 38.

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Zur Einführung

Zur Einführung

Tim Kammasch

Lebensweltliche Bewandtnis – was die Ekphrasis an Bauten zeigt „ C’est, en somme, une manière de théorie [...] si l’on prend garde de ne pas se laisser aller aux facilités que donne le langage et aux apparences de compréhension que nous offre l’emploi des termes abstraits ...“ Paul Valéry1 Die Bedingungen, unter denen die aktuelle Baupraxis operiert, gleichen jenen, die Vittorio M. Lampugnani mit Blick auf das frühe 20. Jahrhundert als „rücksichtslose ökonomische Verwertungsmechanismen“ bezeichnet hat.2 Unter dem Diktat von RenditeImperativen waltet oft ein effizienter Pragmatismus, der Immobilien als schnellstmöglich rentierende Wertanlage produziert. Dem steht ein der Praxis selten wirksam vermittelter Theoriediskurs gegenüber, der oft allzu modisch getaktet, je nach intellektueller Saison Theorie-Angebote aus anderen Disziplinen aufgreift und als abstrakte Begriffswolken in großen Lettern und verheißungsvollen Visionen durch die Hörsäle und Ateliers schweben lässt. Was Praxis und theoretischen Architekturdiskurs indes verbindet, das ist im Kontext von Green Smart Economy und der sogenannten digitalen Revolution die operative wie thematische Fokussierung auf technologische Aspekte in der Produktion, die in der Tat beachtliche Innovationen zu verzeichnen hat und Verarbeitungsverfahren entwickelt, durch die vermehrt auch nachhaltige Materialien zum Einsatz kommen. Demgegenüber finden der Aspekt der sozialen Nachhaltigkeit und die Bedingungen ihrer Ermöglichung weit weniger Beachtung und werden in den Fachmedien kaum verhandelt. Dies betrifft Themen wie die soziale Akzeptanz und Aneignung von Bauwerken – kurz, was man als Kulturwert von Alltagsarchitektur ansprechen kann: Hier behindern zudem

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floskelhaft gebrauchte Begriffe wie ,Identität‘ und ,Urbanität‘ den Diskurs. Im akademischen Fach der Architekturgeschichte werden diese Aspekte freilich thematisiert und in retrospektiver Analyse wird nachgeholt, was sich in den Artikeln der Fachzeitschriften über Neubauten (noch) nicht leisten lässt. Legendäre Ausnahme bleibt die in der deutschen Zeitschrift Bauwelt publizierte Rubrik mit dem Titel „In die Jahre gekommen“, die legendär auch deshalb ist, weil es sie schon lange nicht mehr gibt. In den unter Aktualitätsdruck stehenden Fachzeitschriften werden bereits in Gebrauch genommene Gebäude, wenn überhaupt, so meist stilgeschichtlich, selten aber daraufhin besprochen, wie sie im Alltag mit den Menschen umgehen, und was sie diesen – in Anlehnung an die pragmatische Bedeutungstheorie des späten Wittgensteins formuliert – qua Gebrauch bedeuten. Sich davon ein Bild zu verschaffen, reichen die quantifizierenden Methoden nicht hin, deren Ergebnisse gegenwärtig fast ausschließlich als Ausweis wissenschaftlicher Exaktheit gelten. Statistiken und abstrakte Begrifflichkeit vermögen schwerlich abzubilden, was Gebäude, die alltägliche Lebenswelten rahmen, den Menschen bedeuten, geschweige denn bedeuten könnten. An dieser Dimension von Wirklichkeit, also der lebensweltlichen Bewandtnis von Gebäuden, sieht Theorie vorbei, wenn sie nur sogenannte harte Fakten in den Blick nimmt und von ihren Gegenständen ‚abzieht’, worauf es ankommt: die phenomenological skin (Roger Scruton). Ihr Versehen gleicht jenem des Versuchs, das Druckbild einer Banknote entfernen zu wollen, um zu erfassen, was ein Geldschein eigentlich ist. Dass man mit der Absicht, den Kulturwert vor allem von Bauten der Alltagsarchitektur aufzuzeigen und über die Modifikation des Architekturdiskurses auf eine Rekultivierung ihrer Baupraxis hinwirken zu wollen, sich gerade an die Adresse der antiken und spätantiken Ekphrasis wendet, bedarf jedoch der Erklärung – einer des Wortes zuerst: Der altgriechische Terminus ‚Ekphrasis‘ wird im Deutschen mit ,Beschreibung‘ wiedergegeben.3 Dies erscheint am lateinischen ,descriptio‘ orientiert, das sich seit der römischen Antike als Übersetzung für ,Ekphrasis‘ eingebürgert hat. Dem Eintrag zur Ekphrasis im Realexikon für Antike und Christentum zufolge kann sich der Begriff allgemein auf beschreibende Rede- oder Textpassagen beziehen,4 nicht nur in verschiedenen Redegattungen, sondern auch in literarischen und historiographischen Texten sowie in Poesie und

Zur Einführung

Briefen. Unter dem Eintrag „descriptio“ teilt ,der Lausberg‘, das Wörterbuch der literarischen Rhetorik mit, was es mit der Ekphrasis auf sich hat: Ihr ist es nicht um eine steckbriefliche Identifikation ihres Gegenstands zu tun, sondern um dessen „lebhaft-detaillierte Schilderung“.5 So sah man das auch in der Antike: In den für den Rhetorik-Unterricht verfassten Progymnasmata (Vorübungen), die dem Rhetor Hermogenes von Tarsos (2. Jh. n. Chr.) zugeschrieben werden, wird die Ekphrasis als detaillierter Bericht bezeichnet, der anschaulich vor Augen führt, was gezeigt werden soll.6 Der Begriff „Ekphrasis“ entstammt der griechischen Rhetorik und bezeichnet in deren Fachliteratur die Technik der anschaulichen Beschreibung: Der früheste Beleg für die Verwendung des Wortes findet sich bei Dionysios von Harlikarnassos (um 60 v.  Chr. – nach 7  n.  Chr.).7 In der Spätantike tritt die Ekphrasis dann auch als eigene (Text-) Gattung der Kunstrede in Erscheinung, zuerst wohl bei dem Autor der Eikones, dem Wanderredner und Vertreter der Zweiten Sophistik, Philostratos d.  Ä. im frühen 3. Jahrhundert.8 Die bei Philostratos d.  Ä. bereits vollzogene Entwicklung der Rhetorik von einer praktischen Disziplin zu einer entpolitisierten Kunstprosa reflektiert in deren Anfängen schon Quintilians Institutio oratoriae,9 das neben Ciceros De oratore maßgebliche Rhetoriklehrbuch der römischen Kaiserzeit. In ihm charakterisiert Quintilian (1. Jh. n Chr.) die Ekphrasis/Descriptio durch ihre Orientierung am Ideal der enárgeia. Das entspricht der Definition die im selben Jahrhundert Theon von Alexandria in dem frühesten erhaltenen Beispiel der Progymnasmata gibt: Hier heißt es: „Die Ekphrasis ist eine erläuternde Rede, die das zu Zeigende auf anschauliche Weise (,enargós‘) vor Augen führt.“ (Prog. 118,7).10 Den in den Progymnasmata (hier bei Theon u. oben bei Hermogenes) zur Kennzeichnung der Ekphrasis entscheidenden Term ‚enárgeia‘ übersetzt Quintilian im Anschluss an Cicero mit ,illustratio‘ (,InsLicht-rücken‘) und ,evidentia‘ (,Anschaulichkeit‘, Inst. 6,2, 32). Zudem bemerkt Quintilian, dass die Ekphrasis/Descriptio, um ihren Gegenstand auf plastische und lebendige Weise vorzuführen bzw. zu zeigen (,ostendere‘, Inst. 6,2, 32), die Affekte und Gefühle der Rezipienten adressiere – „denn nichts verleiht der Rede eine stärkere Wirkung“ (Inst. 6,2, 2). Das Ideal der enárgeia gilt als erreicht, wenn die Rezipierenden, durch die ekphrastische Rede als effet de réel11 den Eindruck erhalten, der beschriebene Gegenstand stünde ihnen wirklich unmittelbar vor Augen (Inst. 6,2, 32). Der

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spätantike Rhetor Nikolaos von Myra (4. Jh. n. Chr.) macht diesen Aspekt der Ekphrasis auf fast schon ekphrastische Weise deutlich: „Man setzt Anschaulichkeit als besonderes Merkmal der Ekphrasis an, weil sie sich vor allem dadurch vom Bericht (altgr.: diégesis/ lat.: narratio) unterscheidet – dieser enthält nämlich eine bloße Darstellung des Objekts, jene versucht die Hörer (akoúontes) zu Zuschauern (théatai) zu machen.“12 Einer Architektur-Theorie, die sich auf die Verwandtschaft ihres Namens mit dem alt-griechischen medialen Verb ‚théaomai‘ besinnt, das auch das Schauen im Theater bedeutet, betrachtet mit Sinn und Verstand, Kopf und Herz und kennt keine Berührungsängste gegenüber Phänomenen aus den Niederungen lebensweltlicher Bewandtnis. Die im alltäglichen Gebrauch an Bauwerken erfahr- und ablesbaren lebensweltlichen Qualitäten sind ihr konkreter ,Stein des Anstoßes‘ zu Reflexionen über den Kulturwert von Architektur. Für an diesem Theoriebegriff orientierte Betrachtungen sind antike und spätantike Ekphraseis von Erkenntnisinteresse: Zunächst schlicht deswegen, weil sie im Unterschied zu der modernen Variante der Ekphrasis sich nicht auf die Betrachtung von Werken der sogenannten bildenden Künste beschränkten,13 sondern neben Landschaften, Tieren, Schlachten, Jahreszeiten und vielem mehr,14 besonders zahlreich eben auch Bauwerken gewidmet sind. Letztere figurieren in der antiken Ekphrasis sogar als eine „prominent class of subject“.15 Das Erkenntnisinteresse gilt der Ekphrasis vor allem wegen des von ihr verfolgten Ideals der Enargeia. Das erscheint erst einmal paradox, insofern es doch gerade die rhetorische Inszenierung des effet de réel ist, aufgrund derer ihr Informationswert und damit auch ihre Relevanz für die konkrete Betrachtung von Bauwerken fraglich erscheint. Denn dieser beruhe auf Illusionskunst, so der Einwand.16 Es mag also umso mehr erstaunen, dass diese antike und spätantike Rede- und Textart – in reflektierter kritischer Aneignung – hier nun gerade eine Architektur-Theorie inspirieren können solle, die durch Bezug auf konkrete Situationen der Lebenswelt und deren bauliche Rahmung sowie durch reflektierte Engführung von Begriff und Anschauung für praktizierende Architektinnen und Architekten an Relevanz zurückgewinnen will. Fürwahr gerade der Literatur der Spätantike, in der die Ekphrasis zu einer eigenen Rede- und Textgattung avancierte, wurde von namhaften Historikern und Philologen Empirieferne

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und schales Buchwissen vorgehalten – so prominent von HenriIrénée Marrou, der an dieser Einschätzung auch in der Retractatio zu seinem Grundlagenwerk Augustinus und das Ende der antiken Bildung festgehalten hat.17 Dass zum Beispiel der ekphrastischen Beschreibung einer lieblichen Landschaftsszene (locus amoenus) keineswegs immer Naturbeobachtung zugrunde liegt, sondern sie sich oft an den in Rhetoriklehrbüchern aufgelisteten topoi (Gemeinplätze, Klischees) von Landschaftsreizen (deren sechs etwa bei Libanius, 4. Jh. n. Chr.) abarbeitet, hat der Begründer der Literaturwissenschaft des lateinischen Mittelalters, Ernst Robert Curtius am Beispiel eines Gedichts des spätantiken Autors Tiberianus (5. Jh. n. Chr.) exemplarisch aufgezeigt.18 Wer um der angeblichen Sachlichkeit einer Analyse das Schälmesser zur Hand nimmt, um den lebensweltlichen Firnis vom Gegenstand der Betrachtung zu entfernen, in dessen Augen muss die Ekphrasis aufgrund ihrer rhetorischen Ambition und Durchgestaltung diskreditiert erscheinen. Indes sind es gerade besagte Gemeinplätze, aufgrund derer uns eine Ekphrasis wie ein ferner Spiegel eine Dimension von Wirklichkeit vor Augen hält, auf die es einer an der lebensweltlichen Bewandtnis von Bauwerken interessierten Betrachtung ankommt. Das hier leitende Erkenntnisinteresse gilt also schlicht einer anderen ,Sache‘: Gefragt ist nicht vorrangig Auskunft über die reale Beschaffenheit des in der Ekphrasis beschriebenen Gegenstands, die stets fraglich ist, weil der Gegenstand auch fingiert sein kann. Die hier interessierende Sinn-Dimension teilt sich bei aller gebotenen hermeneutischen Vorsicht dennoch so unmittelbar wie nur möglich als Lektüreerfahrung mit – nämlich als jene der in einer Gesellschaft geltenden Sichtweisen und Wertehaltungen, in deren Licht Bauwerke betrachtet und bewertet werden. In der Tat generiert die Ekphrasis ihren effet de réel durch eine Täuschung, denn der beschriebene Gegenstand tritt natürlich nicht selbst vor die Augen der Rezipierenden, die sprachlichen Signifikanten werden nicht transparent, sie geben keinen Durchblick auf die Sache selbst frei. Und doch ist unmittelbare Vergegenwärtigung durchaus im Spiel und hat die Täuschung Erkenntniswert für denjenigen, der nach der lebensweltlichen Bewandtnis des beschriebenen Gegenstands fragt. Denn dessen Stellenwert in der Lebenswelt der Zuhörenden muss für diese nachvollziehbar zur Sprache kommen, damit die Täuschung gelingt. Einem Rat Quintilians zufolge, soll der Redner den Gegenstand in signifikanten Details

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beschreiben, aber auch Informationen vorenthalten, die Beschreibung darf also nicht zu ausführlich und erschöpfend ausfallen.19 Die von der selektiven Schilderung intendierten Leerstellen des Sinns müssen von der Rezipientenschaft folglich durch eigene Bilder zu einem Ganzen ergänzt werden. Die Täuschung, auf dem der effet de réel der Ekphrasis basiert, besteht demnach Ruth Webb zufolge in einer vom Redner herbeigeführten Verwechslung.20 Die Rezipierenden wähnen, das Beschriebene selbst werde durch die Rede vergegenwärtigt, dabei handelt es sich um ihre eigenen inneren Bilder, die, evoziert durch die Rede, ihre phantasía ihnen tatsächlich unmittelbar präsent vor das geistige Auge treten lässt. Es handelt sich insofern um eine geborgte Realität: um eine Übertragung. Real sind die Assoziationen, sie werden auf derselben Ebene des Bewusstseins vorstellig wie die vom Redner mitgeteilten Informationen. Zusammen konstituieren sie den Gegenstand, den die Rezipierenden betrachten und für den vom Redner beschriebenen Gegenstand halten. Vermutlich waren die antiken und spätantiken Rezipienten sich des illusionären Charakters der ekphrastischen Vergegenwärtigung ebenso bewusst wie die heutige Leserin sich darüber im Klaren ist, dass sie mit einem Stadtplan vergebens das New York Paul Austers wird aufspüren können („There is no one here by that name.“), was sie nicht davon abbringen mag, gleichwohl vor Ort nach den Protagonisten der New-York-Trilogie Ausschau zu halten, ebenso wie ein Max-Frisch-Leser in Montauk nach Lynn. Wenn sie das tun, verbinden sie den literarisch erfahrenen effet de réel mit ihrem eigenen Leben und bezeugen, dass die literarische Schilderung es vermochte, sich in ihrer Lebenswelt zu verankern. Auf dieser Verankerung beruht auch der rhetorische Erfolg der Ekphrasis und sie erreicht ihn, indem sie ihren Gegenstand im Licht von tópoi zeigt, also durch den Einbau von Gemeinplätzen einen ihrer Hörerschaft ansatzweise bekannten common ground anbietet, sodass diese in der Folge auch jenen Partien der Ausführung folgen kann, in denen das Beschriebene symbolisch und allegorisch überhöht und bedeutungsvoll gemacht wird. Auch diese rhetorische Technik gehört zu den zentralen Elementen, die in dem von George A. Kennedy für die Spätantike als „Litteraturizzazione“ beschriebenen Prozess der Rhetorisierung der Literatur in diese Eingang gefunden haben.21

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Was hier von Interesse ist, sind die Bedingungen der Möglichkeit des Enargeia-Effekts. In dem, was der Redner zur Sprache bringen muss, damit seiner Hörerschaft die entsprechenden inneren Bilder vor Augen treten, scheint auf, was die Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Lebenswelt mit dem beschriebenen Gegenstand an Assoziationen verbinden können; und so kommen in der ekphrastischen Schilderung etwa eines Gebäudes dessen Eigenschaften vorranging unter dem Gesichtspunkt von dessen Bewandtnis für die Lebenswelt zur Sprache, der seine Rezipienten zugehören, denn dieser entstammen, die ihnen zur Verfügung stehenden inneren Bilder (phántasmata).22 Allerdings eignet sich ein reales Gebäude für eine ekphrastische Betrachtung als Gegenstand nur dann, wenn sich der vom Redner angesprochene allgemein geteilte Wert (koinós tópos bzw. common place)23 an ihm auch festmachen lässt. Und das ist auf umso überzeugendere Weise möglich, wenn das Gebäude für die Hörerschaft diesen Wert bereits repräsentiert oder zumindest das Potenzial dazu hat, bzw. ihn latent verkörpert. Somit macht die Ekphrasis an einem Bauwerk – oder im Falle eines fingierten Bauwerkes an dessen Typus – Aspekte von dessen lebensweltlicher Bewandtnis explizit. Es trifft also durchaus zu, dass sich die Ekphrasis im Verfolg ihres Ideals der Enargeia auf der Grenze zwischen Fiktion und Realität bewegt (und mit ihr die Hörer- bzw. Leserschaft). Sie kann auf bestimmte real existierende Gegenstände und Ereignisse referieren und über diese detaillierte Aussagen treffen, andererseits aber diesen auch Attribute ,andichten‘. Wahrheit, ja sogar harte Fakten enthalten Ekphraseis jedoch durchaus, selbst in solchen Beschreibungen, deren Gegenstand fingiert ist. In seinen Progymnasmata verweist Theon von Alexandrien auf die ekphrastische Darstellung des Schilds von Achill in der Ilias (18,468–617), die in der Antike als Stil gebendes Vorbild geschätzt wurde.24 Hier ist auch der Gegenstand der Beschreibung fiktiv und die Fiktionalität des geschilderten Ereignisses der Fertigung des Schilds durch den Gott Hephaistos war auch Hörern und Lesern der Antike bewusst: Beispielsweise hebt der unbekannte Autor der poetologischen Schrift Vom Erhabenen (wahrscheinlich 1. Jh. n. Chr.) an der Odyssee fiktiven und realen Gehalt voneinander ab, indem er zwischen to mythikón und to praktikón unterscheidet (Ps.-Long., De subl. 9,14). Doch selbst die offensichtlich mythologische als para narrative in die Ilias inserierte Beschreibung der Fertigung von

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Achills Schild hat neben ihrer Funktion, in symbolisch verdichteter Gestaltung zentrale Handlungsstränge zu veranschaulichen, jene weitere, nämlich der Haupt-Erzählung des Trojanischen Krieges Glaubhaftigkeit zu verleihen, indem die von Hephaistos zur Verzierung des Schilds gestalteten Szenen zweier Städte der Homerischen Lebenswelt nachempfunden sein dürften.25 Indes verschaffen auch rein fiktive Ekphraseis in epideiktischen Reden oder Romanen ihren Leserinnen und Lesern ganz reale Primärerfahrungen, zum Beispiel diejenige des ästhetischen Ideals einer lieblichen Landschaft. Es hängt folglich ganz davon ab, woraufhin man diese Texte befragt,26 und auch davon, inwiefern man bereit ist, anzuerkennen, dass die Grenzen der Verstandeserkenntnis eben nicht die Grenzen dessen sind, was es gibt (was wir erfahren, erleben können bzw. erleiden müssen), geschweige denn dessen, was existiert. Dass es Dimensionen von Wirklichkeit jenseits bzw. diesseits dessen gibt, was sich in assertorischen propositionalen Sätzen nach Maßgabe szientistischer Wahrheitskriterien fassen lässt, machen die Künste auf ihre Weise evident durch ästhetische Prägnanz. Unstrittig ist auch, dass sich Aspekte der Wirklichkeit auf Weisen mitteilen können, z.B. als Gefühl, Stimmung, ästhetischer Eindruck, deren Gehalt sich auflöst, wenn man sie in die Form von Aussagesätzen zu bringen versucht. Hingegen ist es in Gesprächen mit Empathie und Geduld sehr wohl möglich, sich auch über die intersubjektive Geltung solcher Eindrücke zu verständigen – ohne diese eindeutig und präzise formulieren zu müssen. Auf komplexe Weise und doch unabweisbar teilt sich solche Erkenntnis auch in literarischen Texten mit, wobei es nicht einmal darauf ankommt, ob es sich um fiktive Texte handelt oder nicht, da hierbei nicht die Wahrheit des geschilderten konkreten Ereignisses oder Gegenstands im Blick steht, sondern dieses Blicken selbst: die Weise, wie das Beschriebene gesehen, bzw. in welchem Licht es dargestellt wird; es geht mit anderen Worten um die am Konkreten symbolisch aufscheinende allgemeine Bedeutungsebene. Da die Architektur nur zu einem Teil eine technische Disziplin, zu einem anderen Teil aber eine kulturwissenschaftliche ist, da sie mit Wissen um Kultur(en), dazu beitragen sollte, diese zu bilden, ist sie gut beraten, auch zu berücksichtigen, was Gebäude zu bedeuten vermögen, wenn sie im Lichte der ekphrastischen bzw. literarischen Wahrheit betrachtet werden.

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Viele der antiken und spätantiken Ekphraseis können zudem im zweifachen Sinne des Wortes als ,Betrachtung‘ gelten. Denn verschränkt mit der betrachtenden Beschreibung und ausgehend von dieser werden die beschriebenen Gegenstände auch als Reflexionsmedium behandelt, in Anbetracht dessen allgemeine Betrachtungen (Reflexionen) angestellt werden, die Aufschluss über den Stellenwert des Beschriebenen in der antiken bzw. spätantiken Kultur geben. Dafür sind ekphrastische Passagen gerade in epideiktischen Reden aufschlussreich, wenn die malerische Beschreibung etwa dazu dient, den Urheber eines Gebäudes zu rühmen – so Kaiser Justinian als Bauherr der Hagia Sophia in den Bauwerken von Prokop und in der ebenfalls diesem Bauwerk zugdachten Dichtung von Paulus Silentarius (beide 5. Jh. n. Chr.). In Auswahl und Darstellung der geschilderten Aspekte werden in den Ekphraseis bzw. den mit ihnen verknüpften Reflexionen und Narrativen immer wieder abstrakte Werte („unseen spiritual values“) veranschaulicht, die einer Stadt oder als Herrschertugenden dem Urheber eines Gebäudes zugesprochen werden.27 Wo aber schon die konkrete Schilderung keine inneren Bilder aufseiten der Rezipierenden aufzurufen vermag, scheitert auch die mit ihr verschränkte Betrachtung abstrakter Gehalte. So berichtet etwa im 4. Jahrhundert n. Chr. der aus Antiochien im antiken Syrien stammende heidnische Rhetor Libanius (314–393 n.  Chr.),28 dass er dem Vortrag einer bereits preisgekrönten Rede eines anderen Redners schlicht nicht habe folgen können, da ihm keine Bilder zu Verfügung gestanden hätten, sich die Architektur einer christlichen Kirche vorzustellen, an deren Bau jener Redner theologische Vorstellungen des Frühchristentums zu veranschaulichen suchte: Dieses Beispiel einer gescheiterten Ekphrasis-Rezeption zeigt aber auch das Potenzial der Ekphrasis als möglicher Gestalt von Theorie auf: Durch Engführung von Veranschaulichung und Begriff ist die Erweiterung des lebensweltlichen Horizonts denkbar, weil anschaulich nachvollziehbar. Dass in der für Libanius unverständlichen Rede ausgerechnet ein Gebäude beschrieben wurde, ist für uns auch insofern erhellend, als dergestalt sein Bericht nicht nur das der ekphrastischen Rede und ihrem Gegenstand der Architektur gemeinsame mediale Potenzial der Vermittlung von ideellen Gehalten veranschaulicht. Berücksichtigt man nämlich überdies den für Libanius’ Unverständnis ausschlaggebenden historischen Kontext der offenbar in Konstantinopel im 4. Jahrhun-

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dert bestehenden Parallelgesellschaften von Heiden und Christen, lässt sein Bericht ex negativo eine für das Gelingen der Sinnvermittlung durch Architektur ebenso wie durch Sprache notwendige Bedingung erkennen, die für die aktuelle Problematik des sozialen Zusammenhalts unserer Gesellschaften relevant ist. Denn woran es die von Libanius gehörte Rede offenbar hat fehlen lassen, darauf kommt es auch heute an: In einer sich im Umbruch befindenden multikulturellen Gesellschaft (und das war auch die Spätantike) kann eine gemeinsame kulturelle Kompetenz nicht vorausgesetzt, sie muss gebildet werden. Die Voraussetzung für die Akzeptanz der in einer Rede geleisteten gedanklichen Übersteigung des konkret Beschriebenen bzw. der Vermittlung von neuen ideellen Gehalten besteht darin, dass die Darstellung des Unbekannten auf den Erfahrungsschatz der geteilten Lebenswelt (koinós tópos) rekurriert und neue Bilder und Gedanken mit „Redundanzstreifen“ der kollektiven Erinnerung (Umberto Eco)29 verwoben werden: Christliche Kirchenarchitektur hat auf diese Weise, durch Aufnahme und Überformung des bekannten Formenrepertoires antiker Sakral- und Prunkarchitektur, vermocht, die damals wie heute revolutionären Gedanken des Neuen Testaments der heidnischen Lebenswelt sinnlich nahezubringen. Der Zeugniswert für die lebensweltliche Bewandtnis des beschriebenen Gegenstands oder Ereignisses tritt in den ekphrastischen Texten mithin insbesondere in den Bezügen und Übergängen zutage, die von den Autoren zwischen dem konkret Geschilderten und den in abstrakten Begriffen reflektierten allgemeinen Ideen und Idealen hergestellt werden. Insofern konfrontiert die Lektüre von Ekphraseis eine Theorie, die ihre unvermeidlich stets auch normativen Reflexionen durch Beschreibung veranschaulichen will, mit der Problematik der Rechtfertigung ihrer Übergänge zwischen dem konkret geschilderten Besonderen und der Reflexion in abstrakten Begriffen. Dem Zirkel in dieser Bewegung ist nicht zu entkommen, das ist auch nicht erstrebenswert, denn ein verlässlicherer Hinweis auf die lebensweltliche Bewandtnis des beschriebenen Gegenstands ist schwerlich zu finden: Um den gesellschaftlichen Stellenwert und die lebensweltliche Bewandtnis eines besonderen Gegenstands aufzuzeigen, wird er bereits im Licht derjenigen Werte gezeichnet, die er seinerseits veranschaulichen und damit für sie eintreten soll. Für eine methodologisch reflektierte Architekturbetrachtung stehen

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somit diese Übergänge – in beiden Richtungen – notwendig im Fokus ihres Bemühens um Selbstdurchsichtigkeit. Solche Übergänge sind unumgänglich und aus der Sprache nicht hinauszukriegen. Sie eignen ihr gewissermaßen von Hause aus: Denn da es mehr Dinge im Universum gibt, als Wörter im Gebrauch sind, bezeichnet kein Wort jemals ausschließlich nur den gerade konkret betrachteten Gegenstand und könnte dies auch gar nicht. So setzt mit dessen sprachlicher Beschreibung unvermeidlich bereits eine Verallgemeinerung ein, das ist der Preis der durch Sprache möglichen situationsübergreifenden Verständigung. Selbst ein eigens für ein einzelnes Etwas erfundener Neologismus leistet die Bezeichnung oder Bestimmung dieses Etwas erst, wenn er definiert, also an andere bereits definierte und so verständliche Termini semantisch angebunden wird. Problematisch sind Übergänge von konkreten Beschreibungen zu allgemeinen Ausführungen insbesondere in solchen Texten, die für sich in Anspruch nehmen, ihren Sachverhalt objektiv und wertfrei zu beschreiben, um daraus dann normative Postulate abzuleiten (sog. Sein-Sollen- bzw. Naturalistischer Fehlschluss). Den szientistischen Objektivitätsanspruch eines „privileged view from nowhere“30 erheben Ekphraseis nicht: ihr Blickpunkt ist inständig from now here: Als normativer Referenzrahmen ihrer Argumentationen fungiert für Schreibende und Rezipierende die von ihnen geteilte Lebenswelt. Zumal in der Spätantike werden Ekphraseis von Eliten verfasst, um Eliten zu adressieren und in dieser privilegierten Situation einer gemeinsamen Sprache und Wertewelt sehen sie sich nicht der Notwendigkeit ausgesetzt, ihren normativen Standpunkt auch solchen gegenüber begründen zu müssen, die ihrer Lebenswelt nicht angehören.31 Wenn die kosmopolitische Lebenswelt der hellenisierten Romanitas gleichwohl ihre Anziehungs- und Integrationskraft auch über die Grenzen des Römischen Reiches hinaus zu entfalten vermochte, so nicht zuletzt aufgrund ihrer zivilisatorischen und kulturellen Leistungen, von der ekphrastische Reden und Texte, aber auch die von ihnen beschriebenen Bauwerke sogar als Ruinen heute noch zu künden vermögen.

Anmerkungen 1

Paul Valéry, „Ma ,Poétique‘“, Gazette de Lausanne 1942, zit. nach: Ders., Œuvres, Bd. II, Paris 1960, S. 1607–1609, hier S. 1609.

31

2

Vittorio M. Lampugnani, „Es lebe der banale Wohnungsbau“, Neue Zürcher Zeitung, 12.02.2020, S. 39; siehe auch: Robert Kaltenbrunner, Peter Jakubowski, Die Stadt der Zukunft, Berlin 2018, S. 273–279.

3

Bruno Graf, „Ekphrasis: Die Entstehung der Gattung in der Antike“, in: Gottfried Boehm, Helmut Pfotenhauer (Hg.), Beschreibungskunst und Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegen­ wart, München 1995, S. 143–154, hier S. 143: Das altgriechische Nomen ‚ékphrasis‘ ist aus dem Verb ‚ékphrazein‘ abgeleitet, das sich aus der „Das vollständige Erreichen des Zwecks einer Tätigkeit“ bedeutenden Vorsilbe „ek“ und dem Verb „phrázein“ („zeigen, bekannt, deutlich machen“) zusammensetzt. „Ekphrasis“ bedeutet daher nach Graf wörtlich „ein ,völlig und restlos deutlich Machen‘“.

4

Glanville Downey, s. v. „ekphrasis“, in: Reallexikon für Antike u. Christentum, Bd. 4, Stuttgart 1959, Sp. 921–944.

5

Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, Stuttgart, 3. Auflage 1990, § 810, S. 399–401.

6

Siehe A. W. Hallsal u.a., s. v. „descriptio“, in: Historisches Wörter­ buch der Rhetorik, Bd. II, Tübingen 1994, Sp. 549–553; Ruth Webb, Ekphrasis, Imagination and Persuasion in Ancient Rhetorical Theory and Practice, London, New York 2009, S. 200.

7

Ruth Webb verweist auf De Interpretatione, 3,8, siehe Ekphrasis (Anm. 6), S. 39.

8

Graf, „Ekphrasis“ (Anm. 3), S. 143–154, hier S. 153, sowie Graeme Miles, Philostratos: Interpreters and Interpretation, Abdington, New York 2018, dessen profunde Studie detailliert die elaborierte und philosophisch reflektierte Kunstform der Ekphrasis im Corpus Philostrateum behandelt, und die in ihr zur Durchführung kommenden Ansätze zur Interpretation von Kunstwerken untersucht. Die Ekphrasis als eigenständige Textgattung betrachtet er im Kontext des auch in der Antike kompetitiven Verhältnisses zwischen literarischen und bildnerischen Künsten, die einander darin zu überbieten suchten, ihren ,nach der Natur‘ gestalteten Werken im Ausdruck größtmögliche Lebendigkeit zu verleihen, siehe ebd., z.B. S. 2 u. S. 63.

9

Thomas Zinsmaier, „Quintilian“, in: Metzler-Lexikon Antiker Autoren, Stuttgart, Weimar 1997, S. 609–611, hier S. 611.

10 Meine Übersetzung, um die im Altgriechischen auffällige Betonung des Sichtbarmachens wiederzugeben; griech. Text u. engl. Übers. bietet Ruth Webb, Ekphrasis (Anm. 6), S. 204 u. S. 202. 11 Roland Barthes, „Effet de réel“ (1968), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. III, Paris 2002, S. 25–32.

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12 Joseph Felten (Hg.), Nicolai Progymnasmata, Leipzig 1913, S. 67f.; deutsche Übersetzung zit. nach Graf (Anm. 3), S. 145; griech. Text u. engl. Übers. bietet Webb, Ekphrasis (Anm. 6), S. 204 u. 202. Zur Figur des von der Ekphrasis adressierten „gebildeten Schauenden“ (‚pepaideuménos theatés‘) siehe Simon Goldhills Besprechung von Lukians Ekphrasis De domo: Simon Goldhill, „The Erotic Eye“, in: Ders. (Hg.), Being Greek under Rome. Cultural Identity, the Second Sophistic and the Development of Empire, Cambridge 2001, S. 154–194, hier S. 160. 13 Zu den verschiedenen Bedeutungen, die dem Begriff in der modernen Historiographie und Philologie zugewiesen wurden, sowie zu der Verengung der Extension des Begriffes ‚Ekphrasis‘ auf Beschreibungen von Werken der sog. freien und bildenden Künste (vorranging von Gemälden und Skulpturen) infolge einer Fehlübersetzung ihrer lexikografischen Definition, sowie zu der nicht durch Bezug auf einen bestimmten Gegenstand, sondern durch den Effekt von dessen lebendiger Veranschaulichung (enárgeia) erfolgenden Definition der Ekphrasis in der Antike siehe Webb, Ekphrasis (Anm. 6), S. 6–7 u. S. 39: „... the restriction of the term ,ekphrasis‘ to texts on art is a relatively modern development, inspired by modern disciplines and fields of interest“. Diese Beobachtung wird nicht durch die Ausweitung des Begriffs für jede „verbale Äußerung über ein Kunstwerk“ (meine Kursivsetzung, T.K.) relativiert, die der Autor des Eintrags „Ekphrasis“, Hans-Peter Wagner, im Metzler-Lexikon für Literatur- und Kulturtheorie unter Verweis auf seine eigenen Publikationen für die jüngere Geschichte der Kunstwissenschaften konstatiert, siehe H.-P. Wagner, s. v. „Ekphrasis“, in: Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, 5. Auflage, Stuttgart 2013, S. 163f. 14 Eine Liste von Gegenständen gibt Webb, Ekphrasis (Anm. 6), S. 213f., siehe auch S. 61, sowie: Ja´s Elsner, „The Genres of Ekphrasis“, in: Ders. (Hg.), Ramus 31, 1–2: The Verbal and the Visual: Cultures of Ekphrasis in Antiquity, 2002, S. 1–18, hier S. 1. 15 Webb, Ekphrasis (Anm. 6), S. 195. 16 Zur antiken Kritik an der sophistischen Rhetorik (auch bei Platon) siehe Graf, „Ekphrasis“ (Anm. 3), S. 145. 17 Henri-Irénée Marrou, Augustinus und das Ende der antiken Bildung, 2. Auflage, Paderborn u. a. 1994, S. 132, 525–529 (franz. Orig.: Paris 1938, inkl. der Retractatio: 4. Auflage Paris 1958). 18 Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948), 10. Auflage, Bern, München 1984, S. 201–204. Eine entsprechende Beobachtung von Graeme Miles bezüglich Ekphraseis von Landschaften in den Eikones des älteren Philostratos in: Miles, Philostratos (Anm. 8), S. 108.

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19 Webb, Ekphrasis (Anm. 6), S. 85 u. S. 110, als Beispiel für diese Strategie der „imaginative supplementation“ durch die Leserschaft führt Webb eine Passage aus den Eikones von Philostratos (2,9), S. 21, an. 20 Hier und im Folgenden stütze ich mich auf die detaillierte Analyse der für die Ekphrasis zur Erreichung der größtmöglichen Anschaulichkeit (enárgeia) notwendigen Aktivierung der phantasía der Rezipientenschaft, die ihrerseits durch Roland Barthes’ „Effet de réel“ (Anm. 11) inspiriert ist, siehe Webb, Ekphrasis (Anm. 6), S. 124–130. 21 George A. Kennedy, Classical Rhetoric and Its Christian and Secular Tradition from Ancient to Modern Times, London 1980, S. 109. 22 Der Redner muss die ,cultural competence‘ seiner Rezipientenschaft berücksichtigen und mit ihr arbeiten, siehe Webb, Ekphrasis (Anm. 6), S. 110–111. 23 Der extrem weite Begriff koinós tópos wird hier im Sinn von ‚commonly accepted oppinions‘ gebraucht, siehe: Webb, Ekphrasis (Anm. 6), S. 76–78 u. S. 126f. 24 Theon, Progymnasmata, 118,6; den altgriechischen Text bietet Webb, Ekphrasis (Anm. 6), S. 197. 25 Zu den verschiedenen hier synthetisierten Deutungen der SchildEkphrasis in der Ilias siehe Maureen Alden, Homer Beside Himself. Para-Narratives in the Iliad, Oxford, New York 2000, S. 48–73. 26 Grundsätzlich zur Frage des Zeugniswertes von rhetorischen Texten, siehe J. K. Davies, Democracy and Classical Greece, 2. Auflage, Glasgow 1993, S. 112f. 27 Webb, Ekphrasis (Anm. 6), S. 195: „And here too, the visible details of the building can be used to point towards the invisible attributes of the building, whether the actions of the patron which the speaker wishes to associate with the building or unseen, spiritual qualities.“ 28 Oratio 1,41, in: Libanius, Autobiography and Selected Letters, 2 Bde., hg. u. übers. v. A. F. Norman, Loeb Classical Library, Bd. 478 u. 479, Cambridge, London 1992, Teil 1, S. 102–103, siehe Webb, Ekphrasis (Anm. 6), S. 125f. 29 Umberto Eco, Einführung in die Semiotik, München 1972, S. 201. 30 Hubert Dreyfus, Charles Taylor, Retrieving Realism, Cambridge, London 2015, S. 155 (meine Hervorhebung, TK). 31 Auseinandersetzungen zwischen Vertretern verschiedener RednerSchulen oder rhetorischer Stile (etwa zwischen Asianismus u. Attizismus) spielen sich vor dem Hintergrund derselben Lebenswelt

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ab. Mit dem Aufkommen des Christentums und den Völkerwanderungen wird diese brüchig, davon zeugt das oben erwähnte Beispiel von Libanius. Wo Auseinandersetzungen zwischen Heiden und Christen friedlich verbal ausgetragen werden, wie 384 n. Chr. im Streit um den Viktoria-Altar zwischen dem Stadtpräfekten Roms Symmachos und dem Bischof von Mailand Ambrosius streiten Vertreter derselben gebildeten Gesellschaftsschicht miteinander und spielen in den überlieferten Texten mitunter auch Tatsachen verstellende Berichte, nicht aber ekphrastische Schilderungen eine Rolle.

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Dirk Baltzly, Graeme Miles

Der Spiegel der Seele. Architektonische Ekphrasis in antiken Quellen Der Begriff „Ekphrasis“ wird in der zeitgenössischen Literatur oft im Sinne von „Beschreibung eines Kunstwerks“ verwendet. Man darf jedoch nicht vergessen, dass es sich dabei um eine moderne Verwendung des Wortes handelt, die sich nicht mit seinem antiken Gebrauch deckt. Obwohl zur antiken Ekphrasis auch anschauliche Beschreibungen von Kunstwerken gehören konnten, beschränkte sie sich keineswegs auf diese, und sie waren noch nicht einmal ihr wichtigster Gegenstand.1 Eine Ekphrasis war in der Antike vielmehr jedes Schreiben oder Sprechen, das darauf abzielte, in den Köpfen der Zuhörerschaft ein anschauliches Bild zu erzeugen. Unsere Quellen für die Theorie der Ekphrasis sind die antiken rhetorischen Handbücher, die den Schülern die Kunst der Beredsamkeit vermitteln sollten. Die erhaltenen Werke dieser Art reichen vom ersten bis zum fünften Jahrhundert n. Chr. und stimmen in ihrer Beschreibung der Ekphrasis und ihrer gewünschten Wirkung im Großen und Ganzen überein. Eine gute Ekphrasis erzeugt enargeia („den Eindruck unmittelbarer lebendiger Vergegenwärtigung des Beschriebenen beim Rezipienten“) und hilft dadurch dem Redner oder Schreiber, sein Publikum zu überzeugen.2 Kurz gesagt, ist sie eines von mehreren rhetorischen Mitteln, über die gute Rhetoriker verfügen sollten. Dabei ist hervorzuheben, dass sich die antike Ekphrasis durch ihre Wirkung definiert, nicht durch ihren Gegenstand. Die Liste der Beispiele für ekphrastische Themen variiert daher von einem rhetorischen Werk zum anderen. Die einfachste Version dieser Liste findet sich in dem ältesten erhaltenen Handbuch, dem von Theon (1. Jahrhundert n. Chr.), der „Personen, Orte, Zeiten und Ereignisse“ empfiehlt. Nur eines der vier Handbücher, nämlich das von Nikolaos (5. Jahrhundert n. Chr.), befasst sich

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kurz mit der Ekphrasis von Kunstwerken, wenn auch nicht in seiner zentralen Themenliste.3 Auch wenn Kunstwerke bei Weitem nicht der Hauptgegenstand antiker Ekphrasis sind, tauchen solche Ekphraseis in der griechischen Literatur von Beginn an auf (am bekanntesten ist Homers Beschreibung des Schildes von Achilles (Il. 9, 478–608)), schon lange bevor der Begriff und die Theorie der Ekphrasis existierten, und sind in verschiedenen Gattungen verbreitet. Die Literatur zu dieser Spielart antiker Ekphrasis (das heißt derjenigen, die dem heutigen Verständnis des Begriffs entspricht) ist in den letzten Jahrzehnten enorm angewachsen. Eines der vorherrschenden Themen dieser Literatur ist, inwiefern solche Ekphraseis Kunstwerke nicht bloß beschreiben, sondern in Lebendigkeit und Schönheit übertreffen sollen. Ekphraseis geben zudem nicht nur Auskunft darüber, wie verloren gegangene Kunstwerke ausgesehen haben mögen, vielmehr zeigen sie auch – was ebenso wichtig ist –, wie in der Antike Kunst im Allgemeinen gesehen und interpretiert wurde, das heißt innerhalb der Kultur des Sehens, in deren Zusammenhang die visuellen Künste gesehen und verstanden wurden.4 Wie aber verhält es sich nun mit der architektonischen Ekphrasis? Ebenso wie die Ekphrasis von Kunstwerken findet sie sich zuerst in Homers Epen, wobei diese Beispiele weit weniger untersucht wurden als die Beschreibung des Schildes von Achilles. Obwohl viele Verweise auf Gebäude bei Homer sehr kurz sind, gibt es drei wichtige Beispiele: den Palast des Priamos (Il. 6, 242–250) und die festungsartige Behausung von Achilles in Troja (Il. 12, 448–457) in der Ilias sowie die Hütte des Schweinehirten Eumaios in der Odyssee (Od. 14, 8–18). Zwei Aspekte verbinden diese Ekphraseis: das Interesse an der Bauweise des jeweiligen Gebäudes und das Interesse an der Art und Weise, wie es seine Nutzung durch die Bewohnerschaft widerspiegelt. Das zweite Interesse taucht in der Ekphrasis des Priamos-Palastes auf, wo in der großen Anzahl von Schlafzimmern die Größe der Familie des Priamos sichtbar wird: fünfzig Zimmer für seine fünfzig Söhne und deren Frauen, weitere zwölf für seine Töchter und ihre Ehemänner. Während dieser Abschnitt fast keine Anhaltspunkte für die Konstruktion des Gebäudes gibt (außer dem „glatten Stein“, aus dem es gebaut ist), zeigen die beiden anderen ausführlicheren Beispiele ein deutliches Interesse am Bauprozess. Ebenso wie die Beschreibung des Schildes von Achilles beinhaltet die Beschreibung seiner Hütte

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(klisiê) bekanntlich auch deren Entstehung, obwohl darüber anders als im Fall des Schildes in der Vergangenheit berichtet wird: „ Als sie nunmehr das Gezelt des Peleiaden erreichten, Welches hoch dem Beherrscher die Myrmidonen erbauet, Zimmernd der Tannen Gebälk, und obenher es bedecket Mit grauwolligem Schilf, aus sumpfigen Wiesen gesammelt, Ringsum bauten sie dann den geräumigen Hof dem Beherrscher Dicht von gereiheten Pfählen, und nur ein tannener Riegel Hemmte die Pfort’. Es schoben ihn vor drei starke Achaier, Und drei schoben zurück den mächtigen Riegel des Tores, Anderer; nur Achilleus vermocht’ allein ihn zu schieben“.5 Dieser Bericht über den Bau lässt den spontanen Charakter der Konstruktion erkennen, indem er hervorhebt, dass die Hütte aus den wenigen verfügbaren Materialien gebaut ist. Ihre Größe und die Sorgfalt, mit der sie errichtet wurde, verweisen jedoch auf die Verehrung, die Achilles entgegengebracht wird, während die Einzelheiten über den schweren Türbalken dem Publikum seine enorme (und gefährliche) Kraft in Erinnerung rufen. Die Beschreibung der Behausung (Hof, aulê) des Schweinehirten Eumaios, eines treuen Sklaven des seit Langem abwesenden Odysseus, bedient sich ähnlicher ekphrastischer Methoden im umgekehrten Sinn: „ Sitzend fand er ihn jetzt an der Schwelle des Hauses, im Hofe, Welcher hoch auf weitumschauendem Hügel gebaut war, Schön und ringsumgehbar und groß. Ihn hatte der Sauhirt Selber den Schweinen erbaut, indes sein König entfernt war, Ohne Penelopeia und ohne den alten Laertes, Von gesammelten Steinen und oben mit Dornen umflochten. Draußen hatt er Pfähle von allen Seiten in Menge Dicht aneinander gepflanzt, vom Kern der gespaltenen Eiche. Innerhalb des Gehegs hatt er zwölf Kofen bereitet, Einen nahe dem andern, zum nächtlichen Lager der Schweine. Fünfzig lagen in jedem der erdaufwühlenden Schweine“.6 Beide Gebäude sind um einen zentralen, von Pfosten umsäumten Hof herum gebaut, spiegeln jedoch die unterschiedlichen Bedingungen ihrer Errichtung und die Eigenschaften ihrer Bewohnerschaft wider. Eumaios’ ohne fremde Hilfe gebaute Hütte zeigt seine

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Eigenständigkeit und die zwölf Schweineställe zeugen ebenso von seinem Erfolg als Schweinehirten, wie die fünfzig Schlafzimmer des Priamos für seine Söhne und die zwölf Schlafzimmer für seine Töchter dessen Erfolg und Macht als Vater und König erkennen lassen. Diese homerischen Ekphraseis von Bauwerken nehmen die spätere Ekphrasistheorie insofern vorweg, als sie darauf zielen, ihren Gegenstand anschaulich vor Augen zu führen. Darüber hinaus nutzen sie Gebäude, um die Eigenschaften derer darzustellen, die sie benutzen und bewohnen. Die Beschreibung der Gebäude dient bei Homer zur Versinnbildlichung der Eigenschaften ihrer Bewohner. Wie in vielen anderen Hinsichten lieferten die homerischen Epen auch im Fall der architektonischen Ekphrasis ein Beispiel für spätere Schreibende der verschiedensten Gattungen, die sie modifizierten und auf andere Weise gebrauchten.7 Zu den am wenigsten untersuchten architektonischen Ekphraseis gehören die in philosophischen Texten verwendeten. Parmenides’ Weg der Wahrheit hat mehr Ähnlichkeit mit einem Epos als andere vorsokratische Texte. Das Werk ist in homerischen Hexametern verfasst und beginnt damit, dass es den Autor als jemanden einführt, der von einer Göttin angeleitet wurde, ähnlich wie bei Hesiod dessen Autorität aus der Tatsache hergeleitet wird, dass er mit den Musen auf vertrautem Fuß steht. Parmenides’ Dichtung enthält auch eine ziemlich detaillierte Beschreibung sowohl des Wagens, der den Erzähler befördert, als auch der Tore, zu denen er gebracht wird. „Auf diesem Weg ließ ich mich tragen, denn auf diesem trugen mich die vielverständigen Stuten, den Wagen ziehend mit gewaltiger Kraft. Jungfrauen wiesen den Weg. Die Achse in den Naben gibt einen hellen Pfeifenton, als sie sich erhitzt – denn eilig getrieben ward sie zu beiden Seiten von zwei gedrehten Rädern –, als die Heliaden, die Jungfrauen, die zuvor das Haus der Nacht zum Licht hin verlassen hatten, die vom Haupt weg mit den Händen die Schleier gestoßen hatten, immer wieder sich zum Geleit beeilten. Dort ist das Tor der Bahnen von Tag und Nacht. Türsturz umschließt es und steinerne Schwelle. Selbst ätherisch, ist es ausgefüllt mit großen Türflügeln, deren ineinandergreifende Schlußbalken der unerbittlichen Dike unterstellt sind. Auf sie nun redeten die Jungfrauen ein mit besänftigendem Wort und überzeugten sie in zuständiger Weise, daß sie auf ihre Bitte den mit

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einem Stift versehenen Riegelbalken sofort vom Tor zurückschöbe, das sich in seiner unermeßlichen, vorher von den Türflügeln ausgefüllten Weise auftat, als die erzbeschlagenen Pfosten, mit Zapfen und Dornen eingefügt, einer nach dem andern sich in den Pfannen gedreht hatten. Hindurch also durch das Tor lenkten geradewegs dem Fahrweg nach die Jungfrauen Wagen und Stuten. Vertrauensvoll also empfing mich die Göttin, sie ergriff mit ihrer Hand meine Rechte, begrüßte mich und sprach die folgenden Worte“.8 Diese Beschreibung ist ausführlicher, als es die Erzählung verlangt. Für die rein philosophischen Absichten eines Lesers wie Aristoteles kommt es auf die Argumente an, die implizit in den nun folgenden Worten der Göttin enthalten sind. Diese Abschnitte scheinen somit ekphrastisch zu sein: ein Versuch, beim Leser ein genaues Gefühl für eine Sache und ein Gebäude oder einen Ort zu schaffen. Wie im Epos bewirkt diese ausführliche Beschreibung eine Unterbrechung des Narrativs und verzögert die Überleitung zu den Ausführungen, die in Fragment 2 beginnen. Auf welche Art und Weise funktioniert diese philosophische Ekphrasis in Parmenides’ Gedicht im Vergleich zur Ekphrasis in der Epik, auf die der Philosoph wahrscheinlich antwortet? In einem Übersichtsartikel hebt Ja´s Elsner die unterschiedlichen Funktionsweisen der Ekphraseis des Achilles-Schildes in Homers Ilias beziehungsweise des Schildes von Herakles in dem Gedicht dieses Namens von Hesiod (oder Pseudo-Hesiod) hervor. Obwohl die beiden in einem Zusammenhang stehen – Pseudo-Hesiod nimmt direkte Anleihen bei der homerischen Beschreibung des Schildes von Achilles – funktionieren die beschreibenden Passagen unterschiedlich. In der Ilias erinnert die Beschreibung des AchillesSchildes die Lesenden an eine andere Welt, als die im Gedicht dargestellte: eine Welt mit Hochzeiten, Landwirtschaft, durch Gerichte geschlichteten Konflikten – kurz, an das Andere zum Trojanischen Krieg. Damit ist die Ekphrasis bei Homer „eine indirekte Reflexion auf die Gesamtheit des Textes, innerhalb dessen sie eine kleine Episode darstellt“.9 Die Dekoration auf dem Schild des Herakles hingegen stellt den im Gedicht dargestellten Kampf zwischen dem Helden und seinen Gegnern in einen kosmischen Zusammenhang. Sie zieht das Publikum weiter in den zentralen Konflikt des Gedichts hinein, indem sie ihm nahelegt, allenthalben nach diesem Motiv Ausschau zu halten. Während der homerische

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Text dadurch, dass er seine begrenzte Reichweite herausstreicht, die Aufmerksamkeit auf sich selbst lenkt, nimmt sich der Text von Hesiod zurück, indem er die Leserschaft veranlasst, einen ungebrochenen Zusammenhang zwischen dem Ganzen jenseits des Textes und der Welt des Textes zu sehen. Die Ekphrasis des Wagens in Parmenides’ Gedicht funktioniert eher wie die Hesiod’sche Ekphrasis, während die Ekphrasis des Tores wie die des Achilles-Schildes bei Homer funktioniert. Im Fall des Wagens ist das zentrale Bildelement die Kreisform – runde Räder, runde Achsen usw. Die Art und Weise, in der diese wiederholte Kreisform wichtige Themen in Parmenides’ Philosophie vorwegnimmt, ist Gegenstand der kürzlich abgeschlossenen Magisterarbeit von Nathasja van Luijn.10 Aus Platzgründen können wir hier nicht auf Einzelheiten dieser Hypothese eingehen, aber wenn sie zutrifft, würde dies bedeuten, dass die Ekphrasis des Wagens wie die des Herakles-Schildes funktionierte – sie beschriebe einen Gegenstand, der die Botschaft des Textes vorwegnimmt. Die Beschreibung des Tores und seiner eindrucksvollen Schutzvorkehrungen dürfte jedoch das nahtlose Eintauchen der Lesenden in die Handlung des Epos beeinträchtigen. Wie das beeindruckende Tor zu Achilles’ Hütte in der Ilias vermittelt auch dieser einleitende Abschnitt den Ehrfurcht einflößenden Charakter der Bewohnerin und die Schwierigkeit, sich ihr zu nähern. Diese Hürde für das menschliche Erfassen der tatsächlichen Wirklichkeit hinter den Dingen kann nur dadurch beseitigt werden, dass die Töchter der Sonne Dike, die Göttin des Rechts, davon überzeugen, sie (und ihren Gast, den jungen Mann im Wagen) einzulassen. Doch das Motiv der Überzeugung ist zweischneidig. Einerseits versichert die Göttin dem jungen Mann, dass die „Bahn der Überzeugung“11 der Wahrheit diene. Andererseits bemerkt sie auch, die meisten Sterblichen seien zutiefst verwirrt. Sie ließen sich davon überzeugen, ihren Verstand dem angeblich Undenkbaren zuzuwenden – dem Weg des Nichtseins. So wie in Parmenides’ Dichtung die Wege des Seins und des Nichtseins auseinanderstreben, trennen sich in der Zeit nach Parmenides auch die Wege der philosophischen Ekphrasis. Aristoteles beschreibt detailliert, aber als Anatom und Naturwissenschaftler. In seinen Texten12 dreht sich alles um das Thema, ohne die Aufmerksamkeit durch irgendwelche Kunstgriffe auf ihre Textualität zu lenken. Aristoteles nimmt Parmenides auch nicht besonders ernst.

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Platon dagegen nahm ihn ernst, und seine Dialoge sind voller Ekphraseis – von der Schilderung der Reise durch die intelligible Welt, die die Olympioniken den körperlosen Seelen im Phaidros schenken, bis vielleicht zum gesamten Timaios und Kritias. Thomas Kjeller Johansen hat diese Dialoge als eine „Ekphrasis des gesamten Kosmos“ beschrieben.13 Es dürfte nicht überraschen, dass Platons Dialoge auch ihre eigene Textualität überdeutlich herausstellen – am bekanntesten ist vielleicht Platons Beschreibung von Sokrates im Gespräch mit Phaidros, in der er offensichtlich die Praxis des philosophischen Schreibens kritisiert. Es geht hier nicht nur um die Feststellung, dass Platon „literarischer“ ist als Aristoteles (was immer das bedeuten mag). Vielmehr geht es darum, dass die Ekphrasis dazu dienen kann, den Unterschied zwischen einem philosophischen Text und der Wirklichkeit, die er zu beschreiben sucht, zu verdeutlichen. Es ist insofern kein Zufall, dass bei Platon die längste erhaltene architektonische Ekphrasis des antiken philosophischen Schrifttums zu finden ist: die Beschreibung der Bauwerke von Atlantis in dem späten und nicht vollendeten Dialog Kritias. Die gesamte Passage ist viel zu lang, um sie zu zitieren (115c4–117e8), doch einige allgemeine Bemerkungen mögen verdeutlichen, welchen Nutzen sie für die inzwischen etablierte Verwendung dieser Art von Ekphrasis hat. Die Schönheit, Symmetrie und Ausschmückung der Hauptstadt von Atlantis, ihrer Paläste, ihrer Brücken, Brunnen, Bäder und Tempel, werden genutzt, um die Tugenden der Atlanter selbst zu reflektieren. Sie hingen Kritias zufolge weder am Reichtum noch am Luxus und begegneten einander gerecht und freundlich. Mit anderen Worten spiegelt sich ihre gute soziale und moralische Ordnung im größeren Maßstab in ihrer Architektur wider. Dennoch deutet diese architektonische Prachtentfaltung den Niedergang von Atlantis an, der sich über Generationen hinweg vollzieht. Der Gegensatz zu den vermuteten Zuständen des alten Athen, deren Beschreibung direkt zu dem Bericht über Atlantis hinleitet, ist bezeichnend: Zwar ist Platons Text auch hier sehr ausführlich, doch geht es in der Beschreibung Athens um die Menschen, ihre Sitten, die Grenzen ihres Landes und dessen natürliche Gegebenheiten, fast ohne jeden Bezug auf Bauwerke. Die beeindruckende Gebäudelandschaft von Atlantis spiegelt gleichzeitig seine anfängliche Größe und sein Versinken in die Maßlosigkeit wider, für die es von Anfang an anfällig war.

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Platons Darstellung von Atlantis bedient sich nicht nur der epischen Verwendung der Ekphrasis zur Versinnbildlichung des Charakters der Stadt, sondern steht auch in einer Tradition, die die architektonische Ekphrasis beim Schreiben über Wunder einsetzt, insbesondere über Wunder anderer Kulturen. Das große Vorbild hierfür ist Herodot, der die eindrucksvollsten Bauwerke der von ihm besprochenen Kulturen häufig sehr detailreich beschreibt. Seine Schilderung Babylons gibt beispielsweise umfassend Auskunft über dessen gewaltige Ausmaße, seine Mauern und Gräben (Hdt., 1, 178) sowie seine Tempel (z.  B. Hdt., 1, 181–182). Wie die wenigen homerischen Beschreibungen von Bauwerken behandelt auch er die Art und Weise der Konstruktion dieser Mauern (Hdt., 1, 179). Bei Herodot dient die Ekphrasis erneut einem erzählerischen Zweck: Die Pracht der Bauten Babylons lässt die Leistung des Cyrus bei ihrer Eroberung – dem erzählerischen Zusammenhang, in dem die Ekphrasis auftaucht – umso größer erscheinen. Solche Beschreibungen weisen offensichtlich auch eine gewisse Ambivalenz auf: Während Herodot implizit die Großartigkeit der architektonischen Wunderwerke lobt, bilden sie womöglich implizit auch einen Gegensatz zum Ideal hellenischer Einfachheit. In der späteren Reiseliteratur kommt es häufig vor, dass sich die architektonische Ekphrasis hauptsächlich auf das Fremdartige und Wunderbare konzentriert. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: Philostratos liefert (im frühen dritten Jahrhundert n. Chr.) die ausführliche Beschreibung einer imaginären Wohnstatt indischer Brahmanen, einem Heiligtum auf einem Berg, den sie nach Belieben jederzeit mit Wolken verhüllen können (VA 3, 13). Pausanias dagegen verwendet diese Art des Schreibens in seinem Bericht über die heiligen Stätten Griechenlands in einem anderem Sinn.14 Obwohl er aus Kleinasien stammt und es daher um ihm eher fremde Objekte geht, wenn er von seinen Reisen auf dem griechischen Festland berichtet, überträgt er diese Art der Beschreibung von Wundern von der Ethnografie und Auslandsreisen auf seine eigene Kultur.15 Mit anderen Worten ist hier der Zweck der architektonischen Ekphrasis wiederum ein anderer: die Konstruktion einer idealisierten hellenischen Identität, deren äußere Erscheinung sich zu einem großen Teil aus dem Erbe einer schönen und spezifisch griechischen Baulandschaft ergibt.

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Zusammenfassung Die antike Ekphrasis war wesentlich weiter gefasst als die Ekphrasis in ihrer modernen Definition als „Beschreibung von Kunstwerken“. Gebäude und Architektur waren, wie wir gesehen haben, häufig Objekte antiker Ekphraseis, sowohl vor als auch nach der Formulierung eines theoretischen rhetorischen Rahmens für solche Ekphraseis. Dabei sind architektonische Kenntnisse zwar eine notwendige Voraussetzung für das ekphrastische Schreiben über Gebäude, doch reichen sie keineswegs aus. Ekphrasis ist eine schriftliche oder mündliche Gestaltungstechnik, und ihr erfolgreicher Einsatz hängt davon ab, ob ihre Anwender die Sprache beherrschen – und nicht von ihrer Beherrschung der techne des Bauens. Nichtsdestotrotz hat unsere kurze Übersicht gezeigt, dass alle diese Ekphraseis immer irgendeine implizite Verbindung zwischen den physischen Merkmalen von Gebäuden und den geistigen und spirituellen Eigenschaften derer, die sie bauen und nutzen, herstellen. Um das antike ekphrastische Schreiben zu verstehen, muss man immer fragen, welchem Zweck es innerhalb des Textes, in den es eingebettet ist, dient. Wie aus unseren wenigen Beispielen hervorgeht, bestimmt beim ekphrastischen Schreiben der Zweck zu einem großen Teil den Umfang und die Auswahl der Einzelheiten. Wie die Ekphraseis von Kunstwerken implizit auch Aufschluss darüber geben, welche Vorstellungen die Verfassenden und ihr Publikum vom Wesen der Kunst und der Art und Weise ihrer Interpretation haben, so kommen auch in architektonischen Ekphraseis implizite Vorstellungen über das Wesen und die Funktion von Architektur und über die Art und Weise, wie sie die Kultur im weiteren Sinne widerspiegelt, zum Vorschein.

(Übersetzung aus dem Englischen: Sylvia Zirden) Auswahlbibliografie

Boehm, G., Pfotenhauer, H. (Hg.), Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München 1993. Costantini, M., Graziani, F., Rolet, S. (Hg.), Le Défi de l’art. Philostrate, Callistrate et l’Image Sophistique, Rennes 2006. Elsner, J., „Pausanias. A Greek Pilgrim in the Roman World, in: Past and Present 135, 1992, S. 3–29.

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Elsner, J., „Introduction. The Genres of Ekphrasis“, in: Ramus 31, 2014, S. 1–18. Elsner, J., Roman Eyes. Visuality and Subjectivity in Art and Text, Princeton 2007. Goldhill, S., „Forms of Attention. Time and Narrative in Ekphrasis“, in: Cambridge Classical Journal 58, 2012, S. 88–114. Johansen, T., Plato’s Natural Philosophy. A Study of the TimaeusCritias, Cambridge 2004. Luijn, Nathasja van, The Figurability of Theory. The Philosophical Significance of Circularity in Parmenides, MA Thesis, Leiden 2018. Squire, M., Image and Text in Graeco-Roman Antiquity, Cambridge 2009. Webb, R., „Ekphrasis Ancient and Modern. The Invention of a Genre“, in: Word and Image 15, 1999, S. 7–18. Webb, R., Ekphrasis, Imagination and Persuasion in Ancient Rhetorical Theory and Practice, Farnham 2009.

Anmerkungen 1

Ruth Webb, „Ekphrasis Ancient and Modern. The Invention of a Genre“, Word and Image 15, 1999, S. 7–18.

2

Siehe zum Beispiel Hermogenes, Progymnasmata 10: „Ἔκφρασίς ἐστι λόγος περιηγηματικός, ὥς φασιν, ἐναργὴς καὶ ὑπ᾽ ὄψιν ἄγων τὸ δηλούμενον.“

3 4

Webb, „Ekphrasis Ancient and Modern“ (Anm. 1), S. 11. Unter vielen anderen: G. Boehm, H. Pfotenhauer (Hg.), Beschrei­ bungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München 1993; M. Costantini, F. Graziani, S. Rolet (Hg.), Le Défi de l’art. Philostrate, Callistrate et l’Image Sophistique, Rennes 2006; M. Squire, Image and Text in Graeco-Roman Anti­ quity, Cambridge 2009; R. Webb, Ekphrasis, Imagination and Persu­ asion in Ancient Rhetorical Theory and Practice, Farnham 2009.

5

Il. 24, 448–456, zit. n. Homer, Ilias, in: Ilias – Odyssee, übers. v. Johann Heinrich Voß, München 1985, S. 428.

6

Od. 14, 5–15, zit. n. Homer, Odyssee, in: Ilias – Odyssee, übers. v. Johann Heinrich Voß, München 1985, S. 625.

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7

Zu den Unterschieden zwischen Epos und Epigramm: S. Goldhill, „Forms of Attention. Time and Narrative in Ekphrasis“, Cambridge Classical Journal 58, 2012, S. 88–114.

8

Parmenides, „Proömium“, in: Die Vorsokratiker I, griechisch/ deutsch, ausgewählt, übersetzt und erläutert von J. Mansfeld, Stuttgart 1983, S. 313, 315.

9

Ja`s Elsner, „Introduction. The Genres of Ekphrasis“, Ramus 31, 2014, S. 4. Siehe unter vielen anderen zu dieser Ekphrasis Squire, „Image and Text“ (Anm. 4).

10 N. van Luijn, The Figurability of Theory. The Philosophical Signifi­ cance of Circularity in Parmenides, MA Thesis, Leiden 2018. 11 Parmenides, „Methodologische Einführung“, in: Die Vorsokratiker I, griechisch/deutsch, ausgewählt, übersetzt und erläutert von J. Mansfeld, Stuttgart, 1983, S. 315. 12 Zum Beispiel De caelo, Phys., Met. (Anm. d. Hg.). 13 T. K. Johansen, Plato’s Natural Philosophy. A Study of the TimaeusCritias, Cambridge 2004, S. 4. 14 Siehe zum Beispiel Pausanias’ Bericht über die Akropolis in Athen (1, 22–28). 15 Ja`s Elsner, „Pausanias. A Greek Pilgrim in the Roman World, Past and Present 135, 1992, S. 3–29.

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Andreas Vogel

Architektur im Bild: Eine Frau Nehmen wir zwei beliebige populäre und entsprechend weit verbreitete kunsthistorische Nachschlagewerke zur Hand – vorliegend zum einen den wissenschaftlichen Ansprüchen in keiner Weise genügenden Kunst-Brockhaus1 und zum anderen das fundierte und auch von Fachleuten zur Erstkonsultation herangezogene Lexikon der Kunst2 –, so haben wir zu konstatieren: Zu ,Ekphrasis‘, resp. ,Ekphrase‘ findet sich dort ebensowenig ein Eintrag, wie zu ,Bildbeschreibung‘. „Wie kann das sein?“, fragt man sich und reibt sich verwundert die Augen. Ist denn die Kunstgeschichte als Bildwissenschaft nicht permanent damit beschäftigt, Bilder zu beschreiben? Und würde ein entsprechender Lexikonartikel damit nicht eines der ,Kerngeschäfte‘ dieses Wissenschaftszweiges behandeln? Oder aber, mag man folgern, liegt die Bildbeschreibung aller Auseinandersetzung mit dem Bild derart im elementarsten Zentrum kunstwissenschaftlichen Arbeitens, dass darüber ein Wort zu verlieren unnötig erscheint? Sicherlich würden sich keine Kunsthistorikerin und kein Kunsthistoriker in der wissenschaftlichen Arbeit allein mit einer Bildbeschreibung begnügen. Diese ist nicht umsonst eine vornehmlich literarische Form, auch wenn diese Form insbesondere von Studierenden der Kunstgeschichte als Sehschule und zur Terminologieaneignung intensiv geübt wird. In der Versprachlichung des unmittelbar Gesehenen – und in der Folge der Versprachlichung des Gedachten – wird noch immer die Grundlage für ein Verständnis ebenso wie für jede weitere Auseinandersetzung gesehen, weil gerade auch in der Kunstgeschichte das sprachliche Denken elementar ist.

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Die Verwandtschaft von Bild und Sprache besteht seit alters her, man denke nur an Horaz’ berühmte Definition aus seiner zwischen 19–10 v. Chr. veröffentlichten Dichtkunst, in der es im Vers 361 heißt, wie die Malerei, so sei auch die Poesie („ut pictura poesis“).3 Und der berühmte Paragone, jener vor allem in der Renaissance geführte Wettstreit um die Vormachtstellung einer Gattung innerhalb der bildenden Künste, ist seit jeher um das Verhältnis der Bildenden Kunst zur Dichtkunst erweitert. Kanonische Bildbeschreibungen, wie etwa Gotthold Ephraim Lessings Laokoon von 17664 (und in seiner Nachfolge dann auch von Johann Gottfried Herder 1769 und Johann Wolfgang Goethe 1798), stammen nicht zufällig aus der Literatur. Johann Joachim Winckelmann als ein ,erster‘ Kunsthistoriker im heutigen Sinne war es, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zwar präzise Beschreibungen durchaus als Erkenntnismethode anwandte, jedoch bereits an einer stilgeschichtlichen Systematisierung der Kunst arbeitete – in seinem Fall der griechischen Antike.5 Winckelmann stellte damit der (neben biografischen Auseinandersetzungen) seit der Antike vorherrschenden reinen Kunstbetrachtung und -beschreibung ein erstes, bereits wissenschaftliches Modell entgegen. Und da die moderne Kunstgeschichte mit Winckelmann ihren frühen Weg nahm, überließ sie die Ekphrasis dem literarischen Feld, um sich stattdessen ihre bis heute kanonischen Methoden der Gegenstandsdeutung zu erarbeiten: Über formanalytische sowie form- und stilgeschichtliche Analysen, den Würgegriff der Ikonografie und Ikonologie mit ihren Bildrätselaufgaben, die kunstgeschichtliche Hermeneutik, rezeptionsästhetische Ansätze, die Semiotik und sozialgeschichtliche Methoden (um hier gerade einmal die wichtigsten Etappen zu nennen) hat sich die heutige Kunstgeschichte in nicht einmal 250 Jahren ein methodisches Rüstzeug erarbeitet, in dem die Bildbeschreibung als grundlegender Schritt einer ersten Gegenstandsaneignung zwar mitgedacht und vorausgesetzt, nicht aber explizit genannt wird. Als die deutschsprachige Kunstgeschichte (vor allem ab Mitte der 1980er Jahre) selbst zum Thema wurde, spielte die Ekphrasis ganz wie in den eingangs erwähnten Lexika keine namentliche Rolle. Bereits 1966 hatte Udo Kultermann mit seiner Geschichte der Kunstgeschichte. Der Weg einer Wissenschaft6 eine fundierte und bis heute mit Gewinn lesbare Gesamtdarstellung über diesen Wissenschaftszweig publiziert. Mit Hans Beltings Das Ende der

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Kunstgeschichte?7 (1983 sowie seine Revision nach zehn Jahren)8 und der von diesem mit Heinrich Dilly, Wolfgang Kemp, Willibald Sauerländer und Martin Warnke 1985 herausgegebenen Kunstgeschichte: Eine Einführung9 lagen alsdann die Standardwerke vor, die in Neuauflagen bis heute den Einstieg ins Fachgebiet ebnen. Bestens ergänzt und nicht zuletzt auf Ebene der Bibliografien sinnvoll weitergeführt wurden diese Pionierleistungen durch Marcel Baumgartners Einführung in das Studium der Kunstgeschichte10 von 1998 und den 2003 von Wolfgang Brassat und Hubertus Kohle erstmals herausgegebenen Methoden-Reader Kunstgeschichte.11 Wenn in den genannten Werken die Bildbetrachtung nicht explizit auftaucht und auch nicht als (Teil einer) Methode abgehandelt wird, so heißt das nicht, dass die Kunstgeschichte sich der Ekphrasis nicht doch intensiv angenommen und verschrieben hätte. Als das, diesem Thema gewidmete Standardwerk muss der von Gottfried Boehm und Helmut Pfotenhauer 1995 herausgegebene Ziegelstein von einem Aufsatzband Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart gelten.12 Die hier versammelten Beiträge zeigen die enorme Breite an möglichen Auseinandersetzungen mit der Ekphrasis, die beeindruckende Literaturliste offenbart die historisch große Bedeutung des Themas. Eine Aufdatierung stellt zuletzt der 2006 von Christine Ratkowitsch herausgegebene Tagungsband Die poetische Ekphrasis von Kunstwerken. Eine literarische Tradition der Großdichtung in Antike, Mittelalter und früher Neuzeit dar.13 Boehm und Pfotenhauer sind es, die die in ihrem Sammelband erschienen Beiträge in der Einleitung nach drei Gesichtspunkten zusammenfassen. Demnach bewegt sich die Bildbeschreibung innerhalb dreier Themenbereiche: – Kunstbeschreibungen, im engeren Sinne der Ekphrasis, deren Wortbedeutung und -geschichte; – die literarische Beschreibungskunst, gemäß dem weiteren Sinne der Ekphrasis, als ein auf Anschaulichkeit und Bildkraft angelegtes Reden. Fiktive (auch reale) Bilder können dabei Teile von Romanen, Novellen, Gedichten etc. werden; – Beschreibungskunst als Verfahren wissenschaftlicher Erkenntnis, als theoretisches Erkenntnisproblem, als Frage wissenschaftlicher Methodologien, die auch Fächer wie die Medizingeschichte oder die Ethnologie berührt.14

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So gültig diese Umschreibungen des Themenfeldes auch sind, klammern sie doch eine nicht wenig einschränkende Grundprämisse aus: Dass die Bildbeschreibung historisch lange ausschließlich in Auseinandersetzung mit Werken der angestammten Gattungen der Kunst zur Anwendung kommen konnte, ist zwangsläufig. Dass anfangs des 20. Jahrhunderts hingegen ausgerechnet mit dem Sprung in die Moderne und insbesondere betreffend der Beschäftigung mit abstrakter Kunst die Ekphrasis in der Kunstgeschichte zunehmend in Vergessenheit geriet, verwundert, eröffnet doch gerade hier die Beschreibung mögliche Zugänge. Geradezu symptomatisch ist entsprechend eine der gelungensten Ekphraseis eines ungegenständlichen Bildes von Wassily Kandinsky (der immerhin doch auch ein Theoretiker war) – vom Maler selbst. Seine zeitgenössische Bildbeschreibung der eigenen Komposition 6 (1913) liest sich in ihrer Akkuratesse wie eine genaue Anleitung zur Reproduktion.15 Bereits schon mit der aufkommenden Ungegenständlichkeit in der Bildenden Kunst vor rund 100 Jahren machte die Ekphrasis also einer vorläufigen Sprachlosigkeit Platz. So darf es nicht wundern, wenn in der Folge angesichts neuer Bildgegenstände des 20. Jahrhunderts, die von Performance bis Videokunst reichen (und die zwangsläufig nach einer beschreibenden Nacherzählung eine ganz andere Art der Bildbeschreibung verlangen), die Ekphrasis kaum mehr zur Anwendung kommt. Hier liegt bis heute großes Potenzial brach. Die nachstehende exemplarische Bildbeschreibung im oben definierten engeren Sinne von Ekphrasis ist denn auch bewusst aus der frühen Moderne gewählt. Sie stellt eine Reminiszenz an diesen Aufbruch dar und behandelt für den vorliegenden Sammelband ein Werk, in dem architektonische Begebenheiten eine Rolle spielen: Wir sehen eine Frau. Wir sehen eine Frau von hinten. Wir sehen eine Frau von hinten ab etwas oberhalb der Knie. Sie ragt etwas rechts der Bildmittelachse vom unteren Bildrand hervor. Die Frau lehnt sich, leicht nach links geneigt, mit aufgelegten Unterarmen an die am unteren linken Bildrand aus dem Bild hinausführende schmiedeeiserne Brüstung eines Balkons. Sie blickt in Richtung der unteren linken Bildecke hinunter auf einen belebten, sich vor ihr öffnenden Platz. Der Platz, der allseits von Häusern umstellt ist, wird vom Treiben einer Baustelle und geschäftigen Arbeitern erfüllt.

