Gewissensfreiheit: Aspekte eines Grundrechts [1 ed.] 9783428428984, 9783428028986

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Gewissensfreiheit: Aspekte eines Grundrechts [1 ed.]
 9783428428984, 9783428028986

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Gerd Ulrich Freihalter

/ Gewissensfreiheit

Schriften

zur

R ech t s theorie

Heft 31

Gewissensfreiheit Aspekte eines Grundrechts

Von Dr. Gerd Ulrich Freihalter

DUNCKER & H U M B L O T / BERLIN

Alle Rechte vorbehalten © 1973 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1973 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany ISBN 3 428 02898 8

Meinen Eltern

Vorwort Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich u m eine Dissertation, die der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München vorgelegen hat. Für die Veröffentlichung wurde sie vom Stand Sommer 1971 auf den Stand des Schrifttums und der Rechtsprechung vom Herbst 1972 gebracht; vereinzelt konnten noch spätere Veröffentlichungen berücksichtigt werden. Eine vollständige Überarbeitung der Abhandlung, die ich aufgrund meiner i n manchem gewandelten Auffassungen selbst für wünschenswert gehalten hätte, ist m i r nicht mehr möglich; nebenberufliche Interessen haben nunmehr völlig auszuscheiden. Doch bin ich der Meinung, daß die Arbeit auch i n ihrer gegenwärtigen Fassung noch ein Diskussionsbeitrag sein kann. Mehr konnte sie, mehr sollte sie nicht sein. Die rechtstheoretischen Aussagen der Abhandlung entstanden aus der Arbeit am Stoff des Grundrechts der Gewissensfreiheit, wurden daran erprobt und haben ihrerseits ganz entscheidend dazu beigetragen, diesen Stoff i m vorliegenden Sinne zu formen. Dieses Vorgehen hat dazu geführt, daß einzelne Thesen i m Laufe der Untersuchung relativiert, verschärft, fallengelassen oder neu eingeführt werden und die Arbeit somit organisch i n der Wechselwirkung rechtstheoretischer und stofflicher Untersuchungen gewachsen ist. Ein Sachregister würde deshalb nur irreführen; es wurde daher nicht aufgenommen. Insoweit sei auf das ausführliche Inhaltsverzeichnis verwiesen. A n dieser Stelle möchte ich Herrn Prof. Dr. Heinrich Scholler, der die Abhandlung als Dissertation betreut hat, danken für seinen freundlichen Rat und seine freundliche Unterstützung. Gedankt sei auch Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. A r t h u r Kaufmann, dem Korreferenten der Arbeit, für seine kritischen Anregungen. Nicht zuletzt möchte ich auch Herrn Ministerialrat a. D. Dr. J. Broermann meinen Dank aussprechen für die Aufnahme der Untersuchung i n sein Verlagsprogramm. Düsseldorf/Augsburg, i m Dezember 1972 Gerd Ulrich Freihalter

Inhaltsverzeichnis § 1 Einleitung

17

Erster Teil Der Inhalt des Grundrechts der Gewissensfreiheit

19

§ 2 Z u m Wortsinn

19

§ 3 Z u r Problemgeschichte

20

1. Das Problem

20

2. Die „Problemlosigkeit" der Selbstverständlichkeiten

21

3. Die erschütterten Selbstverständlichkeiten

22

4. Objektive Maßstäbe und das »Problem der Gewissensfreiheit' . . . . 5. Die rechtliche Regelung des »Problems der Gewissensfreiheit 6. Zusammenfassung

4

24 32 35

§ 4 Die Materialien

36

§ 5 Der Bedeutungszusammenhang

39

1. Weimarer Verfassung u n d Grundgesetz

39

2. Das Grundrecht der Bekenntnisfreiheit

41

3. Das Grundrecht der Glaubensfreiheit

45

4. Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

48

§ θ Der verfassungsgeberische Zweck 1. Zweck u n d Ideologie

51 51

1.1. Witte

52

1.2. Hamel

53

1.3. B r i n k m a n n

56

1.4. Anthropologie, anthropologische Psychologie u. a

58

1.5. Die „Ideologie des Grundgesetzes"

60

2. Die Eigenart des gesetzgeberischen Zweckes

62

3. Die Problemstellung der Grundrechte

64

10

nsverzeichnis 3.1. Das tripolare Spannungsverhältnis

64

3.2. Zwecke der Grundrechte

65

4. Der verfassungsgeberische Zweck der Gewissensfreiheit

68

4.1. Der Zweck

68

4.2. Die funktionale Interpretation (Luhmann)

69

4.3. „Freiheit" — „ W ü r d e "

71

5. Ergebnisse

73

5.1. Schlußfolgerungen

73

5.2. Zusammenfassung

74

§ 7 Die soziale Wirklichkeit

75

1. Z u r sozialen Wirklichkeit als Interpretationsbehelf

75

2. Das „ f o r u m i n t e r n u m " des Gewissens als Schutzobjekt der Gewissensfreiheit

79

2.1. Freiheit, ein Gewissen zu haben oder nicht zu haben

79

2.2. Schutzbedürftigkeit des Gewissens

81

2.3. Das Phänomen des Gewissens i n psychologischer Sicht 83 2.3.1. Das Gewissensphänomen als Teilprozeß des Haltungssystems 84 2.3.21. Eine gestaltpsychologische Skizze des Gewissensphänomens 95 2.4. Rechtliche Analyse des Gewissensphänomens 2.4.1. Bestandsgarantie — Änderungsgarantie — absolutes Manipulations verbot 2.4.2. Begründung eines gewissensmäßigen Verhaltens 2.4.3. Problem der Gewissensüberzeugung 2.4.4. Verhaltensfreiheit 2.4.5. Variabilitätsbereich („individuelle Alternativen") 2.4.6. Sittlichkeit als I n h a l t der Gewissensnorm — S u b j e k t i v i tät des Gewissens 2.4.7. Problemgeschichtliche Perspektiven 2.4.8. Die „Richtpunkte" des Menschen 2.4.9. „Fremdideal" u n d „Selbstideal" 2.4.10. Richterliche Nachprüfung

97

107 113 115 116 119

2.5. Vorläufige Thesen

124

97 100 103 106 106

3. Der Schutz der Außensphäre durch das Grundrecht der Gewissensfreiheit 124 3.1. Gewissensbildung u n d Außensphäre 3.1.1. Z u r „Sozialisation" („notwendige Manipulation") Menschen 3.1.2. Schutzbedürftigkeit der Gewissensbildung

125 des 126 131

nsverzeichnis 3.1.3. Schutz der Gewissensbildung durch Garantie der „ I n d i vidualsphäre" u n d „Intimsphäre" — Schutz der „Öffentlichkeitssphäre" 133 3.2. Schutz der Gewissensbetätigung: die „Verhaltensfreiheit" 3.2.1. Die „ F u n k t i o n " i m Hecht 3.2.2. Die soziale F u n k t i o n der Gewissensfreiheit

138 138 142

3.2.3. Die individuelle F u n k t i o n der Gewissensfreiheit: Gefahren des staatlichen Zwanges 148 3.2.4. Schlußfolgerungen aus der funktionalen Betrachtung: Schutz der Öffentlichkeitssphäre — Entlastung des Gewissenskonfliktes von staatlichen Zwängen 153 3.3. Schlußfolgerungen f ü r die Außensphäre 3.3.1. Unterlassen u n d positives T u n 3.3.2. Gewissensfreiheit als Gruppengrundrecht 3.3.3. Verhältnis zu D r i t t e n : „Entlastungsfunktion" — „ V e r lagerungsfunktion" — Gleichwertigkeit von Alternativen 3.3.4. P r a k t i k a b i l i t ä t der Gewissensfreiheit

158 158 159 162 167

4. Thesen zur Gewissensfreiheit aufgrund der sozialen Wirklichkeit 171 Zweiter

Teil

Die Normativitätsstruktur des Grundrechts der Gewissensfreiheit § 8 Das Strukturmodell

173 174

1. Sinn u n d Begrenztheit des Modells

174

2. Ausgangspunkt des „Normativitätsmodells"

175

3. A u f b a u des Modells

177

3.1. Abwehraspekt

177

3.2. Leistungsaspekt

180

3.3. Ordnungsaspekt

191

4. Rechtfertigung des Modells

194

§ 9 Anwendung des Normativitätsmodells auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit 196 1. Das Abwehrrecht der Gewissensfreiheit

196

2. Das Leistungsrecht der Gewissensfreiheit

198

3. Der Ordnungsaspekt der Gewissensfreiheit

201

3.1. Bedeutung

202

3.2. Parität — Trennung von Staat u n d Kirche

202

3.3. „Freiheit" u n d „ W ü r d e " — Neutralität aufgrund der Gewissensfreiheit: „moralische Neutralität" 204

12

nsverzeichnis 3.4. Pragmatische Dimension

211

3.5. Richterliche Gewissensfreiheit

212

4. Thesen zum Normativitätsmodell der Gewissensfreiheit

Dritter

216

Teil

Die „Schranken" des Grundredlts der Gewissensfreiheit § 10 Die Schranken des Leistungsrechts

218 219

1. I h r Nichtbestehen

219

2. Der richterliche Gewissenskonflikt

220

§11 Die Schranken des Abwehrrechts

222

1. Der fehlende Gesetzesvorbehalt

222

2. Die „Schranken" der Gewissensfreiheit

228

2.1. Schutzzonen als Grenzen staatlicher Beeinträchtigung

228

2.2. Verhältnis von A b w e h r - u n d Leistungsrecht

229

2.3. Beschränkung des Abwehrrechts

231

2.4. Prinzip der Güterabwägung 2.4.1. Das methodische Prinzip 2.4.2. L e i t l i n i e n der konkreten Güterabwägung

233 234 235

3. Thesen zu den Schranken des Abwehrrechts

239

§12 Die Schranken des Ordnungsaspekts

239

Literaturverzeichnis

240

Abkürzungsverzeichnis Α. Α.; a. Α. a.a.O. Abl.;abl. abw. AcP a. E. a. F. Α. M.; a. M. Anm. AöR Arch. ges. Psychol. ARSP

= = = = = = = = = = = =

Art. Aufl. Bay.; bay. BayObLG BayVBl. BayVerfGH BB Bd.; Bde. bestr. BGHSt (Z)

= = = = = = = = = =

BK BV BVerfG BVerfGE

= = = =

BVerfGG BVerwG BVerwGE

= = =

BVFG Ch. E. ders. dgl. d. h. Diss. DÖV

= = = = = = --

dt. DVB1.

= =

anderer Ansicht am angegebenen Orte ablehnend abweichend Archiv f ü r die civilistische Praxis — Tübingen am Ende alte Fassung anderer Meinung Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts — Tübingen Archiv f ü r die gesamte Psychologie — F r a n k f u r t a. M . Archiv f ü r Rechts- u n d Sozialphilosophie — Neuwied/ Berlin Artikel Auflage Bayern, bayerisch Bayerisches Oberstes Landgericht Bayerische Verwaltungsblätter — München Bayerischer Verfassungsgerichtshof Der Betriebs-Berater Band, Bände bestritten Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesgerichtshofs i n Strafsachen (Zivilsachen) Bonner K o m m e n t a r Bayerische Verfassung Bundesverfassungsgericht Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverfassungsgerichtsgesetz Bundesverwaltungsgericht Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Bundesvertriebenengesetz Herrenchiemseer E n t w u r f eines Grundgesetzes derselbe dergleichen das heißt Dissertation Die öffentliche Verwaltung. Zeitschrift f ü r Verwaltungsrecht u n d Verwaltungspolitik — Stuttgart deutsch Deutsches Verwaltungsblatt — Köln/Berlin/Bonn/ München

14

Abkürzungsverzeichnis

E ebd. Einl. einschr. Erl. ev. f. FamRZ

ff. Fn G GG ggf. Hbd. HessStGH h. M . Hrsg.; hrsg. HS i. i. d. F. insbes. i. S. d. (v.) i. V. m. Jb. JBl. Jb. Psych. JöR N. F. 1 Journal JR j u r . Diss. JuS JZ kath. KirchE KJ LAG LG Logos LS. m. m. a. W. MDR m. E. m. w . N. n. F. N. F. NJW

= = = = = = = =

= = = = = = = = = = = = = = = = = =

=

= = = =

= = = = = — =

= = = = = = = = =

Amtliche Sammlung der Entscheidungen ebenda Einleitung einschränkend Erläuterung evangelisch folgende Seite Zeitschrift f ü r das gesamte Familienrecht. Ehe u n d Familie i m privaten u n d öffentlichen Recht — Bethel/ Bielefeld folgende Seiten Fußnote Gesetz Grundgesetz gegebenenfalls Halbband Hessischer Staatsgerichtshof herrschende Meinung Herausgeber, herausgegeben Halbsatz in, i m i n der Fassung insbesondere i m Sinne des (von) i n Verbindung m i t Jahrbuch Juristische Blätter — Wien Jahrbuch f ü r Psychologie u n d Psychotherapie — Nürnberg siehe unter „v. Doemming . . . " i m Schrifttumsverzeichnis (Hauptspalte) Journal der Internationalen Juristenkommission — Genf Juristische Rundschau — B e r l i n juristische Dissertation Juristische Schulung. Zeitschrift f ü r Studium u n d Ausbildung — München/Frankfurt a. M. Juristenzeitung — Tübingen katholisch Entscheidungen i n Kirchensachen Kritische Justiz — F r a n k f u r t a. M . Landesarbeitsgericht Landgericht Logos. Internationale Zeitschrift f ü r Philosophie der K u l t u r — Tübingen Leitsatz mit m i t anderen Worten Monatsschrift f ü r Deutsches Recht — Hamburg meines Erachtens m i t weiteren Nachweisen neue Fassung neue Folge Neue Juristische Wochenschrift — München/Berlin

Abkürzungsverzeichnis Nr. östZöR OLG Rdnr. Rspr. s. S. sc. sog. Sp. st. Staat St. d. Z. str. Stud. Gen. teilw. u. a. u. ä. umstr. Universitas unstr. u. ö. v. VGHE

vgl. Vorb. Vorgänge VVDStRL

WRV z.B. ZevKR ZfJR ZStW z. T. zusti. zutr.

= Nummer = österreichische Zeitschrift f ü r öffentliches Recht — W i e n / New Y o r k = Oberlandesgericht = Randnummer(n) = Rechtsprechung = siehe = Satz (bei Rechtsnormen), Seite = scilicet (ergänze) = sogenannt = Spalte = ständig = Der Staat. Zeitschrift f ü r Staatslehre, öffentliches Recht u n d Verfassungsgeschichte — B e r l i n = Stimmen der Zeit. Monatsschrift f ü r das Geistesleben der Gegenwart — Freiburg = streitig = Studium Generale. Zeitschrift f ü r interdisziplinäre Studien — Berlin/Heidelberg/New Y o r k = teilweise = unter anderem, u n d andere = u n d ähnliche(s) = umstritten = Universitas. Zeitschrift f ü r Wissenschaft, Kunst und L i t e r a t u r — Stuttgart = unstreitig = u n d öfters = von, v o m = Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes (I) (mit Zusatz „ I I " : BayVerfGH) = vergleiche = Vorbemerkung = Vorgänge. Eine kulturpolitische Korrespondenz — München = siehe unter „Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer" i m Literaturverzeichnis (Hauptspalte) = Verfassung des Deutschen Reiches v o m 11.8.1919 = zum Beispiel = Zeitschrift f ü r evangelisches Kirchenrecht — Tübingen = Zentralblatt f ü r Jugendrecht und Jugendwohlfahrt — Köln/Berlin = Zeitschrift f ü r die gesamte Strafrechtswissenschaft — Berlin = zum T e i l = zustimmend = zutreffend

§ 1 Einleitung Die Gewissensfreiheit ist noch immer eines der rätselhaftesten Grundrechte geblieben. Während andere Grundfreiheiten ihre „räumlich-gegenständlichen" Bezüge aufweisen — sei es etwa als Eigentum, sei es als Wissenschaft oder Kunst — und selbst die Religionsfreiheit an Religionen, an Weltanschauungen und ihren Organisationen anknüpfen kann, ist die Gewissensfreiheit weitgehend unfaßbar geblieben, sowohl nach ihrem Begriff als auch nach den sie tragenden Phänomenen. Ihrer früheren religiösen Bezugspunkte scheinbar völlig beraubt, gerann die Gewissensfreiheit zur leeren Formel, die es schon ob ihres ehrwürdigen Alters i m Verfassungstext mitzuschleppen galt, die aber i m letzten Jahrhundert nur selten praktische Bedeutung erlangte. Daß sie zur bloßen Worthülse wurde, i n die sich beliebige Inhalte gießen ließen, wurde meist nur deswegen übersehen, w e i l die Gewissensfreiheit stets „ i n heiliger Allianz" m i t der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit auftrat und nicht ihren eigenen Bedeutungsmangel offenbaren mußte. So zerschwamm das Grundrecht der Gewissensfreiheit i n eine ungestalte Masse, deren dunkle und geheimnisvolle Farben zwar hier und da die Leidenschaften heftig aufzustacheln vermochten, deren Konturen aber dennoch unbestimmbar blieben. Während vergangene Jahrhunderte das Grundrecht zur Ordnung zerfallender Lebensverhältnisse und Lebensräume heranzogen und damit verheerende Völkerbrände gelöscht und weite Gebiete befriedet haben, eignet der Gewissensfreiheit heute vielfach nurmehr ein Hauch des Unverbindlichen und des Pathetischen. Erst seit kaum anderthalb Jahrzehnten versuchen Rechtsprechung und Lehre den Rahmen traditionsgebundener Interpretation zu sprengen und der Gewissensfreiheit neue Gehalte abzugewinnen. Mögen auch die bisherigen Versuche dem Grundrecht noch keine endgültige Gestalt gegeben haben, so lassen sich doch schon gemeinsame Konturen ausmachen, die von den verschiedensten Seiten und unter den verschiedensten Aspekten gezeichnet werden. Jedoch blieb bisher die Psychologie aus den Interpretationsbehelfen ausgespart, abgesehen von wenigen Ausnahmen 1 , 1 Geißler, Kriegsdienstverweigerung, S. 37 ff.; Würtenberger, Gewissen, S. 349 ff.; neuerdings Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 35 ff., 43. — Skeptisch zur „Definition (sc.: des Gewissens durch die) . . . gegenwärtige Psychologie u n d Psychoanalyse": Matussek, St. d. Z. 177, S. 427. Zitiert w i r d nach der i m Schrifttumsverzeichnis angegebenen Zitierweise.

2 Freihalter

18

§ 1 Einleitung

und obwohl dies erst i n jüngster Zeit als „schädlich" bezeichnet wurde 2 . Die vorliegende Arbeit w i r d deshalb versuchen, neben den üblichen Auslegungstopoi auch psychologische Ergebnisse verstärkt zu berücksichtigen, ohne aber auf den Meinungs- und Methodenstreit innerhalb der Psychologie näher einzugehen. Dies w i r d nicht ohne Vergröberungen und Vereinfachungen abgehen, doch scheint dieses Vorgehen zu verantworten sein, einmal w e i l die angeführte psychologische Literatur den Meinungsstand deutlich widerspiegelt und zahlreiche weiterführende Nachweise enthält, zum anderen, w e i l man sich bewußt sein muß, daß das Grundrecht der Gewissensfreiheit i n seiner gesamten Spannweite nur durch interdisziplinäre Forschung bewältigt werden kann und ein einzelner auf diesen Grenzbereichen nur mehr einen Diskussionsbeitrag zu leisten vermag. Gegenstand der Untersuchung ist das Grundrecht der Gewissensfreiheit gemäß A r t . 41 3 nach Inhalt, Normativitätsstruktur und Umfang, wobei der Nachdruck entscheidend auf den Inhalt gelegt werden wird. Ausführungen zur Methode wurden nur dort gemacht, wo angesichts des unsicheren Standes der heutigen Methodendiskussion der tragende Boden denn doch zu schwankend schien oder wo von herrschenden Methodenvorstellungen abgewichen wurde. Das Ergebnis der Arbeit w i r d die bisher gewonnenen Konturen weitgehend bestätigen, i n manchem modifizieren und nur i n wenigem neue Linien vorschlagen: ein Ergebnis, das dem eigenen „ideologischen Vorverständnis" mitunter unbequem schien.

2 8

Herzog, DVB1. 69, S. 718. A r t i k e l ohne nähere Bezeichnung sind solche des Grundgesetzes.

Erster Teil

Der Inhalt des Grundrechts der Gewissensfreiheit Die Gewissensfreiheit ist, wie jede Rechtsnorm, eingespannt i n den Rahmen von Geschichte, Rechtsordnung und sozialer Wirklichkeit; dieser Rahmen gibt ihr Inhalt und Stellenwert. I m folgenden w i r d es deshalb notwendig sein, anhand verschiedener Auslegungstopoi 1 den Fäden nachzuspüren, die dem Grundrecht der Gewissensfreiheit zugeordnet sind oder zugeordnet werden können und die sich zu einer widerspruchsfreien Bedeutung des Grundrechts vereinigen lassen. § 2 Zum Wortsinn Ein allgemeiner Sprachgebrauch, i n dem sich die „,natürliche Rechtserfahrung' jedes einzelnen" niederschlüge 2 , besteht für die Gewissensfreiheit nicht oder allenfalls i m Sinne einer A r t „Urrecht des Protestes". Heute ist die Gewährleistung der „Freiheit des Gewissens" fast ausschließlich ein spezifisch verfassungsrechtlicher Sprachgebrauch; sie besagt dem bloßen Wortsinn nach ebensowenig wie der Terminus ,Gewissen', der zwar etymologisch zu ,Mitwissen' 3 oder ,Bewußtsein' führen mag, aber die heutige Bedeutung des Terminus ,Gewissen4 damit nicht „wahrscheinlich" macht 4 und schon gar nicht zu erklären vermag 5 . Denn der Terminus ist nur versteinertes Erkenntnisgut des Schöpfers des Wortes ,Gewissen4, des Notker von Gallen e, und hat damit nur einen winzigen Ausschnitt aus der geschichtlichen Entwicklung i n das Wort 1 Demgegenüber verneint Ek. Stein (Gewissensfreiheit, S. 21) die Brauchbarkeit der herkömmlichen Auslegungsmethoden. 2 Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 301, unter Hinweis auf Gerhart Husserl , Recht u n d Zeit, S. 72 ff. 3 So Brinkmann, Gewissen, S. 58 f., der damit die zutreffende Bedeutung des mehrdeutigen Wortes »Gewissen' feststellen w i l l u n d die mögliche A b l e i t u n g aus dem ,Bewußtsein' bewußt vernachlässigt (S. 61). Vgl. demgegenüber etwa Stoker, Gewissen, S. 8 ff. 4 So aber Brinkmann, a.a.O., S. 60. Siehe hierzu Fr. Müller, Normstruktur, S. 153: Es sei eine Illusion, durch philologische Auslegungsverfahren W i r k lichkeit u n d N o r m zureichend v e r m i t t e l n zu wollen. 5 So zutr. Stelzenberger, Syneidesis, S. 99. — Stoker , a.a.O., S. 11, bezeichnet derartiges Bemühen als „etymologische Haarspaltereien". 6 Vgl. Brinkmann, a.a.O., S. 58 f. m i t weiteren Nachweisen; Hoffmeister, Philosophische Begriffe, Stichwort „Gewissen" (S. 270). 2*

20

§ 3 Z u r Problemgeschichte

gebannt. Noch stärker ist der Terminus ,Freiheit des Gewissens' der Geschichte verhaftet; ja, man w i r d sagen können, daß er ohne seine geschichtliche Entwicklung gar nicht verstanden werden kann, da sein Inhalt m i t den Zeitläufen gewechselt hat: Die »Freiheit des Gewissens' ist geschichtlich geprägt.,Gewissen 4 und »Gewissensfreiheit' verweisen demnach auf die Geschichte, sind aber ihrem Inhalt nach „keine absoluten geschichtlichen Konstanten" 7 . Beide Terme bezeichnen also nicht eine „Welt", die sich der sprachlichen Gliederung gleichsam von selbst anbietet, sondern sie sind unterscheidende Ausdrücke, die durch Konvention festgelegt sind, sei es aufgrund ausdrücklicher Vereinbarung, wie sie jede wissenschaftliche Untersuchung anstrebt, sei es aufgrund fingierter Konvention, wie sie die Tradition vorfinden läßt. Der Rückgriff auf diese traditionelle Konvention erleichtert den Zugriff auf den gekennzeichneten „Gegenstand" und damit die Zuordnung von »Gewissen' und »Gewissensfreiheit' zu ihrem Gegenstand aufgrund ausdrücklicher Konvention 8 . § 3 Zur Problemgeschichte Es w i r d hier nicht die Problemgeschichte des Gewissensbegriffes oder der Gewissensfreiheit i m einzelnen vorgetragen. Beide Begriffe haben ihre gültigen Darstellungen gefunden, auf die verwiesen sei 1 und bei Bedarf zurückgegriffen wird. Hier w i r d eine andere Perspektive gesucht. 1. Das Problem

Es ist offensichtlich ein „Fundamentalproblem der menschlichen Existenz" 2 und stellt sich dar als der Konflikt zwischen ,Gewissensnorm' und,Gemeinschaftsnorm' 3 . Unter ,Gewissensnorm' werde die Norm verstanden, die sich i m Gewissen des einzelnen nach ihrem Gebots- oder Verbotsinhalt kundtut und 7 Stelzenberger, Gewissen, S. 13. — Die „unvergleichliche Bedeutung der T r a d i t i o n f ü r die Philosophie" betont — wenngleich auf anderer erkenntnistheoretischer Basis — m i t Recht A. Kaufmann, ARSP 46, S. 564. 8 Die Notwendigkeit des geschichtlichen Bezuges betont auch Scholler, DÖV 69, S. 526 f. Allgemein: Hoffmeister, a.a.O., S. V I f. 1 Z u m Gewissensbegriff: Stoker , Gewissen; Stelzenberger, Syneidesis. Z u r Gewissensfreiheit: Scholler, Gewissensfreiheit, S. 13 - 109; Böckenförde, W D S t R L 28, S. 36 ff.; ferner (abrißartig) : Zippelius, B K A r t . 4, Rdnr. 11 ff.; Hamel, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, S. 39 ff.; Listi, Ess. Gespräche 3, S. 36 ff. 2 Marcic, W D S t R L 28, S. 113. 3 Vgl. Marcic, a.a.O., S. 114 f.

2. Die „Problemlosigkeit" der Selbstverständlichkeiten

21

i n der der einzelne subjektiv erfährt, daß er die Bindung an die gesellschaftlichen Kulturmuster, d. h. an die gesellschaftlichen Wert- und die sie ergänzenden Verhaltensmuster, nicht hinnehmen kann. Als Letztinstanz gefährdet das Gewissen den Bestand des Gemeinwesens. ,Gemeinschaftsnorm' sei die Norm der objektiven Ordnung des Gemeinwesens, das ihre Befolgung durch Androhung von Sanktionen erzwingt. Als Letztinstanz bedroht das Gemeinwesen den einzelnen. Dieser Konflikt Gewissensnorm :Gemeinschaftsnorm ist der Problemkern, der i n mannigfachen Gestalten immer wiederkehrt als „Problem der Gewissensfreiheit". 2. Die „Problemlosigkeit" der Selbstverständlichkeiten

I n jedem Kulturkreis gibt es gesellschaftliche Normen, die i n ihrer Geltung nicht bezweifelt, vielfach überhaupt nicht als solche bewußt werden (sogenannte „Selbstverständlichkeiten" 4 ). Das dementsprechende Verhalten des Individuums w i r d als „natürlich" empfunden 5 ; radikal abgeschlossene Gesellschaften müßten die Selbstverständlichkeiten „als i n der Natur des Menschen oder der Welt schlechthin begründet und dam i t als allgemeingültig ansehen" 6 . Wie die Selbstverständlichkeiten einer K u l t u r entstehen, ob durch Institutionalisierung 7 oder/und Verinnerlichung 8 oder auf andere Weise, kann hier dahinstehen. Jedenfalls bestimmen sie die Sicht von Problemen, ja sogar, ob w i r etwas als Problem überhaupt wahrnehmen können, sei es etwa die Existenz und A r t einer „Natur", einer „Faktenaußenwelt", einer eigenen „Fakteninnenwelt", die für uns durch moralische Neutralisierung und Distanznahme „zum selbstverständlichen Apriori geworden" sind, während sie für das archaische Weltbild magisch und moralisch qualifiziert sind 9 ; sei es das Bestehen moralischer Normen 1 0 , wie etwa i n unserem Kulturkreis das „selbstverständliche" Lebensrecht der Großelterngeneration, während einige australische Eingeborenenstämme die Großeltern töten, getragen von der liebevollen Einstellung, den Alten die Leiden des Siechtums zu ersparen 11 .

4 Gehlen, Urmensch, S. 95 ff.; ferner: Hofstätter, Sozialpsychologie, S. 57 ff.; Heintz, Soziologische Theorie, S. 120 u. ö. 5 Gehlen, a.a.O., S. 96,112,117, u. ö.; Heintz, a.a.O., S. 190. 6 Hofstätter, a.a.O., S. 58. 7 Gehlen, a.a.O., S. 96 f. 8 Hofstätter, a.a.O., S. 215 („Lernen"); Heintz, a.a.O., S. 121 („Lernen"). 9 Gehlen, Urmensch, S. 110 ff., 121 ff. (Hervorhebung v o n mir). 10 Gehlen, a.a.O., S. 116 f. 11 Hofstätter, Sozialpsychologie, S. 20 f.

22

§3 Z u r Problemgeschichte

Die unumstößlichen Selbstverständlichkeiten werden tabuiert 1 2 ; Verstöße als „ k r i m i n e l l " oder „krankhaft" gedeutet 13 ; die Berufung auf eine Gewissensnorm wäre unverständlich, wäre „widernatürlich". Ein P r o blem der Gewissensfreiheit' existiert nicht. Das bedeutet aber keineswegs einen unerträglichen Zwang für den einzelnen. Vielmehr w i r d der Freiheitsraum 1 4 des Individuums — i n Wahrheit nur ein kleiner Teil des Verhaltensspektrums einer Gesellschaft — psychisch erweitert, weil Selbstverständlichkeiten nicht als Beschränkungen der eigenen Freiheit empfunden werden 1 5 . 3. Die erschütterten Selbstverständlichkeiten

Selbstverständlichkeiten werden vor allem dann infrage gestellt, wenn unterschiedliche Kulturen konfrontiert werden („Kulturkonflikt" 1 6 ). A b weichende Verhaltensweisen werden aus dem „Gewissen" gerechtfertigt, wobei zunächst dahinstehen mag, was hierunter zu verstehen ist. Der Konflikt Gewissensnorm :Kollektivnorm und damit das ,Problem der Gewissensfreiheit' werden nunmehr sichtbar. So trägt der Umbruch der attischen Welt seinen Zwiespalt bis i n die Seele des Sokrates, der einerseits die staatlichen Gesetze bricht und sich dafür auf die „Stimme" beruft, die er seit seiner Kindheit gehört habe und „welche jedesmal, wenn sie sich hören läßt, m i r von etwas abredet, was ich t u n w i l l " 1 7 , der sich jedoch andererseits dem Todesurteil unterwirft. — Der Selbstverständlichkeit des römischen Kaiserkultes als Treuebekenntnis zum römischen Staat verweigern sich die Christen und sind damit als „Hochverräter" 12 Z u m Verhältnis v o n Tabu u n d unbezweifelten Ge- oder Verboten vgl. Freud I X , S. 30 ff. 13 Hofstätter, a.a.O., S. 60, 62. 14 Diese räumlich-gegenständliche Ausdrucksweise w i r d bewußt beibehalten (kritisch etwa E. von Hippel, Grenzen, S. 14 f., 19). Abgesehen davon, daß sie sich i n einer Wissenschaftssprache, die auf der Umgangssprache aufbaut, nicht vermeiden läßt (so m i t Recht Fr. Müller, Positivität, S. 23, insbes. Fn. 47), ist sie n u r dort verfehlt, w o sie gerade eine Rechtsnorm als „raumkörperhaftes Gebilde" konstituieren soll. I m übrigen vermag sie, i n Bezug auf die Realität u n d bestimmte Raum-Zeit-Personen-Netze, wesentlich zu verdeutlichen. Es sei daran erinnert, daß selbst die Mathematik durch graphische Darstellungen, Mengenbilder, Diagramme u n d ähnliche „verräumlichende" H i l f s m i t t e l oft bedeutsame Impulse empfangen hat. — Z u r angeborenen „Raumintelligenz", die uns ein räumliches Denken auch gegen unseren W i l l e n auf zwingt, vgl. Eibl-Eibesfeldt, Verhaltensforschung, S. 535 (m. w . N.). 15 Hofstätter, Sozialpsychologie, S. 62 f.; Heintz, Soziologische Theorie, S. 121. 16 Heintz, a.a.O. 17 Piaton, Des Sokrates Verteidigung, 31 Β - 32 Α. Allerdings ist die Stelle nicht ganz eindeutig f ü r die Konfrontation Gewissensnorm : Gesellschaftsn o r m interpretierbar; denn Piaton läßt hier Sokrates n u r v o n den „Staatsgeschäften" sprechen. Noch dunkler Xenophon, Memorabilien 11, 1 - 9 (S. 47 f.) u n d I 3, 3 - 6 (S. 65). Die Undeutlichkeit mag daher rühren, daß das Gewissensproblem zu jener Zeit erst erahnt u n d noch nicht seinen Namen gefunden hatte. — Z u m „Daimonion" des Sokrates: Stadter, Gewissen, S. 12,17 f.

3. Die erschütterten Selbstverständlichkeiten

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gebrandmarkt. Der Zusammenstoß überlieferter Gottesverehrung mit einem neuen Gottesglauben w i r d erst durch das Mailänder Toleranzedikt von 313 beendet. — Christliche Selbstverständlichkeiten werden erstmals durch die Konfrontation m i t der arabischen K u l t u r i n den Kreuzzügen erschüttert und scheinen feinfühlig von Petrus Abaelardus (1079 - 1142) empfunden zu sein, dessen Verweis auf den objektiven Maßstab des Gewissens 18 scheinbar einen Ausweg wies. Von nun an zerbrechen mehr und mehr Selbstverständlichkeiten des christlichen Abendlandes: autoritative, wissenschaftliche und zuletzt religiöse Wahrheiten. Der Einbruch neuer Welten, der die abendländischen Evidenzen infrage stellt, gipfelt i n Luthers Worten auf dem Reichstag zu Worms: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!" 19 . Sie offenbaren den objektiv empfundenen Zwang, den der Konformitätsdruck der alten Evidenzen noch hervorzurufen vermochte, und verweisen auf ein letztes Element subjektiver Gewißheit: das Gewissen 20 . I n dem Maße, i n dem sich Luther durchsetzte, kam es zum Durchbruch der Gewissensfreiheit, mochte sich Luther auch später nicht mehr darauf berufen und eine solche Berufung auch nicht allgemein zulassen 21 . Werden Selbstverständlichkeiten erschüttert und gäbe es hierfür keine Lösungsmöglichkeiten, so würde die Mehrzahl der Individuen hochgradig verunsichert 22 . Wie jedoch schon i n den Beispielen angedeutet, gibt es hierfür verschiedene Lösungen: Diskriminierung und verschärfte Tabuisierung 2 3 ; Herstellung eines positiven Gruppenbewußtseins durch ausdrückliche Konsensbildung über die kulturellen Selbstverständlichkeiten 2 4 ; Angebot von Alternativen 2 5 ; entpersönlichte Institutionalisierung 18 Seine These „peccatum non est nisi contra conscientiam" wurde dann auch v o n der Synode zu Sens (1140) verurteilt. Vgl. hierzu: Stelzenberger, Syneidesis, S. 101 - 103; Podlech, Gewissensfreiheit, S. 25 f., insbes. Fn. 2. 19 Dazu, daß diese Worte lediglich sinngemäß das von Luther Gesagte t r e f fen dürften: Schär, Gewissen, S. 119 f. 20 W o h l a. M. Witte, DVB1. 62, S. 893. 21 Vgl. Schär, a.a.O.; Scholler, Gewissen, S. 16, 11; Iserloh, Ess. Gespräche 3, S. 17 f. 22 Hofstätter, Sozialpsychologie, S. 181. Vgl. auch Gehlen, Urmensch, S. 60; Oldendorff, Sozialpsychologie, S. 123, 221. Dem entsprechen auch Feststellungen amerikanischer Psychotherapeuten: Während früher unter den seelischen K r a n k h e i t e n infolge des Konformitätsdrucks der Gesellschaft („social control") gewissensbedingte Krankheitsbilder w e i t überwogen, treten heute Desorientierungserscheinungen infolge Normlosigkeit, d . h . anomische Erkrankungen m i t Unsicherheit, Angst u n d Unbehagen i m m e r stärker i n den Vordergrund. Dies übersieht z. B. Plack, Gesellschaft, passim. — Auch Matussek, St. d. Z. 177, S. 431, konstatiert — jedoch aus anderen Gründen (ebd. S. 428 f.: „mittels eines understatements"!) — das „Phänomen einer zunehmenden Gewissensstille". 23 Heintz, Soziologische Theorie, S. 121 f. Vgl. auch Hofstätter, Sozialpsychologie, S. 60. 24 Heintz, a.a.O., S. 122. 25 Heintz, a.a.O., S. 159, 190; Luhmann, AöR 90, 273 f. Zusti.: Podlech, Gewissensfreiheit, S. 32.

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§ 3 Z u r Problemgeschichte

durch Ausklammerung des Subjektes 26 ; Aufstellung objektiver Maßstäbe; rechtliche Regelung. Grundsätzlich werden die einzelnen Lösungen nicht isoliert, sondern nebeneinander verwirklicht, und die rechtliche Regelung steht meist i m Dienst der anderen, etwa bei der Konsensbildung als Verfassungsgebung, bei der rechtlichen Bereitstellung von A l ternativen oder durch rechtliche Institutionalisierung. Schon von daher ergibt sich also i m Bereich erschütterter Selbstverständlichkeiten eine reiche Palette rechtlicher Variationsmöglichkeiten, von denen sich allenfalls gewisse „Grundtönungen" auffinden lassen 27 . Diskriminierung, verschärfte Tabuierung und eine Konsensbildung, die i n einmaliger Festlegung ohne Korrekturmöglichkeiten erstarrt, können nur dort die Problematik bezweifelter Evidenzen relativ dauerhaft lösen, wo die Gesellschaft sich nach außen abschließen kann oder wo es sich u m einfache Gesellschaften handelt, die die allgemeine Tendenz aufweisen, den Lebenslauf jedes einzelnen Mitgliedes von der Geburt bis zum Tode festzulegen, ohne i h m einen nennenswerten Spielraum für freie Entscheidungen zu belassen 28 . Demgegenüber ist die moderne, komplexe Gesellschaft 29 , die sich als offene Gesellschaft darstellt und sich, wie die demokratische Gesellschaft, auch als solche versteht, auf die übrigen Möglichkeiten verwiesen, wenn relativ dauerhafte Lösungen erzielt werden sollen. Hier seien für den Widerstreit Gewissensnorm:Gemeinschaftsnorm nur das Auffinden objektiver Maßstäbe und die rechtliche Regelung herangezogen. Denn einmal hat die Suche nach objektiven Maßstäben die rechtliche Untersuchung bis zur Stunde tiefgreifend beeinflußt; zum anderen haben flexible Konsensbildung, Alternativenangebot und Institutionalisierung für die Rechtswissenschaft nur über die rechtliche Regelung unmittelbare Bedeutung; ferner sind objektive Maßstäbe und Rechtsregelung für das ,Problem der Gewissensfreiheit' entscheidend geworden, während die anderen Möglichkeiten auch über die Ebene außerrechtlicher Ordnungsgefüge zugunsten einer „Gewissensfreistellung" gew i r k t haben. 4. Objektive Maßstäbe und das »Problem der Gewissensfreiheit'

Wurden Evidenzen bezweifelt und damit das ,Problem der Gewissensfreiheit', d. h. der Konflikt Gewissensnorm:Gemeinschaftsnorm, sicht26 Gehlen, Urmensch, S. 96 ff.; Luhmann, a.a.O., S. 275 f. Zusti.: PodlecK a.a.O., S. 32. 27 Einen solchen Versuch u n t e r n i m m t neuerdings Herzog, Formen staatlicher Gesetzgebung, S. 146 ff. 28 Heintz, a.a.O., S. 190. D a h i n zielt w o h l auch Fechners Hinweis (Soziologische Grenze, S. 5) auf das „Phänomen der unaufgespaltenen Einheit von Einzelwesen u n d Gruppe während der frühen Stufen menschlichen Daseins". 29 Z u diesem Begriff: Heintz, a.a.O., S. 187 ff.

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e u n d s „Problem der Gewissensfreiheit"

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b a r , so w u r d e i m L a u f e der geschichtlichen E n t w i c k l u n g zahllose M a l e d u r c h T h e o l o g i e u n d P h i l o s o p h i e versucht, o b j e k t i v e M a ß s t ä b e als K r i t e r i u m der R i c h t i g k e i t e i n e r Gewissens- oder Gesellschaftsnorm a u f z u stellen, u m die j e w e i l i g e N o r m daraus z u r e c h t f e r t i g e n , als a l l e i n r e c h t m ä ß i g a b z u l e i t e n u n d d e r r e c h t l i c h e n S a n k t i o n d e n Z u g r i f f z u eröffnen. R a n g o r d n u n g e n ansich-seiender „ o b j e k t i v e r W e r t e " i n e i n e r i d e a l e n S p h ä r e des Seins w e r d e n a u f g r u n d des „ W e r t f ü h l e n s " geschaffen 3 0 . E i n absolutes, zeitlos g ü l t i g e s „ N a t u r r e c h t " schien S i c h e r h e i t z u b i e t e n 3 1 , ohne daß die G e f a h r v e r a b s o l u t i e r t e r S e l b s t v e r s t ä n d l i c h k e i t e n e r k a n n t w o r d e n w ä r e . D e r G e d a n k e eines „ N a t u r r e c h t s m i t w e c h s e l n d e m I n h a l t " 3 2 e r w e i s t sich als W i d e r s p r u c h , w e n n d e r o b j e k t i v e M a ß s t a b als e i n D r i t t e s zwischen G e w i s s e n s n o r m u n d K o l l e k t i v n o r m s t a t u i e r t u n d die O b j e k t i v i t ä t m e h r als I n t e r s u b j e k t i v i t ä t 3 3 sein s o l l ; d e n n der Wechsel des Inhalts w ü r d e dann unverständlich. M i t u n t e r w e r d e n die „ o b j e k t i v e n " Maßstäbe d o r t v e r a n k e r t , w o sie R i c h t i g k e i t der N o r m e n erst e r w e i s e n s o l l t e n : i m G e w i s s e n 3 4 oder i n der 80 Vgl. Scheler, Formalismus, S. 88 ff., 125 ff. u. ö.; Nie. Hartmann, E t h i k , S. 58 f., 117 ff., 250 ff. Zusti.: A. Kaufmann, ARSP 46, S. 554. Dagegen m i t Recht: Podlech, AöR 95, S. 204 ff.; Leisner, Grenzen, S. 1181 ff., 1190. Z u Scheler vgl. auch Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 30 ff. 31 Vgl. hierzu Henkel, Rechtsphilosophie, S. 393 ff. (m. w. N.). A b i . u. a.: Welzel, V o m irrenden Gewissen, S. 18, 26; A. Kaufmann, Gesetz u n d Recht, S. 363, 383; ders., Geschichtlichkeit des Rechts, S. 259 (wohl auch ders., ARSP 46, S. 568, wo er jedoch das Naturrechtsproblem interpretiert als die v o n i h m bejahte „Idee des wahren ansichseienden Rechts".); P. Schneider, Naturrecht, S. 442, sowie die Nachweise bei Henkel, a.a.O., S. 409, Fn. 2. Böckle, Gesetz u n d Gewissen, S. 33 Fn., definiert das Naturrecht als „die jeder positiven Gesetzgebung vorausliegende Rechtsordnung, die integrierender T e i l der natürlich-sittlichen Ordnung ist, v o n der sie auch ihre absolut verpflichtende K r a f t hat". Das Naturrecht ist danach ein bloßer „Sektor des Sittengesetzes". 32 Vgl. hierzu (kritisch) Henkel, a.a.O., S. 409 ff. 33 I n eine ähnliche Richtung zielt w o h l A. Kaufmanns Bemerkung (Geschichtlichkeit des Rechts, S. 272f.): Eine objektive Richtigkeit des Rechts außerhalb des methodischen Rechtsfindungsverfahrens könne es nicht geben. Deutlich anders allerdings ders., A R S P 46, S. 560, w o er bloße Intersubjektivität ablehnt u n d die Ob j e k t i v i t ä t der Erkenntnis als ein M e h r u n d als etwas anderes kennzeichnet, zur O b j e k t i v i t ä t freilich betont, daß w i r niemals „ i n den Besitz des vollkommenen Rechts gelangen können" (ebd. S. 558). Vgl. auch Piaget , Das moralische Urteil, S. 391, f ü r eine methodische „ M o r a l " , d. h. die M o r a l besteht nicht i n etwas inhaltlich Hingenommenen, sondern i n der gemeinsamen Methode, die n u r zu „provisorisch angenommenen W a h r heiten" f ü h r t u n d diese auch wieder i n Frage stellen kann. Matussek, St. d. Z. 177, S. 426, bezeichnet „alle Glaubenswahrheiten" als „letztlich personale Wahrheiten . . . , die ohne Liebe »unbeweisbar* bleiben". Allgemein abl. zu solcher „Ideologie der Ideologielosigkeit" : Rauscher, Wissen u n d Gewissen, S. 50 ff. 34 Stoker , Gewissen, S. 104; Neuhäusler, Gewissen, S. 31. Vgl. auch Nie. Hartmann, Ethik, S. 134, nach dem das Gewissen i m Grunde eben das „primäre,

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§3 Z u r Problemgeschichte

Gesellschaft b z w . e i n e m i h r e r U n t e r s y s t e m e , das m i t L e h r a m t s f u n k t i o n e n ausgestattet w u r d e (Staat, K i r c h e , Wissenschaft u. a.). V o r a l l e m das Gewissen w u r d e — u m als o b j e k t i v e r M a ß s t a b g e l t e n zu k ö n n e n — als „ S t i m m e G o t t e s " 3 5 gedeutet, als E r k e n n t n i s o r g a n 8 6 f ü r das „ S i t t e n g e s e t z " 3 7 oder a l l g e m e i n f ü r eine „ o b j e k t i v e S o l l e n s o r d n u n g " 3 8 oder f ü r die „ o b j e k t i v e n W e r t e " 3 9 . Rasch e r k a n n t w u r d e die G e f a h r dieser D e u t u n g , i h r e gesellschaftssprengende W i r k u n g i m Topos des „ i r r e n d e n G e w i s sens" aufgefangen, w o d u r c h m a n w i e d e r a u f die A u s g a n g s f r a g e z u r ü c k g e w o r f e n w a r . D e r A p p e l l , die S p a n n u n g zwischen a u t o n o m e r G e w i s s e n s f o r d e r u n g u n d k o l l e k t i v e m M a c h t a n s p r u c h d u r c h eine „ f u n d i e r t e T h e o r i e v o m , e x i s t e n t i e l l e n 4 N a t u r r e c h t " z u v e r r i n g e r n 4 0 , erscheint u n f r u c h t b a r , da eine enge K o o r d i n i e r u n g d e r G e w i s s e n s i n h a l t e u n d der O r d n u n g des Rechtsgesetzes z w a r w ü n s c h e n s w e r t sein m a g 4 1 , aber der P l u r a l i s m u s die K o n v e r g e n z e n auflösen w i r d u n d die „ O b j e k t i v i t ä t " des vorgeschlagenen Maßstabes erst z u e r w e i s e n w ä r e ; eine zwangsweise I n t e r n a l i s i e r u n g dieses Maßstabes als S e l b s t v e r s t ä n d l i c h k e i t b l i e b e m ö g -

einem jedem i m Gefühl liegende Wertbewußtsein" sei; ebd., S. 135: Das Gewissen als „ U r f o r m des Wertgefühls". Demgegenüber m i t Schärfe: Dantine, F u n k t i o n des Gewissens, S. 57: Die Einschätzung des Gewissens als eine A r t Offenbarungsquelle f ü r Wahrheit sei als „glatter I r r t u m " zu bezeichnen. 35 So z.B. 2 Rom 15; Rudin, Gewissen, S. 149f.; G. Küchenhoff, Staat und Gewissen, S. 92; Gründel, Gewissen, S. 44; w o h l auch Hollenbach, St. d. Z. 162, S. 371; ders., St. d. Z. 164, S. 53 u. ö.; Becker, St. d. Z. 175, S. 232; Böckle, Gesetz u n d Gewissen, S. 52, 57; Hauser, St. d. Z. 178, S. 323. Vgl. ferner zum Gewissen als „ S t i m m e Gottes": Stelzenberger, Gewissen, S. 60; Spranger, Logos 22, S. 187 ff. Ablehnend zum Gewissen als „Stimme Gottes": Stoker, Gewissen, S. 165 f.; Scheler, Formalismus, S. 336 f.; Jaspers, Philosophie I I , S. 272 ff.; Dantine, a.a.O., S. 56 f.; Stadter, Gewissen, S. 84 („unverzeihliche Naivität"). Differenzierend: v. Schlabrendorff, Friedensgebot, S. 417. 36 Dahin scheint auch Stadter, Gewissen, S. 15, 38, zu neigen, jedoch stark einschränkend (S. 84 f.). 37 Hamel, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, S. 49, 50 f. u. ö.; ders., AöR 89, S. 324, 326, 330; Auer, Gewissen, S. 39; Kohl, Gewissen, S. 144; w o h l auch Heinen, Gewissen, S. 125, 202, auch S. 200 f. I n der Regel bleibt der Begriff des Sittengesetzes unbestimmt. Böckle, Gesetz u n d Gewissen, S. 33 Fn., dürfte darunter verstehen die „Summe derjenigen sittlichen Normen, die der Mensch aus der N a t u r der Dinge k r a f t seiner natürlichen Vernunft als sittlich erkennen kann". 38 Welzel, Gesetz u n d Gewissen, S. 392, 397; Geiger, Nonkonformismus, S. 59; ders., Gebot, S. 23 f.; A. Arndt, N J W 66, S. 2205; w o h l auch Hauser, St. d. Z. 178, S. 325 et passim. 89 Nie. Hartmann (s. Fn. 34); w o h l auch Scholler, Gewissensfreiheit, S. 132 (Organ f ü r die Wertfülle des Lebens). 40 Würtenberger, Gewissen, S. 355; vgl. auch Welzel, V o m irrenden Gewissen, S. 15 f.; ders., Gesetz u n d Gewissen, S. 398 ff. 41 Würtenberger, a.a.O., S. 353 f. Demgegenüber sieht Scholler, DÖV 69, S. 532, die Möglichkeit n u r geringer Konvergenz.

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e u n d s „Problem der Gewissensfreiheit"

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lieh, würde jedoch das ,Problem der Gewissensfreiheit' allenfalls auf Teilgebieten lösen können, und nicht auf Dauer. Es w i r d versucht, die „gegenseitige Verspannung" von je eigenständigem materialen Freiheitswert und materialen Gemeinschafts- und Ordnungswert als Wertgerüst aufzubauen, innerhalb dessen der eine oder der andere Grundwert jedenfalls m i t einem M i n i m u m gewahrt sein müsse, u m von einer Rechtsordnung sprechen zu können 4 2 . Abgesehen davon, daß die Grundwerte ungeklärt als „objektive Werte" eingeführt werden, w i r d man heute i n der Tat Freiheit und Ordnung als Funktionsbedingungen jeder Gruppe ansehen können: die Ordnung ist Merkmal der Gruppe; die Unordnung ist keine urständige Zuständlichkeit; eine Ansammlung von Menschen ist keine Gruppe 4 3 . Aber auch die Freiheit des Individuums ist „kardinale Funktionsbedingung der Gruppe" 4 4 , mag sie auch i n manchen Gruppen (etwa i n kollektivistischen oder primitiven Ordnungen) stark reduziert sein; auf die Freiheit selbst zu verzichten vermag keine Gruppe. Berücksichtigt man dies für das angeführte Wertgerüst, so hat jede Gruppe eine Rechtsordnung. Das Fehlen einer der beiden Bedingungen markiert dann nicht die Grenze zwischen Rechtsordnung und Unrechtsordnung, sondern bedeutet das Ende der Gruppe. Demgemäß erweist sich das „Wertgerüst" als ein lediglich formales Zuordnungsschema; es bedarf der Einführung des (historisch-ideologischen!) „Verfassungsstandards" der Rechtsstaatlichkeit 45 , u m zu aussagekräftigem „Naturrecht" zu gelangen. Gelänge es, objektive Maßstäbe zu finden, so könnte die Frage nach dem Vorrang der Gewissensnorm oder der Kollektivnorm nicht mehr sinnvoll gestellt werden; es verbliebe nur mehr die individuelle und kollektive Anerkennung der objektiven Wahrheit und die Regulierung abweichenden Verhaltens als kriminell oder krankhaft; ein ,Problem der Gewissensfreiheit' existierte nicht. Doch ist der Aufweis objektiver K r i terien bisher gescheitert 46 . Unter dem Eindruck des überreichen Materials 42

P. Schneider, Naturrecht, S. 442 ff., 450. Hofstätter, Gruppendynamik, S. 16 f. 44 Hofstätter, a.a.O., S. 160, auch S. 171. 45 P. Schneider, a.a.O., S. 450 f. 46 Ebenso Krawietz, Recht u n d Funktion, S. 105 f.; Podlech, Gewissensfreiheit, S. 26, 31; Böckenförde, W D S t R L 28, S. 69 f.; Paul, Gewissen, S. 30; Ek. Stein, Gewissen, S. 43, auch S. 32. Vgl. auch Nie. Hartmann, E t h i k , S. 45, 290; Kaufmann-Bühler, Kriegsdienstverweigerung, S. 40 f.; Esser, Werte, S. 8 ff., 20 ff. (zum Wertewandel). — Aus v ö l l i g anderer Sicht k a n n es auch f ü r Helmut Thielicke „niemals ein konstantes, f ü r ,alle' verbindliches Naturrecht geben", ebensowenig „Schöpfungsordnungen..., an denen man Maß zu nehmen v e r möchte" (vgl. die Nachweise bei Böckle, Gesetz u n d Gewissen, S. 44 f.). Α. Α.: K i p p , Kriegsdienstverweigerung, S. 83 ff.; v. Mangoldt-Klein, Art. 4 A n m . V I 12; Geißler, Kriegsdienstverweigerung, S. 77 ff.; Hamel, Glaubensu n d Gewissensfreiheit, S. 50; ders., AöR 89, S. 328; Welzel, Gesetz u n d Gewis43

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§ 3 Z u r Problemgeschichte

der Kulturanthropologie, die die relative Geltung angeblich absoluter Maßstäbe 47 und nur für das Inzesttabu fast allgemeine Geltung 4 8 nachgewiesen hat, w i r d heute i m Bereich der Rechtswissenschaft die Geltung eines absoluten Naturrechts überwiegend verneint 4 9 . Fehlt es aber an einem objektiven Maßstab als K r i t e r i u m der Richtigkeit, so darf auch von einem irrenden Gewissen 50 nicht mehr gesprochen werden 5 1 : Der

sen, S. 392; Geiger, Nonkonformismus, S. 57 ff.; ders., Gebot, S. 13 ff.; Peters, Überzeugungstäter, S. 269 ff.; ders., JZ 72, S. 85; w o h l auch OVG Koblenz, N J W 71, S. 1100.— Listi , Religionsfreiheit, S. 75, definiert »Gewissen' i. S. d. A r t . 4 I als „das Bewußtsein von der Existenz eines . . . Sittengesetzes u n d dessen verpflichtender K r a f t " . Wer n u r ein solch geartetes Bewußtsein, also i. S. eines ganz bestimmten Inhalts, gelten läßt, ohne auch das Gegenteil zuzulassen, setzt i m p l i z i t diese Existenz eines Sittengesetzes voraus. — Da objektive Maßstäbe nicht nachgewiesen sind u n d das „Phänomen des Betroffenseins'" sich durch psychische Strukturen u n d Prozesse hinreichend erklären läßt (vgl. hierzu unter § 7, 2.3.), k a n n auch A. Kaufmanns erste These „zur Ü b e r w i n d u n g des rechtsphilosophischen Relativismus" (ARSP 46, S. 553 f.). — das dem Gesetz vorausliegende Recht sei objektiv gegeben, sei seinshaft — nicht akzeptiert werden. M i t Recht verweist Matussek, St.d.Z. 177, S. 420, auf „die perspektivistische Veränderung der Werte durch soziologische u n d psychologische Konstellationen des Menschen" sowie darauf, daß die einzelnen ihre eigene „Wertskala f ü r die allgemein gültige halten, ohne sich der Subjektivität ihrer Erfahrungen u n d ihrer W e r t u n g e n . . . bewußt zu sein" (ebd. S. 419) ; Matussek anerkennt aber einen „absoluten K e r n der M o r a l " (ebd. S. 430, s. auch S. 429). 47 Zippelius, Wertungsprobleme, S. 124 ff., auch S. 160 ff.; Stelzenberger, Syneidesis, S. 170, 177; Esser, Werte, S. 12. Beispiele finden sich etwa bei Hofstätter, Sozialpsychologie, S. 19 ff., 60 f., 93 ff. u. ö; Plack, Gesellschaft, passim (der — S. 65 — das Sittengesetz bzw. die ewige Wertordnung als Objektivierung der herrschenden Ordnung auffaßt). Α. Α.: Hamel, AöR 89, S. 328, 330 f. Auch nach A. Kaufmann, ARSP 46, S. 568 gibt es ein „allgemeines Rechtsbewußtsein der Menschheit". Vgl. auch F n 46. 48 Gehlen, P r i m i t i v e Gesellschaften, S. 17; Heintz, Soziologische Theorie, S. 209; Schoeck, Soziol. Wörterbuch, Stichwort „Inzestverbot". 49 Vgl. F n 31. 50 Z u r Problematik: Welzel, V o m irrenden Gewissen. Die folgende Unterscheidung beruht (vorläufig!) auf Stelzenbergers (Syneidesis, S. 28 ff.; ders., Gewissen, S. 13, 21 ff., 33 ff.) Trennung zwischen dem Gewissen als sittlichen Wertgefühl u n d dem „funktionellen Gewissen" ; v ö l l i g ausgeschieden w i r d das Gewissen als Sammelwert f ü r innere Vorgänge (a.a.O., S. 23 ff. bzw. S. 14 ff.). Auch Hoffmeister (Philosophische Begriffe, Stichwort „Gewissen") unterscheidet die Inhalte des Gewissens v o m Gewissen als Gewissensfall. 51 I m Ergebnis ebenso: BVerfGE 12, 45.56; w o h l auch B V e r w G E 23, 98.99. Ferner: A. Arndt, N J W 57, S. 362; ders. N J W 68, S. 979; Geißler, Kriegsdienstverweigerung, S. 46 ff.; Heinemann, N J W 61, S. 355; Geiger, Gewissensfreiheit, S. 23 (jedoch n u r f ü r die A n w e n d u n g des A r t . 4 I : Es werde hier eine Frage gestellt, die gerade wegen A r t . 4 I nicht stellbar sei. Ebenso ders., Nonkonformismus, S. 71 f.; Scheuner, DÖV 61, S. 205); Zippelius, B K , A r t . 4 Rdnr. 100; Pod lech, Gewissensfreiheit, S. 27, F n 9, S. 31; Böckenförde, W D S t R L 28, S. 69 f.; Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 38 Fn. 85; Leibholz-Rinck, GG A r t . 4 Rdnr. 8; Kühne, Vorgänge 72, S. 115. — Zweifelnd zum „ i r r i g e n Gewissen": v. Burski, Zeugen Jehovas, S. 70 F n 3.

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Terminus kann einmal die Gewissensnorm nach ihrem Inhalt meinen („Gewissensinhalt"); der fehlende Aufweis objektiver Kriterien aber macht das Problem eines irrigen Inhalts unentscheidbar 52 ; schon die Behauptung, ein I r r t u m des Gewissens sei möglich 5 3 , jedoch nicht nachprüfbar 5 4 , setzt den objektiven Maßstab gedanklich voraus. Meint der Terminus ,irrendes Gewissen' jedoch den (psychischen) Funktionsablauf i n der konkreten Situation, so ist er verfehlt, da es hierzu nur überhaupt einer (auch rein subjektiven) Gewissensnorm bedarf. Ist eine solche Norm vorhanden, so läuft der Naturvorgang ab; ein I r r t u m ist nicht möglich 55 . Kommt es zu keinem Funktionsablauf, so fehlt es an einer Gewissensnorm. U m eine gemeinsame Basis für die Ausklammerung objektiver Maßstäbe aus den folgenden Untersuchungen zu finden, soll — demonstriert am „(absoluten, zeitlos gültigen) Naturrecht" — folgender rechtswissenschaftlicher Sprachgebrauch vereinbart werden 5 6 : Der Ausdruck „das Naturrecht" soll zwar genau einen Gegenstand benennen, ist jedoch kein Eigenname, da er einmal eine Wörtergruppe ist, i n der dem bestimmten A r t i k e l ,das' der Prädikator ,Naturrecht' folgt, und w e i l zum anderen nicht von vornherein feststeht, ob diese Wortgruppe einen Gegenstand „wirklich" benennt oder nur „fingiert". Der Ausdruck ,das Naturrecht' ist damit eine Kennzeichnung. Mag eine Fiktion zur Formulierung einer Differenzierend: Stoker , Gewissen, S. 74, 256 ff. (S. 260: N u r i m Erlebnis des Personal-Bösen „ i r r t das Gewissen nie".). Z u gegenteiligen Ansichten vgl. die folgenden Nachweise! Z u m ablehnenden Ergebnis k o m m t auch grundsätzlich, w e r die Existenz irgendwie gearteter obj e k t i v e r K r i t e r i e n anerkennt. 52 Vgl. zur korrekten Fragestellung: Podlech, a.a.O., S. 27 F n 9. 53 Stoker , Gewissen, S. 260 ff.; Spranger, Logos 22, S. 176, 197; Welzel, V o m irrenden Gewissen; ders., Gesetz u n d Gewissen, S. 393 ff.; K i p p , Kriegsdienstverweigerung, S. 97 (jedoch ohne negative Konsequenz f ü r A r t . 4 I I I ; ebenso ν . Mangoldt-Klein, A r t . 4 A n m . V I 12); Geiger, Gebot, S. 2&ff. (nur f ü r die rechtsphilosophisch-naturrechtliche Betrachtung! Ä h n l i c h Erw. Stein, Werte, S. 73f., 42f.); Stelzenberger, Syneidesis, S. 155ff.; ders., Gewissen, S. 50ff.; K . Peters, Überzeugungstäter, S. 278 Fn. 69; ders., J Z 66, S. 458; Engelmayer, Gewissen, S. 142; O V G Koblenz, N J W 71, S. 1100 m i t zusti. A n m . von Berg, N J W 71, S. 1907. Auch die strafrechtliche Formel von der „Anspannung des Gewissens" (BGHSt 2, 194) k a n n n u r unter dem Aspekt sittlicher Werterkenntnis gesehen werden (so richtig B G H S t 4, 1) u n d gehört deshalb hierher. K r i t i s c h zur „Gewissensanspannung" auch Mattil, ZStW 74, S. 201 ff., der auch i h r Verständnis i. S. v. „sittlichen Wertvorstellungen" als „nicht allgemein praktikabel" zurückweist (ebd. S. 216). 54 Spranger, Logos 22, S. 197; K . Peters, Überzeugungstäter, S. 278 F n 69. 55 Stelzenberger, a.a.O.; Engelmayer, a.a.O. 56 Die folgende Argumentation lehnt sich an Kamlah-Lorenzen an (Logische Propädeutik, S. 103 ff.). Soweit ersichtlich, stellt die Deontik bisher keine andere Argumentationsbasis zur Verfügung. I n w i e w e i t sich die folgende Konvent i o n f ü r die Rechtswissenschaft weiter ausdehnen läßt, k a n n hier nicht untersucht werden.

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§3 Z u r Problemgeschichte

Hypothese wissenschaftlich unentbehrlich sein, so kann dennoch die „Existenz" (Geltung) eines Gegenstandes ,Naturrecht' vorgetäuscht werden (Pseudokennzeichnung). Die Kennzeichnung ,das Naturrecht' setzt also eine Existenz(Geltungs-)aussage des Inhaltes voraus: „Es gibt dieses und nur dieses Naturrecht." Erst wenn die Wahrheit dieser Existenzaussage nachgewiesen ist, ist die Bedingung dafür erfüllt, daß die Kennzeichnung nicht nur fingiert ist. Wer die Kennzeichnung ,das Naturrecht' gebraucht, ist daher i n rechtswissenschaftlicher Rede verpflichtet nachzuweisen, daß es Gegenstände ,Naturrecht 4 gibt und daß es genau nur ein ,Naturrecht' gibt und nicht mehrere Naturrechtsordnungen. Die angeblichen Naturrechtssätze („das Gute tun, das Böse lassen", „jedem das Seine", „neminem laedere" usw. 57 ) weisen nur für ganz bestimmte geschichtliche Konstellationen einen Informationsgehalt auf, der sich intersubjektiv nachweisen läßt. M i t übergreifenden Geschichtsräumen w i r d der Informationsgehalt geringer; er w i r d völlig bedeutungsleer, wenn sich der Naturrechtssatz aus der geschichtlichen Situation löst; es verbleiben bloße Aussageformen, aber keine Aussagen mehr, oder besser: bloße Rechtssatzformeln, doch keine Rechtsnormen mehr. Absolutes, zeitlos gültiges Naturrecht kann daher nicht als nachgewiesen gelten. Vielmehr ist ,das Naturrecht' der jeweiligen geschichtlichen Situation verhaftet m i t ihrer „herrschenden Rechtsmoral", ihren „ i n der Rechtsgemeinschaft herrschenden Wertanschauungen" 58 . Damit kann auch nicht mehr nachgewiesen werden, daß es genau ein Naturrecht gibt; eine Aussage darüber ist keineswegs sinnlos, doch läßt sich ihre Wahrheit oder Falschheit rechts wissenschaftlich nicht entscheiden 59 . Sätze m i t der Pseudokennzeichnung ,das Naturrecht' können deshalb i n einen rechtswissenschaftlichen Zusammenhang nur bedingt eingeführt werden 6 0 . Denn es fließen damit bestimmte Wertungen i n die Argumentation ein, die es gerade zu überprüfen gilt. Das gilt auch für den Ausdruck ,Naturrecht m i t wechselnden Inhalten', der nicht einmal eine Kennzeichnung, sondern einen (verdeckten) Prädikator darstellt; denn der Ausdruck ,das (dieses) Naturrecht m i t wechselnden Inhalten' ist ein W i derspruch i n sich. Unzulässig ist es auch, der „positiven" Seite des Rechts 57 Z u weiteren allgemeinen Prinzipien des Naturrechts: G. Küchenhoff, Staat u n d Gewissen, S. 75 f. 58 Vgl. dazu Zippelius, Wertungsprobleme, S. 131, 134. — A b i . jedoch: A. Kaufmann, A R S P 46, S. 560. I n diesem Zusammenhang ist es gleichgültig, worauf das „Herrschen" einer bestimmten Rechtsauffassung beruht: auf richterlicher Setzung (so Esser, Werte, S. 14 ff., 23, 27, 38 ff.) oder auf anderen Gründen. 59 Kamlah-Lorenzen, a.a.O., S. 141. 60 Z u m T e i l abweichend: Kamlah-Lorenzen, a.a.O. (für die allgemeinwissenschaftliche Analyse). Vgl. auch Henkel, Rechtsphilosophie, S. 415 f., der v o r schlägt, sich „ v o n der herkömmlichen Bezeichnung ,Naturrecht' zu lösen" (Hervorhebung i m Original).

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eine „transzendente" zuzuordnen, die beide gemeinsam eine „Sinneinheit" konstituieren sollen 61 , wenn nicht zugleich der Nachweis dieser transzendenten Seite erbracht w i r d und die Bedingungen seiner Überprüfbarkeit angegeben werden. Die vorgeschlagene Vereinbarung ist keine „Illusion der reinen Wissenschaft" 62 ; sie gewährleistet, daß unentscheidbare Existenz(Geltungs-)aussagen aufgedeckt und einer anderen Argumentationsebene zugewiesen werden, nämlich der methodischen Ebene m i t der Frage, ob es i m Interesse rechtswissenschaftlicher Diskussion zulässig sein soll, nicht verifizierbare Existenz(Geltungs-)aussagen i n rechtswissenschaftliche Zusammenhänge einzuführen. Da aber ihr absoluter Existenz(Geltungs-)anspruch die rechtswissenschaftliche Diskussion erstickt und nicht konsensfähig ist, allein aber die Möglichkeit des Konsenses Wissenschaft ermöglicht, seien Existenz(Geltungs-)aussagen m i t dem Anspruch ,objektiver Maßstäbe' aus der rechtswissenschaftlichen Diskussion ausgeschieden. Es verbleibt jedoch der i n ihnen angelegte Gehalt an ideologischen Wertungen, die als solche neben anderen Wertungen i n die rechtswissenschaftliche Diskussion eingehen und die — wenn sie i m Rahmen einer Rechtsnorm eindeutig zum Ausdruck gekommen sind — vom Interpreten hinzunehmen sind, zwar nicht als »objektive Maßstäbe', jedoch als verbindliche Wertentscheidungen des Gesetz· oder Verfassungsgebers. Sind die i n den ,objektiven Maßstäben' angelegten Wertungen jedoch nicht eindeutig normiert, so bilden sie lediglich einen Teil der Wertungen, über die — i n einem weiteren Schritt rechtswissenschaftlicher Diskussion! — entschieden wird, welche von ihnen plausibel und i m Sinne eines Konsenses, einer herrschenden Meinung als geltend normiert anzusehen sind. Daraus folgt gleichzeitig, daß der Versuch, objektive Maßstäbe durch positives Recht zu statuieren, für die rechtswissenschaftliche Untersuchung lediglich positives Recht beläßt. Darüber hinaus erscheint ein solcher Versuch als Widerspruch; denn ein objektiver Maßstab, der seine Geltung erst vom positiven Recht bezöge, wäre nicht i n der Lage, die Geltung dieses positiven Rechts zu regulieren, es sei denn, gerade diese positive Rechtsordnung verliehe i h m erhöhte Geltungskraft (Verfassungsrecht!). Die Positivierung „objektiver Maßstäbe" bedeutet vielmehr ausdrückliche Konsensbildung über unumstößliche Selbstverständlichkeiten mittels des positiven Rechts.

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So aber Hamel, AöR 89, S. 332. P. Schneider, Naturrecht, S. 441, zu einer v o m Engagement u n d damit (!) vom Naturrecht gelösten Rechtswissenschaft. Doch f ü h r t das Engagement der Rechtswissenschaft keineswegs notwendig zum Naturrecht. M a n k a n n sich auch f ü r „Unrechtssysteme" engagieren. 62

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§ 3 Z u r Problemgeschichte 5. Die rechtliche Regelung des »Problems der Gewissensfreiheit'

Selbst wenn man objektive Maßstäbe i n rechtswissenschaftlicher Rede anerkennen wollte — und die Ausklammerung des vieldeutigen Ausdrucks mag vielleicht eine Bedeutungsvariante nicht berührt haben —, so kann der Staat 6 3 schon aus, praktischen Gesichtspunkten nicht solange warten, „bis die Philosophen m i t der absoluten Philosophie fertig (und einig!) geworden sind" 6 4 . Das ,Problem der Gewissensfreiheit' findet letztlich „seine tatsächliche Lösung i n der staatlichen Macht" 6 5 . Angesichts des Zusammenpralls verschiedenartiger Wert- und Verhaltensmuster ist der Staat gezwungen, den Konflikt Gewissensnorm :Kollektivnorm zu lösen, u m ein Zusammenleben pluralistischer Strömungen zu ermöglichen und durch ihre Unterdrückung sich nicht selbst zu gefährden. Während unter dem Aspekt objektiver Maßstäbe das ,Problem der Gewissensfreiheit' i n die Aufgabe mündet, Konvergenzen zu schaffen, umgreift es unter dem Aspekt rechtlicher Regelung auch die Aufgabe, Divergenzen zu schützen. Als Grundrecht der Gewissensfreiheit ist eine rechtliche Regelung des ,Problems der Gewissensfreiheit' das „politische Instrumentarium" 6 6 , das kraft eines „Rechtstitels" dem Abweichler den Lebensraum i n der öffentlichen Ordnung sichert 67 . Der problemgeschichtlichen Eigenart dieses Grundrechts nähern w i r uns durch eine rechtshistorische Skizze für den deutschen Kulturkreis 6 8 : Ursprünglich als Kollektivrecht der Konfessionen entworfen, brachte das Grundrecht der Gewissensfreiheit dem Individuum schon seit der Reformation und den Religionskriegen „individuelle Reflexe" und wandelte sich von der Freiheit, „ i n den Klammern anzubeten" über die ,devotio domestica simplex' bis zur Gewährung der ,Gewissensfreiheit', die allerdings lange Zeit über die ,devotio simplex' nicht hinausging und lediglich Recht auf freie Hausandacht blieb, erweitert u m die Freiheit vom Zwang zur Annahme oder Beibehaltung eines Glaubens oder Bekenntnisses und erstreckt auf die Freiheit zur Auswanderung. Diese ,Gewis63 „Staat" sei i m folgenden n u r „der (die) Träger der öffentlichen Gewalt", „die öffentliche Gewalt". Staatsrechtliche oder soziologische Implikationen werden für den jeweiligen K o n t e x t gesondert eingeführt. 64 So m i t Recht: Spranger, Logos 22, S. 185. Esser, Werte, S. 11, bezeichnet es als „historisch jedenfalls sinnlos, eine angebliche oder möglicherweise auch vorhandene geistige Realität u n d objektive Hierarchie letzter Werte zum Maßstab juristischen Strafens oder Anerkennens, Verteilens v o n Gütern u n d Risiken u n d Aufbauens v o n Organisationen zu machen". — A u f den pragmatischen Aspekt weist auch Kühne, Vorgänge 72, S. 112. S. ferner unten § 9, 3.4. 65 Mirbt, Gewissensfreiheit, S. 350. 66 Möbus, Gewissen, S. 137. 67 Vgl. Geiger, Gewissensfreiheit, S. 13. 68 Z u m folgenden: Scholler, Gewissensfreiheit, S. 46 ff.; Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 14,15; Böckenförde, W D S t R L 28, S. 37 ff.

5. Die rechtliche Regelung des „Problems der Gewissensfreiheit"

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sensfreiheit' blieb lange Zeit beschränkt auf die drei reichsrechtlich anerkannten Konfessionen und wurde, erst allmählich und nach einzelnen Reichsländern verschieden, auf andere Religionen ausgedehnt, unter formalem Verstoß gegen das Reichsrecht 69 . Wurde das ,Grundrecht der Gewissensfreiheit' später auch inhaltlich erweitert, so blieb es doch immer auf Glauben und Religion bezogen. Es verschmolz häufig untrennbar mit der Glaubens- und Religionsfreiheit, m i t der (religiös verstandenen) Bekenntnisfreiheit oder war ein zwar auslegungsmäßig trennbarer, aber immerhin ein Teil davon. Erst allmählich, doch dann immer stärker begann sich das Grundrecht von seinen religiös intendierten Elementen zu lösen, was auch i n die Verfassungen bzw. Interpretationen eindringen mußte 7 0 . Während Kahl zum vierten Entwurf der WRV i m Nebeneinander von Glaubens-, Kultus- und Gewissensfreiheit sowie Verschweigungs- und Verweigerungsrechten (Art. 135, 136 WRV) der Gewissensfreiheit unter dem Aspekt der ,Religionsfreiheit' bereits keinen rechten Platz mehr einzuräumen wußte 7 1 und damit der Lösung der Gewissensfreiheit von der religiösen Intention unbewußt Rechnung trug, suchten andere Interpretationen der »Gewissensfreiheit 4 einen neuen Sinn zu geben, sei es, daß sie entgegen ihrem historischen Gehalt zur Waffe gegen die Religion wurde 7 2 , sei es, daß sie i n den sittlichen Bereich ausgedehnt wurde 7 3 . Vergegenwärtigt man sich nun, daß die Frage der Gestalt der Erde, das Problem des heliozentrischen Weltbildes, die künstlerische Gestaltung, der Glaube, die Gottesverehrung und all die sonstigen unumstößlichen Selbstverständlichkeiten des christlichen Abendlandes religiöse Fragen waren und daß Religion, Magie und Moral ungeschieden ineinander flössen 74, so erscheint das ,Grundrecht der Gewissensfreiheit 4 i n einem neuen Licht. Erst als es durch „moralische Neutralisierung" der Selbstverständlichkeiten und durch „Veränderung der Bewußtseinsstrukturen" 7 5 möglich wurde, diese Evidenzen überhaupt als Probleme zu sehen und sie dann als „wissenschaftliche", „künstlerische", „weltanschauliche", „religiöse" u. ä. näher zu unterscheiden, konnte der amorphe und viel um69

So richtig: Eisenhardt, JZ 68, S. 216 f. Vgl. Böckenförde, W D S t R L 28, S. 40 ff. 71 Vgl. dazu Scholler, Gewissensfreiheit, S. 82 f. 72 So zutr. Scholler, Schw. Monatsh. 1961/62, S. 1275; — a. Α.: Geiger, Gewissensfreiheit, S. 15 („seit je"). Z u r Weltanschauungsfreiheit w i r d die Gewissensfreiheit bei Mirbt, Gewissensfreiheit, S. 328. Heute w i r d m i t u n t e r die Gewissensfreiheit sogar schon als Denaturierung des Gewissens aufgefaßt, vgl. Baumhauer, V o r - U r t e i l , S. 46 f. 73 Dazu Scholler, Gewissensfreiheit, S. 93 ff.; Böckenförde, a.a.O., S. 44. F ü r A r t . 4 I : v. Mangoldt-Klein, A r t . 4 A n m . I I I 1. 74 Vgl. hierzu auch Piagets (Das moralische Urteil, S. 213 ff.) Bemerkungen zum „moralischen Realismus" des Kindes, das die ,Welt' einer moralischen V e r haltensordnung unterstellt. 75 Vgl. Gehlen, S. 112,114 ff. 70

3 Freihalter

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§ 3 Z u r Problemgeschichte

fassende Block ,Gewissensfreiheit' unterschiedliche Gestalt ausweisen, ein Vorgang, der die These vom historischen Primat der Gewissensfreiheit zu bestätigen scheint 76 . Die „neutralisierte" und „neustrukturierte" Sicht der Probleme brachte die deutliche Tendenz, die religiös intendierten (und damit als „religiös" und „weltanschaulich" qualifizierten!) Gehalte an die termini technici ,Glaubens-, Kultus- und Religionsfreiheit' abzutreten 77 , die „wissenschaftlich" qualifizierten Bestandteile der ,Wissenschaf tsfreiheit' zu unterstellen und die „künstlerischen Gehalte" als ,Kunstfreiheit' auszusondern. Dem ,Grundrecht der Gewissensfreiheit' würden demnach die noch nicht neutralisierten, die als „moralisch" qualifizierten Selbstverständlichkeiten verbleiben. Dies ist jedoch nur bedingt richtig. Abgesehen davon, daß hier nicht die „moralischen Dinge" gemeint sind, die zum Gegenstand einer philosophischen oder wisssenschaftlichen Reflexion gemacht sind, ist eine Selbstverständlichkeit gerade dadurch gekennzeichnet, daß die „moralische Qualifikation" nicht bewußt oder bezweifelt ist, ein Zustand, der einer rechtlichen Regelung nicht bedarf und ein »Problem der Gewissensfreiheit' nicht kennt. Erst wenn die Selbstverständlichkeit erschüttert ist, kommt die ,Gewissensfreiheit' i n Sicht. Es sei deshalb die These vertreten, daß das Grundrecht der Gewissensfreiheit getreu dem Infragestellen von unumstößlichen Selbstverständlichkeiten eines Kulturkreises folgt 7 8 . Diese Selbstverständlichkeiten selbst wie auch die konkurrierenden Kulturmuster können i n ein weit verstandenes „moralisches" 79 Spektrum möglicher Verhaltensweisen eingeordnet werden, andererseits sind sie aber noch nicht soweit moralisch 76 Z u dieser These: Scholler, DÖV 69, S. 526 f., sowie schon ders., Gewissensfreiheit, S. 36 ff. (jeweils m. w . N.). Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 10, nennt die Glaubens- u n d Gewissensfreiheit einen „der wichtigsten Kristallisationspunkte bei der Entstehung der Menschenrechte" (m. w . N.). Vgl. auch Baumhauer, V o r u r t e i l , S. 12 f. 77 Demgegenüber sieht Schwabe, JuS 72, S. 382, i n der Gewissensfreiheit die speziellere N o r m zur Glaubens-, K u l t u s - u n d Religionsfreiheit (ebenso K. Peters, JZ 72, S. 520). Vgl. hierzu unten § 7, 2.4.7.! 78 Z u eng: Scholler, Gewissensfreiheit, S. 96, nach dem die Gewissensfreiheit n u r eine F u n k t i o n des Verhältnisses von Staat u n d Kirche ist. 79 I n w i e w e i t dieses „Moralische" (synonym seien verwendet: „sittlich", „ethisch") weiter konturiert werden kann, w i r d später (§ 7, 2.4.6. zu Fn. 155 ff.) zu erörtern sein. Der Vorzug dieses Terminus liegt darin, daß es bisher nicht gelang, i h n auf einen speziellen und engen Bereich des menschlichen Verhaltens zu reduzieren u n d deshalb der hier beabsichtigten Weite des Begriffes entgegenkommt; ein weiterer V o r t e i l — w i e sich erweisen w i r d — liegt darin, daß er es ermöglicht, auch religiöses, u. U. wissenschaftliches, künstlerisches u. a. Verhalten erneut unter „moralischem" Aspekt zu sehen u n d damit i n die „moralische Qualifikation" zurückzunehmen oder erschütterte Selbstverständlichkeiten i n den Blick zu rücken. Eingeengt w i r d der Begriff scheinbar durch das Erfordernis der „unumstößlichen" Selbstverständlichkeit, d. h. — ins Praktische gewendet — einer Selbstverständlichkeit, f ü r die sich „zu kämpfen lohnt". Vgl. aber dazu § 7, 2.4.7. zu F n 189 ff.

6. Zusammenfassung

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neutralisiert, daß sie als „wissenschaftlich", „künstlerisch", „weltanschaulich", „religiös" 8 0 oder i n völlig neuartiger Qualifikation einer anderen spezifischen Freiheitsgarantie zugeordnet werden können. Daraus ergibt sich, daß die geschützten Gehalte der ,Gewissensfreiheit , nicht feststehen: Geschaffen, als das Kulturmuster einer einheitlichen Religion zerbrach und immer mehr auseinanderstrebte, mußte das Grundrecht immer dort schützend eingreifen, wo neue Wert- und Verhaltensmuster aus dem Bereich des Kriminellen und Krankhaften i n die Zone bewußter Konkurrenz traten und sich noch nicht i n selbständige Freiheitsbereiche ausgegliedert hatten. Der Wechsel seiner Inhalte erweist das Grundrecht gleichsam als „Rechtsnorm auf der Suche nach ihrem Tatbestand". Weiter folgt aus der These, daß der Vorgang des Austauschs der geschützten Inhalte nicht abgeschlossen ist und auch nicht ersichtlich ist, ob er jemals abgeschlossen sein kann, w e i l ständig Selbstverständlichkeiten zerbrechen können, deren w i r noch gar nicht ansichtig geworden sind. Ferner ergibt sich, daß die Gewissensfreiheit ursprünglich Auffangcharakter hatte und diesen auch nicht verloren hat. Hierin zeigt sich i n der Tat eine „funktionelle Verwandtschaft" 8 1 m i t der Belastungsfreiheit 82 nach A r t . 21. 6. Zusammenfassung

Als Ergebnis der problemgeschichtlichen Überlegungen läßt sich feststellen: Der Konflikt Gewissensnorm:Gemeinschaftsnorm erwächst aus der Erschütterung unumstößlicher Selbstverständlichkeiten und findet seine rechtliche Lösung durch das selbständige ,Grundrecht der Gewissensfreiheit', jedoch nur solange, bis er hinreichend spezifiziert ist und damit einer spezifischen Freiheitsgarantie unterworfen werden kann. Das Grundrecht steht nach seinen geschützten Inhalten nicht fest, ist der Er80 A u f religiöse oder religionsähnliche („weltanschauliche") Inhalte wollen die Gewissensfreiheit beschränken: Mirbt, Gewissensfreiheit, S. 328 (zu A r t . 135 WRV); Anschütz, A r t . 135, A n m . 1, 3 (zu A r t . 135 WRV); v. Mangoldt-Klein, A r t . 4, A n m . I I 3, I I I (religiös u n d weltanschaulich); Hamel, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, S. 52 f., 57, 64 (nicht Leugnung jeden Glaubens); ders., AöR 89, S. 323 (Weltanschauungen v o n sittlicher Substanz) ; E. Fischer, Vorgänge 68, S. 190; K . Peters, Überzeugungstäter, S. 273, 278 (die Erweiterung auf S. 266, 268 ist n u r scheinbar); Faber, Innere Geistesfreiheit, S. 33; Listi, Ess. Gespräche 3, S. 39; ders., Religionsfreiheit, S. 75, 88 u. ö.; Leisner, W D S t R L 28, S. 1121; Dürig, ebenda, S. 131 ff. („transzendentale Bezüge"; abl. hierzu Hollerbach, ebd.); v. Schlabrendorff, Friedensgebot, S.419; Bayer, DÖV 70, S. 117. Vgl. auch B V e r w G E 27, 303.305. Erweiternd: Kipp, Kriegsdienstverweigerung, S. 101 f. (religiöse u n d ethischhumanitäre Gründe); ähnlich v. Mangoldt-Klein, a.a.O., A n m . V I 12, (für das Kriegsdienstverweigerungsrecht !). 81 Scholler, D Ö V 69, S. 527. 82 So die neuere Tendenz des B V e r f G zu A r t . 2 I (E 9, 83.88; 17, 306.313 f.; 19, 206.215; 19, 253.257; 21, 54.59).



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§ 4 Die Materialien

schütterung unumstößlicher, noch „unbenannter" Selbstverständlichkeiten offen und hat Auffangcharakter. Bleibt noch zu bemerken, daß das Grundrecht der Gewissensfreiheit (gemeinsam m i t den anderen Grundrechten) der Tabuschutz für eine unumstößliche Selbstverständlichkeit ist, die durch ausdrückliche Konsensbildung (Verfassungsrecht!) als solche postuliert ist und die das „Individuum" meint, das den Belangen der Gemeinschaft nicht ohne weiteres geopfert werden darf 8 3 . Eine Interpretation ohne „ideologische" 84 Stützen ist daher nicht möglich. Dies widerspricht nicht der früheren Vereinbarung 8 5 , da diese nur dazu beitragen soll, eine sich als „objektiv" gerierende Argumentation als „ideologisch" aufzudecken und damit die Argumentationsebene durchsichtig zu machen. §4 Die Materialien Das Grundgesetz wurde am 8. Mai 1949 vom Plenum des Parlamentarischen Rates angenommen. Den Abstimmenden zu unterstellen, sie hätten sich die Auslegung zu eigen machen wollen, die die jeweiligen „Gesetzesverfasser dem von ihnen erarbeiteten gesetzlichen Text m i t auf den Weg gegeben haben" 1 , ist eine „ F i k t i o n " 2 . Es wäre für den Fortbestand des Gemeinwesens mißlich, sich für immer von den persönlichen Vorstellungen, Gedanken und Wünschen der „Väter des Grundgesetzes" i n den Bann schlagen zu lassen. Diese Vorstellungen sind nur insoweit verbindlich, als sie sich unmittelbar i m Verfassungstext niedergeschlagen haben, vermitteln aber i m übrigen zwar unverbindliche, jedoch „wertvolle Anhaltspunkte für das Verständnis der Norm" 3 . Das Redaktionskommitee des Grundsatzausschusses hatte als A r t . 8 I vorgeschlagen: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und der Überzeugung ist unverletzlich"; denn entgegen Art. 135 S. 1 WRV („volle Glaubens- und Gewissensfreiheit") habe die „Beschränkung auf Glaube und Gewissen" nicht genügt; man wolle „auch moralische Grundsätze und Überzeugungen einbeziehen" 4 . Demnach wurde das Problem einer „moralischen Qualifikation" gesehen, mochte der Begriff nach Inhalt und 83

So m i t Recht Hofstätter, a.a.O., S. 60 f. Vgl. auch Scholler, Gewissen, S. 1. Der Ausdruck „Ideologie" w i r d hier w i e i m folgenden nicht abwertend gebraucht, sondern bezeichnet lediglich das Einfließen von religiös-weltanschaulichen Wertungen i n die Argumentation. Z u einem ähnlichen Gebrauch s. BVerfGE 2,1.72. 85 Vgl. oben bei F n 56! 1 Engisch, Einführung, S. 95. 2 So m i t Recht Larenz, Methodenlehre, S. 309. 3 Larenz, a.a.O., S. 310. Vgl. auch BVerfGE 1, 299.312. 4 JöR N.F. 1, S. 73. 84

§ 4 Die Materialien

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Umfang auch unbestimmt sein. Die stillschweigende Streichung der „Überzeugung" als „Träger" des Moralischen scheint aber nicht zu bedeuten, daß das Moralische ungeschützt bleiben sollte 5 , sondern nur, daß ein eigener Begriffsträger („Überzeugung") als überflüssig empfunden und daß es von „Glaube und Gewissen" dennoch miterfaßt wurde. Jedoch läßt sich nicht sagen, welchem Terminus das Moralische zugeordnet werden sollte; es scheint i m Gesamtausdruck gesehen zu sein 6 . — Doch i n der Empfindung des „Nichtgenügens" steckt ein zweites: Wenige Jahre nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches waren dessen Terror, dessen Zwänge und dessen Mißachtung und Bedrohung „moralischer Grundsätze und Überzeugungen" noch schmerzhaft lebendig. Unter diesem Eindruck des „Nichtgenügens" der früheren rechtsstaatlichen Sicherungen wollten die Beratenden den A r t . 4 entwerfen, und nicht nur ihn, wie der Zwecktopos nach seiner gesamten Ziel Vorstellung erweisen w i r d : das Grundgesetz sollte die rechtsstaatliche „ A n t w o r t " auf das Dritte Reich sein 7 . Auch dies weist darauf hin, daß das „Moralische" nicht ungeschützt bleiben sollte; es ist wegen der bitteren Erfahrungen von „Glaube und Gewissen" miterfaßt. Ein neuer Problemkreis wurde durch die Diskussion über die äußere und innere Religions- und Gewissensfreiheit angeschnitten. Während Thoma i n seiner kritischen Würdigung zum Vorschlag des Redaktionskommitees Glauben und Überzeugung für nicht schutzbedürftig hielt und nur die Bekenntnisfreiheit aller Überzeugungen gewährleistet sehen wollte 8 , sollte nach dem Ergebnis der Diskussion die innere Seite, vor allem die der Gewissensfreiheit, der äußeren Seite gegenübergestellt werden 9 : der „Freiheitsblock" der ,Freiheit des Glaubens und des Gewissens' dem „Block" der ,Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses' 10 . Diese Stellungnahme ist eindeutig; sie hält die „innere Seite" für schutzbedürftig und trennt zwischen dem Inneren, dem Bekennen und dem Verhalten (nur als Religionsausübung! 11 ). Inwieweit dieser Vorstellung zu folgen ist und ob nicht gerade das Äußere (Bekennen und Verhalten) geschützt werden muß, um das Innere (Glauben, 5

I m Ergebnis ebenso: Scholler, Gewissensfreiheit, S. 114. A . A . : Scholler, a.a.O., nach dem das Moralische v o m »Gewissen' gedeckt wird. 7 Ebenso i m Ergebnis: Böckenförde, W D S t R L 28, S. 47 ff. Früher schon: A. Arndt, N J W 57, S. 361; ders., N J W 65, S. 433; Scholler, Gewissensfreiheit, S. 125, 215; Geiger, Gewissensfreiheit, S. 18; Hannover, Vorgänge 66, S. 385. — Vgl. auch: K . Peters, Überzeugungstäter, S. 257, 265 f., 268. 8 JöR N.F. 1, S. 73. 9 Ebenso: Listi, Religionsfreiheit, S. 24. 10 JöR, a.a.O., S. 74 (insbes. Süsterhenn) sowie der Protokollnachweis bei Böckenförde, a.a.O., S. 49, F n 51 (v. Mangoldt). Vgl. hierzu auch Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 20 f. 11 Süsterhenn, JöR N.F. 1, S. 74. 6

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§ 4 Die Materialien

Gewissen) m i t der Schutzgarantie des A r t . 4 I überhaupt zu erreichen 12 , w i r d sich erweisen müssen. Die gesamte Diskussion, vor allem i m Grundsatzausschuß, durchzieht ein gewisser „Parallelismus" 1 3 : einmal die Sequenz Glaube — religiöses Bekenntnis — Religionsgemeinschaft, zum anderen die Folge Gewissen — weltanschauliches Bekenntnis — Weltanschauungsgemeinschaft 14 . Dieser Vorstellung scheint sich nur Süsterhenn 15, wenngleich nur teilweise 16 , entzogen zu haben. Dies dürfte bedeuten, daß die Gewissensfreiheit wesentlich Weltanschauungsfreiheit sein sollte. Dem widerspricht jedoch das Recht zur Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen, das wohl aufgrund des gleichen Ausdrucks ,Gewissen' dem A r t . 4 als Abs. I I I angefügt wurde 1 7 , weswegen das ,Gewissen' i n beiden Fällen gleichbedeutend sein müßte, also ein Terminus ist 1 8 . Ist nun aber nur der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen geschützt, die Gewissensfreiheit aber lediglich Weltanschauungsfreiheit, so wäre eine Verweigerung aus Glaubensgründen unzulässig. Dem widerspricht aber wiederum, daß die A n wendung des A r t . 4 I I I auf religiöse Sekten, die den Kriegsdienst aus Glaubensgründen verweigern, gar nicht zweifelhaft w a r 1 9 . Damit ist die Vorstellung der beratenden Versammlungen zum Inhalt der Gewissensfreiheit wieder offen. Als Ertrag des „Parallelismus" bleibt jedenfalls, daß Glaube und Gewissen nicht gleichbedeutend sind 2 0 , ungeachtet ihres wirklichen Inhalts, und daß die Gewissensfreiheit nicht isoliert, sondern i n einem inneren Zusammenhang m i t der Bekenntnisfreiheit 21 , ja mit der Vereinigungsfreiheit gesehen wurde. Diese Sicht w i r d zu beachten sein, wenn die Eigenschaft der Gewissensfreiheit als Gruppengrundrecht zu erörtern ist. 12

W o h l ähnlich: Böckenförde, a.a.O. A u f den Scholler, Gewissensfreiheit, S. 113, aufmerksam gemacht hat. 14 JöR N.F. 1, S. 73, 74, 77, 78. 15 JöR, a.a.O., S. 74, w o er die Bekenntnisfreiheit n u r auf den „religiösen u n d weltanschaulichen Glauben" bezieht (Hervorhebung v o n mir). 16 Vgl. JöR, a.a.O., S. 77: Statt »Religionsgemeinschaft' den Ausdruck R e l i g i ons- u n d Weltanschauungsgemeinschaft', „ w e i l es Abs. 1 entspreche". 17 Vgl. auch ν . Mangoldt-Klein, A r t . 4 A n m . I I 1, V I 4. 18 Ebenso: BVerfGE 12, 45.54; v. Mangoldt-Klein, a.a.O., A n m . V I 4; Geißler, Kriegsdienstverweigerung, S. 21, 25; Hamel, Glauben- u n d Gewissensfreiheit, S. 103 f.; Podlech, Gewissensfreiheit, S. 125; Böckenförde, W D S t R L 28, S. 74; Schmidt-Bleibtreu/Klein, A r t . 4 Rdnr. 11; w o h l auch A. Arndt, N J W 68, S. 979. — A . A . : Scholler, a.a.O., S. 115: Das »Gewissen' i. S. des A r t . 4 I I I umfasse gegenüber dem des Abs. I zusätzlich die religiöse Entscheidung. 19 Vgl. die Ausführungen des Abg. Heuß, JöR N. F. 1, S. 77, der lediglich den staatspolitischen Sinn des A r t . 4 I I I bezweifelt. 20 I m Ergebnis ebenso: Scholler, Gewissensfreiheit, S. 114. 21 Scholler, a.a.O., S. 115: Gewissensfreiheit u n d Freiheit des weltanschaulichen Bekenntnisses stünden auf einer sich v o m Inneren i n die Außenwelt erstreckenden Linie. 13

1. Weimarer Verfassung u n d Grundgesetz

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§ 5 Der Bedeutungszusammenhang1 1. Weimarer Verfassung und Grundgesetz I m zweiten Hauptteil der Weimarer Verfassung („Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen") unter der Abschnittsüberschrift „Religion und Religionsgemeinschaften" wurden die „Glaubens- und Gewissensfreiheit" sowie die Kultusfreiheit des A r t . 135 S. 1, 2 WRV und die Negat i vrechte des A r t . 136 I I I und I V WRV verankert. Schon diese Stellung i m Gesetz wie auch die Nennung der „Religionsfreiheit" i n A r t . 136 I WRV haben die Interpretation dieser Freiheiten als „Religionsfreiheit" 2 nahegelegt, mochte sich die „Religion" auch zur „Weltanschauung" gewandelt haben 3 . Die Gewissensfreiheit war hier nur unselbständiger Bestandteil dieses Grundrechts. Dies galt aber auch für den Gesamtausdruck „Glaubens» und Gewissensfreiheit", der als „Bekenntnisfreiheit" interpretiert wurde 4 , ohne daß die Weimarer Verfassung ein solches Freiheitsrecht ausdrücklich nennt. Inhalt dieser Bekenntnisfreiheit sollte sein der Schutz des „forum internum" m i t dem Verbot inneren Zwanges 5 , der Schutz dementsprechenden Äußerns 6 und Handelns 7 sowie teilweise der Inhalt der Negativrechte, die etwa i n A r t . 136 I I I nur nochmals besonders hervorgehoben seien 8 . Eine Interpretation der Gewissensfreiheit als Freiheit der sittlichen Person 9 begann schon, den Rahmen „Religion und Religionsgemeinschaften" zu sprengen. Demgegenüber veränderte das Grundgesetz vor allem ein zweifaches: Lösung der „Glaubensartikel" vom Staatskirchenrecht und Verselbständigungstendenz hin zu Einzelrechten 10 . 1 Seine Bedeutung betont insbes. Maunz-Dürig-fferzogf, A r t . 4 Rdnr. 5 ff., 64 ff. 2 Mirbt, Gewissensfreiheit, S. 319; Anschütz, A r t . 135, A n m . 1. 3 Mirbt, a.a.O., S. 328. 4 Mirbt, a.a.O., S. 322 f., 328; Anschütz, a.a.O., A n m . 3. 5 Mirbt, a.a.O., S. 323, 328 (seine Weltanschauung „zu bilden oder nicht zu bilden"); Anschütz, a.a.O., A n m . 4 („ das Haben u n d F ü r w a h r h a l t e n " eines Glaubens). Heute bezieht Maunz-Dürig-fferzog, A r t . 4 Rdnr. 6, das „forum i n t e r n u m " auf die Freiheit des Denkens. 6 Mirbt, a.a.O.,; Anschütz, a.a.O. 7 Mirbt, a.a.O., S. 328; vgl. die Nennung v o n Einzelrechten des Handelns bei Anschütz, ebd. 8 Anschütz, a.a.O., A n m . 4, A r t . 136 A n m . 3 (das Schweigerecht als „begrifflich notwendiger Bestandteil der Bekenntnisfreiheit"), A n m . 4 (das K u l t v e r weigerungsrecht als „selbstverständliche Konsequenz der Religionsî reiheit" ; Hervorhebung v o n mir). Vgl. auch Mirbt, a.a.O., S. 323, 338 (Freiheit des Schweigens als „wesentlicher Bestandteil der Glaubens- u n d Gewissensfreiheit"), S. 343 (Kultverweigerungsrecht als „selbstverständliche Folgerung aus dem Grundrecht der individuellen Religionsî reiheit"; Hervorhebung v o m V e r fasser). 9 S. hierzu: Scholler, Gewissensfreiheit, S. 93 ff.; Böckenförde, W D S t R L 28, S. 44.

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§ 5 Der Bedeutungszusammenhang

Schon i n den Verfassungsberatungen wurde i m Zusammenhang mit der Frage des Staatskirchenrechts hervorgehoben 11 , daß der Grundrechtsteil nur die subjektiven Rechte mit ihren Konsequenzen erfassen solle, nicht aber die „Gesellschaftsordnung". Die Grundrechte des A r t . 4 können nicht mehr als bloßer „Schrittmacher für das . . . kirchenpolitische System" 1 2 aufgefaßt werden. Während das Staatskirchenrecht i n A r t . 140 i. V. m i t A r t . 136 bis 139, 141 WRV geregelt wurde, lösten sich die Freiheitsrechte des A r t . 4 GG, als das Staatskirchenrecht übergreifend, aus dem religionspolitischen Kontext 1 3 — ursprünglich auch die Negativrechte 14 , die erst durch A r t . 140, der auch sie zum Bestandteil dieses „Grundgesetzes" erklärte, überflüssig und gestrichen wurden 1 5 . Wie schon Problemgeschichte und Materialien weist auch der Bedeutungszusammenhang auf ein selbständiges Grundrecht der Gewissensfreiheit. Während dort vor allem die Begriffsinhalte diese Tendenz bezeugten, bringt nunmehr der sprachliche Kontext eine Trennung: der Globalbegriff „Glaubens- und Gewissensfreiheit" der Weimarer Verfassung w i r d aufgespalten, und selbst i n der geplanten „Freiheit des Glaubens und des Gewissens" 16 wurde das vereinigende „und" gestrichen 17 . Berücksichtigt man zudem, daß das Kriegsdienstverweigerungsrecht des A r t . 4 I I I nur das „Gewissen" anzielt, nicht aber den Glauben, so erscheint die These gerechtfertigt, daß das Grundrecht der Gewissensfreiheit ein selbständiges Freiheitsrecht darstellt 1 8 .