Zur Einführung

Wir sehen eine Frau. Wir sehen eine Frau mittleren bis höheren Alters. Wir sehen eine Frau, eher korpulent, das bläulich-grünliche Haar oben zu einem Dutt gebunden, einem Dutt, wie ihn Frauen mittleren bis höheren Alters in einer Zeit tragen, die nicht die unsere, aber keine allzu ferne ist. Die Frau hat ihren Kopf nach links geneigt, wir sehen ihre linke Gesichtshälfte im Profil. Das linke Ohr bildet den Mittelpunkt des quadratischen Bildes. Die Frau blickt mit der entspannten Körperhaltung einer gelassenen Beobachterin hinab. Hinab auf eine große Zahl von Bauarbeitern, die auf dem vor dem Balkon gelegenen städtischen Platz ein Grube ausgehoben und Gerüststangen aufgerichtet haben. Wir sehen eine Frau. Sie trägt einen blauen Rock und eine langärmlige, wohl eigentlich weiße Bluse, die mit tailliertem Schnitt über ihr ausladendes Gesäß reicht und im gleißenden Licht eines sonnendurchfluteten heißen Sommertages in verschiedenen blauen und grünen Farbtönen erscheint. Die Frau nimmt nur etwa ein Achtel der Bildfläche ein, doch sie ist derart im Bildvordergrund platziert, dass unser Blick zunächst unweigerlich auf diese beobachtende Rückenfigur fällt, ehe wir mit ihr – oder auch an ihrer Stelle – wie ein Theaterpublikum das eigentliche Bildgeschehen ins Auge fassen. Wir sehen einen Platz. Bauarbeiter, rund zwei Dutzend, allesamt in weißen Oberteilen und dunklen Hosen, die auf der Baustelle arbeiten. Einige hantieren mit Schaufeln, andere scheinen Mauern aufzurichten. Wir sehen Sandhaufen, aufgeschichtete rötliche Ziegel, erahnen erste gebaute Strukturen des zu errichtenden, mutmaßlich platzfüllenden Gebäudes, an dem hier gearbeitet wird. Im unteren Bilddrittel sind insgesamt vier Lastpferde zu sehen – drei links, eines rechts von der beobachtenden Frau. Die Pferde, mit Blendklappen und Geschirr versehen, scheinen zu scheuen, ein mit Ziegelsteinen beladender Karren ist offenbar umgekippt, Männer versuchen, die aufgebrachten Pferde zu beruhigen und in Zaum zu halten. Wir sehen eine Platzsituation, gehalten in Rot- und Lilatönen, für die unmittelbar umgebenden gebauten Strukturen, durchzogen von gelben und orangenen Flächen gleißenden Sonnenlichts, das sich teilweise um die Szenerie des im Bildmittelpunkt gelegenen Platzes und ihre Figuren legt, teilweise aber auch den Untergrund der Baustelle definiert. Auf dem Rücken der Frau zucken diese gleißenden Lichtfetzen als beunruhigende Farbüberlagerungen.

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Die den Platz umstellenden Wohngebäude, insbesondere die der linken und rechten Platzseite, bilden eine regelrecht theaterhafte Szenerie, fast so als legte sich ein hufeisenförmiger Zuschauerraum um den zentralen Platz. Und wie um diesen Aspekt zu unterstreichen, finden wir auf beiden Seiten eine analoge Betrachtersituation einer Frau auf dem Balkon, ans Geländer gelehnt, das Treiben der Baustelle beobachtend – gerade so, als sähen wir die zentrale Betrachterfigur wie in einem leicht eingeklappten Flügelspiegel nochmals von der linken und der rechten Seite. Wir sehen eine Stadt. Der Platz ist Teil dieser Stadt und wird umstellt von ihren Häusern. Im Hintergrund setzt sich die Stadt fort. Mit Ausnahme einiger weniger Stellen am oberen Bildrand, in denen Ausschnitte des wolkenlosen blauen Himmels aufscheinen, zeigt das Bild ausschließlich eine gebaute Umwelt. Während der zentrale Platz dabei von mehrgeschossigen Wohnhäusern umstellt wird, ist im Hintergrund oben links eine Fabrikvorstadt mit rauchenden Kaminschloten zu sehen. Dort führt im weiten Linksbogen eine hellblau gehaltene Straße aus der Stadt hinaus und passiert dabei eine – auf einem rechts gelegenen Hügel – palastartige Architektur, die das Repertoire an Bautypen im Bild nochmals erweitert. Wir sehen jedoch noch viel mehr. Und so muss sich, wo ein erster Teil der Bildbeschreibung lediglich die Objekte des Bildes und deren Platzierung und Anordnung benennt, der Frage nach dem Was (und nach dem Wo) die nach dem Wie anschließen. Denn wo das Was des Bildes demselben in der Kunstgeschichte wohl lediglich einen repräsentativen Wert in der Darstellung städtischen Lebens im frühen 20. Jahrhundert und der Befragung der Rolle des Individuums in einer industrialisierten städtischen Umgebung zugebilligt hätte, reicht das Wie weit darüber hinaus. Wir sehen alles gleichzeitig. Alles in diesem Bild geschieht simultan und überlagert einander. Alles in diesem Bild ist einer Dynamik unterworfen, die mit der ruhigen Betrachterfigur der Dame am Balkon (und ihrer beiden Alter Egos) kontrastiert. Alles in diesem Bild durchdringt sich und reagiert aufeinander. Die den Platz flankierenden Gebäude weichen in ihren unteren Stockwerken vom Platz zurück, nur um in ihren oberen Geschossen scheinbar auf denselben hinunterzustürzen. So wie sich die betrachtenden Balkonfiguren zur Szenerie der Bildmitte neigen, so neigen sich auch die Gebäude, ja selbst die Fabrikschlote oben links, dorthin.

Zur Einführung

Das Bild entwickelt dadurch in seinen Rändern eine gegen den Uhrzeigersinn gerichtete Dynamik, die insbesondere am rechten Bildrand kraftvoll wirkt und sich um ein aus der Distanz wahrnehmbares rundes gelbes Epizentrum zu legen scheint, das mehr oder weniger den städtischen Platz umschreibt. Auf den nächsten Blick führt diese Dynamik spiralförmig regelrecht in dieses Epizentrum hinein. Wir sehen alles überall. Vorne, hinten, oben, unten – die Gesetze unserer sichtbaren Wirklichkeit, ergo die Gesetze der Physik, scheinen außer Kraft gesetzt. So umwinden die Körper zweier Pferde in der linken unteren Bildecke die schmiedeeisernen Strukturen des Balkongitters wie Efeupflanzen, galoppiert ein drittes Pferd den Rücken und das Gesäß der zentralen Betrachterfigur hinunter, geht eine Treppe der Baustelle in deren linke Schulter über, finden sich die Speichenräder des umgestürzten Leiterwagens in den vom Platz wegführenden Straßen links und rechts des den Platz oben begrenzenden Gebäudes nochmals wieder und durchdringt das Mikado der Gerüststangen scheinbar alles. Gleich einer multiperspektivischen Aufnahme werden verschiedenste Blickrichtungen in einer einzigen bildlichen Darstellung zusammengeführt, werden Primär- und Metaebene des Bildes verschmolzen. Wir sehen, was wir hören: Den Lärm der Baustelle. Das Stimmgewirr der Arbeiter. Das Geklapper der Pferdehufe auf Pflasterstein. Die Rufe der Wagenführer. Und sehen, was wir spüren: Die Hitze eines wolkenlosen Sommertages, an dem kein Lüftchen sich rührt. Sinneseindrücke, die sich aus dem Dargestellten ebenso speisen, wie aus den verwendeten Farben und Farbkontrasten und aus einer bei aller Darstellungspräzision im Gesamten irisierenden Undeutlichkeit im Einzelnen, gleich der Konturauflösung bei flirrender Hitze. Ginge all das auch knapper? Durchaus! Uwe M. Schneede etwa hat das Bild folgendermaßen zusammengefasst: „Eine Frau in Rückenansicht blickt von einem Balkon auf eine von Häusern umstandene Baustelle. Der Bildbestand ließe sich auch ganz anders beschreiben: Eine Stadtszenerie bricht über die Frau hinein.“16 Und noch kürzer umschrieb letztlich der Künstler selbst das Geschehen, indem er sein Bild schlicht und einfach betitelte: La Strada entra nella casa (Die Straße dringt in das Haus).17

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Ist damit alles gesagt? Mitnichten! Denn wenn wir die Ekphrasis in Richtung Kunstgeschichte verlassen, müsste nun etwa von Simultaneität und Farbigkeit bei Robert Delaunay die Rede sein, von stellvertretenden Rückenfiguren bei Caspar David Friedrich, von bekannten Balkonbildern wie Gustave Caillebottes L’Homme au balcon, Boulvard Haussmann (1880), vom italienischen Futurismus, überhaupt von Umberto Boccioni, dem Maler dieses Bildes  … Und das wäre gerade mal der allerallererste Anfang, denn spätestens jetzt kämen all die eingangs erwähnten kunsthistorischen Methoden ins Spiel.18 Deshalb lassen wir zum Abschluss lieber Umberto Boccioni (1882–1916) zu Wort kommen, der neben seinem malerischen und skulpturalem Œuvre auch ein bedeutendes theoretisches Werk Pittura Sculptura Futuriste (Dinamismo Plastico) hinterlassen hat.19 1912 unterschreibt er gemeinsam mit seinen FuturistenKollegen Carlo D. Carrà, Luigi Russolo, Giacomo Balla und Gino Severini das im Stile eines Manifestes gehaltene Vorwort zum Katalog der 1.  Ausstellung futuristischer Malerei, Galerie Bernheim Paris (Februar 1912). Darin heißt es unter anderem: „Wenn wir eine Person auf dem Balkon, vom Zimmer her gesehen, malen, dann beschränken wir die Szene nicht auf das, was man durch das Quadrat des Fensters sehen kann, sondern wir bemühen uns, die Gesamtheit der bildnerischen Empfindungen zu geben, die im Maler, der auf dem Balkon steht, ausgelöst werden: Das Gewimmel der Straße im Sonnenschein, die doppelte Reihe der Häuser, die sich rechts und links hinziehen, Balkons mit Blumen usw. Das heißt Simultaneität der Umgebung und folglich Verschiebung und Zerlegung der Gegenstände, Zerstreuung und Verschmelzung der Einzelteile, die von der gewöhnlichen Logik befreit und voneinander unabhängig sind. Um den Betrachter mitten im Bild leben zu lassen, so wie wir es in unserem Manifest ausgedrückt haben,20 muss das Bild eine Synthese von ,Erinnern‘ und ,Sehen‘ sein. Man muss sichtbar machen, was sich unter der Oberfläche regt, und was wir rechts und links von uns und hinter uns haben, und nicht einen kleinen Ausschnitt des Lebens, den man künstlich wie zwischen Theaterkulissen einschließt.“21 Eine Bildbeschreibung ohne Bild – eine treffliche Ekphrase.

Zur Einführung

Anmerkungen 1

Der Kunst-Brockhaus, Taschenbuchausgabe in 10 Bänden, Mannheim 1987.

2

Lexikon der Kunst, Taschenbuchausgabe in 7 Bänden, München 1996.

3

Horaz (Horatius Flaccus Quintus), Die Dichtkunst, hg. v. Eckart Schäfer, Stuttgart 2017.

4

Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon. Oder: Über die Grenzen der Malerei und Poesie. Mit beiläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte, Stuttgart 1994.

5

Johann Joachim Winckelmann, Geschichte der Kunst des Altert­ hums, Dresden 1764, Faksimile-Neudruck der 1. Auflage, 1966.

6

Udo Kultermann, Geschichte der Kunstgeschichte. Der Weg einer Wissenschaft, Wien 1966, überarbeitete und erweiterte Neuauflage, München 1996.

7

Hans Belting, Das Ende der Kunstgeschichte? München 1983..8 Hans Belting, Das Ende der Kunstgeschichte. Eine Revision nach zehn Jahren, München 1995.

9

Hans Belting, Heinrich Dilly, Wolfgang Kemp u. a. (Hg.): Kunstge­ schichte: Eine Einführung, Berlin 1985.

10 Marcel Baumgartner, Einführung in das Studium der Kunstge­ schichte, Köln 1998. 11 Wolfgang Brassat, Hubertus Kohle (Hg.), Methoden-Reader Kunst­ geschichte: Texte zur Methodik und Geschichte der Kunstwissen­ schaft, Köln 2003..12

Gottfried Boehm, Helmut Pfotenhauer

(Hg.), Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München 1995. 13 Christine Ratkowitsch (Hg.), Die poetische Ekphrasis von Kunst­ werken. Eine literarische Tradition der Großdichtung in Antike, Mittelalter und früher Neuzeit, Wien 2006. 14 Boehm, Pfotenhauer, Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung (Anm. 12), S. 9. 15 Wassily Kandinsky, „Komposition 6/Notizen“, in: Album Kandinsky 1901–1913, Berlin 1913, S. XXXV–XXXVIII. 16 Uwe M. Schneede, Umberto Boccioni, Stuttgart 1994, S. 90. 17 Umberto Boccioni, La Strada entra nella casa (Die Straße dringt in das Haus), 1911, Öl auf Leinwand, 100 x 100,6 cm, Sprengel Museum Hannover. 18 Gleichwohl seien hier (neben Schneede 1994, dem Standardwerk zu Boccioni) einige wichtige und greifbare deutschsprachige Werke zu

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Umberto Boccioni und zum Futurismus in chronologischer Reihenfolge genannt: Christa Baumgarth, Geschichte des Futurismus, Reinbek bei Hamburg 1966; Fvtvrismo, Dokumentarausstellung, veranstaltet von der Accademia Nazionale di San Luca in Zusammenarbeit mit der Quadriennale Nazionale d’Arte di Roma, Rom 1976; Magdalena M. Moeller (Hg.), Boccioni und Mailand, Ausstellungskatalog Kunstmuseum Hannover mit Sammlung Sprengel, Mailand 1983; Maurizio Calvesi, Der Futurismus. Kunst und Leben, Köln 1987; Norbert Nobis (Hg.), Der Lärm der Straße. Italienischer Futurismus 1909 bis 1918, Ausstellungskatalog Sprengel Museum Hannover, Mailand 2001; Sylvia Martin, Uta Grosenick (Hg.), Futu­ rismus, Köln 2005. 19 Astrid Schmidt-Burkhardt (Hg.), Umberto Boccioni: Futuristische Malerei und Plastik (Bildnerischer Dynamismus), Dresden 2002. Titel der Originalausgabe: Boccioni Futurista. Pittura Sculptura Futuriste (Dinamismo Plastico), Mailand 1914. 20 Gemeint ist das Technische Manifest der futuristischen Malerei, das dieselben fünf Maler am 11. April 1910 in Mailand proklamiert hatten. Siehe Schmidt-Burkhardt (Hg.), Umberto Boccioni (Anm. 19), S. 220–225. 21 Ebd., S. 226–236, insb. S. 230.

1 Wohnhaus Haus Faraday, Bern

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Hubertus Adam

Wohnen im Kupfermantel Als ‚Parago.wird in der Kunsttheorie der Wettstreit der Künste bezeichnet, die Frage nach der Hierarchie der Gattungen. Dass Architektur die Mutter aller Künste sei, ist ein Gedanke, der schon von Vitruv geäußert wurde, und der im Verlauf der Geschichte immer wieder postulierte wurde, beispielsweise im emphatischen Einleitungssatz des Bauhaus-Manifestes von Walter Gropius 1919: „Das Endziel aller bildnerischen Tätigkeit ist der Bau!“ Blicken wir auf die Gegenwart, so ist das Primat der Architektur in weite Ferne gerückt. Gebaut wird viel, reflektiert wenig. Während in den Schulen die Auseinandersetzung mit Literatur, Musik und Kunst selbstverständlich ist, gilt Architektur in den Lehrplänen als quantité négligeable. Wir werden in Architektur geboren, wir sterben in Architektur; wir wohnen, wir arbeiten, wir leben: in Architektur. Architektur ist unausweichlich, und dennoch wird Architektur – beispielsweise gegenüber der Kunst – als inferior wahrgenommen. Dinge, die allzu selbstverständlich sind, entziehen sich der Wahrnehmung. Weil die Konfrontation mit Architektur gemeinhin nicht einer persönlichen Willensentscheidung unterliegt, wie etwa der Besuch einer Kunstausstellung, wird der Architektur – abgesehen von einigen spektakulären, eher wie Kunst verstandenen Werken – selten Aufmerksamkeit zuteil. Architekturkritik besitzt eine doppelte Stoßrichtung. Einerseits will sie den fachinternen Diskurs befördern und kann damit als Mittel der Reflexion für die Architektur und verwandte Disziplinen verstanden werden. Andererseits soll sie das Thema der Architektur an eine breite Öffentlichkeit vermitteln. Dafür haben sich in der Print-Ära unterschiedliche Medien ausgebildet: Fachzeitschriften

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bedienen die Peer Group, Tageszeitungen richten sich an ein allgemeines Publikum. Entsprechend dem heutigem Verständnis wurde Architekturkritik erstmals im 18. Jahrhundert greifbar und durchlief im 19. Jahrhundert eine lange Latenzphase. Um 1900 hatten verbilligte und vereinfachte Druck- und Reproduktionsverfahren nachgerade eine Springflut an neuen Publikationen zur Folge. Die fotomechanische Reproduktion führte zur Gründung neuer Fachzeitschriften, der Rotationsdruck ermöglichte die kostengünstige Verbreitung von Tageszeitungen. Damit war auch für die Besprechung von Architektur mehr Platz vorhanden. Die drucktechnischen Voraussetzungen korrelierten zeitlich mit dem radikalen Stadtwachstum der Gründerzeit, Architektur avancierte zu einem aktuellen Themenfeld der Kulturpublizistik. Aufgrund von kontrovers geführten Debatten können die Zwanziger- und Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts als eine Blütezeit der Architekturkritik gelten. Allerdings blieb eine flächendeckende und kontinuierliche Berichterstattung lange die Ausnahme. Die New York Times als wichtigste Tageszeitung der USA setzte ein pionierhaftes Zeichen, als sie die Kuratorin, Autorin und Kritikerin Ada Louise Huxtable 1963 als ständige Architekturkritikerin einstellte –  ein Posten, der speziell für sie geschaffen worden war. Andere große Tageszeitungen, auch im deutschsprachigen Raum, zogen später nach. Förderlich dabei war ohne Zweifel eine seit der Postmoderne veränderte Wahrnehmung von Architektinnen und Architekten, die aus dem Ghetto ihrer Disziplin zu treten vermochten und zu Stars avancierten. Mit zunehmendem Erfolg begann dieses Modell jedoch ins Wanken zu geraten. Aus avantgardistischen Visionen von einst war baubare Realität geworden und das weltweit in mehr und mehr zweifelhaften politischen Systemen. Die zunehmend globalisierte Architekturproduktion, die zeitgemäßer Formen der Kritik bedürfte, fällt in eine Zeit, in der die traditionellen Printmedien in die Krise geraten sind. Tageszeitungen leiden unter dreierlei Faktoren, die miteinander verbunden sind: dem Wegbrechen der Abonnentenschaft, dem Anzeigenschwund und der digitalen Konkurrenz. Wie wir diesen Gefahren langfristig und wirksam begegnen können, weiß derzeit niemand. Die bescheideneren Budgets, die den Feuilletonredaktionen zur Verfügung stehen, bedrohen die Architekturkritik in stärkerem Maße als andere Disziplinen. Die Honorare für Aufträge sinken –  von Reisekosten ganz zu schweigen –, und in den Kulturressorts geht es um Verteilkämpfe. Problematischer noch

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sieht es mit der Architekturberichterstattung in den Lokalteilen sowie in den kleineren Tageszeitungen aus. Hier wird Architektur selten als kulturelle Äußerung verstanden, als berichtenswert gelten lediglich markante Veränderungen der Stadt, aber auch Kostenüberschreitungen oder andere Pannen. Dabei wäre zwecks Sensibilisierung gerade im Lokalteil anzusetzen – dort, wo Menschen in ihrem Lebensfeld unmittelbar betroffen sind. Ohne Zweifel: Es steht um die Architekturkritik nicht zum Besten. Mag sein, dass zu den aufgeführten exogenen Faktoren, also den Rahmenbedingungen, unter denen Architekturkritik stattfindet, auch noch die endogenen zu berücksichtigen sind. Was Architekturkritik leisten soll, darüber existieren unterschiedliche Vorstellungen. Bereitet die Architekturkritik Neues vor? Kann sie als dessen Sprachrohr angesehen werden? Oder hat sie eher einen volkstribunartigen Charakter? Protokolliert sie das Zeitgeschehen? Oder archiviert sie es? Sicher ist nur: Essenziell ist der Besuch vor Ort, ist die körperliche Konfrontation mit dem Objekt, ist die sinnliche Wahrnehmung. Das gilt für Kunstwerke generell, das gilt aber für Architektur, die sich nicht auf einen Blick erfassen lässt, in besonderem Maße. Idealiter vermittelt eine Beschreibung auch dem- oder derjenigen eine Vorstellung des Objekts, der/die nicht vor Ort gewesen ist. Treffende Beschreibungen sind daher beispielsweise in Tageszeitungen wichtiger als in Fachzeitschriften, wo durch Pläne und Fotos eine Veranschaulichung des besprochenen Objekts ermöglicht wird. Beschreibung bedeutet für den Bereich ,Architektur‘ die Übersetzung von Sinneseindrücken – optischen und haptischen, möglicherweise auch akustischen oder olfaktorischen – in einen Text. Die erste Herausforderung besteht also darin, synästhetische Eindrücke in die Sequenz der Textform zu übertragen. Eine gute Beschreibung gibt aber nicht nur Sinneseindrücke wieder, sie arrangiert nicht nur Wahrnehmungsdaten, sondern sie kombiniert diese mit Recherchedaten: über die Geschichte des Orts, die Frage der Auftraggeberschaft, anderen Arbeiten des Architekturbüros etc. Es geht also um eine Balance von Anschauung und Begriff oder, um es mit Immanuel Kant auszudrücken: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ (KrV B75).5 Der Ethnologe Clifford Geertz hat eine Beschreibung, die über das Verstehen zum Deuten gelangt, „dichte Beschreibung“ genannt. Diese ist eigentliches Ziel, nicht die ,dünne Beschreibung‘, das

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Aneinanderreihen von Daten. Damit wirft die Beschreibung auch die hermeneutische Frage auf, nämlich wie ein Text oder ein Objekt überhaupt verstanden werden kann. Sich diesen Fragen immer wieder zu stellen, selbst wenn sie im finalen Text gar nicht ablesbar sind, ist wichtig. Auch die eigene Subjektivität gehört dazu. In der Architekturkritik wird gern der Anschein der Objektivität gewahrt, Meinungen treten als Fakten auf und die erste Person Singular ist verpönt. Man muss gar nicht einem radikalen Konstruktivismus anhängen, also der Theorie, dass Objektivität jenseits der subjektiven Sinneswahrnehmung nicht existiert, um sich der Problematik dieser Haltung bewusst zu werden. Eine treffende Beschreibung wird nicht nur Anschauung und Begriff in Balance bringen müssen, sondern sich auch der Frage von Subjektivität und Objektivität stellen müssen. Denn auch wir wissen: Viele Texte der Vergangenheit, die wir lesen, sagen für uns Nachgeborene mehr über das damalige Erkenntnisinteresse aus als über ihren Gegenstand. Jeder Text ist zeitgebunden und wird dadurch in Zukunft zu einem Dokument seiner Zeit, während sein Gegenstand vielleicht das Potenzial besitzt, ganz anders gesehen, verstanden und gedeutet zu werden. Beschreibung bleibt folglich eine der schwierigsten Tätigkeiten im Feld der Architekturkritik. Es geht nicht um die naive Aufzählung von Details, nicht um gelehrte Abschweifungen in andere Disziplinen. Sondern darum, im Sichtbaren das Charakteristische zu erfassen: das, was ein Gebäude sehenswert und diskussionswürdig macht. Haus Faraday Vor dem Bau der Brücken über die Aare war das

Lorraine-Quartier nördlich der Altstadt von Bern nur schwer zu erreichen. Hier wohnte nicht das wohlhabende Patriziat, sondern die Arbeiterschaft. Und weil es hier immer noch etwas weniger geleckt aussieht als im Zentrum und sich Grundstückspreise und Mieten noch im Rahmen halten, gilt die Lorraine als beinahe schon trendiges Viertel. Ein bisschen verwunschen wirkt es hier immer noch, wenn man aus Richtung Gewerbeschule die Jurastrasse nach Norden entlangläuft. Einzelne freistehende Häuser säumen die Straße, dazwischen Schuppen des früheren Kleingewerbes. Es ist ruhig, denn die Straße führt zur Aare hinunter und endet dort. Hat man die Eisenbahnbrücke passiert, sticht links ein Haus ins Auge, das ringsum mit Kupfer verkleidet ist. Kupferwellblech windet sich um die vier Fassaden des Volumens mit seinen abgerun-

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deten Ecken, mit Kupferwellblech ist aber auch das steil aufragende Satteldach verkleidet. Haus Faraday nennen die Architektin Valérie Jominie und der Architekt Stanislas Zimmermann das Gebäude; es soll nicht zuletzt vor dem Elektrosmog des am anderen Ufer des Flusses liegenden Umspannwerks und des Geflechts der Hochspannungsleitungen schützen. Aber vor allem erinnert das Wellblech an die ephemeren Nutzarchitekturen, die Hütten und Schutzbauten ringsum. Das Spröde und das Ruppige, zur klassischen Form des Satteldachhauses erhoben, wird edel. Der rötliche Kupferton ist inzwischen einer dunkleren Patina gewichen. Das Satteldach war gemäß der lokalen Gestaltungssatzung vorgeschrieben; mit der Kupferhülle griffen die Entwerfenden die Idee des ‚All over‘, also der einheitlichen Materialisierung auf. Wandflächen und Dach wurden gleich behandelt, sodass sich der Eindruck eines skulpturalen Volumens verstärkt. Dem gleichen Zweck dienen der Verzicht auf Dachüberstand und Dachrinnen. Das Haus Faraday hat eine ungewöhnliche Geschichte. Zunächst waren da zwei Auftraggeberinnen, die mit dem Wunsch nach einem gemeinsamen Haus an das damalige Architekturbüro Jomini, Jomini & Zimmermann herantraten. In der Jurastrasse im Lorraine-Quartier fand man 1999 ein Grundstück. Weil die Liegenschaftsverwaltung der Stadt das Gelände mit dem bestehenden Gebäude nicht dem oder der ersten Interessierten abtreten wollte, wurde es im Baurecht ausgeschrieben. Glück für das Architekturbüro, dass seine Bewerbung sich durchsetzte – und Pech, dass es am Ende dann aber seine Auftraggeberinnen verloren hatte. Nun war man selbst am Zuge und suchte mit einer Anzeige im Bund für baureife Projekte eine neue Klientel. Schließlich konnte das Haus in den Jahren 2003 und 2004 realisiert werden. Die strikte Trennung in zwei übereinander geschichtete Wohnungen resultierte aus dem ersten Projekt von 1999, entsprach aber auch den Intentionen des neuen Bauherrn. Dabei erlaubte es der massive Betonmantel, die Innenausbauten relativ flexibel zu halten und so eine Adaptierung für unterschiedliche Wohnformen zu gewährleisten. Erschlossen werden die beiden Wohnungen von der Nordseite aus über eine mit transluzentem Wellskobalit verkleidete Außenstiege, deretwegen auf ein gemeinsames Treppenhaus verzichtet werden konnte. Entgegen üblichen Konzepten gelangt man von den Eingängen aus zunächst in die Ebenen mit den eher privaten Bereichen, während die eigentlichen Wohnzonen mit

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Küchen sowie Ess- und Aufenthaltsbereichen sich an den beiden Enden des Hauses – also zuunterst und zuoberst – befinden und über die jeweiligen Innentreppen erreichbar sind: Das Gartengeschoss profitiert von den vorgelagerten Freibereichen, das Dachgeschoss beeindruckt durch den großzügigen, bis unter den First des als Holz-Stahl-Konstruktion errichteten Satteldachs offenen Raum. Vorgesetzt ist der westlichen Ecke ein weit auskragender Balkon; zwei große Lukarnen – eine davon bietet vom Essplatz aus einen Blick über das Aaretal – dienen der Belichtung. Aus der Dachschräge ausklappbar und über eine Leiter erreichbar, lädt ein Meditationsplatz zum Blick durch die andere Lukarne in den Himmel ein. Es musste gespart werden, und so haben die Architekturbüros – Jomini, Jomini & Zimmermann hatten sich inzwischen in Jomini Zimmermann Architekten und Thomas Jomini Architecture Workshop aufgespalten – bei der Ausstattung bewusst auf günstige Materialien gesetzt. Elaborierte Detaillierung war hier nicht möglich und auch nicht Ziel, denn der Charme des Hauses besteht nicht zuletzt in seiner rohen Ästhetik. Farbige Glasscheiben setzen in den Wohnbereichen einzelne Akzente. Geheizt wird mithilfe von Erdsonden, das Haus hält den Mindestenergiestandard ein. Mit 1,2 Millionen Franken inklusive Grundstück bei einer Bruttogeschossfläche von 310 Quadratmetern war das geräumige Haus nicht teurer als eine Eigentumswohnung in Zürich, deren Größe noch nicht einmal ein Drittel der Wohnfläche in Bern beträgt. Gewiss, der Planungsverlauf in der Lorraine verlief holprig. Aber am Ende erfolgreich. Was die Voraussetzungen dafür sind: die Intelligenz und Beharrlichkeit von Architektinnen und Architekten. Und der Mut der Auftraggebenden, Unkonventionelles zu wagen. Beides muss zusammenkommen. Kommentierte Auswahlbibliografie

Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a. M. 1983. Die Ethnologie, aber auch die Archäologie sind für die Theoriebildung des Beschreibens von großer Bedeutung, da der Umgang mit kultureller und zeitlicher Differenz zum Thema wird. In seinem 1972 erstmals publizierten Text über den balinesischen Hahnenkampf zeigt der US-amerikanische Ethnologe Clifford Geertz

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mustergültig, wie Beschreiben, Verstehen und Deuten zu einer ,dichten Beschreibung‘ zusammengeführt werden. Erwin Panofsky, „Ikonographie und Ikonologie“, in: Ekkehard Kaemmerling (Hg.), Bildende Kunst als Zeichensystem, Band 1: Ikonographie und Ikonologie, Köln 1979, S. 207–225. Der Kunsthistoriker Erwin Panofsky entwickelt in seinem 1955 erstmals publizierten Text ein komplexes System von Bedeutungsebenen, das bei der Interpretation eines Kunstwerks zu berücksichtigen ist. Der Weg führt von der Beschreibung und formalen Untersuchung über die ikonografische Analyse zur ikonologischen Interpretation. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1990. Das wichtigste Werk zur Hermeneutik im 20. Jahrhundert, erstmals erschienen 1960. Auch wenn sich Gadamer primär auf (philosophische) Texte bezieht: Wer wissen will, wie Verstehen funktioniert, kommt um diesen Schlüsseltext nicht herum. Wichtig ist seine These, dass die Ausschöpfung des Sinns einen unendlichen Prozess darstellt, und zentral die Forderung, sich der eigenen Subjektivität bewusst zu werden und sie bewusst als Korrektiv zu gebrauchen: „ Es hat sich im Ganzen unserer Untersuchung gezeigt, daß die Sicherheit, die der Gebrauch wissenschaftlicher Methoden gewährt, nicht genügt, Wahrheit zu garantieren. Das gilt im besonderen Maße von den Geisteswissenschaften, bedeutet aber nicht eine Minderung ihrer Wissenschaftlichkeit, sondern im Gegenteil die Legitimierung des Anspruchs auf besondere humane Bedeutung, den sie seit alters erheben. Daß in ihrer Erkenntnis das eigene Sein des Erkennenden mit ins Spiel kommt, bezeichnet zwar die wirkliche Grenze der ‚Methode‘, aber nicht die der Wissenschaft. Was das Werkzeug der Methode nicht leistet, muß vielmehr und kann auch wirklich durch eine Disziplin des Fragens und des Forschens geleistet werden, die Wahrheit verbürgt.“ (S. 494). Anmerkung 1

Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (1787), Hamburg 1956, B75, S. 95.

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Andri Gerber

„Se non é vero, é ben trovato“ „Haben die beiden Schweizer schon mehrere Tonnen Kupfer geklaut? Jedenfalls wurden sie gestern auf frischer Tat ertappt. Die beiden 20- und 23-jährigen Männer waren gerade dabei, ihre zwei gemieteten Lieferwagen bei der Swissmetal in Dornach zu beladen.  [...] Nun stellt sich natürlich die Frage, ob die beiden Schweizer aus dem Bernbiet schon zuvor das wertvolle Metall geklaut haben. Denn allein in diesem Jahr wurden in den Kantonen Aargau und Solothurn mehrere Tonnen Kupfer gestohlen.“ Diese Nachricht konnte man im Blick am 20.7.2005 lesen und nur ein Jahr später war das Haus Faraday bezugsbereit. Damit wäre auch klar gewesen, wer den Auftrag zu diesem Raub gegeben hatte: Die Spur führte unmittelbar zu der Architektin Valérie Jomini und dem Architekten Stanislas Zimmermann. Als aber die Polizeibeamten die Jurastrasse hinunterliefen mit einem Sachverständigen der EMPA (Eidgenössische Materialprüfungsanstalt), einem Kupferexperten, um die Herkunft des Kupferwellblechs am Haus zu prüfen, standen nun plötzlich nicht eines, sondern zwei Häuser Faraday vor ihnen, zwar leicht anders, beide aber in kupfernem Gewand. Stellen Sie sich das vor! Die Verwirrung war vollkommen und der Fall unlösbar. Und als sei das nicht schon schlimm genug: Aus Basel meldeten sich zudem zwei Architekten, die das Urheberrecht auf die Verwendung von Kupfer für die Architektur für sich beanspruchten und mit einer Klage drohten. Sie hätten das bei einem Stellwerk in Basel bereits verwendet und das dürfe man nicht einfach so nachahmen. Es wurden die „Forderungen des SIA zum Schutz schöpferischer Leistungen“ erwähnt, dabei handelt es sich aber nur um Forderungen, nicht um Normen. Architekturideen lassen sich kaum schützen! Gleichzeitig aber verteidigten andere

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Architekten die Arbeit von Jomini und Zimmermann, nicht zuletzt mit dem Verweis, dass es sich beim Haus Faraday um eine horizontale, beim Stellwerk um eine vertikale Gliederung handle. Und was bei einem als Fläche, wurde beim anderen in Bändern ausgebildet. Um einer möglichen Verhaftung zu entkommen, verwiesen Jomini und Zimmermann in einem verzweifelten Akt auf den Mehrwert des Hauses: So würde die Fassade bei Blitzeinfall das Viertel und die über dem Haus verlaufende SBB-Brücke schützen und sie könne sogar Strom erzeugen! Zudem ließe sich Kupfer ausgezeichnet recyclen! Sollte also einst das Haus abgerissen werden, würden sie das Kupfer der SBB schenken. Die Sachlage war lange Zeit unklar. Den Beamten wurde es aber zu viel: Der Druck der Öffentlichkeit wie der aufgebrachten Architektenschaft (die sich in drei Lager gespalten hatte, jene für, jene gegen und die große Mehrheit, die dachte, sie hätten es eh besser gemacht) wurde zu groß und letztlich überfordert, ließen sie des Nachts von den beiden Faraday-Häusern das Kupfer entfernen. Die Besitzerinnen wachten am Morgen in einem Haus ohne Fassade – noch schlimmer: in einem Betonhaus – auf und verkauften daraufhin beide Häuser, die noch wochenlang in den Medien als Symbol der Extravaganz der Architekten kritisiert und als Zeichen ihrer räuberischen Skrupellosigkeit kommentiert wurden. Nach der Entfernung der Kupferfassade, hatten dann Sprayer die Fassaden mit Schriften wie „Architekten sind Mörder“ und „Es leben die Ingenieure“ etc. verunstaltet. Die beiden Häuser fanden aber erstaunlicherweise schnell einen neuen Käufer, der unbekannt bleiben wollte und der über die tragenden Betonstruktur eine hinterlüftete Backsteinfassade errichten ließ. Paradoxerweise, fielen die Häuser nun stark aus dem Rahmen des Viertels, noch stärker als zuvor, als sie noch die extravagante Kupferfassade umhüllt hatte. War diese also doch nicht so fehl am Platz? Vorweggenommen: In Zeiten der politischen Korrektheit, muss hier leider ein ,disclaimer‘ stehen: Was oben steht, ist natürlich alles frei erfunden. Was an dieser Geschichte unglaubwürdig ist, ist aber weder, dass Architektinnen und Architekten zu Dieben werden – wer hat nicht schon von einer Seminarreise abgebröckelte Stücke der Unité d’Habitation von Le Corbusier (1887–1965) mitgehen lassen? – noch, dass es unter ihnen Streit gibt – davon müsste es mehr geben! –, sondern dass Architektur einen solchen Aufruhr in der Allgemeinheit auslösen und dass sich auch Laien

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dafür interessieren würden, auch jenseits des Skandalösen. Ist die Rede vom kulturellen Mehrwert der Architektur, so ist nicht dieser, sondern die Tatsache, dass sich Nicht-Architekten dessen bewusst wären, infrage zu stellen. Schreiben ist entwerfen Als schreibender Architekt verstehe ich

das Schreiben als eine Form des Entwerfens und halte mich dabei nicht immer an die Regeln der Schreibkunst, sondern stelle diese gern infrage. Schreiben an sich ist nicht ein linearer Prozess; je nach Form des Schreibens – Roman, Gedicht, wissenschaftlicher Bericht – kann dieses mehr oder weniger geplant und rationell vorangehen. Was aber die meisten Schreibformen vereint, ist die Tatsache, dass die Leserschaft einem Text mit Erwartungen begegnet und dass entsprechend die Texte meistens gewisse Vorgaben erfüllen müssen. Ein guter Text offenbart innerhalb und trotz dieser Vorgaben und Regelwerke, etwas Spannungsvolles und Lesenswertes. Der bzw. die Lesende einer Beschreibung eines Gebäudes wird erwarten, dass entweder vom Großen – dem Städtebau – zum Kleinen – Wasserleitungen – oder umgekehrt vorgehen wird. Er bzw. sie erwartet, die wichtigsten Informationen über das Objekt zu erhalten, aber natürlich auch, etwas über das Wesen und den räumlichen Charakter des Gebäudes zu erfahren. Das ist natürlich sehr schwierig und jeder Text geht auf eine andere Art und Weise vor. Doch Hand aufs Herz, wer kann sich an eine besonders spannungsvolle Gebäudebeschreibung in einer Architekturzeitschrift erinnern? Als Architekt, verfüge ich – wie viele andere schreibende Architektinnen und Architekten – über keine Ausbildung im Schreiben, wobei man natürlich einwenden könnte, dass Schreiben nicht gelernt werden kann, jenseits der Grundlagen wenigstens. Und ohne Zweifel ist es auch eine Frage der Übung. Was ich zu Beginn meiner ,Schreibkarriere‘ noch als einen Nachteil empfand – und was mich zum ,Nachahmen‘ existierender Schreibformen verführt hat – habe ich irgendwann als Stärke empfunden und versucht zu kultivieren: meinen Hintergrund als Architekt. Ich bin diese Aufgabe wie ein Architekt angegangen, das heißt kreativ und mit dem Ziel, etwas Spannungsvolles und möglicherweise Unerwartetes zu schaffen, das – hoffentlich – auch dem Lesepublikum ein prägendes Bild des Gebäudes eröffnen kann. Zu diesem Zweck habe ich mich nicht an die Vorgaben des Bandes gehalten und nicht

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mit der Einführung meines methodischen Ansatzes, sondern mit der eigentlichen und viel zu kurzen ,Ekphrasis‘ begonnen. Das Schreiben über Architektur sollte weniger geplant sein und nicht so sehr Vorgaben entsprechen, als vielmehr solche Voraussetzungen und Bedingungen hinterfragen und das Wesen des Entwerfens von Architektur spiegeln. In diesem Falle ist diese Architektur etwas Außergewöhnliches, das mit ihrer Materialisierung Konventionen sprengt und dem kann eine herkömmliche Beschreibung nicht entsprechen. Es gibt diesbezüglich eine wunderbare Referenz des französischen Philosophen und Mathematikers René Descartes, und zwar in seinen Meditationen (1641). Hier wird ihm in den Zweiten Einwänden und Erwiderungen Folgendes empfohlen: „…dass Du am Ende Deiner Lösungen nach Vorausnahme einiger Definitionen, Postulate und Axiome, die ganze Sache nach der Methode der Geometer, in der Du so gut bewandert bist, beschließt, damit ein jeder Leser gleichsam mit einem einzigen Blick Dein ganzes Werk überschaut, und Du ihn mit dem Odem der Gottheit selbst erfüllst“.1 Descartes unterscheidet daraufhin zwischen zwei Beweisarten, der Analyse und der Synthese. Erstere beweist einen Zusammenhang schrittweise und erfinderisch (,ordo inveniendi‘), die zweite hingegen geht von den Ergebnissen aus und beweist dann den Zusammenhang durch Deduktion aus den zu Beginn der Beweisführung aufgestellten Axiomen und Prinzipien (,ordo demonstrandi‘). Diese zweite Beweisart vollzieht die ,Methode der Geometer‘. Ich würde nun behaupten, dass die klassische Architekturbeschreibung eben dieser zweiten Ordnung entspricht. Da wir aber keine Geometer, sondern Architekten sind, ziehen wir die erste vor und ,er-finden‘... Wie aber lässt sich nun diese Art zu schreiben, diese Spielart der Ekphrasis, erläutern? Wie lässt sich das Entwerfen erklären? Trotz unzähliger Versuche, Forschungsprojekte und Publikationen, bleibt das Entwerfen etwas Unerklärliches. Entsprechend möchte ich in der Folge drei Aspekte dieses schreibenden Entwerfens hervorheben und an diesen versuchen, meinen Ansatz zu erläutern: das Erzählen von Geschichten versus die Beschreibung, die Verwendung von Metaphern und die Bedeutung des ,Raumsinns‘. In den Ausführungen zu diesen drei Aspekten soll weiterhin auf das Haus Faraday Bezug genommen werden.

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Zum Ersten. In einem wunderbaren Aufsatz des Literaturwissenschaftlers Georg Lukács (1885–1971), „Erzählen oder Beschreiben? Zur Diskussion über den Naturalismus und Formalismus“ von 1936,2 vergleicht dieser zwei unterschiedliche Textdispositive: die Erzählung und die Beschreibung. Anhand von Beispielen aus der Literatur zeigt er auf, dass Ereignisse, die beschrieben werden, der Leserschaft ein Bild, solche aber, die erzählt werden, der Leserschaft eine Teilnahme an ebendiesem vermitteln. Beschreiben verschafft einen Überblick, eine Momentaufnahme, die aber den Betrachtenden eben aus einer gewissen Distanz erscheint. Eine Narration hingegen zieht die Rezipierenden in das erzählte Ereignis hinein und hat damit viel stärker eine zeitliche Dimension. Diese Dichotomie ist gerade auch für die Architektur und den Städtebau nicht neu. Man denke an Filaretes (ca. 1400–1469) und Claude-Nicolas Ledoux’ (1736–1806) Traktate, die mit dem Kanon des klassischen Architekturtraktates brechen, indem sie eben nicht beschreiben und aufzählen, sondern ihre Architekturen in eine fiktive Reiseerzählung einbetten. Dieser erzählerische Kniff wurde zweifelsohne bewusst gewählt, um dem Publikum ein unmittelbareres Erlebnis ihrer Projekte zu vermitteln. Wie langweilig wirken doch Leon Battista Alberti (1404– 1472) oder Étienne Louis Boullée (1728–1799) im Vergleich zu Filarete oder Ledoux! Damit möchte ich natürlich Ersteren nicht ihren Verdienst absprechen, sondern nur die konventionelle Art der Vermittlung hervorheben. Die Dichotomie wurde aber auch immer wieder direkt angesprochen; eine Dichotomie, die übrigens als solche erst gar nicht bestand, da die ,descriptio‘ Teil der ,narratio‘ war, und die erst mit dem ,Paragone‘, dem wertenden Vergleich der Künste, entstanden ist. So stritten sich zum Beispiel die beiden Stadthistoriker Bernardo Secchi (1934–2014) und André Corboz (1928–2012) über den Wert der Beschreibung. Während der Erste in einem Aufsatz von 1992 in Casabella die Vorzüge einer narrativen Annäherung an die neuen urbanen Phänomene gegenüber der klassischen Beschreibung betonte,3 versuchte Corboz in seiner Replik die Verteidigung der Beschreibung, die für ihn auch Eigenschaften beinhaltet, die Secchi nur der Erzählung zuschreibt.4 Auch der Philosoph Paul Ricœur (1913–2005) widmete diesem Dualismus einen Aufsatz, im Rahmen der 19. Mailänder Triennale, „Architettura e narratività“,5

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in dem er für eine erzählerische Herangehensweise an die Architektur plädiert, deren Wert er in der Möglichkeit erkannte, die zeitliche Komponente der Architektur erfassen zu können. Zurück zu unserem Problem: Vor diesem Hintergrund fällt es natürlich nicht leicht, Architektur zu erzählen und nicht zu beschreiben, auch das will gelernt sein. Es ist aber einen Versuch wert: Um Architektur zu erzählen und nicht zu beschreiben, muss man aber nicht strategisch mit einer Struktur beginnen, sondern prozesshaft, Schritt für Schritt, den Text entwerfen. Wie sagte das Immanuel Kant (1724– 1804) doch so schön: „Es ist schlimm, dass nur allererst, nachdem wir lange Zeit, nach Anweisung einer in uns versteckt liegenden Idee, rhapsodistisch viele dahin sich beziehende Erkenntnisse, als Bauzeug gesammelt, ja gar lange Zeiten hindurch sie technisch zusammengesetzt haben, es uns denn allererst möglich ist, die Idee in hellerem Lichte zu erblicken, und ein Ganzes nach den Zwecken der Vernunft architektonisch zu entwerfen.“6 Kant bezieht sich hier auf die Architektur und auf die Unmöglichkeit, ein Gebäude nach einem Prinzip zu entwerfen, denn dieses zeigt sich erst, wenn der Prozess durchlaufen ist und das Gebäude steht. Zum Zweiten. Ich hatte mir vorgenommen, im einführenden Text, gänzlich auf Metaphern zu verzichten, was in Architekturtexten sehr schwer fällt. Metaphern sind oft übersehene Stilmittel der Rhetorik, die eigentlich viel mehr sind: Seit Jahrzehnten forschen vor allem die Wissenschaftstheorie, die Sprachwissenschaft und die kognitiven Wissenschaften an der zentralen Rolle, die Metaphern für unser Denken spielen. Metaphern sind bevorzugte Instrumente, um Wissen zu entwickeln und zu teilen. Diese Erkenntnis ist an sich nicht neu: Schon Emanuele Tesauro (1592–1675) mit seinem Cannocchiale Aristotelico (1654/1670), Giambattista Vico (1668–1744) mit seiner Scientia nuova (1725) oder, um ein schweizerisches Beispiel zu nennen, Johann Georg Sulzer (1720–1779) mit seiner Allgemeinen Theorie der Schönen Künste (1771–1774), hatten die Metapher aus ihrer Begrenzung auf die rhetorische Funktion als bloßes Ornament befreit, doch erst im 20. Jahrhundert wurden diese Erkenntnisse systematisch ausgeführt. Vor allem in der Psychologie als ,analogical reasoning‘ bezeichnet, sieht man in der Metapher ein Instrument, mit dem neue Modelle von Wissen und Erfahrung entwickelt werden können, die durch das Verbinden von Gegensatzpaaren entstehen. Metaphern sind weiter kontextspe-

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zifisch, das heißt, je nach Kontext und Disziplin, in denen sie untersucht werden, haben sie unterschiedliche Erscheinungsformen und Anwendungen. Dabei gibt es kaum eine Disziplin wie die Architektur, in der so viele und so häufig Metaphern Verwendung finden. Ein Beispiel: In Le Corbusiers Vers une architecture von 1923 gibt es insgesamt 177 Metaphern!7 Wieso dem so ist, lässt sich schnell erklären: Wir brauchen Metaphern, weil wir eben keine eigentliche Sprache der Architektur haben. Wir können zwar das Haus Faraday beschreiben, den Ort, das Material, die Form des Hauses, die Grundrisse etc., aber wenn wir darüber hinaus das Haus näher erfassen wollen (und nicht langweilig sein wollen), dann greifen wir zu Metaphern. Ich war zugegebenerweise etwas irritiert, als ich in den bereits publizierten Texten zum Haus Faraday nach Metaphern gesucht habe, denn ich fand erstaunlich wenige: „Käfig“, „Box“, „kupfernes Etui“ oder „Kanzel“ waren die wenigen Metaphern, die sich finden ließen. Das weist vielleicht auf die Tatsache hin, dass sich das Haus Faraday eben nicht so einfach auf Metaphern reduzieren lässt, und das ist sicher eine Qualität des Hauses. Metaphern zeugen grundsätzlich von unserer Unfähigkeit, genauer über Architektur zu sprechen. Das ist eine Tatsache, mit der wir leben müssen. Müsste ich nun im Zusammenhang mit dem Haus Faraday trotzdem eine Metapher verwenden, würde ich von den Vorzügen der „Haut“ oder des „Kleides“ dieses Hauses sprechen, die bzw. das sich um die selbsttragende Betonstruktur – das Skelett oder die Muskeln im dem einen, den Körper im dem anderen Fall – fügt, und wie dabei ein Gefühl der präzisen Fügung, ja der Enge entsteht. Man fürchtet fast, dass die Nähte dieses „Gewandes“ platzen könnten. Dann würde eben das Haus ,nackt‘ dastehen. Gerade für Nicht-Architekten sind diese Metaphern fundamental, um den kulturellen Wert des Hauses verstehen und einen interpretatorischen Zugang zu ihm finden zu können. Es hilft ihnen nicht viel zu wissen, welche komplexe Detaillierung sich hinter der kupfernen Einkleidung verbirgt, sondern man muss ihnen helfen zu sehen, wie sich diese in der Form und dem Raum des Gebäudes auswirkt. Über Metaphern – die Architektur als Sprache, als Körper, als Maschine etc. – entwickelte sich über Jahrhunderte eine spezifische Sprache der Architektur, deren Verwendung einerseits die Vermittelbarkeit der Architektur an Architektinnen und Architekten sowie an Fachfremde unterstützen sollte, andererseits aber auch einen

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Berufsjargon entstehen ließ, mit dem die Disziplin ihre Einordnung in Stilrichtungen rechtfertigen konnte. In dem vorliegenden Text habe ich zu Beginn versucht, Metaphern durch eine Narration zu ersetzen, doch, ebenso wie jene, vermag auch diese die Trennung zwischen Architektur und Rezeption nur teilweise zu überbrücken. Zum Dritten. Wem man sich in der Architektur nicht nähern kann, das ist der Raum. Dieser wunderbar ungenaue, vielschichtige Begriff steht stellvertretend für unsere Kapitulation vor der Unmöglichkeit, die Architektur als Raum beschreiben zu können. Der Raum ist sprichwörtlich nicht begreifbar. Wieder Metaphern, wie jene der Atmosphäre oder der Stimmung, kommen dann zum Einsatz, um dieses Ungreifbare irgendwie zu erfassen. Diese Unmöglichkeit ist aber auch gleichzeitig das Wertvollste an der Architektur: die Tatsache, dass man sie nie empirisch erfassen kann. Es kann hier nicht der Ort sein, auf die lange Tradition der Raumtheorie einzugehen, lediglich ein Aspekt sei hier kurz angesprochen, und zwar die ,Raumvorstellung‘ oder wie sie Albert Erich Brinkmann (1881–1958) in einem Aufsatz von 1926 bezeichnet: der ,Raumsinn‘.8 Wer Architektur vermitteln will, muss den Raumsinn der Lesenden und Betrachtenden schärfen, ihn ausbilden. Man muss also den Rezipierenden helfen zu verstehen, was architektonischer Raum ist und wie dessen Qualitäten wahrgenommen werden können. Um dies zu erreichen, müssen wir den Entwurf umkehren und ihn ausgehend vom gebauten Objekt zurück zu einem hypothetischen Ursprung führen. Also stellen sie sich vor, wie das Haus Faraday mit einer Backstein- oder mit einer horizontalen Kupferfassade aussehen würde. Wie würde dieses Haus aussehen, wenn die Ecken nicht rund wären? Oder wenn die Fensteranordnung symmetrisch wäre? Oder eben, wie sieht der Kontext aus, wenn zwei Häuser Faraday da stehen würden? Welche Art von Raum spannt sich zwischen diesen beiden auf? Machen Sie diese Übung, sie ist die wichtigste Voraussetzung für eine Schärfung des Raumsinnes und damit auch des Verständnisses des kulturellen Mehrwerts dieses Hauses. Schreiben über Architektur – wie auch der Unterricht – müsste immer auf solche Übungen gründen. Nur so kann man Adressierte von einem passiven zu einem aktiven Betrachten führen. Auch das gelingt natürlich am besten im Rahmen einer Erzählung ...

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Kommentierte Auswahlbibliografie

Wenn es Helden der ,erzählerischen‘ Architekturbeschreibung gibt, dann gehört Manfredo Tafuri – der als Architekt ausgebildet wurde – ohne Zweifel dazu, wenn auch um den Preis einer manchmal fast vollkommenen Unverständlichkeit. Seine Texte sind verführend und laden immer zum Nachdenken ein, zudem eröffnen sie immer wieder neue Perspektiven auf die Architektur sowie auf ihre kulturelle, politische und ökonomische Bedingtheit; gleichzeitig sucht man oft vergebens nach einer eindeutigen Meinung oder Position, was zweifellos die Kehrseite dieser Art des Erzählens der Architektur ausmacht. Zum Verhältnis von Beschreiben und Erzählen siehe neben den oben bereits erwähnten Aufsätzen auch: Paul Feyerabend, Wissenschaft als Kunst (Frankfurt 1984), Jean-François Lyotards, La Condition postmoderne (Paris 1979) oder Gérard Genette, „Frontières du récit“ in: Figures II (Paris 1969). Eigenwerbung stinkt, aber ich verweise noch auf den von mir mit Johannes Binotto verfassten Aufsatz „Narration/Non-Ville/Description“ (Paris 2010). Was die Metapherntheorie angeht, so kommt man nicht darum herum, George Lakoff und Mark Johnsons’ Bücher und Aufsätze zu lesen, angefangen mit Metaphors we Live by (Chicago 1980) und Philosophy in the Flesh (New York 1999). Zu neueren Forschungen siehe unter anderem Dedre Gentner und Francisco Maravilla, Analogical Reasoning, (New York 2018). Geht es um das Verhältnis von Metaphern und Unbegreiflichkeit, ist Hans Blumenbergs Theorie der Unbegrifflichkeit (Bonn 1960) unübertroffen. Was Metaphern in Architektur und Städtebau angeht, sollte man sich vor allem mit Peter Collins, Changing Ideals in Modern Architecture (Montreal 1965), Adrian Forty, Words and Buildings: A Vocabulary of Modern Architecture (London 2000) oder Caroline Van Eck, Organicism in Nineteenth-Century Architecture. An Inquiry into its Theoretical and Philosophical Background (Amsterdam 1994) auseinandersetzen. Eine besonders gelungene Verschmelzung von Metaphern und Architekturtheorie findet sich in Ákos Moravánszky, Lehrgerüste: Theorie und Stofflichkeit der Architektur (Zürich 2015). Mein bescheidener Beitrag zum Thema: Andri Gerber, Metaphors in Architecture and Urbanism (Bielefeld 2013).

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Zum Raumsinn verweise ich auf alle Bücher von Henry Mallgrave, angefangen mit seinem Empathy, Form and Space (Santa Monica 1994). Was das ,Auseinandernehmen‘ von Architektur angeht, verweise ich auf die Arbeit von Hans Sedlmayr (1896–1984), aus meiner Sicht bis heute unerreicht, zum Beispiel Die Architektur Borrominis (Berlin 1930) oder Zum Begriff der Strukturanalyse (Hildesheim 1931).

Anmerkungen 1

René Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philoso­ phie mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, hg. v. Arthur Buchenau, Hamburg 1915/1972, S. 116 (AT VII 171f.). Der Verfasser dankt dem Herausgeber für diese Referenz.

2

Georg Lukàcs, „Erzählen oder beschreiben? Zur Diskussion über den Naturalismus und Formalismus“, in: Ders., Probleme des Realismus, Band 4, Neuwied, Berlin 1971.

3

Bernardo Secchi, „Descriptive city planning“, in: Casabella 588, März 1992.

4

André Corboz, „La description: entre lecture et écriture“, in: Ders., Le Territoire comme palimpseste et autres essais, Besançon 2001.

5

Paul Ricœur, „Architettura e narratività“, in: Pietro Derossi, Claudio De Luca, Emanuela Tondo (Hg.), Architettura e narratività, Mailand 2001.

6

Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781), Berlin 2014, S. 691.

7 8

Le Corbusier, Vers une architecture, Paris 1923. A. E. Brinkmann, „Erziehung zum Raumsinn“, in: Zeitschrift für Deutschkunde, Heft 1, 1926.

2 Wohnkomplex Pallasseum, Berlin

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Sebastian Bührig

Das Stadtschiff „ Man kann diesen Dampfer kaum noch ein Schiff nennen; es ist wohl mehr eine schwimmende Stadt.“ Jules Verne1 In den frühen Morgenstunden ging ich an Bord des großen, langen Hauses, das genau besehen ein Kreuzfahrtschiff war. Eine rätselhafte Einladung hatte mich hierhergebracht. Im Anschluss an einen ausgedehnten Spaziergang hatte mein Freund K. mir eine Postkarte überreicht. Darauf stand geschrieben: „Für S., D. F., Café L. am S. Platz, täglich ab 14 Uhr. Lieben Gruß, K.“ Weiter gab er dazu nichts preis. Voller Neugierde betrat ich bald darauf das Lokal. War der geheimnisvolle Herr F. unter den Gästen? „Herr F., natürlich! Der ist täglich hier“, erfuhr ich von der Dame am Tresen. „Heute ist er früher los als üblich. Kommen sie morgen wieder!“ Gesagt, getan. Tags darauf nahm ich Platz in der hintersten Ecke. Der letzte freie Tisch war der neben dem meinen – welch glückliche Fügung! Kurz nach zwei Uhr betrat ein älterer Herr das Lokal, schaute in die Runde und setzte sich an den Nachbartisch. Nachdem er abgelegt hatte, grüßte ich und zückte die Postkarte. Da ich ihm den Zweck meines Besuchs nicht nennen konnte, hielt ich es für angebracht, von meiner Bekanntschaft mit K. und meiner Arbeit zu berichten. Als ich auf meine Forschungen zum Leben in hohen Häusern, sogenannten Wohnmaschinen, zu sprechen kam, da schmunzelte er. „Wissen Sie, so eine Wohnmaschine haben wir damals ja auch mal gebaut.“ Wie sich herausstellen sollte, war Herr F. einer der Architekten, die das große, lange Haus entworfen hatten, das genau besehen ein Kreuzfahrtschiff war.

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An einem heiteren Tag zur Vormittagszeit verabredeten Herr F. und ich uns zu einem Inspektionsrundgang. Im Gespräch mit ihm wurde die Architektur lebendig. Sich selbst vor Ort zu begeben, ermöglichte es, das Bauwerk in unmittelbarer Anschauung wirken zu lassen. Die gewaltigen Ausmaße des großen, langen Hauses boten einen beeindruckenden Anblick. Seine Ähnlichkeit mit der weltbekannten ,Wohnmaschine‘ Le Corbusiers war unverkennbar. Und dieser Umstand war ein entscheidender – denn die Idee dieses langgezogenen Hochhaustyps war dem berühmten Baumeister eigenen Angaben zufolge während einer Kreuzfahrt gekommen. Dass in Schiffskabinen auf geringstem Raum größter Komfort ermöglicht wurde, faszinierte ihn so sehr, dass er dieses Prinzip auf den Wohnungsbau anzuwenden beschloss.2 Wahrlich wie ein Kreuzfahrtschiff lag nun das große, lange Haus des Herrn F. und seiner Kollegen vor uns. 210 Meter war es lang, 40 Meter hoch ragten die 13 Geschosse in den Himmel. Den Städtern diente es zur Orientierung, aus weiter Ferne war es zu erkennen. Still lag es inmitten der Stadt vor Anker, während ringsum das Großstadtleben wogte. Das umgebende Quartier durchschnitt es dabei wie eine Mauer, schuf zwei Seiten, die sich zueinander verhielten wie Luv und Lee – eine laut und turbulent, die andere still und ruhig. Herr F. führte mir die Besonderheiten des Stadtschiffbaus vor Augen. Die Bordwand war sichtbar unterteilt in ein Ober- und ein Unterdeck. Im unteren Teil befand sich ein Parkhaus, obenauf die Wohndecks. Dazwischen lag ein offenes ,Luftgeschoss‘ – ein großzügiges Promenadendeck inmitten massiver Tragwände. Zu seinem Bedauern hatte es nie als ein Ort der Begegnung funktioniert. An seinem nördlichen Ende waren die Geschosse terrassenartig abgestuft und verjüngten dort die Silhouette, als ob sie auf einen Bug zulief – was den Schiffscharakter des großen, langen Hauses verblüffend verstärkte. An Bord gelangte man über drei Aufgänge. Deutlich zu erkennen waren die großzügigen Glasfronten, hinter denen sich die Treppenhäuser befanden. Mittschiffs schlug der Bau eine Brücke über eine Straße. Back- und steuerbords befanden sich dort Bullaugenfenster von beachtlicher Größe. Backbords waren zwei von ihnen als riesige Augen bemalt worden, was Erinnerungen an die Außenbordbemalungen prominenter Passagierdampfer wachrief.3 Steuerbords stand in großen weißen Lettern über mehrere Bullaugen hinweg der Name des Stadtschiffs geschrieben: P A L L A S S E U M, auch schlicht „Pallas“ genannt,

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wie ich später lernte. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite bot sich dann eine wahrlich gewaltige Ansicht: Das Stadtschiff überragte dort einen Hochbunker aus dem Zweiten Weltkrieg, jedoch ohne den riesigen Betonklotz dabei zu berühren. Nebenan auf dem Grundstück des Stadtschiffes, wenige Meter weiter, hatte eine riesige Veranstaltungshalle gestanden, in der einst der ,Totale Krieg‘ heraufbeschworen worden war. Dass sich ein großer ,Sozialer‘ Wohnbau über dieses Vermächtnis einer dunklen Zeit erhob, erschien mir tief bedeutsam. Doch Herr F. winkte ab: „Unser Ziel war es einfach nur, auf der Fläche möglichst viele gute Wohnungen unterzubringen.“ Hinter dem Bunker stand das Stadtschiff auf hohen Pfeilern. Achtern, an seinem Heck sozusagen, lagen fünf mal drei kleine Kajüten, die besonders beliebt waren. Von ihnen ging der Blick in das Grün eines Parks, dem das große, lange Haus seinen ursprünglichen Namen Wohnen am Kleistpark verdankte. An den Außenwänden ließ sich die Konstruktion des Stadtschiffs ablesen. Klar zu erkennen waren die massiven Betonteile, aus denen es gefertigt war. Kennzeichnend war die sogenannte Schottenbauweise. Dies bedeutete, dass tragende Wände parallel hintereinander angeordnet waren. Im Abstand von je sechs Metern standen sie quer zur Längsachse, auf ihnen ruhten die Platten der Geschosse. Ein solches Tragwerk erlaubte die größtmögliche Offenheit der Kabinenaußenwände. Alle Wohnkabinen des Stadtschiffs verfügten über den Luxus bodentiefer Fenster. Waren sie geöffnet, saß man fast wie im Freien. Für Stadtschiffe galt gleichermaßen das Erfolgsrezept des Kreuzfahrtschiffbaus: Den Menschen so viel freien Blick auf das Stadt-Meer zu gewähren wie möglich. Gerade war ein Großteil des Gebäudes eingerüstet. Wie die Bordwände eines Ozeanriesens war auch die Außenhülle des Stadtschiffs tagein, tagaus Wind und Wetter ausgesetzt. Neben dem von dunklen Schlieren überzogenen Beton erstrahlten die restaurierten Teile in neuem Glanz – die Wandscheiben in „Kieselgrau“ und die Geschossplatten in „Schiefer 17“. Ebenfalls frisch gepönt waren die schwarz-metallenen Balkongeländer. Diese waren, für Wohnbauten sehr ungewöhnlich, für Schiffe hingegen typisch, durchlaufend – wie eine Reling. Unterhalb des Handlaufs bestanden sie aus einem quadratischen Gitter, durch das nichts größer als ein Schnapsglas außenbords gehen konnte. An ihrem unteren Ende waren diese Geländer bauchig gewölbt, ideal, um dort Dinge zu lagern. Zu jeder Wohnkabine gehörte eine Loggia, deren Wände

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bunt gestrichen waren: blau, grün, gelb, rot – eine weitere auffällige Gemeinsamkeit mit Le Corbusiers „Wohnmaschine“. Auf Höhe der Loggien war die Fensterfront zurückversetzt. Bequem konnte dort draußen gesessen werden. Blickte man hinauf, so bekam man eine Ahnung davon, wie verschieden die Menschen sich einrichteten. Zu sehen waren Kästen und Töpfe in allen Farben und Größen, in denen Blumen und Pflanzen gediehen; Gartenmöbel, Tischgarnituren, Liegestühle, Hängematten und gar eine Hollywoodschaukel; Sonnenschirme und -segel, Planen, Tücher, Vorhänge und Markisen spendeten Schatten; Werkzeuge, Reinigungs- und Gartengeräte, zahlreiche Gießkannen; Regale, Schränke, Aufbewahrungsboxen, Plastiksäcke; Wäscheleinen und -ständer; Dekorationen wie Wimpel, Flaggen, Figuren, Skulpturen, Windspiele; Spielgeräte, vor allem Bälle; Teppiche mit mannigfaltigen Mustern hingen über der Brüstung; und, was außerordentlich hervorstach, Hunderte Satellitenschüsseln, von denen einige bunt bedruckt waren. In dem streng gradlinigen Raster der Außenbordwand blühte eine vielfältige Farben- und Formenpracht menschlichen Lebens. Dort an den Rändern der privaten Räume drang das Persönliche nach außen. Möglich, weil die Fassadengestaltung es zuließ. Auf dem Stadtschiff blieben die Leute meist deutlich länger wohnen, als Passagiere auf einer Kreuzfahrt es tun. Aus diesem Grunde lag es nahe, dass sie an Bord mehr Freiheiten besaßen, ihre Lebensräume nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Darin zeigte sich auch das Wesentliche des Stadtschiffs – es war das Zuhause vieler, vieler Menschen. In den 514 Kabinen lebten schätzungsweise 2.000 Mieterinnen und Mieter – vergleichbar mit der Passagierzahl eines mittelgroßen Kreuzfahrtschiffs. Unweigerlich wirkte die Bauweise auf das Zusammenleben all dieser Menschen. Doch wie sie das tat, das war von außen allein nicht zu sehen. Drum musste ich hinein ins Gebäude. Und da tief in seinen Mauern die Idee des Kreuzfahrtdampfers steckte, wollte ich mich an Bord des großen, langen Hauses begeben, als wäre es ein Schiff. An einem drückend warmen Nachmittag machte ich mich auf, um auf der MS Pallas anzuheuern. Im Büro der Hausverwaltung traf ich den technischen Leiter. Ihm machte ich Meldung und bat höflich, eintreten zu dürfen. „Nein!“ tönte es mir entgegen. Nach kurzem Zögern sagte ich frei heraus, dass dieses große, lange Haus ja augenscheinlich ein Schiff sei und dass ich darauf für die Dauer

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einer Arbeitswoche als Schiffsjunge dienen wollte. Denn wie konnte ich das Stadtschiff besser verstehen lernen, als unter dem Kommando des Schiffstechnischen Offiziers? Kräftig zog dieser an seinem Tankverdampfer und ließ eine riesige Dampfwolke aufsteigen. Grinsend strich er sich den Bart und gab zu Antwort: „Ganz genau, ich halte den Kahn hier am Laufen!“ So kam es, dass ich an Bord des großen, langen Hauses gelangte, das genau besehen ein Stadtschiff war. Zur Morgenmusterung trat ich in einer Marine-Bordhose, weißem Shirt und Segelschuhen an. Man stellte mich der Mannschaft vor. Eine Stammbesatzung von 17 Seelen hielt das Stadtschiff seetüchtig. Darunter waren Maler, Tischler, Heizungsmonteure und so weiter. Die Schiffsleitung hatte die Erfahrung gemacht, dass es sich in vielerlei Hinsicht rechnete, eine feste Truppe zu halten. Ich wurde einem erfahrenen Hausmeister, beziehungsweise Decksmann zur Seite gestellt, der einer großen Seefahrernation des Mittelmeers entstammte. Zunächst zeigte er mir das Schlafdeck, wo ich später mein Feldbett aufstellen durfte. Kaum, dass ich meinen Seesack abgelegt hatte, begann der Dienst. „Wenn man früh anfängt, dann schafft man was!“ Im Wissen, dass ich an Bord war, um das Stadtschiff kennenzulernen, machte er mit mir einen Rundgang durch die wichtigsten Schiffsabteilungen. Angesichts der riesigen Tanks, die Warmwasser in die Höhe pumpten und des gewaltigen Dieselmotors, der das Stadtschiff im Falle eines Falles mit Notstrom versorgen konnte, ganz besonders aber beim Anblick des Versorgungsdecks mit seinen endlosen Rohren und Schaltstellen, wurde mir klar, dass die Bezeichnung ,Wohnmaschine‘ das Wesen solch großer Wohnhäuser treffend zum Ausdruck brachte. Beachtlich war, wie behände sich die Besatzung in den Gängen bewegte. Mit der Zeit entwickelte ein jeder seine Tricks und Kniffe: Um sich beispielsweise inmitten hunderter Meter technischer Leitungen zurechtzufinden, zählten die Maschinisten auf den Wohndecks ihre Schritte von einer Kabine zum jeweils nächsten Schott und fanden auf diesem Wege im Maschinenraum zum dazugehörigen Versorgungsstrang. Wenn es eines gibt, das mir auf meiner Reise mit dem Stadtschiff klar geworden ist, dann dass eine Wohnmaschine eine Menge Arbeit macht. Nach der Ronde brachte man mich zur Kajüte eines leitenden Technikers a.  D., der seinen Ruhestand an Bord verbrachte. Der alte Seebär erzählte mir von einer stürmischen Zeit, durch die sie

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das Stadtschiff einst gesteuert hatten. Wenige Jahre nach seinem Stapellauf hatte es so schwer Schlagseite erlitten, dass es beinahe außer Dienst gestellt worden wäre. Alle Düsternisse eines Hafenviertels verschatteten damals das Stadtschiff. Hehler und Dirnen gingen im Haus ihrem Geschäft nach, hoffnungslos verdreckt waren die Gänge und so manche Wohnung. Brutale Händel waren an der Tagesordnung, wie er mehrmals am eigenen Leib hatte erfahren müssen. Menschen zu finden, die dort wohnen wollten, war damals schwer. Die Schuld dafür gab man dem großen, langen Haus. Um diese Zeit verlieh ihm der Volksmund den Namen „Sozialpalast“. „Abreißen wollte die Politik!“, hustete der Seebär. „Und was machen sie dann mit den Leuten? Die packen dann ihre Koffer. Und oben drauf packen sie ihre Sorgen. Und in der neuen Heimat, was haben sie da als Erstes wieder vor sich?“ Nur dank des unermüdlichen Einsatzes der Besatzung konnte das Kentern abgewendet werden. „Heute ist wieder Ruhe im Puff!“ Später setzten wir beide uns an einen seiner Lieblingsplätze – vor eine Hafenpinte, direkt an der rauschenden Straße. „Wissen Sie, was das Schöne daran ist, hier zu sitzen, junger Mann?“, fragte er sichtlich zufrieden. „Die Frauen! Hier sehen Sie sie in ihrer ganzen Pracht – von schön bis am schönsten!“ Eine gute Gelegenheit, um zu fragen, welche anderen Orte ihm hier am Herzen lagen. Abwägend hielt er inne. „In Ordnung. Folgen sie mir! Dazu müssen wir in den Keller.“ Nach kurzer Verwunderung stimmte ich zu. Hinter einer unauffälligen Stahltür befand sich dort unten der geheime Partyraum der Crew. Bartresen, Küche, Sanitäranlagen – alles war eigenhändig von der Schiffsbesatzung gebaut worden. „Wollen Sie was trinken?“, einladend schwenkte der Seebär seine Hand entlang einer langen Reihe von Schnäpsen. „Nicht im Dienst“, gab ich zur Antwort. Man spürte, dass so manches Fest gefeiert worden war. „Einmal war hier so viel Rauch drin, dass, als wir die kleine Luke zum Lüften aufmachten, die Leute auf der Straße vor Schreck die Feuerwehr riefen!“ Neben dem Tresen fiel mir ein seltsames Artefakt auf: Ein riesiger Baumstumpf befestigt auf einem Metallrahmen. „Das ist der Nagelblock!“ Von so etwas hatte ich noch nie gehört. „Manchmal, zu später Stunde und nach ein paar Bieren, da kann es vorkommen, dass zwei in eine kleine Meinungsverschiedenheit geraten. Die beiden Streitvögel kommen dann an den Nagelblock. Jeder bekommt einen Nagel, der nur soweit in das Holz geschlagen wird, dass er steckt. Immer im Wechsel, einer nach dem

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anderen, bekommt jeder den Hammer. Wessen Nagel zuerst ganz in das Holz geschlagen ist, der hat Recht. Dann ist wieder Ruhe.“ Nach dieser Einführung in Aufbau und Geschichte des Stadtschiffs bekam ich Besen und Wischer in die Hand gedrückt. Das allwöchentliche Großreinschiff war für den Alltag an Bord von grundlegender Bedeutung. Denn das Leben von so vielen Menschen hinterlässt Spuren. Sehr einprägsam waren für mich die langen, langen Korridore. Um die 300 Schritte brauchte ich von einem Ende zum anderen. Während der letzten Werftphase waren sie durch Milchglas-Wände unterteilt worden. Besser begreifbare Einheiten nachbarschaftlicher Zusammengehörigkeit waren so entstanden. Über die volle Distanz waren längst keine Personen mehr erkennbar gewesen. Die Flure waren weit weniger breit als auf den Decks eines Luxusdampfers. Zwischen den Wänden konnte sich kein durchschnittlich gewachsener Seemann lang machen. Zu beiden Seiten gingen die Türen zu den Wohnkabinen ab, alle paar Meter eine. Einige waren nach dem Gutdünken der Bewohnerinnen und Bewohnern dekoriert: Man sah Kränze und andere Basteleien, allerhand Aufkleber mit Motiven von Fußballvereinen, Friedensbewegungen, Radiosendern, bunten Tieren, Comicfiguren und auch ein „Herz für Kinder“; zudem fanden sich dort einige Schilder, die in variierendem Wortlaut vor wachsamen Nachbarn und Hunden warnten, andere verhießen Segnungen und taten erbauliche Sprüche kund, immer wieder waren religiöse Motive zu sehen und auch ein Amulett, das vor dem ,bösen Blick‘ schützen sollte. Erstaunlich fand ich, dass meine Kameraden stets genau zu wissen schienen, wo an Bord ich mich gerade aufhielt. Unter Bewohnerschaft und Besatzung herrschte ein lebhafter Austausch. Entlang der Korridore war ein engmaschiges Netz nachbarschaftlichen Nachrichtenaustauschs gespannt. Von ,Anonymität‘, die oft als Vorurteil an derart große Wohngebäude herangetragen wurde, konnte keine Rede sein. Im großen, langen Haus, das genau besehen ein Stadtschiff war, trafen Menschen aus allen Ländern dieser Welt aufeinander. Die meisten grüßten sich, wenn sie sich auf den Korridoren begegneten. Es waren diese Korridore, die all ihre Kabinen miteinander verbanden. Mit diesen gemeinsamen Räumen gingen die Bewohnerinnen und Bewohner unterschiedlich um. Nicht wenige Haushalte hatten vor ihren Wohnungstüren Schränke stehen, häufig auch Fahrräder oder Kinderwagen. Hier und da standen prall gefüllte Mülltüten, das obwohl sich

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die bequemen Müllschlucker nur wenige Meter weiter befanden. Erwarteten diese Leute etwa, dass tatsächlich wie auf einem Kreuzfahrtschiff hinter ihnen hergeräumt wurde? Solch übergriffiges Verhalten gegenüber dem nachbarschaftlichen Raum wirkte sich auf bezeichnende Weise aus: In der Folge waren die gemeinsamen Oberflächen von Wand und Boden im Umkreis der Türen dieser Bewohnerschaft in sichtbar schlechterem Zustand. Doch gab es auch welche, die dagegen ankämpften und nicht nur den Dreck vor ihrer eigenen Türe kehrten. „Wir sitzen doch alle im selben Boot!“ – Ließen sich beim Wischen des Bodens größere Wahrheiten über das Zusammenleben auf dem Stadtschiff ablesen? „Ein Thema wie ein Meer“, sprach der Decksmann. Warum? „Weil es so groß ist!“ Am Umgang mit dem gemeinsamen Raum zeigte sich meiner Einschätzung nach eine falsche Annahme oder unerfüllte Hoffnung des Städtebaus der Nachkriegsmoderne – die Vermutung nämlich, dass es für friedliche Nachbarschaften in einer demokratischen Gesellschaft genüge, viele Menschen in schönen Räumen eines gemeinsamen großen Hauses zu beheimaten. Nichts spricht gegen schöne Räume und gegen große Häuser. Doch solange die Bewohnerinnen und Bewohner nicht darin übereinkommen, sich aus Vernunft selbst zurückzunehmen, wird wohl keine Bauweise es vermögen, sie zu diesem wünschenswerten Verhalten zu bewegen. Was Le Corbusier in seinen Überlegungen zu seinen Wohnmaschinen außer Acht gelassen hatte – oder in seinen Feststellungen zumindest unerwähnt ließ – ist der Umstand, dass das reibungslose Leben an Bord eines Kreuzfahrtschiffs im Verborgenen ermöglicht wird durch das streng organisierte Zusammenspiel eines kurshaltenden Kommandanten und einer erfahrenen Besatzung. Mit diesem Wissen verrichtet die Mannschaft der MS Pallas seit einigen Jahren ihr wichtiges Werk. Eine Arbeit, die niemals endet. Das große, lange Haus ist ein Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzung, genauso aber auch ein Ort des Ankommens und der Verständigung. Für nicht wenige Menschen ist das Stadtschiff eine erste Anlaufstelle, nachdem sie in Berlin gestrandet sind. Die Wohnkabinen sind heute wieder sehr begehrt. Mitten in der Stadt kann man kaum noch so günstig unterkommen. Und wie unwahrscheinlich gut der Service an Bord ist, begreifen manche oft erst nach einem Umzug. Nicht selten wollen sie bald wieder zurück. Das alles spricht für den ehrenhaften Einsatz der Mannschaft. Die schwierige Überfahrt gelingt, weil die Schiffsleitung in der Menge

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der Menschen auf die Einzelnen zugeht und ihnen zuhört. Für die Zukunft wünsche ich dem großen, langen Haus, das genau besehen ein Stadtschiff ist, immer eine Handbreit Wasser unter dem Kiel.4 In den Abendstunden rauchte ich zum Dienstausscheid meine Pfeife und bewunderte, wie das Licht der untergehenden Sonne von den Glasscheiben an die Brandmauer eines Altbaus gegenüber geworfen wurde. Ein tanzendes Lichtspiel, wie es die Meeresoberfläche hervorbringt. Mehrfach war mir, als wären darin Buchstaben zu erkennen, die, kurz bevor sie erkannt werden konnten, wieder verschwammen. Hätte ich entscheiden können, was dort geschrieben stand, so wäre es dieses wichtige Wort gewesen, das ich in meinem Dienst gelernt hatte: „Tamam!“5 Kommentierte Auswahlbibliografie

Hans Ostwald, Dunkle Winkel, Berlin 2014. Eine Sammlung lebhafter Erzählungen von Streifzügen durch Berlin. Für seine Recherchen mischte sich der Autor unter das Volk, suchte das Gespräch. Eine Methode des unmittelbaren Betrachtens, in deren Mittelpunkt stets Menschen und ihre Schicksale stehen. David Foster Wallace, Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich (1997), Köln 2017. Eine journalistische Reportage, in der der Autor seine Beobachtungen während eines Aufenthaltes auf einem Kreuzfahrtschiff voll bitterbösem Witz schildert. Dabei verstrickt er diese Eindrücke mit Reflexionen über diese Form des Reisens und über gesellschaftliche Zustände. William Foote Whyte, Street Corner Society. The Social Structure of an Italian Slum (1943), Chicago 1993. Eine wegweisende Arbeit der Stadtsoziologie, die die Leserschaft die Geschichte einer teilnehmenden Beobachtung nachvollziehen lässt und dabei auf unterhaltsame Art herleitet, wie Erkenntnisse gewonnen wurden.

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Anmerkungen 1

Jules Verne, Eine schwimmende Stadt, dt. Übers. v. 1875 (franz. Orig. v. 1871).

2

Le Corbusier, 1929. Feststellungen, in: Bauwelt Fundamente 12, 1964, ab S. 68; insbesondere der Text „Eine Zelle im menschlichen Maßstab“ ab S. 87.

3

Man denke an die „AIDA“ mit ihrem knallroten Kussmund und den gelben Augen.

4

Mein Abenteuer lag noch nicht lange zurück, da begab sich der Kommandant des Stadtschiffes tatsächlich auf eine mehrwöchige Kreuzfahrtreise.

5

Türkisch für „in Ordnung“, „fertig“, „gut so“.

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Frank Seehausen

Mäandernde Betrachtungen Eine Architekturbeschreibung sollte eine pointierte und möglichst eindringliche und plastische Vorstellung des Gebäudes vermitteln – auch jenen Menschen, die es nicht aus eigener Anschauung kennen. Bildlich gesprochen, nimmt man dabei seine Leserinnen und Leser an die Hand und führt sie mit der Beschreibung eines Bauwerks gezielt zu jenen Bereichen, die es in seinen unterschiedlichen Facetten begreifbar machen: in seinen räumlichen, visuellen, materiellen und zeitlichen Qualitäten, aber auch in seinen gesellschaftlichen und sozialen Dimensionen. Vorrangig geht es also darum, ein komplexes dreidimensionales Gebilde in einem Geflecht von Beziehungen und Einflüssen zu verorten. Dabei kommt eine um Neutralität und Vollständigkeit bemühte Architekturbeschreibung, wie sie mit ihrer sachlichen und im übertragenen Sinn ,fotografischen‘ Wiedergabe des Gegenstands in der Baugeschichte immer wieder eingefordert wird, schnell an ihre Grenzen.1 Wenngleich im Gegensatz dazu eine literarisch-rhetorische Ekphrasis als verlebendigende und affektive Beschreibung zwar auf eine präzise Differenzierung von Wirkung und Vermittlung verzichtet, so bietet sie dafür Möglichkeiten, eine intendierte Wirkungsästhetik als wesentlichen Bestandteil des Bauwerks von Beginn an nachvollziehbar zu machen.2 Als eine anschauliche Darstellung, die innere Bilder suggeriert, unterscheidet sie sich von den in neuzeitlicher Kunstliteratur geforderten Beschreibungen mit ihrem stärker differenzierenden und spezifizierenden Ansatz.3 Vor allem in Fällen, in denen es die Absicht von Auftraggeberseite und Ausführenden ist, bestimmte Wirkungen hervorzurufen, kann eine Ekphrasis dem Gegenstand deutlich näher sein.

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Beispielhaft sind nach wie vor John Ruskins Architektur- und Bildbeschreibungen in seinen Stones of Venice (1851–1853) mit ihrer betont suggestiv-atmosphärischen Sprache.4 Ruskins Worte schaffen Bilder, sie regen die Imagination an und lenken die Aufmerksamkeit der Leserschaft. Hier zeigt sich, dass es bei einer Architekturbeschreibung sinnvoll sein kann, sich dem Bauwerk zu nähern, um seine Wirkungsästhetik aufzuspüren, und es damit in einen größeren Kontext zu stellen. Schließlich geht es in einer gelungenen kunsthistorischen Beschreibung grundsätzlich darum, wie es Gottfried Boehm bereits in Bezug auf Vasaris Viten betont, „dem Leser den auslösenden Punkt der Darstellung“ zu vermitteln.5 In der Architektur der Moderne ist das in den seltensten Fällen das Bild einer ,entscheidenden‘ Fassade, als eher mehrdeutige und vor allem räumliche und materielle Eigenschaften jenseits eines eng gefassten ikonografischen Systems. Auch die Zeitlichkeit in der Wahrnehmung des Bauwerkes, und damit verbunden, seine sukzessiv erfahrbaren räumlichen und visuellen Qualitäten spielen eine tragende, in vielen Fällen aber kaum berücksichtigte Rolle. Vereinfacht gesagt, organisiert das Bauwerk die Bewegung der Betrachtenden und damit auch die Abfolge von Eindrücken und Informationen, seine Lesart und Aussage. Dies sprachlich bereits im Rahmen einer Beschreibung zu vermitteln, stellt eine Herausforderung dar, die unter anderem an ein dynamisches Raumverständnis anknüpft, wie es in der Architekturtheorie unter anderem von August Schmarsow, Albert Erich Brinkmann, Konstantinos Doxiadis, Paul Zucker, Sigfried Giedion oder Rudolf Arnheim geprägt wurde, um nur einige zu nennen. Es sollte in einer Architekturbeschreibung im Sinne einer Ekphrasis also auch darum gehen, das Bauwerk als dreidimensionalen Akteur zu begreifen und darüber seine intendierte Wirkung und räumlichen Qualitäten zur Basis der Beschreibung zu machen.6 Sobald eine Grundvorstellung des Bauwerks zur Orientierung vermittelt worden ist, lassen sich damit unterschiedliche Bedeutungsebenen verknüpfen und weitere inhaltliche Beziehungen und Wesensmerkmale ablesbar machen. Mehr noch als andere Architekturgattungen spiegeln Wohnhäuser dabei das Leben der Menschen und ihre sozialen und gesellschaftlichen Ansprüche wider. Die Herausforderung einer Architekturbeschreibung besteht hierbei also auch darin, diese Aspekte miteinander in Beziehung zu setzen: den in der Architektur einge-

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schriebenen Anspruch an das Wohnen, an das Gebäude als architektonische und gesellschaftliche Manifestation und an die Bedingungen, die damit für den Alltag geschaffen wurden. Die Wohnbebauung an der Pallasstraße Wie ein gewaltiger Bügel

überspannt der 13 Geschosse hohe, in Nord-Süd-Richtung verlaufende Riegel des Wohnhochhauses die in die Potsdamer Straße mündende Pallasstraße in Berlin-Schöneberg. Das 220 Meter lange, von keiner Position aus in seiner Gesamtheit erfassbare Bauwerk bekommt durch seine Brückenkonstruktion etwas unerwartet Leichtes: Auf der Nordseite steigt es kaskadenförmig an, erstreckt sich dann auf ganzer Länge über dreigeschossige offene Parkdecks und ein öffentliches Luftgeschoss, um schließlich auf der Südseite der Pallasstraße auf nur wenigen Metern den Boden zu berühren und sich im unmittelbaren Anschluss in geringem Abstand über die zerfurchte Betonmasse eines alten Hochbunkers zu schieben, einem trotzigen Relikt aus der späten Phase des Zweiten Weltkrieges.7 Unmittelbar hinter diesem letzten Kraftakt endet der Baukörper, getragen von einer Substruktion aus vier stelzenartigen Wandscheiben, die ein Treppenhaus einfassen und fünf weit auskragende Wohngeschosse in die Luft stemmen: ein Belvedere zum angrenzenden Kleistpark. Mit diesem Richtungswechsel der sonst zu den Längsseiten hin angeordneten Wohnungen erhält der Hochhausriegel nicht nur einen definierten und in Verbindung mit der Stützkonstruktion markanten Abschluss: Auch die bereits in seiner Gebäudeform angelegte grandiose Überspielung vermeintlich zwingender städtebaulicher Gegebenheiten findet hier ihren Höhepunkt, indem der Koloss des Hochbunkers mit geringem Materialaufwand überwunden und seiner plumpen Masse das filigrane Gerüst der Hochhauszeile gegenübergestellt wird. „Wohnen am Kleistpark“, so bezeichneten die Investoren zur Eröffnung 1977 den Komplex mit seinen 541 Wohnungen, den sie damit in seiner Namensgebung auf die angrenzende Grünfläche mit ihren translozierten barocken Kolonnaden und die schlossartige Anlage des Berliner Kammergerichts bezogen.8 Das Architektenteam unter Federführung des noch jungen Jürgen Sawade,9 der zusammen mit Dieter Frowein, Dietmar Götzenbach und Gunter Plessow die Planung übernahm, realisierte mit der Überbauung von Straße und Bunker nicht nur eine weithin sichtbare städte-

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bauliche Geste, sondern folgte einem Topos des Neuen Bauens: indem sie sich ostentativ von der alten Stadt lösten, von ihrer Enge, ihren infrastrukturellen Unzulänglichkeiten, ihren ungünstigen Wohnungsgrundrissen, schlechter Belichtung und ihrem Mangel an Bewegungsflächen.10 Doch ignoriert im Gegensatz zu anderen programmatischen Bauten dieser Zeit der gewaltige, 1972 entworfene Wohnkomplex keinesfalls die bestehenden städtebaulichen Strukturen der umliegenden gründerzeitlichen Mietskasernenstadt, jenes damals als Synonym sozialer Verwahrlosung und Nährboden politischer Reaktion vehement abgelehnten „steinernen Berlin“.11 Sawades architektonische Alternative zur Stadt des 19. Jahrhunderts wuchs vielmehr aus dem Bestand heraus und formulierte eine neue, darüber gelagerte städtebauliche Perspektive. Es sind nicht zuletzt die beiden begrünten Wohnhöfe im nördlichen Bereich der Hochhauszeile, die durch das Zusammenspiel einer sechsgeschossigen Zeile und eines ebenso hohen, U-förmigen Bauwerks mit der angrenzenden Bestandsbebauung des 19. Jahrhunderts gebildet werden. Diese flacheren Bauteile des Wohnkomplexes vermitteln zwischen Bestand und Hochhauszeile, indem sie Maßstab und Funktionsverteilung der vorhandenen Bebauung aufnehmen und die tradierten Strukturen modernisieren: Die neuen Höfe sind nicht mehr Gewerbefläche und Latrinenstandort, sondern begrünte und durchlässig gestaltete Aufenthaltsbereiche mit hohen Verweilqualitäten. Auch öffnen sich die Fassaden der Neubauten mit ihrer weitreichenden Verglasung und dem Angebot an Spiel und Bewegungsflächen. Parallel zur Pallasstraße legten die Architekten einen platzartigen, öffentlichen Bereich an, eine Aufweitung des Trottoirs, die über einen breiten Durchgang mit den beiden begrünten Innenhöfen verbunden ist. Selbst die Hochhauszeile steht in einem städtebaulichen Kontext, indem sie auf die Höhenausdehnung von zwei historischen Hochhäusern in der Nachbarschaft bezogen ist: das ebenfalls am Kleistpark zur Potsdamer Straße stehende Kathreiner-Hochhaus, das 1929–1930 nach Plänen von Bruno Paul errichtet worden war, wie auch auf das 1922–1924 und 1926–1929 erbaute Fernmeldeamt von Otto Spalding und Kurt Kuhlow in der nahe gelegenen Winterfeldstraße.12 Wie eine „zweite städtebauliche Traufhöhe“ sollten sich diese Bauten der Moderne nach den Vorstellungen von Jürgen Sawade über die historische Stadt legen.13

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Besonders deutlich wird dieser ideengeschichtliche Kontext auch an dem außergewöhnlich markanten Abschluss des Brückenbauwerkes, der vom Kleistpark aus sichtbar ist. Nirgendwo sonst wirkt das Bauwerk kraftvoller: Die vor den Bunker gestellten, überlangen Stützen mit der dazwischen eingefassten Erschließung und die hoch in die Luft gehobenen Wohngeschosse mit ihren – innerhalb des prägnanten konstruktiven Rasters – gläsernen Fassaden lassen sich als großmaßstäbliches Architekturmotiv begreifen, das sich auf das 1923–1925 von El Lissitzkys verfolgte WolkenbügelProjekt für den Moskauer Ring bezieht, dessen aufgeständerte horizontale Strukturen zu ihrer Entstehungszeit als Antithese zum vertikalen ,amerikanischen‘ Wolkenkratzer gedacht waren, als bewusst gesetzte Zeichen im Stadtraum.14 Sawade schloss aber auch die Rezeption dieser impulsgebenden architektonischen Vision ein: Mit der diagonal ansteigenden, in dem kaskadenförmigen Gebäudeanschluss am nördlichen Ende der Wohnbrücke eingespannten Erschließungseinheit, lehnt sich der Architekt an jene 1925 von Mart Stam gezeichnete Adaption des Wolkenbügels mit schrägem Erschließungsteil – damals mit angehängten Fahrstühlen gedacht – an, die erstmals 1960 von Reyner Banham veröffentlicht wurde. Nicht zuletzt findet sich die derart durchgesteckte Diagonale erstmals 1919/20 in Wladimir Tatlins Denkmal für die III. Internationale als dynamisch-aufstrebendes Element.15 Wie Lissitzky, der seine plakativen grafischen Entwürfe in eindrucksvolle Raum-Plastiken übertrug, suchte auch Sawade nach einem formalen Ausdruck, der über die funktional bedingte Form hinausging.16 Seine bildhaft wirkende Architektur lässt deutlich erkennen, wie stark ihn in den 1960er Jahren die Wiederentdeckung der Sowjet-Architekturavantgarde beeindruckt hat, die er vor allem am Lehrstuhl von Oswald Mathias Ungers kennengelernt haben dürfte.17 Es sind bewusst gewählte städtebauliche Bezüge, die seine Wohnbrücke aber auch in einer genuin Berliner Tradition progressiver architektonischer Moderne der 1920er Jahre verorten. Denn Straßenüberbauungen gab es dort in auffallend großer Zahl, etwa bei Hans Scharouns städtebaulichem Gutachten für den Durchbruch an den Ministergärten 1927, dann als prägendes raumbildendes Element beim Wettbewerb zur Neubebauung des Alexanderplatzes von 1929, oder, im selben Jahr, als Eingangsmotiv und räumliche Zäsur in der von Martin Wagner und Otto Rudolph Salvisberg im Sinne des ,Neuen Bauens‘ realisierten Wohnsiedlung

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Weiße Stadt in Reinickendorf.18 Durch diese klare Bezugnahme hob sich Sawade von den Straßenüberbrückungen der 1960er Jahre in Berlin ab, wie sie im Märkischen Viertel, an der Brunnenstraße, am Wassertorplatz oder am Halleschen Tor zu finden sind, oder wenig später im Sanierungsgebiet Kreuzberg Süd und im Komplex ,Neues Kreuzberger Zentrum‘ am Kottbusser Tor.19 An keinem anderen Projekt zeigt sich deutlicher, wie stark Sawade durch Ungers geprägt worden war, bei dem er 1963–1966 studiert und anschließend bis 1969 als wissenschaftlicher Assistent gearbeitet hatte. Ungers interessierte sich in seiner Lehre vor allem für strukturelle Probleme der Großstadt, und zwanzig Jahre nach Kriegsende bot ihm das lückenhafte und geteilte Berlin eine ideale Projektionsfläche für hypertrophe Zukunftsszenarien: Ein neues West-Berlin sollte sich als Fünfmillionenstadt auf einem gewaltigen neuen Raster über der alten Stadt erheben.20 Solche enormen bau- und verkehrstechnischen Herausforderungen lassen sich vor allem als Aufforderung an die Studierenden verstehen, eigene analytische Kriterien und programmatische Methoden jenseits eingefahrener Gewohnheiten zu entwickeln. Lösungsansätze wurden in fortlaufenden Publikationen des Lehrstuhls publiziert: Großformen im Wohnungsbau (Heft Nr. 5), Wohnen am Park (Heft Nr. 10), Schnellstraßen und Gebäude (Heft Nr. 4) – die Konzentration auf große Strukturen wird bereits in den Titeln deutlich.21 Im Rückblick sah Ungers derartige Überlegungen als „spekulative Angelegenheit“, als „eine Idee, die nur im akademischen Bereich möglich war“ – doch im Freiraum der Universität, so betonte er, müsse es möglich sein, Ideen „bis zum Absurden auszudehnen.“22 Das Spiel mit den Möglichkeiten nahm der junge Sawade dankbar auf: In seiner Diplomarbeit experimentierte er mit einer Überbauung der alten Stadt und schlug eine zweite städtische Ebene über dem Kurfürstendamm vor.23 Ein Jahr später verfolgte er das Thema während seiner wissenschaftlichen Assistenz bei Ungers im Rahmen des Gutachten Ruhwald anhand einer Studie zur Errichtung linearer Hochhäuser an der West-Berliner Peripherie.24 Diese Prägungen machen die Verbindungen der räumlichen Ebenen bei dem Hochhaus an der Pallasstraße besonders interessant. Die Verkehrsflächen, die Lissitzky sichtbar in den vertikalen Bereichen seiner Wolkenbügel anordnete, werden an der Pallasstraße zu einem alles durchdringenden Bewegungsmotiv gesteigert: In dem markanten Abschluss des Brückenbauwerkes über

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dem Bunker spannte Sawade das Treppenhaus nicht nur sichtbar zwischen die beiden mittleren Stützen ein, sondern verband es über einen durch die Substruktion gesteckten horizontalen Gang mit seitlich an den Wohngeschossen in luftiger Höhe angehängten Treppenhäusern. Treppen, Lauben und Loggien wurden am Baukörper außen ablesbar gemacht, Dächer nutzten die Architekten konsequent für Sport- und Bewegungsflächen. Die Fassade mit ihrem klaren Raster und den streng anmutenden Betonschotten wird damit zum architektonischen Rahmen, um etwas vom Innenleben des Hauses und der sozialen Dynamik der Bewohnerschaft zu zeigen. Diesem Anspruch entsprechend sollten die Loggien durch Pflanzen, Farben und Aktivitäten bespielt werden. Sawade dachte an eine „selbstbestimmte Fassadengestaltung durch den Benutzer“, wie sie ganz dem Zeitgeist der 1970er Jahre mit dessen Anspruch an Partizipation und Individualität entsprach.25 Darin zeigt sich aber auch die Abwendung einer modernen Freizeitgesellschaft vom Kollektivitätsgedanken der 1920er Jahre. Die großflächige Verglasung und die zurückspringenden Loggien geben der Fassade eine plastische Modellierung und ermöglichen immer wieder Einblicke in das Gebäude. „Der Baukörper soll möglichst leicht wirken durch die weitgehende Auflösung der Außenwand in feingliedrige Fensterkonstruktionen zwischen schlanken Skelettbauteilen.“26 Diesem Duktus gehorchten alle gestalterischen Entscheidungen, die formal strenge, insgesamt zurückhaltende Gestaltung der Fassaden, bis hin zum Verzicht auf geschlossene Brüstungen für eine bessere Einsehbarkeit. Individuelle Bewegung stellten die Architekten in den Zusammenhang gemeinschaftlicher Bewegung. Treppen und Laubengängen formulierten sie als sichtbare architektonische Bewegungsmotive, die sich schließlich in den Sportflächen auf den Flachdächern fortsetzten. Der Gedanke von Le Corbusiers Unité d’habitation wurde hier transformiert und den Bedürfnissen der Zeit angepasst. Sawades Erfahrungen mit dem durch äußere Zwänge und Einsparungen stark veränderten und letztlich gescheiterten Berliner Modell der Unité von 1957 flossen hier ganz unmittelbar ein. Im Gegensatz zu Le Corbusiers nach außen relativ hermetisch erscheinenden Entwurf, gestalteten die Architekten an der Pallasstraße fast alle Bewegungsbereiche offen – bis hin zur

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weitgehenden Verglasung der kompakten und gut organisierten Wohnungen. Sawade begegnete der beginnenden Phase innerstädtischer Verdichtung West-Berlins mit einem modernen Ansatz, vor allem aber seinem bei Ungers erworbenen Rüstzeug. Wie damals bei den meisten Wohnungsneubauten in WestBerlin üblich, setzte der Senat die Realisierung der Wohnungen im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus durch. Die intendierte gesellschaftliche Durchmischung des Wohnkomplexes wurde dadurch verhindert und auch die Architektur erstarrte aufgrund der strengen Vorschriften bezüglich der Wohnungsgrößen – erhebliche Umplanungen waren erforderlich.27 Doch waren die Folgen weitreichender, denn im Laufe der Jahre achtete niemand mehr auf die Zusammenstellung der Bewohnerinnen und Bewohnern oder vermittelte ihnen den Umgang mit diesem in vielerlei Hinsicht besonderen Bauwerk – mit schwerwiegenden Folgen: Erst nach einer Phase starker Verwahrlosung um die zweite Jahrtausendwende und einer auch in der Fachöffentlichkeit weit verbreiteten radikalen Ablehnung großer Strukturen, zeigt sich seit wenigen Jahren wieder eine zunehmende Bereitschaft, die Qualitäten dieser Architektur anzuerkennen und damit auch neue Wege einer Aneignung zu finden.28 Vielleicht wird das seit 2018 denkmalgeschützte Haus damit sukzessive doch noch zu einem Modellprojekt inmitten einer aus heterogenen architektonischen Ideen gebildeten Stadt, die derzeit wieder einmal an ihre räumlichen und gesellschaftlichen Grenzen stößt.29 Kommentierte Auswahlbibliografie

Ein Rezeptbuch gibt es nicht. Hilfreich zum Verständnis der Ekphrasis sind: Gottfried Boehm, „Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache“, in: Rüdiger Inhetveen, Rudolf Kötter (Hg.), Betrachten – Beobachten – Beschreiben. Beschreibungen in Kultur- und Naturwissenschaften, München 1996, S. 225–227. Und gewissermaßen als Gegenposition: Raphael Rosenberg, „Inwiefern Ekphrasis keine Bildbeschreibung ist. Zur Geschichte eines missbrauchten Begriffs“, in: Joachim Knape (Hg.): Bildrhetorik, Baden-Baden 2007, S. 271–282.

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Zum dynamischen Verständnis von Architektur ist als Übersichtswerk summarisch: Beatrix Zug, Die Anthropologie des Raumes in der Architekturtheorie des frühen 20. Jahrhunderts, Tübingen, Berlin 2006. Oder auch: Konstantinos Doxiadis, Raumordnung im griechischen Städtebau, Berlin 1937. Siegfried Giedion, Time Space Architecture, New Haven 1946. Eine sorgfältige Analyse im Sinne einer modernen Ikonografie gelingt anhand des Architekten Cesar Pinnau in: Eduard Heinrich Führ, Identitätspolitik, Bielefeld 2016.

Anmerkungen 1

Siehe Dethard von Winterfeld, „Befundsicherung in der Architektur“, in: Hans Belting, Heinrich Dilly, Wolfgang Kemp u. a. (Hg.), Kunstgeschichte. Eine Einführung, Berlin 1985, vorliegend in der Auflage von 1996, S. 88–116. Siehe auch Johannes Cramer, Hand­ buch der Bauaufnahme, Stuttgart 1984.

2

Oliver Kase, Mit Worten sehen lernen. Bildbeschreibung im 18. Jahr­ hundert, Petersberg 2010, S. 16–17.

3

Raphael Rosenberg, „Inwiefern Ekphrasis keine Bildbeschreibung ist. Zur Geschichte eines missbrauchten Begriffs“, in: Joachim Knape (Hg.), Bildrhetorik, Baden-Baden 2007, S. 271–282, hier S. 273.

4

Siehe Hermann Bauer, „Form, Struktur, Stil: Die formanalytischen und formgeschichtlichen Methoden“, in: Hans Belting, Heinrich Dilly, Wolfgang Kemp u. a. (Hg.), Kunstgeschichte. Eine Einführung, Berlin 1985, vorliegend in der Auflage von 1996, S. 151–168.

5

Gottfried Boehm, „Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache“, in: Rüdiger Inhetveen, Rudolf Kötter (Hg.), Betrachten – Beobachten – Beschreiben. Beschreibungen in Kulturund Naturwissenschaften, München 1996, S. 225–227, hier S. 226.

6

August Schmarsow, Das Wesen der architektonischen Schöpfung, Leipzig 1894, S. 10–23; Albert Erich Brinkmann, Platz und Monu­ ment, Berlin 2000; Konstantinos Doxiadis, Raumordnung im grie­ chischen Städtebau, Berlin 1937; Sigfried Giedion, Time Space Architecture, Harvard 1941. Besondere Beachtung fand hier die

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1965 erschienene deutschsprachige Ausgabe Raum, Zeit und Archi­ tektur mit einem erweiterten Vorwort „Architektur um 1960“ von Giedion. 7

Der Bunker wurde 1943–1945 unter Einsatz von Zwangsarbeitern als Fernmeldebunker des zentralen Fernmelde- und Telegrafenamts in der Winterfeldstraße errichtet.

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Die 1777–1780 errichteten Königskolonnaden von Carl von Gontard wurden 1910 von der Königsstraße (jetzt Rathausstraße) am Alexanderplatz transloziert und auf die Eingangsachse des Kammergerichts ausgerichtet.

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Jürgen Sawade (1937–2015), studierte 1958–1966 an der TU Berlin bei Karl Wilhelm Ochs und Oswald Mathias Ungers; 1966–1969 Mitarbeit am Lehrstuhl von Ungers und im Büro von Georg Heinrichs und O. M. Ungers; ab 1970 eigenes Büro in Berlin.

10 Sawade wurde von seinem ehemaligen Chef Christian Müller (Architektengemeinschaft Christian Müller und Georg Heinrichs), nun Senatsbaudirektor, für das Projekt vorgeschlagen. Das erfahrene Büro von Dietmar Grötzebach und Günter Plessow wurde dem jungen Architekten für die Ausführungsplanung und Umsetzung zur Seite gestellt. 11 Die von Werner Hegemann 1930 unter dem einprägsamen Titel Das steinerne Berlin formulierte Kritik an der überbevölkerten, auf Basis von Bodenspekulation entstandenen Mietskasernenstadt des 19. Jahrhunderts setzte sich in ihren Grundzügen in den Nachkriegsjahren fort. 12 Wolfgang Schäche, Jürgen Sawade, Bauten und Projekte 1970–95, Berlin 1997, S. 37. Zum Kathreiner-Hochhaus siehe DBZ 11–12, 1930, S. 85–91; Sonja Günther, Bruno Paul 1874–1968, Berlin 1992, S. 140. Zum Fernmeldeamt siehe Deutsches Bauwesen 3, 1927, S. 169–176 und 5, 1929, S. 1f. 13 Jürgen Sawade, zitiert nach Schäche, Jürgen Sawade (Anm. 12), S. 37. 14 Christoph Bürkle, „Der Traum vom Wolkenbügel“, in: Ders., El Lissitzky. Der Traum vom Wolkenbügel, Zürich 1994, S. 31–60, hier S. 46. 15 Reynar Banham, Theory and Design in the First Machine Age, London 1960, S. 71. 16 Bürkle, „Der Traum vom Wolkenbügel“ (Anm. 14), S. 33–34. 17 Jaspar Cepl, Oswald Mathias Ungers. Eine intellektuelle Biografie, Köln 2007, S. 221f.

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18 1929–1931. Weitere beteiligte Architekten waren Bruno Ahrens und Wilhelm Bünding. 19 Werner Düttmann, Verliebt ins Bauen: Architekt für Berlin 1921– 1983, bearb. v. Haila Ochs, Basel, Berlin, Boston 1990. Zum Mehringplatz (1966–1975) siehe S. 190–201, 293; zum Wassertorplatz (1968– 1972) siehe S. 297. 20 Technische Universität Berlin, Lehrstuhl für Entwerfen VI, Professor O.M. Ungers (Hg.), Berlin 1995 – Planungsmodelle für eine Fünfmil­ lionenstadt, Berlin 1969. 21 Cepl, Oswald Mathias Ungers (Anm. 17), S. 198–252. 22 Ebd., S. 200–201. 23 Siehe Bauwelt 24.12.1982, S. 1957–1980; Frank Schmitz, „Jürgen Sawade – Überbauung Kurfürstendamm“, in: Carsten Krohn (Hg.), Das ungebaute Berlin, Berlin 2010, S. 194–196. 24 O.M. Ungers (Hg.), Gutachten Ruhwald, Heft 9, Berlin 1967. 25 Siehe Gutachten des Landesdenkmalamts Berlin vom 23.06.2016. 26 Ebd. 27 Vergleichbar gut gestaltete Grundrisse finden sich in Berlin in der unter Regie von Werner Düttmann geplanten Wohnbebauung am Halleschen Tor. Siehe Düttmann, Verliebt ins Bauen (Anm. 19), S. 190–201. 28 Siehe Tagesspiegel vom 17. August 2017, S. 1 und 3. 29 Seit 2018 ist die Wohnanlage unter der Objektnummer 09097841 in die Denkmalliste des Landes Berlin eingetragen.

3 Siedlung Zwicky Süd, Dübendorf

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Christina Horisberger

Ungewollte oder literarische Erinnerungen? Nicht immer sind die von den Architekturschaffenden intendierten Assoziationen, Referenzen und Metaphern deckungsgleich mit den Wahrnehmungen der Nutzerinnen und Nutzer. Sich auf literarische Weise den eigenen Assoziationen hinzugeben, kann Spannendes und Ungewolltes an die Oberfläche holen: ein Selbstversuch am Beispiel der Genossenschaftswohnsiedlung Zwicky Süd im Norden Zürichs. Der französische Soziologe Bruno Latour (*1947) spricht in seinem Essay Ein vorsichtiger Prometheus? (2008)1 von einer neuen Perspektive, die wir heute auf die Welt der Dinge haben. Nicht länger mehr sind Dinge „unabänderliche, neutrale Tatsachen“ (,matter of facts‘), sondern „uns angehende Sachen“ (,matter of concerns‘). Sämtliche Artefakte – seien dies Produkte, Architektur oder auch Kommunikationsdesign – sind demnach Dinge, die in irgendeiner Weise auf uns wirken und mit uns etwas machen. Während die Moderne von einer mathematischen Objektivität der Dingwelt ausging, sollte heute – so der Anspruch von Latour an alle Designdisziplinen – vor allem die Komplexität der Dinge in den Mittelpunkt gerückt werden. Diese Komplexität schließt sowohl die ,Materialität‘, aber auch die symbolische und metaphorische Bedeutung der Dinge mit ein. Im Sinne eines ,Sowohl ... als auch‘ sollen diese beiden Ebenen – diejenige von Faktizität und Funktionalität und jene der Herstellung von Bedeutung – nicht mehr voneinander unterschieden werden.2 Uns angehende Sachen Wenn wir dieses ,Sowohl ... als auch‘ in der Wahrnehmung, Betrachtung und Beschreibung von Architektur nicht mehr voneinander trennen, dann verschiebt sich der Fokus

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von einer reinen Beschreibung der Materialität, der Funktion, des Raumprogramms etc. auf das Aufdecken von Analogien und Metaphern, von Referenzen und assoziativen Momenten. Aus Sicht der Architekturschaffenden dienen Metaphern und Referenzen vor allem dazu, eine historische Verankerung oder kontextuelle Verortung des Bauwerkes mit seiner Geschichte und seinem Ort herzustellen. Dadurch kann das erreicht werden, was der deutsche Architekturtheoretiker Oswald Matthias Ungers in Morphologie City Metaphors (1982) folgendermaßen beschreibt: „Durch die Anwendung der Methode der Analogien sollte es möglich sein, neue Konzepte zu entwickeln und neue Konzepte zu erkennen.“3 ,Entwickeln‘ ist die eine; ,Erkennen‘ die andere Seite. Meine Aufgabe als Architekturkritikerin ist das ,Erkennen‘. So wie die Architektur mit Analogien und Metaphern so etwas wie eine „übergeordnete Idee, ein[en] allgemeine[n] Inhalt, ein[en] zusammenhängende[n] Gedanke[n] oder ein Gesamtkonzept, das alle Teile zusammenbindet“,4 im Entwurf entwickelt, ist es an mir, dies zu ,aufzudecken‘ und es zur Sprache zu bringen. Dies setzt allerdings – wie im Entwurf selbst – einen aktiven Denkprozess voraus, der ordnet und verallgemeinert, hierarchisiert, verbindet, verwirft und – diesem Aspekt möchte im folgendem mehr Raum geben – nicht selten Störendes und Inkohärentes oder das rein Subjektive auf Kosten der ,übergeordneten Idee‘ ausblendet.5 Ich bin allerdings davon überzeugt, dass erst dann die Dinge zu eigentlichen ,matter of concerns‘ werden, wenn ich das von mir ästhetisch Wahrgenommene mit meiner individuellen Erfahrung von Welt in einen Dialog treten lasse. Erst dadurch zeigt sich die Komplexität von Architektur in einem umfassenden Sinn. Sehr häufig aber wird das Subjektive aus der ordnenden Distanz auf der Suche nach einem Gesamtkonzept weggedrückt. Verloren geht dabei nicht nur die Komplexität, sondern auch eine literarisch-poetische Qualität, die Architektur immer haben kann. Es hat durchaus etwas sehr Lustvolles, sich von unwillkürlichen Assoziationen leiten zu lassen. Erinnern, wie es sich anfühlt Den spontanen oder unwillkürlichen Erinnerungen hat Marcel Proust den Namen ,mémoires involontaires‘ gegeben, und sie sind der eigentliche kreative Akt des literarischen Schreibens.6 In Prousts epischem Werk À La Recherche du Temps perdu wird mit den ,mémoires involontaires‘ zudem die konsequente Icherzählung gerechtfertigt. Sie hat in der Lite-

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ratur ihren festen Platz, aber in der Architektur beziehungsweise im Sprechen und Schreiben über Architektur wird sie viel zu oft in die Schranken verwiesen. Dafür gehören ,mémoires involontaires‘ meiner Meinung nach zu den Voraussetzungen für die sinnlich ästhetische Erfahrung von Welt und somit auch der Architektur. Erinnerungen, so der japanische Designer Kenya Hara in seinem Essay Entwerfen wie es sich anfühlt,7 sind zudem essenziell für die ästhetische Wahrnehmung der Dinge und für die Art und Weise, wie wir mit ihnen umgehen. Im Laufe unseres Lebens – so Hara – eignen wir uns eine Art ,Bildarchitektur‘ über die Dinge an, die von sinnlichen und synästhetischen Erfahrungen geprägt ist: „Die Konstruktion dieser Bildarchitektur beginnt im Gehirn mit dem Berühren und dem Erleben von Dingen und Ereignissen. Das heisst, die Bildarchitektur wird durch die verschiedensten äusseren Reize generiert. Aber die Materialien dieser Architektur sind nicht auf äussere akustische und visuelle Reize beschränkt. Unser Gehirn hat bereits eine grosse Menge Erinnerungen gespeichert. Dieser grosse Erinnerungsfundus reagiert seit unserer Kindheit auf die Welt. Und da sie von den äussern Reizen [u. a. durch Architektur] geweckt werden, fungieren diese Erinnerungen auch als Baumaterial für die Bildarchitektur.“8 Hara nennt dabei das Beispiel eines Kindes, das ein Handy in den Mund nimmt und diese Erfahrung abgespeichert hat. Diese Erfahrung kann auch beim reinen Betrachten – dem Empfangen visueller Reize – wieder aus der Erinnerung hervorgeholt werden: „Selbst eine rein visuelle Information kann eine ganze Fülle von Informationen wecken, die vom Geschmacks- und Tastsinn bereits abgespeichert wurden. Die Bildarchitektur im Gehirn wird aufgebaut, wenn entsprechende Erinnerungen aus dem umfangreichen Vorrat, den jeder von uns hat, ausgewählt und hervorgeholt werden.“9 Marcel Proust und Kenya Hara im Gepäck Mit Marcel Prousts

Konzept der ,mémoires involontaires‘ und Kenya Haras Erkenntnissen in Bezug auf die mentale Bildarchitektur im Gepäck sowie – ganz bewusst – ohne eine vertiefte Kenntnis der übergeordneten Entwurfsidee, wende ich mich nun der Wohnsiedlung Zwicky Süd der Genossenschaft Kraftwerk1 von Schneider Studer Primas Architekten zu. Als Grundlage dienten mir die Begehung und das fotografische Festhalten meiner Eindrücke sowie eine Auswahl von Fotografien des Züricher Fotografen Istvan Balogh, die er

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mir im Vorfeld der Besichtigung freundlicherweise zur Verfügung gestellt hatte. Bei dem folgenden Text handelt es sich um die deutsche Fassung meines auf Englisch gehaltenen Vortrags im Gemeinschaftsraum der Siedlung Zwicky Süd, den ich hier, ergänzt um unterdessen hinzugewonnene Erkenntnisse, auf Deutsch übertragen habe: Architektur ist niemals selbstrefenziell, sondern vermittelt als Bedeutungsträgerin auch einen kulturellen Wert. Doch wenn wir für die Architektur eine poetische Qualität gelten lassen, so gilt für sie nicht weniger als für die Literatur: Es gibt immer einen großen Interpretationsspielraum. Bedeutung kann zwar von der gebauten Architektur bzw. von den Entwerfenden mittels ihrer Werkzeuge oder architektonischen Mittel intendiert werden, aber ob dies von den Nutzenden auch so „gelesen“ wird, ist noch einmal eine ganz andere Sache. Zu fragen ist also: Was macht gute Literatur aus? In der Literatur – und so auch in der Architektur – sind es Analogien, Assoziationen und Metaphern, die der Leserschaft die Weltsicht der Autorin bzw. des Autors näherbringen. Dies gelingt dann am besten, wenn diese Analogien aus einer allgemeinen Lebensund Welterfahrung stammen, die auch den Adressierten bekannt ist. Lassen Sie mich ein konkretes Beispiel geben. In seinem Roman Der Spiegelkasten,10 beschreibt der Autor Christoph Poschenrieder ein Ereignis folgendermaßen: „Man war im Gespräch, eine Granate pfiff, man warf sich in Deckung, stand wieder auf (sofern man Glück gehabt hatte), klopfte den Staub aus der Uniform  ... wo waren wir gerade? Als hätte ein gewaltiger Radiergummi das soeben bekritzelte Blatt blankgerubbelt – und das passierte ständig.“ Niemand von uns hat diese Erfahrung auf dem Schlachtfeld des Ersten Weltkrieges an der deutsch-französischen Grenze gemacht. Doch wir alle wissen, wie es tönt und was am Ende übrig bleibt, wenn ein Radiergummi auf dem Blatt eine Zeichnung oder Geschriebenes ausradiert. Das Fremde wird hier mit etwas allgemein Vertrautem in eine vergleichende Beziehung gesetzt, die es mir ermöglicht, ein entsprechendes Bild bei mir als Leserin wachzurufen. Bilder zu erzeugen, um Bedeutung und Sinn herzustellen, ist auch Aufgabe der Architektur. Zum einen sind es Bilder, die uns zeigen, wie ein Gebäude genutzt werden soll und wie es verstanden werden will. Jeder von uns weiß, wie eine Treppe zu nutzen ist, und da Architektur sinnstiftend ist, wissen wir auch, dass eine

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Treppe immer irgendwo hinführt. Dies mag eine banale Feststellung sein, weil selbstverständlich. Es ist auch nicht diese Ebene, die uns hier interessiert. Vielmehr sind es Formen und Materialien, die über ihre reine Funktion auch eine Interpretation im Sinne von Deutung verlangen bzw. bereithalten. Was heißt dies in Bezug auf das Zwicky-Süd-Areal von Schneider Studer Primas? Nebst vielem Vertrautem gibt es hier einiges an Ungewohntem, Ungewöhnlichen. Die Rohheit und Archaik der Fassade und Balkone etwa. Um sie zu verstehen, um sie zu deuten, muss ich mein Erfahrungs- und Weltwissen aktivieren. Dabei stellen sich ,mémoires involontaires‘ im Sinne Prousts ein. Und auch die Bildarchitektur wie von Hara beschrieben, wird aktiviert, denn der sinnlich ästhetischen Erfahrung kann ich mich nicht entziehen. Was mich am Zwicky-Süd-Areal besonders faszinierte beziehungsweise zu interessieren begann, war nicht das Ensemble als Ganzes, sondern waren einzelne Elemente in Kombination mit anderen, die in mir sehr starke Bilder hervorgerufen haben. Bilder allerdings, bei denen ich mir in ihrer Gesamtheit – als ein zu lesender Text mit Bedeutung – nicht ganz sicher bin, ob diese deckungsgleich mit der Intention des Architektenateliers sind. Damit muss ich leben, müssen aber auch Schneider Studer Primas leben. Widmen wir uns also den einzelnen Elementen. Lassen Sie mich als Erstes die roten Balkone besprechen mit ihrem Maschendrahtzaun, ebenso wie die reelingartigen Geländer der Außentreppen, die in ähnlicher Weise wieder bei den Abgängen in die Tiefgarage auftauchen. Nun, als Kunst- und Architekturhistorikerin bin ich schon relativ viel gereist. Und obwohl ich mich vor vielen Jahren schon, nur zwei Stunden, im Parc de la Villette von Bernhard Tschumi in Paris aufgehalten habe, musste ich unwillkürlich an die roten Follies denken, die offensichtlich einen starken Eindruck bei mir hinterlassen haben. Rote Stahlstrukturen. Warum bringen wir die Farbe ,Rot‘ in Zusammenhang mit gebauten, vertikalen aber auch horizontalen Strukturen, die immer wieder an Spielplätze denken lassen, wie es sie beispielsweise in Kopenhagen gibt. Spiel und Spielen: in Kombination mit dem Maschendrahtzaun erinnern mich diese Strukturen im Zwicky aber auch an die eingezäunten Basketball- oder Ballspielplätze in Manhattans Hinterhöfen oder in französischen Banlieus; Erinnerungen, die bei mir – ich gebe es zu – auch von einem leisen Gefühl des Unbehagens begleitet sind; eine ,mémoires involontaires‘, die sich

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vielleicht so nicht einstellen würde, hätte ich Zwicky Süd nicht an einem regnerisch düsteren Tag besucht. Und dann ist hier noch die Betonfassade in ihrem rohbauartigen Zustand, ungeschönt, unverkleidet. Wiederum in Kombination mit den roten Balkonkonstruktionen: Sie lassen an Baukranen oder -gerüste denken, als wären die Bauarbeiter noch daran, den Rohbau in ein geschliffenes Juwel von Wohnsiedlung zu verwandeln. Baustellencharakter, unvollendet also, noch wandelbar – einnehmbar wie jenes Hochhaus des Torre de David in Caracas, das – nicht fertiggestellt – in seinem Rohbau von Bewohnerinnen und Bewohnern vereinnahmt wurde. Sie machten die unfertigen Etagen – Wildbienen gleich – zu ihrem Zuhause, in dem sie in Eigenleistung Innenräume mauerten und sich einrichteten. Ich kann einen gewissen Widerspruch zwischen dem qualitativ hochstehenden Innenausbau und der Wirkungsweise des Äußeren der Wohnsiedlung von Zwicky Süd nicht leugnen. Umrunden wir die einzelnen Gebäude. Das Unfertige auch hier im Zwiegespräch von gebündelten roten Balkonträgern und Kiesbelag: ein Kieswerk samt seinen Silos – der „Ursprung“ für die Herstellung von Beton – auch das ein ungeschöntes und starkes Bild. Wandern wir weiter auf die Westseite von Zwicky Süd. Eine ganz andere Haut, eine rostige Fassade. Es gibt ein Bild von Istvan Balogh, aus seiner, für den Swiss Foto Award nominierten Fotoserie, das bei untergehender Sonne aufgenommen wurde: Auf ihm erinnert die Fassade irgendwie auch an gestapelte Schiffscontainer im Hamburger Hafen oder sonst wo in der Welt. Umschlagplätze einer globalisierten Welt. Sie hat etwas Transitorisches und ist zugleich von massiver Wucht. Der Flughafen Zürich befindet sich ja auch ganz in der Nähe der Siedlung. Die Straßenbahn der Linie 12 verbindet das Zwicky-Areal direkt mit Kloten und dem Frachtterminal. Die Analogie zur Schiffsreeling hatten wir ja schon, da müssen wir nicht weiter verweilen. Ist das Gebäude mit seiner Cortenstahl-Verkleidung parallel in knappem Abstand zum Bahnviadukt hier vor Anker gegangen? Wandern wir zurück zur ruhigeren Seite von Zwicky Süd mit Ausrichtung auf den Fabrikkanal. Schüchtern fast räkeln sich erste Kletterpflanzen aus dem knappen Rasengrün, als würden sie es nicht glauben, so viel Spielraum zu bekommen in einer neuen Architektur, etwas, was sie sonst nur von Ruinen kennen oder vom MFO Park in Oerlikon, der ihnen als Spielgerüst überlassen wurde, oder von der High Lane in New York, wo die Natur (in wohlgeordneten Bahnen allerdings) die

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zurückeroberte Brache in Grün markiert. Zwicky Süd indes ist noch eine leere Leinwand aus Beton und Struktur, die dazu einlädt, von Farbe, Grün und Leben durchdrungen zu werden. Die Renderings deuten die Rückeroberung durch die Natur mithilfe der Kultur der Genossenschaft an. Ob das in der Weise gelingt, wie die Bildvision der Entwerfenden es will? Wir werden sehen. Aber bildstark ist Zwicky Süd in seiner Erscheinung, das muss man der Wohnsiedlung lassen. Vielleicht ist das leicht Unbehagliche, das ich nicht wegzudrücken vermag, Teil des Konzepts. Und schon bin ich wieder auf der Suche nach der ,übergeordneten Idee‘. Lassen wir es damit bewenden. Ich habe mir die Siedlung hier lediglich zu eigen gemacht im Sinne einer ,matter of concerns‘.

Anmerkungen 1

Unter: www.bruno-latour.fr/sites/default/files/downloads/112DESIGN-SLOTERDIJK-DE.pdf [28.6.2019].

2

„Auch wenn man [das] Design sehr bewundern konnte, wurde es stets nur als Bestandteil einer Alternative verstanden: nicht nur auf die Funktion zu achten, sondern auch auf das Design. Diese Dichotomie galt selbst dann noch, wenn das beste Design eines war, das sich nach guter modernistischer Mode (wie im ,Funktionalismus‘) der Funktion so weit wie möglich annäherte. ,Design‘ wurde stets in diesem Gleichgewicht von ,nicht nur .., sondern auch ...‘ verstanden. Es war, als gäbe es in Wirklichkeit zwei sehr unterschiedliche Weisen, einen Gegenstand zu erfassen: zum einen über seine innere, wesenhafte Materialität, zum anderen über seine äußeren, eher ästhetischen oder ,symbolischen‘ Eigenschaften“. Ebd., S. 356.

3

Oswald Matthias Ungers, „Entwerfen und Denken in Vorstellungen, Metaphern und Analogien, in: Ders., Morphologie City Meta­ phors, Köln 1982, zitiert in: www.wuelserbechtel.ch/FHNW_Stefan_ Wuelser_Didier_Balissat_BILDINHALTFORM.pdf, S. 47 [28.6.2019].

4 5

Ebd., S. 52. Oswald Matthias Ungers hat dieses prozesshafte Denken in Richtung eines Gesamtkonzeptes so beschrieben: „Die andere Richtung des Denkens sucht Erscheinungen und Erfahrungen, welche mehr beschreiben als nur die Summe von Teilen und verwendet so gut wie keine Aufmerksamkeit auf einzelne Elemente, die ohnedies beeinflusst und verändert werden durch die subjektive Anschauung und umfassende Vorstellungen.“ Ungers, „Entwerfen und Denken…“ (Anm. 3), S. 47.

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6

In seinem Epos À La Recherche du Temps Perdu (1927) wird für Marcel Proust die Rekonstruktion von Erinnerungsfragmenten zur Voraussetzung für die eigentliche schöpferische Arbeit, die mit dem Eintauchen eines Madeleines [eines Gebäckstücks] in den Tee beginnt.

7

Kenya Hara, „Entwerfen wie es sich anfühlt“, in: Renate Menzi (Hg.), Make up. Design der Oberfläche, Zürich 2010, S. 10–15.

8

Ebd., S. 12.

9

Ebd., S. 14.

10 Christoph Poschenrieder, Der Spiegelkasten, Zürich 2011.

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Florentine Sack

Pilotprojekt eines offenen Stadtquartiers Was ist ein offenes Stadtquartier und was macht Zwicky Süd zum Pilotprojekt? Zwicky Süd ist ein neues Stadtquartier in Stadtrandlage Zürich Nord-Ost und liegt zwischen Dübendorf und Wallisellen. Die Umgebung dieses Quartieres besteht aus Natur, Autobahnkreuz, Bahntrasse und einem Gewerbegebiet. Die Ausgangssituation ist zusammenhanglos, ohne urbanes Gewebe und bedeutet einen Nullstart für das Quartier. Ursprünglich war das riesige Zwicky-Areal eine Zwirnfabrik und ging über die Straßen hinweg. Das Quartier hat eine Mischnutzung aus Wohnen, Arbeiten, Gewerbe, Bildung und Kultur. Es wurde von Schneider Studer Primas Architekten aus Zürich entworfen und 2016 fertiggestellt. Der Gebäudekomplex wurde als drittes Genossenschaftsprojekt von Kraftwerk1 zusammen mit SwissLife und Pensimo als Träger realisiert. Die Bewohnerschaft bildet einen Querschnitt der Bevölkerung, in Einheiten von Eigentum bis zu Sozialwohnungen und alle haben in diesem Pilotprojekt lebenslanges Wohnrecht.1 Diese Zusammensetzung macht Zwicky Süd zu einem offenen Stadtquartier, das städtisches Leben mit all seinen Bestandteilen widerspiegelt, denn Architektur ist mehr als gebauter Raum, „sie beeinflusst unser Selbstverständnis und trägt zugleich in hohem Maße Verantwortung für die Entwicklung unserer Gesellschaft.“2 Es steht zu hoffen, dass dieses Pilotprojekt Strahlkraft zeigt und sich auch seine Umgebung entsprechend weiterentwickelt, damit so bald ein interaktives urbanes Gewebe entstehen kann, wie es Jane Jacobs in ihrem Buch Death and Life of Great American Cities forderte.3

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Ein offenes Stadtquartier sehe ich als Erweiterung meiner Betrachtungen zum ,open house‘ im urbanen Maßstab. Für mich bedeutet ,open house‘ „sein Haus für andere Menschen zu öffnen, Gastfreundschaft und Gemeinschaft zu üben. Der Begriff beschreibt darüber hinaus eine grundlegende Haltung, die den Menschen nicht getrennt von seiner Umwelt, sondern verbunden mit dieser begreift: ein ,offenes Haus‘ also, das nicht unabhängig ist von, sondern verbunden mit unserem Lebensraum, mit einer sich ständig wandelnden Natur und den unscheinbaren, aber wichtigen alltäglichen Dingen des Lebens.“4 Im Forschungsgebiet ,open house‘ untersuche ich Bezüge zwischen Mensch und Umwelt in der Architektur und ihren Einfluss auf unsere Lebensqualität. Mit einander ergänzenden Gestaltungskriterien mache ich diese greifbar und vergleiche so internationale Beispiele verschiedener Gebäudetypologien. Unter Anwendung mehrerer Gestaltungskriterien auf ein Gebäude zeige ich, dass wenn mehrere Bezüge zwischen Mensch und Umwelt in der Architektur geschaffen werden, dies erheblich zur Lebensqualität der Architektur beiträgt. Es wird dabei deutlich, dass solche Architektur sehr unterschiedlich aussieht und mit verschiedenen Budgets umsetzbar ist. So wie ich bisher nur einzelne Bauten beschrieben habe, möchte ich diesen Ansatz hier auf Zwicky Süd anwenden. Mit meinen Gestaltungskriterien möchte ich es so erleb- und vergleichbar machen. Meine Kriterien sind im Gegensatz zu Christopher Alexanders ,Pattern Language‘ nicht auf formale Muster fixiert und damit vielseitiger anwendbar.5 Am Anfang steht umfassend ,Architektur und Natur‘, gefolgt von ,Gegensätze‘, ,Wandel‘, ,Innen und Außen‘, ,Unvollkommenheit‘, ,Ambivalenz‘, ,Einfachheit‘, ,Wachstum‘, ,Durchlässigkeit‘, ,Leere‘ und geschlossen wird die Reihe von ,Authentizität‘ als Zusammenfassung aller vorherigen Kriterien. Architektur und Natur Der Gebäudekomplex von Zwicky Süd besteht aus drei Baukörpertypen: Scheiben, Blöcke und Hallen. Diese reagieren auf lokale Gegebenheiten wie Lärm durch Abschirmung, Licht und Sonne durch Ausrichtung und Verschattung, fehlenden urbanen Kontext durch ein dichtes urbanes Innenleben. Der Komplex erinnert, auch wenn er anders aussieht, durch Situation und Komposition etwas an Ralph Erskines Byker Wall in Newcastle.6 In den städtischen Raumkonfigurationen zwischen

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den Baukörpern gibt es in Zwicky Süd viel gemeinschaftlich nutzbaren Raum, der Lebensqualität schafft durch soziale Interaktionsmöglichkeiten wie Gemeinschaftsräume, Balkone, Terrassen, Dächer, Freiflächen, und Lichthöfe. Die drei Fassadentypen ,Beton‘, ,Stahl‘ und ,Rankgerüste‘ reagieren ebenso: Die Betonund Stahlfassaden sind roh belassen und zeigen mit der Zeit Witterungs- und Nutzungsspuren. Mit den bepflanzten Rankgerüsten vor den Laubengängen reagieren die Fassaden auf Bäume, Bäche und Wiesen der Umgebung. Sie verschatten, verbessern die Luftqualität und verschönern die Fassaden. Gleichzeitig locken sie Insekten und Vögel an und bringen auch hier Interaktion und Leben in den Komplex. Gegensätze Harte Architektur und zarte Natur kommen zusammen mit einer Gebäudetypologie aus Beton und Stahl, sowie einer zarten Bepflanzung der schlanken Rankgerüste und heben einander gegenseitig. Die industriell wirkende Architektur, teilweise mit Loftcharakter, wirkt wie eine Referenz an die ursprüngliche Zwicky-Zwirnfabrik und trifft auf die neue Nutzungsmischung aus Wohnen, Gewerbe, Produktion, Bildung und Kultur. Diese Vielfalt ist Grundlage des Quartiers und einer lebendigen Stadt. Der Rohbaucharakter der Architektur ist günstig, einzelne Elemente sind im Gegensatz dazu aufwendig wie Holzfenster und Türen, auch Innenausbau, wie beim Stadtquartier Kalkbreite in der Züricher Innenstadt,7 was insgesamt das Niveau hebt. Auch die Fliesenböden tragen dazu bei: von der Künstlerin Gabi Deutsch mit grafischem Muster gestaltet, ziehen sie sich durch die Erdgeschosse aller Gebäude und schaffen Identität. Aus den Gegensätzen von Gestaltungsdetails und Nutzungen entsteht Großzügigkeit und dies schafft Freiräume zur Entfaltung jedes und jeder Einzelnen. Wandel Wandel ist kennzeichnend für die Entwicklung des Zwicky-

Fabrik-Areals zum neuen gemischten Stadtquartier, und gleichzeitig Programm in Entwicklung und Gestaltung des Projektes. Flexible Statik und technischer Ausbau erlaubten Konkretisierung während der Planungs- und Ausbauphase, aber auch für die weitere Entwicklung im Laufe der Nutzung, zum Beispiel für die Vergrößerung und Verkleinerung von Räumen. Die rohe Architektur ist darauf angelegt, sich durch die Nutzung zu verändern (siehe auch Kategorie ,Unvollkommenheit‘). Die Freiflächen über

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der alle Gebäude vereinenden Tiefgarage sowie auf den Terrassen sind bis auf einen Spielplatz nicht möbliert und daher vielseitig nutzbar. Was bisher etwas karg wirkt, lässt das Potenzial erkennen, gelegentlich zum vitalen Zentrum des Quartiers zu werden, als Austragungsort gemeinsamer Aktivitäten, wie beim Tauschmarkt und jährlichen Sommerfest.8 Dabei steht zu hoffen, dass in diesem Quartier nachhaltig alle Parteien an einem Strick ziehen, sodass sein Potenzial sich voll entfalten kann und sich dieser Zustand dann hoffentlich dauerhaft erhalten lässt. Vier Jahre sind hierfür kaum Zeit genug, auch insofern, als erst jetzt ein Vollbezug erreicht ist (siehe auch ,Wachstum‘). Innen und Außen Das Äußere des Gebäudekomplexes reagiert auf die Umgebung aus Verkehrsstraßen mit langen Scheiben zum Schallschutz und Natur mit Bepflanzung. Die Architektur mit Industriecharakter spiegelt die Geschichte wie auch das umliegende Gewerbegebiet. Die bepflanzten Rankgerüste mit Sonnenschutz schmücken und schaffen ein angenehmes Mikroklima. Im Inneren des Komplexes bilden Scheiben, Blöcke und Hallen ein städtisches Gefüge. Der Maßstab der Gebäudezwischenräume schafft dabei Dichte, Gemeinschaftsflächen werden von der Bewohnerschaft mit Bepflanzung und Möblierung flexibel genutzt und schaffen ein lebendiges Bild. Die Möblierung des ZwiBack Hotels ist aufwendig, die Wohnungen, teilweise mit alten Möbeln bestückt, bilden einen angenehmen Kontrast zum industriellen Charakter von Balkonen und gegenüberliegenden Fassaden mit Laubengängen. Beides ergänzt und hebt einander (siehe auch ,Gegensätze‘). Unvollkommenheit Die rohe Architektur in Sichtbeton und rostendem Stahl wirkt zunächst unvollkommen. Der rostrote Anstrich der Rankgerüste erinnert an die Grundierungsfarbe Bleimenigge im Stahlbau und unterstützt den Industriecharakter der Anlage. Gleichzeitig bildet sie einen farblichen Kontrast zum Rohbeton und wirkt harmonisch mit den rostenden Stahlplatten einiger Fassaden, wie auch zu den überwiegenden Grüntönen der Bepflanzung. Der Rohbaucharakter der Anlage fordert auf zur Ergänzung durch die Bewohnerinnen und Bewohner. So ist jeder Innenausbau, wie auch die Bepflanzung der Rankgerüste, Möblierung der Balkone und flexible Nutzung der gemeinschaftlichen Bereiche, Programm zur

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Ergänzung und permanentem Wandel (siehe auch ,Wandel). In der Satzung der Genossenschaft ist die Instandhaltung verankert und wird gemeinschaftlich ausgeführt und überwacht (siehe auch ,Wachstum‘). Ambivalenz Ambivalent wirkt an Zwicky Süd der zunächst triste

Eindruck der langgezogenen Scheiben, wenn man von der großen Straße aus, von Zürich kommend, an den Komplex heranfährt. Wie kann ein Pionierprojekt neuer Stadtentwicklung sich so artikulieren und dabei fast an DDR-Plattenbauten erinnern? Beim Näherkommen in die innere Struktur der Anlage verliert der erste Eindruck an Gewicht, denn hier bilden Scheiben, Blöcke und Hallen urbane Dichte mit Höfen, Straßen und Terrassen. Aus dem augenscheinlichen Verzicht an Gestaltung ergeben sich für die Solidargemeinschaft der Nutzenden nachhaltige Möglichkeiten zur aktiven Teilhabe. Die sparsame Architektur ist Voraussetzung für räumliche Großzügigkeit, die allen gleichermaßen zugutekommt und auf Entwicklung angelegt ist (siehe auch ,Wachstum‘). Die Rostfassaden der Blöcke wirken im Sockelbereich, wo man ganz nah herankommt, unvollkommen, erst durch weiteres Altern wird ihre Oberfläche samtig tief. Ambivalenz bricht hier herkömmliche Sichtweisen auf und bezieht Betrachtende und Nutzende aktiv ein. So entstehen unmittelbare Begegnungen und Ansporn, sich in eine langfristige Entwicklung einzubringen. Einfachheit Die einfache, auf das Minimum reduzierte Bauweise

erlaubt eine Durchmischung des Quartiers von hochwertigem Eigentum bis zu Sozialwohnungen. Mit dieser Bauweise sind auch Gemeinschaftsnutzungen möglich geworden als Mehrquadratmeter, die sich so finanzieren ließen, und Großzügigkeit schaffen. Die Besserverdienenden zahlen ein Plus an Miete, wodurch jährlich eine stattliche Summe zusammenkommt. Damit werden gemeinschaftliche Anschaffungen getätigt, wie Möbel für Gemeinschafträume und Flächen und Pflanzen für Balkone und Terrassen. Hiervon profitieren alle, besonders die Bewohnerschaft der Sozialwohnungen. Diese Solidarität zeigt Wertschätzung und schafft Gemeinschaft über soziale Grenzen hinweg. Wachstum Die minimal gehaltene Ausstattung des dritten von

Kraftwerk1 entwickelten Gebäudekomplexes ist auf Zuwachs

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und Ergänzung ausgelegt. Sie fordert die Bewohnerinnen und Bewohner auf, sich gemeinschaftlich für die Schönheit der Anlage und ihre Instandhaltung zu engagieren. Die flexible Struktur der einzelnen Gebäudetypen erlaubt die Adaption an die Bedürfnisse der Nutzenden. So können nichttragende Wände entfernt oder ergänzt oder zusätzliche Räume angemietet werden für Eigenbedarf oder Gäste. Diese Gemeinschaft wächst mit Interaktion und lebenslangem Wohnrecht – wo gibt es so etwas sonst? „Für Kraftwerk1 bedeutet das, die in ihren Statuten verankerte gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen: Nachhaltige Stadtentwicklung heißt, kollektives Eigentum der Spekulation zu entziehen, langfristig günstige Mieten zu ermöglichen, Solidarmodelle zu leben und die Bewohnenden dazu einzuladen, Verantwortung für die eigene Lebensumwelt zu übernehmen und das Quartier mitzugestalten.“9 Durchlässigkeit Der Gebäudekomplex reagiert auf die Lärmanforderungen durch lange Scheiben an den Grundstücksaußengrenzen. Diese lassen Schneisen und Öffnungen in den Innenbereich frei, wodurch ein durchlässiges Bild entsteht. So ergeben sich vielfältige Blickbezüge innerhalb und zwischen den Scheiben, Blöcken und Hallen, sowie auch eine tatsächliche Vernetzung mit Durchwegung und Brücken. Diese sind als ursprünglich temporäre Brücken vergangener Baustellen recycled und verbinden große WG-Wohneinheiten, fast wie in Peter Cooks Plug-In City10 und dienen gleichzeitig als gemeinsame Balkone. Die Blöcke haben jeweils zwei Lichthöfe, teilweise auch mit Treppenanlage zur Erschließung. Hier gibt es vielfältige Blickbezüge, die zur Interaktion der Bewohnerschaft einladen. Alle Wohnungen in den Scheiben werden über Laubengänge erreicht und haben durchgehende Balkone, die teilweise mit Trennwänden versehen sind. Die Wohnungen sind durchlässig, in Hallen und Blöcken teilweise durchgesteckt und bei den individuell gestalteten Lofts in Eigentum auch mal mit zwei Ebenen. Die vielfältige Zuwegung zu den einzelnen Wohnungen über Laubengänge, Terrassen und öffentliche Räume ermöglicht nebenbei auch Kontaktmöglichkeiten und soziale Interaktion. Leere Die aktuell noch bestehende Leere auf den Balkonen und Laubengängen ist wie ein Aufruf zur aktiven Teilhabe an die Bewohnerinnen und Bewohner, sich über Eigeninteressen hinaus

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identitätsstiftend in die Gemeinschaft einzubringen. Das Fehlende birgt hier Potenzial und Aussicht auf Vervollkommnung. Leere Flächen und Gemeinschaftsräume bieten sich zur Nutzung und sozialer Interaktion an. Die Lichthöfe mit Kunst-am-Bau-Fliesenboden im Erdgeschoss bieten Veranstaltungs- und Ausstellungsflächen. Die darin liegenden kunstvoll verschobenen Treppenläufe geben Raum für Begegnung und Pflanzen. Durch diese Leerräume entsteht Großzügigkeit, die allen Nutzenden flexibel zugutekommt. Authentizität In seiner augenscheinlichen Unvollkommenheit ist

Zwicky Süd ein authentisches Beispiel solidargemeinschaftlicher Stadtentwicklung für einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung. Im Interesse der Gemeinschaft verzichten hier die Wohlhabenderen auf repräsentativen Charakter, und so können auch finanziell Schlechtergestellte mit an Bord genommen werden. Der Ausgangszustand der spartanischen Architektur fordert auf zu interaktiver Nutzung und Instandhaltung in Gemeinschaft und schafft Zusammenhalt durch Engagement in der Genossenschaft sowie durch das lebenslange Wohnrecht. Mit meinen Gestaltungskriterien habe ich Bezüge zwischen Mensch und Umwelt in der Architektur von Zwicky Süd aufgezeigt und wie diese zur Lebensqualität der Bewohnerinnen und Bewohner beitragen. Der wachsende Mangel an bezahlbarem Wohnraum in den Innenstädten führte zu diesem „Freilandversuch in Urbanität“,11 und für die Erstnutzenden ist es vorerst eine Herausforderung, mit der fehlenden Urbanität des näheren Umfeldes auszukommen. Auf lange Sicht steht zu hoffen, dass die Saat dieses Pilotprojektes aufgeht, es nachhaltig funktioniert und sich sein äußeres Gesicht noch verbessert. Die Verwirklichung der architektonischen Qualität ist hier abhängig davon, wie das Quartier von der Bewohnerschaft bespielt wird. Damit sind Betrieb und Instandhaltung genauso wichtig, wie die vielfältigen Potenziale der Infrastruktur. So fordert die karge Architektur, die die soziale Mischung dieses Quartiers erst ermöglichte, die Genossenschaft der Nutzenden heraus. Abhängig ist das Gelingen von der Koordination all dessen, was hier zur Vervollkommnung intendiert ist. Dazu probiert sich die Genossenschaft in der Organisationsform des Areals noch

Siedlung

aus.12 Architektur verkörpert die Lebensform unserer Gesellschaft und wenn sie, wie hier mit wenigen Mitteln auskommen muss, ist sie davon abhängig, dass die Bewohnerschaft so, wie bei der Quinta Monroy von Elemental das Fehlende eigenständig und mit Sorgfalt ergänzt.13 Auch hier zeigt sich, wie Architektinnen und Architekten versuchen, knapper werdende Ressourcen zu kompensieren und unter Einbeziehung der Nutzenden aus wenig mehr zu machen. Diese Entwicklung darf jedoch kein Vorwand sein für eine gesichtslose Massenarchitektur, in der das Lebensmodell unserer offenen Gesellschaft, wie von Karl Popper beschrieben, zum Kippen kommt, denn hier stehen die Interessen des Kollektivs nicht über denen des Einzelnen.14 Gelingt also die Koordination von Infrastruktur und Nutzerschaft, so dass die Architektur – wie beabsichtigt – ergänzt wird, kann Zwicky Süd zum Vorbild werden für die Weiterentwicklung des lokalen Umfeldes und für ähnliche Stadtentwicklungen in anderen Städten und Ländern. Diese werden überall auf die lokalen Gegebenheiten reagierend abweichend aussehen. Denn nur, wenn individuell und nachhaltig für einen Querschnitt der Bevölkerung und ein lebenswertes Umfeld in Gemeinschaft gesorgt wird, können wir alle bestehen.

Anmerkungen 1

Schneider Studer Primas Architekten GmbH, „Zwicky Süd – Zwicky Areal, Teilgebiet E, Dübendorf“, Broschüre 2018, sowie Führung vor Ort mit Ivo Hasler, Projektleiter und im Vorstand der Genossenschaft Kraftwerk1, 18.05.2019.