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Vgl. auch Herzog, DVB1.69, S. 718 f.; Böckenförde, W D S t R L 28, S. 46. JöR N.F. 1, S. 75 (Abg. Bergsträßer). 12 So noch Mirbt, Gewissensfreiheit, S. 321. 13 Demgegenüber sieht Listi , Religionsfreiheit, S. 23 f., diese Loslösung als „systemwidrige Trennung". — Ä h n l i c h wie hier: Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 25 ff., der m i t Recht auf die innere Verbundenheit des A r t . 4 m i t A r t . 140 hinweist. Vgl. auch ders., a.a.O., Rdnr. 120. 14 Vgl. JöR, a.a.O., S. 73 f., 76, 78. 15 Ebd., S. 78 f. 16 Ebd., S. 74, 76. 17 Ebd., S. 78. 18 Ebenso: Scholler, Gewissensfreiheit, S. 120 f., 127 ff. u. ö.; ders., Schw. Monatsh. 61/62, S. 1276 f., 1279 ff.; ders., DÖV 69,S. 927, S. 535, et passim; Geiger, Gewissensfreiheit, S. 17; Biebl, A r t . 4 Abs. 1 GG, S. 63 f.; Brinkmann, Gewissen, S. 103, 105 ff., 108; Podlech, Gewissensfreiheit, S. 35 ff.; Herzog, DVB1. 69, S. 718 f.; Bäumlin, W D S t R L 28, S. 30 („Spezialgrundrecht"); Böckenförde, ebd., S. 50; Hesse, Grundzüge, S. 156; Hamann-Lenz, A r t . 4 A n m . A 1; H. Weber, N J W 70, S. 934; Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 31 f.; Ek. Stein, Gewissensfreiheit, passim. — W o h l auch: Geißler,Kriegsdienstverweigerung,S. 129,138 f.; Marcie , W D S t R L 28, S. 94 f.; Listi, Religionsfreiheit, S. 75; Κ . Peters, JZ 72, S. 85; Schwabe, JuS 72, S. 382. Z u gegenteiligen Ansichten vgl. Fn. 20; w o h l auch BVerfGE 19, 129, LS. 2 („Träger des Grundrechts aus A r t . 4 G G " ; Hervorhebung von m i r ) ; LeibholzRinck, GG, A r t . 4, vor Rdnr. 1. 11

2. Das Grundrecht der Bekenntnisfreiheit

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2. Das Grundrecht der Bekenntnisfreiheit

Bestärkt w i r d die Selbständigkeit der Gewissensfreiheit durch die Garantie einer „Bekenntnisfreiheit" i n Art. 4 I 1 9 . Mochte unter der Weimarer Verfassung die „Glaubens- und Gewissensfreiheit" unter der rechtswissenschaftlichen Kennzeichnung ,die Bekenntnisfreiheit' sinnvoll zusammengefaßt werden, so würde nunmehr die Interpretation des gesamten Abs. I des A r t . 4 als ein „einheitliches Grundrecht der Bekenntnisfreiheit" 2 0 dazu zwingen, den Ausdruck „Freiheit des Glaubens, des Gewissens" als bloße Tautologie zu werten und i h m eine eigenständige Bedeutung abzusprechen 21 . Ein solcher Leerlauf von Rechtsnormen kann nur aus zwingenden Gründen verantwortet werden; bloßer Wortgebrauch der Rechtswissenschaft unter einem anderen Rechtssystem genügt jedenfalls nicht. Erwägt man nochmals, welcher „Gegenstand" m i t dem Ausdruck ,Bekenntnisfreiheit , unter der Weimarer Verfassung gemeint war (Schutz des „forum internum", des Äußerns und Handelns sowie teilweise Garantie der Negativrechte) und berücksichtigt man, daß die „Väter des Grundgesetzes" m i t der ,Freiheit des Glaubens, des Gewissens' das forum internum gewährleistet sahen 22 , so verengt sich die Bekenntnisfreiheit bereits auf Äußern und Handeln sowie auf Negativrechte 23 . Weiter einschränkend w i r k t das Zurückgehen auf den Wortsinn des „Bekenntnisses" und des „Bekennens" : es ist eine besondere A r t der Kundgabe an die Um19

Ebenso Böckenförde, W D S t R L 28, S. 46. Vgl. auch Ewald, a.a.O., S. 20, 22. HessStGH, N J W 66, S. 33 f.; v. Mangoldt-Klein, A r t . 4, A n m . I I 3, I I I 1; Hamel, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, S. 56, 60; ders., N J W 66, S. 20; Pod lech), AöR 88, S. 189 F n 38 (anders nunmehr: vgl. F n 18); Obermayer, DÖV 67, S. 12, insbes. F n 26; E. Fischer, Vorgänge 68, S. 190; Listi, Ess. Gespräche 3, S. 39 (S. 69: die gleiche, w e n n auch verfeinerte Interpretation „ w i e während der Weimarer Zeit"). Wieder anders (ohne E r w ä h n u n g der Gewissensfreiheit ein Grundrecht der „Glaubens- u n d Bekenntnisfreiheit"): BVerfGE 24, 236.245; Böckenförde, DÖV 66, S. 33 (anders nunmehr: vgl. F n 18). Wieder anders (ein Grundrecht der „Glaubens- u n d Gewissensfreiheit" u n d eines der „Bekenntnisfreiheit"): Zippelius, B K A r t . 4, Rdnr. 28 ff., 73 ff.; w o h l auch B V e r w G E 7,189,194 f. Nach Schiaich, Ess. Gespräche 4, S. 51, führe die Verselbständigung der Gewissensfreiheit dazu, „einen krassen Individualismus zu verankern".; Scheuner, Z e v K R 70, S. 257, befürwortet eine bloße „Erweiterung" der Religionsfreiheit an Stelle eines selbständigen Grundrechts der Gewissensfreiheit. Der allgemeine terminologische W i r r w a r r zu A r t . 4 w i r d dadurch verstärkt, daß die gewählten Terme i n der Regel nicht durchgehalten werden. I m ausländischen Recht scheint eine Eigenständigkeit der Gewissensfreiheit ebenfalls noch k a u m gesehen zu werden, vgl. Abram Journal 67, S. 62 (internationales Recht); E. v. Hippel, N J W 67, S. 540 f. (USA); Listi, Religionsfreiheit, S. 19 ff. 21 A b i . auch Listi, Religionsfreiheit, S. 75. 22 Vgl. oben, § 4 F n 10. 23 S. auch B V e r w G E 7, 189.195, nach dem die Bekenntnisfreiheit Ausfluß der Glaubens- u n d Gewissensfreiheit ist. 20

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§ 5 Der Bedeutungszusammenhang

w e l t 2 4 . So ist das Gebet, das ein Glaubender für sich allein spricht, kein Bekenntnis 2 5 , da i h m der Bezug auf die Umwelt fehlt. Aber auch die Prozession ist kein Gruppenbekenntnis 20 , sondern nur gemeinsame Religionsausübung 27 . Bekenntnishafte Züge erhält sie erst i n fremd- oder antireligiöser Umgebung. Es bedarf also eines Kriteriums, u m das Bekennen von der Religionsausübung unterscheiden zu können. Als K r i t e r i u m w i r d vorgeschlagen, daß Bekennen nur jenes Verhalten ist, das seiner Intention nach auf Mitteilung der eigenen Überzeugung an andere 28 gerichtet ist; diese Zweckgerichtetheit sei als Manifestation 9 bezeichnet 29 . Der Vollzug eines Glaubens oder einer Weltanschauung ist keine Manifestation, da er nicht final auf Mitteilung an die Umwelt gerichtet ist. Dieses „Verhalten gemäß dem Glauben (der Weltanschauung)" w i r k t zwar i n der Umwelt und i n die Umwelt hinaus, soll aber nicht Mitteilung, soll nicht Kundgabe an die Umwelt sein 30 . Allerdings können „Verhalten" und „Bekennen" zusammentreffen, d. h. i n ein und demselben, i n die Umwelt gerichteten A k t verwirklicht sein. Welche der beiden Tätigkeitsformen eingreift, w i r d man nach dem Selbstverständnis des Grundrechtsberechtigten, ersatzweise seiner Religion oder Weltanschauung 31 , zu beurteilen haben, sofern nur der A k t i n die Umwelt w i r k t . I m Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner 3 2 ist das Gebet des Pharisäers i m Tempel ein Bekennen, 24 Maunz, Staatsrecht, S. 119; Zippelius, B K A r t . 4, Rdnr. 46; Listi , Religionsfreiheit, S. 75 f. Vgl. auch B V e r w G E 7, 189.194 („nach außen Ausdruck zu verleihen"); Brinkmann, Gewissen, S. 104 f.; Hamann-Lenz, A r t . 4 A n m . Β 3 („Charakter der Bekundung der Zugehörigkeit"); Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 25f., 39, 51 ; Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 80 f. (die Bekenntnisfreiheit beziehe sich auf die Verhaltensmodalität des „Redens u n d Verkündens" i. S. freier geistiger Interkommunikation) ; Kühne, Vorgänge 72, S. 113 („aussprechen"). 25 Vgl. auch BVerfGE 24, 236.246 (Gebet als „Religionsausübung"; ebenso Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 101; Kühne, Vorgänge 72, S. 113). — Α. Α.: w o h l Brinkmann, a.a.O., S. 104, F n 19. 26 Vgl. BVerfGE, a.a.O., (Prozession als „Religionsausübung"; ebenso MaunzDürig-Herzog, a.a.O.; Kühne a.a.O.). Α. Α.: Podlech, Gewissensfreiheit, S. 135. 27 S. auch Süsterhenn, JöR N.F. 1, S. 74: Religionsausübung sei „ m e h r als bloßes Bekenntnis". Ähnlich: v. Mangoldt-Klein, A r t . 4 A n m . I V 1. 28 Vgl. Zippelius, B K A r t . 4, Rdnr. 81, 74; Hamel, N J W 66, S. 20; HamannLenz , A r t . 4, A n m . Β 3; Herzog, DVB1. 69, S. 719; Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 80 ff. 29 A u f eine „Manifestation" beziehen sich wörtlich oder sinngemäß: HessStGH, N J W 66, S. 33; Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 74; Feuchte-Dallinger, DÖV 67, S. 366. 30 Z u r Unterscheidung v o n „Bekennen" u n d „Verhalten" vgl. auch Schwabe, JuS 72, S. 382. 31 Vgl. auch BVerfGE 24, 236.247 f.; Leibholz-Rinck, GG, A r t . 4 Rdnr. 6. — Kritisch zur Berücksichtigung des Selbstverständnisses: Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 103 f. Die K r i t i k t r i f f t allerdings nicht den hier untersuchten Z u sammenhang zwischen verschiedenen Verhaltensmodalitäten. 32 L K 18, 9 - 14.

2. Das Grundrecht der Bekenntnisfreiheit

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aber kein Verhalten nach dem Glauben, das Gebet des Zöllners ein glaubensmäßiges Verhalten, aber kein Bekennen. Doch ist hier deutlich der Inhalt des Gebetes zu trennen, der auf ein Bekennen gegenüber Gott gerichtet ist; dieses Bekennen ist hier nicht gemeint. „ U m w e l t " sei nur die empirische Welt. Dem entspricht auch die Form der Mitteilung, der Kundgabe: mündliche oder schriftliche Äußerungen, Gebärden, andere „Formen der Sinnobjektivierung" 3 3 — wie schon angedeutet, mitunter ein „Verhalten" mit Demonstrationszweck 34 . Problematisch erscheint jedoch die Beziehung zwischen Bekenntnisfreiheit und Negativrechten, und zwar hier dem religiösen Schweigerecht des A r t . 140 i. V. m. A r t . 136 I I I S. 1 WRV als Gegenteil des „Bekennens". Versteht man die „Freiheit" nur als „Schutz" oder als „Betätigungsfreiheit", auch i m Sinne einer ideologischen Vorentscheidung, so ist für das Negativrecht nur ein beschränkter Raum; denn dann kann nur der Glauben, das Gewissen oder das Bekenntnis „geschützt" sein bzw. „frei betätigt" werden; ihr Bestehen ist dann notwendig vorausgesetzt 35 . Doch widerspräche eine Auslegung als „Schutz" dem Gebot sinnnvoller Interpretation, da der Schutz schon i m „unverletzlich" des A r t . 4 I enthalten ist und die „Freiheit" nur mehr tautologisch wäre. Aber auch für eine bloße „Betätigungsfreiheit" besteht kein Anhaltspunkt; sie würde den möglichen Umfang w i l l k ü r l i c h oder ideologisch einengen und den Zusammenhang des A r t . 4 m i t dem allgemeinen rechtsstaatlichen Freiheitsprinzip verkennen. Von hier aus w i r d die „Freiheit" zur Unabhängigkeit, zur Abwesenheit von Zwang. Das bedeutet aber für die „Bekenntnisfreiheit", daß der einzelne nicht nur „bekennen darf", sondern auch selbst darüber bestimmen kann, ob er „bekennen w i l l " , d. h. aber: die Freiheit, zu bekennen oder nicht zu bekennen. Unter diesem Aspekt ist das Negat i vrecht i n der Bekenntnisfreiheit enthalten 3 6 ; das religiöse Schweigerecht des A r t . 140 i. V. m. A r t . 136 I I I S. 1 W R V wäre überflüssig. Eine solche Auslegung kann jedoch nur aus zwingenden Gründen hingenommen werden. Durch die negative Bekenntnisfreiheit des A r t . 4 I würde nicht nur ein religiöses, sondern auch ein weltanschauliches Schweigerecht geschützt. Ob dies auch für das „religiöse" Schweigerecht des A r t . 140 i. V. m. Art. 136 I I I S. 1 W R V gilt, ist zumindest zweifelhaft. Von der „Religionsfreiheit" des A r t . 136 I WRV her gesehen, bestünde die Möglichkeit, die 33

Zippelius, B K , A r t . 4, Rdnr. 74. B V e r w G E 7,189.194; vgl. auch Zippelius, a.a.O., Rdnr. 74 f.; Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 26 F n 50. 35 So i m Ergebnis: Hamel, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, S. 64; ders., AöR 89, S. 323. — Kritisch hiergegen auch Podlech, AöR 88, S. 196 ff. 36 A . A . : BVerfGE 12, 1 (LS 1: Die „Glaubensfreiheit erlaubt auszusprechen u n d zu verschweigen... " ; Hervorhebung v o n mir). — Wie hier: Listi, Religionsfreiheit, S. 65; Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 56, 98. 34

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§ 5 Der Bedeutungszusammenhang

„religiöse Überzeugung" nach A r t . 136 I I I 1 auch als weltanschauliche Uberzeugung aufzufassen 37 . Jedoch bezieht sich Satz 2 des A r t . 136 I I I für die Einschränkung des religiösen Schweigerechts auf die „Religionsgesellschaft", ein Terminus, der i m A r t . 137 WRV wieder aufgenommen und der „Weltanschauungs"gemeinschaft ausdrücklich entgegengesetzt wird. Es scheint, als wäre es erlaubt, nach der weltanschaulichen Überzeugung zu fragen 38 . Die Auslegung der Bekenntnisfreiheit als Negativrecht würde diese Zweifel ausräumen. Bedeutsamer erscheint jedoch, daß ein Verzicht auf die „Negativauslegung" den einzelnen i n der praktischen Durchsetzung seiner Grundrechte beschneiden würde. Die i n A r t . 140 i. V. m. Art. 136 ff. WRV enthaltenen Rechte sind nicht i m Grundrechtskatalog enthalten, werden deshalb nicht als Grundrechte i. S. d. A r t . 93 I Nr. 4 a, 1 I I I betrachtet; eine Verfassungsbeschwerde kann nicht unmittelbar auf sie gestützt werden 3 9 . Würden deshalb die Negativrechte nicht von Art. 4 mitumfaßt, so bliebe ihnen unmittelbarer Grundrechtsschutz versagt. Deshalb empfiehlt es sich, die Negativrechte interpretativ i n A r t . 4 aufzunehmen. Aus diesen, wohl hinreichend zwingenden Gründen ist die negative Bekenntnisfreiheit i n A r t . 4 I gewährleistet 40 ; das religiöse Schweigerecht des A r t . 140 i. V. m. 136 I I I S. 1 WRV ist i n ihr enthalten 4 1 . Betrachtet man nun den Schutzbereich der Bekenntnisfreiheit, der nach der Aussonderung des forum internum verblieben war (Äußern, Handeln, Negativrechte), so läßt sich feststellen, daß das Äußern, das sich als ein Bekennen darstellt, v o l l von der Bekenntnisfreiheit gedeckt ist 4 2 , 37

So i m Ergebnis Hamel, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, S. 58 f. So w o h l v. Mangoldt-Klein, A r t . 4 A n m . I I I 1 a E. (nur f ü r A r t . 136 I I I 1 WRV!). U m diesem Verständnis entgegenzuwirken, schlug Süsterhenn (JöR N.F. 1, S. 77) bei den Verfassungsberatungen vor, statt „Religionsgesellschaft" den Ausdruck „Religions- u n d Weltanschauungsgemeinschaft" aufzunehmen. Der dementsprechend geänderte Absatz wurde später durch A r t . 140 überflüssig u n d deshalb gestrichen (a.a.O., S. 78 f.). 39 So BVerfGE 19, 129.135; 19, 206.218; Zippelius, B K A r t . 4, Rdnr. 71; Scholtissek, Ess. Gespräche 3, S. 109. — Α. Α . : Listi , Ess. Gespräche 3, S. 78. 40 So sinngemäß (ohne Rücksicht auf die abweichende Terminologie) : B V e r f GE 24, 236.245; HessStGH, N J W 66, S. 34; ν . Mangoldt-Klein, Art. 4 Anm. I I I 1 a. E.; Scholler, Gewissensfreiheit, S. 155 (aber auch S. 122, F n 38); Biebl, A r t . 4 Abs. 1 GG, S. 79, 84; Hamel, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, S. 58; ders., N J W 66, S. 19; Böckenförde, DÖV 66, S. 32; Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 77; Hamann-Lenz, A r t . 4 A n m . Β 1, 3; Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 56; Listi , Religionsfreiheit, S. 65; Holland, JuS 71, S. 633. 41 So ausdrücklich: v. Mangoldt-Klein, a.a.O.; Hamel, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, S. 58; Zippelius, a.a.O.; Maunz-Dürig-Herzog, a.a.O. u n d Rdnr. 98. A . A . : Podlech, Gewissensfreiheit, S. 23; w o h l auch Ek. Stein, Staatsrecht, S. 214 („ergänzend"). 42 Vgl. auch Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 74. Maunz-Dürig-Herzogr, A r t . 4 Rdnr. 18, weist darauf hin, daß die Bekenntnisfreiheit k r a f t Spezialität den A r t . 5 I u n d I I ausschließt. 38

. Das Grundrecht der

ensfreiheit

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das Handeln mitunter und die Negativrechte nur als religiöses und weltanschauliches Schweigerecht. Die Stellung des „Verhaltens" (des Tuns und Unterlassens) i m Aufbau des A r t . 4 ist bisher ungeklärt geblieben. Daß das Verhalten gemäß dem Glauben oder dem Gewissen von A r t . 4 nicht geschützt wird, erscheint ausgeschlossen; dies würde sogar den historischen Gehalt verneinen, der wenigstens immer noch die einfache Hausandacht gewährleistet hatte 4 3 . 3. Das Grundrecht der Glaubensfreiheit

Weiter führt hier zunächst der Rückgriff auf die Kultusfreiheit des A r t . 4 I I : die „Religionsausübung" kann als typischer Fall des „Verhaltens" gemäß dem Glauben gelten. Erfaßt sie jedoch nicht nur typisch religiöses Verhalten, sondern auch „freireligiöse und atheistische Feiern sowie Äußerungen des religiösen und weltanschaulichen Lebens" 44 , so umfaßt sie zwar das gesamte Verhalten gemäß dem „Glauben", setzt sich aber nicht nur zum Wortlaut der „Religionsausübung" i n Widerspruch, sondern w i r d auch der Gedankenführung des Abs. I nicht gerecht, der zwischen „religiös" und „weltanschaulich" differenziert. Verschärft w i r d die K l u f t zwischen Abs. I und Abs. I I , wenn diese weite Freiheit der Religionsausübung darüber hinaus bereits i n vollem Umfang i n Abs. I aufgehen soll 4 5 ; das läßt fragen, welchen Sinn die extensive Interpretation des A r t . 4 I I haben soll, wenn sein Inhalt ohnehin i n Abs. I enthalten ist 4 6 . Beläßt man jedoch der Kultusfreiheit des A r t . 4 I I ihren wörtlichen, systematischen, entstehungsgeschichtlichen und historischen Bezug auf t y pisch „religiöses" Verhalten 4 7 und verankert i n A r t . 4 I die Freiheit, sich gemäß seinem Glauben zu verhalten (Freiheit der „Glaubensbetätigung", der „Glaubensaktivität" 4 8 ), i m Rahmen der Glaubensfreiheit, so erhält 43 So auch Scholler, Gewissensfreiheit, S. 211; Hamel, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, S. 47 f.; Böckenförde, W D S t R L 28, S. 51. Aus der Überlegung, daß die Gewissensfreiheit i m m e r schon Gewissensbetätigung, nämlich der einfachen Hausandacht, war, k o m m t Novak , W D S t R L 28, S. 96, zur Fragestellung: Schutz n u r der Gewissensbetätigung oder auch des forum internum? 44 BVerfGE 24, 236.246 (Hervorhebung von mir). Zusti.: Leibholz-Rinck, GG, A r t . 4 Rdnr. 6. 45 BVerfG, a.a.O., S. 245; Leibholz-Rinck, a.a.O.; Listi , Religionsfreiheit, S. 63. 46 Kritisch auch Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 99. 47 Wie hier: Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 81 ( „ n u r zugunsten religiöser, nicht auch weltanschaulicher Riten"); w o h l auch v. Mangoldt-Klein, A r t . 4 Anm. I V 1; Hamel, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, S. 62. — Enger: Ek. Stein, Staatsrecht, S. 214 (nur „äußere Handlungen der Gottesverehrung"; danach wären buddhistische Riten nicht geschützt). 48 Vgl. BVerfGE 12, 1; 24, 236.245; N J W 72, S. 329 (unter Β I I 2); N J W 72, S. 1183 (unter Β I I 1); B V e r w G E 15, 134; 30, 29; Häberle, DÖV 69, S. 385 ff.; ders., JuS 69, S. 265 ff. — Einschränkend (auf Einzelrechte): Schmidt-Bleibtreu/ Klein, A r t . 4 Rdnr. 2; Hamann-Lenz, A r t . 4 A n m . Β 1. — Α. Α.: Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 43 f., 46; Herzog, DVB1 69, S. 719; ders. i n Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 66; Listi, Religionsfreiheit, S. 64 f.

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§ 5 Der Bedeutungszusammenhang

dies der K u l t u s f r e i h e i t i h r e k l a r s t e l l e n d e F u n k t i o n u n d i h r e n A n t w o r t c h a r a k t e r gegenüber d e m D r i t t e n R e i c h 4 9 , schützt aber zugleich die w e l t anschauliche B e t ä t i g u n g ü b e r A r t . 4 I als „ V e r h a l t e n s f r e i h e i t " 5 0 . D a m i t i s t a l l e r d i n g s auch die K u l t u s f r e i h e i t i n v o l l e m U m f a n g i n der G l a u b e n s f r e i h e i t e n t h a l t e n 5 1 , f r e i l i c h f ü r die p r a k t i s c h e A n w e n d u n g A r t . 4 I I heranzuziehen. N u n schützt das G r u n d r e c h t der G e w i s s e n s f r e i h e i t Sachv e r h a l t e „ m o r a l i s c h e r " , n i c h t aber spezifischer, e t w a r e l i g i ö s e r oder w e l t anschaulicher Q u a l i f i k a t i o n ; n u n k a n n es angesichts der A b h ä n g i g k e i t des K r i e g s d i e n s t v e r w e i g e r u n g s r e c h t s n u r v o m G e w i s s e n 5 2 f ü r die Gewissensf r e i h e i t gerade n i c h t d a r a u f a n k o m m e n , w o h e r das G e w i s s e n m o t i v i e r t i s t 5 3 , sei es v o n e i n e r R e l i g i o n , sei es v o n e i n e r W e l t a n s c h a u u n g oder aus a n d e r e n Q u e l l e n . D a m i t w i r d auch v o n dieser Seite d e m „ G l a u b e n " i. S. d. A r t . 4 I n i c h t n u r die „ R e l i g i o n " , s o n d e r n auch die „ W e l t a n s c h a u u n g " z u g e o r d n e t 5 4 . G r e i f t m a n f e r n e r a u f d e n u n t e r 2. e x p l i z i e r t e n B e g r i f f der 49

S. unter § 4, F n 7. Genau umgekehrt w i l l Herzog, DVB1. 69, S. 719, die Glaubensfreiheit „ u n zweifelhaft" auf das forum i n t e r n u m beschränken. Ebenso: Listi, Religionsfreiheit, S. 64, der aber (S. 65) u. a. das Sammeln notwendiger Informationen f ü r die Glaubenswahl als mitumfaßt ansieht. 51 Sinngemäß ebenso: BVerfGE 12, 1. 3 f . ; 17, 302.304; 24, 236.245; Hamel, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, S. 62; ders., N J W 66, S. 19; Cohn, Glaube, S. 7; Scheuner, D Ö V 67, S. 589; Häberle, D Ö V 69, S. 386, 389; Listi, Religionsfreiheit, S. 63 (zur Bekenntnisfreiheit). Differenzierend: HessStGH, N J W 66, S. 32, 35 („Ausfluß" der Glaubens- u n d Bekenntnisfreiheit, aber auch ein „besonderer Anwendungsfall" der allgemeinen Handlungsfreiheit. — Α. Α.: υ. Mangoldt-Klein, A r t . 4 A n m . I I 3, I V ; Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 46, 72; Podlech, Gewissensfreiheit, S. 24, 41; Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 99. 52 S. oben, § 4 F n 17 ff. 53 Vgl. auch BVerfGE 12, 45.56; B V e r w G E 7, 242.245 ff.; Frohberg, DÖV 52, S. 396; Schreiber, DÖV 54, S. 39 f.; v. Mangoldt-Klein, A r t . 4 A n m . V I 12; Scholler, Gewissensfreiheit, S. 139, 215 f.; Geiger, Gewissensfreiheit, S. 17 f., 20 f.; ders., Nonkonformismus, S. 67; ders., Gebot, S. 27 f.; Geißler, Kriegsdienstverweigerung, S. 43, 102, 138; Kaufmann-Bühler, Kriegsdienstverweigerung, S. 30 f.; Hamel, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, S. 105 (für A r t . 4 I I I ) ; Heinemann, N J W 61, S. 355; Mattil ZStW 74, S. 213; Luhmann, AöR 90, S. 280; Brinkmann, Gewissen, S. 85 ff.; Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 34; Scheuner, DÖV 67, S. 587 f.; Kohl, Gewissen, S. 143; Urbach, ZfJR 67, S. 171; Herzog, DVB1. 69, S. 718; Bäumlin, W D S t R L 28, S. 15; Böckenförde, ebd., S. 68 f., 85; Hesse, Grundzüge, S. 156; Rebensburg, Kriegsdienstverweigerung, S. 138 f.; Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 34 F n 77; Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 122; Schwabe, JuS 72, S. 382; Kühne, Vorgänge 72, S. 115. Einschränkend: Kipp, Kriegsdienstverweigerung, S. 101 f. (religiöse und ethisch-humanitäre Gründe); K . Peters, Überzeugungstäter, S. 273, 278 (religiöse u n d religionsähnliche Gründe — trotz der scheinbaren Ausweitung auf S. 266, 268); v. Schlabrendorff, Friedensgebot, S. 419 (gottgebundenes Gewissen); Bayer, DÖV 70, S. 117 (nur religiöse u n d weltanschauliche Motivation); Listi, Religionsfreiheit, S. 75, 96 f., 99 f. (nur religiöse u n d weltanschauliche Motivation. Anders jedoch f ü r A r t . 4 I I I — ebd. S. 115). Eine Rückbindung an die Religionsfreiheit scheint Scheuner, Z e v K R 70, S 245, zu erwägen; vgl. auch ders., ebd., S. 247 F n 10, S. 248 F n 12. 54 I m Ergebnis ebenso: Ek. Stein, Staatsrecht, S. 213; Maunz-Dürig-Herzog, 50

. Das Grundrecht der

ensfreiheit

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F r e i h e i t z u r ü c k als die F r e i h e i t , e t w a s zu t u n oder n i c h t z u t u n , u n d bez i e h t i h n a u f d e n „ G l a u b e n " , so b e d e u t e t die G l a u b e n s f r e i h e i t auch die F r e i h e i t , e i n e n G l a u b e n z u h a b e n ( „ z u g l a u b e n " ) oder n i c h t zu h a b e n 5 5 oder so oder anders z u haben, d. h. die F r e i h e i t des g l a u b e n s m ä ß i g e n „ f o r u m i n t e r n u m " 5 6 . D a m i t k a n n es a u f d e n Inhalt des „ G l a u b e n s " n i c h t m e h r a n k o m m e n , sei er n u n religiös, a n t i r e l i g i ö s oder a r e l i g i ö s 5 7 . E i n G l a u b e n k a n n gebieten, e t w a s z u t u n u n d e i n anderes zu lassen; e i n „ V e r h a l t e n " gemäß d e m G l a u b e n k a n n also i n e i n e m p o s i t i v e n T u n oder i n e i n e m U n t e r l a s s e n bestehen. I n dieser A u s l e g u n g d e r G l a u b e n s f r e i h e i t i s t das K u l t v e r w e i g e r u n g s recht des A r t . 140 i. V . m . A r t . 136 I V W R V i n h a l t l i c h b e r e i t s e r f a ß t 5 8 . O b w o h l d a m i t seine ausdrückliche V e r a n k e r u n g i n A r t . 136 I V W R V überflüssig w i r d , erscheint die I n t e r p r e t a t i o n g e r e c h t f e r t i g t . E i n m a l w i r d n u r ü b e r sie d e m e i n z e l n e n die Verfassungsbeschwerde e r ö f f n e t , die i h m u n m i t t e l b a r d u r c h d i e aufgezeigte Verfassungsrechtsprechung verschlossen w ä r e . Z u m a n d e r e n scheint das K u l t v e r w e i g e r u n g s r e c h t a u f s t r i k t religiöses U n t e r l a s s e n v e r e n g t z u sein; d e n n es bezieht sich a u f „ k i r c h l i c h e " H a n d l u n g e n u n d F e i e r l i c h k e i t e n , a u f die „ r e l i g i ö s e " E i d e s f o r m e l ,

A r t . 4 Rdnr. 67; vgl. HessStGH, N J W 66, S. 32. 55 Vgl. BVerfG N J W 72, S. 329 (unter Β I I 2); Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 55. 56 Ebenso: Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 66. 57 Vgl. BVerfGE 12, 1. 3 f.; 24, 236.245; HessStGH, N J W 66, S. 33; Anschütz, A r t . 135 A n m . 4 m i t F n 2 (zu A r t . 135 WRV); v. Mangoldt-Klein, Art. 4 Anm. I I 3; Scholler, Gewissensfreiheit, S. 129 f., 139, 217 u. ö.; Böckenförde, DÖV 66, S. 32; Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 28 (läßt aber — Rdnr. 30 — die Trennung von positiver u n d negativer Glaubensfreiheit als „praktisch unerheblich" dahingestellt); Cohn, Glaube, S. 7 ff.; Schmidt-Bleibtreu/Klein, A r t . 4 Rdnr. 2; Scholtissek, Ess. Gespräche 3, S. 162; Schiaich, ebd. 4, S. 18; Hamann-Lenz, A r t . 4 Anm. Β 3; Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 32; Leibholz-Rinck, GG, A r t . 4 Rdnr. 1; Listi, Religionsfreiheit, S. 5, 58 insbes. F n 18; Hesse, Grundzüge, S. 149; Kühne, Vorgänge 72, S. 113. A . M . : Hamel, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, S. 64; ders., AöR 89, S. 323 (kein Schutz des Skeptikers u n d Nihilisten! Hiergegen zutr. Podlech, AöR 88, S. 200; ders., Gewissensfreiheit, S. 22 F n 19; Zippelius, a.a.O., Rdnr. 28 — einschränkend); Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 66, 77 (Objekt des Glaubens sei eine — w i e auch i m m e r geartete — Gottesvorstellung). Ablehnend zur Unterscheidung positiver u n d negativer Glaubensfreiheit: Hamel, N J W 66, S. 19; E. Fischer, Vorgänge 70, S. 6 (S. 4 ff. m . w . N.); kritisch auch Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 60 f. Rechtsvergleichend: Abram Journal 67, S. 50 f. (das internationale Recht trennt positive u n d negative Glaubensfreiheit i. S. v o n „Freiheit v o n " u n d „Freiheit zu"). 58 Sinngemäß ebenso: HessStGH, N J W 66, S. 32; Hamel, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, S. 60; ders., N J W 66, S. 19; Listi, Religionsfreiheit, S. 82; w o h l auch BVerfGE 24, 236.245; Scholtisäek, Ess. Gespräche 3, S. 102. — Α. A . (Negativrechte zu A r t . 4 I I ) : v. Mangoldt-Klein, A r t . 4 A n m . I V 1; Zippelius, B K 4 Rdnr. 83; Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 58,116 f. Wieder anders (Eigenständigkeit) : Podlech, Gewissensfreiheit, S. 24 f.

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§ 5 Der Bedeutungszusammenhang

deren weltanschauliche Varianten (etwa ein Schwören beim „objektiven Geiste") es nicht gibt. Der einzelne wäre danach nicht berechtigt, einen weltanschaulichen K u l t zu verweigern. Dem kann nur dadurch abgeholfen werden, daß auch die negative Glaubensfreiheit i m dargelegten Umfang für A r t . 4 1 anerkannt w i r d 5 0 . Demnach baut sich die Glaubensfreiheit aus der Freiheit des glaubensmäßigen „forum internum" und aus der glaubensmäßigen „Verhaltensfreiheit" auf. Der Umfang der Glaubensfreiheit, ihre „Schranken" 6 0 , können für die vorliegende Untersuchung offenbleiben. 4. Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

Die Glaubensfreiheit stellt sich also dar als die Freiheit zu glauben oder nicht zu glauben, so oder anders zu glauben und sich dementsprechend zu verhalten. Damit umfaßt sie die Kultusfreiheit nach A r t . 4 II, d. h. die Freiheit des einzelnen, allein oder gemeinsam, öffentlich oder privat seine Religion i n kultischer Form zu betätigen 61 , sowie die K u l t verweigerungsfreiheit nach A r t . 140 i. V. m. A r t . 136 I V WRV. Außerdem ist hierdurch i n „glaubensmäßigem" Umfang das „forum internum" geschützt; denn die Glaubensfreiheit wäre verletzt, wenn der Staat den Glauben des Individuums mittelbar oder unmittelbar beeinflussen oder auf es einwirken sollte. Mittelbar ist das forum internum auch durch das Schweigerecht aufgrund der Bekenntnisfreiheit geschützt, d. h. die Freiheit des einzelnen, seinen Glauben durch Mitteilung oder Kundgabe an die Umwelt zu manifestieren oder i h n zu verschweigen. Damit ist die Bekenntnisfreiheit jedoch noch nicht „geschlossen". Es sei daran erinnert, daß schon i n den Verfassungsberatungen ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Bekenntnisfreiheit und der Gewissensfreiheit

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Vgl. F n 57. Vgl. zu den allgemeinen u n d speziellen „Grenzen aktiver Glaubensfreih e i t " : Häberle, DÖV 69, S. 387 ff.; ders., JuS 69, S. 267, 271; Listi , Religionsfreiheit, passim. Zippelius (BK A r t . 4 Rdnr. 67) stellt den A r t . 136 I W R V als „Beschränkungen der Religionsfreiheit" den Bestimmungen des A r t . 4 gegenüber u n d verweist auf die Nichtrezeption des Vorbehaltes des A r t . 135 S. 3 WRV. Ferner: BVerfG N J W 72, S. 329 f. (mit kritischer A n m . von Händel, ebd. S. 327 f.); N J W 72, S. 1184 f.; Jurina, Ess. Gespräche 3, S. 131 (Güterabwägung i m Einzelfall); Scheuner, Ess. Gespräche 3, S. 150; Scholtissek, ebd., S. 164; Listi , ebd., S. 189 (alle zum „iustus ordo publicus" als Grenze der Glaubensfreiheit); Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 75, 111 ff.; Schwabe, JuS 72, S. 383 f. 81 Ebenso: v. Mangoldt-Klein, A r t . 4 A n m . I V 1, 2 (jedoch m i t Negativrecht); Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 80 ff. (mit Negativrecht) ; w o h l auch Maunz-DürigHerzog, A r t . 4 Rdnr. 101, 111 („religiöse Handlungsfreiheit"), 115, 116 f. (mit Negativrecht). — Weiter (auf den „Glauben" bezogen): Podlech, Gewissensfreiheit, S. 24, 41. — I m Sinne v o n glaubensmäßiger Verhaltensfreiheit: BVerfGE 24,236.246. 60

. Das Grundrecht der

eisfreiheit

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gesehen wurde. Nun ist nicht jede „gewissensmäßige Entscheidung" 02 schon ein „Glauben", wie auch die Beschränkung des A r t . 4 I I I auf das Gewissen nahelegt. Würde zudem das Bekennen dieser „Gewisssensentscheidung" 62 nicht geschützt, so könnte damit Zwang auf das „Gewissen" 6 2 ausgeübt werden. Der einzelne müßte sich letztlich ganz auf sein forum internum zurückziehen, u m durch das Bekennen einer „Gewissensentscheidung" nicht gefährdet zu werden. Deshalb erscheint es notwendig, die Gewissensfreiheit auch von dieser Seite her abzusichern. Die Bekenntnisfreiheit umfaßt daher auch die Freiheit, seine „Gewissensentscheidungen" 6 2 zu bekennen oder zu verschweigen 63 . Daß dieses Schweigerecht nicht bedeuten kann, jemand könne sich für seine Berufung auf ein Grundrecht des A r t . 4 m i t der formalen Aussage „Ich berufe mich auf die Glaubensfreiheit (die Gewissensfreiheit...)" begnügen, w i r d für die Gewissensfreiheit später zu erörtern sein 64 . Wie schon die Materialien ergaben und der Aufbau der Glaubensfreiheit nahelegt 65 , scheint sich die Gewissensfreiheit auf das „forum internum" zu beziehen. Wer ferner Kriegsdienst m i t der Waffe aus entgegenstehenden „Gewissensgründen" 66 nicht ableistet, „verhält sich nach seinem Gewissen" 6 6 . Daß ein „Verhalten" durch die Gewissensfreiheit auch bei anderen Verhaltensweisen geschützt wird, scheint aus der Struktur der Glaubensfreiheit zu folgen 65 , läßt sich aber hier noch nicht abschließend feststellen; es werde jedoch hypothetisch davon ausgegangen (Freiheit der „Gewissensbetätigung" 67 , der „Gewissensverwirklichung" 68 ). Das gleiche gelte für die Frage, ob die Gewissensfreiheit auch die Freiheit umfaßt, ein Gewissen zu haben oder nicht zu haben, wie das skizzierte Verständnis der „Freiheit" nahelegt. Arbeitshypothese sei: „Gewissensfreiheit ist die Freiheit des einzelnen gegenüber dem Staat 6 9 , ein Gewissen zu haben oder nicht zu haben 70 , so oder anders zu haben 7 1 und sich seinem Gewissen gemäß zu verhalten" 7 2 . 62 Diese Ausdrücke seien als vorläufige Umschreibungen f ü r die Gewissensfreiheit eingeführt. Sie werden i m Laufe der Untersuchung zu präzisieren sein. 63 Vgl. HessStGH, N J W 66, S. 34; Süsterhenn, JöR N.F. 1, S. 74; Biebl, A r t . 4 Abs. 1 GG, S. 82; Hamel, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, S. 60, 69; Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 46; Maunz, Staatsrecht, S. 119; Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 25; Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 128. 64 S. unten, § 7, 2.4. (3) nach F n 117. 65 Daß der Aufbau des A r t . 4 nicht allein systematisch zu erklären ist, betont jedoch m i t Recht Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 131. ββ S. F n 62. 67 Bäumlin, W D S t R L 28, S. 16; Böckenförde, ebd., S. 50 f. 68 Herzog, DVB1. 69, 719; Bäumlin, a.a.O., S. 16, 30; Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 129 ff. 69 Drittwirkungsprobleme werden nicht untersucht; eine mittelbare Stellungnahme ergibt sich jedoch aus der vorgelegten Gesamtinterpretation. Z u r D r i t t w i r k u n g vgl.: BVerfGE 24, 236 („Lumpensammler"); 25, 256 ( „ B l i n k -

4 Freihalter

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§ 5 Der Bedeutungszusammenhang

füer"); vgl. auch E 17, 302 („Eheverfehlung"); B G H Z 38, 317.319ff.; BayObLG KirchE 5, 302 f.; O L G Nürnberg, FamRZ 62, 524; O L G Celle, FamRZ 63, S. 138; L G Heidelberg, N J W 66, S. 1922 (m. abl. A n m . von Munzel, ebd.; kritisch A. Arndt, N J W 66, S. 2205); v. Mangoldt-Klein, A r t . 4 A n m . I I 7; Scholler, Gewissensfreiheit, S. 180 ff.; ders., DÖV 69, S. 528; Hamel, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, S. 66 f., 74 ff.; Geiger, Nonkonformismus, S. 75 f.; ders., Gebot, S. 28; Habscheid, JZ 64, S. 246 ff.; Müller-Freienfels, JZ 64, S. 305 ff., 344 ff.; Brinkmann, Gewissen, S. 135 f.; Schmidt-Bleibtreu/Klein, A r t . 4 Rdnr. 9; HamannLenz, A r t . 4 A n m . A 3; Bäumlin, W D S t R L 28, S. 25 f.; Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 53; Kuli, DÖV 72, S. 453f. (Gewissensschutz f ü r Redakteure); Keßler, DÖV 72, S. 457 f.; Roellecke, DÖV 72, S. 459; umfassend neuerdings Listi, Religionsfreiheit, S. 301 ff.; Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 48 ff., 72 ff., 87, 107,140 ff. (jeweils m. w . N.). Rechtsvergleichend: v. Barby, DVB1. 71, S. 333 ff. (USA). Baumhauer, V o r u r t e i l , S. 12, bezeichnet das Recht auf Gewissensfreiheit als „Schutz der Freiheit gegen die bedrohliche Macht der Institutionen". 70 So Böckenförde, W D S t R L 28, S. 53. — A b i . : Scholler, Gewissensfreiheit, S. 195; ders., DÖV 69, S. 529; Geißler, Kriegsdienstverweigerung, S. 124; Hamel, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, S. 64; ders., AöR 89, S. 333; Brinkmann, Gewissen, S. 115; w o h l auch BVerfGE 12, 45.54; Podlech, Gewissensfreiheit, S. 28. — U n k l a r : v. Mangoldt-Klein, A r t . 4 A n m . I I I 1. Dies ist der erste Aspekt des gewissensmäßigen „ f o r u m internum". Wer i h n bejaht, k o m m t zwangsläufig auch zum zweiten Aspekt. 71 Dies ist der zweite Aspekt des gewissensmäßigen „ f o r u m internum", der üblicherweise m i t Bestand, Funktionsfähigkeit u n d B i l d u n g des Gewissens umschrieben w i r d (vgl. Böckenförde, W D S t R L 28, S. 85; auch Bäumlin, ebd., S. 30; Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 52; Listi, Religionsfreiheit, S. 66, 75; Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 127). N u r i. S. einer Gewissensbildungsgarantie versteht Ewald (Ersatzdienstverweigerung, S. 22, 24) die Gewissensfreiheit. A . M.: Faber, Innere Geistesfreiheit, S. 34. Streitig ist hier die Schutzbedürftigkeit (dazu § 7, 2.1. zu F n 21), ungeklärt der Umfang der Garantie (dazu § 7 , 2.4.1. zu F n 110 ff.). 72 So: BayVerfGH, V G H E N.F. 8 I I 1.8 (zu A r t . 107 B V ) ; Frohberg, D Ö V 52, S. 396; v. Mangoldt-Klein, A r t . 4 A n m . I I I 1 (nicht eindeutig); Scholler, Gewissensfreiheit, S. 202, 211 f. (Gewissensbetätigung n u r innerhalb der Geheimsphäre; erweitert nunmehr i n ders., D Ö V 69, S. 528f.); G. Küchenhoff, Staat und Gewissen, S. 91; Geiger, Gewissensfreiheit, S. 24 ff.; ders., Nonkonformismus, S. 67; Biebl, A r t . 4 Abs. 1 GG, S. 94, 99; Geißler, Kriegsdienstverweigerung, S. 128, 134, 138 (einschränkend); Hamel, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, S. 52, 60; Habscheid, JZ 64, S. 246; A. Arndt, N J W 65, S. 433; ders., N J W 68, S. 979 f.; Scheuner, D Ö V 67, S. 586; Ek. Stein, Staatsrecht, S. 217; ders., Gewissensfreiheit, S. 17 f., 51 f.; H. Weber, N J W 68, S. 1611; Berg, JuS 69, S. 19; Podlech,Gewissensfreiheit, S. 35 ff.; Herzog, DVB1. 69, S. 719f.; ders., i n MaunzDürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 129 ff.; Scholtissek, Ess. Gespräche 3, S. 102; Bäumlin, W D S t R L 28, S. 15 f.; Böckenförde, ebd., S. 53; Marcic, ebd., S. 95; Novak , ebd., S. 96; Pfeifer, ebd., S. 122; v. Burski, Zeugen Jehovas, S. 69 f.; Hesse, Grundzüge, S. 156; Listi, Religionsfreiheit, S. 75 f. u. ö.; Kühne, Vorgänge 72, S. 112, 118. — Kritisch: Luhmann, AöR 90, S. 270 ff.; Kopp, W D S t R L 28, S. 92. A . A . : Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 44; ders., W D S t R L 28, S. 90f., 95; w o h l auch Dürig, ebd., S. 98; Frowein, ebd., S. 139; Hamann-Lenz, A r t . 4 A n m . Β 2 (Schutz n u r der „Bekundung (Äußerung)" der Gewissensentscheidung); Bayer, DÖV 70, S. 117; Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 24 (nach dem aber — S. 34, 37 — die Gewissensverwirklichung durch die Bekenntnisfreiheit geschützt ist). Rechtsvergleichend: (und bejahend): E. v. Hippel, N J W 67, S. 540 (USA); Abram Journal 67, S. 50 ff. (internationales Recht).

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§ 6 D e r verfassungsgeberische Zweck 1. Zweck und Ideologie

Der Zweck des Grundrechts der Gewissensfreiheit ist kaum einsichtig zu machen. Während die Problemgeschichte noch erkennbar auf ein P r o blem der Gewissensfreiheit* verweist, läßt sich angesichts der Vielzahl der an den Verfassungsberatungen beteiligten Weltanschauungen aus den Materialien kaum ein eindeutiger verfassungsgeberischer Zweck herausfiltern; ein und dasselbe Wort ist von hier aus unfaßbar mehrdeutig. Der Bedeutungszusammenhang i n der skizzierten Form vermochte zwar das „Bekennen" aus dem Inhalt der Gewissensfreiheit auszuklammern helfen und analog zum Aufbau der Glaubensfreiheit für eine Freiheit des gewissensmäßigen „forum internum" und eine Freiheit gewissensmäßigen Verhaltens einen neuen „Strukturplan" der Gewissensfreiheit entwerfen helfen, doch ließ diese Analyse keinen verfassungsgeberischen Zweck entdecken. Es bleibt deshalb nur möglich, auf jenen Zweck zurückzugreifen, den das Grundrecht der Gewissensfreiheit „vernünftigerweise haben kann" 1 . Damit offenbart sich zugleich eine Gefahr, i n der die Gewissensfreiheit i n der Tat des öfteren „umgekommen" ist: die „Vernunft" w i r d zum Einfallstor der jeweiligen Weltanschauung des Interpreten. So notwendig das ideologische „Vorverständnis" 2 des einzelnen zum Entdeckungszusammenhang einer These gehört, so notwendig auch seine Elemente zum Begründungszusammenhang, sollen sie rational überprüfbar und diskutierbar sein. Hier das „Vor-Urteil" zum „essentiale der Auslegung" zu erklären 3 und damit die Weltanschauung des Interpreten notwendig i n das Normverständnis aufzunehmen, hieße letztlich, den einzelnen zur Norm erklären und der Ordnung den Abschied zu geben. Wie es ohne „aufrichtige, nicht nur scheinbare Distanznahme von einer autonomen Beurteilung der Fallgerechtigkeit" 4 möglich sein soll, das Vor Verständnis „ m i t weiterem Eindringen vom Text korrigieren (zu) lassen" und „ex post aus der praktischen Konsonanz" der Interpreten zu legitimieren 5 , ist nicht ersichtlich 6 , es sei denn, man nehme wieder zurück, was man soeben zum „essentiale" erhoben hat. Häufig genug wer1

Larenz t Methodenlehre, S. 312. Vgl. allgemein: Viehweg, Topik, S. 60 f.; Esser, Grundsatz, S. 47, 107 ff. (insbes. U l f . ) ; Ehmke, W D S t R L 20, S. 56f., 71 f.; Leibholz, ebd., S. 117f.; Friesenhahn, ebd., S. 121 f.; Kaiser, ebd., S. 126 f.; Fr. Müller, Normstruktur, S. 49 ff. — Z u r subjektiven Bedingtheit jeder Erkenntnis m i t Recht: A. Kaufmann, A R S P 46, S. 556 ff. Vgl. auch Mattil, ZStW 74, S. 228. 3 v. Pestalozza, Staat 2, S. 421 f. 4 So Salzwedel, AöR 87, S. 87; ebenso Friesenhahn, W D S t R L 20, S. 121. Ä h n lich: Ossenbühl, DÖV 65, S. 651. 5 ν . Pestalozza, Staat 2, S. 432. 6 Kritisch auch; Fr. Müller, Normstruktur, S. 53 f. 2



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§ 6 Der verfassungsgeberische Zweck

den dem Interpreten die eigenen „ideologischen Fallstricke" nicht bewußt; sie aufzudecken und bewußt zu machen, ist Sache der wissenschaftlichen Diskussion. Wohin die Weltanschauung als essentiale der Auslegung führen kann, wie sie die möglichen Sichtweisen verengt und ein jedermann zustehendes Grundrecht zur Schutznorm für heroisches Menschentum oder zur Kampfnorm gegen Außenseiter und Abweichler umfunktionieren kann 7 , ist für die Gewissensfreiheit zu belegen. 2.1. Witte I m Anschluß an die christliche Theologie sowie die Philosophie Heideggers?, Jaspers 9 und Kuhns 10 entwickelt Witte 11 einen theologisch-philosophischen Gewissensbegriff, der allein Gegenstand des A r t . 4 I I I sein könne (S. 174). Das Gewissen müsse über die bloß rationale (S. 893), die bloß emotionale Ebene i n das Geistige erhoben werden, u m seine Transzendenz zu erhalten, denn nur die „waltende K r a f t des Geistes" befähige den Menschen, „die Widerfahrnisse unterscheidend bis auf den Grund zu durchblicken"; „allein der Geist ist i n den letzten Erkenntnistiefen unseres metaphysisch aufgelichteten Daseins verwurzelt" (S. 892). Vor aller Aufspaltung und Zerreißung des Menschen i n seiner Einheit w i r k e die Macht und Tiefe des Gewissens als die Grundtiefe der Person. Erst wenn der Geist das Ereignis durchlichtet oder bis auf den Grund geführt habe, sei eine Gewissensentscheidung möglich. I m Gewissen werde die Sittlichkeit aktualisiert. Von einer Gewissensentscheidung könne daher dort gesprochen werden, wo „eine sittliche Erkenntnis zur zwingenden Konsequenz für das Leben wurde" (S. 892). Das Gewissen selbst als ontologische Erscheinung sei keine autonome Instanz, sondern ergebe sich i m Gehorsamsakt zu einer vorgegebenen Einsicht, sei es auf der Überkommnis des Seins oder dem Wort Gottes (S. 893). Das Gewissen sei ein „Wissen u m Etwas" und werde „ i n die Situation vorgerufen durch das sich i n ihr vollziehende Ereignis" (S. 893). Die Gewissensentscheidung sei „das Ergebnis einer Gewaltanwendung über sich selbst" und werde durch die „Mühsal der Besinnung" qualifiziert (S. 893). „ Z u m Gewissen gehört M ü n d i g k e i t . . . Den Unmündigen aber noch ein Recht einzuräumen, geht entschieden zu weit. Ein solches Verhalten entspringt einem sentimentalen Humanismus." (S. 178). Das Bundesverfassungsgericht erhebe die Ansicht der Ungebildeten zur ausschließlichen Norm und kapituliere vor 7

Hiergegen m i t Recht: BVerfG N J W 72, S. 1185 (Β I I c a. E.). Sein u n d Zeit, S. 267 ff. Z u r Gewissenslehre Heideggers vgl. auch Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 33 f. (jedoch m i t anfechtbarer Interpretation). 9 Philosophie I I , S. 268 ff. 10 Begegnung, insbes. S. 9 - 53,155 ff. 11 AöR 87, 155 ff.; ders., DVB1. 62, S. 891 ff. — Die Seitenzahlen i m Text beziehen sich auf diese Aufsätze. 8

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dem geistigen Wert des Gewissens (S. 158); es zeige „modernes PseudoSelbstbewußtsein oberflächlicher Toleranz" und verfalle der „Vorherrschaft des Durchschnitts" (S. 160). Abgesehen davon, daß Witte verschweigt oder durch formale Verknüpfungen übergeht, wie eine Synthese so unvereinbarer Auffassungen wie der der genannten Philosophen zu leisten wäre, weist er auch keinen Weg, wie die K l u f t , die Heideggers „existenziale Interpretation des Gewissens" zum sittlichen Gewissensbegriff aufgerissen hat 1 2 , zu schließen wäre. Heidegger selbst hat offenbar den Brückenschlag gescheut 13 , es spricht nichts dafür, daß er Witte gelungen wäre. Entscheidend ist jedoch, daß Witte nur den „Geist" (?) für befähigt hält, über das Gewissen zu außersubjektiven Maßstäben vorzustoßen: zur Wahrheit (?) oder zum Wort Gottes. Damit w i r d das Gewissen auf eine Ebene hochstilisiert, die nur wenigen zugänglich ist. Hinter dem beruhigenden und entlastenden Hinweis auf den Bildungsstand von Arbeitern und Handwerkern (S. 892), hinter dem Auf weis unserer Zeit, i n der „die geistigen Dinge ortlos geworden sind und verwüstet auf der Straße liegen" (S. 894) verbirgt sich eine Intoleranz, die sich eine Rechtsnorm zur Demütigung vieler gefügig machen w i l l . Oder wie sollte ein Arbeiter, ein Handwerker einem Prüfungsausschuß für Kriegsdienstverweigerer die „Überkommnis des Seins", den „Aufgang der Wahrheit" (S. 893) darstellen können, ohne Stil und Sprache der Existenzphilosophie zu beherrschen? Für die Fragestellung des Rechts ergibt sich i n der Tat: „Solche Phrasologien gehen am Gewissen geradewegs vorbei." (S. 893) 14 . 1.2. Hamel Nach Hamel 15 erfahren w i r i m Gewissen unser unbewußtes, transzendentes Wesen, das uns vom Ursprung her i n Ordnung halte, das uns ergreife, das aber nicht begriffen werden könne, sondern nur durch Gleichnisse, Symbole und Märchen i n seiner Mächtigkeit zum Bewußtsein gebracht werde (S. 50). Die Gewißheit, ethisch richtig zu handeln, empfange der Mensch unmittelbar durch sein Gewissen, nicht durch Denken des Verstandes (S. 326). U m nun aber nicht jedes Gewissen als verbindlich anerkennen zu müssen und u m „Schranken" gegen Gewissensforderungen aufrichten zu können, engt Hamel seine Voraussetzungen i n zweifacher Weise ein: Einmal würden unmittelbar i m Gewissen die unbeding12

Heidegger, Sein u n d Zeit, S. 269, 289 ff. Ebenso: Scheidt, Gewissen, S. 94. Einschränkend: Kuhn, Begegnung, S. 90. 14 Z u m S t i l sowie zur Argumentierweise u n d -basis Wittes vgl. die K r i t i k bei Podlech, AöR 88, S. 209 ff. Kritisch auch Kaufmann-Bühler, Kriegsdienstverweigerung, S. 27 ff.; Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 15. 15 Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, S. 49 ff.;; ders., AöR 89, S. 322 ff. — Die Seitenzahlen i m Text beziehen sich auf diese Stellen. 13

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§ 6 Der verfassungsgeberische Zweck

t e n G r u n d s ä t z e des Sittengesetzes 1 6 , die die l e t z t e n Maßstäbe f ü r das r i c h t i g e H a n d e l n seien, z u r G e w i ß h e i t , w ü r d e n v o m G e w i s s e n e r l e b t u n d eingesehen (S. 328, auch S. 330). Z u m a n d e r e n habe die V e r f a s s u n g u n seres Staates d u r c h das B e k e n n t n i s z u G o t t i n i h r e r P r ä a m b e l 1 7 , d u r c h A r t . 1 I I u n d A r t . 79 I I I das abendländische Sittengesetz z u m Wesensg e h a l t u n s e r e r G e m e i n s c h a f t e r k l ä r t (S. 77, 79, 81) 1 8 . N u n v e r s t e h t aber Hamel das Sittengesetz als „ g e n u i n c h r i s t l i c h " (S. 77, s. auch S. 79) 1 9 u n d z i e h t daraus auch die n o t w e n d i g e K o n s e q u e n z , daß n i c h t c h r i s t l i c h e W e l t anschauungen n u r i n d e n G r e n z e n der c h r i s t l i c h e n F u n d a m e n t e unseres Gemeinschaftslebens gepflegt w e r d e n d ü r f t e n (S. 80), seltsamerweise aber n i c h t die w e i t e r e K o n s e q u e n z , daß n u r das christliche Gewissen e i n Gew i s s e n i m S i n n e des A r t . 4 sei. V i e l m e h r g e n ü g t e n h i e r auch W e l t a n s c h a u u n g e n v o n s i t t l i c h e r Substanz u n d (transzendenter?) B i n d u n g s w i r k u n g 2 0 . A b g e s e h e n d a v o n , daß a u f g r u n d der S p r a c h k o n v e n t i o n zu a n g e b l i c h o b j e k t i v e n M a ß s t ä b e n 2 1 d i e A r g u m e n t a t i o n Hamels als ideologisch a u f gedeckt i s t 2 2 , s t e l l t sich die Frage, w o z u ü b e r h a u p t G l a u b e n s - u n d G e w i s 16

Unbestimmter n u n Hamel, N J W 66, S. 20: „immanente Ordnungsprinzipien der Menschheit". 17 Daraus schließt v. Schlabrendorff, N J W 72, S. 1186, daß unsere Verfassung „Gott u n d damit das ganz Andere" bekenne u n d bejahe, w i e eben jeder Mensch u n d jeder Staat an Gott glaube. Selbst der Mensch, der Gott leugnet, glaube „an seinen Abgott". Das gleiche gelte v o m Staat. — Da v. Schlabrendorff lediglich die Suggestivwirkung des Terms ,Abgott' ausnützt, ohne zu erklären, was hierunter zu verstehen ist, läßt sich die logisch-semantische Brauchbarkeit seiner A b l e i t u n g nicht überprüfen. Sollte m i t Abgott jedoch ein transzendentes Wesen gemeint sein, so läßt sich diese Aussage m i t wissenschaftlichen Mitteln — und n u r auf sie k o m m t es i n diesem Zusammenhang an — weder beweisen noch widerlegen. Die Aussage erweist sich damit als ein Dogma aus der Ideologie des Interpreten. 18 Ä h n l i c h i m Ergebnis auch: A. Kraft, A c P 163, S. 485: Berücksichtigung i n dividueller Gewissensgebote n u r i m Rahmen der geltenden objektiven Moral. Die Beschränkung auf ein westliches oder abendländisch-christliches V e r ständnis der Glaubensfreiheit bezeichnet Listi , Religionsfreiheit, S. 57, als zu eng. 19 Die Stelle ist unklar. Das w i r d die Argumentation zu berücksichtigen haben. 20 Ä h n l i c h w i e Hamel interpretiert K . Peters, J Z 66, S. 459, den A r t . 4 I m i t H i l fe „spezifisch christlicher Lehren", insbes. des Gottbegriffes des Monotheismus. Z w a r könne schon i m Hinblick auf den christlichen Toleranzgedanken nicht gefordert werden, daß der Staat n u r christliches Verhalten dulden oder auch n u r v o n seinen Bürgern christliches Verhalten erwarten dürfe; doch ergebe sich daraus ein „christliches Abwehrrecht", mindestens des Inhalts, „nicht bestraft zu werden, w e n n m a n sich der christlichen Sittenordnung entsprechend v e r hält u n d unter ihrer Beachtung gar nicht anders handeln kann". — K . Peters kennt kein entsprechendes Abwehrrecht der anderen Weltanschauungen oder der anderen sittlichen Überzeugungen. D a m i t werden die Christen (und auch der Interpret!) privilegiert, obwohl das Grundrecht der Gewissensfreiheit jedermann zusteht. Vgl. auch das Folgende! 21 S. oben, § 3, 4. zu F n 56. 22 Vgl. auch A. Arndt, Rechtsdenken, S. 7 (zu BGHSt 6, 47): Die Berufung auf

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sensfreiheit: christliche Sittlichkeit bedarf als erlaubt des Grundrechtsschutzes nicht und abweichende Sittlichkeit ist nicht geschützt 23 . Weshalb sollte aber das Sittengesetz ausgerechnet „christlich" sein? 24 Sollte Hamel jedoch das Sittengesetz als allgemein und nicht nur christlich auffassen, so wäre unverständlich, warum das absolute, sich i m Gewissen offenbarende Sittengesetz gegenüber möglichen Irrungen und Wirrungen eines christlich interpretierten Sittengesetzes weichen sollte. Wenn Hamel hierzu auf das Bekenntnis allen glaubens- und weltanschaulich orientierten Gemeinschaftslebens zu „absoluten, vorgegebenen" Ordnungswerten und Mächten sowie auf das A x i o m materialistischer Weltanschauung i n marxistisch-leninistischen Staaten verweist (S. 78), so negiert er damit für den ersten Fall gerade das „absolute, vorgegebene" Sittengesetz und beruft sich i m Falle staatlich verordneter Axiomatik auf nichts weniger als die Omnipotenz des Staates; damit verkennt er die problemgeschichtlichen Grundlagen der Gewissensfreiheit 25 . Zudem geraten die „christlichen Fundamente" Hamels zusehends ins Schwimmen. Die evangelische Lehre geht von der „fundamentalen Voraussetzung" aus, daß die Gesellschaft kein corpus christianum, daß die Rechtsgemeinschaft des jeweiligen Staats Volkes kein Kirchenvolk ist und nicht etwa als „christliche Gemeinschaft" vorgestellt werden kann 2 6 . Auch die katholische K i r che versteht die Gewissensfreiheit (wie auch die daraus abgeleitete Religionsfreiheit) als ein Grundrecht aller Menschen und bestreitet dem Staat das Recht, auf Gewissen oder Religionsüberzeugung unmittelbar oder ein absolutes Sittengesetz sei i m Hinblick auf A r t . 4 ein „Richten aus dem Glauben über den Glauben". 23 Ebenso: Podlech, Gewissensfreiheit, S. 34, Fn. 15; Böckenförde, W D S t R L 28, S. 59 (beide zu einer ähnlichen Argumentation i n BVerfGE 12, 1.4 f.; 24, 236.246: „ i m Rahmen gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen der heutigen K u l t u r v ö l k e r " . Zusti.: Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 63; Schmidt-Bleibtreu/Klein, A r t . 4 Rdnr. 3; Listi, Ess. Gespräche 3, S. 89; ders., Religionsfreiheit, S. 53, 57 u. ö. —• A b i . — w i e hier — : Badura, JZ 64, S. 340 f., Fn. 54; Esser, Werte, S. 26 f.; Scholler, D Ö V 69, S. 529; Hamann-Lenz, Art. 4 A n m . Β 2; Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 38 Fn. 85). 24 Vgl. auch A. Kaufmann, ARSP 46, S. 568, nach dem das ,Naturrecht' keineswegs eine „abendländische oder gar spezifisch christliche Idee" ist. Noch deutlicher Esser, Werte, S. 13, der es als ein „Paradoxon unserer Z e i t " bezeichnet, „daß w i r glauben, ein sogenanntes abendländisch-christliches Ideal als Ordnungsprinzip aufstellen zu können". 25 Kritisch zu einer solchen transzendenten Verankerung des Gemeinwesens m i t ihrer Einengung der Freiheit: Podlech, AöR 88, S. 186 ff. (dagegen unzutr. Hamel, AöR 89, S. 322 ff.); Scholler, D Ö V 69, S. 534; Böckenförde, W D S t R L 28, S. 50, insbes. Fn. 56; Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 123 Fn. 3. Vgl. auch Luhmann, AöR 90, S. 263; Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 15 f. (mit dem Hinweis, daß hierdurch die Schranken der Gewissensfreiheit v o m jeweiligen Erkenntnisstand des Interpreten abhängig gemacht würden). 26 Dantine, Gewissen, S. 54. Vgl. ferner die Stellungnahmen der V o l l v e r sammlungen des ökumenischen Rates der Kirchen bei Listi, Religionsfreiheit, S. 44 ff.

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mittelbar zwangsweise einzuwirken oder ein religions- oder gewissensmäßiges Handeln zu verbieten, es sei denn, daß i n schwerwiegender Weise gegen menschliche Rechte anderer oder der Gemeinschaft verstoßen w i r d 2 7 . Nach katholischer Ansicht besitzt auch das Bekenntnis des Staates zu der Religion, welcher der überwiegende Teil seiner Bürger angehört, für den einzelnen Staatsangehörigen keinerlei Verbindlichkeit 2 8 . Hinzuweisen ist auch darauf, daß die christliche Moraltheologie die Totalität des „absoluten, vorgegebenen Sittengesetzes" immer mehr i n Frage stellt. Selbst die katholische Lehre, die grundsätzlich „an der Möglichkeit und Gültigkeit gewisser allgemeiner Normen" festhält 2 9 , versteht diese Normen i n der Auseinandersetzung m i t existenzialontologischen und existenzphilosophischen Aufweisen heute „primär negativ und grenzziehend" 3 0 und betont, daß der „individuelle Ruf" Gottes „immer i n letzter Konkretheit einem konkreten Menschen" gelte und eine „individuelle A n t w o r t " des einzelnen fordere 3 1 ; die positiven Sätze des „Gesetzes" wiesen „verbindlich auf Werte hin, die i n der Entscheidung zu berücksichtigen, gegeneinander abzuwägen 32 und dann zu realisieren" seien 33 . Noch weitergehend findet sich i n der reformatorischen Tradition der Typus einer relativen Situationsethik, die zwar allgemeine Normen anerkennt, ihnen aber nur richtungsweisende Funktion zugesteht, die nicht „gesetzlich" mißverstanden werden dürfe 3 4 . Damit ist Hamels „fundamenta fidei" (S. 79) der Boden entzogen. 1.3. Brinkmann Brinkmann 35 erstrebt einen objektiven Gewissensbegriff, nach dem das Gewissen unbeeinflußbar, unbedingt und allein hinzunehmen sei; entgegengesetzte Gewissensentscheidungen seien dann unmöglich (S. 3). Das Gewissen sei zunächst formell ein Wissen, wie sich schon aus der 27 Vgl. Grandel, Gewissen, S. 65 ff. (und die dort S. 75 abgedruckte E r k l ä rung des Vaticanum I I über „Die religiöse Freiheit", A r t . 2) ; Iserloh, Ess. Gespräche 3, S. 23 f.; Listi , Religionsfreiheit, S. 49. 28 Grandel, a.a.O., S. 71 f.; auch Iserloh, a.a.O., S. 27 f.; Hollerbach, ebd., S. 160; Listi , a.a.O., S. 51 ff. 29 Böckle, Gesetz u n d Gewissen, S. 76. 30 Ebd., S. 58. 31 Ebd., S. 75 f.; s. auch S. 58. 32 Hier k l i n g t der Gedanke der Güterabwägung an (vgl. hierzu § 11, 2.4.). 33 Böckle, Gesetz u n d Gewissen, S. 78. 34 Vgl. die Darstellung bei Böckle, a.a.O., S. 59 ff. (m. w . N. zur evangelischen Lehre, die zur Problematik die unterschiedlichsten Interpretationen auf weist). 35 Gewissen, insbes. S. 60 ff. — Die Seitenzahlen i m T e x t beziehen sich auf diese Untersuchung.

1. Zweck u n d Ideologie

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Etymologie ergebe (S. 60). Habe man eine bestimmte Lage erfaßt und könne man zwischen sich ausschließenden Handlungsweisen wählen, so wisse man zugleich die objektiv gesollte Möglichkeit, es sei denn, man sei wertblind. Damit sei das Gewissen ein Wissen u m das Gesollte (S. 61 f.). U m nun die Wertblinden von den Wertsehenden zu unterscheiden, gilt es, das objektiv Gesollte näher zu kennzeichnen. Nun sei gesollt = gebührend = gerecht. Somit ist das Gewissen ein Wissen u m das Gerechte bzw. Ungerechte (S. 63). Es sei aber auch gerecht = recht = Recht = objektiv Gute, und dementsprechend ungerecht = unrecht = Unrecht = objektiv Böse (S. 65), das Gewissen also auch das Wissen um das objekt i v Gute bzw. Böse 36 . Man könne aber auch das Gesollte von einer anderen Seite betrachten: die absoluten Werte und Unwerte seien die „Maßstabseite Gottes", ihr „ K e r n Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit" (S. 74, Fn 60). Als fordernde Maßstäbe das Gerechte bzw. Ungerechte wollend (S. 67), „so daß der Wille Gottes positiv auf das Gerechte, negativ auf das Ungerechte geht" (S. 74, Fn 60), gingen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit — und nur sie allein! — m i t ihren Forderungen auf das, was objektiv sein soll bzw. nicht sein soll. Das Gesollte sei also auch Bemessenes (S. 67). Damit sei das Gesollte bzw. Nichtgesollte nicht beeinflußbar, nur hinzunehmen; es sei objektiv und allgemeingültig. Damit sei aber auch das Gewissen als Wissen u m das Gesollte bzw. Nichtgesollte objektiv und allgemeingültig (S. 62). Nun könne aber an jeden Gegenstand die Frage gestellt werden, ob er sein soll oder nicht sein soll; mehr! jeder solle — ganz oder teilweise — auch tatsächlich sein oder nicht sein, könne also i n dieser Beziehung gerecht oder ungerecht sein (S. 66). Habe somit der Mensch eine bestimmte Situation erfaßt, so wisse er nicht nur das Gesollte, sondern das Wissen sei auch objektiv und allgemeingültig (S. 61 f.). Fehlendes Wissen ergebe ein fehlendes Gewissen (S. 74), der betreffende Mensch sei zu schützen, wenn er kein Gewissen haben könne (S. 75 f.). Die Gewissensfreiheit des A r t . 4 sei demnach das Freisein des einzelnen, seinem Gewissen gemäß zu handeln, obschon er auch nicht diesem gemäß handeln könnte (S. 101), d. h. i n Übereinstimmung m i t dem Wissen u m das zu tuende Gerechte (objekt i v Gute, Gesollte) und u m das zu lassende Ungerechte (objektiv Böse, Nichtgesollte). Also handle nach seinem Gewissen, wer das (objektiv) Gute tut und das (objektiv) Böse läßt (S. 62, 101 f., 114, 127). Die Gewissensfreiheit erfasse demnach nur den, der gerecht handele (vgl. auch S. 127). Nun könne aber Gesetz i m Sinne von „Recht" nur eine Norm sein, die ihrerseits gerecht sei (S. 63 f., 67, 127). Damit können Gewissen (und also die Gewissensfreiheit) und Gesetz niemals kollidieren: der einzelne könne nur das Gerechte wollen, das Gesetz nur das Gerechte fordern.

36

Ä h n l i c h Erw. Stein, Werte, S. 73.

58

§ 6 Der verfassungsgeberische Zweck

Wolle der einzelne das Ungerechte, so sei er nicht von der Gewissensfreiheit geschützt (S. 102). Wolle das Gesetz das Ungerechte, so sei es nicht verbindlich. Brinkmann behandelt die Begriffe als eigene „Wesenheiten", unabhängig von jedem menschlichen Bewußtsein. Selbst wenn man davon ausgeht und damit etwa ihre geschichtliche Komponente mißachtet, so ist noch nicht gesagt, daß die von Brinkmann gefundene Wesenheit die „richtige" ist. Jeder Staat oder Machthaber kann die wahrhaft „gerechte" Ordnung behaupten und somit zwangsweise durchsetzen; abweichendes Verhalten ist gewissenloses Verhalten. Die Gewissensfreiheit verkehrt sich zur Gehorsamspflicht, die Ordnung zur Intoleranz. Indem Brinkmann von vornherein einen objektiven Gewissensbegriff anstrebt und diesen ohne Begründung als allein richtigen ausweist (S. 4), verstellt er sich die Möglichkeit, daß gerade ein subjektiver Gewissensbegriff der „gemeinte" ist. Dadurch, daß Brinkmann gesollt = gebührend = gerecht setzt und da jeder Gegenstand ganz oder i n seiner Teilbedeutung auch tatsächlich sein soll bzw. nicht sein soll, kann er auch formulieren: Das Gewissen sei ein Wissen u m rechtliche Pflichten. Zwar gebe es solche Pflichten auch auf sittlichem Gebiet, aber genauso „auf anderen Gebieten, sogar dem des ästhetischen Werthaften und Unwerthaften. Denn daß jemand Unrecht und nicht Recht tut, falls er etwa einer Stadt ein häßliches Museum errichtet, ist offensichtlich; wie es ebenso offensichtlich ist, daß er jedenfalls die Pflicht zur Unterlassung hat" (S. 86). Damit verläßt Brinkmann die Verständigungsebene gemeinsamer Bedeutungsgehalte der Sprache. Auch wenn nach Brinkmann letztlich der Mensch über das Gewissen m i t Gott i n Dauerkommunikation steht und damit alle Menschen das gleiche Wissen u m Recht und Unrecht haben müßten, so zeigen sich i n Wirklichkeit eine Unzahl verschiedener Auffassungen. Brinkmann rettet sich i n „die nichterfaßte Situation" oder die Wertblindheit, oder gestattet sogar, einen unberechtigten Kriegsdienstverweigerer vom Kriegsdienst zu befreien, wenn er, etwa bei seelischer Not, eine Gefahr für rechtlichen Kriegsdienst darstellt (S. 180). Gerade m i t diesen Lagen, für die Brinkmann wenig zu bieten hat, muß der Gesetzgeber Tag für Tag fertigwerden. Damit liegt die Vermutung nahe, daß das Problem der Gewissensfreiheit nicht dort liegt, wo Brinkmann es sucht. 1.4. Anthropologie,

anthropologische Psychologie u. a.

Dieses Eindringen einer Weltanschauung i n die Interpretation des Grundrechtes der Gewissensfreiheit ließe sich auch nicht ohne weiteres vermeiden, wenn man auf sozialwissenschaftliche Untersuchungen ausweicht 8 7 . Sieht man einmal davon ab, daß schon Fragestellung und For37

Kritisch zur „ O b j e k t i v i t ä t " der exakten Wissenschaft: Fr. Müller,

Norm-

1. Zweck u n d Ideologie

59

schungsmethode den Untersuchungsgegenstand verändern, so liegt auch vielen Untersuchungen, oft klar ausgesprochen 38, eine bestimmte Ideologie zugrunde, insbesondere i n der Anthropologie und der anthropologisch orientierten Psychologie. So etwa w i r d nach Plessner dem Menschen der „Wesenstatbestand seiner Positionalität zum sogenannten Gewissen, zum Quellpunkt der Sittlichkeit und konkreten Moral" 3 9 . Hengstenberg kennzeichnet den Menschen als „das Wesen, das Gewissen hat und dem Gewissen i m selben Sinne nicht entfliehen kann wie dem Selbstbewußtsein" 4 0 ; das Gewissen zeige „unmittelbar i n überbewußter Weise den Charakter der Vorentscheidung" an 4 1 . Wellek verlegt Gemüt und Gewissen i n die „Kernschicht" (Krueger) der Persönlichkeit, u m die sich i n zwiebeiförmigem Aufbau der Mantel der „übrigen Charaktersphären" und die Schale der „Begabungen (und Funktionen)" lagern 4 2 ; „das Gemüt ist der Ort der Bindungen, das Gewissen der verantwortlichen Bindungen, . . . der Bindungen des Begehrens, des Wollens. und Handelns"; die Verantwortlichkeit verweise auf die „ethische Verbindlichkeit" 4 3 ; die Bindung sei „eine relativ dauerhafte oder dauerfähige, nachhaltige, beständige . . . " 4 4 . Nach der Schichtentheorie von Lersch liegt das Gewissen i m endothymen Grund 4 5 ; dort sei es wie jedes seelische Erleben i n den Funktionskreis des Erlebens einbezogen: Aus den Bedürfnissen erwachse ein dranghaftes Suchen als Frage an die Welt, dem A n t w o r t werde durch das Weltinnewerden. Dieses wecke seinerseits einen Widerhall i n A n mutungserlebnissen, die sich als Gefühlsregungen mit dem Erlebnis des Wertes oder Unwertes, der Valenz äußerten. Das Angemutetwerden vollziehe sich i m wirkenden Verhalten, i n dem „sich der beseelte Lebensträger ein zweites M a l auf den Horizont der Welt" entwerfe 4 6 . I m Gewissen rege sich das Anmutungserlebnis der Verantwortung, jedoch nur bei solchen Menschen, „die sich i n der Tiefe des Gemütes überindividuellen Imperativen verpflichtet fühlen, also überindividuelle Bindungen erleben, vor allem Bindungen des Mitgefühls, der Liebe, der Verehrung und struktur, S. 15 f.; Plack, Gesellschaft, S. 16; Henke, Staat 8, S. 7 ff., 13. Z u m folgenden vgl. auch Baumhauer, V o r - U r t e i l , S. 85 ff. 38 Vgl. z . B . Lückert, Konflikt-Psychologie, S. 15 ff., 525 ff.; Plack, Gesellschaft, S. 21 (der aber erst „jenseits anthropologischer Gesinnung" die Ideologieanfälligkeit der Wissenschaft beginnen sieht, aber seinerseits verkennt, daß es keine Ideologie gibt, die nicht ihrerseits ein bestimmtes anthropologisches Verständnis i n ihre Aussagen einbringt). 39 Stufen, S. 3. 40 Philosoph. Anthropologie, S. 59. 41 Ebd., S. 209; vgl. auch S. 51, 58 f. 42 Polarität, S. 100 f. Vgl. auch Baumhauer, V o r - U r t e i l , S. 101. 43 Ebd., S. 324. 44 Ebd., S .332. 45 Person, S. 243, 92 f., 442. 46 Ebd., S. 11 ff., 181 ff.

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§ 6 Der verfassungsgeberische Zweck

der Achtung und solcher normativer A r t i n der Anerkennung allgemein sittlicher Forderungen von Recht und Unrecht, von Gut und Böse" 47 . Doch enthalte das Gewissen nicht nur Verantwortung und Bindung gegenüber den Sinnwerten und dem Sinnbestand der Welt, sondern immer auch eine Verantwortung gegenüber uns selbst, gegenüber unserem individuellen Selbstsein 48 . Zu diesen anthropologischen Ansätzen 49 treten noch transzendierende und theologisierende Psychologen, insbesondere Psychotherapeuten 50 ; etwa Frankly der das Gewissen als „praemoralisches Wertverständnis" deutet und es i n der Transzendenz verankert 5 1 . Vetter versteht das Gewissen als „die ,Gefühlsform' der Beziehung zu Gott und zum Mitmenschen . . . , die . . . eine personale Bindungsmitte schafft" 5 2 . Nach Arnold ist das Gewissen der „angeborene Weisheitsgrund", der sich als „Urwissen vom Guten i m allgemeinen" darstelle 53 . Für Böhler besteht das Gewissen nicht aus Grundsätzen, sondern „aus seelischen Kräften, die uns überfallen und uns synthetische Einsichten vermitteln" 5 4 , während Revers „ m i t psychologischen Mitteln" das Gewissen als „die von rationaltransitiven Strebungen getragene praktische Vernunft" definiert 55 . 1.5. Die „Ideologie des Grundgesetzes" Die Aufzählung sei hier abgebrochen; sie ließe sich beliebig fortsetzen und auf andere sozialwissenschaftliche Bereiche erweitern. Diese Ideologieabhängigkeit gilt auch für die Soziologie 50 , wo sich die philosophischanthropologischen Grundlagen bis i n hochabstrakte Theorien nachweisen lassen, etwa für den strukturell-funktionalen Ansatz Parsons' 57 und damit auch die funktional-strukturelle Systemtheorie Luhmanns. Auch der Blick i n die Philosophie und Theologie zeigt die unterschiedlichsten Auffassungen zum Gewissen wie zur Gewissensfreiheit 58 , die häufig noch 47

Ebd., S. 243. Ebd., S. 244 f. — Zusti. zu Lerschs Thesen: Henkel, Rechtsphilosophie, S. 239 f. 49 Für einen anthropologischen Ausgangspunkt der rechtswissenschaftlichen Untersuchung der Gewissensproblematik: Würtenberger, Gewissen, S. 338. 50 S. hierzu den Überblick bei Häfner, Gewissen, S. 141 ff. 51 Frankl, S. 269, 284 ff. 52 Vetter, S. 223. 53 Arnold, Gewissen, S. 16. 48

54 55

Böhler, Gewissen, S. 82.

Revers, S. 307 f. 56 Vgl. auch Plack, Gesellschaft, S. 124. 57 Vgl. Dreitzel, Die gesellschaftlichen Leiden, S. 119 ff., insbes. F n 30, sowie die Analyse bei Schlottmann, Individualität. 58 S. die Nachweise bei Stelzenberger, Syneidesis. Vgl. ferner etwa: Heideg-

1. Zweck u n d Ideologie

61

i n die Frage nach ihrem „Wesen" mündet 5 9 . Zusammenfassend gilt: „So viele Philosophien . . . , so viele Gewissenstheorien . . . " e o ! Dies bedeutet aber, daß die unbesehene Übernahme einer Theorie, wie eines bestimmt gearteten Gewissensbegriffes, Voraussetzungen impliziert, die nicht jedes Gewissen hinnehmen kann, da sie eine andere Weltanschauung verabsolutieren 6 1 6 2 . U m hier eine Gesprächsbasis zu finden, ger, Sein u n d Zeit, S. 267 - 301 ; Häberlin, A r t . „Gewissen" ; Ermecke, Staatslexikon, Sp. 946 ff.; Henkel, Rechtsphilosophie, S. 130; Hauser, St. d. Z. 178, S. 322 ff. (S. 323: I m Gewissen melde sich der „religiöse G r u n d des menschlichen Herzens"). 59 Z u r Schwäche des „Wesensarguments" i n der Rechtswissenschaft: Scheuerle, AcP 163, S. 429 ff. 60 So zutr. Stadter, Gewissen, S. 15, 35; s. auch S. 65 ff. 61 Sinngemäß ebenso: BVerfGE 12, 45.54 („für alle Bekenntnisse u n d W e l t anschauungen gleich zu interpretieren", „Einheitlichkeit der Rechtsordnung f ü r alle Staatsbürger"); w o h l auch B V e r w G E 9, 97.97f. Ferner: A. Arndt, Rechtsdenken (S. 8 „ f ü r jedermann offen"; S. 13: Verbot, „über Glauben zu richten oder Glauben zu verwerfen"); ders., N J W 68, S. 979; Geiger, Gewissensfreiheit, S. 21 f., 30; Geißler, Kriegsdienstverweigerung, S. 36 f.; Welzel, Gesetz u n d Gewissen, S. 399; Podlech, AöR 88, S. 213, 220 f.; ders., Gewissensfreiheit, S. 21 („relativ-neutral"); Luhmann, AöR 90, S. 259 (Die Wahrheut werde zur Wahrheit einer Teilgruppe degradiert); Erw. Stein, Werte, S. 59; Abram, J o u r nal 67, S. 54 f.; Listi, Ess. Gespräche 3, S. 81; Scholtissek, ebd., S. 106; Rebensburg, Kriegsdienstverweigerung, S. 137; Schiaich, Ess. Gespräche 4, S. 19; Schmidt-Bleibtreu/Klein, A r t . 4 Rdnr. 12; Hamann-Lenz, A r t . 4 Rdnr. 12; Bäumlin, W D S t R L 28, S. 3 f.; Böckenförde, ebd., S. 66 f.; Maunz-DürigHerzog, A r t . 4 Rdnr. 124. Vgl. auch: A. Kaufmann, Gesetz u n d Recht, S. 374, der sich gegen einen einseitigen weltanschaulichen, religiösen oder politischen Standpunkt des Gesetzgebers wendet, w e i l er sonst „diejenigen, die diese Auffassungen nicht teilen, i n Gewissenskonflikte bringen m u ß " ; Matussek, St. d. Z. 177, S. 431, nach dem „autoritäre Wertsetzungen . . . f ü r das konkrete Gewissen nicht verbindlich sein" können. Nach Esser, Werte, S. 11, sind „»gleichberechtigt 4 n u n einmal auch die Erkenntnis,fehler'". Differenzierend: Scheuner, DÖV 61, S. 203. A . M . : Hamel, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, S. 49ff.; Brinkmann, Gewissen, S. 9, insbes. F n 2; K . Peters, Überzeugungstäter, S. 261, 264 f.; v. Schlabrendorff, Friedensgebot, S. 412 ff.; ders., N J W 72, S. 1185 ff. Vgl. auch die wertneutrale Interpretation der Kunstfreiheitsgarantie bei Knies, Kunstfreiheit, S. 214 ff. (mit einem problematischen „Definitionsverbot", S. 217). A u f das allgemeine Verbot wertender Stellungnahme des k u l t u r f ö r dernden Staates hinsichtlich der Grundrechtsbetätigungen verweist m i t Recht H. Weber, Staat 8, S. 512, F n 52. Gegen einen Privilegiencharakter v o n Grundrechten allgemein: Fr. Müller, Positivität, S. 43 ff. 62 Wieso aus der (oben anerkannten) Relativität, die i m m e r n u r erkenntniskritisch u n d wegen des Fehlens objektiver Maßstäbe nicht ontologisch sein kann, ein „absoluter Wahrheitsanspruch subjektiver Erkenntnisse" entspringen soll (so A. Kaufmann, ARSP 46, S. 567; Hervorhebung von mir), ist nicht einzusehen. W o h l aber könnte aus der Relativität der Erkenntnis ein „absoluter Lebensanspruch" des Jedermann hergeleitet werden, d. h. mangels objektiver Maßstäbe hat jedermann das Recht, wegen seiner Meinungen, Überzeugungen, Kunsterzeugnisse, Lehren usw. nicht verfolgt zu werden (eine sog. „postulierte Selbstverständlichkeit"!). Vgl. auch i m folgenden!

62

§ 6 Der verfassungsgeberische Zweck

einen „Diskussionshorizont" 63 zu öffnen, ist der Blick dorthin zu lenken, von wo er vorschnell abgewendet wurde: zum Grundgesetz 64 . Mag auch die Gewissensfreiheit selbst unmittelbar zu ihrem verfassungsgeberischen Zweck nichts aussagen, so steht sie doch i n einem Bedeutungszusammenhang m i t dem gesamten Grundgesetz, und hier vor allem mit dem Grundrechtskatalog. Ob und inwieweit der Weltanschauung des Interpreten und der des herangezogenen Wissenschaftlers eine „Ideologie des Grundgesetzes" entgegensteht, ist zu erörtern. Nicht übersehen w i r d die Möglichkeit ihres Mißverständnisses und die Notwendigkeit eines Konsenses 65 . Zuvor sei jedoch die Eigenart eines gesetzgeberischen Zwekkes untersucht, u m von hier aus die Ideologie des Grundgesetzes besser i n den Griff zu bekommen. 2. Die Eigenart des gesetzgeberischen Zweckes

Die soziale Wirklichkeit w i r d vom Gesetzgeber nicht so hingenommen, wie sie ist oder gar wie sie angetroffen wurde. Sie w i r d nach den Vorstellungen des Gesetzgebers bewußt gestaltet Anderenfalls wäre man gezwungen, die soziale Wirklichkeit als schlechthin mechanisch funktionierend vorauszusetzen, den Rechtsnormen lediglich beschreibenden Charakter beizumessen 66 . Zielt aber die Gesetzgebung auf Sozialgestaltung, dann ist ihr ein teleologisches Modell zur Analyse der Problemstrukturen angemessener als etwa ein kausales 67 ; doch bedeutet dies nicht, daß es auf Kausalität nicht ankäme 68 . Vielmehr setzt Gestaltung der sozialen Wirklichkeit zunächst voraus, daß ein Zweck festgelegt wird. Diese Zwecksetzung geschieht i n der Weise, daß sie das Endstadium kau63

P. Schneider, W D S t R L 20, S. 35. Erw. Stein, Werte, S. 41, beschränkt ebenfalls die Rechtsdogmatik auf das Verstehen des „Sinngehalts einer verbindlichen opinio iuris". Nach i h m (a.a.O., S. 51) k a n n „verbindliche Interpretationstheorie . . . n u r eine Rechtstheorie sein, deren Werte m i t der verfassungsmäßigen Ordnung der freiheitlichen rechtsstaatlichen Demokratie i n Einklang stehen". 65 Diese Notwendigkeit betont auch A. Kaufmann, ARSP 46, S. 559, nach dem jedoch die v o n i h m sog. „Konvergenz" der Sachkundigen über den hier lediglich erkenntniskritisch aufgefaßten Konsens hinaus „ K r i t e r i u m . . . (wie) auch M i t t e l der Erkenntnis des Konkreten" sei u n d „der Entscheidung die objektive Grundlage . . . geben (?) u n d sie daher (sie!) sachlich . . . stützen" könne. — Z u m „Konsens" vgl. auch unten § 11, 2.4.1.! 66 Wie dies eine materialistische Welt auf fassung tut. Es handelt sich also bei dieser These u m eine ideologische Festsetzung. 67 Diese (systemimmanente) methodologische Festsetzung ist v o n einer ontologischen Deutung des Modells scharf zu unterscheiden. 68 Vgl. zum folgenden Nie. Hartmann, Ethik, S. 193 ff.; Krawietz, Recht u n d Funktion, S. 80 ff.; Weinberger, Rechtslogik, S. 223 ff., 291 ff., 305. Vgl. auch Schindler, Verfassungsrecht, S. 63 ff.; Engisch, Einführung, S. 21 ff. (m. w . N.); Chr. Müller, Mandat, S. 217, 219; sowie die tastende Andeutung bei Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S. 60. — S. auch Rauscher, Wissen u n d Gewissen, S. 47 ff.; Burghardt, Entscheidung, S. 103 ff., insbes. S. 107. 64

2. Die Eigenart des gesetzgeberischen Zweckes

63

saler Abläufe gedanklich vorwegnimmt oder erfahrungsmäßige Abläufe zu ihren Endpunkten gedanklich nachvollzieht, d. h. die Gesetzgebung hat zu bedenken, was i n der sozialen Wirklichkeit gestaltet, was nur verändert, was belassen werden soll; sie fingiert künftige Sachverhalte, wie sie eine (erfolgreiche) Rechtsnorm hervorbringen soll. U m aber diesen Zweck zu erreichen, müssen Mittel i m Hinblick darauf gewählt werden, ob sie den gesetzten Zweck mittelbar oder unmittelbar zur Kausalfolge haben oder nach der Erfahrung haben könnten. Der Gesetzgeber w i r d also zu prüfen haben, ob die M i t t e l zur Zweckerreichung „geeignet", ob sie — teleologisch gesehen — „nützlich" für die geplante Sozialgestaltung sind. Denn Rechtsnormen lassen sich nur dann dem vorausgesetzten Zweck entsprechend final überformen, wenn die Kausaleinsichten oder Erfahrungen zutreffend sind. Diese Einsichten und Erfahrungen liefert die Wissenschaft als Orientierungsdaten, ohne jedoch ihrerseits Zweck oder M i t t e l i n bestimmter Weise zu determinieren oder auch nur nahezulegen. So bietet etwa die Wirtschaftswissenschaft nur die Konjunkturhypothesen, die der Gesetzgeber dann möglicherweise zu einem konjunkturlenkenden Gesetz verarbeitet. Die Zwecksetzung und Wahl der M i t t e l w i r d durch die „Willensäußerung" 6 9 des Gesetzgebers i n Geltung gesetzt. Die Rechtsnorm ist also Realisation des Zweckes durch Einleiten des gewählten Kausalablaufes. Indem sie auf menschliches Verhalten einwirkt, t r i t t sie als zusätzliche Determinante i n den Kausalablauf ein und verändert seine Richtung. Die verarbeiteten Kausaleinsichten und Erfahrungen werden verifiziert oder falsifiziert 70 . N u n blieb bisher ungeklärt, warum der Gesetzgeber gerade diese Zwecke und M i t t e l auswählte; denn es gibt zahllose mögliche Zwecke, mögliche Mittel. Entscheidend ist, daß der Gesetzgeber die Zwecke und M i t t e l „wertet" und sich dann für einen Zweck und die dafür erforderlichen M i t t e l „entscheidet". Die Zweck-Mittel-Festlegung jeder rechtlichen Gestaltung geschieht also durch Wertungen und Willensentscheidungen. Wertungen sind Regeln des Vorziehens und Nachsetzens 71 . Während für M i t t e l i n der Regel das teleologische Werturteil „geeignet" ausreichen mag, ist der Zweck durch „zusätzliche, an den bereits fixierten Rechtswerten orientierte Wertungen" festzulegen und w i r d an höher bewerteten Zwecken ausgerichtet 72 . Norminhalte sind also nicht nur tele69

Leisner, Grenzen, S. 1191. Vgl. auch Weinberger, Rechtslogik, S. 226 f. 71 Diese Präzisierung des Ausdrucks „Wertungen" ist weitgehend anerkannt: Scheler, Formalismus, S. 45, 48 f.; Nie. Hartmann, Ethik, S. 118, 272 ff., 284 ff.; Stoker, Gewissen, S. 97; Zippelius, Wertungsprobleme, S. 125; Engisch, E i n führung, S. 28; Luhmann, Grundrechte, S. 44, F n 12, S. 214; Podlech, AöR 95, S. 195; Weinberger, Rechtslogik, S. 298; w o h l auch Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S. 61. 72 Krawietz, Recht u n d Funktion, S. 93. Eine Bindung des Gesetzgebers an 70

64

§ 6 Der verfassungsgeberische Zweck

ologisch, sondern auch axiologisch bestimmt, d. h. bestimmt an einer Werttradition der einzelnen Norm und einer zusammengefaßten Vielzahl antizipierter und additiver Wertungen 7 3 . 3. Die Problemstellung der Grundrechte

Wendet man sich von hieraus dem Grundgesetz, vor allem den Grundrechten, wieder zu, so scheinen sich Voraussetzungen gewinnen zu lassen, die jedes Gewissen hinnehmen kann. 3.1. Das tripolare

Spannungsverhältnis

Ein Rückgriff auf die problemgeschichtliche Konstellation „Konflikt ,Gewissensnorm:Gesellschaftsnorm'" und auf die vergleichbaren Zuordnungsprobleme der anderen Freiheitsrechte enthüllt, daß nicht etwa bloße Kompetenzen zugewiesen werden sollten, sondern daß zu den veränderten Bewußtseinsstrukturen und ihrer Folge des aufgezwungenen Individualismus Stellung bezogen werden sollte. Oder prägnanter: Der Konflikt „Individuum:Gesellschaft" ist das Thema der Freiheitsrechte 74 . Zu Recht wurde darauf hingewiesen, daß „das dichotomische Kontrastmodell" Individuum:Gesellschaft nicht der gesellschaftlichen W i r k lichkeit entspricht 75 . Doch hindert dies den Verfassungsgeber nicht, Individuum und Gesellschaft für die rechtliche Sphäre i n dieser Weise zu polarisieren 70 , da die Konkordanz beider rechtlich irrelevant, ihre Diskordanz rechtlich erfaßt ist und hinzutretende Interessensphären dritter Systeme durch spezifische Gewährleistungen oder durch Neu- oder Umdeutung der Formalstruktur des Grundrechts erfaßt werden können 7 7 . Nicht aber hat das Recht die Aufgabe, soziologische Theorien zu normieren; die Totalität gesellschaftlicher Wirklichkeit ist dem Recht gleichgültig. Doch ist der Dualismus „Individuum:Gesellschaft" i n der Tat noch zu eng. Aus der amorphen Masse „der" Gesellschaft, aus ihrer abstrakten Interessenebene t r i t t häufig der „andere", der „Dritte", sei es als einzelner, sei es rechtsphilosophisch erarbeitete teleologische Axiomensysteme v e r t r i t t Klug, Logik, S. 176 f.; vgl. aber Leisner, Gewissen, S. 1183. 73 Krawietz, Recht u n d Funktion, S. 97. 74 Vgl. schon Fechner, Freiheit u n d Zwang, S. 8 ff. F ü r die Gewissensfreiheit etwa Geißler, Kriegsdienstverweigerung, S. 133 f.; Bäumlin, W D S t R L 28, S. 4. 75 Luhmann, Grundrechte, S. 29, 42 f., 80 ff., 206, 210. Vgl. auch Schlottmann, Individualität, S. 61 f. Nach Häberle, W D S t R L 30, S. 87 (auch m i t F n 189) w i r d das „eindimensionale Verhältnis I n d i v i d u u m - Staat . . . durch eine Vermehrung des Kreises der . . . betroffenen einzelnen u n d Gruppen zu einem »mehrseitigen' Leistungsverhältnis", i n dessen Rahmen Grundrechtskollisionen zu lösen seien. 76 S. auch Erw. Stein, Werte, S. 53 f. 77 Vgl. auch Luhmann, a.a.O., S. 206 f., 209, 211.

3. Die Problemstellung der Grundrechte

65

als Gruppe, hervor. Seine Interessen sind von denen der Gesellschaft deutlich abgehoben; sie konkurrieren mit den Interessen des Individuums und den Interessen der Gesellschaft. Für diesen neuen Konfliktstoff kann nicht etwa auf die Regelung zugunsten des Individuums hingewiesen werden; denn was für „das" Individuum, d. h. für alle, gilt, kann nicht selbst Maßstab dafür sein, wie Konflikte zwischen den Individuen entschieden werden können. Es besteht also ein tripolares Spannungsverhältnis zwischen dem Individuum, dem Dritten und der Gesellschaft (die verstanden sei als der Repräsentant der Gesamtheit allgemeiner Interessen und Güter, die nicht mehr einem konkreten Dritten formal zugeordnet werden können). Diese Polarität schließt nicht aus, daß die Gesellschaft die Interessen des D r i t ten m i t wahrnimmt; sie bleiben aber dessen Interessen. Jede Verfassung hat zu dieser Polarität Stellung zu nehmen; sie ist das „magische Dreieck" des Staatsrechts, dessen Gewichte stets von neuem zu bestimmen sind; sie ist das Thema der Grundrechte. 3.2. Zwecke der Grundrechte Die Frage, wie die Pole einander zuzuordnen sind, läßt sich verschieden beantworten: ein extremer Liberalismus w i r d das Individuum allein betonen, der Gesellschaft nur „Nachtwächter"-Funktionen zuweisen und dem Dritten gegenüber gleichgültig sein. Der Kollektivismus w i r d die Gesellschaft als solche hervorheben, den Dritten als Glied dieser Gesellschaft sehen und insoweit fördern und das Individuum i n einen schmalen Bereich abdrängen. Der totale Wohlfahrtsstaat w i r d dem Dritten den höchsten Rang zuweisen, das Individuum nur noch i n seiner Beziehung zum D r i t ten gelten lassen und der Gesellschaft nur noch Verteilungs- und Zuteilungsfunktionen zugunsten des Dritten einräumen 7 7 3 . A l l diese Zuordnungen sind wertende Entscheidungen der jeweiligen Verfassungen; sie werden durch entsprechende Normengefüge verwirklicht. Der Grundrechtskatalog des Grundgesetzes scheint eine vermittelnde Stellung einzunehmen. Die wertende Entscheidung scheint beim Individuum zugunsten der Zwecke „Würde und Freiheit" zu fallen, beim Dritten zugunsten der „Gleichheit" und bei der Gesellschaft zugunsten einer die beiden anderen Pole „schützenden und fördernden Ordnung". Inwieweit dem noch ein „Toleranzprinzip" als Prinzip gegenseitig ach-

77a S. auch Häberle, W D S t R L 30, S. 102. Weshalb Wohlfahrtsstaates . . . faktisch-politisch irreversibel" Kröger, ebd., S. 182), wäre allerdings zu belegen. — Freiheit u n d Gleichheit" vgl. auch Dürig, W D S t R L genden!

5 Freihalter

die „ D y n a m i k des sozialen ist (Häberle, a.a.O.; zusti. Z u m „Antagonismus von 30, S. 155. Hierzu i m fol-

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§ 6 Der verfassungsgeberische Zweck

tender Rücksichtnahme entnommen werden kann 7 8 , bleibe hier dahingestellt; es scheint jedoch dem Versuch des Gesetzgebers, die Pole konvergieren zu lassen, nicht unangemessen 79 . Der Zweck der „Unantastbarkeit der Würde des Menschen" steht an hervorrangender Stelle des Grundgesetzes; auf i h n ist die staatliche Gewalt verpflichtet (Art. 11); er liegt allen Grundrechten zugrunde 80 . Die „Freiheit" ist ein durchgängiger Begriff des Grundrechtsteiles, der i n verschiedenen Varianten und Stufen gesehen und i n unterschiedlicher Weise geschützt, jedoch als „Freiheit" entschieden verfochten wird. Die „Gleichheit" w i r d lapidar niedergelegt (Art. 3 I); sie konkretisiert sich i n absoluten Differenzierungsverboten (Art. 3 III) und aktualisierten Verfassungsaufträgen (Art. 3 II, 6 V ) 8 0 a . So entschieden aber auch das Individuum und der Dritte betont werden, so werden sie doch deutlich auf die Gesellschaft verpflichtet, wie sich aus A r t . 21, 12 a, 14 I I , 14 I I I , 15, 18, 20 I, 2811 ergibt. Mag der Eigenwert des „Menschen" noch so betont werden durch die Voranstellung des Grundrechtsteils und ihre differenzierte Ausgestaltung, so bleibt er doch eingebunden i n die Gemeinschaft, wenn auch unter Wahrung seiner Eigenständigkeit 81 . Anderenfalls hätte das Grundgesetz bereits selbst den Sprengstoff an den eigenen Verfassungsbau gelegt 82 und wäre von Tag zu Tag i n Frage gestellt, während es sich selbst als auf relative Dauer entworfen sieht (vgl. Präambel, A r t . 79 III). Diese Zweckanalyse w i r d auch deutlich durch den Antwortcharakter des Grundgesetzes bestätigt 8 3 . Gerade die Freiheit und Würde des einzelnen Menschen waren i m Dritten Reich bedroht und zerstört; einzelne oder Gruppen wurden gegenüber Dritten bevorzugt, Minderheiten benachteiligt oder vernichtet; das Volk wurde verabsolutiert. Gerade gegen diese „Umwertungen" entschied sich das Grundgesetz; es wollte positiv Freiheit, Würde und Gleichheit und versuchte, die Ordnung auf ein Maß 78

S. unten, § 9, 3.3. zu F n 39 ff.; sowie § 11, 2.4.2. zu F n 70. F ü r das Verhältnis I n d i v i d u u m : D r i t t e r (gegenseitige Achtung der Freiheit u n d Würde des anderen) andeutend: Scholtissek, N J W 52, S. 562; Fechner, Soziologische Grenze, S. 35; deutlich: Bäumlin, W D S t R L 28, S. 25 f.; Böckenförde, ebd., S. 54. 80 Ebenso BVerfG DVB1. 71, S. 685. Vgl. auch Erw. Stein, Werte, S. 53, 55 ff. 8 °a Häberle, W D S t R L 30, S. 96: „Gleichheit gewährleistet, daß Freiheit nicht Gruppenprivileg w i r d . " 81 Vgl. BVerfGE 4, 7.15. — Ä h n l i c h : BVerfGE 6, 32.40; 6, 389.422; 12, 45.51; 24, 119.144; DVB1. 71, 49.51; DÖV 72, S. 608 (unter Betonung dieses Gedankens insbes. f ü r den Bereich der staatlichen Teilhabegewährleistungen). Vgl. auch H. Peters, Hist. Jb. 72, S.473; Erw. Stein, Werte, S. 53; Gebh. Müller, FamRZ 69, S. 9 („personenhafte Ordnung"); v. Burski, Zeugen Jehovas, S. 90. 82 S. hierzu: B V e r w G E 1, 321.323; Welzel, Gesetz u n d Gewissen, S. 400; Bettermann, Grenzen, S. 12; Evers, JZ 68, S. 527; Gebh. Müller, FamRZ 69, S. 9; Böckenförde, W D S t R L 28, S. 54; Paul, F u n k t i o n des Gewissens, S. 31. Vgl. auch Mirbt, Gewissensfreiheit, S. 325. 83 Vgl. oben, § 4 nach F n 6, sowie Böckenförde, W D S t R L 28, S. 47 ff. 79

3. Die Problemstellung der Grundrechte

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z u r ü c k z u f ü h r e n , das diese Z w e c k e stützte, o h n e sie d e r e n F e i n d e n ausz u l i e f e r n ( A r t . 9 I I , 18, 21 I I ) 8 4 . V o n h i e r a u s z i e l t das Grundgesetz n o t w e n d i g a u f e i n H a r m o n i e r e n dieser Z w e c k e , w i l l es sich n i c h t selbst i n F r a g e stellen. D e r K o n v e r g e n z g e d a n k e i s t i h m als S t a a t s o r d n u n g n o t w e n d i g i m m a n e n t ; es i n t e n d i e r t d a h e r e i n gesamtgesellschaftliches G l e i c h g e w i c h t 8 5 , jedoch besonderer A r t : es akzentuiert den Menschen, sei es als I n d i v i d u u m , sei es als D r i t t e n . U n t e r diesem A s p e k t p o s i t i v b e w e r t e t e r Z w e c k e ist die u n r e f l e k t i e r t e B e z u g n a h m e a u f „ ( o b j e k t i v e ) W e r t e " u. a . 8 e d a n n unschädlich, w e n n d a m i t l e d i g l i c h die „ o b j e k t i v i e r t e n W e r t u n g e n " bezeichnet w e r d e n sollen, f ü r die sich der Verfassungsgeber — u n t e r d e m G e s i c h t s p u n k t des m e h r ( „ h ö h e r " ) , w e n i g e r ( „ n i e d r i g e r " ) oder g a r n i c h t 8 7 8 8 — entschieden h a t u n d die die ö f f e n t l i c h e G e w a l t w i e auch der I n t e r p r e t w ä h r e n d i h r e r G e l t u n g h i n z u n e h m e n h a b e n . W o jedoch d a m i t außerrechtliche Maßstäbe angez i e l t w e r d e n , besteht die G e f a h r , unversehens eine I d e o l o g i e i n das posi84 Es w i r d darauf verzichtet, den Pol der „Gesellschaft" („Ordnung") auf ein dahinter liegendes Prinzip zurückzuführen, etwa dergestalt, daß die Gesellschaft letztlich n u r den Sinn habe, den Menschen zu seiner höchsten V o l l endung zu führen. Derartige ideologische Anleihen finden i m Grundgesetz keine Stütze. Die Gesellschaft hat nach dem Grundgesetz durchaus „Eigenwert" (ebenso: Gebh. Müller, FamRZ 69, S. 9). Anklänge finden sich jedoch bei K i p p , Kriegsdienstverweigerung, S. 94; Scholtissek, Ess. Gespräche 3, S. 108; aber auch Gebh. Müller, a.a.O. Selbst die Aussage, der Mensch stünde „ i m M i t t e l p u n k t " unserer Rechtsordnung (BVerfGE 7, 198.2041; 12, 45.51; 25, 167.179; Scholtissek, Ess. Gespräche 3, S. 108) oder sei der „gemeinsame Nenner" (Gebh. Müller, a.a.O.) der v o m Grundgesetz gestalteten Gesellschaft, erscheint nicht hinreichend gestützt. Es w i r d deshalb auf die i m Text folgende Formulierung zurückgegangen. Zurückhaltend auch Böckenförde, W D S t R L 28, S. 54 f. 85 S. auch B V e r f G D Ö V 72, S. 608 (Die persönliche Freiheit lasse sich auf die Dauer „nicht losgelöst v o n Funktionsfähigkeit u n d Gleichgewicht des Ganzen verwirklichen".); Schindler, Verfassungsrecht, S. 72, 76 F n 1, 99f., 102f. (der „richtige Ausgleich", das „Gleichgewicht" sei bedeutsam f ü r die „Gesundheit des sozialen Körpers"); Fechner, Freiheit u n d Zwang, S. 12 (Freiheit u n d Z w a n g tendierten zur „Gleichgewichtslage"); A. Arndt, Rechtsdenken, S. 27 („Gleichgewicht"); Otto, ARSP 55, S. 511 m. w . N. i n F n 78: „Harmonie der Wertungen"; w o h l abweichend: Bäumlin, W D S t R L 28, S. 8. Gegenüber soziologischen Einwänden (etwa bei Konflikttheoretikern, ζ. B. Dahrendorf, Pfade, S. 242 ff., 263 ff., 294 ff. u. ö.) sei darauf hingewiesen, daß es sich u m eine rechtliche Aussage über Intentionen der Verfassung handelt. Der Verfassungsgeber w i r d versuchen, den K o n f l i k t zu institutionalisieren, damit zu kanalisieren u n d zu entschärfen. 86 Vgl. BVerfGE 2, 1.12; 6, 32.40; 7, 198.205.215; 12, 45.51; 21, 362.372; 23, 191.202; 24,119.144; Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 1 Rdnr. 1 ff. Z u r „Renaissance des Wertedenkens" kritisch: Esser, Werte, S. 5 ff., nach dem — a.a.O., S. 12 — die Grundrechtsartikel „ n u r ein bestimmtes K u l t u r p r o g r a m m als solches f ü r verbindlich erklären". 87 Eine weitergehende „Hierarchie" verfassungsmäßig geschützter Werte ist abzulehnen. Ebenso: Esser, Werte, S. 9, der zu Recht darauf hinweist, daß die je besondere Konfliktkonstellation ein u n d denselben Wert einmal höher, ein andermal niedriger erscheinen läßt (vgl. zur „Güterabwägung" § 11, 2.4.). 88 Z u m „Verschweigen" v o n Werten vgl. Esser, a.a.O., S. 14.



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§ 6 Der verfassungsgeberische Zweck

tive Recht einzuschleusen und durchzusetzen, eine Werthierarchie des Ethischen zu rezipieren und eine breite „Analogiebrücke" für extensive Interpretationen zu schaffen 89 . Da sich das Grundgesetz aus der Vielzahl möglicher Zwecke nur für wenige „positiv wertend" entschieden hat, kann von „Wertsystem" oder „(objektiver) Wertordnung" nicht gesprochen werden 9 0 . Der Verfassungsgeber hat durch wertende Entscheidung „nicht das als gut Erkannte", sondern „das Gewollte" fixiert 91. Ein „gesellschaftlicher Wert" ist daher i n der Tat „nurmehr ein gesellschaftlicher Sachverhalt . . . , der überwiegend gewollt w i r d " 9 1 und der gewollt wird, w e i l er positiv bewertet wird. 4. Der verfassungsgeberische Zweck der Gewissensfreiheit

Während w i r die Stellung des Dritten und der Gesellschaft i m Hinblick auf die Gewissensfreiheit erst später 92 wieder i n den Blick bekommen werden, gilt es, die erkannten Zwecke der Freiheit und Würde für die Gewissensfreiheit fruchtbar zu machen. 4.1. Der Zweck Freiheit und Würde des Menschen können nicht durch ihre bloße Festlegung i n einer Rechtsnorm erzielt werden. Zudem blieben ihre Konturen ungewiß, i h r Gehalt zweifelhaft und damit jeder beliebigen Weltanschauung geöffnet, die diese Grundbegriffe unter ihren gruppen-ideologischen Aspekten definieren wird. U m aber das intendierte „Fernziel" zu erreichen, stellt das Grundgesetz als M i t t e l die einzelnen Grundrechte bereit und gibt damit dem „Fernziel" mehr Gestalt; dieses w i r d also i n „Nahziele" aufgelöst 93 . Nur dieses Normengewebe, nicht aber eine einzelne Norm, ist i n der Lage, die Intentionen des Verfassungsgebers zu verwirklichen. Dies bedeutet aber keinen Übergang zu einem Grundrechtssystem 94 . Vielmehr werden i n dem durch Freiheit und Würde ge89

So m i t Recht: Leisner, Grenzen, S. 1181 ff. Ebd., S. 1186 f. So aber das B V e r f G (vgl. die Nachweise F n 68); Erw. Stein, Werte, S. 52 (dem Sinn nach jedoch einschränkend, so a.a.O., S. 69: „ k e i n logisch geschlossenes System" u. ö.). Ebenfalls kritisch: Lerche, DVB1. 61, S. 694 f.; Ehmke, W D S t R L 20, S. 81 ff.; Forsthoff, Staat 2, S. 388 ff.; v. Pestalozzi Staat 2, S. 436 ff.; Böckenförde, W D S t R L 28, S. 57 ff.; Hesse, Grundzüge, S. 119 ff.; Scheuner, DÖV 71, S. 509; ders., Verfassungsrechtliche Fragen, S. 311; Listi, Religionsfreiheit, S. 61. Demgegenüber die A n t i k r i t i k von Wittig, Grundrechtssystematik, S. 577 ff. 91 Leisner, Grenzen, S. 1191. 92 S. unten, §§ 10,11. 93 S. dazu Krawietz, Recht u n d Funktion, S. 76 ff. Vgl. auch Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 48; Listi, Religionsfreiheit, S. 59. 94 S. die Nachweise i n F n 90. — A . A . auch: Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 52 f. 90

4. Der verfassungsgeberische Zweck der Gewissensfreiheit

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spannten Rahmen einzelne neue wertende Entscheidungen des Verfassungsgebers 95 eingefügt, die bestimmte Punkte innerhalb dieses Rahmens wertend hervorheben, sei es i n besonders prägnanter Weise und m i t eindrucksvoller Betonung (etwa A r t . 4), sei es i m Sinne einer deutlichen Kennzeichnung (etwa A r t . 9), sei es nur beiläufig und anmerkend (wohl Art. 16 I I S. 1). Die meisten Stellen des Rahmens (Ausreisefreiheit, Vertragsfreiheit u. a. m.) bleiben unerwähnt und gehen i n den Grundbegriffen „Freiheit" und „Würde" auf. Die A r t der Akzentuierung kann Hinweise auf den Stellenwert geben und die Gewichte verteilen. Doch läßt sich daraus keine hierarchisch gegliederte Systematik der Freiheitsrechte analog einer weltanschaulichen Ethik ableiten. Die Einzelfreiheitsrechte haben also die Aufgabe, kausal dergestalt auf das tatsächliche Verhalten des Staates einzuwirken, daß die Fernziele „Freiheit" und „Würde" erreicht werden. Dieser „Einsatz" von Grundrechten ist somit vom Verfassungsgeber final determiniert 9 6 ; die Grundrechte sind M i t t e l zur Erreichung des Fernziels — Mittel, die er aufgrund bisheriger geschichtlicher Erfahrungen und angenommener Kausalabläufe ausgewählt hat und die i h m Freiheit und Würde zu gewährleisten scheinen. Unter diesem Aspekt ist es der verfassungsgeberische Zweck des Grundrechts der Gewissensfreiheit, zur Gewährleistung von Freiheit und Würde beizutragen 97, nicht aber etwa, normierte Aussagen über Kausalabläufe, Sachgesetzlichkeiten, geschichtliche Erfahrungen und Systemzwänge zu liefern 9 8 . Der Verfassungsgeber ist nicht Vollzugsgehilfe empirischer Wissenschaften, sondern definiert Ziele m i t Hilfe von Mitteln. 4.2. Die funktionale

Interpretation

(Luhmann)

Demnach kann auch eine funktionale Betrachtungsweise nicht den Zweck eines Grundrechts angeben 99 , sondern nur, ob das Grundrecht i n der angegebenen Auslegung i n der Lage ist, der Ideologie des Grundgesetzes zu dienen, also zur Gewährleistung von Freiheit und Würde beizutragen. Die Untersuchung der Funktion eines Grundrechts ist daher 95

S. Leisner, Grenzen, S. 1186 f. Z u r „Finaldetermination des Rechtsgeschehens": Krawietz, Recht u n d Funktion, S. 76 ff. 97 A u f diesen Zusammenhang verweist neuerdings auch M a u n z - D ü r i g Herzog, A r t . 4 Rdnr. 1, der allerdings — a.a.O., Rdnr. 11 — den A r t . 4 lediglich als „Konkretisierung des A r t . 1" interpretiert u n d damit die Z w e c k - M i t t e l Relation übersieht. Ä h n l i c h w i e Herzog das B V e r f G N J W 72, S. 1183 (zur Glaubensfreiheit): A r t . 4 I sei „spezifischer Ausdruck der i n A r t . 1 Abs. 1 GG garantierten Menschenwürde". Vgl. auch Baumhauer, V o r - U r t e i l , S. 13. 98 Sozialkritisch zur Überbetonung der „Sachgesetzlichkeit" u n d der „Sachzwänge" : Rauscher, Wissen u n d Gewissen, S. 47 ff. 99 So aber anscheinend: Luhmann, Grundrechte, S. 197; w o h l auch Podlech, Staat 6, S. 347. 98

70

§ 6 Der verfassungsgeberische Zweck

nur Korrektiv auf dem Weg zu einer Auslegung, sie kann dem Grundrecht nicht einen Zweck substituieren. Vielmehr bleibt das Freiheitsrecht auf eine Aussage zur Freiheit und Würde beschränkt, mag diese nun bloß abwehrend, negierend sein oder auch fördernd, aktivierend. Wohl aber vermag die „funktionale Kontrolle" — wie zu zeigen sein w i r d 1 0 0 — den vom Grundrecht bezielten „gesellschaftlichen Sachverhalt" nach seinen Strukturen und Bedingungen abzutasten und gerade darum die Voraussetzungen für eine Freiheits- und Würdeaussage zu schaffen, ohne notwendig i n ideologische Wertungen verfallen zu müssen. Demgegenüber hat Luhmann versucht, m i t Hilfe von systemtheoretischen Erwägungen den „Sinn der Grundrechte" auf den funktionalen Bezugspunkt der sozialen Differenzierung zurückzuführen 101 . Zwar verwahrt sich Luhmann dagegen, die juristische Dogmatik durch die soziologische Analyse ersetzen zu wollen (S. 204 f., 208 u. ö.) 1 0 2 , doch setzt er das „ w o h l wichtigste Strukturmerkmal unserer Gesellschaftsordnung, (die) soziale Differenzierung" (S. 186) i n solcher Weise absolut, daß er damit die Unbrauchbarkeit der juristischen Dogmatik zwingend nahelegt und die funktional-strukturelle Analyse der letzte — hermeneutische — Ausweg zu sein scheint (S. 201 ff., aber auch sinngemäß S. 78 ff., 180 ff. u. ö.). — Nicht erörtert sei die Umstrittenheit der Systemtheorie. Abgesehen sei auch von der Behauptung, daß nicht nur weniger „differenzierte" Gesellschaftsordnungen, wie die Sowjetunion (S. 99 ff., 183) und die DDR, als Länder „niedrigerer" (?) Entwicklung einzustufen seien (S. 198 u. ö.) 103 , sondern auch die zunehmende soziale Differenzierung fast zwangsläufig zur Struktur „unserer" Gesellschaftsordnung zu führen scheint (S. 100 f., 197 ff., insbes. S. 72) — eine These, die die Theorie der sozialen Differenzierung hart an den Rand einer Sozialutopie bringen würde und über die die „Welt des Ostens" wohl kaum mit sich reden ließe (vgl. aber S. 198). Sieht man nun aber m i t Luhmann die Funktion der Grundrechte nur darin, die Entdifferenzierung und Simplifizierung der Sozialordnung 100

S. unten, § 7, 3.2. nach F n 296. Luhmann, Grundrechte, S. 187, 197 u. ö. Seitenzahlen i m Text sind solche des genannten Werkes. — Besonders störend w i r k t an den systemtheoretischen Ausführungen Luhmanns, daß die funktionalen Untersysteme — obwohl bloße Zustände an Dingen (Personen) u n d ihre Variationsmöglichkeiten — fast verdinglicht erscheinen u n d L u h m a n n auch n u r w e n i g (vgl. S. 194 f.) tut v dieser Vorstellung zu begegnen. 102 So aber Podlech, Staat 6, S. 347 f.; ders., Gewissensfreiheit, S. 59 F n 6. los Luhmann unter „niedriger" versteht, läßt sich k a u m ausmachen. Sollte damit lediglich „weniger differenziert" gemeint sein (und dagegen spricht die summative Aneinanderreihung a.a.O. i n Luhmanns stringenten Stil), so handelt es sich bloß u m eine Tautologie, die zudem emotionale V o r stellungen suggeriert. Anderenfalls fehlt der Maßstab (Fortschritt? Wenn j a : welcher „Fortschritt"?) Die Gefahr normativer Bezugspunkte w i r d offenkundig. U n d w a r u m ist eigentlich die „soziale Differenzierung" eine „ v o r t e i l hafte(?) Gesellschaftsstruktur" (S. 19, F n 13)? 101

4. Der verfassungsgeberische Zweck der Gewissensfreiheit

71

durch gleichlaufende Tendenzen des politischen Systems zu verhindern (S. 23, 71 f., 117, 138,187, 197, 200), und betrachtet man A r t . 79 I I I nur als eine A r t Verbot sozialer Regression (S. 184), so werden Grundrechte, wie Art. 3 II, 6 V, teilweise auch A r t . 6 I (vgl. dazu S. 106) sowie der A r t . 15 unerklärlich, w e i l sie unter dem Aspekt sozialer Differenzierung keinen angebbaren, ja sogar — wie A r t . 15 — den entgegengesetzten Sinn haben. Wohl aber können sie unter dem Gesichtspunkt des skizzierten „Fernziels" erfaßt werden. Durch A r t . 4 I I I i. V. m. 12 a muß sich sogar die Gesellschaft selbst i n Frage stellen lassen. Dies widerspricht geradezu dem systemtheoretischen A x i o m der Stabilisierung des Systems und kann nur über eine theoriewidrige ad-hoc-Hypothese berücksichtigt werden; denn die Gewährleistung einer Existenzgefährdung des Systems ist aus dem Stabilisierungsaxiom gerade nicht ableitbar 1 0 4 . Daß auch das Grundgesetz i m Prinzip die Stabilisierung anstrebt, ist unbestreitbar. Doch für hermeneutische Ziele w i r d nur das Zweckmodell dem Grundsatz und der Ausnahme gerecht. Daher ist das „Fernziel" des Grundgesetzes nicht lediglich eine Umformulierung des Bestandsproblems auf der Ebene der Zwecke. Zweck der Freiheitsrechte sind Freiheit und Würde. Hierdurch erstrebt die Verfassung die Gestaltung sozialer Wirklichkeit, was soziologische Theorien widerlegen kann. Die Grundentscheidungen der Verfassung sind geradezu eine Teilklasse der Falsifikationsmöglichkeiten soziologischer Theorie. 4.3. „Freiheit"

— „Würde«

Soll jedoch das Grundrecht der Gewissensfreiheit zur Gewährleistung von Freiheit und Würde beitragen, so ist der von diesen Begriffen gedeckte „Sachverhalt" näher zu beschreiben. „Freiheit" kann nicht W i l l k ü r sein, wenn das Grundgesetz sie i n einer konvergierenden Tendenz zu „Gleichheit" und „Ordnung" sieht. Daß auch i n der Tat das Individuum dem Pol des Dritten und dem der Gesellschaft akzentuierend zugeordnet, nicht übergeordnet, ist, wurde schon aufgewiesen. Der verbleibende Freiheitsraum ist schwerer zu bestimmen. Man w i r d ihn angesichts der möglichen Forderungen der Gesellschaft und Dritter einerseits und der rechtsstaatlichen Sicherungen andererseits dem Grundsatz nach negativ als die Abwesenheit von innerem und äußerem Zwang, als Unabhängigkeit, positiv als Selbstbestimmung des Individuums nach innen (forum internum) 1 0 5 und außen (Außensphäre) beschreiben können („Freiheitsprinzip", „liberales Prinzip") 1 0 6 . 104 Demgegenüber aber Luhmann, Grundrechte, S. 216: Die Funktionsfähigkeit der Systeme sei das „begründende Absolute" (also auch f ü r die Wertung des Verfassungsgebers!). ιοί v g l . Faber, Innere Geistesfreiheit, S. 58 f. (für ein neuartiges Grundrecht der Geistesfreiheit). im j n Verbindung m i t der „Autonomie" bringen die Gewissensfreiheit

72

§ 6 Der verfassungsgeberische Zweck

Die „Würde" des Menschen läßt sich kaum noch von ihren ideologischen Implikationen lösen, doch w i r d man auch hier davon ausgehen müssen, daß A r t . 1 1 nicht die „Positivierung einer bestimmten philosophischen Anthropologie" enthält 1 0 7 . Vergegenwärtigt man sich nochmals den Antwortcharakter des Grundgesetzes und erwägt man „die allgemeine Erfahrung, daß Abhängige, psychisch Abnorme, Asoziale,... Minderheiten und der staatlichen Straf- und Polizeigewalt Ausgesetzte i n ihrer Rechtsstellung und persönlichen Integrität besonders gefährdet sind" 1 0 8 , so reduziert sich der Satz von der Unantastbarkeit der Menschenwürde darauf, daß das Individuum verlangen kann, nicht als Objekt 1 0 9 , sondern eben als Mensch und „nach den dem erreichten Zivilisationsstand entsprechenden Regeln behandelt zu werden" 1 1 0 . E n t w i r f t man sich hierzu das Bild, das sich die Wissenschaft heute vom Menschen macht, so läßt sich der „Standort" der grundgesetzlichen Ideologie zum Individuum ausmachen: Jedem Menschen kommen zeitlose „anthropologische Konstanten" 1 1 1 sowie eine durch jegliche Gesellschaft geprägte (soziokulturelle) „modale Persönlichkeit" 1 1 2 zu. Von ihr ist deutlich die Tatsache der „Individualität" des einzelnen Menschen abzuheben, d. h. der einzelne handelt nicht völlig automatisch und mechanisch, BVerfGE 12, 45.53 f. (In der Gewissensentscheidung u n d i m Gewissen spreche sich „die autonome sittliche Persönlichkeit u n m i t t e l b a r " aus); Zippelius, B K A r t . 4, Rdnr. 6 ff., 40, 48; Kohl, Gewissen, S. 140, 142; Schmidt-Bleibtreu/Klein, A r t . 4, Rdnr. 11; Bäumlin, W D S t R L 28, S. 32; Böckenförde, ebd., S. 40 f. (insbes. zur geschichtlichen H e r k u n f t dieser Idee); Knöpf le, ebd., S. 109; MaunzDürig-Herzog, A r t . 4, Rdnr. 1. — Vgl. auch Paul, Gewissen, S. 25; Cohn, Glaube, S. 7; v. Zezschwitz, JZ 71, S. 12 (Die Glaubensfreiheit schütze „die autonome Hingabe an einen Glauben . . . " ) ; Baumhauer, V o r - U r t e i l , S. 111 ff. 107 Ebenso: Badura, JZ 64, S. 340 f. m i t treffender Begründung. 108 Ebd., S. 341. 109 S. BVerfGE 5, 85.204; 9, 86.95; 27, 1.6; B V e r w G E 1, 159.161; MaunzDürig-Herzog, A r t . 1 Rdnr. 28, 34 ff.; Badura, JZ 64, S. 342, 339. — Α. A . n u n mehr BVerfGE 30, 1.16, das den Würdeaspekt auf die »„verächtliche 4 Behandlung" des Individuums reduziert. Das Gericht t r i f f t hier zwar i n einer glücklichen Formulierung den K e r n der Rechtsnorm von der Menschenwürde, engt aber den „ H o f " möglicher Verhaltensweisen zu stark ein. Wie hier: das „Sondervotum" (a.a.O., S. 40). — Die hier gewählte Formulierung beschränkt sich nicht auf staatliche Verfahren, sondern läßt auch einen Schutzauftrag dahin zu, den einzelnen „davor zu bewahren, zum Objekt gesellschaftlicher' Verfahren zu werden" (so Häberle, W D S t R L 30, S. 85 F n 181). 110 Vgl. Badura, JZ 64, S. 342. — Ferner: Erw. Stein, Werte, S. 57 f. Daß hierin eine gewisse „Mindestideologie" enthalten ist, w i r d nicht v e r kannt. Sie w i r d jedoch verstanden als die aus dem Grundgesetz selbst gerade noch herleitbare Ideologie der Verfassung. 111 Schlottmann, Individualität, S. 5 ff. (m. w . N.); vgl. auch Gehlen, U r mensch, S. 132. 112 Bouman, Soziologie, S. 30, 40, 49. — Ä h n l i c h : König, Soziologie der Familie („sozial-kulturelle Persönlichkeit des Menschen"); Eisermann, Gesellschaft, S. 62, 71 F n 9 („soziale Persönlichkeit"); Fichter, Grundbegriffe, S. 30 f. („soziale Persönlichkeit").

5. Ergebnis

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ist nicht völlig soziokulturell determiniert, sondern ist immer auch i n seiner spezifischen Ausformung unverlierbar („konstant") ein unverwechselbares Besonderes 113 . Jenseits all dieser übergeschichtlichen abstrakten Merkmale eines jeden Menschen (anthropologische Konstanten, modale Persönlichkeit, Individualität) kennzeichnet den Menschen noch als eine A r t zweiter Individualität ein „personales Leitbild", eines unter vielen potentiellen Leitbildern zur soziokulturellen Definition und Prägung menschlicher Individuen 1 1 4 . Dieses Leitbild w i r d vom Grundgesetz über die „Freiheit" nur als das eines Individuums definiert, das dem Pol des „Dritten" und dem Pol der „Gesellschaft" konvergierend zugeordnet ist und die Gestaltung des Leitbildes selbst bestimmt 1 1 5 . Die grundgesetzliche „Freiheit" gibt dem einzelnen die Chance, sich ein beliebiges ideologisches Leitbild zu wählen; er ist hierzu berechtigt, nicht verpflichtet; es gibt kein weltanschauliches oder religiöses Leitbild, das der Zweck staatlicher Intervention wäre. Seine Grenzen ergeben sich erst aus der vom Grundgesetz angezielten konvergierenden Zuordnung des Individuums auf die übrigen Pole des Spannungsverhältnisses. Während demnach die „Freiheit" das personale Leitbild des Individuums schützt, scheint der „Würdeaspekt" den übergeschichtlichen Merkmalen des Menschen zugute zu kommen, den anthropologischen Konstanten, der modalen Persönlichkeit und der primären Individualität des Menschen, also all jenen Merkmalen, die dem Menschen „als solchem" zukommen. 5. Ergebnisse

5.1. Schlußfolgerungen Der Zweck des Grundrechts der Gewissensfreiheit vermag die These von der Selbständigkeit des Grundrechts zu bestätigen; denn nur dann, wenn das Grundrecht nicht leerläuft, wenn es nicht nur eine Tautologie, ein leeres Anhängsel zur Glaubensfreiheit und zur Bekenntnisfreiheit ist, nur dann, wenn es einen eigenständigen Gehalt aufweist, vermag es zum Fernziel der Freiheit und Würde des Individuums beizutragen; denn ein bedeutungsloses Wort kann hierfür nichts leisten 1 1 6 . Ferner scheint dieser Zweck auch die Arbeitshypothese weithin zu bestärken. Zwar w i r d man schwerlich etwas für die These ableiten können, die Gewissensfreiheit sei Freiheit zum Haben oder Nichthaben eines Gewissens, es sei denn, man wollte auf die Freiheit überhaupt zurück113

Ä h n l i c h Schlottmann, a.a.O., S. 9 f., 12. Schlottmann, a.a.O., S. 12. 115 H i e r v o n mag m a n i n der Tat eine „staatsideologische Unterbilanz" des Grundgesetzes ablesen (Forsthoff, Staat 2, S. 395 f.). Sie besteht jedoch nur darin, daß das Grundgesetz keine Zwangsideologie verordnet. 116 Vgl. auch Böckenförde, W D S t R L 28, S. 49 f. 114

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§ 6 Der verfassungsgeberische Zweck

weichen und damit bloße Wortidentität zum Tragen bringen. Doch ließe sich aus dem angedeuteten Hinweis auf das Verhältnis von Freiheit und personalem Leitbild die These vertreten, Gewissensfreiheit umfasse die Freiheit, ein Gewissen so oder anders zu haben. Stärker gesichert scheint jedoch nur die These von der Freiheit, sich gemäß seinem Gewissen zu verhalten. Denn eine Freiheit i m Sinne einer Selbstbestimmung kann nicht nur das forum internum schützen und dem Individuum versagen, dieses forum handelnd i n die Außenwelt zu entwerfen, es sei denn, das Grundgesetz hätte es darauf abgesehen, den einzelnen i n sich und m i t der Umwelt zerfallen zu lassen 117 . Da hierfür nichts spricht, dies vielmehr dem Würdeaspekt zuwiderliefe, darf wohl davon ausgegangen werden, daß der Zweck der Gewissensfreiheit dem Ausschluß jeder Gewissensbetätigungsfreiheit widerspräche. 5.2. Zusammenfassung Der Ertrag des Zwecktopos ist demnach nicht allzu hoch. Er wies auf, daß es Voraussetzungen zu gewinnen gelte, die jedes Gewissen hinnehmen kann und die darin gesehen wurden, daß die Gewissensfreiheit zur Gewährleistung von Freiheit und Würde beizutragen habe. Er ließ den Menschen i m tripolaren Spannungsverhältnis akzentuierend hervortreten, ohne die Gesellschaft zu negieren, und setzte damit Prioritäten und Tendenzen, die der weiteren Auslegung Richtung weisen. Er verwies Kausaleinsichten und Erfahrungen, funktionale Betrachtung und andere wissenschaftliche Orientierungshilfen i n die Gesamtheit weiterer Problemerörterungspunkte, als Korrektiv unhaltbarer oder uneinsehbarer Aussagen ideologischer Provenienz, die unter der weiten Formulierung des Grundrechts der Gewissensfreiheit m i t dem Anspruch absoluter Geltung auftreten. Der Zweck des Grundrechts der Gewissensfreiheit bestätigte ferner die These von der Eigenständigkeit dieses Grundrechts und schien i m Hinblick auf die Arbeitshypothese die behauptete Gewissensverwirklichungsfreiheit zu bekräftigen. Versagt hat jedoch der Zwecktopos insoweit, als er nichts dazu beitragen konnte, i m Rahmen von Freiheit und Würde jene „gesellschaftlichen Sachverhalte" zu finden, die er nach der Intention des Grundgesetzes dekken soll. Sie werden i n der Grundrechtsgarantie m i t dem Tatbestandsmerkmal 1 1 8 ,Gewissen4 näher umschrieben. Es benennt Phänomene der

117 W o h l auch Herzog, DVB1. 69, S. 719; Bäumlin, W D S t R L 28, S. 16. Siehe auch Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 132; Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 51 f.; Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 12. 118 Immanente sachliche Gewährleistungsschranke i m Sinne der Terminologie v. Mangoldt-Kleins, Vorb. Β X V 2 a.

1. Z u r sozialen W i r k l i c h k e i t als Interpretationsbehelf

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sozialen Wirklichkeit 1 1 9 . Dies berechtigt aber, nach seiner Bedeutung zu fragen, auf dem Hintergrund der „etikettierten" Realität. Man w i r d sich demnach verständigen müssen über den sozialen Kontext des Terminus. Bisher gelang es erst, ein forum internum sowie Verhaltensweisen bestimmbarer, aber noch nicht bestimmter A r t „anzudenken", i m Raum unumstößlicher, aber erschütterter Selbstverständlichkeiten anzusiedeln und ihnen die Eigenschaft konkurrierender Kulturmuster m i t „moralischer Qualifikation" zuzusprechen. Der vom Grundrecht der Gewissensfreiheit angezielte „Wirklichkeitsausschnitt" 1 2 0 w i r d nunmehr zu untersuchen sein; er ist das Schutzobjekt des Grundrechts, während das Individuum dessen Rechtsgut ist 1 2 1 .

§ 7 D i e soziale W i r k l i c h k e i t 1. Zur sozialen Wirklichkeit als Interpretationsbehelf

Während es noch vor mehr als einem Jahrhundert so schien, als könne die Rechtsordnung aus „abstrakten", d. h. von der gesellschaftlichen Wirklichkeit losgelösten, Rechtsbegriffen rein logisch aufgebaut werden 1 , wurde schon bald auf die soziale Funktion jedes Rechtssatzes hingewiesen2, und trat die soziale Wirklichkeit i n neuerer und neuester Zeit immer klarer i n den Blick der Rechtswissenschaft. Heute sieht sich vor allem die Verfassungsinterpretation i m Spannungsfeld von Verfassung und W i r k lichkeit und betont verstärkt das Zusammenwirken von Norm und W i r k lichkeit, ihre Wechselwirkung, sei es etwa dergestalt, daß „alles isolierte Verstehen der Norm einerseits, der Wirklichkeit andererseits" abgelehnt und die „möglichst weitgehende Ineinssetzung von Norm und Fakten" befürwortet w i r d 3 , sei es, daß das Recht als integrierender Bestandteil des sozialen Ganzen gesehen und ein „Komplementärverhältnis" von Recht und sozialer „Ambiance" behauptet w i r d 4 , oder sei es, daß erst „Normprogramm" und „Normbereich" gemeinsam die Norm konstitu1,9 Daß „Begriffe" nicht m i t der Realität identisch sind, versteht sich von selbst. S. auch A. Kaufmann, ARSP 46, S. 562; Starck, J Z 72, S. 613. 120 Ä h n l i c h Hamel, AöR 89, S. 333 (Das Recht schütze das gegebene „Substrat" des Grundrechts); Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 23f.; Starck, a.a.O., S. 612 („Wirklichkeitsbereich"). Vgl. auch v. Pestalozza, Staat 2, S. 443. 121 Die Terminologie ist hier noch ungeklärt; vgl. etwa zur Gewissensfreiheit: BVerfGE 12, 45.54; v. Mangoldt-Klein, A r t . 4 A n m . I I I ; Geiger, Gewissensfreiheit, S. 14; ders., Nonkonformismus, S. 62 f.; ders., Gebot, S. 28; Podlech, Gewissensfreiheit, S. 34; Böckenförde, W D S t R L 28, S. 64, 66. 1 Vgl. hierzu Larenz, Methodenlehre, S. 17 ff. 2 Ebd., S. 44 ff. (49 f.). 5 Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 478,480. 4 Schindler, Verfassungsrecht, S. 60 f., 92 ff.

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§ 7 Die soziale Wirklichkeit

ieren 5 . Diese Verwobenheit von Normativem und Tatsächlichem 6 tendiert zur normgesteuerten Auslese von zu regelnder Wirklichkeit i n der Verfassungsinterpretation und kommt nicht von ungefähr, sind doch Verfassungs- und vor allem Grundrechtsnormen i n hohem Maße arm an Informationsgehalt und verweisen nur m i t einem oder wenigen Begriffen auf den angezielten „Wirklichkeitsausschnitt", so für das Grundrecht der Gewissensfreiheit etwa der Begriff „Gewissen". Sind nun die Grundrechte schon von ihren normativen Zwecken her hochgradig „ideologieanfällig" und konnte dem nur durch die Ideologie des Grundgesetzes mit den Zwecken „Freiheit" und „Würde" des Individuums, „Gleichheit" und „Ordnung" sowie mit dem Konvergenzgedanken begegnet werden, so gilt dies nunmehr i n weit höherem Maße für die Ebene des Tatsächlichen. Abgesehen davon, daß es nun einmal nicht möglich ist, die ,Welt' ohne ideologische Färbung zu sehen, schon wegen der allgemein-menschlichen Neigung, unstrukturierte Situationen zu strukturieren und ihnen einen Sinn zu verleihen, u m sich nicht hochgradig verunsichern und verängstigen zu lassen 7 , — abgesehen von diesem ideologischen Vorverständnis scheint jedoch ein „Konsens aller vernünftig und gerecht Denkenden" 8 keinesfalls zu erwarten sein, wenn ideologisch vorgeformte und durchstrukturierte „Wirklichkeit" als die Wirklichkeit schlechthin dargeboten oder von vornherein unterstellt wird. Dies erhöht die Bedenken gegen Formeln wie „Natur der Sache" 9 , „Sachlogik" und „vorgegebene

5 So Fr. Müller, Normstruktur, durchgehend, insbes. S. 150 f., 155 f. „ N o r m programm" ist eine Mehrheit normativer Leitgedanken (a.a.O., S. 119 F n 371), der „Normbereich" der Inbegriff sozial tatsächlicher u n d rechtlicher Sachu n d Wertstrukturen i n ihren normativ erfragten Grundzügen (S. 116 f., auch F n 363, S. 187). 6 Vgl. auch BVerfGE 1, 264.276; 1, 208, 247 ff.; 7, 377; 9, 305.323 f.; v. Pestalozza, Staat 2, S. 440, 442 f.; E. v. Hippel, Grenzen, S. 14; A. Arndt, N J W 66, S. 2206; Krawietz, Recht u n d Funktion, S. 14 u. ö., insbes. S. 36; ders., JuS 70, S. 428; Hirsch, Rechtssoziologie, S. 154 f.; Stratenwerth, Auslegungstheorien, S. 270 f.; Kloepfer, Grundrechte, S. 14 ff., insbes. F n 72, 73 (m. w. N.). — Ferner auch: H. Peters, Hist. Jb. 72, S. 459 f., 463; A. Kaufmann, Geschichtlichkeit des Rechts, S. 270 ff.; Faber, Innere Geistesfreiheit, S. 22 ff.; Starck, JZ 72, S. 612, 614; Häberle, W D S t R L 30, S. 45 ff., 70,188; ders., D Ö V 72, S. 730. Kritisch: Hans H. Klein, W D S t R L 30, S. 169 f. Böckenförde, ebd., S. 162, mißversteht den Interpretationsbehel/ der sozialen W i r k l i c h k e i t offenbar als rechtsnormativen E n t w u r f u n d eigenes Interpretationsverfahren. 7 S. auch Heintz, Soziologische Theorie, S. 82 f. 8 Ehmke, W D S t R L 20, S. 71 f., 131 f.; ähnlich schon Bäumlin, Staat, Recht . . . , S. 27 ff. („praktische Konsonanz" über rechtswissenschaftliche Maßstäbe bei der Rechtsverwirklichung). — Zusti.: v. Pestalozza, Staat 2, S. 430; vgl. auch Lerche, DVB1. 61, S. 697 f. (Ansichtsdeckung). — Kritisch: Leibholz, W D S t R L 20, S. 117 f.; Friesenhahn, ebd., S. 121; Salzwedel, AöR 87, S. 88 f.; Luhmann, Grundrechte, S. 60 F n 19. 9 Scharf kritisiert von A. Arndt, Rechtsdenken, S. 27: „Wo von der Natur der Sache die Rede ist, beginnt die Entmenschlichung des Rechts"; dahinter verberge sich die „Annahme einer Eigengesetzlichkeit der Dinge" m i t der

1. Z u r sozialen Wirklichkeit als Interpretationsbehelf

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S t r u k t u r e n des Sachbereichs", d u r c h die die eigenen S e l b s t v e r s t ä n d l i c h k e i t e n , auch engerer G r u p p e n z u g e h ö r i g k e i t e n , h ä u f i g u n b e w u ß t als „sachlogische S t r u k t u r e n " i n d e n v o n Recht u n d A u s l e g u n g u n t e r s u c h t e n T e r m i n u s h i n e i n p r o j i z i e r t u n d b e i der I n t e r p r e t a t i o n n i c h t n u r das i d e o logische V o r v e r s t ä n d n i s , s o n d e r n die gesamte k u l t u r e l l e D e u t u n g als „ N a t u r d e r Sache" u. ä. w i e d e r herausgelesen w e r d e n 1 0 . K ö n n e n d a m i t die W e l t a n s c h a u u n g e n w i e d e r h a r t a u f e i n a n d e r p r a l l e n , so e m p f i e h l t sich f ü r die Ebene des Tatsächlichen der R ü c k g r i f f a u f jenes F o r u m r a t i o n a l e r u n d i n t e r s u b j e k t i v ü b e r p r ü f b a r e r U n t e r s u c h u n g , das d e n Konsens der v e r n ü n f t i g e n u n d s a c h k u n d i g e n Gesprächspartner geradezu z u m P r i n z i p e r h o b e n h a t : die w i r k l i c h k e i t s w i s s e n s c h a f t l i c h e A n a l y s e 1 1 . M i t i h r g i l t es also, das „ G e w i s s e n " als P h ä n o m e n der sozialen W i r k l i c h k e i t 1 2 zu durchleuchten u n d aufzuhellen 13. Folge, daß „die Dinge zum Götzen, die Menschen aber verdinglicht" würden. Etwas anderes ist es, w e n n m a n m i t A. Kaufmann, Gesetz u n d Recht, S. 383 f., 389 ff.; unter „ N a t u r der Sache" die konkrete Situation i n ihrer zur Entscheidung anstehenden rechtlichen Problematik sieht. Dies dürfte sich auf der Ebene der Verfassung m i t dem (auch hier vertretenen) Gedanken wertender Güterabwägung i m Einzelfall treffen. Vgl. auch A. Kaufmann, Geschichtlichkeit des Rechts, S. 272 f. 10 V o r dieser Gefahr w a r n t insbes. A. Kaufmann, Gesetz u n d Recht, S. 394. 11 Hierzu: Kamlah-Lorenzen, Logische Propädeutik, S. 116 ff. 12 S. dazu: BVerfGE 12, 45.54; Scholler, Gewissensfreiheit, S. 132 ff.; ders., Schw. Monatshefte 1961/62, S. 1280 („soziale Größe"); Geiger, Gewissensfreiheit, S. 22; ders., Nonkonformismus, S. 63; Geißler, Kriegsdienstverweigerung, S. 37 f., 124 f.; Luhmann, AöR 90, S. 258; Erw. Stein, Werte, S. 73 (auch F n 75); K. Peters, Überzeugungstäter, S. 268; A. Arndt, N J W 68, S. 979; Hirsch, Rechtssoziologie, S. 205; Schmidt-Bleibtreu/Klein, A r t . 4 Rdnr. 12; Podlech, Gewissensfreiheit, S. 28; Böckenförde, W D S t R L 28, S. 66; Dantine, F u n k t i o n des Gewissens, S. 57; v. Burski, Zeugen Jehovas, S. 50; Knoche, Vorgänge 70, S. 305; Stadter, Gewissen, S. 9, 12 f., u. ö.; Heinen, Gewissen, S. 197; Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 51. — Psychologische Aussagen gehen ohnehin v o m Gewissen als „psychischer Realität" (Engelmayer, Gewissen, S. 109) aus. Vgl. auch Fr. Müller, Normstruktur, S. 155: Auch Grundrechtstexte, die an pseudonormative Leerformeln grenzten, seien m i t den M i t t e l n topischer H e r meneutik prinzipiell konkretisierbar. Fr. M ü l l e r gibt allerdings nirgends an, w i e diese Konkretisierung durchzuführen sei, gesteht vielmehr an anderer Stelle (S. 221 f.) zu, daß Glaube, Gewissen, K u n s t u n d Wissenschaft nicht rechtserzeugt, i n ihrem produktiven Kernbereich auch nicht rechtlich vorgeformt u n d jedenfalls n u r m i n i m a l rechtlich formbar seien, u n d zieht sich i m übrigen auf den Hinweis (S. 189) zurück, die Einzelheiten der Normbereiche seien „nicht selten unklar, schwierig zu erfassen, umstritten . . . u n d (könnten) die Richtigkeit der Rechtsentscheidung i n nicht grundsätzlich höherem Maße gewährleisten . . . als andere topoi". Vgl. auch ders., Positivität, S. 41 ff. 13 Ebenso: Geißler, Kriegsdienstverweigerung, S. 37 f.; Würtenberger, Gewissen, S. 337; Luhmann, AöR 90, S. 258; Podlech, JuS 68, S. 123; H. Weber, N J W 68, S. 1611; Herzog, DVB1. 69, S. 718; Knoche, Vorgänge 70, S. 305; Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 35, 43. — Α. Α.: Scheuner, DÖV 61, S. 203, F n 13; Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 32. f. Plack, Gesellschaft, S. 247 u. ö., deutet das Gewissen als Repressionsmittel der herrschenden Schicht. Solche Aussagen sind nicht Gegenstand dieser Untersuchung.

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§ 7 Die soziale W i r k l i c h k e i t

Doch wie schon oben dargelegt, sind auch wirklichkeitswissenschaftliche Analysen „ideologisch gesteuert" 14 . Und der Jurist, vor dem Dilemma, die stillschweigend implizierte Weltanschauung des Wissenschaftlers zu übernehmen und unbemerkt i n das Normverständnis einzuschleusen oder auf die Analysen des tatsächlichen Rahmens zu verzichten, innerhalb dessen nach gegenwärtigen Erkenntnissen die Rechtsnorm nun einmal wirken soll, w i r d sich i n der Regel der Mühe entziehen, sondierend und vergleichend tätig zu werden. Er w i r d auf den „allgemeinen Sprachgebrauch" 15 , auf den paritätischen Vergleich weltanschaulich verschieden orientierter Standardwerke und Lexika ausweichen 16 oder sich nur von seinem eigenen Verständnis leiten lassen. Und damit kann die Ideologie wieder unkontrolliert einfließen, werden Gewissen wieder m i t Weltanschauungen konfrontiert, die sie nicht hinnehmen können und die ihnen „Freiheit" und „Würde" beschneiden. Der Rechtswissenschaft verbleibt — w i l l sie auf die angezielten „gesellschaftlichen Sachverhalte" nicht verzichten — demnach nur, die Gemeinsamkeiten oder auch Ähnlichkeiten von „Basissätzen" und „Hypothesen" 1 7 aus den wirklichkeitswissenschaftlichen Analysen herauszuziehen und sie immer auch an der Ideologie des Grundgesetzes zu überprüfen. Dabei w i r d man sich jedoch immer bewußt bleiben müssen, daß die Wissenschaft m i t Theorien arbeitet, die nicht m i t der ,Welt' identifiziert 1 8 und auch tagtäglich modifiziert, falsifiziert und neu entworfen werden können. Dies bedeutet etwa für das „Gewissen", daß nicht nach seinem »Wesen', sondern nur nach seinen Äußerungen, nach seinen Eigenschaften und seinen Relationen i m Rahmen unserer gegenwärtigen Erkenntnisse zu fragen sein wird. Es w i r d nunmehr zu überprüfen sein, ob und inwieweit die Gewissensfreiheit i m Sinne einer Freiheit des gewissensmäßigen forum internum und des gewissensmäßigen Verhaltens, also i m Sinne der Arbeitshypothesen, als „ M i t t e l " geeignet ist, zum Fernziel der „Freiheit" und „ W ü r de" des Individuums beizutragen. Dies w i r d es notwendig machen, zum

14 Vgl. oben, § 6, 1.4. zu F n 37 ff. Dies ist auch dann der Fall, w e n n m a n die Wissenschaftlichkeit „ n u r durch Rück-Sicht auf die N a t u r des Menschen" legitimiert sieht u n d damit eine bestimmte anthropologische Gesinnung v o n der „ N a t u r " oder der „Natürlichkeit" des Menschen unterlegt u n d v o n hier aus seine wissenschaftlichen Aussagen begründet (so aber Plack, Gesellschaft, S. 21 u. ö.)! 15 BVerfGE 12, 45.54; zusti.: Listi , Religionsfreiheit, S. 122; ähnlich MaunzDürig-Herzogf, A r t . 4 Rdnr. 124. — Kritisch m i t Recht: Böckenförde, W D S t R L 28, S. 67. 16 B V e r w G E 7, 242.246. — Kritisch m i t Recht: Böckenförde a.a.O. 17 Vgl. Popper, L o g i k der Forschung, S. 17 f., 44 ff. u. ö. 18 Popper, ebd. S. 31 : „ D i e Theorie ist das Netz, das w i r auswerfen, u m ,die Welt' einzufangen."

2. Das „ f o r u m i n t e r n u m " des Gewissens als Schutzobjekt

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Phänomen des Gewissens Aussagen zu formulieren 1 9 , u m überhaupt die Tragweite rechtlichen Schutzes ermessen zu können. 2. Das „forum Internum" des Gewissens als Schutzobjekt der Gewissensfreiheit

Die Ausdrücke „gewissensmäßiges forum internum", „forum internum des Gewissens" oder auch nur „forum internum" seien synonym gebraucht für die Gesamtheit aller inneren Vorgänge und Zustände, die auf ein bestimmtes Phänomen, eben das „Gewissen", bezogen sind 2 0 . Es verbleiben danach auch andere Bereiche innerer Zustände und Vorgänge, die etwa zum „Glauben", zur „Kunst", zur „Meinung" usw. oder allgemein zur „Freiheit" oder zur „Würde" gerechnet werden können. 2.1. Freiheit, ein Gewissen zu haben oder nicht zu haben Z u m ersten Aspekt des „forum internimi" wurde beim Grundrecht der Gewissensfreiheit die These vertreten, es umfasse auch die Freiheit, ein Gewissen zu haben oder nicht zu haben. Sie läßt sich jedoch nicht aufrechterhalten 21 . Abgesehen von Anomalien sowie vom K i n d i n der ersten Lebenszeit ist das Gewissen eine „Urgegebenheit des Menschen" 22 . Ob man dabei eine spezifische Gewissensanlage oder -disposition annehmen muß 2 8 oder auf eine Instinktgrundlage des Phänomenkomplexes „Gewissen" zurück19

Α . Α.: Podlech, Gewissensfreiheit, S. 22, 27 f. Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 6, bezieht das „ f o r u m i n t e r n u m " n u r auf die „Freiheit des Denkens". 21 Vgl. die Nachweise unter § 5, F n 70. 22 Lückert, Konflikt-Psychologie, S. 378; a. Α . : Scheler, Formalismus, S. 335. Wie hier: Häberlin, A r t i k e l „Gewissen"; Zulliger, Gewissen, S. 15; Caruso, Jb. Psych. 54, S. 348; Revers, S. 308; Pauleikhof f, S. 475; Werblowsky, Gewissen, S. 91; Schär, Gewissen, S. 121; Rudin, Gewissen, S. 140 ff.; Jung, Gewissen, S. 192; Ermecke, Staatslexikon, Sp. 946; Geiger, Gewissensfreiheit, S. 22; ders., Nonkonformismus, S. 63; ders., Gebot, S. 22; Geißler, Kriegsdienstverweigerung, S. 41 f.; Stelzenberger, Gewissen, S. 7, 57; Würtenberger, Gewissen, S. 338; Becker, St. d. Z. 175, S. 230; Engelmayer, Gewissen, S. 133 ff.; Pöggeler, Gewissen, S. 173 ff.; Hirsch, Rechtssoziologie, S. 204; Paul, Gewissen, S. 23 f.; Baumhauer, V o r - U r t e i l , S. 101 ff., aber auch S. 116 ff.; Heinen, Gewissen, S. 86; w o h l auch Wellek, Polarität, S. 331. Meist w i r d das Gewissen stillschweigend als selbstverständlich vorausgesetzt, ζ. B. Stoker, Gewissen, S. 1 ff., 8 („zu den wichtigsten Erlebnissen jedes Menschen"; Hervorhebung v o n mir). M i t der Formulierung soll nicht ausgeschlossen werden, daß nicht auch das Tier zumindest Vorformen des Gewissens kennen mag (so etwa v. Monakow, S. 9 ff.; Zulliger, Gewissen, S. 46 ff.; Jung, Gewissen, S. 196. — Α . Α.: etwa Stoker, a.a.O., S. 71,165; Engelmayer, a.a.O., S. 111). 23 So: Stoker, a.a.O., S. 252; Caruso, a.a.O.; Hollenbach, St. d. Z. 162, S. 371; Lückert, a.a.O.; Ermecke, a.a.O.; Rudin, Gewissen, S. 143ff.; Stelzenberger, Gewissen, S. 57; Hauser, St. d. Z. 178, S. 322 et passim; Neuhäusler, Gewissen, 20

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§ 7 Die soziale W i r k l i c h k e i t

gehen kann 2 4 oder ob man als Erklärung die den tierischen Lebewesen eigene Fähigkeit zur Konditionierung, die sogenannte „Konditionierbarkeit", als „angeborenen biologischen Faktor" heranziehen kann 2 5 , kann hier auf sich beruhen. Entscheidend ist allein, daß man ein Gewissen nicht haben kann, sondern grundsätzlich, unabhängig auch vom Lebensalter 26 , hat. Meinungsverschiedenheiten dürften auf den unterschiedlichen Gebrauch des Terminus „Gewissen" zurückzuführen sein sowie darauf, daß das Gewissen selten bewußt erlebt w i r d 2 7 . Überdies neigt der Mensch dazu, innere Vorgänge und Zustände als reale Erlebnisse i n die Außenwelt hineinzuverlegen (sogenannte „Projektion"); die Erinnyen, die den Orest nach dem Muttermord verfolgen, sind das „personifizierte Gewissen". Jedoch findet sich schon bei den einfachsten Naturvölkern der Hinweis auf innere Vorgänge und Zustände. „Wo immer . . . die Sache noch keinen Namen hat, erscheinen Einkleidungen i n verschiedenster Form 2 8 ." Der angeblich gewissenlose Verbrecher 29 hat bestimmte Gewissensinhalte m i t einem Wert- oder Unwertcharakter — sei es, daß er sich u m diese „Stimme" seines Gewissens nicht kümmert, sei es, daß sie nur Normen einer kriminellen Subkultur sind —, auf deren Verletzung er m i t dem eigentlichen „Gewissensablauf" antwortet 3 0 . Somit zeigt sich, daß die These von der Freiheit zum Haben eines Gewissens nicht haltbar ist, und zwar auch dann nicht, wenn man den S. 14; Engelmayer, a.a.O., S. 133 ff.; Pöggeler, a.a.O.; Geiger, Gebot, S. 23; Stadter, Gewissen, S. 83; Heinen, Gewissen, S. 124, 138, 159; Rauscher, Wissen u n d Gewissen, S. 53. Vgl. auch B V e r w G E 7, 242.246 („von N a t u r aus ursprünglich vorhanden"). 24 Zurückhaltend: Oerter, Entwicklungspsychologie, S. 256 f., 265 (m. w . N.). Jung, Gewissen, S. 188 f., kennzeichnet die Archetypen als „ererbte i n s t i n k tive Verhaltensweisen" u n d (S. 198, 205) das Gewissen als Kollision des Bewußtseins m i t dem Archetypus. 25 So: Eysenck, B r i t . J. educ. Psychol. 30, S. 13, 15, 17, 19; teilweise (ein Erklärungsprinzip unter anderen) auch Oerter, a.a.O., S. 255, 265. 26 F ü r ein Gewissen v o n Jugendlichen zutr.: B V e r w G E 9, 97.98; 9, 100.101; 12, 271.272 f.; Zippelius, B K A r t . 4, Rdnr. 53. — Dafür, daß i m A l t e r die Fähigkeit zur „normalen" (?) Gewissensentscheidung abhanden k o m m t (so Knöpfle, W D S t R L 28, S. 134), besteht k e i n Anhaltspunkt. 27 So zutr. Lückert, Konflikt-Psychologie, S. 378; Baumhauer, Vor-Urteil, S. 102. Vgl. hierzu unten § 7, 2.3.1. zu F n 82 ff. 28 So m i t Recht Stelzenberger, Syneidesis, S. 19; ähnlich schon Stoker, Gewissen, S. 12 f. — Z u m „personifizierten Gewissen" s. auch Stadter, Gewissen, S. 10. 29 Ablehnend zur Gewissenslosigkeit grundsätzlich: Häberlin, A r t i k e l „Gewissen"; Lückert, a.a.O., S. 394; Pöggeler, Gewissen, S. 173 ff.; Plack, Gesellschaft, S. 86. 30 Ebenso: v. Monakow, S. 35; Zbinden, Gewissen, S. 23; Dantine, F u n k t i o n des Gewissens, S. 57; ähnlich Rudin, Gewissen, S. 146; w o h l auch Geißler, Kriegsdienstverweigerung, S. 52. Differenzierend (wohl) Piaget, Das moralische Urteil, S. 105 f. Α . Α.: Brinkmann, Gewissen, S. 67 F n 29; w o h l auch Scholler, Gewissen, S. 78 f.

2. Das „ f o r u m i n t e r n u m " des Gewissens als Schutzobjekt

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Zweck des Grundrechts berücksichtigt, zur „Freiheit" i m Sinne der Selbstbestimmung beizutragen, die eben auch und gerade dem Anomalen und dem K i n d i n der ersten Lebenszeit abgeht. Z u ihren Gunsten ließe sich der Gehalt der These als Beitrag zur „Würde" des Individuums allenfalls dahin reduziert aufrecht erhalten, daß ihnen i n ihrer Eigenschaft als Individuen bestimmte „Vorgeformtheiten" für ein Gewissen i m Sinne einer anthropologischen Konstanten zukommen, die schon von A r t . 4 1 und nicht nur von A r t . 1 1 geschützt werden. Doch w i r d dieser Schutz auch von der „Bestandsgarantie" geleistet 31 , braucht also nicht aus einer Freiheit zum Haben abgeleitet zu werden. I m übrigen jedoch hat das Individuum ein Gewissen; es kann dieses Gewissen nicht „ablegen". Einen solchen Schutz zu normieren, ist deshalb gehaltlos. Bezogen auf dieses forum internum ist nun die These zu überprüfen, ob die Gewissensfreiheit die Freiheit umf aßt, sein Gewissen so oder anders zu haben. 2.2. Schutzbedürftigkeit

des Gewissens

Zweifel an einer solchen Freiheit bestünden dann, wenn es gar nicht möglich wäre, auf das Gewissen einzuwirken und es dem Gewissen unbenommen bliebe, sich auf eine „reservatio mentalis" zurückzuziehen und hier „so oder anders" zu sein. I n diesem Falle wäre das Gewissen als das Insgesamt bestimmt gearteter innerer Vorgänge und Zustände i n der Tat nicht schutzbedürftig, da die Freiheit, die i h m rechtlich gewährt werden soll, unmittelbarem rechtlichem Zugriff ohnehin entzogen ist 3 2 , und eine Rechtsnorm dann so sinnlos wäre, als wollte sie ein Naturgesetz normieren. Selbst wenn man jedoch davon absehen wollte, daß auch der mittelbare Zwang eines gewissenswidrigen staatlichen Gesetzes durch die Notwendigkeit ständigen Bruchs der Gewissensnorm allmählich die entgegenstehenden Gewissensinhalte verhaltenskonform umzuwandeln vermag 31

Vgl. hierzu § 7, 2.4.1. nach F n 110. So die w o h l überwiegende Meinung: HessStGH, N J W 66, S. 33; Thoma, JöR N. F. 1, S. 73; Frohberg, DÖV 52, S. 396; v. Mangoldt-Klein, Art. 4 Anm. I I I 1; Biebl, A r t . 4, Abs. 1 GG, S. 66; Münzel, N J W 66, S. 1924; H. Weber, N J W 68, S. 1610; Scholtissek, Ess. Gespräche 3, S. 99; Hamann-Lenz, A r t . 4 A n m . Β 1; Mirbt, Gewissensfreiheit, S. 323, 328; vgl. auch Novak, W D S t R L 28, S. 96;; Marcic, ebd., S. 95; Scheuner, Z e v K R 70, S. 254 f. — Differenzierend (und unklar) Zippelius, B K A r t . 4, Rdnr. 38, 40, nach dem das f o r u m i n t e r n u m als solches dem unmittelbaren rechtlichen Z u g r i f f ohnehin entzogen sei, jedoch die freie B i l d u n g v o n Gewissensentscheidungen nicht durch Drogen beeinträchtigt werden dürfe. Ist n u n aber eine Rechtsnorm, die vorschreibt, dem einzelnen unter gewissen Voraussetzungen eine Droge zu verabreichen, die seinen Charakter oder sein Bewußtsein dauernd oder v o r übergehend verändert u n d andersartige Gewissensentscheidungen hervorruft oder bestehende Gewissensentscheidungen enthüllt, ein „unmittelbarer" rechtlicher Z u g r i f f auf das f o r u m internum? Μ . E. j a ! 32

6 Freihalter

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(„korrumpiert") 3 3 , damit dem staatlichen Gesetz anpassen kann und die „reservatio mentalis" auflöst: so ist dodi die These von der fehlenden Schutzwürdigkeit des forum internum heute überholt. Der Mensch ist gegenwärtig dabei, den Menschen total zu „manipulieren" 3 4 . Die Formen möglicher Beeinflussung sind kaum noch überschaubar 35 . Aus dem Bereich der Psychologie etwa kennen w i r Suggestion und Hypnose, die Anwendung tiefenpsychologischer M i t t e l i n Reklame und Propaganda 36 . M i t Hilfe der Gehirnwäsche ist es gelungen, neue (echte) Überzeugungen dem Menschen aufzuzwingen und Schuldgefühle wegen der alten Überzeugungen zu wecken 37 . Erreicht w i r d dies über die „geistige Enteignung" auf der Basis verwirrungstiftender Umweltreize und anschließenden Zusammenbruchs der bisherigen Orientierungsschemata; danach kann das „geläuterte" Individuum i n eine neue menschliche Gemeinschaft m i t neuen Orientierungssystemen aufgenommen und der „neue Mensch" aufgebaut werden. Die chemischen Formen der Manipulation umfassen die Psychopharmaka 3 8 und Halluzinogene. Aber auch die Überzufuhr natürlicher Hormone oder die Senkung des Hormonspiegels durch neutralisierende M i t tel vermag das Individuum völlig zu verändern. Die Wirkungen der C-Waffen sind derzeit noch kaum bekannt. Die chemischen M i t t e l brauchen zudem nicht individuell verabreicht zu werden; viele lassen sich i m Trinkwasser lösen oder können als Gas der L u f t beigemengt werden. Chirurgische Eingriffe, wie Leukotomie, Operation am Mandelkern oder am Cingulum, Trennung der beiden Gehirnhälften, können den Charakter, die Überzeugungen und Einstellungen des Individuums vollständig wandeln oder aufheben. 33

Vgl. Oerter, Entwicklungspsychologie, S. 233 (m. w . N.). „ M a n i p u l a t i o n " sei die Gesamtheit aller planmäßigen Beeinflussungen des Menschen. 35 Vgl. hierzu die knappe Skizze bei Schaltenbrand, Stud. Gen. 22, S. 494 ff. sowie die umfassende Darstellung bei Löbsack, Die manipulierte Seele (mit umf. w. N.). 36 Vgl. hierzu ausführlich Faber, Innere Geistesfreiheit, insbes. S. 76 ff. (m. w. N.). Jedoch hält Faber (S. 44) die Basis der (u. a.) Gewissensfreiheit f ü r zu schmal, u m ein Recht auf A b w e h r suggestiver E i n w i r k u n g e n zu tragen. Umgekehrt erscheint jedoch F ab er s neukonzipiertes Grundrecht der inneren Geistesfreiheit (S. 47 ff.) problematisch. E r verwechselt offenbar den Zweck der Grundrechte („Freiheit" u. a.) m i t den Mitteln oder Formen rechtlicher Gestaltung („subjektiv-öffentliche Grundrechte" m i t ihren Einzeltatbeständen). 37 Vgl. hierzu u n d zum folgenden: Rorarius, Gehirnwäsche, S. &9 ff.; Somit, Brainwashing, S. 138 ff.; v. Baeyer-Katte, Stud. Gen. 22, S. 602 ff. 609. — Es w i r d i m Anschluß an Somit der Ausdrude „Gehirnwäsche" zur Bezeichnung des Gesamtprozesses verwendet. 38 Z u den Barbitursäurederivaten („Narkoanalyse") vgl. Scholler, Gewissensfreiheit, S. 146 f. 34

2. Das „ f o r u m i n t e r n u m " des Gewissens als Schutzobjekt

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Ein neues Verfahren, das ESB 3 9 , eröffnet Möglichkeiten, gegen die Orwells „1984" zur Operetten-Idylle verblaßt. Es sei knapp skizziert 4 0 : Nach röntgenologischer Lokalisation werden Mikroelektroden i n einzelne Gehirnzellen gesenkt und die Zellen durch schwachen Strom stimuliert. Die Elektroden können auch durch Funksignale ferngesteuert werden. Durch die Stimulation kann jede körperliche und seelische Funktion bei Mensch und Tier ausgelöst werden. Die manipulierten Verhaltensweisen werden als natürlich und angenehm empfunden 41 . Werden die „Vergnügungszentren" i m Gehirn der Eigenstimulierung zugänglich gemacht, so stimulieren sich die Tiere wochenlang i n „Elektro-Euphorie" — abgesehen von körperlicher Erschöpfung i m Gegensatz zu Drogen ohne schädliche Nebenwirkung. Es w i r d bereits erwogen, durch künstliche Stimulierung der für den Schlaf bedeutsamen REM-Stufe die Schlafdauer u m mindestens die Hälfte herabzusetzen („Elektro-Schlaf") und durch Anzapfen des elektrischen Gehirn-Stromkreises Informationen, auch falsche, unmittelbar ins Gedächtnis einzuschleusen („ElektroGedächtnis"). Es zeigt sich also, daß es heute keinen Bereich der inneren Person mehr gibt, der nicht i n irgendeiner Weise mittelbar oder unmittelbar manipuliert werden könnte. Das forum internum ist nicht mehr nur abstrakt schutzbedürftig: es ist bedroht 4 2 . 2.3. Das Phänomen des Gewissens in psychologischer Sicht U m nun die Reichweite des Grundrechts der Gewissensfreiheit für dieses forum internum ermitteln zu können und um nicht die übrigen Freiheitsrechte auf bloß äußeres Verhalten zu reduzieren sowie den Satz über die Unantastbarkeit der Menschenwürde i m inneren Bereich nicht leerlaufen zu lassen und damit die punktuelle Gewährleistung der Grundrechte zu überspielen, gilt es, jene inneren Vorgänge und Zustände zu erfassen, die das Phänomen des Gewissens ausmachen, ohne 39

= Electrical Stimulation of the B r a i n (sogenanntes stereotaktisches V e r fahren). 40 Z u m folgenden: v. Borch, Universitas 25, S. 499 ff.; Schaltenbrand, Stud. Gen. 22, S. 500 f. Zusammenfassend neuerdings: Delgado, Gehirnschrittmacher. 41 So w a r eine Katze, die durch ESB freundlich schnurrend ein Hinterbein i n die L u f t streckte, v ö l l i g verstört, w e n n m a n das Bein am Boden, also i n der „natürlichen" Lage, festhielt (vgl. v. Borch, a.a.O., S. 501; Delgado, a.a.O., S. 90 ff.). 42 F ü r eine Schutzbedürftigkeit des forum i n t e r n u m auch: Geißler, Kriegsdienstverweigerung, S. 60 ff.; Faber, Innere Geistesfreiheit, S. 49, 51 f.; Herzog, DVB1. 69, S. 719 (der aber nunmehr — Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 14 — den Schutz des forum i n t e r n u m gegen Manipulationen nicht mehr durch A r t . 4, sondern durch die Generalklauseln des A r t . 1 oder doch des A r t . 2 i. V. m. A r t . 19 I I gewährleistet sieht); Böckenförde, W D S t R L 28, S. 1; w o h l auch schon Scholler, Gewissensfreiheit, vgl. S. 146 ff.; Kühne, Vorgänge 72, S. 115. 6·

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das „Gewissen" auf das ganze forum internum auszudehnen 43 . Dabei stellen die folgenden Analysen mitunter verschiedene Sichtweisen einander unvermittelt gegenüber; es w i r d sich mittelbar zeigen, daß zwar die theoretischen Ausgangspunkte und Deutungsschemata oft stark auseinandergehen mögen, jedoch i n der Sache selbst, i m „Phänomen", konvergieren. Nochmals sei darauf hingewiesen, daß es sich u m theoretische Konzepte handelt. Ausdrücke, wie etwa „(strukturelle, einstrukturierte) Haltungen (Einstellungen)", „Gesinnungen", „Wertkonzept (-entwurf)", „Speicher", „System" usw. sind keine Realitäten. Sie dienen als hypothetische Konstrukte (intervenierende Variable) lediglich dazu, zwischen unabhängigen Variablen (ζ. B. Umweltreize, staatlich gefordertes Verhalten) und abhängigen Variablen (ζ. B. Gewissensentscheidungen) die gedankliche Verbindung herzustellen. 2.3.1. Das Gewissensphänomen als Teilprozeß des Haltungssystems Das Gewissensphänomen 44 t r i t t nur auf, wenn eigenes konkretes Verhalten in einer konkreten Situation i n Frage steht 4 5 , mag dieses Verhalten nun ein positives T u n oder ein Unterlassen sein. Nur hier w i r d die „kognitive Komponente" des Phänomens sichtbar, von der scharf das bloße moralische Urteil abzuheben ist 4 6 , das über das Verhalten anderer oder über eigenes, nur gedachtes Verhalten ohne V e r w i r k lichungszwang gefällt wird. Schon hier zeigt sich, daß das moralische Wissen für das Gewissen bedeutsam sein kann, aber nicht sein muß. T r i t t nun der Staat mit der Forderung nach einem bestimmten Verhalten an das Individuum heran, so kann dieses geforderte Verhalten 43

Gegen einen solchen entleerten Gewissensbegriff auch Stoker , Gewissen, S. 49 f.; Stelzenberger, Syneidesis, S. 2 3 - 2 8 ; ders., Gewissen, S. 14 - 21. 44 Die folgende Darstellung lehnt sich an Oerter, Entwicklungspsychologie, S. 215 ff., an, muß aber — schon aufgrund der andersartigen Intention — die Gewissensphänomene schärfer herauszuarbeiten versuchen. G. Küehenhoff, Staat u n d Gewissen, S. 80, w i l l sich demgegenüber nicht m i t einer Gewissensphänomenologie begnügen, „sondern aufs Ganze gehen" (Hervorhebung i m Original, vgl. auch S. 92 ff.). 45 BVerfGE 12, 45.55 („angesichts einer bestimmten Lage"); Spranger, Logos 22, S. 174; Hoffmeister, Philosoph. Begriffe, Stichwort „Gewissen"; Frankl, S. 271 f.; Glien, S. 329 u. ö.; Revers, S. 324; Becker, St. d. Z. 175, S. 230; Hauser, St. d. Z. 178, S. 327ff. (ausführlich, wenngleich einseitig); Baumhauer, V o r u r t e i l , S. 17 f.; Heinen, Gewissen, S. 159 f. — S. auch: A. Arndt, N J W 57, S. 362; Geiger, Gewissensfreiheit, S. 25; Geißler, Kriegsdienstverweigerung, S. 55 ff. — Vgl. ferner: Böckle, Gesetz u n d Gewissen, S. 59 ff.; Stadter, Gewissen, S. 36. 46 Ebenso: Stoker, Gewissen, S. 50 f., 58 ff.; Geißler, a.a.O., S. 44 f., der allerdings das moralische U r t e i l auch auf eigene schlechte Taten erstreckt. Das dürfte jedoch n u r beim Fehlen einer moralischen H a l t u n g gelingen. — Vgl. ferner: Stadter, Gewissen, S. 36 ff.; Heinen, Gewissen, S. 116. Die kognitive Komponente w i r d zu stark betont bei Cooley, H u m a n Nature, S. 359 ff., 378 f.; Matill, Z S t W 74, S. 213 („intellektuelle Potenz").

2. Das „ f o r u m i n t e r n u m " des Gewissens als Schutzobjekt

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f ü r d e n e i n z e l n e n s i t t l i c h i r r e l e v a n t sein; es f ä l l t gleichsam i n eine „ m o r a l i s c h e L e e r e " . H i e r e n t s t e h t k e i n Gewissensphänomen. A b e r auch dann, w e n n die staatliche F o r d e r u n g a u f e i n moralisches W i s s e n t r i f f t , b r a u c h t das G e w i s s e n n i c h t z u sprechen; u n d z w a r g i l t dies d o r t , w o es sich u m eine A r t m o r a l i s c h e r I n f o r m a t i o n h a n d e l t , „ u m B e g r i f f e oder B e z i e h u n g e n z w i s c h e n B e g r i f f e n , w i e sie b e i a n d e r e m Sachwissen auch b e s t e h e n " 4 7 . E n t s c h e i d e n d i s t v i e l m e h r , daß der B e g r i f f a f f e k t i v g e t ö n t ist, daß er m i t p h y s i o l o g i s c h e n Prozessen u n d psychischen G e f ü h l s e r l e b nissen g e k o p p e l t ist. E r s t m i t dieser „ a f f e k t i v e n K o m p o n e n t e " w i r d der B e g r i f f z u m m o r a l i s c h e n Wertkonzept 48. D e r einzelne s p i e l t n u n n i c h t m e h r k ü h l die m o r a l i s c h e n M ö g l i c h k e i t e n , B e z i e h u n g e n u n d V e r b i n d u n gen g e d a n k l i c h d u r c h ; er i s t n u n e n g a g i e r t , er i s t als I c h a f f e k t i v b e t e i l i g t . Es i s t i h m n u n n i c h t m e h r m ö g l i c h , moralische E n t g l e i s u n g e n u n d F e h l e r l e d i g l i c h z u k o n s t a t i e r e n ; e r f ü h l t sich n u n „ s i t t l i c h g e f o r d e r t " . Es e n t s t e h t e i n „ G e f ü h l d e r V e r a n t w o r t u n g " 4 9 , des „ p e r s ö n l i c h e n S i c h g e b u n d e n f ü h l e n s " 5 0 , das ü b e r das persönliche, also u n v e r b i n d l i c h e F ü r r i c h t i g h a l t e n d e u t l i c h h i n a u s g e h t 5 1 . B l i e b e es j e d o c h b e i der V e r b i n d u n g v o n 47 So zutr. Oerter. Entwicklungspsychologie, S. 243. Vgl. auch Rudin, Gewissen, S. 145; Jung, Gewissen, S. 185 („Eigenschaft der subjektiven Bezugnahme"; Hervorhebung i m Original); Petrilowitsch, Gewissen als Problem, S. 239ff. (m. w . N.); Gilen, ebd., S. 336 f., auch S. 330; Heinen, Gewissen, S. 159. 48 Oerter, a.a.O., S. 242. Vgl. Petrilowitsch, a.a.O., der gerade i n der „ L a h m legung der aktiven Fühlsphäre" ein Kennzeichen depressiver Krankheitszustände sieht. — Ferner: Janzarik, ebd., S. 459 ff.; Eysenck, B r i t . J. educ. Psychol. 30, S. 13f.; Eicke, S. 72ff., 79 („affektive Einstellungen"); Gilen, S. 330. Vgl. auch: Mattil, Z S t W 74, S. 213; Stadter, Gewissen, S.26; Knoche, Vorgänge 70, S. 305; Heinen, Gewissen, S. 89 f., 116 u. ö. — Andeutend schon B V e r w G E 23, 98. Überbetont bei Baumhauer, V o r - U r t e i l , S. 54 ff. (im Anschluß an Jung, Gewissen). 49 Cooley, H u m a n Nature, S. 359; Stoker, Gewissen, S. 60 f. (der jedoch noch stärker — i m Anschluß an Schelers „Liebestheorie" — den guten Drang, die Liebe, betont, a.a.O., S. 111 ff.); Hoffmeister, Philosophische Begriffe, Stichwort „Gewissen"; Lersch, Person, S. 243; Lückert, Konflikt-Psychologie, S. 70, 411, 417; Wellek, Polarität, S. 324; Petrilowitsch, Gewissen als Problem, S. 255; Eicke, ebd., S. 88; Pauleikhoff, ebd., S. 475; Neuhäusler, Gewissen, S. 25 f., 30 f.; Coing, Rechtsphilosophie, S. 101; w o h l auch K . Peters, JZ 72, S. 86. — Enger: Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 45 f., der das Verantwortungsgefühl auf das „Bewußtsein der M i t v e r a n t w o r t u n g " einschränkt (a.a.O., S. 44; H e r v o r hebung v o n mir). 50 Stelzenberger, Syneidesis, S. 28; ders., Gewissen, S. 21 f., 24. Ferner: BVerfGE 12, 45.55; Gilen, S. 338 f.; Geißler, Kriegsdienstverweigerung, S. 43, 45; Kaufmann-Bühler, Kriegsdienstverweigerung, S. 26; Auer, Gewissen, S. 40; Häfner, Gewissen, S. 120, 122; Remplein, Seelische Entwicklung, S. 482. Stadter, Gewissen, S. 37; Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 33; Heinen, Gewissen, S. 96,125. Piaget (Das moralische Urteil, S. 52,110 ff.) deutet das „Verpflichtungsgefühl" aus dem „Gefühl der Achtung" vor Gruppen oder Personen. Doch werden damit die vielfältigen gewissensbildenden Mechanismen stark reduziert (vgl. hierzu §7, 3.1.1.). Z u r „einseitigen Betonung des Pflichtbewußtseins" (hinsichtlich des Gemüts) vgl. Hollenbach, St. d. Z. 164, S. 53. 51 H i e r liegt der richtige K e r n der i m übrigen einseitigen, emotionalistischen

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„kognitiver Komponente" und „affektiver Komponente", so könnte sich das Individuum zwar emotional stark engagieren, verbliebe aber dennoch immer i n einem Bereich des Unverbindlichen hinsichtlich seines Verhaltens. Der „innere Zwang" 5 2 zum Tätigwerden bliebe unberücksichtigt, der vor allem für das Gewissensphänomen kennzeichnend ist. Z u m Wertkonzept t r i t t die „Verhaltenskomponente"; sie ist eine erworbene Verhaltensbereitschaft, die solange latent ist, bis sozial bedeutsame Reizmuster und Informationseingaben bestimmter A r t sie „freisetzen" 53 . Diese „bestimmte A r t " verengt sich für den Bereich moralischer Wertkonzepte auf „moralische Bedeutsamkeit". Das Individuum ist nun nicht mehr nur bereit, sich kognitiv und affektiv zu engagieren, sondern auch, sich durch sein Verhalten zu beteiligen. Treffen nunmehr „moralisch bedeutsame" Reize auf den einzelnen und auf eine entsprechende moralische Verhaltensbereitschaft, so sind sie gleichsam Schlüsselreize, welche die bloße Bereitschaft „aufschließen", die nunmehr steuernd und dynamisch die individuellen Reaktionen i n der konkreten Situation, also i n der Außenwelt, bestimmt 5 4 ; die moralisch bedeutsamen Reize aktivieren das moralische Verhalten 5 5 . Die moralische „Verhaltenskomponente" enthält jedoch nicht nur die Tendenz zur Realisierung moralischen Verhaltens: als eine Form „moralischer Gewohnheit" gewährleistet sie auch die

Gewissenslehren (hierzu Stoker , Gewissen, S. 52 ff., 138 ff.), insbesondere auch Stokers eigener, personal-theistischer („thealer") Gewissenslehre. 52 B V e r w G E 9, 97.98; ähnlich: E 7, 242.247. Vgl. auch Fn. 54. — Kritisch: Bäumlin, W D S t R L 28, S. 17,105. Vgl. auch Bachof, ebd., S. 104 f. 53 Vgl. Oerter, Entwicklungspsychologie, S. 216, S. 221; Dietrich-Walter, Psychologische Fachsprache, Stichwort „Einstellung". — Dieses Strukturelement als Grundlage des „Gewissenszwanges" verkennt Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 72 ff. Vgl. Cooley, H u m a n Nature, S. 368 ff., zum Erstarren der „Gewohnheit" („habit") zur bloßen Moral. 54 Vgl. Allport (zitiert bei Oerter, a.a.O., S. 216). — Das „Drangmoment" betonen ferner: B V e r w G E 7, 242.247 („unabweisbarer Zwang"); 9, 97.98, 13, 171.172; 23, 96.97; 23, 98; 38, 358.359; vgl. auch BVerfGE 23, 191.205 (Die Gewissensentscheidung lege das gesamte äußere Verhalten fest); 23,127.133. Ferner: Spranger, Logos 22, S. 195; Hamel, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, S. 38; Kaufmann-Bühler, Kriegsdienstverweigerung, S. 26; Scheuner, DÖV 61, S. 203; Böckle, Gesetz u n d Gewissen, S. 72 („Drang zum Guten") ; Eicke, S. 83; Revers, S. 309; Janzarïk, S. 437 ff. („dynamisch erfüllt", „aktualisierungsbereit"); K . Peters, Uberzeugungstäter, S. 271, 278f.; ders., J Z 72, S. 85 (der hier eine Steigerung des inneren Dranges v o n bloß glaubensmäßigem Verhalten h i n zu getüissensmäßigem Verhalten sieht); Scholtissek, Ess. Gespräche 3, S. 104; Stadter, Gewissen, S. 36 („aufgerufen . . . zur T a t " ) ; Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 33; Kühne, Vorgänge 72, S. 114 („Bedrängnis m i t Zwangscharakter"); Rauscher, Wissen u n d Gewissen, S. 53, 56. — U n k l a r : Hauser, St. d. Z. 178, S. 322 f. Die voluntaristischen Gewissenstheorien (hierzu Stoker, Gewissen, S. 106 ff.) haben hier ihren richtigen Kern. 55 Oerter, Entwicklungspsychologie, S. 216.

2. Das „ f o r u m i n t e r n u m " des Gewissens als Schutzobjekt

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Konsistenz dieses moralischen Verhaltens 5e, d. h. der einzelne schwankt i n seinem moralischen Verhalten nicht beliebig hin und her, sondern ist relativ beständig und kann sein bisheriges Verhalten nicht ohne weiteres aufgeben oder ändern 5 7 . Damit sind die für das Gewissensphänomen bedeutsamen Elemente erarbeitet. Verhaltenskomponente, affektive Komponente und kognitive Komponente konstituieren die Haltung 58; sie konkretisiert sich über die moralische Haltung i m Gewissensphänomen 50 . Moralische Haltung sei eine erworbene Verhaltensbereitschaft, auf die Klasse moralisch bedeutsamer Reizmuster und Informationseingaben i n verhältnismäßig konsistenter Weise zu antworten, m i t der Fähigkeit, diese Verhaltenstendenz am moralischen Wertkonzept des Individuums zu überprüfen 6 0 . T r i t t also der Staat fordernd an den einzelnen heran und fällt sein Begehren weder i n einen „moralisch leeren Seelenraum" noch unter das bloß moralische Wissen des Individuums, so t r i f f t es auf die moralischen Haltungen 6 1 des Angesprochenen; das Begehren w i r d zum moralisch bedeutsamen Reiz. Bevor es nun jedoch i n ein tatsächliches Verhalten umgesetzt, bevor die latente Verhaltenstendenz aktualisiert werden kann, w i r d es i n einer A r t „Probehandeln" (Freud) überprüft an den moralischen Wertkonzepten 62 des einzelnen; das bedeutet gleichsam einen Probelauf der Tat, bevor sie ins Werk gesetzt w i r d 6 3 . Diese Kontrolle ist ein 58 Oerter, a.a.O., S. 223, 234. Ebenso: Eike, S. 72 ff., 79; Dietrich-Walter, Psychologische Fachsprache, Stichwort „Einstellung"; w o h l auch Cooley, H u m a n Nature, S. 393 f.; Gilen, S. 335 ff.; Janzarik, S. 437 ff. 57 Oerter, a.a.O., S. 220. Vgl. auch K . Peters, J Z 66, S. 460. 58 Oerter, a.a.O., S. 221 ff.; Dietrich-Walter, Psychologische Fachsprache, Stichwort „Einstellung". Plack, Gesellschaft, S. 33, versteht die Handlungen n u r als „Verhaltensdispositionen", — Eine „Haltung", allerdings unbestimmt u n d k a u m greifbar, setzen f ü r die Gewissensfreiheit u. a. voraus: v. Mangoldt-Klein, A r t . 4 A n m . V I 12; Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 106 („grundsätzliche Lebenshaltung"); w o h l auch: B V e r w G E 7, 242.245 ff.; Hamel, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, S. 105. 59 Ebenso: Gilen, S. 335 ff. („Aktualisierung"); w o h l auch: Janzarik, S. 437 ff. „aktualisierbar"). — U n k l a r : BVerfGE 12,45.55 (nur konkrete Situation?). 60 Vgl. Oerter, Entwicklungspsychologie, S. 223, 219. 61 Synonym werden die Terme „Einstellungen" oder „Werthaltungen" v e r wendet. 62 Synonym w i r d verwendet: „(moralisches) Wertkonzept", „(moralischer) vVertentwurf", „Gewissensnorm", „ N o r m " ; ist n u r ein Gewissensgebot gemeint, so w i r d dies aus dem K o n t e x t ersichtlich sein. 83 Eine solche (häufig unbewußte) „Vorbeurteilung" nehmen an: Freud, X I V , S. 483, 487, 496 (Das Gewissen habe „die Handlungen u n d Absichten des Ichs zu überwachen u n d zu beurteilen". Hervorhebung von m i r ) ; Lückert, K o n flikt-Psychologie, S. 384 („fortschreitende Antezipation i m Handlungsbereich"), S. 410; Eicke, S. 83; Frankl, S. 270 („geistige Vorwegnahme"); Heinen, Gewissen, S. 171 („conscientia antecedens"), S. 172 („Gewissen . . . vor oder nach einem T u n oder Lassen"; Hervorhebung v o n m i r ) ; vgl. auch Brenner, Psychoanalyse, S. 145.

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(Teil-)Prozeß dessen, w a s m a n m i t „ G e w i s s e n " bezeichnet. Das Gewissen i s t u n t e r diesem A s p e k t zunächst n u r „ K o n t r o l l i n s t a n z " 6 4 . Gespeicherte 6 5 G e w i s s e n s n o r m e n u n d beabsichtigtes V e r h a l t e n , d. h. das m o r a l i s c h b e deutsame R e i z m u s t e r s t a a t l i c h e n Begehrens u n d die dementsprechenden A b s i c h t e n des I n d i v i d u u m s , w e r d e n v e r g l i c h e n 6 6 u n d a u f i h r e K o n g r u e n z oder I n k o n g r u e n z u n t e r s u c h t 6 7 ; das G e w i s s e n n i m m t i n s o f e r n „ S t e l l u n g " 6 8 , „ v e r u r t e i l t " 6 9 oder „ r i c h t e t " 7 0 . D o c h e n t h a l t e n diese B e g r i f f e kognitive Elemente der Distanznahme v o n einem Erkenntnisobjekt bzw. d e r B e n e n n u n g e i n e r Z u o r d n u n g v o n R e a l i t ä t — E l e m e n t e , die i m Gewissensablauf phänomenologisch nicht feststellbar sind u n d d e m V o r g a n g als b l o ß f u n k t i o n a l e m A b l a u f n i c h t gerecht w e r d e n 7 1 . D e r K o n g r u e n z v e r g l e i c h i n n e r h a l b des Systems e i n e r m o r a l i s c h e n E i n s t e l l u n g ist v i e l m e h r „ r e a k t i v " 7 2 ; e r v o l l z i e h t sich u n a b h ä n g i g v o m W i l l e n des e i n zelnen, also a u t o m a t i s c h 7 3 . Dieser r e a k t i v e u n d automatische K o n g r u e n z 64

Ebenso: Luhmann, AöR 90, S. 264; Dantine, Gewissen, S. 58. Vgl. Eisermann, Gesellschaft, S. 138: „ I m Lichte der Soziologie k a n n das menschliche Gewissen als die i n einem I n d i v i d u u m sozial programmierte Speicherung v o n Normen bezeichnet werden." ββ Vgl. Eicke, S. 83: „Wahrnehmung eines Vergleichs m i t etwas, dem nicht entsprochen w i r d " (mit Bezug auf das Schuldgefühl! Hervorhebung v o n mir). — Andeutend auch Heinen, Gewissen, S. 169: „Wertevergleich". 67 Oerter, Entwicklungspsychologie, S. 219 m i t S. 92 f. 68 Lückert, Konflikt-Psychologie, S. 410 ff.; Gilen, S. 337; Würtenberger, Gewissen, S. 339; Hauser, St.d.Z. 178, S. 322; Stadter, Gewissen, S. 9, 36; Rauscher, Wissen u n d Gewissen, S. 55. 69 Freud X I V , S. 496; Jung, Gewissen, S. 185; Eicke, S. 83. 70 Blum, Gewissen, S. 169; Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 33. — Geißler (Kriegsdienstverweigerung, S. 43, 59, 69) kennzeichnet den m i t „Stellungnahme", „ U r t e i l " u n d „Richter" angezielten Sachverhalt als „Subsumtion" der w e r t - u n d lustbetonten Verhaltensweise unter die als verpflichtend erkannte sittliche Sphäre, die i n einem „ U r t e i l " über die Unerlaubtheit der geplanten Verhaltensweisen ende. Doch implizieren „Subsumtion" u n d „ U r t e i l " rationale Elemente, die bei diesem Vorgang gerade nicht vorliegen. 71 Die Unmittelbarkeit der erlebten Realität betont auch Stoker, Gewissen, S. 78 ff. Revers (S. 309) bezeichnet den Gesamtvorgang (einschließlich Gewissenserlebnis) treffend als „Innewerden". — Z . T . a. Α.: Hauser, St.d.Z. 178, S. 328 f. 72 Demgegenüber heben den „Rufcharakter des Gewissens" hervor: Heidegger, Sein u n d Zeit, S. 272 ff.; Welzel, Gesetz u n d Gewissen, S. 389; A. Arndt, N J W 68, S. 979 f.; Böckenförde, W D S t R L 28, S. 69; s. auch BVerfGE 12,45.55. Diese „Reaktion" treffen i m K e r n auch die intellektualistischen u n d i n t u i t i o nistischen Gewissenstheorien (hierzu: Stoker, Gewissen, S. 57 ff. bzw. 87 ff.). 73 Vgl. BVerfGE 12, 45.54 („unmittelbar evident"); Stoker, Gewissen, S. 209; Rudin, Gewissen, S. 154; Geißler, Kriegsdienstverweigerung, S. 43 ( „ u n w i l l kürlich"); Geiger, Nonkonformismus, S. 64; ders., Gebot, S. 23 („spontan"); Würtenberger, Gewissen, S. 349 („spontan"); Revers, S. 317; Gilen, S. 337; Hauser, St.d.Z. 178, S. 325 („unmittelbare Einsichtigkeit"); Baumhauer, V o r u r t e i l , S. 53; Stadter, Gewissen, S. 9 („keine W a h l ; „etwas unerhört Überraschendes"). Diesen Sachverhalt betonen auch die intuitionistischen Gewissenslehren (hierzu: Stoker, a.a.O., S. 87 ff.) zutreffend m i t dem M e r k m a l der „ U n m i t t e l b a r 65

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vergleich sei die „GewissensreaktionSie kann positiv oder — schon bei geringsten Abweichungen von Probehandeln und moralischem Wertkonzept äußerst empfindlich reagierend 74 — negativ ausfallen; sie blokkiert oder gibt frei. I h r entspricht eine affektive Komponente eigener A r t („Gewissenserlebnis"), i n der sich das Bindende und unbedingt Verpflichtende 75 einer moralischen Haltung, ihre affektive Komponente, i n spezifischen Gefühlserlebnissen äußert. Das Gewissenserlebnis ist gleichsam das „grüne oder rote L i c h t " 7 6 des Kontrollvorgangs i m Haltungssystem; es macht die Gewissensreaktion erst dem Individuum bewußt. Die Stärke der Gewissensreaktion und des Gewissenserlebnisses hängt ab vom Grad der Verwurzelung der Einstellung i m Individuum, sei es, daß die Verhaltenskomponente durch lange Einübung zur tiefeingeschliffenen Gewohnheit wurde, sei es, daß die affektive Komponente durch starkes Engagement des Individuums besonders tief verankert ist, während es hier auf die kognitive Komponente weniger anzukommen scheint 77 . Der Grad, m i t dem also die Haltung i m Individuum einstruktur i e r t 7 8 ist, spiegelt sich nicht nur i n ihrer Konsistenz, sondern auch i n der Reaktionsstärke und damit „Lautstärke" des Gewissenserlebnisses, das von einem diffusen Unbehagen bei schwach geprägten Moralhaltungen bis zu extremen Abwehrreaktionen reichen kann. Gleichzeitig signalisiert es damit individuelle Bedeutsamkeit und individuellen Stellenwert der Haltung i m Insgesamt der Einstellungen 79 , beides Werte, die nicht m i t den „Problemen der Menschheit" übereinstimmen müssen, sondern sich auch an „Geringfügigkeiten" heften können. Häufig hat der einzelne noch keine Haltung, wenn ein besonderes Problem an i h n herantritt, so etwa der Kriegsdienst an den Wehrpflichtigen. Hier w i r d erst i n der Auseinandersetzung, sei es auch erst durch Anstöße von außen oder während des Wehrdienstes, eine Haltung aufgebaut, die dann zwar nicht durch lange Gewöhnung, wohl aber durch starkes Engagement tief verwurzelt sein kann. keit". A u f Schelers gleichartige Feststellung verweist m i t Recht Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 31 f. 74 Vgl. Engelmayer, Gewissen, S. 121, 134 f.; Dantine, F u n k t i o n des Gewissens, S. 58; Heinen, Gewissen, S. 116. 75 BVerfGE 12, 45.55. 76 Stoker, Gewissen, S. 102 ( „ H a l t ! - R u f " ) ; Dantine, a.a.O. („Alarmglocke"). 77 Vgl. Oerter, Entwicklungspsychologie, S. 222, 244; s. auch Engelmayer, Gewissen, S. 139 f. 78 Gilen, S. 335ff., 339 („habituell", „ S t r u k t u r i e r t h e i t " ) ; Janzarik, S. 437ff.; Dietrich-Walter, Psychologische Fachsprache, Stichwort „Einstellung"; vgl. auch Thomae, I n d i v i d u u m , S. 568, 573; Engelmayer, Gewissen, S. 110 (Gewissen als „ T e i l s t r u k t u r der Psyche"), 136. 79 Vgl. Oerter, a.a.O., S. 222. Genau umgekehrt glaubt Geißler, Kriegsdienstverweigerung, S. 70, aufgrund der Annahme einer objektiven Wertordnung, daß der Gewissensspruch u m so intensiver sei, je höher das (objektive) sittliche Gewicht der Norm.

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Gewissensreaktion und Gewissenserlebnis sind das Gewissen i n seiner Eigenschaft als bloßer Ablauf eines Naturvorganges; sie können nicht irren 8 0 . Das Gewissen ist also Indikator einer moralischen Einstellung. Genau besehen sind es nur Teilprozesse des Haltungssystems selbst, die unter dem Terminus „Gewissen" zusammengefaßt werden: die haltungsinterne Kontrolle m i t dem Ergebnis („Gewissensreaktion") und die Ergebnisanzeige als Sondererscheinung der affektiven Komponente („Gewissenserlebnis"). Das Gewissen ist deshalb notwendiges Begleitphänomen jeder moralischen Haltung; es ist die inhärente Kontrollanlage zur Uberprüfung einstellungsgetreuen Verhaltens 81 . Die Bezeichnung „Verhalten gemäß dem Gewissen" ist demnach zumindest ungenau: es ist ein „Verhalten gemäß einer moralischen Haltung". Jedoch sei die bisherige Ausdrucksweise beibehalten, einmal w e i l sie sich eingebürgert hat, zum anderen w e i l sie den gefundenen Aspekten dann näherkommt, wenn man das Gewissen und die übrigen Teile der Haltung i n ihrem prozeßhaften Charakter betonen w i l l und sie — statisch gesehen — unter der Bezeichnung „Gewissensapparat" zusammenfaßt. Weitere wichtige Elemente des Gewissensphänomens werden jedoch nur erkennbar, wenn w i r noch einmal zum Gewissensvorgang zurückkehren. Ist die Gewissensreaktion positiv, d. h. stimmen die moralisch bedeutsamen Reizmuster und Informationseingaben m i t der Richt-(Führungs-) große (dem moralischen Wertentwurf) überein, so signalisiert die Gewissensreaktion „Ja", jedoch fast immer nur ein lautloses Ja; das Gewissenserlebnis besteht nur „ i m Modus des Schweigens" 82 (ruhiges Gewissen) oder allenfalls i n einem gewissen Gefühl der Genugtuung. Wollte man ein solches ruhiges Gewissen leugnen 83 , so wäre man gezwungen, auch das Bestehen einer moralischen Haltung mit immanenter Kontrolle zu verneinen. Dann wäre jedes konforme Verhalten individuell amora80

Vgl. hierzu § 3, zu F n 50 ff. Dieses „funktionelle Gewissen" meint w o h l auch Cooley, H u m a n Nature, S. 365 („What is felt to be right is right" — Hervorhebung i m Original), u n d weist zugleich darüber hinaus. 81 Ä h n l i c h Geiger, Gewissensfreiheit, S. 22: „Signalanlage". 82 Formulierung nach Heidegger, Sein u n d Zeit, S. 273. 83 So w o h l Stoker , Gewissen, S. 170; Stelzenberger, Gewissen, S. 47. Lückert, Konflikt-Psychologie, S. 392, deutet das „ruhige Gewissen" als „nichtaktuelles Gewissen, d. h . . . . eine Gewissensdisposition". — Bedenkt m a n jedoch, daß ein Erleben der eigenen Gutheit nach unserer Überzeugung „ A u s druck höchsten Hochmuts, höchster Überheblichkeit" ist (Lückert, a.a.O., S. 391; ähnlich Stoker , Gewissen, S. 194 f.), so scheint das angebliche Fehlen des „ruhigen Gewissens", diese seltsame „Asymmetrie des Gewissens", eine V e r drängungsleistung des psychischen Apparates zu sein. Es scheint, als hätte hier die einverseelte N o r m „Demut, Bescheidenheit", der wissenschaftlichen A n a lyse einen Streich gespielt.