2

Florentine Sack, Das offene Haus – Für eine neue Architektur, Berlin 2006, S. 20.

3

Jane Jacobs fordert in Life and Death of Great American Cities – The Failure of Town Planning (1961) die Nutzungsmischung jedes Viertels in einer Stadt nach dem Vorbild alter, gewachsener italienischer Städte und gleichzeitig eine unterschiedliche Mischung aller Stadtviertel, damit sich die Menschen in der Stadt auch zwischen den Quartieren hin und her bewegen und jedes Viertel so lebendig und offen auch für Veränderung bleibt.

4

Florentine Sack, Open House 2 – Gestaltungskriterien für eine neue Architektur, Berlin 2016, S. 8.

5

Christopher Alexander, A Pattern Language, Oxford 1977: Die Analyse schlechter räumlicher Situationen führte Alexander zur

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Sammlung guter räumlicher Situationen, die er als formale Muster für das Entwerfen zur Verfügung stellt. 6

Ralf Erskines Byker Wall in Newcastle (1969–1981) ist ein Stadtquartier mit einer mäandernden Gebäudewand als Einfassung zum Schallschutz vor einer nie gebauten Autobahn. Innen ist der Komplex mit kleinteiligen Häuserzeilen gefüllt und terrassiert mit Gärten und Vogelhäusern. Diese hat Erskine in all seine Entwürfe integriert, um auf den Bezug des Menschen zur Natur zu verweisen, siehe Mats Egelius, Ralph Erskine, architect, Bygförlaget, Stockholm 1990, S. 148–160.

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Genossenschaft Kalkbreite (Hg.), Kalkbreite – ein neues Stück Stadt, Wohlen 2015: Hier wurde im Gegensatz zu Zwicky Süd kein Grund erworben, sondern in Erbpacht eine Wohnanlage auf einem innerstädtischen Trambahndepot errichtet, was sowohl für das Bauen, als auch für das Wohnen andere Voraussetzungen darstellt.

8

Lukas Staudinger, „Kraftwerk1/Zwicky Süd – Die Genossenschaft als Entwicklerin“, in Francesca Ferguson (Hg.), MakeCity – A Compen­ dium for Urban Alternatives, Berlin 2019, S. 74–75.

9 Ebd. 10 Zum Andocken, Verändern und Ergänzen von Bauteilen nach Bedarf siehe Peter Cook, Archigram, Plug-in City (1964), in: Ders., Architecture Workbook – Design through Motive, Hoboken/NJ 2016, S. 104. 11 Benjamin Muschg, „Freilandversuch in Urbanität“, in: Werk, Bauen + Wohnen – Preiswert Wohnen, Mehrwert der Knappheit 3, 2019, S. 12–19. 12 Ebd, S. 18. 13 Die Siedlung Quinta Monroy in Iquique wurde 2004 von Elemental als sozialer Wohnungsbau errichtet. Sie besteht aus einer architektonischen Infrastruktur mit „halben“ Häusern, die von den Nutzenden selbst ergänzt wurden, siehe Sack, Open House 2 (Anm. 4), S. 144–147. 14 Karl Popper zeigt in Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bern 1957, Band 1, auf, wie fragil die Balance unserer offenen Gesellschaft ist und wie z. B. „totalitäre Gerechtigkeit“, „Ästhetizismus“ und „Utopismus“ sie gefährden können, denn „der mit dem Altruismus vereinigte Individualismus ist die Grundlage unserer abendländischen Zivilisation“, S. 123, und der „Methode des Planens im großen Stil, als utopischer Sozialtechnik“ steht eine „Sozialtechnik der kleinen Schritte“ entgegen, S. 187.

4 Schulanlage Gymnasium Strandboden Biel / Bienne

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Sandi Paucic

Vier Pavillons im Park und eine helle Unterwelt Als Gewohnheits-Autofahrer nehme ich nur selten den Zug, wenn ich mich innerhalb der Deutsch-Schweiz bewege. So reise ich an einem sonnigen Julitag von Zürich mit dem eigenen Wagen nach Biel, um der Schulanlage des Strandboden-Gymnasiums einen Besuch abzustatten und mich in Ekphrasis zu versuchen. Auf der Fahrt über die Autobahn A1 durch das Schweizer Mittelland mache ich mir Gedanken über meine Eignung für den mir anvertrauten Auftrag. Ich bin zwar Kunsthistoriker, aber was Architektur betrifft, kaum mehr als ein Amateur, denn ich interessiere mich vor allem für Malerei. Von einem kurzen Blick in Wikipedia abgesehen, habe ich trotzdem darauf verzichtet, mich über das Gebäude und seinen Architekten Max Schlup zu informieren. Angelesenes Vorwissen vermag zwar den Zugang zum Objekt erleichtern, es schwächt aber gleichzeitig die Unvoreingenommenheit des eigenen Blicks. Ich glaube deshalb als langjähriger nebenamtlicher Lehrer für Kunstgeschichte an die Annäherung an ein Werk allein durch Beobachtung und Beschreibung. Dieser scheinbar einfache Ansatz ist sehr anspruchsvoll. Meinen jugendlichen Schülerinnen und Schülern etwa fällt es meist sehr schwer, ein Kunstobjekt in einer sinnvollen Reihenfolge von Sätzen zu erfassen und zu sprachlicher Bildhaftigkeit zu formen, ohne schon alles Mögliche Vorgewusste einzubringen. Ihnen verlange ich deshalb als Einstiegs-Übung zur Bildbeschreibung ab, das Gesehene möglichst so in Worte zu fassen, dass es selbst in der Vorstellung einer blinden Person als Bild erscheinen kann und alles, was nicht tatsächlich aus dem Bild herauslesbar sei, wegzulassen. Ich beabsichtige, um einen Ansatz aus Erwin Panofskys Methode anzuwenden, auch mich selbst beim Schlup-Schulhaus mit einer Art ,vor-ikonografischen Beschrei-

Schulanlage

bung‘ zu bescheiden und erst im Nachhinein zu recherchieren, falls es denn nötig sein sollte.1 Ich verlasse die verkehrsreiche Nationalstraße A1 lange vor Bern und zweige auf die beschaulichere Autobahn Richtung Biel ab, zu meiner Rechten die Hügel des Juras, die sich im Lauf der Fahrt allmählich zu einer Bergkette erheben. Die Geschwindigkeit drosselnd sinniere ich über mein persönliches Verhältnis zu Schulhausarchitekturen. Wie jeder andere Gebäudetyp beeinflusst auch ein Schulhaus die Befindlichkeit seiner Nutzenden durch seine räumlichen und funktionalen Qualitäten stark, insbesondere dann, wenn sie darin mehrere Schuljahre verbringen. Lernerfahrungen, Wissen, Freundschaften und Feindschaften und die Persönlichkeiten der Lehrerschaft amalgamieren allmählich mit der individuellen Raumwahrnehmung von Klassenzimmern, Korridoren, Turnhallen, Garderoben, Toilettenanlagen, Treppenhäusern und Pausenplätzen zu bildhaften Vorstellungen, die sich dem Gedächtnis einprägen. Als die Persönlichkeit mitbestimmende Erinnerungen aus der Schulzeit bleiben sie vielen Menschen ein Leben lang erhalten – im Guten wie im Schlechten. Vor meinem geistigen Auge lasse ich die Schulhäuser meiner Jugend Revue passieren. Am Anfang steht das kleine Dorfschulhaus aus dem 19. Jahrhundert in Sennhof bei Winterthur. Es umfasst nur gerade zwei Schulzimmer und eine Hauswartwohnung. Zu fünfzigst drückten wir in einem Raum die Schulbank, von der ersten bis zum dritten Primar im selben Schulzimmer zusammengepfercht, weil 1971 in der Hochkonjunktur Schulhäuser- und Lehrermangel zugleich herrschte. Trotz der empfundenen Enge und der Vereinzelung wegen meiner damals kaum vorhandenen Deutschkenntnisse verbinden sich mit dem Gebäude romantisch verbrämte Kindheitserinnerungen. Auch ein halbes Jahrhundert später halte ich ab und zu bei dem Schulhaus mit dem markanten Uhr-Türmchen auf dem Dach an, wenn ich anlässlich von Wochenendausflügen in jener Gegend vorbeikomme. Dann ziehe ich mich am Fenstersims des Hochparterres hoch und balanciere auf dem schmalen Absatz des Gebäudesockels, um einen Blick durch die Fenster in das sonntäglich leere Unterrichtszimmer werfen zu können. Der Raum sieht in seiner einfachen funktionalen Grundausstattung noch fast wie damals aus. Selbst die an den Wänden hängenden Kinderzeichnungen haben sich in ihrer Art nicht wesentlich verändert – die

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Erinnerung an die allerersten Tage meiner vielen Ausbildungsjahre wird für einen Moment wieder lebendig. Die nächste Schuletappe begann für mich im Folgejahr in Winterthur-Seen im eben fertig gestellten, damals hochmodernen Tägelmoos-Schulhaus. Es wurde erbaut in einem glücklichen Moment der Architekturgeschichte: Fußend auf den Grundsätzen moderner Architektur aber noch ohne den aus meiner Sicht oft verunklärenden postmodernen Einschlag. Ein Gebäude mit abstrakten Wandmalereien in den Sichtbeton-Laubengängen und leuchtend weiß verputzten Schulzimmertrakten mit dunklen Bandfenstern – die ganze Anlage in Angemessenheit, Schlichtheit und Funktionalität der Räume in sich ruhend. Es war noch die Hippiezeit und ich erinnere mich an langhaarige, Blue-Jeans und Schnur-Batik-T-shirts tragende Lehrerinnen und Lehrer im Tägelmoos und das sagenumwobene, von Zigarettenqualm vernebelte Lehrerzimmer. Dessen Schwelle durften wir, ebenso wie diejenige der Erdgeschosswohnung des Hauswarts Herr Zürcher während der ganzen Schulzeit nie überschreiten. Unser junger Lehrer, Herr Schmid, der einen roten ,deux chevaux‘ mit „Atomkraft Nein Danke!“-Aufklebern fuhr, war ,Dritte-Welt‘-Aktivist, wir waren seine allererste Klasse und, wie er noch Jahrzehnte später an Klassentreffen zu betonen pflegte, seine allerbeste. Er hat uns nicht nur den Schulstoff, sondern einiges von seiner Weltauffassung vermittelt und wir liebten ihn. Der Vorort Seen wurde in jenen Jahren allmählich vom Dörfchen zu einem Teil der sich ausdehnenden Stadt Winterthur. Gesichtslose Wohnblöcke und Hochhäuser sprossen in der Umgebung des Schulhauses der Reihe nach aus dem Boden und mein Schulweg führte bis zum Abschluss der Primarschule immer an Abenteuer verheißenden Baustellen vorbei, auf denen wir an den Wochenenden trotz Verbotsschildern herumlungerten. Nicht nur in der Umgebung, sondern auch bei mir zu Hause veränderte sich vieles: Im Lauf der fünf im Tägelmoos verbrachten Jahre wichen die unbeschwerten Kindertage unmerklich einer Besorgtheit und Schwermut. Die Welt erschien zusehends unübersichtlich und auf glückliche frühe Kinderjahre folgte familiäre Zerrüttung. Das Tägelmoos blieb in dieser Zeit der in modernistischem Weiß leuchtende Hort der Kontinuität und Geborgenheit. So verbrachte ich selbst die freien Nachmittage am liebsten spielend auf dem Pausenplatz. Im Wasser des kubischen

Schulanlage

Sichtbeton-Brunnens watete ich an Sommertagen und ließ selbstgebastelte Modellschiffe fahren. Kein späteres Schulhaus konnte mir als Adoleszentem eine vergleichbare Heimat bieten, schon gar nicht das Sekundarschulhaus Bühlwiesen, das ich als charakterlosen Zweckbau empfand. So richtig auf die Psyche drückte mir dann aber die Kantonsschule ,Im Lee‘. In ihrer massigen – an den Fuß des Winterthurer Goldenbergs – hingeklotzten Monumental-Architektur wirkt das langgezogene Gebäude auf mich noch heute wie der Speer’sche Entwurf für die Bildungsstätte der Reichshauptstadt Germania. Dazu tragen der bedrohlich hohe Bruchsteinsockelbau mit integrierter Turnhalle und Kantine und die vorgelagerte militärisch wirkende Sportanlage mit 400-Meter-Tartanbahn bei. Aber auch die altmodischen, in allen Fächern weiße Naturwissenschaftler-Kittel tragenden Lehrkräfte fanden in die Alpträume meiner Gymnasiumstage Eingang. Trotz Teenager-Freiheit inklusive erster Liebe und Vespa und trotz des legendären Schulkonzerts von Polo Hofers Schmetterband konnte ich mich mit dem Lee nie anfreunden. Der Wechsel nach Zürich an die Uni in den Karl-Moser-Bau mit dem hellen, weiten und von Tausend Stimmen widerhallenden Lichthof beendete die Mittelschul-Düsternis und verhieß neue Horizonte. Autobahnausfahrt Biel Ost! Mein bisheriger Bieler Vektor ist der direkteste Weg zum Kunsthaus Pasquart, wo ich regelmäßig Ausstellungen besuche. So folge ich auch jetzt, entgegen der Empfehlung des Navigationssystems, der mir vertrauten langgezogenen Ost-West-Straßenachse durch die Stadt. Ich habe diesmal einfach etwas weiter zu fahren, am Pasquart vorbei, in Richtung See. Ich schenke der städtischen Szenerie heute mehr Beachtung, um mein Architekturauge zu sensibilisieren für den Besuch des Strandboden-Gymnasiums. Natürlich kann mir das als Autofahrer nur bedingt gelingen: Der Blick ist auf die Straße fixiert und die Wahrnehmung der Szenerie links und rechts reduziert sich auf kurze und oberflächliche Eindrücke. Der Vorteil des Autofahrens ist allerdings, dass sich rasch das Gefühl des summarischen Gesamteindrucks einer Stadtlandschaft einstellen kann. Sieht man bereits von der Autobahn aus die industriellen Gebäudekomplexe der Uhrengiganten Rolex, Swatch und die ,Arena‘ von Tissot, stößt man beim Hineinfahren durch die östliche Vorstadt auf niedrige, oft bäuerlich geprägte Gebäude. Wären da nicht die etwas zu groß dimensionierten Tankstellen, Autoverkaufs-Garagen und ein

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in einem Ensemble von Bauernhäusern untergebrachter „Sexshop mit Einzelkabinen-Kino“, könnte man meinen, ein langgezogenes Straßendorf zu durchfahren. Doch dann passiert man vermehrt kleine Läden und zieht vorbei an reklamebeklebten Schaufenstern kleingewerblicher Dienstleistungsbetriebe. Die Gebäude werden allmählich größer und sind jetzt mehrstöckig. Es kündigt sich so etwas wie ein städtischer Kern an. Breitere Straßenachsen zweigen linker Hand von der Durchmesserlinie des nun vor mir auftauchenden Trolleybusses ab und rufen die Vorstellung einer ,Downtown‘ hervor. Doch die Verheißung von Großstadt erfüllt sich nicht und die Dichte der Bebauung nimmt schon wieder ab. Nachdem ich am Pasquart vorbei bin, gelange ich an das andere Ende der Stadt. Und nach der Unterquerung einer erhöhten Eisenbahntrasse und dem Passieren eines Kreisels taucht das Panorama des Bielersees vor mir auf. Allerdings dreht die Stadt ihrem See, der lieblos abgeschnitten erscheint durch die Bahnstrecke, offensichtlich den Rücken zu. Kein urbanes Zentrum ist hier zu erkennen und auch keine repräsentative Seepromenade. Biel löst sich, kurz bevor es an den See stößt, auf, in einen zufällig wirkenden Mix von unterschiedlichen Häuservolumina, noch mehr Tankstellen und Garagen sowie Grünanlagen. Im Grünen Heinrich hat Gottfried Keller auf die Schönheit von Schweizer Städten, die an Ausflüssen von Seen liegen, hingewiesen:2 Luzern, Zürich, Genf  … Biel erwähnte er nicht! Als schnöder Zürcher überlege ich einen Moment: Warum ist dieses Gewässer denn überhaupt nach der Stadt Biel benannt und trägt nicht den Namen eines anderen, dem See etwas respektvoller zugewandten Ortes: Lac de Le Landeron, Twanner See …? Mein Gedankengang wird unterbrochen durch den Anblick von vier beigen, pavillonartigen Kuben mit Metallfassaden, die locker gruppiert in weitläufiger, parkartiger Umgebung in der Nähe des Seeufers liegen: Das muss es sein, das Strandboden-Gymnasium – sein Name ist also kein Euphemismus, sondern beschreibt die Lage am See treffend! Mein Ziel ist eigentlich erreicht, doch im Quartier auf Parkplatzsuche herumkurvend verliere ich es nochmals aus den Augen. Schließlich stelle ich das Auto in einer Nebenstraße ab und laufe nun zu Fuß zwischen mehrstöckigen Wohnblöcken und Einfamilienhäusern hindurch. So verpasse ich es, über einen Hauptzugang zur Schulanlage zu gelangen und stoße – durch ein Seitengässchen kommend – auf die Rückfassade der eingeschossigen hohen Turnhalle.

Schulanlage

Eine Pappelallee entlang eines kanalisierten Flüsschens, das in rechtem Winkel in den See fließt, trennt die Turnhalle von den anderen drei Gebäuden. Der sich zum Ufer hin öffnende Park und die unverstellte Aussicht auf den See wirken erhaben – fast wie ein Landschaftsgemälde. Die vier Kuben mit Flachdach glänzen mit leicht grünlichem metallischem Einschlag im Sonnenlicht. Weitflächige, mit Kunststeinplatten besetzte Fußgängerräume und wellig modulierte Grünzonen evozieren die Vorstellung eines Universitäts-Campus – weit weg von der stereotypen Vorstellung von Schulhaus mit umzäunten Pausenplatz, wie sie mir völlig unbegründet auf der Hinreise vorgeschwebt hatte. Die orthogonale Anordnung der Gebäude zueinander fällt erst jetzt auf: Die Position der vier Häuser entspricht gleichsam den Enden der Längs- und Querbalken eines lateinischen Kreuzes, das aus den Kunststeinflächen der Verkehrszonen gebildet wird. Die eingeschossige Turnhalle ist an das untere, südliche Ende der Längsachse des Kreuzes gesetzt. Die anderen Baukörper, offensichtlich die Schulzimmertrakte, der östliche um einiges größer als die beiden westlichen seeseitigen, umfassen jeweils drei sichtbare Etagen-Ebenen. Allerdings wirkt ihr Erdgeschoss dank seiner durchgehenden, gegenüber der Fassade der Obergeschosse zurückgesetzten Glasfronten körperlos – nahezu wie die überdachte Weiterführung des offenen Parkgeländes. Die beiden oberen Geschosse erscheinen dadurch leicht und schwebend, auch wenn sie von solide dimensionierten, runden Piloti getragen werden. Die Gebäude sind Stahlskelette mit einer vorgehängten Fassade und umlaufenden Bandfenstern auf den oberen zwei Etagen. Die aus Metallelementen bestehende Fassade wirkt durch ihre fein profilierten und verschraubten Stahl-Lisenen streng, aber in sich ruhend: etwas Mies van der Rohe mit leicht postmodernem Einschlag. Dass ich keinerlei Patina an den Metallkonstruktionen und Schrauben erkennen kann, verunsichert mich bezüglich der Entstehungszeit der Anlage: Dass diese aus der Zeit um 1980 stammen soll, ist angesichts des Erhaltungszustands nicht nachvollziehbar, irgendwie zu neu sieht das alles aus! (Erst später sollte ich nachlesen, dass die Gebäude vor wenigen Jahren saniert wurden und insbesondere die heutige Fassade kaum noch etwas mit der Ursprünglichen zu tun haben soll. Das zumindest sagen die strengen Denkmalpflege-Verfechter: Es handle sich um eine unzulässige Vergröberung der ursprünglichen Außenhaut. Diesen Eingriff haben sie vor der Ausführung sogar gerichtlich bekämpft,

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allerdings ohne Erfolg. Das Gebäude, ein Juwel der ,Solothurner Schule‘ sei bei der Totalsanierung, während der es bis auf das Stahlgerippe rückgebaut wurde, so gut wie zerstört worden). Die Turnhalle (und ein in Holzbauweise erstelltes, mäßig passendes Ergänzungsgebäude der Schule) hinter mir lassend überquere ich einen breiten Steg und gelange über das Flüsschen an den Pappelbäumen vorbei zum Hauptteil der Anlage. Ich erblicke zu meiner Linken und Rechten schlitzartige Einschnitte mit Treppen, die unter das Bodenniveau führen. Den Zugang zu einer Tiefgarage erwartend, lese ich erstaunt auf einem Schild: „Aula“. Beim Weiterlaufen in Richtung des mittleren der drei Trakte stoße ich auf einen auf der Hauptachse der Anlage liegenden großen rechteckigen Lichtschacht, der bis mehrere Meter unter Niveau des Platzes reicht. Offensichtlich verbirgt sich also ein ganzes Nutzgeschoss unterhalb des Parks und nicht die in der Schweiz üblichen Zivilschutzanlagen. Die gedeckten Kommunikationswege lassen die Pavillons auf diese Weise zu einem einzigen, zusammenhängenden Schulhaus verschmelzen. Ich hatte meinen Besuch beim Rektorat angekündigt, denn ich hätte mich sonst nicht getraut, als Mittfünfziger unangemeldet in einem Schulhaus herumzulaufen. Mein Besuch wurde bewilligt mit der Bitte, mich bei Ankunft im Sekretariat anzumelden. Dieses zu finden ist eine kleine Herausforderung, denn die moderne Architektur hat nicht nur keine klare Schulhaustypologie hervorgebracht, sondern verzichtet in diesem Fall, wie so oft, auch auf die Hierarchisierung von Bauteilen nach ihrer Funktion: Kein Haupteingang ist erkennbar, keines der drei Gebäude durch irgendetwas als Hauptgebäude ausgezeichnet. Nichts deutet darauf, wo sich der Sitz des Rektorats und der Verwaltung befindet. (Erst im Nachhinein kam mir der Gedanke, dass die identische Ausformung der Gebäude wohl mittels Architektursprache die Zweisprachigkeit Biels repräsentiert: Das seeseitige Haus ist das Gymnase français das stadtseitige das Gymnasium Biel-Seeland, der mittlere Trakt und die Turnhalle werden von beiden Teilinstitutionen gemeinsam genutzt. Schon um die kulturelle Gleichwertigkeit der Schweizer Landesteile zu wahren, macht in diesem Fall die architektonische Gleichwertigkeit der sprachgetrennten Trakte Sinn, damit nicht eines wichtiger als das andere erscheine!) Jedenfalls finde ich erst nach einigem Trial-and-Error im östlichen Gebäude einen Empfang. Die Verwaltungsmitarbeiterin begrüßt mich freundlich auf Deutsch und

Schulanlage

macht mich darauf aufmerksam, dass ich bei meiner Recherche keine Fotos von Schülerinnen oder Schülern machen dürfe. Die Flächen der Erdgeschosse stehen – abgesehen von seitlichen Administrationsräumen und dem in Sichtbeton ausgeführten Mittelkern mit Liften, Toiletten und Putzräumen – der Schülerschaft als Aufenthaltsraum zur Verfügung. Sehr filigran ausgebildet sind die beiden vom Erdgeschoss aus nach oben und unten führenden Treppenhäuser seitlich des Gebäudekerns. Feine, mehrfach geführte Chromstahlrohre und schraubenbesetzte Stahlprofile in derselben beigen Farbe der Außenfassaden bestimmen das Treppengeländer. Ich steige, gegen den Strom der in die Pause eilenden Schülerschaft die Treppe hinauf, um ein Schulzimmer zu besichtigen. Die beiden Obergeschosse sind in der Beschreibung rasch abgehandelt, vielleicht auch deshalb, weil ich mich trotz vom Rektorat sanktionierter Begehung als Eindringling fühle und die Blicke der Jugendlichen auf mich ziehe. Um den über alle Stockwerke reichenden Betonkern herum erstreckt sich eine umlaufende Korridor- und Aufenthaltszone mit vielen Glasfronten und wenigen Wandflächen. An der heruntergehängten Decke sind Schweizer Bahnhofsuhren von Hans Hilfiker angebracht. Von der Korridorzone aus erschließen sich die gegen die Außenfassaden hin angeordneten Schulzimmer, Labors, Kopierräume und Lehrerzimmer. Die Unterrichtszimmer sind zweckmäßig minimal eingerichtet: Eine große vertikal verschiebbare Wandtafelvorrichtung, daneben asketisch weiße Waschbecken. Wie meistens bei der Besichtigung von architektonischen Objekten, irritiert mich das Auseinaderklaffen zwischen dem ideal gedachten Entwurf des Architekten und dessen Verunklärung durch die Interventionen der Nutzerschaft: Das Strandboden-Schulhaus ist vollgestellt mit roten Schließfächern, frivolen Garderobenständern, penetrant beschrifteten PET-Sammelbehältern und großflächigen Schülergemälden, die die Erschließungsflächen zieren. So hatte sich der Schöpfer der Anlage die Raumsituation wohl nicht vor seinem geistigen Auge vorgestellt! Der gelebte Alltag zerstört so manche Architektenvision, wie mir in diesem Moment wieder einmal bewusst wird: Der Widerspruch zwischen Vorstellung und Wirklichkeit ist meist schon in den Visualisierungen in der Planungsphase angelegt. Manche Bau-Darstellungen machen nicht nur sichtbar, was da gebaut werden soll, sondern geben geradezu das implizite Versprechen, die Gesellschaft mittels Architektur zu

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verbessern. Vielleicht blitzt da der alte ,uomo universale‘ in jedem Baumeister auf und offenbart ein Selbstverständnis von Architektur als ,höchstem Handwerk‘, das seine Aufgabe weit umfassender versteht, denn als simple Befriedigung der primären baulichen Bedürfnisse des Menschen. In den utopischen Visualisierungen geplanter Architekturen fällt dem Mensch oft kaum mehr als die Funktion von Maßstabsfiguren zu: Als Komparse bevölkert er eine scheinbar sinnerfüllte, offensichtlich ökonomisch prosperierende, ästhetisch vollkommene, gebaute Fantasiewelt, die zu all dem auch noch mit der sie umgebenden Natur in Einklang steht. Die Wirklichkeit von Architektur und Gesellschaft bleibt weitgehend ausgeklammert: Nie erkennt man in den Visualisierungen Altersspuren an den Fassaden oder schmutzige Fensterfronten mit von Vogelkot bedeckten Gesimsen und mit jahrealten Staubschichten bedeckte, schlecht zugängliche aber gut sichtbare Baudetails. Ebenso wenig sieht man auf solchen Bildern geschmacklose Möbel und Nippes, wie sie dem zweifelhaften Geschmack mancher Mieterschaft entsprechen. Und in der irrealen Welt der Architekturentwürfe existieren kein Abfall, keine Graffitis an den Wänden und es leben dort keine Obdachlosen und Bettler. Zum eigentlichen räumlichen Erlebnis wird mir der Abstieg in die dank des Lichtschachts überraschend helle Unterwelt des Strandboden-Schulhauses. Die unterirdischen Verbindungsachsen zwischen den drei Gebäuden wirken mit ihren Holzböden nahezu wohnlich und Welten entfernt von der befürchteten klaustrophobischen Fußgängerunterführungsenge. In der riesigen, mit viel Holz ausgestatten Aula, die dank ihrer gestuften Bestuhlung wie ein Hochschul-Vorlesungssaal wirkt, läuft gerade eine Schülerdiskussion zur Klimaerwärmung. Die Mensa ist auch auf der unterirdischen Ebene untergebracht. Für die Besichtigung der Sportfelder, die sich im Park hinter den drei Pavillons befinden, reicht die Zeit ebenso wenig wie für die Begehung des Turnhallengebäudes, denn die Zeit auf meiner Parkuhr muss schon abgelaufen sein. Zum Glück finde ich den Wagen rasch wieder im Gewirr der mir fremden Vorstadt Biels. Beim Anlassen des Automotors denke ich mir, von der Architektur Schlups sehr angetan, dass ich als Gymnasiast so viel lieber ins ,Strandboden‘ zur Schule gegangen wäre als in mein verstaubtes Lee.

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Anmerkungen 1

Erwin Panofsky, Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie, Leipzig, Berlin 1924.

2

Gottfried Keller, Der grüne Heinrich, Erste Fassung, in: Thomas Böning, Gerhard Kaiser (Hg.), Sämtliche Werke in sieben Bänden, Band 2, Frankfurt a. M. 1985.

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Dieter Schnell

Außen Agora, innen Forum Methodischer Ansatz Eine Architekturbeschreibung ist selten Selbstzweck. Vielmehr verfolgt sie in der Regel die Absicht, die am Schluss vorgeschlagene Interpretation des Werkes als schlüssig erscheinen zu lassen. Dabei wählt der Autor bzw. die Autorin scheinbar wertneutral aus den unzähligen Eigenschaften des Werkes diejenigen aus, die seine bzw. ihre These stützen und den Fortgang der Beobachtungen und Erkenntnisse dabei logisch, zwingend und alternativlos erscheinen lassen. Unter diesen Prämissen ist eine Beschreibung dann gelungen, wenn die Leserschaft diese Verführung mitmacht und am Ende überzeugt ist, das Werk nun mit anderen Augen zu sehen und dabei noch besser zu verstehen als vorher. Die vorliegende Beschreibung bekennt sich zu dieser Absicht. In Anlehnung an Gadamers Wahrheit und Methode1 gehe ich davon aus, dass sich ,Verstehen‘ in einer Konfrontation unserer Vorkenntnisse, bei Gadamer „Vorurteile“ genannt, mit dem Neuen ereignet. Das Neue bestätigt entweder unser Vorwissen, womit es seine Neuheit verliert und ganz selbstverständlich in unser bereits vorhandenes ,Verstehen‘ eingeordnet werden kann, oder es bringt unser Vorwissen und unsere Vorurteile ins Wanken, setzt sie in eine Krise und erzwingt damit die Suche nach neuen, widerspruchsfreien Erklärungen. Damit setzt eine Erweiterung unseres Verstehens ein, unsere Vorurteile passen sich an die neuen Erkenntnisse an und warten dann auf weitere Bestätigungen oder Erschütterungen. Wer also Neues verstehen will, muss nicht nur das Neue, sondern gleichzeitig auch sich selbst genau beobachten und festzustellen suchen, wann die eigenen Vorurteile in Krise geraten. Hier

Schulanlage

setzt dann die Arbeit des Verstehens an, gilt es doch zu fragen, was die Vorurteile denn anderes erwartet hätten, was genau ihre Erwartung durchkreuzt hat und was die Andersartigkeit ausmacht. Der nächste Schritt besteht dann darin, eine Herleitung und Erklärung für die unerwartete Lösung zu suchen, diese nach ihrem Sinn und Zweck zu befragen, um sich die Neuartigkeit anzueignen und damit zu ,Bekanntem‘ zu machen. Beschreibung Das Gymnasium Strandboden liegt mit seinen vier Kuben in einem flachen, den Bielersee angrenzenden Park. Die drei nördlich vom Kanal der Schüss stehenden Körper sind alle dreistöckig, wobei das Erdgeschoss zurückversetzt und die beiden auskragenden Obergeschosse rundum identisch sind. Sie zeigen alle dieselben Metallstützen, Metallplatten und Fenster. Alle Gebäudekörper sind gleich breit, zwei sind quadratisch, der dritte längsrechteckig. Trotz kürzlich erfolgter, leider wenig feinfühlig durchgeführter Gesamtsanierung und energetischer Ertüchtigung wird schnell klar, dass sich die Ausformulierung der Eisen-Glas-Kuben sehr genau an die Gepflogenheiten der sogenannten Solothurner Schule hält: Präzision bis ins Detail, Reduktion, Gleichmaß und industrielle Serie in jedem Element. Die Fenster betonen selbst in den Eckachsen ihre serielle Gleichheit. Sogar die Metallplatten unter, zwischen und über den beiden Fensterreihen der zwei Obergeschosse haben genau dieselben Proportionen, womit bei den mittleren Platten eine Interpretation als Sturz des darunterliegenden oder als Brüstung des darüberliegenden nicht mehr sinnvoll ist. Einziger Knackpunkt bei der Verteilung der einzelnen Baukörper auf dem Gelände ist der Kanal der Schüss, der die für das Gymnasium vorgesehene Fläche schnurgerade durchschneidet und damit zweiteilt. Wer sich rund um die Anlage bewegt, sieht auf den ersten Blick nur die drei Baukörper nördlich der Schüss, die von außen betrachtet sehr selbstbewusst nebeneinander stehen. Die südlich der Schüss liegende Turnhalle zählt man wegen des trennenden Kanals und wegen ihrer geringeren Höhe vorerst nicht zur Baugruppe. Aber auch die drei nördlichen Bauten scheinen in einer sehr losen Beziehung vereint, gleichberechtigt nebeneinander zu stehen. Wie leicht gelangweilte Elefanten in einem Zoogehege strahlen sie Ruhe und in ihrer Position eine gewisse Zufälligkeit aus.

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Bewegt man sich entlang der Schüss, kommt man zu dem Punkt, wo sich die Achse der zur Turnhalle führenden Brücke mit dem Weg entlang des Kanals schneidet und augenblicklich merkt der bzw. die Betrachtende, dass es mit der Zufälligkeit der Gebäudepositionen ein Ende hat: Der Freiraum wirkt auf einen Schlag streng geordnet, die drei Gymnasiumsbauten im Norden, die Brücke und die Turnhalle im Süden erscheinen nun in einem genau berechneten Verhältnis überaus präzise gesetzt. Der Freiraum zwischen den drei Gebäuden, eben gerade noch die neutrale Folie, auf der sich die Bauten als Solitäre behauptet haben, wird zum geometrisch exakt definierten Platz, zum Forum: Wie ein Vexierbild, bei dem wir die zwei sich annähernden Gesichter im Profil plötzlich nicht mehr sehen, weil der Zwischenraum zu einer Vase geworden ist, wechselt der zuvor als ,Grund‘ verstandene Umraum zur ,Raumfigur‘, die nun ihrerseits die sie umstehenden Baukörper in ihre Dienste einspannt und zu Platzwänden degradiert. Erst jetzt kann man sehen, dass auf dem zentralen Platz ein genau in der Symmetrie liegender, abgesenkter, mit einem Geländer umstandener Hof eingebaut ist. Ans Geländer tretend lassen sich verglaste Hofwände und dahinter im Untergrund zusätzliche Schulzimmer, großzügige Pausenräume sowie die Aula entdecken. Ein Blick auf den Grundriss dieses Untergeschosses offenbart eine weiträumige Unterwelt, die jeweils im Norden der drei Baukörper natürliches Licht durch große Lichthöfe erhält. Während die anfängliche Betrachtung der einzelnen Baukörper das bestätigt haben, was man von Gebäuden der Solothurner Schule erwartet, führt die plötzlich wechselnde Raumwahrnehmung, dieses Springen vom ,Grund‘ in die ,Figur‘ eines gefassten Freiraums, aber auch die Entdeckung einer weiträumigen ,Unterwelt‘ zu oben erwähnter Vorurteilskrise. Analyse der Krise Wer weitere Anlagen der Solothurner Schule

kennt, erwartet von einer Gebäudegruppe, dass sich die einzelnen Eisen-Glas-Kuben sehr selbstbewusst in einem streng orthogonal geordneten Raum behaupten.2 Sie stehen wie bei der Kantonsschule Baden, 1960–1964 von Fritz Haller entworfen und gebaut, in einer grundsätzlich endlos erweiterbaren Serie, oder sie bilden wie bei der Kirche Meggen, 1964–1966 von Franz Füeg realisiert, eine spannungsreiche Gruppe unterschiedlich großer, dessen ungeachtet aber weitgehend unabhängiger Solitäre. Den Raum denkt

Schulanlage

man sich als homogen und damit ohne Bedeutungshierarchien, meist auch ohne ausgezeichneten Mittelpunkt. Der Freiraum ist entweder der Umraum der Baukörper oder entsteht wie eine Zahnlücke durch das Weglassen eines einzelnen Körpers in einer Reihe. Er ist weitgehend als neutraler ,Grund‘ aufgefasst, über dem sich die Körper als ,Figuren‘ erheben. Unter den Gebäudekörpern kann man sich allenfalls Keller oder eingesenkte Hallen für eine Aula oder für Sport vorstellen, kaum aber eine komplexe Unterwelt, die die aufgehenden Solitäre unterirdisch miteinander verbindet. Worin besteht in Biel die Abweichung von diesem üblichen Muster? Der mittlere der drei nördlich der Schüss situierten Baukörper steht nicht in der Flucht der beiden anderen, sondern ist gegen Norden aus der Reihe geschoben. Er steht zudem genau in der Symmetrieachse der Turnhalle und der Brücke. Die Verschiebung findet also auf dieser Symmetrieachse statt, womit sie sich als ein Ausweichen begreifen lässt, ein Ausweichen vor der Kraft dieser Symmetrieachse und des auf ihr aufgespannten Freiraums. Dieser Freiraum erweist sich hiermit als dominanter als der Baukörper. Indem der Freiraum eine Mitte erhält, die zugleich das Zentrum der Gesamtanlage ist, verliert er seine Homogenität. Unter diesem zentralen Freiraum befindet sich eine umfangreiche, alle drei Solitärbauten verbindende ,Unterwelt‘. Der zentrale Leerraum verschiebt also nicht bloß einen der drei Körper nach Norden, sondern zwingt einen wesentlichen Teil der Schulräume unter sich in den Boden. Erklärungsansätze Das Wettbewerbsprojekt von 1968 verteilt das

Raumprogramm überirdisch auf weit mehr Baukörper, als später das ausgeführte.3 In der Anordnung der zahlreichen Solitäre gibt es keinerlei Abweichung von dem, was man von einem Projekt der Solothurner Schule erwartet. Max Schlup muss die außergewöhnliche Lösung im Lauf der langen Überarbeitungszeit zwischen dem Wettbewerbssieg 1968 und der Bauausführung 1975–1980 entwickelt haben. Leider hat uns der wortkarge Architekt nichts über seine Überlegungen bei der Projektüberarbeitung hinterlassen, wir kennen weder seine Absichten noch seine Vorbilder. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg setzte in der westlichen Architekturtheorie eine intensive Diskussion über städtische Zentren, ,the core of the city‘ genannt, ein.4 Während in den 1950er und 1960er Jahren die freie Anordnung von Baukörpern auf einer

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sehr großzügig bemessenen Freifläche als die der modernen Architektur am besten entsprechende Lösung favorisiert worden ist, kamen in den 1970er Jahren Konzepte auf, die man als gegenteilig verstand. So lesen wir in A Pattern Language Folgendes über die Gestaltung des Außenraums: „Es gibt zwei grundsätzlich verschiedene Arten von Außenraum: negativer Raum und positiver Raum. Außenraum ist negativ, wenn er ohne Form ist, der bloße Rest, der übrigbleibt, nachdem Gebäude – die im Allgemeinen als positiv angesehen werden – auf dem Gelände platziert sind. Ein Außenraum ist positiv, wenn er eine deutliche und bestimmte Form hat, so bestimmt wie die Form eines Raums, und wenn seine Form ebenso bedeutsam ist wie die Formen der umgebenden Gebäude. Die beiden Arten von Raum haben völlig verschiedene Grundrissgeometrien, die am besten durch die Umkehrung der Figur-GrundBeziehung zu unterscheiden sind.“5 In ihrem Buch Collage City widmen Colin Rowe und Fred Koetter dem in der Gestaltpsychologie zentralen Figur-Grund-Phänomen ein ganzes Kapitel, das sie mit „Die Krise des Objektes“ überschreiben.6 Darin zeigen sie auf, dass die moderne Architektur das Gebäude stets als Figur aufgefasst habe, was in den Städten zu völlig unbefriedigenden Freiräumen geführte habe. Sie plädieren deshalb dafür, vermehrt wieder wie im traditionellen Städtebau den Freiraum als Figur und die Gebäude als Grund zu verstehen. Beide in den USA geschriebenen Bücher sind wenige Jahre nach Schlups Projektüberarbeitung herausgekommen. Sie können seinen Entwurf also nicht beeinflusst haben. Sie belegen aber, dass seine Überlegungen damals durchaus aktuell gewesen sind und vermutlich mit dem neu erwachten Interesse an der historischen Stadt in engem Zusammenhang stehend zu interpretieren sind. Interpretation Im Zentrum des Bieler Gymnasiums steht nicht ein Gebäude, sondern ein offener, geometrisch gefasster Freiraum, ein Forum. Unter diesem Forum befindet sich die Aula. Wie bei vielen Schul- und Hochschulanlagen steht also auch hier die Aula und damit die Versammlung aller Lehrenden und Lernenden in der Mitte der Gesamtanlage. Die Schule wird damit als ein Lernort charakterisiert, der seinen Höhepunkt in der Zusammenkunft aller erfährt. Allerdings ist die Aula trotz ihrer Lage nicht das Herzstück der Schule, sondern liegt, einigermaßen versteckt, genau darunter. Sie ist also ins Fundament herabgestuft und muss dem offenen

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Forum, dem spontanen Begegnen der Schülerschaft mit den Lehrkräften und der Bieler Bevölkerung den Vorrang lassen. Der eigentliche Zweck der Schule liegt also außerhalb ihrer vier Wände, aber sie bildet das Fundament auf dem sich der Freiraum des Lebens ereignen kann. Kommentierte Auswahlbibliografie

Sigfried Giedion, „Die Humanisierung der Stadt“, in: Werk 11, 1952, S. 345–352. Giedion hat Textteile angereichert und erweitert und in seinem Büchlein Architektur und Gemeinschaft wiederverwendet. Siegfried Giedion: „Über die Humanisierung der Stadt“ in: Siegfried Giedion, Architektur und Gemeinschaft, Hamburg 1956, S. 72–83. Giedion stellt in seinem Text die griechische Agora und das römische Forum als Vorläufer des aktuellen Problems des ,core of the city‘ vor. Ihm zufolge sind die beiden mehr oder weniger identisch, wobei er nach alter Tradition die griechischen Lösungen über die römischen stellt. Seine Ausführungen sind wie stets bei ihm primär auf die Gegenwart fokussiert. Die Geschichte wird als ,Vorgeschichte‘, Veränderungen ausschließlich als Entwicklung hin zur Gegenwart verstanden. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960. Das berühmteste Werk des Philosophen schickt sich an, die Hermeneutik (Theorie der Interpretation von Werken der Kunst, Literatur etc.) als umfassende Theorie des Verstehens überhaupt zu beschreiben. Es will das menschliche Verstehen über das rein wissenschaftliche Arbeiten mit Kausalität und Logik hinausheben. Fritz Haller, die totale stadt. ein globales modell, Olten 1975. Das Baumdiagramm der mathematischen Mengenlehre bis an die Schmerzgrenze ausreizend, entwickelt Fritz Haller ein auf fünf hierarchischen Ordnungen basierendes Stadtmodell für den gesamten Globus. Jede Ordnung ist grundsätzlich genau gleich aufgebaut. Das Buch zeigt überdeutlich ein technoides Denken, das alle Probleme auf möglichst wenige Parameter zurückzuführen sucht, um schlanke und damit elegante Lösungen anbieten zu können. Dabei kennt die Vision weder Respekt vor dem Beste-

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henden und Tradierten noch vor dem Mitspracherecht der Bürgerinnen und Bürger. Den intellektuellen Kern bildet wohl die damals weit verbreitete, populärwissenschaftliche Theorie, wonach das Atommodell mit Kern und umkreisenden Elektronen im Kleinen dem Sonnensystemen mit einer Sonne, Planeten und Monden im Großen entspräche und also die Welt auf immer gleichen, ganz einfachen Baugesetzen beruhe. Christopher Alexander, Sara Ishikawa, Murray Silverstein u. a., A Pattern Language. Towns, Buildings Construction, New York 1977. Deutsch: Eine Muster-Sprache. Städte Gebäude Konstruktion, Wien 1995, 2. verbesserte Auflage, Wien 2011. Das Buch ist ein gigantisches Nachschlagewerk für die unterschiedlichsten ganz konkreten Fragen des Städtebaus, der Architektur und der Konstruktion von Architektur. Dabei vermischt es altbewährtes Grundwissen mit sehr zeitbedingten Aussagen der Nach-1968er-Jahre, was dem Werk eine ganz eigene Färbung verleiht. Die Absicht, tiefsitzende ,Wahrheiten‘ der ,Moderne‘ erschüttern zu wollen, macht den Charme des Buches aus. Colin Rowe, Fred Koetter, Collage City (1978), Basel, Boston, Stuttgart 1984. Im Kapitel „Krise des Objektes. Der unerfreuliche Zustand der Textur“ vergleichen die beiden Autoren die räumliche Konzeption der Stadtmitte von Le Corbusiers Wiederaufbauprojekt für Saint Dié mit dem von Gebäuden umstellten Marktplatz der englischen New Town ,Harlow‘ (ab S. 83). Am Ende des Kapitels stellen die beiden Autoren die Akropolis von Athen als typische Agora in Kontrast zum römischen Forum, das sie am Beispiel der Kaiserforen von Rom aufzeigen (S. 120–121). Dabei ist eine Agora für sie ein locker mit Solitärbauten bebautes Gebiet, das viel öffentlichen Raum zwischen den Solitären frei lässt, wohingegen ein Forum ein geometrisch präzise gefasster Freiraum ist, an den sich die öffentlichen Bauten anzuschmiegen, formal aber unterzuordnen haben, damit sich die Geometrie des Freiraums durchsetzen kann.

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Anmerkungen 1 2

Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960. Siehe hierzu Fritz Haller, die totale stadt. ein globales modell, Olten 1975.

3

Das Wettbewerbsergebnis für das Bieler Gymnasium wurde publiziert in: „Neues Gymnasium Biel“, in: bauen + wohnen 5, 1968.

4

Als Beispiele seien hier nur zwei Arbeiten von Giedion erwähnt: Sigfried Giedion, „Die Humanisierung der Stadt“, in: Werk 11, 1952, S. 345–352; ders., Architektur und Gemeinschaft, Hamburg 1956.

5

Christopher Alexander, Sara Ishikawa, Murray Silverstein u. a., A Pattern Language. Towns, Buildings Construction, New York 1977. Deutsch: Eine Muster-Sprache. Städte Gebäude Konstruktion, Wien 1995, vorliegend in der 2. verbesserten Auflage, Wien 2011, S. 559 (106 positiver Außenraum).

6

Colin Rowe, Fred Koetter, Collage City (1978), Basel, Boston, Stuttgart 1984, S. 73–121.

5 Universitätsgebäude Domain House, Hobart

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Ingo Farin

(K)eine Universität Es gehört zu den Grundsätzen der Hermeneutik, dass es keine voraussetzungslose Beschreibung oder Interpretation gibt.1 Darum bekenne ich der Fairness halber von vornherein meine eigene Voreingenommenheit für die Hermeneutik und Phänomenologie. Im Einklang mit der Philosophie der Hermeneutik stütze ich mich bei der folgenden Beschreibung des Domain House auf mein eigenes persönliches Erleben. Auch wenn die erste Person Singular nicht immer die Satzstruktur vorgibt, ist sie unabweisbar und mit großer Selbstverständlichkeit präsent. Das heißt nicht, dass ich in bloße Meinungsäußerungen oder in Relativismus abgleite, denn im Grunde gibt es immer einen Gegenstand, der in verschiedenen und durch verschiedene Perspektiven, Nuancierungen, Herangehensweisen und Deutungen in Erscheinung tritt. Somit muss jede sachgerechte Interpretation für das, was wir aus einer bestimmten Perspektive heraus sehen, phänomenologische Nachweise erbringen.2 Da Interpretationen in diesem Sinne rechenschaftspflichtig sind, sollte man sie am besten als erste Einladungen oder, um mit Heidegger zu sprechen, als „formale Anzeigen“ betrachten, die durch die kritische Leserschaft vervollständigt, ausgearbeitet, verbessert oder in eine ganz neue Richtung gelenkt werden müssen.3 Der Hermeneutiker nähert sich einem Gegenstand aus mehreren Perspektiven und im Idealfall im Wege eines fortlaufenden Gesprächs und versucht nicht, irgendeine verbindliche oder kanonische Sichtweise von oben aufzuzwingen. Bei Gottfried Wilhelm Leibniz bin ich auf ein beeindruckendes Bild gestoßen, das diese Interpretationsoffenheit zum Ausdruck bringt und außerdem – dies kommt mir sehr zupass – für

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die Beschreibung des Domain House wie gemacht scheint. In § 57 seiner Monadologie schreibt Leibniz: „ Und wie eine und dieselbe Stadt, von verschiedenen Seiten angesehen, immer als eine andere, und gleichsam vervielfältigt erscheint, so kann es geschehen, daß wegen der unendlichen Menge einfacher Substanzen es eben so viele verschiedene Welten zu geben scheint, die, genauer besehen, nichts anderes sind, als die verschiedenen Ansichten der einzigen von den verschiedenen Standpunkten der einzelnen Monaden angesehenen Welt.“4 Was Leibniz hier postuliert, soll offensichtlich nicht nur für alle Städte und alle darin befindlichen Gebäude, sondern für alle Gegenstände schlechthin gelten und somit – Leibniz zufolge – auch für das Domain House in Hobart. Dieses Gebäude bietet sich je nachdem, aus welcher zeitlichen, historischen, räumlichen oder topografischen Perspektive man sich ihm nähert, in verschiedenen Ansichten dar. Mit anderen Worten: Die diversen Rahmen oder Horizonte, in denen das Domain House erscheint, sind praktisch unbegrenzt. So stellt sich, um nur einige wenige Beispiele zu nennen, das Domain House dar: (1) als architektonisches und ästhetisches Gebilde (als neugotisches Gebäude, das 1848 bis 1850 errichtet wurde); (2) als Teil der Geschichte des britischen Kolonialismus und seiner Nachwirkungen (da es geplant und gebaut wurde, als Hobart/Tasmanien noch eine Strafkolonie des britischen Empires war); (3) als Teil der bildungspolitischen und bildungspraktischen Entwicklung (seit Beginn seines Bestehens waren im Domain House durchweg Bildungseinrichtungen untergebracht: ein Gymnasium, ein College, eine Universität, später eine Kunstschule, dann eine Einrichtung der Erwachsenenbildung); (4) als Teil der Entwicklung der Stadt und Stadtlandschaft von Hobart (das Gelände, auf dem das Domain House steht, grenzt an den Rand der Innenstadt von Hobart). Kurzum: Das Domain House ist das, was es ist, kraft der Rolle, die es in dem Beziehungsgeflecht spielt, in das es eingebunden ist und in dem es seine Funktionen erfüllt, und kraft der Brechungswirkungen und Reibungskräfte, die es in diesem Beziehungsgeflecht erzeugt. Wenn Leibniz Recht hat und Gegenstände generell „Spiegel“ des Universums sind und das Universum in seiner ganzen Komplexität manifestieren und zum Ausdruck bringen,5 so gilt dies auch für das Domain House: Es ist

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ein tasmanischer Spiegel der Welt, die es umgibt, und als solcher für die Welt und auch für Tasmanien von Bedeutung. Für uns bedeuten diese Überlegungen, dass es keinen Königsweg gibt, der uns zum Domain House führt, und gewiss auch keine universelle Methode, mit der wir seine Geheimnisse oder seine definitive Bedeutung oder Gestalt entschlüsseln könnten. Diese Bedeutung hängt zudem, wie wir im weiteren Verlauf noch im Einzelnen sehen werden, sehr stark von der Zukunft und den verschiedenen Plänen für das Gebäude ab, die gegenwärtig diskutiert werden, was dazu führt, dass allen Äußerungen über das Domain House ein hohes Maß an Ungewissheit eigen ist. Eines können wir immerhin mit einiger Sicherheit festhalten: Wer das Domain House finden will, kann es auf einer Karte leicht lokalisieren und sich zu Fuß dorthin begeben. Wenn wir uns einen Augenblick lang eine Art ,einheimischen Flaneur‘ vorstellen, der die hohe Kunst des Flanierens also nicht in einer fremden Stadt oder als Tourist, sondern in seiner eigenen Heimatstadt praktiziert,6 so könnte dieser Flaneur das Domain House vom Stadtzentrum aus in 15 bis 20 Minuten erreichen. Unterwegs gilt es aber, das eine oder andere Hindernis zu überwinden. Das Domain House steht auf einer grasbewachsenen Anhöhe, auf der es seinen neugotischen, an eine vergangene Epoche erinnernden Reiz besonders wirkungsvoll entfaltet. Von hier aus schweift der Blick über den nahe gelegenen Fluss Derwent und die Stadt Hobart. Zugleich ist das Gebäude eigentümlich isoliert, auf sich gestellt und abgeschieden, wie ein einsamer und vergessener Wachposten vor den Toren des modernen Stadtzentrums von Hobart, das stolz ist auf seine glitzernden neuen Hochhäuser, Shopping-Malls, Bürogebäude und funktionalistischen Fassaden, die allesamt keinerlei Bezug zum neugotischen Domain House haben. Das Domain House ist vom Stadtzentrum aus auch nicht gut zu sehen. Auf zwei Seiten ist obendrein eine stadteinwärts wie stadtauswärts viel befahrene mehrspurige Schnellstraße im Weg, die den einheimischen Flaneur und andere etwaige Besucherschaft zwingt, zunächst einen Fußgängertunnel zu durchqueren, der zu einer schönen, attraktiv gestalteten Verkehrsinsel mit Blumenbeeten und einem hübschen Brunnen führt, auf der allerdings ein Wegweiser zum Domain House fehlt. Somit bleibt das Domain House, obwohl es de facto ganz in der Nähe ist, auf seltsame Weise entrückt. Infolge des langjährigen Leerstands fristete das Gebäude in der Stadt Hobart nur noch

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ein Geisterdasein. Versteckt und weggesperrt hinter der Schnellstraße, über viele Jahre leer, ungenutzt und verwahrlost, wurde das Domain House zu einem unheimlichen Relikt vergangener Zeiten, ein von seiner eigenen Stadt entfremdetes, vom modernen heutigen Stadtbild abgekoppeltes Gebäude, dessen „gotischer“ Charakter symbolisch gut zu seiner Niedergangs- und Verfallsphase passte. Mit anderen Worten: Unser imaginärer einheimischer Flaneur oder der moderne Stadtmensch wird wohl kaum jemals zufällig auf das Domain House stoßen. Es ist nicht Teil jenes vertrauten Inventars, das uns auf unseren täglichen Routinewegen in der Stadt zum Besuch einlädt. Das Domain House ist nicht nur zu abgelegen und zu weit vom Zentrum entfernt, sondern auch zu malerisch und exotisch. Just diese letztgenannten Eigenschaften machen es allerdings attraktiv für die Touristen – sozusagen für den von außen kommenden Flaneur. Daher überrascht nicht, dass dem Domain House von eifrigen Touristen weitaus mehr Aufmerksamkeit zuteil wird als von Einheimischen. Der Bedeutungsgehalt des Domain House erschöpft sich jedoch nicht im Entweder-oder zwischen Indifferenz und Belanglosigkeit im einheimischen Kontext auf der einen Seite und touristischer Attraktivität auf der anderen Seite. Ein wichtiges, vielleicht sogar dominierendes Merkmal des Domain House ist, dass es von 1892 bis 1963 der erste Sitz der University of Tasmania war, bevor die Hochschule zum modernen Sandy Bay Campus umzog. Über viele Jahre hinweg kannte man das Gebäude einfach nur als „die Universität“. Dieser Zusammenhang ist im Bewusstsein der Menschen bis heute fest verankert und hat sich in den vergangenen Jahren noch einmal deutlich gefestigt, als nach einer langen Zeit extremer Verwahrlosung, in der das Domain House leer stand (von Mitte der 1990er-Jahre bis 2010), die University of Tasmania das Gebäude (2010) wieder in Besitz nahm und (von 2014 bis 2016) eine erste Sanierungsrunde begann, um den weiteren Verfall aufzuhalten. Zudem nahm die Universität im nahe gelegenen Electrical Engineering House, das 1923/24 im neugotischen Stil errichtet wurde, in sehr begrenztem Umfang den Lehrbetrieb wieder auf. Dieser Lehrbetrieb beschränkte sich auf die Ausbildung von Krankenschwestern. Neben einigen anderen Gebäuden in der Nachbarschaft des Domain House (die ursprünglich im frühen 20. Jahrhundert gebaut wurden) gibt es erste Ansätze eines neuen oder vielmehr wiederhergestellten und wiederaufgebauten Domain

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Campus mit dem Domain House als Mittelpunkt, möglicherweise im Verbund mit anderen Universitätsfakultäten auf der anderen Seite der Schnellstraße in Hobart. Zwar deutet vieles darauf hin, dass die University of Tasmania ihre Einrichtungen auf dem Domain Campus zukünftig nutzen und ausbauen und damit ihren Ursprungsort wieder in Besitz nehmen wird, aber nach wie vor ist nicht entschieden, was letzten Endes mit dem Domain House geschieht. Derzeit ist das Domain House nur eine Hülle, wartet auf die Zukunft und dümpelt in einem Zustand zwischen Tod und Wiedergeburt vor sich hin, der vielleicht zu den spannendsten Phasen seines Daseins gehört, weil darin latente Tendenzen und Möglichkeiten schlummern, zu denen immer auch potenzielle Fehlschläge und Missgeschicke gehören können. Es gibt zwar die reelle Chance, dass das Domain House als Teil eines neu entwickelten und erweiterten Domain Campus zu neuem Leben erwacht und die University of Tasmania somit gleichsam an ihren Ursprungsort zurückkehren kann, aber man sollte meines Erachtens nicht glauben, eine solche „Heimkehr“ wäre für das Domain House oder für die Universität oder für beide eine naturgemäße oder automatisch vorteilhafte Lösung. Es drohen insbesondere zwei Gefahren: zum einen die gedankenlos-sentimentale „Rückkehr“ der Universität zu ihren Ursprüngen, und zum anderen die emotionslos-geschäftsmäßige Vereinnahmung der verfügbaren Besitztümer für den Universitätsbetrieb auf der anderen Seite. Beide Varianten sind im Wesentlichen unhistorisch und lassen hermeneutische Sensibilität vermissen. Eine bloß nostalgische Rückkehr ins Domain House würde nicht nur verschleiern, dass die Universität in den Jahren bis zu ihrer Gründung im Jahr 1892 und danach einen konfliktreichen, extrem schweren und ausgesprochen holprigen Start hatte, sondern sie würde auch die großartigen Leistungen entwerten, die die Universität nach ihrem Auszug aus dem Domain House vollbrachte, als sie auf dem Sandy Bay Campus eine neue Heimat fand. Wenn andererseits die Liegenschaftsverwaltung der Universität das Domain House für sich requiriert, um auf einem neu gestalteten Domain Campus dringend benötigte Unterrichtsräume zu schaffen, wird das Gebäude innerhalb kürzester Zeit entkernt und nach lauter neuerlichen Um- und Anbauten, die von Fachleuten und Führungspersonal für „absolut notwendig“ erklärt und mit aller gebotenen bürokratischen Dringlichkeit und Präzision umgesetzt werden,

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hinterher nicht mehr wiederzuerkennen sein. Diesen zuletzt genannten Aspekt kann ich an einem Beispiel aus meiner eigenen Erfahrung veranschaulichen. 2017 gab ich in dem oben erwähnten Electrical Engineering Building für eine kurze Zeit Ethikseminare für Krankenschwestern. Die mit neugotischen Stilelementen versehene Fassade des Gebäudes hat sich ihre Pracht zum großen Teil bewahrt und weckt bis heute Reminiszenzen an ein pädagogisches Engagement, das sich von Lauterkeit und Strenge leiten lässt. Das Innere des Gebäudes musste allerdings eine schonungslose Rosskur von Modernisierungs-, Instandsetzungs- und Sanierungsmaßnahmen über sich ergehen lassen, nach der von der ursprünglichen Bausubstanz nicht mehr viel übrig war. Die Ansammlung neu eingerichteter Allerwelts-Seminarräume mit modernsten technischen Raffinessen und reichlich Plastikmobiliar, die heute in dem Gebäude anzutreffen ist, ist geschichts- und traditionslos und sympathisiert nicht mit dem Ort, zu dem sie gehört. Was auch immer mit dem Domain House geschieht – wenn es der Fixpunkt des neuen Domain Campus werden soll, muss es vor dieser Art von modernem Vandalismus oder technologischem Kolonialismus bewahrt werden. Das Fazit lautet: Wenn das Domain House in einen neuen Domain Campus der University of Tasmania eingebunden werden soll, gilt es nach meiner Auffassung beide Extreme zu vermeiden, die ich oben erörtert habe. Mit anderen Worten: Wenn die University of Tasmania an ihren Ursprungsort zurückkehren soll, muss sie sich das Erbe, das sie antritt, ganz und gar zu eigen machen und weitertragen. Goethe, der noch lebte, als die ersten Entwürfe für das Domain House zu Papier gebracht wurden, schrieb in Faust I: „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.“7 Für die University of Tasmania bedeutet dies: Die Rückkehr ins Domain House ist nur eine Kleinigkeit im Vergleich zu der eigentlichen Aufgabe, die die Hochschule meistern muss: die Aufgabe, sich selbst als wirkliche, zu unserer Zeit und unserem Ort hier in Hobart passende Universität, die mit der globalisierten Welt vernetzt und ihr trotzdem nicht hörig ist, neu zu erfinden. Was das Domain House betrifft, so kann ich es mir auch in einer außeruniversitären Rolle oder in einer Funktion vorstellen, die neben den Kernaufgaben der Universität liegt – zum Beispiel als ein Zentrum für freiberufliche Autorinnen und Autoren oder als Ort für Sommerakademien, als eine gemeinsame Plattform, die

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Menschen zusammenbringt – eine Art Allmende, auf der Wissen und Erkenntnisse entwickelt, gepflegt, ausgetauscht, weitergegeben und bewahrt werden, unbeschwert von Studienabschlüssen, Examensprüfungen und den Zwängen der staatlichen Bürokratie.8 (Übersetzung aus dem Englischen: Andreas Bredenfeld)

Anmerkungen 1

Siehe Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hg.), Martin Heidegger, Sein und Zeit, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1976, S. 200.

2

Siehe Paul Ricœur, „Phenomenology and Hermeneutics“, in: Ders, Hermeneutics and the Human Sciences, Cambridge 1981, S. 101–128.

3

Lawrence J. Hatab, „The Hurdle of Words: Language, Being, and Philosophy in Heidegger“, in: Michael Bowler, Ingo Farin (Hg.), Hermeneutical Heidegger, Evanston/Illinois 2016, S. 262–282.

4

„Die Monadologie“, in: Gottfried Wilhelm Leibniz, Philosophical Writings, London, New York 1951, S. 13.

5 6

„Die Monadologie“ (Anm. 4), S. 464. Siehe Walter Benjamin, „Die Wiederkehr des Flaneurs“, in: Ders., Stadt des Flaneurs, Berlin 2018, S. 125.

7 Goethe, Faust, Teil I, Zeilen 682f. 8

Nach der Fertigstellung dieses Beitrags im Dezember 2018 beschloss die University of Tasmania, ihren Domain Campus zu bauen und zum Herzstück ihrer Pläne zu machen, die Universität vom Sandy Bay Campus zu verlegen und an verschiedenen Orten in Hobart neu anzusiedeln. Wie das Domain House konkret genutzt werden soll, ist nach wie vor nicht bekannt.

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Jeff Malpas

Die Universität träumen Wenn wir uns gewissenhaft mit einem Werk oder Gegenstand auseinandersetzen – sei es eine Skulptur, ein Gemälde, eine Darbietung, ein Alltagsgegenstand für den häuslichen Gebrauch oder, wie im vorliegenden Fall, ein architektonisches Gebilde –, müssen wir uns zunächst mit der Frage befassen, was wir vor uns haben. Damit stehen wir zuerst vor einer beschreibenden Aufgabe und eine angemessene Beschreibung setzt voraus, dass wir das Gegebene an dem Ort situieren, an dem es in Erscheinung tritt und zu dem es mehr oder weniger gehört. Das gilt besonders für alles Architektonische, denn Architektur ist nichts anderes als eine Auseinandersetzung an einem Ort und mit einem Ort (die losgelöst von jeder gebauten Verwirklichung und von jedem Ort betrachtete ,Architektur‘ ist wiederum etwas anderes). Jede angemessene Ekphrasis muss daher die Gestalt einer ,Topographia‘ annehmen.1 Das ist auch der Grund, warum eine gewissenhafte Auseinandersetzung mit Architektur sich mit der gebauten Verwirklichung befassen muss – und zwar in ihrem vor Ort gegebenen So-Sein – und sich nicht mit bildlichen oder sonstigen Darstellungen begnügen darf. Die Grenze der schriftlichen Auseinandersetzung ist dadurch vorgegeben, dass sie ihrerseits darstellenden Charakter hat und dadurch von dem Gebäude und seinem Ort distinkt ist. Doch eine schriftliche Auseinandersetzung, die sich wirklich mit Gebäude und Ort auseinandersetzt, sollte aus der Erfahrung des Autors entstehen, der sich in eigenem Erleben in den gebauten Entwurf und mithin in den Ort, an dem er sich befindet, vertieft hat. Auch Schreiben ist eine Form des Verortens und eine Ortserkundung der eigenen Art. Sie erfordert eine imaginative Auseinandersetzung der Leserschaft, die nicht auf eine bestimmte Darstellungsperspektive oder Erscheinungsform

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beschränkt bleiben muss. Die schriftliche Auseinandersetzung hat ihre Grenzen, kann aber auch neue Horizonte abstecken. Wer sich zu Fuß vom Zentrum der tasmanischen Hauptstadt aus in nordöstliche Richtung bewegt und die Schnellstraße hinter sich lässt, die es an zwei Seiten umschließt, gelangt in eine Parklandschaft namens „Queen’s Domain“. Am südwestlichen Ende der Domain steht in Hanglage ein Sandsteingebäude im Stil der Tudorgotik, das heute als „Domain House“ bekannt ist und von wo aus der Blick über die Stadt und den Fluss schweift. In dem Gebäude, das von dem Architekten Alexander Dawson entworfen und zwischen 1848 und 1850 errichtet wurde, war ursprünglich die High School von Hobart Town untergebracht. Damals zählte das Gebäude zu den markantesten Wahrzeichen der Stadt. In einer berühmt gewordenen Beschreibung nannte der Historiker John West es „das erste, was dem auf dem Fluss sich nähernden Fremden ins Auge fiel … ein Bauwerk, das inmitten einer bezaubernden Landschaft auf einem von der Krone zur Verfügung gestellten Gelände errichtet wurde und architektonische Reize vorzuweisen hat, die in dieser Hemisphäre ihresgleichen suchen“.2 In den vergangenen 160 Jahren beherbergte das Gebäude verschiedene Institutionen. Es handelte sich durchweg um Bildungseinrichtungen. Den Anfang machte von 1850 bis 1885 die High School; es folgten von 1885 bis 1892 das Christ College, von 1892 bis 1962 die University of Tasmania, von 1963 bis 1971 die Tasmanian School of Art und schließlich von 1972 bis in die 1990er-Jahre und die ersten Jahre des neuen Jahrtausends hinein die Tasmanian Adult Education (in dieser Zeit erhielt das Gebäude den Namen „Domain House“). Nachdem es zeitweilig mehr oder weniger gar nicht genutzt wurde, nahm die Universität das Gebäude 2010 wieder in ihre Obhut. Inzwischen wurde das Domain House umfassend renoviert (unter der Federführung des Architekturbüros Cumulus Studio in Zusammenarbeit mit Paul Johnston Architects). Wie das Bauwerk und das größere Gebäudeensemble, zu dem es gehört, zukünftig genutzt werden, hängt nun von der noch ausstehenden Entscheidung der University of Tasmania ab.3 Nach seiner Fertigstellung galt das Domain House, wie in Wests Beschreibung angedeutet, als ein Gebäude mit architektonischen Vorzügen, die es in der Stadt und über die Stadtgrenzen hinaus zu etwas Besonderem machten.4 In der Tat strahlt es eine wirklich auffällige Präsenz aus, wenn man sich ihm zu Fuß von der

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Innenstadt und vom Hafen heraufkommend nähert. Nachdem man den Rosengarten am Fuß der Anhöhe durchquert oder passiert hat, betritt man zwischen zwei den Eingang markierenden Torpfosten (das Tor selbst existiert schon lange nicht mehr) das Gelände des Domain House, geht an verschiedenen europäischen Bäumen und Sträuchern (darunter eine Andentanne und eine Rosskastanie) vorbei und gelangt über eine Rasenfläche und eine kurze Treppe auf eine ebene Asphaltfläche vor dem Haupteingang. Von diesem Standort aus betrachtet, präsentiert sich das Gebäude mit einer ausnehmend eleganten Fassade. Die wohlproportionierte Vorderfront mit ihren drei Geschossen und ihrer vertikalen Ausrichtung, die durch die Lage des Gebäudes noch verstärkt wird, ist rechteckig geformt, breiter als hoch und durch rechteckig eingefasste Fenstergruppen geprägt, wobei der gotische Charakter der Fenster im ersten und zweiten Obergeschoss stärker ausgebildet ist. Der große Eingang befindet sich in der Gebäudemitte, wird zu beiden Seiten eines breiten, nach oben spitz zulaufenden Torbogens von Strebepfeilern flankiert; darüber befindet sich ein Maßwerkfenster. Die Strebepfeiler in diesem Bereich und in den Eckbereichen des Gebäudes (dort erwecken die doppelt angeordneten Strebepfeiler den Eindruck von Flankentürmen) laufen oben in zierlichen Fialen aus. Aus dem Satteldach ragen zu beiden Seiten des Eingangs zwei große Schornsteine. Trotz seiner stattlichen tudorgotischen Erscheinung ist das Domain House kein erdrückendes oder übermäßig prachtvolles Bauwerk – gediegen und selbstgenügsam steht es im Einklang mit seinem Standort. Obwohl das Gebäude sich zu den Seiten und nach hinten noch fortsetzt, wobei es dort eher zweckorientiert gestaltet ist, und ein eher grobes als glattflächiges Mauerwerk aufweist, ist die Gesamtgestalt des Domain House nicht allzu kompliziert, und der im Verhältnis zum Rest der Fassade großzügige Eingangsbereich verleiht dem Gebäude etwas Einladendes – und übt sogar einen gewissen Sog aus (der durch die Positionierung des Hauses auf dem Gelände noch verstärkt wird). Der Grundriss umfasst miteinander verbundene Räume, die vom Eingang in jeden Gebäudeflügel führen, sowie größere (im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert angebaute) Säle am östlichen Ende und den Hauptraum des Gebäudes, der später als „Great Hall“ bekannt wurde und sich unmittelbar hinter dem Eingang befindet. Die Great Hall diente, als in dem Gebäude die High School untergebracht war, als wich-

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tigster Unterrichtsraum und wurde später, nachdem ein schmales Zwischengeschoss mit einer Verstärkung darunter eingezogen worden war, zur Universitätsbibliothek. Da das Domain House ursprünglich als Schulbau des 19. Jahrhunderts errichtet wurde, passte sein Zuschnitt nicht optimal zu einer Bildungseinrichtung mit breit gefächertem und vielfältigem Lehrplan oder einem breiten Schüler- und Lehrerspektrum. Zwar werden die meisten Räume gut mit Tageslicht versorgt, aber viele von ihnen sind klein. Auch die Verbindungen zwischen den Räumen sind häufig ungünstig (das Gebäude ist auch nicht barrierefrei). Die Schwächen, die das Domain House – insbesondere zu Zeiten seiner universitären Nutzung – als Lernstätte gehabt haben mag, taten allerdings den positiven Erinnerungen derjenigen, die hier arbeiteten, lernten oder studierten, offenbar keinen Abbruch. Für viele Menschen in Hobart scheint das Domain House oder die „alte Universität“, wie das Gebäude landläufig genannt wird, ein anderes Bildungszeitalter und einen ganz anderen Katalog von Bildungsidealen zu verkörpern. Zu seiner Entstehungszeit war das Domain House nicht zuletzt Ausdruck der kulturellen Ambitionen des kolonialen Hobart – und vor allem des hohen Stellenwertes, den kulturelle und schulische Bestrebungen für das Gemeinwesen (oder für bedeutende Teile dieses Gemeinwesens) hatten. Das Christ College wurde 1846 gegründet – lange bevor es von seinem ursprünglichen Standort in Bishopsbourne im Norden des Bundesstaates in das Domain House umzog – und war damit die älteste Hochschuleinrichtung in Australien. Tasmanien war der erste australische Bundesstaat, der – nämlich bereits 1868 – die allgemeine Schulpflicht einführte. Die Universität wurde zwar erst 1894 gegründet (und ist damit immerhin noch die viertälteste Universität im Land), aber bei Gründung der High School – das Gleiche gilt für das Christ College – bestand bereits die Idee, sie später zu einer Hochschule auszubauen. Zwischen Sekundar- und Hochschulausbildung wurde damals weitaus weniger trennscharf unterschieden. Der unmittelbare Vorläufer der eigentlichen Universität war das 1859 ins Leben gerufene Tasmanian Council of Education, das einen geisteswissenschaftlichen Abschluss (Associate Arts Degree) anbot und seit 1872 auch Frauen offenstand.5 Dass zu diesem frühen Zeitpunkt ein geisteswissenschaftlicher Abschluss angeboten wurde, ist bezeichnend für das Bildungsverständnis, das im Hobart

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des 19. Jahrhunderts und in vielen anderen Teilen der damaligen englischsprachigen Welt verbreitet war und auf den Geisteswissenschaften6 – und speziell auf den klassischen Geisteswissenschaften – aufbaute. Diese Schwerpunktsetzung kritisierte John Ruskin, der große Verfechter der gotischen Baukunst, in seinem (1853 erstmals veröffentlichten) Buch Die Steine von Venedig, in dem er für ein breiter gefächertes Bildungskonzept warb, das auch Naturgeschichte sowie Religion und Politik umfassen sollte.7 Für das Domain House wurde konsequenterweise ein Baustil gewählt, der nicht nur den Stil der Universitäten in Oxford und Cambridge aufgriff, die damals als Paradebeispiele für ideale Bildungseinrichtungen galten, sondern auch den Gedanken einer im Erbe der klassischen europäischen Vergangenheit verankerten Bildung verkörperte (dieser Gedanke spiegelte sich auch in den klassisch orientierten Curricula von Oxbridge wider).8 Wir mögen ebenso wie Ruskin die Vorstellung ablehnen, bloße ,Gelehrsamkeit‘ und das Auswendiglernen griechischer und lateinischer Texte seien mit echter Bildung gleichzusetzen.9 Trotzdem dürfen oder sollten wir den Gedanken, dass die Auseinandersetzung mit dem Vorangegangenen – also mit dem, was die Gegenwart prägt und aus dem die Zukunft entstehen muss – ein zentraler Bestandteil von Bildung ist, nicht ausblenden oder preisgeben. Selbsterkenntnis ist bekanntlich nicht möglich ohne die Auseinandersetzung mit dem Erbe der Vergangenheit und ohne Selbsterkenntnis werden alle anderen Formen der Erkenntnis unmöglich oder unzulänglich. Hinzu kommt, dass die Geisteswissenschaften das vorrangige Forum für diese Auseinandersetzung sind (was nicht heißen soll, dass sie nicht mit anderen Disziplinen kombiniert werden können). Unabhängig von allen Defiziten einer Festlegung auf die klassische Bildung, die zum Teil mit dem tudorgotischen Stil des Domain House zum Ausdruck gebracht wurde, kann das Gebäude als Verkörperung eines Bildungsideals gelten, das heute wieder an Bedeutung gewinnt – nicht, weil das Klassische heute wieder in Mode wäre (das ist, wenn man von der einen oder anderen konservativen Enklave absieht, eindeutig nicht der Fall), sondern weil das Interesse am Menschen, das im Mittelpunkt der humanistischen Bildung steht und dessen Verkörperung man auch in der Gotik sehen kann – zumal in dem von Ruskin entwickelten Gotikverständnis, in dem menschliche Unvollkommenheiten ebenso ihren

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Platz haben wie die menschliche Kreativität  –,10 heute besonders dringlich ist. Ruskin kritisierte vehement die zunehmende Ausrichtung auf das Anhäufen von Geldvermögen und die damit einhergehende Ausbeutung und Not, die er zu seiner Zeit wahrnahm. Über hundert Jahre nach Ruskins Tod hat es den Anschein, als würde sowohl unsere Architektur als auch unser Bildungssystem von derselben Fixierung auf den wirtschaftlichen Nutzen und monetären Wert angetrieben. Unsere Gebäude, auch unsere Bildungsbauten, greifen nicht mehr auf die Geschichte und das Erbe vergangener Zeiten wie der Gotik oder anderer Epochen zurück. Stattdessen ist die moderne Architektur nahezu durchgängig von neuen Konstruktionstechniken, Kosten- und Effizienzerwägungen, einer Obsession für Neuartiges und Spektakuläres und einer konsequenten Verweigerungshaltung gegenüber der Vergangenheit und der Nostalgie als vermeintlicher Begleiterscheinung jeder Vergangenheitsbetrachtung geprägt. Unsere Universitäten, die zum Teil nach wie vor in gotischen Gebäuden aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert untergebracht sind, lassen sich mehr und mehr von kommerziellen Erwägungen leiten, suchen die Zusammenarbeit mit der Industrie und konzentrieren sich auf Formen der Forschung und Lehre, die auf das „nationale Interesse“ abgestimmt sind. Die Geisteswissenschaften gelten in zunehmendem Maße nur noch insofern als signifikant, als sie in der Lage sind, die Bedürfnisse nützlichkeitsorientierterer Disziplinen zu bedienen. Wenn, wie Ruskin behauptet, unsere Gebäude ein Spiegel unserer Gesellschaft und unserer Lebensweise sind, so spiegeln unsere heutigen Bauwerke und insbesondere die Gebäude unserer Bildungseinrichtungen eine Gesellschaft wider, die scheinbar das Interesse für jene Lebensinhalte, die sich nicht in ökonomische und monetäre Begriffe übersetzen lassen, aufgegeben hat. Die humanistischen Ideale, von denen man meinen könnte, dass sie, wenn auch mitunter auf problematische Weise, in der tudorgotischen Form eines Gebäudes wie des Domain House zum Ausdruck gebracht werden sollten, wirken inzwischen wie nutzlose und irrelevante Träumereien. Seit seiner Rückgabe an die University of Tasmania 2010 wurde das Domain House umfassend saniert. Das Ziel war eine behutsame Renovierung, die mit möglichst wenigen baulichen Eingriffen verbunden sein sollte. Außerdem sollte das Gebäude

Universitätsgebäude

durch die Sanierungsarbeiten wieder in einen gebrauchsfähigen Zustand versetzt werden, der auch zukünftige Instandhaltungsmaßnahmen ermöglicht. Das Gebäudeinnere wurde minimal restauriert. Nach der Sanierung präsentiert sich das Gebäude in schmuckloser Würde. Im Vergleich zu dem maroden Bau, als den die Universität das Gebäude zurückerhielt, ist die Sanierung eine Freude und eine Offenbarung. Nachdem die grundlegenden Arbeiten weitgehend abgeschlossen sind, fehlt es allerdings nun an Aktivitäten und Nutzenden, die das Gebäude mit Leben füllen. Um den Erneuerungsprozess zu vollenden, braucht es einen Verwendungszweck und eine Aufgabe. Welche Bedeutung kann ein im Stil der Tudorgotik errichtetes Gebäude haben in einer modernen Universität, die den humanistischen Idealen, die die Gotik zum Ausdruck bringt, wenig oder gar keinen Wert beimisst – ja die den Geisteswissenschaften nur marginale Bedeutung zuerkennt? Meist erscheinen solche Gebäude heute, und sei es nur wegen der Instandhaltungskosten, als Zeichen für einen privilegierten Status und für Wohlstand. Für die University of Tasmania, die im Universitätsranking des australischen Hochschulsystems im Mittelfeld rangiert, könnte das Domain House ein nützliches Marketingsymbol abgeben, weil sich die Institution damit als eine Hochschule verkaufen kann, die bis zu einem gewissen Grad jenes Oxbridge-Prestige zu bieten hat, das die Tudorgotik dem Anschein nach mit sich bringt. Es gibt jedoch auch eine andere Möglichkeit: Die Universität könnte entgegen den herkömmlichen Konventionen diese Ideale – diese nutzlosen und irrelevanten Träumereien – ernst nehmen, als deren Verkörperung das Domain House gelten kann, und die Idee einer Universität wieder aufleben lassen, die in erster Linie auf Werten aufbaut – und zwar nicht auf ökonomischen oder kommerziellen Werten und auch nicht allein auf den Werten der klassischen Gelehrsamkeit, sondern auf den wahrhaft humanistischen Werten des Menschlichen. Dafür braucht es freilich mehr als die Renovierung eines Gebäudes, nämlich eine grundsätzlich neue Idee von Universität und ihren Strukturen und Arbeitsweisen in der heutigen Zeit. Vielleicht ist dies die eigentliche Herausforderung, vor die uns das Domain House stellt – eine Herausforderung, die weit über die Instandsetzung von Holz und Stein hinausgeht und bei der es vielmehr, wie Ruskin es vielleicht formuliert hätte, um eine Herzens- und Seelenerneuerung geht. Dies erfordert auch,

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dass der Ort der Universität wirklich wiedergefunden wird – genau an dem Ort, an dem sie in Tasmanien ihren Ursprung hat. (Übersetzung aus dem Englischen: Andreas Bredenfeld)

Anmerkungen 1

Eine Einführung in die gedanklichen Hintergründe der Idee einer Topographia (oder über das, was ich an anderer Stelle allgemeiner „philosophische Topologie“ oder „Topografie“ bezeichnet habe) bietet unter anderem Jeff Malpas, Place and Experience: A Philosophical Topography, Abingdon 2018, oder Ders., Heidegger and the Thinking of Place: Explorations in the Topology of Being, Cambridge/Massachusetts 2012.