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lisch; denn es können — wie i n den meisten Fällen — Einstellung und Verhalten konform gehen. Nun besteht zwar die Gewissensreaktion, doch kein Gewissenserlebnis oder nur i n diffusen Anklängen. Unter dieser Sicht erweisen sich daher die meisten Gewissenskonflikte durch die moralische Haltung als „vorentschieden" 84 oder die Gewissensentscheidungen — i n der Modellvorstellung des Rechners — als „vorprogrammiert" 8 5 . Indem nun das Gewissen übereinstimmende Haltung indiziert, w i r d die latente Verhaltenstendenz aktualisiert. — Da diese Konstellation die Konformität von moralischer Haltung und staatlich gefordertem Verhalten voraussetzt, w i r d sie i m folgenden nicht weiter untersucht. Stimmen nun beim Probehandeln die moralisch bedeutsamen Reize, also etwa ein staatlich gefordertes Verhalten, nicht m i t der Richtgröße überein, so reagiert das Gewissen automatisch m i t „Nein"; es indiziert Inkongruenz. Das warnende Signal des Gewissenserlebnisses äußert sich i n den Affekterlebnissen des vorausgehenden Gewissens, sei es, daß der Wertentwurf als positiv dargestellt und als solcher dem Bewußtsein vorgestellt w i r d („mahnendes Gewissen"), sei es, daß die Probehandlung (das staatlich geforderte Verhalten) als negativ dargestellt und i n innerer Abwehr bewußt gemacht w i r d („warnendes Gewissen") 86 . Dieser Ablauf kann nun bedeuten, daß eine Verhaltenskomponente für das staatlich geforderte Verhalten gänzlich fehlt, das nicht i n Gang kommen kann, weil der „passende Schlüsselreiz" für die Freigabe des entsprechenden haltungsmäßigen Verhaltens fehlt. Vielmehr würden die moralisch bedeutsamen Reize der konkreten Situation ein geradezu entgegengesetztes Verhalten auslösen, das nun aber vom Staat blockiert ist. Doch kann der dargestellte Ablauf auch bedeuten, daß zwar eine latente Verhaltenstendenz zu dem staatlichen Begehren „paßt" und damit eine moralische 84

Spranger, Logos 22, S. 196. Herzog, DVB1. 69, S. 720: „vorgeprägt"; s. auch Baumhauer, V o r - U r t e i l , S. 119, 123, 127. Die Prägung w a r beim frühen Menschen besonders stark; daraus läßt sich aber nicht der Schluß ziehen, daß der frühe Mensch k e i n Gewissen hatte (so aber Baumhauer, V o r - U r t e i l , S. 116 f.). — Diese Programmierung übersehen A. Arndt, N J W 66, S. 2204 f., u n d K . Peters, JZ 72, S. 86, wenn sie die Seltenheit von Gewissensentscheidungen behaupten. Hamel, AöR 89, S. 331, lehnt solche Erklärungen scharf ab (bloße „Trübungen und Irrungen des Gewissens"). Entgegen Hamels pauschaler Ablehnung ist aber generell festzuhalten: „ M i t solchen Behauptungen k a n n m a n i n u n k o n trollierbarer Weise das Überwundene als Schwankung von angeblich vorübergehender N a t u r darstellen u n d die jeweilige Staatsauffassung u n d Gesellschaf tsmoral zur ewigen Sittlichkeit erheben." (Esser, Werte, S. 24). Allgemein zur Nichtverführbarkeit eines »gefestigten Charakters': Wellek, Polarität. S. 183. 86 Vgl. auch Stelzenberger, Gewissen, S. 40; ders. Syneidesis, S. 30. Z u m warnenden Gewissen: Stoker, Gewissen, S. 204 ff. Z u den „drei Gewissenserfahrungen — der Warnung, der Mahnung u n d Angst — " : Hollenbach, St.d.Z. 162, S. 371. 85

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Haltung dieses Begehren stützt, daß aber andererseits die festgestellte Inkongruenz zu einer anderen Moraleinstellung dominiert und somit das „Nein"-Signal ergab. Hier widerstreiten einander bereits moralische Haltungen, mag sich nun das staatliche Verlangen nur formal auf den einverseelten Bürgergehorsam stützen können, oder materiell auf den gleichlaufenden Inhalt einer moralischen Haltung, so etwa wenn bei einem Wehrpflichtigen das Verbot, einen Menschen zu töten, dem einverseelten Gebot widerstreitet, dem Vaterland zu dienen. Ein Sonderfall ergibt sich dann, wenn beide Haltungen als gleich gewichtig empfunden werden, wenn also ihr Stellenwert und ihre Bedeutsamkeit gerade für dieses Individuum offen sind 8 6 a . Das Individuum nimmt nun aber die durch das „Nein"-Signal geortete „Spannung" innerhalb des Haltungssystems (oder der Haltungssysteme) nicht einfach hin. Es setzt nun von selbst eine „Operation" ein, die versucht, durch haltungsbezogene A k t i v i t ä t Kongruenz zwischen Wertentw u r f und beabsichtigtem Verhalten („Gleichgewicht") herzustellen, etwa durch Nachdenken, Abwägen, Ausrichten an anderen u. a. m. 8 7 . Diese Übereinstimmung kann dadurch erreicht werden, daß die Umweltreize dementsprechend umgestaltet werden oder daß die Haltung einer Umstrukturierung unterworfen w i r d 8 8 . Den Umweltreiz, d. h. das staatlich geforderte Verhalten, umzugestalten, w i r d grundsätzlich scheitern, es sei denn, daß haltungs-(gewissens-)konforme bzw. -neutrale Alternativen für das Individuum bereitstehen. Es bleibt demnach nur, den Wertentwurf — bei widerstreitenden Haltungen die Wertentwürfe — umzugestalten 89 . Wie schon oben festgestellt, reagiert das Gewissen sehr empfindlich, und zwar selbst dann, wenn der betreffende Gewissensbereich nur schwach berührt wurde. Hier lassen sich also bloße Sinnestäuschungen beheben und rationale Randkorrekturen vornehmen oder klären, daß diese „negierende" Haltung gar nicht betroffen ist. Hier besteht auch ein M a Z u m Zusammenstoß unvereinbarer Forderungen des Gewissens s. unten § 7, 3.2.3. zu F n 336 ff., sowie Baumhauer, V o r - U r t e i l , S. 118 ff. 87 Vgl. näher Oerter, Entwicklungspsychologie, S. 219 m i t 92 f., zu diesem, an der TOTE-Einheit orientierten Gedanken. — Baumhauer, V o r - U r t e i l , S. 17 f., 109 f., 121, 126, betont v o r allem die ethische Entscheidung „ i m schöpferischen A k t " u n d greift damit auf das Gebiet der „Operation" über. Den Vorgang der „Operation" versteht K . Peters, JZ 66, S. 458 a.E., offenbar als „das Gewissen" u n d verfehlt damit das eigentliche Phänomen. 88 Vgl. Oerter, a.a.O., S. 221. S. auch Heinen, Gewissen, S. 161. A u f die „Wandelbarkeit" v o n Gewissensüberzeugungen verweisen deshalb m i t Recht: B V e r w G E 9, 100.101; Hamel, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, S. 106; Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 37; Rebensburg, Kriegsdienstverweigerung, S. 151; Kühne, Vorgänge 72, S. 116; einschränkend K . Peters, JZ 66, S. 460. 89 Daß dies möglich, eine H a l t u n g also änderbar ist: vgl. Oerter, a.a.O., S. 221, 234, 243; Dietrich-Walter, Psychologische Fachsprache, Stichwort „Einstellung". — Vgl. auch Cooley, H u m a n Nature, S. 383; Matussek, St.d.Z. 177, S. 428.

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„Variabilitätsbereichd.h. jene weiten Bereiche des haltungsmäßig „Erlaubten", aber nicht Gebotenen oder Verbotenen 90 , i n denen gewissensmäßiges Verhalten variabel verwirklicht wird, sei es, daß das Ziel unveränderlich (gewissensmäßig) festliegt und die M i t t e l variabel sind, sei es, daß die M i t t e l festliegen, aber das Ziel auswechselbar ist. Auch dieser Variabilitätsbereich ermöglicht es, das Wertkonzept, die Gewissensnormen, korrigierend abzugrenzen und schärfer zu konturieren. Steht nun aber die Norm als striktes Ge- oder Verbot entgegen, so w i r d es schwierig, ihre Struktur zu verändern. Sieht man hier noch vom staatlichen Zwang ab, der opportunistisches Verhalten empfiehlt, so ist jedenfalls die Haltung kein statisches System. Es ist deshalb möglich, sie über die kognitive Komponente 91 , also über das Wertkonzept, umzustrukturieren oder gar gänzlich auszulöschen, wenn entsprechendes Lernverhalten, insbesondere rationale Erwägungen, auf die Haltung einwirken. Entsprechend dieser Umstrukturierung, dem Abbau oder gar dem neuen Aufbau eines (kongruenten) Wertentwurfs ändert sich auch die Verhaltenskomponente. Die Veränderung des Wertkonzepts w i r d jedoch scheitern, wenn die Haltung über die Verhaltenskomponente oder die affektive Komponente tief verwurzelt ist, m i t anderen Worten, wenn sie fest eingebahnt ist oder das Ich stark engagiert ist, oder wenn die Struktur des gesamten Einstellungssystems dem entgegensteht. Gelingt es jedoch, durch Korrekturen sinnlicher oder rationaler A r t oder i m Variabilitätsbereich bzw. durch Veränderung des Wertentwurfs die Inkongruenz zu beheben und damit das Gleichgewicht zwischen der Gewissensnorm und dem beabsichtigten, staatlich geforderten Verhalten herzustellen, so w i r d die Operation eingestellt, dem staatlichen Begehren kann entsprochen werden. Doch bleibt zu beachten, daß die Operation nur bei den Menschen diesen Erfolg haben wird, bei denen die kognitive Komponente flexibel genug ist, und das dürften — entgegen Oerter 92 — nur wenige sein, vor allem dann, wenn man nur den Moralbereich betrachtet 93 . Mißlingt die Operation und läßt sich kein Gleichgewicht erzielen, so verbleibt es beim „Nein"-Signal des Gewissens. Staatlich gefordertes Verhalten, das auch durch parallel laufende sittliche Haltungen gestützt sein mag 9 4 , und die widerstreitende moralische Einstellung stehen ein90 Vgl. Geiger, Gewissensfreiheit, S. 23 f. — Hierzu w i r d unter § 7, 2.4.5. zu handeln sein. 91 Vgl. F n 89, auch 88, m i t Nachweisen. 92 Oerter, a.a.O., S. 234. 93 Dies ist bei Oerters These (a.a.O.) zu beachten, der sich hier auf Haltungen i m allgemeinen, nicht n u r auf moralische bezieht. Die „chronifizierende W i r k u n g " von sittlichen Normen betont a u d i Thomae, I n d i v i d u u m , S. 568. 94 Vgl. nach F n 86. Nach Stelzenberger, Gewissen, S. 38, ist ein Gewissensphänomen „ n u r ge-

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ander unversöhnlich gegenüber. Diese unaufhebbare Spannungslage kennzeichnet den „Konfliktsbereich": die Gewissensnorm gebietet ein Unterlassen, der Staat begehrt ein positives Tun; die Gewissensnorm gebietet ein positives Tun, der Staat fordert ein Unterlassen („Gewissenskonflikt"). I n diesem Raum 9 5 steht das Individuum i n einer typischen Entscheidungssituation, i n der es zwischen unvereinbaren Verhaltensweisen zu wählen und sich für eine einzige Verhaltensalternative zu entscheiden hat. Hier w i r d auch das staatliche Verlangen angesichts seiner Sanktionsdrohungen als (mittelbarer) Zwang erlebt. Und hier besteht auch ein intensives Konflikterleben 9 6 , i n das das vorausgehende Gewissen i n verschärfter Form mahnend oder warnend eingeht. Das Individuum w i r d eine sogenannte „Gewissensentscheidung" fällen, die i n Wahrheit keine Entscheidung des Gewissens, sondern eine Entscheidung für oder gegen die i m Gewissen bewußt gewordene Moraleinstellung ist. Sie liegt also erst nach der „Passage" des Gewissensapparates. Die Entscheidung kann ausfallen zugunsten der Gewissensnorm {„Gewissensentscheidung"): der einzelne achtet die Blockierung des Verhaltens; er handelt „gewissensmäßig". Die affektive Komponente der Haltung — hier als nachfolgendes Gewissen — w i r d erlebt als ein Gefühl der Billigung eigener A r t , jedoch mehr nach dem Pol des Glücksgefühls verschoben („gutes Gewissen") 97 , und zwar u m so stärker, je tiefer die moralische Haltung verwurzelt ist und je intensiver der Konflikt durchlebt werden mußte, mögen auch Momente der Unsicherheit und des Unbehagens immer wieder auftauchen. Dieses Gehobensein, dieses Hochgefühl hat nichts mit dem Bewußtsein zu tun, etwas getan zu haben, was richtig war; hier handelt es sich u m bloße Reflexion über ethisch richtiges Verhalten.

geben i m personalen Erleben des Zusammenstoßes von zwei Wertbindungen" (Hervorhebung von mir). D a m i t w ü r d e n fast sämtliche staatlich vermittelten Gewissenskonflikte aus dem Gewissensphänomen herausfallen, da der Staat heute regelmäßig keine Identifikation m i t staatlich gebotenem Verhalten fordert. Gerade deswegen k a n n dem keine Bedeutung zukommen. Die Beobachtung Stelzenbergers läßt sich aber auch phänomenologisch nicht rechtfertigen. 95 Hierauf w i r d noch i n anderem Zusammenhang (§ 7, 3.2.3.) näher einzugehen sein. 96 U n k l a r Cooley, H u m a n Nature, S. 359, da nach i h m nicht zwischen „Operation" u n d K o n f l i k t unterschieden w i r d . 97 A b i . zum „guten Gewissen": Heidegger, Sein u n d Zeit, S. 292; Jaspers, Philosophie I I , S. 271 ff.; Scheler, Formalismus, S. 335; Dantine, F u n k t i o n des Gewissens, S. 57 f. Wie hier: Hafner, Schulderleben, S. 136 f.; ders., Gewissen, S. 122 f.; Lückert, Konflikt-Psychologie, S. 392 f.; Stelzenberger, Gewissen, S. 42, 46 f.; ders., Syneidesis, S. 30 f., 33; Schär, Gewissen, S. 132; Rudin, Gewissen, S. 155; Gilen, S. 333 u. ö.; Arnold, Gewissen, S. 23f.; Auer, Gewissen, S. 43 f.; Brenner, Psychoanalyse, S. 144; Neuhäusler, Gewissen, S. 17.

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Die Entscheidung kann gegen die Gewissensnorm ausfallen: das Verhalten bleibt zwar auch hier gewissensmäßig blockiert, doch verhält sich der einzelne „gewissenswidrig". Die affektive Komponente (als nachfolgendes Gewissen) äußert sich als Gefühl einer Mißbilligung eigener A r t , das erlebt w i r d als Angst, Schuld oder Scham und allmählich zum Gefühl der Reue 98 überleitet. Das gewissenswidrige Verhalten kann das Individuum „korrumpieren" oder gefährden 99 . 2.3.2. Eine gestaltpsychologische Skizze des Gewissensphänomens Ergänzend zu diesem Phänomenaufweis seien einzelne Prozeßstrukturen unter anderem Aspekt nachgezeichnet, u m sie vielleicht von hier aus deutlicher zu machen. Schon vorher wurde angedeutet, daß die „Spannung" zwischen Wertkonzept und Probehandeln sich als gestörtes seelisches „Gleichgewicht" darstellt, dem durch die „Operation" des Haltungssystems begegnet werden soll. Hierdurch w i r d das Haltungssystem i n das „regulationsdynamische Modell der Persönlichkeit" 1 0 0 einbezogen; es ist ein eigenes Gleichgewichtssystem 101 i n der hochintegrierten Struktur des Individuums. Während aber das „Ungleichgewicht" i n der vorausgegangenen Darstellung abstrakt gedeutet wurde, dürfte die Gestaltpsychologie die Linien plastischer ziehen. Erlebnis„gestalten", insbesondere i m Bereich der Wahrnehmung (etwa eine Melodie, eine geometrische Figur) haben eine harmonische, eine „gute Gestalt" 1 0 2 . Wirken Reizmuster auf dieses ausgeglichene („gleichgewichtige") „System", so w i r d zunächst das Antwortverhalten abgestimmt. Unstimmige, „defekte" Erlebnisgestalten werden m i t höchster Empfindlichkeit registriert; sie werden zu Störungen des „Systems" der guten Gestalt m i t den kennzeichnenden Erlebnissen der Unruhe und des Unbehagens. Man w i r d dies nun auch auf Verhaltens- und Handlungsgestalten ausdehnen dürfen, die sich i m moralischen Bereich als „gute" 98

Freud X I V , S. 491, 497, anerkennt hier nur die „Reue". Auch hierüber w i r d noch zu handeln sein (§ 7, 3.2.3. zu F n 350 ff.). 100 Engelmayer, Gewissen, S. 120. Das psychische System des Individuums als Gleichgewichtssystem m i t gleichgewichtigen Untersystemen ist eine weitgehend anerkannte Modellvorstellung der Psychologie geworden: Freud X I I I , S. 4 ff.; Piaget , Das moralische Urteil, S. 359 f., 455 u. ö.; Lückert, Konflikt-Psychologie, S. 197; Pongratz, Menschliche Konflikte, S. 210; Engelmayer, Gewissen, S. 120, 133; Thomae, I n d i v i d u u m , S. 312; Hehlmann, Psychologie, Stichwort „Person" (m. w . N.). 101 Oerter, Entwicklungspsychologie, S. 221. 102 Einen knappen Uberblick zu Gestaltproblemen bringt Wellek, A r t i k e l „Gestaltpsychologie". — K . Bühler, Gestaltprinzip, S. 85, kennzeichnet das Gestaltprinzip als „Ordnungsprinzip i m Leben der Organismen". 99

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oder „böse" Ordnungen darstellen 1 0 3 . Verstöße gegen „gestalthaft eingebahnte Tabuordnungen und Zwangsregeln (werden) vom Kinde als normwidrige, gestörte Ordnung m i t dem charakteristischen Unbehagen, dem Erlebnis »schlechter' Gestalt erlebt und mit dem triebhaften Verlangen nach Wiederherstellung der ,guten Gestalt' beantwortet" 1 0 4 (sogenannte „Prägnanztendenz"). Diese Ordnungen werden beim Kinde schon bald emotional und werthaft akzentuiert, sind damit „gut" oder „böse" und werden i m eigentlichen Sinne „moralisch", wenn das Schuldbewußtsein konkret aufbricht 1 0 5 . W i r d nun i n einer konkreten Situation eine „defekte" moralische Gestalt registriert (etwa das Probehandeln!), so bleibt auch hier das „System" nicht untätig. Vielmehr versucht es, i n einer Wechselwirkung zwischen Umwelt und Individuum (die oben dargestellte „Operation") die Störung durch einen „ A k t der Umstrukturierung" zu bewältigen, d. h. die Einzelgegebenheiten werden zu einer neuen Struktur, zu einer „guten Gestalt" umgruppiert, also zu einem harmonischen spannungsfreien Ganzen 106 . Gelingt dies nicht, etwa w e i l die „gute Gestalt" zu tief eingebahnt ist, m i t anderen Worten, weil das Individuum hier moralisch eindeutig festgelegt ist, oder w e i l die Umwelt starr ist, so bleibt es beim Störcharakter der Reizsituation und damit beim Ungleichgewicht (der oben dargestellte „Konfliktbereich"!). Diese Störung kann nun endgültig abgewiesen werden durch „gewissensmäßiges Verhalten", oder die „defekte Gestalt" w i r d — da ihre Umstrukturierung gerade nicht gelungen ist — durch das „gewissenswidrige Verhalten" gleichsam selbst i n die Struktur des Individuums m i t eingebahnt, sei es, daß i h r nun dort die gute Gestalt allmählich angeglichen wird, sei es, daß der Zwiespalt offen bleibt oder nur scheinbar überbrückt w i r d 1 0 7 . Die Funktion des Gewissens i n dieser gestaltpsychologischen Erklärung bestünde darin, wie die Nadel eines Kompasses eindeutig auf die „gute Gestalt" hinzuweisen und jede Abweichung vom „ K u r s " einfühlig und

105 Ebenso: Engelmayer, a.a.O., S. 121, 134 f. A l s Erlernen eines Ganzen, einer „Gestalt" bezeichnen Sarbin-Allen, Role Theory, S. 545, das Erlernen einer sozialen Rolle (mit ihren Norminhalten!). 104 Engelmayer, Gewissen, S. 121. Ä h n l i c h Hollenbach, St.d.Z. 162, S. 372: „Sehnsucht nach innerer Ordnung". 105 Engelmayer, a.a.O., S. 121 f. 106

Vgl. hierzu auch Oerter, Entwicklungspsychologie, S. 346 ff. Wie bedeutsam es ist, daß irgendeine „gute Ordnung" wiederhergestellt u n d die Spannung gelöst w i r d , dürfte f ü r den Menschen auch ein Tierversuch Pawlows ahnen lassen: Hunde w u r d e n auf die „gute Gestalt" eines Kreises (Fütterung) u n d die „schlechte Gestalt" einer deutlich verschiedenen Ellipse (keine Fütterung) konditioniert. Die zunehmende Annäherung der Ellipse an die Kreisform führte zur Aufregung u n d schließlich zum emotionalen Zusammenbruch der Tiere; die Konditionierungen w u r d e n gelöscht (vgl. v. BaeyerKatte, Stud. Gen. 22, S. 600). 107

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unüberhörbar zum Bewußtsein zu bringen 1 0 8 . Es könnte dann als immanentes Regulativ der guten Gestalt gedeutet werden 1 0 9 . 2.4 Rechtliche Analyse des Gewissensphänomens Die Aussagen zum Phänomen des Gewissens gilt es nun durch eine rechtliche Analyse für das Grundrecht der Gewissensfreiheit fruchtbar zu machen und ihrem normativ bedeutsamen Aspekt nachzuspüren. Die erkenntnistheoretische Frage der Rückführbarkeit vom Sollen auf das Sein bleibe ausgeklammert. 2.4.1. Bestandsgarantie — Änderungsgarantie — absolutes Manipulationsverbot Die These, die Gewissensfreiheit umfasse die „Freiheit, ein Gewissen so oder anders zu haben", bestätigt sich an dieser Stelle noch nicht i n ihrem vollem Umfange. Wie aufgezeigt, ist das Wertkonzept wie auch die gesamte moralische Haltung notwendige und unabdingbare Voraussetzung jedes Gewissensphänomens 110 . Dies gilt auch für bloße „Vorgeformtheiten" bei Kleinkindern und Anormalen. Würde dem Staat die Möglichkeit zugestanden, die Haltungen durch Manipulation zu löschen 111 , so gäbe es keine Gewissensreaktion und kein Gewissenserlebnis. Oder i m Gedankenkreis der Gestaltpsychologie: Fehlte dem einzelnen die eingebahnte „gute Gestalt", so könnte der Kompaß des Gewissens nichts anzeigen. Eine Freiheitsgarantie, die lediglich das Folgephänomen „Gewissen" schützt, könnte jederzeit unterlaufen werden. Der Schutz durch eine andere Grundrechtsnorm erscheint zudem nicht sinnvoll, da hier Zusammengehöriges künstlich getrennt und die analysierten Voraussetzungen ungeschieden m i t vielen ähnlichen, aber doch nicht gleichen Phänomenen allenfalls i n einer Generalnorm, etwa A r t . 1 I oder A r t . 2 I, „versickern" w ü r d e n 1 1 1 3 . 108 Engelmayer, Gewissen, S. 134: „ K o m p a ß f u n k t i o n des Gewissens". io® Weitergehend Engelmayer, a.a.O., S. 133 (Gewissen als „regulative Ordnungsfunktion der gesunden Seele"). 110 Ebenso Stoker, Gewissen, S. 81 f.; Stelzenberger, Syneidesis, S. 29; ders., Gewissen, S. 21 f.; Lückert, Konflikt-Psychologie, S. 362, 430. — Vgl. auch Janzarik, S. 437 ff.; Gilen, S. 330, 335 ff. 111 I n Tierversuchen wurde festgestellt, daß das A n t i b i o t i k u m Puromycin die Erinnerungen auf rein biochemischem Wege zu löschen vermag (v. Randow, S. 46). l l l a I n diesem Sinne jedoch neuerdings Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 13 f., der A r t . 4 zwar auf die individual- psychologische Dimension eines metaphysischen Bedürfnisses Schopenhauerscher H e r k u n f t gründet, dann aber die individualpsychologischen Vorgänge u n d Zustände den A r t . 1 oder 2 zuweist u n d seltsamerweise zu dem Schluß kommt, daß A r t . 4 eine „Fundamental-

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Deshalb werde davon ausgegangen, daß das Grundrecht der Gewissensfreiheit auch den Bestand an „Vorgeformtheiten" und an moralischen Haltungen einschließlich der zwangsläufig dazugehörigen sittlichen Wertkonzepte schützt. Damit ist aber nicht schon das „Gewissen" erfaßt. Denn der Staat könnte zwar den Bestand an Haltungen unangetastet lassen, wohl aber ihre Funktionsfähigkeit und Funktionsweise gezielt manipulieren, etwa indem er die „Gewissensreaktion" hemmt oder das „Gewissenserlebnis" dämpft. Ohne die Gewissensreaktion würde das Kopplungserlebnis, das „Gewissenserlebnis", von selbst ausfallen. Dem Individuum würde weder die Existenz einer sittlichen Einstellung noch sein persönliches Engagement bewußt. Es wäre auf die bloße Reflexion verwiesen, d. h. auf die Beurteilung anhand seines moralischen Wissens, die seine Entscheidung i n den Bereich unverbindlichen „Meinens" abdrängt und die Struktur seiner sittlichen Person gefährden würde; denn strukturwidrige Entscheidungen wären mangels Bewußtheit der Haltung möglich. Demnach ist auch das funktionelle Gewissen selbst durch die Gewissensfreiheit zu schützen. Die aufgewiesene Abhängigkeit und Wechselwirkung dieser Teilprozesse mit einer Haltung und ihr einander bedingender Schutz läßt als Schutzobjekt der Bestandsgarantie 112, d. h. der Freiheit, ein Gewissen „so" zu haben, den „Gewissensapparat" i n seiner Gesamtheit erkennen. Er gehöre zum „Gewissen" i m Sinne des A r t . 4 I. Er umfaßt nicht nur die Existenz einer sittlichen Einstellung oder bloßer „Vorgeformtheiten" (etwa bei Kleinkindern und Anormalen), sondern auch die Fähigkeit, daß die Teilprozesse so und nicht anders ablaufen. Hier w i r d aber zugleich einer dieser Teilprozesse besonders sichtbar: die „Operation" bzw. der „ A k t der Umstrukturierung", und zwar i n der Hinsicht, daß die Haltung selbst, insbesondere das Wertkonzept, revidiert werden kann. Der bloße „Momentanschnitt" durch eine dynamische Struktur w i r d zwar durch eine Bestandsgarantie nach Existenz, Funktionsfähigkeit und Funktionsweise noch erfaßt, nicht aber die Veränderung der Struktur, der Haltung selbst. Da auch dieser Prozeß notwendiger Bestandteil des Gesamtprozesses ist und — falls ein staatlicher Zugriff zulässig wäre — seine Ausgliederung die Haltungen fixieren und dem Individuum die notwendige Umweltanpassung nehmen und damit seine Existenz gefährden würde, ist auch die Haltungsänderung (die „Gewissensbildung") schutzbedürftig. Sie w i r d jedoch nicht mehr von der Bestandsgarantie gedeckt, sondern nur mehr von der „Freiheit, ein n o r m des Staatskirchenrechts" sei u n d die sozialen Institutionen zur Befriedigung dieses metaphysischen Bedürfnisses (Kirchen, Religionen usw.) schütze. 112 Vgl. auch Böckenförde, W D S t R L 28, S. 85.

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Gewissen anders zu haben", der Änderungsgarantie oder Gewissensbildungsgarantie 113 . Zugleich zeigt sich aber, daß von einer Phänomenanalyse her die Gesamtheit der Gewissensbildung nicht i n den Griff zu bekommen ist, vor allem nicht die erstmalige Einstrukturierung überhaupt irgendeiner sittlichen Haltung. Immer wurde bisher davon ausgegangen, daß eine Einstellung besteht oder i n geistiger Auseinandersetzung umstrukturiert, ab- und neu aufgebaut wird. Dies w i r d allenfalls der Lebenswirklichkeit sehr weniger Erwachsener gerecht. A u f die Änderungsgarantie w i r d demnach später noch einmal zurückzukommen sein. Zugleich w i r d auch die Bestandsgarantie neu beleuchtet werden 1 1 4 . Das Phänomen des Gewissens gestattet auch schon den Rückschluß auf den Umfang der Bestandsgarantie und des dargelegten Teils der Änderungsgarantie: der Staat hat keinerlei Einwirkungsmöglichkeiten; das Manipulationsverbot ist absolut. Denn stünde auch nur ein einziger Teil dem staatlichen Zugriff offen, so würde dies zwangsläufig auf den Gesamtprozeß zurückwirken und i h n beeinträchtigen. Die eingespielten Abhängigkeiten, die wechselwirkenden Bezüge würden empfindlich und i n noch nicht vorhersehbarem Umfange gestört. Aber auch wenn der einzelne zustimmte, so wäre dies unerheblich. Soll die Gewissensfreiheit zur Freiheit und Würde des Individuums beitragen, so kann auch ein Verfahren nicht zulässig sein, das — einmal angesetzt — der einzelne nicht mehr überprüfen und beliebig abbrechen kann 1 1 5 . Eine begonnene Manipulation entzieht sich notwendig der Selbstbestimmung des Individuums; und sei es auch nur, w e i l der einzelne gewissermaßen „auf den Geschmack kommt" und selbst die Manipulation weiterführen möchte, weil er sich nicht mehr aus ihr zu lösen vermag (Rauschgift; Stimulierung der „Vergnügungszentren" durch ESB). Der seiner Selbstbestimmung beraubte Mensch wäre dann kritiklos und manipulationssüchtig einer unwürdigen, einer „verächtlichen Behandlung" ausgeliefert. Daher schützen die Garantien absolut und unverzichtbar 1 1 6 ; sie gelten insoweit unbegrenzt 1 1 7 . 113 S. Bäumlin, W D S t R L 28, S. 15 f.; Böckenförde, ebd., S. 64, 85. — Α . Α.: Faber, Innere Geistesfreiheit, S. 34, 54. 114 S. unten, § 7, 3.1.3., v o r F n 287. 115 Ä h n l i c h unterscheidet Faber, Innere Geistesfreiheit, S. 73 ff., f ü r das v o n i h m entwickelte Grundrecht der inneren Geistesfreiheit einen kognitiven u n d einen voluntativen Aspekt der „Beherrschbarkeit" v o n Suggestionen. — Vgl. auch Scholler, Gewissensfreiheit, S. 146 ff.; Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 23 f. Enger: Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 52. der die Freiheit der Gewissensbildung als „Verbot jeder Beeinflussung der Gewissensbildung durch Ausnutzung von Machtpositionen" bestimmt. S. ferner zur Manipulation: Hamel, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, S. 85 (körperliche Eingriffe grundsätzlich gestattet); Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 40; Herzog, DVB1. 69, S. 720. — Z u r Manipulierbarkeit: Dantine, F u n k t i o n des Gewissens, S. 57; Knoche, Vorgänge 70, S. 305. 116 A u f Probleme der D r i t t w i r k u n g w i r d nicht eingegangen. Vgl. § 5, F n 69 (m. w. N.).

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2.4.2. Begründung eines gewissensmäßigen Verhaltens Vom Phänomen des Gewissens her lassen sich Kriterien finden, die es erlauben, über Möglichkeit, A r t und Form der Begründung eines gewissensmäßigen Verhaltens normativ zu befinden. Dabei werde lediglich vorausgesetzt, daß die weitgehend begründete These von der Freiheit gewissensmäßigen Verhaltens auch endgültig abgesichert sei. Ein staatliches Begehren braucht keineswegs auf entgegenstehende Gewissensnormen zu stoßen; es kann vielmehr auch i n moralleeren Raum fallen, es kann nur auf moralisches Wissen treffen oder kann auch mit sittlichen Wertkonzepten des einzelnen konform gehen. Der Staat kann also nicht wissen, woran er ist, wenn das Individuum sich dem staatlich geforderten Verhalten verweigert; es hat sich also über die Gründe seiner Weigerung zu erklären 1 1 8 . Anderenfalls kann die öffentliche Gewalt auch davon ausgehen, daß er aus Bequemlichkeit, aus bloßer Streitlust und zahlreichen weiteren Gründen dem staatlichen Verlangen nicht nachkommt. Beruft sich nun der Betreffende abstrakt auf die „Gewissensfreiheit", so müßte dies — die Freiheit gewissensmäßigen Verhaltens vorausgesetzt! — dann ausreichen, wenn es i h m nicht möglich wäre, sich näher zu erklären, und er lediglich auf das Warnsignal des Gewissens verweisen könnte. Hier bliebe es nur mehr möglich, über die Schranken des Grundrechts zu nehmen, was über seinen Inhalt gegeben wurde, u m dem tripolaren Spannungsverhältnis m i t seiner Konvergenztendenz gerecht zu werden. Es ist jedoch dem Betroffenen nicht nur möglich, eine staatliche Forderung als „Verstoß gegen die Gewissensfreiheit" oder als „gewissensw i d r i g " zu kennzeichnen. Vielmehr ist er imstande, die entgegenstehende Gewissensnorm nach ihrem Ge- oder Verbotsinhalt zu bezeichnen; denn die Haltung hat „Repräsentationscharakter", d. h. i n der Haltung w i r d der „Wert einer Situation oder eines Objektes sowie (der) Wert der eigenen Handlung i n einer Situation" 1 1 9 bewußt. I n der Haltung selbst ist also der Person-Umwelt-Bezug noch einmal „repräsentiert" 1 2 0 . Die 117 W o h l auch Böckenförde, W D S t R L 28, S. 85. Auch das BVerG, N J W 72, S. 1184 (zur Glaubensfreiheit), kennt einen dem „staatlichen Zugriff prinzipiell verschlossenen, inneren Glaubensbereich". I h n w i e auch den geschützten Gewissensapparat w i r d m a n zum „unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung" rechnen dürfen (so die st.Rspr. des BVerfG seit E 6, 32.41; DVB1. 72, S. 383). 118 I m Ergebnis ebenso: B V e r w G E 9, 97.99 f.; 13,171.172; 14,147.149; Scheuner, DÖV 61, S. 205; Klinkhardt, DÖV 65, S. 109; Dürig, J Z 67, S. 429; Podlech, Gewissensfreiheit, S. 96 ff.; Bäumlin, W D S t R L 28, S. 8, 18, 101 f., 105; Böckenförde, ebd., S. 66; v. Burski, Zeugen Jehovas, S. 96; v. Zezschwitz, JZ 70, S. 240, auch S. 236 f. 119 Oerter, Entwicklungspsychologie, S. 220. 120 A . A . insoweit teilweise die Tiefenpsychologie, etwa Freud, X I I I , S. 254 f., 280 ff.; ders., X I V , S. 494 f.; Jung, Gewissen, S. 186 ff.; Eicke, S. 66, 70 f. u. ö., die

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Situation, i n die das staatliche Begehren das Individuum stellt, w i r d vom Bestand moralischer Haltungen i m Kongruenzvergleich gleichsam abgetastet; die inkongruenten Haltungen signalisieren Nichtübereinstimmung und machen zugleich ihren (mehr oder weniger allgemeinen) Inhalt bewußt. Daß diese Bewußtheit lebensnotwendig ist und hier nicht lediglich postuliert wird, ergibt sich schon daraus, daß die bloße Blockierung ohne Bewußtmachung der Gründe das Individuum zwar vor einer Gefahr warnt, i h m aber nicht die Ursache der Gefahr anzeigen und damit die Zahl möglicher Ursachen so unüberschaubar groß machen würde, daß es auf der Suche nach der auslösenden Ursache keinesfalls rechtzeitig und angemessen reagieren würde; der einzelne hätte kaum Uberlebenschancen. Allerdings sind die bewußten Inhalte meist sehr allgemeiner A r t , etwa das Verbot, einen Menschen zu töten, oder an einem Krieg (Bruderkrieg, Atomkrieg usw.) teilzunehmen. Es w i r d also der Bezug auf ein bestimmtes Wertkonzept enthüllt, während „rationale Argumente für diese Haltung gänzlich fehlen können" 1 2 1 . Solche werden regelmäßig nur dort vorhanden sein, wo erst vor kurzem eine lebhafte geistige (!) Auseinandersetzung dazu führte, den einzelnen affektiv stark zu engagieren, i n i h m neue Haltungen aufzubauen oder alte Einstellungen umzustrukturieren. Aber selbst hier brauchen später angegebene Gründe nicht solche zu sein, die kognitiv zur Haltung geführt haben; es können stärkere Argumente nachgeschoben oder schwache gegen neue Gründe ausgetauscht sein, mag auch die Haltung selbst sich nach ihrem Inhalt nicht verändert haben. Dies zeigt deutlich, daß eine Haltung — einmal struktureller Bestand des Individuums — ein gewisses Eigenleben führt und schon von hier aus Zweifel bestehen gegen Erwägungen, die dem Individuum eine „rationale Mitteilbarkeit" von Gründen dergestalt unterstellen, daß „ein bestimmter Entscheid für (es) selbst persönlichkeitskonstituierend bzw. -dekonstituierend" sei 1 2 2 . Solche Gedanauf unbewußte Schuldgefühle hinweisen. Doch w i r d man unterscheiden müssen zwischen gesunden Individuen, denen i m m e r noch Handerscheinungen des Gewissenserlebnisses bewußt bleiben, die dann allerdings verdrängt u n d dam i t unbewußt werden können, u n d zwischen seelisch Kranken, die unbewußte (aber doch n u r verdrängte?) Sdiuldgefühle haben oder bei denen sich andererseits die Schuldgefühle verselbständigen können u n d scheinbar beziehungslos bewußt werden. Wie hier: Lückert, Konflikt-Psychologie, S. 410; v. Monakow, S. 35 f.; Oerter, a.a.O., S. 220. 121 Oerter, Entwicklungspsychologie, S. 226. Vgl. auch zutr. B V e r w G E 12, 271.272 f. — Ferner: Baumhauer, V o r - U r t e i l , S. 22, 95. 122 Bäumlin, W D S t R L 28, S. 101,18. Ob u n d inwieweit „psychoanalytisch deutbar" auch „ r a t i o n a l m i t t e i l b a r " ist (ebd., S. 18), erscheint zumindest zweifelhaft. Kritisch zu psychoanalytischen Begriffen u n d Theorien etwa Skinner, S. 454 ff. V o r allem i n der Praxis scheint die frühere unkritische Ablehnung der Psychoanalyse i n unkritische Gläubigkeit umzuschlagen.

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ken versagen aber vor allem dort, wo die kognitive Komponente bis auf den bloßen Norminhalt verblaßt ist oder wo moralische Haltungen langzeitig eingeübt oder emotional tief verankert sind. Solche Strukturen sind auf die Gründe ihrer Entstehung überhaupt nicht mehr, jüngere Haltungen nur begrenzt hinterfragbar und damit begründbar 1 2 3 . Überspitzt (und damit ungenau) : Man könnte genausogut den Kniereflex nach den Gründen seines Reagierens fragen. Wie gesagt: Es ist nicht ausgeschlossen, daß rationale Überlegungen eine Strukturierung begründeten oder an ihr m i t w i r k t e n 1 2 4 . Jedoch werden i n den meisten Fällen rationale Gründe nicht oder nicht mehr präsent sein. Bestände man dennoch darauf, daß die Weigerung „rational mitteilbar" sein müsse, so zwänge man den einzelnen, Gründe zu erfinden, also die Haltung i n irgendeiner Weise zu rationalisieren, notfalls auf plausible Gruppenargumente auszuweichen. Daß es dem Sinn der Gewissensfreiheit entspräche, zur Würde des einzelnen durch einen Zwang zur Unwahrheit beizutragen, muß bezweifelt werden. Darüber hinaus ist es kaum der Zweck des Freiheitsrechts, „wertvolle", d. h. rational agierende Individuen zu prämiieren; denn der ungelenke, nur emotional Reagierende würde benachteiligt, der sprachlich Privilegierte und sprachlich Differenzierte oder auch nur der Informierte würden willkürlich bevorzugt 1 2 5 . Demnach muß der Betroffene seine Weigerung zwar begründen; es genügt jedoch, wenn er sich auf ein bestimmtes sittliches Wertkonzept bezieht, den Inhalt einer Gewissensnorm benennt 1 2 6 . Eben diese Haltung und nur sie rechtfertigt das Verhalten des einzelnen 127 . 123 vgl. a u c h Oerter, a.a.O., S. 234. — Ä h n l i c h w i e hier schon Nie. Hartmann, Ethik, S. 55. 124 Deshalb läßt das B V e r w G (E 7, 242.245 ff.; 14, 147; 23, 98.98 ff.) zutr. rationale Vorerwägungen zu. Vgl. auch Hamel, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, S. 104 f.; Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 34; Schmidt-Bleibtreu/Klein, A r t . 4 Rdnr. 13, 16; Böckenförde, W D S t R L 28, S. 106; Baumhauer, V o r - U r t e i l , S. 43 f. — Z u m T e i l a. M.: Paul, Gewissen, S. 34. Dagegen haben rein logische Erwägungen m i t dem Gewissen u n d einer moralischen H a l t u n g nichts zu t u n ; sie sind f ü r A r t . 4 I GG unbeachtlich (so m i t Recht BVerwG, DÖV 70, S. 710) ; s. auch Kühne, Vorgänge 72, S. 115. Reiches Material zu rationalen Vorerwägungen hinsichtlich der Kriegsdienstverweigerung bringt v. Bredow, Entscheidung des Gewissens, S. 43 ff. 125 Vgl. B V e r w G E 9, 100; 12, 271; Rebensburg, Kriegsdienstverweigerung, S. 145 f. 126 Demnach k a n n der Unterscheidung Podlechs (Gewissensfreiheit, S. 96 ff.) zwischen formeller u n d materieller Gewissensposition nicht gefolgt werden. Sie übersieht einerseits, daß die Geltung der Gewissensnorm f ü r das I n d i v i d u u m grundsätzlich von den möglichen „Folgen des Verhaltens" unabhängig u n d auch gar nicht von daher begründbar ist, u n d bringt (ebd., S. 97) bereits das Schrankenproblem ins Spiel, das f ü r die individuelle Begründbarkeit belanglos ist. — I m Ergebnis w o h l auch Marcic, W D S t R L 28, S. 115. 127 Vgl. Oerter, Entwicklungspsychologie, S. 220.

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2.4.3. P r o b l e m der G e w i s s e n s ü b e r z e u g u n g

Das Problem der Begründung gewissensmäßigen Verhaltens weist auf das Problem der Uberzeugung. Während mitunter die Überzeugung der Haltung gleichgesetzt zu werden scheint 128 , w i r d andererseits versucht, Gewissensentscheidung und Uberzeugung scharf zu trennen, etwa i n der Problemstellung Gewissenstäter zu Uberzeugungstäter 129 . Es w i r d zwar vorausgesetzt, daß der Gewissenstäter auch Uberzeugungstäter sei, jedoch „mehr und etwas wesentlich anderes" 130 . Der Versuch, eine Gewissensentscheidung nur dort zu sehen, wo sich die Entscheidung an einer „objektiven Wertordnung" 1 3 1 orientiere und nicht an einer „konkreten persönlichen Situation" 1 3 2 , scheitert schon daran, daß eine Gewissensentscheidung immer „situationsbezogen" 133 ist und der einzelne für seinen Gewissensentscheid rechtswissenschaftlich auf einen objektiven Maßstab verwiesen würde, der aber rechtswissenschaftlich gerade nicht aufgewiesen werden kann (vgl. die obige Konvention 1 3 4 ), während die ideologische Argumentation der Ideologie des Grundgesetzes zuwiderliefe, das sich nicht zu objektiven Maßstäben, sondern zur Freiheit und Würde des Individuums bekennt. Insoweit ist umgekehrt gerade seine Subjektivität geschützt. Der Hinweis, die Gewissensentscheidung tendiere zur Allgemeingültigkeit, zur Geltung für andere 135 , sieht zwar richtig den „normativen Bezug" der Gewissensnorm 136 , verkennt aber seinen Grund, nämlich die Realisierungstendenz und die Konsistenz der Haltung. Nur darin, daß die „Norm" auf Dauer angelegt ist, kann die „Tendenz zur Allgemeingültigkeit" gesehen werden, nicht jedoch darin, daß Gruppenbekenntnisse, die i n der Regel Geltung für andere beanspruchen (häufig m i t Ausschließlichkeitsanspruch) 137 , privilegiert wer128 Vgl. Böckenförde, W D S t R L 28, S. 104, auch S. 68. — s. aber andererseits F n 128. 129 So K . Peters, Überzeugungstäter, S. 262 ff. Zusti.: A. Arndt, N J W 66, S. 2205 f.; Böckenförde, W D S t R L 28, S. 60 F n 83; w o h l auch v. Schlabrendorff, Friedensgebot, S. 417 (der aber an anderer Stelle — N J W 72, S. 1185 — die Überzeugung scharf v o m „Glauben" unterscheidet). V ö l l i g ablehnend u n d abwertend zum Überzeugungstäter: Plack, Gesellschaft, S. 240, 272. 130 K . Peters, a.a.O., S. 263. Zusti.: Listi, Religionsfreiheit, S. 130 f. 131 Ebd., S. 269 f. 132 Ebd., S. 273. 133 Vgl. auch BVerfGE 12, 45.55; Leibholz-Rinck, GG, A r t . 4 Rdnr. 9. 134 So oben, § 3,4. zu F n 56. 135 K . Peters, a.a.O., S. 271 f.; A. Arndt, N J W 66, S. 2205; Rebensburg, Kriegsdienstverweigerung, S. 141. 136 Hierzu auch § 7, 2.4.9. zu F n 217. — Diesem normativen Bezug trägt MaunzDürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 121 f. — w e n i g glücklich — durch die „ K a t e g o r i e . . . des Sollens" Rechnung. S. auch Heinen, Gewissen, S. 160, 137 Cohn, Glaube, S. 13 f., 16 f., 55 ff.

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den. Zudem bestünde das Paradox, daß der Buddhismus lediglich Überzeugungen und keine Gewissensentscheidungen kennen würde, da er nicht zur Geltung für andere tendiert. Auch sollte nicht verkannt werden, daß eine solche Forderung intolerante Missionierung und militantes Verhalten provoziert, während andererseits jene ungeschützt bleiben, die zwar von der Realität „ihrer" Gewissensnorm überzeugt sind, aber sie trotzdem für sich anerkennen. Ein letztes Merkmal, die Gewissensentscheidung dränge zum offenen Zeugnis und damit zur Offenkundigkeit und Opferbereitschaft 138 , dürfte i n jüngster Zeit auch für Auffassungen belegt worden sein, die bisher gemeinhin als „Überzeugungen" par excellence gegolten haben. Hier wie bei den anderen Kriterien zur Unterscheidung von Gewissensentscheid und Überzeugung w i r d deutlich spürbar, daß sie am Modellfall des christlich-religiösen Gewissens gewonnen wurden. Damit ist jedoch dem Gewissen Andersdenkender nicht beizukommen. W i l l man nicht ohnehin die Überzeugung der Haltung gleichsetzen, so sei folgende Ableitung und Terminologie vorgeschlagen 139 : Eine Überzeugung ist nicht nur bloßes Meinen, bloßes unverbindliches Urteilen, sondern immer zugleich emotional verwurzelt. Das Individuum ist persönlich engagiert; die Überzeugung kann deshalb „nicht ohne weiteres aufgegeben oder geändert werden" 1 4 0 . Andererseits enthält die Überzeugung kognitive Elemente, d. h. der einzelne ist sich seines Denkens und Handelns bewußt und sucht sich darüber Rechenschaft abzulegen. Trotz der Gemeinsamkeit von kognitiver und affektiver Komponente sind aber Haltung und Überzeugung nicht identisch; denn der Überzeugung fehlt die Verhaltenskomponente 141 . Vielmehr vermag sie das Verhalten gerade zu ihrem Untersuchungsgegenstand zu machen. Von hieraus läßt sich festlegen: Überzeugung ist die Haltung unter dem Aspekt der Sprache; sie ist „verbalisierte Haltungwobei zu berücksichtigen ist, daß Denken immer schon Sprechen ist. Sofern für die Haltung rationale Gründe bewußt gemacht, gefunden oder erfunden sind, ist die Überzeugung immer auch „rationalisierte Haltung". Das bedeutet, daß man es bei einem Kriegsdienstverweigerer etwa i m Gerichtssaal immer nur m i t Überzeugungen zu t u n hat, während seine Weigerung ein Maschinengewehr an138 K. Peters, Überzeugungstäter, S. 271, 273. iss Y g i z u m folgenden insbes. Oerter, Entwicklungspsychologie, S. 220 f., 223 f. Kühne, Vorgänge 72, S. 115, hält zwar die M o t i v a t i o n v o n Gewissensentscheidungen durch politische Überzeugungen f ü r möglich, betrachtet aber andererseits Entscheidungen (?) aufgrund politischer Überzeugungen als nicht gewissensrelevant. Dieser Widerspruch erklärt sich daraus, daß er das Problem der Gewissensüberzeugung verwischt. 140

Oerter, a.a.O., S. 220. Plack, Gesellschaft, S. 260 f., versteht die Überzeugungen als „Dispositionen des Leibes" u n d sieht sie „nahe am K e r n unseres Gewissens". 141

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zurühren, unmittelbar seine Haltung offenbart, d. h. gewissensmäßiges Unterlassen ist. Eine Gewissensüberzeugung sei deshalb eine verbalisierte sittliche Haltung. Sie w i r d von der Bestands- und Änderungsgarantie notwendig miterfaßt, sofern sie lediglich i m Denkbereich bewußt ist. Bedient sie sich jedoch der verschiedenen „Formen der Sinnobjektivierung" (Äußerungen, Gebärden und dgl.), t r i t t sie also nach außen i n die Umwelt, so verläßt sie den Schutzbereich des Grundrechts der Gewissensfreiheit, da die Gewissensüberzeugung definitionsgemäß kein geschütztes gewissensmäßiges Verhalten sein kann. Hier t r i t t die Bekenntnisfreiheit wieder i n den Blick, die w i r mit Bezug auf das „Gewissen" vorläufig als Freiheit, seine „Gewissensentscheidungen" zu bekennen oder nicht zu bekennen 142 , aufgefaßt haben. Da der Terminus der „Gewissensentscheidung" dahingehend präzisiert wurde, daß er nur eine solche Entscheidung darstellt, die i n einem konkreten Gewissenskonflikt zugunsten der Gewissensnorm gefällt wurde 1 4 3 , und daher die Bekenntnisfreiheit entgegen der dargelegten Intention zu stark eingeengt würde, w i r d hier die Bekenntnisfreiheit hinsichtlich des „Gewissens" als Freiheit, seine „Gewissensüberzeugungen" zu bekennen oder zu verschweigen, verdeutlicht 1 4 4 . Diese Gewissensüberzeugung konkretisiert und aktualisiert sich i n einer bestimmten Situation für ein bestimmtes Individuum als „Gewissensentscheidung". Diese ist daher (verbalisiert gesehen!) konkretisierte Gewissensüberzeugung und w i r d somit von der Bekenntnisfreiheit m i t umfaßt. Sie sei unter verbalem Aspekt als „Gewissensposition" bezeichnet. Wie nach der vorgeschlagenen Terminologie die Unterscheidung von Gewissenstätern und Überzeugungstätern keinen Platz mehr hat 1 4 5 , so auch die seltsame Figur der „Gewissensbedenken" 14e . Sind sie bloßes Meinen, so greift A r t . 5 ein; sind sie affektiv verwurzelt, so sind sie „Gewissensüberzeugungen" und werden von A r t . 4 I geschützt. Ist das Individuum i n einer geistigen Auseinandersetzung begriffen, so ist dies ein „ A k t der Gewissensbildung" und durch die Änderungsgarantie ge142

Vgl. § 5,4. So oben, § 7, 2.3.1., v o r F n 97. 144 So w o h l auch Zippelius, B K A r t . 4, Rdnr. 46; Maunz, Staatsrecht, S. 119; Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 25, 31; Listi, Religionsfreiheit, S. 75 f.; Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 128. 145 So auch Scholler, Gewissensfreiheit, S. 197, 200 f. (einschränkend ders., DÖV 69, S. 532); Bäumlin, W D S t R L 28, S. 9 f., 18, 101 f.; w o h l auch Mattil, ZStW 74, S. 215 f.; Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 40. — Zweifelnd schon A. Arndt, N J W 57, S. 361 (anders aber ders., N J W 66, S. 2205 f.). 146 Vgl. BVerfGE 12, 45.57 (kritisch hierzu i n der Sache: Böckenförde, W D S t R L 28, S. 75); Scheunet, DÖV 61, S. 203 f.; Kaufmann-Bühler, Kriegsdienstverweigerung, S. 154; Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 106; Urbach, ZfJR 67, S. 172; A. Arndt, N J W 68, S. 979; Böckenförde, W D S t R L 28, S. 64, 75,104. 143

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deckt; doch ist hier zu berücksichtigen, daß solche A r t von „Gewissensbedenken" kein „gewissensmäßiges Verhalten" ermöglicht, da eben noch keine sittliche Haltung besteht, ein Gewissen hierzu also noch gar nicht möglich ist. Schließt man deshalb den Terminus „Gewissensbedenken" auch für diesen Bereich aus, so bleibt er allenfalls als Indikator für die Intensität einer Gewissensüberzeugung 147 , d. h. einer Gewissensüberzeugung, die nicht stark genug, nicht tief genug i m Individuum verwurzelt ist, so daß sie aus Rechtsgründen jenseits des Schutzbereichs der Gewissensfreiheit anzusiedeln ist. Als solcher Intensitätsindikator ist der Begriff der „Gewissensbedenken" jedoch aus tatsächlichen Gründen unbrauchbar. Hierüber w i r d näher zu diskutieren sein, wenn das Problem der „Echtheit" von Gewissensüberzeugungen zu erörtern ist 1 4 8 . 2.4.4. Verhaltensfreiheit Die These, die Gewissensfreiheit umfasse auch „die Freiheit, sich seinem Gewissen gemäß zu verhalten" („Verhaltensfreiheit"), w i r d weiter bekräftigt durch die bei der Haltung festgestellte Tendenz zu eigenen Realisierungen i n der Außenwelt 1 4 9 . Soll das Grundrecht der Gewissensfreiheit zur Freiheit und Würde des Individuums beitragen, so müßte die Freiheitsgarantie, die dem einzelnen zwar ein intaktes forum internum gewährt, aber dessen „unabweisbare" Konsequenz abschneidet und das Individuum i n den Zwiespalt zwischen Innen und Außen treibt, als doppelzüngig empfunden werden 1 5 0 . Wenn das Grundgesetz die moralische Haltung garantiert, so hat es dem auch durch die moralische Verhaltensfreiheit gerecht zu werden und dem tripolaren Spannungsverhältnis i n anderer Weise zu genügen. 2.4.5. Variabilitätsbereich („individuelle Alternativen") I m Variabilitätsbereich, d. h. i m Bereich des gewissensmäßig „Erlaubten", nicht des „Gebotenen" oder „Verbotenen", besteht Zweck-Mittel147 So Zippelius, a.a.O.; w o h l auch BVerfGE, a.a.O. — Eine ähnliche Stufung der Gewissensnot scheint K . Peters, JZ 66, S. 459, zu meinen, wenn er feststellt: „Die Gewissensnot kann so drängend sein, daß weder physisch noch psychisch überhaupt ein anderes Verhalten dem Gewissenstäter möglich ist." (Hervorhebung von mir!). — Einfache u n d schwere Gewissenskonflikte unterscheidet — i m Anschluß an § 3 B F V G — Becker, St.d.Z. 175, S. 232. 148 S. unten, § 7, 3.3.4. zu F n 427. 149 Heinen, Gewissen, S. 105, versteht das Handeln gemäß dem Gewissen als „ W e r t v e r w i r k l i c h u n g durch Vollzug oder Ausführung des Entscheides" (sc.: des Gewissens). 150 Vgl. Bäumlin, W D S t R L 28, S. 16; Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 12, 34; Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 51 f. Nach Heinen, S. 195, ist das Gewissen i m öffentlichen Leben „konstituierend u n d bestimmend f ü r die Formen des persönlichen Sichdarlebens, f ü r das gesellschaftliche Miteinander, Gegeneinander u n d Füreinander" (vgl. ebd., S. 196).

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V a r i a b i l i t ä t . S o w e i t das I n d i v i d u u m h i e r a u f e i n e n a n d e r e n Z w e c k oder/ u n d e i n anderes M i t t e l ausweichen k a n n , ohne i n d e n B e r e i c h des gewissensmäßigen Ge- oder V e r b o t s e i n z u t r e t e n , u n d s o w e i t das staatliche B e g e h r e n als solch v a r i a b l e s Z i e l b z w . M i t t e l gewissensmäßig „ e r l a u b t " i s t 1 5 1 , w i r d der einzelne d u r c h die F r e i h e i t , sich nach s e i n e m Gewissen z u v e r h a l t e n , n i c h t geschützt, s o n d e r n n u r d u r c h die B e s t a n d s g a r a n t i e nach E x i s t e n z , F u n k t i o n s f ä h i g k e i t u n d F u n k t i o n s w e i s e der „ O p e r a t i o n " . G e g e n ü b e r gewissensmäßig n u r e r l a u b t e m V e r h a l t e n g i l t die ü b r i g e R e c h t s o r d n u n g u n e i n g e s c h r ä n k t 1 5 2 ; d e r S t a a t k a n n sein V e r l a n g e n d u r c h setzen oder s a n k t i o n i e r e n , da die s i t t l i c h e E i n s t e l l u n g „ j a n u r f r e i s t e l l t , zu h a n d e l n oder n i c h t z u h a n d e l n " 1 5 3 . Das I n d i v i d u u m h a t a u f die v a r i a b l e n , d. h. i h m f r e i s t e h e n d e n V e r h a l t e n s m ö g l i c h k e i t e n ( „ i n d i v i d u e l l e Alternativen") auszuweichen154.

2.4.6. S i t t l i c h k e i t als I n h a l t der G e w i s s e n s n o r m — S u b j e k t i v i t ä t des Gewissens B i s h e r w u r d e i m w e s e n t l i c h e n v o m sittlichen Wertkonzept, v o n der Gewissensnorm ausgegangen, ohne sie n ä h e r zu a n a l y s i e r e n u n d ü b e r das h i n a u s z u f ü h r e n , w a s b i s h e r b e i der D a r s t e l l u n g der H a l t u n g e i n g e f ü h r t 151 S. das treffende Beispiel bei Böckenförde, W D S t R L 28, S. 64f.: Dem Mormonen erlaube seine religiöse Überzeugung, mehrere Frauen zu haben, sie gebiete es i h m aber nicht. 152 Vgl. Geiger, Gewissensfreiheit, S. 23 f.; ders., Nonkonformismus, S. 69 ff.; Zippelius, B K A r t . 4, Rdnr. 33; Herzog, DVB1. 69, S. 720 f.; Hamann-Lenz, A r t . 4 A n m . Β 2; Böckenförde, W D S t R L 28, S. 64 f.; K . Peters, JZ 72, S. 520; andeutend schon Scholler, Gewissensfreiheit, S. 150. Α. A . offenbar das B V e r f G N J W 72, S. 329 (unter Β I I 2), nach dem auch ein Verhalten, das gemäß den religiösen Überzeugungen des einzelnen zwar nicht zwingend geboten, w o h l aber „das beste u n d adäquate M i t t e l (sei), u m die Lebenslage nach der Glaubenshaltung zu bewältigen", geschützt ist. Z u beachten ist jedoch einmal, daß das B V e r f G zur Glaubensfreiheit des A r t . 4 I entschieden hat, deren Betätigungsfreiheit nicht notwendig n u r f ü r Ausflüsse von Glaubensüberzeugungen, sondern auch f ü r Betätigungen w i e Glockengeläut usw. vorbehaltlos gewährleistet ist (worin K . Peters, JZ 72, S. 85, freilich eine „Erst-recht-Bestätigung" zugunsten der Gewissensfreiheit sieht). Z u m anderen spricht aber das B V e r f G i m weiteren Verlauf v o n einem Glaubensgebot u n d macht damit deutlich, daß „das beste u n d adäquate M i t t e l " i n der konkreten Situation sich weitgehend zum glaubensmäßig Gebotenen verfestigt hat, neben dem die glaubensmäßig erlaubten anderen Verhaltensweisen (hier: Bluttransfusion!) v ö l l i g zurücktraten (ähnlich: Schwabe, JuS 72, S. 384: „der einzig sinnvolle Weg"!). — Noch deutlicher reduziert das BVerfG den „ K o n flikt" (sie.!) auf die Konfrontation Staatsgebot : Gewissens (bzw. Glaubens-) gebot, w e n n es einen „unausweichlichen . . . K o n f l i k t zwischen staatlichem Gebot u n d Glaubens gebot" fordert bzw. einen „ K o n f l i k t , dem der betroffene B ü r ger nicht ausweichen k a n n " (NJW 72, S. 1184; Hervorhebungen v o n mir). Vgl. hierzu auch unter § 7, 3.3.1. zu F n 383. 153 154

S. 19.

Geiger, Nonkonformismus, S. 71. S. auch Luhmann, AöR 90, S. 283; ders., F u n k t i o n der Gewissensfreiheit,

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§ 7 Die soziale W i r k l i c h k e i t

wurde: eine kognitive Komponente, d. h. Begriffe, die m i t spezifischen „sittlichen" Qualitäten ausgestattet und vom Ich her stark affektiv getönt sind, was sie wünschens- und erstrebenswert oder hassens- und verachtenswert macht 1 5 5 , beim Gewissensgebot genauer: was sie gebieten oder verbieten läßt. Von anderen Wertentwürfen sind die sittlichen Wertkonzepte, die Gewissensnormen, durch ihren Bezug auf die Sittlichkeit unterschieden 156 . Dem steht nicht entgegen, daß das „Gewissen" die „Kompetenz-Kompetenz" beansprucht 157 , d. h. nicht nur über das „Wie", sondern auch das „Ob" einer Regelungsmaterie entscheidet. Denn es ist für das Gewissen bedeutungslos, ob ein Gebäude das Stadtbild oder eine Landschaft verunstaltet, ob ein mathematischer Beweis sachgerecht durchgeführt ist, ob der Kriegsdienst „unhygienisch", „unästhetisch" oder „gefährlich" ist. Solche elementaren Werterfahrungen bleiben sich i n ihrem spezifischen Inhalt gleich 1 5 8 und lassen sich deshalb von der elementaren Werterfahrung „sittlich" unterscheiden, die das Gewissen vermittelt. Die Haltung und die Uberzeugung können auch auf andere Wertkonzepte gehen, seien sie ästhetischer, vitaler, ökonomischer oder anderer A r t 1 5 9 . Insoweit unterliegen sie einem Gefühl der Billigung oder Mißbilligung neuer A r t , das sich etwa auf den Kontinua „anziehend — abstoßend" bzw. „wahr — unwahr" einordnen läßt. Das Gewissen jedoch „bezieht sich nur auf ethisches T u n " 1 6 0 . Aus der Gesamtheit möglicher Normen unterliegen nur die sittlichen Normen dem funktionellen Gewissen. 155

Vgl. auch Oerter, Entwicklungspsychologie, S. 216 ff. (m. w . N.); Janzarik, S. 437 ff. 158 Α . Α.: Geißler, Kriegsdienstverweigerung, S. 48, 69; Brinkmann, Gewissen, S. 85 ff.; Böckenförde, W D S t R L 28, S. 68. Demgegenüber gehört nach Luhmann, AöR 90, S. 281, der Bereich des „Wahren" schon nicht mehr zu den möglichen Gewissensinhalten, nach Stoker, Gewissen, S. 10, nicht mehr der Bereich des „Edlen" u n d „Schönen". U n k l a r : Heinen, Gewissen, S. 120, 122. Z u beachten ist i m folgenden, daß m i t u n t e r ebenfalls m i t dem Begriffspaar „Gut-Böse" gearbeitet w i r d , ohne dies jedoch dem Sittlichen vorzubehalten (so: Geißler, a.a.O., S. 45; Brinkmann, a.a.O., S. 61 ff.). A u f die Sittlichkeit stellt auch Podlech ab (Gewissensfreiheit, S. 31): Gewissensfreiheit als „Ermöglichung konsistenter moralischer Selbstdarstellung" (Hervorhebung v o n mir). Ferner: Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 23, 33 f. u. ö.; Marunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 121. 157 Podlech, JuS 68, S. 122; ders., Gewissensfreiheit, S. 29 f. Vgl. auch Luhmann, AöR 90, S. 271 ff.; Böckenförde, W D S t R L 28, S. 68 f.; M a u n z - D ü r i g Herzog, A r t . 4 Rdnr. 133; Kühne, Vorgänge 72, S. 115. A u f diese Weite möglicher Gewissensbezüge verweist schon Geiger, Gewissensfreiheit, S. 17 f., 20; ders., Nonkonformismus, S. 67. 158 Vgl. auch Zippelius, Wahrheit, S. 515 f. 159 So m i t Recht: Gilen, S. 348. — Diese Wertkonzepte werden also nicht durch das Gewissen vermittelt (ebenso B V e r w G E 38, 358.360). 160 Ebd. Unrichtig: Baumhauer, V o r - U r t e i l , S. 112.

2. Das „ f o r u m i n t e r n u m " des Gewissens als Schutzobjekt

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„Sittlichkeit" verweist auf die Wertart des „Guten" und die Unwertart des „Bösen" 1 6 1 , einen „polar-konträren Gegensatz" 162 m i t dem Kontinuum „gut — böse" 1 6 3 . Damit w i r d nicht die Gesamtheit beliebiger Gegenstände dieser kontinuierlichen Skala eröffnet 1 6 4 ; vielmehr werden nur menschliche Verhaltensweisen erfaßt, mögen sie auch an bestimmte Gegenstände geknüpft werden, etwa einen tabuierten Baum oder ein „unsittliches" Kunstwerk 1 6 5 .

161 Ebenso BVerfGE 12, 45.55; 23, 191.205; B V e r w G E 7, 242.246; 9, 97; 23, 98 („Hecht u n d Unrecht"; zusti.: Becker, St.d.Z. 175, S. 230); 38, 358.359; Cooley, H u m a n Nature, S. 358ff. („right and wrong"); Freud , X I I I , S. 256, 281, 284; ders., X I V , S. 29, 85, 483; Lersch, Person, S. 243; Α. Arndt, N J W 57, S. 362; ders., N J W 66, S. 2205; Hollenbach, St.d.Z. 162, S. 370 u. ö.; ders., St.d.Z. 164, S. 59; Geiger, Gewissensfreiheit, S. 23; ders., Nonkonformismus, S. 65; ders., Gebot, S. 23; Stelzenberger, Gewissen, S. 22 f.; ders., Syneidesis, S. 29; Arnold, Gewissen, S. 26; Würtenberger, Gewissen S. 339; Hofstätter, Sozialpsychologie, S. 243; Gilen, S. 330 f., 348, 350; Hauser, St.d.Z. 178, S. 322 et passim; Κ . Peters, Überzeugungstäter, S. 269 f.; Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 35; Kohl, Gewissen, S. 143; Engelmayer, Gewissen, S. 127; Schmidt-Bleibtreu/Klein, A r t . 4 Rdnr. 13; Berg, JuS 69, S. 18; Oerter, Entwicklungspsychologie, S. 244 u. ö.; Hamann-Lenz, A r t . 4 A n m . Β 2; Paul, Gewissen, S. 29; Rauscher, Wissen u n d Gewissen, S. 53; Leibholz-Rinck, GG, A r t . 4 Rdnr. 8; Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 124; Heinen, Gewissen, S. 159. Differenzierend: Piaget, Das moralische Urteil, S. 367, 378 ff., 395 ff., 398 ff., 437: Die heteronome M o r a l sei charakterisiert durch die „Pflicht" m i t einem „gewissen Gefühl des Guten" (S. 396), die autonome M o r a l durch das moralisch „Gute" m i t Tendenz zum Gleichgewicht. — Vgl. auch: Jaspers, Philosophie I I , S. 269; Nie. Hartmann, E t h i k , S. 59 u. ö.; Häberlin, A r t i k e l „Gewissen", S. 579 f.; Auer, Gewissen, S. 40 ff.; Neuhäusler, Gewissen, S. 19 ff.; Böckle, Gesetz u n d Gewissen, S. 73. Abi.: Ewald, Kriegsdienstverweigerung, S. 33. 162 Kamlah-Lorenzen, Logische Propädeutik, S. 74. 163 Vgl. auch Oerter, Entwicklungspsychologie, S. 220. 184 Dieser E i n w a n d V. Krafts (Wertlehre, S. 20) gegen das „ G u t — Böse", das er neben anderen als „Nullklasse des Sachgehalts" bezeichnet, bei der n u r mehr die positive oder negative Auszeichnung den Sinngehalt ausmacht, dürfte durch den Bezug auf die „Sittlichkeit" ausgeräumt sein (vgl. ders., Erkenntnis u n d Moral, S. 103). 165 Demgegenüber kennt Plack, Gesellschaft, S. 317, keine guten oder bösen Verhaltensweisen des Menschen, sondern erblickt i n solchen Beurteilungen bloße Verzerrungen der „ursprünglichen Menschennatur" durch die betreffende K u l t u r . Die menschliche N a t u r werde — i n Ruhe gelassen — „aus sich selber heraus ein Verhalten entwickeln, das dem I n d i v i d u u m w i e der Gemeinschaft am besten entspricht" (S. 345). I n einer rechtverstandenen I n d i v i d u a l · und K o l l e k t i v e t h i k sei das Gute, „was f ü r die leibliche Existenz eines jeden Einzelnen unmittelbar gut ist" (S. 342), sowie „der rechte Sinn des M i t einanderseins" (S. 339) ; das Böse, was „unter Verlusten an Lebensfreude, Gesundheit u n d sozialem Frieden dem vitalen Dasein mühsam i m m e r erst abgetrotzt werden muß" (S. 342) u n d „was absichtsvoll einer dem anderen a n t u t , . . . (sowie) auch alles Leid, das Menschen gerade auch m i t den besten Absichten einander bereiten" (S. 341). Der Sinn des Moralischen sei die Liebe (S. 17, 338 ff.), die übergeordnete Tugend „das Wissen u m das rechte Maß" (S. 346). F ü r unser sittliches Verhalten genüge gegenüber uns selbst ein „Gesundheitswissen", gegenüber anderen das klare Bewußtsein, daß auch sie zu leiden v e r -

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§ 7 Die soziale W i r k l i c h k e i t

E i n e Q u e l l e der A b l e h n u n g der S i t t l i c h k e i t als U n t e r s c h e i d u n g s k r i t e r i u m z u a n d e r e n W e r t a r t e n d ü r f t e d a r i n liegen, daß h ä u f i g n u r die A k z e n t e verschoben w e r d e n müssen, u m W e r t u r t e i l e d e m Gewissensanspruch z u u n t e r w e r f e n : das Gebäude i s t e i n heidnischer T e m p e l 1 6 6 ; die p h y s i k a l i s c h e E r k e n n t n i s b e d r o h t d e n Menschen. Doch l ä ß t sich n i c h t l e u g n e n , daß der B e d e u t u n g s g e h a l t d e r a r t i g e r A u s s a g e n selbst v e r ä n d e r t wurde. E i n e andere Q u e l l e der A b l e h n u n g zeigt sich d o r t , w o v o m „ ä s t h e t i schen G e w i s s e n " 1 6 7 , „ t h e o r e t i s c h e n b z w . i n t e l l e k t u e l l e n G e w i s s e n " 1 6 8 oder a n d e r e n G e w i s s e n s f o r m e n die Rede ist. Fast i m m e r zeigt sich jedoch, daß h i e r gar n i c h t die W e r t a r t e n „ s c h ö n " , „ w a h r " oder andere g e m e i n t sind. V i e l m e h r w i r d a u f das E t h o s des K ü n s t l e r s 1 6 9 , des W i s s e n s c h a f t l e r s 1 7 0 oder eines B e r u f s s t a n d e s 1 7 1 v e r w i e s e n . Daß es h i e r spezifische Gewissensmögen, u n d gegenüber der Gesellschaft das Bewußtsein der Verantwortung (S. 346). Entgegen Plack (a.a.O., S. 330 ff.) ist daran festzuhalten, daß sich zur „ N a t u r " des Menschen k a u m wissenschaftliche Aussagen machen lassen, da w i r den Menschen i m m e r schon u n d i m m e r n u r als Kulturwesen einer Analyse unterziehen können u n d die Entwicklung eines „homunculus naturalis" i n ihren meisten Zügen Spekulation bleibt. Auch die K u l t u r e n der Eskimos, Tobriander, Murias u. a. sind K u l t u r e n u n d keine Naturzustände. Die Bejahung des vitalen Daseins i n diesen K u l t u r e n läßt sich nicht notwendig auf den Menschen unserer K u l t u r übertragen, da w i r die Abhängigkeiten und Bedingungen zwischen Kulturleistungen u n d Ordnungsprinzipien nicht annähernd kennen. Zudem zeigt sich, daß auch Placks ethische Ordnung ohne Frustrationen nicht auskommen w i r d ; denn das unmittelbar Gute (?) f ü r die leibliche Existenz, der rechte (?) Sinn des Miteinanders, der soziale Friede, das mühsame Abtrotzen, das rechte (?) Maß usw. bedeuten notwendig Versagungen f ü r die vitale Triebs t r u k t u r des einzelnen, die zudem keineswegs n u r auf der Liebe aufbaut. Darüberhinaus sind die Begriffe Leerformeln, die beliebiger Definition offen sind u n d die ideologische Unterlegung geradezu herausfordern. Dies g i l t auch f ü r die Ergebnisse Placks; denn i h m ist die „anthropologische Gesinnung" (welche?) Voraussetzung der Wissenschaftlichkeit (a.a.O., S. 21) ; sie steuert die K o n s t i t u t i o n der Begriffe! Demnach handelt es sich bei Placks Ergebnissen n u r u m eine „neue M o r a l " unter anderen Moralen. lee v g l . Hamel, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, S. 81. — A b i . zutr. Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 63; Listi, Ess. Gespräche 3, S. 93 F n 201. 167 Wellek, Polarität, S. 337, der es allerdings auf den „Geschmack" zurückf ü h r t u n d v o n der „Kernsphäre" des Gewissens deutlich trennt. Vgl. schon Cooley, H u m a n Nature, S. 360. 168 Wellek, a.a.O., S. 336; Dahrendorf, Pfade, S. 18 — demgegenüber wieder Revers, S. 325: Psychologisch gebe es n u r ein Gewissen, kein ethisches („gut"), ästhetisches („schön") u n d theoretisches („wahr") Gewissen. 169 Cooley, H u m a n Nature, S. 360: E i n falscher Pinselstrich als Sünde. 170 So Wellek, Polarität, S. 336; Dahrendorf, a.a.O., S. 18. 171 So B V e r w G E 27, 303.305f. („ärztlicher Gewissenskonflikt"; zusti.: V G Neustadt, N J W 70, S. 534 f.; Listi, Religionsfreiheit, S. 103 ff. Kritisch hierzu: Berg, JuS 69, S. 18 ff.; Häberle, DÖV 69, S. 387 F n 35; Scholler, DÖV 69, S. 529, insbes. F n 40; H.-H. Martens, N J W 70, S. 498 f.); Beck, Gewissen, S. 67 f., 70, 78 ff. („ärztliches Gewissen") ; Hauth, Gewissen, S. 87 ff. („richterliches Gewissen"); K . Peters, Überzeugungstäter, S. 258 ff. („richterliches Gewissen"). Z u m richterlichen Gewissen vgl. auch A. Kaufmann, Gesetz u n d Recht, S. 372 f.

2. Das „ f o r u m i n t e r n u m " des Gewissens als Schutzobjekt

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normen gibt, die ein Verhalten dem Kontinuum des sittlich „Guten oder Bösen" unterwerfen und Gewissensreaktionen und Gewissenserlebnisse auslösen, ist unbestreitbar. Sie gehören notwendig zum aufgewiesenen Gewissensphänomen. Zwar läßt es sich als Nichtbetroffener auch ohne wissenschaftliche Redlichkeit, auch ohne künstlerische Schaffensnorm, auch ohne richterliche Unparteilichkeit, kurz gesagt: „auch ohne dieses Gewissen unbeschwert leben" 1 7 2 , doch sind sie — einmal einverseelt — Gewissen und Gewissensnorm. Zweifelhaft könnte jedoch sein, ob sie von der Gewissensfreiheit des A r t . 4 I noch gedeckt sind 1 7 3 . Zu beachten w i r d hier zunächst sein, daß sich solches Ethos i n der Regel auf allgemeinere Gewissensnormen zurückführen lassen wird, etwa ärztliche Pflichten auf das Verbot, menschliches Leben zu vernichten, sowie das Gebot, es zu erhalten und zu retten 1 7 4 ; hier zeigt sich bereits, daß sich komplizierte sittliche Haltungsstrukturen und -gefüge nicht zergliedern lassen, ohne ins Uferlose und Unwägbare zu gleiten 1 7 5 . Entscheidend w i r d jedoch sein, daß damit dem Gesetzgeber über schwächere Grundrechtsnormen, wie A r t . 2 I 1 7 6 , A r t . 5 I 1 7 7 oder A r t . 12, ermöglicht würde, mittels der Normierung von Berufsbildern, Institutionen u. a. m. „Brückenköpfe" immer weiter i n den Bereich der sittlichen Norm vorzutreiben und damit die Gewissensfreiheit allmählich auszuhöhlen; denn angesichts der zunehmenden Differenzierung und Spezialisierung des einzelnen w i r d es immer einfacher werden, i h n aus dem Bereich „allgemeiner" Sittlichkeit auszugliedern und einem speziellen Normensatz zu unterwerfen. Als allgemein Sittliches verbliebe dann allenfalls eine A r t „ethisches M i n i mum", das sich dann etwa mit den Strafgesetzen identifizieren ließe, und m i t deren gewandeltem Verständnis als „Sozialschädlichkeit" 178 vollends entfiele. Die Gefahren eines so weit verstandenen Bereichs des Guten und Bösen sind offenkundig; sie lassen sich jedoch nicht durch sittliche Minimierung und tatsächliche Negierung, sondern nur durch rechtliche Optimierung i m Bereich der Gewissensfreiheit selbst abfangen. 172

Dahrendorf, Pfade, S. 18. Diesen Zweifel drückt deutlich Leisner, W D S t R L 28, S. 112, aus. Vgl. schon: Scholler, Gewissensfreiheit, S. 206; Zippelius, B K A r t . 4, Rdnr. 46. 174 S. Beck, Gewissen, S. 70, 78 f. — Dies verkennen B V e r w G E 27, 303.305 f. u n d V G Neustadt N J W 70, S. 534 f. 175 Besonders deutlich bei B V e r w G E 27, 303.305 (Art. 4 I gelte n u r f ü r den Bereich religiöser u n d weltanschaulicher Entscheidungen). Zusti. jedoch: Listi, Religionsfreiheit, S. 104. 176 H i e r f ü r insbes. Listi, Religionsfreiheit, S. 105. 177 Aus A r t . 5 I scheint Kuli, DÖV 72, S. 453, den Gewissensschutz der Redakteure herzuleiten. Demgegenüber f ü r A r t . 4 auch i n diesem Falle: Keßler, DÖV 72, S. 458. ne V g l > piack, Gesellschaft, S. 118. 173

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§ 7 Die soziale W i r k l i c h k e i t

Damit wurde schon angedeutet, was ein Rückgriff auf die Gewissensfreiheit selbst bestätigt: die völlige „Individualität des Gewissens" 179 . Die Kulturanthropologie beweist sie 1 8 0 und der nähere Aufweis zur Gewissensbildung 181 w i r d sie weiter verständlich machen. Umgekehrt zeigt sich gerade hier wieder die Gefahr, die zur Auslegung der Gewissensfreiheit abgewiesenen Ideologien durch die „Hintertür" des Sittlichen, also des Guten oder Bösen, wieder einzulassen und gegen die „bloß indidivuellen" Gewissensinhalte des einzelnen auszuspielen. Demgegenüber ist festzuhalten: K e i n Mensch hat dieselben Inhalte von „Gut und Böse" wie ein anderer 1 8 2 , und sie unterscheiden sich nach Kulturmustern ganz erheblich 1 8 3 . Woher diese Gewissensinhalte motiviert sind, ist nicht erheblich 1 8 4 , denn dies verwiese schon wieder auf ideologisches Gut-BöseVerständnis. Sie können religiös, weltanschaulich, wissenschaftlich, künstlerisch oder sonstwie begründet sein. Entscheidend ist allein, daß die Haltung und i h r Wertentwurf sich i n das für das jeweilige Individuu m maßgebliche Kontinuum „gut — böse" einordnen lassen. Wollte man hier die politische Überzeugung des einzelnen als „gewissensunwürdig" aussondern 185 , so übersähe man, daß die politischen Ideologien heute weitgehend an die Stelle der Religionen getreten sind und 179 Formulierung nach Spranger, Logos 22, S. 172 ff. Vgl. ferner: Cooley, H u m a n Nature, S. 365, 382 f.; Stoker, Gewissen, S. 120, 223 f.; Α . Kaufmann, Gesetz u n d Recht, S. 371 (mit trefflicher K a r i k a t u r der Folgen); A. Kraft, A c P 163, S. 473; Matussek, St.d.Z., 177, passim (vgl. oben §3, F n 46); Podlech, Gewissensfreiheit, S. 31 u. ö.; Böckenförde, W D S t R L 28, S. 69 f., 102 f.; Baumhauer, V o r - U r t e i l , S. 25, 73. Α . Α.: Kipp, Kriegsdienstverweigerung, S. 84; Frohberg, DÖV 52, S. 296; Geiger, Nonkonformismus, S. 80 (Gewissen als „nicht manipulierbare, gleichbleibende Größe"); K . Peters, Überzeugungstäter, S. 269 ff. V o n katholisch-moraltheologischer Seite betont Böckle, Gesetz u n d Gewissen, S. 76, daß es zwar gewisse allgemeine Normen gebe, daß es aber f ü r „die sittliche Verpflichtung i n der positiven Einmaligkeit . . . keine letzte allgemein materiale Bestimmbarkeit des Guten u n d Bösen" gebe. Heinen, Gewissen, S. 99, bestimmt das Gewissen als „die i n d i v i d u e l l personale N o r m sittlichen Agierens u n d Reagierens" (vgl. auch ebd., S. 197). Allgemein zur Subjektivität v o n Norminhalten: Chorvât, Gesellschaftliche Normen, S. 173 ff., 176. 180 Vgl. hierzu: Hofstätter, Sozialpsychologie, S. 20 ff., 60 ff. (m. w . N.); Plack, Gesellschaft, S. 17 u. ö. (m. w . N.). 181 S. unten, § 7, 3.1.1. u n d 2. 182 Ebenso: Cooley, H u m a n Nature, S. 365; Stadter, Gewissen, S. 79. Vgl. auch — vice versa — Plack, Gesellschaft, S. 22. — Α. Α.: Eibl-Eibesfeldt, Verhaltensforschung, S. 508 (vgl. hierzu F n 245). 183 Gegen eine „Subjektivierung u n d Privatisierung des Gewissens" : Pöggeler, Gewissen, S. 175 ff., Witte, DVB1. 62, S. 892. 184 S. oben, § 5 F n 53 (m. w . N.). Vgl. auch Stoker, Gewissen, S. 82 f.: Die v e r pflichtende sittliche N o r m müsse nicht religiös sanktioniert sein. 185 So ν . Mangoldt-Klein, A r t . 4 A n m . V I 2, 9; Brinkmann, Gewissen, S. 193; Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 35; K . Peters, Überzeugungstäter, S. 273 („Hauptbeispiel bloßer Überzeugung").

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häufig m i t einer Energie und Leidenschaft verfochten werden, die den Religionskämpfen früherer und heutiger Zeiten i n nichts nachstehen 186 . Für die politischen Streiter geht es u m das „sittlich Gute" schlechthin. I n dem Auseinanderklaffen der Gewissensinhalte liegt auch der Grund, weswegen ein Grundrecht, das zur Freiheit und Würde des einzelnen beitragen soll, nicht nur bestimmte Gewissensinhalte schützen kann, w i l l es nicht abweichende Gewissensnormen diskriminieren. Eine Gesellschaft, deren einheitliches Weltbild i n pluralistische Strömungen, Gruppenzugehörigkeiten oder i n bloße Individualitäten zersplittert ist und die dennoch Freiheit und Würde jedes einzelnen proklamiert, kann nicht die Anerkennung dieser Subjektivität dem einzelnen vorenthalten, ohne unglaubwürdig zu werden. Sie kann nicht auf die ideologische Figur des „irrenden Gewissens" 187 ausweichen; denn gerade i n den unterschiedlichen sittlichen Wertentwürfen beweist sich die These von der Gewissensfreiheit, während der funktionelle Gewissensablauf ohnehin für alle Individuen gleich ist. Und es besteht vom Phänomen wie vom Grundrecht her kein Anhalt dafür, daß „Geringfügigkeiten" oder „ U n wesentliches" nicht dem Schutz der Gewissensfreiheit unterfielen 1 8 8 , sie etwa gar nur „fundamentalen Bekenntnissen", „letzten Grundorientierungen" oder „ewigen Wahrheiten" vorbehalten bliebe; denn schon diese Qualifizierung könnte nur von einer bestimmten Weltanschauung her vorgenommen werden. 2.4.7. Problemgeschichtliche Perspektiven Hier berührt sich das Gewissen als Phänomen m i t der problemgeschichtlichen Darstellung. Als i m Bereich erschütterter unumstößlicher Selbstverständlichkeiten neue Wert- und Verhaltensmuster konkurrierend auftraten 1 8 9 , schien es zunächst, als müßten diese „Konkurrenzwerte" wie auch die Selbstverständlichkeiten von besonderem Wert und 186 I m Ergebnis ebenfalls f ü r eine politisch bedingte Gewissensüberzeugung: B V e r w G E 7, 242.246; 9, 97; 23, 98 — Scholler, Gewissensfreiheit, S. 130, 137, 139, 203, 215 f. u. ö.; Geiger, Gewissensfreiheit, S. 17 f.; Hamel, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, S. 104 f.; A. Kaufmann, Gesetz u n d Recht, S. 374; v. Bredow, Entscheidung des Gewissens, S. 11; Rebensburg, ebd. S. 144; Hamann-Lenz, A r t . 4 A n m . Β 2; Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 34 F n 77. — Z u w e i t gehend w o h l Erb, Frankf. Hefte 27, S. 548, der die politische Entscheidung genügen läßt, ohne sie nach einer H a l t u n g (Gewissensüberzeugung) zu h i n t e r fragen. 187 S. oben, § 3, zu F n 50 ff. 188 Ebenso sinngemäß: B V e r f G N J W 72, S. 1183 (unter A b l e i t u n g aus dem Neutralitätsgebot u n d dem Grundsatz der Parität): Die „soziale Relevanz einer bestimmten Glaubenshaltung" spiele keine Rolle. — Vgl. auch Geißler, Kriegsdienstverweigerung, S. 53; Luhmann, AöR 90, S. 276 ff.; Podlech, Gewissensfreiheit, S. 30; Böckenförde, W D S t R L 28, S. 102 f. 189 S. oben, § 3, zu F n 73 ff.

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Rang sein. Doch zeigt sich, daß dies allenfalls für ihre Bewertung gerade durch diesen Kulturkreis galt und i m Lichte anderer Kulturmuster keine Geltung haben mußte. Diese Relativität läßt auch „Geringfügigkeiten" zu möglichen Konkurrenten aufrücken, besonders dann, wenn erwogen wird, daß solcherart argumentiert werden kann, u m lästige Wettbewerber abzuschütteln und aufgewühlte Gemüter einzuebnen. I n dieser Sicht kann das „unumstößlich" nur mehr bedeuten, daß die Durchbrechung der Selbstverständlichkeiten geeignet war, heftige Emotionen zu wecken, ein Gesichtspunkt, der die Grenze zwischen der Problemgeschichte und der Auslegung des Grundrechts markiert: Hier w i r d dem Intensitätsgedanken keine Relevanz zugesprochen werden können 1 9 0 . Dagegen bewährt sich der problemgeschichtliche Gedanke der „moralischen Qualifikation" erschütterter Selbstverständlichkeiten und konkurrierender Wert- und Verhaltensmuster. I m Kontinuum „gut — böse" lassen sich zwar nicht alle beliebigen Gegenstände, wohl aber alle menschlichen Verhaltensweisen ansiedeln, und als solche wurden auch religiöse, wissenschaftliche und künstlerische Leistungen gesehen. Erst m i t der moralischen Neutralisierung und der Veränderung der Bewußtseinsstrukturen gelang eine entsprechende Distanznahme und die Lösung aus dem sittlichen Verständnis, so wie sich heute noch die Welt des Kindes 1 9 1 aus dem ungeschiedenen Miteinander seiner Wertvorstellungen i n einem reinen Gut-Böse-Schema allmählich i n verschiedene Wertkontinua ausdifferenziert und damit auch verschiedene Sachverhalte „moralisch" neutralisiert. Doch bedeutet dies keine reinliche Trennung. Auch heute noch liegt über den spezifisch qualifizierten Betrachtungsweisen ein dichtes Netz des sittlich Guten und Bösen bis hinein i n die Wissenschaft, was zeigt, daß ein und derselbe Sachverhalt verschieden gesehen werden kann und i n der Tat auch verschieden gesehen wird. Das bedeutet einmal, daß ein gesellschaftlicher Sachverhalt' grundsätzlich nicht nur von der Gewissensfreiheit bzw. einem anderen Grundrecht allein erfaßt zu werden braucht, sondern auch von einem oder mehreren anderen Grundrechten zugleich 192 , also etwa eine Weigerung eines Wehrpflichtigen, den Kriegdienst zu leisten, nicht nur als sittliches, sondern auch als religiöses oder weltanschauliches Verhalten verstanden werden kann, dagegen etwa religiöses Brauchtum 1 9 8 den religiösen Bereich 190

S. unten, § 7, 3.3.4. zu F n 427 ff. Vgl. auch Engelmayer, Gewissen, S. 120 f.; Oerter, Entwicklungspsychologie, S. 234 ff. 192 Vgl. auch Scheuner, Z e v K R 70, S. 252; Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 122; Schwabe, JuS 72, S. 383 (Vorrang der Gewissensfreiheit); K . Peters, JZ 72, S. 85; ders., JZ 72, S. 520 (Vorrang des Grundrechts der Gewissensfreiheit). Kühne, Vorgänge 72, S. 114 (Glaubensfreiheit als Anwendungsfall der umfassenderen Gewissensfreiheit). 193 S. auch Podlech, Gewissensfreiheit, S. 102. 191

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kaum noch verläßt. Z u m anderen gestattet die verschiedene Sicht, den ,Gegenstand' i n die weitere, allgemeine und allen formal gemeinsame Dimension des sittlich Guten und Bösen gleichsam zurückzunehmen und dem Umstand zu entsprechen, daß es eben noch nicht gelungen ist, i h n nach allen Seiten moralisch zu neutralisieren. Dem kommt auch die bisherige Auslegung der Gewissensfreiheit entgegen, für die es dahinstehen kann, von woher die Deutung als gut oder böse motiviert ist und warum sie es ist. 2.4.8. Die „Richtpunkte" des Menschen Gerade diese Gleichgültigkeit der Gewissensfreiheit gegenüber den „Richtpunkten" des individuellen Lebens 194 , seine letzten objektiven Leitlinien, ist seine praktische „Schwäche", jedoch seine rechtliche Stärke, da es sich aus dem Kampf der Ideologien heraushält. Hier trennt es sich auch vom Grundrecht der Glaubensfreiheit: Während jeder Mensch grundsätzlich zumindest einige sittliche Haltungen aufweisen kann, gilt dies nicht für Religion und Weltanschauung 195 . Ihnen gegenüber kann der einzelne völlig unbeteiligt sein; solche „weltanschauliche Indifferenz und ,Wurstigkeit'" w i r d durch die Glaubensfreiheit nicht geschützt 196 . Erst wenn i n irgendeiner Weise — und dem Recht steht es nicht zu, die Intensität und den Erfolg der Bemühungen zu bewerten — zum „kosmologischen Problem", d. h. zum Ich, zu Natur und K u l t u r , Stellung genommen w u r d e 1 9 7 oder sich — formal gesehen — eine „Gesamtsicht" abzeichnet 198 , kann man von einem „Glauben" i m Sinne des A r t . 4 I sprechen. Diese Sicht kann i n hochintegrierten, hierarchisch gegliederten Systemen von Haltungen aller A r t bestehen und der Dimension des sittlich Guten oder Bösen weit geöffnet sein; sie kann aber auch i n ihrer völligen Negation bestehen 199 . Dem Recht genügt die Stellungnahme; wie sie ausfällt, ist i h m gleichgültig. Die Richtpunkte unterliegen der Selbstbestimmung des Individuums. 194 Formulierung nach Stelzenberger, Gewissen, S. 28 ff. M i t u n t e r scheint der Ausdrck „Instanz" die letzte M o t i v a t i o n des Menschen darzustellen, etwa bei Lückert, Konflikt-Psychologie, S. 425 ff.; Janzarik, S. 440 ff. 195 Demgegenüber sieht Matussek, St.d.Z. 177, S. 425, hinter jeder „gelebten M o r a l . . . einen ungreifbaren Glaübenskern". Jedoch schon die unbestimmte u n d unbestimmbare W o r t w a h l läßt diese These unbeweisbar werden; sie w i r d aber auch durch die W i r k l i c h k e i t widerlegt. 196 Z u t r . Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 28. Z u undifferenziert: M a u n z - D ü r i g Herzog, A r t . 4 Rdnr. 55, 78. 197 Vgl. auch Ek. Stein, Staatsrecht, S. 213; Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 121. 198 Zippelius, B K A r t . 4, Rdnr. 73: „Gesamtansicht". Vgl. auch Maunz-DürigHerzog, A r t . 4 Rdnr. 67, 121 f., der — zu eng — auf die Notwendigkeit „metaphysischer Gedankensysteme" v o n religionsähnlicher Geschlossenheit u n d Breite abstellt. 199 S. hierzu § 5, F n 52 (m. w. N.).

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2.4.9. „Fremdideal" und „Selbstideal" Doch lassen diese Richtpunkte die sittlichen Haltungen selbst nicht völlig unberührt. Auch die Auffassungen, die dem Gewissen die Aufgabe der „Selbstverwirklichung" 2 0 0 oder eine „weisende F u n k t i o n " 2 0 1 zusprechen, zeigen an, daß die begriffliche Fassung der sittlichen Wertkonzepte noch weiter getrieben werden kann, obwohl der ideologische Unterton solcher Ansichten nicht verkannt sei. Freud 202 etwa trennt innerhalb des Überichs die Funktion des IchIdeals (Idealbild der eigenen Person) und des Gewissens (verbietende und kontrollierende elterliche Autorität) und scheint zudem 2 0 3 innerhalb des Ich-Ideals noch zwischen individuellem und sozialem Anteil zu unterscheiden. Piers 204 sieht Überich (mit dem Erlebnis der Schuld) und IchIdeal (mit dem Erlebnis der Scham) als Aspekte des Überbaus i m Ich. Das i m Gewissen erlebte Gefühl der Bindung weist nach Lersch 205 auf eine Bindung gegenüber der Welt und eine solche gegenüber unserem geistig-personalen Selbst. Jung 206 unterscheidet die „suggestive Wirkung der moralischen Präzepta", des Moralkodex, vom Gewissen als „autonomen psychischen Faktor" und vereinigt sie zum moralischen und ethischen Aspekt des Gewissens i m weiteren Sinne. Blum 207 trennt innerhalb des Überichs zwischen Gewissen und Ich-Ideal, so daß „das Über-Ich den Menschen nicht nur richtet, sondern ausrichtet". Häfner 209 sieht als Weisen des Gewissens das Überich m i t dem Erlebnis der Strafangst und das personale Gewissen m i t dem Schulderlebnis. Pongratz 209 kennt Kollektivgewissen („Diktatur des Man"), Strukturgewissen („Sollensappell zur Entfaltung des eigenen Sosein") und Kulturgewissen („überindividuelle Werte"). Nach Heintz 210 ist das Überich, d. h. Gewissen, vom Selbstbild, d. h. der persönlichen Identität, die auch das Ich-Ideal einschließt, entwicklungsgeschichtlich deutlich abzuheben; doch werde ein „maximaler 200 Häfner, Schulderleben, S. 169, 174 u. ö.; Jung, Gewissen, S. 195 ff.; E. Spengler, Gewissen, S. 111 ff.; Engelmayer, Gewissen, S. 119,136 u.ö.; v.Burski, Zeugen Jehovas, S. 75; Stadter, Gewissen, S. 12, 36 f., 38, 69, 75 ff., 95; Rauscher, Wissen u n d Gewissen, S. 55. Vgl. auch Heidegger, Sein u n d Zeit, S. 279; Jaspers, Philosophie I I , S. 268 f. 201 So Engelmayer, a.a.O., S. 128, 131. Vgl. auch Heinen, Gewissen, S. 138 („Orientierungsfunktion"), 160; Baumhauer, V o r - U r t e i l , S. 17,121. 202 X , S. 161 ff.; X I V , S. 482 ff. — Dies übersieht Stadter, Gewissen, S. 88. 208 X , S. 169 f . — Z u beachten ist aber die wechselnde FreudscheTerminologie! 204 I n : Piers-Singer, Shame and Guilt, S. 5 ff., 13. 205 Person, S. 244. 206 Gewissen, S. 192 ff., 206 f. 207 Gewissen, S. 179, auch S. 177. S. auch Baumhauer, V o r - U r t e i l , S. 33 f. 208 Schulderleben, S. 147 f. 209 Menschliche Konflikte, S. 180 ff. 210 Soziologische Theorie, S. 193 f.

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G r a d a n persönlicher I d e n t i f i z i e r u n g m i t d e m S e l b s t b i l d ( u n d d a m i t a n P e r s ö n l i c h k e i t s i n t e g r a t i o n ) n u r erreicht, w e n n dieses B i l d die T o t a l i t ä t des Gewissens e i n b e g r e i f t " . G e m e i n s a m i s t diesen u n d a n d e r e n 2 1 1 A n s ä t z e n der Versuch, d e n B e z u g der e i n z e l n e n G e w i s s e n s n o r m a b z u l e i t e n ; v e r w a n d t u n d m e i s t auch i d e n t i s c h i s t i h n e n das B e m ü h e n , nach d e m p h y l o g e n e t i s c h e n u n d o n t o genetischen W e r d e g a n g e i n „ h e t e r o n o m e s " u n d e i n „ a u t o n o m e s " G e w i s sen e i n a n d e r g e g e n ü b e r z u s t e l l e n 2 1 2 . H i e r seien l e d i g l i c h i m A n s c h l u ß a n die u n t e r s c h i e d l i c h e n Erlebnisse der A n g s t u n d S c h u l d einerseits u n d der S c h a m 2 1 3 andererseits die s i t t l i c h e n W e r t k o n z e p t e danach u n t e r t e i l t , ob die v o r d e r g r ü n d i g e Bezugsgröße e i n „ a n d e r e r " als G e l t u n g s g r u n d u n d G e l t u n g s h o r i z o n t (seien es die E l t e r n , die G r u p p e oder andere „ A u t o r i t ä t e n " ) oder die eigene P e r s o n 2 1 4 ist. D i e G e s a m t h e i t d e r m o r a l i s c h e n H a l t u n g e n m i t B e z u g a u f e i n e n „ a n d e r e n " sei das „Fremdideal", das Insgesamt der s i t t l i c h e n E i n s t e l l u n g e n m i t B e z u g a u f die eigene P e r s o n sei das „Selbstideal"; es u m f a ß t j e n e H a l t u n g e n , die a u f die s i t t l i c h e V e r v o l l k o m m n u n g der eigenen Person d r ä n g e n 2 1 5 . D e r W e r t dieser E i n t e i l u n g l i e g t n i c h t so sehr d a r i n , daß sich d a m i t die einzelne G e w i s s e n s r e g u n g e x a k t klassifizieren u n d e t w a e i n e r A r t 211

(zum T e i l n u r andeutend) Stoker , Gewissen, S. 120 f.; Hoffmeister, Philosoph. Begriffe, Stichwort „Gewissen" („moralische Beurteilung durch sich selbst"); Lückert, Konflikt-Psychologie, S. 366 ff., 372 f.; Zbinden, Gewissen, S. 22; Böhler, ebd., S. 56 f.; Geißler, Kriegsdienstverweigerung, S. 46; Stelzenberger, Syneidesis, S. 31; Oldendorff, Sozialpsychologie, S. 119 f.; Wellek, Polarität, S. 324, 351; Petrilowitsch, Gewissen als Problem, S. 261 f.; Eicke, ebd., S. 81 ff., 85, 89f.; Matussek, St.d.Z. 177, S. 428 ff.; Brenner, Psychoanalyse, S. 47, 134; Neuhäusler, Gewissen, S. 22 ff.; Engelmayer, Gewissen, S. 126,128; Pöggeler, Gewissen, S. 161. 212 Vgl. hierzu die Nachweise bei § 7, 3.1.1., F n 240, 254 ff. 218 Häufig w i r d stattdessen der Ausdruck „Minderwertigkeitsgefühle" gebraucht (etwa Brenner, Psychoanalyse, S. 143; Arnold, Gewissen, S. 26). PiersSinger, Shame and Guilt, S. 15, empfiehlt dafür den Ausdruck „Schamgefühl". Dem w i r d hier gefolgt. Wie hier auch Cooley, H u m a n Nature, S. 398 („a sense of ugliness and shame"). Vgl. auch Eicke, S. 85: „Gefühl, dem Selbst nicht zu entsprechen, . . . ein ängstlich gefärbtes Spannungsgefühl analog dem Schulderlebnis . . . ". S. ferner: Heinen, Gewissen, S. 123: „die Scham, die . . . gerade die geistige Würde der Person abschirmt". 214 Nach Heintz, Soziologische Theorie, S. 76, soll das Schamgefühl jedoch von der körperlichen Gegenwart bestimmter Bezugspersonen abhängen. Dieses Gefühl (Modellfall: Geschlechtsleben) ist jedoch hier nicht gemeint (ähnlich Heinen, Gewissen, S. 123). 215 Vgl. auch Cooley, H u m a n Nature, S. 396 ff. E i n eigenständiger Terminus „Selbst" w i r d hier vermieden. Wie andere Terme, ζ. Β . „Persönlichkeit", „ I d e n t i t ä t " u n d „Geist" läßt sich auch m i t „Selbst" k a u m noch angeben, was gemeint ist, ohne eine unüberschaubare Vielzahl v o n I m p l i k a t i o n e n zu provozieren. Vgl. auch Thomae, I n d i v i d u u m , S. 256 ff.; Dietrich-Walter, Psychologische Fachsprache, Stichwort „Selbst"; Hehlmann, Psychologie, Stichwort „Selbst"; s. auch Sarbin-Allen, Role Theory, S. 522 ff.