2

John West, History of Tasmania, Bd. 1, Launceston/Tasmania 1852, S. 675.

3

Zur Geschichte des Gebäudes und seiner neuesten Sanierung siehe Peter Freeman (zusammen mit Peter Walker und Paul Johnston), Domain House: The University of Tasmania returns to the Queens Domain, Hobart 2015.

4

Ein Kommentator pries das Gebäude als „architektonisches Glanzstück“ Tasmaniens und verwies insbesondere auf seinen „elisabethanischen Stil“, Michael Roe, Quest for Authority in Eastern Aust­ ralia 1835–1851, London 1965, S. 156.

5

Näheres zur Geschichte des Bildungswesens und des pädagogischen Denkens in Tasmanien in dieser Zeit siehe Michael Roe, Quest for Authority (Anm. 4), insbesondere Kapitel 7; siehe auch Richard Davis, Open To Talent: The Centenary History of the University of Tasmania 1890–1990, Hobart 1990, S. 1–23.

6

Um den Bedürfnissen der Naturwissenschaften Rechnung zu tragen, die die wesentliche Rolle spielten, als die Universität 1890 auf dem Gelände gegründet wurde, schuf man in dem Bereich hinter dem Domain House neue Erweiterungsbauten, in denen Physik, Chemie und Biologie untergebracht waren.

7

John Ruskin, „Modern education“, in: The Stones of Venice, Bd. 3, Orpington 1898, Anhang 7, S. 225–232. Ruskin nennt dort drei Dinge, die ein Mann seiner Meinung nach wissen muss: „wo er ist … wohin er geht … was er unter diesen Umständen am besten zu tun hat“, S. 226.

8

Auf amerikanischen Campus kam rund 40 oder 50 Jahre später der tudorgotische Stil vor allem deswegen auf, weil man sich einen altertümlichen Anstrich geben wollte, den kein Gebäude

Universitätsgebäude

auf einem solchen Campus von sich aus vorzuweisen hatte. Siehe Lester F. Goodchild, „Oxbridge’s Tudor Gothic Influences on American Academic Architecture“, Paedagogica Historica 36, 2000, S. 266–298. Eine ähnliche Motivation spielte sicherlich auch bei der Wahl des Baustils in Hobart eine Rolle. 9

Siehe „Modern education“ (Anm. 7), S. 230.

10 Siehe John Ruskin, „The Nature of Gothic“, in: The Stones of Venice (Anm. 7), Bd. 2, S. 149–228.

6 Industriegebäude Eternitfabrik, Payerne

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Marcel Bächtiger

Vom Beschreibbaren und dem Unsagbaren Man könnte mit einem Experiment beginnen. Es ließe sich gleich zu Beginn eine einfache Ekphrase eines architektonischen Werkes versuchen, eine Beschreibung der Eternitfabrik in Payerne. Für dieses Experiment müssten wir alle Bilder der Eternitfabrik, die wir bereits irgendwo in unserem Kopf gespeichert haben –  Fotografien, Pläne oder auch die visuelle Erinnerung an einen tatsächlichen Besuch –, für einen Moment vergessen und stattdessen versuchen, das Gebäude allein auf Grundlage geschriebener Worte vor unserem inneren Auge erstehen zu lassen. Eine nüchterne Beschreibung könnte mit der Feststellung beginnen, dass die Eternitfabrik ein langes Gebäude ist, das sich auf einem flachen Stück Land außerhalb des Städtchens Payerne von Südwest nach Nordost erstreckt. Es ließe sich fortfahren mit einer detaillierten Beschreibung der Bauvolumina: Da ist zur Hauptsache eine 154 Meter lange und 21 Meter breite Halle, die von einem Sheddach1 mit 18 Sheds bedeckt wird. Ein zweites Volumen ist im Südosten über die ganze Länge an die Halle angebaut, etwas niedriger als diese und nur 11 Meter tief, mit einem Pultdach, das sich leicht zur Fassade der Halle hin neigt. Ein drittes Volumen schließt im Nordosten an den Kopf der Halle an, ist aber viel schmaler und höher als diese. Es besitzt ein einziges Sheddach, dessen großes Fenster in die entgegengesetzte Richtung der 18 Sheds der Halle blickt, nämlich gegen Südwesten. Das vierte und letzte Volumen schließt an das dritte Volumen an und führt die Längsfassade der Fabrik weiter. Auch dieser vierte Baukörper besitzt ein Sheddach, das sich nun wieder gegen Nordosten öffnet. Stellen wir uns also die Längsfassade der Fabrik vor, ergibt sich folgender Rhythmus: 18 kleine Sheds, die Richtung Nordosten blicken, ein großes Shed,

Industriegebäude

das Richtung Südwesten blickt, ein großes Shed, das nach Nordosten blickt. Man müsste allerdings noch zwei weitere Volumen erwähnen, die zwar keine eigentlichen Gebäude, aber doch wichtige Bestandteile der architektonischen Komposition sind: ein rundes Silo und ein Kamin, die nah vor die beiden Kopfbauten der Fabrik gesetzt wurden. Mit viel kombinatorischer Anstrengung wäre die geneigte Leserschaft nun vielleicht im Stande, aus den vorliegenden Informationen eine mehr oder weniger zutreffende Skizze der Eternitfabrik zu erstellen. Bestimmt sähe aber eine solche Skizze bei jedem bzw. jeder Einzelnen anders aus, und sicher würde keine dieser Darstellungen in allen Punkten mit dem realen Bauwerk übereinstimmen. Hingegen ließen sich einfach ein paar Fotos und Pläne der Fabrik betrachten und wir würden ohne große Anstrengungen einen verlässlichen Eindruck des Gebäudes bekommen – viel näher an der Realität als es unsere Vorstellung ausgehend von einem geschriebenen Text jemals sein kann. Aus dieser Perspektive erscheint die schriftliche Beschreibung von Architektur nicht nur sehr aufwändig, sondern – sofern das Bauwerk existiert und folglich gesehen werden kann – eigentlich recht sinnlos. Auch ein detaillierterer Text als der obige würde noch immer weiße Flecken beinhalten, Dinge, die wir mit einem Blick erfassen, die zu beschreiben aber viel Zeit und Mühe in Anspruch nehmen würde. Und dabei wäre noch nichts gesagt über die atmosphärischen Qualitäten des Gebäudes oder über die Wirkung, die es auf die Betrachtenden ausübt. An dieser Stelle ließe sich einwenden, dass der obige Versuch im Prinzip jener positivistischen Auslegung des EkphrasisBegriffs entspricht, die in der modernen Kunstwissenschaft weit verbreitet war, deren historische Legitimität in der Zwischenzeit jedoch verschiedentlich widerlegt, deren Nutzen zurecht in Zweifel gezogen wurde und die demzufolge als überholt gelten darf.2 Gleichwohl wirft der Versuch einer objektiven Architekturbeschreibung Fragen auf, die an das Wesen der Ekphrasis rühren: Was mag es überhaupt für einen Zweck haben, Architektur in Worte zu fassen? Warum einen Text lesen, wenn ein schneller Blick alles erklärt? – Die Antwort lautet natürlich: Weil ein schneller Blick nicht alles erklärt. Denn wenn es auch zahlreiche Aspekte eines Bauwerks gibt, die sich über Bilder und Pläne einfacher, exakter und eindeutiger vermitteln lassen als über einen geschriebenen

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Text, so lässt sich doch vermuten, dass es andere Aspekte gibt, die weder in einem Bild des Bauwerkes noch in einem Plan des Bauwerkes, ja, vielleicht nicht einmal im Bauwerk selbst ausgedrückt werden können. Dies wäre der Fall bei sämtlichen Informationen, die auf Inhalte jenseits der physischen Präsenz des Gebäudes verweisen: Ideen, Gedanken, Hintergründe und Verweise, deren einziges präzises (und vielleicht einziges verständliches) Medium die Sprache ist. Aber auch mit dieser Antwort verhält es sich komplizierter, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Denn zum einen provoziert sie gleich die nächsten Fragen: Was sind das überhaupt für Ideen, die über die Realität des Bauwerkes hinausweisen, und was sind das für Gedanken, denen wir uns über das Medium der Sprache annähern müssen, weil sie mittels der Architektur weder formuliert werden können noch im Bauwerk unmittelbar zu sehen sind? Zum anderen weist die Vorstellung meta-architektonischer Inhalte unweigerlich auf die Architektur selbst zurück, genauer: auf die Frage, wie Architektur mit den ihr eigenen Mitteln Bedeutung schafft. Kann Architektur überhaupt etwas anderes zum Ausdruck bringen als sich selbst? Oder auf unser Untersuchungsobjekt bezogen: Was könnte das Fabrikgebäude in Payerne den Betrachtenden mitteilen, außer der Tatsache, dass es ein Fabrikgebäude ist? Meine diesbezügliche These ist, dass das erste und hauptsächliche Sujet von Architektur in der Tat die Architektur selbst ist. Dieser Gedanke lässt sich recht einfach nachvollziehen, wenn wir die Architektur mit den klassischen darstellenden Künsten oder den neueren Medien vergleichen. Architektur hat offensichtlich einen viel beschränkteren Ausdrucksradius als beispielsweise die Malerei, die frei ist, auf der Leinwand darzustellen, was immer der Künstlerin oder dem Auftraggeber durch den Kopf geht: den Flug des Ikarus, die Schlacht von Waterloo, ein Frühstück im Grünen. Genauso wenig kann sich die Architektur mit der Literatur vergleichen, die über die Kombination der 26 Buchstaben des Alphabets alle denkbaren Arten von Geschichten, Märchen, historischen Geschehnissen, amourösen Verwicklungen oder psychologischen Dramen erzählen kann. In platonischer Denkrichtung ließe sich formulieren, dass ein Buch, ein Gemälde, eine Skulptur oder ein Film die Dingwelt nachahmen oder vermittlen, während ein Bauwerk Teil dieser Dingwelt ist. Es verhält sich mit ihm wie mit dem Stuhl aus Platons

Industriegebäude

Gleichnis im zehnten Buch der Politeia: Zwar sind sowohl Bau- als auch Kunstwerk bloße Schatten der platonischen Ideen, aber das Bauwerk ist ,Mimesis‘ in erster Instanz, während das Kunstwerk als Nachahmung der Dingwelt eine Mimesis in zweiter Instanz ist. Anders gesagt: während die Künste irgendetwas darstellen, stellt die Architektur nichts anderes als die eigene Idee dar: Ein Haus ist ein Haus, eine Schule ist ein Schule, eine Fabrik ist eine Fabrik. Diese scheinbar banale Feststellung meint nun nicht, dass die Architektur über kein kulturelles Surplus verfügen und sich in der bloßen Zweckerfüllung erschöpfen würde. Denn selbst wenn ein Bauwerk nur für sich steht und kein entferntes Anderes darstellt, so erzählt es doch von nichts Geringerem als von der Art und Weise, wie wir zusammen leben: Architektur als unmittelbarer Ausdruck der Zivilisation, als Manifestation unserer Kultur und unserer Zeit. Ausdruck unserer Zeit? Die Worte besitzen nicht umsonst einen bekannten Klang, sind wir doch auf Umwegen zu einem Gedanken gelangt, der fest zum Ideenkanon der modernen Bewegung gehört. „Die neue Architektur ist geboren: das Resultat des Geistes unserer Zeit“, heißt es beispielsweise 1929 bei Le Corbusier,3 während bei Mies van der Rohe das berühmte Diktum von der Baukunst als „raumgefasstem Zeitwille“ zu finden ist. „Antike Tempel, römische Basiliken und auch die Kathedralen des Mittelalters [sind] nicht Werke einzelner Persönlichkeiten, sondern Schöpfungen ganzer Epochen“, schreibt er 1924. „Sie sind reine Träger eines Zeitwillens. Hierin liegt ihre tiefste Bedeutung. Nur so konnten sie Symbole ihrer Zeit werden.“4 Seltsam nur, dass es sich gerade bei den erwähnten Kathedralen des Mittelalters um Bauwerke handelt, die mehr als sich selbst darstellen: Zum einen sind sie symbolische Repräsentationen des Himmelreichs auf Erden, zum anderen immense Bilderbücher, die vom Leben der Heiligen erzählen. In der Verschmelzung von Raumform, Skulptur und Freskenmalerei verweist die Kathedrale also sehr wohl auf ein Etwas, das jenseits der baulichen Realität liegt; sie erzählt Geschichten, deren Inhalt vom Bauwerk potenziell unabhängig ist (natürlich ist der Inhalt in den allermeisten Fällen ein biblischer, die eingesetzten Gestaltungsmittel würden aber fraglos auch die Darstellung anderer Erzählungen zulassen). Bekanntlich konstatiert Victor Hugos „Ceci tuera cela“ den Verlust dieser narrativen Instanz: Mit dem Aufkommen des Buchdrucks und der Alphabetisierung breiter Bevölkerungsschichten büßt die Kathedrale ihre Bedeutung als Bilderbuch für

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die Massen ein. Heute lässt sich zwar feststellen, dass der Buchdruck nicht zum Tod der Architektur geführt hat. Zweifellos aber sind wir Zeuge einer Entsakralisierung des Raums geworden. Mies van der Rohe war sich dessen wohl bewusst: „Das ganze Streben unserer Zeit ist auf das Profane gerichtet“, schreibt er. „Trotz einer Vertiefung unserer Lebensbegriffe werden wir keine Kathedralen bauen.“ Vielmehr gelte es, so Mies, die Forderungen der Zeit nach Sachlichkeit und Zweckmäßigkeit zu erfüllen; dann würden „die Bauten unserer Tage die Größe tragen, deren die Zeit fähig ist, und nur ein Narr kann behaupten, dass sie ohne Größe ist.“5 Ich zitiere all dies nicht nur im Kontext der Frage nach dem Ausdrucksgehalt der Architektur, sondern auch, weil die Eternitfabrik von Payerne ein wesentlich modernes Gebäude ist und ihr Schöpfer, Paul Waltenspühl, als überzeugter moderner Architekt gelten darf. Interessant dabei ist, dass die Eternitfabrik aus dem Jahr 1957 und damit aus einer Zeit stammt, als die Doktrin der Moderne bereits von verschiedener Seite unter Beschuss geraten war. Für Waltenspühl, damals vierzig Jahre jung, gab es jedoch keinen Grund, sich von den großen Figuren seiner Vätergeneration zu distanzieren. Im Gegenteil, so machte er in seiner Antrittsvorlesung an der ETH Zürich im Jahr 1959 klar, waren die drei großen Meister der heroischen Phase – Frank Llloyd Wright, Le Corbusier und Mies van der Rohe – nach wie vor der Maßstab, an dem man sich zu orientieren hatte. Während Waltenspühls Altersgenossen wie Alison und Peter Smithson oder Aldo van Eyck die Rigidität der modernen Architektur und des modernen Städtebaus anprangerten und für eine größere Freiheit der architektonischen Gestaltung plädierten, warnte Waltenspühl seine Studierenden eindringlich vor einem neuen Eklektizismus, der in seinen Augen zu einer Wiederkehr des Historismus mit all seinen Fehlern führen würde.6 Es versteht sich, dass für einen Apologeten wie Waltenspühl die Moderne eben kein Stil unter vielen, sondern eine Geisteshaltung war: klar, licht und aufrichtig, im selben Moment zeitlos und den Anforderungen und Möglichkeiten der aktuellen Epoche verpflichtet. Diese Geisteshaltung, so könnten wir in unserem Zusammenhang formulieren, kommt in der Eternitfabrik zum Ausdruck. Jedenfalls muss die Möglichkeit, für Eternit ein Produktionsgebäude zu entwerfen, Waltenspühl wie eine schicksalhafte Fügung vorgekommen sein. Nicht nur war die ,Fabrik‘ ein gewich-

Industriegebäude

tiges Sinnbild des Maschinenzeitalters und ein wiederkehrendes Argument in der Rethorik der modernen Architektur, auch waren viele wegbereitende Bauten Fabrikgebäude gewesen, so zum Beispiel die AEG-Werkhalle von Peter Behrens, die Fagus-Werke von Walter Gropius oder die Van-Nelle-Fabrik von Leendert van der Vlugt. Mit dem Auftrag der Eternit-Werke schrieb sich Waltenspühl in die Geschichte der Fabrikarchitektur ein, die in gewissem Sinn auch die Geschichte der modernen Architektur war. Um auf meine These zurückzukommen, derzufolge das hauptsächliche Sujet von Architektur die Architektur selbst ist, so drängt sich nun eine viel kürzere Beschreibung der Eternitfabrik in Payerne auf. Statt uns in Meter- und Maßangaben zu verlieren, könnten wir vielleicht auch einfach sagen: Das Bauwerk, das Paul Waltenspühl in Payerne errichtet hat, ist eine moderne Fabrik. Die Architektur erzählt davon mit ihren standardisierten Bauteilen; sie erzählt davon mit den funktionalen Grund- und Aufrissen, die den Produktionsprozess der Eternitplatten nachzeichnen; sie erzählt davon mit den zwei roh belassenen Elementen von Silo und Kamin, die sich als stolze platonische Körper in die architektonische Komposition fügen und zum Himmel strecken; sie erzählt davon mit den ausgewogenen Proportionen, die sich gleichwohl der Symmetrie und der Axialität entziehen. Und nicht zuletzt ist in der Umschreibung „moderne Fabrik“ auch die Aussage enthalten, dass das Bauwerk sich voll und ganz der eigenen Zeit verpflichtet fühlte: Sowohl was die Materialität und die Konstruktion, als auch, was das Programm und die Form angeht, wollte Waltenspühls Fabrik ein Ausdruck zeitgenössischer Möglichkeiten und Ideale sein, eben ,raumgefasster Zeitwille‘. Führen wir uns vor Augen, dass das griechische Wort ,ekphrazein‘ wörtlich ,ausdrücken‘ meint, liegt die Idee nahe, dass die Ekphrasis jene meta-architektonischen Inhalte sprachlich nachvollzieht und reflektiert, die das Bauwerk mit seinen eigenen Mitteln zum Ausdruck bringt. Abhängig vom Vorwissen der Adressierten kann sich selbst eine scheinbar simple, beinahe tautologische Aussage („die Fabrik ist eine moderne Fabrik“) als komplexe Beschreibung erweisen, die auf vielfältige Weise die Geschichte und die Philosophie der Architektur reflektiert. Für Nachgeborene beispielsweise – und damit kehren wir zur Frage nach den Ausdrucksmöglichkeiten der Architektur zurück – klingt in der Beschreibung „moderne Fabrik“ auch bereits die postmoderne Kritik an, wonach der Maschinenfetisch der Moderne jedes

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Bauwerk wie eine Fabrik habe aussehen lassen. Die stilistische Orientierung am Bautyp ,Fabrik‘ und die gleichzeitige Verbannung symbolischer Elemente, so befand etwa der scharfzüngige Charles Jencks Ende der 1970er Jahre, habe zu einer beispiellosen Verarmung des architektonischen Ausdrucks und damit zur Ununterscheidbarkeit verschiedener Bautypen geführt; die behauptete Rationalität der Architektursprache der Moderne sei in Wahrheit „eine universelle Sprache der Konfusion“.7 So berechtigt die Kritik war, übersah sie großzügig, dass das Problem des sprachlichen Durcheinanders bereits im Historismus virulent war. Um beim Bautyp ,Fabrik‘ zu bleiben, sah das Dampfmaschinenhaus in Potsdam (1843) aus wie ein Moschee, die Teppichfabrik in Glasgow (1889) wie der Dogenpalast in Venedig und die Flax Mill in Leeds (1840) wie ein ägyptischer Tempel.8 Allerdings stellen sowohl die prä- und postmoderne ,architecture parlante‘ als auch der ,Funktionalismus‘ eine Trivialisierung des Ausdrucksproblems dar, beschäftigen sie sich doch einzig mit der Frage, ob die architektonische Form den Zweck des Gebäudes korrekt wiedergibt oder nicht. Die Moderne jedenfalls, wie sie Waltenspühl gelernt und verstanden hatte, erhob sich selbstbewusst über vereinfachende Formeln wie „form follows function“, hatte sie doch den Anspruch, das Zweckmäßige und Sachliche ins Baukünstlerische hineinwachsen zu lassen (Mies), beziehungsweise eine über Konstruktion und Funktion erhabene ,ARCHITEKTUR‘ auf den Plan treten zu lassen (Le Corbusier). Diese in Versalien geschriebene ,ARCHITEKTUR‘ war nun für Le Corbusier genau jenes Etwas, das über die physische Präsenz des Bauwerks hinausweist  – ein intellektuelles Erlebnis, das den unmittelbaren Sinneseindruck transzendiert, eine Idee, die das Bauwerk kraft seiner eigenen Sprache vermittelt. Wenn sie etwas zu erzählen hatte, so könnte man Le Corbusiers in den 1920er Jahren formulierte Gedanken zusammenfassen, erzählte die ,Architektur‘ (kleingeschrieben) von nichts anderem als von ,ARCHITEKTUR‘ (großgeschrieben).9 Wenngleich diese Auffassung meine anfänglich formulierte These zu stützen scheint, so eignete ihr doch offensichtlich ein kryptischer Charakter. Auf eine genauere Erläuterung des Sachverhalts warteten Corbusier-Anhänger wie Waltenspühl jedenfalls vergeblich. Im Gegenteil führte Le Corbusiers später Essay L’éspace indicible die Verrätselung fort: „In einem vollkommenen Werk“, heißt es dort geheimnisvoll raunend, „verbergen sich

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unzählige Bedetungen, ein wahres Universum, das sich demjenigen offenbart, den es betrifft, was heißt: demjenigen, der es verdient hat. Eine grenzenlose Tiefe öffnet sich dann, lässt die Wände verschwinden, verscheucht alle Zufälligkeiten, bewirkt das Wunder des unaussprechlichen Raums.“10 Sind wir bereit, den Überlegungen Le Corbusiers zu folgen, dann führt uns die Beschäftigung mit den Ausdrucksmöglichkeiten der Architektur also an die Grenzen der Sprache: Hinter den sinnlich wahrnehmbaren Formen großer Architektur treffen wir auf einen Raum der unaussprechlich, unsagbar („indicible“) bleibt. Worte können ihn nicht beschreiben. Öffnet sich auch in Waltenspühls Eternitfabrik eine „grenzenlose Tiefe“, rührt sie an das „Wunder des unaussprechlichen Raums“? Darüber mag jeder Besucher und jede Besucherin selbst urteilen. In unserem Zusammenhang aufschlussreicher ist vielleicht dies: Um seine erstaunlichen Gedanken zum unausprechlichen Raum zu formulieren, setzte sich Le Corbusier an die Schreibmaschine und schrieb einen Text. Auswahlbibliografie

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Anmerkungen 1

Auch als ,Sägezahndach‘ bezeichnet: mehrere Dachaufbauten hintereinander (sattel- oder pultdachartig), ca. ab 1850 in England als Fabrikbauten vorkommend.

2

Siehe dazu beispielhaft Ruth Webb, „Ekphrasis ancient and modern: The invention of a genre“, in Word & Image 15/1, 1999, S. 7–18.

3

Le Corbusier und Pierre Jeanneret, Œuvre complète, Bd. I: 1910– 1929, Zürich 1964.

4

Für die Zitate: Ludwig Mies van der Rohe, „Baukunst und Zeitwille“ (1924), in: Kristiana Hartmann (Hg.), Trotzdem modern: Die wich­ tigsten Texte zur Architektur in Deutschland 1919–1933, Basel 2014.

5 Ebd. 6

Paul Waltenspühl, „Gedanken über Architektur und die Ausbildung von Architekten: Antrittsvorlesung an der Eidg. Technischen Hochschule“, in Schweizerische Bauzeitung 78, 1960, S. 399–403.

7

Charles Jencks, The Language of Post-Modern Architecture, New York 1977, S. 15–19.

8

Siehe dazu Nikolaus Pevsner, A History of Building Types, London 1976.

9

Siehe dazu u. a. Le Corbusier, Vers une architecture, Paris 1958 (Erstausgabe 1921), insb. S. 7–10 und S. 165, sowie ders., „Architecture d’époque machiniste“ (1929), in: Charles-Edouard JeanneretGris, Amedée Ozenfant, Architecture d’époque machiniste / Sur les écoles cubistes et post-cubistes, Turin 1975, S. 42.

10 Le Corbusier, „L’espace indicible“, in Architecture d’aujourd’hui, numéro spéciale „Art“, 1946, S. 9–10, Übersetzung M. B.

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Sylvain Malfroy

Leichtigkeit: zur Konkretisierung abstrakter Eigenschaften Nicht verwechseln! Stellen wir uns eine Unterhaltung vor zwischen einer architekturbegeisterten Person X, die sich mit den technischen und konzeptionellen Aspekten nicht auskennt, und einer Person Y, Spezialist oder Spezialistin für Architektur. Nehmen wir an, X beschreibt zunächst die Produktionshalle des Eternit-Werkes in Payerne und schwärmt: „Diese Fassadenwand, die von dem 150 m langen horizontalen Fenster durchbrochen ist, finde ich genial!“ Y kann sich nicht verkneifen, zu erwidern: „Diese leichte Fassade ‚Wand‘ zu nennen, ist irreführend; man sollte sie besser als ‚Hülle‘ oder ‚Verkleidung‘ des Gebäudes bezeichnen, damit nicht der Eindruck entsteht, es handele sich um massives Mauerwerk; außerdem verfehlt man den entscheidenden Punkt, wenn man das Lichtband mit einem ‚Durchbruch‘ gleichstellt, denn man musste ja kein Material entfernen, um diese Öffnung zu schaffen, sondern sozusagen nur den Deckel über dem Kasten in die Schwebe bringen.“ Und um X’s Begeisterung aufzugreifen, fügt Y hinzu: „Was mich verblüfft, ist, dass durch diese 150 m lange Fuge der Oberbau der Halle so wirkt, als hätte er sich vom Boden gelöst und würde frei schweben!“ Einen Sachverhalt erkennen und differenziert benennen Da Paul Waltenspühl nicht mehr lebt, kann er sich nicht zu Wort melden und in Anspielung auf René Magritte sagen: „Dies ist kein Fenster, sondern eine ‚Lichtfuge‘ (joint de lumière)“. Er hat sie einfach gemacht und das Resultat seines Machens ist nunmehr unserem kritischen Urteil anheimgestellt. Die Leistungsbeschreibung für das Eternit-Werk gab vor, dass das Gebäude aus leichten Faserze-

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mentplatten errichtet werden sollte.1 Dem Architekten wurde rasch klar, dass es nicht sinnvoll war, Fensterdurchbrüche zu schaffen in einer modularen Hülle, deren Gleichmaß und Geschlossenheit gewahrt werden sollten. Das Originelle an Waltenspühls Lösung ist, dass er eine Möglichkeit fand, wie er sozusagen die „Lücken in der Rüstung“ (also bildlich gesprochen, die „Zwischenräume zwischen den Harnischplatten“) nutzen konnte, um das Gebäudeinnere mit Tageslicht zu versorgen. Dafür musste er sich von dem konzeptionellen Instrumentarium der Massivbauweise befreien und die ganz neuen Möglichkeiten jener Leichtbauweise erkennen, die man ,Trockenbau‘ nennt.2 Wenn ein Bauwerk fertiggestellt ist und für die ,Analyse‘ zur Verfügung steht – also etymologisch betrachtet, für die Zergliederungsprozesse, durch die nachvollziehbar wird, was der Architekt gemacht, wie er es gemacht hat und ob er seine Sache gut gemacht hat –, gilt es, das Gebäude nach den für seine Gattung oder Kategorie spezifischen Gliederungslinien zu zerlegen: Einen Massivbau kann man nicht auf dieselbe Weise analysieren wie einen Leichtbau, wenn man nicht Gefahr laufen will, das Entscheidende zu übersehen – nämlich das, was daran das Neue und Besondere ist. Schon Platon empfahl in dem berühmten Passus 265e seines Phaidros, dem Beispiel des Kochs zu folgen, der jedes Tier, das er verarbeiten will, je nach dessen Art (Geflügel, Schafe und Ziegen, Rinder etc.) zu zerlegen weiß. Wenn also das Eternit-Werk keine Fenster im eigentlichen Sinne hat, gibt es hingegen zahlreiche ,Verglasungen‘ oder ,Glasfüllungen‘, die sich mit der baulichen Gliederung decken. Die Einzelteile eines zusammengesetzten Ganzen benennen

Stellen wir zunächst – wie für ein Kochrezept – die Zutaten auf den Tisch. Welche Komponenten wurden benötigt, um das EternitWerk in Payerne zu bauen? Um diese Frage präzise und vollständig beantworten zu können, müsste man entweder das Bauwerk selbst genau in Augenschein nehmen oder die Gesamtabrechnung ausfindig machen, die nach Abschluss der Bauarbeiten erstellt wurde. Die schlichte Tatsache, dass eine solche Quelle existiert, und die Praxis der Rechnungsstellung zeigen: Unser Einstieg in das Thema mag zwar für die wissenschaftliche Exegese von architektonischen Gebilden ungewohnt sein, aber im alltäglichen Leben wäre er das Normalste von der Welt. Wir wollen uns auf die Frage

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beschränken, auf welche Art von Informationen man beim Studium der Gesamtabrechnung stoßen würde, und dabei mit einem gewissen Sinn für Systematik vorgehen!3 Wir würden mehrheitlich auf ,Einzelteile‘ stoßen, deren bloße Auflistung uns bereits den Eindruck vermitteln dürfte, dass wir es hier mit einer für die damalige Zeit ,revolutionären‘ Bauweise zu tun haben: – Faserbetonfertigteile aus dem unternehmenseigenen Produktkatalog: Tausende 6 mm starke Eternitwellplatten à 2 500 x 920 mm mit den dazugehörigen Gratkappen, Wellfirsthauben und Abdeckprofilen,4 – Tausende laufende Meter Holzsparren und Holzleisten zum Befestigen der Außenverkleidung, – Tausende laufende Meter Metallprofile für die Montage des Stahltragwerks, – Tausende Quadratmeter Glasplatten, zugeschnitten in einer geringen Anzahl von Standardgrößen. In der Einzelteilliste müsste man in einer eigenen Rubrik auch die ,Sonderanfertigungen‘ aufführen, die mit speziell dafür erstellten Schablonen von Hand gefertigt wurden. Die meisten dieser Teile wurden benötigt, um die Sheds abzudichten, den Anschluss zwischen der planen Vertikalverglasung und der um 25 Grad geneigten Welldacheindeckung herzustellen oder die Außenkante der Sheds mit einem dreidimensionalen Bauteil abzudecken, das die seitliche, an die Kiemen eines Fisches erinnernde Fassadenöffnung von etwa 12 Grad verschließt. Diese Spezialteile bilden aufgrund ihres handwerklichen Charakters eine Ausnahme von der konsequent modularen Vorfertigung und geben uns bereits erste Anhaltspunkte für den architektonischen Ausdruck, der Waltenspühl für diese Fabrik vorschwebte: eine rhythmisierte Komposition von elegant geschwungenen Volumina, ähnlich wie eine Abfolge von Mannequins, die zu Jazzmusik über den Laufsteg wandeln. In der Tat hat Eternit, um bei der Modemetaphorik zu bleiben, die Maßschneiderei und das Prêt-à-porter in sich vereint: Die auf der patentierten Maschine hergestellten Rohplatten sind einerseits auf die Serienfertigungsstraße und andererseits auf die manuelle Werkstattbearbeitung ausgerichtet.5 Zu einer vollständigen Bestandsaufnahme würden außerdem die ,nicht zählbaren Bestandteile‘ gehören.6 Sie wurden nicht im fertigen Zustand angeliefert, sondern mussten aus einem Mischgut

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hergestellt und vor Ort gegossen werden: aus Beton. Wenn wir die massiven Betontragkonstruktionen und -platten (also die gesamte Konstruktion der Rohstoffhalle mit ihrem Laufkran und den Laufkran der Fertigungshalle) in den Blick nehmen, erkennen wir zwangsläufig den Hybridcharakter unserer Fabrik: Sie wirkt wie ein Leichtbau, aber unter der gewellten Eternithülle verbirgt sich im Inneren eine schwere Skelettkonstruktion. Diese massiven Elemente bringen uns nicht nur deswegen in Verlegenheit, weil man sie nicht so leicht zählen kann, sondern auch deswegen, weil man für ihre Ausführung Schalungen benötigt, die nach Abschluss der Bauarbeiten wieder abgebaut werden. Heißt das, dass wir die Tausende von Quadratmetern an Schalbrettern in unsere Inventarliste mitaufnehmen müssen? Nein – wenn man sich auf den Standpunkt stellt, dass es nur auf die dauerhaften Komponenten ankommt. Ja – wenn es nach der Abrechnungsabteilung des Bauunternehmens geht. Nehmen wir also noch Folgendes in unsere Liste auf: – Tonnen von Zement, Sand und Kies sowie Tausende Liter Wasser für das Mischen und Gießen des Betons vor Ort, (– Tausende Quadratmeter von Brettern und Tausende laufende Meter Stützen für die Schalungen und Baugerüste etc.). Die unabtrennbaren Elemente eines Bauwerks Die Architektur

definiert sich als Kunst des Zusammenfügens, als Kunst, wohlabgemessene Teile zu einem Ganzen zu vereinen.7 Sie verarbeitet nicht nur die materiellen Bestandteile, sondern koordiniert auch die verschiedenen Fachgewerke. Verweilen wir einen Moment bei der Bedeutungsverschiebung, die sich einstellt, wenn man die ,materiellen Elemente‘ des Gebäudes und die ,ideellen Elemente‘ (oder abstrakten Elemente) seiner Konzeption und Realisierung aufzählt. Nehmen wir als Beispiel die Stabilität des Gebäudes. Mit diesem ,Element‘ des Projektes wird ein Bauingenieur oder eine Bauingenieurin beauftragt, in diesem Fall handelte es sich um Waltenspühl höchstpersönlich. Der Bauingenieur stellte selbstverständlich auch die Arbeitsstunden in Rechnung, die er auf dieses ,Element‘ des Projektes verwendet hat, denn dieses Element ist zwar nicht materieller Natur und physisch nicht herauslösbar, aber deswegen nicht einen Deut weniger real. Wie nimmt die Stabilität im Gebäude Gestalt an? Sie bestimmt die Maße gewisser Elemente und ihre Anordnung (Volumen der Fundamentplatten, Querschnitt

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der Stützen und Unterzüge, monolithische Bauweise von Tragkonstruktionen und Bodenplatten), gibt vor, wie die Metallprofile zu steifen Rahmenkonstruktionen montiert werden etc. Bei den Gebäudeelementen aus Beton (einer ursprünglich amorphen Masse) besteht die Arbeit des Bauingenieurs darin, ihnen ihre Form zu geben, während bei den vor Ort angelieferten Einzelteilen die ,Hinzugabe‘ von Stabilität ihre Zusammenfügung zu starren Baugruppen (Rahmen, Joche) betrifft. Wenn es um die ,Stabilitätsorgane‘ des Bauwerks geht, müssen die betreffenden Komponenten daher anders erfasst werden, als bei unserer Bestandsaufnahme der Einzelteile. Die Stabilität als besonderes Merkmal des Gebäudes und als klar abgegrenztes Element seiner Konzeption setzt voraus, dass zuvor Beton und ,Einzelteile‘ vorhanden sind. So gesehen, geht die Stabilität als ein unabtrennbares, ,unselbstständiges Element‘ in die Komposition des Gebäudes ein. Abtrennen kann man sie nur durch einen geistigen Abstraktionsvorgang. Edmund Husserl nennt dies ,Moment‘.8 Konkrete Präsenz erlangt die Stabilität im Bauwerk als ,Moment‘ der Dimensionierung von Stützen und Trägern, als ,Moment‘ der Rahmenmontage des Stahltragwerks etc. Diese Vorgehensweise, die Eigenschaften einer Sache als abhängige Elemente zu behandeln, die an selbstständigen Elementen festgemacht werden, ist deswegen besonders ergiebig, weil sie dem Universalienstreit Einhalt gebietet, der sie als bloße Spracheffekte abzutun und ihnen damit ihren Wirklichkeitscharakter abzusprechen droht (die ,Stabilität‘ als ein Merkmal, das allen ,stabilen Bauwerken‘ gemeinsam ist, wäre somit nur eine Redensart, da in der Welt nur individuell stabile Gebäude real vorkommen). Nach dem Husserl’schen Verständnis, dem ich mich anschließe, lassen sich die abstrakten Eigenschaften (die Stabilität, Funktionalität, Beständigkeit, Schönheit, Intelligenz eines Projektes etc.) anhand der konkreten Entitäten, die sie qualifizieren und modifizieren, durchaus real und objektiv analysieren. Die Ingenieurwissenschaft fügt dem Inventar der Komponenten eigentlich kein weiteres Bauteil hinzu, sondern sie gibt die ,Momente‘ vor, die bei der Formgebung des Bauwerks berücksichtigt (oder ,instanziiert‘) werden müssen. Doch wie steht es in diesem Zusammenhang mit den ästhetischen Eigenschaften des Bauwerks – zum Beispiel mit dem Eindruck von ,Leichtigkeit‘, den es insgesamt vermittelt?

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Einer Atmosphäre von „Leichtigkeit“ Gestalt geben Die Firma

Eternit trat an den renommierten Architekten und Bauingenieur Paul Waltenspühl nicht mit der Bitte heran, in Payerne (in Anlehnung an Robert Musil) ein „Werk ohne Eigenschaften“ zu bauen, sondern er sollte in einer Zeit, in der das ästhetische Potenzial vorgefertigter Gebäudehüllen aus Faserzement alles andere als anerkannt war, eine veritable Ikone der Leichtbauweise erbauen. Im Bereich der Ästhetik wird nicht alles immer nur nach dem Maßstab von Schönheit und Hässlichkeit beurteilt. In unserer alltäglichen Lebenswelt bewerten wir vieles mithilfe des Prädikatpaars schwer versus leicht. Wenn das Wort „schwer“ im übertragenen Sinne gebraucht wird, ist es meist negativ konnotiert und wird mit allem in Verbindung gebracht, was nach unten strebt. Ein schwerer Fauxpas, ein schwerer Wein, eine schwere Mahlzeit, schwere Folgen – in all diesen Formulierungen steckt etwas Abwertendes. Anne Souriau nennt im Vocabulaire d’Esthétique lediglich eine Ausnahme: In der Welt der Textilien hat die Schwere eine positive Bedeutung, weil ein schwerer Stoff oder – im Französischen – die „plis lourds“ (die schweren Falten) gut fallen und eine präzise Formgebung ermöglichen.9 Leider spart Souriau in ihrem Artikel die Architektur aus, in der die Schwere in ihrer übertragenen Bedeutung differenziert gewürdigt wird. Wenn sie die Vorstellung von Stabilität, Beständigkeit, Geschlossenheit und volumetrischer Einfachheit vermittelt oder betont, ist Schwere etwas Positives, das als gewünschter Effekt angestrebt wird. Die Grabmalarchitektur zum Beispiel hat eine Vorliebe für Schweres und Träges. Doch auch die Leichtigkeit hat ihre Anhänger und hat etliche Epochen erlebt, in denen sie hoch im Kurs stand: die Gotik und ihre Revivals, Barock und Rokoko mit ihren luftig-schwungvollen Formen, Konstruktivismus und Expressionismus mit ihrer lustvoll der Schwere trotzenden High-Tech-Architektur. Leichtigkeit ist positiv konnotiert, weil sie hebt und befreit, öffnet und erhellt, indem sie den Hohlraum die Oberhand über die Materie gewinnen lässt. Unser Verständnis von Schwere zu beeinflussen, ist eine Kunst, die nicht nur die Architektur beherrscht. Das Empfinden von Schwere oder Leichtigkeit ist ein Produkt der körperlichen Empathie: Man spürt sie im eigenen Körper (am eigenen Leib) als Druckempfindung oder Weitung, als Anziehungskraft nach unten oder nach oben. Hermann Schmitz beschreibt, anknüpfend an Arthur Schopenhauer, das Wahrnehmen der Atmo-

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sphären als eine Art ,Betroffensein‘.10 Man rechnet mit nichts: Man wird unwillkürlich betroffen und es sind eher die Atmosphären, die etwas mit uns machen, als umgekehrt. Methodisch betrachtet, erfordert die Beschreibung der atmosphärischen Wirkungen, die die Architektur hervorbringt, ein phänomenologisches Vorgehen, das der Vielfalt und Komplementarität der kognitiven, sensorischen und körperlichen Kanäle, über die wir stimuliert werden und im Verhältnis zu denen wir eine mehr oder weniger reflexhafte Reaktion entwickeln, aufmerksam Rechnung trägt. Würde es genügen, die Produkte des Eternitsortiments zu verwenden, wenn man erreichen will, dass das Gebäude nicht nur im buchstäblichen Sinn leicht ist, sondern auch als „leicht“ im übertragenen Sinn empfunden wird? Das objektive Gewicht, mit dem der Bauingenieur in Kenntnis der Gesetze der Physik (und mithin der Natur) umzugehen hat, ist natürlich etwas grundsätzlich anderes als das „subjektive Gewicht“ (das sich also auf das bewusste Erleben in der Ersten-Person-Perspektive bezieht), das der Architekt auf der Grundlage seiner durch und durch empirischen Vertrautheit mit dem Prozess des Wahrnehmens in einen stimulierenden Ausdruck zu transformieren sucht. Sein Atmosphärenentwurf kann nicht viel anderes sein als ein ,intentionales Objekt‘, das dem Urteil jedes und jeder Einzelnen anheimgestellt ist. Dennoch muss der Architekt, um jenes ,Moment‘ von Leichtigkeit in dem zukünftigen Bauwerk Wirklichkeit werden zu lassen, auch diese abhängige individuelle Eigenschaft an ein konkretes Element oder ein konkretes Ensemble von Elementen anbinden. Im Falle der Produktionshalle der Fabrik in Payerne bestand der geniale Einfall des Architekten darin, das ,Moment‘ der expressiven Leichtigkeit von der Untereinheit „Bedachung + Fassade“ abhängig zu machen, die er als ein zusammenhängendes Ganzes behandelte: eine unverwechselbare „leichte Hülle“, einfach über den Laufkran gebreitet wie ein Tischtuch über den Tisch oder eine dekorative Tagesdecke über ein Bett. Außerdem musste er dafür sorgen, dass die Seitenflächen in einem günstigen proportionalen Höhenverhältnis über den Boden hinausragen. All dies vermittelt eine Ahnung davon, wie komplex die Arbeit des Architekten ist, der bei der Dimensionierung und Komposition der Gebäudeelemente gleichzeitig die Momente koordinieren muss, die für seine Stabilität und für seine Anmutung von Leichtigkeit erforderlich sind, ganz zu schweigen von seiner funktionellen Effizienz, seiner Wirtschaftlichkeit etc.

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Die Form eines Werkstoffs Es ist an der Zeit, Z zu Wort kommen zu lassen, der unsere Konversation die ganze Zeit mit Kopfschütteln verfolgt hat (man muss dazusagen, dass für ihn als Umweltaktivisten asbestverstärkter Faserzement ein gefährlicher Schadstoff und die Unternehmerdynastie Schmidheiny, die von 1902 bis 2002 Eigentümerin der Firma Eternit war, die übelste Inkarnation des Industriekapitalismus ist  …):11 „Sagt mir Bescheid, wenn ihr mit euren Wortklaubereien fertig seid, damit wir endlich ein ernsthaftes Gespräch anfangen können: Diese Fabrik ist ein Werksgebäude wie jedes andere, mit einem Laufkran zum Lastenbewegen, Wänden drumherum, einem Dach oben drauf und Fenstern, damit man drinnen etwas sieht!“ Y, der nicht nur für gute Architektur, sondern auch für die Kunst des sokratischen Dialogs und die Stilparodien eines Raymond Queneau eine Schwäche hat, versucht die Methoden seiner Lehrmeister miteinander zu vereinen: „Was wird in dieser Fabrik, die dir so banal vorkommt, eigentlich hergestellt?“ Z: „ Na, was wohl? Eternit natürlich!“ Y: „ Und kennst du viele Fabriken, die genau aus dem Material gebaut wurden, das dort hergestellt wird?“ Z: „ Naja, es gibt jede Menge Tischlereibetriebe aus Holz, aus Ziegeln errichtete Ziegeleien, Zementwerke aus Beton, Gießereien in Stahlbauweise …“ Y: „ Dann haben wir ja immerhin schon fünf Fabriktypen: aus Eternit, aus Holz, aus Ziegeln, aus Beton, in Stahlbauweise! Vor diesem Hintergrund ist deine Behauptung, das sei eine Fabrik wie jede andere, ja wohl ein bisschen übertrieben. Und warum haben deiner Meinung nach die Leute von Eternit ihre Fabrik lieber aus Faserzement und nicht aus Holz oder Ziegeln gebaut?“ Z: „ Na, weil sie nur den schnöden Mammon im Sinn haben und nichts sonst!“ Y: „ Du hast Recht: Die Leute, die Fabriken bauen, haben alle nur den schnöden Mammon im Sinn. Aber warum bauen sie dann nicht alle Fabriken aus Eternit?“ Z: „ Na, weil es Leute gibt, die Eternit hässlich finden! Sie bauen lieber mit Glas, Alu, Holz, Kunststein, auch wenn das teurer ist.“ Y: „ Du glaubst also, diesen Leuten von Eternit, die nur den schnöden Mammon im Sinn haben, ist es egal, ob sie ihre

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Kunden mit einem scheußlichen Material vergraulen? Warum kaufen dann die Kundinnnen und Kunden deiner Meinung nach die Produkte trotzdem?“ Z: „ Weil Eternit lange hält und viele sich über Hässlichkeit keine Gedanken machen, solange es billig ist. Die Kunden bauen sowieso auf dem Land, in Industriegebieten, im Speckgürtel – also überall, wo es ohnehin schon hässlich ist. Da schockt das ja niemanden!“ Y: „ Was meinst du? Ist Eternit per se als Werkstoff hässlich oder ist die Art und Weise, wie in den meisten Fällen mit Eternit gebaut wird, hässlich? Du gibst ja immerhin zu, dass dieser Werkstoff seine Qualitäten hat, denn du sagst, er hält lange und ist nicht teuer. Könntest du dir vorstellen, dass gute Architektinnen und Architekten mit diesem Werkstoff, der nicht teuer ist und lange hält, etwas Anständiges zustande bringen?“ Z: „ Architekten sind allesamt unfähig und wenn man für wenig Geld etwas Tolles zustande bringen würde, hätte sich das ja wohl schon herumgesprochen.“ Y: „ Schau dir mal diese Nachtaufnahme des Eternit-Werkes in Payerne an.12 Findest du das nicht schön, wie das Streiflicht, das aus der Halle durch die Verglasung nach draußen dringt, die Wellenform der Fassaden zur Geltung bringt?“ Z: „ Hör auf mit deinem Tremolo in der Stimme, sonst kommen mir die Tränen! Am meisten regt mich übrigens auf, dass man die ganze Nacht den Ästheten zuliebe das Licht brennen lässt!“ Y: „ Moment! Denk mal einen Augenblick nach. Das Licht bleibt natürlich für die Nachtschicht angeschaltet. Wenn du Faserzement im Zylinderkasten lässt, wird er hart, und am nächsten Tag kannst du damit nichts mehr anfangen. Deshalb ist es wichtig, dass die Produktion kontinuierlich weiterläuft! Und wenn man schon das Licht anlässt, kann man auch gleich schöne Nachtaufnahmen machen. Das kostet nichts und sieht irre aus!“ Z: „ Na gut, nachts sieht das vielleicht irre aus, aber tagsüber ist es genauso hässlich wie anderswo!“ Y: „ Absolut nicht. Das ist magisch! Du musst dir die Fabrik mal von innen ansehen! Von außen siehst du nur Mauern und keine Fenster, und wenn du drinnen bist, nur Fenster und keine Mauern. Oder fast keine.“

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Z: „ Soso! Besonders irre ist es wahrscheinlich, wenn man in einer Fabrik ohne Wände und ohne Fenster arbeitet. Das sollte ich mir mal ansehen!“ Manchmal muss man seiner Sichtweise eben etwas rhetorischen Schwung geben, wenn man sein Gegenüber motivieren möchte, sich probeweise auf andere Standpunkte einzulassen. Welche Wirkung stellt sich ein, wenn man ein architektonisches Werk erlebt? Es erscheint selbstverständlich, dass wir (individuell

oder kollektiv) für uns selbst bauen, für unsere eigenen Zwecke, zu unserem eigenen Wohle, aber wenn wir uns über Architektur unterhalten, hat es den Anschein, als sei dieser Zweck – auch wenn er essenziell ist – zu stark subjektiv eingefärbt, um rational darüber diskutieren zu können. Wenn ein architektonisches Vorhaben wirklich für jemanden erdacht und verwirklicht wurde, kann man nur von denjenigen, die ihre Empfindungen ausdrücken und Rechenschaft ablegen können darüber „wie es sich anfühlt, in solchen Räumen zu sein“ (um mit Thomas Nagel zu sprechen), in Erfahrung bringen, ob das Vorhaben gelungen ist. Dafür muss man – und dies ist eine Herausforderung – den Gedanken zulassen, dass ein subjektiver Erfahrungsbericht nicht schon deswegen keinen Wahrheitsanspruch erheben kann, weil er sich womöglich auf eine Erste-Person-Perspektive beschränkt, sondern dass ein solcher subjektiver Erfahrungsbericht gerade deswegen einen Wahrheitsgehalt hat, weil er in einem unumgänglichen und grundlegenden bewussten Erleben verankert ist: Wenn jemand einen Sachverhalt behauptet, wird damit ein Sinnangebot zur Diskussion gestellt. Üblicherweise wird dieses Sinnangebot so lange in Anführungszeichen zitiert, bis man seinen Wahrheitsgehalt persönlich nachprüfen konnte. Aber danach kann man, wenn man das Sinnangebot ohne Vorbehalte annehmen konnte, die Anführungszeichen getrost weglassen. (Übersetzung aus dem Französischen: Andreas Bredenfeld)

Anmerkungen 1

„Usine de l’Eternit S.A. Niederurnen, à Payerne“, in: Das Werk: Architektur und Kunst 45, 1958, Heft 3, S. 75–81, unter: http:// dx.doi.org/10.5169/seals-35008 [15.05.2020]. Vollständige Biblio-

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grafie (bis 2007) in: Christian Bischoff (Hg.), Paul Waltenspühl: 1917–2001: architecte, ingénieur, professeur, Gollion 2007. 2

Thomas Parke Hughes, American Genesis: A Century of Invention and Technological Enthusiasm 1870–1970, New York 1989; Christian Sumi, Immeuble Clarté, Genf 1932 von Le Corbusier und Pierre Jeanneret, Zürich 1989.

3

Paolo Valore, L’inventario del mondo. Guida allo studio dell’ontologia, Turin 2008.

4 5

Ernst Neufert, Well-Eternit Handbuch, Wiesbaden 1955. Uta Hassler u. a., Vom Baustoff zum Bauprodukt: Ausbaumateria­ lien in der Schweiz 1950–1970, München 2018.

6

Kathrin Koslicki, The Structure of Objects, Oxford 2008; Johannes Hübner, Komplexe Substanzen, Berlin 2007.

7

Philippe Boudon u. a., Enseigner la conception architecturale. Cours d’architecturologie, Paris 1994.

8

Dieser Begriff ist nicht zu verwechseln mit dem mechanischen ,Moment‘-Begriff. Siehe Edmund Husserl, Logische Untersuchungen (1893–1921), Den Haag 1975–2005; Robert Sokolowski, Phenomeno­ logy of the Human Person, Cambridge 2008, S. 53–58; David Woodruff Smith, Husserl, London 2007.

9

Etienne Souriau, Anne Souriau, Vocabulaire d’esthétique, Paris 1990.

10 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Leipzig 1819, Kapitel 35: „Zur Aesthetik der Architektur“; Hermann Schmitz, System der Philosophie, Bonn 1964–1980; Hermann Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, Ostfildern 1998; Gernot Böhme, Aisthetik: Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001; Gernot Böhme, Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik, Berlin 2013. 11 Zwar gibt es gute Gründe, warum man bei der Verwendung von Asbest doppelt vorsichtig sein sollte, aber ich kann nicht erkennen, warum man darauf verzichten sollte, seine vielfältigen Einsatzmöglichkeiten wissenschaftlich zu erforschen. Es ist zu hoffen, dass neue industrielle Verfahren bald eine unbedenkliche Verwendung dieses seit der Antike bekannten und geschätzten Produkts ermöglichen werden. Siehe Hervé Genoud, Le point sur l'amiante, Genf 2003. Seit 1989 werden der Masse, aus der die Eternitprodukte hergestellt werden, statt Asbest recyclingfähige Kunstfasern zugegeben. 12 Die Nachtaufnahmen von Gustave Klemm bebildern den Beitrag „Usine de l’Eternit S.A. Niederurnen, à Payerne“ (Anm. 1); Michael Breu, „100 Years Eternit: Construction material for eternity“, unter: archiv.ethlife.ethz.ch/images/eter2-l.jpg [20.05.2020].

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Axel Christoph Gampp

Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der Architektur1 Einleitung Das Bild ist simultan, die Sprache sukzessive. Bekanntlich öffnet sich damit eine Diskrepanz zwischen dem Medium der Beschreibung und deren visuellem Objekt. Zu einem gewissen Maße lässt sie sich lösen, in dem man die sinnlich und somit simultan erfassbare Wirklichkeit als ,natürliche Zeichen‘ interpretiert, die sich bei der sprachlichen Aneignung in ,arbiträre Zeichen‘ verwandeln. Arbiträre Zeichen sind häufig reflektiert in einer metaphorischen Erfassung, indem die Sprache bei der Aneignung visueller Phänomene einen medialen Übersetzungsakt leistet. Sie nähert sich dem Sichtbaren mittels Umschreibung und mittels Sprachbildern. Das gilt es im Gedächtnis zu behalten, wenn im Folgenden über ein methodisches Vorgehen zur Beschreibung und damit zur Aneignung von Architektur verhandelt wird.2 Panofskys Methode der Bildbeschreibung und deren Weiterentwicklung Erwin Panofsky hat seine Methodik der Bildbeschreibung und -analyse als Hilfsmittel für die Kunstgeschichte entwickelt, in Erweiterung früherer Ansätze von Aby Warburg. Das Ziel war es, auf geordnetem Weg über eine Beschreibung zu einer Deutung von Werken bildender Kunst zu finden.3 Panofskys Modell hat drei Stufen. Es verläuft über das ,primäre‘ oder ,natürliche Sujet‘, worunter Panofsky die Beschreibung (,vor-ikonografische Beschreibung‘) versteht, hin zum ,sekundären‘ oder ,konventionalen Sujet‘, was die eigentliche ,ikonografische Analyse‘ meint. Darauf baut die ,eigentliche Bedeutung‘ auf, die ,ikonografische Interpretation‘. Panofsky erläutert das Vorgehen mit einem Mann, der den Hut zieht: Der rein phänomenologisch erfasste Akt entspricht dem primären oder natürlichen Sujet, mithin

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der vor-ikonografischen Beschreibung, dessen Deutung als Grüßen das sekundäre oder konventionale Sujet bezeichnet und den Blick auf die ikonografische Analyse lenkt, zu der einiges an Vorwissen benötigt wird. Die ikonologische Interpretation ist aber erst im Stande, das Geschehen in einen höheren (geistesgeschichtlichen) Kontext einzubinden und den Hut lüftenden Mann in einer Zeit und in einem geistigen Umfeld zu verankern, sodass sich eine tiefere Bedeutung erkennen lässt. Genau gleich müsste nach Panofsky die Interpretation von Werken der bildenden Kunst verlaufen. Auf die reine Beschreibung folgt die Suche nach einer literarischen Quelle. Mit ihr befinden wir uns auf der Ebene der sekundären oder konventionalen Sujets, mithin der ikonografischen Analyse. An dieser Stelle wandeln sich natürliche Zeichen in arbiträre Zeichen. Die Behandlung ein und derselben Quelle im Verlauf verschiedener Epochen führt zu einer ,Typengeschichte‘. Sie dient gleichzeitig als Korrektiv, um zu überprüfen, ob tatsächlich die treffende literarische Vorlage eruiert wurde. Auf der Zuordnung von Text und Bild baut nun die ,ikonologische Interpretation‘, mithin die Verankerung in einem geistesgeschichtlichen Rahmen auf. So basieren etwa zahllose Darstellungen der Aurora bzw. Apolls im Sonnenwagen auf der 4. Ekloge Vergils, in der ein neues Goldenes Zeitalter unter der Herrschaft Apolls angekündigt wird. Diese Vorstellung wurde von jeweils regierenden Potentaten gern auf sich selbst bezogen und deswegen immer wieder aufgegriffen. Um die Interpretation richtig vorzunehmen, bedarf es aber eines gewissen geistesgeschichtlichen Vorwissens. Panofsky spricht in der Nachfolge von Karl Mannheim von „Weltanschauung“.4 Der vorgegebene Umfang des Beitrages verbietet, auf Panofsky und die zahllosen Publikationen dazu vertiefend einzugehen. Unter den Kritikern sei hier lediglich Roelof van Straten hervorgehoben: Er hat 2004 eine meines Erachtens sinnvolle Erweiterung der Methode vorgenommen.5 Kritisiert wird von ihm, dass in Panofskys Modell ein Sprung vorhanden sei: Panofsky springe nämlich von der ikonografischen Analyse zur ikonologischen Interpretation. Demgegenüber müsse doch auf die vor-ikonografische Beschreibung als nächster Schritt eine ikonografische Beschreibung, dann die ikonografische Interpretation und schließlich darauf aufbauend eine ikonologische Interpretation folgen. Um bei dem Beispiel von Apoll im Sonnenwagen zu bleiben: vor-ikonografisch beschrieben wird ein Mann mit Pferdegespann, über den Himmel

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fliegend. Die ikonografische Beschreibung gelangt mithilfe der antiken Mythologie zur Deutung als Apoll mit dem Sonnenwagen. Die ikonografische Interpretation wird darin nicht nur den Sonnenwagen an sich erkennen, sondern den Zeitpunkt als denjenigen eines Sonnenaufganges bestimmen können, möglicherweise unter Kenntnis der 4.  Ekloge Vergils. Dass es sich dabei aber um ein panegyrisches Thema handelt, das auf die Regierung des jeweils amtierenden Herrschers alludiert, brauchen die Kunstschaffenden nicht zu wissen. Es genügt, wenn dieses Wissen, das die ,ikonologische Interpretation‘ zutage fördert, beim Auftraggeber oder beim Concepteur des Bildes verankert ist. Er braucht davon der Künstlerin nur so viel mitzuteilen, als dass jene zur bildtypologisch korrekten Fassung findet. Übertragung des Modells auf den Bereich der Architektur Das Modell ist für Werke der bildenden Kunst, nicht aber für Werke der Architektur entwickelt worden. Der nachfolgende Versuch geht dahin, es auch auf diesen anderen Bereich anwendbar zu machen. Die erste Ebene der primären oder natürlichen Sujets umfasst die reine Beschreibung und schließt vornehmlich die korrekte Beherrschung der Architekturterminologie ein sowie die logische Erfassung eines Bauwerkes von der Großform zum Detail. Hier liegen keine merklichen Schwierigkeiten. Beschwerlicher ist die Übertragung der nächsten Ebene, der ikonografischen Beschreibung, auf den Bereich der Architektur. Denn hier muss es gelingen, den Bau in einen größeren Kontext zu überführen, der vornehmlich durch historische Kenntnisse geprägt ist. Doch Panofskys Korrektiv erweist sich terminologisch als wegweisend: Wenn es im Bereich der bildenden Kunst um Typengeschichte geht, so sollte auch im Bereich der Architektur die erste Kontextualisierung durch Typologisierung erfolgen. Die primäre Einbettung in einen übergeordneten Zusammenhang wäre also die typologische Definition des Gebäudes. Voraussetzung dafür ist eine Kenntnis der Typengeschichte in der Architektur. Ohne historische Vorkenntnisse kann eine typologische Einordnung niemals gelingen. Ist dies geschehen, folgt jenes, was Panofsky als „sekundäres“ oder „konventionales Sujet“ und damit als „ikonografische Analyse“, van Straten aber als „ikonografische Interpretation“ bezeichnet hat. Man sollte für unseren Zusammenhang diese beiden Positionen nicht allzu weit auseinandersehen. In jedem

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Objekt der Interpretation

Akt der Interpretation

I. Primäres oder natürliches Sujet, das die Welt architektonischer Motive bildet

Beschreibung phänomenologischer Gegebenheiten

II. Typologie

Typologische Einordnung/ Definition

III. Sekundäres oder konventionales Sujet, das die Welt der Bauaufgaben bildet

Architektonische Analyse im weiteren Sinne, einschließlich Aspekten von – architektonischem Kontext – sozialem Kontext

IV. Eigentliche Bedeutung oder Symbolische (semantische) Gehalt, die die Welt symboliInterpretation in einem tiescher Werte bildet. feren Sinne (ikonografische Synthese) —> Ikonologie der Architektur

Tabelle: Modell der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Architektur, in Anlehnung an die entsprechenden Modelle von Panofsky und van Straten

Falle geht es um die Umwandlung natürlicher in arbiträre Zeichen, indem dem natürlichen Zeichen ein sprachliches Äquivalent zugewiesen wird. Welches Äquivalent vermag diesem Aspekt im Bereich der Architektur zu entsprechen? Umfassen muss er jedenfalls die Möglichkeit, die tieferen Intentionen des Baus ans Tageslicht zu befördern. Diese Intentionen müssen logischerweise a priori als Willensakt der Auftraggebenden in den Bau eingeflossen sein. Ein älterer Ansatz von Christian Norberg-Schulz könnte sich hier als zielführend erweisen. In seiner Logik der Baukunst streicht

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Ausrüstung für die

Korrektivprinzip der Interpre-

Interpretation

tation (Traditionsgeschichte)

Praktische Erfahrung (Kenntnisse der Architekturterminologie und Vertrautheit mit der Praxis der Architekturbeschreibung)

Stilgeschichte der Architektur

Kenntnisse von Themen und Motiven innerhalb der architektonischen Typen

Geschichte der Architekturtypologie

Kenntnisse des Kontextes Kenntnisse in benachbarten (d. h. von spezifischen Themen Wissenschaften wie bspw. Sound Konzepten in der Archiziologie, Urbanistik, Ökologie tektur wie z. B. urbanistische, soziale, ökologische) Synthetische Intuition (Vertrautheit mit den wesentlichen Tendenzen des menschlichen Geistes), geprägt durch persönliche Psychologie und Weltanschauung

Geschichte der kulturellen Symptome oder Symbole allgemein (Einsicht in die Art und Weise, wie unter wechselnden historischen Bedingungen wesentliche Tendenzen des menschlichen Geistes durch bestimmte Themen und Vorstellungen ausgedrückt wurden)

er nämlich die Rolle der ,Bauaufgabe‘ heraus: „Der Zweck der Architektur besteht darin, gewissen Aspekten unserer Umgebung eine Ordnung zu geben. ,Ordnung geben‘ heißt, dass die Architektur die Beziehungen zwischen Mensch und Umgebung kontrolliert oder regelt. Sie trägt somit zur Schaffung eines ,Milieus‘ bei, also eines sinnvollen Rahmens für die Tätigkeit des Menschen. Die Bauaufgabe umfasst diejenigen Aspekte unserer Umgebung, die uns direkt angehen.“6 Wäre nicht die Bauaufgabe jener Bereich, der am ehesten jenem entspräche, was Panofsky als sekundäres oder

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konventionales Sujet bezeichnete, das bei ihm zur ikonografischen Analyse führt, die bei van Straten als ikonografische Interpretation auftritt? Letzterer versteht ja expressis verbis darunter die „tiefere […] Bedeutung eines Kunstwerkes, wie es der Künstler explizit gemeint hat“.7 Die Bauaufgabe, wie sie Norberg-Schulz versteht, könnte diesem Ansatz einigermaßen entsprechen. Sie fasst, was der Architekt bzw. die Architektin explizit gemeint hat, und zwar in verschiedener Hinsicht. Norberg-Schulz verkürzt die unendliche Fülle möglicher Intentionen auf deren drei: physische, soziale und kulturelle.8 Für unseren Zusammenhang erscheinen aber physische und soziale Aspekte schlecht gewählt, denn physische Aspekte sind Bestandteil der reinen Beschreibung natürlicher Phänomene und somit auf der Ebene der natürlichen Sujets angesiedelt. Eine übergeordnete Aufgabe besteht in der Schutzfunktion.9 Indem es der ,Architektonischen Analyse im weiteren Sinne‘ (auf der Ebene sekundärer oder konventionaler Sujets) aber um Kontextualisierung geht, wäre die naheliegendste Lösung in zwei Parametern zu finden: im architektonischen und im sozialen Kontext. Der ,soziale Kontext‘ benennt die Bauaufgabe im Hinblick auf deren soziale Funktion. Funktion kann hier nicht rein utilitaristisch verstanden werden, wie es etwa im Bereich der Plattenbauten der 1960er und 1970er Jahre geschehen ist, sondern muss auch die symbolische Funktion im Rahmen einer gesellschaftlichen Wirklichkeit einschließen. Darunter fällt das Problem des Angemessenen, das seit der Antike das Verhältnis von Nutzung und Erscheinungsbild normativ zu ordnen versucht. Der ,architektonische Kontext‘ beschreibt und beurteilt gleichermaßen, wie sich ein Bauwerk in seinen architektonischen Rahmen einfügt. und zwar von einer kleinteiligen Perspektive über eine regionale und bis hin zu einer nationalen oder globalen. Zur Beurteilung muss Wissen aus benachbarten Disziplinen, etwa der Urbanistik, der Soziologie, der Ökologie etc. beigezogen werden. Die letzte Ebene, jene der ,eigentlichen Bedeutung‘, die die Welt ,symbolischer Werte‘ einschließt, bedarf der bereits erfolgten typologischen Einordnung, um Architektur als Bedeutungsträger würdigen zu können.10 Unter dem Primat von ,form follows function‘ hat die Moderne den symbolischen Gehalt zu eliminieren versucht, aber gelegentlich ist er gegenwärtiger, als man gemeinhin annehmen möchte. Die Ebene der eigentlichen Bedeutung umfasst jene Sphäre, die weder notwendigerweise integraler Bestandteil der

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Bauaufgabe zu sein hat, noch muss sie vom Architekten bzw. von der Architektin gewusst oder erkannt werden. Darum wissen sollten vielmehr die Auftraggebenden. Doch auch das ist nicht sicher oder wird zumindest gern in Abrede gestellt, wie gleich exemplifiziert wird. Symbolischer Gehalt erschließt sich häufig erst über eine diachrone Analyse, die Ähnlichkeiten mit Bauten der Vergangenheit aufzeigt. Gelegentlich fehlt es auch den Auftraggebenden an Vorbildung, um diese Bezüge herstellen zu können, und sie laufen gleichermaßen blindlings in eine Bedeutungsfalle. Das Bauwerk wird symbolisch aufgeladen, ohne dass Architekt und Bauherrin eine Vorstellung davon hatten. So ist es Jean Nouvel ergangen, als er für einen chinesischen Kulturpalast drei grüne Kugeln entwarf, die in den Augen der Chinesen wie Schildkröten aussahen. Grüne Schildkröten sind dort aber eine Metapher für Fremdgehen.11 Eine synchrone Analyse, das heißt, ein Vergleich mit gleichzeitig entstandenen Bauten, kann auch Resultate zeitigen, müsste aber gegebenenfalls von einem gleichen Auftrag oder von identischen Bauaufgaben geleitet sein. In aller Kürze soll das hier skizzierte Vorgehen am Roche-Turm Basel angewandt werden. Beschreibung und Deutung des Roche-Turms in Basel Primäres oder natürliches Sujet Aufgrund des zur Verfügung stehenden Raumes übergehen wir an dieser Stelle den ersten Schritt, die reine Beschreibung der phänomenologischen Gegebenheiten, die die Höhe des Gebäudes, seine auf einer Seite abgetreppte, auf allen anderen Seiten glatten Wände ebenso erfassen müsste wie die Materialisierung. Typologie Auch die typologische Einordnung bereitet kaum

Schwierigkeiten. Dass es sich um ein Hochhaus handelt, versichert die Definition des Hochhauses als ein Gebäude mit mindestens einem Aufenthaltsraum, der mehr als 22 Meter über der Geländeoberfläche liegt.12 Die Typologie lässt sich weiter untergliedern in reine Blockbauten, den Hochhausturm und das ,Set-Back-Building‘, wie es seit 1916 in den USA geläufigt ist.13 In der typologischen Tradition von Letzterem lässt sich der Roche-Turm sehen. Sekundäres oder konventionales Sujet (Architektonische Analyse im weiteren Sinne) Gemäß dem oben Ausgeführten muss an dieser

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Stelle eine Kontextualisierung der Architektur im Hinblick auf den architektonischen wie den sozialen Kontext erfolgen. Herzog und de Meuron leisten dem insofern Vorschub, als sie selbst verlauten ließen, sie würden nicht ein Hochhaus, sondern einen urbanen Rahmen schaffen.14 Sie erachten also den architektonischen Kontext als signifikant. In diesem dominiert im Nahraum die Architektur von Otto Salvisberg und dessen Nachfolger Roland Rohn. Herzog und de Meuron sehen sich in deren Nachfolge.15 Es wäre also zu untersuchen, ob diese Haltung eingelöst wird und ob der gegebene architektonische Rahmen tatsächlich dem Neubau entscheidende Impulse verliehen hat und umgekehrt dieser sich in dialogischer Weise zum Gegebenen verhält. Die Frage kann hier nicht abschließend geklärt werden. Augenfällig ist, dass die Betonung der Horizontalen im Turm sehr wohl aus dem Bestand abgeleitet werden kann und über dieses Tertium Comparationis auch ein Diskurs gegeben ist. Aber wie verhält es sich mit den Epitetha „gediegene Eleganz“ oder „Sachlichkeit“, die beide für die Architektur von Salvisberg gern herangezogen wurden?16 Und ist dessen Gefühl für Proportionen in der Architektur tatsächlich auch im Roche-Turm wiederzufinden?17 Wir bleiben hier die Antwort schuldig, wenden dafür den Blick auf den größeren Kontext. Dort spielt das Verhältnis dieses vertikalen Akzentes mit allen anderen bestehenden in der Stadt eine Rolle, insbesondere mit den älteren, nämlich den Kirchtürmen. Die hier nicht zu leistende Beschreibung müsste sich vertiefend diesem Verhältnis widmen. Sie müsste ferner ins Auge fassen, dass das Basler Becken als architektonischen Referenzpunkt die umgebende hügelige Landschaft kennt,18 und also beschreiben, wie sich der Turm dazu verhält. Die Einbettung in einen sozialen Kontext würde auf die Funktionalität des Hauses beschreibend wie analysierend eingehen. Bietet das Haus die richtigen Voraussetzungen für den ihm zugedachten Zweck (Arbeitsplätze)? Wie verhält es sich zu den umliegenden Bauten, besteht hier die Anlage zu einer sozialen Interaktion? Vor allem aber: Wie entspricht der Bau dem größeren sozialen Umfeld, der Stadt? Der ehemalige Kantonsbaumeister Carl Fingerhuth bezeichnete den Bau wegen des in seinen Augen eklatanten Verstoßes gegen die bestehende Bausubstanz von Basel als die „gewalttätigste und respektloseste Architektur, die bis jetzt in der Schweiz gebaut wurde.“19 Auch dieses auf die soziale Kontextualisierung abziehende Urteil bedürfte einer exakten Überprü-

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fung, lässt aber doch etwas von der Virulenz der sozialen Ebene der Architektur und damit der Ebene der sekundären oder konventionalen Sujets erahnen. An sie knüpft nun jene der eigentlichen Bedeutung an. Die Bauherrin, die Roche selbst, hat zu verschiedenen Gelegenheiten verlautbaren lassen, der Turm sende keinerlei Botschaft aus.20 Herzog und de Meuron selbst äußerten – wie bereits hervorgehoben –, sie bauten kein Hochhaus, sondern einen urbanen Rahmen.21 Dass der Turm aber eine ikonische Botschaft ausstrahlt, war dem Basler Volksmund sofort bewusst. Auf die formale Seite anspielend, wurde der Bau als „Käseraffel“ bezeichnet. Mehr inhaltlicher Natur ist die ebenfalls zirkulierende Metapher vom ,Turmbau zu Basel‘, wohinter sich unschwer identifizierbar eine Allusion auf den Turmbau zu Babel verbirgt, was wiederum auf ein hohes Maß an Hybris der Bauherrin anspielt. Es erstaunt, dass weder Architekten noch Bauherrin die Ebene der symbolischen Werte selbst besetzen, denn es ist offenkundig, dass diese Ebene existiert. Erst recht bei einem Bau, der wie kein zweiter die Silhouette von Basel dominiert. Diese Ebene zu leugnen, widerspiegelt jenes Phänomen, was die Briten als ,weißen Elefanten‘ bezeichnen: Es ist offenkundig da, aber niemand will es erwähnen. Dass sich hier – ganz im Sinne des vorgelegten Modells – kulturelle Symptome oder Symbole allgemein manifestieren, ja dass ein solcher Bau wesentliche Tendenzen des menschlichen Geistes in Themen und Vorstellungen ausdrückt, kann schwerlich in Abrede gestellt werden. Conclusio Der vorliegende Beitrag muss die Erwartungen enttäuschen, wo diese auf die exakte Beschreibung gerichtet sind. Das Ziel war aber, durch die Übertragung eines methodischen Modells aus dem Bereich der bildenden Kunst auf jenes der Architektur den Blick zu öffnen für die Vielschichtigkeit, die dem Thema ,Beschreibung‘ inhärent ist, und womöglich auch dazu zu verleiten, das Thema in einer systematischen und damit methodisch geordneten Weise anzugehen. Dafür könnte sich Panofskys Modell als fruchtbar erweisen.