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Stop- bzw. Zielcharakter zuordnen ließe. I h r Sinn besteht auch nicht darin, bestimmte Gewissensregungen zu eliminieren und damit dem Schutz der Gewissensfreiheit zu entziehen. I n beiden Fällen würde es sich vielmehr erweisen, daß sich für das konkrete Gewissenserlebnis die auftretenden Gefühle meist nicht scharf voneinander trennen ließen, vielmehr Scham- und Schuldgefühle an vielen Stellen ineinanderfließen können 2 1 6 . Hier sondern hieße, den Informierten oder sprachlich Differenzierten ohne sachlichen Grund bevorzugen. Der Vorteil der Trennung fremd- und selbstidealer Wertentwürfe ist — neben einer gewissen heuristischen Wirkung — darin zu sehen, daß der „Normcharakter" der Gewissensnormen nicht überbetont w i r d 2 1 7 . Wenn der normative Bezug der Haltungen nur dort anerkannt wird, wo der einzelne danach strebt, daß seine Gewissensentscheidung „auch die der anderen w i r d " 2 1 8 , so w i r d hier deutlich der sittlichen Haltung eine Tendenz allgemeiner Gültigkeit und Geltung unterstellt. Während man dem für die fremdidealen Wertkonzepte zustimmen könnte, die gerade i n ihrer Beziehung auf andere, sei es aufgrund ihrer Herkunft, sei es mit der Tendenz zur Autorität, auf Allgemeingültigkeit hinzielen, w i r d man dies für das Selbstideal ablehnen müssen 219 . Hier werden zwar auch oder sogar vorwiegend Vorstellungen aus dem Bereich des Fremdideals einverseelt, doch werden sie dadurch zu sehr persönlichen Wertkonzepten; sie sind dann häufig nur mehr „ N o r m für mich" 2 2 0 , ohne Tendenz zur Erweiterung des Adressatenkreises — gewiß eine Selbstgenügsamkeit, die aber dem Gewissensphänomen nur dann entzogen werden kann, wenn man es nicht beachtet und von vornherein nur Kollektivmoralen als gewissensfähig anerkennen will. Genau an dieser „Sondergeltung" mündet die Überlegung wieder i m Begriff der Haltung selbst ein: „ N o r m für mich" bedeutet letztlich nur ein zur Realisierung drängendes, nicht jederzeit aufgebbares oder änderbares, sondern auf Dauer angelegtes Wert-

216

S. 28. 217

S. dazu: Freud , X I V , S. 484 F n 2; Stoker , Gewissen, S. 170; Piers-Singer,

So aber K. Peters, Überzeugungstäter, S. 271 f. („Tendenz zur O b j e k t i v i e rung"). Vgl. auch Rumpf, W D S t R L 28, S. 136; Böckenförde, ebd., S. 142 f. Andeutend: Marcie , ebd., S. 114. 218 So Peters, a.a.O., S. 271. 219 Zutr. deshalb BVerfGE 12, 45.55 („als für sich bindend u n d unbedingt verpflichtend" — Hervorhebung v o n mir). 220 Demgegenüber „streng o b j e k t i v " Schelers „Gute f ü r mich" (Formalismus, S. 332 f., 337 f. u. ö.). — Ä h n l i c h w i e hier auch Matussek, St.d.Z. 177, S. 429, nach dem diese „Eigenbezogenheit der moralischen Verantwortung" begrüßenswert ist. Genau umgekehrt sieht allerdings A. Kaufmann, ARSP 46, S. 5Θ7, i n der Anerkennung bloßer ,Normen f ü r mich' eine Gefahr f ü r die Toleranz. Dem ist hier jedoch durch die Ablehnung des Ausschließlichkeitsdogmas u n d durch das Prinzip der Güterabwägung Rechnung getragen. Vgl. auch oben §6, 1.5. F n 62!

2. Das „ f o r u m i n t e r n u m " des Gewissens als Schutzobjekt

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konzept, womit nichts anderes als die Realisierungstendenz und die Konsistenz der Haltung beschrieben werden. Fremd- und Selbstideal können also nicht nur allgemeingültig, aber auch nicht nur fallbezogen, situationsbedingt oder Entscheidungsmaxime gerade nur für diesen einen Fall sein. Wohl aber kann die Norm aus dem Augenblick, aus dem „ F a l l " oder aus der Situation geboren werden. Von daher ergibt sich nun aber dennoch eine Einengung: Nur individuell utilitaristische oder individuell eudämonistische „Haltungen" sind ein Widerspruch i n sich 2 2 1 . Denn eine Konsistenz w i r d gerade nicht angestrebt. Unnütze oder das jeweilige Glücksgefühl störende „Haltungen" müssen jederzeit als abträglich aufgegeben werden können. Die Entscheidungsmaxime ist grundsätzlich nur einmalig und steht zur Disposition; die Entscheidungsrichtlinie ist operativ darauf gerichtet, lustvolle Gegenstände zu erreichen, unlustvolle zu vermeiden. 2.4.10. Richterliche Nachprüfung I m Rahmen richterlichen Tätigwerdens sind deutlich zu unterscheiden: die Prüfung des Gewissenskonfliktes des beteiligten Individuums sowie die Möglichkeit, daß der Richter über die anzuwendende Rechtsnorm selbst i n einen Gewissenskonflikt gerät. Ein Gewissenskonflikt des Richters ist erst dann möglich, wenn die A n wendung einer Rechtsnorm gegen eine eigene sittliche Haltung des Richters verstieße, die i h m die Anwendung gerade dieser Norm i n diesem Fall verbietet 2 2 2 . Oder i n Form einer Frage: Hat der Richter das Recht, eine formell geltende Norm zu verwerfen, weil ihr Inhalt gegen sein Gewissen verstößt und ihre Anwendung für i h n ein gewissenswidriges Verhalten darstellt? Dieses Problem kann an dieser Stelle nur aufgeworfen werden 2 2 3 . Festgehalten sei jedoch, daß nach endgültiger Absicherung der Verhaltensfreiheit jedenfalls A r t . 4 I den Richter zu gewissensmäßigem Verhalten berechtigt, was nicht nur bedeuten kann, daß er eine Entscheidung aufgrund einer gewissenswidrigen Norm ablehnt, sondern auch bedeuten könnte, daß er sich durch sein Gewissen gezwungen sieht, 221

Vgl. auch B V e r w G E 12, 271; Stelzenberger, Gewissen, S. 30 ff., sowie v. Mangoldt-Klein, A r t . 4 A n m . V I 12 (nicht bloß „persönlich-interessengemäße" Gründe); ähnlich: Zippelius, B K A r t . 4, Rdnr. 35; Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 40 f., 43 ff. u. ö. (Trennung zwischen der Fähigkeit, persönliche Nachteile vorauszusehen u n d zu vermeiden, u n d der Fähigkeit, Nachteile f ü r andere v o r auszusehen u n d u m der anderen w i l l e n zu vermeiden. Entgegen Ek. Stein k a n n die letztere Fähigkeit auch auf bloße Konditionierung zurückgeführt werden u n d bedarf keiner Einschränkung auf eine besondere Form der Gewissensbildung („Gewissen als Folge der H i n w e n d u n g zum Du", a.a.O., S. 34). 222 Vgl. A. Kaufmann, Gesetz u n d Recht, S. 371 ff.; K . Peters, Überzeugungstäter, S. 258 ff. (m. w . N.). 223 S. unten § 9, 3.5. zu F n 87, u n d § 10, 2.

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§ 7 Die soziale W i r k l i c h k e i t

i n bestimmter Weise zu entscheiden. Diese Gewissensgebote kollidieren m i t dem Staatsgebot richterlicher Bindung an Gesetz und Recht (Art. 97 1,20 III). Untersucht dagegen der Richter den Gewissenskonflikt des Beteiligten, so kann er i h n nicht nachvollziehen 224 , da er weder i n die konkrete Situation gestellt ist noch das Haltungsgefüge des Betroffenen besitzt. Er könnte die Situation allenfalls über sein eigenes moralisches Wissen beurteilen. Dies hieße jedoch wieder, die Ideologie des Richters i n die Diskussion bringen, sie dem Grundgesetz und dem Grundrecht der Gewissensfreiheit zu unterlegen und damit einen pseudo-objektiven Maßstab gerade für dieses Verfahren zu schaffen. Dem widersprechen aber die entgegenstehende Ideologie des Grundgesetzes und die aufgewiesene, nicht nachvollziehbare Subjektivität einer konkreten Gewissenssituation. Der Richter bleibt auf die Nachprüfung beschränkt, ob die angegebene Gewissensposition „echt" ist 2 2 5 . Macht somit der einzelne einen staatlichen Verstoß gegen das Grundrecht der Gewissensfreiheit geltend, so muß er nach den bisherigen Ergebnissen entweder einen Verstoß gegen das absolute und unbegrenzte Manipulationsverbot, sei es hinsichtlich des Gewissensapparates als solchen, sei es hinsichtlich der Gewissensbildung, darlegen oder sein abweichendes Verhalten m i t dem Hinweis auf ein bestimmtes, sittlich gebotenes Wertkonzept begründen. Dem Richter bleibt nur nachzuprüfen, ob sich das Gewissensgebot i n das für den Betreffenden maßgebliche Kontinuum des sittlich Guten und Bösen einordnen läßt 2 2 * — wobei er sich der Kriterien des Fremd- und Selbstideals heuristisch bedienen kann — und ob es sich nicht lediglich u m individuell utilitaristische oder individuell eudämonistische Ansichten handelt 2 2 7 . I n der Regel sind die behaupteten Klassifikationen hinzunehmen 2 2 8 . Beruft sich der einzelne 224 Α. A . w o h l υ. Burski, Zeugen Jehovas, S. 9Θ. — Wie hier w o h l : Matussek, St.d.Z. 177, S. 431. 225 S. hierzu § 7, 3.3.4. zu F n 422 ff. — Wie hier: K. Peters, J Z 66, S. 458; ders., JZ 72, S. 520. 226 Vgl. auch Esser, Werte, S. 13: „Das individuelle Ethos u n d seine Werte sind . . . f ü r den Richter tabu." Ä h n l i c h K . Peters, JZ 72, S. 520: Der Richter müsse „ v o n der Glaubens- u n d Sittlichkeitsvorstellung des zu Beurteilenden ausgehen". 227 Hier w i r d es sich ohnehin häufig u m vitale oder ökonomische W e r t h a l tungen handeln. Es sei jedoch ausdrücklich auf die Gefahr hingewiesen, das Selbstideal des Betroffenen zu verfälschen, v o r allem dadurch, daß angeblich i n d i v i d u e l l utilitaristische oder eudämonistische Werthaltungen „ e n t l a r v t " werden, während lediglich eigene selbstideale oder ideologische Wertkonzepte i n das fremde Selbstideal projiziert werden. I m Zweifel werden deshalb auch hier die Behauptungen des Gewissensträgers akzeptiert werden müssen. 228 Vgl. auch B V e r f G N J W 72, S. 1184 (zur Glaubensfreiheit: Der Staat dürfe Glaubensüberzeugungen seiner Bürger nicht als „richtig" oder „falsch" bezeichnen.); Bäumlin, W D S t R L 28, S. 101 f.; K . Peters, JZ 66, S. 458 f. (der aber die

2. Das „ f o r u m i n t e r n u m " des Gewissens als Schutzobjekt

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z u r U n t e r s t ü t z u n g seiner W e i g e r u n g a u f d e n K o d e x e i n e r R e l i g i o n oder W e l t a n s c h a u u n g u n d e r w e i s t sich nach diesem das staatliche B e g e h r e n als gewissensmäßig, so k a n n i h m dies e n t g e g e n g e h a l t e n w e r d e n . B e h a r r t er dennoch a u f der G e w i s s e n s w i d r i g k e i t des s t a a t l i c h g e f o r d e r t e n V e r haltens, so i s t auch dies a n z u e r k e n n e n , da die s i t t l i c h e n H a l t u n g e n des e i n z e l n e n m i t d e m M o r a l k o d e x seiner G e m e i n s c h a f t n i c h t ü b e r e i n z u s t i m m e n b r a u c h e n 2 2 9 . U m g e k e h r t d a r f er als A n g e h ö r i g e r e i n e r solchen O r g a n i s a t i o n n i c h t f l ü c h t i g e r oder g ü n s t i g e r b e u r t e i l t w e r d e n 2 3 0 . W e l c h e G e f a h r e n es b i r g t , w e n n d e r R i c h t e r m i t d e m b e t r o f f e n e n I n d i v i d u u m z u r e c h t e n b e g i n n t 2 3 1 , w u r d e erst j ü n g s t e i n d r i n g l i c h o f f e n b a r 2 3 2 . V . Schlabrendorff 232 s t e l l t fest, daß k e i n A r t i k e l des G r u n d g e s e t zes, auch n i c h t A r t . 4, d e m S t a a t s b ü r g e r das „ R e c h t a u f N a r r e n f r e i h e i t " gebe. V i e l m e h r müsse es sich u m e i n e n w i r k l i c h e n (?) G l a u b e n s a k t h a n deln. G l a u b e aber sei i m A n s c h l u ß a n Paul Tillich „ d i e tiefste T i e f e d e r f ü r d e n M e n s c h e n e r r e i c h b a r e n M e t a p h y s i k " . V o n dieser E r k e n n t n i s (sie!)

Beurteilung des Richters auf den „Rahmen des sittlich Vertretbaren" einengt. Daß dieser Rahmen i n christlicher Sittlichkeit besteht, w i r d allerdings erst i m Nachhinein offenkundig. Weiter nunmehr w o h l ders., JZ 72, S. 520 f.). 229 Vgl. auch Listi, Religionsfreiheit, S. 113, nach dem der einzelne die „ v o l l kommenere" zulässiger Verhaltensweisen wählen kann. S. auch oben § 7, 2.4.5. F n 152. — Vgl. nunmehr auch die Entscheidungsweise des B V e r f G (NJW 72, S. 1184 zur Glaubensfreiheit), das sich damit begnügt, daß die Glaubenshaltung i n der v o m I n d i v i d u u m angegebenen Richtung „eine gewisse Stütze" findet. Dagegen scheint die Abstützung durch „eine Richtung der neuen Theologie" lediglich auf die entschiedenen Auslegungsversuche v. Schlabrendorff s (ebd., S. 1186) zurückzuführen sein; denn sonst wäre darin eine A b k e h r v o n E 12, 45.54 zu sehen, die deutlich gemacht hätte werden müssen. — A . A . : K . Peters, J Z 72, S. 521, der i n Frage stellt, ob es „ w i r k l i c h die A u f gabe des Staates (ist), ein Privileg dem einzelnen M i t g l i e d einer Glaubensgemeinschaft zu gewähren, zu dessen Einräumung die Glaubensgemeinschaft selbst keinen Anlaß sieht". A b e r w i r d denn die Eigenschaft eines Grundrechtssubjekts erst durch die jeweilige Glaubensgemeinschaft vermittelt? 230 So aber i m Ergebnis: Geißler, Kriegsdienstverweigerung, S. 53; v. Burski, Zeugen Jehovas, S. 96; z. T. auch K. Peters, Überzeugungstäter, S. 275. — D e m gegenüber sei an Luhmanns (AöR 90, S. 277) ironische Bemerkung erinnert, es empfehle sich die Mitgliedschaft i n Organisationen. 281 S. hierzu A. Arndt, N J W 66, S. 2204 ff. (mit überraschenden Beispielen aus der oberlandesgerichtlichen Rspr.). — A b i . auch K . Peters, J Z 72, S. 520 f. 232 S. ν . Schlabrendorff „Abweichende Meinung", N J W 72, S. 1185 ff. zu BVerfG ebd., S. 1183 ff. Entscheidung u n d „Abweichende Meinung" ergingen zur Glaubensfreiheit des A r t . 4 I, lassen sich aber insoweit auf die Gewissensfreiheit des A r t . 4 I übertragen. — I n dem der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt hatte der Beschwerdeführer, ein evangelischer Pfarrer, unter Berufung auf sein Grundrecht der Glaubens- u n d Gewissensfreiheit den Zeugeneid verweigert, w e i l i h m nach den Worten Christi i n der Bergpredigt (Matth. 5, 33 - 37) jedes Schwören u n t e r sagt sei. E r w u r d e daraufhin zu einer Ordnungsstrafe u n d i n die Kosten v e r urteilt. Das BVerfG a.a.O. hob den Beschluß u n d die verwerfende Beschwerdeentscheidung auf.

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aus gebe es für die Betätigung des Beschwerdeführers (sc.: die Verweigerung des Zeugeneides) nur die Disjunktion: Glaubensakt oder bloße Überzeugung 233 . Für das Vorliegen eines Glaubensaktes berufe sich der Beschwerdeführer auf die Bergpredigt. Dies zwinge (?) dazu, sich mit Sinn und Bedeutung der Bergpredigt auseinanderzusetzen: Nach Thomas von Aquino und nach den Reformatoren wende sich die Bergpredigt nicht an den Staat, sondern zeige nur die Gebote an, die i m jenseitigen Äon gelten. Die Bergpredigt dürfe daher nur unter dem Gesichtspunkt der Eschatologie verstanden werden 2 3 4 . Andernfalls laufe man Gefahr, sich unter die Schwarmgeister zu gesellen, die die Welt unter Hinweis auf die Bergpredigt i n ein Pseudo-Paradies verwandeln wollen. Der Sinn der Bergpredigt sei m i t Helmut Thielicke darin zu sehen, den Menschen auf Erden an seine Unvollkommenheit und an seine erst i m Jenseits mögliche Vervollkommnung zu erinnern. Wer die Bergpredigt positivistisch auslege, sei geschichtslos und führe die Gefahr der politischen Verantwortungslosigkeit herauf. Wer so denke wie der christliche Beschwerdeführer, gebe das weltliche Regiment Gottes preis, verkenne aber gleichzeitig den Sinn der Erlösung und der Bergpredigt m i t ihrer Verwerfung des Eides. Wer sich zur Eidesverweigerung auf die Bergpredigt berufe, mißdeute sie und den Begriff ,Glaube 4 . Zwar teilten einige moderne Theologen nicht mehr die Auffassung des Thomas von Aquino und der Reformatoren, doch sei dies „eine Frage der richtigen oder falschen Interpretation". Es liege deshalb (?) die Vermutung (sie!) nahe, daß die Haltung des Beschwerdeführers keinen Glaubensakt, sondern eine Fehlinterpretation beinhalte. Eine offensichtliche (?) 235 Fehlinterpretation, die durch einen Staatsbürger vorgenommen werde, der sich nach seinem eigenen Vortrag zum christlichen Glauben bekenne (?), habe keinen Anspruch auf den Schutz des A r t . 4. A u f eine logisch-semantische Analyse der einzelnen Schlußfolgerungen ν . Schlabrendorff s kann verzichtet werden. Schwererwiegend ist aber schon der Umstand, daß die Interpretation eines Christen, der sich eben aus erster Hand unterrichten könne und müsse, bei einer Abweichung von der orthodoxen Lehre gleichsam „straf verschärf end" gegen ihn zu kehren und i h m den Schutz des A r t . 4 nunmehr erst recht zu nehmen scheint (Art. 4 als Instrument staatlicher Disziplinierung eigener Außenseiter). Nur angedeutet sei auch der Versuch, dem Staat die Aufgabe zuzuweisen, „einen Damm gegen die Flut der Zerfallserscheinungen (zu) 233

Daß eine solche D i s j u n k t i o n verfehlt ist, s. oben § 7, 2.4.3. zu F n 128 ff. Demgegenüber leitet die kath. Moraltheologie aus der Bibel, insbes. aus der johanneischen u n d paulinischen Ethik, sehr w o h l „Konsequenzen f ü r das T u n " des einzelnen (s. etwa Böckle, Gesetz u n d Gewissen, S. 11, 49 ff., 72 ff.) i m „diesseitigen Ä o n " ab. 235 ^ i e sich die „ V e r m u t u n g " zur „Offensichtlichkeit" steigert, wäre zu belegen. 234

2. Das „ f o r u m i n t e r n u m " des Gewissens als Schutzobjekt

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errichten" 2 3 6 , da ersichtlich nur solche „Zerfallserscheinungen" gemeint sind, die an christlichen Grundsätzen rütteln (Art. 4 als Instrument staatlicher Disziplinierung auch fremder Außenseiter). Vielmehr sei nur dargetan, welche Gefahren es birgt, wenn Richter ihre eigene Ideologie gegen die eines anderen auszuspielen versuchen und dann ganz von selbst aus der Argumentation i n die Emotion wortreicher Aburteilung Andersdenkender verfallen. Schon der Ausdruck ,Recht auf Narrenfreiheit' suggeriert ein ganz bestimmtes Gegenüber: einer, der nicht ganz ernst zu nehmen ist; einer, der vielleicht noch das Mitleid des Richters verdient —: eben ein Narr! Schon dieser Ansatz ist gefährlich; nicht nur w e i l i m richterlichen — und d. h.: i m neutralen! — Verfahren die soziale Waffe der Lächerlichkeit benutzt, sondern auch w e i l das Zwiegespräch mit dem Angeklagten, Beschuldigten, Beschwerdeführer usw. zurückgeworfen w i r d auf jene Stufe der Problemgeschichte, die sich damit begnügte, dem Andersdenkenden und Außenseiter pathologische oder kriminelle Züge zu unterschieben und damit das Zwiegespräch zum Monolog, zum Diktat umzufunktionieren. — Zudem: Wer befindet über die Eigenschaft ,Narr'? Welches sind die Kriterien, u m über diese Eigenschaft urteilen zu können? Oder ist ,Narr' immer nur der „andere", derjenige, der das Unglück hat, die Ideologie des Richtenden nicht zu teilen? — Nicht besser steht es m i t der „Definition" des ,Glaubens': Die Worte „tiefste Tiefe der für den Menschen erreichbaren Metaphysik" sind weihevoll, geheimnisumwittert und — emotionsgeladen. Anhalte, die es erlauben, hinter den Worten einen Begriff zu konstituieren und daraus i n der Tat eine rational überprüfbare „Erkenntnis" zu machen, werden nicht geliefert. So besagen sie i m Grunde alles — oder nichts. Z u t r i t t zu diesen Wort-Mysterien hat nur noch der Kundige, womit allen anderen der Einlaß und damit das Grundrecht des A r t . 4 1 nach Belieben gewährt oder verwehrt w i r d — vorausgesetzt ohnedies, daß sie „es an Treue gegenüber dem Staat nicht haben fehlen lassen" 237 . — Während dem Beschwerdeführer Schwarmgeisterei, Geschichtslosigkeit und Preisgabe des weltlichen Regiments Gottes vorgeworfen wird, w i r d eine eigene Auslegung von Sinn und Bedeutung der Bergpredigt entwickelt und als richtige Interpretation ausgegeben unter Berufung auf Thomas von Aquino , die Reformatoren und Helmut Thielicke. Jeder Einspruch des Betroffenen w i r d abgeschnitten m i t der — unbeweisbaren und unwiderlegbaren 2 3 8 — Behauptung, seine Interpretation sei falsch. Es fragt sich, was jemanden, der außerhalb des Glau236

v. Schlabrendorff, a.a.O., S. 1186. So v. Schlabrendorffs tragende Begründung, w a r u m Sekten nicht v e r pflichtet sind, v o r Gericht einen religiösen E i d zu schwören (vgl. a.a.O., S. 1187). 238 Vgl. die obige Konvention zu den „objektiven Maßstäben" (vgl. § 3, 4. zu F n 56). 237

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benskreises dieser Autoritäten steht oder sich gestellt hat, denn sonst zwänge, ihre Auslegung entgegen- und anzunehmen — als die drohende Gewalt des Staates, m i t der sich die „richtige" Interpretation bewaffnet. So zeigt sich also, daß hier lediglich „aus dem Glauben über den Glauben" gerichtet w i r d 2 3 9 , ohne Kriterien angeben zu können, die den Rückgriff auf intersubjektive Erkenntnis gestatten. Dadurch, daß der Richter seine Ideologie gegen die des anderen setzt, schaltet er sich i n einer Weise i n die Interpretation des A r t . 4 1 ein, die nicht nur der Ideologie des Grundgesetzes widerspricht, sondern auch die Vermutung nahelegt, daß die leidvolle Geschichte der Andersdenkenden und Außenseiter immer noch nicht beendet ist oder schon wieder i n Sicht kommt. 2.5. Vorläufige

Thesen

Zusammenfassend ergeben sich aus der rechtlichen Phänomenanalyse folgende vorläufige Thesen: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit umfaßt die Bestands- und Ä n derungsgarantie, d. h. „die Freiheit, sein Gewissen so oder anders zu haben". Sie stellt sich als absolutes Manipulationsverbot dar. Eine Freiheit zum Haben oder Nichthaben eines Gewissens wurde nicht anerkannt. Die Freiheit, sich gemäß seinem Gewissen zu verhalten, erscheint weiterhin bestärkt. Zur Begründung einer Gewissensposition genügt der Hinweis auf ein bestimmtes sittliches Wertkonzept, das ein bestimmtes Verhalten gebietet. Sittlich ist ein Wertkonzept, das sich auf dem individuellen Kont i n u u m „gut — böse" einordnen läßt, ohne daß es auf seine Motivation ankäme. Es kann von fremd- oder selbstidealer A r t sein. Doch sind individuell utilitaristische und eudämonistische Ansichten nicht geschützt. Der Richter hat entsprechende Angaben des Betroffenen grundsätzlich hinzunehmen und darf sie vor allem nicht an seinen eigenen sittlichen Anschauungen messen. 3. Der Schutz der Außensphäre durch das Grundrecht der Gewissensfreiheit

Bei der rechtlichen Analyse des Gewissensphänomens wurden bereits Vorgriffe auf die Verhaltensfreiheit gemacht, die — wenngleich erneut bekräftigt — immer noch nicht endgültig abgesichert erscheint, ein Manko, dem es durch den Rückgriff auf die kausalen Elemente der Rechts239

A . Arndt, Rechtsdenken, S. 7.

3. Schutz der Außensphäre durch das Grundrecht der Gewissensfreiheit

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norm zu steuern gilt. Hinzu trat als Problem die Änderungsgarantie; die Gewissensbildung, m i t Hilfe der Phänomenanalyse nur zum Teil erfaßt, scheint i m Lichte der Freiheit und Würde des Menschen des Schutzes zu bedürfen, soll nicht über ihre ungeschützten Elemente die sittliche Haltung als Zentrum des Gewissens dem staatlichen Zugriff offenstehen. Dazu w i r d es notwendig sein, die wirklichkeitswissenschaftliche Analyse von der Erscheinung des einzelnen Gewissens als eines starren Punktes i m Zeitenfluß gedanklich zu lösen und es so zu sehen, wie schon das dranghafte Moment der sittlichen Haltung nahegelegt hat: wirkend und sich i n die ,Welt' entwerfend sowie bewirkt und i n das Innere entworfen. Das erfordert, vom forum internum die Außensphäre zu scheiden, d. h. jene Sphäre, die jenseits der inneren Vorgänge und Zustände den einzelnen i n jedem Augenblick seines Lebens notwendig als irgendwie geartete „ U m w e l t " umgibt. Gewährleistet nun aber das Grundrecht der Gewissensfreiheit nur punktuelle Sachverhalte i m Raum der Gesamtheit sozialer Wirklichkeit, so gilt es, die „gesellschaftlichen Sachverhalte" bloßzulegen, die die Gewissensfreiheit gerade i n der Außensphäre schützen soll. Ihnen w i r d i m folgenden von jenen beiden Seiten her nachzugehen sein, die schon angesprochen wurden: von der Gewissensbildung und von der Freiheit, sich nach seinem Gewissen zu verhalten. 3Λ. Gewissensbildung und Außensphäre Die moralische Einstellung ist unabdingbare Voraussetzung jedes Gewissensphänomens und entscheidet damit über Weg und Schicksal des einzelnen. Damit rückt die Bedeutung ihrer Entstehung ins Blickfeld, ein Prozeß, der üblicherweise m i t „Gewissensbildung" umschrieben wird. Während oben ein Teil dieses Prozesses bereits i m Rahmen der „Operation" bzw. des „Aktes der Umstrukturierung" beschrieben und die Ä n derung des sittlichen Wertkonzepts über geistig-emotionale Auseinandersetzungen als möglich aufgewiesen wurde, blieb der weit bedeutendere Teil der Gewissensbildung völlig i m Dunkeln, der für alle Individuen unentbehrlich und bedeutsam und für die meisten lebensentscheidend ist: die Einstrukturierung von sittlichen Haltungen durch die Umwelt des I n d i v i d u u m s 2 4 0 2 4 1 . 240 Z u r B i l d u n g des Gewissens (und damit auch seiner Organisation) i m weitesten Sinne vgl. die folgende L i t e r a t u r : a) psychoanalytisch: Freud , I X , S. 85 ff., 171 ff.; ders., X , S. 347 ff. (phylogenetische Ableitung); ders., X , S. 162 ff.; ders., X I I I , S. 260 ff., 399; ders., X I V , S. 28ff., 496 (ontogenetische Ableitung); Brenner, Psychoanalyse, S. 134ff.; Blum, Gewissen, S. 173 ff.; Häfner, Gewissen, S. 125 ff. (mit personalistischer Abweichung). — Kritisch: Stadter, Gewissen, S. 82 ff. u. ö.; E. Spengler, Gewissen, S. 29 u. ö.; w o h l auch Baumhauer, V o r - U r t e i l , S. 33 f. b) soziologisch-psychoanalytisch: Heintz, Soziologische Theorie, S. 193 ff., 200 ff.; teilweise auch Gerth-Mills, Gesellschaft, S. 77 ff., 87 ff.

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3.1.1. Zur „Sozialisation" („notwendige Manipulation") des Menschen U m diesem Prozeß näherzukommen, werde darauf verzichtet, phylogenetische Konstanten menschlichen Verhaltens oder seine Prägung durch andere hereditäre Momente für das Gebiet gewissensmäßigen Verhaltens als Ausgangsdaten zu erarbeiten. Es bleiben hier allenfalls Aussagen dergestalt, daß Primärinformationen auch die Entwicklung sittlicher Haltungen steuern können und die Unzahl denkbarer Potentialitäten des Individuums „irgendwie" verringern 2 4 2 . Weiter eingeengt mögen die individuellen Möglichkeiten dadurch werden, daß spezifische Formen des Reagierens i n Richtung der Extraversion oder Introversion von Geburt an „vorgebahnt" und als „primäres Verhaltensinventar" mitgegeben sind 2 4 3 . Alle diese Primärstrukturen lassen zwar ein tabula-rasa-Konzept der Person als w i l l k ü r l i c h erscheinen 244 , ergeben jedoch für den sittlichen Bereich nur, daß die Form des individuellen „Wertspeichers" spezifisch strukturiert und damit nicht mehr jedem sittlichen Wertkonzept geöffnet ist, sagen jedoch nichts darüber aus, welche Inhalte positiv vom jeweiligen Individuum gespeichert werden. Insofern kann man beim neugeborenen K i n d i n der Tat davon ausgehen, daß sein Gewissen „innerlich ,leer'" ist und „von jedem ethischen Inhalt geprägt werden" kann 2 4 5 . Der c) sozialpsychologisch: Cooley, H u m a n Nature, S. 184 ff. („looking-glass self"), S. 358 ff.; G. H. Mead , Sozialpsychologie, S. 280 ff. (Gewissensnormen als T e i l aspekt der Haltungen des „generalisierten Anderen"); Oldendorff, Sozialpsychologie, S. 53 ff.; teilweise auch Gerth-Mills, a.a.O. d) psychologisch: Piaget , Das moralische Urteil, durchgehend, insbes. S. 89 ff., 220 ff.; Lückert, Konflikt-Psychologie, S. 376 ff.; Eysenck, B r i t . J. educ. Psychol. 30, S. U f f . ; Thomae, I n d i v i d u u m , S. 567ff.; Engelmayer, Gewissen, S. 112ff.; Oerter, Entwicklungspsychologie, S. 225 ff., 277 ff. Umfassende Darstellung verschiedener Lehren bei Baumhauer, V o r - U r t e i l (mit eigener Auffassung S. 16 ff., 36 ff., 60, 64 ff., 83 f., 102 ff.). Vgl. auch die psychologische Skizze bei Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 35 ff. I m Ansatz gegen eine genetische Gewissenserklärung: Stoker , Gewissen, S. 212 ff. (überholt). Z u r Gewissensbildung aus kath. Sicht: Hollenbach, St.d.Z. 162, S. 370ff.; Heinen, Gewissen, S. 85 ff., 99 ff., 137 ff. 241 Nach Listi, Religionsfreiheit, S. 75, umfaßt die Gewissensfreiheit das Recht f ü r jedermann, „bei der B i l d u n g religiös-moralischer W e r t - u n d U n w e r t begriffe unbeeinflußt v o n staatlichem Z w a n g oder sozialem Druck seinen eigenen Vorstellungen zu f o l g e n . . . " (Hervorhebung von mir). Damit w i r d der gesamte nachfolgende Bereich der Gewissensbildung ausgeschlossen; denn n u r i m Rahmen der „Operation" sind eigene (!) Vorstellungen möglich. — Der Hinweis auf den „sozialen Druck" betrifft Drittwirkungsfragen, die hier ausgeklammert sind. 242 Vgl. Thomae, I n d i v i d u u m , S. 502 ff.; Oerter, Entwicklungspsychologie, S. 42 ff.; Hehlmann, Psychologie, Stichwort „ A n l a g e n " ; Fichter, Grundbegriffe, S. 21 f. 243 Thomae. a.a.O., S. 504 f. 244 Ebd., S. 504, 506. 245 Dantine, F u n k t i o n des Gewissens, S. 57 f.; ähnlich Lückert, K o n f l i k t -

3. Schutz der Außensphäre durch das Grundrecht der Gewissensfreiheit

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E i n t r a g v o n „ P l u s - u n d M i n u s z e i c h e n h i n t e r e i n e r R e i h e v o n ethischen H a l t u n g e n " 2 4 6 geschieht n u n i n e i n e m l e b e n s l a n g e n 2 4 7 L e r n p r o z e ß , d e m das „ M e n s c h e n k i n d " , e i n asoziales oder egozentrisches Wesen, u n t e r w o r f e n w i r d u n d i n d e m es a l l m ä h l i c h i n die u m g e b e n d e K u l t u r , i n seine Gesellschaft h i n e i n w ä c h s t u n d z u m „ s o z i a l e n W e s e n " w i r d („Sozialisat i o n " ) 2 4 8 . D i e gesellschaftlich g e b i l l i g t e n W e r t - u n d V e r h a l t e n s m u s t e r w e r d e n b e i b e h a l t e n oder a n g e n o m m e n , die t a b u i e r t e n B e t ä t i g u n g e n u n d V e r h a l t e n s w e i s e n a b g e l e g t 2 4 9 . Das u r s p r ü n g l i c h diffuse D e n k e n , F ü h l e n u n d Handeln w i r d verfeinert u n d ausdifferenziert u n d durch übergreifende S t e u e r u n g s i n s t a n z e n z e n t r a l i s i e r t ; d e r L e b e n s w e g d u r c h f o r t s c h r e i t e n d e V e r f e s t i g u n g seiner R i c h t u n g u n d d u r c h K a n a l i s i e r u n g der i n d i viduellen Möglichkeiten festgelegt 250. D i e S o z i a l i s a t i o n e r f o l g t i n der W e c h s e l w i r k u n g zwischen d e m I n d i v i d u u m u n d d e m „ a n d e r e n " . O h n e diese Interaktion, ohne KommunikaPsychologie, S. 376 ff.; Stelzenberger, Gewissen, S. 22; ders., Syneidesis, S. 29; Stadter, Gewissen, S. 23 f. Vgl. auch Piaget , Das moralische Urteil, S. 210; einschränkend: Rauscher, Wissen und Gewissen, S. 53 ff. — Α. Α.: Eibl-Eibesfeldt, Verhaltensforschung, S. 508 f. (m. w . N.), der behauptet, das i n uns „verbindliche Normen f ü r das, was f ü r uns als A r t gut u n d böse ist, . . . durch stammesgeschichtliche Anpassungen vorprogrammiert" sind. Er begründet das einmal damit, daß die edlen Grundmotive des menschlichen Handelns „die Leitmotive der L i t e r a t u r u n d Schauspielkunst v o m A l t e r t u m bis zur Neuzeit" gewesen seien; er übersieht aber, daß die „edlen Grundmotive" gerade nicht i n allen K u l t u r e n gleich waren u n d einander sogar häufig w i d e r sprechen. Auch der Hinweis darauf, daß w i r v o n edlem Verhalten emotional ergriffen werden, verkennt den Selektionsmechanismus k u l t u r e l l e r Prägungen, der n u r solche „edlen" Verhaltensweisen emotionell billigend w i r k e n läßt, die zuvor k u l t u r e l l einverseelt wurden. Ganz abwegig ist der Hinweis, daß w i r angeborene Präpositionen f ü r unser ethisches Verhalten schon wegen der Gefahr eines kulturellen Relativismus annehmen müßten; denn v o m gewünschten (!) Ergebnis her, läßt sich eine These nicht beweisen. I m übrigen widerspricht sich Eibl-Eibesfeldt (a.a.O., S. 509, 523, 540) selbst, w e n n er f ü r ethische Werte (ζ. B. die soziale Kampfreaktion, den Gehorsam usw.) betont, daß die U m w e l t veränderungen dazu zwängen, solche Werte zurückzudrängen oder gar zu u n terdrücken. Damit ist aber das angeblich „ f ü r unsere A r t " Gute wieder k u l t u rell relativiert. 246 Stelzenberger, Gewissen, S. 22. Vgl. auch Rauscher, a.a.O., S. 53 f.: Das ethische Wissen sei „dem Menschen nicht angeboren". A u d i Hauser, St.d.Z. 178, S. 323 f., betont, daß die Gewissens„Anlage" gebildet u n d erzogen werden könne. Ä h n l i c h Heinen, Gewissen, passim. 247 So schon Cooley, H u m a n Nature, S. 383. Vgl. auch Heintz, Soziologische Theorie, S. 203; Schoeck, Soziologisches Wörterbuch, Stichwort „Sozialisation"; Fichter, Grundbegriffe, S. 23 f.; Rauscher, a.a.O.; Baumhauer, V o r - U r t e i l , S. 18; Heinen, Gewissen, S. 137,161, auch S. 55, 86 et passim. 248 S. hierzu: Heintz, Soziologische Theorie, S. 200 ff.; Schoeck, a.a.O.; Hehlmann, Psychologie, Stichwort „Sozialisierungsprozeß"; Oerter, Entwicklungspsychologie, S. 63 ff.; Fichter, Grundbegriffe, S. 23 ff. Vgl. auch Baumhauer, V o r - U r t e i l , S. 60 f f (Gewissensbildung als T e i l der „ B i l d u n g der Gesamtpersönlichkeit"); Stadter, Gewissen, S. 86. 249 Vgl. Oerter, a.a.O., S. 64. 250 Ebd., S. 16 ff.

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§ 7 Die soziale W i r k l i c h k e i t

tion und Dialog, ohne diesen ganzen „Prozeß gegenseitiger Beeinflussung" 2 5 1 wäre es dem einzelnen unmöglich, sich sittliche Wertkonzepte anzueignen, sich ein „Gewissen zu bilden" 2 5 2 . Die Bezugspersonen sind vor allem Eltern, Geschwister, Spielgefährten, Lehrer, Arbeitskollegen, Ehepartner, Freunde, Gruppenzugehörige jeder A r t u. a. m. Sie wirken durch Ge- und Verbote, Ermahnungen und sonstige Erziehungs- und Unterrichtsformen oder durch unterschwellige Beeinflussung. Aus ihnen erwachsen die moralischen Einstellungen, i n denen Soziales und Individuelles i m „Guten" verschmelzen. „Das individuelle und das soziale Gewissen s i n d . . . Aspekte ein und derselben Sache, nämlich des moralischen Lebens 2 5 8 ." Die Beeinflussungsformen sind gerade i m sittlichen Bereich vielfältig ausgeprägt: Die klassische Konditionierung, d. h. Kontiguität und Assoziativität eines furchterregenden Ereignisses, soll mithelfen, sozial unerwünschte Verhaltensweisen zu unterdrücken; sie w i r d generalisierend auf ähnliche Situationen und Handlungen übertragen, unterstützt durch Eltern und Erzieher m i t sprachlichen Hinweisen auf ähnliche antisoziale Verhaltensweisen i n einem „Verfahren der Etikettierung" 2 5 4 . Durch die instrumentelle Konditionierung werden sozial besonders erwünschte sittliche Verhaltensweisen eingeübt und belohnend verstärkt 2 5 5 . Z u diesen konditionierten Verhaltensweisen 256 t r i t t die modellhafte Orientierung des Individuums, durch die der einzelne nachahmend und sich identifizierend eine äußere Autorität gleichsam als innere Stimme hereinnimmt

251 So Fichter, Grundbegriffe, S. 23. 252 v g l . d i e Nachweise zu F n 240. — Ferner: Scholler, Gewissensfreiheit, S. 134 u. ö.; Würtenberger, Gewissen, S. 342; Bäumlin, W D S t R L 28, S. 105 („Dialog als Moment der Gewissensbildung"). I n eine ähnliche Richtung weisen auch B V e r w G E 7, 242.246; 9, 97; Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 122; Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 43 ff. („Hinwendung zum Du"). 253

So zutr. Cooley, H u m a n Nature, S. 377. Eysenck, B r i t . J. educ. Psychol. 30, S. 13 f. Vgl. auch Zulliger, Gewissen, S. 29 f.; Engelmayer, Gewissen, S. 120 f.; Heintz, Soziologische Theorie, S. 203 f.; Oerter, Entwicklungspsychologie, S. 240 ff. — A b i . f ü r das Erlernen einer „sozialen Rolle": Sarbin-Allen, Role Theory, S. 544 f. Heiss, Tiefenpsychologie, S. 265 f., k o m m t i m Anschluß an Ergebnisse der Verhaltensforschung zu einem affektiven Lernen durch „Prägung"; es vollziehe sich oft blitzartig. 255 Oerter, Entwicklungspsychologie, S. 235 ff. Vgl. auch Zulliger, a.a.O., S. 29 f.; Engelmayer, a.a.O.; Heintz, a.a.O. S. auch Cooley, H u m a n Nature, S. 395. — A b i . Sarbin-Allen, a.a.O. — Demgegenüber hält Plack, Gesellschaft, S. 122, die Belohnung f ü r wirksamer als die Bestrafung. 25β F ü r Engelmayer, a.a.O., S. 122, n u r eine „prämoralische Entwicklung". — Hollenbach, St.d.Z. 162, S. 374, spricht v o n „Gewöhnung an gutes Verhalten", Baumhauer (Vor-Urteil, S. 42) v o n „Einüben", Stadter (Gewissen, S. 59) v o n „Bahnen u n d Geleisen des Empfindens, Denkens u n d Handelns", Heinen (Gewissen, S. 95 u. ö.) v o n „Einüben". 264

3. Schutz der Außensphäre durch das Grundrecht der Gewissensfreiheit

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u n d i d e a l i s i e r t z u m V e r h a l t e n s s t a n d a r d e r h e b t 2 5 7 . I n dieser Phase des Z w a n g s u n d der e i n s e i t i g e n A c h t u n g w i r d e i n f r e m d b e s t i m m t e s „ h e t e r o n o m e s " G e w i s s e n a u f g e b a u t 2 5 8 . M i t i h m g l e i c h l a u f e n d u n d es i n w e n i g e n oder m e h r e r e n E i n z e l h a l t u n g e n ablösend t r i t t schon f r ü h d u r c h gleichberechtigte Z u s a m m e n a r b e i t u n d gegenseitige A c h t u n g 2 5 9 das „ a u t o n o m e " G e w i s s e n 2 6 0 . Es v e r s t ä r k t sich i n d e n R e i f e j a h r e n , w e n n w e i t e r e ethische H a l t u n g e n r e v i d i e r t u n d a n h a n d d e r sozialen W i r k l i c h k e i t f r ü her k r i t i k l o s übernommene Wertkonzepte n u n m e h r eigenständig verarb e i t e t u n d als neue W e r t e n t w ü r f e internalisiert w e r d e n , m ö g e n sie auch i n h a l t l i c h die a l t e n g e b l i e b e n s e i n 2 6 1 . V o n e i n e m k r i s e n h a f t e n Z u s a m -

257 v g l hierzu die Nachweise zu F n 240. Ferner: Heiss, Tiefenpsychologie, S. 298 ff. (mit dem Hinweis auf die „nähere Nachbarschaft" v o n Identifikation u n d Nachahmung zum affektiven Lernen); Hollenbach, St.d.Z. 162, S. 374; Plack, Gesellschaft, S. 85; Eisermann, Gesellschaft, S. 69 f.; Baumhauer, V o r Urteil, S. 109; Heinen, Gewissen, S. 95, 124. — Abi.: Eysenck, B r i t . J. educ. Psychol. 30, S. 13. Diesen Vorgang treffen auch Zippelius' „rechtsethisches M i l i e u " (Wertungsprobleme, S. 173) sowie Schollers „Faktizität des Normativen" (DÖV 69, S. 530) als Sozialisationsinhalte aus dem normativen Bereich. 258 V g L Piaget, Das moralische Urteil, S. 72 ff., 367 f., 220 ff., 433 ff. u. ö. Vgl. auch Cooley, H u m a n Nature, S. 383 ff.; Fromm, Psychoanalyse, S. 158 ff. („autoritäres Gewissen" ; zusti. Lückert, Konflikt-Psychologie, S. 402 f.) ; Oerter, E n t wicklungspsychologie, S. 254. Die kulturelle Formung des Gewissens betont Baumhauer, V o r - U r t e i l , S. 43, 46,129 ff., 133 ff. 250 v g L plaget, a.a.O. 260 Piaget, a.a.O.; Fromm, Psychoanalyse, S. 173 ff. („humanistisches Gewissen"); Lückert, a.a.O., S. 382 f., 403; Stelzenberger, Gewissen, S. 24; Möbus, Gewissen, S. 130 ff.; Engelmayer, Gewissen, S. 125; Hehlmann, Psychologie, Stichwort „Gewissen"; Oerter, a.a.O., S. 270 ff.; Coing, Rechtsphilosophie, S. 101 (anerkennt w o h l n u r diese Form des Gewissens) ; w o h l auch schon Cooley, a.a.O., S. 384 f., 392 ff. — Der Terminus „autonom" w i r d doppeldeutig verwendet: 1. Unabhängigkeit v o n einer äußeren A u t o r i t ä t ; dies ist schon bei der modellhaften Orientierung, aber auch schon bei der klassischen Konditionierung der F a l l ; 2. eigenständige Verarbeitung sittlicher Wertkonzepte („Internalisierung" nach der hier gebrauchten Terminologie; dem scheint Heiss' „Einseelung" — Tiefenpsychologie, S. 323 ff. — nahezukommen), d. h. während i n den heteronomen Fällen „ i m m e r nach eine Regel (vorliegt), die sich v o n außen aufzwingt", bedeutet die A u t o nomie i m m e r ein „notwendiges Ergebnis des Bewußtseins selbst" (Piaget , a.a.O., S. 222). Freud ( I X , S. 85 ff., X I V , S. 482 ff.) unterscheidet das „Tabugewissen" als 1. Phase der Gewissensfunktion, bei der noch die kontinuierliche Anwesenheit der Erzieherautorität erforderlich ist (eine A r t „Außenleitung") u n d Gefühle der Angst vor Liebesverlust sowie der sozialen Angst entstehen, u n d das „ U b e r ich" als 2. Phase der Gewissensfunktion, bei der die A u t o r i t ä t als Ich-Ideal (Idealich) u n d Gewissen (verbietende u n d kontrollierende elterliche Autorität) verinnerlicht sind (eine A r t „Innenleitung") u n d Schuldgefühle entstehen. Eine „Internalisierung" scheint Freud nicht zu kennen (vgl. insbes. X I V , S. 484 ff.). H i e r w i r d „Autonomie" n u r i m Sinne v o n „Internalisierung" gebraucht. 261 Vgl. Oerter, Entwicklungspsychologie, S. 245, 271 f. S. auch Hollenbach, St.d.Z. 162, S. 379 f.; Baumhauer, V o r - U r t e i l , S. 18, 40, 106, 109 f., 121, 126; Heinen, Gewissen, S. 21,105,109,117 ff., 139 ff., 160 et passim.

9 Freihalter

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§ 7 Die soziale W i r k l i c h k e i t

m e n b r e c h e n d e r b i s h e r i g e n W e r t w e l t e t w a des J u g e n d l i c h e n i n der F r ü h p u b e r t ä t u n d der E r s e t z u n g des h e t e r o n o m e n Gewissens d u r c h e i n w e i t g e h e n d a u t o n o m e s G e w i s s e n 2 6 2 , k a n n j e d o c h n u r i n A u s n a h m e f ä l l e n die Rede sein u n d w i r d der L e b e n s w i r k l i c h k e i t der m e i s t e n Menschen n i c h t g e r e c h t 2 6 3 . B e i i h n e n w e r d e n beide G e w i s s e n s f o r m e n a n z u t r e f f e n sein, u n d die h e t e r o n o m e n A n t e i l e ü b e r w i e g e n fast i m m e r die a u t o n o m e n 2 6 4 ; v i e l e k o m m e n sogar ü b e r das k o n d i t i o n i e r t e R e g e l w i s s e n n i c h t h i n a u s 2 6 5 . F ü r diesen vollständigen B i l d u n g s p r o z e ß v o n der K o n d i t i o n i e r u n g ü b e r die m o d e l l h a f t e O r i e n t i e r u n g ( N a c h a h m u n g , I d e n t i f i k a t i o n ) bis h i n z u r I n t e r n a l i s i e r u n g eines s i t t l i c h e n W e r t - u n d V e r h a l t e n s m u s t e r s i s t jedoch u n e n t b e h r l i c h u n d i n t e n s i v i e r e n d eine gewisse A t m o s p h ä r e der I n t i m i t ä t , des Geliebtseins u n d der G e b o r g e n h e i t 2 6 6 , eine A t m o s p h ä r e , 262

So Remplein, Seelische Entwicklung, S. 420 f., 482 f.; ähnlich Pöggeler, Gewissen, S. 161. Vgl. auch Geißler, Kriegsdienstverweigerung, S. 67. 263 Oerter, a.a.O., S. 272 ff. 264 Vgl. schon Cooley, H u m a n Nature, S. 385. Ferner: Piaget, Das moralische Urteil, S. 104; Fromm, Psychoanalyse, S. 180; Pongratz, Menschliche Konflikte, S. 181; Baumhauer, V o r - U r t e i l , S. 18, 120 (Die Urteile des Gewissens seien „Vor-Urteile, das h e i ß t . . . durch Erbe u n d Tradition vor-gegebene Urteile". 265 Engelmayer, Gewissen, S. 132. Ä h n l i c h Freud ( X I V , S. 484) zum „Tabugewissen" (vgl. F n 260) : M i t diesem Zustand habe die Gesellschaft unserer Tage i m allgemeinen zu rechnen. Zusti.: Baumhauer, V o r - U r t e i l , S. 41, 47, 106. S. auch Heinen, Gewissen, S. 23 ( „ F u n k tionssdiwäche"). — Diese Fakten verkennt Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 43 ff., w e n n er die Gewissensphänomene m i t H i l f e des Entwicklungsgedankens gliedert u n d als gewissensbildende Faktoren n u r solche anerkennt, denen das „Liebesstreben" als Antriebskomponente zugrunde liegt u n d die sich als „ H i n w e n d u n g zum D u " darstellen. Denn ein Verantwortungsbewußtsein oder persönliches Bindungsgefühl k a n n auch durch Konditionierung erreicht werden, mag dieses Bewußtsein auch i n erster L i n i e m i t Angstgefühlen gekoppelt sein. Es zeigt sich also, daß sich hier nichts zergliedern läßt, ohne ineinanderfließende Vorgänge w i l l k ü r l i c h zu zerreißen u n d die Auslegung auf Gefühlsmomente festzulegen, die das I n d i v i d u u m i n aller Regel nicht einmal exakt zu benennen vermag und die sich experimentell n u r grob erfassen lassen. Wollte m a n ferner die Gewissensbildung erst m i t der Identifikation beginnen lassen (so Ek. Stein, a.a.O., S. 39), so bedürfte der einzelne der besonderen „Lebensluft" (hierzu weiter i m Text!), die gesellschaftlich häufig nicht gewährleistet ist. Derjenige, der sozial durch eine intakte K i n d h e i t u n d Jugend privilegiert ist, w ü r d e auch noch verfassungsrechtlich prämiiert; denn n u r er könnte dann noch Träger eines Gewissens u n d damit des Grundrechts der Gewissensfreiheit sein, nicht aber etwa K i n d e r aus Waisenhäusern, Heimen u. ä. Das Grundrecht der Gewissensfreiheit würde umfunktioniert zur Waffe gegen den sozial Schwachen und „Asozialen". — Der von Ek. Stein (a.a.O., S. 43 ff.) gewollte Ausschluß des Strebens nach einem bloß persönlichen V o r t e i l als Gewissensmotivation läßt sich über die Analyse der Gewissensbildung nicht erreichen, sondern n u r über die Analyse der H a l t u n g (s. oben § 7, 2.4.9. zu F n 221). 266 Cooley, H u m a n Nature, S. 379 f., 388 f.; Lückert, Konflikt-Psychologie, S. 383 f.; Häfner, Gewissen, S. 127,129 f.; Neuhäusler, Gewissen, S. 32 ff.; Baumhauer, V o r - U r t e i l , S. 108 f., auch S. 19; Stadter, Gewissen, S. 94 f.; Heinen, Gewissen, S. 15 f., 88 ff., 104 u. ö. Vgl. auch Freud, X I V , S. 490, insbes. F n 1 ; Stoker, Gewissen, S. 235, insbes.

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die eine Achtung der Beziehungspartner voreinander entstehen und wirksam werden lassen kann 2 6 7 . Erst hier kann die geschilderte „notwendige Manipulation a268 des Menschen zum sozialen Wesen vor sich gehen 269 . 3.1.2. Schutzbedürftigkeit der Gewissensbildung I n diese Sozialisation des einzelnen greift der Staat schon i n früher Kindheit ein, indem er Eltern und Kinder zwingt, sich i m Rahmen der Rechtsordnung zu halten, und darüber hinaus von den Kindern den Besuch von Schulen verlangt. Es ist also keineswegs müßig, nach der Schutzbedürftigkeit der Gewissensbildung vor staatlicher Manipulation zu fragen. Halten sich auch Rechtsgehorsam und Schulbesuch formal i n den Grenzen notwendiger Manipulation, so zeigt sich schon etwa i n den Problemen der Bekenntnis- oder Gemeinschaftsschulen, daß die Grenzen zur verbotenen Manipulation flüssig sind, wenn man die These zugrunde legt, daß die Gewissensfreiheit die Freiheit enthalte, „sein Gewissen so oder anders zu haben". Wäre nur die „Operation" oder der „ A k t der Umstrukturierung" i m Rahmen eines konkreten Gewissensphänomens geschützt, so könnte dies den Staat — vorausgesetzt, es wäre i h m an stetem staatskonformem Verhalten seiner Untertanen gelegen — weiter nicht stören. Dadurch, daß er die Haltungen manipuliert, steuert er auch das Gewissen. Es ließe sich dann die Umwelt des Individuums nach staatlichem Gutdünken gestalten, etwa indem man die neugeborenen Kinder unerwünschter Gruppen i n „linientreue" Familien verpflanzt, ältere Kinder wegen „Versagens" der Erziehungsberechtigten oder als „verwahrlost" i n staatskonforme Sozialisationseinrichtungen einweist oder Rassen, Religionen und Weltanschauungen dem Interaktionsprozeß als unerwünscht und asozial entzieht und einer nachdrücklichen Umerziehung und „Gehirnwäsche" unterzieht. Gesehen über einen weiteren Zeitraum wäre es gewährleistet, den Menschen staatskonform zu indoktrinieren und durch eine vorgeformte notwendige Manipulation i n einem vorgeformten Lernprozeß von selbst i n F n 2; Zulliger, Gewissen, durchgehend; Hollenbach, St.d.Z. 162', S. 372 u. ö.; ders., St.d.Z. 164, S. 50 ff.; König, Soziologie der Familie, S. 147; Plack, Gesellschaft, S. 287 f.; Thomae, I n d i v i d u u m , S. 571 f.; Engelmayer, Gewissen, S. 124 f., 140; Pöggeler, Gewissen, S. 159 ff. 267 Vgl. Piaget, Das moralische Urteil, insbes. S. 97 ff., 109 ff., 365. 268 y g i portmann, Manipulation, S. 165. Dieser Begriff w i r d i m folgenden synonym f ü r den neutralen Begriff der Sozialisation gebraucht werden, u m i h n als Gegenbegriff zur „ M a n i p u l a t i o n " selbst zu gebrauchen. 269 Ä h n l i c h Cooley, Social Organization, S. 30. Vgl. auch König, Soziologie der Familie, S. 145 („zweite Geburt"); Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 39; Portmann, a.a.O., S. 165 ff.; Schaltenbrand, Stud. Gen. 22, S. 494.

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§ 7 Die soziale W i r k l i c h k e i t

die gewünschten kulturellen Wert- und Verhaltensmuster hineinwachsen zu lassen, sie i h m gar zu Selbstverständlichkeiten werden zu lassen. Entworfen am soziologisch-psychologischen Reißbrett, ließe sich der „neue, natürliche Mensch" 2 7 0 propagieren, der, zum Leitbild geschaffen und den wechselnden Erfordernissen angepaßt, sich m i t den Umständen verändern könnte. Man kontrolliert ihn, indem man die Umstände kontroll i e r t 2 7 0 . — Hier wäre die Manipulation total und die Gewissensreaktion staatlich stets brauchbar 2 7 1 . Abweichler wären wieder klar geordnet i n Kriminelle oder Kranke eingeteilt und damit der Ausgangspunkt der Problemgeschichte erreicht. Diese groben Formen staatlicher Indoktrination sind klar umrissen und werden w o h l ohne weiteres dem Manipulationsverbot unterstellt. Doch auch der Staat des Grundgesetzes kennt dem Grunde nach solche Mittel, wie etwa die Wegnahme der Kinder bei drohender Verwahrlosung (Art. 6 III) und den Freiheitsentzug der Strafgefangenen (Art. 104 GG). Dies beweist, daß der Staat i n Extremsituationen nicht auf sie verzichten kann und zum Schutze aller Bürger nicht verzichten darf, erregt aber Bedenken etwa i n Bezug auf eine forcierte Resozialisierung von Strafgefangenen 272 , die i m Grunde nichts anderes als eine Anpassung an die anerkannten Wert- und Verhaltensmuster darstellt. Hier w i r d die Grenze dort überschritten, wo der Versuch gemacht wird, dem „ K r i m i nellen" die anerkannten Kulturmuster als eigene sittliche Wertkonzepte mittelbar oder unmittelbar aufzuzwingen, ohne i h m die Möglichkeit zu geben, sich m i t ihnen auseinanderzusetzen. Das führt aber über ein konditioniertes Regelwissen hinaus; Kenntnisse und Fertigkeiten aller und von gesellschaftlich anerkannter A r t werden notwendig. Doch gibt es auch sublimere Formen der Manipulation. So kann über staatlich gesteuerte oder geförderte Suggestion der einzelne scheinbar völlig freiwillig dahin beeinflußt werden, sittliche Wertkonzepte anzunehmen oder aufzugeben, wie etwa der rasche Wechsel verschiedener Staatsformen i m Deutschland der letzten Jahrzehnte hat deutlich werden lassen. Weniger Anpassungsfähige oder -willige werden i m "drop out" ausgeschieden. Suggestiv w i r k t die Erinnerungswerbung, m i t der positiv staatserhaltende und staatsfördernde Parolen peripher wahrgenommen werden, ohne dem Individuum bewußt zu werden 2 7 3 . Angesichts einer überwältigenden Informationsflut und der Neigung des Individuums, die Komplexität der Sachverhalte durch Vereinfachung zu reduzieren, ist es jedoch wirksamer und gefährlicher, dem einzelnen schon ver270

E. Muir (zitiert nach Gehlen, Urmensch, S. 122). Andeutend: Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 23. 272 Z u t r . schon Scholler, Gewissensfreiheit, S. 147: Der Mensch habe auch ein Recht auf sein böses Gewissen. Vgl. auch Plack, Gesellschaft, S. 119. 273 vgl. Faber, Innere Geistesfreiheit, S. 76 ff. (m. w . N.). 271

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einfachte Realität darzubieten: die Wirklichkeit w i r d entstellt und verzerrt durch interessengefärbtes Auslassen wesentlicher Sachverhalte (sogenanntes „strukturiertes Nachrichtendefizit") 274 . Die Suggestion w i r d hier i n dem Augenblick umfassend, i n dem der Staat gegenläufige Informationsquellen ausschaltet und die Information monopoliert 2 7 5 . Entscheidend ist demnach, daß der Staat die Umwelt des Individuums i n einer Weise verändern kann, daß sich auch die sittlichen Wertkonzepte des Menschen verändern, sei es über die Erscheinungsformen m i l i tanter Intoleranz, wie Diskriminierung, Bücherzensur, Tempelzerstörung und Ghettoisierung 2 7 6 , sei es über suggestive Techniken jeder A r t , sei es über eine Veränderung des „rechtsethischen M i l i e u s " 2 7 7 m i t seiner „Faktizität des Normativen" 2 7 8 oder über die sonstigen manipulativen Verfahren. Hierzu braucht der Staat nur i n irgendeiner Weise i n den Interaktionsprozeß einzugreifen; das Gewissen des einzelnen w i r d — wenngleich zeitlich verzögert — i m allgemeinen nachfolgen. 3.1.3. Schutz der Gewissensbildung durch Garantie der „Individualsphäre" und „Intimsphäre" — Schutz der „Öffentlichkeitssphäre" Doch kann ein Schutz der Gewissensbildung nicht dahin gehen, den Staat aus dem gesellschaftlichen Leben herauszulösen. Abgesehen davon, daß dies ohnehin unmöglich ist und das Individuum durch die Komplexität der ,Welt' unerträglich verunsichert würde, ist gerade der Staat maßgeblich berufen, die soziale Wirklichkeit zugunsten des Individuums zu gestalten; denn gerade hier gewährleistet der Pluralismus ein gewisses Maß der Transparenz, während private Machtstrukturen weithin unüberschaubar sind. Andererseits ist die Gewissensbildung schutzbedürftig. Man w i r d deshalb einen Mittelweg suchen müssen, der den Staat aus bestimmten Bereichen der Gewissensformung ausschließt, und i h m i m übrigen gewisse „Regeln staatlichen Wohlverhaltens" auferlegen. Geht man wiederum davon aus, daß das Grundrecht der Gewissensfreiheit bezweckt, zur „Freiheit" und „Würde" des Individuums beizutragen und erkennt zugleich, daß hier das Individuum nicht nur i n vereinzelten sozialen Beziehungen, sondern als Person gemeint ist, so liegt es nahe, nach denjenigen Interaktionsprozessen zu fragen, i n denen 274 275 276 277 278

Ebd., S. 81 ff. Vgl. a u d i Heinen, Gewissen, S. 38. Ebd., S. 83 ff. S. hierzu: Cohn, Glaube, S. 80 ff. S. Zippelius, Wertungsprobleme, S. 173. Scholler, D Ö V 69, S. 530.

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§ 7 Die soziale W i r k l i c h k e i t

der einzelne als Person auftritt. Dies ist nicht dort der Fall, wo er sich nur einzelne Zwecke und Ziele setzt oder wo er auf die Erfüllung spezifischer Aufgaben ausgerichtet ist, auch nicht dort, wo i h m der „andere" i n sachlichen, kaum affektiv getönten Beziehungen gegenübertritt. Vielmehr w i r d das Individuum nur i n Primärgruppen i n der Totalität seiner Person erfaßt, etwa i n der Familie, der Spielgruppe, dem Freundeskreis und den informellen Gruppen i m Arbeitsleben. Die Primärgruppen formen die ethischen Einstellungen des einzelnen entscheidend. Sie sind notwendige Vorbedingung jeder Gewissensbildung. I m Rückgriff auf sie w i r d vor allem der I r r t u m vermieden, als seien nur Kinder und Jugendliche staatlicher Manipulation als „unvollkommen ausgeprägte Persönlichkeiten" ausgeliefert, während die Erwachsenen pädagogisch geschickten und überzeugenden Unterweisungen ihre Reife entgegenzusetzen hätten 2 7 9 . Wäre es nämlich dem Staat gestattet, für die Primärgruppen der Erwachsenen gestaltend und ordnend tätig zu werden, so wäre es i h m ein Leichtes, selbst tiefwurzelnde Haltungen aus frühester Kindheit allmählich zu unterlaufen. Wesentlich ist also, die Strukturmerkmale der Primärgruppen klarzulegen 280 , u m ihre mögliche Reichweite zu überprüfen und den Umfang etwaiger Staatseinschränkungen festzustellen: Formales Merkmal ist die direkte Beziehung der Partner, gleichsam von Angesicht zu Angesicht („face-to-face") 281 , materielles Strukturelement ihre Intimität 282, also gerade jenes Element, ohne das eine Gewissensbildung allenfalls zu einem konditionierten Regelwissen führen kann, und selbst dies ist nicht gewährleistet 2 8 3 . Während jedoch der mögliche Kreis der Interakteure durch das Erfordernis des gegenseitigen Kennens noch verhältnismäßig weit ist, w i r d er durch die Intimität m i t ihrem ganzen Hof verschiedener Bedeutungen (Vertrauen, Verständnis, Geborgenheit, Zuneigung, Sympathie, Nestwärme usw., aber auch Eifersucht, Ehrgeiz u. a.) stark eingeengt. Selbst Gruppen wie Sippe und Verwandtschaft, Religionsgemeinschaft, Betrieb, Schule und unter Umständen selbst die einzelne Schulklasse 284 werden nur teilweise erfaßt, die losen und weithin unverbind279

So aber v. Zezschwitz, JZ 71, S. 12 f. Z u m folgenden vgl. Cooley, Social Organization, S. 23 ff.; Heintz, Soziologische Theorie, S. 200 ff.; Schoeck, Soziologisches Wörterbuch, Stichwort „Primärgruppe" ; Fichter, Grundbegriffe, S. 79 ff. 281 Podlech, Gewissensfreiheit, S. 53, stellt n u r auf dieses M e r k m a l ab. Vgl. demgegenüber schon Cooley, a.a.O., S. 23: „ B y p r i m a r y groups I mean those characterized b y intimate face-to-face association and cooperation" (Hervorhebung von mir). Schoeck, a.a.O., weist darauf hin, daß die „face-to-face"Bedingung heute nicht mehr als entscheidend angesehen werde. 282 Häufig w i r d dieses M e r k m a l durch ein spezifisches Gruppenbewußtsein des „ W i r " näher gekennzeichnet (Cooley, a.a.O.). 283 Vgl. näher zu F n 266. 284 Dabei w i r d die gesamte Klasse i n einer Grundschule eher eine P r i m ä r gruppe bilden als i n höheren Schulen. 280

3. Schutz der Außensphäre durch das Grundrecht der Gewissensfreiheit

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liehen Beziehungen ausgeschieden und die Primärgruppen auf kleine und kleinste Einheiten reduziert und konzentriert. Es bleiben nur noch Gruppen, i n die der Staat ohnehin nicht oder nur zurückhaltend und weitgehend formal eingreift: Ehe, Familie, Spielgruppe, Freundeskreis, informelle Arbeitsgruppe u. ä. Man könnte daran denken, innerhalb dieser Gruppen noch weiter zu sondern und nur solches Verhalten zu erfassen, welches das Gewissen unmittelbar formt und gestaltet, d. h. wertvermittelndes und wertgeleitetes Verhalten sittlicher A r t , sei es konditionierend, sei es vorbildhaft, sei es geistig-emotional. Doch dürfte die Realität hier i n einer Weise ineinander verflochten sein, daß ein Versuch dieser A r t notwendig ins Leere griffe. Doch w i r d es zulässig und notwendig sein, zuvor noch einen weiteren Bereich zu unterscheiden: jenen ureigensten, jeden Menschen ausschließlich selbst umgebenden Raum, i n dem keine Interaktion stattfindet, der je nach kulturellem und sozialem Status, nach der Dichte der Rollen und dem Kommunikationsbedürfnis des einzelnen stark variieren und der an einzelnen Stellen mehr oder weniger i n den Bereich der Sie ist Primärgruppen hinüberführen w i r d : die „Individualsphäre" 285. für die Gewissensbildung entscheidend, werden doch hier sich meist jene Teilprozesse des Gewissensapparates i n den sozialen Raum projizieren, die oben als „Operation" bzw. „ A k t der Umstrukturierung" bezeichnet wurden. Dieser Bereich w i r d zur Wesensgehaltsgarantie rechnen können (Art. 4 I, A r t . 19 I I ) 2 8 6 und zwar einer vermittelnd, d. h. absolut und relativ verstandenen Wesensgehaltssperre, die staatliche Zugriffe i n Extremsituationen ermöglicht, etwa bei Verwahrlosung eines Kindes, Freiheitsentzug, Wehrdienst, Ersatzdienst, Unterbringung u. a. Erwägt man nun die begrenzte Reichweite der Primärgruppe einerseits und ihre gewissensprägende Bedeutung andererseits, so erscheint es notwendig und vertretbar, neben der Individualsphäre auch die Primärgruppe als solche dem Schutz der Gewissensfreiheit i m Rahmen der Bestands· und Änderungsgarantie zu unterstellen, d. h. die „Freiheit, sein Gewissen so oder anders zu haben", schützt die Individualsphäre und den Bereich der Primärgruppen (die „Intimsphäre") des Individuums 2 8 7 . 285

S. auch Eibl-Eibesfeldt, Verhaltensforschung, S. 512 ff., der darauf h i n weist, daß der Mensch aufgrund angeborener Dispositionen schon als einzelner deutliche „Individualdistanzen" einhalte u n d ähnliches „territoriales V e r halten" auch bei den menschlichen Gruppenbildungen (Familie, Stamm, V o l k usw.) zu beobachten sei. Die „Reviergrenzen" dürften ungestraft n u r unter besonderen Zeremonien überschritten werden. 286 Weiter: Scholler, Gewissensfreiheit, S. 137, 203, Fn. 13. Das BVerfG anerkennt einen „unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung . . . , der der E i n w i r k u n g der öffentlichen Gewalt entzogen" sei (E 6, 32.41; DVB1. 72, S. 383; st.Rspr. Vgl. auch BVerfG N J W 72, S. 1184 zur Glaubensfreiheit). 287 Erstmals hat Scholler (Gewissensfreiheit, S. 131 ff.) dies m i t dem Begriff der „Geheimsphäre" herausgearbeitet, beschränkt aber n u n (DÖV 69, S. 52) die

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§ 7 Die soziale W i r k l i c h k e i t

Individualsphäre und Intimsphäre umfassen also auch ein Verhalten gemäß dem Gewissen, das gerade i m Bereich der Primärgruppe einerseits konditionierend, modellierend und geistig-emotional anregend w i r k t , andererseits die A n t w o r t des Partners i n Form der Nachahmung, Identifikation und Internalisierung darstellt —: eine Realität unauflösbarer Wechselwirkung. Was dies für die Schranken der Gewissensfreiheit zu bedeuten hat, w i r d noch zu erörtern sein 2 8 8 . Werden nun der Gewissensapparat m i t seinen zwangsläufigen Teilprozessen durch ein absolutes Manipulationsverbot und auch Individualsphäre und Intimsphäre durch das Grundrecht der Gewissensfreiheit geschützt, so stellt sich die Frage, wie die verbleibende Außensphäre, die „Öffentlichkeitssphäre" zu begreifen ist, und zwar hier unter dem Aspekt der Gewissensbildung 289 . Auch die Öffentlichkeitssphäre ist von mannigfachen gewissens-, haltungsbildenden Prozessen durchsetzt, die sich jedoch zergliedernd nicht mehr erreichen lassen, zumal häufig erst die Primärgruppe diese äußeren Einflüsse i n Gruppennormen und -werte umwandelt. Ausgehend davon, daß die Ideologie des Grundgesetzes gegenüber jeder anderen Ideologie neutral ist und sich auch ihrerseits nur als Chance, als Grund recht, nicht als Grundpflicht ihrer Bürger begreift, kann man für die Gewissensbildung nur noch allgemeine Regeln aufstellen: I n der Öffentlichkeitssphäre ist es dem Staat nur erlaubt, mitzuhelfen, Wissen und Erkenntnisse an das Individuum heranzutragen 290 . M i t seinem eigenen „rechtsethischen Milieu", vor allem m i t seinen eigenen verfassungsrechtlichen Wert- und Verhaltensmustern t r i t t der Staat nur als einer unter mehreren „Anbietern" von potentiellen sittlichen

„Eigensphäre" darauf, als entscheidender Gesichtspunkt bei der Güterabwägung zu dienen, dergestalt, daß bei Eingriffen i n die Eigensphäre eine „ V e r m u t u n g gegen die Zulässigkeit der staatlichen Intervention" besteht (hierzu vgl. unten, § 11, 2.1. zu F n 37). Ferner (enger u n d als Schrankenziehung aufgefaßt) : Geiger, Gewissensfreiheit, S. 24 f. (Geschützt seien „die Verhaltensweisen, die spezifisch die eigene Lebensführung betreffen", nicht jedoch Verhaltensweisen, die darüber hinaus gewolltermaßen i n fremde Rechtsgüter hineingreifen; ähnlich ders., Nonkonformismus, S. 73 — k e i n Schutz f ü r Verhaltensweisen, die „ i n absolut geschützte fremde Rechte u n d Rechtsgüter gezieltermaßen hinübergreifen" — ; zusti. Hamann-Lenz, A r t . 4 A n m . Β 2, f ü r eine „Individualsphäre", die nicht zu E i n griffen i n fremde Rechtsgüter legitimiere); Ek. Stein, Staatsrecht, S. 218; Gewissensfreiheit, S. 57 ff. (Näheres hierzu unter § 11, 1. zu F n 34); Herzog, DVB1. 69, S. 721; Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 157 (absoluter Schutz f ü r den rein privaten Bereich, d. h. ohne jegliche Ausstrahlung auf einzelne Personen u n d insbes. die Öffentlichkeit). Z u Scholler vgl. ferner F n 357. 288 S. unten, § 11, 2.1. zu F n 37. 289 U n t e r dem Gesichtspunkt der „Verhaltensfreiheit" w i r d die Öffentlichkeitssphäre i m folgenden zu behandeln sein. 290

Vgl. auch Obermayer, D Ö V 67, S. 16.

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Wertentwürfen auf 2 9 1 . Das bedeutet: I m Prozeß der Gewissensbildung bleibt der Staat auf eine Mittlerrolle und Anbieterrolle beschränkt 292. Darüber hinausgehende Versuche, auf die Annahme oder Ablehnung sittlicher Wertkonzepte einzuwirken, verstoßen gegen das Grundrecht der Gewissensfreiheit und sind unzulässig. Der Staat unterliegt dem Gebot „ideologischer" Neutralität 2 9 3 . Daß auch auf diese Weise durch schulische Erziehung und schulischen Unterricht die kulturellen Muster dem Individuum nicht nur rational vermittelt, sondern i n gewissem Sinne auch „eingeübt" werden; daß die Schüler einen beliebten Lehrer nachahmen und sich m i t i h m identifizieren; daß der Lehrer selbst durch Lob und Tadel konditionierend w i r k t —: dies alles und unübersehbar mehr liegt i m Rahmen der notwendigen Manipulation und ist Teil des unentrinnbaren Sozialisationsprozesses 294 . Die Grenze zur unzulässigen Gewissensausformung w i r d dort überschritten, w o die Wissens- und Erkenntnisvermittlung und das Angebot von Wertkonzepten einseitig geschieht 295 , was vor allem durch die suggestiven Techniken der Erinnerungswerbung und des strukturierten Nachrichtendefizits erfolgen kann. Vermittlung und Angebot konkurrierender Wert- und Verhaltensmuster müssen demnach gewährleistet sein. Nur i n diesem beschränkten Sinne kann die öffentliche Gewalt „Staatspflege" treiben 2 9 6 , eine einseitige Fremd- und Eigenpropagierung ist ausgeschlossen.

291 Obermayer, a.a.O., spricht v o n Erziehung allgemein i. S. d. v o m GG anerkannten ethischen Maximen. Anerkannt hat aber das GG einen ethischen Pluralismus. Deshalb ist ein solcher Rückgriff nicht möglich. K r i t i s c h auch Scheuner, Verfassungsrechtliche Fragen, S. 321. Weitergehend verlangt Baumhauer, V o r - U r t e i l , S. 45, „Institutionen, die dieselbe Identiflkationsmöglichkeit anbieten w i e der Bandenchef u n d der t o t a l i täre Staat . . . als Übergangslösung, bis die schwierige u n d langwierige A u f gabe einer breiten Gewissensbildung besser erfüllt ist". 292 Hier w i r d n u r der Aspekt der Gewissensbildung f ü r die Öffentlichkeitssphäre behandelt. Daß damit noch nichts zur Frage der Verbindlichkeit v o n Rechtsnormen ausgesagt ist, dürfte offenkundig sein. 293 Hierüber w i r d noch ausführlich zu handeln u n d das Gebot selbst zu präzisieren sein (s. unten, § 9, 3.3.). Z u r Unzulässigkeit eines staatlichen „Dirigismus" auch Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 40; ähnlich Listi, Religionsfreiheit, S. 64; Maunz-Dürig-Herzop, A r t . 4 Rdnr. 60 f. 294 H i e r d ü r f t e n schwierige Fragen der „ D r i t t w i r k u n g " auftauchen, insbes. hinsichtlich privater Machtkonzentration. 295 Vgl. auch Ek. Stein, Staatsrecht, S. 213; H. Weber, Staat 8, S. 505 f.; v. Zezschewitz, JZ 71, S. 12. Andeutend nunmehr auch Scheuner, DÖV 71, S. 513; ders., Verfassungsrechtliche Fragen, S. 321, 325, 327. 296 Vgl. He. Krüger, Staatslehre, S. 214 ff. — Α. Α.: Baumhauer, V o r - U r t e i l , S. 48.

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§ 7 Die soziale W i r k l i c h k e i t

3.2. Schutz der Gewissensbetätigung:

die „Verhaltensfreiheit"

I m Lichte der Gewissensbildung haben sich bereits Folgerungen ergeben, die auch für die Gewissensverwirklichungsfreiheit bedeutsam geworden sind: Jenseits des Gewissensapparates wurden Zonen der Außensphäre erwogen m i t unterschiedlicher Schutzwirkung für gewissensmäßiges Verhalten: die Individualsphäre als Garantie des Wesensgehaltes, die Intimsphäre als staatsfreier Raum m i t begrenzbarer Staatsintervention sowie die Öffentlichkeitssphäre als Bereich ideologischer Neutralität, i n dem sich nur mehr die Ideologie des Grundgesetzes als allgemeines Gebot auswirkt. Es scheint, als würde durch diese Schutznorm dem notwendigen Verhaltensspielraum des Gewissens hinreichend Rechnung getragen und als sei eine Gewissensbetätigung i n der Öffentlichkeitssphäre nicht besonders schutzbedürftig, sofern der Staat nur ein gewisses Wohlverhalten an den Tag legt. Diesem Problem w i r d durch eine funktionale Betrachtung des Grundrechts der Gewissensfreiheit nachzugehen sein, und zwar ohne Rücksicht darauf, welcher Schutzzone die Gewissensverwirklichung angehört. 3.2.1. Die „Funktion" i m Recht Der Begriff der Funktion i m Recht ist noch weitgehend ungeklärt. Demgegenüber wächst die Bedeutung dieses Begriffs i n allen Wissenschaften ständig 2 9 7 , i m Bereich der Sozialwissenschaften vor allem i m Rahmen der Soziologie 298 . Während hier der frühere Funktionalismus die Funktion als zweckdienliche Leistung verstand, sieht der herrschende kausalwissenschaftliche Funktionalismus i n der Funktion den Beitrag, den ein Systemteil zur Erhaltung des Systems leistet; Bezugspunkt ist also der „Bestand" des Systems. Die daraus resultierende, unüberschaubare Vielzahl möglicher Kausalreihen sucht Luhmanns299 Äquivalenzfunktionalismus zu reduzieren; er versteht die Funktion als ein regulatives Sinnschema, das einen Vergleichsbereich äquivalenter Leistungen organisiert; (systemtheoretischer) Bezugspunkt des Vergleichs sei das Problem der „Stabilisierung" des Systems. Für die Rechtswissenschaft w i r d das Interesse am Funktionsbegriff und seinen Leistungen erst i n jüngster Zeit drängender 300 . Krawietz 297 Vgl. dazu die knappe Übersicht bei Krawietz, Recht u n d Funktion, S. 39 ff. Z u m Begriff der „ F u n k t i o n " vgl. auch Merton , Funktionale Analyse, S. 120 ff. 298 Zusammenfassend u n d weiterführend: Luhmann, Soziologische A u f k l ä rung, S. 9 - 30. 299 Ebd., S. 13 ff. 300 S. die Nachweise bei Krawietz, Recht u n d Funktion, S. 42 ff.; ders., JuS 70, S. 431 f. Ferner: Horvâth, ÖStZoR N.F. 1, S. 353 (Recht u n d Wirtschaft stünden i n einer bestimmt gearteten „funktionalen Beziehung"); Ehmke, W D S t R L 20,

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untersucht hierzu die Funktion des positiven Rechts. Er hebt die Funktion von bloß kausaltheoretischem Verständnis der Wirklichkeit ab; die rechtsfunktionale Betrachtung setze es jedoch voraus 3 0 1 . Die Funktion sei der Finalität zuzuordnen 302 . Andererseits sei das Recht auf die soziale Wirklichkeit bezogen; darin liege seine funktionale Bedeutung 3 0 3 . Die soziale Funktion des positiven Rechts der Gegenwart sieht Krawietz „ i n der Verwirklichung der durch eine Rechtsnorm gesetzten oder doch vorausgesetzten praktischen Zwecke" 3 0 4 . — W i l l man nach diesen Äußerungen Krawietz 9 die Funktion der Norm nicht lediglich ihrem objektiven Zweck gleichsetzen 305 , so scheint die rechtsfunktionale Betrachtung nur dahin zu gehen, den objektiven Zweck von subjektiven Zwecken abzuheben 306 . Mag damit rechtstheoretisch ein erster Schritt getan sein 3 0 7 , so ist doch methodisch nichts gewonnen. Eine funktionale Betrachtung verspricht jedoch auch hier neue Orientierungsmöglichkeiten 308 . „Funktion" (im methodischen Sinne) sei i m folgenden der Beitrag, den eine Rechtsnorm zur Erreichung des gesetzgeberischen Zweckes i n der sozialen Wirklichkeit leistet. Bezugsgesichtspunkt ist also der „gesetzgeberische Zweck", d. h. der Zweck, der sich durch die Wertungen und die Willensentscheidung des Gesetzgebers i n der Rechtsnorm objektiviert hat. Dieses Verständnis des Funktionsbegriffes bedeutet i m Grundsatz nichts anderes als das Kausalmodell der jeweiligen Rechtsnorm, für das Grundrecht der Gewissensfreiheit etwa^ welche kausalen Abfolgen es S. 70 (In allen Fragen der Grundrechtsinterpretation gehe es zunächst „ u m das Vorverständnis der Bedeutung u n d F u n k t i o n der Grundrechte"); Luhmann, AöR 94, S. I f f . ; ders., Grundrechte, durchgehend; Otto, ARSP 55, S. 509 (der „Idee der F u n k t i o n " entspreche „das Denken i n der Kategorie der Struktur") ; Larenz, Methodenlehre, S. 451, der eine Rechtsnorm auf „ i h r e F u n k t i o n i m Ganzen einer rechtlichen Regelung" h i n untersucht u n d (S. 459) dementsprechend den „Gedanken der Funktionsgerechtigkeit" i n den Vordergrund rückt. Überhaupt ist der unterschiedliche Wortgebrauch „ F u n k t i o n " zu beachten. 301 Krawietz, Recht u n d Funktion, S. 26. 302 Ebd., S. 21. 303 Ebd., S. 44,46. 304 Ebd., S. 65, vgl. auch S. 66. 305 I n diese Richtung weisen jedoch die Ausführungen von Krawietz, a.a.O., S. 68 f., 71, 74 ff., sowie die ausführlichen Darlegungen zur Finaldetermination (S. 76 ff.). 306 vgl. Krawietz, a.a.O., S. 72 ff., 117 f. (s. hierzu auch Luhmann, AöR 94, S. 2). 307 Dies ist hier nicht zu erörtern, erscheint jedoch problematisch, schon m i t Rücksicht auf den unbestimmten Begriff ,Rechtstheorie'. 308 v g l auch die funktionalen Interpretationen von Luhmann, AöR 90, S. 257 ff.; ders., F u n k t i o n der Gewissensfreiheit, S. 9 ff.; Podlech, Gewissensfreiheit, S. 33 ff.; ders., JuS 68, S. 123 f.; ders., W D S t R L 28, S. 132 f.; Bäumlin, W D S t R L 28, S. 8 f.; Böckenförde, ebd., S. 67 ff. Vgl. auch ff. Weber, N J W 68, S.1611.

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§ 7 Die soziale W i r k l i c h k e i t

i n der sozialen Wirklichkeit hervorruft (etwa gar Desintegration des Staatswesens, Störung demokratischer Majoritäten?). Damit w i r d der Funktionsbegriff eingespannt zwischen den Zweck und die soziale W i r k lichkeit: die (methodische) Funktion ist gleichsam das Gelenk, das die tatsächlichen Wirkungen der Rechtsnorm i n der sozialen Wirklichkeit auf die rechtliche Analyse der Norm überträgt und zum Zweck der Norm i n Beziehung setzt 3 0 9 . Das bedeutet: Nicht nur i n der Phänomenanalyse, sondern auch i n der Funktionsanalyse liegt eine Einbruchstelle der Realität i n die Norm; die Funktion der Norm beschreibt ihre Wirkung für das m i t der Norm angezielte Phänomen; kausal bewirkte Realität läßt sich am Zweck der Norm überprüfen. Die Funktion der Norm w i r d somit zum „Kontaktbegriff" 3 1 0 zwischen Rechtsnorm und sozialer Wirklichkeit. Dies besagt für die Gewissensfreiheit, daß die W i r k u n g des Grundrechts i n der sozialen Wirklichkeit nachzuprüfen 311 und am Zweck des Grundrechts, zur Freiheit und Würde des Individuums beizutragen, zu messen ist. Die tatsächlichen Wirkungen der Rechtsnorm i m Sozialleben können funktional sein, d. h. sie entsprechen dem vom Gesetzgeber verfolgten Zweck, fördern oder verstärken ihn. Sind sie irrelevant, so verhalten sie sich neutral zum gesetzgeberischen Ziel. Dysfunktional sind sie nur dann, wenn sie den normierten Zweck beeinträchtigen oder vereiteln, etwa zur Freiheit und Würde des Individuums i m Rahmen der Gewissensfreiheit nicht nur nichts beitragen (Irrelevanz), sondern i h m sogar zuwiderlaufen. Läßt sich i m Falle irrelevanter oder dysfunktionaler Wirkungen die Rechtsnorm nicht um- oder neu interpretieren, ohne den gesetzgeberischen Zweck zu verändern, so kann nur der Gesetzgeber tätig werden; denn anderenfalls würde der Zweck durch die Kausaleinsicht ersetzt. Die Folgen der N o r m 8 1 2 sind am gesetzgeberischen Zweck zu diskutieren. Da aber der Zweck hinzunehmen ist, stützen „funktionale" Folgen 809

Nachdrücklich fordert Schindler, Verfassungsrecht, S. 65 ff., die „ W i r k u n g der Gesetze" i m außerrechtlichen Raum zu berücksichtigen, insbesondere die indirekten Wirkungen, die den direkten zuwiderlaufen, j a sie aufheben k ö n n ten. Z u ihrer Erkenntnis sei der Gesetzgeber auf seine Einsicht, seine I n t e l l i genz, sein Feingefühl verwiesen (S. 67). W i r d die Gesetzgebung vorwiegend deduktiv aus abstrakten Prämissen abgeleitet m i t geringer Berücksichtigung der Wirkungen, so ergäben sich Fehlgriffe (S. 68). Die Frage der W i r k u n g der Gesetze sei aber ebensosehr f ü r die V e r w a l t u n g u n d Rechtsprechung v o n Bedeutung (S. 69). Vgl. auch Herzog, DVB1. 67, S. 719: Entscheidend sei, „die wesentlichen U m weltbedingungen herauszuarbeiten, i n denen das Grundrecht der Gewissensfreiheit zu wirken h a t . . . ". — Hervorhebung von mir. 310 Formulierung nach Luhmann, Grundrechte, S. 12 F n 14. 311 Vgl. Herzog, a.a.O. (Fn 309). 312 Z u r Folgendiskussion vgl. Podlech, AöR 95, S. 197 ff. S. ferner: A. Kaufmann, Geschichtlichkeit des Rechts, S. 273; Zippelius, Wahrheit, S. 520 („Prinzip der Konsequenz").

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lediglich die Teleologik, mögen die Wirkungen auch erst günstig bewertet oder überhaupt erst durch diese „funktionale Kontrolle" einsehbar, diskutierbar und damit überprüfbar werden. „Irrelevante" oder „dysfunktionale" Folgen ermöglichen nur rechtspolitische Konsequenzen, es sei denn, daß die Rechtsnorm zur Erreichung des angestrebten Zweckes schlechthin ungeeignet ist. Ist ein gesetzgeberischer Zweck nicht feststellbar oder rechtlich unzulässig, so reduziert sich die Funktion (in methodischem Sinne) auf den Beitrag, den die Rechtsnorm i n der sozialen Wirklichkeit leistet. Hier kann nur die Folgendiskussion festlegen, welche Folgen funktional, irrelevant oder dysfunktional sind. Denn nur die Folge ist hier noch i n der Lage, eine Begründung für die Rechtsnorm zu geben, w e i l der Zweck als Begründung ausfällt. Die Folgendiskussion und die damit verbundene Plausibilitätsargumentation sind intersubjektiv vollziehbar, damit diskutierbar und überprüfbar. A u f diese Weise ist es möglich, einen Konsens über eine Präferenzentscheidung herbeizuführen und der Rechtsnorm einen „Ersatzzweck" zu verleihen. Die funktionale Betrachtung einer Rechtsnorm, vor allem die funktionale Kontrolle, wäre undurchführbar, wollte man die tatsächlichen Wirkungen der Norm i m einzelnen empirisch erheben und auswerten; denn die Wirkungen eines bestehenden Rechtssatzes sind schwer abzuschätzen, geschweige denn i n ihrer Verästelung zu verfolgen. Es empfiehlt sich deshalb, i n einem Gedankenexperiment die auszulegende Rechtsnorm als nicht bestehend zu fingieren 313. Damit w i r d ein Feld wahrscheinlicher Wirkungen sichtbar, nach dessen (ungefährer) Abgrenzung zur Folgendiskussion übergegangen werden kann. Stellt man sich i n diesem Sinne vor, das Grundrecht der Gewissensfreiheit bestünde nicht, so können zwei wahrscheinliche Folgen unterschieden werden: eine soziale Wirkung, die die Folgen für die Umwelt des Individuums, vor allem das Sozialsystem, näher beschreibt (die soziale Funktion der Gewissensfreiheit) und die individuelle Wirkung, welche die Folgen des Nichtbestehens der Gewissensfreiheit für das Individuum selbst, für sein psychisches System, klarstellt (individuelle Funktion der Gewissensfreiheit) 3 1 4 . Beide Wirkungen sind dahin zu überprüfen, ob sie funktional 318 Vgl. Horvâth, östZöR N. F. 1, S. 357: Das Recht leiste Höchstes auf dem Verfahrensweg, durch Organisation u n d Veranstaltlichung. Diese Leistung ordnungsstiftender A r t werde offenbar, w e n n m a n sie sich „als ausgeschaltet" vorstelle (zusti.: Krawietz, JuS 70, S. 431 F n 46). Ä h n l i c h Luhmann, Soziologische Aufklärung, S. 24 f.: Störungen eines normalen Ablaufs seien günstig gerade f ü r das Studium der normalen, durch sie unterbrochenen Systemzusammenhänge. — Vgl. auch V. Kraft, Erkenntnis u n d Moral, S. 111. 314 Luhmann, AöR 90, S. 279 F n 38, trennt hier sorgfältig die möglichen Systemreferenzen: er behandle nicht die F u n k t i o n der Gewissensfreiheit f ü r die Stabilisierung konkreter Persönlichkeiten, sondern die F u n k t i o n f ü r das

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sind, also einen Beitrag zur Erreichung des Zwecks der Gewissensfreiheit leisten, d. h. kurz gesagt: ob sie zur Freiheit und Würde des Individuums beitragen. 3.2.2. Die soziale Funktion der Gewissensfreiheit Das Problem der sozialen Funktion der Gewissensfreiheit 315 umfaßt also die Frage: „Wie w i r k t das Grundrecht der Gewissensfreiheit i m Sozialsystem der Gesellschaft und wie ist diese seine Wirkung m i t seinem Zweck vereinbar?" Nicht zu erörtern ist deshalb die Funktion des Gewissens i n der Gesellschaft, die soziologisch wohl allgemein als innere soziale Kontrolle verstanden w i r d 3 1 6 . Einen soziologischen Ansatz, die soziale Funktion der Gewissensfreiheit zu analysieren, bringt Luhmann317 : Die Identität des Menschen sei dadurch gefährdet, daß die Potentiale des Ich weit größer seien als der Bereich von Informationen, die der Mensch zur Einheit eines sinnvollen persönlichen Daseins zusammenordnen kann. Seine Persönlichkeit sei das System, das i n die Information eine Grenzlinie ziehe zur Deutung zurechenbarer und nicht zurechenbarer Informationen. I m Bereich der Kommunikation habe der Mensch sich als identische Persönlichkeit darzustellen, indem er sich selbst objektiviert und sein Verhalten auf eine individuell-sinnvolle, konsistente Selbstdarstellung hin kontrolliert. Die Funktion der Persönlichkeit liege i n der Reduktion der Potentialitäten des Ich zu einer kohärenten, individuellen Selbstdarstellung 318 . Da aber das Ich potentieller Feind des schon geformten Selbst, drohende Zerstörung der Persönlichkeit ist, bedarf es der Kontrollinstanzen gegenüber dem Ich; eine von ihnen sei das Gewissen. I n i h m komme er zur Darstellung vor sich selbst i m Hinblick auf die Identität der Persönlichkeit 3 1 9 . Nun habe die Identität als zeitüberwindende Generalisierung einen Vergangenheits- und Zukunftsaspekt; daher habe das Gewissen

Sozialsystem der Gesellschaft. Insoweit u n k l a r : Podlech, Gewissensfreiheit, S. 31 ff.; Bäumlin, W D S t R L 28, S. 8 f.; Böckenförde, ebd., S. 67 ff. 315 v. Burski, Zeugen Jehovas, S. 76 ff., verweist zwar auf die „Bedeutung (des Gewissens) f ü r die Gemeinschaft", meint aber damit keine wissenschaftlich empirische Untersuchung. 316 Vgl. etwa Heintz, Soziologische Theorie, S. 76 f., 118 u. ö. Vgl. auch Dahrendorf, Pfade, S. 164; Bouman, Soziologie, S. 58 f. 317 AöR 90, S. 264 ff. Zusti.: Podlech, Gewissensfreiheit, S. 31 ff.; ders., JuS 68, S. 123; Böckenförde, W D S t R L 28, S. 67 ff. — Kritisch: Scholler, DÖV 69, S. 535 ff.; Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 34 ff. 318 S. hierzu auch Cooley, H u m a n Nature, S. 367 (bei der Besprechung des Gewissens: the right must m a r k a track across the ,waste abyss of possibility'"). 319 Vgl. auch Bäumlin, W D S t R L 28, S. 18; Kühne, Vorgänge 72, S. 114.

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auch normierende Funktion 8 2 0 . I n der Orientierung an Vorstellungshilfen der Außenwelt liege bereits Verzicht auf Freiheit. Gewissen könne nur haben, wer sich selbst töten könne. — Nach dieser sozialbezogenen Gewissenskonzeption leitet Luhmann321 zum neuen Gesichtspunkt der Differenzierung der Sozialordnung über: Die differenzierte Sozialordnung brauche und bedinge individuelle Persönlichkeiten m i t hohem Identifizierungsvermögen, müsse aber so belastete Individuen entlasten, u m die sozialen Rollenverflechtungen nicht zu gefährden. Persönliche und soziale Systeminteressen würden nun dadurch koordiniert und einem Systemkonflikt entzogen, daß der einzelne an seinem Gewissen normalerweise vorbeigeleitet werde, ohne i h m die Möglichkeit einer Gewissenssteuerung i n Krisenfällen zu nehmen. Das Vorbeileiten geschehe einmal durch Abbau von Anlässen zur Gewissensorientierung, durch Bereitstellen von Alternativen, durch Institutionalisierung „unpersönlicher" Handlungsweisen und das Grundrecht der Gewissensfreiheit. Zum anderen würden nicht zu verantwortende Folgen i n den Rollenbeziehungen m i t Warnfunktion sichtbar gemacht, das Gewissen als Sanktion benutzt. Funktion der Gewissensfreiheit sei nicht, dem Individuum die Gewissensorientierung zu ermöglichen. Die Funktion des Grundrechts der Gewissensfreiheit bestünde vielmehr darin, Gewissensentscheidungen zu ersparen, w e i l sie zu unberechenbaren Unterbrechungen i n den Rollenbeziehungen führten 3 2 2 . — Damit ergäben sich folgende Entscheidungshilfen: U m den Konflikt zu verringern, gälte zunächst: „Die Folge des Konfliktes muß tragen, wer über die Alternativen verfügt 3 2 3 ." Notfalls sei der Staat verpflichtet, Alternativen bereitzustellen 324 . Gebe es auf keiner Seite zumutbare Alternativen, so sei der Bürger freizustellen; dies sei bei enger Interpretation des Gewissens tragbar 3 2 5 . Luhmanns Prämissen, die er kaum offenlegt, gründen i n anthropologisch-philosophischen Gedankengängen, i n einer „existenzialen Interpretation" des Gewissens sowie i n der bekannten Konfrontation Ich: Selbst, die vom Gewissen als Zensor überwacht und gesteuert wird. Ihnen sei nicht weiter nachgegangen. — Auch Einwände aus dem hier erarbeiteten Gewissensverständnis, etwa das Gewissen sei notwendiges Teil- und Begleitphänomen einer sittlichen Haltung und nicht eigenes 320 S. n u n auch Luhmann, F u n k t i o n der Gewissensfreiheit, S. 16: Gewissen als „System der Steuerung selektiver Erlebnisverarbeitung". 321 AöR 90, S. 271 ff. 322 Luhmann, Grundrechte, S. 77 F n 63; ders., AöR 90, S. 271, 280. 323 Luhmann, AöR 90, S. 283; ders., F u n k t i o n der Gewissensfreiheit, S. 19. 324 Luhmann, F u n k t i o n der Gewissensfreiheit, S. 19, i m Anschluß an Podlech, Gewissensfreiheit, S. 35 ff. 325 So neuerdings Luhmann, a.a.O., S. 19 ff.; abweichend noch ders., AöR 90, S. 285 ff.; ders., Grundrechte, S. 76 f.