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Anmerkungen 1

Der etwas lange Titel lehnt sich an das Vorbild Panofskys an. Siehe die Werke in Anm. 3.

2

Murray Krieger, Wort und Bild, Raum und Zeit – und das literarische Werk, in: Gottfried Boehm, Helmut Pfotenhauer (Hg), Beschrei­ bungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München 1995, S. 45: „Im Zentrum einer Poetik der Ekphrasis steht die Opposition von natürlichen und arbiträren Zeichen […], eine Opposition, die sich bedeutsamerweise mit der verwandten Opposition von sinnlich wahrnehmbaren und geistig fassbaren Zeichen überlappt (Zeichen, die unsere Sinne unmittelbar ansprechen und Zeichen, die nur über die Vermittlung durch den Intellekt verstanden werden können).“

3

So auch der Titel bei Erwin Panofsky, „Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst“, in: Logos 21, 1932, S. 103–119. Die Verfeinerung in Erwin Panofsky, Studies in Iconology. Humanistic Themes in the Art of the Renais­ sance, New York 1939, dt. erstmals: Erwin Panofsky, Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 1975, S. 36–50 (sowie Anmerkungen auf S. 63–64).

4

Karl Mannheim, Beiträge zur Theorie der Weltanschauungsinter­ pretation, Wien 1923.

5

Roelof van Straten, Einführung in die Ikonographie, 3. Aufl. Berlin 2004, S. 28.

6

Christian Norberg-Schulz, Logik der Baukunst, Frankfurt a. M., Wien 1965, S. 109.

7

Van Straten, Einführung in die Ikonographie (wie Anm. 5), S. 28, Abb. 2.

8 Norberg-Schulz, Logik der Baukunst (wie Anm. 6), S. 109: „Im Folgenden werden wir uns deswegen physischer, sozialer und kultureller Gegenstände als Vergleichsdimensionen bedienen […].“ 9

Ebd., S. 111.

10 Siehe dazu die Vorstellungen bei Günter Bandmann, Mittelalter­ liche Architektur als Bedeutungsträger, Berlin 1951, sowie Adolf Reinle, Zeichensprache der Architektur. Symbol, Darstellung und Brauch in der Baukunst des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Zürich, München 1976. 11 Rainer Haubrich, „Warum Pekings Olympiastadium genial ist“, in: Die Welt, 6.5.2008.

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12 Ellen Kroft, „Gebäudetypologie“, in: Johann Eisele, Ellen Kroft (Hg.), Hochhaus Atlas. Typologie und Beispiele, Konstruktion und Gestalt, Technologie und Betrieb, München 2002, S. 11–23, hier S. 11: „Hochhäuser sind Gebäude, in denen der Fußboden mindestens eines Aufenthaltsraumes mehr als 22 m über der natürlichen oder festgelegten Geländeoberfläche liegt.“ 13 Kroft, „Gebäudetypologie“ (wie Anm. 12), S. 11. 14 Zitiert nach Roche Tower (Bau 1) 2006–2015, Textheft des Schweizer Architekturmuseums Basel, erschienen aus Anlass der Ausstellung Textbau. Schweizer Architektur zur Diskussion (01.11.2014– 22.02.2015). 15 Zitiert nach ebd., S. 9. 16 Daniel Weiss, „Bestandesbeschrieb Otto Rudolf Salvisberg“, in: Website des gta Archivs, ETH Zürich, November 2010, unter: www. archiv.gta.arch.ethz.ch/nachlaesse-vorlaesse/salvisberg-otto-rudolf/ informationen [23.12.2018]. Zur Eleganz Salvisbergs siehe auch Ulrike Jehle-Schulte Strathaus, „Industrielle Repräsentation und Eleganz. Zu den Bauten der Hoffmann-La Roche“, in: Claude Lichtenstein u. a., O. R. Salvisberg. Die andere Moderne, 2. Auflage, Zürich 1995, S. 180–185. 17 Zum Gefühl für Proportionen bei Salvisberg siehe Claude Lichtenstein u. a., O. R. Salvisberg. Die andere Moderne, 2. Auflage, Zürich 1995, S. 10. 18 Hier zitiert der Stellvertretende Basler Denkmalpfleger Thomas Lutz, in: Roche Tower (wie Anm. 14), S. 4. 19 Carl Fingerhuth, „Bedürfnisse, Werte und Träume“, in: Neue Zürcher Zeitung, 5. 1. 2013, S. 56. 20 Die Mediensprecherin der Roche, Martina Rupp, meinte expressis verbis, der Büroturm solle „nicht wirklich“ eine Botschaft gegen außen ausstrahlen. Zitiert nach Roche Tower (wie Anm. 14), S. 12. 21 Zitiert nach Roche Tower (wie Anm. 14).

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Rainer Schützeichel

Ein Versuch über Lesarten, Deutungen und Projektionen Am Vorabend des 14.  Juni 2019 leuchtete sie weithin sichtbar an der Seite des Hauses: die dem Weiblichkeitssymbol eingeschriebene, emporgereckte Faust. Der im Basler Rheinknie aufragende Roche-Turm übertrifft mit seinen 178  Metern Höhe sämtliche Bauten der Stadt, und je nach Blickwinkel bläht er sich zu einer Art Segel auf – eine ideale Projektionsfläche. Die Basler Aktivistinnen des 14. Juni haben dies auf clevere Weise vor Augen geführt: nicht ganz freiwillig geriet der Turm zum Werbeträger für den zweiten schweizweiten Frauenstreik, bei dem an jenem Tag eine halbe Million Menschen für Chancen- und Lohngleichheit, für faire Arbeitsbedingungen und gegen sexualisierte Gewalt demonstriert haben. Über eine wörtliche Lesart hinaus bieten Hochhäuser im Allgemeinen und bietet der Roche-Turm im Speziellen auf mehreren Ebenen eine Projektionsfläche. Von diesen soll im Folgenden die Rede sein. Zwei Aspekte greifen dabei hinaus in die Architekturgeschichte und beleuchten zum einen die dem Hochhaus (vulgo: ,Turm‘) vielleicht immer schon eingeschriebene Symbolik, die in ihm Stärke, Entschlossenheit und Männlichkeit erkennen wollte, und zum anderen werden die im Zuge der Hochhausdebatten des frühen 20.  Jahrhunderts mit dem Bautyp aufkommenden Zukunftsprojektionen in Erinnerung gerufen. Ob die nahe Zukunft nun als prosperierend oder aber als bedrohlich gesehen wurde, ob man darin die Chance zu einer Neuordnung der Innenstädte oder die skrupel- und kulturlose Amerikanisierung der europäischen Stadt erkennen wollte, hing wesentlich vom ideologischen Betrachtungswinkel ab.

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Die beiden anderen Themen umkreisen den Roche-Turm selbst als Teil eines größeren Ganzen. Das Bauwerk evoziert ganz unterschiedliche Assoziationen und spricht Gefühlslagen an, die sich um so verschiedenartige Dinge wie Stadtbildwirkung, wirtschaftliche Prosperität oder aber Verschattung im Nahbereich drehen. Und schließlich projiziert das Haus selbst eine gerade im Entstehen begriffene nahe Zukunft: die Firma Roche plant, ihr innenstadtnahes Areal bis Mitte der 2020er  Jahre zu entwickeln und unter anderem mit weiteren Hochhäusern zu bestücken, von denen eines, der unmittelbar benachbarte „Bau  2“, den „Bau  1“ an Höhe gar noch um 27 Meter übertreffen wird. Der Roche-Turm ist also lediglich das Präludium zu einer Arealentwicklung, die abschließend wohl erst in einigen Jahren beurteilt werden kann. Der Turm als Zeichen von (männlicher) Macht Dem subversiven Akt der Baslerinnen, ihr Frauenstreik-Symbol an die Flanke des Roche-Turms zu werfen, wohnte eine doppelte Symbolhaftigkeit inne. Erstens haben sie mit ihrer Aktion zumindest kurzzeitig die weithin sichtbare Repräsentanz eines einflussreichen Pharmakonzerns, eines ,Global Players‘, gekapert und seine Architektur gewordene Hoheitsgeste mit ihrer emporgereckten Faust umcodiert. Zweitens aber kam hier zugleich Grundsätzliches, nämlich die Bipolarität von Weiblichkeit und Männlichkeit, zum Ausdruck, die sich in diesem Fall im grafisch manipulierten weiblichen GenderSymbol auf der einen Seite und dem in der Architekturgeschichte klassischerweise als ,männlich‘ konnotierten Turm auf der anderen zeigte; für Letzteres muss man nicht erst den Trump-Tower an der New Yorker Fifth Avenue und seinen schmierigen Erbauer heranziehen, denn eine solche Parallelsetzung reicht sehr viel weiter in die Ideengeschichte der Architektur zurück. Und doch war es  – neben ganz handfesten arbeitsmarktpolitischen Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern – ebenso ein nicht zuletzt von diesem Turm repräsentiertes, testosterontriefendes Bild von ,Männlichkeit‘, gegen das sich der Protest am 14. Juni richtete. Gut möglich, dass es im Kalkül der Demonstrierenden lag, eine solche Doppellesbarkeit zu erzeugen. Spuren für das Verständnis eines aufstrebenden, ,erigierten‘ Bauwerks als Ausdruck männlicher Potenz finden sich bereits anderswo. Um nur einer naheliegenden Fährte zu folgen: Wolfgang Pehnt hat im deutschen Architekturdiskurs für den Beginn

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des 20. Jahrhunderts gezeigt, dass dem räumlichen Archetypus der Höhle die Vorstellung des Weiblichen, dem Turm hingegen jene des Männlichen eingeschrieben wurde. In den nach 1871 aus dem Boden sprießenden Bismarcktürmen und Reichseinigungsdenkmälern findet sich diese Symbolik aufs perfideste mit der Heldenerzählung von nationaler Wiedergeburt und stolzer Wehrhaftigkeit verbunden. Doch muss man, was den Bautyp angeht, auch hier gar nicht erst so tief ins völkisch-nationalistische Gruselkabinett hinabsteigen, um Belege für die vorgebliche ,Männlichkeit‘ des Turms zu finden; wie Pehnt lapidar feststellt, wurden in diesen Jahren selbst „profane Geschäftshochhäuser […] von ihren Erbauern als Zeichen der Virilität gelesen“.1 „Der Büroturm ist höchster künstlerischer Wirkung fähig“

Natürlich schielte man dabei nach Amerika, wo sich bereits seit dem späten 19. Jahrhundert Firmen, Zeitungshäuser und Investoren mit immer höheren Bauten auszustechen suchten. In der Schweiz war man deutlich zögerlicher. So kommt man auf dem Weg vom Basler Bahnhof zum Roche-Turm am Aeschenplatz an einem Eckgebäude zur St.  Jakobs-Strasse vorbei, über dessen Erdgeschoss in großen, ja gar ein wenig stolzen Lettern „Turmhaus“ zu lesen steht. Es ist das erste Hochhaus der Stadt am Rhein  – und stammt aus dem Jahr 1929. Auch wenn es ungerecht sein mag, dessen Höhenentwicklung nach heutigen Sehgewohnheiten putzig zu nennen, so spricht es doch auch in seinem historischen Kontext Bände darüber, dass man im Europa der 1920er Jahre ausgesprochen zurückhaltend war im Bau von (man mag das Wort kaum benutzen) Wolkenkratzern. Mit seinen gerade einmal sieben Obergeschossen respektive 31 Metern kann das von Ernst Benedikt und Paul Vischer entworfene Haus nicht verbergen, dass es die amerikanische Vorlage krachend verfehlte. In den USA hatte man – vor allem in Chicago, wo im Stadtzentrum nach dem Great Fire von 1871 zahlreiche Hochhäuser in den Himmel gewachsen waren, und mehr noch in New York – schon sehr viel früher sehr viel größere Höhen erklommen. Zum Vergleich: Das 1930 fertiggestellte Board of Trade Building in Chicago überragte mit seinen 186 Metern die kleine, just zur selben Zeit errichtete Basler Schwester um nicht weniger als das Fünffache.

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Es war aber gar nicht die Absicht, das amerikanische Vorbild schlicht zu kopieren. Denn von Beginn an spielte in den europäischen Hochhausdebatten das Thema des städtebaulichen Zusammenhangs eine Hauptrolle bei der Frage, wie denn Bürohochhäuser in das jeweilige Stadtbild integriert werden könnten. Auch die Baugesetzgebung sprach ein gewichtiges Wort mit, anders als in den großen Städten der USA, in denen die Hochhäuser zunächst weitgehend unreguliert vor sich hinwachsen konnten. Auf diesen Unterschied hat ein prominenter Unterstützer der Hochhausidee, der Soziologe Siegfried Kracauer, schon 1921  – zu einem Zeitpunkt also, als diese in Deutschland noch gar nicht baulich realisiert worden war, aber lebhaft diskutiert wurde – hingewiesen, um seine Zeitgenossen davon zu überzeugen, dass das Schreckbild Amerika keinesfalls Fuß fassen würde im beschaulichen europäischen Stadtbild: „Die Häßlichkeit der New Yorker City ist jedermann bekannt. Turmartige Ungetüme, die ihr Dasein dem ungezügelten Machtwillen raubtierhaften Unternehmertums verdanken, stehen dort wild und regellos nebeneinander […]. So freilich darf in Deutschland nicht gebaut werden und so wird auch bei uns nicht gebaut werden“.2 Und Kracauers Zeitgenosse, der Architekturkritiker und Städtebauer Werner Hegemann, der selbst einige Jahre in den USA gelebt hatte, sekundierte 1925: „Der Büroturm ist höchster künstlerischer Wirkung fähig, aber er darf nur als große Ausnahme, etwa als nur einmal erscheinende Betonung im Gesamtbild der Stadt, als Rathaus oder als einziges zentrales Geschäftshaus zugelassen werden.“3 ,Alles halb so schlimm, liebe europäische Kritik!‘, mag sich als Subtext dieser Aussagen erkennen lassen: Es werden nicht unzählige ,turmartige Ungetüme‘ eure Städte in Wildwuchs verschlingen, und die wenigen Hochhäuser, die gebaut werden, sind städtebaulich eingebunden! Diesem Tenor folgten die Befürworterinnen und Befürworter von Hochhäusern auf breiter Linie, und wirft man einen Blick auf die Bautätigkeit der 1920er und 1930er Jahre, so behielten sie meist recht; das ,Turmhaus‘ am Basler Aeschenplatz fügt sich exemplarisch in diese Kette ein. Noch heute ist Deutschland sicherlich kein Hochhausland, ebenso wenig wie die Schweiz eines ist. Hier liefern sich die beiden großen Deutschschweizer Städte Basel und Zürich in den letzten Jahren ein Rennen um das höchste Haus des Landes: Basel hatte zu Beginn des neuen Jahrtausends mit dem Messeturm von

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Morger  & Degelo die Nase vorn, dann überholte Zürich mit dem von Gigon/Guyer entworfenen Prime Tower, und schließlich setzte sich erneut Basel mit dem Roche-Turm von Herzog & de Meuron an die Spitze  – die indes alsbald für dessen großen Bruder, dem „Bau 2“, geräumt werden wird. Es sind vor allem solche international ausstrahlenden Leuchttürme, an die man denkt, wenn man nach dem Vorkommnis des Bautyps in der Schweiz gefragt wird. Hochhaus und Stadt Obschon also das Hochhaus nicht eben landestypisch ist (was auch immer das überhaupt sein mag!?), so ist der vergleichsweise moderate, im städtebaulichen Zusammenhang auf einzelne Höhendominanten setzende Umgang damit hierzulande doch alles andere als uneuropäisch. Damit kommen wir zum eigentlichen Objekt dieses Textes: dem Roche-Turm, „Bau 1“, entworfen von den Basler ,Stararchitekten‘ Jacques Herzog und Pierre de Meuron, Baubeginn 2011, Fertigstellung vier Jahre später, im September 2015. Noch bevor das Haus im Bau war, kochten altbekannte Ressentiments hoch, doch ebenso wurde das Projekt mit Lob bedacht und als „eine Chance für Basel“ bezeichnet.4 Die einen meinten, die „vollkommen neue Höhe“ des Turms „würde die Stadt in ihrem Wesen verändern“, ja Basel würde gar „seine Identität aufs Spiel [setzen], wenn es die Realität des globalen Markts so direkt abbildet“;5 gemeint war hier der mit wirtschaftlicher Bedeutung einhergehende politische Einfluss eines Pharma-Großkonzerns wie Roche in einer Pharma-Stadt wie Basel. Die anderen indes freuten sich, dass das inzwischen fertige Haus mit „grosser Selbstverständlichkeit“ daherkomme und prophezeiten, „die Bewohner einer der ältesten Universitätsstädte Europas und eines der wichtigsten Zentren des Humanismus werden es mittelfristig begrüssen, dass nicht ein mittelalterlich-religiöses, sondern ein Symbol der aufgeklärten Wissenschaftsgesellschaft die Silhouette ihrer Stadt dominiert“.6 Es ist bemerkenswert, wie getreu sich die Debatte um die städtebauliche Einbindung des Hochhauses auch rund 90  Jahre nach der ersten Realisierung eines solchen Bauwerks in Basel wiederholte. Und auch hier kann letztlich festgestellt werden, dass alles halb so wild ist. Stand die Befürchtung im Raum, das historische Basler Stadtbild ginge im Angesicht von „Bau 1“ seines Charakters verlustig, so darf man heute feststellen, dass sich dieses Argument

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nur mit einer ordentlichen Portion Missgunst aufrechterhalten lässt. Dies hat drei Gründe: Erstens liegt der Turm in einiger Entfernung zu den Altstädten Groß- und Kleinbasels, noch dazu auf der anderen Flussseite als das dominierende Münster; zweitens zeigt er sich zur Stadt hin mit seiner schlanken Fassade, während er das oben angesprochene Segel an seiner Breitseite zum Rhein hin aufbläst; und drittens nimmt das Haus sich auf ganz erstaunliche Weise zurück, denn es diffundiert vor allem bei mäßiger Bewölkung beinahe in den Himmel, was an seinen Glasflächen und rundum laufenden weißen Brüstungsbändern liegt. Aufbruch, mit einem Schulterblick in die Geschichte Weht die

Frage nach der Stadtbildverträglichkeit einen Hauch der Debatten aus den 1920er Jahren herüber, so gilt dasselbe für das ökonomische Argument zugunsten einer mithilfe von Hochhäusern geleisteten Effizienzpotenzierung; bei Roche war die letztere Überlegung entscheidend für die Inangriffnahme der quantitativen und qualitativen Binnenentwicklung des firmeneigenen Areals. Im Rückblick ist es ein weiteres Mal Kracauer, der ein – man könnte fast meinen: auf Roche gemünztes  – Gedankenspiel unternahm: „Die Zusammenlegung möglichst vieler Büroräume in ein einziges Gebäude, beziehungsweise in eine kleine Anzahl solcher Hochhäuser, verringert den zur Abwicklung des geschäftlichen Verkehrs erforderlichen Zeitaufwand in erheblichem Maße und trägt dadurch zu einer besseren wirtschaftlichen Bewertung kostbarer menschlicher Arbeitskraft bei.“7 So war es nicht zuletzt das Problem einer Vielzahl über das Stadtgebiet verteilter, in angemieteten Büroräumen untergebrachter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, das den Anstoß dazu gab, sämtliche Arbeitsplätze auf das Firmenareal (und die Beschäftigten näher zueinander) zu holen. Auf diese Weise soll, wie von Kracauer prognostiziert, die „kostbare menschliche Arbeitskraft“ besser genutzt werden, da sich Wege verkürzen, der informelle Austausch zwischen Abteilungen erleichtert und eine effizientere, dabei zugleich flexiblere Arbeitsorganisation möglich wird. „Bau 1“ ist dabei nur ein Baustein einer seit mehreren Jahren unternommenen Arealentwicklung. Seine Architekten sind schon seit Längerem an deren Umsetzung beteiligt; insbesondere ihr 2011 fertiggestelltes Forschungsgebäude („Bau  97“) nimmt das Motiv der gestapelten, mit weißen Brüstungsbändern umwobenen

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Glasbox vorweg, das sich in verfeinerter Form im „Bau 1“ wiederfindet. Seinen Ursprung aber hat es in den von Otto Rudolf Salvisberg verantworteten Bauten für Roche, die dieser als ,Hausarchitekt‘ der Firma ab 1935 errichtete. Noch heute wird das Firmenareal stadtseitig von seinem eleganten, bandfensterumsäumten „Bau 21“ eröffnet, der 1936 bezogen worden war und in dem die Konzernleitung bis heute ihren Sitz hat. Wie ein späterer Chronist festhielt, war es dieser an eine bestehende Reihenhauszeile anschließende Bau, mit dem Salvisberg eine „überzeugende Verknüpfung von Alt und Neu“ gelang.8 Interessanterweise gesellt sich zu diesem adressbildenden Haus gleich nebenan das zwischen 1957 und 1960 von Roland Rohn erbaute Scheibenhochhaus „Bau 52“, das mit seiner strengen Curtain-Wall-Fassade – ein abermaliger Gruß an die amerikanische Architekturentwicklung  – schon vor sechzig Jahren eine Hochhausdiskussion en miniature auf das Areal holte. Heute zwängt sich das Haus zwischen den Salvisberg-Bau und den „Bau 1“, von dem es so dermaßen dicht bedrängt wird, dass man glatt meinen könnte, Herzog  & de Meuron wollten sich an ihren typologischen Großvater anlehnen. Resümee Jenseits aller wirtschaftlichen Notwendigkeiten, bei

begrenztem Platz und hohen Grundstückspreisen in die Höhe zu bauen, sind und bleiben Türme doch auch Machtsymbole: ,Seht her, da sind wir, und wir bleiben!‘ Doch selbst, wenn Machtkonzentration stets kritisch beäugt und mit regulierender Observanz bedacht werden muss, so wird Macht nicht immer zwangsläufig missbraucht. Und die im Turm sozusagen mitgebaute Aussage, dass man bleibe, kann durchaus auch als positives Signal, als Bekenntnis zum Standort verstanden werden. Sicher: die wirtschaftliche Bedeutung der Firma Roche (wie auch der örtlichen Konkurrentin Novartis) begründet einen großen, vielleicht auch einen zu großen Einfluss auf die Stadtplanungspolitik Basels, dank dem sich Groß- und Größtprojekte leicht durchs Genehmigungsverfahren bringen lassen. Immerhin kauft man dem Konzern sowohl sein Bekenntnis zum Wirtschaftsstandort ab als auch sein kulturelles Engagement in der Stadt seines Stammsitzes, das er nicht nur in Form des Museums Tinguely leistet. Es scheint zudem ein Bewusstsein für die eigene

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Firmengeschichte zu geben, das auch die baulichen Zeugnisse miteinschließt. Insbesondere die Relikte der Salvisberg’schen Planung werden respektiert und in Schuss gehalten. So soll wieder an dessen ursprüngliche, damals auch arbeitsökonomisch motivierte (und heute wohl eher rekreativ verstandene) Konzeption, das Areal nah an den Rhein zu binden, mittelfristig durch den Abriss später hinzugefügter, die freie Sicht vom Firmengelände auf den Fluss verstellender Produktionshallen angeknüpft werden. Dass dort, wo gehobelt wird, auch Späne fallen, ist eine Binsenweisheit. Die kompensierenden Maßnahmen aber, die Roche während der zweifelsohne bauintensiven Arealentwicklung trifft, um etwa Transportwege kurz zu halten, lokale Betriebe einzubinden oder die Nachbarschaft vor allzu großer Lärmbelastung zu schützen, verdienen durchaus Erwähnung. Selbstverständlich sind nicht alle zufrieden mit (oder gar begeistert von) den neuen Türmen, die nun nach und nach die Basler Skyline ergänzen werden. Als Ensemble jedoch sind sie Ausdruck eines recht glaubwürdig am Gemeinwohl interessierten, aber eben doch privaten Konzerns. Zugleich enthalten sie sich jeder Extravaganz, ja sie setzen im Gegenteil eher auf formale Zurückhaltung, um nicht zu sagen: Strenge. Der Auftakt, den „Bau 1“ hierzu macht, ist in dieser Hinsicht vielversprechend. Kommentierte Auswahlbibliografie

Wolfgang Kemp, Architektur analysieren. Eine Einführung in acht Kapiteln, München 2009. Wortgewaltig, aber doch verständlich und zugewandt, setzt sich der Kunsthistoriker Wolfgang Kemp in diesem Buch mit dem Phänomen der Architekturbetrachtung und der darauf folgenden Beschreibung auseinander. Es sind grundlegende Themenfelder der Architektur, mit denen er dies unternimmt: ,Detail‘, ,Einheit‘, ,Raum‘, ,Grundriss‘, ,Fassade‘, ,Körper‘, ,Typus‘, ,Kontext‘  – davon handeln die acht Kapitel seines Buches. Für den Verfasser des obigen Textes ist es die auf der einen Seite synoptische, auf der anderen Seite aber doch auch auf verschiedenen Maßstäben argumentierende Sicht auf ein Bauwerk als Teil eines größeren Ganzem, das die Lektüre von Kemps Buch so anregend und für die Architekturkritik so inspirierend macht.

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Adrian Forty, Words and Buildings. A Vocabulary of Modern Architecture, London 2000. Der Architekturhistoriker Adrian Forty blickt in diesem Buch auf die Sprache hinter der Moderne und identifiziert Leitmotive, aber auch Klischees, mit denen die Charakteristika dieser spezifischen Architektur sprachlich gefasst werden sollten. So finden sich selbstverständlich Einträge zu ,Form‘, ,Function‘ oder ,Transparency‘, aber auch zu ,History‘ und ,Nature‘. Fortys Ansatz, mit der Sprache sozusagen hinter die Architektur zu schauen – „What can language do that drawing, the architect’s other principal media, does not?“  –, ist inspirierend für alle, die das Gebaute auch als Erzählung verstehen und wiedergeben möchten. Wolfgang Sonne (Hg.), Die Medien der Architektur, Berlin, München 2011. Der Sammelband vereint Texte zu verschiedenen Medien der Architektur, angefangen bei Entwurfstools wie der Zeichnung über das Modell bis hin zur Repräsentation des Gebauten in Diagrammen, Filmen  – oder eben in der Sprache. Die Kulturwissenschaftlerin Susanne Hauser widmet sich der Architekturbeschreibung, bei der sie von der „Sichtbarkeit von Bauten in Texten“ berichtet, und der Kunsthistoriker Christian Welzbacher nimmt sich der Architekturkritik an, wobei sein Essay allein schon wegen des Einstiegs  – „Gebäude erschlägt Architekturkritiker“  – ein Genuss ist. Welzbacher spielt hier auf das von Hans Kollhoff entworfene Hochhaus am Potsdamer Platz in Berlin an, bei dem immer mal wieder Klinkersteine von der Fassade herabfallen  – obschon dessen Erbauer doch „seine Qualitätsmaßstäbe gern mit dem Deutschen Werkbund der frühen Jahre, seine Entwurfshaltung mit der Tektonik des Klassizismus verglichen hat.“ Verdichteter kann man eine Verknüpfung (oder eher: Entflechtung) von Entwurfsideal und Ausführung, von Idee und Bau, kaum zum Ausdruck bringen. Andreas Tönnesmann, Die Freiheit des Betrachtens. Schriften zu Architektur, Kunst und Literatur, Zürich 2013. Auf einem sprachlichen Niveau und mit einem erzählerischen Witz, der nur wenigen vergönnt ist, führt diese Sammlung verschiedener Texte des Kunst- und Architekturhistorikers Andreas Tönnesmann vor Augen, was die Auseinandersetzung mit Architektur auch sein kann: ein sprachlicher Genuss. Detailkundig, sich

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aber nie im Detail verlierend, sind es insbesondere die Texte zur Stadt, die einen gelungenen Balanceakt zwischen Objektbeschreibung und Gesellschaftsporträt vor Augen führen.

Anmerkungen 1

Wolfgang Pehnt, „Turm und Höhle. Ein Motiv aus der Werdezeit der Moderne“ (1994), in: Ders., Die Regel und die Ausnahme. Essays zu Bauen, Planen und Ähnlichem, Ostfildern 2011, S. 75–91, hier S. 81.

2

Siegfried Kracauer, „Ueber Turmhäuser“, in: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt 65, 1921, Nr. 160 vom 2. März 1921, Erstes Morgenblatt, S. 1.

3

Werner Hegemann, Amerikanische Architektur & Stadtbaukunst. Ein Bericht über den heutigen Stand der amerikanischen Baukunst in ihrer Beziehung zum Städtebau, Berlin 1925, S. 51.

4

Meinrad Morger, „Dieser Turm ist eine Chance für Basel“, in: Hoch­ parterre 23, 2010, Heft 3, S. 6.

5

Ingemar Vollenweider, „Statt Doppelhelix doppelt fragwürdig“, in: Hochparterre 23, 2010, Heft 3, S. 6.

6

Jørg Himmelreich, „Von hohen Türmen und flachen Diskursen“, in: Archithese 46, 2016, Heft 1, S. 8–15, hier S. 13 und 15.

7 8

Kracauer „Ueber Turmhäuser“ (Anm. 2), S. 1. Claude Lichtenstein, „Verwaltungsgebäude der HoffmannLa Roche, 1935–36, Basel, Grenzacherstrasse 124“, in: Ders., O. R. Salvisberg. Die andere Moderne, Zürich 1995, S. 86–87, hier S. 86.

8 Gemeindehaus Farelhaus, Biel / Bienne

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Jürg Graser

Religion in Städten Es war ein warmer Tag im April, Max Schlup rief mich am Wochenende im Büro an. Er war wie immer höflich, auch am Telefon und nahm sich Zeit zu fragen, wie es gehe und ob ich Aufträge hätte. „Mir geht’s gut“, sagte ich, „und dir?“ „Nicht besonders“, antwortete er in seiner trockenen Art, „der Lastwagen kommt am nächsten Freitag. Du kannst vorbeikommen und die Unterlagen durchsehen, wenn du willst.“ Max war schon länger in Verhandlung mit den Archives de la construction moderne. Dass er seinen Büronachlass nach Lausanne geben würde, war vereinbart, dass die Übergabe in einer Woche stattfinden sollte, dennoch ein Schock. Ich wusste, „der Lastwagen kommt“ bedeutete „das Büro schließen“. Max sagte es fast entschuldigend, ich konnte ihn vor mir sehen; die drahtige Gestalt, der im Alter noch kantiger gewordene Kopf mit schütterem, gänzlich unmodisch in dünnen Büscheln abstehendem Haar. Aus seinen Worten schien Erleichterung aber auch ein Bedauern zu sprechen – das Bedauern, das man empfindet, wenn die Türe sich nach einem großen Fest schließt und Stille einkehrt, ein Aufatmen, aber auch eine Leere. „Ich dachte, dass ich dich gleich anrufe“, sagte er und wartete, dass ich ihm sagte, wann ich vorbeikommen würde. Nach dem Krieg begann eine die Vorstellungskraft übersteigende, neue Zeit. Das technische Zeitalter fing mit einem Stromund Telefonanschluss, dem 30-Liter-Kühlschrank von Sibir oder dem Vélosolex zwar bescheiden an, aber man glaubte an die Verheißungen der Zukunft, Kneschaurek prognostizierte in seiner jährlichen Studie Wohlstand und zehn Millionen Schweizer im Jahr 2000. Aus der Werkstatt im Keller des Nachbarn entstand

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ein Handwerksbetrieb im Erdgeschoss und schließlich eine kleine Fabrik; ein Auto besaßen nicht mehr nur der Feuerwehrkommandant, der Gemeindepräsident und der Tierarzt, sondern auch der Lehrer und der Baumeister, geheizt wurde zentral und die Stube gesaugt anstatt gefegt. Der Schritt vom Schreinerberuf des Vaters zur Architektenlaufbahn des Sohnes war naheliegend. Max Schlup hatte in der Berufslehre als Hochbauzeichner gelernt, ein herkömmliches Haus zu zeichnen und zu bauen. Neue Produkte und die technologische Entwicklung leiteten einen grundlegenden Wandel des Bauens ein. Wie man damit Architektur schaffen könne, lautete die Frage, die ihn nach der Lehre und den später am Technikum in Biel absolvierten Kursen ein Leben lang beschäftigen sollte. „Ich hatte viel Arbeit, damals“, sagte Max beim Kaffee im Hof des Farelhauses, nachdem der Lastwagen Richtung Lausanne abgefahren war, und quittierte meine naive Entgegnung „also hast du gut verdient“ mit einem beredten „hm“ und ergänzte auf meinen fragenden Blick „wenn der Chef nicht ,parat‘ ist, versickert das Geld beim Warten“. Im Herbst 1954 beschloss der Gesamtkirchgemeinderat von Biel, ein Projekt für die Erstellung eines kirchlichen Zentrums am Oberen Quai ausarbeiten zu lassen. Das zu Verfügung stehende Terrain stammte zum Teil aus der Erbschaft von Fräulein Caroline Neuenschwander, zum Teil wurde es der Firma Domenico Calderari abgekauft. Das Gebäude sollte einen Kirchgemeindesaal enthalten, Räume für die Freundinnen junger Mädchen, ein Büro für den Krankenpflegeverein mit Schwesternwohnungen und im Parterre ein alkoholfreies Restaurant. In diesem sollten Schülerinnen und Schüler sowie andere Leute mit bescheidenem Einkommen günstige Mahlzeiten erhalten und es erschien als eine soziale Aufgabe, ein solches Restaurant auf gemeinnütziger Basis zu führen. Der Gesamtgemeinderat beschloss, dem Haus den Namen des Reformators Guillaume Farel zu geben und den Auftrag dem 37-jährigen Bieler Architekten Max Schlup zu erteilen. Die Direktvergabe für das Farelhaus setzte nach den zuvor traditionell gebauten Einfamilienhäusern den Keim für Schlups Bauen in den Nachkriegsjahren. Zur Straße hin fügt sich das Gebäude unauffällig in die Baulücke ein, die Fassade spannt ohne Vor- und Rücksprünge eine Ebene auf, nur im Erdgeschoss weicht sie einen halben Schritt zurück und gibt den Blick auf die kräftigen,

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tragendenden Betonstützen der Skelettkonstruktion frei. Im Attikageschoss schließt ein feines Betonband über schlanken Metallstützen die Silhouette zum Himmel ab. Aber welch eine Fassade! Die erste ,curtain wall‘ der Stadt, die fast schwerelos vor dem Betonskelett hängt, eine Haut aus filigranen Aluminiumprofilen und Glas, horizontal einzig gegliedert durch unterschiedlich hohe, schwarze Eternitbänder. Max schilderte, wie Fritz Haller die Fassade mit den Worten „das ist erregend“ gelobt habe. Er antwortete in der Regel einsilbig über den Austausch mit seinen Kollegen Alfons Barth, Hans Zaugg, Franz Füeg und Fritz Haller. „Das ist erregend“ war Hallers geflügeltes Wort, das Max in jener Zeit selbst oft und gern verwendete. Kirchenneubauten waren in den 1950er Jahren nichts Ungewöhnliches, die Aufgabe eines kirchlich genutzten Mehrzweckbaus hingegen war anders. Obschon am Oberen Quai mit der seitlichen Begrenzung und der Höhe der Baulücke das Volumen vorgegeben war, konnte sich Max Schlup in konzeptioneller Hinsicht nicht auf bereits bestehende Lösungen berufen. Zunächst ging es um die Frage, ob der Saal, der das eigentliche kirchliche Zentrum darstellt, im Block selbst oder aber losgelöst vom Hauptbau untergebracht werden sollte. Nach verschiedenen Erwägungen kristallisierte sich die Überzeugung heraus, dass nur die zweite Variante erfolgversprechend sei. Während üblicherweise Kirchenbauten über Umschwung verfügen, fehlte dieser mitten im Zentrum der Stadt ganz, zudem sollte das Gebäude weder die Einheit des Stadtbildes stören, noch sollte es an traditionelle, kirchliche Bauweisen anknüpfen. Er suchte die Lösung in einem transparenten, durchlässigen Erdgeschoss mit bepflanztem Innenhof, in dem der Kreuzgang, das älteste Thema der christlichen Architektur, anklingt. Aber ich vermute, dass er das, darauf angesprochen, in Abrede gestellt hätte. In Biel gab es nach dem Bau des Farelhauses keinen angesagteren Architekten als Max Schlup. Er arbeitete noch mehr als sonst schon, zeichnete mit seinem Team Pläne, prüfte diese am Modell, studierte Varianten und verwarf sie wieder. Den freien Samstag gab es im Büro Schlup erst Jahrzehnte später, er selbst verbrachte meistens auch den Sonntag an der Arbeit, seine Frau und die zwei schulpflichtigen Söhne mussten auf manches verzichten. Dies erst recht zwei Jahre später, als er den schweizweit ausgeschriebenen Wettbewerb für das Kongresshaus, das neue Wahrzeichen der Stadt Biel

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mit Musiksaal, Ausstellungsfoyer, Hallenbad, Büros, Restaurant und Kongressräumen, unter 43 Teilnehmern für sich entschieden hatte. Im Rückblick überrascht der Wettbewerbserfolg, Schlup gewann ihn mit einer viereckigen „Kiste“, das stadtbekannte Wahrzeichen mit dem eleganten Hängedach und der charakteristischen Betonklammer im Büroturm entwickelte er erst im Nachgang. Dem Bau haftet bis heute etwas Unwirkliches an. Was brachte ihn dazu, den siegreichen Entwurf vollständig zu überarbeiten, woher bezog er die Inspiration für das kühne Hängedach, wie gelang es ihm, den braven Quader zum Wahrzeichen umzuformen? Max Schlup war mit dem Kongresshaus „dürecho“. Im Dialekt wird diese Wendung ebenso für eine erfolgreiche Motorfahrzeugkontrolle wie für das Bestehen eines Examens oder eben den Gewinn eines Wettbewerbs verwendet. Architekturausschreibungen sind Verfahren mit vielen Unwägbarkeiten; Arbeit und Talent gehören genauso dazu wie Gespür, Glück und günstige Umstände. Das Ringen um Lösungen, der zähe und langwierige Weg von der ersten Idee zum schlüssigen Entwurf verlangen dem Architekten viel Kraft und Energie ab. Jede Teilnahme an einem Wettbewerb ist eine Chance, aber auch eine Bedrohung; in der Euphorie der Ausarbeitung geht gern vergessen, dass nach einigen zeit- und kostenintensiven, jedoch nicht erfolgreichen Eingaben das Architekturbüro Konkurs sein kann. Wettbewerbsbeiträge sind nie nur Arbeit, sondern existentielle Herausforderungen, deren Erfolg oder Misserfolg sich unmittelbar in der Biografie niederschlägt. Max hatte geschafft, wovon Architekten träumen, er hatte gewonnen und war doch über seinen Erfolg selbst am meisten erstaunt. Er konnte nicht anders, als noch mehr und noch härter zu arbeiten, um – so seine Überzeugung – aus sich und seinen Mitarbeitern das Beste herauszuholen. „Können wir Plätze tauschen?“ Max blies über seinen Kaffee, „das Fallrohr ärgert mich.“ „Wie bitte, welches? Das schwarze Regenrohr dort in der Ecke?“ „Ja, das Dach war undicht und weil die Kirchgemeinde kein Geld hat, haben sie in die Ecke ein Provisorium aus schwarzen Kunststoffrohren geflickt. ,Chutzemist‘ hätte Alfons Barth dazu gesagt.“

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Wie lässt sich erklären, dass die Stimmung in Biel damals trotz Max Schlups Talent und Einsatz ins Negative umschlug? Die politischen Umstände änderten 1964 mit dem Wechsel von Stadtpräsident Paul Schaffroth, der ein Gespür für Architektur hatte, zu dessen Nachfolger Fritz Stähli, der das Projekt gleichgültig übernahm. Wir können uns die technischen Schwierigkeiten vorstellen, den Zeit- und Kostendruck. Vielleicht sollte man die damaligen Umstände einmal literarisch verarbeiten, denn wissenschaftliche Analysen helfen hier nicht weiter, da sie zu einseitig auf Fakten und Logik fixiert sind. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass in meiner Jugend je positiv über das Kongresshaus geredet wurde. Es gab Terminund Preisüberschreitungen und Max Schlup wollte sich nicht erklären, er glaubte, dass die Architektur für sich sprechen würde. Es hat mich immer erstaunt, wie weit diese Ablehnung der Bieler ging und wie es ihm dennoch gelang, auch weiterhin wichtige öffentliche Bauten in der Stadt zu realisieren. Wie war es möglich, dass er die Sportschule und die Großsporthalle in Magglingen für sich entscheiden konnte und später den Wettbewerb für das Gymnasium Strandboden, bei dem er im ersten Durchgang noch auf dem siebten, nicht zur Überarbeitung zugelassenen Rang platziert war? Ich habe nie daran gezweifelt, dass all diese Verfahren korrekt abliefen, Schlup hatte in der Stadt keine Lobby und Seilschaften waren ihm grundsätzlich zuwider. Seine Vorschläge müssen architektonisch überzeugt haben und die Stimmbevölkerung gab ihnen in der Finanzabstimmung jeweils ihr Plazet. Insofern behielt er Recht, Architektur spricht offenbar doch für sich selbst, allen Anfeindungen und Infragestellungen zum Trotz. Gleichwohl bezeichnete seine Frau Ida das Farelhaus als den gelungensten Bau ihres Mannes, „weil es damit keinen Ärger gegeben hatte.“ Hatte die Ablehnung mit Schlups Modernität zu tun? Aber kann man diese Welt verändern, ohne modern zu sein? Wie soll eine bessere Welt ohne frische Ideen, ohne Experimente entstehen? Im Neuen haben alle fast gleich lange Spieße, auch diejenigen, die nicht auf Stand und Pfründe pochen können. Wie wäre ich dazu gekommen, all das zu tun, was ich getan habe, wenn ich nicht das Neue dem Traditionellen vorgezogen hätte? Mich mit achtzehn von Zuhause loszureißen, um in Lausanne und später in Zürich Architektur zu studieren, nach Paris zu ziehen und dann selbst ein Büro zu eröffnen? Ich wäre nicht in die Stadt gezogen, hätte nicht über

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die „Schule von Solothurn“ promoviert und hätte nicht mit Max an einem Tisch gesessen. Und nicht einen dieser Punkte würde ich ändern wollen, nicht wirklich, auch wenn ich könnte. Sicher, es gibt berechtigte Kritik an kopfloser Technikbegeisterung und blindem Zukunftsglauben. Wer erinnert sich nicht mit Beklemmen an den Tiefbauingenieur Walter Faber in Max Frischs Homo Faber, der das Leben mit Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik erklärt, Technik und Fortschritt vertraut, sodass er die Tragödie griechischen Ausmaßes nicht zu erkennen vermag, die vor seinen Augen unaufhaltsam ihren Lauf nimmt? Aber müssen wir nicht trotz Gefahren und Unwägbarkeiten vorwärts gehen, weil sich unsere Welt unweigerlich vorwärts dreht? „Weißt du“, fuhr Max fort, „ein Bauwerk muss mit Anstand gebaut sein.“ „Was meinst du mit ,muss mit Anstand‘ gebaut sein?“ fragte ich zurück. „Ja“, antwortete er vielsagend, „Konstruktion interessiert mich schon.“ Max Schlup wuchs in einem Handwerkermilieu auf, sein Vater war gelernter Karosseriespengler, arbeitete aber als Schreiner im eigenen Betrieb, der Innenausbau in Eiche im Farelhaus stammt aus seiner Hand. Schlup dürfte allerdings mit Anstand nicht nur das solide Handwerk gemeint haben, hier klingt auch das Schickliche, die Angemessenheit der Mittel mit an und damit verbunden der öffentliche Auftritt. Die Versuchung, eine erprobte Lösung aus der Schublade zu ziehen, muss auch für Max Schlup bisweilen verlockend gewesen sein und doch ist es die Suche nach der individuellen Lösung, die uns Architektinnen und Architekten um- und antreibt. Diese kann wie bei Max Schlup gestalterisch zurückhaltend und dennoch neu und aufregend sein. Die Abfolge Straße, Eingang, Saal war im Programm vorgegeben, er ergänzte sie durch eine Leerstelle, den von allen vier Seiten zugänglichen Innenhof, der trotz der städtischen Lage hell und ruhig ist. Er dient als Terrasse des Restaurants, als Pausenraum des Saals, als Hintergrund der Sitzungsräume; er ist die Bühne, vor oder auf der sich das Alltagsleben abspielt, im engen Straßenraum angekündigt vom Holzmöbel der Garderobe. Unvergessen bleibt, wie mich, lange bevor ich Architekt wurde, der auf den Bürgersteig ragende, furnierte Schrank stutzig machte. Ein nach außen gekehrter Innenraum? Warum war er nicht versprayt

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oder mit eingekratzten Namen übersät, wie die schräg gegenüberliegende Bushaltestelle? Flößte das liebevoll gebaute, mit Eiche verkleidete Möbelstück Respekt ein? Ich stellte mir vor, wie eine unsichtbare Hand einen Bann um den Schrank zog und die Nachtschwärmer durch einen Schauder vor der Architektur davon abhielt, das schlichte Möbel zu zerstören. „Er ist zu mir ,cho lehre‘“ sagte Max Schlup zu seinem Zimmernachbarn im Beaumont-Spital, als ich ihn das letzte Mal besuchte. Wir hingen beide unseren Gedanken nach. Max Schlups Bemerkung stimmte so nicht, ich war nicht Lehrling in seinem Büro gewesen, sondern hatte an der École polytechnique in Lausanne und an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich Architektur studiert. Wir lasen zu der Zeit Peter Bichsels Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen und hielten uns für schlau, weil wir jung waren und im Gegensatz zu unseren Vätern an die Universität gingen; wir hatten große Ideale und meinten, das Bauen verändern zu können. Aber Schlups Worte hallten in mir nach, sie trafen doch einen wahren Kern. Bei Max Schlup hatte ich zum ersten Mal Architektur erlebt. Das im Studium erlangte Wissen war abstrakt und intellektuell, ohne Leben und ohne Erfahrung. Was es heißt, sich Räume in der Fantasie vorzustellen und daraus einen tatsächlichen Raum zu schaffen, erkannte ich zum ersten Mal bei ihm, seine Werke lehrten mich den Unterschied zwischen der Zeichnung und der Wirklichkeit des Raums. Und wie ich feststellte, störte es Max Schlup im hohen Alter weniger, dass die Leute in der Architektur neuartige Dinge taten, als dass sie neuartige Gründe dafür herbeizogen. Aus seiner Sicht waren die Regeln der Architektur seit der Antike unverändert, nur ihre technischen Möglichkeiten passten sich der Zeit an. Das Farelhaus ist mit seinen fünfzig Jahren immer noch ein junges Gebäude. Es gefällt, weil es gleichzeitig der Tradition der Architektur verpflichtet und modern ist. Obschon es einige Zeit geschlossen und entsprechend heruntergekommen war, soll es nun ein zweites Leben erhalten. Eine Gruppe junger Bieler Architekten, die die Enkel von Max Schlup sein könnten, haben es gekauft, in Stand gesetzt und mit neuem Leben gefüllt. Seine Zeit bricht eben erst an.

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Michael von Allmen

Ein Lob dem Leeraum Durch den Bruch mit den Konventionen der klassischen Architektur und durch eine rationalistisch konstruktive und funktionalistische Gestaltungsweise wurde den Gebäuden der Moderne die einfache Lesbarkeit ihrer Bedeutung entzogen. Die Gebäude der Vormoderne, beispielsweise des Historismus, sind in ihrer Bedeutung demgegenüber einfach zu lesen: Weltliche Verwaltungsbauten wurden im Renaissancestil errichtet, Gymnasien im griechischen Stil, Bäder im römischen Stil und Synagogen im orientalischen Stil. Eine Art Konvention, die auf einem abendländischen Architekturvokabular gegründet ist. Das verweist auf eine Baukunst, die sich als Informationsmedium versteht. Damit hat die Moderne scheinbar gebrochen. Das Gebäude wurde zu einer Maschine, bestehend aus Serienelementen. Wohn-, Büro- und Verwaltungsbauten, ja auch Kirchenbauten wie das Farelhaus in Biel, wurden aus einer Stützenkonstruktion mit Vorhangfassade gefertigt. Die Lesbarkeit und damit die Bedeutung der Bauten ging vordergründig verloren. Das Scheinbare oder auch das Verborgene in einem Gebäude sichtbar zu machen, ist das Ziel der nun vorzustellenden Methode. Methode zur Decodierung des kulturellen Mehrwerts von Gebäuden der Moderne Die Methode gliedert das zu untersuchende Gebäude, hier das Farelhaus von Max Schlup in Biel, in verschiedene Bühnenbilder und stellt diese vergleichend und interpretierend mit gebauten Referenzen in Analogie. Durch das vergleichende Betrachten lassen sich codierte Bedeutungen entziffern, die wesentliche Erkenntnisse zum kulturellen Mehrwert von Gebäuden liefern.

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Die Bühne ist der Ort, an dem thematische Ausschnitte des Lebens in verdichteter Form an ein Publikum weitergeben werden. Das Bühnenbild gibt der Aufführung einen Rahmen und schließt das Sichtbare gegen außen ab. In dieser Isolierung wird die Aufführung anschaulich und so interpretierbar gemacht. Das Bühnenbild ist eine Überhöhung und eine Vereinfachung der Wirklichkeit, wobei so die Lesbarkeit für die Betrachtenden stark gesteigert wird. Ein Theaterstück umfasst oft mehrere Auftritte mit verschiedenen Bühnenbildern, so ergibt sich in der Summe ein Handlungsfaden respektive eine Geschichte. Auch Gebäude an sich sind Theaterbühnen und gliedern sich in Bühnenbildern. Die zentralen Bühnenbilder in einem Gebäude ergeben in der Summe das Wesen des Gebäudes. Das Auffinden dieser zentralen Bühnenbilder ist ein intrinsisches Verfahren der Analysierenden. Das heißt, dass die interessanten Bühnenkompositionen im Gebäude individuell durch die Analysierenden zu entdecken sind. Wichtige Anhaltspunkte für das Aufspüren interessanter Bühnenbilder sind atmosphärische Intensität, Brüche, Übergänge und Verbindungen. Das vergleichende Denken in Analogien, ist ein zentraler Zug des Denkens im 16. Jahrhundert. In dieser Epoche waren den Sakral- wie auch den Profanbauten eine hohe Bedeutungstiefe innewohnend. Die Bedeutungstiefe wurde den Gebäuden über Analogien, das heißt über Gleichnisse höherer Bedeutung verliehen. So war beispielsweise die Kirche der Gotik ein direktes Abbild des Himmels; der Altar war der Thron Gottes. Dieses zeichenhafte Umsetzen von Gleichnissen in Gebäuden gründete auf dem Verständnis der Welt durch den ,homo interpres‘, dem deutenden Menschen, der am Gebäude die Funktion, den Status der Bewohnerschaft, die Bedeutung des Gebäudes für die Gesellschaft und den höheren Zweck der Bauten ablesen konnte. Um 1800 entstehen die neuen Wissenschaften der Philologie, Biologie und politischen Ökonomie, die zu einem Sinneswandel in der Wahrnehmung der Welt führten. Dies mündete mit der industriellen Revolution in eine rational, funktionalistische Weltanschauung. Jedoch entspricht eine hohe, dem Gebäude innewohnende Bedeutung einem durch alle Zeiten hindurch gehenden tiefen menschlichen Wunsch und zeichnet den gesellschaftlichen Mehrwert eines Bauwerks aus. Ein Gebäude, das nicht zur Gesellschaft spricht, ist ein totes Gebäude und verliert früher oder später seine Existenzberechtigung. Das Vergleichen von Referenzen und das Finden von Analogien führen

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zu Erkenntnissen der Bedeutung des Gebäudes. Dabei werden einzelne Themen sichtbar gemacht, beschrieben und gewichtet. Durchführung der Ekphrasis am Farelhaus Erster Akt: Draußen vor der Tür Seriell gereiht bilden zwei paral-

lele Gebäudezeilen das Ufer der Schüss und flankieren die Rue du Quai. Die Zeilen sind aufgespannt an der linearen Kraft des gezähmten Flusses. Jede darauffolgende Epoche hat sich der linearen Gebäude- und Flusskomposition des 19. Jahrhunderts untergeordnet. Die stringente Linearität der Anlage fordert einen starken Endpunkt: Der Bielersee lässt sich in der Ferne erahnen. Der steinerne Städtebau des 19. Jahrhunderts mit seinen massiven Blockrändern, beinhaltet wichtige Stadträume wie Plätze und öffentliche Gebäude, die öffentliche Bühnen darstellen; gleich wie auf den Zeichnungen Roms von Giovanni Battista Nolli in der Mitte des 18. Jahrhunderts meisterhaft dargestellt. Dort beispielsweise entlang der Via de Conorari mit den öffentlichen Bühnen der Libreria Sant Agostino, der Piazza Navona, der Chiesa di San Salvatore und der Santa Maria della Pace. Obwohl bei genauerer Betrachtung die Erdgeschosse der Gebäude an der Rue du Quai aus verschieden Epochen unterschiedlich materialisiert sind, ist die Wirkung auf die Betrachtenden gleich: eine Geschlossene und Schwere. Die Gebäude lassen in der Straßenwirkung kaum etwas von ihrem Innern erkennen. Das Farelhaus, ein Kind der Moderne, will nicht wie andere Bauten ,sur pilotis‘ schweben, sondern setzt Stahl, Glas und Mauerwerk im Dienste einer geschlossenen Gebäudefront ein. Das Farelhaus als Teil dieser Gebäudezeile erscheint in einem rhythmisierenden Streifenkleid, das modular und maschinell produziert ist. Ein schlichtes und feingliedriges Textil, das das Erdgeschoss unbedeckt lässt. Was sich hinter dem Kleid verbirgt ist kaum erkennbar. Eine solch reduzierte Architektur entzieht den Betrachtenden die Lesbarkeit des Gebäudes. Wo nur ist der Kirchturm des ehemaligen Gotteshauses? Wo die Kirchenuhr? Es bleibt der Blick unter dem Kleid durch das verglaste Innere des Gebäudes. Ist hier das Allerheiligste des ehemaligen reformierten Gotteshauses verborgen? Zweiter Akt: In der Tiefe Durch die Erdgeschossverglasung treten

fließende Raumschichten zutage und in der Tiefe des Gebäudes ist

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die rückwärtige Brandmauer zu erblicken. Da der Raum nicht aus klassischen Raumkammern gebildet ist, lässt er sich als Fluidum beschreiben. Raumscheiben lösen sich nach der Durchdringung der Gebäudehülle im Nichts auf. Die sich auflösenden Scheiben sind ein Rest an Materialisierung des Nichts, das es geradezu als solches lesbar macht. Diese Vermutung regt zur Deutung an: Ist dies das von Siegfried Giedeon in seinem Werk Raum, Zeit, Architektur beschriebene neue Raumverständnis des frühen 20. Jahrhunderts?1 Anfang des 20. Jahrhunderts wurde in der Malerei und der Bildhauerei ein neues Verständnis von Raum entworfen. Die Fauvisten begannen, die Objekte in ihrer Farbigkeit zu entfremden, um den Raum, das eigentliche Nichts, darzustellen. Der Kubismus ging den Weg weiter und löste die Objekte auf. Durch die Auflösung entstand ein neues Verständnis von Raum und Zeit. Die 1917 gegründete De-Stijl-Bewegung schuf Gemälde, wie der Rhythmus des russischen Tanzes, die sich direkt in Architektur übersetzen ließen. Dieses neue Raumverständnis scheint auch die Raumkonzeption im Farelhaus zu sein. Die Umkehrung des Städtebaus von massiven Gebäuden in einer festen Alignementplanung, zu sich auflösenden Gebäuden in einer fließenden Umgebungslandschaft, wie sie im Plan Vosin durch Le Corbusier in Paris vorgesehen war. Der Leerraum wird zur wichtigen Raumeinheit. Bühnen, die für das Gebäude in seiner Nutzung existentiell sind. Christian Morgenstern beschreibt dies treffend in einem seiner Galgenlieder: „Es war einmal ein Lattenzaun, mit Zwischenraum, hindurchzuschaun. Ein Architekt, der dieses sah, stand eines Abends plötzlich da – und nahm den Zwischenraum heraus und baute draus ein großes Haus.“2 Beim Betreten des Gebäudes lassen sich zwei große Bühnen mit zudienenden Räumen finden: Eine Außenraumbühne bildet die Mitte des Gebäudes und erinnert in seiner Typologie an die römischen Wohnhäuser mit dem mittigen Patioteil. Ausgebildet ist dieser Patio als geometrischer Garten mit orthogonalen Pflanzzonen und einem Kiesbecken mit Statue. Der Aufenthaltsbereich ist mit Naturstein ausformuliert und akzentuiert sich über die Steinfarbe im Randbereich. Die Innenraumbühne ist mit einem Sheddach mit beidseitig seitlichen Oberlichtern überspannt, ein Natursteinboden und seitliche Backsteinmauern scheinen den Außenraum nach innen zu ziehen. Auch die große Verglasung verbindet den

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Innen- und Außenraum. Das Bühnenbild ist bekannt! Dieses Ensemble gibt es schon: Es lässt sich im Hassrick House in Philadelphia finden. Dieselben Materialien und frappant ähnliche Raumtypologien fügte Richard Neutra 1958 zu einem Raumensemble zusammen und legte diese als geometrisch gestaltete Raumkonfiguration in die Natur der Ostküste der Vereinigten Staaten. Die Gebäude von Richard Neutra sind Inbegriff für die Verschmelzung von Innen- und Außenraum. Max Schlup ließ sich wohl stark von den Gebäuden Neutras inspirieren. Dritter Akt: Symbole und Gebrauch Wo sich Chor, Apsis, Altar-

raum oder Kanzel befinden, ist im Innern nicht zu ergründen. Diese wenigen Symbole eines traditionellen reformierten Kirchenbaus fehlen. Im Farelhaus kann alles mit Bedeutung neu gefüllt werden. Was erweckt diesen Leerraum zum Kirchenraum? Beinhaltet das Gebäude nebst der radikal modernen architektonischen Umsetzung auch die radikal protestantische Umsetzung der Lehren Martin Luthers? Die Lehre Luthers setzt das Wort Gottes mit dem Grundsatz ,sola scriptura‘ ins Zentrum. Das Wort waltet als Bindeglied der Beziehung zwischen Gott und dem Menschen und ist zentrales Element des menschlichen Daseins. Die Schöpfungsgeschichte scheint dem Gebäude inhärent zu sein. Nur das gesprochene Wort kann den Leerraum mit Sinn und Bedeutung füllen und zum Leben erwecken. So heißt es schon im Johannesevangelium: „Alles ist durch das Wort geworden und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist.“3 Im Farelhaus werden die vorgefundenen Bühnen durch das gesprochene Wort zum Leben erweckt. Der Akt des Sprechens von Wörtern ist die Grundlage für das Leben und die Gemeinschaft und somit das zentrale Element des Farelhaus. Je nach Anlass wird die Möblierung im Raum anders platziert. Nach dem Bühnenakt ist die hinterlassene Möblierung eine Reminiszenz an die aufgeführte Darbietung. Max Schlups Zeitgenosse Otto Senn legt in einem Artikel von 1952 nahe,4 sich auf die Grundlagen des protestantischen Kirchenbaus zurückzubesinnen und Kirchenbauten zu erstellen, bei denen von jedem Platz im Raum das Predigtwort zu verstehen und der bzw. die Sprechende zu sehen sei. Dies als Grundsatz genommen, bedeutet, die klassische Kirchendisposition mit Lang- und Seitenschiff, Chor und Apsis zu verlassen. In den vorgeschlagenen Skizzen Senns drängen sich Zentralbauten mit

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der Möglichkeit verschiebbarer Möblierungselemente, platziert je nach Anlass, als Ideallösung auf. Im Farelhaus werden die sozialen Interaktionen wie Liturgie, Vorlesungen oder Konversationen durch die großen Verglasungen in den Straßenraum getragen und der Straßenraum wird zu Bühne getragen. Das Farelhaus ist eine öffentliche Stadtbühne, die mit dem Straßenraum verschmilzt. Otto Senns Vision, das Predigt von jedem Platz im Raum zu sehen und zu verstehen, begreift sich im Farelhaus auch für den öffentlichen Stadtraum. Schlussakt: Ein Lob dem Leerraum Die Architektur der Moderne

hat sich von den vorangegangenen Epochen emanzipiert. Ende des 19. Jahrhunderts begann auf dem Gebiet der Architektur ein radikaler Bruch mit den Stilen, Entwurfsmethoden, Technologien und Bauweisen früherer Jahrhunderte. Inspiriert von der Bildhauerei und der Malerei wurde eine neue Raumkonzeption entworfen: Die Inszenierung des Leerraumes. Der Leerraum ist die Bühne für ephemere Raumkonzeptionen. Leerräume stellen bespielbare Darbietungsräume dar und sind für den gegenseitigen Austausch geschaffen. Dies gründet sich in einem demokratischen Verständnis des Raumes, in dem jeder Bewohner bzw. jede Bewohnerin das Recht hat, den Leerraum – auch genannt Außenraum, öffentlicher Raum oder Stadtraum – für sich zu nutzen. Vor der Moderne und der Wiedereinführung der Demokratie in Europa wurde der städtische Freiraum mit Machtsymbolen besetzt. Eine Art Horror Vacui der Herrschenden, die sich mit Symbolen wie Statuen, Brunnen, Siegessäulen und dergleichen im öffentlichen Raum inszenierten. Ein mögliches Überlassen des Freiraums und die damit einhergehende Nutzung des öffentlichen Raums durch das Volk, konnten für das nichtdemokratische Gesellschaftssystem gefährlich werden. Die Moderne hat durch die Entdeckung des Leerraumes eine Großtat für die Wiederetablierung der Demokratie im 20. Jahrhundert in Europa geleistet. Ein Lob dem Leerraum! Kommentierte Auswahlbibliografie Analogien zum Finden des Sinngehaltes von Gebäuden Die Ordnung der Dinge gründet im 16. Jahrhundert auf Analogien. Den Sinn zu suchen heißt, an den Tag zu bringen, was sich ähnelt.

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Durch die Exegese der Dinge kann deren Sinnhaftigkeit gefunden werden. Der verborgene Sinn der Dinge und das Erkennen dessen ist ein Thema, das die Welt mit einem Zauber anreichert. Das Innewohnen dieses Zaubers oder von Atmosphärischem bedeutet für das entsprechende Ding, dass ein hoher Sinngehalt vorliegt. Gebäude mit einem hohen kulturellen Mehrwert für die Menschen haben diesen Zauber inne. Sie weisen eine Mischung zwischen Rationalem – wie der Statik, der Energie, der Abmessungen – und Atmosphärischem – wie Zeichenhaftem oder Analogien – auf. Die Dinge der Welt sind nicht rein wissenschaftlich zu erklären. Bei der Analyse von Gebäuden, dem Finden von Analogien und der Interpretation ihrer Bedeutung ist es wesentlich, sich den Grundintentionen des Gebäudes zu widmen und diese erkennen zu können. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M. 2003. Bühnenbilder analysieren und entwerfen Miroslav Šik versteht die Stadt als Haufen „angefangener, irregeleiterter und vollendeter Utopien“.5 Sie besteht aus unzähligen Artefakten respektive Szenerien oder Bühnenbildern, die über eine Ensemblewirkung zusammen interagieren. Miroslav Šik plädiert, spezifische Szenerien zu entwerfen, die sich in die jeweiligen Ensembles mit dem jeweiligen Lokalkolorit einfügen lassen. Um dies zu tun, soll eine ,Mimesis‘, also eine Wesenswiederspiegelung, in das zu entwerfende Ensemble vorgenommen werden. Bestehende Materialien, bestehende Bedeutungen können übernommen, verfremdet und zu einer neuen Komposition zusammengestellt werden. Gewünschtes wird verstärkt, Verworfenes abgeschwächt. Miroslav Šik zeigt exemplarisch auf, was es heißt, Bühnenbilder zu analysieren und Bühnenbilder zu entwerfen. Miroslav Šik, Altneue Gedanken, Texte und Gespräche 1987– 2001, Luzern 2002. Klingende Ursprungsideen Die Architektur ist raumgewordene Vorstellung einer Form des Zusammenlebens. Die Atmosphäre des Ortes ist bei bedeutungstiefen Gebäuden von der Ursprungsidee geprägt. Je mehr ein Gebäude von der Vorstellung des Zusammenlebens in sich birgt, umso mehr wird die Ursprungsidee in den Seelen der nachkommenden Nutzerschaft nachhallen. Je mehr

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die Steine singen, umso mehr werden die Seelen der Nachwelt anklingen. Durch das Steinwerden der Empfindung der Erbauenden kann ihr Denken in einer anderen, späteren Zeitepoche erschlossen werden. So wird das Gebäude zu einem materiellen Kulturgut, das durch Internalisierung angeeignet werden kann. Wer sich ein Gebäude mit einer tiefen Sinnhaftigkeit aneignen kann, kann wohl auch solche entwerfen. Fernand Pouillon, Singende Steine, Texte und Gespräche 1987–2001, München 2010.

Anmerkungen 1

Im Original: Siegfried Giedion, Space, Time and Architecture. The Growth of a New Tradition, Cambridge 1941.

2 3

Christian Morgenstern, Galgenlieder, Berlin 1905. Deutsche Bibelgesellschaft (Hg.), Übersetzung Martin Luther, Revidierte Fassung, Stuttgart 1984.

4

Otto Senn, „Protestantischer Kirchenbau: Besinnung auf die Grundlagen“, in: Das Werk: Architektur und Kunst 39, 1952, S. 34.

5

Miroslav Šik, Altneue Gedanken, Texte und Gespräche 1987–2001, Luzern 2002, S. 10.