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Steuerungssystem 826 , oder die Deutung, das Grundrecht der Gewissensfreiheit erspare nicht die Kontrolle des Verhaltens auf Gewissens- d. h. Haltungsmäßigkeit hin, sondern erspare allenfalls das Konflikterleben m i t einer Entscheidung gegen das Gewissensgebot —: schon diese Einwände würden Luhmanns anders konzipiertem Gewissensbegriff nicht gerecht. — Dahingestellt seien auch die systemtheoretischen und äquivalenzfunktionalen Grundlagen des Konzepts, insbesondere auch der Gesichtspunkt sozialer Differenzierung. — Vielmehr werde die von Luhmann erarbeitete soziale Funktion der Gewissensfreiheit lediglich daraufhin überprüft, ob sie (im rechtlich-methodischen Sinne) funktional, irrelevant oder dysfunktional ist. Luhmanns Ansatz zielt nur scheinbar auf die Person des Menschen, seine Bewahrung vor Identitätsverlust und die Erhaltung individueller Selbstdarstellung. I n Wirklichkeit ist Luhmann nur vom Gesichtspunkt „Stabilisierung" des Sozialsystems der Gesellschaft her zu verstehen. Dies zeigt sich nicht nur i n seinem eigenen Hinweis auf die unterschiedliche Systemreferenz 827 , sondern auch etwa darin, daß es i h m u m die Frage geht, wie es zu vermeiden sei, daß der einzelne eine Quelle sozialer Störungen und Enttäuschungen werde, wenn er auf sein Gewissen hört 8 2 8 . Doch zeigt sich bereits hier eine Trennung zwischen der möglichen Intention des Verfassungsgebers und der Faktizität: die Verfassung kann den Störfaktor „Gewissen" bis zu gewissen gemeinschaftssprengenden Grenzen billigend i n Kauf nehmen und gerade hierin den Sinn des Grundrechts erblickt haben! — Der gleiche Stabilisierungsgedanke durchzieht auch die sonstige Analyse 8 2 9 . Das Individuum w i r d hier notwendig nur gesehen als ein M i t t e l i m Rahmen des Stabilisierungsproblems; diese bloße „Mittelfunktion" ist hier auch legitim und tendiert von hieraus zum Konvergenzgedanken der Verfassung, die die Pole des „Individuums", des „Dritten" und der „Gesellschaft" zusammenzubringen hat. Luhmann zeigt deshalb auf der Ebene der Verfassung nur, daß Dritter und Gesellschaft durch das Grundrecht der Gewissensfreiheit zugunsten des Individuums nicht gefährdet werden. Oder anders ausgedrückt: die „Reflexwirkung" der Gewissensfreiheit auf Dritte und auf die Gesellschaft steht grundsätzlich der Tendenz des Grundgesetzes, die Pole 326

So aber Luhmann, F u n k t i o n der Gewissensfreiheit, S. 16. AöR 90, S. 279 F n 38. 328 Ebd., S. 279 f. Kritisch auch Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 19 f. 329 A b e r auch das gesamte Werk Luhmanns, das v o n der Grundannahme ausgeht, daß „der Bezugsgesichtspunkt funktionalistischer Analysen ein Stabilisierungsproblem . . . ist" (ders., Soziologische Aufklärung, S. 18; vgl. auch S. 27 u. ö.); ähnlich ders., Grundrechte, S. 181 u. ö.; ders., AöR 94, S. 8 f., 12 ff. u. ö. Dementsprechend ist f ü r Luhmann, Grundrechte, S. 216, die Funktionsfähigkeit der Systeme „das begründende Absolute". 327

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zu konvergieren, nicht entgegen, kommt vielmehr dieser Tendenz entgegen und kann deshalb von dieser Seite nicht angegriffen werden. Bezüglich des Konvergenzgedankens ist also die soziale Funktion des Grundrechts der Gewissensfreiheit funktional. Dies interessiert jedoch für die Auslegung der Gewissensfreiheit nicht. Ihr Zweck ist es, zur Freiheit und Würde des Individuums beizutragen. Unter diesem Aspekt ist es notwendig gleichgültig, ob die Stabilisierung des Sozialsystems gewährleistet ist oder nicht. Wäre sie es nicht, so wären unter dem Aspekt der Konvergenz die dysfunktionalen Folgen der Gewissensfreiheit zu behandeln und aufzulösen („Schrankenproblem"). Das bedeutet: Die soziale Funktion der Gewissensfreiheit (Gewissensentscheidungen zu ersparen, u m unberechenbare Unterbrechungen i n den Rollenbeziehungen zu verhüten) vermag nichts zur „Freiheit" und „Würde" des Individuums auszusagen. Sie ist insoweit irrelevant; das Individuum w i r d durch die soziale Funktion der Gewissensfreiheit gar nicht angezielt. Neuerdings versucht Ek. Stein 830 den „Sinn des Grundrechts" der Gewissensfreiheit vom demokratischen Prinzip her zu bestimmen. Auch dieser Versuch stellt sich als eine Analyse der sozialen Funktion der Gewissensfreiheit dar, allerdings eingeengt auf die Wirkung der Gewissensfreiheit i n einem demokratischen Sozialsystem: Entscheidendes K r i terium für ein gewissensmäßiges Verhalten sei das Bewußtsein der Verantwortung für die von dem Verhalten betroffenen Personen oder Gruppen 8 3 1 . Die Gewissensfreiheit schütze das Bewußtsein der Verantwortung und die Bereitschaft zur Verantwortung für andere. Sie garantiere das Recht des einzelnen, sein Verhalten an Werten, am Wohl der M i t menschen und an öffentlichen Interessen zu orientieren, und ermögliche dadurch, soziales Geschehen aus einem sinnlosen, blindkausalen Schicksal i n ein finales Wirken für sinnvolle Ziele umzuwandeln. Damit würden für ein Sozialsystem Verantwortungsbewußtsein und Verantwortungsbereitschaft seiner Mitglieder bedeutsam, jedoch entscheidend wichtig für den Staat, der das Monopol auf die Anwendung physischer Gewalt beanspruche und es durch das demokratische Prinzip legitimiere. Dieses Prinzip korreliere i n zweifacher Hinsicht mit der Gewissensfreiheit: einmal werde der Ausgangspunkt der Demokratie — der Grundsatz der Ausübung der Herrschaft durch die Beherrschten — gegenüber der überstimmten Minderheit durch das Mehrheitsprinzip durchbrochen, und dieser Bruch erfordere Toleranz gegenüber der M i n derheit — insbesondere wenn deren Widerstand auf Gewissensgründen, d. h. auf Gründen der Mitverantwortung, basiere —, soll nicht demo380 331

Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 48 ff. Ebd., S. 45 f.

10 Freihalter

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kratische Legitimität i n bloße Legalität umschlagen. Zum anderen bedürfe die Demokratie der Gewissensfreiheit auch, u m die Mitarbeit einer Mehrheit von Staatsbürgern zu sichern; denn sie stehe und falle mit der Bereitschaft ihrer Bürger zur Mitverantwortung. Demnach sei Gewissensfreiheit keine Freiheit von etwas, sondern i n erster Linie eine Freiheit zur Mitverantwortung. Sie schütze das Verantwortungsbewußtsein und die Verantwortungsbereitschaft der Staatsbürger, u m sicherzustellen, daß dieser Staat von allen Staatsbürgern getragen und so demokratisch legitimiert werde. Deshalb genüge es auch nicht, wenn sich die Staatsbürger insgeheim Gedanken darüber machten, was zu t u n sei; denn damit beteiligten sie sich gerade nicht an der demokratischen W i l lensbildung. Daher umfasse i n einer Demokratie die Gewissensfreiheit nicht nur das forum internum, sondern gerade auch die Freiheit der Gewissensbetätigung 332 . Dies gelte jedoch nur soweit, wie die Bezugsgruppe des Gewissens des einzelnen reiche, d. h. sie erfasse nur die Gesamtheit derjenigen Personen, an die der handelnde Gewissensträger i n der Weise gebunden sei, daß er die Folgen für die Betroffenen i n gleicher Weise berücksichtigt wie die Folgen für sich selbst. M i t anderen Worten: Freie Gewissensbetätigung sei nur dort vom Grundrecht der Gewissensfreiheit gedeckt, wo die Betroffenen vom Verantwortungsbewußtsein m i t umfaßt werden. Die Bezugsgruppe könne also kleiner sein als der Kreis der Betroffenen 3 3 3 . Zwar ist das Verantwortungsgefühl notwendiges Element einer sittlichen Haltung und w i r d als solches i m Gewissenserlebnis bewußt, doch führt es — außer über eine bloße Wortbrücke — nicht zur Verantwortungsbereitschaft; denn ein Bewußtsein impliziert keine Bereitschaft. Vielmehr wurde hier ungenannt ein neues Element der Haltung, die Verhaltenskomponente, eingeführt. Schon dies zeigt, daß bei der Analyse des Gewissensphänomens das Merkmal des Verantwortungsbewußtseins nicht ausreicht. Andererseits w i r d das Merkmal zu eng aufgefaßt: Bezugshorizont sind nicht nur die „anderen", sondern auch die eigene Person. Dieser Befund verbietet es, das Verantwortungsbewußtsein zu verabsolutieren. Das besagt: der einzelne kann sich zunächst selbst dafür verantwortlich fühlen, daß andere (ζ. B. andere Rassen, Religionen) vernichtet und ausgerottet werden. Durch Projektion kann er aber dann diesen psychischen Inhalt i n die Betroffenen legen, also aus der Hinnahme der Folgen für sich selbst die Folgen auch für die „anderen" bejahen und nunmehr aus dem Verantwortungsbewußtsein für die „anderen" heraus, dazu geführt werden, diese physisch zu vernichten, etwa u m ihre Seele zu erretten (Hexenwahn!). Auch dies sind Gewissensüberzeugungen; das Merkmal des Verantwortungsbewußtseins reicht also nicht 332 333

Ebd., S. 52. Ebd., S. 45 f.

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aus, u m solch gewissensmäßiges Verhalten aus dem Schutzbereich der Gewissensfreiheit abzugrenzen, abgesehen davon, daß sich auch ein angebliches Verantwortungsbewußtsein jederzeit verbalisieren läßt. Diese Möglichkeit, eine sittliche Haltung jeden Inhalts zu internalisieren, verweist von selbst auf die „Schranken" des Grundrechts. Der Begriff der ,Bezugsgruppe' eignet sich jedenfalls nicht dazu, die Freiheit der Gewissensbetätigung schon vom Gewissensphänomen her zu begrenzen, da Bezugsgruppe und Betroffene durch psychische Mechanismen beliebig auswechselbar sind. Bedenken bestehen auch gegen die angebliche Korrelation des demokratischen Prinzips m i t zwei Funktionsweisen des Grundrechts der Gewissensfreiheit: der Toleranzgewährleistung gegenüber der überstimmten Minderheit und Sicherstellung der Bereitschaft demokratischer Staatsbürger zur Mitverantwortung. Wäre diese Analyse richtig, so müßte sich ein gewisser Parallelismus von Demokratie und Grundrecht der Gewissensfreiheit historisch nachweisen lassen. Demgegenüber zeigt sich jedoch, daß das Grundrecht der Gewissensfreiheit sich keiner bestimmten Staatsform zuordnen läßt. Notwendig wurde es erst m i t dem Eindringen pluralistischer Strömungen; „gewissensrelevant" wurde nur die Gewaltanwendung über eine Minderheit; nicht dagegen vermag das Überstimmtwerden als solches ein gewissensspezifisches Merkmal hervorzubringen. Aber auch eine Funktion der Gewissensfreiheit dahin, die Bereitschaft zur Mitverantwortung zu sichern, läßt sich schon i n dieser allgemeinen Form historisch nicht belegen, umso weniger unter Beschränkung auf demokratische Sozialsysteme. Historisch hat sich das Grundrecht der Gewissensfreiheit allenfalls dahin ausgewirkt, den Geschützten ein Leben i n dem jeweiligen Staate und unter der jeweiligen Staatsform zu ermöglichen; ein Mehr an Teilnahme am staatlichen Leben läßt sich aus der Gewissensfreiheit nicht herleiten. Hier w i r d die Gefahr offenkundig, aus hochabstrakten Prinzipien, wie hier aus dem demokratischen Prinzip, nur herauszulesen, was vorher hineingelegt wurde. Unterstellt man jedoch die Richtigkeit der Analyse, so fragt es sich nach der Funktionalität der angegebenen Funktionsweisen, m. a. W. danach, ob die Funktionsweisen einen positiven Beitrag zur Freiheit und Würde des Individuums zu leisten vermögen. Es ist aber für die Freiheit und Würde des einzelnen notwendig gleichgültig, ob der Bruch m i t der Demokratie (!) Toleranz gegenüber der überstimmten Minderheit erfordert oder ob die Demokratie der Gewissensfreiheit bedarf, u m sich der Mitarbeit ihrer Bürger zu versichern. Eine Dysfunktionalität der Gewissensfreiheit i n dieser Hinsicht wäre anderweitig zu behandeln. Die angegebenen Funktionsweisen sind also für den Zweck der Gewissensfreiheit irrelevant. Daraus erklärt sich auch das erkennbare Bestreben, 1

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die angeblichen Funktionen i n Zwecke der Gewissensfreiheit umzudeuten („um"!); dies läßt sich aber auf dem Boden des Grundgesetzes und i m Bereich der Grundrechte nicht rechtfertigen. Auch wäre es dann nur noch ein kleiner Schritt, das Grund recht über die Deutung als „Freiheit zur Mitverantwortung" 3 3 4 i n eine Grundpflicht umzupolen. Aufgrund der Irrelevanz der angeblichen Sozialfunktion der Gewissensfreiheit kommt es deshalb nicht von ungefähr, daß die Rechtswissenschaft, soweit sie nicht versucht, den Zweck des Grundrechts umzudeuten, ganz von selbst i n den Sog der „Persönlichkeit" gerät 3 3 5 . Dem ist i m Rahmen der individuellen Funktion der Gewissensfreiheit nachzugehen. 3.2.3. Die individuelle Funktion der Gewissensfreiheit: Gefahren des staatlichen Zwangs Das Problem der individuellen Funktion der Gewissensfreiheit stellt sich dar als die Frage: „Wie w i r k t das Grundrecht der Gewissensfreiheit auf das Individuum und wie ist diese seine Wirkung m i t seinem Zweck vereinbar?" Konkreter gesagt: Es w i r d fingiert, daß keine Gewissensbetätigungsfreiheit bestünde, und nachgeprüft, wie sich dies auf das Individuum auswirkt. Angeknüpft w i r d hierzu am Gewissensphänomen, wie es oben dargelegt wurde. Nachdem i m Haltungssystem die Stufe der „Operation" bzw. der „ A k t der Umstrukturierung" erfolglos durchlaufen ist, stehen sich i m „Gewissenskonflikt" unversöhnlich das Gewissensgebot und das staatliche Begehren gegenüber. W i r d das staatlich geforderte Verhalten durch gleichlaufende Gewissensgebote oder -erlaubnisse verstärkt, so handelt es sich nicht mehr u m einen äußeren, sondern auch u m einen inneren Konflikt 3 3 6 . Hier besteht ein Widerstreit zweier Haltungen; die Person ist i n sich gespalten 337 . I m Ringen gleichwertiger sittlicher Haltungen t r i t t 334

Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 51. Geißler, Kriegsdienstverweigerung, S. 133 ff.; Podlech, Gewissensfreiheit, S. 31 ff. („Gewissensfreiheit als Ermöglichung konsistenter moralischer Selbstdarstellung") ; Bäumlin, W D S t R L 28, S. 18 („die Konstituierung oder Dekonstituierung der Person, . . . ihre Identität"); Böckenförde, ebd., S. 68 ( „ I n tegrität u n d Identität der Persönlichkeit"). Vgl. auch schon K. Peters, Überzeugungstäter, S. 269 („Personalverlust", „Personalzersetzung"), S. 270 („Substanzverlust"); ders., JZ 72, S. 520 ( „ i n seinem Persönlichkeitskern gebrochen"); Hesse, Grundzüge, S. 156 (Schutz der „geistig-sittlichen Persönlichkeit i n ihrer Identität"). 336 S. hierzu Lückert, Konflikt-Psychologie, S. 492 f.; Blum, Gewissen, S. 168 f. Ä h n l i c h (in der Sache) Pongratz, Menschliche Konflikte, S. 54, m i t der Unterscheidung zwischen einseitigen u n d zweiseitigen Gewissenskonflikten. Selbst Rohracher, Psychologie, S. 496 ff., spricht v o n „ K o n f l i k t e n " . 337 Rohracher, a.a.O., S. 469, deutet ζ. B. Schuld u n d Reue als innere „ E n t zweiung". 335

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zum Konflikt noch ein neues Element hinzu 3 8 8 : das Individuum hat individuelle Bedeutsamkeit und individuellen Stellenwert bei den Haltungen festzulegen, etwa den Rang von Tötungsverbot und Dienst am Vaterland, an der Familie oder anderen ideellen Werten. Hier handelt es sich um einen A k t autonomer Gewissensbildung. Das Rangverhältnis w i r d letztlich durch Entscheidung neu festgesetzt, geht als neue Struktur i n die sittlichen Wertkonzepte ein und w i r d der Gewissensreaktion und dem Gewissenserlebnis verfügbar. Dies zeigt, daß die Gewissensbildung noch bis i n den Konfliktbereich hineinragt, oder besser: daß sich „Operation" bzw. „Umstrukturierung" und Konfliktraum nur gedanklich weitgehend trennen lassen, während sie i n Wirklichkeit ineinander übergehen und i n fortlaufender Wechselwirkung stehen. Darüber hinaus kann aber die empfundene Ranggleichheit der Haltungen eine bloße „Erwartungstäuschung" (Fr. Krueger) sein; dies läßt sich letztlich nur nach dem Handlungsvollzug m i t den spezifischen Gewissenserlebnissen „guten" oder „bösen" Verhaltens feststellen. Zwischen den beiden konkurrierenden Alternativen kann das Individuum nur eine einzige wählen; es steht i n der Entscheidung 339 . Konfrontiert m i t einer ungelösten, multivalenten Situation, empfindet der einzelne das quälende Erlebnis des „affektiv Unvereinbaren" 3 4 0 , gefolgt von Unlust, Unsicherheit bis hin zu lähmender Angst. A l l diese Symptome emotionaler Spannung kennzeichnen die Konfliktsituation 3 4 1 . Zur Bearbeitung des Konflikts 8 4 2 steht dem Menschen ein „Arsenal" verschiedenster „Daseinstechniken" zur Verfügung, d. h. unbewußter, irrationaler oder bewußter „Kunstgriffe der menschlichen Natur zur Ermöglichung des Daseins" 3 4 3 . So kann er zu leistungsbezogenen Techniken 338 Vgl. auch Frankly Arch. ges. Psychol. 116, S. 344; Heinen, Gewissen, S. 119 f.; w o h l auch Geißler, Kriegsdienstverweigerung, S. 50 f. 339 Hierzu u n d zum folgenden vgl. Burghardt, Entscheidung, S. 103 ff.; Hedinger, Entscheidungen, S. 120 ff. (zum Entscheidungsprozeß) ; Heinen, Gewissen, S. 105,117 ff., 140 f. 340 Lückert, Konflikt-Psychologie, S. 493. 341 Pongratz, Menschliche Konflikte, S. 265, definiert: K o n f l i k t sei „jene (innere) Spannungslage, i n der die Person m i t unvereinbaren Bedeutsamkeiten (Wertungen) unter Entscheidungsdruck ringt". Vgl. auch seine Feststellung aktueller Wertungen u n d habitueller Wertgerichtetheiten i n Konfliktsituationen (S. 158). 342 Z u r Verlaufsgestalt des Konflikts, die hier nicht weiter interessiert: Pongratz, Menschliche Konflikte, S. 199 ff. 343 Thomae, I n d i v i d u m , S. 334. Heiss, Tiefenpsychologie, S. 290 ff., bezeichnet einen T e i l der gleichen V o r gänge als „tiefenseelische Funktionen" ; sie sind i n der Psychoanalyse als „ A b wehroperationen" u n d „Abwehrmechanismen" bekannt (s. hierzu etwa: Brenner, Psychoanalyse, S. 97 ff.). Eine andere Einteilung der Lösungsformen menschlicher Konflikte bringt Pongratz, a.a.O., S. 217 ff. Einige dieser Techniken w u r d e n schon bei der „Operation" ( „ U m s t r u k t u r i e rung") eingesetzt: zur K o r r e k t u r , rationalen Überprüfung u n d zur Auslotung

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„greifen" und damit erneut zur Phase der „Operation" oder „Umstrukturierung" umlenken. I n innerem Probierverhalten w i r d er finalgerichtet Prognosen über Erwünschtheit und Wahrscheinlichkeit beider Alternativen versuchen, u m die unklare Situation kognitiv und motivational zu strukturieren. Er versucht also, seine Konfliktlage durch die Antizipation künftiger Ereignisse und Zustände für die jeweilige Verhaltensmöglichkeit und der Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts geistig zu durchdringen, und dadurch die Valenz, die „Wertigkeit" der Alternativen auszumachen und miteinander zu vergleichen 344 . Dies ist für die Nichtbefolgung des staatlichen Begehrens relativ einfach; denn die möglichen Sanktionen ergeben sich unmittelbar aus dem Recht und sind durch eine „negative" Valenz gekennzeichnet. Hinzu treten meist noch die Verletzung wichtiger Rollenbeziehungen (etwa Familie usw.) sowie soziale Mißbilligung des als kriminell oder querulatorisch Beurteilten. Dem steht gegenüber das Gefühl der Selbstachtung sowie — selten und regelmäßig nur i n kleinen, geschlossenen Gruppen, insbesondere i n religiösen Sekten — soziale Anerkennung; jedoch w i r d i n modernen Großgesellschaften (erfolgloses) Märtyrertum keineswegs achtend anerkannt, sondern grundsätzlich m i t Lächerlichkeit erkauft, der „satirischen Sanktion" 3 4 5 der Gesellschaft, die sozial tödlich ist. Übert r i t t umgekehrt der einzelne das Gewissensgebot, so ergeben sich an negativ bewerteten Folgen allenfalls der Verlust des Selbstwertgefühls und mögliche Gewissensbisse, die er — da er die tiefergehenden Wirkungen nicht kennt — regelmäßig gering schätzen wird, bleiben i h m doch soziale Anerkennung und wichtige Rollenbeziehungen erhalten oder sind gegebenenfalls durch eine Ortsveränderung wieder zu erlangen. Hier werden sich als Daseinstechnik also häufig „Varianten der Anpassung" 3 4 6 durchsetzen, wenn es gelingt, den Eigenanspruch dem folgen zu lassen. Lediglich dort, wo das Individuum fest i n geschlossene Gruppen integriert ist und i m Einklang m i t der Gruppennorm handelt, muß es befürchten, sich die soziale Mißbilligung und den Ausstoß aus der Gruppe zuzuziehen. Gerade die „Zuschauerschaft" dieser anderen verstärkt die Konformit ä t 3 4 7 . Dies erklärt auch, warum i n Gewissensfragen die Angehörigen von Sekten unnachgiebig sind 3 4 8 . des Variabilitätsbereichs aufmerksamkeitsbezogene (attentive), koordinierende, steuernde u n d Anpassungstechniken; zur Änderung des Wertkonzepts selbst kognitive u n d creative Techniken (vgl. auch Thomae, a.a.O., S. 373 ff., 378 ff.). 344 Pongratz, Menschliche Konflikte, S. 153, 179 f., unterscheidet die Gewissenskonflikte nach dem Aspekt gleichwertiger, zweiwertiger oder unwertiger subjektiver Valenzen. 345 Vgl. Oldendorff, Sozialpsychologie, S. 114 f. 346 Vgl. Thomae, I n d i v i d u u m , S. 378 ff. 347 S. hierzu: Sarbin-AUen, Role Theory, S. 503, 529 ff.; Oldendorff, a.a.O., S. 116 ff.

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A l l diese und andere Erwägungen können i n die rationale Strukturierung der Situation eingehen, nicht jedoch i n der Mehrzahl aller Fälle. Vielmehr sind die meisten Elemente des Entscheidungsprozesses so vielfältig, verschlungen, unüberschaubar, unvollständig und schwach oder gar nicht bewußt, daß der einzelne sich ein vereinfachtes Modell der Situation zurechtlegt und eine befriedigende Lösung auf einem vorher gesetzten „Wunschniveau" anstrebt, mögen auch wichtige Alternativen und bedeutsame Werte völlig unbeachtet bleiben. Hier w i r d auch die Voraussetzung der sittlichen Haltung und damit die Stärke der Realisierungstendenz relevant. Hinzu treten allgemeine Grundeinstellungen, wie etwa Optimismus und Pessimismus. Unterstellt sei nun, daß es dem einzelnen mißlungen ist, den Gegensatz von Gewissensgebot und staatlichem Begehren aufzuheben und etwa auf einem „höheren" oder „tieferen" Niveau zu integrieren und damit die Spannungslage abzubauen. Er kann jedoch nicht blockiert bleiben. Die Notwendigkeit zwingt i h n zur Entscheidung über das staatliche Begehren. Fällt sie zugunsten des Gewissensgebotes aus, so w i r d das Individuum — neben der Erleichterung, sich überhaupt entschieden zu haben 3 4 9 — ein Gefühl der Gehobenheit und des Glücks empfinden, meist auch vermischt m i t einem leisen Gefühl des Unbehagens ob des Wagnisses. Das Haltungssystem hat sich wieder auf sein früheres Gleichgewicht eingespielt, die Spannungslage ist behoben. Entscheidet sich der einzelne gegen das Gewissensgebot und verhält sich dementsprechend gewissenswidrig, so werden zunächst Angst-, Schuld- und Schamgefühle auftreten. Spannungslage und Ungleichgewicht bleiben bestehen. Durch den ständigen Bruch der Gewissensnorm können aber m i t der Veränderung der Verhaltenskomponente allmählich auch die kognitive und die affektive Komponente der ethischen Einstellung umgestaltet werden und gleichsam „nachziehen" 350 . Durch diese „Korrumpierung" w i r d die Haltung selbst verändert; die Spannung i m Haltungssystem w i r d gelöst, es entsteht ein neues Gleichgewicht auf einem „tieferen" 3 5 1 Anspruchsniveau, auf dem sich das Haltungssystem inte348 Die heutigen Wellen v o n Kriegsdienstverweigerern dürften weitgehend Modetrends, Oppositionslust oder Bequemlichkeit entspringen. Sozialen Rückhalt sucht der einzelne jedoch bereits wieder durch den Zusammenschluß zu elitären Gruppen oder zu Vereinen der Kriegsdienstverweigerer. Daß hieraus wieder sittliche Haltungen entstehen können, versteht sich von selbst. 349 Hedinger, Entscheidungen, S. 135. 350 v g l . Oerter, Entwicklungspsychologie, S. 233 (m. w . N.). 351

Begriffe w i e „ K o r r u m p i e r u n g " , „tiefer — höher", „positiv — negativ" stellen keine Bewertung dar, sondern stellen sich auf den Standpunkt des I n d i v i duums vor dem Zeitpunkt, zu dem das staatliche Begehren erstmals an es herantrat. I n diesem Zeitabschnitt w a r die ursprünglich bestehende sittliche Gleichgewichtslage die „natürliche", alle anderen „höher — tiefer" usw.

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griert. Wertkonzepte und staatliches Begehren stimmen wieder überein mittels der Anpassungstechniken des Individuums; allerdings kann dadurch die Haltung auch ganz gelöscht werden. Die Haltungsänderung kann sich aber auch erneut durch eine leistungsbezogene Daseinstechnik über die kognitive Komponente vollziehen, sei es, daß das Individuum selbstgenügsam seine ursprünglichen Ziele als zu hoch gesteckt erkennt und seine Grenzen anerkennt, sei es, daß es i h m nunmehr gelingt, die Situation rational durchzustrukturieren, die durch das „böse" Gewissen angezeigte Dissonanz zu reduzieren und das Haltungssystem zu integrieren. Die gleichen haltungsändernden Prozesse können w o h l auch über die affektive Komponente eingeleitet werden. Hier w i r d man etwa Reue, Entsühnung, Hinnahme der Strafe und andere affektiv-emotionale Abläufe zu nennen haben. Auch hierdurch w i r d die Integrität der Person wieder hergestellt. Der einzelne nimmt sich so hin, wie er ist. Häufig, vor allem bei tiefverwurzelten Haltungen, w i r d es dem Individuum jedoch nicht gelingen, sich auf einem neuen, sei es einem „höheren", sei es auf einem „tieferen" Anspruchsniveau zu integrieren und damit die durch den Gewissenskonflikt und das gewissenswidrige Verhalten auftretende Gefahr der Desintegration der Person 352 positiv zu verarbeiten. Der scheinbar durchgestandene Konflikt schwelt weiter. U m die späteren Angst-, Schuld- und Schamgefühle zu besänftigen und das weiterhin bestehende Ungleichgewicht und die fortwährende Spannungslage zu überspielen, w i r d das Individuum m i t einer Reihe der verschiedensten Daseinstechniken versuchen, das Haltungssystem zu stabilisieren und damit sein weiteres Dasein zu ermöglichen 353 . Mittels defensiver Techniken i n einer A r t „Totstellreflex" kann der einzelne den Bruch des Gewissensgebotes rationalisieren, er kann das „böse" Gewissen einfach ignorieren oder ins Gegenteil verkehren, er kann Angst-, Schuld- und Schamgefühle verdrängen. Scheitern diese „Instrumente" der Lebensermöglichung oder reichen sie allein noch nicht aus, so w i r d das Individuum auf exgressive Techniken auszuweichen suchen, bei denen es „aus dem Spannungsfeld herausgeht", etwa durch Ortswechsel, Flucht i n die Utopiate, Flucht i n die K r a n k h e i t 3 5 4 oder Somatisierung des schwelenden 352 v g l . Z u r Integration der „Persönlichkeit" (wenngleich unter anderem Aspekt): Heintz, Soziologische Theorie, S. 192ff. S. auch schon Cooley, H u m a n Nature, S. 359, 361, 365. E i n ähnlicher Gedanke findet sich sinngemäß auch bei B V e r w G E 7, 242.248; Stadter, Gewissen, S. 9. — Nach Heinen, Gewissen, S. 196 (auch S. 200) bedarf es deshalb auch der Freiheit des Gewissens i m öffentlichen Leben; er bestreitet aber andererseits dem Kriegsdienstverweigerer das V o r liegen einer Gewissensentscheidung (ebd., S. 204). 353 Z u den „Daseinstechniken" i m folgenden: Thomae, I n d i v i d u u m , S. 389 ff. — Vgl. auch Plack, Gesellschaft, S. 191 ff., 263 ff. 354 Pongratz, Menschliche Konflikte, S. 239; Revers, S. 314 (Psychoanalytische Konflikte seien „allesamt . . . echte Gewissenskonflikte"); Heinen, Gewissen, S. 165 ff. Vgl. schon Freud, X I I I , S. 282 ff. S. auch Plack, Gesellschaft, S. 207 ff.

3. Schutz der Außensphäre durch das Grundrecht der Gewissensfreiheit

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Konflikts 3 6 5 . Dem einzelnen stehen auch noch aggressive Lebenstechniken zur Verfügung, sei es nach außen gegenüber Gruppen, anderen oder Objekten, sei es nach innen als Selbstzerwürfnis, Selbstzerfleischung bis hin zum Selbstmord 358 . Grad, A r t und Anzahl der eingesetzten Daseinstechniken werden i m einzelnen schwanken, doch w i r d sich sagen lassen, daß m i t zunehmender Verwurzelung der sittlichen Haltung auch die extremen Formen anwachsen werden, während leichtere Gewissenskonflikte sich durch „vordergründige" Techniken beschwichtigen lassen werden. Hinzuweisen bleibt noch darauf — und dies w i r d bedeutsam sein —, daß die genannten „Lebensinstrumente" auch schon vor der Entscheidung des Gewissenskonfliktes i m Konfliktbereich angewendet werden können, sei es, um der Entscheidung ganz auszuweichen (Krankheit, Somatisierung, Selbstmord), sei es, u m sie hinauszuzögern (Ortswechsel, Krankheit, Sichtreibenlassen, Utopiate, insbesondere Alkohol), sei es, u m sie vor sich zu rechtfertigen (Rationalisierung, „Totstellreflex"). A l l e Daseinstechniken durchziehen also den gesamten „Gewissensprozeß", den ein gewissenswidriges staatliches Begehren auslöst. Zusammenfassend läßt sich nunmehr feststellen, daß das Grundrecht der Gewissensfreiheit m i t der Teilfreiheit, sich gemäß seinem Gewissen verhalten zu dürfen, sich dahin auswirkt, daß das Individuum durch staatliches Begehren gerade nicht schwer beeinträchtigt, noch mitunter sogar i n den Tod getrieben werden kann. Bezieht man diese Schutzw i r k u n g der Betätigungsfreiheit auf den Zweck der Gewissensfreiheit, zur Freiheit und Würde des Individuums beizutragen, so ist die festgestellte Wirkung i n der Lage, den Zweck nicht nur zu ermöglichen, sondern ihn sogar zu fördern und zu stärken; sie ist funktional. 3.2.4. Schlußfolgerungen aus der funktionalen Betrachtung: Schutz der Öffentlichkeitssphäre — Entlastung des Gewissenskonfliktes von staatlichen Zwängen Sucht man nach den naheliegenden Schlußfolgerungen der „funktionalen Kontrolle", so erscheint nunmehr die Gewissensverwirklichungsfreiheit endgültig abgesichert. Damit ist nicht nur i n den von der Bestands- und Änderungsgarantie erfaßten Schutzzonen — Gewissensapparat, Individualsphäre, Intimsphäre — Gewissensbetätigung 355 Otfried Müller (zitiert nach Auhof er, S. 246): „ A u s der Gewissensnot entsteht soviel körperliches Leiden w i e durch die vereinigte W i r k u n g sämtlicher Bakterien." S. auch Heinen, Gewissen, S. 170, 196, 200; Plack, Gesellschaft, S. 199, 207 u. ö. 3W Vgl. auch Caruso, Jb. Psych. 1954, S. 351; Pongratz, Menschliche K o n flikte, S. 239 („Flucht i n den Tod"). — Z u den Folgen der „Aufsichnahme einer Gewissensentscheidung" vgl. auch K . Peters, JZ 72, S. 86.

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möglich, sondern auch i n der Öffentlichkeitssphäre; denn es läßt sich nicht ausmachen, daß Gewissenskonflikte nur dann entstünden, wenn gewissensmäßiges Verhalten i m Rahmen der Zonen verhindert würde. Vielmehr kann die Versagung der Gewissensverwirklichung i n allen Bereichen des individuellen Lebens zu Gewissenskonflikten f ü h r e n 3 5 6 3 . Deshalb ist auch eine weitere Aufteilung der Öffentlichkeitssphäre nicht mehr möglich 3 5 7 . Während es nach der Feststellung der Wirkung verhältnismäßig einfach war, die Funktionalität zu erkennen, ist es schwierig, festzustellen, an welchen spezifischen Prozessen das Grundrecht der Gewissensfreiheit eingreift. Wollte die Gewissensfreiheit den gesamten Gewissensprozeß entlasten, so könnte dem nur dadurch entsprochen werden, daß die Rechtsnormen unter einen generellen Gewissensvorbehalt gestellt w ü r den; denn jede Rechtsnorm kann irgendwie das Gewissen eines einzelnen berühren. Die generelle Geltung der Rechtsnorm wäre damit faktisch aufgegeben, jede Rechtsetzung lahmgelegt; denn es wäre i n der Tat ein „Gesetz, über dessen Geltung das Gewissen des einzelnen entscheidet, . . . kein Gesetz m e h r " 3 5 8 . Da nun das Grundgesetz die generelle Geltung notwendig — auch für sich — voraussetzt, kann Gewissensfreiheit keine Freiheit von Rechtsnormen und keine Nichtigkeit der generellen Regelung selbst bedeuten 359 , allerdings abgesehen davon, daß eine unmittelbar 35 a ® Diesen Zusammenhang der Gewissensverwirklichung m i t der i n d i v i d u ellen F u n k t i o n der Gewissensfreiheit verkennt Nagel, JR 72, S. 414, w e n n er bezweifelt, daß es dem „Außenseiter" möglich sein soll, den gewachsenen u n d nach moderner Aufassung religionsneutralen Sprachgebrauch ,Eid' umzustoßen. Es k o m m t eben nicht auf die Vorstellungen der Allgemeinheit, sondern allein auf die sittliche H a l t u n g m i t ihren Folgeerscheinungen an. 357 Demgegenüber unterscheidet Scholler, Person, S. 81 ff., insbes. S. 89, i m Spannungsfeld „Person u n d Öffentlichkeit" f ü r das Verhältnis von Presse u n d I n d i v i d u u m fünf „nicht-öffentliche Sphären": a) Intimbereich (er ist weiter als der „Gewissensapparat"); b) Geheimsphäre (die sich i n etwa m i t der „ I n dividualsphäre" decken, jedoch auch überschneiden kann, denn sie w i r d bei Scholler — S. 88 — nach dem Geheimhaltungswillen, hier jedoch nach der fehlenden I n t e r a k t i o n bestimmt); c) Eigenbereich (der sich m i t der „ I n t i m sphäre" weitgehend deckt; doch erstreckt sich diese auch i n den Intimbezirk Schollers — S. 87, 89). Die beiden letzten nicht-öffentlichen Sphären (Privatöffentlichkeit u n d Gemeinbereich) sowie die Öffentlichkeitsweisen (S. 90 ff.: Sphäre des öffentlichen Daseins; Teilöffentlichkeit des Staates; publizistische Öffentlichkeit) gehen hier i n der „Öffentlichkeitssphäre" auf, die unter dem Aspekt der Gewissensfreiheit nicht weiter auflösbar ist. Z u Schutzzonen vgl. ferner Scheuner, DÖV 67, S. 586, auch F n 18; Listi, Religionsfreiheit, S. 61, 65 u. ö. 358 So zutr.: A. Kaufmann, Gesetz u n d Recht, S. 371; ähnlich Welzel, Gesetz u n d Gewissen, S. 400; H. Weber, N J W 68, S. 1610; Scholler, DÖV 69, S. 528; Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 54. 359 Ebenso: B V e r f G N J W 72, S. 1184 (zur Glaubensfreiheit); Geiger, Gewissensfreiheit, S. 26; ders., Nonkonformismus, S. 72; vgl. Geißler, Kriegsdienstverweigerung, S. 135; Podlech, Gewissensfreiheit, S. 37; Böckenförde, W D S t R L 28, S. 61 F n 84; v. Burski, Zeugen Jehovas, S. 73, 87 F n 1. Vgl. auch schon Scholler, Gewissensfreiheit, S. 193.

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gegen die Gewissensfreiheit gerichtete Rechtsnorm nichtig wäre 3 6 0 , etwa wenn sie die Unbeachtlichkeit von Gewissensgründen aussprechen wollte. Gewissensfreiheit kann also nur bedeuten: Rücksichtnahme auf das betroffene Individuum. Hier läßt die generelle Regelung des Rechts nun nicht vermeiden, daß das staatliche Begehren das funktionelle Gewissen (Gewissensreaktion und Gewissenserlebnis) durchläuft und i m Rahmen der Operation bzw. des Akts der Umstrukturierung leistungs- und anpassungsbezogenen Techniken unterworfen wird, sei es, daß durch verschärfte Aufmerksamkeit, durch ziel- und mittelstrebige Koordination, durch Steuerungsleistungen und durch Anpassungstechniken nunmehr Korrekturen angebracht oder „individuelle Alternativen" des Variabilitätsbereichs aufgedeckt werden, sei es, daß durch kognitive oder creative Leistungen das sittliche Wertkonzept verändert, gelöscht oder neu aufgebaut wird. Erst wenn nunmehr die Konfrontation Gewissensgebot zu Staatsgebot feststeht, können i m Gewissensprozeß stetig und wirksam jene Daseinstechniken auftauchen, die das Individuum gefährden, beeinträchtigen und mitunter zerstören. Der mittelbare Zwang der Rechtsnorm greift also gerade hier ein. Das Individuum könnte dem Gewissenszwang i n dieser Situation m i t staatlicher Hilfe nur noch dann ausweichen, wenn das staatliche Begehren nicht invariant wäre, sondern gleichwertige Verhaltensweisen anderer, jedoch gewissensneutraler oder gar gewissenskonformer A r t zur Verfügung stünden („staatliche Alternativen"). Da nun bereits der Konflikt und die anstehende Entscheidung die gefährlichen Folgen auslöst, hat an dieser Stelle die Entlastung durch die Gewissensfreiheit anzusetzen. Zwar läßt sich nicht leugnen, daß der Konflikt nicht nur eine Gefahr, sondern auch die Chance der „Reifung" b i r g t 3 6 1 , doch wäre es Zynismus, wollte der Verfassungsgeber den Betroffenen auf diese „Chance" verweisen, während er den anderen, die mit seinen Ordnungsvorstellungen konform gehen, diese Chance erspart. Demnach ist — abgesehen von der richtigen, aber zu allgemeinen Formel der Beeinträchtigung oder Zerstörung des Individuums 3 6 2 — i n der 360 S. hierzu: ν . Mangoldt-Klein, A r t . 4 A n m . I I I 5 b ; Bäumlin, W D S t R L 28, S. 23; v. Burski, a.a.O. Zumindest ungenau: Ek. Stein, Staatsrecht, S. 218; ders., Gewissensfreiheit, S. 54 f., nach dem die Rechtsnorm dem Gewissensträger gegenüber verbindlich bleibe, i h m gegenüber aber nicht erzwungen werden dürfe (ebenso: Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 41 F n 92). Die Bindung an A l t e r n a t i v e n (s. § 9, 2. zu F n 7) läßt sich damit nicht erklären. Scheuner, D Ö V 67, S. 586, insbes. F n 18, w i l l das „Spezialgesetz" m i t Hilfe der verletzten Schutzzone bestimmen. 361 Lückert, Konflikt-Psychologie, S. 559 ff.; Pongratz, Menschliche Konflikte, S. 258 u. ö.; Engelmayer, Gewissen, S. 119,127 f. Vgl. auch Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 54. Diese „erzieherische Variante" des Grundrechts scheint Luhmann, S. 77, nicht i m Auge zuhaben, der die Gewissensfreiheit „die ärgste Feindin des Gewissens" nennt. Allerdings dürften pädogogische Funktionen der G r u n d rechte auch nicht Sache des Verfassungsinterpreten sein.

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T a t d e r „ G e w i s s e n s k o n f l i k t " 3 6 3 , die „ G e w i s s e n s n o t " 3 6 4 , w e n i g e r genau auch d e r „psychische Z w a n g " 3 6 5 oder die „ V e r g e w a l t i g u n g des G e w i s s e n s " 3 6 6 , d e r A n g r i f f s p u n k t des G r u n d r e c h t s d e r G e w i s s e n s f r e i h e i t ; d e n n d o r t l i e g t die Ursache, d i e die F o l g e p h ä n o m e n e auslöst. W i l l die G e w i s sensfreiheit z u r F r e i h e i t u n d W ü r d e des I n d i v i d u u m s b e i t r a g e n , so h a t sie s o w e i t w i e m ö g l i c h d e n G e w i s s e n s k o n f l i k t v o n s t a a t l i c h e n Z w ä n g e n z u entlasten, u n d dies b e d i n g t z w a n g s l ä u f i g eine g r u n d s ä t z l i c h e G e w i s sensverwirklichungsfreiheit. D a m i t w i r d aber die G e w i s s e n s f r e i h e i t k e i n „ G r u n d r e c h t z u m Schutz v o n N e u r o t i k e r n " 8 6 7 ; d e n n jedem Menschen k a n n es geschehen, daß e i n Staatsgebot e i n m a l a u f eine t i e f v e r w u r z e l t e s i t t l i c h e H a l t u n g t r i f f t , die i h m entgegensteht, u n d daß der entstehende G e w i s s e n s k o n f l i k t n i c h t m e h r p o s i t i v v e r a r b e i t e t w e r d e n k a n n . Es i s t u n h a l t b a r , daraus entstehende D e s i n t e g r a t i o n s e r s c h e i n u n g e n d e r P e r s o n n u r b e i „psychisch l a b i l e n Menschen m i t k r a n k h a f t v e r b i l d e t e r Ü b e r i c h - S t r u k t u r " 3 6 8 z u suchen. 362 So schon B V e r w G E 7, 242.247 f. (allerdings n u r hinsichtlich der „sittlichen Persönlichkeit". Doch ergreift die Desintegration eines Teilsystems notwendig das integrierte psychische Gesamtsystem, m i t u n t e r auch, ζ. B. bei Somatisierung u n d Tod, das physische System). Ferner: Geißler, Kriegsdienstverweigerung, S. 59, 68, 133; Podlech, Gewissensfreiheit, S. 31 f.; v. Burski, Zeugen Jehovas, S. 50, 75 f.; M a u n z - D ü r i g Herzog, A r t . 4 Rdnr. 124; K . Peters, J Z 72, S. 86; Kühne, Vorgänge 72, S. 112 („seelisch krank"). Z u den Ergebnissen der Konfliktpsychologie: Lückert, Konflikt-Psychologie, S. 492 ff. (m. w . N.). Die Gefahren des Gewissenskonflikts hat die Tiefenpsychologie aller Richtungen festgestellt: Freud, X I I I , S. 279 ff.; Caruso, Jb. Psych. 1954, S. 341; Zulliger, Gewissen, durchgehend; Häfner, Schulderleben, S. 35 ff., 128 ff., 180; ders., Gewissen, S. 121; Blum, S. 168, 172 ff.; Revers, S. 314; Scheid, S. 353 ff.; Janzank, S. 428 ff.; Brenner, Psychoanalyse, S. 142 ff. Vgl. auch Engelmayer, Gewissen, S. 110, 144 ff.; Dantine, F u n k t i o n des Gewissens, S. 59 („drohender Einsturz der inneren Einheit"). A b i . jedoch: Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 50. 363 vgl. B V e r f G N J W 72, S. 1184 (zur Glaubensfreiheit: „ K o n f l i k t " ) ; Urbach, Z f JR 67, S. 172 („schwerste, seelische Konflikte"). 384 BVerfGE 12, 45.55; N J W 72, S. 330 (zur Glaubensfreiheit: „seelische Bedrängnis"). — B V e r w G E 7, 242.248; 9, 97.97 f.; 38, 358.360 („schwere seelische Not"); Schreiber, DÖV 54, S. 40; A. Arndt, N J W 57, S. 362; ders., N J W 66, S. 2205 f.; Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 106; K. Peters, JZ 66, S. 459; Schmidt-Bleibtreu/Klein, A r t . 4 Rdnr. 13; Hamann-Lenz, A r t . 4 A n m . Β 2. Abi.: Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 50. 365 Quaritsch, W D S t R L 28, S. 127. Vgl. auch B V e r w G E 7, 242.247; K . Peters, J Z 66, S. 459 („Gewissenszwang"); ders., JZ 72, S. 520 („Zwangslage"); Korbmacher, DVB1. 69, S. 390 („Gewissenszwang"); Scheuner, Z e v K R 70, S. 255 („Gewissenszwang"). 3ββ Ek. Stein, Staatsrecht, S. 217 (nunmehr a. A . ders., Gewissensfreiheit, S. 50). 367 So aber Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 50. 368 So aber Ek. Stein, a.a.O. Dieser Rückgriff auf die Psychoanalyse müßte aber auch kenntlich machen, daß aus psychoanalytischer Sicht jedes I n d i v i -

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Hier zeigt sich wieder die problemgeschichtlich relevante Gefahr, Gewissenstäter zu Kriminellen oder Geisteskranken 869 allein schon wegen ihres von der Norm abweichenden („anormalen"!) Verhaltens zu stempeln, zumal man nicht übersehen sollte, daß auch die Abweichung von der Norm i n gewissem Umfange von den gesellschaftlichen Normen geprägt ist 3 7 0 . Erst vom Gewissenskonflikt her w i r d verständlich, warum dem Grundrecht der Gewissensfreiheit allgemein ein hoher Rang zugesprochen w i r d ; er läßt sich nach den Zielvorstellungen des Verfassungsgebers nicht auf die soziale Funktion der Gewissensfreiheit gründen, auch nicht auf den „Zusammenhang zwischen Gewissen und Demokratie" 3 7 1 ; denn das Sozialsystem (und auch das demokratische Sozialsystem!) steht nach dem Willen des Grundgesetzes nicht i m Vordergrund. Erst der Gewissenskonflikt weist dem Grundrecht der Gewissensfreiheit den Ansatzpunkt zur Bewahrung des Individuums. Deshalb erfassen die sozialbezogenen „Gewissensfreiheitsformeln" nur Teilprozesse der Gefährdung des einzelnen. Gewissensfreiheit als „Ermöglichung konsistenter moralischer Selbstdarstellung" 3 7 2 ist einesteils zu weit; denn der sich vor dem Interaktionspartner selbst Darstellende bewahrt — etwa bei der Flucht i n die Krankheit — die Konsistenz seiner Individualität auch i m moralischen Bereich, da er immer noch als konsequent, erwartbar und zuverlässig auftritt 3 7 3 , aber eben und anerkanntermaßen verhindert ist. Das gleiche gilt auch, wenn man Gewissensfreiheit als Bewahrung vor Identitätsverlust auffaßt 3 7 4 ; denn die i m sozialen Verkehr konstituierte persönliche Identität 8 7 5 geht nicht notwendig durch die Krankheit oder Somatisierung von Konflikten verloren, beides jedoch sind mögliche Reaktionsweisen auf einen Gewissenskonflikt. Andererseits ist die Bedingung strikter 3 7 6 Konsistenz zu eng, da sie die operativen bzw. strukturierenden Prozesse des Gewissensphänomens ausschließen würde, was seinerseits die generelle Geltung von Rechtsnormen dadurch i n Frage stellt, duum i m Grundsatz neurotische Züge aufweist. Dann besteht i m Ergebnis kein Unterschied mehr. 369 I n dieselbe Richtung weist BVerfGE 23, 127.133, w o die psychologischen Gegebenheiten u n d Prozesse nicht aufgeklärt werden. avo V g L p i a c k > Gesellschaft, S. 155, 301 ff. 371

So aber Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 50. Podlech, Gewissensfreiheit, S. 31. 373 Z u dieser Auffassung der Selbstdarstellung vgl. Luhmann, Grundrechte, S. 61, auf den sich Podlech, a.a.O., S. 32, insbes. F n 2, zum Begriff der Selbstdarstellung beruft. 374 So Böckenförde, W D S t R L 28, S. 67 ff.; w o h l auch Bäumlin, ebd., S. 18; Hesse, Grundzüge, S. 156. 375 So Luhmann, Grundrechte, S. 62, sowie F n 340 sinngemäß. 376 Dies w i r d m a n w o h l unterstellen müssen, da Podlech, Gewissensfreiheit, S. 31 ff., keine Einschränkung bringt, m i t Ausnahme des Scheiterns möglicher oder tragbarer Alternativen. 372

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daß jede Norm zwangsläufig diese Prozesse auslöst; nur normative Empfehlungen und Ratschläge könnten unter Umständen 3 7 7 die Konsistenz nicht beeinträchtigen. Warum es so selten zu einem Identitätsverlust oder zum Abbruch konsistenter moralischer Selbstdarstellung kommt, erklärt sich gerade daraus, daß der Gewissenskonflikt meist i m Unbewußten „versickert": Identität und Selbstdarstellung werden durch die Daseinstechniken aufrechterhalten; sie entfallen i m Interaktionsprozeß erst dort, wo sie als neurotische Arrangements oder andere krankhafte Fassaden erkennbar werden, also nur i n den schwersten Fällen. Von hier aus läßt sich auch formulieren, daß Gewissen nur habe, wer sich töten könne 3 7 8 . Die allmählich zerstörenden, die schwebenden Konflikte oder gar ihre Ursachen werden dadurch jedoch nicht erreicht. 3.3. Schlußfolgerungen

für die Außensphäre

Aus den bisherigen Überlegungen ergeben sich Schlußfolgerungen für die Außensphäre. 3.3.1. Unterlassen und positives T u n Gewissensmäßiges Verhalten läßt sich nicht gewichten, i n Unterlassen oder positives Tun aufspalten und damit unterschiedlichem Schutz der Gewissensbetätigungsfreiheit unterstellen. Ein positives T u n gemäß dem Gewissen kann nicht von vornherein geringeren Grundrechtsschutz genießen 379 ; denn es läßt sich kein Grund finden, weshalb der Gewissenskonflikt des Individuums geringer sein sollte, wenn es sich entgegen dem staatlichen Begehren aus Gewissensgründen passiv verhält, als wenn i h m 377 Nicht jedoch immer! — Vgl. zu dem durch die öffentliche Empfehlung einer I m p f u n g ausgelösten „Gewissenszwang": B G H Z 24,45.46 f. 378 So Luhmann, AöR 90, S. 269 f. 379 So offenbar Arndt, N J W 57, S. 361; ders., N J W 65, S. 433; ders., N J W 66, S. 2205 f.; Geißler, Kriegsdienstverweigerung, S. 130 ff., 134 (unter dem Aspekt der Menschenwürde); Luhmann, AöR 90, S. 281 ff.; Hannover, Vorgänge 66, S. 386; Schwabe, JuS 72, S. 382. — Differenzierend: K. Peters, Überzeugungstäter, S. 274 f.; w o h l auch ders., JZ 72, S. 86. — Wie hier sinngemäß: Geiger, Gewissensfreiheit, S. 24; ders., Nonkonformismus, S. 72 f.; Welzel, Gesetz u n d Gewissen, S. 398 F n 63 a; Ek. Stein, Staatsrecht, S. 218; ders., Gewissensfreiheit, S. 59 (im Ergebnis einschränkend); E. Fischer, Vorgänge 68, S. 190 f.; Herzog, DVB1. 69, S. 720; Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 135, 137; Böckenförde, W D S t R L 28, S. 68, auch S. 60 F n 83; Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 27 ff. Vgl. auch B V e r w G E 9, 97 („Verpflichtung zu einem bestimmten Handeln oder Unterlassen"); 23, 98; 38, 358.359; sowie B V e r f G N J W 72, S. 330 (zur Glaubensfreiheit). Die Diskussion leidet darunter, daß I n h a l t u n d „Schranke" der Gewissensfreiheit häufig nicht unterschieden werden.

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ein gewissensmäßiges T u n staatlicherseits abgeschnitten w i r d 3 8 0 . Hier ist vielmehr bereits eine Negativwertung eines gesellschaftlich unerwünschten aktiven Tuns eingeflossen, die ihren Platz erst i m Rahmen der „Schranken" der Gewissensfreiheit finden kann 3 8 1 , abgesehen davon, daß hier das Gewissensbild der katholischen Sozialethik einseitig privilegiert würde 3 8 2 . Allerdings ergibt sich insoweit zwischen T u n und Unterlassen ein Unterschied, als das Individuum beim bloßen Unterlassen i n einem Nichtt u n verharrt und dies eben i n keiner anderen Weise möglich ist, während das T u n grundsätzlich verschieden verwirklicht werden kann 3 8 3 . Freilich w i r d die Weite möglicher „individueller Alternativen" bereits durch das gewissensmäßig gebotene Ziel verengt, das sich nur mehr beschränkt realisieren läßt, und reduziert sich auf eine einzige Verhaltensweise, wenn die anderen möglichen Alternativen gewissensmäßig verboten oder die gewählte Verhaltensweise gewissensmäßig geboten ist. I n diesem Falle besteht zwischen gewissensmäßigem T u n oder Unterlassen kein Unterschied mehr; sie sind auch i m Rahmen des „Inhalts" des Grundrechts insofern gleichwertig 3 8 4 . 3.3.2. Gewissensfreiheit als Gruppengrundrecht Für die Frage, ob das Grundrecht der Gewissensfreiheit ein Gruppengrundrecht sein kann, sind seine einzelnen Schutzbereiche scharf zu scheiden. Das „Gewissen" als Gewissensapparat oder als Individualsphäre sind notwendig individuell-singulär 3 8 5 . Dies gilt aber auch für 380 Y g i auch Luhmann, AöR 90, S. 282; Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 29. 381 S. unten, § 11, 2.4.2. zu F n 81. Deutlich Schwabe, JuS 72, S. 382. 382 So zutr. Herzog, a.a.O. Zweifelnd auch Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 27. 383 Ebenso Böckenförde, W D S t R L 28, S. 68; vgl. auch Luhmann, AöR 90, S. 282 f. 384 Z u einer anderen A r t der Differenzierung vgl. Schwabe, JuS 72, S. 382. — Wie hier: K. Peters, JZ 72, S. 86. 385 Vgl.Geiß 1er,Kriegsdienstverweigerung, S. 54f.; Scholler,Gewissen,S. 179; Kaufmann-Bühler, Kriegsdienstverweigerung, S. 19; Geiger, Nonkonformismus, S. 61 f.; Kohl, Gewissen, S. 144 f.; Marcic, W D S t R L 28, S. 133. Die Gewissensfreiheit als höchstpersönliches Individualrecht fassen ferner auf: v. Mangoldt-Klein, A r t . 4 A n m . V I 7 (zu A r t . 4 I I I ; unentschieden zu A r t . 4 I : vgl. A n m . I I 6); Bäumlin, W D S t R L 28, S. 18; Böckenförde, ebd., S. 65, 111 f., 119 f.; Hollerbach, ebd., S. 116; Hamann-Lenz, A r t . 4 A n m . Β 2; Knoche, V o r gänge 70, S. 305; Scheuner, Z e v K R 70, S. 253 (aber auch S. 255); M a u n z - D ü r i g Herzog, A r t . 4 Rdnr. 35 (im Bereich gewissensmäßigen Verhaltens n u r h i n sichtlich des A r t . 4 I I I , vgl. a.a.O. Rdnr. 36 f., 122,150) ! Die Gewissensfreiheit auch als Kollektivrecht sehen: Häberle, W D S t R L 28, S. 110 ff., 117 f.; Frowein, ebd., S. 115 f.; Vogel, ebd., S. 127; Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 47 f. (mit dem Hinweis, daß m i t der Gewissensfreiheit ganzen

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die Intimsphäre, i n der die Interaktion der Primärgruppen stattfindet; zwar ist das gewissensmäßige Verhalten hier entscheidend für die Gewissensbildung; es prägt die sittlichen Haltungen des einzelnen und die Gewissensfreiheit steht allen Beteiligten der Primärgruppe zu. Doch ist die Gewissensbetätigung hier nicht gewährleistet, weil sie nur kollektiv i n diesem Rahmen ausgeübt werden könnte, sondern allein deshalb, w e i l sie für die Gewissensbildung des einzelnen unerläßlich ist. Also hier keine Garantie der Gewissensverwirklichung u m ihrer selbst willen, sondern allein u m der Gewissensbildung willen, und zwar jedes einzelnen der beteiligten Interakteure 3 8 6 . Die Kollektivformen des „Weltgewissens", des „christlichen Gewissens", des „korporativen Gewissens" 387 sind deshalb auch unter diesem Gesichtspunkt nicht haltbar, sondern bezeichnen allenfalls den Umstand, daß manche sittlichen Wertkonzepte infolge eines gleichen oder ähnlichen „Richtpunktes" i n einigen Teilen oder Punkten gleich oder ähnlich sind. Es handelt sich hier also u m sittliches Wertbewußtsein oder Wertgefühl, die häufig i n einen „Glauben" i m Sinne des A r t . 4 1 münden. I n der Öffentlichkeitssphäre scheint das gewissensmäßige Verhalten (wie auch das Verhalten gemäß Religion und Weltanschauung) zunächst kollektivierbar; denn es ist nicht einsichtig, warum von Organisationen nur eine „Gesamtsicht" soll vertreten werden können, nicht aber auch ein möglicherweise einheitliches ethisches Wertkonzept. Der Grund ist jedoch i n dem funktionalen Verständnis der Gewissensbetätigungsfreiheit zu suchen, das gerade die Gewissensverwirklichung i n der Öffentlichkeitssphäre trägt: Gewissenskonflikte kann nur ein Individuum durchstehen; sie sind nicht kollektivierbar. Wollte man von vornherein davon ausgehen, daß die i n Organisationen kollektivierten Gewissen alleGruppen geholfen werden sollte u n d auch heute regelmäßig Gruppen m i t den sittlichen Überzeugungen der Mehrheit i n K o n f l i k t geraten. E r übersieht jedoch, daß diese F u n k t i o n heute v o m Grundrecht der Glaubensfreiheit übernommen ist u n d setzt sich i n Widerspruch zu seiner genetischen Gewissensdeutung); w o h l auch Bachof, W D S t R L 28, S. 126 f. Differenzierend: Podlech, ebd., S. 124 f. Unentschieden: BVerfGE 19, 206 (215); Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 55 (für die „äußeren Betätigungsformen v o n . . . Gewissensentscheidungen"). Vgl. auch Heidegger, Sein u n d Zeit, S. 278 (Das Gewissen sei „ i m Grunde u n d Wesen je meines"; Hervorhebung i m Original); Stoker , Gewissen, S. 49; Spranger, Logos 22, S. 173, 193; Lückert, Konflikt-Psychologie, S. 425; Böhler, Gewissen, S. 83; Stelzenberger, Gewissen, S. 38, 49 f., 71; Frankl, S. 270; A. Arndt, N J W 66, S. 2205. 386 I n Richtung einer Gewissensbildung auch: Häberle, W D S t R L 28, S. 110, 117; Frowein, ebd., S. 115 f.; Hollerbach, ebd., S. 116. U n k l a r , aber i m Ergebnis w i e hier: Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 76 (zur Glaubensfreiheit). 387 I n diesem Sinne etwa: Zbinden, Gewissen, S. 11 f. (aber auch S. 24!); Werblowsky, Gewissen, S. 114 ff.; G. Küchenhoff, Staat u n d Gewissen, S. 74 f., 91.

3. Schutz der Außensphäre durch das Grundrecht der Gewissensfreiheit

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samt von einem bestimmten staatlichen Begehren i n Gewissenskonflikte gestürzt würden, so müßte nicht nur die generelle Regelung der Rechtsnorm i n Frage gestellt, sondern auch die Individualität jedes einzelnen Gewissens verneint werden; doch bedingt die Zugehörigkeit zu einer Organisation gerade nicht notwendig den Gewissenskonflikt. Auch die soziale Funktion der Gewissensfreiheit, Gewissensentscheidungen zu ersparen, u m nicht Rollenbeziehungen unberechenbar zu unterbrechen 388 , gibt für die korporative Seite der Gewissensfreiheit nichts her. Vom „Verhalten" gemäß dem Gewissen ist jedoch zu trennen das Bemühen des einzelnen, seine Gewissensüberzeugung durch Kundgabe an die Umwelt zu manifestieren, d. h. zu „bekennen" 3 8 9 . Der Kriegsdienstverweigerer, der seine Entscheidung gegen den Kriegsdienst vor dem Prüfungsausschuß, vor dem Gericht, vor Freunden, Bekannten und Verwandten und vor anderen begründet, vertritt oder sonstwie kundgibt, „bekennt" seine Gewissensüberzeugung, während sein gewissensmäßiges „Verhalten" die Nichtableistung des Kriegsdienstes ist. Dieses Bekennen kann auch i n Gruppen und Organisationen erfolgen, i n denen er sozialen Rückhalt findet und gemeinsam bekennen kann. Dieses T u n w i r d von der Bekenntnisfreiheit erfaßt; sie ist ein Gruppengrundrecht 390 . Freilich läßt sich hier nicht umgekehrt schließen, daß die Nichtableistung des Wehrdienstes nicht kollektiv erfolgen, also die Gewissensbetätigungsfreiheit kein Gruppenrecht sein könne. Vielmehr besagt dies lediglich, daß der Wehrdienst ein eigenhändiges Tun verlangt 3 9 1 . Jedoch ist etwa eine gemeinsame Steuerverweigerung aus Gewissensgründen denkbar und möglich. Für die Bekenntnisfreiheit ist daher entscheidend, daß ein gemeinsames Bekennen immer denkbar ist. Werbung, Propaganda und Mission 3 9 2 stehen zwischen Bekennen und Verhalten. Ein „Bekennen" sind sie nicht, w e i l sie nicht nur intentional auf die Mitteilung der eigenen Gewissensüberzeugung an andere gerichtet sind 3 9 3 , sondern zunächst darauf, den anderen für die eigene Überzeugung zu gewinnen. Ein „Verhalten" sind sie nur dann, wenn sie i n 388

Luhmann, Grundrechte, S. 77 F n 63. Ebenso: Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 36. I n diese Richtung w o h l auch: v. Münch, W D S t R L 28, S. 118; Böckenförde, ebd., S. 119,125; Schaumann, ebd., S. 124; vgl. auch schon Hamel, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, S. 84. 390 So auch die w o h l allgemeine Meinung: BVerfGE 19, 129.132 f.; 24, 236.246 f.; v. Mangoldt-Klein, A r t . 19 A n m . V I 3 b; Hamel, a.a.O., S. 67 f.; Mikat, Kirchen, S. 171 F n 254; Listi , Ess. Gespräche 3, S. 77, 86 f.; Scholtissek, ebd., S. 109 f., 172; Hamann-Lenz, A r t . 4 A n m . Β 3; Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 47; Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 36, 93 ff. 391 Vgl. Böckenförde, W D S t R L 28, S. 61. 392 Siehe hierzu: Böckenförde, a.a.O., S. 65 f., 119 f., 125; v. Münch, ebd., S. 118. — Nach Erb, Frankf. Hefte 27, S. 548, schützt A r t . 4 I I I auch die organisierte Werbung f ü r die Kriegsdienstverweigerung. 393 Siehe oben, § 5, 2. zu F n 29. 389

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dieser ihrer Eigenschaft bereits selbst Inhalt eines Gewissensgebotes sind. Daß Werbung, Propaganda und Mission fast notwendig Inhalt der Freiheit sind, sich gemäß seinem „Glauben" zu verhalten 8 9 4 , ergibt sich daraus, daß Religionen und Weltanschauungen fast immer auch diese Verhaltensweisen zum Inhalt ihres Glaubens gemacht haben und dies auch t u n müssen, wollen sie nicht die Überzeugung des einzelnen Mitgliedes von dem Monopolanspruch seiner Gemeinschaft schwächen und damit ihren Zusammenhalt und ihre Existenz gefährden. Hier zeigt sich auch zugleich die Nahtstelle zwischen Gewissensüberzeugung und Glaube bis hin zur Gewissens- und Glaubensbildung: Der einzelne w i r d seine Gewissensüberzeugung vor anderen verteidigen. U m sich aber des sozialen Rückhalts zu versichern, w i r d er auch dazu übergehen, für seine Überzeugung zu werben, und sie entgegen den Einwänden absichern oder auch von anderer Seite her abzustützen suchen, sie weiter ausbauen, unvereinbare Elemente integrieren oder ausscheiden, und damit seine sittlichen Haltungen weiter entwickeln oder allmählich das Gebäude eines Glaubens errichten. Das bedeutet: Werbung, Propaganda und Mission zugunsten einer Gewissensüberzeugung liegen häufig zugleich i m Entstehungsprozeß von Gewissensüberzeugungen oder von Glaubensvorstellungen, seien sie religiöser, seien sie weltanschaulicher A r t 8 9 5 . I m Rahmen der Gewissens- und Glaubensbildung haben sie also ihren adäquaten Standort. Überschreiten sie diesen Raum, so werden sie von der Betätigungsfreiheit nur dort geschützt, wo sie selbst Inhalt eines Gewissensgebotes oder eines Glaubens sind. Werden danach Mission, Werbung und Propaganda von der Gewissens- oder der Glaubensfreiheit nicht erfaßt, so verbleibt es beim Schutz durch die übrigen Grundrechte 896 . Für die Gewissensfreiheit ergibt sich zugleich, daß die Formen der „Gewissenswerbung" nur zum Teil ihren Individualgarantien unterworfen sind, i m übrigen aber Kollektivgrundrechten unterliegen können. 3.3.3. Verhältnis zu Dritten: „Entlastungsfunktion" — „Verlagerungsfunktion" — Gleichwertigkeit von Alternativen I m Verhältnis zu Dritten — einem anderen Pol des tripolaren Spannungsverhältnisses — scheint das Grundrecht der Gewissensfreiheit den Gleichheitssatz dadurch zu verletzen, daß es dem einzelnen — für den Bereich der Gewissensbetätigung, also der Öffentlichkeitssphäre! — er394

BVerfGE 12,1.3 f.; 24, 236.245; Leibholz-Rinck, GG, A r t . 4 Rdnr. 6. I n dieser Richtung w o h l Bachof, W D S t R L 28, S. 126. Einseitig zugunsten der Bekenntnisfreiheit: Listi , Religionsfreiheit, S. 76 („werbende Äußerung"). 396 Die Werbungsformen insgesamt unter die übrigen Grundrechte, insbes. A r t . 5, 8 u n d 9, rechnen: Quaritsch, W D S t R L 28, S. 127; Böckenförde, ebd., S. 127 f. — Kritisch: Bachof, ebd., S. 127. 395

3. Schutz der Außensphäre durch das Grundrecht der Gewissensfreiheit

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möglicht, sich einer rechtlichen Pflicht zu entziehen. Wer jedoch Normpflichten nur gegen ein Gewissensgebot erfüllen kann, müßte ein ungleich größeres Opfer bringen als das Pflichtsubjekt, das nicht i n einen Gewissenskonflikt gestürzt w i r d ; er wäre benachteiligt, und zwar „wegen" seines Gewissens 307 . Greift somit der Tatbestand der Gewissensfreiheit ein, so ist das Grundrecht der zureichende Grund für die Ungleichbehandlung 3 9 8 ; genauer: das Grundrecht stellt die Gleichheitslage zwischen dem Individuum und dem Dritten wieder her. Dies gilt jedoch nur solange, wie der Gewissenskonflikt anhält, nicht aber dort, wo Verhaltensweisen selbst gewissens neutral oder geWissens konform sind 3 9 9 . Hier greift die generelle Bindung der Rechtsnorm ein, und beginnt der Gleichheitssatz die Wirkung der Gewissensfreiheit zu begrenzen 400 : die Gleichgewichtslage zwischen Individuum und Dritten würde erneut gestört, wollte man den einzelnen aufgrund des Gewissenskonflikts völlig befreien, also von vornherein die generelle Geltung der Rechtsnorm suspendieren, ohne zu prüfen, ob es i h m möglich ist, das staatliche Begehren i n anderer Weise zu erfüllen („Alternative") 4 0 1 . Nur wenn feststeht, daß jede Erfüllung gewissenswidrig ist, ist die Gleichgewichtslage erst dort erreicht, wo kein Gewissenskonflikt mehr auftreten kann, d. h. 397 Vgl. A. Arndt, N J W 65, S. 433; ders., N J W 66, S. 2205 f.; Hannover, V o r gänge 66, S. 386; v. Burski, Zeugen Jehovas, S. 81. Α . Α . : Α. Kraft, A c P 163, S. 477, 479; offenbar auch das B V e r f G (NJW 72, S. 1184 zur Glaubensfreiheit), das i n der Freistellung des einzelnen „lediglich eine Ausnahme" sieht. 398 Ebenso: Böckenförde, W D S t R L 28, S. 145; v. Burski, a.a.O.; Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 69 f. 399 Vgl. schon Luhmann, AöR 90, S. 283. 400 S. auch Böckenförde, a.a.O., S. 61 f.; vgl. auch Bettermann, Grenzen, S. 9 401 A u f die Notwendigkeit der Beachtung v o n „ A l t e r n a t i v e n " verweisen sinngemäß oder ausdrücklich: B V e r f G N J W 72, S. 1185 (zur Glaubensfreiheit); Geißler, Kriegsdienstverweigerung, S. 134 ff. ( „ . . . das Recht auf Gewissensfreiheit . . . [zwinge] den Staat zur Gewährleistung v o n Möglichkeiten . . . , die eine gewissenskonforme E r f ü l l u n g dieser Rechtspflicht erlauben"; Hervorhebung i m Original); Luhmann, AöR 90, S. 273f., 282ff.; ders., F u n k t i o n der Gewissensfreiheit, S. 18 f.; Podlech, JuS 68, S. 123; ders., Gewissensfreiheit, S. 35; Ek. Stein, Staatsrecht, S. 218 f.; ders., Gewissensfreiheit, S. 66 ff. („Belastungsausgleich"); Scholler, DÖV 69, S. 529; Bäumlin, W D S t R L 28, S. 21 f.; Böckenförde, ebd., S. 61 f., 71; v. Burski, Zeugen Jehovas, S. 82; Barion, DÖV 71, S. 33 f. (Alternative zur Kirchensteuer); Scheuner, Z e v K R 70, S. 253; ders., Verfassungsrechtliche Fragen, S. 317; Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 35; Kühne, Vorgänge 72, S. 118. Andeutend: Welzel, Gesetz u n d Gewissen, S. 399 f.; Hannover, Vorgänge 66, S. 385, 387; K . Peters, Überzeugungstäter, S. 277. Α . M.: w o h l Herzog, DVB1. 69, S. 722 (zusti. aber nunmehr M a u n z - D ü r i g Herzog, A r t . 4 Rdnr. 162; ders., Formen staatlicher Gesetzgebung, S. 151 f., als drittes Modell i n staatlichen Interventionsbereichen); Frowein, W D S t R L 28, S. 138 f. — Das B V e r w G (E 38, 358.360) scheint i m Rahmen der Gewissensfreiheit i m m e r noch allein die Freistellung von der generellen Pflicht zu sehen, nicht aber den weiterführenden Gedanken der Alternative.

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das Individuum ist von dieser Pflicht generell befreit 4 0 2 . Ob dies gesellschaftlich tragbar ist, ist eine Frage des dritten „Pols" und der Konvergenz der Pole. Bleibt nun — wie schon oben festgestellt — die generelle Bindung der Rechtsnorm auch für den Gewissensträger bestehen und beachtet man die begrenzende W i r k u n g des Gleichheitssatzes, so läßt sich die Funktion der Gewissensfreiheit i m normativen Bereich i n zweifacher Weise beschreiben: Einmal suspendiert die Gewissensfreiheit die generelle Rechtspflicht; sie entlastet jedoch zunächst nur gerade für diesen individuellen Fall und für den spezifischen Gegenstand der Rechtspflicht („Entlastungsfunktion"). Eine A r t „frei flottierender" Rechtspflicht wäre jedoch ein Widerspruch i n sich, da sie keinen Gegenstand der Verpflichtung mehr hätte. Hier muß die Gewissensfreiheit selbst eingreifen; denn die Allgemeinheit einer Geltung vermag für sich allein nicht auszusagen, welchen Gegenstand sie als geltend zu ihrem Inhalt hat, m i t anderen Worten: sie vermag zum möglichen Gegenstand dann nichts auszusagen, wenn die Gewissensfreiheit gerade diesen Gegenstand modifiziert. Deshalb hat die Gewissensfreiheit auch die Aufgabe, die weiterhin bestehende generelle Bindung der Rechtsnorm 403 von ihrem bisherigen (gewissenswidrigen) Gegenstand auf gewissensneutrale oder gewissenskonforme Gegenstände („Alternativen") zu „übertragen" („Verlagerungsfunktion"). Die Verlagerungsfunktion entfällt aber dort, wo jede Erfüllung gewissensw i d r i g ist. Dieses Verständnis zweier Funktionen ist auf das Zusammenspiel der generellen Geltung der Rechtsnorm m i t dem Grundrecht der Gewissensfreiheit zurückzuführen, während der Gleichheitssatz unmittelbar nur begrenzend i n den Blick k o m m t 4 0 4 dergestalt, daß nur die Störung der Gleichgewichtslage seine Gegenreaktion auslösen würde. Der Gleichheitssatz kommt jedoch dort zum Zuge, wo es u m das Gewicht der Alternative geht. Das Zugeständnis an die innere Not des ein402 v. Burski, Zeugen Jehovas, S. 82; Luhmann, F u n k t i o n der Gewissensfreiheit, S. 19; schwächer offenbar Schwabe, JuS 72, S. 382. — Α. Α.: Podlech, Gewissensfreiheit, S. 35. Allgemein zum Spannungsverhältnis „Generelle N o r m u n d individueller Grundrechtsschutz" i m Rahmen des Spannungsverhältnisses „Recht u n d I n d i v i d u a l i t ä t " vgl. Selmer, DÖV 72, S. 551 (m. w . N.), der i n „Härtefällen" n u r die Einzelfall-Dispens kennt u n d die Möglichkeit der Alternative und der V e r lagerung übersieht (a.a.O., S. 559 f.). 403 Ebenso: B V e r f G N J W 72, S. 1184 (zur Glaubensfreiheit); vgl. auch Geißler, Kriegsdienstverweigerung, S. 135; Ek. Stein, a.a.O., S. 219; w o h l auch Heckel, W D S t R L 28, S. 128; Böckenförde, ebd., S. 143 f. S. ferner die Nachweise in F n 359! 404 Α. A . BVerfG N J W 72, S. 1185 (zur Glaubensfreiheit); Böckenförde, W D S t R L 28, S. 61 f.; Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 66 f.; Listi, Religionsfreiheit, S. 125. Auch Kipp, Kriegsdienstverweigerung, S. 105 f., fordert den zivilen Ersatzdienst allein aufgrund des Gleichheitssatzes. Vgl. demgegenüber m i t Recht A. Arndt, N J W 66, S. 2205 f.!

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zelnen verlangt grundsätzlich nur Entlastung und Verlagerung; die Gleichheit fordert, daß das „gewissenhafte Individuum" i n gleicher Weise zu den Lasten des Gemeinwesens herangezogen wird. Für die Gewissensfreiheit bedeutet dies: sie ermöglicht gewissensmäßiges Verhalten i n der Außenwelt, befreit jedoch nicht von deren Unannehmlichkeiten. Das ist die Frage der Gleichwertigkeit der Alternativen 4 0 5 . Sie bewegt sich zwischen der Gewissensfreiheit und der Gleichheit. Ist die Alternative ungleichgewichtig zugunsten des einzelnen, so w i r d die Gleichheit verletzt; ist sie ungleichgewichtig zu Ungunsten des Individuums, so w i r d die Gewissensfreiheit verletzt; den hier würde erneut ein mittelbarer Zwang gesetzt, der i n die Konflikterwägungen des einzelnen als entscheidender Faktor eingehen, den Konflikt wesentlich verschärfen könnte und letztlich die Übertretung des Gewissensgebotes ratsam oder die Hinnahme des staatlichen Begehrens als kleineres Übel erscheinen ließe. Von hieraus könnte der Gesetzgeber auch die Gewissensfreiheit unterlaufen und aushöhlen; denn es wäre lediglich nötig, die A n forderungen der Alternative so hoch anzusetzen, daß der Gewissensträger von vornherein auf die ursprüngliche Konfrontation Gewissensgebot zu Staatsgebot verwiesen bliebe. Doch wäre gerade damit wieder das Grundrecht der Gewissensfreiheit verletzt, — ein Gedanke, der sich beispielhaft auch i n A r t . 12 a I I 3 findet, welcher eine Beeinträchtigung der Freiheit der Gewissensentscheidung durch das „Ersatzdienstgesetz" verbietet und damit auf A r t . 4 I I I zurückverweist 4 0 6 . Die individuelle Funktion der Gewissensfreiheit, den Gewissenskonflikt von staatlichen Zwängen zu entlasten, gilt demnach auch für die Frage der Gleichwertigkeit der Alternativen. Die „Bereitschaft zur Konsequenz" 4 0 7 — die praktische Kehrseite des Alternativenproblems — umfaßt nicht die Bereitschaft zum „Leiden" 4 0 8 , aber auch nicht die Bereitschaft zum „Opfer" 4 0 9 . Denn danach könnte der einzelne gegenüber der generellen Regelung 405 Sie stellt (und bejaht) neuerdings auch Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 162 F n 3,184 ff. 406 Vgl. aber auch BVerfGE 19, 135.137. 407 So Böckenförde, W D S t R L 28, S. 71, 103. Zusti: Scheuner, ZevKR 70, S. 253. 408 Ebenso: B V e r w G E 7, 242, 247; A. Arndt, N J W 57, S. 363; Kaufmann-Bühler, Kriegsdienstverweigerung, S. 27; Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 108; Böckenförde, W D S t R L 28, S. 104; Kühne, Vorgänge 72, S. 116. 409 Ebenso: BVerwG, a.a.O. Ek. Stein, Staatsrecht, S. 219; v. Bur ski, Zeugen Jehovas, S. 98; Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 41, 71; M a u n z - D ü r i g Herzog, A r t . 4 Rdnr. 162 F n 3; w o h l auch Habscheid, JZ 64, S. 247; Leisner, W D S t R L 28, S. 112 f. Den „Opfergedanken" vertreten: BVerfGE 23, 127.134; Frohberg, DÖV 52, S. 397; Luhmann, AöR 90, S. 283 ff.; K. Peters, Überzeugungstäter, S. 276 f.; ders., JZ 72, S. 521; Kühne, Vorgänge 72, S. 118; w o h l auch Kipp, Kriegsdienstverweigerung, S. 104; Böckenförde, W D S t R L 28, S. 71 („auch Nachteile i n K a u f zu nehmen"), 77,104.

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schlechter gestellt werden, eine Gefahr, der auch m i t den Kriterien der Zumutbarkeit 4 1 0 und Verhältnismäßigkeit 4 1 1 nicht begegnet werden kann. Eine Schlechterstellung läßt sich auch nicht damit begründen, daß der ,,,Wert' des Gewissens" herabgesetzt würde 4 1 2 . Der Ausdruck impliziert ein normatives Vorurteil dahin, als sei das Gewissen etwas, das nur besonders wertvollen Menschen, einer Handvoll Auserkorener, zukomme und deshalb besonders, bis hin zur völligen Befreiung von Rechtspflichten, prämiert werden müsse. Dies w i r d nicht nur der angeblichen „Vorherrschaft des Durchschnitts" 4 1 3 , sondern gerade dem Gewissensphänomen nicht gerecht, das eben allen Menschen zukommt und dessen Freiheit die Verfassung jedem einzelnen zugestanden hat. Das Grundgesetz prämiert keine Helden, sondern macht ein Zugeständnis an die innere Not des einzelnen 414 . „ W i r stehen i n einer politischen Ordnung, i n der w i r , wenn w i r uns . . . auf unser Gewissen berufen, uns nicht dahin gebracht sehen, heroisch scheitern zu müssen 415 ." Zudem braucht der Heros das Grundrecht nicht, da er ohnehin nach seiner Gewissensüberzeugung handeln würde. Gerade w e i l aber jeder einzelne angesprochen ist, lassen sich die Konsequenzen nicht dadurch abfangen, daß man i h m dennoch ein Märtyrertum abverlangt dergestalt, daß man seinen Wankelmut, seine Angst und seinen Rückzug auf das, was alle tun, als mangelnden Opfergeist auslegt und i h m eines seiner Grundrechte abschneidet. Ausgeliefert der Übermacht sozialer Kräfte und staatlicher Macht und verflochten i n die verschiedensten Verantwortungen für Familie, Betrieb und Organisationen, kann der einzelne heute kaum noch eine Position aufgeben, ohne den gesamten Positionssatz oder seine Positionssequenzen tiefgreifend zu beeinträchtigen 416 . Hinzu kommt, daß das Individuum u m seines Gewissens w i l l e n „Achtung und Respekt" 4 1 7 allenfalls weniger seiner Mitbürger erringt; die übrigen werden bestenfalls gleichgültig, regelmäßig aber neidisch und ressentimentgeladen sein, und zwar auch dann, wenn die Alternative des Gewissensträgers gleichwertig ist und es i m Grunde nichts zu beneiden gibt. Das Individuum w i r d verach410

Vgl. BVerfG, a.a.O.; Luhmann, a.a.O.; Böckenförde, a.a.O., S. 104. Böckenförde, a.a.O., S. 104. 412 So Luhmann, AöR 90, S. 284. Zusti.: Böckenförde, a.a.O., S. 71 F n 130. 413 So Witte, AöR 87, S. 160. Die folgende Argumentation entspräche vermutlich einem „modernen Pseudo-Selbstbewußtsein oberflächlicher Toleranz" (ebd., S. 160). 414 Ob m a n hier v o n „Verirrungen des Mitleids" (Luhmann, AöR 90, S. 284 ; zusti.: Böckenförde, W D S t R L 28, S. 71 F n 130) oder v o n „Weinerlichkeit i n bezug auf die selber zu tragenden Konsequenzen" (Bäumlin, W D S t R L 28, S. 26) sprechen kann, ist mehr als problematisch. 415 So Möbus, Gewissen, S. 137. 416 Α . Α.: Luhmann, AöR 90, S. 284. 417 So Böckenförde, W D S t R L 28, S. 71. 411

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tet und verlacht und würde weitgehend isoliert 4 1 8 , wenn es i n den kleinen geschlossenen Gruppen nicht den notwendigen sozialen Rückhalt fände. Wollte man dennoch den „Opfergedanken" aufrechterhalten, so fügte man zur gesellschaftlichen Diskriminierung die rechtliche. Zudem gewährleistet das K r i t e r i u m des „Opfers" nicht die Aussonderung derer, welche allein aus Gewissensgründen handeln. Auch „der Märtyrer, der für seinen Glauben gestorben i s t " 4 1 9 , kann mitunter nur aus Geltungsdrang, aus gegen sich gekehrter Aggression oder aus Gründen gehandelt haben, die nichts m i t einer Gewissensüberzeugung zu t u n haben 4 2 0 . Die jahrhundertelang geübte Zurückhaltung der katholischen Kirche i n Heiligsprechungsprozessen sollte zur Vorsicht mahnen. Nur die „Gleichwertigkeit" der Alternativen bietet eine relative Gewähr, den Gewissensträger nicht abzuschrecken und den „potentiellen Märtyrer" nicht anzulocken. Das K r i t e r i u m besagt i m Grunde nur, daß gewährleistet sein muß, „per s a l d o . . . weder einen Vorteil noch einen Nachteil" erleiden zu müssen 421 . 3.3.4. Praktikabilität der Gewissensfreiheit Das Problem der Praktikabilität der Gewissensfreiheit, das sich auch als Frage nach der „Bereitschaft zur Konsequenz" 4 2 2 , nach der „Echth e i t " 4 2 3 oder „Ernsthaftigkeit" 4 2 4 der Gewissensentscheidung oder i n ähnlicher Weise 4 2 5 formulieren läßt, umfaßt die Frage, wie dem faktischen 426 Mißbrauch des Grundrechts gewehrt werden kann.

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Ebenso: Ek. Stein, Staatsrecht, S. 219. So Leisner, W D S t R L 28, S. 113. 420 Vgl. auch Stadter, Gewissen, S. 85. 421 So die treffende Formulierung v o n Ek. Stein, Staatsrecht, S. 219; ders., Gewissensfreiheit, S. 66. 422 Böckenförde, W D S t R L 28, S. 71, 103. Vgl. auch A. Arndt, N J W 66, S. 2206. 423 So K i p p , Kriegsdienstverweigerung, S. 104; K . Peters, JZ 66, S. 458. — Kühne, Vorgänge 72, S. 116, bestimmt die „Echtheit" als die „Übereinstimm u n g zwischen dem, was behauptet, u n d dem, was tatsächlich gedacht bzw. vorgestellt" w i r d u n d verdeckt m i t dem Scheinproblem der Überprüfung dieser „Übereinstimmung" das eigentliche Problem der Möglichkeit einer solchen Prüfung, was sich dann auch später darin zeigt, daß er gezwungen ist, die angegebenen Prüfungskriterien bis zum „pauschalierten Verfahren" (mit Glaubwürdigkeit als Beweis!) zu relativieren, f ü r das er gleichwohl Ernsthaftigkeit beansprucht. 424 So B V e r w G E 13, 171; K i p p , a.a.O.; Dürig, W D S t R L 28, S. 103; auch Böckenförde, a.a.O., S. 71. 425 E t w a Luhmann, AöR 90, S. 260 („authentisch"); Korbmacher, DVB1. 69, S. 391 f. („Offenbarmachung"). 426 Nicht also Rechtsmißbrauch! Gemeint ist n u r die Frage der Beweisbarkeit. Hierzu insbes. v. Zezschwitz, JZ 70, S. 233 ff. (m. w . N.). 419

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§ 7 Die soziale W i r k l i c h k e i t

Gewissens„überzeugungen" sind nach außen hin darstellbar, ohne tatsächlich der inneren Überzeugung des einzelnen entsprechen zu müssen 4 2 7 . Er kann vielmehr die „Rolle" des Kriegsdienstverweigerers, des Gewissenstäters, des Steuerverweigerers usw. spielen und dennoch ein anderer sein als der, den er darstellt. Dabei können i h m Fertigkeiten jeder A r t zustatten kommen, sei es etwa, daß er sprachlich differenziert oder nur informiert ist 4 2 8 , sei es, daß er besonders unerfahren, treuherzig oder unbeholfen w i r k t . Die Echtheit der Gewissensüberzeugung wie auch der Grad ihrer Intensität lassen sich allenfalls durch manipulative M i t tel nachweisen. So hat Wellek 429 festgestellt, daß hypnotischen und posthypnotischen Befehlen beim Überschreiten bestimmter, rein individueller sittlicher Schwellenwerte der Gehorsam verweigert w i r d („Strukturschranke"); das Individuum reagiert m i t Zusammenbruch, Ohnmacht usw. Das Suggerieren verbrecherischer Handlungen ist — außer bei Geisteskranken, Hysterikern usf. — nicht möglich 4 3 0 . Derartige Versuche, wie auch „Plauderdrogen", Narcoanalyse u. a. m. könnten als Nachweis der geltendgemachten Gewissensüberzeugung dienen. Da sie das Individuum jedoch nicht kontrollieren und beliebig abbrechen kann, wenn sie einmal angesetzt sind, gehören sie auch hinsichtlich eines bloßen Beweisverfahrens zu den schon festgestellten Beeinflussungsformen, die dem absoluten Manipulationsverbot unterfallen 4 3 1 . Andere Arten unmittelbaren Beweises für Echtheit und Stärke einer Gewissenseinstellung, die keinen manipulativen Charakter tragen, gibt es nicht. Dieser Beweisnot des Staates wie auch des Individuums helfen auch die üblichen Beweismittel nicht ab 4 3 2 . Zeugen 4 3 3 sind schon deshalb kaum 427 So zutr.: Böckenförde, W D S t R L 28, S. 76 F n 147, S. 103; Maunz-DürigHerzog, A r t . 4 Rdnr. 17,152. 428 Gegen eine solche Privilegierung auch B V e r w G E 9, 97.98. 429 Polarität, S. 15 (m. w . N.). 430 Hierzu auch: Hehlmann, Psychologie, Stichwort „Hypnose". 431 I m Ergebnis w o h l ebenso die allgemeine Meinung, vgl. M a u n z - D ü r i g Herzog, A r t . 4 Rdnr. 152; Kühne, Vorgänge 72, S. 116. 432 Α . A . Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 70 ff. Wenn Ek. Stein hierzu auf das K r i t e r i u m des „Verantwortungsbewußt seins" abstellt u n d das Vortäuschen v o n Gewissensgründen aus „asozialen Zügen" u n d geringem Verantwortungsbewußtsein ableitet, so bleibt nicht n u r unklar, welche empirische K r i t e r i e n ihrerseits auf Asozialität u n d geringes Verantwortungsbewußtsein schließen lassen, sondern auch unsicher, ob hier „asozial" u n d „geringes Verantwortungsbewußtsein" nicht lediglich nach den herrschenden Vorstellungen als solche gewertet u n d damit die Gewissensfreiheit unterlaufen w i r d . Z u m „Gewissen als Gegenstand des Beweises": v. Zezschwitz, JZ 70, S. 233 ff. (m. w. N.; teilweise abw.); Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 154 ff. (einschränkend). Wie hier auch: Spranger, Logos 22, S. 172; Böckenförde, W D S t R L 28, S. 70. Zweifelnd offenbar auch Erb, Frankf. Hefte 27, S. 548. 433 So etwa Scheuner, DÖV 61, S. 205; Kühne, Vorgänge 72, S. 116.

3. Schutz der Außensphäre durch das Grundrecht der Gewissensfreiheit

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brauchbar, w e i l der einzelne sich keineswegs nur gut i n seiner Umgebung eingepaßt haben muß, sondern ihr auch kritisch, gereizt oder nervös gegenübertreten könnte, was entsprechende Reaktionen, Aggressionen oder Ressentiments der anderen auslösen mochte, ganz abgesehen davon, daß auch die Angepaßtheit nichts zur Gewissensüberzeugung aussagt. So bleibt nur der Gewissensträger selbst, dem auch seine sittliche Haltung und sein Gewissenserlebnis allein zugänglich sind. Seine persönliche Lebensführung besagt nichts zu seiner Gewissensüberzeugung 434 , zumal sie „objektiv" nur wieder von anderen Personen erhoben werden kann. Wollte man einmal davon absehen, daß etwa ein sittlich „freies" oder gar „haltloses" Verhalten ebenfalls nur wieder von einem vorgefaßten Wertaspekt als solches qualifiziert werden kann, so ließe sich daraus schon deswegen nichts herleiten 4 3 5 , weil der einzelne i n der neu zu entscheidenden Frage dennoch eine sittliche Haltung haben kann, sei es, daß er sie sich von früh an bewahrt, sei es, daß er sie erst i n der Auseinandersetzung m i t dem anstehenden Problem errungen hat. Anderenfalls würde man seine Lebensführung i n eine Lebensführungsschuld mit unwiderleglich vermuteter „Gewissenlosigkeit" verkehren. I n gleicher Weise unbrauchbar ist der Rückgriff auf die „Persönlichkeit" des einzelnen 436 , da man keine „Persönlichkeit" zu sein braucht, um eine sittliche Haltung i n der rudimentären Form konditionierten Regelwissens zu haben. Zudem hat dieser Begriff eine zwar hoheitsvolle Weihe, aber nichtsdestoweniger elitäre und daher inhumane Variante, die i n einer rechtsstaatlichen Demokratie nicht mehr am Platz sein dürfte 4 3 7 . Auch das Indiz der allgemeinen Glaubwürdigkeit 4 3 8 als Lockerung der Forderung nach vollem Beweis versagt, da man sich Glaubwürdigkeit erspielen 4 3 8 a oder verspielen kann, ohne seine Gewissensüberzeugung 434

So aber B V e r w G E 13, 171.172; Paul, Gewissen, S. 34; Kühne, Vorgänge 72, S. 116 (einschließlich Zeugenbeweis!). — Skeptisch m i t Recht: Hamel, Glaubens- und Gewissensfreiheit, S. 105 f.; vgl. auch v. Burski, Zeugen Jehovas, S. 97. 435 Α . Α.: Witte, DVB1. 62, S. 892, unter Hinweis aus die „Ganzheit" des Menschen. 436 S. aber: B V e r w G E 9, 97.98; 12, 271.273; 13, 171.172; 14, 147; Hamel, a.a.O., S.105. 437 So auch: Adorno, Persönlichkeit, S. 186 ff. — Gegen H. Peters „Person lichkeits-Kerntheorie" etwa Evers, AöR 90, S. 88 ff. 438 So: B V e r w G E 7, 242.249; 9, 97.98; 9, 100.102; 12, 271.2721; 13, 171.172; 14,147.150; 30, 358.361; Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 108; Herzog, DVB1. 69, S. 720; Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 160, 165; K . Peters, JZ 72, S. 520; Kühne, Vorgänge 72, S. 116. W o h l auch Scheuner, DÖV 61, S. 205; Luhmann, AöR 90, S. 285; Hamel, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, S. 105 f. (teilweise). Kritisch: Böckenförde, W D S t R L 28, S. 70; Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 73. 438a Ä h n l i c h : Heilmann-Wahsner, JZ 72, S. 579: Das Anerkennungsverfahren für Kriegsdienstverweigerer privilegiere den wirkungsvolleren Schauspieler.

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§ 7 Die soziale W i r k l i c h k e i t

hinlänglich darstellen zu können. Die Indizfunktion der Zugehörigkeit zu einer Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft 430 ist — wie schon oben festgestellt 440 — unzulässig. So bleibt lediglich die Erklärung des Gewissensträgers 441 , die sich auf den Inhalt des Gewissensgebotes beschränken k a n n 4 4 2 und sich auf dem von i h m angegebenen Kontinuum des sittlich Guten und Bösen als gut einordnen lassen muß, was meist schon m i t seiner Angabe als für den einzelnen sittlich wertvoll der Fall sein w i r d —, wie man sieht, eine Basis, die für eine verwaltungsmäßige oder richterliche Überzeugungsbildung 443 zu schmal sein dürfte, es sei denn, man wollte hier wieder ideologische Wertungen i m Verborgenen einfließen lassen. Es bleibt demnach der klassische Fall des „non l i q u e t " 4 4 4 . I h m kann jedoch nicht durch die Grundsätze materieller Beweislast begegnet werden 4 4 5 ; denn die Beweislastregeln setzen notwendig die Beweis barkeit voraus, die lediglich i m konkreten Fall sich nicht zum Beweis verdichtet. Hier aber ist ein Beweis i n zulässiger Form gar nicht möglich. Das Fehlen der Beweismöglichkeit entzieht damit den Beweislastregeln ihre gedankliche Basis 4 4 5 a . W i l l der Gesetzgeber i n sittlich umstrittenen Bereichen nicht überhaupt auf eine gesetzliche Regelung verzichten 4 4 6 — und ein solcher Verzicht ist i h m verschlossen i n Anbetracht der Kompetenz-Kompetenz des

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So K . Peters, Überzeugungstäter, S. 275 f.; Kühne, Vorgänge 72, S. 116; w o h l auch Nagel, JR 72, S. 413. 440 S. oben, § 7, 2.4.10. zu F n 230. 441 Vgl. auch Scheuner, D Ö V 61, S. 205; Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 107. S. auch Becker, St. d. Z. 175, S. 232; Kühne, Vorgänge 72, S. 116. 442 Vgl. hierzu oben, §7, 2.4.2. — M e h r richterliche A u f k l ä r u n g fordert K . Peters, JZ 72, S. 86. 443 Hierauf stellen ab: K i p p , Kriegsdienstverweigerung, S. 104; K . Peters, Überzeugungstäter, S. 275 f.; Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 70; Nagel, JR 72, S. 413 (zur Eidesverweigerung). — Heilmann-Wahsner, JZ 72, S. 577, berichten, daß sich die Beisitzer v o n Prüfungsausschüssen u n d - k a m m e r n häufig überfordert fühlen, die v o m Gesetz geforderte Gewissensentscheidung des A n tragstellers nachzuprüfen u n d festzustellen. 444 Ebenso Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 153. 445 Hierzu auch: Maunz-Dürig-Herzog, a.a.O. 445a I m Ergebnis gegen eine Beweislast zu Lasten des Gewissensträgers: v. Zezschwitz, J Z 70, S. 240 (jedoch u n t e r Anerkennung v o n „Zwischenlösungen"); Heilmann-Wahsner, J Z 72, S. 579 (die Hinnahme eines potentiellen Gewissenszwanges verstoße gegen die Gewissensfreiheit). 446 Vgl. auch Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 161; Herzog, Formen staatlicher Gesetzgebung, S. 146 ff.: Der Staat müsse die Einhaltung unerläßlicher „ m i n i m a l e r Spielregeln i n der Auseinandersetzung" fordern u n d notfalls durchsetzen. — I n dieser Wendung zeigt sich bereits eine rituelle Erstarrung formalen Charakters, die n u r dem Unterrichteten, nicht aber dem Jedermann zugute kommt.

4. Thesen zur Gewissensfreiheit aufgrund der sozialen Wirklichkeit

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Gewissens —, so bleibt i n der Tat nur die gleichwertige Alternative 4 4 7 , w i l l man nicht von vornherein den einzelnen zu einer falschen Begründung seiner Weigerung verleiten, und sein falsches Zeugnis w i r d dort provoziert, wo er sich lästigen Pflichten ohne „Belastungsausgleich" 448 entziehen kann. Damit w i r d auch das Anerkennungsverfahren der Kriegsdienstverweigerer 449 aus tatsächlichen Gründen fragwürdig, ohnehin weitgehend nur noch ein Ritual, von dem sich allenfalls schlichtere Gemüter beeindrucken lassen, was naturgemäß wieder zu Lasten der „einfachen" Gewissen geht, — aber auch die Gefahr einer elitären Auslese, die den demokratischen Intentionen der Verfassung zuwiderlaufen dürfte und von den Gerichten auch erfolgreich vermieden wurde. Bleibt noch die Frage nach den unverhältnismäßig hohen sozialen Kosten 4 5 0 , die sich allerdings nicht mit dem Einwand beantworten läßt, daß man sich doch die Schaffung von Alternativpositionen hätte ersparen können. Unter diesem Aspekt hätte sich der Verfassungsgeber auch das Grundrecht der Gewissensfreiheit „ersparen" können. 4. Thesen zur Gewissensfreiheit aufgrund der sozialen Wirklichkeit

Zusammenfassend ergeben sich demnach folgende Thesen aus der vom Grundrecht der Gewissensfreiheit bezielten sozialen Wirklichkeit: Als „Freiheit, sein Gewissen so oder anders zu haben" (Bestands- und Änderungsgarantie) schützt die Gewissensfreiheit a) den „Gewissensapparat" durch ein absolutes Manipulationsverbot, b) die Individualsphäre des einzelnen durch die Wesensgehaltssperre des A r t . 19 II, c) die Intimsphäre grundsätzlich, und zwar einschließlich der Gewissensbetätigung, d) die Öffentlichkeitssphäre durch das Gebot „ideologischer" Neutralität. 447 Ebenso Böckenförde, W D S t R L 28, S. 71; Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 162. Vgl. auch Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 66 f. 448 Formulierung nach Ek. Stein, Staatsrecht, S. 218; ders., Gewissensfreiheit, S. 66. 449 Hierzu: BVerfGE 28, 243.256 ff.; 28, 264.276 ff.; Klinkhardt, DÖV 65, S. 109 ff.; Heilmann-Wahsner, J Z 72, S. 577 ff. (Das Anerkennungsverfahren sei ein „Rückfall i n die Inquisition" u n d diskriminiere entgegen A r t . 3 den Kriegsdienstverweigerer, der j a keine Vorteile genieße noch sonstwie besser als der Wehrdienstleistende gestellt werde. Daher genüge die i n einem einfachen Registrierungsverfahren zu Protokoll zu nehmende ernsthafte E r k l ä rung, den Kriegsdienst m i t der Waffe aus Gewissensgründen zu verweigern.). 450 Treffend Böckenförde, a.a.O., S. 77: „ L o h n t aber dann i h r Aufwand?" — Heilmann-Wahsner, JZ 72, S. 580, bezeichnen den Verwaltungsaufwand als „öffentliches Ärgernis".

172

§ 7 Die soziale Wirklichkeit

Ein staatliches Tätigwerden i m Rahmen der „notwendigen" Manipulation ist zulässig. Als „Freiheit, sich gemäß seinem Gewissen zu verhalten" (Verhaltensfreiheit) schützt die Gewissensfreiheit die Gewissensbetätigung i n der Öffentlichkeitssphäre i n vollem Umfang, und zwar aufgrund ihrer individuellen Funktion, den Gewissenskonflikt von staatlichen Zwängen zu entlasten. Die Gewissensfreiheit ist ein Individualgrundrecht. Die Bekenntnisfreiheit umfaßt das Bekennen von Gewissensüberzeugungen; sie ist auch ein Gruppenrecht. Die Gewissensfreiheit hat für den Einzelfall regelmäßig eine Entlastungs- und eine Verlagerungsfunktion. Sie gewährt deshalb grundsätzlich keine Totalbefreiung, sondern nur eine Abdrängungsbefreiung. Die „angelagerten" Alternativen müssen gleichwertig sein. Die üblichen Beweismittel sind unbrauchbar. Es genügt die Erklärung des Gewissensträgers dergestalt, daß er sein Verhalten unter Hinweis auf ein sittlich gebotenes Wertkonzept begründet.