9 Arkaden Lauben, Bern

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Dorothea Franck

Dichtung und Verdichtung in kollektivem Kunstwerk Woher kommt es, dass man sich in städtischen Arkaden wie den Berner Lauben wohlfühlt? Woher kommt es, dass ein solcher räumlicher Luxus in vielen Altstädten erhalten bleibt? Was spricht uns dabei so unmittelbar an? Ich suche den Blick zu schärfen durch Parallelen zu Charakteristika poetischer Sprache. Die Hauptthese ist: Der Feind der Schönheit ist nicht Hässlichkeit, sondern Beliebigkeit. Qualität entsteht nicht durch große Gesten willkürlicher Setzung, sondern durch eine aufmerksame sinnliche Intelligenz, die sich gegebenen Bedingungen und unterschiedlichsten Bedürfnissen respektvoll und spielerisch zuwendet. Durch das Ausbalancieren vielfältiger Polaritäten kann eine Architektur entstehen und erhalten bleiben, die Natürlichkeit und Urbanität zugleich ausstrahlt. Das kann am Beispiel der Berner Lauben gezeigt werden. Poetische Balance: Spannung und Gleichgewicht Die Qualität

des Poetischen ist eine widerspruchsvolle Sache. Sie lässt sich nicht schematisch definieren. Man kann aber die Spannungsfelder aufzeigen, in denen sie sich bewegt. Qualität, die über vordergründige Funktionalität hinausgeht, kommt durch die Bewältigung von Widersprüchen zustande. Dabei ist der Unterschied zu beachten zwischen fader Harmonie und der ästhetischen Spannung einer „unvoreiligen Versöhnung“ – um den schönen Titel von Ludwig Hohls Notizen aufzugreifen. Poetische Qualität entsteht aus einem Grundwiderspruch, der Spannung zwischen Regelwerk und freiem Spiel. Poesie unterwirft sich einerseits strengeren Formprinzipien als Prosa, andererseits

Arkaden

kann sie sich mehr Freiheiten erlauben: das ist die berühmte poetische Lizenz. Schauen wir uns die Berner Lauben an, speziell die Lauben unterhalb der Zytglogge an den ineinander übergehenden Straßen Kramgasse und Gerechtigkeitsgasse. Ich gehe dort gerne. Ich suche nichts Bestimmtes, doch die Möglichkeit, spontan in einen der kleinen Läden, in Cafés, Restaurants oder Galerien, in ein Kino oder einen Kulturkeller einzutreten, trägt zum Reiz der Lauben bei. Es gibt hier nichts Spektakuläres. Kein großes Theater, keinen Dom oder Regierungspalast. Es genügt, dass die Umgebung meine Sinne anregt und meine sinnliche Intelligenz nicht beleidigt. Ich bin Fußgängerin. Jeder Mensch ist Fußgänger. Der Schutz, den die Arkaden vor Regen oder Sonne gewähren, ist ihm ein Geschenk. Doch die Lauben bieten nicht nur klimatische Annehmlichkeit; es ist hier anregend und beruhigend zugleich. Die Berner Altstadt beruht auf einem strengen Rasterplan aus der Zähringerzeit. Diese Parzellierung ist heute noch bestimmend, auch für die Arkaden. Ihr Gleichmaß gibt Rhythmus und Regelmaß sowie eine mehrfache Symmetrie – die Wiederholung der Bogen in der Länge und die Spiegelung in der Breite. Spiegelung gibt es auch im wörtlichen Sinn: Die Arkaden auf beiden Seiten spiegeln sich in den Schaufenstern der gegenüberliegenden Seite. Rhythmus ist etwas Körperliches. Wenn wir gemächlich gehen, „sehen“ wir mit dem ganzen Körper, wobei das Meiste gar nicht bewusst wahrgenommen wird. Wir „lesen“ unsere Umgebung sozusagen aus dem Augenwinkel. Wir sind als Lebewesen durch und durch rhythmisch organisiert. Gehen hat einen Rhythmus. Eine rhythmische Gestaltung der Gehwege korreliert mit unserer eigenen Natur. Wie in der Poesie wird die strengere Ordnung der Form ausgeglichen durch Variabilität auf anderer Ebene. Die Höhe der Häuser sowie die Gestaltung der Fassaden sind unterschiedlich, jedoch in einem deutlich begrenzten Rahmen. Breite und Form der Bogen zur Straße hin und auch die Bogen und Höhen des Durchgangs sind von Haus zu Haus verschieden und machen dennoch einen einheitlichen Eindruck. Der Wechsel von Licht und Schatten spielt in die Arkaden hinein und variiert mit der Tageszeit. Der Gehweg unter den Arkaden ist überall ungefähr gleich breit, aber steht in veränderlichem Verhältnis zur breiten gepflasterten Straße. Das ergibt eine differenzierte Tiefe. Die Straße steigt von der Aare-Brücke

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in Richtung Stadtmitte allmählich an und macht im Verlauf einen sanften, kaum merklichen Bogen. Die Arkaden bewältigen die Steigung unabhängig vom Verlauf der Steigung der Straße; in die Lauben am unteren Ende der Straße gelangen wir durch Treppen. Der Höhenunterschied zur Straße ist variabel und wird weiter oben, wo er gering ist, durch ein paar Stufen zur Straße hin überwunden. Dem Fußgänger bieten sich Räume unterschiedlichster Art. Die Straße ist von beachtlicher Breite, sie war ja einstmals Markt. In der Mitte unterteilt sie der überdeckte Stadtbach, den man rauschen hören kann. In den Arkaden auf beiden Seiten sehen wir Schaufenster, Zugänge zu Geschäften und Restaurants sowie zu Hauseingängen von Bewohnerinnen und Bewohnern. Und dann gibt es auch noch die mit steilen Treppen von der Straße aus zugänglichen Keller. Die Organisation ist mehrschichtig, in der Breite, in der Höhe und Tiefe. Auch die Bestuhlung bei den Cafés, Pflanzen bei Blumenläden und Restaurants, einzelne Sitzgelegenheiten zwischen Straße und Laube, geöffnete und beschilderte Kellerzugänge tragen zur „poetischen“ Lebendigkeit des Ganzen bei. Die menschliche Sprache ist mehrschichtig gegliedert. Laut, Wortbildung, Satzbau und Textstruktur bauen aufeinander auf, aber haben jeweils eine eigene Ordnung. Dichtung kann sich über einzelne Sprachregeln hinwegsetzen, gibt sich aber zusätzliche Gesetze wie Versmaß, Assonanz, Reim und Strophenformen. Doch auch wenn sie keinen festen Formen folgt, nutzt sie die Sprache from nose to tail für ihre eigenen Zwecke. Sie macht sich arbiträre Eigenschaften der Sprache wie Klang, Bildlichkeit, Syntax und Vokabular so zunutze, dass vielfache Resonanzen entstehen und Inhalt und Form untrennbar werden. In dieser Verdichtung verlieren die sprachlichen Elemente ihre Beliebigkeit. Es entsteht ein Spannungsfeld, das gegebene Formen und Details wirkungsvoll einbindet, und eine Intensivierung des Ausdrucks, die nicht mehr auf einzelne Faktoren zurückführbar ist. Rein begriffliche ,funktionale‘ Sprache schafft so einen Mehrwert nicht.1 Die Analogie zur Architektur ist offensichtlich.2 Nur handelt es sich in unserem Fall nicht um Gebäude mit dem Anspruch hoher Baukunst. Die Straße ist gebautes Alltagsleben. Wir erleben eine Schönheit ohne Pathos. Es gibt kein Gebäude, das die Aufmerksamkeit in besonderer Weise auf sich zöge wie das nahe Rathaus oder das Münster. Es ließe sich sagen, es ist architektonische Prosa – aber poetische Prosa. Man empfindet die Gestaltung als so natür-

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lich, dass sie kaum bewusst wird, man nutzt sie einfach gern. Es ist eine subtile und wandelbare Balance. Die Justizia mit ihren zwei goldenen Waagschalen auf dem Gerechtigkeitsbrunnen in der Mitte der Straße mag uns immer wieder daran erinnern. Möglichkeitsarchitektur – Enge und Weite Obwohl man dauernd Gebäuden ausgesetzt ist, nimmt man sie überwiegend als Hintergrund wahr. Und doch lenken sie unser Verhalten in unerbittlicher Weise. Wo ich mich bewegen und wie ich mich verhalten kann, untersteht der stillen Regie der gebauten Umgebung. Allein schon aus diesem Grund ist jedes architektonische Programm, das die ethische Dimension vernachlässigt, unsinnig. Wie die Architektur mit mir umgeht, beeinflusst unvermeidlich meine Befindlichkeit. Beengt oder frei, düster oder heiter, angeregt oder gelangweilt, isoliert oder gesellig: Architektur kann viele Stimmungen vermitteln. Direkt raumbezogen ist aber das Gefühl von Weite oder Enge. Architektur, und vor allem die städtische, muss das Wunder vollbringen, uns zugleich Geborgenheit und Offenheit zu vermitteln – und das ,so ganz nebenbei‘. Der Begriff „Laube“ kommt von Konstruktionen in den Gärten her, an denen sich Pflanzen wie Wein oder Rosen zu einem belaubten Dach emporranken – ein Ort im Freien, der Natur und Kultur vereint und Offenheit und Schutz zugleich bietet. Lauben sind räumliche ,Zwitter‘, Zwischenräume, die uns offensichtlich gut tun. Lauben sind nicht nur verbindende, sondern auch ,zwielichtige‘, mehrdeutige Räume. In welcher Weise dies zur empfundenen Qualität eines Ortes beitragen kann, verdeutlicht wiederum ein Blick auf Parallelen in der Poetik. Der Literaturnobelpreisträger von 1990, Octavio Paz, charakterisiert den Unterschied zwischen Poesie und Prosa durch den unterschiedlichen Umgang mit Mehrdeutigkeit.3 Während Prosa nach Eindeutigkeit strebt, werden Ambiguität, Vagheit und Mehrdeutigkeit in der Poesie intensiv genutzt. Sie schaffen der Interpretation Spielraum, geben Tiefe und Offenheit, sodass die Leserinnen und Leser unwillkürlich ebenfalls kreativ werden. Im Mann ohne Eigenschaften schreibt Robert Musil, der übrigens seinen Protagonisten, einen Ingenieur, gern „unausführbare Zimmer“ und „Umstelleinrichtungen für die Seele“ entwerfen lässt: „Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, dass er seine Daseinsberechtigung hat,

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dann muss es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann.“4 Die Lauben sind Möglichkeitsarchitektur. Sie bilden einen urbanen Rahmen für mein Handeln. Sie sind nach mehreren Seiten offen und doch klar definiert: ein ,tertium datur‘ zum EntwederOder von Gebäude oder Straße, ein urbaner Schwellenraum, bei dem die Dialektik von Öffnung und Schranke locker spielt. Urbanität erfordert Handlungsspielraum. Auf dem Land finden wir eine engere Einbindung der Person in die Umgebung. In der Stadt müssen größere Gegensätze koexistieren und integriert werden. Lockerere soziale Zusammenhänge wollen aber bewältigt sein, will man nicht von sozialer Enge ins andere Extrem, in Indifferenz und Entfremdung fallen. Offenheit ist riskant. Ein simples ,Je-mehr-Weite-desto-besser‘ genügt nicht. Man muss sich nicht nur fragen, wann Geborgenheit zu Enge wird, sondern auch: Wann wird Weite zu Leere? Kalte Unverbindlichkeit ist keine gute Alternative zu sozialem Druck. Urbanität heißt, eine Mitte zu finden zwischen sozialer Enge und sozialer Öde. Diese Balance stellt sich nicht von selbst ein. Sie muss begünstigt werden durch ,Möglichkeitsräume‘, in denen wir allein, selbstbestimmt und doch gesellig sein können. Lauben sind ein gutes Beispiel dafür. Sie sind immer belebt. Absichtslose Begegnung ist möglich. Die Intensität der Interaktion kann ich weitgehend selbst bestimmen. Da gibt es fließende Übergänge, die im Verhalten zu bewältigen sind: Man trifft Fremde, Bekannte, Freunde, Familie. Ein gewisser Abstand und urbane Umgangsformen sind unerlässlich für das ,fine-tuning‘ der beidseitig gewünschten Nähe oder Distanz. So ist es auch nicht verwunderlich, dass wir unter den Lauben viele Restaurants und Cafés finden, darunter das Café du Commerce, einstmals Treffpunkt der kreativen Berner Welt. Für die lebendige Urbanität, die ihn in Neapel so beeindruckte, prägte Walter Benjamin den Begriff der Porosität. „Porös wie dieses Gestein ist die Architektur. Bau und Aktion gehen in Höfen, Arkaden und Treppen ineinander über. In allem wahrt man den Spielraum, der es befähigt, Schauplatz neuer, unvorhergesehener Konstellationen zu werden.“5 Spielraum ist Voraussetzung für die Integration von Veränderungen und Differenz. Integration heißt aber nicht nur Integration von sozialer, sondern auch von ästhetischer Differenz. Städtische

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Architektur braucht ästhetische Resilienz: eine gewisse Absorptionsfähigkeit für unpassende Elemente. Einzelne abweichende, hässliche oder langweilige Teile können ohne großen Schaden absorbiert werden, solange sie nicht überhand nehmen. Eine Gestaltung mit gut bemessener Bandbreite zugelassener Variation verhindert sowohl Enge wie Inkohärenz. Poetik und Nachhaltigkeit: Gemachtes und Gewordenes Archi-

tektonische Qualität ist eine Form der Nachhaltigkeit. Das Gesamtkunstwerk der Lauben ist etwas, das entstanden, nicht gemacht ist. Es ist im Laufe vieler Jahrhunderte gewachsen. Man braucht die historischen Fakten und Faktoren nicht zu kennen, um zu spüren, dass diese Lebendigkeit viel freies Spiel enthält, aber keine Beliebigkeit. Man kennt die Gründe nicht, warum die Straße so breit, die Arkaden durchgehend und doch variabel sind oder die Keller auf die Straße hinausgehen. Jede Form scheint ausreichend motiviert, weil sie offensichtlich eine Geschichte hat. Solche Formen haben eine gute Chance, die Bedingungen ihres Entstehens und Wechsel in der Nutzung zu überleben. Das heißt: Sie können gut altern. Eine Patina, Spuren einer mitgestaltenden Vorgeschichte, kann man nicht – ohne Kitsch zu produzieren – imitieren. Man muss aber verstehen, woher der besondere Charme alter Gebäude und die Attraktivität der Altstädte kommt, um bei neuen Gebäuden oder Straßenzügen vergleichbare Qualitäten erzielen zu können, ohne in museale Stagnation oder historisierenden Kitsch zu verfallen. Ich möchte hierzu ein paar Ideen aus Georg Simmels Essay Die Ruine aufgreifen. Nun ist die bestens erhaltene und intensiv genutzte alte Berner Innenstadt alles andere als eine Ruine! Doch wir finden dort Hinweise für das Verständnis unserer auf Architektur bezogenen Bedürfnisse, die nichts mit Ruinenromantik zu tun haben. Das Entstehen einer Ruine ist, wie Simmel darlegt, ein Verfall, in der die Natur sich langsam zurücknimmt, was ihr der Mensch zuvor abgerungen hat. Dieser Verfall ist ein ,Geschehenlassen‘, wo viele – einzeln genommen sinnlose – Zufälle sich zu einem neuen Ganzen entwickeln. Es ist nach Simmel „der Reiz der Ruine, dass hier ein Menschenwerk schließlich wie ein Naturprodukt empfunden wird.“6 „[D]ie geheimnisvolle Harmonie, dass das Gewollte hier durch ein Ungewolltes und Unerzwingliches zu einem anschaulich Neuen, oft Schöneren und wieder Einheitli-

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chen wird – das ist der phantastische und überanschauliche Reiz der Patina.“ Sie bringt eine „metaphysische Beruhigtheit“, eine Stimmung mit dem „Charakter der Heimkehr.“ Simmel nennt als Analogie den Reiz alter Stoffe, die durch die Einwirkung eigentlich schädigender Faktoren wie Licht und Feuchtigkeit eine neue Einheitlichkeit bekommen, die „das ehemalige gegensätzliche Sichherausheben in die friedliche Einheit des Dazugehörens senkt“. Diese Friedlichkeit verdankt sich einem weiteren Motiv: dem „Vergangenheitscharakter“. Man sieht, wie Simmel schreibt, „dass das Leben mit seinem Reichtum und seinen Wechseln hier einmal gewohnt hat, – eine gegenwärtige Form vergangenen Lebens“. In unseren Lauben ist das Leben keineswegs gewichen! Beruhigend wirkt jedoch die sichtbare Kontinuität. Das Alte, mit Kosten und Mühe Erhaltene ist ja auch ein Werk der Gegenwart. Ein reines Geschehenlassen genügte hier nicht, es bedurfte einer massiven kumulativen Bemühung der Nutzenden und Besitzenden sowie kluger Bauordnungen über Jahrhunderte hinweg. Dies hat nichts zu tun mit nostalgiegetriebenen Rekonstruktionen. Es ist ein adaptives städtebauliches Verhalten der ,Anlagerung‘. Richard Sennett kontrastiert die beiden verschiedenen Zeitrahmen von Bruch und Anlagerung im Entstehen der Stadt. „Der Bereich des langsam Wachsenden, des sich Anpassenden und Hinzukommenden liegt uns emotional.“7 Die Poetik einer Altstadt liegt im Gleichgewicht von Vorfinden und Machen. Der Erhalt fordert ja auch Kreativität und nicht geringe Anstrengung; jeder Umbau, jede Renovierung enthält ein Risiko, das gegen das Risiko des Verfalls abgewogen werden sowie praktischen und pekuniären Einschränkungen gehorchen muss. Es braucht sowohl schonende Erhaltungsmaßnahmen als auch gewagte Eingriffe. Dies ist ein Prozess sukzessiven Handelns und kumulativer Intelligenz, der sich über Jahrhunderte hinzieht, wo sich – im Glücksfall – unzählige Abwägungen und Eingriffe zu einem porösen und ansprechenden Ganzen fügen. Anders als bei einem einzelnen historischen Gebäude, wie zum Beispiel einer Kathedrale, bei der man meist einen Urzustand wiederherzustellen sucht, bedeutet der Erhalt einer Altstadt, soweit sie nicht touristisch-museal erstarrt ist, ein viel komplexeres und damit intelligenteres Geflecht von Gegenwart und Vergangenheit, von Pragmatik und Ästhetik, das sich einer heutigen Nutzung voll erschließt.

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Diese historische ,Selbstorganisation‘ ist der Grund, warum uns etwas von Menschen Geschaffenes so ,natürlich‘ erscheinen kann. Wenn man dies bedenkt, ist es weniger verwunderlich, dass sich vergleichbare Qualität bei der Neuschaffung von Straßenzügen und Stadtteilen nur schwer herstellen lässt. Man muss dies nicht nur bei der Abwägung zwischen Erhalt und Neubau bedenken. Nachhaltigkeit bedeutet auch zu fragen, welche Qualitäten neue Bauten haben müssen, um ihrerseits den Prozess des Alterns gut zu überstehen. Conclusio. Trost der Architektur?

„ Die Ordnung des Profanen hat sich auszurichten an der Idee des Glücks.“ Walter Benjamin, Theologisch-politisches Fragment Glück ist gesund. Es ist ja vielfach belegt: Schönheit im öffentlichen Raum fördert Wohlbefinden und Wohlverhalten. Architektur ist öffentlich. Auch wenn die Häuser Privatbesitz sind, ist die bauliche Umwelt, der wir ausgesetzt sind, Allmende. Wir reisen weit für gute Architektur; attraktive Altstädte wie Amsterdam oder Venedig können sich der Besucherflut kaum erwehren. Andererseits können wir schlechter Architektur in der eigenen Umgebung nicht ausweichen. Wir haben wenig Einfluss auf das, was uns im öffentlichen Raum architektonisch zugemutet wird, auch wenn es unsere Existenz zutiefst prägt. Im Buch der Unruhe, das eine Hommage an seine Stadt Lissabon ist, schreibt Fernando Pessoa: „Mein Bewusstsein von dieser Stadt ist im Innersten mein Bewusstsein von mir selbst.“8 Monotonie und Grobheit in der gebauten Umgebung bedeutet nicht nur, dass die sinnliche Intelligenz jedes Vorbeigängers beleidigt wird. Wenn man mich im öffentlichen Raum schlecht behandelt, ist meine Würde missachtet. Solche Erniedrigung hat soziale Kosten. Qualität des öffentlichen Raums hingegen fördert sozialen Zusammenhang wie individuelles Wohlsein. Der Erhalt oder das Schaffen dieser Qualität mag teuer sein, aber ihre Zerstörung ist noch teurer. Sie fördert Verrohung, Entsolidarisierung und Entfremdung. Deshalb halte ich es für angemessen, neben anderen bürgerlichen Rechten auch ein Recht auf ästhetische Unversehrtheit zu fordern. Architekten, Bauherrinnen und Stadtplanende sind in die Pflicht genommen, dies praktisch einzulösen. Es politisch einzufordern obliegt uns allen.

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Auswahlbibliografie

Benjamin, Walter, Lacis, Asja, „Neapel“, in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Band IV.1: Kurze Prosa/Denkbilder, Frankfurt a. M. 1991. Siehe auch unter: http://gutenberg. spiegel.de/buch/kurze-prosa-6570/2 [26. 1. 2019]. Franck, Dorothea, „Brauchen wir noch Gedichte im digitalen Zeitalter?“ In: Lettre International 116, 2017, S. 11–15. Franck, Georg, Franck, Dorothea, Architektonische Qualität, München 2008. Hohl, Ludwig, Die Notizen oder Von der unvoreiligen Versöhnung, Frankfurt a. M. 1981. Paz, Octavio, Der Bogen und die Leier: Poetologischer Essay, Frankfurt a. M. 1990. Sennett, Richard, Die offene Stadt. Eine Ethik des Bauens und Bewohnens, Berlin 2018.

Anmerkungen 1

Dorothea Franck, „Brauchen wir noch Gedichte im digitalen Zeitalter?“ In: Lettre International 116, 2017, S. 11–15.

2

Siehe Georg Franck und Dorothea Franck, Architektonische Qualität, München 2008.

3

Octavio Paz, Der Bogen und die Leier: Poetologischer Essay, Frankfurt a. M. 1990.

4

Robert Musil, Mann ohne Eigenschaften, Berlin 1930, vorliegend in der Auflage Reinbek 1984, S. 16.

5

Walter Benjamin, Asja Lacis, „Neapel“, in: Walter Benjamin, Gesam­ melte Schriften, Band IV.1: Kurze Prosa/Denkbilder, Frankfurt a. M. 1991. Siehe auch unter: http://gutenberg.spiegel.de/buch/kurzeprosa-6570/2 [26. 1. 2019].

6

Georg Simmel, „Die Ruine“ in: Ders., Philosophische Kultur. Gesam­ melte Essais, Berlin 1998, S. 118–124, Zitate S. 120, 122.

7

Richard Sennett, Die offene Stadt. Eine Ethik des Bauens und Bewohnens, Berlin 2018, S. 343.

8

Fernando Pessoa, Buch der Unruhe, Zürich 2003.

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Konrad Tobler

Metrik und Rhythmus einer Altstadt Die Lauben von Bern also. Lauben sind, architektonisch gesehen, Arkaden; der umgangssprachliche Ausdruck erinnert an Gartenlauben: Gewachsenes, Natürliches, Selbstverständliches. Aber auch an Gehegtes und Gepflegtes. Der Definition gemäß sind Arkaden, also die Lauben, Bogengänge, Arkaturen, die sich vor einem Gebäude hinziehen oder, wie in Bern, offene und öffentliche Gänge, Fußsteige, die sich gassenseitig in den Erdgeschossen der Häuser befinden. Den Lauben sei nachgegangen. Sie seien abgeschritten, abgelesen, vor dem inneren Auge nachvollzogen. Die ,Ekphrasis‘ der Lauben lässt sich nicht anders schreiben als durch die Empirie, durch das Immer-wieder-Sehen und Immer-wieder-Anschauen, durch Erinnerungen auch. Durch ein Fest-Beißen in steinerne Formen. Auf Stein beißen. Anders als bei Achilleus’ Schild von Homer handelt es sich nicht um eine geniale Phantasmagorie; Lauben sind Stein auf Stein auf gehauenen, auf gemauerten Stein, real. Realer Sandstein, grünlich, da und dort wohl auch Gussstein. Lauben sind städteplanerisch unübertreffbar. Das ist die Methode: abschreiten, ablesen, nachvollziehen, nochmals abschreiten, flanieren, den Blick schweifen lassen, den unruhigen Blick zulassen, eine gewisse Atemlosigkeit. Feststellen, dass das Gleiche nicht dasselbe ist. Und wissen, dass zuvor gesehene Bilder oder Ansichten, dass Fakten, vermutlich auch Theorien die Wahrnehmung beeinflussen, im besten Fall schärfen. Das Unbekannte im Bekannten entdecken, das ist mein Erkenntnisinteresse. Denn ich lebe seit fast zwanzig Jahren über den Lauben der Junkerngasse; mein Blick aus dem Büro, in dem ich diesen Text schreibe, geht auf die Lauben. Nuancen der archi-

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tektonischen Differenzen und Ausbildungen der Laubentypologie nehme ich so, am Fenster stehend, teils unbewusst, teils als Selbstverständlichkeit wahr: Kein Laubenbogen gleicht dem anderen, aber die Abstände zwischen den Pfeilern sind nach Augenmaß gleich. Ich gehe tagtäglich unter den Lauben hindurch, zum Briefkasten, in ein Restaurant; zum Bahnhof gehe ich durch die Lauben oder durch das „Rohr“, wie in der Berner Alltagssprache die (enge) Flucht der Lauben in den vier Hauptgassen von der Nydeck bis zur Heiliggeistkirche heißt. Sechs Kilometer sind das, lese ich in der Tourismuswerbung, Nebengassen mitgerechnet: „eine der längsten gedeckten Einkaufspromenaden Europas“.6 Es ist dies ein wiederkehrender, manchmal beinahe wortwörtlich wiederholter Topos, der sich während Jahrhunderten in Beschreibungen der Stadt Bern findet: „Das schönste und kommlichste aber, welches an gar wenig Orthen sonst zu sehen ist, ist, dass alle Häuser in allen Gassen, ausser gar wenigen, mit Arcaden, Schwibbögen und Gewölben eine schöne Laube formieren, welche mit gantzen steinernen Blatten besetzet; unter diesen Arcaden kan[n] man durch die gantze Stadt, auch bey dem grössten Regen=Wetter sehr kommlich trocken und sicher gehen. In den Lauben sind auch meistens die Kram=Läden und untere Stuben, welche von gemeiner Burgerschafft, die keine eigenen Häuser haben, bewohnt werden, und zu ihre Werckstätten dienen. Summa es ist diese Stadt so regular gebauet, und so rein und sauber gehalten“.7 Nüchterner ist die Beschreibung des idealpedantischen Architekturhistorikers Paul Hofer:8 „Zum Gesamtbild der Marktsiedlung [Bern] gehört das Element der Lauben beidseits des Gassenmarktes.9 Als Bautyp schon den römischen Foren wohlvertraut, entwickeln sie sich im Hochmittelalter aus dem Recht der Marktanstösser, vor ihren Häusern auf öffentlicher Strasse Verkaufsstände zu errichten;10 durch vorziehen der Gebäudefront über die Marktbude werden diese als offenes Erdgeschoss Bestandteil des Bürgerhauses [...], wobei aber der Laubenbogen öffentliches Eigentum bleibt [...]. Immer wieder beschäftigt der Kampf um die Freihaltung des öffentlichen Durchgangs die Baubehörde, bis schliesslich der bereits Anfang des 19. Jahrhunderts einsetzende Übergang zur Angliederung des Laubenbodens an die anschliessende Liegenschaft in der 1883 vollzogenen Erklärung der Lauben zur öffentlich-rechtlichen Dienstbarkeit des Hausbesitzers ausmündet.“11

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„Freihaltung des öffentlichen Durchgangs“: Das ist ein alltägliches Problem, eine Erfahrung, noch heute. Läden stellen hinderliche Auslagen und Hinweistafeln in die Lauben; Touristen halten sich nicht an die Regel, dass in den Lauben für Fußgänger gewohnheitsrechtlich der Rechtsverkehr gilt, und verstopfen so die Durchgänge; Radfahrende meinen, die Lauben seien, – da regengeschützt und nicht mit Kopfsteinpflaster versehen – eigentlich bequemer. Und durchstoßen damit Grenzen, die die Lauben ursprünglich gesetzt haben: Diese sind der Ort des Gehens, des kurzen und sicheren Verweilens, sie sind witterungs- und dreckgeschützt und haben so, neben dem merkantil-handwerklichen Zweck, auch etwas Aristokratisches.12 Das Lob der Lauben Berns, das allenthalben angestimmt wird und in das ich einstimme, weil die Lauben Insignien der städtebaulichen Verdichtung sind, diese Elogen müssen dennoch relativiert werden. Etwa durch Friedrich Dürrenmatt, dem die Altstadt Berns zum körperlich erfahrbaren Urbild des Labyrinths wurden, zum kafkaesken Gemäuer: „Man geht nicht durch die Gassen dieser Stadt, man geht durch Arkaden, durch ,Lauben‘ zu beiden Seiten der Gassen, wie durch lange sanft geschwungene Korridore, sodass man in jenen Zeiten vom Turm des Münsters oft das Gefühl hatte, auf leere Strassen zu blicken, auf eine Stadt, wo die Menschen sich in ihre Häuser verkriechen und sich in dunklen Kammern verstecken, hinter grauen Sandsteinmauern, die manchmal im letzten Sonnenlicht überaus mächtig aufleuchteten.“13 Oder, im Prosastück Die Stadt: „Die niedrigen Lauben zwangen die Menschen, sich gebückt innerhalb der Häuser zu bewegen, der Stadt unsichtbar und ihr so erträglich.“14 Eine andere Relativierung ist der Blick nach außen. Erstes Erstaunen: Als ich – Ekphrasis ist subjektiv: ich schaue, ich beobachte, ich gehe – zum ersten Mal von Ventimiglia über den Colle di Tenda fuhr, nach Cuneo, da sah ich Kolonnaden, Arkaden – faschistische Großarchitektur als Willkommensgruß; dann aber, in der Altstadt, wähnte ich mich unvermittelt in Bern. Die geschwungene Hauptgasse, der Stadtbach – und die Lauben. Ich traute meinen Augen nicht. Es war der gleiche Rhythmus des Straßenbildes, den ich kannte. Erst viel später sollte ich bei Recherchen herausfinden, welche Bewandtnis das vermutlich hatte. Zweites Erstaunen. Eingeladen zu einer Kunstausstellung in Zamo´s´c, gelegen im südöstlichsten Zipfel von Polen, staunte

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ich nicht schlecht – war ich doch aus meiner Wohnung über den Lauben von Bern gekommen, nach Warschau geflogen, mit dem Bus am Konzentrationslager Majdanek vorbeigefahren und in einem mir völlig unbekannten Städtchen ausgestiegen. Das Hotel erreichte ich durch Lauben. Irritierendes Déjà-Vu: Bern und Italien im fernen Polen? Ich weiß mittlerweile, dass mich im mittelfranzösischen Louhans ein vergleichbares Erstaunen wie in Cuneo oder in Zamo´s´c erwarten wird. Darauf bin ich gespannt. Zurück zu den Berner Lauben als architektonischer Erscheinung (und damit als räumlicher Erfahrung). In der Einheit mit den Fassaden zu sehen – das ist unabdingbar –, geben die Lauben im Straßenbild einen Takt vor. Sie sind, wie die Brunnen in den Gassen, ein regelmäßiger Rhythmus, vergleichbar den Masten von Eisenbahnlinien. Laubenpfeiler folgt auf Laubenpfeiler, Laubenbogen auf Laubenbogen – und, entsprechend, Leerraum auf Leerraum. Leerraum heißt: Blick in oder auf die Gasse aus dem Laubeninneren, Blick in einen beschattet dämmrigen Laubengang von außen.15 Damit objektiviert sich die Ekphrasis. Denn dieser Rhythmus basiert auf der mittelalterlichen Rahmenparzellierung, einer strengen, idealtypischen stadtplanerischen Leistung, die verbunden war mit einer präzisen Vermessungskunst. (Deren damalige Grundlagen und Techniken kaum oder nicht mehr nachvollziehbar sind.) Deutlich sichtbar wird diese Regelmäßigkeit – die in dieser Art frontal nie zu sehen ist – in den Fassadenaufnahmen der Südseite der Gerechtigkeitsgasse, die Niklaus Sprüngli um 1759 gezeichnet hat.16 Die Erklärung gibt Paul Hofer in seinem 1996 postum erschienenen Aufsatz „Zur Herkunft des Stadtplans von Bern“.17 Als typisch bezeichnet er die zähringischen Überbauungseinheiten eines Bauernhofes: 60:100 Fuß, das heißt rund 18:30 Meter. Diese sind unterteilt in leicht schräg gestellte Parzellen von 4 bis 6 Metern Gassenbreite, mit Brandmauerbreiten von 40 bis 50 Zentimetern.18 Hofer vergleicht diese Stadt-Geometrie mit den Plänen von Cuneo im Piemont und Villefranche im Beaujolais: Die Maße sind verblüffend ähnlich, auch was die Gassenbreite betrifft. Hofer kann den Bezug der Zähringer-Gründung Berns zur piemontesischen Stadt Cuneo zwar nicht durch Archivalien dokumentieren, eine dynastische Relation zu westfranzösischen Städtegründungen jedoch sehr wohl.19 Anzunehmen ist also, dass oberitalienische Stadtplaner in all den erwähnten Städten am Werk waren

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– oder, dass ihre Planungsideen und -strukturen andere Planungen beeinflussten. Damit führt die Reise wieder nach Zamo´s´c. Dort beauftragte der polnische Aristokrat und Republikaner Stanisław Zamoyski den venezianischen Baumeister Bernardo Morando, im Niemandsland eine Idealstadt zu bauen, die von 1578 an Schritt für Schritt realisiert wurde und als „Padua des Nordens“ galt. Wie Bern ist Zamo´s´c UNESCO-Weltkulturerbe. Die Maße der Parzellierungen lassen sich beim Abschreiten oder Betrachten der Lauben noch heute von bloßem Auge überprüfen. Der Takt heißt also 4 bis 6 Meter. Das ist das Metrum, selbst dort, wo die Fassaden wie etwa in der Spitalgasse um 1900 vollständig erneuert wurden. Dieses Metrum jedoch wird durch zwei Aspekte im besten Sinn rhythmisiert, dynamisiert. Der eine Aspekt ergibt sich dadurch, dass im Verlauf der Zeiten Parzellen durch Ankäufe oder Erbschaften zusammengelegt wurden, sich also größere Einheiten ergaben.20 Dabei nutzte man in der Gestaltung die daraus erwachsenen Freiheiten, um Häuser mit repräsentativen Fassaden zu versehen. Bei genauem Hinsehen erweist es sich jedoch, dass die Grundeinheiten – trotz der Ausweitung der Lauben und der Fronten auf eine Fensterzahl von drei, vier oder gar sechs – immer noch ablesbar sind. Der andere Aspekt – Hofer beobachtet ihn auch in Cuneo und Villefranche – ist die Dynamisierung durch die topografischen Schwingungen: „Leicht gebogen nicht nur die Achsenlinien, sondern jede einzelne Häuserflucht, sodass sich aus Einbuchtungen, besonders an Gerechtigkeits-, Kram- und Marktgasse, immer wieder unmerklich auseinandertretende längsovale Weiten bieten.“21 Diesen Aspekt, das Schwingende also, veranschaulicht wohl am Schönsten ein Gemälde von Albert Anker, das in impressionistischer, fast an Manet erinnernder Manier die Häuser- und Laubenflucht der Gerechtigkeitsgasse wiedergibt.22 Die Ekphrasis muss sich den Details zuwenden. Diese seien hier verknappt, fast listenartig, aufgezählt. 1. Konstruktionen Es gibt Kreuzgewölbe wie beim VonWattenwyl-Haus an der Junkerngasse 59 oder vor der Antonierkapelle an der Postgasse 62. Dann sind zu finden offen sichtbare Balkendecken, dann auch flache, meist mit Gipsplatten versehene Decken.

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Spannend sind die vermutlich ältesten und niedrigsten Lauben, Balkenkonstruktionen wie in der Matte, in der Münster- und der Postgasse. Vereinzelt finden sich Holzpfeiler oder gar monolithische Sandsteinsäulen. Weitere Konstruktionen ergeben sich aus dem Klopftest: Wer an die Zwischenbogen klopft wird, besonders in der Markt- und in der Spitalgasse, wird feststellen, dass die Lauben reine Kulissen sind, hohl, von Steinwerk also kaum die Rede sein kann. Das führt zu einer weiteren Beobachtung: Vor allem oberhalb des Zytglogge ist vieles, was einheitlich alt erscheint, reine Neukonstruktion. Da sind Fassaden in der Höhe gestreckt, Zwischengeschosse eingezogen worden. Das äußere Bild stimmt in keiner Weise mit den inneren Strukturen überein. Hier erinnert das Laubenbild an eine Reflexion des deutsch-schwedischen Schriftstellers Peter Weiss: „Die Technokraten in Stockholm: Sie wollen die historischen Perspektiven im Zusammenhang mit ihrer Stadt eliminieren. ,Das hält das Leben nur im Alten, Verbrauchten fest.‘ Fast hätten sie sich den Bombenkrieg auf Stockholm gewünscht, das wäre das Einfachste gewesen, sie wären das Geplänkel um die Bewahrung historischer Bausubstanzen und Baudenkmäler losgeworden. Jedenfalls werden sie als Sieger im Kampf gegen jene, die eine noch in ihren Resten bestehende Kultur schützen wollen, hervorgehn, sie reißen ab und bauen, bauen, ihre Monumente des Kapitalismus.“23 2. Dekorationen Manche Laubenbögen sind karg, minimalistisch gar. Andere sind repräsentativ, barock oder klassizistisch.24 Wiederum andere sind mit Rosetten oder mit Darstellungen verziert, die aus dem 19./20. Jahrhundert stammen und sich an mittelalterliche Vorbilder von Handwerkerdarstellungen anlehnen. Bei manchen ist ein weiterer möglicher Nutzungszweck der Lauben ersichtlich: Sie sind ideale Reklameflächen oder bieten Platz für Firmenaufschriften – was besonders seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fleißig genutzt wurde.25 Hofers Detailgenauigkeit fügt noch ein weiteres Element hinzu: die Profile der Laubenbogen. Er zeichnet „reiche Kehlstabprofile, einfache und kantonierte Kehlprofile, Kehl- und Fasenprofile mit Kugeln und Rosetten, vertiefte Fassaden ohne Rosetten, kantonierte Rundstäbe, schmale und mittelbreite Fasen, einfache Breitfasen.“26

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Damit ist das, was auf den ersten Blick so einheitlich erscheint, in der Ekphrasis zu einer unglaublichen Vielfalt geworden. Die Lauben Berns also. Es fehlt der Ausblick. Der Ausblick ist mehr als eine Frage, er ist Aufforderung: Weshalb sind Lauben nicht Bestandteile einer Stadtplanung, die Verdichtung mit Bequemlichkeit verbindet und den Komfort der Fußgängerschaft im Auge hat? Weswegen sind Lauben nur ein vereinzeltes Element der Außenbindungen bei Wohnblocksiedlungen? Ich meine: Die Ausformung müsste sich nicht an tradierten Formen und Nutzungen orientieren. Und so würde ich mich freuen, eine Ekphrasis der Lauben des 21. Jahrhunderts zu schreiben. Auswahlbibliografie

Eichenberger, Rolf, Bern. Berner Stadtführer mit Rundgang und Stadtplan, Bern 1972. Gruner, Johann Rudolf, DELICIAE URBIS BERNAE. Merkwürdigkeiten der hochlöbl. Stadt Bern. Aus mehrenteils ungedruckten authentischen Schriften zusammengetragen, Zürich 1732. Heinzmann, Johann Georg, Beschreibung der Stadt und Republik Bern. Nebst vielen nützlichen Nachrichten für Fremde und Einheimische, Bern 1794. Hofer, Paul: Die Kunstdenkmäler des Kantons Bern, Band I: Die Stadt Bern. Stadtbild, Wehrbauten etc. Basel 1952. Hofer, Paul, Die Stadt als Monument, Bern 1952. Hofer, Paul, Die Kunstdenkmäler des Kantons Bern, Band II: Die Stadt Bern. Gesellschaftshäuser und Wohnbauten, Basel 1959. Hofer, Paul, „Zur Herkunft des Stadtplans von Bern“, in: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 58, 1996, Heft 3, S. 271f. Joanne, A. und P., Suisse. Guides Diamant 1879, Paris 1880/81. Lörtscher, Thomas (Hg.), „währschafft, nuzlich und schön“. Bernische Architekturzeichnungen des 18. Jahrhunderts, Katalog Historisches Museum Bern, Bern 1994. Ruegg, Arthur (Red.), Materialien zur Studie Bern, 4. Jahreskurs 1974/1975 (Dolf Schnebli mit Paul Hofer), Zürich (ETH, Departement Architektur), Zürich 1977. Schweizerisches Literaturarchiv Bern/Kunsthaus Zürich (Hg.), Friedrich Dürrenmatt. Schriftsteller und Maler, Katalog zu

231

den Ausstellungen Querfahrt. Das literarische Werk und Portraits eines Universums. Das zeichnerische und malerische Werk, Zürich 1994. Sommerlatt, Christian von, Adressenbuch der Republik Bern, für Wissenschaft, Kunst, Handel und Gewerbe, sammt Beschreibung der öffentlichen Anstalten und sonstigen nützlichen Einrichtungen, Bern 1836. Stumpf, Johannes, Schweizer Chronik. Das ist Gemeiner loblicher Eydgnoschafft Stetten, Landen und Völckeren Chronick wirdiger Thaaten Beschreybung (1548), zit. nach: Heinrich Türler, Bern. Bilder aus Vergangenheit und Gegenwart, Bern 1894, S. 3. Tavel, Rudolf von, Bern. Seinen Besuchern geschildert von Rudolf von Tavel, Zürich [zur Landesausstellung 1914 in Bern]. Walthard, Rodophe, Déscription topographique et historique de la Ville et des Environs de Berne, Bern 1827. Weiss Peter, Notizbücher 1971–1980, Band 1, Frankfurt a. M. 1981.

Anmerkungen 1

Siehe unter: https://www.myswitzerland.com/de-ch/sechs-kilometern-arkaden-lauben.html [25.02.2019]. Paul Hofer, Die Kunstdenk­ mäler des Kantons Bern, Band I: Die Stadt Bern. Stadtbild, Wehr­ bauten etc., Basel 1952, S. 36, ist da genauer: Rund 5 140 Meter betrage die Länge der Lauben. Für andere Städte melden die Touristiker: Bologna – 40 Kilometer; Turin – 18 Kilometer; Cuneo – 8 Kilometer.

2

Johann Rudolf Gruner, DELICIAE URBIS BERNAE. Merkwürdig­ keiten der hochlöbl. Stadt Bern. Aus mehrenteils ungedruckten authentischen Schriften zusammengetragen, Zürich 1732, S. 18f. Vergleichbar Johannes Stumpf, Schweizer Chronik. Das ist Gemeiner loblicher Eydgnoschafft Stetten, Landen und Völckeren Chronick wirdiger Thaaten Beschreybung (1548), zit. nach: Heinrich Türler, Bern. Bilder aus Vergangenheit und Gegenwart, Bern 1894, S. 3; Johann Georg Heinzmann, Beschreibung der Stadt und Republik Bern. Nebst vielen nützlichen Nachrichten für Fremde und Einhei­ mische, Bern 1794, I/S. 7f., II/S. 14f., S. 263; Rodophe Walthard, Déscription topographique et historique de la Ville et des Environs de Berne, Bern 1827, S. 8f.; Christian von Sommerlatt, Adressenbuch der Republik Bern, für Wissenschaft, Kunst, Handel und Gewerbe, sammt Beschreibung der öffentlichen Anstalten und sonstigen

Arkaden

nützlichen Einrichtungen, Bern 1836, S. 7; A. und P. Joanne, Suisse. Guides Diamant 1879, Paris 1880/81, S. 225; Rudolf von Tavel, Bern. Seinen Besuchern geschildert von Rudolf von Tavel, Zürich [zur Landesausstellung 1914 in Bern], S. 54; Rolf Eichenberger, Bern. Berner Stadtführer mit Rundgang und Stadtplan, Bern 1972, S. 13, 20f., 69f. 3

Paul Hofer (1909–1995), Berner Kunsthistoriker, der sich auf Architektur- und Städtebaugeschichte spezialisierte. Hofer beschrieb und zeichnete in seiner Forschung die Baustrukturen bis ins Detail und formulierte auf der Basis dieser empirischen Erkenntnisse theoretische Interpretationsmuster. Raumkonzepte standen dabei immer im Vordergrund. Detailgenauigkeit verband sich bei Hofer mit dem Blick auf kulturhistorische Zusammenhänge. Modellhaft für Hofers Methode ist, neben all den Studien zur Stadt Bern, sein Buch Noto. Idealstadt und Stadtraum im sizilianischen 18. Jahrhundert, Zürich 1996.

4

Hier verweist Hofer neben Bern auf Thun, Burgdorf, Laupen, Murten und Erlach.

5

Verkaufsstände: Das sind Läden. Der Wortursprung bezieht sich auf die aufklappbaren Bretterkonstruktionen, die vor den Werkstätten oder Lagern eine Verkaufsablage ermöglichten. Einige dieser „Läden“ sind noch immer an der Post- und an der Münstergasse zu sehen.

6 Hofer, Die Kunstdenkmäler des Kantons Bern (Anm. 1), S. 34f. 7

Nicht zufällig „aristokratisch“, aber allen zugänglich angelegt, sind die Arkaden des Palais Royal in Paris oder diejenigen der Piazza San Marco in Venedig.

8

Friedrich Dürrenmatt, Labyrinth, in: Schweizerisches Literaturarchiv Bern/Kunsthaus Zürich (Hg.), Friedrich Dürrenmatt. Schriftsteller und Maler, Katalog zu den Ausstellungen Querfahrt. Das literari­ sche Werk und Portraits eines Universums. Das zeichnerische und malerische Werk, Zürich 1994, S. 80.

9

Ebd. S. 81

10 Siehe dazu Arthur Ruegg (Red.), Materialien zur Studie Bern, 4. Jahreskurs 1974/1975 (Dolf Schnebli mit Paul Hofer), Zürich (ETH, Departement Architektur), Zürich 1977, S. 52, 54f. 11 Thomas Lörtscher (Hg.), „währschafft, nuzlich und schön“. Berni­ sche Architekturzeichnungen des 18. Jahrhunderts, Katalog Historisches Museum Bern, Bern 1994, S. 284f. 12 Paul Hofer, „Zur Herkunft des Stadtplans von Bern“, in: Berner Zeit­ schrift für Geschichte und Heimatkunde 58, 1996, Heft 3, S. 271f.;

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siehe dazu auch Ruegg (Red.), Materialien zur Studie Bern (Anm. 10), S. 9, 15, 21. 13 Paul Hofer, „Zur Herkunft des Stadtplans von Bern“ (Anm. 12), S. 287. 14 Ebd., S. 293. 15 Zu den Fassadentypen ebd., S. 39–49. 16 Hofer, Die Kunstdenkmäler des Kantons Bern (Anm. 1), S. 30. Vgl. dazu auch Paul Hofer, Die Stadt als Monument, Bern (1952), S. 23: „Dieses Kunstwerk [das Stadtbild von Bern] kann nicht aus dem Raum, nur aus Körper, Achsen und aus der Bewegung dieser Körper und Achsen verstanden werden.“ 17 Das Gemälde befindet sich in der Sammlung des Kunstmuseums Basel. 18 Peter Weiss, Notizbücher 1971–1980, Band 1, Frankfurt a. M. 1981, S. 410f. 19 Der Berner Architekt Albrecht Stürler (1705–1745) zeichnete im Rahmen des im 18. Jahrhundert zügig vorangetriebenen ,Embel­ lissements‘ der Stadt Bern zwei Umbauvarianten für die gleichen Fassadenmaße. Einmal schlicht, einmal mit Kämpferplatten, Archivolten, Lisenen und Stockwerkgurten. Siehe Lörtscher (Hg.), „währ­ schafft, nuzlich und schön“ (Anm. 11), S. 323f.; siehe dazu auch Ruegg (Red.), Materialien zur Studie Bern (Anm. 10), S. 39–49. 20 Siehe etwa die Signatur „AK.1018“ in der Burgerbibliothek Bern, unter: http://katalog.burgerbib.ch [25.02.2019]. 21 Paul Hofer, Die Kunstdenkmäler des Kantons Bern, Band II: Die Stadt Bern. Gesellschaftshäuser und Wohnbauten, Basel 1959, S. 470.

10 Monument Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Berlin

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Jörg H. Gleiter

Produktives Scheitern der Ekphrasis In der klassischen Rhetorik beschreibt der Begriff Ekphrasis einen Vorgang der Übertragung von visueller in begriffliche Erfahrung. Voraussetzung dafür ist ein Wechsel des Mediums vom Bild zur Sprache. Das passiert immer dann, wenn wir von Architektur sprechen und unsere architektonischen Erfahrungen beschreiben. Die Definition jedoch allein als Übertragung von visuellen Repräsentationen in sprachliche Repräsentationen ist zu einfach und wird der kulturellen Leistung der Ekphrasis nicht gerecht. Theon von Smyrna, der griechische Rhetor aus dem 1. Jahrhundert n. Chr., schrieb daher auch: „Ekphrasis ist ein beschreibender Text, der das Mitgeteilte anschaulich vor Augen führt.“1 Der Fokus liegt hier auf dem Anschaulich-vor-Augen-führen, Cicero schrieb auch von inlustratio oder Ins-Licht-Rücken und von evidentia oder Vor-Augenstehen.2 Ekphrasis ist demnach die Übertragung von Bildern in Worte, aber mit der Absicht, dass die Beschreibung nicht abstrakt bleibt, sondern die Einbildungskraft der Zuhörerschaft anregt und Bilder und Vorstellungen erzeugt. Im Sinne der klassischen Rhetorik ist Ekphrasis mit Enargeia gepaart, der Kraft zur Erzeugung von Bildern und Gefühlen. Die paradoxe Konstellation der Ekphrasis zeigt sich darin, dass sie gerade mittels Worte auf die Überwindung des Wortcharakters zielt. Sichtbare und fühlbare Vorgänge Eine Betrachtung der Ekphrasis

in der Architektur, also der Beschreibung von Architektur in Wort oder Schrift, muss von der Tatsache ausgehen, dass Ekphrasis keine neutrale Tätigkeit ist, dass sie sich grundlegend von sachlichen und wissenschaftlichen Berichten unterscheidet. Denn die mentalen Bilder, die sie erzeugt, sind keine einfachen Bilder, sie sind schon

Monument

durch einen zweifachen Wechsel des Mediums und damit durch eine zweifache Übersetzung hindurchgegangen. Das schreibt sich den Bildern ein und hinterlässt in ihnen Spuren. Die resultierenden Bilder sind durch die Muster des begrifflichen Denkens gefärbt, gehen aber dennoch nicht in deren logischer Struktur auf. Darüber hinaus ist Ekphrasis auch immer mehr als nur die Beschreibung von allein sichtbaren Dingen. Es geht in das ekphrastische Verfahren nicht nur das Sichtbare ein, sondern auch die Wirkungen, Enargeia, die das Objekt, sei es nun ein Bild oder eine architektonische Situation, auf die beschreibende Person hat. Da architektonische Wahrnehmung immer mehr als visuelle Erfahrung ist, macht dies gerade die Besonderheit der Ekphrasis in der Architektur aus. Würde sie ihrer Übertragungsleistung nur das Sichtbare zugrunde legen, bliebe die Ekphrasis hinter der Komplexität der Architektur zurück, wo doch gerade die Architektur in der Umfänglichkeit aller Sinne wie Gleichgewichts-, Augen-, Geruchs-, Gehöroder Leibsinn erfahren wird. Mit der Forderung nach einem „Denken in sichtbaren und fühlbaren Vorgängen,“3 wie von Friedrich Nietzsche formuliert, also nicht abstrakt, sondern bildhaft, wird dann die Ekphrasis als jene Kulturtechnik erkennbar, die auf ganz grundsätzliche Art dem Denken zugrunde liegt. In Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne schreibt Nietzsche auch von der Gefahr des „Hart- und Starr-Werden[s]“4 der Begriffe und von der Gefahr, die vom Verlust der sinnlich-ästhetischen Gehalte der Begriffe für das Erkenntnis- wie auch Bewusstseinsvermögen ausgeht. Jedes Denken ist defizitär, wo es in verhärteten Begriffen und im Abstrakten stehen bleibt, keine Bilder und sinnliche Erfahrungen assoziieren lässt und dadurch den sinnlich-imaginativen Anteil im Denken unterdrückt, der jedoch gerade Garantie ist für die humanen Gehalte und den Rückbezug der Begriffe auf das Leben. Hinter Nietzsche zurückgehend lässt sich an Immanuel Kant anknüpfen. Mit ihm wird der Prozess der Ekphrasis als das freie Spiel von Einbildungskraft und Verstand verständlich, in dem die Verknüpfung von Bild und Sprache Voraussetzung dafür ist, dass die Bilder „mehr denken lassen, als man in einem durch Worte bestimmten Begriff ausdrücken kann.“5 Durch sprachliche Vermittlung werden Bilder zu Denkbildern. So kommt auch durch Ekphrasis die Reflexion in die Architektur, als kritische Reflexion, wenn die durch den Prozess der Ekphrasis gewonnenen Erkennt-

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nisse wiederum auf die Bilder, die am Anfang standen, zurückbezogen werden. In diesem Sinne kritisch-reflexiv arbeiten die entwerfenden Architektinnen und Architekten, die mittels eines Prozesses von ekphrastischen Vermittlungen zwischen den Bildverfahren von Skizze, Zeichnung und Modell entwerfend die zukünftige Architektur imaginieren. Für die Architektur können nun zwei Verfahrensweisen der Ekphrasis unterschieden werden. Einerseits als Modus der Mitteilung architektonischer Erfahrung an andere, was mittels mündlicher Rede, Literatur, Reiseberichten und Aufsätzen in wissenschaftlichen Zeitschriften, aber auch Tourismusprospekten, Blogs und Kurznachrichten geschehen kann; andererseits als Modus der Reflexion über Architektur, durch die die automatisierte und unbewusste Wahrnehmung im Alltag im freien Spiel von Einbildungskraft und Verstand durchbrochen wird. Das ist immer dann der Fall, wenn die Betrachter über die reine Form und ihre Benutzung hinaus fragen, in welchem Bezug ein Gebäude oder Gebäudeensemble zum allgemeinen kulturellen Kräftefeld steht, und welches ihr Stellenwert als symbolische Form ist. Durch Ekphrasis wird Architektur beredt und zum intellektuellen wie auch künstlerischen Medium. Durch sie wird die Architektur aus dem Bereich unbewusster, ritueller Praktiken befreit, die sowohl alltägliche wie auch religiöse oder mythische Praktiken sein können. Es eröffnet sich der Architektur, die als materielle Praxis an die Erfahrung in der Präsenz gebunden ist, eine Möglichkeit der Bezugnahme auf anderes, zumal Abwesendes. Wo sie auf die Einbildungskraft zielt und nicht beim reinen Begriff stehen bleibt, treibt die Ekphrasis die Wahrnehmung über das bloße identifizierende Erkennen der Dinge hinaus und öffnet die Architektur der Poetik. Große unsichtbare Kraft Die Bedeutung der Ekphrasis für die

Architektur tritt besonders dann ins Bewusstsein, wenn sie scheitert, wenn also die Übertragung in Sprache und weiter in imaginierte Bilder auf Widerstände stößt, wenn die Architektur sich nicht so leicht auf den Begriff bringen lässt. Dann setzt in den Betrachtern ein aktiver, suchender Prozess der Übertragung der irritierenden Erfahrung in Sprache und verständliche Bilder ein. Peter Eisenmans Mahnmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin ist eine solche Architektur, die bewusst einfache Begriffsbil-

Monument

dungen unterbindet und gerade dadurch einen komplexen Prozess der Reflexion anstößt. Denn das Mahnmal ist nicht mit bekannten Architekturerfahrungen vergleichbar, es kann nicht so einfach auf den Begriff und in Übereinstimmung mit der bekannten Bilderwelt gebracht werden. Eisenmans Mahnmal für die ermordeten Juden Europas besteht aus 2700 frei stehenden Betonkuben, den sogenannten Stelen, die im rechtwinkligen Raster angeordnet sind. Die Stelen haben dieselbe Grundfläche, unterscheiden sich aber in der Höhe. Diese verändert sich kontinuierlich von Stele zu Stele, sodass in der Aufsicht eine bewegte, wellenartige Oberfläche entsteht, was dadurch verstärkt wird, dass sich der Boden zwischen den Stelen wellenartig hebt und senkt. Während die Stelen an den Rändern auf Straßenniveau auslaufen, kann man in den korridorartigen Gängen tief ins Stelenfeld eintauchen. Darüber hinaus wird eine besondere Spannung dadurch geschaffen, dass die Stelen leicht geneigt sind, jede auf eine andere Weise. Das erweckt den Eindruck, als ob das Stelenfeld von einer großen, unsichtbaren Kraft bewegt würde. Das ist alles irritierend, umso mehr, als es keine Hinweise auf die Widmung des fußballfeldgroßen Mahnmals gibt. Aber auch wenn man sie kennt, selbst dann bleibt rätselhaft, was die unterschiedlich hohen Betonklötze damit zu tun haben. Sie entziehen sich einer eindeutigen Bedeutung, es bleibt das Stelenfeld eigenartig leer. Man kann von einer Architektur am Nullpunkt der Ästhetik sprechen. Aber es bleibt nicht bei der Irritation, denn jedes Unbekannte und begrifflich schwer Fassbare löst beim Publikum nicht nur eine Verstörung und einen Affekt aus, sondern gleichzeitig einen Prozess der Reflexion und aktiven Suche nach begrifflichen und bildlichen Analogien, um das Unbekannte zu erkennen, das heißt, um ihm eine sinnvolle Stellung im Gesamtzusammenhang der Kultur zu geben, mit dem Ziel, dass die Betrachter sich in sinnvolle Beziehung zu ihm setzen können. Aufgrund seiner Sprachlosigkeit war das Mahnmal, das 2005 nach langen Debatten, zwei Wettbewerben und mehreren Überarbeitungen eröffnet wurde, von Anfang an umstritten. Die Kritik wandte ein, dass es in seiner abstrakten Formensprache auch jedem anderen historischen Ereignis hätte gewidmet werden können, zum Beispiel, wie Hans-Ernst Mittig provokant anmerkte, „dem Untergang der sechsten Armee bei Stalingrad.“6 Überhaupt wurde bezweifelt, ob ein Ereignis wie der Holocaust künstlerisch und

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architektonisch zur Darstellung gebracht werden kann. Welches wären die Verfahren für die Darstellung des Nichtdarstellbaren, weil die menschliche Vorstellungskraft Überschreitenden? James E. Young führte daher die Bezeichnung „Gegendenkmal“7 ein, und Gerhard Schweppenhäuser sprach von den ästhetischen und ethischen Aporien,8 in die das Denkmal führen müsse. Darin artikuliere sich die Schwierigkeit bei der Suche nach Begriffen und Bildern, wie das Unbeschreibliche des Holocausts in seiner Erscheinungsform und Wirkungsweise zur Darstellung gebracht werden könnte. Die Besonderheit des Mahnmals besteht im produktiven Scheitern der Ekphrasis, dieses ist Programm und wesentlicher Teil seines Konzepts. Im Scheitern wird die Unmöglichkeit der Darstellung des Nichtdarstellbaren des Holocausts und der Vernichtung der europäischen Juden zum Thema. Das Stelenfeld bildet nichts ab, das heißt, dass es sich in einem ersten Schritt der Übertragung des Holocausts auf die Bildebene der Architektur verweigert. Es verweigert sich der abbildenden Darstellung und damit der Ikonografie. Dadurch unterscheidet es sich von anderen Mahnmalen wie dem Mahnmal gegen Krieg und Faschismus (1988) von Alfred Hrdlicka in Wien, dem Denkmal für die Gefallenen des jüdischen Ghettoaufstandes (1948) von Nathan Rapaport in Warschau oder dem Mahnmal für die Deportationen (1985) in Berlin von Jürgen Wenzel, Theseus Bappert und Peter Herbrich. Diese Mahnmale greifen auf eine drastische Bildsprache von gequälten Körpern zurück, die auf Einfühlung zielt und dadurch das Gedenken an den Holocaust auf eine spezifische Phase beschränkt und in eng vorgegebenen Grenzen der Interpretation hält. Anders ist das beim Mahnmal für die ermordeten Juden Europas, das gerade durch die Schwierigkeit mit der Ekphrasis auf die Auslösung von Nachdenken zielt. Das Besondere ist, dass mittels Ekphrasis durchaus Metaphern und Bilder assoziiert werden können, dass diese aber in Bezug auf die Widmung des Mahnmals defizitär sind, weil sich über sie nur schwache Bezüge zum Holocaust herstellen lassen. Sie sind schwache Metaphern. Da sind zum Beispiel die schrägen Stelen, die an die Grabsteine eines alten jüdischen Friedhofs erinnern; da sind die tief ins Mahnmal eingeschnittenen Gänge, die wie Canyons wirken und die Assoziation einer steinigen und unwirtlichen Landschaft wecken; betrachtet man die rechtwinklige, rasterförmige Figur des Mahnmals, so stellen sich Assoziationen zu den Aufmärschen der Nazis bei den Nürnberger

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Reichsparteitagen ein. Eisenman selbst sprach davon, dass auch weitentfernte Assoziationen wie die eines wogenden Maisfelds ihre Berechtigung haben. Aber die so erzeugten Bilder und bildhaften Assoziationen sind schwach, sie verbinden sich nur lose oder nur mit Teilaspekten des Holocausts, während man diesen mit Bildern von Konzentrationslagern und Krematorien, Leichenbergen und verängstigten Menschen an der Selektionsrampe in Auschwitz assoziiert oder auch nur mit in der Öffentlichkeit getragenen Judensternen, mit denen alles anfing. Das Mahnmal entzieht sich den bekannten Beschreibungen und bildhaften Assoziationen und lenkt die ekphrastische Bildübertragung um auf periphere Bilder und Themen, die nur mittelbar in Zusammenhang mit dem Holocaust stehen, wie Friedhof, Wüste, Ruinen und eben selbst Maisfeld. Im Scheitern der Übersetzung werden die Besucher dann immer wieder auf eine vorsprachliche Position zurückgeworfen. Der offene Charakter des Mahnmals fordert zur kontinuierlichen Arbeit an der Ekphrasis auf. Tatsächlich verweigert sich Eisenmans Mahnmal nicht den Bildern, im Gegenteil, es verfolgt ein Verfahren, doch noch das Nicht-Darstellbare zur Anschauung zu bringen, aber von den Rändern des Bildgedächtnisses her, von denen aus sich die Besucher je individuell ins Zentrum vortasten können, den eigenen intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten gemäß, mit der Chance aber auch, persönliche, familiäre und nationale Traumata, Erfahrungen und Gedanken in die Reflexion über den Völkermord und Holocaust einzubeziehen. Eine Möglichkeit zur Fokussierung auf die Ermordung der europäischen Juden bietet dann das Dokumentationszentrum, das sich unter dem Mahnmal befindet. Im Fall des Mahnmals für die ermordeten Juden Europas kann man von einem produktiven Scheitern der Ekphrasis sprechen, wobei der Aspekt des Produktiven nicht auf die Reflexion alleine beschränkt ist, sondern die Wirkungskraft Enargeia einschließt. Denn die Suche nach den Begriffen und Bildern ist ein belebender Akt, nicht nur was die mentale Tätigkeit, sondern auch das gefühlsmäßige Befinden betrifft. So wird auch das Mahnmal mit der wirkungsästhetischen Kategorie des Erhabenen in Zusammenhang gebracht, was im strengen Sinne von Kants Definition, die er in Kritik der Urteilskraft gibt, nicht ganz unproblematisch ist.9 Das Erhabene ist nach Kant lediglich eine ästhetische Kategorie der

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Naturerfahrung, nicht aber eine der menschlichen Artefakte oder der gebauten Umwelt. Eine Berechtigung hat die Rede vom Erhabenen des Mahnmals dennoch angesichts des Eindrucks, dass die schweren Betonblöcke von einer unsichtbaren und unheimlichen Macht bewegt werden, deren Ursprung und Ursache unsichtbar bleibt, dennoch im Prozess des Nachdenkens über die ermordeten Juden Europas erahnt und im historisch-gesellschaftlichen Kontext verortet werden können. Das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas bindet Ekphrasis und Enargeia, sprachliche Reflexion und emotionale Erfahrung, in eine enge und gleichzeitig auf keine der beiden Seiten hin auflösbare Beziehung ein. Es setzt dynamische Prozesse des Fragens und Hinterfragens in Gang, lässt aber gleichzeitig keinen Abschluss dieser Prozesse zu. Das Mahnmal hält die Beziehung zwischen Ekphrasis und Enargeia offen, es lässt so keinen Endpunkt zu und keinen Schlussstrich unter die historische Erinnerung. Auswahlbibliografie

Gleiter, Jörg H., „Ästhetik am Nullpunkt“, in: Ders., Urgeschichte der Moderne. Theorie der Geschichte der Architektur, Bielefeld 2010. Gleiter, Jörg H., „The Lived Space of Recollection: How Holocaust Memorials are Conceived Differently Today“, in: JieHyun Lim, Barbara Walker, Peter Lambert (Hg.), Mass Dictatorship as Ever Present Past, New York/NY 2014. Mittig, Hans-Ernst, Gegen das Holocaustdenkmal der Berliner Republik, Berlin 2005. Pehle, Walter H., Der historische Ort des Nationalsozialismus. Annäherungen, Frankfurt a. M. 1990. Schweppenhäuser, Gerhard; Gleiter, Jörg H. (Hg.), Wegschauen? Weiterdenken! Zur Berliner Mahnmal-Debatte, Weimar 1999. Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas (Hg.), Materialien zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Berlin 2005. Thünemann, Holger, Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Dechiffrierung einer Kontroverse, Münster 2003.

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Anmerkungen 1

Theon von Smyrna zitiert nach Fritz Graf, „Ekphrasis: Die Entstehung der Gattung in der Antike“, in: Gottfried Boehm u. Helmut Pfotenhauer (Hg.), Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung, München 1995, S. 144.

2 3

Siehe dazu Graf, „Ekphrasis“ (Anm. 1), S. 145. Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 8: Nachlass 1875–79, 11[18], hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1999, S. 203.

4

Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 1: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1999, S. 883.

5

Immanuel Kant, „Kritik der ästhetischen Urteilskraft. Deduktion der reinen ästhetischen Urteile“, in: Ders., Kritik der Urteilskraft, § 49.

6

Hans-Ernst Mittig, Gegen das Holocaustdenkmal der Berliner Repu­ blik, Berlin 2005, S. 52.

7

James E. Young, „The Counter-Monument“, in: Critical Enquiry 18, 1992.

8

Gerhard Schweppenhäuser, „Das Denkmal-Dilemma“, in: Ders. und Jörg H. Gleiter (Hg.), Wegschauen? Weiterdenken! Zur Berliner Mahnmal-Debatte, Weimar 1999, S. 20–27.

9

Siehe dazu die Ausführungen in Jörg H. Gleiter, „Ästhetik am Nullpunkt“, in: Ders., Urgeschichte der Moderne. Theorie der Geschichte der Architektur, Bielefeld 2010, S. 87–104.

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Ludger Schwarte

Gebaute Erinnerung Vorstellung des methodischen Ansatzes und Erkenntnisinteresses Wenn es gilt, ein Bauwerk zu beschreiben, wird es nicht

ausreichen, lediglich die Intentionen nachzuvollziehen, die diejenigen bewogen haben, die das Bauwerk erstellt haben. Selbst wenn es eine einzige Intention wäre, die von allen beteiligten Individuen auch über große Zeiträume hinweg geteilt wäre, so würde diese Intention, der Plan, uns doch nur das Gebäude als Symbol erschließen helfen. Wir würden verstehen, was mit diesem Gebäude gemeint war, was es ausdrücken sollte, was es bezwecken sollte. Das zu verstehen ist nicht wenig, oft ist es eine kniffelige Arbeit und man muss mehrere Archive durchdringen und Forscherglück haben, um letztlich die Pläne, oder gar die hinter diesen Plänen liegenden Ideen, die Diskurse, die Theologoumena und Philosopheme, zu entschlüsseln. Doch bei der Architektur ist nicht so sehr das Sollen, das Aussagen oder Darstellen-Sollen, der Plan entscheidend, sondern das Sein: Was steht da nun wirklich in der Welt, mit diesem Gebäude? Sicher ist die Annahme nicht abwegig, dass mit Gebäuden etwas kommuniziert wird, dass sie etwas symbolisieren, dass es Sprachen und Stile der Architektur gibt. Und doch sind ihre Manifestationen, ihre Materialität, ihre Massivität, ihre Dauer, auch ihre Funktionalität, anders als bei sprachlichen Zeichen, entscheidend. Beton, Stahl und Glas sind nicht einfach Kommunikationsmedien oder die kontingente materielle Seite architektonischer Zeichen. Sie teilen nicht nur eine Präsenz mit oder eine Atmosphäre, die man ästhetisch goutieren könnte. Sondern sie bieten konkrete Handlungsmöglichkeiten an, strukturieren Lebensformen, verän-

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dern die materielle Zusammensetzung der Welt auf profunde und langfristige Weise. Wenn eine Brücke einstürzt, wenn ein Hochhaus, ein Theater oder eine Kathedrale brennt, wenn ein Stall vor dem Ausbruch einer Seuche schützt oder ihn gerade verursacht, wenn jemand eingesperrt hinter dicken Mauern sitzt, so sind diese Wirkungen der Architektur ereignishaft und körperlich, unabhängig vom Lesen von Zeichen oder Spüren von Atmosphären. Es gilt daher, methodisch das in den Blick zu nehmen, was die Architektur real, und nicht nur symbolisch oder imaginär (um einmal mehr die Lacan’sche Trias zu missbrauchen) in die Welt bringt. Dies soll im Folgenden an einem Bautypus versucht werden, der vielleicht mehr als andere ab ovo als ,architecture parlante‘ konzipiert worden ist: am Denkmal. Denn Denkmäler werden eben nicht nur verstanden oder interpretiert: Menschen, Pflanzen und Tiere verhalten sich zu ihnen eben auch in Form von Missverständnissen, völliger Ignoranz, abstrus, bedenkenlos oder ganz so, als wären es keine Denkmäler, sondern Abenteuerspielplätze. Dieser Gefahr ist wie kein zweites das oft sogenannte Holocaust-Mahnmal ausgeliefert. „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ Ein merkwürdiger Titel: Wieso „Europas“ – soll also der jüdisch-türkischen Opfer nicht gedacht werden? Und wieso wird die Ermordung durch die Nazi-Schergen zwischen 1941–1945 nicht benannt? – Es soll doch wohl nicht aller Pogrome seit der Zerstörung Jerusalems gedenken. Die Bezeichnungen „Holocaust Denkmal“ oder „Holocaust Mahnmal“ wären vielleicht passender gewesen, wenngleich ich die Gründe, die verfälschenden religiösen Ausdrücke „Holocaust“ (Brandopfer) und „Shoah“ zu meiden, durchaus nachvollziehen kann. Sei’s drum: Es ist großartig und extrem wichtig, dass dieses Denkmal in der Nähe des Brandenburger Tores mit seiner kriegs- und siegesverherrlichenden Symbolik steht, auf dem Boden der ehemaligen Ministergärten, nördlich der Reichskanzlei. Man betritt es schon von Weitem – mit dem Blick. Die angedeuteten Gänge sind dann bereits Linien, Fluchtlinien oder Blickachsen, in einem Feld grauer Quader, aber führen weiter in alle Himmelsrichtungen, verdichten sich, als zunächst gedachte, zu einem Netz aus Beton und Stein.

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Die Perspektive und das Erfahrungsfeld, das sich vor dem eigentlichen Denkmal eröffnet, gestalten sich sehr anders, je nachdem, aus welcher Richtung wir uns nähern. Kommt man aus süd-östlicher Richtung vom Shopping- und Wohngewusel aus über die HannahArendt-Straße, so öffnet sich plötzlich aus der Alltagshektik eine Weite, und der Blick geht über zunächst flache Steine, die sich dann wuchtig erheben, trifft aber auch auf eine Besucherschlange vor dem Eingangsbereich, eine Treppe, und einen gläsernen Kasten, der als Ausgang beschildert ist. Nähern wir uns vom Tiergarten, entweder vom Brandenburger Tor oder vom Leipziger Platz her, so schließt das Feld an relativ offene Gebäuderiegel an und wirkt auch durch die Baumbepflanzung zunächst wie eine Verlängerung des Tiergartens. Die ersten Quader sind hier auf Kniehöhe, und man trifft nicht selten auf Menschen, die sich auf ihnen ausruhen, sich hinsetzen, ausstrecken oder gar dort picknicken. Nähern wir uns über die Behrensstraße, von der Komischen Oper an der Rückseite der russischen, britischen Botschaft vorbei, im Umfeld der amerikanischen Botschaft, der Banken und des Hotels Adlon, erscheint das Denkmal als plötzlicher Kontrast, Einladung zum Denken und zur Kontemplation, inmitten hauptstädtischer Publikumsabwehrbauten. Das täglich von vielen Menschen, vorwiegend Touristinnen und Touristen, bevölkerte Feld aus inzwischen nur noch 2  710 Stelen (ursprünglich 2 711, ich habe sie nicht gezählt), ist auf einem sanft gewellten Gelände angeordnet. Zwischen den ungefähr zweieinhalb Meter breiten Stelen von unterschiedlicher Höhe verlaufen schmale, rasterförmig angelegte Gänge mit Betonsteinpflasterung. Diese Betonsteine sind ca. zehn Zentimeter breite Quadrate, die mich an Kopfsteinpflaster erinnern. Durch die Gänge kann man nur einzeln gehen. Wenn jemand abbiegt oder im Zickzackkurs durch die Gänge steuert, so kommt es zu plötzlichen Begegnungen. Man muss vorsichtig umbiegen oder auch geradeaus steuern, schon um nicht mit jemandem zusammenzustoßen. Die von Peter Eisenman und Richard Serra geplanten Stelen, die die engen Gänge aufgereiht und systematisch säumen, veranlassen zu einem langsamen Schritt. Schnelle Bewegungen vollführen nur diejenigen, die versuchen, von Stele zu Stele zu springen. Das untersagen Schilder, die ebenso wie Hinweise auf Taschendiebe, auf Deutsch und Englisch am Rand des Geländes

Monument

die Besucherschaft adressiert, allerdings von den wenigsten wahrgenommen werden. Der unter dem Stelenfeld gelegene „Ort der Information“ ist meist überfüllt und überfordert mit seiner Aufgabe, quasi als Ersatz eines Äquivalents zu dem, was andernorts Holocaust-Museen leisten, in einem ersten Raum einen halbwegs informationsgesättigten und zugleich ergreifenden Überblick der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik von 1933 bis 1945 zu vermitteln, um in den sich daran anschließenden Themenräumen die individuelle Dimension, die Gesichter, Geschichten und Schicksale der ermordeten Familien und das Netzwerk der Orte des Verbrechens vorzustellen. Gelangt man ins Innere des Geländes, dort wo die über vier Meter hohen Stelen den Durchschnittsmenschen überragen, spürt man erneut die zuerst affektive, dann emotionale Wirkung dieser Architektur: Ohne dass der Körper berührt würde und ohne dass sich eine Tür geschlossen hätte, ist man nun in einem Innenraum angekommen. Die Geräuschkulisse ändert sich entsprechend, wird drückender, besteht aus Nahgeräuschen. Es gibt weniger Licht und Luft, die Begegnungen mit anderen Menschen, vereinzelt begleitet von ihren Hunden (anderen Tieren bin ich nicht begegnet) werden konfrontativer, verlangsamt, vorsichtiger. Einige von den großen Betonquadern weisen nun Neigungswinkel auf, lassen an mögliches Umfallen, an Gefährdungen denken. Im Unterschied zur Erfahrung einer Serra-Plastik, bei der solches Drängen und minimal verhindertes Umstürzen einkalkuliert ist, müssen diese Verschiebungen auch dem Material, der mangelhaften Verankerung, der Bodentektonik zugeschrieben werden. „Heute komme ich vielleicht noch unversehrt hier heraus“ – ist ein Gedanke, der sich einstellt. Der Rückschluss von der körperlichen Erfahrung des Stelenfeldes auf das singuläre, durch keine Empathie oder Identifikation zugängliche Ereignis, an das hier mahnend erinnert werden soll, ist hier ebenso wenig zulässig und in dieser Form intendiert wie in den ,voids‘ von Libeskinds Jüdischem Museum oder in dem 1987 von Moshe Safdie in Yad Vashem errichteten Denkmal für die Kinder. Ebenso wenig, wie es einen ,vollständigen Zeugen‘ des Holocausts geben kann, ist eine Vermittlung oder auch nur eine Ahnung auf affektiver Ebene des Grauens der Vernichtungslager denkbar. Und doch erzeugt der Besuch derartiger Räume fast unweigerlich eine

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Erschütterung, ein Gefühl der Bedrohung und der Verirrung, aber auch eventuell das Gefühl, verfolgt und überwacht zu werden, wenngleich andere Menschen nur schlaglichtartig, fast fragmentarisch, kaum als Gesichter, zwischen den Betonfluchten auftauchen, vielleicht wie beim Blick auf Filmbilder oder in die Fenster eines fahrenden Zuges. Allerdings wäre die Aussage, das Stelenfeld lasse niemanden unberührt oder indifferent, auch übertrieben und eine Hoffnung auf die transkulturelle, physische Wirkung von Symbolen. Denn Assoziationen mit dem Massenmord in den Konzentrationslagern stellen sich bei mir ein, weil ich das Gelände mit einem Wissen betrete, das auch der gewissermaßen im Untergeschoss untergebrachte „Ort der Information“ vermittelt. Andere sind davon unbehelligt: ich sehe einen jungen Mann, Anfang 20, der von Stele zu Stele springt. Er ist mit seinen Eltern zu Besuch und zählt zu den wenigen Deutschsprachigen, die das Denkmal aufsuchen. Zwei blondierte junge Frauen aus Osteuropa, vielleicht 18 oder 19, posieren für Selfies und machen Kussmünder in die Kamera. Mein Blick fällt auf die in den Boden eingelassenen Beleuchtungsleisten. Das Feld ist 24 Stunden am Tag offen. Vielleicht sind nachts auch Tiere hier. Der Ort könnte nicht nur von einer indifferenten Besucherschaft mit ihren touristischen Ritualen als Bühne okkupiert werden. Aber abgesehen von Hakenkreuz-Graffitis scheint sich der Vandalismus noch in Grenzen zu halten. Noch belassen es die Neofaschisten mit Verbalattacken gegen das Denkmal. Aber auch daraus lässt sich ableiten, wie wichtig und notwendig dieses ist, und selbst wenn es nur als Fläche zur Unterbrechung von Alltagsroutinen, als Fragment, als Aufforderung zu bewusstem Handeln wirkt. Kommentierte Auswahlbibliografie

Einen wichtigen Ansatz, um die Architektur für Massen mit massiven, kompakten Mitteln zu analysieren, liefert Miguel Abensour, De la Compacité, Architectures et Régimes totalitaires, Paris 1997. Ein Abgleich mit diesem Werk könnte die feinen Differenzen zeigen, durch die das Werk von Eisenman und Serra sich von totalitärer Architektur abhebt und Erhabenheit auf das Menschenmaß reduziert.