Zweiter

Teil

Die Normativitätsstruktur des Grundrechts der Gewissensfreiheit U m die Ergebnisse der Inhaltsanalyse normativ aufzuarbeiten, w i r d i m folgenden der Versuch gemacht, für die Grundrechte ein Modell zu entwerfen, i n das sich ihre verschiedenartige „Normativität", d. h. ihr unterschiedlicher normativer Bedeutungsgehalt i m Rahmen ihrer gesellschaftlichen Geltung, einordnen läßt. Diese Systematisierung bezweckt vor allem, unterschiedliche Geltungsweisen des Grundrechts rationaler Kontrolle zu eröffnen, läßt sich allerdings hier nur skizzieren und umreißen. I n eine ähnliche Richtung zielt der Aufweis eines „Doppelcharakters" der Grundrechte 1 , doch hat der hier dargestellte Vorschlag einen anderen Ausgangspunkt und Inhalt, aber auch teilweise andere Ergebnisse. Demgegenüber kommt die knappe Skizze Schollers zur Gewissensfreiheit, für die er „drei Teilinhalte" unterscheidet — die subjektiv-öffentliche Grundrechtsfunktion, die programmatisch-dirigierende Wirkung und die objektiv-(quasi-)institutionelle Bedeutung 2 —, dem vorgelegten Versuch i m Ergebnis nahe. Wieder andere Modelle werden neuerdings vorgeschlagen: Aufgrund „prinzipieller Einsichten i n die Grundrechtsstruktur" 3 versteht Häberle 4 die Grundrechte als „mehrwertiges und mehrschichtiges Instrumentar i u m " 5 und entwirft ein Grundrechtsmodell 6 m i t einer materiellrechtlichen und einer verfahrensrechtlichen Komponente: die materiellrechtliche Seite gliedere sich i n die „subjektive Abwehrseite" 7 , i n den „institutionellen Aspekt" 8 und i n den „leistungsgewähr enden Aspekt" 9 ; die „verfahrensrechtliche Komponente" 1 0 werde dem jeweiligen materiellen 1

Hesse, Grundzüge, S. 116 ff. Scholler, DÖV 69, S. 529, 532 ff. Vgl. auch Scholtissek, Ess. Gespräche 3, S. 138. 3 Häberle, DÖV 72, S. 730 F n 5. 4 W D S t R L 30, S. 43 ff.; ders., DÖV 72, S. 729 ff. 5 Häberle, W D S t R L 30, S. 73. 6 Häberle, a.a.O., S. 82: „Statusbild"! 7 Ebd. S. 75 (auch „die individualrechtliche [personale] . . . Seite"), S. 112. 8 Ebd. S. 75 f. (auch „institutionelle Seite"), w o h l auch S. 103. 9 Ebd. S. 76 (S. 75 auch: „die typisch leistungsstaatliche u n d -rechtliche Seite"), S. 112. Z u m Grundrecht als Teilhaberecht vgl. ebd. S. 82! 10 Ebd. S. 75, vgl. auch S. 86 ff. 2

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§ 8 Das Strukturmodell

Grundrecht selbst abgewonnen, sei i h m inhärent 1 1 , sei nicht nur ein Annex der Leistungsfunktion 1 2 , sondern ein selbständiger verfassungsrechtlicher Status 1 3 und ermögliche das Verständnis der „Grundrechte als prozessualer Teilhaberechte" 14 . — I n wiederum anderer Weise — aufgrund derjenigen „Rechtsprinzipien der Verfassung, die sich i n den Grundrechtsnormen widerspiegeln" — unterscheidet Rupp 15 die „negatorischen Defensivprinzipien" von den „positiven Gewährleistungsprinzipien", welche rechtlich verpflichtende Leitmaximen seien und i n der Regel keine unmittelbaren Leistungsansprüche gewährten. — Selbst das Bundesverfassungsgericht hat i n jüngster Zeit 1 6 die einseitige Sicht der Grundrechtsnormen als bloßer Abwehrrechte aufgegeben und scheint daneben einer „grundrechtlichen Verbürgung der Teilhabe an staatlichen Leistungen" zuzuneigen, und zwar nicht nur i m Sinne einer Teilhabe an bereits Vorhandenem, sondern auch i m Sinne eines objektiven Verfassungsauftrags zur Bereitstellung von Einrichtungen oder unter besonderen Voraussetzungen gar i m Sinne einklagbarer Individualansprüche 17 . Diese Versuche zeigen die Fülle möglicher Ansätze und weisen gleichzeitig über die eindimensionale Auslegung der Grundrechtsnorm hinaus auf ein „mehrdimensionales Verständnis" 1 8 . Ausgangspunkt des eigenen Modells ist die Grundrechtsnorm i n ihren möglichen normativen Bedeutungsweisen; sein Zielpunkt sind die verschiedenen Geltungsweisen des Grundrechts. § 8 Das Strukturmodell 1. Sinn und Begrenztheit des Modells

Es gibt immer verschiedene Ebenen und verschiedene Perspektiven für eine Rechtsnorm, die jedoch als bloße Vorstellungs- und Systematisierungshilfen nie i n der Lage sind, einen so komplizierten Gegenstand wie eine Grundrechtsnorm nach allen Seiten hin auszuleuchten. Immer w i r d eine neue Sichtweise auftauchen, die regelmäßig zuerst als „irrationaler Rest" i n der praktischen Rechtsanwendung auftritt, so sich der Einordnung m i t Hilfe der bisherigen Denkmodelle entzieht und erst auf11

Ebd. S. 88 F n 192, S. 126 F n 366. Ebd. S. 88 F n 192. 13 Ebd. S. 82 F n 166. 14 Ebd. S. 129 F n 379. 15 W D S t R L 30, S. 180 f. 16 DÖV 72, S. 607 f. 17 Zusti.: Häberle, DÖV 72, S. 732 (verfassungsrichterliche „Offenheit nach v o r n " ) ; u n k l a r aber ders., W D S t R L 30, S. 115 F n 316. — Kritisch: Plander N J W 72, S. 1942 f.; Kimminich JZ 72, S. 696 ff. 18 Vgl. Häberle, W D S t R L 30, S. 187. 12

2. Ausgangspunkt des „Normativitätsmodells"

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grund neu entwickelter Modelle der rationalen Erfassung zugänglich wird. Zugleich w i r k e n die neuen Muster zurück auf die Auslegung solcher Normen, die bisher m i t dem neuen Aspekt noch nicht konfrontiert wurden: sie können damit unter Umständen i n neue Richtungen aktualisiert werden, sich aber auch der neuen Sicht unzugänglich erweisen. Die Modelle haben also vor allem heuristischen Wert. Ein Modell ist notwendig ein „Schnitt" durch den untersuchten Gegenstand: es beleuchtet die Ebene des Schnitts und läßt andere, auch ebenso wichtige Strukturlinien der Norm i m Dunkeln. Der Vorteil der klaren Strukturierung auf der einen Seite w i r d notwendig m i t Vernachlässigung der ganzen Normstruktur 1 9 auf der anderen Seite erkauft. So w i r d das Strukturmodell „Entstehen — Bestehen — Beenden (Werden — Sein — Vergehen)" 2 0 den Blick auf das Schicksal des realen Substrats eines Grundrechts i n der Zeitdimension lenken, muß aber zum Beispiel die Funktion des Grundrechts zwangsläufig aus den Augen verlieren. Ein anderes Modell mag diesen Aspekt erhellen, jenen aber nicht, es sei denn, daß neue Dimensionen eingeführt oder die Modelle kumulativ angewendet wurden. 2. Ausgangspunkt des „Normativitätsmodells"

U m die bisherigen Ergebnisse zu ordnen und zu systematisieren, werde von der „Normativität" ausgegangen. Ihrem Bedeutungsgehalt nach (semantisch) 21 lassen sich zwei Rechtssatzmodi unterscheiden, und zwar solche Rechtssätze, die einen rechtlichen Zustand betreffen — sie seien „Ordnungsnormen" genannt —, und solche Rechtssätze, die ein rechtliches Verhalten betreffen — sie seien als „Verhaltensnormen" bezeichnet 22 . Die einen besagen, daß etwas „sein soll (bzw. darf)", die Verhaltensnormen, daß etwas „geschehen soll (bzw. darf)". I m folgenden w i r d jedoch nur vom „Sollensaspekt" ausgegangen, der hinreicht, u m das Pflichtsubjekt „Staat" der Grundrechte zu verdeutlichen. Die „Erlaubnisseite" der Grundrechte w i r d nur dort herangezogen, wo sie eingrenzend wirken soll oder gerade fehlt, i m übrigen aber als bestehend unterstellt 2 3 . Negationen und Äquivalenzen werden hier grundsätzlich nicht untersucht. 19 „ N o r m s t r u k t u r " w i r d hier nicht n u r als formaler Aufbau der Norm, sondern als ganze N o r m i m Sinne eines Untersuchungsobjekts der Rechtswissenschaft verstanden. 20 Vgl. Kloepfer, Grundrechte, S. 24 f., 26. 21 Andeutend: Häberle, W D S t R L 30, S. 187, nach dem gerade die „Rechtsnormqualität" der Grundrechte sie zur Entfaltung drängt. Ä h n l i c h auch ders., ebd., S. 76, wo er v o n „miteinander »verstrebten 4 unterschiedlichen Bedeutungsschichten . . . der Grundrechte" spricht. 22 Vgl. hierzu: Lampe, Juristische Semantik, S. 35 ff. 23 Z u m Zusammenhang von Recht u n d Pflicht vgl. Lampe, a.a.O., S. 63 ff.

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§8 Das Strukturmodell

Verhaltensnormen lassen sich allerdings noch weiter unterscheiden, denn das gesollte Verhalten kann i n einem Handeln (positivem Tun) oder i n einem Unterlassen bestehen, m i t anderen Worten: die Grundrechte können auch dahin untersucht werden, ob sich das gesollte Verhalten des Staates als ein Tun oder Unterlassen darstellt. Das T u n kann aus der Perspektive des Grundrechtsträgers als „Leistung", das Unterlassen als „ A b w e h r " gekennzeichnet werden. Die Verschiedenheit von Tun und Unterlassen hat nichts m i t den Termen „Gebot" und „Verbot" zu tun; denn normiertes Handeln und Unterlassen schließen einander aus, während das „Gebot von a und das Verbot von non-a ebenso wie das Verbot von a und das Gebot von non-a logisch semantisch äquivalent" sind 2 4 . Ordnungsnormen als gesollter Zustand lassen sich nicht weiter aufteilen; denn ein Zustand ist entweder gesollt oder nicht gesollt. Doch kann sich ein Zustand verschieden darstellen, je nach dem Standpunkt des Betrachters. So stellt sich etwa der gesollte Zustand „Minderjährigenschutz" für den Vertragspartner anders dar als für den Minderjährigen oder seine Eltern. Ist es nun aber möglich, vom Sollensaspekt her verschiedene normative Funktionen zu unterscheiden — Ordnungsnormen und Verhaltensnormen und zwischen den Verhaltensnormen die „Leistungsnormen" und die „Abwehrnormen" —, so bedeutet dies nicht notwendig, daß eine reale Rechtsnorm nur unter einem dieser Aspekte gesehen werden könnte. Vielmehr ist denkbar, daß eine reale Rechtsnorm zwei dieser Sichtweisen oder gar alle Sollensaspekte zuläßt: den Ordnungsaspekt, den Leistungsaspekt und den Abwehraspekt. Entscheidend dafür ist allein, wieweit der Wortlaut der realen Rechtsnorm überhaupt zu tragen vermag 2 5 . Die Vereinigung aller Sichtweisen i n ein und derselben Rechtsnorm ist also hermeneutisch möglich. Damit erhebt sich für die Grundrechtsnormen die Frage, wieviele Sollensaspekte sie aufzuweisen vermögen. Während etwa die Formulierung des A r t . 4 I I I — „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst m i t der Waffe gezwungen werden" — sich kaum anders als durch den Abwehraspekt deuten läßt 2 6 , sind die Ausdrücke „ . . . ist unantastbar" (Art. I I S . 1), „ . . . ist unverletzlich" (Art. 2 I I S. 1, 13 I), „ . . . sind unverletzlich" (Art. 4 I, 10 I), „ . . . w i r d gewährleistet" (Art. 4 I I ; vgl. auch 24

Lampe, a.a.O., S. 55, vgl. S. 39. Andeutend Häberle, W D S t R L 30, S. 187. 26 Daß diese Deutung nicht zu Lasten des Gewissensträgers gehen muß, zeigt das Verständnis des A r t . 4 I I I als bloße Konkretisierung des A r t . 4 I (vgl. unten § 11, 2.4.2.). — Andere Abwehrnormen i m Grundrechtsteil: A r t . 5 1 3 , 12 I I , I I I , 16 I I S. 1. 25

3. A u f b a u des Modells

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Art. 5 I S. 2, 14 I S. 1) u. a. 27 ihrem bloßen Wortlaut nach weit offener. Sie vermögen auch solche Bedeutungen zu tragen, nach denen ein bestimmter rechtlicher Zustand sein soll (Ordnungsaspekt) oder gar ein positives staatliches T u n geschehen soll, w e i l ein staatliches Nichttun das Schutzobjekt „antasten", „verletzen" oder „nicht mehr gewährleisten" würde (Leistungsaspekt). Es erweist sich also, daß auch reale Grundrechtsnormen ihrem Wortlaut nach alle Sollensaspekte auf sich vereinigen können. Ob dies jedoch erforderlich ist, läßt sich allein nach dem Normzweck i. V. m. dem praktischen Bedürfnis einer solchen Deutung, nicht aber aufgrund ihrer Bedeutung beurteilen. Für die Modellfunktion reicht aber die Möglichkeit einer solchen Sichtweise aus. Damit sind die Elemente des Normativitätsmodells bereitgestellt: der Abwehraspekt, der Leistungsaspekt 28 und der Ordnungsaspekt. 3. Aufbau des Modells

Das Normativitätsmodell setzt sich aus seinen verschiedenen Aspekten zusammen. 3.1. Abwehraspekt Der Abwehraspekt umfaßt dem Inhalt nach auch das klassische Grundrechtsverständnis, das auf den Unterlassungsanspruch geht und die Grundrechte lediglich als Abwehrrechte des Bürgers gegenüber dem Staat versteht, sei es als „status negativus" 2 9 , sei es als prinzipiell unbegrenzte Sphären bürgerlicher Freiheit aufgrund des „fundamentalen Verteilungsprinzips" 3 0 , das soziale Forderungen nicht zuließ 31 . Dieser negatorische Gehalt des Abwehrrechts — und nur er — verbindet diese Auffassungen m i t dem Gedanken des Abwehraspektes, der aus der Bedeutung der Grundrechtsnorm gewonnen w i r d ; denn ein gesolltes Verhalten des Staates, das zu „Freiheit" und „Würde" des Grundrechtsträgers führen soll, ist i n erster Linie als ein „Unterlassen" zu fassen; ande27

Vgl. auch A r t . 3 1 („sind . . . gleich"), 3 I I ( „ . . . sind gleichberechtigt"). Auch Häberle, W D S t R L 30, S. 76 F n 131, kennt einen „ A b w e h r - u n d L e i stungsaspekt der Grundrechte". 29 G. Jellinek, System, S. 87, 103; vgl. auch ders., Staatslehre, S. 419 f. — Kritisch hierzu: Hesse, Grundzüge, S. 118 f.; Häberle, W D S t R L 30, S. 80 ff. (Die Statuslehre Jellineks sei „ v o n ihrem spätabsolutistischen K o p f auf demokratische Füße zu stellen". Ausgangspunkt sei nunmehr „der status activus als Gmndstatus [Art. 1 I GG], abgestützt u n d ergänzt durch den status negativus, den status positivus u n d passivus" u n d erweitert u m den „status activus processualis". Hervorhebungen i m Original). — Vgl. auch He. Krüger, Staatslehre, S. 536 ff. 30 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 126,163 f. 31 C. Schmitt, a.a.O., S. 165, i m Gegensatz zu den sozialen Rechten (nicht Grundrechten!) des einzelnen auf positive Leistungen des Staates (ebd., S. 169). 28

12 Freihalter

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§ 8 Das Strukturmodell

reni alls würde man die nahe Möglichkeit verneinen, daß der Staat i n die Freiheit und Würde des Individuums „eingreifen" kann. I n diesem Sinne sei der Abwehraspekt aus der Sicht und der Rechtszuständigkeit des Grundrechtsträgers als „ Abwehrrecht" bezeichnet 32 . Das Abwehrrecht könnte danach zunächst brennpunktartig i m „Eingriff" des Staates i n die Freiheit zusammengefaßt werden. Der Eingriff wurde jedoch als staatlicher A k t verstanden, der „zielgerichtet" i n den Wirkungsbereich eines Grundrechts hineinschneidet 33 . Diese Einengung der grundrechtlichen Wirkungsbreite ist unbefriedigend und fast allgemein aufgegeben 34 ; das Abwehrrecht des Bürgers ist erweitert. Die Gesamtklasse aller möglichen Beeinträchtigungen von Grundrechten kann man i n zweifacher Weise angehen 35 : einmal orientiert man sich am früheren Eingriffsmodell und erweitert die Teilklasse der grundrechtsundrigen Beeinträchtigungen auf die „eingriffsgleichen Maßnahmen", deren Kriterien entweder subjektiv als „Voraussehbarkeit" oder objektiv als „Unmittelbarkeit der Beeinträchtigung" 3 6 aufzufassen seien; doch w i r d damit der Formalcharakter des Aktes überbetont, ohne daß sich hierfür i m Grundgesetz ein Anhalt finden ließe, und die vom Grundgesetz zugunsten des Individuums gesetzten Prioritäten und Tendenzen werden zugunsten des Pols der „Gesellschaft" verkehrt. Oder man betrachtet andererseits die Gesamtklasse der möglichen Beeinträchtigungen als potentiell grundrechtswidrig und fragt nur, ob der tangierte Lebensbereich von einem Grundrecht thematisch erfaßt wird, m i t anderen Worten: ob eben eine Beeinträchtigung der Reichweite des Grundrechts vorliegt 3 7 . U m nun nicht wiederum den Eigenwert des Individuums über32 Häberle, W D S t R L 30, S. 122, bezeichnet als „Grundrechtsinteresse" alle faktischen Grundrechtsbezüge, die jenseits des »Grundrechts 4 , d. h. des als subjektiv-öffentlichen Rechts oder Anspruchs justiziablen sachlichen Gehalts, liegt. Nach dieser Terminologie gehört der jenseits des Abwehrrechts liegende T e i l des Abwehraspekts u n d der (im folgenden näher erklärte) Ordnungsaspekt zum „Grundrechtsinteresse". 33 Vgl. zum folgenden insbes. Lerche, Übermaß, S. 106; Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S. 22 (m. w . N.). Fr. Müller, Positivität, S. 65, 72, 77 u. ö., versteht den „ E i n g r i f f " nurmehr als Einschränkung des Normbereichs u n d damit als „Beeinträchtigung" i m hier vertretenen Sinne. Vgl. auch E. v. Hippel, Grenzen, S. 42 m i t F n 82 („ein Freiheitsinteresse beeinträchtigt"). 34 Gallwas, a.a.O., S. 18; Martens, W D S t R L 30, S. 13 f. Auch Häberle, W D S t R L 30, S. 86, befürwortet die Ausdehnung des „Eingriffs" auf die i h m faktisch nahekommenden Maßnahmen (vgl. auch ebd., S. 59, 67). Noch weitergehend verweist Hesse, W D S t R L 30, S. 145, auf die „Beeinträchtigungen m i t den spezifischen M i t t e l n des leistenden Staates" u n d t r i f f t damit A b w e h r aspekt (vgl. dazu § 9,1.) und Leistungsaspekt (hierzu § 8,3.2.). 35 Vgl. auch Gallwas, a.a.O., S. 19 ff., m i t w . N. zum folgenden. 36 Lerche, Übermaß, S. 106, kennzeichnet m i t „ u n m i t t e l b a r " die Finalität, während „ m i t t e l b a r " das hier „ u n m i t t e l b a r " bezeichnet. 37 Ähnlich: Gallwas, a.a.O., S. 51 ff.; Friauf, DVB1. 71, S. 680 ff. (einschränkend).

3. A u f b a u des Modells

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zubetonen und damit entgegen der Verfassung seine Konvergenz mit dem Pol des „Dritten" und dem Pol der „Gesellschaft" zu sprengen und zu leugnen, w i r d einmal versucht, m i t dem Merkmal struktureller „Eingriffsferne" die Teilklasse grundrechtsmäßiger Beeinträchtigungen zu bestimmen, was jedoch mit dieser Formel so wenig zu schaffen ist wie die Grundrecktswidrigkeit m i t dem K r i t e r i u m der vorher dargelegten A u f fassung. Z u m anderen scheitert die Abgrenzung der Grundrechtsaktualisierung von ihrer bloßen Modalität „bei Gelegenheit" — eine Weise der Beeinträchtigung, die das Grundrecht nicht verletzen soll 3 8 — an der gleichen Unf aßbarkeit und Verschwommenheit wie die übrigen Kriterien. Alle diese Kriterien zeigen deutlich, daß sie durch das Beispiel allein illustriert werden können und daher letzten Endes auf den Einzelfall hinauslaufen. Sie verhüllen jedoch als echte „Kryptoargumente" 3 9 , daß es sich letztlich u m einzelf allgesteuerte Wertungen i m Rahmen einer Güterabwägung darüber handelt, ob nun eine „faktische Beeinträchtigung" des Grundrechts vorliegt, es sei denn, daß die Freiheitseinbuße ohnehin m i t der „Regelung" des staatlichen Aktes identisch ist („imperative Beeinträchtigung", „Eingriff") 4 0 , sich also aus dem Tenor des Aktes nach Inhalt und Umfang von selbst ergibt. Die einzelf allanalytischen „faktischen Beeinträchtigungen" verweisen damit von selbst auf die Problematik, die man üblicherweise m i t den „Schranken" oder „Grenzen" der Grundrechte umschreibt. Beide Formen der Beeinträchtigung, der Eingriff und die faktische Beeinträchtigung des Staates, müssen demnach von einem Grundrechtsvorbehalt oder einer sonstigen „Schranke" des Grundrechts gedeckt sein 41 . Das Abwehrrecht läßt sich daher allgemeiner als Unterlassungsanspruch des einzelnen gegenüber einer „Beeinträchtigung seiner Freiheit, Würde oder Gleichheit" durch den Staat umschreiben. Für die Frage, welches Grundrecht rechtswidrig beeinträchtigt (d. h. verletzt) ist, ist einmal an die Thematik des Grundrechts und seinen Inhalt anzuknüpfen; zum anderen ist auf die jeweilige „Grundrechtsaktualisierung" abzustellen, ohne Rücksicht darauf, welche Grundrechte die staatliche Reaktion mit Sanktionen belegt 4 2 . 38 Berg, Konkurrenzen, S. 138; Fr. Müller, Positivität, S. 38 u. ö.; Graf, Grenzen, S. 81. 39 Formulierung nach Scheuerle, A c P 163, S. 430. 40 So i m Ergebnis zu Recht: Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S. 45. Z u r Terminologie ebd., S. 10 ff. 41 Vgl. auch Gallwas, a.a.O., S. 73, 77 f., 86 ff. Das „Eingriffsmodell" scheint bisher den Zusammenhang von Beeinträchtigung u n d Schranken eines G r u n d rechts weitgehend verdeckt zu haben. 42 Z u r „Grundrechtsaktualisierung" zutr.: Fr. Müller, Positivität, S. 38, der auf den F a l l hinweist, daß der Staat das Malen oder Ausstellen eines Gemäldes (Art. 5 I I I 1) m i t Geldstrafe (Art. 14) oder Freiheitsstrafe (Art. 2 I I 2) sanktioniert; es handele sich hier n u r u m ein Problem der Kunstfreiheit.

12·

180

§ 8 Das Strukturmodell 3.2.

Leistungsaspekt

E i n L e i s t u n g s a s p e k t w i r d erst i n j ü n g s t e r Z e i t f ü r die G r u n d r e c h t e sichtbar. Es scheint sich i m m e r d e u t l i c h e r eine E n t w i c k l u n g abzuzeichnen, die die G r u n d r e c h t e aus i h r e m V e r s t ä n d n i s als bloßes A b w e h r r e c h t b e f r e i t 4 3 , o h n e daß d a d u r c h das A b w e h r r e c h t h i n f ä l l i g w ü r d e 4 4 . Diese E n t w i c k l u n g i s t gekennzeichnet d u r c h d e n W e g v o n der G r u n d r e c h t s gewährleistung zur Grundrechtsverwirklichung 45. Ü b e r d e n Schutz d u r c h A b w e h r h i n a u s — d e m i m w e s e n t l i c h e n e i n b e w a h r e n d e r , k o n s e r v i e r e n d e r C h a r a k t e r e i g n e t u n d d a m i t eine „ s t a t i s c h " gesehene F r e i h e i t s s p h ä r e — w i r d z u n e h m e n d das G r u n d r e c h t „ d y n a m i s i e r t " 4 6 , d. h. d e m S t a a t w i r d die Schaffung, G e s t a l t u n g u n d die W a n d l u n g der F r e i h e i t s s p h ä r e n z u r A u f g a b e gemacht. G e m e i n t i s t h i e r nicht die „ G r u n d r e c h t s b e g r e n z u n g u n d G r u n d r e c h t s a u s g e s t a l t u n g " d u r c h d e n a k t i v t ä t i g w e r d e n d e n Gesetzgeber 4 7 , der die W e r t e n t s c h e i d u n g e n der V e r f a s s u n g u n d die G r u n d r e c h t e rechtsschöpferisch k o n k r e t i s i e r e 4 8 , 43 Kritisch zu dieser einseitigen Sicht schon Häberle, Wesensgehaltgarantie, S. 126 ff. — Vgl. nunmehr die Ergebnisse der Staatsrechtslehrertagung 1971, veröffentlicht i n „ W D S t R L 30" u n d bei Folz, DÖV 71, S. 729; Link, DVB1. 72, S. 67; Scholz, AöR 97, S. 124. Die Grundrechte n u r als Abwehrrecht verstehen: Martens, W D S t R L 30, S. 13 f. ( „ M i t dem Verzicht auf Finalität [sc.: beim Abwehrrecht u n d seiner E r weiterung auf die „Beeinträchtigung" des Grundrechts] reagieren die Grundrechte auf die Leistungsstaatlichkeit."), S. 29 ff., 191; Dürig, ebd., S. 154 f.; Hans H. Klein, ebd., S. 171; w o h l auch Geck, ebd., S. 158 f.; Herzog, ebd., S. 148 f.; Böckenförde, ebd., S. 164 f.; Münch, ebd., S. 178 f.; Rauschning, ebd., S. 180. W e i l sich die modernen Probleme m i t dem bloßen Abwehrrecht nicht mehr einfangen ließen, betonen eine leistungsrechtliche Komponente: B V e r f G DÖV 72, S. 607; Friauf, DVB1. 71, S. 676 f.; Häberle, W D S t R L 30, S. 73, 75 f., 91, 112 ff. u. ö.; ders., DÖV 72, S. 729 f. u. ö.; Scheuner, W D S t R L 30, S. 143 f.; Hesse, ebd., S. 145 f.; Achterberg, ebd., S. 175; Rupp, ebd., S. 181; Kröger, ebd., S. 182; Maurer, ebd., S. 182 f.; w o h l auch Zacher, ebd., S. 152; Menzel, DÖV 72, S. 540; Plander, N J W 72, S. 1942 f. U n k l a r : Kimminich, JZ 72, S. 696 ff. 44 Sinngemäß ebenso: BVerfG DÖV 72, S. 607; Menzel, DÖV 72, S. 540; Häberle, W D S t R L 30, S. 57 F n 53, S. 75, 102, 189; Scheuner, ebd., S. 143\Hesse, ebd., S. 145; Zacher, ebd., S. 151 f.; Rupp, ebd., S. 181 f. Deshalb ist die Rede von der „Umdeutung" (so Martens, W D S t R L 30, S. 25; Kriele, ebd., S. 160; Rupp, ebd., S. 181) bzw. v o m „Umschlag" (Häberle, ebd., S. 80,115) oder von der „Umschreibung" (Häberle, a.a.O., S. 74 der freiheitlichen Abwehrrechte i n soziale Anspruchsrechte oder i n (objektive) Verfassungsaufträge zumindest mißverständlich (richtig: Hesse, W D S t R L 30, S. 146). 45 Vgl. BVerfG DÖV 72, S. 607; Häberle, W D S t R L 30, S. 70, 99, 110, 114 ff., 119 f. u. ö. 46 Vgl. auch Lerche, Übermaß, S. 94. Häberle, W D S t R L 30, S. 131, konfrontiert den statischen Grundrechtskatalog m i t dem dynamischen Problem des Leistungsstaates. 47 So Häberle, Wesensgehaltgarantie, S. 180ff. Zusti.: Scheuner, DÖV 71, S. 510 f. 48 Ebd., S. 184 f., 187.

3. Aufbau des Modells

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die Grundrechte selbst interpretiere und frei gestalte 49 und mit ihrem jeweiligen Wesensgehalt ausstatte 50 , lediglich gebunden an das „Leitbild" des jeweiligen Grundrechts 51 — eine Sichtweise, die das Abwehrrecht des Individuums unterläuft, den Antwortcharakter des Grundgesetzes und insbesondere der Freiheitsrechte verkennt, demgemäß den Vorbehalt des Gesetzes lediglich i n eine „Verfassungsbestätigung" 52 verkehrt und damit zu einer „Reinigung . . . vom Eingriffs- und Schrankendenken" zwingt 5 3 ; der Gesetzgeber w i r d total, nur noch gebannt von vagen „Leitbildern" und überwacht vom Bundesverfassungsgericht 54 . Dies bedeutet: „Freiheit nach Maßgabe der Gesetze" und verkehrt den Sinn der Grundrechte ins Gegenteil 55 . Gemeint ist vielmehr die Schaffung 56 , Gestaltung 5 7 und Wandlung der Freiheitssphären hin zu einem ermöglichenden 56 , erweiternden und ausdehnenden Verständnis, i m Einklang mit dem skizzierten Fernziel der Verfassung 58 . Seine Grenzen findet das neue Verständnis an der Grundrechtswirklichkeit; sie zu schaffen, ist allein Aufgabe des autonomen Individuums, während das einzelne Grundrecht nach Zielphänomen und Funktion für „Freiheit und Würde" des einzelnen und für die Gleichheit des Dritten lediglich zu wirken, d. h. seine reale Basis sicherzustellen hat.

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Ebd., S. 186. Ebd., S. 183. 51 Ebd., S. 182. 52 Ebd., S. 203. — Abi.: Fr. Müller, Positivität, S. 18. 53 So Häberle, Wesensgehaltgarantie, S. 222. — Kritisch: Knies, K u n s t freiheit, S. 33 ff., insbes. S. 36 ff. (m. w . N.); Schaumann, JZ 70, S. 53. Bedenken gegen „Schranken" bestehen jedoch aus dem Beeinträchtigungsbegriff, der Güterabwägung u n d der spezifischen Situation der Gewissensfreiheit. 54 Bezeichnend Häberle, a.a.O., S. 187: „Solange eine verfassungsgerichtliche Kontrolle besteht, ist eine Gefahr f ü r die Grundrechte nicht vorhanden." 55 Kritisch: Knies, Kunstfreiheit, S. 33 ff. (m. w . N.); Podlech, Staat 6, S. 348 ff. — Kritisch gegen die Interpretation v o m Unterverfassungsrecht her insbes. Fr. Müller, Positivität, S. 18, 45 f. Vgl. auch BVerfGE 28, 243.260 f.: Die verfassungsrechtlichen Bestimmungen liefern die Grundlagen u n d den Rahmen, an den die übrigen Rechtsäußerungen u n d -erscheinungen sich anzupassen haben. 56 Insbes. der tatsächlichen Voraussetzungen der Grundrechtsausübung: Häberle, W D S t R L 30, S. 57 F n 53, S. 96, 112 F n 298, S. 115 f., 120; ders., DÖV 72, S. 731; Scheuneï, W D S t R L 30, S. 144; Hesse, ebd., S. 144; Böckenförde, ebd., S. 163; Hans H. Klein, ebd., S. 171; Rupp, ebd., S. 181. — Vgl. auch BVerfG DÖV 72, S. 607 (zum Recht auf freie W a h l der Ausbildungsstätte); Friauf, DVB1. 72, S.677. 57 Vgl. Scheuner, W D S t R L 30, S. 144: der Staat als „Gestalter der Freiheit"! 58 Ähnlich: Friauf, DVB1. 71, S. 676 f. Die Orientierung am Fernziel „Freiheit u n d Würde" scheint auch f ü r Häberles L e i t l i n i e des „personalen Schutzdenkens" ( W D S t R L 30, S. 74, 185) der tragende Hintergrund zu sein (s. auch ders., a.a.O., S. 57, 65). 50

182

§8 Das Strukturmodell

D i e n e u e n T e n d e n z e n b e g a n n e n i m einfachen Gesetzesrecht 5 0 u n d suchten — da es o f t g e n u g s c h w i e g oder gar e n t g e g e n s t a n d — sich auch d u r c h R ü c k g r i f f a u f die G r u n d r e c h t e z u l e g i t i m i e r e n 6 0 , sei es i m R a h m e n einfacher „ V e r f a s s u n g s a u f t r ä g e " 6 1 , „ V e r f a s s u n g s d i r e k t i v e n " 6 2 , sei es als B e s t a n d t e i l e i n e r „ d i r i g i e r e n d e n V e r f a s s u n g " 6 3 oder g a r als spezieller A n s p r u c h a u f g r u n d eines besonderen G r u n d r e c h t s 6 4 , sei es a l l g e m e i n e r u n d umfassender als P f l i c h t z u r B e r e i t s t e l l u n g des g r u n d r e c h t l i c h e n S u b s t r a t s 6 5 oder als „ p r o g r a m m a t i s c h - d i r i g i e r e n d e W i r k u n g " 6 6 , sei es v ö l l i g a l l g e m e i n u n d a l l u m f a s s e n d f ü r s ä m t l i c h e F r e i h e i t s r e c h t e als p o s i t i v e r „ A u f t r a g des Gesetzgebers z u r V e r w i r k l i c h u n g der F r e i h e i t s r e c h t e " 6 7 , d e m n u r ausnahmsweise e i n s u b j e k t i v - ö f f e n t l i c h e r A n s p r u c h des B ü r g e r s a u f staatliches H a n d e l n entspreche 6 8 . U n d v o n n e u e m b e g i n n t die Rechtsfigur 59 Vgl. Kloepfer, Grundrechte, S. 3 ff. m. w . N. („Anspruch auf polizeiliches Einschreiten", „Anspruch auf Fürsorge"). 60 B V e r w G E 9, 78.80 f. („Anspruch auf I m p f u n g " aus A r t . 2 I ) ; E 23, 347 ff. („Subventionierung v o n Privatschulen"; kritisch hierzu: H. Weber, N J W 66, S. 1798 ff.); E 27, 360 ff. (kritisch: H. Weber, JZ 68, S. 779 ff. m. w. N.; zusti.: Häberle, W D S t R L 30, S. 77 ff.). Vgl. auch Barion, D Ö V 66, S. 367, der f ü r A r t . 7 I V eine staatliche Finanzierungspflicht f ü r Privatschulen ablehnt. S. ferner zum (bestr.) subjektiven Leistungsrecht der E l t e r n u n d Schüler gegen den Staat auf Veranstaltung von schulischem Religionsunterricht: Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 7 Rdnr. 47. 61 Zusammenfassend: Schweda, Nichterfüllte Aufträge (mit Intension u n d Extension, S. 18 ff. u n d m. w . N.). — Z u m Rechtsschutz gegen gesetzgeberisches Unterlassen: Ek. Schumann, AöR 88, S. 331 ff.; Rud. Schneider, AöR 89, S. 24 ff.; Lerche, AöR 90, S. 350 ff. u. ö. 62 Lerche, AöR 90, S. 341 ff., m i t Bezug auf die „nicht erfüllten Gesetzgebungsaufträge", zu denen er auch Programmsätze rechnet (S. 346 ff.), die als „sachliche Richtsätze" verbindlich seien. 68 Z u m Begriff: Lerche, Übermaß, S. 64 f. Z u den Freiheitsrechten m i t spezifischem Grundsatzgehalt: ebd., S. 68 f., 265 ff. 64 BVerwG, a.a.O. (Fn 60). Vgl. auch Häberle, DÖV 60, S. 387, insbes. Fn. 31. 65 S. Kloepfer, Grundrechte, S. 14 F n 70. Ä h n l i c h Bäumlin, W D S t R L 28, S. 8: „ . . . gewährleisten die Grundrechte Vorbedingungen personaler Existenz . . . auch i m staatlich-politischen Bereich". ββ Scholler, DÖV 69, S. 529 (zur Gewissensfreiheit). 67 Schaumann, JZ 70, S. 48 ff. (zusti.: Martens, W D S t R L 30, S. 150, jedoch unter A b l e i t u n g aus dem Sozialstaatsprinzip), wenngleich Schaumann, a.a.O., S. 49, durch den Hinweis auf die Wandlung der Freiheitsrechte zu Grundrechten i. S. einer „Grundlegung f ü r den Staat" bereits zum folgenden „Ordnungsaspekt" überleitet. — Ferner: Friauf, DVB1. 71, S. 677, nach dem die defensiven Grundrechte eine „Ausdehnung ihres Schutzbereiches" erfahren haben, n ä m lich „die positive Pflicht des Staates, die grundrechtlich gewährleistete Freiheitsbetätigung durch aktive Förderung u n d Unterstützung zu sichern, u. U. überhaupt erst zu ermöglichen". A b i . : Kuli, D Ö V 72, S. 455. — I . S. eines (objektiven) Verfassungsauftrags an den Gesetzgeber auch Häberle, W D S t R L 30, S. 73, 109 ff., 112 u. ö.; ders., D Ö V 72, S. 731 u. ö.; Scheuner, W D S t R L 30, S. 143 f.; Martens, ebd., S. 150; w o h l auch Rupp, ebd., S. 181. A b i . : Böckenförde, ebd., S. 164 f.; Kriele, ebd., S. 160. — Das B V e r f G QDÖV 72, S. 608) scheint zu einem objektiven Verfassungsauftrag zu neigen, läßt die Frage aber letztlich dahingestellt. 68 Schaumann, J Z 70, S. 53. S. auch F n 110.

3. A u f b a u des Modells

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der „sozialen Grundrechte" — niedergelegt etwa i n der Weimarer Verfassung 69 und i n den Verfassungen einzelner Bundesländer 70 — ihre faszinierende W i r k u n g auszuüben 71 . Der rechtstatsächliche Grund dieser Tendenzen 72 und ihre Rechtfertigung liegen in den sozialen Wandlungen, die zur modernen Gesellschaft geführt haben, und i n den veränderten Bedürfniskonstellationen dieser Gesellschaft. Die grundgesetzlich legitimierte 7 3 Gewährung und Verteilung von Leistungen durch den Staat, auf die faktisch jedermann angewiesen ist und auf die allseits vertraut w i r d ; der häufig nur noch dem Staat mögliche Aufweis von Alternativen oder Aufbau neuer Institutionen, die die Ausübung von Grundrechten erlauben, ohne daß der Unterlassungsanspruch des Abwehrrechts durch Kopplung überspielt werden könnte; die nur noch dem Staat mögliche Entmachtung sozialer Gewalten, die i n wachsendem Maße durch faktische Zwänge Freiheit und Würde, Gleichheit und Ordnung bedrohen 74 ; die weithin dem Staat zugefallene und nur i h m mögliche Gestaltung gesellschaftlicher Strukturen, denen das Individuum selbst faktisch unentrinnbar unterworfen ist 7 5 —: diese und zahllose weitere Faktizitäten beweisen, daß ein Schweigen oder Weigern des Staates auf die tagtäglichen Notwendigkeiten des sozialen Lebens die Fernziele der Verfassung i n ihrem sachlichen Gehalt berühren und beeinträchtigen würde. Die Grundrechte würden zum Privileg der „beati possidentes", denen sie zwar auch zustehen 76 , aber nicht 69

A r t . 119 I I , I I I , 121 I I I , 122 1,139 I u. a. WRV. A r t . 128 I, 166 I I u. a. B V ; A r t . 8 I, 27 I, 49 I I , 58 I u. a. B r e m V u. a. m. 71 Vgl. Häberle, W D S t R L 30, S. 73, 76, 90 ff.; Scheuner, ebd., S. 144 (anders noch ders., Institutionelle Garantien, S. 96; s. auch schon ders., D Ö V 71, S. 513) ; Zacher, ebd., S. 152 f. — Kritisch: Martens, W D S t R L 30, S. 30. 72 Die „wirklichkeitswissenschaftliche Bestandsaufnahme" Häberles ( W D S t R L 30, S. 45 ff.) ist i m wesentlichen eine Bestandsaufnahme rechtsnormativer, rechtspolitischer u n d kompetenzverteilender A r t , behandelt also n u r gegebene bzw. erwünschte A n t w o r t e n des Gesetzgebers auf eine festgestellte „Mangellage" unter Kundgabe der eigenen Wertungen. Da aber eine Analyse dieser „Mangellage" u n d der Folgen ihres etwaigen Weiterbestehens, d. h. also eine wirklichkeitswissenschaftliche Untersuchung etwa soziologischer u n d sozialpsychologischer A r t , weitgehend fehlt, sind Häberles Wertungen nicht überzeugend, sondern allenfalls „einleuchtend". Vorbildlich ist hingegen die Offenlegung der eigenen Wertungen. 73 Vgl. A r t . 3, 7 I V S. 3 u n d 4, 14 I I , 20 I, 28 I I , 29 I, 33 I I , V, 109, 110 u. a. — S. auch Häberle, W D S t R L 30, S. 46; Maurer, ebd., S. 182. 74 S. Häberle, W D S t R L 30, S. 68, 70: Der Staat sei n u r noch zum T e i l »Gegner' der Grundrechte; i n W i r k l i c h k e i t seien es „Zwischenmächte m i t angemaßter quasi-öffentlicher Gewalt". S. auch seinen berechtigten Hinweis (ebd., S. 68 F n 99) auf den tieferen G r u n d der Drittwirkungslehre. — Vgl. ferner: Menzel, D Ö V 72, S. 540 f., 545; w o h l auch Schmitt Glaeser, W D S t R L 30, S. 171. 75 Andeutend schon Scheuner, DÖV 71, S. 510, 513. 76 So richtig: Zacher, W D S t R L 30, S. 152. 70

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§8 Das Strukturmodell

allein 7 7 . Es ist nicht Aufgabe der Jedermann-Grundrechte, nur den Besitzstand weniger zu wahren und durch staatsfreie Bezirke zu fördern, für das Heer der vielen aber nur ein tückisches Pathos bereitzuhalten. Sollen die Unterprivilegierten sich m i t dem Staat des Grundgesetzes identifizieren können, so muß der Staat zu positivem Tun, zu „Leistungen" an den Jedermann verpflichtet sein und damit reagieren auf die „unbestreitbare Tatsache, daß die Nutzung zahlreicher Grundrechte bestimmte faktische Gegebenheiten voraussetzt m i t der Folge, daß eine Ausübung der verfassungsmäßig gewährleisteten Rechte nur demjenigen möglich ist, der die ,capacité', verstanden als Vermögen i n einem umfassenden Sinn, besitzt, sich diese Voraussetzungen anzueignen" 78 . Geht man davon aus, daß Freiheit, Würde und Gleichheit nur mit Hilfe des Staates möglich sind 7 9 und der Staat daher zu Leistungen verpflichtet ist, und w i l l man diese Leistungsmacht des Staates kontrollieren, ohne sie einer technokratischen Superinstanz zu übertragen, so kann die Leistungspflicht des Staates und ihre Kontrolle nur dort verankert werden, wo beide dem einfachen Gesetzgeber und der jeweils herrschenden Schicht nicht ohne weiteres verfügbar sind —: i n der Verfassung, sei i m Wege „grundrechtssichernder Geltungsfortbildung" 8 0 , sei es auf anderer Verfassungsebene. Es werden die Gefahren nicht verkannt, die eine verfassungsrechtlich verankerte Leistungspflicht des Staates heraufbeschwören kann: die Pflicht des Staates w i r d auf Verfassungshöhe schnell zum Anspruchsdenken des Bürgers 8 1 und die garantierten Existenzbedingungen — zu Ende gedacht — zur Bedrohung von Freiheit, Würde und Gleichheit. Doch so wenig das ,zu Ende gedachte' Phantom des staatlich subventionierten Revolutionärs überzeugt, so wenig auch die ,zu Ende gedachte4 Eigendynamik des „Leistungsstaats" 62 , da hier bewußt oder unbewußt die entgegenstehenden Kräfte und Gewalten übersehen werden und selbst der grobe Eigennutz Gegengewichte zu schaffen sucht, die vereiteln, daß er sich eines Tages selbst aufhebt. So w i r d auch hier das Pendel — nach einigen weiten Ausschlägen — i n eine Mittellage zurückkehren, die zwar 77 Kritisch auch: Häberle, W D S t R L 30, S. 70, 74, 75 F n 126, S. 96; Hesse, ebd., S. 145; Kriele, ebd., S. 161; Böckenförde, ebd., S. 163. 78 So Martens, W D S t R L 30, S. 28, jedoch unter ausdrücklicher Ablehnung grundrechtsnormativer Konsequenzen (a.a.O., S. 29 ff.). 79 Z u r „Freiheit durch den Staat": Häberle, W D S t R L 30, S. 76, 99, 109; Scheuner, ebd., S. 144; Hesse, ebd., S. 145 f.; Rupp, ebd., S. 181. 80 So Häberle, W D S t R L 30, S. 69, 72, 99, 185 u. ö.; zusti.: Schmitt Glaeser, ebd., S. 171 f. 81 Warnend: B V e r f G DÖV 72, S. 608; Martens, W D S t R L 30, S. 33; Häberle, ebd., S. 62 f.; Kröger, ebd., S. 182. 82 Z u m Begriff: Martens, W D S t R L 30, S. 8 ff.; Häberle, ebd., S. 55 ff. (jeweils m. w. N.); Münch, ebd., S. 177 f. — Kritisch: Scholler, ebd., S. 176 f.

3. A u f b a u des Modells

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labil, aber doch nicht flüchtig ist und einer Dynamisierung von Grundrechten deutliche Grenzen setzt. — Auch gefährdet der verfassungsrechtliche Leistungsaspekt nicht die Kompetenzen des Gesetzgebers. Seine Aufgabe ist es, die staatliche Leistungspflicht zu konkretisieren und zu aktualisieren sowie die Prioritäten zu setzen und die möglichen Regelungsräume abzugrenzen 83 . Aufgabe einer verfassungsrechtlich statuierten Leistungspflicht des Staates ist es, dem Gesetzgeber die Frage des „Ob" zu entziehen, i h m unter Umständen das Recht zur Bestimmung des „Wann" zu nehmen und i n Extremfällen das „Wie" dem Richter zu übertragen, mag der Richter hier (aber nicht nur hier!) auch deutlich auf verfassungspolitisches Gebiet übergreifen 84 . — Beide Einwände — Anspruchsdenken des Bürgers und Entmachtung des Gesetzgebers — sollten aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie — vice versa — erstaunlich jenen Argumenten gleichen, m i t denen der Feudalismus den Anfängen des liberalen Rechtsstaates zu wehren suchte. Es kann dahinstehen, wo der Leistungsaspekt — allein oder gemeinsam mit anderen Prinzipien — rechtsdogmatisch fundiert w i r d —: i m Gleichheitssatz i. S. der Chancengleichheit 85 , i m Sozialstaatsprinzip 86 oder i n anderen Prinzipien. Allein entscheidend für den vorliegenden Zusammenhang ist, daß der Leistungsaspekt auch i n den Freiheitsrechten 87 dogmatisch fundiert werden kann 8 8 und daß das praktische Bedürfnis 83 Vgl. BVerfG DÖV 72, S. 608; Friauf, DVB1. 71, S. 677 f.; Menzel, DÖV 72, S. 546; Martens, W D S t R L 30, S. 30 ff.; Häberle, ebd., S. 95 F n 219, S. 110 u. ö.; ders., D Ö V 72, S. 734 f.; Scheuner, ebd., S. 144; Rupp, ebd., S. 181; Maurer, ebd., S. 183; Plander, N J W 72, S. 1942. 84 Kritisch: Martens, W D S t R L 30, S. 36; Böckenförde, ebd., S. 164 f.; Oppermann, ebd., S. 168. — Wie hier: Häberle, ebd., S. 84 F n 176, S. 110, 115 u. ö.; Maurer, ebd., S. 183; w o h l auch Menzel, DÖV 72, S. 546. 85 So etwa: BVerfG D Ö V 72, S. 607; Häberle, DÖV 72, S. 733 („der Gleichheitssatz aus seiner Verkümmerung zum W i l l k ü r v e r b o t befreit" ; s. auch ders., W D S t R L 30, S. 96 ff.), S. 737 m i t F n 77. Vgl. auch die Nachweise bei Martens, W D S t R L 30, S. 26 F n 92 f., der selbst dieses Verständnis ablehnt (ebd., S. 190). Kritisch auch: Zacher, ebd., S. 151 f.; Kimminich, JZ 72, S. 699. 86 So etwa: BVerfG D Ö V 72, S. 607; Menzel, D Ö V 72, S. 540, 541, 545 f.; Martens, W D S t R L 30, S. 29 f., 191 (ohne individuelle verfassungsrechtliche Leistungsansprüche anzuerkennen); Böckenförde, ebd., S. 163; Maurer, ebd., S. 183. Kritisch: Achterberg, ebd., S. 175. — U n k l a r : Häberle, ebd., S. 75 F n 126, S. 92 ff., 112 m i t F n 295 (in Richtung auch auf das Sozialstaatsprinzip: ders., DÖV 72, S. 730 f., 734 F n 40). — Dahingestellt: Hans H. Klein, ebd., S. 171. 87 Der Leistungsaspekt des Gleichheitssatzes ist die Chancengleichheit, sein Abwehraspekt das W i l l k ü r v e r b o t . I m folgenden w i r d er durch den Bezug auf die Grundrechte implizite m i t behandelt. 88 I m Ergebnis ebenso: BVerfG D Ö V 72, S. 607; B V e r w G E 27, 360; Häberle, W D S t R L 30, S. 112, 103 u. ö.; ders., DÖV 72, S. 730 f. (Freiheit, Gleichheit, Sozialstaatsprinzip: „eine ,Trias', die f ü r die Grundrechte i m Leistungsstaat typisch ist"!), S. 734 F n 40; Plander, N J W 72, S. 1942; Kimminich, JZ 72, S. 696 sowie die weiteren Nachweise bei Martens, W D S t R L 30, S. 26 F n 94 ff. —

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§ 8 Das Strukturmodell

dies gebietet. Wie schon oben festgestellt 89 , läßt der Wortlaut vieler, wenn auch nicht aller Grundrechte eine Bedeutung zu, bei der ein Verhalten des Grundrechtsadressaten ,Staat' i n Form positiven Tuns („Leistungen") gesollt, der Staat also zu Leistungen verpflichtet ist (Leistungsaspekt). Dies reicht hin, u m für ein Modell den Leistungsaspekt generell als potentielle Sichtweise der Grundrechte und damit auch der Freiheitsrechte einzuführen. Daß dieser Aspekt auch geboten ist, erweist sich schon daran, daß die festgestellte Leistungspflicht des Staates auf Verfassungsebene nur dann an den grundrechtlichen Wertentscheidungen des Verfassungsgebers i n rationalisierbarem Umfange teilnehmen und gemessen werden kann, wenn die staatliche Leistungspflicht auf diesen Wertungen aufbaut 9 0 und auf diese Weise die Nahziele der Einzelgrundrechte über Zielphänomen und Funktion ihren sachlichen Gehalt i n die zur Regelung anstehenden „Leistungsmaterien" einfließen lassen können. Wollte man demgegenüber die Leistungspflicht des Staates nicht zumindest auch auf die Grundrechte gründen, so würde dies notwendig bedeuten, daß Freiheit, Würde und Gleichheit für die Frage des „Ob" staatlicher Leistungen, möglicherweise auch des „Wann" und des „Wie", gleichgültig sind; denn sonst flössen diese Wertentscheidungen i n die Problemlösungen staatlicher Leistungspflicht ein, ohne durch die Rationalität des Normativitätsmodells überprüfbar zu sein. Der Leistungsaspekt der Grundrechte ist aber auch deshalb geboten, w e i l aufgrund der oben skizzierten gesellschaftlichen Wandlungen nur noch der Staat Garant für die Umsetzung der grundrechtlichen Wertentscheidungen i n die Verfassungswirklichkeit sein kann 9 1 . Die leistungsrechtliche Ausdeutung der Grundrechte ist somit die „ A n t w o r t auf spezielle Grunrechtsdefizite i m sozialen Leben" 9 2 . Nicht steht es dem Leistungsaspekt entgegen, daß das Grundgesetz keinen Katalog sozialer Grundrechte kennt 9 3 . Abgesehen davon, daß A r t . 6 solche Rechte i n Ansätzen aufweist, läßt sich die bewußte Nichtaufnahme sozialrechtlicher Verbürgungen auch dahin deuten, daß sie für die strikte Bindung des A r t . 1 I I I inhaltlich nicht hinreichend fixiert und präzisiert sind und deshalb aus rechtssystematischen Gründen von ihrer Aufnahme in Abi.: Martens, a.a.O., S. 29 ff. Vgl. auch die Nachweise oben i n F n 43. Böckenförde, W D S t R L 30, S. 163, sieht das Rechtsstaatsprinzip als Quelle der Sicherung der elementaren Voraussetzungen f ü r die Realisierung der Freiheit. — Achterberg, ebd., S. 175, spricht v o n „immanenten Leistungsrechten". Gegen die „Immanenz" spricht jedoch die Unkontrollierbarkeit dieser Denkfigur. Vgl. hierzu a u d i § 11,1. F n 35. 89 S. oben § 8, 2. 90 Vgl. auch die obige Argumentation zur Begründung einer verfassungsrechtlichen Leistungspflicht des Staates. 91 Dahingestellt: B V e r f G D Ö V 72, S. 607. 92 Formulierung nach Häberle, W D S t R L 30, S. 75 F n 126; s. auch S. 57, 65, 99. 93 So aber: Martens, W D S t R L 30, S. 30.

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den Grundrechtsteil abgesehen wurde 9 4 . Da hierin aber keine Absage an soziale Grundrechte gesehen werden kann, bleibt die Stellungnahme des historischen Verfassungsgebers zu sozialrechtlichen Verbürgungen wieder offen und der Leistungsaspekt der Grundrechte möglich. Wie schon betont, w i r d dieses Grundrechtsverständnis nicht dadurch ausgeschlossen, daß auch andere Verfassungsprinzipien zu einer staatlichen Leistungspflicht tendieren oder sie dem Staate auferlegen. Hier spannt sich zwischen den angewandten Prinzipien und Rechten eine Brücke tatsächlicher A r t — tatsächlich insofern, als auf ein und denselben Lebenssachverhalt verschiedene Normen m i t ihrem jeweils einschlägigen Bedeutungsgehalt nach A r t einer Idealkonkurrenz Anwendung finden. Dem braucht jedoch keine Brücke rechtlicher A r t zu entsprechen. Vielmehr droht dann die Gefahr, bloße Konkurrenzen i m Normbereich zur rechtlichen Verspannung und Wechselwirkung zu erheben 95 und Irrationalismen dieser A r t zu Scheinproblemen aufzubauschen. Dies schließt es jedoch nicht aus, daß i m konkreten Entscheidungsfall etwa aufgrund der einzelnen Normen — „je für sich" — zwar keine Leistungspflicht des Staates festgestellt werden könnte, wohl aber der „Gleichklang" mehrerer Normen i n Richtung auf einen Leistungsaspekt den Ausschlag zugunsten einer staatlichen Leistungspflicht gibt. Positives Tun des Staates kann also gesolltes Verhalten i m Rahmen der Grundrechte sein 9 6 ; denn es ist nicht auszuschließen, daß der Staat die Freiheit und Würde des Individuums und die Gleichheit Dritter etwa dadurch verletzt, daß er untätig bleibt und nichts zum Schutze des Individuums oder des Dritten unternimmt. Dieser „Leistungsaspekt" der Grundrechte hat positives Tun — die „Leistung" — zum Gegenstand; ihr Inhalt und Umfang sind aber heute noch völlig unbestimmt! Nicht jedoch sei hier versucht, die Leistung als „Teilhabe" zu deuten 97 . Abgesehen davon, daß i n der „Teilhabe" die Notwendigkeit eines eigenen Beitrags anklingt 9 8 , damit den Staat zur Kopplung m i t „notwendigen" Pflichten des Betroffenen herausfordert und somit die Teilhabe m i t Prämierungsfunktion verbindet, liegt i n der „Teilhabe" zudem ein Gleichheitsmoment 99 , das i n den Freiheitsrechten nicht angelegt, sondern nur 94

Vgl. Menzel, DÖV 72, S. 537. Gegen eine Harmonisierung des „intentionalen Gegensatzes" v o n Sozialstaatsprinzip u n d Rechtsstaatsprinzip: Hans H. Klein, W D S t R L 30, S. 171. — Z u beachten ist jedoch, daß der „Gegensatz" die Kollision (Güterabwägung!) kennzeichnet, nicht die Konkurrenz. — Z u m Sozialstaats- u n d zum Rechtsstaatsprinzip vgl. auch Martens, ebd., S. 29 f.; Böckenförde, ebd., S. 163. 96 S. auch Hesse, W D S t R L 30, S. 146. 97 Hierzu: BVerfG DÖV 72, S. 607 u. ö.; Häberle, W D S t R L 30, S. 75, 82 ff., 112 u. ö.; ders., DÖV 72, S. 735. 98 Vgl. Kimminich, JZ 72, S. 697. 99 Kimminich, a.a.O., sieht hierin Gefahren u n d Nachteile. Vgl. auch Häberle, W D S t R L 30, S. 98. 95

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§8 Das Strukturmodell

dem Gleichheitssatz zuzuordnen ist. Deshalb sei hier die „Leistung" zugrundegelegt, verstanden als Zuwendung sächlicher, finanzieller oder dienstmäßiger A r t 1 0 0 . Diese Auffassung würde es zwar erlauben, auch einen „status activus processualis" als Gegenstand staatlicher Leistungspflicht abzuleiten 1 0 1 ; doch besteht hierfür i m gegenwärtigen Zeitpunkt kein praktisches Bedürfnis 1 0 2 . Denn schon heute ist der Bürger der modernen Arbeitswelt physisch und psychisch nicht mehr i n der Lage, die verfahrensmäßigen Möglichkeiten unserer staatlichen Ordnung auch nur annähernd auszuschöpfen. Wollte man die Verfahrensmöglichkeiten noch vermehren, so würde dies letztlich wiederum auf eine Privilegierung weniger hinauslaufen, die es sich leisten können, sachkundige Vertreter i n die verschiedenen Verfahren zu entsenden und unter dem Deckmantel des allgemeinen Interesses ihre höchstpersönlichen Interessen zu betreiben. Jeder andere Bürger würde entweder i n bloße Geschäftigkeit verstrickt, die i h n sein eigentliches Anliegen „ i m Marsch durch die Instanzen" schnell vergessen ließe, oder er würde „verfahrensmüde", sei es weil er sich zuviel Mitbestimmung zugemutet hat, sei es weil er sich durch die Kompliziertheit moderner Probleme überfordert und der wirklichen oder angeblichen Sachkunde anderer ausgeliefert fühlt. Damit mündet die „Konfliktbewältigung durch Verfahren" i n Konfliktverdeckung durch Umtrieb und Erschöpfung; die Ziel Vorstellung, die die Verfahrensteilhabe vermehren hieß 1 0 3 , würde i n ihr Gegenteil verkehrt. Hinzu kommen praktische Schwierigkeiten bei der Durchführung sowie die Gefahr „staatlicher Umarmung" des Bürgers 1 0 4 , die sich wegen der größeren Sachkunde der befaßten Beamten auch durch „pluralistische Verfahren" nicht vermeiden ließe 1 0 5 . W i r d daher i m Augenblick auf die Ausformung eines „status activus processualis" verzichtet, so läßt er sich doch offenhalten als Möglichkeit für die Zukunft. Der Leistungsaspekt der Grundrechte umfaßt alles gesollte Verhalten i n der Gestalt staatlicher Leistung. Diesem Sollen entspricht die staatliche Pflicht, nicht notwendig aber ein entsprechendes Recht des Bürgers. Der Leistungsaspekt kann mehrere Zwischenstufen' durchlaufen, vom objek100 Martens, W D S t R L 30, S. 8: „Vorteile i n Gestalt v o n Sach-, Geld- und Dienstleistungen" auf den Bereichen der Daseinsvorsorge, sozialen Sicherung u n d sonstigen Förderung. A u c h Link, DVB1. 72, S. 71, betont, daß die Leistung nicht bloß die finanzielle Subventionierung umfassen könne. 101 So i m Ergebnis Häberle, W D S t R L 30, S. 75, 86 ff., 125 ff. (jedoch nicht als Annex der Leistungsfunktion, vgl. ebd., S. 88 F n 192); Menzel, DÖV 72, S. 541, 545. 102 Selbst Häberle, W D S t R L 30, S. 130, w a r n t v o r übertriebenen Hoffnungen. 103 S. Häberle, ebd., S. 75, 86 ff., 125 ff. — Kritisch: Herzog, ebd., S. 146 ff.; Schmitt Glaeser y ebd., S. 172. 104 Schmitt Glaeser, W D S t R L 30, S. 172. 105 Α. Α.: Häberle, W D S t R L 30, S. 189.

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tiven Grundrechtsauftrag bis zum subjektiv-öffentlichen Recht des Bürgers 106 , das als „Leistungsrecht" bezeichnet sei 1 0 7 . Die verfassungsgerichtliche Sanktion kann ganz ausbleiben, sei es w e i l die Leistungspflicht des Staates nicht besteht (Frage des „Ob") oder zur Zeit nicht besteht (Frage des „Wann"), oder die Sanktion w i r d ausgesprochen, sei es durch die Feststellung, daß das staatliche Nichttun grundrechtswidrig ist, sei es dadurch, daß dem einzelnen Bürger eine bestimmte oder bestimmbare Leistung zugesprochen w i r d 1 0 8 . U m nun aber dem Individuum keinen allgemeinen Grundrechtsvollziehungsanspruch einzuräumen, dessen Auswirkungen unübersehbar wären und der die Arbeit des Gesetzgebers lahmlegen und seine Gestaltungsfreiheit auf N u l l reduzieren würde, w i r d man hier vorerst regelmäßig nur für den Einzelfall ein subjektiv-öffentliches (Grund-)Recht auf positives Tätigwerden ins Auge fassen können, zudem deutlich beschränkt auf ein unmittelbares „subjektives Betroffensein" dergestalt, daß der Beschwerdeführer als Adressat der von i h m begehrten Leistung anzusehen wäre 1 0 9 . Es sei demnach festgehalten, daß für die Grundrechte ein allgemeiner Leistungsaspekt wie auch ein engeres Leistungsrecht i. S. eines subjektiv-öffentlichen Rechts denkbar sind, die sich jedoch i n der Regel nur für das einzelne Grundrecht und für den Einzelfall festlegen lassen 110 . Das Leistungsrecht läßt sich umschreiben als Anspruch des einzelnen auf positives staatliches Tun gegenüber einer staatlichen Beeinträchtigung seiner Freiheit, Würde oder Gleichheit durch Unterlassen 111 . Da nun aber das Begehren nach staatlichen Leistungen unerschöpfbar, i m tripolaren Spannungsverhältnis aber nicht unbegrenzt sein kann, gilt der Leistungsaspekt (mit Leistungsrecht) nur im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren 112. Für diese Untersuchung gelte: Möglich sei eine Lei106 Vgl. auch Häberle, D Ö V 72, S. 733: Der Verfassungsauftrag sei die „ V o r stufe" bzw. das notwendige dogmatische Durchgangsstadium zum Teilhaberecht. U n k l a r aber auch ders., W D S t R L 30, S. 84 F n 176 u. ö.: Teilhab erechte als minus gegenüber Leistungsansprüchen! 107 Hierzu gilt F n 32 sinngemäß. 108 S. auch Häberle, DÖV 72, S. 734. io« Vgl. Schneider, AöR 89, S. 34 (zum Anspruch beim gesetzgeberischen Unterlassen). Z u r Grundrechtsbetroffenheit i m Rahmen des v o n Häberle k o n zipierten „status activus processualis" : Häberle, W D S t R L 30, S. 127; s. aber auch ebd., S. 86. 110 Ebenso: Häberle, W D S t R L 30, S. 108 (s. auch S. 89, 91, 108 F n 179b, S. 110 ff.); ders., D Ö V 72, S. 734; Scheuner, W D S t R L 30, S. 144; Rupp, ebd., S. 181; Maurer, ebd., S. 183; Plander, N J W 72, S. 1942; w o h l auch BVerfG DÖV 72, S. 608. 111 Z u r Frage, ob die Beeinträchtigung durch Unterlassen erfolgen muß oder auch (vorausgegangenes) positives Tun des Staates (Garantenstellung aufgrund vorangegangenen Tuns!) ausreicht: vgl. unten § 9, 2. zu F n 8. 112 Hierzu: B V e r f G DÖV 72, S. 608 („Vorbehalt des Möglichen", d. h. „dessen, was der einzelne vernünftigerweise von der Gesellschaft beanspruchen kann") ;

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§ 8 Das Strukturmodell

stung des Staates, wenn sie nach dem derzeitigen Erkenntnisstand realisierbar ist, was aber nicht immer mit dem Erkenntnisstand der jeweiligen Interessenvertreter übereinzustimmen braucht 1 1 3 . Zumutbar sei eine Leistung dann, wenn die jeweils entgegenstehenden Pole des tripolaren Spannungsverhältnisses das Begehren der staatlichen Leistung billigerweise gegen sich gelten lassen und ihnen keine unbilligen Opfer auferlegt werden müssen. Damit w i r d für die Frage der Zumutbarkeit auf die Güterabwägung verwiesen, die i n erster Linie der Gesetzgeber zu konkretisieren und aktualisieren wie auch zu verantworten hat und i n derem Rahmen zugunsten des Pols der „Gesellschaft" unter anderem auch das Erfordernis des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (Art. 109 II) zu berücksichtigen ist 1 1 4 . Die Güterabwägung hat auch die Belange des jeweils einschlägigen Grundrechts einzubeziehen und unter Umständen zu speziellen Abwägungskriterien auszuformen 115 . Mag für viele Grundrechte noch nicht abzusehen sein, w o r i n nun eigentlich ihre Dynamisierung besteht, so kann doch als übereinstimmender Aspekt festgehalten werden, daß ein bloßes staatliches Unterlassen i m Sinne des Abwehraspekts nicht genügt, vielmehr ein positives, sei es ermöglichendes, sei es schützendes (vgl. A r t . 1 I) oder förderndes Tun dem Staate aufgegeben ist (Leistungsaspekt) und mitunter auch als „Leistungsrecht" des Bürgers vom Staate gefordert werden kann. Nicht übersehen sei, daß sich die Grundrechte der Person wie auch A r t . 4 i n Zukunft vorwiegend am Abwehraspekt orientieren werden 1 1 6 , wenngleich auch dort ein Leistungsaspekt nicht ausgeschlossen ist. Nicht abschließend beurteilen läßt sich gegenwärtig das Verhältnis von Abwehraspekt und Leistungsaspekt. Es läßt sich m i t allgemeinen Formeln nur unbefriedigend einfangen und w i r d seine dogmatische Fundierung erst i n der Auseinandersetzung m i t dem Einzelfall i m Rahmen des jeweiligen Einzelgrundrechts finden können 1 1 7 . I m gesollten Verhalten Martens, W D S t R L 30, S. 31 („nur i m Rahmen des jeweils Möglichen u n d A n gemessenen"; vgl. auch S. 25, 35); Häberle, ebd., S. 107f., 113ff., 119 F n 337; ders., DÖV 72, S. 731 m i t F n 22 („soziale Opfergrenze", d. h. „das, was der einzelne Grundrechtsberechtigte »vernünftigerweise 4 v o m sozialen Ganzen an Opfern fordern kann"). — S. auch Böckenförde, W D S t R L 30, S. 164 f.; Schmitt Glaeser, ebd., S. 171 ;Plander t N J W 72, S. 1942. 113 S. auch Mayer-Tasch, W D S t R L 30, S. 173 f. 114 Vgl. B V e r f G D Ö V 72, S. 608. 115 S. die A n w e n d u n g der „Stufentheorie" auf den Zulassungsanspruch zu Hochschuleinrichtungen durch BVerfG D Ö V 72, S. 608 ff. Zusti.: Häberle, DÖV 72, S. 736 ff. 116 S. a u d i Häberle, W D S t R L 30, S. 113 F n 299 (aber auch ebd., S. 78 f., wonach die Subventionierungspflicht auch der Gewissensfreiheit zugute komme) ; Scheuner, ebd., S. 143. 117 Nach Häberle, W D S t R L 30, S. 120, befindet sich die Abwehrseite der öffentlichen Einrichtungen u n d ihrer Leistungszwecke „ i n einer ,Schwebelage 4

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des Staates (Tun oder Unterlassen) liegt eine Disjunktion beider Aspekte, die insoweit nicht gleichzeitig gesollt sein können. I m Zweckverbund „Freiheit-Würde-Gleichheit" können sie jedoch durchaus kumulatorisch gesehen werden, so daß der eine Aspekt eingreift, wenn der andere nicht mehr weiterführt und umgekehrt. So lassen sich auch etwaige Verhaltenskonflikte schlichten. 3.3.

Ordnungsaspekt

Ein Ordnungsaspekt i m Gegensatz zum Abwehr- und Leistungsaspekt scheint ursprünglich auch dem Gedanken der sogenannten „Einrichtungsgarantien" zugrunde zu liegen, d. h. der „institutionellen" und der „Institutsgarantie" 1 1 8 . Bei ihnen wurde zunächst die objektiv-rechtliche Bedeutung der (Grund-)Rechtsnorm i n den Vordergrund gehoben 119 , die einer bestehenden, umgrenzten gesellschaftlichen Realität erhöhte Rechtskraft verleihen sollte 1 2 0 . Doch trat dann immer mehr die bezielte Realität i n den Mittelpunkt des Interesses. Letztlich führte das dazu, jedem Grundrecht eine „institutionelle Seite" abzugewinnen gegenüber dem individualrechtlichen Gehalt der Verbürgung subjektiv-öffentlicher Rechte und den institutionellen Gehalt als Gewährleistung freiheitlich geordneter und ausgestalteter Lebensbereiche zu bestimmen 1 2 1 . Damit w i r d die Institution zum „Kontaktbegriff" 1 2 2 zwischen Rechtsnorm und sozialer Wirklichkeit. zur Teilhabeseite bzw. leistungsstaatlichen sozialen Daseinsgewährleistung". Darauf, daß die E r f ü l l u n g des Leistungsaspekts unter Umständen auch k o r respondierende Beschränkungen der Freiheit, d . h . eine gewisse Schwächung des Abwehraspekts nach sich zieht, verweisen m i t Recht: Martens, W D S t R L 30, S. 12f., 33 f.; Häberle, ebd., S. 56, 85; Scheuner, ebd., S. 143 f.; Geck, ebd., S. 158; Oppermann, ebd., S. 168; Kröger, ebd., S. 182 („Einfallstor f ü r eine v i r t u e l l unbegrenzte Inpflichtnahme des einzelnen"); Kimminich, J Z 72, S. 698 f. Nach Hans H. Klein, W D S t R L 30, S. 171, k a n n der Leistungsaspekt die Freiheit nicht beeinträchtigen („Der Sozialstaat besteht nach Maßgabe der rechtsstaatlichen Gewährleistungen u n d nicht umgekehrt."). Während bei Häberle ( W D S t R L 30, S. 80 ff., 188 u. ö.) A b w e h r - u n d L e i stungsaspekt ineinander überzugehen scheinen, t r i t t Geck (ebd., S. 159 f.) f ü r eine strenge Trennung beider Seiten ein (wohl auch Zacher, ebd., S. 153; Oppermann, ebd., S. 168). 118 Z u r Terminologie: Abel, Einrichtungsgarantien, S. 14 f., 86 f. — Kritisch zu den Einrichtungsgarantien teilweise: Hesse, Grundzüge, S. 116 F n 4. Z u r „institutionellen Komponente" des A r t . 4 vgl. Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 4. 119 Vgl. noch C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 170ff.; auch noch Quaritsch, Institutionelle Garantie, Nr. 1 ff. sowie Scheuner, D Ö V 71, S. 509 f. Differenzierend: Abel, a.a.O., S. 16 ff., 70 f., 89 f. 120 Scheuner, Institutionelle Garantien, S. 93 ff. (zugleich m i t einer Erweiterung auf nicht zusammenhängende Einzelnormen); v. Mangoldt-Klein, Vorb. A V I 3 c. 121 Häberle, Wesensgehaltgarantie, S. 70 ff., 96 ff., 123. 122 So Luhmann, Grundrechte, S. 12 F n 14.

192

§8 Das Strukturmodell

Da dieser Kontakt hier i n anderer Weise hergestellt wurde, t r i f f t diese „Institutionalisierung großen Stils" 1 2 3 nicht mehr das hier Gemeinte. Vielmehr stehen i h m jene Versuche näher, die die Ordnungsgedanken der Grundrechte als „verfassungsrechtliche Leitprinzipien" 1 2 4 „oberste Grundwerte" 1 2 5 , Auslegungsrichtlinie 1 2 6 , „quasi-institutioneller ,Bedeutungskern'" 1 2 7 oder — noch deutlicher — „Grundelemente objektiver Ordnung" 1 2 8 oder als „objektive Dimension der Grundrechte" 1 2 9 aktualisieren wollen, obwohl hier „institutionelles Denken" und „Ordnungsdenken" oft ineinander übergehen 130 und auch „dirigierendes" Deuten auf das angezielte Gebiet übergreift 1 3 1 . Das hier Gemeinte bewegt sich auf der Ebene reiner Normativität. Während — wie schon oben dargelegt 1 3 2 — beim Abwehr- und Leistungsaspekt die Grundrechtsnorm befiehlt, daß etwas geschehen soll — sei es durch ein Unterlassen, sei es durch ein Tun —, zieht der Ordnungsaspekt für sich selbst keine Folgerungen i n bezug auf ein bestimmtes Verhalten rechtsunterworfener Subjekte und besagt nur, daß etwas sein soll 1 3 3 . Darin kommt die „Ordnungsfunktion des Rechts" 134 zum Ausdruck. Auf 123 Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 1 Abs. 3 Rdnr. 98; ders., W D S t R L 30, S. 155 ( „ w o l k i g Institutionelles"). — Kritisch auch: Friauf, DVB1. 1971, S. 674 f.; Martens, W D S t R L 30, S. 32 f. („erstaunliche Wandlungsfähigkeit u n d Problematik des institutionellen Rechtsdenkens."). 124 Scheuner, a.a.O., S. 95, der hier allerdings keine Grundrechtsprinzipien meint; umfassender nunmehr ders., DÖV 71, S. 507 f., insbes. F n 12; W D S t R L 30, S. 143 f. 125 BVerfGE 6, 32.41; vgl. auch E 18, 85.92 („grundgesetzliche Wertmaßstäbe"); 25, 167.173 („verfassungsrechtliche Wertentscheidung"); u. ö. S. auch Zeidler, DÖV 72, S. 443 („wertentscheidende Grundsatznorm der Verfassung") ; Erw. Stein, Werte, S. 55 („wertentscheidende oder wertbestimmende Norm"). 126 BVerfGE 25,167.173. 127 Scholler, DÖV 69, S. 528. 128 Hesse, Grundzüge, S. 116, auch S. 121 ff. Vgl. auch Scheuner, W D S t R L 30, S. 143 („objektive Momente"); Hesse, ebd., S. 146 („objektive Prinzipien"); Rupp, ebd., S. 180 („objektive Verfassungsprinzipien"); Maurer, ebd., S. 183 („objekt i v e Prinzipien"); Kröger, ebd., 182 („objektive Prinzipien der Gesamtordnung"). 129 So Zacher, W D S t R L 30, S. 152. A b i . zu „objektiven Leitprinzipien": Düng, ebd., S. 154 f. Kritisch auch Böckenförde, ebd., S. 164 f.; Martens, ebd., S. 190 f. 130 Vgi # Schaumann, JZ 70, S. 49: Freiheitsrechte als „institutionelle Garantien, . . . Grundsätze, die sich auf die gesamte Rechtsordnung auswirken." S. auch Scheuner, Institutionelle Garantien, S. 94; ders., DÖV 71, S. 507 ff.; ders., W D S t R L 30, S. 143 f. 131 Vgl. die Nähe v o n Lerches (AöR 90, S. 347) „Verfassungsdirektiven" zu den hier eingeordneten „Leitgrundsätzen". 132 S. § 8, 2. 133 S. hierzu: Lampe, Juristische Semantik, S. 42, 51, m i t der Unterscheidung zwischen i n d i k a t i v e n u n d imperativen Rechtssätzen. 134 Lampe, a.a.O., S. 42. Andeutend (zur Konkretisierung der „objektiven

3. A u f b a u des Modells

193

ihr baut „die beschützende und bewahrende Macht des Rechts" auf, die jedoch i n der Ordnungsfunktion selbst nicht zur Geltung k o m m t 1 3 4 ; der Inhalt der einzelnen Ordnungsvorstellung w i r d erst gewährt oder befohlen durch eine oder mehrere entsprechende Verhaltensnormen 135 . Auf der Ebene der Grundrechte werden die Ordnungsvorstellungen etwa formuliert als „Freiheit", „Würde", „Toleranz", „Parität" u. ä. 1 3 6 . Es zeigt sich also, daß die Ordnungsvorstellungen die „Zwecke" oder „Fernziele" der Grundrechte mitumfassen können; denn der Zweck eines Grundrechts besagt lediglich, daß etwas sein, nicht aber geschehen soll; erst das „ M i t t e l " der spezifischen Grundrechtsnorm befiehlt dem Staat ein bestimmtes Verhalten und gewährt dem einzelnen ein bestimmtes Recht, um den gewünschten rechtlichen Zustand herbeizuführen. Das Grundrecht kann also auch „Ordnungsnorm" sein oder an einer Ordnungsnorm teilhaben. Es w i r d hier nur gesehen als eines unter vielen Gliedern des verfassungs- und objektiv-rechtlichen Ordnungsgerüsts, des normativen „Kristallgitters" der Sozialordnung 137 . Die Ordnungsnormen geben deshalb auch der Auslegung der Verhaltensnormen stets neue Impulse als ihr tragender Hintergrund. Das Grundrecht als subjektive Gewährleistung trägt daher meist nur einen Ausschnitt der Ordnungsvorstellung. U m die gesamte Ordnungsvorstellung durchzusetzen, könnte man erwägen, sie als Teil der „verfassungsmäßigen Ordnung" und damit als mögliche Begrenzung oder Erweiterung der Handlungsfreiheit des A r t . 2 I einzustufen. Wenn man schon dieses „Durchschlagen" des Ordnungsaspekts auf A r t . 2 I und damit seine Justiziabilität anerkennt, so erschiene es doch praktikabler, die Justiziabilität dort zu belassen, wo sie entstanden ist, und sie nicht aus ihrem sachlichen und gedanklichen Kontext zu lösen. Würde damit der Ordnungsaspekt unter dem Grundrecht erfaßt, so bedeutete dies nur noch, das Handeln des Staates könnte unter Ordnungsgesichtspunkten kontrolliert und sanktioniert, m i t anderen Worten, einer gerichtlichen Entscheidung zugeführt werden 1 3 8 . Allerdings bleibt das Bedenken, daß der Dimension"): Scheuner, DÖV 71, S. 507 ff., 510, 513; ders., W D S t R L 30, S. 143 f.; Zacher, ebd., S. 152; Rupp, ebd., S. 181. 135 Vgl. auch Lampe, a.a.O., S. 42. 136 Die Erweiterung der grundrechtlichen Wertvorstellungen „zu Prinzipien des staatlichen Handelns, zu objektiven Ordnungsnormen" bezeichnet Gebh. Müller, FamRZ 69, S. 5, als „institutionellen Gehalt" der Grundrechte. Vgl. auch Scholler, DÖV 69, S. 532: „quasi-institutionelle Bedeutung"; Zeidler, DÖV 72, S. 443. 137 Vgl. Zippelius, zialmodell".

A r t . 4 Rdnr. 58: das „ v o m Grundgesetz proklamierte So-

138 Eine Hinwendung zu Einzelgrundrechten — zumindest hinsichtlich formeller Grundrechtsbeeinträchtigungen — scheint sich auch beim BVerfG (E 9, 83.88; 14, 263.277; 21, 74.79) abzuzeichnen. Vgl. zu einem „subjektiven A b w e h r -

13 Freihalter

194

§ 8 Das Strukturmodell

Ordnungsaspekt als solcher nichts befiehlt und nichts gewährt. Sinnvoll bliebe demnach nur der Weg, aus der Ordnungsvorstellung i m Einzelfall rechtliche Normen als Obersätze für die juristische Subsumtion herzuleiten, wenn sich solche Normen nicht feststellen lassen 139 , und sie damit dem Abwehr- oder Leistungsaspekt zuzuteilen, abgesehen von den interpretatorischen Impulsen, die der Ordnungsaspekt ohnehin auf die aufbauenden Befehle und Gewährungen ausübt 1 4 0 . 4. Rechtfertigung des Modells

Das Normativitätsmodell scheidet nicht von vornherein die historischen Ergebnisse und Erkenntnisse aus, die sich i n der Figur des Abwehrrechts der Grundrechte niedergeschlagen haben, entkleidet sie allerdings ihrer rechtsdogmatischen Fundierung dadurch, daß es nur auf die Verhaltensform, das staatliche Unterlassen, abstellt. Andererseits ist es den Bedürfnissen der Gegenwart wie auch der Zukunft offen durch die Verhaltensform des staatlichen positiven Tuns, und zwar solchen Erfordernissen, die i m bloßen Abwehrrecht nicht mehr aktualisiert und rechtlicher Bedeutung zugeführt werden können. Ferner verlagert das Modell die Tatbestandsmäßigkeit des Grundrechts nach realitätsorientierter Auslegung wieder auf die normative Ebene und gewährleistet so die Verbindung von Realität und Normativität, ohne i n eine ungeschiedene und damit unüberprüfbare Vermischung beider zu verfallen. Das Normativitätsmodell ermöglicht den Vergleich und die Untersuchung des Verhältnisses mehrerer Rechtsnormen miteinander (Konkurrenz) oder gegeneinander (Kollision), ohne die Systematisierung der Grundrechte einer integrativen Ganzheitsmethode aufzuopfern. Gegen das Modell kann nicht eingewandt werden, daß m i t ihm, insbesondere m i t dem Leistungs- und Ordnungsaspekt, auf das dem Rechtsdogmatiker unzugängliche Gebiet der Verfassungspolitik übergegriffen werde 1 4 1 .

recht" hinsichtlich der staatlichen Neutralitätspflicht: v. Zezschwitz, J Z 66, S.344.— Α. M.: w o h l Podlech, Gewissensfreiheit, S. 150 F n 16. 139 Ebenso: Lampe, Juristische Semantik, S. 41. 140 Andeutend neuerdings: Häberle, W D S t R L 30, S. 105 F n 267, S. 187. 141 So aber zum Leistungsaspekt: Herzog, W D S t R L 30, S. 147 ff.; Kaiser, ebd., S. 156; Kriele, ebd., S. 160; Böckenförde, ebd., S. 164 f.; Oppermann, ebd., S. 167 f.; Hans H. Klein, ebd., S. 170; Münch, ebd., S. 178 f.; Rauschning. ebd., S. 179 f. Einschränkend: Zacher, ebd., S. 151 f. — Wie hier: Häberle, W D S t R L 30, S. 69 ff., 167, 186, 187 f.; Scheuner, ebd., S. 143f.; Hesse, ebd., S. 146; Mayer-Tasch, ebd., S. 173 f.; Kröger, ebd., S. 181 f.; Maurer, ebd., S. 182 f.

4. Rechtfertigung des Modells

195

W i l l man etwa die Konzipierung staatlicher Ziele an den Vorstellungen unserer Verfassung einschließlich des Grundrechtsteils rein verfassungsrechtlich überprüfen 1 4 2 , so setzt dies die Möglichkeit einer verfassungsrechtlichen A n t w o r t voraus, d. h. einer Antwort, die den verfassungspolitischen Wertungen des Verfassungsgebers entspringt und i n einer Verfassungsnorm einen eindeutigen Niederschlag gefunden hat, der dem Verfassungsinterpreten allein diese und keine andere Auslegung beläßt. Ist aber die Verfassungsnorm mehrdeutig, so stehen dem Interpreten mindestens zwei verfassungspolitische Wertungen des Verfassungsgebers zur Wahl. Dadurch, daß er sich für eine von ihnen entscheidet, greift er bereits auf verfassungspolitisches Gebiet über, und dieses Ubergreifen verstärkt sich dort, wo der geringe Informationsgehalt einer Verfassungsnorm die ,Auswahl 4 einer verfassungspolitischen Wertung des Verfassungsgebers zur Beliebigkeit steigert. Damit ist eine rein verfassungsrechtliche Uberprüfung von Staatszielen nur i n Grenzfällen denkbar; i n allen übrigen Fällen w i r d der Verfassungsinterpret zum Verfassungspolitiker und er bleibt nicht dadurch Interpret, daß er seine eigenen Prämissen verbirgt oder sich ihrer nicht bewußt wird. Hinzu kommt, daß die Staatsziele nur scheinbar allein von der Politik formuliert werden; i n Wirklichkeit hat die Verfassungsdogmatik durch Rückmeldung ihrer Auslegungsergebnisse an die Politik die Staatsziele m i t formuliert, wie auch schon die Politik durch Rückmeldung ihrer Ziele die Auslegungsergebnisse der Dogmatik. Werden daher Staatsziele als verfassungsmäßig anerkannt oder als verfassungswidrig verworfen, so w i r d der Verfassungsinterpret zwangsläufig i n hohem Maße als Verfassungspolitiker tätig. Diese Überlegung gilt zudem generell, denn fast alle Normen des Grundgesetzes sind mehrdeutig und unterliegen wegen ihres verfassungspolitischen Gehalts ständigen Rückmeldungen zwischen Verfassungspolitik und Verfassungsdogmatik, so daß i n der Tat „keine wirklich essentielle Grenze . . . zwischen Verfassungsinterpretation und Verfassungspolitik" besteht 143 . Wollte zudem die Verfassungsinterpretation darauf verzichten, auf Fragen zu antworten, die ihr die moderne Gesellschaft m i t ihrer Vielzahl von Problemen stellt, so bedeutete dies eine verfassungslose W i r k lichkeit, die sich von Verfassungs wegen weder disziplinieren noch stabilisieren ließe. Die Verfassung würde aus großen Bereichen der sozialen Wirklichkeit herausgezogen; ihre normativen Grundaussagen wie Freiheit, Würde, Gleichheit, Ordnung u. a. m. würden für diese Bereiche keine Geltung mehr besitzen. Da nun aber das Bekenntnis des Grundgesetzes zu diesen Wertungen für alle Bereiche der sozialen Wirklichkeit

142 143

13*

So sinngemäß: Herzog, a.a.O. So zutr. Mayer-Tasch, W D S t R L 30, S. 173.

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§ 9 Anwendung des Normativitätsmodells

gilt und auch gelten muß, wenn diese Wertungen nicht für weite Bereiche gefährdet oder ausgeschaltet werden sollen, hat der Verfassungsinterpret i n ihrem Lichte Stellung zu nehmen und nicht bloß deshalb schweigende Abstinenz zu üben, w e i l die Dogmatik schweigt. Sollen aber diese Stellungnahmen ihrerseits rational überprüfbar sein, so sind unter Abkehr von dogmatischer Inzucht die überkommenen Formen der Dogmatik aufzubrechen und neue Denkfiguren und Modelle zu entwickeln, die es erlauben, die Fragen der Wirklichkeit an das Recht i n geordnete Bahnen zu lenken 1 4 4 , und die verhindern helfen, daß die Dogmatik wieder einmal zu spät kommt, u m die das Verfassungsdenken überrollende Wirklichkeit i n verfassungsrechtlichen Aspekten normativ einzufangen. § 9 Anwendung des Normativitätsmodells auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit 1. Das Abwehrrecht der Gewissensfreiheit 1

Die negatorischen Inhalte der Gewissensfreiheit umfassen das staatliche Manipulationsverbot für den „Gewissensapparat", Eingriffe i n die Individual- und Intimsphäre sowie i n die Öffentlichkeitssphäre, soweit sich der einzelne nach seinem Gewissen verhält. Ausgenommen ist grundsätzlich nur das staatliche Tätigwerden i m Rahmen der „notwendigen Manipulation". Die bisherigen Unterlassungsansprüche beruhen auf dem stillschweigend unterstellten Eingriffsgedanken. Erweitert man diesen jedoch auf die Beeinträchtigung der Gewissensfreiheit, kommt es also auf den „Eingriff" des Staates nicht mehr an, so unterliegt jedes positive Tun des Staates dem negatorischen Anspruch des einzelnen, es sei denn, daß es sich um „notwendige Manipulation" handelt. So kann die Gewissensfreiheit auch dadurch verletzt werden, daß der Staat dem einzelnen eine Leistung verspricht (positives Tun!), die entweder notwendig m i t einer vorgängigen oder erwarteten Pflichterfüllung gekoppelt ist, die aber ihrerseits dem Gewissensgebot des Individuums zuwiderläuft, oder die 144 Vgl. Häberle, W D S t R L 30, S. 69 ff. („offene Grundrechtsdogmatik") ; Scholz, AöR 97, S. 125; Menzel, DÖV 72, S. 546. 1 Demgegenüber kennt Podlech, Gewissensfreiheit, S. 35 ff., k e i n explizites Abwehrrecht mehr aufgrund der Gewissensfreiheit. Vgl. aber etwa Böckenförde, W D S t R L 28, S. 65 („Asyl"), 144 („Unterlassensanspruch, soweit es sich u m eigenhändiges T u n handelt"). — Wie hier: v. Mangoldt-Klein, A r t . 4 A n m . I I 4; Scholler, Gewissensfreiheit, S. 179; ders., Gewissen, S. 31 f.; Geiger, Gewissensfreiheit, S. 25; ders., Nonkonformismus, S. 67; Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 51; K . Peters, Überzeugungstäter, S. 266. Z u r Umkehrung des „Rechts" zur Kriegsdienstverweigerung i n das Verbot gegenüber dem Staat: Groß, JZ 61, S. 481.

1. Das Abwehrrecht der Gewissensfreiheit

197

selbst aus irgendwelchen Gründen dem Gewissen widerspricht. Das würde dann die Möglichkeit bedeuten, durch staatlichen Anreiz neue oder Zusatzmotive 2 für die Übertretung des Gewissensgebotes zu erfinden und dadurch die innere Not des Individuums zu schaffen oder zu verschärfen. Der Angriffspunkt der Gewissensfreiheit — der Gewissenskonflikt — würde also auch hier m i t staatlichen Mitteln „angegangen". Den einzelnen darauf zu verweisen, daß er „selbst schuld" sei, wenn er sich eine staatliche Leistung versage, hieße einerseits die robusten Gewissen zu prämiieren, andererseits die „faktische Unentrinnbarkeit" des leistenden Staates und das Angewiesensein des Bürgers auf diese Leistungen zu verharmlosen. I n der modernen Gesellschaft, die den einzelnen und seine sozialen Verantwortungen trägt, hängt die soziale Existenz des Individuums entscheidend vom Staate ab 3 . Setzt der Staat den Bezug dieser Berechtigungsscheine 321 so an, daß er entweder Pflichten mittelbar erzwingt oder die Leistungen nach Voraussetzung, A r t oder Inhalt faktisch privilegiert, ohne dem Gewissenskonflikt des einzelnen Rechnung zu tragen, so verletzt er die Gewissensfreiheit 315 . Der einzelne kann insoweit einen Unterlassungen nicht Leistungs-!)anspruch gegen diese Beeinträchtigung seiner Gewissensfreiheit geltend machen. Damit läßt sich nunmehr noch präziser die individuelle Funktion der Gewissensfreiheit dahin formulieren, daß der Gewissenskonflikt von staatlichen Zwängen und staatlich gesetzten Anreizen zu entlasten ist. Wie hier für die Verhaltensfreiheit demnach die „Beeinträchtigung" genügt, so auch für die Bestands- und Änderungsgarantie; denn auch hier lassen sich Fälle denken, i n denen zwar i n Gewissensapparat, Individualsphäre und Intimsphäre nicht „eingegriffen", i n denen sie aber wohl beeinträchtigt wurden. Das oben eingeführte Merkmal der „Beeinträchtigung" w i r d also auch für die Gewissensfreiheit aufrechterhalten. Ob die Beeinträchtigung rechtswidrig ist, läßt sich erst i m Rahmen der „Schranken" feststellen. Es ist nun auch das Verhältnis des Unterlassungsanspruchs zur „Entlastungsfunktion" der Gewissensfreiheit zu untersuchen. Abgesehen von 2

Vgl. auch Friauf, DVB1. 71, S. 679 f. Hierzu: Friauf, DVB1. 71, S. 680. 3a Ä h n l i c h : Häberle, W D S t R L 30, S. 101. 3b Vgl. auch Achterberg, W D S t R L 30, S. 174 f., m i t seinem Hinweis auf die „Interdependenz v o n Eingriffen u n d Leistungen", sowie Martens, ebd., S. 12 f.: Freiheitsgefährdungen durch Leistungsgewährungen oder ihre nachträgliche K ü r z u n g oder Entziehung! — Der kassatorische Rechtsschutz k a n n hier allenfalls Indiz f ü r das Vorliegen eines UnterZassungsanspruches sein. Denn ist ζ. B. die Voraussetzung einer staatlichen Leistung gewissenswidrig, so hat es der Staat zu unterlassen, sich auf das Fehlen der Voraussetzung zu berufen. V e r folgt w i r d das Begehren des Gewissensträgers jedoch i m Wege der Leistungsklage. 3

198

§ 9 A n w e n d u n g des Normativitätsmodells

dem ohnehin eindeutigen Fall, i n dem eine Beeinträchtigung durch speziell gegen die Gewissensfreiheit gerichtete Staatsakte zu unterlassen ist, wurde i m übrigen die Entlastungsfunktion darin gesehen, daß die Gewissensfreiheit i m konkreten Fall und für den spezifischen Gegenstand einer generellen Rechtspflicht den Gewissensträger entlastet. Der Staat kann sich also nicht auf die generelle Rechtspflicht berufen, u m den Gewissensträger mittels des spezifischen Gegenstandes zu beeinträchtigen; er hat die Beeinträchtigung zu unterlassen. Das besagt jedoch nichts anderes, als daß Entlastungsfunktion und Unterlassungsgebot zwei Aspekte ein und derselben Sache sind: das Unterlassungsgebot sieht die verbotene Tätigkeit des Staates, die Entlastungsfunktion den dadurch eröffneten Freiheitsraum. Dem scheint allerdings zu widersprechen, daß das Abwehrrecht der Gewissensfreiheit gegen bestimmte staatlich gesetzte Leistungen nur ein positives Tätigwerden des Staates modifiziert. Dies ist jedoch für das hier entscheidende Moment nicht der Fall. Denn die Entlastungsfunktion besagt hier, daß sich der Staat hinsichtlich der Leistung auf ein bestimmtes Element des generellen Rechts (auf Leistung) nicht berufen darf, der Gewissensträger also insoweit „entlastet" ist. Demgemäß hat der Staat die Verweigerung der Leistung zu unterlassen, d. h. er darf die Leistung dem Gewissensträger nicht verweigern, wenn dieser aus Gewissensgründen eine bestimmte Voraussetzung nicht erfüllen oder A r t oder Gegenstand der Leistung so nicht hinnehmen kann. Die Entlastungsfunktion besagt also auch hier nichts anderes als das Unterlassungsgebot. 2. Das Leistungsrecht der Gewissensfreiheit

Ein positives Tun des Staates als gesolltes Verhalten aufgrund der Gewissensfreiheit — also nicht als beeinträchtigendes positives Handeln! — wurde erstmals i m Rahmen der „Operation" bzw. des „Aktes der Umstrukturierung" erkennbar 4 , als die Konfrontation Gewissensgebot zu Staatsgebot und ein Ausweichen nur dort als möglich festgestellt wurde, wo „staatliche Alternativen" für das Staatsgebot bereitständen 5 . Noch deutlicher zeichnete sich ein positives staatliches Tätigwerden i m Rahmen der „Verlagerungsfunktion" der Gewissensfreiheit ab. Hier hat die Gewissensfreiheit die Aufgabe, die generelle Rechtspflicht an gewissensneutrale oder gev/issenskonforme Positionen oder Gegenstände („Alternativen") zu binden; denn nur die Gewissensfreiheit ist i n der Lage, Reichweite und Grenzen der konkreten Gewissenskonflikte abzustecken und die Alternativen zu finden und zu formulieren, während die Allge4

S. oben, § 7, 2.3.1. nach F n 88 sowie § 7, 3.2.4. v o r F n 361. Z u beachten ist, daß „individuelle Alternativen" keine Frage der Gewissensfreiheit mehr sind (s. hierzu § 7, 2.4.5.) u n d allenfalls bei den „Schranken" herangezogen werden können. 5

2. Das Leistungsrecht der Gewissensfreiheit

199

meinheit der Rechtspflicht die Bindung des Individuums festlegt. Damit w i r d aber die Tätigkeit des Staates hinsichtlich staatlicher Alternativen notwendig. Soll die Verlagerungsfunktion der Gewissensfreiheit über bloße Deklamation hinausgehen, soll das Individuum nicht nur entlastet, sondern sich auf Alternativen beziehen können, so zwingt die Verlagerungsfunktion auch den Staat und verpflichtet ihn damit, die „angelagerten" Alternativen zu schaffen und auszugestalten, d. h. faktisch bereitzustellen. Die faktische Bereitstellung ist das reale Substrat der Verlagerungsfunktion. Dem scheinen jedoch die Fälle zu widersprechen, in denen ein generelles Recht auf bestimmte staatlich gesetzte Leistungen besteht, das Individuum sich aber durch einen Gewissenskonflikt gehindert sieht, die Leistungen wegen ihrer Voraussetzungen oder i n ihrer A r t oder i n ihrem Gegenstand i n Anspruch zu nehmen. Wie festgestellt, richtet sich das Abwehrrecht auch gegen solche Beeinträchtigungen der Gewissensfreiheit. Hier w i r k t nun die Verlagerungsfunktion dergestalt, daß sie den Staat zwingt, i m Rahmen des generellen Rechts nach Voraussetzung, A r t oder Gegenstand der Leistung Alternativen für den Gewissensträger faktisch bereitzustellen, immer vorausgesetzt, daß die übrigen Subsumtionsbedingungen erfüllt sind. Korrigierend w i r k t sich der Gleichheitssatz unmittelbar dahin aus, daß auch hier die Alternative gleichwertig sein muß, d. h. sie darf per Saldo dem Gewissensträger weder einen Vorteil noch einen Nachteil bringen. Die Alternativen aufgrund einer generellen Pflicht haben also das Merkmal „gleicher Lästigkeit" 6 , solche aufgrund eines generellen Rechts das Kennzeichen „gleicher Reichweite". Demnach läßt sich nunmehr festhalten: Die Gewissensfreiheit verpflichtet den Staat für den konkreten Fall eines individuellen Gewissenskonfliktes, dem einzelnen Alternativen gleicher Lästigkeit bzw. gleicher Reichweite bereitzustellen 7 . Die „Verlagerungsfunktion" besagt das 6

Vgl. auch Luhmann, AöR 90, S. 284. Zusti.: Böckenförde, W D S t R L 28, S. 71. Eine Pflicht zur Bereitstellung v o n Alternativen bejahen: BVerfG N J W 72, S. 1185 (aufgrund des Gleichheitssatzes); Geißler, Kriegsdienstverweigerung, S. 135; Podlech, JuS 68, S. 123; ders., Gewissensfreiheit, S. 35; Scholler, D Ö V 69, S. 529; Bäumlin, W D S t R L 28, S. 21 f.; Böckenförde, ebd., S. 61 f., 144 (aufgrund des Gleichheitssatzes) ; Luhmann, F u n k t i o n der Gewissensfreiheit, S. 19 ; Barion, DÖV 71, S. 33 f.; Listi , Religionsfreiheit, S. 133 F n 299. — Α. Α.: Herzog, DVB1. 69, S. 722; Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 166, 182; Herzog, Formen staatlicher Gesetzgebung, S. 153; Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 35 f.; w o h l auch Heinemann, N J W 61, S. 356; Frowein, W D S t R L 28, S. 139; K . Peters, JZ 72, S. 521. Nach A. Arndt (NJW 65, S. 430) liegt der Sinn des Ersatzdienstes (einer A l t e r native!) darin, den Kriegsdienstverweigerer nicht der öffentlichen Verächtlichmachung anheimfallen zu lassen. Die Pflicht zur Ersatzdienstleistung könne nicht auf den Gleichheitssatz zurückgeführt werden; denn er werde ohnehin nicht v e r w i r k l i c h t , wie die große Z a h l derer zeige, die nicht zum Wehrdienst eingezogen würden, ohne sich auf das Gewissen zu berufen. 7

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§ 9 A n w e n d u n g des Normativitätsmodells

gleiche aus der Sicht des Gewissensträgers. Das positive Tun des Staates besteht i n der Bereitstellung der Alternativen; es ist gesollt. Soll nun aber der Gewissensträger nicht öffentlich diskriminiert werden 8 , so kann dies nur i n der Weise geschehen, daß nicht nur der Staat zur Bereitstellung der Alternativen verpflichtet, sondern der Gewissensträger ein subjektiv-öffentliches Recht auf Bereitstellung der Alternativen hat (das Leistungsrecht i n Gestalt eines „Alternativenrechts"). Hier zeigt sich jedoch zugleich, daß zwar die staatliche Bereitstellungspflicht ein „Leistungsrecht" ist, aber die Begründung des Leistungsrechts nur eine Teilklasse der möglichen Leistungsrechte darstellt; denn die Beeinträchtigung durch Unterlassen 9 — also das beeinträchtigende, nicht das gesollte Verhalten — ist nicht Voraussetzung eines gesollten positiven staatlichen Tuns. Vielmehr gilt das Bereitstellungsgebot dann, wenn positives Handeln des Staates die Gewissensfreiheit beeinträchtigen würde, also das Abwehrrecht durchgreift. Damit zeigt sich, daß Unterlassungsgebot und Bereitstellungsgebot sich aus dem gleichen Beeinträchtigungstatbestand herleiten. Wie sich beide unter der Perspektive von „Entlastungsfunktion" und „Verlagerungsfunktion" zueinander verhalten, w i r d noch zu prüfen sein 10 . Ob die Gewissensfreiheit durch ein Unterlassen beeinträchtigt werden kann — nicht zu verwechseln m i t einem Unterlassen der Bereitstellung — und damit ein positives Tun des Staates zugunsten des Gewissensträgers gesollt ist 1 1 , läßt sich generell nur schwer sagen; denn anderenfalls bestünde die Gefahr, i n einen allgemeinen „Gewissensfreiheitsvollziehungsanspruch" des einzelnen überzuleiten 12 . Ein allgemeiner „Konkretisierungsauftrag" aufgrund der Gewissensfreiheit 13 , der bereits den Rückgriff auf den zugrundeliegenden Ordnungsaspekt erkennen läßt, w e i l er sogar für den Leistungsaspekt als Ausprägung einer Verhaltensnorm noch zu allgemein ist. bleibt hier außer Betracht, da für die Gewissensfreiheit nur das Leistungsrecht untersucht wird, nicht aber die unübersehbaren, konkreten Möglichkeiten des Leistungsaspekts. Damit kann eine Beeinträchtigung der Gewissensfreiheit durch Unterlassen allenfalls dort anerkannt werden, wo das Unterlassen des Staates einem positiven Tun nach Tragweite und Schwere gleichkommt und die staat8

Vgl. auch A. Arndt, a.a.O. S. oben, § 8, 3.2. nach F n 111. 10 S. unten, §11,2.2. 11 Vgl. Podlech, Gewissensfreiheit, S. 141; w o h l auch Scholler, DÖV 69, S. 528; Listi, Religionsfreiheit, S. 15f., 67 (zur Religionsfreiheit); — a. Α.: Η. Weber, Staat 8, S. 511 (mit möglichen Ausnahmen f ü r Sonderstatusverhältnisse) ; w o h l a u d i Hamann-Lenz, A r t . 4 A n m . Β 2. 12 S. oben, § 8, 3.2. nach F n 108. 13 Bäumlin, W D S t R L 28, S. 21; ähnlich Frowein, ebd., S. 139. 9

3. Der Ordnungsaspekt

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liehe Leistung möglich und zumutbar ist („sonstiges Leistungsrecht"). Diese Fälle lassen sich erst wieder durch Abwägung i m Einzelfall und typisierende Einteilung der Fallgruppen festhalten und praktikabel machen. Dadurch, daß der Staat verpflichtet ist, gleich lästige bzw. gleich weitreichende Alternativen für den Gewissensträger anstelle des ursprünglich geforderten Verhaltens bereitzustellen, ist es notwendig, deren Erfordernisse näher zu kennzeichnen. Neben dem Merkmal der „Gleichwertigkeit" müssen die Alternativen rechtlich anerkannt sein — was regelmäßig i n der Bereitstellung zum Ausdruck kommen w i r d —; sie müssen dem Gewissensträger auch tatsächlich zugänglich sein und — was schon aus dem Verständnis als Leistungsrecht folgt — ihrerseits gewissensneutral oder gewissenskonform sein. So ist etwa der Kirchenaustritt als Alternative zur Kirchensteuer für einen Katholiken gewissenswidrig, da er dem Katholiken gerade nicht erlaubt ist 1 4 . Die Alternative muß ferner möglich 15 , d. h. nach dem derzeitigen Erkenntnisstand realisierbar sein, und muß der Gesellschaft oder Dritten zugemutet werden können 1 6 . Ist sie nicht möglich oder unzumutbar oder läßt sich eine Alternative nicht ausmachen 17 , so besteht kein Leistungsrecht. Es verbleibt beim Unterlassungsanspruch. Wie weit dieser reicht, ist eine Frage der „Schranken". 3. Der Ordnungsaspekt der Gewissensfreiheit

Er wurde erstmals i m Rahmen der Bestands- und Änderungsgarantie als Gebot „ideologischer" Neutralität des Staates für die Öffentlichkeitssphäre sichtbar. Dem ist nun weiter nachzugehen 18 . 14 So m i t Recht Barion, DÖV 71, S. 34. — Α. Α.: BVerfG, DÖV 71, S. 344 (345), allerdings ohne die Problematik einer gewissenswidrigen Alternative zu sehen. Vgl. die zutr. K r i t i k Barions, ebd., S. 346 f. 15 Ebenso Podlech, Gewissensfreiheit. S. 35. 16 Ebenso Podlech, a.a.O., S. 35 („tragbar"); Luhmann, F u n k t i o n der Gewissensfreiheit, S. 19; Bäumlin, W D S t R L 28, S. 21 f. Α. Α.: Scholler, DÖV 69, S. 529, der die Alternativengewährleistung auf Fälle der geforderten Identifikation des Adressaten m i t staatlich gefordertem äußeren Verhalten u n d Fälle schwerer Gewissenskonflikte begrenzt u n d hierfür (S. 531) auf § 3 I B V F G hinweist. Allgemein kritisch zum K r i t e r i u m der „ Z u m u t b a r k e i t " : Hantke, Vorgänge 72, S. 157, der auf die drohende Möglichkeit hinweist, das K r i t e r i u m „ganz i m Interesse u n d zum Nutzen der Herrschenden auszulegen". 17 Z u r Findung solcher Alternativen i n der sozialen Wirklichkeit stellt der soziologische Funktionalismus beachtliche H i l f e n zur Verfügung: vgl. Luhmann, AöR 90, S. 273 ff.; ders., Soziologische Aufklärung, S. 12 f. Eine rechtswissenschaftliche Anwendung des Leistungsrechts auf das besondere Gewaltverhältnis m i t abgewogenen Begründungen bringt Podlech, Gewissensfreiheit, S. 73 ff. Die praktischen Schwierigkeiten, angemessene Alternativen zu finden, rei-

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3.1. Bedeutung Welche Bedeutung diesem Aspekt der Gewissensfreiheit beigemessen wird, zeigt sich wohl auch darin, daß die Gewissensfreiheit i m allgemeinen für den Staat des Grundgesetzes hoch bewertet wird, sei es als „wertentscheidende Grundsatznorm" 1 9 , „elementarer Verfassungsgrundsatz" 20 , als „Prinzip des Staatsaufbaues" 21 , als „Grund des Staates" 22 oder als ein über den status negativus hinausgehendes Grundrecht mit „konstitutiver Funktion" 2 3 . Doch kommt zugleich damit zum Ausdruck, daß hier spezifische Ordnungsvorstellungen gesehen werden, die gerade diesen, aber nicht notwendig nur diesen Staat prägen. Andere Ordnungsvorstellungen gemäß anderen Staatsformen würden auch das Grundrecht der Gewissensfreiheit i n seinem Bedeutungsgehalt verändern 24 . Gerade hier erweist es sich, daß es nötig ist, zum Ordnungsaspekt als tragendem Hintergrund der Gewissensfreiheit vorzustoßen. 3.2. Parität — Trennung von Staat und Kirche Hinterfragt man nun Abwehr- und Leistungsrecht nach den zugrundeliegenden Ordnungsgedanken 26y so scheint es zunächst, als würde man von hier aus überraschenderweise auf das Verhältnis des einzelnen oder einer Gruppe zum „Dritten" stoßen, und zwar i n der Form der Parität. Mag nun aber eine Freiheit des Gewissens für alle auch ein Gleichheitsmoment i n sich tragen, so w i r d man doch nur sagen können, daß diese Freiheit der Gleichheit als Stütze bedarf, u m den Pol des Individuums (ersatzweise einer Gruppe) i m Verhältnis zum Dritten zu ordnen. I n diesem Sinne meint Parität positiv den Anspruch von Religionen und Weltanschauungen auf Gleichstellung und Gleichbehandlung 26 , negativ das chen nicht aus, u m Verstöße gegen die Gewissensfreiheit zuzulassen (so aber i m Ergebnis Nagel, JR 72, S. 414). 18 Vgl. Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 27: A r t . 4 gehöre nicht ausschließlich dem individualrechtlichen Bereich an. 19 S. BVerfGE 23, 127.134; auch A. Arndt, N J W 66, S. 2205. 20 Vgl. v. Mangoldt-Klein, A r t . 4 A n m . I I 2. 21 Vgl. Hamel, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, S. 48 (zur Bekenntnisfreiheit). 22 So Scholler, Gewissen, S. 32. 23 So Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 9, auch 56. 24 Vgl. hierzu Scholler, Gewissensfreiheit, S. 96; ders., Schw. Monatsh. 1961/62, S. 1277. Ä h n l i c h neuerdings auch Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 23. 25 Das hier übergreifende Gebiet des Staatskirchenrechts k a n n n u r fragmentarisch berücksichtigt werden. Hierzu v o r allem: H. Weber, Staatskirchenrecht (m. w . N.); auch ders., JuS 67, S. 433 ff.; Podlech, Gewissensfreiheit, S. 77 ff. 26 So m i t Recht Eisenhardt, J Z 68, S. 216 ff., 219. Ä h n l i c h : Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 20; Mayer-Scheu, Ess. Gespräche 3, S. 151 f. S. auch B V e r w G DVB1. 72, S. 333 f.