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Von Uwe Bernhard, Der Bruch mit der Innerlichkeit. Zum Projekt der Moderne bei Le Corbusier, Köln 2004, kann man lernen, wie die modernen Bauformen, am Beispiel Le Corbusiers, einen anderen Menschen ,produzieren‘, einen, der vertikal und nicht horizontal denkt und die mittelalterliche Innerlichkeit hinter sich lässt. Kevin Hetherington, The Badlands of Modernity, Heterotopia and Social Ordering, London 1997, zeigt, wie das Aufräumen, Anordnen und Rationalisieren, das die modernistische Architektur kennzeichnet, Heterotopien als Beherrschungsinstrumente hervorgebracht hat – und es lässt sich berechtigt fragen, inwiefern unser Stelenfeld eine solche Heterotopie (der Begriff stammt von Michel Foucault) ist. Zieht man das architektonischen Utopien gewidmete Kapitel aus Ernst Blochs Prinzip Hoffnung (Bd. 2, Frankfurt a. M. 1980) hinzu, versteht man, wie Bauten nicht nur praktisch und funktional in der Gegenwart stehen können, sondern zugleich darüber hinausweisen, als gebaute Hoffnung oder konkrete Utopie. Dieses Hinausweisen ist oft symbolisch, ein Programm, eine Bedeutung, die sich an Bauten ablesen lässt (einen symboltheoretischen Zugang vermittelt Nelson Goodman, „How Buildings Mean“, in: Ders. und Catherine Z. Elgin, Reconceptions in Philosophy and Other Arts and Sciences, Cambridge 1988). Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre, München 2004, hat die Wirkung der Architektur leibphänomenologisch ausbuchstabiert und gegenüber der Symbolik und der kompakten Materialität die durch Dinge generierte Atmosphäre ins Spiel gebracht. Sicherlich ist das, was Serras große Plastiken, aber auch das Stelenfeld ausstrahlen, als Atmosphäre beschreibbar. Man muss diese Stelen nicht berühren, um ihre Wucht, ihre Starrheit, ihre Enge zu spüren. Die Atmosphäre des Denkmals vermittelt sich, und dies geschieht durch einen Sinn, der weder rein optisch, noch taktil, akustisch oder olfaktorisch allein wäre. Nicht leibphänomenologisch, sondern mit Deleuze’schem Vokabular beschreibt Elisbeth Grosz, Architecture from the Outside. Essays on Virtual and Real Space, Cambridge 2001, dieses Potenzial der Architektur, eine Falte zwischen dem Realen und dem Virtuellen zu schlagen. Folgt man Allen Carlson, Aesthetics and the Environment. The Appreciation of Nature, Art and Architecture, London 2000, so lassen sich gemeinsame Parameter der Wertschätzung von natürlicher und gebauter Landschaft ermitteln. An unserem Beispiel

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könnte die Fragestellung insofern weiterhelfen, als das Denkmal durch die (vom alten Kanzler hinzugeforderten) Bäume als exterritorialer Teil der Parklandschaft Tiergarten eine atmosphärische und auch Bedeutungsnuance gewinnt, die Assoziationen zur romantischen Ruinenästhetik und aber auch zur Friedhofsbepflanzung (wie sie das sowjetische Ehrenmal in Berlin-Treptow gliedert) zulässt. Für Karsten Harries, The Ethical Function of Architecture, Cambridge 1997, liegt die ethische Funktion der Architektur darin, die Werte einer Gemeinschaft wie auch ihr höheres Ideal antizipativ zu verkörpern und zu vermitteln. Architekturen sind von ethischer Bedeutung dort, wo sie ein das Private und seine Beschränkungen überragendes Öffentliches und Gemeinsames errichten. Die Vereinzelung und Abrichtung des Körpers durch Bauten und die Architektur der Überwachung als Teil einer ,politischen Anatomie‘ bzw. Machttechnik hat wie kein Zweiter Michel Foucault analysiert, exemplarisch in seinem Buch Überwachen und Strafen (frz. Surveiller et Punir. Naissance de la Prison, Paris 1975). Darauf aufbauend erklärt Thomas Markus, Buildings & Power, Freedom and Control in the Origin of Modern Building Types, London 1993, wie Architektur Machtasymmetrien in verschiedenen Bautypen installiert. Dass die Architektur, gerade von Städten, Ausdruck von Machtverhältnissen ist, hat vor allem Henri Lefebvre, La Production de l’espace, Paris 1974, herausgearbeitet und zugleich betont, dass es darum geht, das Recht auf Stadt, die Teilhabe an qualitätsvoller Architektur für alle zu erkämpfen. Der dänische Architekt und Stadtplaner Jan Gehl hingegen interessiert sich für Schwellensituationen. Von seinem Buch Life Between Buildings. Using Public Space, New York 1987, lässt sich lernen, dass öffentlicher Raum an der Türschwelle, in der Brache zwischen zwei Gebäuden, in der unverhofften Intersektion und Interaktion gründet. Doch es gibt auch ein anarchisches Potenzial der Architektur selbst (nicht nur gegen sie). Je nachdem, wie man sie konzipiert und praktiziert, ist Architektur nicht nur eine Befreiung des kollektiven Imaginären. Dies zeigt das Buch des illustren Lebbeus Woods, Anarchitecture. Architecture Is a Political Act, London 1992.

11 Friedhof Heilly Station Cemetery Méricourt-l’Abbé

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Marco Bakker

Rest in Peace(s)1 Im Jahr 2000 hatte ich den Entschluss gefasst, für einen Architektenverein in der Romandie eine Studienreise nach Belgien und Nord-Frankreich durchzuführen und hierfür brauchte ich noch interessante Hinweise. Mir kam Wim Cuyvers in den Sinn, ein flämischer Architekt, damals tätig in Gent, der monatlich für das holländische Heft Archis bemerkenswerte Artikel schrieb. Er war (und ist) so wie er selbst sagt, ein ,Existenzialist‘. Da wir für die Reise sowieso auf der Suche nach dem Wesentlichen waren, rief ich ihn an. Seine Antwort kam direkt und war klar: Eigentlich sollte man sich beschränken auf den Besuch der Friedhöfe aus dem Ersten Weltkrieg an der Somme, das reicht. Da wir sonst schon in Belgien verabredet waren, mussten wir Wims minimalistischen Vorschlag aber leider beiseite legen. Einige Jahre später entdeckte ich das faszinierende, widerspenstige Werk von Edwin Lutyens und fing an, mich mit ihm zu beschäftigen, und die Bauten in England, Schottland und Irland zu besuchen. Vor vier Jahren, während des Besuches einer Lutyens Villa in Bois les Moutier in der Normandie waren meine Frau und ich in der Nähe der Somme und da kam mir Wim Cuyvers wieder in den Sinn. Mittlerweile wusste ich natürlich, dass Lutyens eine der Hauptfiguren der Friedhöfe des Ersten Weltkriegs war. Jetzt sollte es also sein. Die Somme ist ein Flüsschen, das sich unschuldig durch eine leicht hügelige, liebliche Landschaft schlängelt. Die Region war jedoch der Schauplatz einer gewaltigen Zerfleischung der Völker, wo nur entlang der Somme vom 1. Juli bis zum 11. November 1916 etwa 300 000 Menschen starben. Wenn man heute hindurch fährt, ist die Landschaft durchspickt mit Friedhöfchen, sorgfältig

Friedhof

mit Schildchen bewegweisert. Hunderte gibt es: britische, französische, kanadische, chinesische (chinesische Arbeiter haben für die Engländer Schützengräben ausgehoben), australische, rhodesische, deutsche und so weiter. Die meisten, die man sieht, sind Friedhöfe der Commonwealth-Staaten. Was ihre Dimensionierung angeht, so erscheinen sie in der Landschaft nicht unbedingt als Fremdkörper, denn auch jedem Dorf ist ein Friedhof in der gleichen Größe angegliedert – und doch ist ihr Ausdruck eher eigenartig. Sie scheinen auf den ersten Blick alle etwa gleich auszusehen: Eine rote Backsteinmauer mit Kalksteinabdeckung auf Sitzhöhe bildet den Rahmen dieser Friedhöfe. Bei den etwas größeren, ab 500 Gräbern, gibt es zudem eine Art völkerspezifisches, in seiner Gestaltung auf die kulturelle Herkunft des Großteils der hier beerdigten Soldaten anspielendes Eingangshäuschen, ansonsten ein altarartiger großer Stein, ein Kreuz und schließlich die manchmal relativ chaotisch gesetzten Reihen mit den Grabsteinen. Alle Elemente sind eingebettet in einen erstaunlich präzise gemähten Rasenteppich – ,very british‘ eben. Friedhöfe sind par excellence Orte, an denen etwas erinnert werden soll – sie bieten immer ,Lesestoff‘. Nun, da ich mich intensiv mit dem Werk von Edward Lutyens beschäftigte, war ich natürlich fokussiert auf die vielen (140!) Friedhöfe, die er in der Somme zusammen mit der Gartengestalterin Gertrud Jekyll entworfen hat. Man spürt schnell, dass die LutyensFriedhöfe auch etwas Eigenes zu erzählen haben, und so versuchte ich, die kryptischen Botschaften zu entziffern. Das ist aber nicht leicht und verlangt einiges an Hintergrundwissen. Aber auch ohne dieses, ist zu sehen, zu fühlen, dass etwas Humanes mit im Spiel ist. Es sind vor allem die über verschiedene Maßstäbe hinweg spielenden räumlichen Beziehungen, aufgrund derer Lutyens’ Friedhöfe Eindruck bei mir hinterlassen haben. Am Beispiel von Lutyens Friedhof Heilly Station Cemetery in Méricourt-l’Abbé möchte ich das etwas näher erläutern. Der Beschluss des Commonwealth 1918, dass die Leichname aller Gefallenen an der Somme ohne Unterschied von Rang und Namen nicht nach Hause zurückgeführt, sondern an Ort und Stelle, wo sie gestorben waren, auch bestattet werden sollten, war an sich relativ neu, hatte aber große entwurfsspezifische Konsequenzen. Plötzlich war der Kontext von Bedeutung, ein fremder Kontext. Als politische Wiedergutmachung für die Schande, dass man Abertausende jugendlicher Soldaten, kaum ausgebildet und ohne

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,Stahlhelm‘, wie die deutschen Soldaten ihn schon trugen, in den sicheren Tod gejagt hatte, stellte sich die britische Regierung unter der Leitung von Sir Ware die Aufgabe, wenigstens so genau und sorgfältig wie möglich, den Ort zu dokumentieren, wo die Soldaten gefallen waren. Der Ablauf vollzog sich etwa folgendermaßen: Tagsüber wurde geschlachtet, geschossen, gesprengt und vergast. In der Nacht gab es dann die sogenannten Clearance Divisions, die das Schlachtfeld durchsuchten und Tote von Verwundeten trennten. Die Gefallenen wurden in aller Eile im Dunkeln begraben, ihr Gewehr vertikal in die Erde gesteckt und der Ort so markiert. Wochen oder manchmal Monate, nachdem sich die Front verschoben hatte, unternahm es eine neue Clearance-Mannschaft, Ausschau nach den vertikalen Toten-Zeichen zu halten und deren Stellen im topografischen Kontext durch Anfertigung präziserer Karten sowie in Fotografien und Berichten zu bestimmen. Die Körperreste wurden in gewachste Tücher gewickelt, möglichst identifiziert, und zwischengelagert. Wenn dann Ruhe an der Front eintrat, war der Moment einer provisorischen Bestattung möglich. In diesem Moment noch (August 1916) sind alle Soldaten an dem Ort vorläufig begraben worden, genau dort, wo sie gefallen sind. Dies bedeutet, dass auf Basis der Dokumentation der Clearance Teams eine Auslegeordnung für einen Bestattungsplan geschaffen werden musste. Schon hier musste die Kartografie der ,Gewehrspitz Einsteckorte‘ interpretiert werden, um zu einer Art ,Todesgeometrie‘ zu gelangen. Es war ja vor allem ein Schützengraben-Bombenkrater-Krieg. Dies bedeutete, dass, obwohl an diesen Stellen die Erde wieder nivelliert wurde, die Logik der Gräberordnung mit den provisorischen Holzkreuzen trotzdem in vielen Fällen die Ausrichtung der Laufgraben oder die Diameter des Bombenkraters wiedergaben. Somit wird durch die Anordnung der Gräber die Front auf eine abstrakte Weise rekonstruiert, sichtbar gemacht und inszeniert. Überall in der Landschaft gab es Holz-Kreuzchen, meistens in Grüppchen von ganz wenigen, doch oft auch in großen Scharen. Für die finale Bestattung wurde bestimmt, dass Orte mit weniger als 50 Gefallenen beim nächstliegenden Friedhofsort gruppiert werden sollen, damit die Agrarfelder die die Gräber unmittelbar umfließen, von den ortsansässigen Bauern gepflügt werden konnten. Die War Commission vergab den Auftrag, die endgültigen Friedhöfe zu entwerfen, an fünf Architekten. Einer von ihnen war

Friedhof

Edwin Lutyens, ein dazumal angesehener Architekt aus London, der Modernität auf seine ganz eigene Art lebte und in den Augen des Establishments den traditionellen Werten von England würdig Form geben konnte. Wie schafft man eine britische Heimat in Frankreich? Die Aufgabe ist irgendwie vergleichbar mit dem Dilemma beim Bau von Botschaftsgebäuden, die sowohl an die Heimat der Botschaft erinnern und gleichzeitig die Kultur des Standortes reflektieren sollen. Lutyens bekam den Auftrag, 140 Friedhöfe zu entwerfen, von denen sich die meisten an der Somme befinden. Für landschaftsarchitektonische und botanische Fragen wurde Lutyens wie immer beigestanden von seiner Lehrmeisterin Gertrud Jekyll. Die Orte, an denen es galt, einen möglichst erkennbaren Friedhofstypus zu schaffen, waren sehr unterschiedlich: Es handelte sich um freie Felder, Wälder oder um eher urbane Kontexte. Die Landschaft war mal flach, mal schräg und mal bewaldet. Die Anlagen haben etwas Einheitliches und tragen eine gewisse Identität in sich, obwohl die einzelnen Friedhöfe in ihrer formalen Ausgestaltung letztlich eine große Diversität aufweisen. Lutyens verfolgte die Idee, dass in Hinsicht auf diese Menschheitskatastrophe die ganze Welt als eine Kathedrale gesehen werden muss und die einzelnen Friedhöfe jeweils die Kapellen darstellen. Die Friedhöfe sollten zu einem stillen sakralen Ort, das heißt mit minimalen Mitteln zu einem auf sich bezogenen Raum, ja, fast zu einem Innenraum gestaltet werden. Die um den Friedhof laufende Mauer gibt das Maß der Kapelle an, die Stämme der gepflanzten Bäume rund um das Gräberfeld werden zu Säulen, und ein Altar bestätigt, dass es sich um ein Inneres handelt. Die Grabsteine stehen da wie Gläubige in einer Kirche und kuppelartig wird das Ganze vom Himmel überwölbt: eine Reduktion der Mittel und ein Einsatz von Abstraktion. Zwischen ,Hell‘ und ,Heil‘ Lutyens Heilly Station Cemetery ist

indes ein spezieller Fall, da dieser Friedhof sich nicht an der Stelle eines einstmaligen Schützengrabens befindet, sondern an derjenigen eines Lazarettlagers, das direkt an dem Bahnhöfchen Gare d’Heilly angegliedert war. Hier waren Zelte aufgestellt, wo die Verwundeten aus dem nahen Schlachtfeld angeliefert wurden zur medizinischen Versorgung. Die Krankenstation war völlig überfordert. In den ersten Tagen der Schlacht wurden Tausende Verwundete eingeliefert, nur eine Handvoll Ärzte und Krankenschwestern

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konnte sich um sie kümmern. Es muss die Hölle gewesen sein. Jene, die ihren Verletzungen erlagen, wurden westlich außerhalb des Lagers beigesetzt und ihr Grab mit einem provisorischen Holzkreuz markiert. An diesem Ort, der sich jetzt in 200 Meter Distanz vom Bahnhöfchen Heilly befindet, stellten sich Lutyens und Jekyll die Aufgabe, für die Gefallenen eine letzte Bleibe zu gestalten. Besuch Wir kamen von Süden her zum Heilly Station Cemetery,

mit dem Auto über die Regionalstraße auf die Höhe des Bahnhofes von Méricourt l’Abbé, von wo aus der Friedhof schon erkennbar ist. Die 200 Meter Distanz zu der Stelle des Friedhofes, wo während des Krieges die provisorisch installierten Sanitätszelte standen, mussten die Soldaten zu Fuß zurücklegen – oder sie wurden getragen. Wir fuhren etwas näher heran und ließen das Auto in gebührender Distanz am Rande eines unbefestigten Feldweges stehen, der durch Äcker führt und schließlich in einem Wäldchen verschwindet. Von Weitem erinnert das sanft geneigte Friedhofsfeld, nur andeutungsweise umrahmt mit einem Mäuerchen, an Park- und Waldfriedhöfe, die sich mit der umgebenden Landschaft verschmelzen möchten. Als Architekten kommen mir bekannte Bilder hoch, wie zum Beispiel dasjenige des wohl proportionierten Skogskyrkogårdens von Sigurd Lewerenz und Gunnar Asplund von 1930. Auch erinnert die Setzung an den Waldfriedhof von Davos des Architekten Rudolf Gaberel von 1920. Ein Friedhof, der inmitten eines Lärchenwäldchens angelegt ist, in Form einer Ellipse, umfriedet von Trockenmauerwerk. Sie sind alle ziemlich zeitgleich entstanden. Kannten sich die Architekten vielleicht? Da, wo der kleine Feldweg sich leicht abwinkelt, fügt sich nun der Heilly Station Friedhof ins Gelände ein. Erst kurz vor einer Eingangsnische, eingeschnitten in einem hüfthohen Buchsbaumgebüsch, wechselt die informelle von der Landwirtschaft geprägte Stimmung in eine geometrisch bestimmte und sorgfältig artikulierte Architektur. Eingeführt von diesem grünen ,Anti-Chambre‘ betreten wir nun eine Halle, oder mehr eine Laube aus rotem Backstein, die symmetrisch gesetzt, zwei stirnseitige Übergangsräume hat. Die Laube dazwischen richtet sich mit einem Pultdach auf das Gräberfeld aus. Auf der niederen Seite der Laube ist in Kalkstein eine lange Sitzbank eingefügt. Wie in einem Theater schaut man sitzend auf das leicht ansteigende Gräbergelände: das Spielfeld der Erinnerung. Typologisch wird es jetzt etwas klarer: Man befindet

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sich hier in einem sakralen Raum. Die an den Kirchenbau referierenden Elemente sind jedoch merkwürdig spielerisch gesetzt. Von der gedeckten Seitenschiffarkade, der Laube, geht es zum großen Hauptschiff, das bis zum Himmel offen ist. Die Grabsteine, die sich hier befinden, scheinen stehende Gläubige zu sein, und doch schauen sie nicht zum Altar. Seitlich vor der Mauer steht auch ein großes Kreuz aus Stein, doch alles ist nur andeutungsweise eingebunden mit einer niederen Mauer auf Hüfthöhe. Lutyens hat bei allen Friedhöfen nur zwei Materialien eingesetzt: roten französischen Backstein und hellbeigen englischen Kalkstein. Bei Betrachtung der Steine auf dem Gräberfeld fällt die Präsenz des großen altarförmigen Stone of Remembrance auf: ein massiver Kalkstein, sieben Tonnen schwer, der auf drei feinen Stufen aus dem gleichen Material am Rande des Areals steht. Der Quaderstein hat eine Geometrie, in der die Vertikalen leicht zu einander geneigt sind und sich virtuell hoch oben im Himmel berühren. Auch die Oberseite des Steines ist in zwei Richtungen leicht abgeschrägt. Dergestalt der griechischen Proportionskorrektur der ,Entasis‘ entsprechend fügt sich die Form des Stone of Remembrance in einen klassischen Kanon ein. Der Stein bekam eine Inschrift graviert mit dem Satz „THEIR NAME LIVETH FOR EVERMORE“ („Ihr Name lebt ewiglich“). Für Inschriften hatte man als literarischen Berater Rudyard Kipling ausgewählt. Kipling hatte während der Somme-Schlachten seinen Sohn verloren, war ein Freund von Lutyens und ein angesehener Schriftsteller, der mit dem Jungle Book weltweit Bekanntheit erhielt. Kipling hat auch die Typografie für alle Grabsteine mitentwickelt, eine gewaltige Aufgabe von 850 000 Stück. Dafür wurden eigens Maschinen entwickelt, die in der Lage waren, Kiplings vorgeschlagene scharfkantige klassische Serifenschrift zu gravieren. Auch die Grabsteine wurden von Lutyens entworfen. Sie haben alle das gleiche Maß und sind einheitlich einfach beschriftet, haben aber unterschiedliche Oberseiten. Je nach Nationalität gibt es eine leicht andere Kontur. So haben die Grabsteine der britischen Gefallenen einen runden Abschluss, die Deutschen eine Spitze – ein Merkmal, durch das sich auch die Helme der Soldaten beider Seiten unterschieden hatten. Hier nun finden sich alle versöhnt auf demselben Feld. Was mir als das Merkwürdigste und Faszinierendste von Lutyens Friedhöfen erscheint, ist die Gruppierung der Grabsteine. Sie stehen in Reihen, aber nicht unbedingt immer

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parallel zu einander, sondern leicht abgewinkelt, und manchmal gibt es unterschiedliche Distanzen zwischen den Steinen. Man hat das Gefühl, dass hier etwas Geheimnisvolles vermittelt wird. Zum einen erzählt die geometrische Auslegeordnung etwas über den Ort, an dem die Soldaten gestorben sind, und zum anderen scheint sie die Beziehungen anzudeuten, in der die einzelnen gefallenen Soldaten zueinander standen oder eben nicht. Plötzlich wird da eine Geschichte erzählt, lässt die Anordnung das Zwischenmenschliche lesen und inszeniert affektive Werte der Gefallenen. Es scheint bei näherer Betrachtung fast, als gewähre der Friedhof den Toten, was ihnen zu Lebzeiten versagt geblieben ist: ein Dasein in Frieden. Das Gras Gertrud Jekyll, eine damals 77-jährige Gartengestalterin und Gartenbuchautorin, die zu jener Zeit die Landschafts- und Gartengestaltung Englands revolutionierte, war zuständig für die Umgebungsgestaltung.2 Da es sich bei den Friedhöfen um so viele und so unterschiedliche topografische Kontexte handelte, schuf sie rund um die Architektur von Lutyens eine Art Spielplan mit einfachen Regeln. Als Hauptaufgabe stellte sie sich, Orte des Friedens zu entwickeln. Nach Möglichkeit sollten einheimische Pflanzen eingesetzt werden, was in diesem Fall heißt: Pflanzen aus den Heimatländern der Gefallenen. Die Beschaffenheit des Grases und die Detaillierung sind äußerst präzise ausgearbeitet. Der typische englische Rasen, mit einer für Frankreich ungewöhnlichen Halmdichte und auf 3,5 Zentimeter geschnitten, bildet einen Teppich im Gräberfeld, der alle Elemente miteinander zu verbinden vermag. Es gibt keine Wege. Jeder Dienstgrad und Name und jede Nation ist gleichwertig. In dem Moment, da man von der mit Stein gepflasterten Eingangslaube das erste Mal auf das Gras tritt, wirkt es leicht befremdend, da keine Führung mehr vorhanden ist. Man kann sich frei gehen lassen in alle Richtungen. Die sanfte, leicht federnde Oberfläche scheint verletzlich, aber fühlt sich sinnlich angenehm an. Man geht hier vorsichtig und bedachtsam. Die Steinelemente sind nicht direkt im Rasen platziert, sondern erhalten eine gebührende Distanz zu ihm. Sie befinden sich jeweils in einer haarscharf ausgeschnittenen Fuge mit aufgelockerter Erde und zeigen so ihre Verankerung im Untergrund. Dieser Ausschnitt wird gleichzeitig zu dem Platz, an dem Angehörige mitgebrachte Blumenkränze hinlegen können. Man nähert sich mit diesem grünen Teppich den

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Steinen, nur ohne sie mit dem gleichen Material zu berühren. Die Toten bleiben in der Erde, die Lebenden auf dem Gras. Am Rande des Friedhofes ganz nahe der Mauereinfriedung ließ Jekyll jeweils drei Birken pflanzen. Die regelmäßig gesetzten Bäume markieren von Weitem sichtbar die Friedhöfe und aktivieren einen größeren Maßstab. Man erkennt dank dieser Markierung in der Landschaft Beziehungen zwischen den Friedhöfen, die an sich wieder Gruppen ausbilden und die das Gebiet an der Somme überlagern mit den Erinnerungen an 1916. Bemerkenswert ist die Gepflegtheit der Friedhöfe. Die Commonwealth War Graves Commission, kurz CWGC, ist verantwortlich für den Unterhalt und ermöglicht regional ansässigen französischen Gartenbaubetrieben, die Friedhofsrasen zu pflegen, nachdem sie einen Kurs und Examen in den Kew Gardens in London absolviert haben. In dieser Schule wird auf Basis einer Art ,Partitur‘, die Jekyll für die Friedhöfe aufgestellt hat, die Spielregel und Handhabung der Pflege unterrichtet. Der Heilly Station Cemetery ist ein Ort, der nicht an den Krieg erinnert, sondern das Leben vor dem Tod sichtbar macht, es wird erzählt von den Steinen. Die Gefallenen werden wieder eins mit der Natur. Liebevoll, würdig, menschlich und fein. Auswahlbibliografie

Amery, Colin u. a., Lutyens: The Work of the English Architect Sir Edwin Lutyens, London 1981. Geurst, Jeroen, Cemeteries of the Great War by Sir Edwin Lutyens, Amsterdam 2010. Pevsner, Nikolaus, Harris, John, Antram, Nicholas, Lincolnshire: The Buildings of England, New Haven/CT 1989. Ridley, Jane, Edwin Lutyens. His Life, His Wife, His Work, London 2003. Skelton, Tim, Gliddon, Gerald, Lutyens and the Great War, London 2008.

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Anmerkungen 1

„Rest in Peace(s)“, Wortspiel von Edwin Lutyens, aufgezeichnet bei seinem ersten Werkbesuch an der Somme im Jahr 1918, siehe Jane Ridley, Edwin Lutyens. His Life, His Wife, His Work, London 2003.

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Jekyll, die ursprünglich Künstlerin und keine gelernte Gärtnerin war, löste sich von der strengen Anordnung der Einjahresbeete und setzte stattdessen vermehrt Stauden mit ihrem natürlicheren Wuchs und malerischer Farbgebung ein. Aufgrund ihrer Publikationen wurde sie äußerst populär und gestaltete mehrere Hundert Gärten in Großbritannien, Europa und den USA. Ihre Entwürfe für die Garten- und Landschaftsgestaltung dienten nachfolgenden Generationen als Vorbild.

Friedhof

Dorothee Messmer

Brothers in Arms Das Fach ,Kunstgeschichte‘ ist wie die Volkskunde oder jede andere historische Wissenschaft eine komparative. Ob in Lehre und Forschung, in medialer und musealer Vermittlung – es gibt kaum ein Element unserer Praxis, das nicht auf der Herstellung und Kommunikation von Vergleichen beruht. Die Reflexion über Bilder, die das westliche Denken seit Platon nicht nur in der Philosophie, sondern auch in zahlreichen anderen Disziplinen begleitet, bildet heute ein eigenes Gebiet der begrifflichen Arbeit. Im Vergleich von Bildern erkennen wir Gemeinsamkeiten und Unterschiede und befragen sie: Aus welchen Elementen bestehen Bilder? Welche Funktion kommt Bildern zu? Was verbindet Bilder mit dem Erkennen? Aby Warburg, der heute als einer der Begründer der Bildtheorie-Wissenschaften gilt, bediente sich für die Arbeit an seinem Bilderatlas Mnemosyne1 der Hilfe von Bildern, mit dem Ziel, das vielfältige Weiterleben der Antike in der europäischen Kultur anschaulich zu machen. Er benutzte dabei mit schwarzem Stoff bespannte Holzrahmen, auf die er mit Stecknadeln Fotografien von Bildern anheftete, die jeweils zu einem bestimmten Thema oder um einen Schwerpunkt gruppiert und umgruppiert wurden. Dabei beschränkte sich Warburg nicht auf klassische Forschungsobjekte der Kunstwissenschaft, sondern berücksichtigte auch Werbeplakate, Briefmarken, Zeitungsausschnitte oder Pressefotos von Tagesereignissen. Der Atlas umfasste schließlich über 40 Kartons mit ca. 1 500 bis 2 000 Fotos, die die Tafeln teilweise bis zum Rand bedeckten und weder mit Bildunterschriften noch mit Kommentaren versehen waren. Warburg erkannte daraus, dass wir neben dem individuellen Bildgedächtnis auch über ein kollektives

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Erinnern verfügen, das mit unserer kulturellen Identität zusammenhängt und unser Bild von der Welt und damit auch von uns selbst wesentlich beeinflusst. Drei Bilder – drei Friedhöfe Vor diesem Hintergrund möchte ich

das Bild des Friedhofs Heilly Station Cemetery an der Somme mit zwei anderen Bildern vergleichen, die ebenfalls Begräbnisstätten zeigen und in meinem Gedächtnis haften geblieben sind. Da ist zum einen die Fotografie von Heilly Station selbst, die während einer winterlichen Reise im Februar 2016 entstanden ist, zum anderen ein Bild aus einem Dokumentarfilm des Bayerischen Fernsehens über die Rückkehr einer Sudetendeutschen in ihre Heimat, und schließlich eine Fotografie, worauf das Begräbnis eines Kartäusermönches zu sehen ist. Der Dorffriedhof Das erste Bild, das ich beschreiben möchte – es

handelt sich dabei genaugenommen um eine kurze Filmsequenz – stammt aus einem Dokumentarfilm, der die Rückkehr der 1931 geborenen Sudetendeutschen Ilse Miltschitzky in ihre böhmische Heimat zeigt.2 Sie hatte den Ort wie viele andere Deutschstämmige nach dem Krieg 1946 verlassen müssen, da die Familie vertrieben und nach Bayern umgesiedelt wurde. Die Kamera begleitet die Hauptperson und ihre Tochter in das Dorf ihrer Kindheit und zeigt sie etwa auf der Wiese vor ihrem Haus stehend, das nach ihrer Vertreibung dem Boden gleichgemacht worden war. Lediglich die Obstbäume hatten die Zerstörung durch die tschechische Regierung überstanden. Das Bild, das sich mir besonders einprägte, zeigt Miltschitzky auf dem Dorffriedhof, der sich einst neben der Kirche befand. Diese war nach dem Wegzug abgerissen worden, während die Grabsteine umgestürzt oder zerbrochen worden waren. Einige Wochen vor ihrem Besuch wurden die Grundmauern der Kirche wieder freigelegt, um an die ehemalige dörfliche Vergangenheit zu erinnern. Die unterschiedlich gestalteten Grabsteine – viele von ihnen sind mit schmiedeeisernen Kruzifixen geschmückt – wurden wieder zusammengesetzt, wie auch die steinernen Platten, unter denen die Toten bestattet sind. Diese liegen zerstreut unter teils hohen Bäumen, jedoch in nächster Nachbarschaft zur Kirche, dem ehemaligen Zentrum der Siedlung. Zudem verweist neu ein Gedenkstein auf die Verstorbenen des Friedhofs.

Friedhof

Die Wiederherstellung steht im Rahmen einer geschichtlichen Aufarbeitung, die auf einen Bewusstseinswandel in der Bevölkerung zurückzuführen ist – man beginnt, die Geschichte der Vertriebenen und damit auch die eigene Geschichte wieder sichtbar zu machen. Abgesehen von seiner besonderen Geschichte zeigt das Bild in Rabitzerhaid, so der Name der Siedlung, einen typischen Dorffriedhof, wie er in ganz Europa bis ins 20. Jahrhundert hinein in ländlichen Gesellschaften üblich war. In ihm ruhten alle Mitglieder der Dorfgemeinschaft und wurden durch die Gemeinschaft auch zu Grabe getragen. Diese Friedhöfe entstanden oftmals ohne gestalterisches Konzept. Die Gräber wurden nach Osten ausgerichtet nahe der Kirche platziert – entgegen heutiger Friedhöfe, die planmäßig und umgeben von Parkanlagen angelegt sind. Die Toten waren omnipräsent und Teil des dörflichen Lebens. Weit in die Neuzeit hinein war der Friedhof auch ein Ort der Begegnung, der Versammlung und Geselligkeit; dort wurde Handel getrieben, Jahrmarkt abgehalten oder um den Maibaum getanzt. Der Tod war allgegenwärtig, und die Toten waren es kaum weniger. Erst mit der Aufklärung, aber vor allem mit dem Wissen um die Bedeutung der Hygiene, erfuhr die Bestattung eine grundlegende Veränderung. Mit der Beerdigung in öffentlich geregeltem Rahmen und an vorgesehenen Orten sollte der Ausbreitung von Seuchen und der Belastung des Grundwassers vorgebeugt werden. Deshalb wurden die alten Friedhöfe in den wachsenden Städten ab Mitte des 18. Jahrhunderts zerstört und an der Peripherie angesiedelt. Zu dieser Zeit wird der mittlerweile aufgeklärte Mensch, für den der Tod längst nicht mehr alltäglich ist, in der Literatur und in der Kunst mit einer Todesverherrlichung konfrontiert, die in der Romantik gar groteske Züge annimmt. Es ist das Jahrhundert des Todes in Plüsch, der extravagant barocken Mausoleen und figurativen Grabdenkmäler. Nach einer kurzen Zeit des Egalitarismus, den Napoleon Bonaparte propagiert hatte, wurde das soziale Gefälle der Gesellschaft auch auf dem Friedhof wieder pompös zur Schau gestellt, denn die Oberschicht beharrte auf ihren Privilegien, monumentale Erdbegräbnisse zu errichten. Damit ging der gemeinschaftsstiftende Charakter des Friedhofs verloren und wich einer sozialen Selbstdarstellung der Angehörigen, die dort ihre Verstorbenen bestatteten. Beispiele hierfür

263

sind die berühmten ,Magnificent Seven‘, die sieben Friedhöfe des viktorianischen Londons, die anfangs des 19. Jahrhunderts angelegt wurden, oder der 1874 errichtete Wiener Zentralfriedhof. Heute ist das gemeinschaftlich konnotierte Totengedenken längst einem rationalen und höchst individuellen Totenkult gewichen. Auch wenn in ländlichen Regionen der Friedhofsbesuch weiterhin gepflegt wird, wird der Tod im 20. und 21. Jahrhundert, wenn möglich, verdrängt. Gestorben wird kaum noch zu Hause, sondern im Krankenhaus, und der Friedhof als letzte Ruhestätte wird nur in Anspruch genommen, wenn Angehörige bestattet werden. Aber zurück zum Film: Die Sequenz, die sich mir besonders einprägte, zeigt die Hauptakteurin des Films während ihres Friedhofbesuches. Sie kniet sich nieder und streicht mit ihren Händen sanft über die zerbrochenen Kreuze und Namensschilder der Gräber. Diese kurze Szene bleibt haften, denn sie verweist auf einen zentralen Aspekt des Friedhofs: Sie zeigt, welche Bedeutung ihm als Ort des Gedenkens, der Einkehr und des Trauerns für den Menschen zukommt und wie wichtig er für die individuelle und kollektive Erinnerung ist. Obwohl wir heute gerade in der städtischen Gesellschaft eine Tendenz zur Privatisierung des Todes beobachten, ist der Friedhof im traditionellen Sinn nach wie vor der Ort, an dem der Mensch als soziales Wesen sich als Teil eines definierten Ganzen erleben kann. Das Kartäuserbegräbnis Beim zweiten Bild3 handelt es sich

um eine auf den ersten Blick unscheinbare und konventionelle Schwarz-Weiß-Fotografie aus dem Jahre 1931. Sie zeigt die Erdbestattung eines Kartäusermönches in der Kartause Valsainte in der Nähe von Fribourg. In der Mitte des Bildes ist in der Ecke des Klostergartens, direkt an der Mauer, die Grablegung des toten Mönches zu erkennen. Links im Bild sind mehrere Klosterbrüder in ihren weißen Kutten zu sehen, die das Geschehen verfolgen. Zwei Männer in schwarzen Anzügen, vermutlich die Totengräber, stehen am Grab und warten, bis die Erde wieder aufgefüllt werden kann. Die Handlung des Bildes konzentriert sich auf die beiden Mönche in der Bildmitte, die gerade dabei sind, mit ihren Händen den Leichnam in die Erde zu versenken. Dieser befindet sich nicht, wie wir es erwarten würden, in einem Sarg, sondern sichtbar auf einem mit einem Laken bespannten Brett. Der Körper selbst ist

Friedhof

nicht zu sehen, aber in seinen Formen erkennbar, auf dem Rücken liegend und die Hände zum Gebet gefaltet. Die Bedeckung – gewöhnlich sprechen wir vom Leichentuch – ist das Auffallendste am Geschehen (ausgenommen die Tatsache, dass keine Frauen dem Begräbnis beiwohnen, aber das ist eine andere Geschichte). Denn wir sehen, dass der Mönch in der Kukulle, seinem Obergewand, begraben wird. Die Kapuze wurde dabei ganz über den Kopf gezogen und festgenäht, ebenso die Ärmel, die die Hände verbergen und vom Rosenkranz bedeckt sind. Die Fotografie ist – nebst dem Umstand, dass solche Abbildungen äußerst selten sind – besonders deshalb interessant, weil sie auf die Eigenheiten des in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannten Ordens verweist. Der Kartäuserorden gilt bis heute als einer der exzentrischsten katholischen Glaubensgruppen überhaupt. Der Orden, der sich aus einer Gruppe von Eremiten zusammensetzt, ist in seiner Suche nach Gott einer einfachen und demütigen Lebenshaltung verpflichtet, die einem strengen Ritus unterliegt. Unter anderen legen die Mönche ein Schweigegelübde ab, essen nur eine warme Mahlzeit im Tag, entsagen jeglichem Besitz und leben in ihrer spärlich eingerichteten Klause ein Einsiedlerdasein, das durch festgelegte Gebetszeiten in der Kirche geregelt ist, darunter auch ein zweistündiger Gottesdienst mitten in der Nacht.4 Die Besonderheiten des Ordens kommen auch in der Architektur zum Ausdruck. Die Kartause als Bautypus stellt sich als Spiegelbild der Lebensweise und als Ergebnis der Erfordernisse seiner Bewohner dar. So werden die Klosterinsassen in einem der zwei durch Mauern eingefassten Kreuzgärten, die nur den Mönchen zugänglich sind, beigesetzt. Das Besondere dabei ist, dass die Gräber wohl als solche gekennzeichnet sind, aber keine Namen aufweisen. Lediglich ein weiß oder schwarz gestrichenes einfaches Holzkreuz verweist darauf, dass hier ein (christlicher) Mensch begraben liegt. Auf den Namen wird bewusst verzichtet, auch dies als Zeichen der höchsten Demut des Menschen im Vertrauen auf Gott. Auch das Grab, das auf der Fotografie zu sehen ist, erhält deshalb keinen Namen. Auf einen Sarg wird verzichtet. Das Leichentuch ist das Gewand, das der Mönch während Jahren oder Jahrzehnten getragen hat. Das Brett, auf dem der Tote in die Erde gelassen wird, und das kleine Kissen, auf dem der Kopf liegt,

265

stammen von seiner einfachen Bettstatt, auf der er gestorben ist. Er nimmt seine wenigen Habseligkeiten, dazu gehört auch der Rosenkranz, mit ins Grab. Zurück bleiben die Erinnerungen und Fürbitten seiner Weggefährten. Die Fotografie, die in einer Arbeit von Tacita Dean übrigens auch schon den Weg in die zeitgenössische Kunst gefunden hat, ist damit auch ein Bild der tiefen Spiritualität dieses Ordens und des tiefen Glaubens an die Auferstehung.5 Denn selbst das hölzerne Kreuz verwittert und verschwindet nach einiger Zeit. Im Fall der Kartause Ittingen, die heute ein Museum ist, bleibt so nur ein ummauerter Ort zurück, meist eine Wiese, der seine Bedeutung aus dem Wissen schöpft, dass hier im Laufe der Jahrhunderte mehrere hundert Mönche begraben worden sind. Heilly Station Cemetery Mit diesen Bildern im Hintergrund komme ich nun zum zentralen Bild, der Aufnahme des von Edwin Lutyens gestalteten Kriegsfriedhofes Heilly Station Cemetery, die während unseres Besuches an einem kalten und nassen Tag im Februar 2016 vor dem Eindunkeln aufgenommen wurde. Das Bild zeigt einen Teil des Friedhofes, der auf einem abschüssigen Gelände angelegt ist. Der Vordergrund des Bildes wird ganz von den langen Grabreihen getragen, die fast strahlenförmig nach unten auf ein vermeintliches Zentrum in der Bildmitte zulaufen. Die Gräber befinden sich vor einer aus Backstein gemauerten und durch eine Säulenarkade getragenen nach vorne offenen Halle. Das Gebäude selbst ist in klassischer, antikisierender Bauweise errichtet und beherbergt im Innern mehrere Tafeln, die an der hinteren Wand befestigt sind.6 Im Hintergrund sind drei Bäume zu sehen und eine bäuerliche Landschaft, ein Acker, dahinter Bäume, vielleicht eine Straße oder ein Fluss. Die Grabsteine, die aus ,Portland Stone‘, einem hellem Kalkstein, gehauen wurden, sind nah aneinandergereiht.7 Anders als auf dem böhmischen Dorffriedhof, wo einzeln platzierte und unterschiedliche Grabsteine ein Ganzes formen, sind an diesen Gräbern – mit Ausnahme der vordersten beiden, die auf ihrer Schmalseite die Gräberreihen anzeigen – kaum Unterschiede auszumachen. Bei genauerem Hinschauen erkennen wir auf den Gräbern vorne links im Bild jedoch eingravierte Kreuze und Beschriftungen. Sie lassen erahnen, dass dort die Namen der Toten und ihr

Friedhof

Regimentszeichen mit dem Dienstgrad eingetragen sind. Zwischen den Gräbern, denen kleine Felder für Blumen vorgelagert sind, ist Rasen zu sehen, der akkurat kurz geschnitten ist. Heilly Station Cemetery ist einer von 2  313 Kriegsbegräbnisplätzen, die für die gefallenen Soldaten der Schlacht an der Somme geschaffen werden mussten. Anders aber als die meisten anderen, die sich an den Kriegsschauplätzen selbst befinden, also dort, wo die Soldaten starben und bestattet wurden, versammelt Heilly Station die Toten einer sogenannten Clearing Station, eines mobilen Sanitätspostens der britischen Armee, der am Bahnhof von Heilly, einem kleinen Dorf, daher der Name, eingerichtet wurde. Bis zum letzten Begräbnis im Mai 1919 wurden hier 2  974 Soldaten bestattet, davon 2  356 Briten, 15 Kanadier, 401 Australier, 118 Neuseeländer, 1 Inder und 83 Deutsche. Betrachten wir das Bild, so erstaunt diese Tatsache, denn die einzelnen Gruppen sind kaum ausgewiesen. Die Grabsteine sind einheitlich gehalten. Erst bei genauerem Betrachten am Ort wird ersichtlich, dass einzelne Grabsteine anstelle eines gerundeten Abschlusses einen dreieckigen Giebel aufweisen. Damit sind – in höchst unauffälliger Weise – die Gräber des ‚Feindes‘, der deutschen Soldaten, gekennzeichnet. Was damals bei der Besichtigung am meisten erstaunte, waren nebst den Namen der Toten ihr Alter und ihre Funktion. Junge und sehr junge Männer, 18 und 19 Jahre alt, dazwischen höhere Dienstgrade, auch diese zwischen 20 und 30 Jahren, mittendrin unter demselben Grabstein ein General in den Vierzigern. Spätestens jetzt wird klar, dass der Entschluss, allen Verstorbenen ein (nahezu) identisches Grab zu geben, auf eine willentliche Entscheidung zurückzuführen ist. Mit seinen langen Reihen, die doch nicht ganz geometrisch angelegt sind, der Aneinanderreihung von bedeutungsgleichen Gräbern, die doch nicht identisch sind und auf die Individualität des Verstorbenen Rücksicht nehmen, vermittelt der Ort dergestalt nämlich eine ernste Ruhe und hinterlässt den Eindruck von kollektiver Würde und Erhabenheit. Es entsteht ein Gefühl einer über alle Grenzen formierten Gemeinschaft von Waffenbrüdern, die alle vom Schicksal eines ungerechten Krieges ereilt worden sind. In diesem Sinne verbindet sich der Heilly Station Cemetery mit dem Bild des Kartäuserbegräbnisses. Denn dort wie hier finden die Gräber zu einem großen Ganzen zusammen, und damit sind die

267

Toten Teil einer Gemeinschaft, die in Abkehr von individuellem Schmuck und Standesdünkel ein gemeinsames Zeichen der Demut setzt. In diesem Zusammenhang ist auch eine weitere Tatsache interessant: Wie die Kartäusermönche, die man auf ihrem Totenbett und in ihren Kleidern bestattete, wurden auch die Soldaten in ihren Kleidern und mit ihren Habseligkeiten, ihrem Helm, ihren Gewehren, in ein Wachstuch gewickelt begraben. Die Bescheidenheit der Kartäuser, die aus einer tiefen Demut resultiert, wird im Kriegsfriedhof – nicht willentlich zwar, aber den Umständen entsprechend – reflektiert. Die formale Gliederung der weißen Steine im Gelände lenkt den Blick auf die räumlichen Begebenheiten und die Architektur. Die Grabsteine wirken dabei wie die Gläubigen in den Sitzreihen einer Kirche, manche näher, manche weiter auseinander. Und die Halle, die an einen Klosterkreuzgang oder an das Längsschiff einer Kirche erinnert, lässt das Bild einer Open-Air-Kathedrale auferstehen, ihr Dach der Himmel, ihr Boden die Wiese, ihr Altar der sogenannte Stone of Remembrance, der, von Lutyens entworfen, gemeinsam mit einem steinernen Kreuz auf jedem Friedhof des Commonwealth an der Somme platziert wurde. Lutyens setzte sich lange mit dem Eintritt in den Friedhof auseinander. In einem Memorandum hielt er fest, dass die Friedhöfe „eine umschlossene Mauer haben sollten, an erster Stelle nur neun Zoll, damit die Grenze klar definiert und unantastbar wird“.8 Die ersten Friedhöfe waren denn auch ganz oder teilweise von Mauern begrenzt, wie der Klostergarten auf dem Bild des Kartäusermönches. Damit stellte Lutyens einen engen Bezug her zum sogenannten Hortus Conclusus, dem ummauerten Paradiesgarten, der seit Urzeiten allen Religionen als Ort der Sehnsucht nach dem ewigen Glück Edens eingeschrieben ist. In Heilly unterlässt Lutyens dies jedoch bewusst und ermöglicht uns damit das schwellen- und schwerelose Eintreten in einen Ort, der eingebettet ist in die friedliche Landschaft, die ihn umgibt, und damit auch als Teil unserer Welt, der Welt der Lebenden, erfahren werden kann. Mit dem Heilly Station Cemetery schaffte Lutyens das scheinbar Unmögliche: Er verband mit seiner Symbolik die christliche Tradition mit Anleihen aus der Antike, die allgemeine Gültigkeit haben. Er suchte nach universellen Zeichen, die neben persönlicher Trauer auch das unbegreifliche Ausmaß des Kriegsdramas zum Ausdruck bringen und die Gemeinschaft der hier Bestatteten

Friedhof

akzentuieren sollten, nicht um Außenstehende auszuschließen, sondern um ein Symbol zu schaffen für die große Gemeinschaft der Erdenbürgerinnen und -bürger, über alle Grenzen – geografische wie zeitliche – hinweg. Damit wird in Heilly wie im Dorffriedhof von Rabitzerhaid den Lebenden die Möglichkeit gegeben, sich in dieser Gemeinschaft zu verorten und sich als Teil eines großen Ganzen zu erleben, denn Heilly Station ist nicht nur der Friedhof für einen gefallenen Familienangehörigen, sondern auch der Ort des Gedächtnisses an einen Krieg, der unsere kollektive Erinnerung und damit auch unsere Identität maßgeblich geprägt hat. „There’s so many different worlds, so many different suns, and we have just one world, but we live in different ones  ...“,9 singt Mark Knopfler in dem Stück Brothers in Arms, das er mit der Band Dire Straits 1985 produzierte. Das Stück gilt heute als eindrückliche Reaktion der Popkultur auf den Falkland-Krieg. Der Songtext verweist darauf, wie die kurze, aber blutige Auseinandersetzung zwischen Großbritannien und Argentinien das seit dem Zweiten Weltkrieg von Konflikten verschont gebliebene Europa 1982 in einen kollektiven Schock versetzte. Er reflektiert zugleich auch in eindringlicher Weise unser Bedürfnis nach Gemeinschaft im Irrsinn des Krieges und die Suche nach der Verbundenheit der Lebenden mit den Toten. Das Lied endet mit den Worten: „Now the sun’s gone to hell and the moon’s riding high, let me bid you farewell, every man has to die, but it’s written in the starlight, and every line in your palm, we’re fools to make war on our brothers in arms.“ Auswahlbibliografie

Aries, Philippe, Geschichte des Todes, München 1980. Borst, Arno, Graevenitz, Gerhart von, Patschovsky, Alexander (Hg.), Tod im Mittelalter, Konstanz 1993. Früh, Margrit, Mathis, Hans, Fürer, Robert, Die Kartause Ittingen, Frauenfeld 1985. Geurst, Jeroen, Cemeteries of the Great War by Sir Edwin Lutyens, Amsterdam 2010. Illi, Martin, Wohin die Toten gingen. Begräbnis und Kirchhof in der vorindustriellen Stadt, Zürich, 1992.

269

Messmer, Dorothee, „Hortus Conclusus“, in: Dies., Katja Herlach, Kunstmuseum Olten (Hg.), Nives Widauer. VILLA NIX, Zürich, 2019. Messmer, Dorothee, Kunstmuseum Thurgau (Hg.), Gott sehen. Das Überirdische als Thema der bildenden Kunst, Sulgen 2010. Serrou, Robert, Kartäuser. Vom Leben in der Wüste, Würzburg 2007. Zadnikar, M., Wienand, A. (Hg.), Die Kartäuser. Vom Leben der schweigenden Mönche, Köln 1983.

Anmerkungen 1

Der Name bezieht sich auf die griechische Schutzgöttin des Gedächtnisses und der Erinnerungskunst. Der vollständige Titel lautete Mnemosyne. Bilderreihe zur Untersuchung der Funktion vorgeprägter antiker Ausdruckswerte bei der Darstellung bewegten Lebens in der Kunst der europäischen Renaissance. 

2

BR Fernsehen, Das Projekt „Sudetendeutsche Vertriebene in Bayern“, 2019, unter: https://www.youtube.com/watch?v=tcJtBJts8lg [02.03.2020].

3

Unter: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/011704/2010-06-30 [02.03.2020].

4

Mit dem Begriff „Klause“ bezeichnet man das Wohnhaus eines Eremiten, aber auch die Häuser, die in einem Kartäuser-Kloster um die beiden Kreuzgärten herum angelegt sind.

5

Tacita Dean, The Life and Death of St Bruno, aus der Serie The Russian Ending, SW-Fotografie, 450 x 685 mm, 2011, in der Sammlung der Tate Britain, London.

6

Die Bestattungen wurden unter extremem Druck durchgeführt und viele der Gräber sind entweder zu nahe beieinander, um einzeln markiert zu werden, oder sie enthalten mehrere Bestattungen. Einige Grabsteine tragen bis zu drei Inschriften, und in diesen Fällen mussten die Regimentszeichen weggelassen werden. Stattdessen fanden diese, insgesamt 117, ihren Platz in der Halle. Siehe dazu auch: https://www.cwgc.org/find-a-cemetery/cemetery/27100/ heilly-station-cemetery,-mericourt-l%27abbe [02.03.2020].

7

Im Unterschied zu den Franzosen, die Kreuze aus Beton verwendeten.

8

Edwin Lutyens, zit in: Jeroen Geurst, Cemeteries of the Great War by Sir Edwin Lutyens, Amsterdam 2010, S. 141, Übersetzung D. M.

Friedhof

9

Brothers in Arms, aus dem der gleichnamige Song stammt, ist das fünfte Studioalbum der britischen Rockband Dire Straits. Das 1985 veröffentlichte Album wurde als das erfolgreichste der Gruppe über 30 Millionen Mal verkauft und zählt damit zu den dreißig meistverkauften Alben der Musikgeschichte, Songtext abrufbar auf: https:// www.youtube.com/watch?v=jhdFe3evXpk [02.03.2020].

Anhang

273

Henriette Lutz, Stanislas Zimmermann

Objektkatalog

Objektkatalog

1 Wohnhaus Haus Faraday, Bern

Architektur Typ Auftraggeber

jomini, jomini & zimmermann architekten Neubau Mehrfamilienhaus Privat

Baujahr

2004

Adresse

Jurastrasse 69, Bern, Schweiz

Koordinaten

46.961156, 7.443581

275

Situationsplan

1 : 2 500

Grundriss Erdgeschoss

1 : 400

Querschnitt

1 : 400

Objektkatalog

Ansicht Süd, 2019

277

Eingang, 2019

Objektkatalog

2 Wohnkomplex

Architektur

Pallasseum, Berlin

Dieter Frowein / Jürgen Sawade und Dietmar Grötzebach / Günter Plessow

Typ Auftraggeberin

Wohnkomplex KK Hotelbeteiligungs-GmbH & Co.

Baujahr

1977

Adresse

Pallasstraße 28, Berlin, Deutschland

Koordinaten

52.494331, 13.358736

279

Situationsplan

1 : 5 000

Grundriss Obergeschoss

1 : 2 000

Westfassade

1 : 2 500

Objektkatalog

Ansicht Ost, 2019

281

Ansicht Süd, 2019

Objektkatalog

3 Siedlung

Architektur Typ

Zwicky Süd, Dübendorf

Schneider Studer Primas Architekten Wohnsiedlung mit Gewerbe- und Kulturräumen

Auftraggeberin

Wohngenossenschaft Kraftwerk1, Pensimo

Baujahr

2016

Adresse

Am Wasser 3, Dübendorf, Schweiz

Koordinaten

47.403938, 8.605144

283

Situationsplan

1 : 7 500

Grundriss 5. Obergeschoss

1 : 3 000

Querschnitt

1 : 3 000

Typologie 5. Obergeschoss

1 : 1 000

Objektkatalog

Ansicht Süd, 2019

285

Ansicht Innenhof, 2019

Objektkatalog

4 Schulanlage

Gymnasium Strandboden,



Biel / Bienne

Architektur Typ Auftraggeber Baujahr Adresse Koordinaten

Max Schlup Schulanlage Kanton Bern 1981 Ländtestrasse 10, Biel / Bienne, Schweiz 47.133363,7.235098

287

Situationsplan

1 : 5 000

Grundriss Erdgeschoss

1 : 2 000

Längsschnitt

1 : 2 000

Querschnitt

1 : 2 000

Objektkatalog

Ansicht Ost, 2019

289

Ansicht Süd, 2019

Objektkatalog

5 Universitätsgebäude

Architektur Typ Auftraggeberin

Domain House, Hobart

Alexander Dawson Universitätsgebäude University of Tasmania

Baujahr

1850

Adresse

71 Brooker Hwy, Glebe, Hobart, Australien

Koordinaten

-42.876632, 147.330144

291

Situationsplan

1 : 5 000

Grundriss Erdgeschoss

1 : 800

Grundriss 1. Obergeschoss

1 : 800

Grundriss 2. Obergeschoss

1 : 800

Objektkatalog

Ansicht Süd, 2019

293

Ansicht Haupteingang, 2019

Objektkatalog

6 Industriegebäude

Architektur Typ Auftraggeberin

Eternitfabrik, Payerne

Georges Brera und Paul Waltenspühl Industriegebäude Eternit AG

Baujahr

1957

Adresse

Rue de la Boverie 51, Payerne, Schweiz

Koordinaten

46.815141, 6.933507

295

Situationsplan

1 : 10 000

Grundriss Erdgeschoss

1 : 2 500

Längsschnitt

1 : 2 000

Südost- und Nordostfassade

1 : 2 000

Südwestfassade

1 : 2 000

Objektkatalog

Ansicht Nordwest, 2019

297

Innenansicht Shedhalle, 2019

Objektkatalog

7 Bürogebäude

Architektur Typ Auftraggeberin

Roche-Tower, Basel

Herzog & de Meuron Bürogebäude F. Hoffmann-La Roche AG

Baujahr

2015

Adresse

Grenzacherstrasse 124, Basel, Schweiz

Koordinaten

47.558806, 7.607661

299

Situationsplan

1 : 7 500

Längsschnitt

1 : 1 500

Grundriss Erdgeschoss

1 : 1 500

Objektkatalog

Ansicht Süd, 2019

301

Eingang, 2019

Objektkatalog

8 Gemeindehaus

Architektur Typ Auftraggeberin

Farelhaus, Biel / Bienne

Max Schlup Gemeindehaus Evangelisch-reformierte Kirchgemeinde, Biel

Baujahr Adresse Koordinaten

1959 Oberer Quai 12, Biel / Bienne, Schweiz 47.137300, 7.247938

303

Situationsplan

1 : 5 000

Längsschnitt

1 : 500

Grundriss Erdgeschoss

1 : 500

Objektkatalog

Ansicht Nord, 2019

305

Innenansicht Bistro, 2019

Objektkatalog

9 Arkaden

Architektur Typ Auftraggeberinnen

Lauben, Bern

Verschiedene Arkaden Verschiedene

Baujahr

15. Jahrhundert

Adresse

Kramgasse, Altstadt-Bern, Schweiz

Koordinaten

46.948018, 7.448263

307

Situationsplan

1 : 5 000

Schnitt Straßenraum

1 : 1 000

Grundriss Erdgeschoss

1 : 1 000

Ansicht Kramgasse Nord

1 : 1 000

Objektkatalog

Ansicht Kramgasse, 2019

309

Innenansicht Lauben Gerechtigkeitsgasse, 2019

Objektkatalog

10 Monument Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Berlin

Architektur Typ Auftraggeberin

Eisenman Architects Monument Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas

Baujahr

2005

Adresse

Cora-Berliner-Straße 1, Berlin, Deutschland

Koordinaten

52.513875, 13.380001

311

Situationsplan

1 : 10 000

Grundriss

1 : 2 000

Schnitt Stelenfeld

1 : 2 000

Schnitt Ort der Information

1 : 2 000

Objektkatalog

Ansicht Südwest, 2019

313

Innenansicht Westen, 2019

Objektkatalog

11 Friedhof Heilly Station Cemetery Méricourt-l’Abbe

Architektur Typ Auftraggeberin

Edwin Lutyens Friedhof Commonwealth War Graves Commission

Baujahr

Um 1924

Adresse

La Couturelle, Méricourt-l’Abbé, Frankreich

Koordinaten

49.94081, 2.54186

315

Situationsplan Grundriss

1 : 10 000 1 : 1 000

Querschnitt Eingangsgebäude

1 : 600

Ansicht Eingangsgebäude Süd

1 : 600

Objektkatalog

Eingang, 2019

317

Ansicht Süd, 2019

AutorInnen

319

Hubertus Adam arbeitet als freiberuflicher Kunst- und Architekturhistoriker sowie Architekturkritiker und Ausstellungsmacher in Zürich. Er war langjähriger Redakteur der Zeitschrift archithese in Zürich und leitete 2010–2015 das Schweizerische Architekturmuseum S AM in Basel. Zahlreiche Publikationen. Marcel Bächtiger (Dr. sc. ETH) ist Dozent für Film und Architektur an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich, Redakteur der Zeitschrift hochparterre.wettbewerbe sowie freischaffender Filmemacher und Publizist. Er hat viele Schriften veröffentlicht, vor allem zum Verhältnis von Architektur und Film. Marco Bakker (Prof. assoc. EPFL) studierte Architektur an der TU Delft. 1992 gründete er das Büro Bakker & Blanc architectes (BABL) mit Alexandre Blanc, mit dem er sich seit 2013 den Lehrstuhl MANSLAB am Architekturinstitut der École polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL) teilt. Dirk Baltzly (Prof. Dr. Dr.) ist Leiter des Studiengangs „Philosophie und Gender Studies an der University of Tasmania (Australien). Zuvor lehrte er an der Monash University in Melbourne und war Gastprofessor am Institute for Advanced Study (Princeton) und am Institute for Classical Studies (London). Er ist Mitglied der Australian Academy of Humanities. Sebastian Bührig ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut

für Entwerfen und Städtebau an der Leibniz Universität Hannover. Urbanistische Feldforschung und Wissenschaftsvermittlung sind die Schwerpunkte seiner Arbeit und Lehre. Publikationen u.  a.: Wohnen an der Kotti D’Azur (Berlin 2017). Hanspeter Bürgi (Architekt ETH SIA FSU) ist Professor für

Architektur und Entwurf und Leiter des Masterstudiengangs Architektur an der Berner Fachhochschule. Seit 1992 führt er Bürgi Schärer Architekten in Bern (www.bsarch.ch) und war 2009–2015 Professor für Entwurf und Konstruktion an der Hochschule Luzern. Ingo Farin (PhD) ist Lecturer für Philosophie an der University of Tasmania (Australien). Seine Forschungsgebiete sind Phänomenologie, Hermeneutik und Kritische Theorie. Er übersetzte Husserl’s

AutorInnen

Grundprobleme der Phänomenologie (mit James G. Hart) und Heideggers Der Begriff der Zeit ins Englische. Dorothea Franck (PhD in Allgemeiner Sprachwissenschaft) lehrte Stilwissenschaft, Poetik und Rhetorik an der Universiteit van Amsterdam und Semiotik am Königlichen Konservatorium von Den Haag. Sie beschäftigt sich u. a. mit der Intelligenz der Sinne in Sprache und Architektur und dem Verhältnis von Ethik und Ästhetik. Axel Christoph Gampp (Prof. Dr. phil.) ist Titularprofessor für

Allgemeine Kunstgeschichte an der Universität Basel und Professor für Theorie und Geschichte der Architektur an der Berner Fachhochschule (BFH). Seine Forschungsschwerpunkte sind Kunst und Architektur der Frühen Neuzeit, vor allem in Italien und der Schweiz. Andri Gerber (Dr. sc. ETH) hat an der ETH Architektur studiert,

promoviert (mit ETH-Medaille ausgezeichnet) und habilitiert. Er ist Professor für Städtebaugeschichte an der ZHAW und Privatdozent an der ETH. Seine Forschungsschwerpunkte und Publikationen widmen sich u. a. den Fragen der Raumwahrnehmung aus kognitiver Perspektive. Jörg H. Gleiter (Dr.-Ing. habil.) ist Professor für Architekturtheorie

an der TU Berlin. Er habilitierte zur Architekturphilosophie an der Bauhaus-Universität Weimar. Weitere Arbeitsschwerpunkte sind die Kritische Erkenntnistheorie der Architektur, Architekturpsychologie, Semiotik, Medien- und Ornamenttheorie. Jürg Graser (Dr. sc.) führt ein Architekturbüro in Zürich und leitet an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) das Forschungsprojekt „Architektur-Klima-Atlas“. Publikationen: Gefüllte Leere, Das Bauen der Schule von Solothurn (Zürich 2014), Elementare Bücher zum konstruktiven Entwerfen (Zürich 2018). Christina Horisberger (lic. phil.) ist Kunsthistorikerin und unterrichtet an der Zürcher Hochschule der Künste Designgeschichte und Theorie. Von 1999–2009 war sie Redakteurin der Designfachzeit-

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schrift Wohnrevue, später der Zeitschriften Architektur+Technik, Phoenix. Bauen im Bestand und archithese. Tim Kammasch (Dr. phil.) ist Professor für Architektur- und

Kulturtheorie im Masterstudiengang „Architektur“ an der Berner Fachhochschule (BFH-AHB). Publikationen u. a.: „Zugegeben, die Staatsräson“, in: Zugabe – ein Kunstwerk von Florian Dombois, Kunst und Bau 1, St. Gallen 2014; „Auf den Wegen von Greenwich Park – Erinnerungen an ein Gespräch über Architektur und Musik“, in: KSG-Forum 32, Bern 2019. Henriette Lutz (Dipl. Arch. TUM) ist freischaffende Architektin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Architektur der Berner Fachhochschule. In der Lehre ist sie im Entwurfsatelier Wohnungsbau tätig und beschäftigt sich mit Architekturtheorie. Sylvain Malfroy (lic. phil. I) lehrt seit 1989 an verschiedenen Fachhochschulen und Universitäten. Von 2000–2004 war er Assistenzprofessor für Städtebaugeschichte an der EPFL, seit 2004 ist er Dozent an der ZHAW. Zahlreiche Publikationen u. a. zur Ästhetik der Landschaft und der Methodologie des architektonischen Entwurfs. Jeff Malpas (PhD) ist Emeritus Distinguished Professor an der University of Tasmania (Australien) und Distinguished Visiting Professor an der Latrobe University in Melbourne. Jüngste Publikationen: Place and Experience (2. Aufl., Abingdon 2018) und Towards a Philosophy of the City (Hg.) (London 2019). Dorothee Messmer (lic. phil. I) ist Kunsthistorikerin und kuratierte 15 Jahre lang als stv. Direktorin des Kunstmuseums Thurgau Ausstellungen in der Kartause Ittingen. Seit 2007 wirkt sie als Direktorin des Kunstmuseums Olten. Zahlreiche Publikation u. a.: Ferdinand Gehr. Bauen an der Kunst (Zürich 2016). Graeme Miles (PhD) ist Dozent für Altphilologie an der University of Tasmania. Publikationen: Philostratus. Interpreters and Interpretation (London 2018); und (mit Dirk Baltzly und John Finamore) Proclus. Commentary on Plato‘s Republic, Band 1 (Cambridge 2018).

AutorInnen

Sandi Paucic (Kunsthistoriker MA) ist seit 2011 Projektleiter des

Schweizer Auftritts an der Biennale Venedig (Kulturstiftung Pro Helvetia). Von 2000–2011 war er Rektor der F+F Schule für Kunst und Mediendesign. Er arbeitet als Kurator, Dozent für Kunstgeschichte und für das Biografische Lexikon der Schweizer Kunst 1992–1998. Florentine Sack (Dr. techn.) lebt und arbeitet als Architektin, Theoretikerin und Autorin in Berlin. Sie hat langjährige Lehrerfahrung an verschiedenen Hochschulen und hält Vorträge zu ihrem Forschungsgebiet open house, bei dem es um die Bezüge zwischen Mensch und Umwelt und deren Einfluss auf unsere Lebensqualität geht. Dieter Schnell (PD Dr. phil. I) lehrt als Architekturhistoriker an der Berner Fachhochschule und leitet den dortigen MAS „Denkmalpflege und Umnutzung“. Er liest zudem als Privatdozent an der Universität Bern. Zahlreiche Publikationen zur Geschichte und Theorie der Schweizer Architektur und zur Denkmalpflege. Rainer Schützeichel (Dr. sc. ETH) ist Architekt und war Redakteur

der Zeitschrift der architekt. Seine Promotion an der ETH Zürich über die Theorie der Baukunst von Herman Sörgel erhielt den Theodor-Fischer-Preis. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut  gta der ETH  Zürich und Gastdozent an der Hochschule München. Ludger Schwarte (Prof. Dr.) ist Professor für Philosophie an der Kunstakademie Düsseldorf. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Ästhetik, politische Philosophie, Architekturphilosophie, Kulturphilosophie und Wissenschaftsgeschichte. Jüngste Veröffentlichung: Notate für eine künftige Kunst (Merve 2016). Frank Seehausen (Dr. phil., Dipl.-Ing. Architekt) arbeitet für das

Bayerische Landesamt für Denkmalpflege und lehrt u. a. an der TU Braunschweig, der TU Berlin und der HU Berlin. Er hat überwiegend zur Architektur des Mittelalters und der Moderne sowie zur Architekturfotografie der Nachkriegsmoderne publiziert.

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Konrad Tobler lebt und arbeitet als Kulturjournalist und Autor in

Bern. Er studierte Germanistik und Philosophie in Bern und Berlin. Von 1992–2006 war er Kulturredakteur, von 2000–2006 Ressortleiter der Berner Zeitung. Er hat zahlreiche Publikationen hsl. zu kunst- und kulturgeschichtlichen Themen veröffentlicht. Andreas Vogel (Dr. phil.) leitet den Fachbereich „Gestaltung und

Kunst“ an der Hochschule der Künste Bern. Von 2001–2015 war er leitend an der F+F Schule für Kunst und Design tätig. Er war lange Zeit Mitglied der Kunstkommission Zürich, Jurymitglied der Guggenheim-Stiftung und gehört dem Stiftungsrat der Berner Design Stiftung an. Michael von Allmen (Architekt MA ZFH) ist Bauberater der Denkmalpflege der Stadt Bern. Er betreut den Bereich Mitte und ist Projektleiter für den Managementplan des UNESCO-Weltkulturerbes der Altstadt. An der Berner Fachhochschule lehrt er Entwurf und Städtebau sowie Themen der Denkmalpflege und Umnutzung. Stanislas Zimmermann (Dipl. Arch. EPFL) ist Dozent für Archi-

tektur und Entwurf an der Berner Fachhochschule. Er führt seit 1996 zusammen mit Valérie Jomini das Architekturbüro jomini & zimmermann sowie das Möbellabel it design. Bauten, Projekte und Entwürfe sind auf www.j-z.ch und www.it-happens.ch publiziert.

Architektur Denken

Die Reihe ArchitekturDenken widmet sich der kritischen Reflexion der Architektur im sich wandelnden, heute von den Debatten um Klimawandel, Geschlechtergerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Partizipation und Digitalisierung geprägten kulturellen Kräftefeld. Architektur ist jene kulturelle Praxis, mit der der Mensch sich seinen gleichbleibenden wie auch sich ändernden Bedürfnissen eine von der Natur verschiedene, ihm einzig angemessene Lebenswelt schafft. Sie ist ohne Vorbild in der Natur, eine menschliche Erfindung, mit Aristoteles ist sie eine hervorbringende, poietische Kunst und damit immer schon durch Modelle des Denkens mithin Theorie vorstrukturiert. ArchitekturDenken möchte die Modelle des Denkens zur Sprache und zum Bewusstsein bringen, die das Entwerfen (Konzeption), das Bauen (Konstruktion) und die Erfahrung (Perzeption) von Architektur leiten. Da Architektur allein in der Gleichzeitigkeit von Empfindung und Intellekt sowie Denken und Handeln besteht, verfolgt ArchitekturDenken, über das Verständnis als Ideengeschichte hinaus, eine kulturphilosophische Erweiterung der Architekturtheorie.

1

Architekturtheorie heute. Jörg H. Gleiter, 2008; ISBN 978-3-89942-879-7

2

Die enzyklopädische Architektur. Gerd de Bruyn, 2008; ISBN 978-3-89942-984-8

3

Welten und Gegenwelten. Arata Isozaki, 2011; Übersetzt und herausgegeben von Yoco Fukuda, Jörg H. Gleiter und Jörg R. Noennig; ISBN 978-3-8376-1116-8

4

Urgeschichte der Moderne. Jörg H. Gleiter, 2010; ISBN 978-3-8376-1534-0

5

Das Wissen der Architektur. Gerd de Bruyn, Wolf Reuter, 2011; ISBN 978-3-8376-1553-1

6

Alphabet und Algorithmus. Mario Carpo, 2012; Herausgegeben von Jörg H. Gleiter, aus dem Englischen übersetzt von Jan Bovelet und Jörg H. Gleiter; ISBN 978-3-8376-1355-1

7

Symptom Design. Herausgegeben von Jörg H. Gleiter, 2014; ISBN 978-3-8376-2268-3

8

Architektur und Philosophie. Herausgegeben von Jörg H. Gleiter und Ludger Schwarte, 2015; ISBN 978-3-8376-2464-9

9

Das Diaphane. Herausgegeben von Ulrike Kuch, 2020; ISBN 978-3-8376-4282-7

10 Media Agency. Herausgegeben von Christophe Barlieb und Lidia Gasperoni, 2020; ISBN 978-3-8376-4874-4 11 Betrachtungen der Architektur. Herausgegeben von Tim Kammasch, 2020; ISBN 978-3-8376-4994-9 12 Mikro-Utopien der Architektur. Sandra Meireis, 2020; ISBN 978-3-8376-5197-3 13 Erfahrungswelten. Julian Franke, 2020; ISBN 978-3-8376-5353-3

Erhältlich im Buchhandel oder beim transcript Verlag. Portofreie Zustellung bei Bestellung direkt vom Verlag. Fax +49 (521) 393797-34 [email protected] www.transcript-verlag.de

Architektur und Design Daniel Hornuff

Die Neue Rechte und ihr Design Vom ästhetischen Angriff auf die offene Gesellschaft 2019, 142 S., kart., 17 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4978-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4978-3

Katharina Brichetti, Franz Mechsner

Heilsame Architektur Raumqualitäten erleben, verstehen und entwerfen 2019, 288 S., kart., 22 SW-Abbildungen, 57 Farbabbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4503-3 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4503-7

Annette Geiger

Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs 2018, 314 S., kart., 175 SW-Abbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4489-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4489-4

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