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Verbot der Privilegierung bestimmter Bekenntnisse 27 . Damit wurzelt die Parität i m allgemeinen Gleichheitssatz des A r t . 3 I 2 8 und hat seine Ausprägung i n A r t . 3 I I I , 33 I I I sowie i n den staatskirchenrechtlichen Konkretisierungen gefunden. Diese Sicht bedingt auch, daß der Gedanke der „Rücksichtnahme" als Teilinhalt der Parität 2 9 hier nicht zum Tragen kommt. Wollte man den Grundsatz der Trennung von Kirche und Staat als Ordnungsvorstellung i m Grundrecht der Gewissensfreiheit verankern 3 0 , so bedeutet dies, daß die Frage des Verhältnisses von Kirche und Staat i n die spezifisch individuelle Problematik der Gewissensfreiheit hineingetragen würde. Die Zweifel verstärken sich dort, wo das Prinzip als bloße Verstärkung bestehender Rechte und Pflichten 31 oder in zunehmendem Maße organisatorisch verstanden wird, sei es als Bereichsscheidung von staatlichem und kirchlichem Bereich 32 , sei es als Gebot an den Staat, sich des Eingriffs oder der Parteinahme zu enthalten und seine Souveränität gegenüber kirchlichen Anmaßungen zu sichern 33 oder sei es streng organisatorisch als Trennung des politischen Systems „Staat" von der „Kirchenleitung" 3 4 . Von hier aus öffnet sich kein Zugang mehr zur Gewissensfreiheit, mag dies auch für die Glaubensfreiheit der Fall 27 Den Unterschied zwischen Parität u n d Neutralität verwischen BVerfG (E 12, 1.4.; 19, 206.216; N J W 72, S. 1184), Feuchte-Dallinger (DÖV 67, S. 365), (Art. 4 Scholtissek (Ess. Gespräche 3, S. 99, 121 ff.), Schmidt-Bleibtreu/Klein Rdnr. 3), Listi (Religionsfreiheit, S. 6, 137 f.), w e n n sie das Verbot der „ P r i v i legierung", „Bevorzugung" oder gar die paritätische Gleichbehandlung der Neutralität zurechnen. Ähnliches gilt f ü r Scheuners Gebrauch der Begriffe „ P a r i t ä t " u n d „Toleranz" (DÖV 66, S. 153; DÖV 67, S. 592). — Maunz, A f K a t h K R 139, S. 435, weist m i t Recht darauf hin, daß die Untersagung von Privilegien auf die Beachtung des Gleichheitssatzes als eines Willkürverbotes hinausläuft. Z u r Parität vgl. auch Hamel, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, S. 93 ff. 28 Α. Α.: Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 19; Scheuner, DÖV 67, S. 592; MayerScheu, Ess. Gespräche 3, S. 151 f.; Scholtissek, ebd., S. 154 f.; Hollerbach, ebd., S. 159; Weidemann, DVB1. 72, S. 335. — Wie hier: BVerfGE 19, 1 ff.; B V e r w G DVB1. 72, S. 333; Obermayer, DÖV 67, S. 12 f. F n 27; Schiaich, Ess. Gespräche 4, S. 33 f.; Holland, JuS 71, S. 635. Der Sache nach ebenso: Maunz, A f K a t h K R 139, S. 433 ff., 442, f ü r die Parität als Teilinhalt der Neutralität. — Wieder anders sieht Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 22, i n A r t . 4 den G r u n d f ü r eine sozial- und individualrechtliche Auslegung i n Paritätsfragen. 29 So Scheuner, a.a.O. (Fn 27). 30 So Scholler, Gewissen, S. 30; ν . Zezschwitz, JZ 66, S. 337 ff.; Podlech, Gewissensfreiheit, S. 77 ff. — Vgl. auch Hamel, N J W 66, S. 21; H. Weber, Staatskirchenrecht, S. 68 ff.; ders., Staat 8, S. 495, 504 f., 511; Listi, Religionsfreiheit, S. 7. 31 So Maunz, BayVBl. 68, S. 2. 32 So Listi, Ess. Gespräche 3, S. 80. 33 Vgl. hierzu Schiaich, Ess. Gespräche 4, S. 26 f. (Verhältnis Staat - Kirche!). 34 So Podlech, Gewissensfreiheit, S. 82 f., 85.

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sein 35 , was hier nicht zu untersuchen ist. Das Verständnis der Gewissensfreiheit als Individualrecht, aus dem Gewissensphänomen wie auch aus einer zunehmenden moralischen Neutralisierung der ,Welt' läßt sich nicht auf organisatorische Vorgänge zwischen Staat und Kirche zurückführen, sondern bedarf eines Ordnungsaspekts, der diesen Erwägungen gerecht wird36. 3.3. „Freiheit" und „Würde" — Neutralität aufgrund der Gewissensfreiheit: „moralische Neutralität" Ausgegangen sei wiederum vom Zweck der Gewissensfreiheit, zur Freiheit und Würde des einzelnen beizutragen. Sie sind in der Tat die tragenden Ordnungsvorstellungen des Grundrechts der Gewissensfreiheit. Sie besagen nicht, daß Freiheit oder Würde „geschehen" soll oder geschehen darf, sondern beschreiben den rechtlichen Zustand, der sein soll oder sein darf. Aktualisiert werden sie erst durch die einzelnen Grundrechte, die punktuell die Freiheit und Würde schützen und bewahren und zu diesem Zwecke befehlen und gewähren. Darüber hinaus tragen sie auch solche Rechtssätze, die mangels anderer Obersätze i m konkreten Fall für die juristische Subsumtion entwickelt werden können. Doch sei hier diesen Ordnungsaspekten noch aus anderer Sicht, nicht etwa aus einem anderen Prinzip, nachgegangen: Das Gebot der Freiheit („liberales Prinzip") gegenüber dem Staat läßt sich nicht nur positiv von der Selbstbestimmung des Individuums nach innen und außen sehen, sondern auch negativ von der Abwesenheit des Zwangs, von der Unabhängigkeit des einzelnen. Und gerade diese Unabhängigkeit zielt auf einen besonderen rechtlichen Zustand der Gesellschaft des Grundgesetzes, der i m Gebot der Freiheit enthalten ist: den Zustand der „Neutralität" des Staates 37 . Und i n dem Sinne, i n dem staatliche Neutralität sein soll, besteht auch ein „Gebot" staatlicher Neutralität. Damit scheint allerdings noch nicht viel gewonnen, da der Neutralitätsbegriff vieldeutig gebraucht w i r d und i n diesem verwirrenden Gebrauch ohnehin jede Kontur verschwimmt 3 8 . Er sei deshalb zunächst m i t der Toleranz konfrontiert. Hier35 So etwa v. Mangoldt-Klein, A r t . 4 A n m . I I 2. — Kritisch und einschränkend: Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 17. 36 Dazu, daß Neutralität (hierzu i m folgenden) nicht notwendig den Trennungsgrundsatz impliziert: Maunz, A f K a t h K R 139, S. 439 f. 37 Z u m Zusammenhang v o n Freiheit u n d Neutralität vgl. auch He. Krüger, Staatslehre, S. 181; Hesse, Grundzüge, S. 65 f. Andeutend: Scheuner, DÖV 71, S. 513. 38 Vgl. Schiaich, Ess. Gespräche 4, S. 9 ff. Einen sehr weiten Neutralitätsbegriff (unter Einschluß staatskirchenrechtlicher Ausprägungen des Gleichheitssatzes w i e Parität, Chancengleichheit, Privilegierungsverbot) bringt neuerdings Maunz, A f K a t h K R 139, S. 432 ff., k o m m t freilich zutr. zum Ergebnis (S. 442), daß Neutralität insoweit n u r „die Anwendung des Gleichheitssatzes gegenüber den Religionsgemeinschaften" sei.

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m i t ist nicht gemeint jenes Toleranzgebot der gegenseitigen „Rücksichtnahme" 3 9 , des Hinnehmens von Auffassungen und Entscheidungen auf der Basis gegenseitigen Verstehens 40 oder der sinnvollen Zusammenarbeit und eines Verhaltens gegenüber anderen Mitmenschen, das diese trotz ihrer unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen i n ihrer personalen Würde anerkennt 4 1 . Gemeint ist vor allem auch nicht die religiöse Kategorie der „Pax", d. h. das allen Bekenntnissen gemeinsame Gebot, mit irrenden Brüdern zusammen i n Frieden und Ordnung zu leben — ein Gebot, das immanente Grenze der Bekenntnisfreiheit sein soll 4 2 . Toleranzgebot i n diesem Sinne betrifft nicht den Pol des „Individuums" i m Verhältnis zum Staat, sondern das tripolare Spannungsverhältnis „Individuum", „Dritter" und „Gesellschaft", dessen Pole nach dem Willen der Verfassung konvergieren sollen. U m diese Konvergenz — soweit sie nicht schon i m Aufbau des Grundgesetzes institutionalisiert ist — i n Einzelfällen beherrschen und leisten zu können, ist dem Staat als schlichtender Instanz die Generalklausel des Toleranzgebotes verfügbar, mit der er die Pole gesellschaftssprengender Bahnen entheben und i n konvergierende Schranken zurückverweisen kann 4 3 . Diese Funktion erweist das Toleranzgebot als K r i t e r i u m der Güterabwägung i m Einzelfall 4 4 . Hier dagegen — i m Verhältnis des Staates zum einzelnen — bezeichnet staatliche Toleranz die bloße Duldung fremder unter Wahrung eigener (staatlicher) Überzeugung 45 , also eine Duldung, die i n einem gewissen Umfang die Freiheit des einzelnen vor staatlichen Eingriffen gewährt 4 6 . 39 Scheuner, DÖV 66, S. 153; ders., Ess. Gespräche 3, S. 184. Vgl. auch ders., DÖV 67, S. 592 (i. S. v. „Parität"!); ders., Verfassungsrechtliche Fragen, S. 316, 325. — Vgl. ferner B V e r w G E 17, 267.278 ff.; Erw. Stein, Werte, S. 47 f., 59; Podlech, Gewissensfreiheit, S. 94. 40 So Maunz, Toleranz u n d Parität, S. 5. Zusti.: Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 2. Ähnlich: Scholler, Person, S. 160. 41 So Listi, Ess. Gespräche 3, S. 94 f.; ähnlich ders., Religionsfreiheit, S. 14. 42 So Hamel, Glaubens- und Gewissensfreiheit, S. 86 ff. M i t Recht kritisch: Podlech, AöR 88, S. 190 f. 43 Vgl. auch Scholler, Person, S. 160 („ein gesellschaftlich u n d zwischenmenschlich wirkendes Gebot"); Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 49. — Aus diesem Toleranzgebot leitet das BVerfG (NJW 72, S. 1184) den Minderheitenschutz ab (ähnlich schon A. Arndt, N J W 66, S. 2206). 44 I n der Sache w o h l ähnlich: Listi, Religionsfreiheit, S. 11 f., auch F n 28 („objektiver Verfassungsgrundsatz"). 45 Vgl. hierzu: BVerfGE 12,1.3 f.; N J W 72, S. 329 (unter Β I I 2); v. Zezschwitz, JZ 66, S. 339 F n 15; Schmidt-Bleibtreu/Klein, A r t . 4 Rdnr. 2; Podlech, Gewissensfreiheit, S. 83, 85; Scholtissek, Ess. Gespräche 3, S. 115; Leibholz-Rinck, GG, A r t . 4 Rdnr. 1; Listi, Religionsfreiheit, S. 10 f.; Herzog, Formen staatlicher Gesetzgebung, S. 150 f. (als zweites Modell i n staatlichen Interventionsbereichen). — U n k l a r : K . Peters, JZ 72, S. 85. 46 I n diesem Sinne auch Eisenhardt, JZ 68, S. 216 ff., 219. Z u den theologischen und säkularen Wurzeln der Toleranz: Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 3 - 5 .

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Doch läßt sich aus dem Grundgesetz für eine bloße „Duldung" der individuellen Überzeugung nichts entnehmen; vielmehr gewährt es die Selbstbestimmung des Individuums 4 7 . Aber auch die eigene Ideologie des Grundgesetzes anhand des Grundrechtskatalogs besteht nur darin, Würde, Freiheit, Gleichheit und Ordnung zu gewähren, nicht aber darin, spezifische Überzeugungen oder gar „Leitbilder" zum Wohle des einzelnen aufzuzwingen 48 und sich zu einem spezifischen Bekenntnis selbst zu bekennen. Neutralität kann deshalb nicht Toleranz i n diesem Sinne sein; das Neutralitätsprinzip hat vielmehr das traditionelle Toleranzprinzip ersetzt 49 . Damit ist bereits eine erste Grenze der staatlichen Neutralität aufgewiesen: die Identifikation, d. h. der Staat darf, w i l l er neutral sein, sich m i t einem bestimmten Bekenntnis 5 0 , m i t einer bestimmten Religion, Weltanschauung, Meinung 5 1 , Kunstrichtung 5 2 , Wissenschaftslehre, Forschungsrichtung u. a. m. nicht identifizieren. Die Neutralität erweist sich von dieser Seite her als „Nichtidentifikation" 5 3 . Eine Stellungnahme ist i h m hier versagt. Eine zweite Grenze, die der Staat des Grundgesetzes nicht überschreiten darf, ist der Laizismus. Hierunter sei ein rechtlicher Zustand verstanden, i n dem zwischen Staat und Weltanschauungs- sowie Religionsgesellschaften keine Sonderbeziehungen mehr bestehen, die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften also i n die Privatsphäre verwiesen sind 5 4 . Religionsfeindlich braucht der laizistische Staat demnach nicht zu 47

S. oben, § 6, 4.3. zu F n 106. S. oben, § 6,4.3. zu F n 114. 49 I m Ergebnis ebenso: Podlech, Gewissensfreiheit, S. 85 (m. w. N.); w o h l auch BVerfGE 12, 1.3; Listi, Religionsfreiheit, S. 10 f. — Α. Α.: Eisenhardt, JZ 68, S. 219, der das Rechtsminimum garantierter Toleranz auch heute noch i m Grundgesetz v e r w i r k l i c h t sieht, weist aber auch auf die Grundrechte hin, u n d k o m m t i n der Sache w o h l zu einem ähnlichen Ergebnis w i e hier. Auch Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 19 f., sieht — anders als hier — i m Neutralitätsgebot k e i n aliud gegenüber dem Toleranzprinzip. 50 Vgl. Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 69 f. 51 Hierzu: He. Krüger, Staatslehre, S. 179. 52 Knies, Kunstfreiheit, S. 171 ff. u. ö. 53 He. Krüger, Staatslehre, S. 178ff. Ferner: v. Zezschwitz, JZ 66, S. 337 f.; v. Campenhausen, B a y V B l . 68, S. 224; Scholler, DÖV 69, S. 534 m i t F n 88; Häberle, JuS 69«, S. 268; Fr. Müller, DÖV 69, S. 441 f.; Maunz, A f K a t h K R 139, S. 430 f . — Der Sache nach ebenso: Listi, Ess. Gespräche 3, S. 80, 177 f.; ders., Religionsfreiheit, S. 6 f., 10; Mayer-Scheu, ebd., S. 174; Schiaich, ebd., 4, S. 35, 40 (jedoch kritisch — S. 35 f. — gegenüber Krügers „Nichtidentifikation": Es fehle der personale Ansatz; die Grundrechte schienen vielmehr diesen „Bürger aus der Retorte" zu verwerfen). Α . Α.: Hamel, AöR 89, S. 334 f.; Astrath, Ess. Gespräche 3, S. 150; v. Schlabrendorff, Friedensgebot, S. 412 ff. 54 Ebenso: Maunz, BayVBl. 68, S. 2; ders., A f K a t h K R 139, S. 430 (der Sache 48

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sein 55 . Ein solcher Laizismus wäre dem Staat vor allem nicht i n der Form möglich, daß er den Glauben, die Kunst usw. gar nicht zur Kenntnis nähme; denn dann wären die Freiheitsgarantien undenkbar; sie beruhen darauf, daß der Staat die Identität seiner Bürger als Gläubige, als Gewissensträger, als Kunsttreibende usf. wahrgenommen hat, aber keine Konsequenzen daraus zieht, weder positive noch negative 56 . Aber auch dafür, daß er die Gesellschaften i n die Privatsphäre verweisen wollte, sagt das Grundgesetz nicht nur nichts aus, vielmehr zeigt es sich den Religionen und Weltanschauungen gegenüber positiv eingestellt 57 » 58 : es gestattet ihnen die freie Religionsausübung (Art. 4 II), Religionsunterricht an den Schulen (Art. 7 I I I S. 1) und die Errichtung von Bekenntnis- und Weltanschauungsschulen (Art. 7 V); es verleiht ihnen einen besonderen Status i m Staatskirchenrecht des A r t . 140 i. V. m. Art. 136 bis 139, 141 WRV. Es ist also keineswegs „alles, was m i t Religion und Weltanschauung zusammenhängt, i n rechtlicher Hinsicht irrelevant" 5 9 ; das Grundgesetz will Staat, Religion und Weltanschauung nicht völlig entflechten, gleichgültig, ob dies auch tatsächlich unmöglich wäre 6 0 . Damit bewegt sich die staatliche Neutralität des Grundgesetzes zwischen den verbotenen Bereichen der Identifikation und des Laizismus. nach); ν . Campenhausen, BayVBl. 68, S. 224; Fr. Müller, D Ö V 69, S. 443; Scholtissek, Ess. Gespräche 3, S. 98 f.; Listi , Religionsfreiheit, S. 16 (s. aber auch S. 7!) U n k l a r : Hamel, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, S. 48 („politisch belanglos"?); Scholler, DÖV 69, S. 534 m i t F n 88; Schiaich, Ess. Gespräche 4, S. 10,13. 55 So aber Listi , Ess. Gespräche 3, S. 64. 56 Vgl. auch v. Campenhausen, B a y V B l . 68, S. 224: Die tatsächlichen Unterschiede dürfen keine rechtlichen sein. 57 Ebenso Hamel, N J W 66, S. 21; Schultz, M D R 66, S. 472; Scheuner, DÖV 67, S. 588; ders., Verfassungsrechtliche Fragen, S. 314; Feuchte-Dallinger, DÖV 67, S. 365; v. Campenhausen, BayVBl. 68, S. 224 f.; Podlech, Gewissensfreiheit, S. 84; Fr. Müller, D Ö V 69, S. 441, 443 F n 9 (m. w . N.); Listi, Ess. Gespräche 3, S. 80, 92 f.; ders., Religionsfreiheit, S. 8 f.; Scheuner, Ess. Gespräche 3, S. 174; Mayer-Scheu, ebd., S. 175; Schiaich, ebd. 4, S. 44; H. Weber, Staatskirchenrecht, S. 66 f.; ders., Staat 8, S. 511 f.; Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 70 F n 2 (der m i t Recht darauf hinweist, daß das Verbot der Identifikation u n d die Kooperation des Staates m i t Religionen u n d Weltanschauungen einander nicht ausschließen. Ebenso: Scheuner, Verfassungsrechtliche Fragen, S. 321 ff.); Holland, JuS 71, S. 635.— Vgl. auch: B V e r w G DVB1. 72, S. 333 (m. A n m . Weidemann, ebd., S. 335); HessStGH, N J W 66, S. 33; Mikat, Kirchen, S. 215 ff.; Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 22, 24 ff.; v. Zezschwitz, JZ 66, S. 340 F n 17 (einschränkend). — Ferner: He. Krüger, Staatslehre, S. 49. Z u weitgehend: E. Fischer, Vorgänge 70, S. 6. 58 Dadurch zeigt sich zugleich, daß der „Grundsatz der Nichtintervention" (so Maunz, A f K a t h K R 139, S. 429 f.) kein Bestandteil des Neutralitätsbegriffs ist. 59 So E. Fischer, Vorgänge 70, S. 6. Vgl. aber auch v. Zezschwitz, JZ 66, S. 339 F n 15: Der säkulare Staat müsse „ein gleichgültiges Verhalten i n religiösen u n d weltanschaulichen Dingen" zeigen. 60 So Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 24 (deshalb „keine rigoiose Indifferenz"); Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 21.

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§ 9 A n w e n d u n g des Normativitätsmodells

Allerdings besagt dies noch nicht, w o r i n die Neutralität positiv besteht, sondern nur, daß Besonderheiten politisch keineswegs indifferent sind, sofern hierunter für den Staat „nicht existent" verstanden sein sollte 6 1 ; denn ein Gewissenskonflikt etwa ist für den Staat der Grund freier Gewissensbetätigung. Die Eigenart der staatlichen Neutralität w i r d man i n zwei Richtungen zu suchen haben: einmal i n einer „Stellungnahme" des Staates, zum anderen i n dem „Gegenstand" der Stellungnahme. Neutralität wäre dann der rechtliche Zustand, i n dem eine Stellungnahme des Staates gegenüber Gegenständen verboten ist. Doch erscheint dies noch zu weit; denn der Richter, der Verwaltungsbeamte oder der Gesetzgeber geben dadurch, daß sie einen „Gegenstand" als rechtmäßig oder rechtswidrig bezeichnen, ebenfalls eine bestimmte Stellungnahme ab. Demnach scheint es stärker auf die Eigenart des Gegenstandes anzukommen sowie darauf, daß er nicht i n seiner Totalität, sondern nur hinsichtlich spezifischer „Inhalte" i n den Blick kommt. Erinnert man sich hier an die Besonderheit des Gesetzgebungsverfahrens zur ZweckMittel-Festlegung und daran, daß der Zweck aufgrund einer „wertenden" Entscheidung ausgewählt und festgelegt wurde 6 2 , ein Verfahren, das auch der Interpret nachvollzieht, so w i r d man die Wertung des Gesetzgebers hinsichtlich der Inhalte als das bezeichnen können, was nach der vorhergehenden Wertung des Verfassungsgebers das Individuum in Unabhängigkeit gerade selbst soll bestimmen können. Neutralität ließe sich dann als der rechtliche Zustand bezeichnen, i n dem eine Wertung des Staates gegenüber den Inhalten spezifischer Sachbereiche verboten ist 6 3 . Daraus ergibt sich zugleich, daß das Neutralitätsgebot ohne Angabe des Sachbereichs ausdruckslos ist und erst durch seine Nennung Konturen und Farbe gewinnt, mag das Sachgebiet sich auch erst aus einer Mehrzahl von Rechtsnormen herausschälen, wie etwa die religiös-weltanschauliche Neutralität aus A r t . 3 I, I I I , A r t . 4 I, A r t . 33 I I I , A r t . 140 i. V. m. A r t . 136 I, IV, A r t . 137 W R V 6 4 . Demgegenüber ergeben sich etwa die Kunstneutralität nur aus Art. 5 I I I 6 5 und die Meinungsneutralität aus A r t . 5 I. 61 Der Begriff „Indifferenz" w i r d w e i t h i n u n k l a r u n d ohne nähere Erläuterung gebraucht. Vgl.: He. Krüger, Staatslehre, S. 179; v. Zezschwitz, JZ 66, S. 339 F n 15; Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 24; Scholtissek, Ess. Gespräche 3, S. 98 f.; Scheuner, ebd., S. 174; Mayer-Scheu, ebd., S. 174; Schiaich, ebd. 4, S. 10, 13, 54; Listi, Religionsfreiheit, S. 15 ff.; Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 21. 62 S. oben, § 6, 2. 63 Vgl. BVerfGE 12, 1.4; 19, 206.216; N J W 72, S. 1184 (hier w i r d der Bezug zum Grundrecht des A r t . 4 I wieder deutlicher herausgestellt). Zusti.: u. a. υ. Zezschwitz, JZ 66, S. 339 F n 15; Schmidt-Bleibtreu/Klein, A r t . 4 Rdnr. 3; Häberle, JuS 69, S. 266; Scholtissek, Ess. Gespräche 3, S. 99; H. Weber, Staat 8, S. 509, 512; Leibholz-Rinck, GG A r t . 4 Rdnr. 2; Listi, Religionsfreiheit, S. 56.

64

Α. Α.: Barion, DÖV 66, S. 363 (nur aus Art. 3 III).

Wie hier: BVerfGE 19, 206.216; vgl. auch E 12, 1.4; 18, 385.386; 19, 1.8; 24, 236.246; N J W 72, S. 1183; v. Zezschwitz, J Z 66, S. 339 f.; Scholler, D Ö V 69, S. 528; Fr. Müller, D Ö V 69, S. 443; Listi, Ess. Gespräche 3', S. 80 f. (einschränkend ders.,

3. Der Ordnungsaspekt

209

Nun kann aber die religiös-weltanschauliche Neutralität für das Grundrecht der Gewissensfreiheit nicht mehr herangezogen werden 6 6 ; denn für dieses kommt es auf die religiöse oder weltanschauliche Motivation gerade nicht mehr an. Die Neutralität würde sonst an ein fremdes, nicht an das spezifische Sachgebiet „angehängt" und würde damit den Ordnungsaspekt gerade der Gewissensfreiheit verfehlen. Vergegenwärtigt man sich nochmals, daß die Besonderheit des vom Gewissensphänomen erfaßten Sachbereiches i n der „moralischen Qualifikation", der „Sittlichkeit" der Gewissensinhalte gesehen wurde, so scheint es möglich zu sein, die Neutralität unter dem Aspekt der Gewissensfreiheit als „sittliche (moralische) Neutralität" zu kennzeichnen, d. h. als einen rechtlichen Zustand, der dem Staat die Wertung sittlicher Inhalte verbietet. Dieses moralische Wertungsverbot macht den Inhalt der Neutralität für das Grundrecht der Gewissensfreiheit aus; der Staat ist „moralisch notwendig farbenblind" 6 7 . Es scheint nun verführerisch zu sein, einen „Phänotyp" 6 8 der Sittlichkeit irgendwo i n der sozialen Wirklichkeit zu suchen. Doch würde dies der festgestellten Subjektivität der Gewissensinhalte wie auch den zahllosen differierenden moralischen Normensystemen diametral widersprechen. Ein Phänotyp der Sittlichkeit läßt sich nicht aufweisen, und gerade hier liegt der Sinn des Gebots moralischer Neutralität: der Staat kann nicht Sittenrichter sein, da i h m das objektive Richtmaß fehlt. Aber auch sonst scheint ein „Phänotyp" der Sittlichkeit oder gar des sittlichen Menschen nicht ungefährlich 6 9 : neue Gestalten und Formen der SittlichReligionsfreiheit, S. 6 f.: n u r aus A r t . 4 u n d A r t . 140 i. V. m. A r t . 137 I W R V ! ) ; Scholtissek, ebd., S.120, 161 ff.; H.Weber, Staat 8, S.509,512; M a u n z , A f K a t h K R 139, S. 436 f. (ausweitend!). — Vgl. auch Häberle, JuS 69, S. 266 F n 21; Leibholz-Rinck, GG, A r t . 4 Rdnr. 1; Scheuner, DÖV 67, S. 588 sieht h i e r i n k e i n selbständiges leitendes Prinzip; vgl. auch ders., DÖV 61, S. 203; ähnlich Maunz, A f K a t h K R 139, S. 442 („abgeleitete . . . Sammelbezeichnung"). Demgegenüber deutet Schiaich, Ess. Gespräche 4, S. 48, die Neutralität als „Kulturstaatlichkeit" u n d „hermeneutischen Grund-Satz" (S. 40 f.). 65 Hierzu: Knies, Kunstfreiheit, S. 171 ff. u. ö. 66 I m Ergebnis ähnlich: Hesse, Grundzüge, S. 156, der die „religiöse u n d weltanschauliche Neutralität des Staates" als Grundelement objektiver Ordnung auf die Glaubens-, Bekenntnis- u n d Kultusfreiheit gründet, während die Gewissensfreiheit auch die „Absage an eine v o n Staats wegen maßgebliche Deutung des Wahren u n d Richtigen" verkörpere. 67 I n Anlehnung an Barion, Ordnung u n d Ortung, S. 30. — Vgl. auch Geißler, Kriegsdienstverweigerung, S. 52: „Die ethische autoritative F u n k t i o n ist dem Staat wesensfremd" (Hervorhebung i m Original); Erw. Stein, Werte, S. 47: „Recht u n d M o r a l können durchaus verschiedene Wege gehen." 68 So Knies, Kunstfreiheit, S. 219 ff. (zur Kunstfreiheitsgarantie) ; H. Weber, Staat 8, S. 509, 512 (zur Glaubensfreiheit). 69 Dies läßt sich analog auch zu den Ansichten der i n F n 68 Genannten feststellen. 14 Freihalter

210

§ 9 A n w e n d u n g des Normativitätsmodells

keit sind abgeschnitten und auf das Traditionelle, schon einmal Gewesene zurechtgestutzt, obwohl sich der „sittliche Bedarf" des Menschen nicht absehen läßt 7 0 . Auch ließe sich die Festlegung des Phänotyps nicht der W i l l k ü r nach Normensystem und Zeitabschnitt entziehen: „Sittlichkeit" läßt sich auch aus Stammeskulten und intellektuellen „Glasperlenspielen" destillieren oder damit begründen, daß große Teile der Bevölkerung die „Maßstäbe ihres sittlichen Verhaltens" den Grundsätzen der Großkirchen entnehmen 71 , w o m i t die Ideologie wieder dort eingedrungen wäre, wo sie nach dem Gebot sittlicher Neutralität nicht sein sollte. Das Gebot sittlicher Neutralität w i r k t i n der Tat begrenzend 72 , soweit die Grenzen zur Identifikation oder zum Laizismus überschritten werden oder wo sittliche Inhalte einer staatlichen Wertung als „ G u t " oder „Böse" unterworfen werden, denn anderenfalls bestünde nicht mehr der Zustand, der sein soll, sondern ein anderer. Es w i r k t jedoch aktiv schützend nur als Kehrseite seiner begrenzenden Wirkung 7 3 , nicht jedoch positiv wirkend; denn als Ordnungsaspekt vermag es nur über die Rechtsnormen zu wirken, die aus i h m hervorgegangen sind oder die es i m Einzelfall selbst hervorbringt. Damit zeigt sich, daß das Gebot moralischer Neutralität nur ausnahmsweise unmittelbare Geltungsaussagen zuläßt, meist jedoch erst i n der Konfrontation m i t dem zu entscheidenden Fall sich konkretisiert 7 4 . 70 M i t Recht kritisiert Matussek, St.d.Z. 177, S. 419, kulturpessimistische Aussagen über den (angeblichen) Verfall der Sittlichkeit m i t dem Hinweis, auf das individuell verschiedene Werterlebnis u n d auf die Enge des eigenen W e r t bewußtseins. E r selbst bleibt jedoch den Beweis schuldig, an welchem Maßstab — w e n n nicht an einem bloß individuellen! — die von i h m behauptete „Höherentwicklung" der M o r a l gemessen werden soll (vgl. ebd., S. 420 ff.). E r erkennt zwar (ebd., S. 420, 431) die M o r a l als F u n k t i o n der „sich wandelnden U m w e l t des Menschen i n ihren technischen, wirtschaftlichen u n d sozialen Bedingungen", scheut aber die Konsequenzen. 71 Vgl. BVerfGE 24, 236.248, (aber auch BVerfGE 19, 1.9 ff.). Zusti.: Listi , Religionsfreiheit, S. 53. — E i n ähnlicher Gedankengang findet sich i n B V e r w G E 7, 66.77 ff.; 14, 318.319; 24, 1: Hier w i r d die Frage, ob Geistliche anderer Konfessionen den großen Bekenntnissen gleichgestellt werden können, am „ L e i t b i l d " der Großkirchen entschieden. Die fällige K o r r e k t u r erfolgte nunmehr durch B V e r w G E 34, 291.297 ff. 72 So auch: He. Krüger, Staatslehre, S. 179 ff.; Schiaich, Ess. Gespräche 3, S. 40 ff.; Bäumlin, W D S t R L 28, S. 24; Böckenförde, W D S t R L 28, 55 f. 73 U n k l a r : He. Krüger, Staatslehre, S. 184. — A. M.: die i n F n 72 Genannten sowie Maunz, A f K a t h K R 139, S. 442. 74 Ähnlich: Fr. Müller, D Ö V 69, S. 441 f., der auf die konkrete Beurteilung nach Sachmaterialien u n d Normbeständen verweist. Allerdings begegnet Müllers Normbereichsanalyse f ü r das Schulwesen erheblichen Zweifeln (zusti. dagegen: Listi, Religionsfreiheit, S. 13 f.). E r polarisiert religiöse u n d irreligiöse (areligiöse, weltanschauliche) Haltung; „ t e r t i u m non datur" (S. 443 f., 445 F n 22); selbst staatliches Schweigen sei hier schon Parteinahme (S. 444 F n 18). Weltanschauliche I m p l i k a t i o n e n i m Unterricht der Volksschule seien unvermeidbar (S. 445, auch F n 22). — Diese Analyse ist i n dieser Allgemeinheit

3. Der Ordnungsaspekt 3.4. Pragmatische

211

Dimension

D i e B r a u c h b a r k e i t des so gesehenen O r d n u n g s p r i n z i p s sei noch i n seine pragmatische D i m e n s i o n v e r f o l g t 7 5 . W o l l t e sich d e r S t a a t e i n U r t e i l d a r ü b e r e r l a u b e n , w e l c h e r seiner B ü r ger e i n „ U n m ü n d i g e r " oder „ U n g e b i l d e t e r " 7 6 „ S k e p t i k e r " oder „ N i h i l i s t " 7 7 oder w e l c h e r g a r v o n „ W e r t b l i n d h e i t " geschlagen i s t 7 8 , so m a g er z w a r die V e r w o r f e n e n d o r t m i t G e w a l t b e f r i e d e n k ö n n e n , w o es i h m g e l i n g t , die p l u r a l e n G e g e b e n h e i t e n e i n z u e b n e n oder z u überdecken, oder w o er sich i m E i n k l ä n g e m i t e i n e r ideologischen S e n d u n g v e r p f l i c h t e t sieht, d e n U n t e r t a n z w a n g s w e i s e v o r d e f i n i e r t e n „ e w i g e n W a h r h e i t e n " e n t g e g e n z u f ü h r e n u n d i h n u m i h r e t w i l l e n z u „ r e k r u t i e r e n " u n d eine t o t a l i t ä r e , w i e auch i m m e r definierte O r d n u n g a u f z u r i c h t e n 7 9 . Solch i d e o logischer S e n d u n g k o m m t es n i c h t a n a u f freie Gewissensentscheidung u n d a u f die A n e r k e n n u n g A n d e r s d e n k e n d e r , s o n d e r n a u f „ d i e i m äußer e n V e r h a l t e n u n d i m B e k e n n t n i s geäußerte G e m e i n s a m k e i t " 8 0 , also a u f l e d i g l i c h veräußerlichte D e m u t s b e z e u g u n g e n gegenüber der z w a n g s weise v e r o r d n e t e n I d e o l o g i e gleich w e l c h e r H e r k u n f t , die d a r a u f angew i e s e n ist, sich „ d u r c h L o c k u n g , G e w a l t oder M a c h t " 8 1 abzusichern.

religionssoziologisch u n d pädagogisch unhaltbar u n d unterstellt Religionsgesellschaften u n d Weltanschauungen eine mittelalterliche Wissenschaftsauffassung. Vgl. auch den Widerspruch i n F n 22 a. E.! Wie sollte eine A u s k l a m merung „religiöser Gehalte" gegenüber einander bekämpfenden religiösen Gruppen möglich sein, w e n n die Frage nach immanenter oder transzendenter Weltdeutung m i t den Lehrgegenständen notwendig verbunden ist? 75 Α . A . w o h l Böckenförde, W D S t R L 28, S. 55 f., der das Neutralitätsprinzip auf das moderne Staatsdenken zurückführt. . 76 Witte, AöR 87, S. 158,178. 77 Hamel, AöR 89, S. 323. 78 Brinkmann, Gewissen, S. 61. — Ähnliche Beurteilungen Andersdenkender bei v. Schlabrendorff, vgl. hierzu oben § 7, 2.4.10. nach F n 232. 79 Vgl. die bezeichnende Berufung Hamels (Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, S. 78) auf die marxistisch-leninistische D o k t r i n zur Rechtfertigung eines christlich bekennenden Staates (im Ergebnis ebenso: Astrath, Ess. Gespräche 3, S. 150). Demgegenüber zutr.: Geiger, Gewissensfreiheit, S. 31: „Es gibt nicht den christlichen Staat Bundesrepublik Deutschland"; ebenso: Scholler, S. 534; Listi, Ess. Gespräche 3, S. 82, 93, insbes. F n 201; ders., Religionsfreiheit, S. 9 f.; Schiaich, Ess. Gespräche 4, S. 40. v. Schlabrendorff, Friedensgebot, S. 412 ff., begründet den bekennenden (christlichen) Staat damit, daß k e i n Mensch des Abendlandes seine Abhängigkeit v o m Christentum leugnen könne (a.a.O., S. 415): eine exakte quaternio terminorum (hierzu: E. Schneider, Logik, S. 227 ff.)! A n anderer Stelle (NJW 72, S. 1187) bleibt v. Schlabrendorff das Postulat eines staatserhaltenden religiösen Minimums, „auf das kein Staat ohne Gefahr seiner Existenz verzichten" dürfe. 80 So zutr. Matussek, St.d.Z. 177, S. 426. 81 Matussek, a.a.O., S. 430. 14*

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§ 9 Anwendung des Normativitätsmodells

Doch die Gefahr für das Individuum ist offenkundig: Auch „das System einer vielleicht sehr hochwertigen Ethik (kann) den Menschen i n seiner Eigentümlichkeit bedrohen, wenn sie u m ihrer geschlossenen Systematik w i l l e n dazu neigt, die autonome Eigenstruktur des Menschen, wie sie durch sein Gewissen sich zu Wort meldet, zu überrollen" und damit i m Grunde den Menschen selbst zu inhumanisieren 82 . Darüber hinaus werden aber auch die pluralistischen Gegebenheiten vergewaltigt und die „friedensstiftende Funktion" des Verfassungsrechts 83 verkannt. Sieht man i m Gemeinwesen eine „Heimstatt aller Staatsbürger" 84 , welche es jedem ermöglichen soll, i n Frieden und Freiheit die „ewigen Wahrheiten" selbst zu definieren (oder auch nicht) 8 5 , und welche die sich immer mehr atomisierenden Strömungen i n eine möglichst für alle annehmbare, rational diskutierbare Ordnung zusammenschließen soll 8 6 , so kann das Grundrecht der Gewissensfreiheit nur auf die Ordnungsvorstellungen von Freiheit und Würde des Individuums bzw. moralischer Neutralität des Staates zurückgeführt werden. 3.5. Richterliche Gewissensfreiheit Auf der Ebene des Ordnungsaspektes läßt sich auch die Verbindung herstellen zu jener Verfassungsnorm, die als eine Garantie richterlicher Gewissensfreiheit 87 aufgefaßt werden könnte, nämlich A r t . 97 I. 82 So zutr.: Dantine, F u n k t i o n des Gewissens, S. 60. — S. auch Stadter, Gewissen, S. 91 f. 83 Formulierung nach Badura, JZ 64, S. 340 f. F n 54. Ferner: He. Krüger, Staatslehre, S. 203, 714 ff.; Ever s, AöR 90, S. 95; Α. Kraft, A c P 163, S. 473; Erw. Stein, Werte, S. 58 f.; Abram, Journal 67, S. 54 (Toleranz als „Strategie der Koexistenz"); H. Weber, JuS 67, S. 436; ders., Staat 8, S. 510; ders., Staatskirchenrecht, S. 24 ff., S. 40 F n 73; v. Campenhausen, B a y V B l . 68, S. 224; Häberle, JuS 69, S. 266 F n 21, S. 271; Schiaich, Ess. Gespräche 4, S. 20 ff.; Podlech, AöR 95, S. 208 (m. w . N.); Maunz, A f K a t h K R 139, S. 438 (zur religiös-weltanschaulichen Neutralität); Listi, Religionsfreiheit, S. 11. 84 So BVerfGE 19, 206.216 (Hervorhebung von m i r ) ; vgl. auch E 10, 59.85; 12, 1.4.; 12, 45.54; 18, 385.386; 19, 1.8. Zusti. etwa Listi, Ess. Gespräche 3, S. 35, 80; ders., Religionsfreiheit, S. 4, 9 f.; Schiaich, Ess. Gespräche 4, S. 31, 44; Leibholz-Rinck, GG, A r t . 4 Rdnr. 1. Vgl. auch Geiger, Gewissensfreiheit, S. 30 f.; Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 18 ff.; Scholler, DÖV 69, S. 534 f. 85 Sinngemäß ebenso: B V e r f G N J W 72, S. 329 (unter Β I I 2). S. hierzu: A . Kaufmann, Gesetz u n d Recht, S. 374: Wichtiger als die V e r w i r k l i c h u n g irgendwelcher Werte sei es, daß der Gesetzgeber die Freiheit des Gewissens respektiere. Vgl. auch Schiaich, Ess. Gespräche 4, S. 17 f.; Leisner, Grenzen, S. 1190 sowie die E r k l ä r u n g des ökumenischen Rats der Kirchen (abgedruckt bei Listi , Religionsfreiheit, S. 44). 86 Z u dieser pragmatischen Zielsetzung des Rechts seit der Reformation: Listi, Ess. Gespräche 3, S. 35. 87 S. oben, § 7, 2.4.10. zu F n 222.

3. Der Ordnungsaspekt

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Die Materialien sind hier nicht eindeutig. Zwar hatte A r t . 132 Ch. E. die Richter neben der Gesetzesbindung auch „ihrem Gewissen unterworfen", doch sollte damit nur das ungeschriebene Recht 88 , nicht aber die Subjektivität des einzelnen Gewissens zum Maßstab werden; denn sonst bliebe der Hinweis auf die Gefahr des „gesunden Volksempfindens" 89 unverständlich, das gerade durch Verschwommenheit und Unfaßbarkeit gekennzeichnet ist. Der Rechtspflegeausschuß billigte dann die Kurzform „nur dem Gesetz unterworfen" und verstand hierunter auch das „Gesetz i m höheren Sinne" 8 9 . Später hatte man sich „ m i t dem Problem der Gewissensgebundenheit der Richter befaßt" 8 9 , beließ es aber ohne Angabe näherer Gründe bei der neuen Fassung. Lediglich der Abgeordnete Dehler wies darauf hin, daß der Richter einen Konflikt zwischen seinem Gewissen und dem Gesetz selbst lösen und die Konsequenzen tragen müsse 89 . Nur diese vereinzelte Äußerung weist i n die Richtung eines individuellen Gewissenskonfliktes des Richters, während das Problem i m übrigen offenbar nicht gesehen wurde, also durch A r t . 97 I nicht geregelt werden sollte, weder i m positiven noch i m negativen 90 Sinne. Die „überkommene Wendung" 8 9 (s. auch A r t . 102 WRV) sollte seit jeher „Aufbau und Aufgaben des Reichs" 91 und hierin „Die Rechtspflege" 91 betreffen und hat diese Funktion auch für das Grundgesetz nicht verloren, wo sie i m organisatorischen Teil i m Anschluß an Gesetzgebung und Verwaltung i m Rahmen der „Rechtsprechung" niedergelegt wurde. Dafür, daß hier richterliche Gewissenskonflikte geregelt werden sollten, besteht kein Anhalt. Zwar sollte auch hier ein „Freiheitsraum" für den einzelnen Richter geschaffen werden, jedoch nicht i m Sinne einer Abwesenheit des Staates, sondern nur i m Sinne einer Abwesenheit der beiden anderen Gewalten. Daß diese „sachliche Unabhängigkeit" 9 2 den Richter nicht von der Bindung an staatlichen Zwang entlasten soll, wie die Gewissensfreiheit das Individuum, beweist schon dieselbe Norm des A r t . 97 I, die i h n dem Gesetz unterwirft. Man w i r d davon ausgehen müssen, daß hier ein spezifischer Bereich staatlichen Wirkens i m Verhältnis zu den Trägern nichtrichterlicher Gewalt ausgegrenzt und als „autonomer Sektor der Staatstätigkeit konstituiert" wurde 9 3 , zum Schutze der Recht88

S. JöR N.F. 1, S. 716. S. JöR N.F. 1, S. 717. 90 A . A . insoweit Holtkotten, B K A r t . 97 A n m . II 2b β. 91 Vgl. die Uberschriften der WRV. 92 BVerfGE 3, 213.224; 14, 56.69; 26, 186.198; vgl. auch 27, 312.322; Holtkotten, B K A r t . 97 A n m . I I l a ; Schmidt-Bleibtreu/Klein, A r t . 97 Rdnr. 2; HamannLenz, A r t . 97 A n m . A ; Hesse, Grundzüge, S. 221; Leibholz-Rinck, GG, A r t . 97 Rdnr. 1. 93 Zeidler, DÖV 71, S. 11. 89

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§ 9 A n w e n d u n g des Normativitätsmodells

sprechung gegen Anmaßungen der Legislative und Exekutive 9 4 . I n dieser Sicht erscheint das Prinzip sachlicher Unabhängigkeit als bloße Organisationsnorm, die den Funktionskreis richterlicher Gewalt absteckt nach Verbindlichkeiten und Unverbindlichkeiten, jene unter dem Sammelbegriff des „Gesetzes", diese lediglich negativ ausgrenzend i m Rahmen des „unabhängig". Untersucht man A r t . 97 I auf seinen Bedeutungsgehalt, so zeigt sich, daß richterliche Unabhängigkeit und Bindung an das Gesetz nicht „geschehen" sollen, sondern nur sein sollen; es w i r d also kein Verhalten befohlen, sondern nur ein rechtlicher Zustand. Auf der Ebene der Ordnungsnormen unterscheiden sich die Gewissensfreiheit und die sachliche Unabhängigkeit des Richters deutlich. Zwar lassen sich beide scheinbar i n den vieldeutigen Begriffen der „Freiheit" und der „Unabhängigkeit" zusammenfassen, stehen sich aber fern, wenn man auf den präzisen Terminus „moralische Neutralität" übergeht. Hier offenbart sich, daß das Gebot der Wahrung richterlicher Unabhängigkeit m i t dem Gebot moralischer Neutralität des Staates nichts zu t u n hat und die Charakterisierung als Organisationsnorm i n der Bereichsscheidung der Gewalten den Regelungsgehalt des A r t . 97 I i n etwa beschreibt, mag man A r t . 97 I nun aus dem Gewaltenteilungsprinzip oder aus dem Rechtsstaatsprinzip herleiten 9 5 . Als Ordnungsnorm kann das Prinzip sachlicher Unabhängigkeit des Richters auch kein Grundrecht 9 6 oder grundsrechtsähnliches Recht 97 darstellen. Es verbleibt demnach bei seiner bloßen Ordnungsfunktion. Das schließt aber nicht aus, daß sich der Richter auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit des A r t . 4 1 berufen kann. Gilt dies ohne weiteres i n seinem persönlichen Bereich, so scheint es auch denkbar dort, wo er m i t rechtsprechender Funktion betraut ist. Gerade w e i l A r t . 97 I zu richterlichen Gewissenskonflikten nichts aussagt, kann er sie auch nicht von vornherein ausgeschlossen haben. I n der Konfrontation Gewissensgebot zu Staatsgebot stellt A r t . 97 I gemeinsam m i t A r t . 20 I I I das Staatsgebot dar, das dem Richter die „Bindung an das Gesetz" auferlegt, während i h m das Gewissen befiehlt, i m konkreten Fall vom Gesetz abzuweichen, und A r t . 4 I i h n grundsätzlich hierzu berechtigt. Dieser Normenkonflikt auf Verfassungsebene läßt sich nicht ohne weiteres zugunsten der einen oder anderen Rechtsnorm entscheiden, da das Grundrecht der Gewissensfreiheit zwar eine Rechtsnorm von höchstem verfassungsrechtlichen Range, die Bindung des Richters aber i n besonderer Weise be-

94 Vgl. BVerfGE 12, 67.71; Hamann-Lenz, A r t . 97 A n m . A ; GG, A r t . 97 Rdnr. 1. 95 Hierzu Hamann-Lenz, a.a.O. (m. w. N.). 96 So zutr. BVerfGE 27, 211.217. 97 So aber Hamann-Lenz, a.a.O.

Leibholz-Rinck,

3. Der Ordnungsaspekt

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kräftigt ist, was man per Saldo allenfalls i n eine A r t „Wohlwollensgebot" 9 8 zugunsten des richterlichen Gewissenskonfliktes umdeuten kann. Damit ist man auf einen Mittelweg verwiesen. Als Anknüpfungspunkt bieten sich die normativen Funktionen der Gewissensfreiheit an, die nicht i m Sinne eines zeitlichen „früher" oder „später" (miß)verstanden werden dürfen. Die Spaltung i n „Entlastungsfunktion" und „Verlagerungsfunktion" läßt Differenzierungen zu, während für die „Bindung an das Gesetz" solche nicht ersichtlich sind, soll nicht das Prinzip selbst in Frage gestellt werden; denn auch das von der vollziehenden Gewalt aufgrund einer gesetzlichen Ermächtigung ordnungsgemäß gesetzte Verordnungsrecht bindet den Richter. Dabei begegnet die Entlastungsfunktion unter dem Aspekt der Unterworfenheit des Richters unter das Gesetz besonderen Bedenken. Bliebe sie erhalten, so hieße das, daß der Richter i m konkreten Falle die Rechtsnorm verwerfen und — je nach dem Inhalt des Gewissensgebotes — entweder die Entscheidung nunmehr nur ablehnt oder sich gezwungen sieht, i n einem bestimmten Sinne zu entscheiden. Die Folgen wären unerträglich 9 9 : die Subjektivität der Gewissensinhalte würde zu einer unübersehbaren Rechtsunsicherheit führen. Der einzelne Rechtssuchende müßte sich anders behandeln lassen als ein Dritter, sei es, daß der richterliche Gewissenskonflikt für, sei es, daß er gegen ihn spricht. Dies widerspräche nicht nur dem Gleichheitssatz, sondern brächte auch die Gefahr m i t sich, daß man den Richter u m w i r b t oder es einfach darauf ankommen ließe, ob einem i m Laufe sämtlicher Instanzen nicht vielleicht doch ein richterlicher Gewissenskonflikt zustatten kommen würde. Die generelle Geltung der Rechtsnorm würde durch richterlichen „Gewissensvorbehalt" aufgehoben und die Rechtssetzung faktisch auf die Gerichte delegiert und damit das Gewaltentrennungsprinzip völlig denaturiert; der Weg zum Justizstaat wäre frei. Die Macht des Richters fließt aber aus der Macht des Staates; es ist nicht möglich, den Richter über den Staat zu setzen. Genau das, was Art. 97 I und A r t . 20 I I I regeln, nämlich die Bindung des Richters an das Gesetz, bestände nicht mehr; zwei Verfassungsrechtsnormen wären also durch Art. 4 1 aus den Angeln gehoben. Deshalb w i r d man A r t . 97 I i n dem Sinne deuten dürfen, daß eine Vorwegwertung des Grundgesetzes dahin erfolgt ist, daß die Bindung des Richters an das Gesetz unabdingbar ist, also auch ein richterlicher Gewissenskonflikt nicht vermag, einen Unterlassungsanspruch des Richters bzw. seine „Entlastung" auszulösen. Das bedeutet aber nicht, daß der Gewissenskonflikt unbeachtlich wäre; denn auch die Verlagerungsfunktion vermag zu einer Teilrealisierung der Gewissensfreiheit zu führen, andererseits muß sie aber nicht notwen98 99

Z u m „Wohlwollensgebot": BVerfGE 23,127.134. Vgl. auch A. Kaufmann, Gesetz u n d Recht, S. 368 ff. (m. w. N.).

216

§ 9 Anwendung des Normativitätsmodells

dig die Geltung der A r t . 97 I, 20 I I I i n Frage stellen. Entscheidend ist hier vielmehr die Anzahl und die A r t der Alternativen, die es ermöglichen sollen, dem Gewissenskonflikt des Richters Rechnung zu tragen. Ob die richterliche Gewissensfreiheit am fehlenden Leistungsrecht scheitert, w i r d sich noch erweisen müssen 100 . 4. Thesen zum Normativitätsmodell der Gewissensfreiheit

Es wurden die Thesen zum Inhalt des Grundrechts der Gewissensfreiheit i n verschiedene Normativitätsfeider aufgelöst. a) Als Abwehrrecht gewährt die Gewissensfreiheit einen Unterlassungsanspruch gegenüber staatlichen Beeinträchtigungen durch positives Tun, und zwar i m Hinblick auf (1) den „Gewissensapparat" durch ein absolutes Manipulationsverbot; (2) die Individualsphäre durch die Wesensgehaltsgarantie des A r t . 19 I I ; (3) die Intimsphäre einschließlich der Gewissensverwirklichung dem Grundsatz nach; (4) die Öffentlichkeitssphäre nur i m gewissensmäßigen Verhalten. Die Gewissensfreiheit hat insoweit „Entlastungsfunktion". Ein staatliches Tätigwerden i m Rahmen der „notwendigen Manipulation" ist zulässig. Die individuelle (faktische) Funktion der Gewissensfreiheit wurde — erweitert — darin gesehen, den Gewissenskonflikt von staatlichen Zwängen und staatlich gesetzten Anreizen zu entlasten. b) Als Leistungsrecht gewährt die Gewissensfreiheit einen Anspruch auf (1) Bereitstellung von rechtlich anerkannten Alternativen gleicher Lästigkeit oder gleicher Reichweite, die tatsächlich zugänglich, ihrerseits gewissensneutral oder -konform, möglich und der Gesellschaft zumutbar sind und die i m konkreten Fall an die Stelle des ursprünglich geforderten gewissenswidrigen Verhaltens treten („Verlagerungsfunktion"), sog. „Alternativenrecht"; (2) sonstiges positives Tätigwerden des Staates, wenn das staatliche Unterlassen einer positiven Beeinträchtigung der Gewissensfreiheit nach Tragweite und Schwere gleichkommt, sog. „sonstiges Leistungsrecht". b) Als Ordnungsaspekt gebietet die Gewissensfreiheit dem Staat, die Freiheit und Würde des Individuums zu achten bzw. „moralische 100

S. unten, § 10, 2.

4. Thesen zum Normativitätsmodell der Gewissensfreiheit

217

Neutralität" zu bewahren, ungeachtet der Schutzzonen und mit W i r kung für das gesamte Recht. Soweit sich der Ordnungsaspekt nicht schon ohnehin i n schützende und bewahrende Rechtsnormen ausgeformt hat, lassen sich Rechtssätze für den zur Entscheidung anstehenden Fall daraus ableiten.

Dritter Teil

Die „Schranken" des Grundrechts der Gewissensfreiheit Die Frage, wann das Grundrecht der Gewissensfreiheit verletzt, d. h. rechtswidrig beeinträchtigt ist, läßt sich nur i m Rückgriff auf das tripolare Spannungsverhältnis beantworten; seinen Konflikten ist zu steuern. Dieses Spannungsverhältnis unterliegt dem Konvergenzgedanken; denn die Verfassung intendiert ein gesamtgesellschaftliches Gleichgewicht. Das Grundgesetz versagt die totale Autonomie eines einzelnen Pols u m der relativen Autonomie eines jeden willen, jedoch die Freiheit und Würde des Individuums deutlich akzentuierend. Jeder Versuch, zwischen diesen Polen optimal zu vermitteln 1 , ist ein Versuch, dem Pol gewisse „Schranken" zu ziehen. A n diesem Unternehmen ist auch der Gesetzgeber beteiligt, doch geht es nicht an, das gesetzgeberische Wirken i m Rahmen der Grundrechtsausgestaltung und -begrenzung nur noch leitbildgesteuert als „grundrechtsdeterminierend" aufzufassen 2, es sei denn, man wollte die jahrhundertealten historischen Erfahrungen und den Antwortcharakter des Grundgesetzes übersehen oder unterschätzen. Vielmehr enth ü l l t sich gerade i n der Stufung der Gesetzes vorbehalte ein „ i n zentralen Verfassungsnormen institutionalisiertes ,Mißtrauen' gegenüber der Legislative" 8 , das den Gesetzgeber m i t zunehmender Verschärfung des Vorbehalts sich bescheiden heißt und die Schrankenziehung anderen Kräften überantwortet, also eine A r t Delegation der Konvergenzbestimmung. Dies w i r d auch für das unbeschränkte Grundrecht der Ge-

1 Vgl. Schindler, Verfassungsrecht, S. 72 („richtiger Ausgleich"); Lerche, Übermaß, S. 153 („schonendster Ausgleich"); Böckenförde, D Ö V 66, S. 34; E r w . Stein, Werte, S. 65 f. („gerechter Ausgleich der verschiedenen Wertungen"); Hesse, Grundzüge, S. 28f. („Prinzip praktischer Konkordanz"); Häberle, DÖV 69, S. 387, 389; ders., JuS 69, S. 271 f.; Fr. Müller, Positivität, S. 21, 24 u. ö.; Bäumlin, W D S t R L 28, S. 18 ff.; Leisner, Grenzen, S. 1184 f. („vernünftiger Ausgleich"); K . Peters, J Z 72, S. 520 („abgewogener Ausgleich"). Vgl. auch das bei E. Fischer (Vorgänge 68, S. 189) zitierte U r t e i l des U.S. Supreme Court: „ . . . zwei Rechte zu versöhnen, indem m a n das eine an der Zerstörung des anderen hindert." Allerdings ist m i t „Konvergenz", „Konkordanz", „Harmonisierung" u n d a l l diesen Formeln das Problem n u r beschrieben, jedoch keineswegs gelöst, ja sogar nicht einmal eine Hilfestellung geleistet. 2 So aber Häberle, Wesensgehaltgarantie, S. 180 ff., 222. 3 So zutr.: Fr. Müller, Positivität, S. 20. — Ähnlich: Maurer, W D S t R L 30, S. 182 f.

1. I h r Nichtbestehen

219

Wissensfreiheit zu beachten sein, das hier i m Rahmen des vorgeschlagenen Normativitätsmodells auf seine „Schranken" hin untersucht werden soll. § 10 Die Sdiranken des Leistungsrechts 1. I h r Nichtbestehen

Schranken des Leistungsrechts der Gewissensfreiheit gibt es nicht unmittelbar; vielmehr ergeben sie sich von selbst aus Inhalt und Umfang des Anspruchs, insbesondere aus den Merkmalen der bereitzustellenden Alternativen. Das Verhältnis zum „Dritten" w i r d für das Alternativenrecht durch die Kriterien der Gleichwertigkeit und Zumutbarkeit der A l ternative und mittelbar durch das Erfordernis des generellen Rechts und der generellen Pflicht i m Sinne der „Gleichheit" gewährleistet; für das sonstige Leistungsrecht durch die Zumutbarkeit auch für den D r i t ten und dadurch, daß das Unterlassen des Staates einem positiven Tun „gleichkommen" muß, wodurch mittelbar die Bewertungskriterien zum Abwehrrecht wieder zum Zuge kommen. Die Konvergenz zum Pol des „Dritten" ist also gewahrt, jedoch nicht mehr als dergestalt, daß die Sachlage und die Verhältnisse des konkreten Falles entscheidend sind. Dies gilt letztlich auch i m Verhältnis zur „Gesellschaft". Ihre Interessen4 können m i t denen des Individuums kollidieren und i m Rahmen der Kriterien der „Möglichkeit" und „Zumutbarkeit" zum Ausgleich gebracht werden. Während die Frage der Realisierbarkeit nach den derzeitigen Erkenntnissen sich w i r d ermitteln lassen, kann das Problem der „Zumutbarkeit" nur über die Abwägung der Vorteile und Nachteile gelöst werden, die eine etwaige Alternative oder sonstige Leistung für die Gesellschaft bewirken würde 5 . Dabei sind auch die sozialen Kosten zu berücksichtigen. Ihre finanzielle Variante ist aufgrund sachkundiger Berechnungen zu schätzen; Alternativen oder sonstige Leistungen, die die Gesellschaft i n den finanziellen Ruin treiben, sind m i t Sicherheit unzumutbar. „Individuelle Alternativen" bleiben i m Rahmen dieser Zumutbarkeitserwägung unberücksichtigt, da sie zur gesellschaftlichen Zumutbarkeit nichts aussagen. Somit w i r d auch hier auf den konkreten Fall zurückgegriffen, der sich zudem i n Krisenzeiten anders darstellen kann als i n ungewöhnlich festen Verhältnissen.

4 Die Terme „Interessen", „Güter", „Rechtsgüter" werden hier synonym gebraucht. 5 Doch sei — u m Mißverständnisse zu vermeiden — darauf hingewiesen, daß das, was „ V o r t e i l " , was „Nachteil" ist, einer Verständigung bedarf, die n u r durch wertende Entscheidung gewonnen werden kann. D a m i t ist das „Prinzip der Güterabwägung" angesprochen (vgl. unten § 11, 2.4.).

220

§10 Die Schranken des Leistungsrechts

Scheitert demnach der Anspruch an einem Tatbestandsmerkmal, so besteht kein Leistungsrecht. Dies gilt vor allem auch dann, wenn etwa Alternativen nicht ersichtlich sind. Besonderer Schranken bedarf es daher nicht; doch verweisen Tatbestandsmerkmale i n Gestalt unbestimmter Rechtsbegriffe auf die Konkretisierung durch Güterabwägung und insoweit auf die Schrankenkriterien des Abwehrrechts. Das Leistungsrecht steht und fällt m i t seinen Voraussetzungen^. 2. Der richterliche Gewissenskonflikt

Greift man diese Problematik wieder auf 6 und vergegenwärtigt man sich noch einmal, daß der Richter ausschließlich auf das Leistungsrecht verwiesen wurde, so stellt sich hier die Frage nach den Alternativen. Nicht hierher gehört jedoch eine Alternative des Inhalts, daß der Richter die gewissenswidrige Rechtsnorm selbst verwerfen und in der Sache nach seinem Gewissen entscheiden kann; denn dies wäre lediglich der Unterlassungsanspruch i m Gewände einer Alternative, aber gerade er ist durch A r t . 20 I I I , 97 I ausgeschlossen. Auch die Alternative der „Abweichenden Meinung" (dissenting opinion) scheidet aus. Abgesehen davon, daß sie den Kollegialrichter willkürlich privilegieren und i m Falle der Stimmengleichheit der übrigen Kollegialrichter dem konfliktbeladenen Richter mittelbar die Verwerfungs- und Entscheidungskompetenz zuspielen würde, mündet die Alternative des „dissenting opinion" notwendig immer i n der Verwerfung der Rechtsnorm; denn ein Abweichen setzt das Fehlen einer Bindung an die Norm gedanklich voraus. Demgegenüber wurde aber festgestellt, daß die Bindung des Richters an das Gesetz aufgrund der A r t . 20 I I I , 97 I unabdingbar ist; ein Abwehrrecht des betroffenen Richters besteht gerade nicht. Als Alternativen sind lediglich ersichtlich die Richtervorlage nach Art. 100 und ein Recht des Richters, die M i t w i r k u n g bei Verhandlung und Entscheidung zu verweigern. Der Richter hat grundsätzlich keine Verwerfungskompetenz. Dies gilt nicht nur für förmliche, nachkonstitutionelle Gesetze i m Sinne des A r t . 100, sondern auch für Untergesetzesrecht, das die vollziehende Gewalt i m Rahmen einer gesetzlichen Ermächtigung ordnungsgemäß erlassen hat 7 . Betrachtet der Richter sein Gewissensgebot als Ausfluß eines höheren Rechts, so kann er förmliche, nachkonstitutionelle Gesetze dem zuständigen Verfassungsgericht vorlegen m i t der Behauptung, das Gesetz, auf das es i m zu entscheidenden Fall ankomme, verstoße gegen höher5a I m Ergebnis ebenso: Häberle, D Ö V 72, S. 732, 735 Fn. 52; w o h l auch ders., W D S t R L 30, S. 107 (mißverständlich ebd., S. 108, 119 Fn. 337 u. ö.; ders., DÖV 72, S. 734). — Α. A . w o h l B V e r f G D Ö V 72, S. 608. 6 S. oben, § 9, 3.5. zu F n 87. 7 BVerfGE 18, 52.59; 19, 17.31 f. Zust.: Schmidt-Bleibtreu/Klein, A r t . 97 Rdnr. 3.

2. Der richterliche Gewissenskonflikt

221

rangiges Recht. Verneint jedoch das Verfassungsgericht einen solchen Verstoß oder faßt es die Vorlage als unzulässig auf, so hatte das Verfahren lediglich aufschiebende Wirkung. Der Richter sieht sich weiterhin i n seinem Gewissenskonflikt verstrickt wie auch i n den übrigen, nicht vorlagefähigen Fällen oder auch dann, wenn er i m Kollegium überstimmt wurde. Damit erweist sich die Alternative des A r t . 100 nur teilweise als wirksam und auch nur teilweise als tatsächlich gangbar. Als weitere Alternative verbliebe ein Recht des Richters, die M i t w i r k u n g bei Verhandlung und Entscheidung zu verweigern 8 . Zuvor ist sie jedoch dahin zu ergänzen, daß aus Gründen „gleicher Lästigkeit" der Richter verpflichtet sei, i m Umfang der Arbeitsentlastung die Arbeit anderer Richter zu übernehmen. Entscheidend ist also, ob diese Alternative der Gesellschaft zumutbar ist. Das Weigerungsrecht des Richters würde die Gerichtsorganisation empfindlich stören; da die Gerichte nur m i t bestimmter Besetzung tagen können und selbst bei wenigen Gewissenskonflikten Arbeitsweise und Terminierung leiden würden, zumal Gewissenskonflikte nicht voraussehbar sind, erst i n der Auseinandersetzung m i t dem Streitstoff erwachsen können und dann den übernehmenden Richter i n vollem Umfang neu belasten. Auch die Geschäftsverteilung bliebe nicht unbeeinflußt und würde einen weitgehend unverbindlichen Charakter annehmen. Dies würde sich jedoch auch auf die Garantie des gesetzlichen Richters auswirken (Art. 101 I S . 2); eine gewisse Manipulation der Zuständigkeiten ließe sich nicht ausschließen. Die Kontinuität der Rechtsprechung des einen Gerichts — eine bedeutsame Basis des Vertrauens der gerichtsnahen Bevölkerung — wäre nicht mehr gewährleistet. Hinzu kämen wohl auch Spannungen i n der Richterschaft des jeweiligen Gerichts, die von den „zweckmäßigen Gewissensfällen" ausgingen und möglicherweise die Unparteilichkeit des Richters gefährden könnten. Demgegenüber ließen sich als gesellschaftliche Vorteile vielleicht ein erhöhtes Vertrauen des Richters selbst i n Berufsstand und Berufsethos feststellen, vielleicht eine leichte Zunahme besonders qualifizierter Persönlichkeiten, aber w o h l auch die Gefahr, daß der Richterschaft solche Persönlichkeiten zuströmen würden, die es sich versprechen, mit Hilfe des Gewissensvorbehalts schwierige Fälle zu umgehen. Wägt man die Vorteile und Nachteile gegeneinander ab, so erscheint die Alternative insgesamt der Gesellschaft nicht zumutbar, selbst wenn man ein gewisses „Wohlwollen" zu Gunsten der Alternative i n die Waagschale w i r f t . Ein Leistungsrecht dergestalt, daß der Richter i n Gewissenskonflikten die M i t w i r k u n g bei Verhandlung und Entscheidung verweigert, besteht nicht. 8

K . Peters, Überzeugungstäter, S. 258 (m. w. N.).

222

§1

Die Schranken des

erechts

Da auch andere staatliche Alternativen nicht ersichtlich sind, hat der Richter wegen eines Gewissenskonfliktes kein Leistungsrecht. § 11 Die Schranken des Abwehrrechts Erst i m Rahmen des Abwehrrechts stellt sich die Problematik der Schranke, da keine Freiheit und keine ihrer punktuellen Verbürgungen grenzenlos sein kann, ohne notwendig m i t Interessen oder Gütern der Gesellschaft zu kollidieren; denn Freiheit ist immer Freiheit i n Gemeinschaft 1 . Das isolierte Menschendasein kennt keine Freiheit, da i h m der Gegenbegriff fehlt. 1. Der fehlende Gesetzesvorbehalt

Das Grundrecht der Gewissensfreiheit hat keinen Gesetzesvorbehalt. Dies kommt nicht von ungefähr. Zwar hat das Grundgesetz kein Schrankensystem der Grundrechte entwickelt und geht oft widersprüchlich vor, so daß der Rückgriff auf den Wortlaut der Vorschrift allein nicht befriedigt 2 , doch weisen für den fehlenden Gesetzesvorbehalt zur Gewissensfreiheit zu viele Einzelheiten darauf hin, daß dies dem Willen des Verfassungsgebers entsprach 3 : die herausgehobene Stellung des A r t . 4 4 ; die entschiedene Sprache; der Wegfall eines Vorbehalts zugunsten der „allgemeinen Staatsgesetze" entgegen A r t . 135 S. 3 W R V 5 ; die Streichung eines allgemeinen Gesetzesvorbehalts bei Art. 4 II, u m seine Aushöhlung 1

Ebenso Friauf, JR 70, S. 215; Böckenförde, W D S t R L 28, S. 54. Vgl. auch — beschränkt auf die Bekenntnisfreiheit — Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 39 f. Die n u r beschränkte Geltung auch vorbehaltsloser Grundrechte ist heute allgemein anerkannt. Vgl. ferner: B V e r f G DVB1. 71, S. 684 f.; N J W 72, S. 329 f.; B V e r w G E 1, 48.52 (st. Rspr.); Fechner, Soziologische Grenze, S. 3, 9 u. ö.; Scholtissek, N J W 52, Vorb. Β X V 1; WürS. 562; ders., Ess. Gespräche 3, S. 102; v. Mangoldt-Klein, tenberger, Gewissen, S. 355 f.; E. v. Hippel, Grenzen, S. 23; Graf, Grenzen, S. 1 (m. w. N.); Maunz-Dürig-Herzoßf, A r t . 4 Rdnr. 90, 92, 147; v. Campenhausen, DVB1. 72, S. 316; Maurer, JuS 72, S. 333; Kühne, Vorgänge 72, S. 118. Einschränkend jedoch: Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 57. Angeblich schrankenlose Auslegungen entschärfen i h r Ergebnis durch restriktive Interpretation, so i m Ergebnis auch Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 56 ff. 2 S. dazu Bettermann, Grenzen, S. 1 - 3 (zusti.: Friauf, a.a.O.). F ü r eine verhältnismäßig starke Berücksichtigung der Gesetzesvorbehalte u n d ihrer D i f ferenzierung: Fr. Müller, Positivität, S. 55 f., 58 ff. u. ö. 3 So m i t Recht B V e r f G N J W 72, S. 1184 (zur Glaubensfreiheit); Böckenförde, W D S t R L 28, S. 47 ff. Vgl. auch Dürig, J Z 57, S. 171; Geiger, Gewissensfreiheit, S. 26f.; Fr. Müller, Positivität, S. 43; Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 9 f. 4 Vgl. B V e r f G N J W 72, S. 1184 (unter Β I I 2 b). 5 Ebenso: B V e r f G N J W 72, S. 1184 (unter Β I I 2 b); Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 47; Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 9 f. Fn. 3.

1. Der fehlende Gesetzes vorbehält

223

durch einfaches Gesetz zu vereiteln 6 ; die ausdrückliche Bezugnahme auf Gesetzesvorbehalte für einschränkende Gesetze i n A r t . 19 I ; das Grundgesetz als liberale rechtsstaatliche A n t w o r t auf die Herausforderung des Dritten Reiches7. Während es nun i m Widerspruch hierzu Schrankenlehren gibt, die das Grundrecht der Gewissensfreiheit dem Vorbehalt des allgemeinen Gesetzes unterstellen, erklären andere Lehren die Gewissensfreiheit als unbeschränkbar und scheinen damit der Forderung des Grundgesetzes am nächsten zu kommen. Doch ist die behauptete Unbeschränkbarkeit nur scheinbar, weil eine restriktive Interpretation der Gewissensfreiheit Schranken überflüssig macht; sei es, daß die Gewissensfreiheit ohnehin nur auf das „forum internum" 8 oder darüber hinaus auf den schmalen Außenbereich „Geheimsphäre" 9 beschränkt w i r d ; sei es, daß nur solche Verhaltensweisen anerkannt werden, die nicht über die eigene Lebenssphäre hinaus gewolltermaßen i n fremde Rechtsgüter eingreifen 10 ; sei es, daß die Gewissensbetätigung aufgespalten w i r d i n einen unbeschränkbaren religiösen und einen beschränkbaren Restbereich 11 ; sei es, daß das Grundgesetz das christlich-abendländische Sittengesetz 12 , die Schranken der jeweiligen Bekenntnisse selbst 13 oder gewisse übereinstimmende sittliche Grundanschauungen der heutigen K u l t u r v ö l k e r 1 4 rezipiert habe und jedermann auf diese Grenzen unseres Gemeinschaftslebens verwiesen sei; sei es letztlich, daß das Gewissen — sofern nicht „gestört" — Sprachrohr einer objektiven sittlichen Ordnung 1 5 oder der „Maßstabseite Gottes" sei 16 und ein staatliches, wissenschaftliches oder anderes Lehramt

β

Vgl. JöR N.F. 1, S. 74 f. Vgl. auch Hamel, N J W 66, S. 19. 8 Zippelius, B K A r t . Rdnr. 44; ders., W D S t R L 28, S. 91. 9 Scholler, Gewissensfreiheit, S. 131 ff., 202 f., 206 (anders nunmehr ders., DÖV 69, S. 528 f.). 10 Geiger, Gewissensfreiheit, S. 24f.; ders., Nonkonformismus, S. 72 ff. 11 G. Küchenhoff, Staat u n d Gewissen, S. 91, 70 ff. 12 Hamel, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, S. 77, 81; ders., AöR 89, S. 334; ders., N J W 66, S. 20 („immanente Ordnungsprinzipien der Menschheit" i n der Transformation der Bekenntnisse) hält aber diese Schranken nicht konsequent durch gegenüber dem jüdischen Bekenntnis (vgl. ders., Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, S. 91). Das jüdische Bekenntnis versteht sich nicht als christliche Religion oder christlich-humanistische Weltanschauung. 13 Hamel, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, S. 71 ff. 14 BVerfGE 12, 1.4; 24, 236.246. Vgl. schon Scholler, Gewissensfreiheit, S. 202 f., zu einer ähnlichen Zusatzschranke. Wie das BVerfG: Leibholz-Rinck, GG, A r t . 4 Rdnr. 2, 6; Listi, Religionsfreiheit, S. 56f.; Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 111, 113 (Kultusfreiheit!). 15 Geiger, Nonkonformismus, S. 59 f.; abl.: Scheuner, Z e v K R 70, S. 250. 18 Brinkmann, Gewissen, S. 74 Fn. 60, S. 152 ff. Ä h n l i c h beschränkt v. Schlabrendorff, Friedensgebot, S. 417, 419, die schrankenlose Gewissensfreiheit auf die „Anerkennung des an Gott gebundenen Gewissens". 7

224

§1

Die Schranken des

erechts

die „richtige" Gewissensentscheidung verkünde. Bei der Interpretation der Gewissensfreiheit als Schutz des „forum internum", der Geheimsphäre oder eigenen Lebenssphäre werden die öffentlichen „Ausstrahlungen" des Gewissens von anderen beschränkbaren Grundrechten gedeckt 17 . I n allen übrigen Fällen ist nur konformes Verhalten gewährleistet, der Abweichler nicht geschützt und damit der primäre Sinn jedes Grundrechts als eines „Minderheitenschutzrechtes" 18 ins Gegenteil verkehrt. Zwar gilt das Grundrecht regelmäßig für jedermann und alle, doch bedarf die Mehrheit i n einer Demokratie dieses Schutzes nicht. Sie kann die Gesetze schaffen, deren sie bedarf. Die Freiheitlichkeit der Verfassung offenbart sich erst an dem Maß der Freiheit, das die Minderheit und damit der einzelne genießt 19 . Erstreckt man aber m i t anderen Lehrmeinungen die Wirkung des Grundrechts i n die Außenwelt und versucht man nicht, konformitätssichernde Weltanschauungsmechanismen einzubauen oder eine „Gewissens-Kerntheorie" 20 dem religiös-weltanschaulich und sittlich neutralen Staat zu unterlegen 21 , so w i r d der fehlende Gesetzesvorbehalt zum Problem; denn ohne Verstoß gegen die Gewissensfreiheit läßt sich die „Echtheit" einer Gewissensposition und ihre Behauptung nicht klären und dem Mißbrauch des Grundrechts nicht wehren. Dann scheint die Gewissensfreiheit zu einer allgemeinen sittlichen Handlungsfreiheit auszuufern 22 , der nur durch den Vorbehalt des allgemeinen Gesetzes gesteuert werden kann 2 3 , unter Rückgriff auf A r t . 140 i. V. m. A r t . 136 I W R V 2 4 — i m 17 Scholler, Gewissensfreiheit, S. 206; Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 41 ff.; w o h l auch Hamm-Lenz, A r t . 4 A n m . A 2, Β 2, 4 a (mit Ausnahme der „ I n d i v i d u a l sphäre" des einzelnen). 18 v. Zezschwitz, J Z 71, S. 11, 13. Vgl. auch B V e r f G N J W 72, S. 1184 (unter Β I I 1 a. E., 2 c); A. Arndt, N J W 66, S. 2204. 19 Ebenso: Groß, J Z 61, S. 480. Ferner HessStGH, N J W 66, S. 36; E. Fischer, Vorgänge 70, S. 6; υ. Zezschwitz, a.a.O. 20 So aber Friauf, W D S t R L 28, S. 130. 21 Dagegen zutr. Böckenförde, W D S t R L 28, S. 142. Vgl. aber auch Dürig, ebd., S. 130 ff. („transzendentale Bezüge"). Kritisch m i t Recht: Hollerbach, ebd., S. 131 f. (Rückzug auf eine „Quasi-Religiosität"). 22 So eindeutig: Listi, Religionsfreiheit, S. 88, 96 (i. V. m. S. 75). I n die gleiche Richtung zielt Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 39 ff. (zur Bekenntnisfreiheit). — Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 17, sieht die Ausuferungsgefahr noch allgemeiner i n Richtung auf ein umfassendes Recht auf (nicht n u r sittliche!) Handlungsfreiheit. 23 Warnend schon Scholler, Gewissensfreiheit, S. 204, nach dem i n dieser Situation die Gefahr besteht, daß die Gewissensfreiheit wieder auf das forum i n t e r n u m retiriere, u m Konfliktfälle aufzulösen. A b i . auch Friauf, a.a.O., S. 130; Dürig, ebd., S. 131; Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 148. — So aber: O L G Stuttgart, N J W 63, S. 776; O L G Hamburg, M D R 65, S. 63; O L G K ö l n , N J W 65, S. 14481; v. Mangoldt-Klein, A r t . 4 A n m . I I I 5; Kaufmann· Bühler, Kriegsdienstverweigerung, S. 58; Listi, Religionsfreiheit, S. 75 ( „ i m Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung" als immanente Schranke!), S. 85 u. ö.

1. Der fehlende Gesetzesvorbehalt

225

Widerspruch dazu, daß die Gewissensfreiheit gerade nichts mehr m i t der Religionsfreiheit zu t u n hat 2 5 — oder durch unmittelbare Anwendung der Schrankentrias des A r t . 2 I als allgemeine Schranke aller Grundrechte, der Vorbehaltsgrundrechte wie der vorbehaltlosen 26 ; dem widersprechen aber die Differenzierung der Gesetzesvorbehalte, die Problemgeschichte der einzelnen Grundrechte, die unterschiedlichen Wirklichkeits- und Freiheitsausschnitte und die „ j e selbständige normative Gewährleistung" 2 7 . Gleichbedeutend m i t dem Vorbehalt der allgemeinen Gesetze 28 kann die W i r k u n g der Gewissensfreiheit auf das Verbot staatlicher Intoleranz beschränkt werden, d. h. die Gewissensfreiheit verbietet nur Gesetze, die sich (final) gegen eine religiöse Anschauung als solche richten 2 9 ; i m übrigen äußert sie dann keine Schutzwirkung. Engt man die Gewissensfreiheit nur auf dieses Verbot von Sondergesetzen ein, so w i r d sie zwar keinem „allgemeinen Gesetzesvorbehalt" 28 unterstellt 3 0 , w i r d nicht dem Gesetzgeber verfügbar und damit zur „leeren Deklamat i o n " 3 1 , doch w i r d die Bindung des A r t . 1 I I I unterhöhlt, der Charakter des Grundrechts als „wertentscheidende Grundsatznorm höchsten verfassungsrechtlichen Ranges" 32 verkannt, das Fehlen eines Gesetzesvorbe24 O L G Hamburg, a.a.O., S. 63 f.; O L G K ö l n , N J W 65, S. 1449; v. MangoldtKlein, a.a.O.; Bäumlin, W D S t R L 28, S. 19, 147 (einschränkend); Bettermann, ebd., S. 129 (analog); w o h l auch Schwabe, JuS 72, S. 383 (zur Glaubensfreiheit, wegen des Vermerks S. 382 w o h l auch zur Gewissensfreiheit). Abi. zu Recht: B V e r f G N J W 72, S. 1184 (unter Β I I 2 b, zur Glaubensfreiheit); H. Weber, N J W 70, S. 933; Listi, Religionsfreiheit, S. 128; Maurer, JuS 72, S. 333 (zur Kultusfreiheit). Die Überlagerung des A r t . 140 i. V. m. A r t . 136 W R V (vgl. B V e r f G a.a.O.) durch A r t . 4 I übersieht auch v. Campenhausen, DVB1. 72, S. 318, insbes. Fn. 29. 25 So auch A. Arndt, N J W 65, S. 432 f.; Herzog, DVB1. 69, S. 718; Böckenförde, W D S t R L 28, S. 45 ff. Vgl. auch Scholler, Gewissensfreiheit, S. 155; Brinkmann, Gewissen, S. 156; Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 47. 26 O L G Stuttgart, N J W 63, S. 776; v. Mangoldt-Klein, Art. 4 Anm. I I I 5 b; Wehrhahn, AöR 82, S. 250ff.; Maunz, Staatsrecht, S. 112 f.; w o h l auch Luhmann, AöR 90, S. 277 Fn. 34 (anders nunmehr ders., F u n k t i o n der Gewissensfreiheit, S. 19); Holland, JuS 71, S. 633. — A b i . : B V e r f G DVB1. 71, S. 684; N J W 72, S. 329; Listi, Religionsfreiheit, S. 61. 27 Ebenso: Fr. Müller, Positivität, S. 11 f.; Graf, Grenzen, S. 110ff. (jeweils m. w . N.). Kritisch auch Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 54 ff. Z u r mittelbaren A n w e n d u n g der Schrankentrias vgl. die unten folgenden Bemerkungen zu den „Fundamentalschranken" bzw. „Elementarklauseln". 28 Vgl. Bettermann, Grenzen, S. 21 ff. 29 BayVerfGH, V G H E N.F. 8 I I 1; 17 I I 94 (101). — Abi.: Scholler, Gewissensfreiheit, S. 143. Es scheint sich hier n u n ein Wandel anzubahnen: vgl. BayVerfGH, V G H E N.F. 20 I I 36; 20 I I 125 (129); 20 I I 159 (164); 21 I I 38. 30 Z u m „allgemeinen Gesetzesvorbehalt" tendieren aber die Auffassungen, nach denen kein Grundrecht „polizeifest" ist, etwa Scholtissek, N J W 52, S. 563; Bettermann, Grenzen, S. 15 f., 19 f. 31 So v. Burski, Zeugen Jehovas, S. 67 f. 32 So BVerfGE 23, 127.134. Zusti.:: Leibholz-Rinck, GG, A r t . 4 Rdnr. 4.

15 Freihalter

226

§1

Die Schranken des

erechts

haltes mißachtet, das Grundrecht w i r d neben A r t . 3 I I I überflüssig 33 und das bloße Verbot von Sondergesetzen läßt das Grundrecht angesichts der fortgeschrittenen Gesetzesformulierungen und Gesetzgebungstechnik fast völlig leerlaufen; ein großer Bereich der faktischen Beeinträchtigungen bliebe sanktionslos und selbst die imperativen Beeinträchtigungen sind nicht voll erfaßt wegen des Erfordernisses der Finalität. I n der Auseinandersetzung m i t dem fehlenden Gesetzesvorbehalt liegt auch der Versuch, Grenzen der Gewissensfreiheit nur i n der Gewissensfreiheit aller anderen Menschen zu sehen und i m übrigen ungeschriebene Schranken des Grundrechts nicht anzuerkennen 34 : Die Grenzziehung zur Gewissensfreiheit anderer werde durch die „Eigensphäre" gewährleistet, d. h. durch den „Bereich, innerhalb dessen Einmischungen anderer auch dann, wenn sie vom Gewissen motiviert werden, nicht geduldet zu werden brauchen". I m Verhältnis zu Privaten sei das der Bereich, den der einzelne beliebig gestalten und von dem er auch sonstige Eingriffe anderer abwehren dürfe; hier könne der Gesetzgeber ausgestaltend tätig werden. I m Verhältnis zum Staat sei dessen Eigensphäre unmittelbar aus der Verfassung zu entnehmen und bestimme sich als der Bereich, i n dem die hierzu demokratisch legitimierten Personen die Verantwortung trügen; hier könne sich der Gewissensträger nur durch Passivität aus der Allgemeinheit ausschließen. Demnach sei die Gewissensfreiheit nur bei Eingriffen, also bei positivem Tun, i n die Eigensphären anderer oder i n die staatliche (Eigen-)Sphäre begrenzt, jedoch für ein Unterlassen völlig unbegrenzt und für ein Tun dort, wo nicht i n die Eigensphäre anderer oder des Staates eingegriffen wird. Dieser Versuch kommt dem fehlenden Gesetzesvorbehalt nur scheinbar sehr nahe. Zweifel weckt schon das K r i t e r i u m der „Eigensphäre". Welcher Bereich das ist, innerhalb dessen gewissensmotivierte Einmischungen nicht geduldet zu werden brauchen, ist gerade die Frage, und diese Frage w i r d dadurch nicht beantwortet, sondern nur verschoben, daß man die Eigensphäre Dritter als den Bereich bezeichnet, „den der einzelne beliebig gestalten . . . dürfe" und die Ausgestaltung i m übrigen dem Gesetzgeber überträgt; denn das bedeutet letztlich nichts anderes, als daß der Gesetzgeber den Umfang der Gewissensfreiheit i m Verhältnis zu Privaten bestimmt: i n dem Maße, i n dem der Gesetzgeber durch neue Rechte und Rechtsgüter die private Eigensphäre ausdehnt, schrumpft die Gewissensfreiheit. — Ebenso unklar ist der Begriff der staatlichen (Eigen-)Sphäre. Jedenfalls ist das Parlament demokratisch zur Gesetzgebung legitimiert und trägt dafür die Verantwortung; seine „ f ü r notwendig gehaltenen Maßnahmen" sind die Gesetze. Diese Maßnahme 33 34

So zutr. Podlech, JuS 68, S. 123 Fn. 24. So Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 56 ff.

1. Der fehlende Gesetzes vorbehält

227

„vereitelt" der einzelne, wenn er nicht nur passiv bleibt, sondern positiv dem Gesetz zuwiderhandelt. Damit kann der Gesetzgeber die Gewissensfreiheit beliebig einschränken; denn er w i r d zwar keine Gebote mehr erlassen, die der einzelne durch Unterlassen boykottieren kann, sondern nur mehr Verbote, die das Individuum — u m nicht völlig lahmgelegt zu werden — positiv übertreten und sich damit aus dem Schutzbereich der Gewissensfreiheit entfernen muß. Das ganze Grundrecht der Gewissensfreiheit w i r d zum formulierungstechnischen Problem. Verschärft w i r d die Problematik dadurch, daß jeder Verwaltungsbeamte für sein A m t die Verantwortung trägt und für dieses sein A m t i m Grunde demokratisch legitimiert ist. Demgegenüber enthält das Grundgesetz keine unwiderlegliche Vermutung zugunsten demokratischer Legitimation. Das Kriter i u m der „Eigensphäre" scheitert also daran, daß die Grundrechte gerade vor staatlichen Eingriffen schützen sollen. — I n Wahrheit ermöglicht die Unbestimmtheit und Weite des Begriffs „Eigensphäre" fast schrankenlose Zugriffe des Gesetzgebers. Dazu verhilft noch eine dialektische Umkehrung des Verhältnisses Individuum:Dritter:Staat. Nicht mehr der Staat w i r d i n seine Schranken verwiesen, sondern das Individuum. Dadurch, daß dem Staat und dem Dritten eine grundsätzlich unantastbare Sphäre zugeordnet sein wird, w i r d der einzelne i n die Rolle des Angreifers gedrängt und damit emotionalen Beurteilungen ausgesetzt. Es werden also die wertenden Entscheidungen des Verfassungsgebers zur Freiheit und Würde des Individuums unterlaufen, und die demokratische Ordnung zum entscheidenden Pol aufgewertet. Zudem bleiben die Gründe, warum das gewissensmäßige Unterlassen stets positiv und gewissensmäßiges T u n negativ zu beurteilen sind, ungeklärt; sie gälte es offenzulegen. Es zeigt sich, daß der fehlende Gesetzesvorbehalt der Gewissensfreiheit schwierige Probleme schafft, da sich der Schutz der Gewissensfreiheit auch auf die Außensphäre erstreckt, aber i m tripolaren Spannungsverhältnis nicht unbeschränkt gelten kann. I m folgenden seien aber nicht „immanente" Grenzen oder Schranken herangezogen 35 , da sich intersubjektiv nicht entscheiden läßt, ob eine Schranke von außen herangetragen w i r d oder schon i n der Norm, i n ihrem „Wesen" (?) angelegt ist. 35 So aber etwa: B V e r w G E 1, 48.52; 2, 85.87; 2, 295.300; 23, 104.110 (st. Rspr.); Scholtissek, N J W 52, S. 561 ff.; E. v. Hippel, Grenzen, S. 26 u. ö. (vgl. aber auch S. 14f.); Listi , Ess. Gespräche 3, S. 89; ders., Religionsfreiheit, S. 61; Maunz, Staatsrecht, S. 112 f.; v. Campenhausen, DVB1. 72, S. 316; Kriele, W D S t R L 30, S. 160. Kritisch zu Recht: BVerfGE 7, 377.411; Wehrhahn, AöR 82, S. 274 („Zuhilfenahme orphischer Immanenzlehren"); Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 2 Absatz 1 Rdnr. 70 (teilweise); Lerche, Übermaß, S. 292 ff.; Scholler, Person, S. 359; Knies, Kunstfreiheit, S. 93 ff. (mit weiter Fassung des „Immanenz"-Begriffs); Bettermann, Grenzen, S. 14; Berg, JuS 69, S. 19; Fr. Müller, Positivität, S. 13 f.; Hamann-Lenz, Vorb. zu A r t . 1, A n m . 8.

15*

228

§1

Die Schranken des

erechts

2. Die „Schranken" der Gewissensfreiheit

Es sei hier das Schrankenverständnis dargelegt, wie es sich aufgrund des Inhalts und der Normativität des Grundrechts der Gewissensfreiheit gegenüber dem Staat darstellt. 2.1. Schutzzonen als Grenzen staatlicher

Beeinträchtigung

35a

Schon die Inhaltsbestimmung der Gewissensfreiheit hatte zu Schutzzonen unterschiedlichen Beeinträchtigungsgrades geführt 3 6 , die lediglieli i m Rahmen der notwendigen Manipulation durchbrochen werden konnten: der „Gewissensapparat" ist durch ein absolutes Manipulationsverbot geschützt; irgendwelche staatliche Beeinträchtigungen scheiden hier aus. Die „Individualsphäre" unterliegt der Wesensgehaltssperre m i t ihrer spezifischen Beschränkungswirkung, vermittelnd verstanden als absolut-relatives Beeinträchtigungsverbot. Lediglich für „Intimsphäre" und „Öffentlichkeitssphäre" hatten sich noch keine spezifischen Schranken des Staates abgezeichnet, doch war bereits hier die entscheidende Bedeutung der Intimsphäre für die Gewissensbildung hervorgehoben worden; sie erschien als besonders schutzbedürftig. Andererseits besteht i n der Intimsphäre bereits eine Interaktion der Beteiligten, die zu Reibungen und besonderen Konfliktlagen führen kann und damit den Staat zwingt, regelnd und gestaltend einzugreifen, wie dies etwa i n Ehe und Familie besonders deutlich wird, den beiden grundlegenden Primärgruppen der Gewissensbildung. Da ein materiales Element der Schrankenziehung ohne Fiktion nicht ersichtlich ist, andererseits ein besonderer Schutz der Intimsphäre unabweisbar ist, sei eine Anregung Schollers 37 aufgegriffen, den Schutz durch eine grundsätzliche Vermutung gegen staatliche Beeinträchtigungen der Intimsphäre 3 8 zu verstärken. Dem kommt auch eine Beweislastverteilung des Inhalts nahe, daß das Individuum nur die staatliche Beeinträchtigung seiner Gewissensfreiheit, der Staat aber die besonderen Voraussetzungen der Zulässigkeit der Beeinträchtigung (etwa Wahrung des Übermaßverbots usw.) zu beweisen habe 39 . Zugleich zeigt sich jedoch, daß eine bloße Vermutung nicht ausreichen kann, da dann noch nicht feststeht, wann eigentlich eine staatliche Beeinträchtigung zulässig ist, das nur prozessuale Element der Schutzverstärkung also

35a Die Bedeutung „autonomer Schutzzonen" betonen auch Zacher, W D S t R L 30, S. 151; Häberle, ebd., S. 187. 36 Andeutend neuerdings auch Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 145, 157. 37 DÖV 69, S. 528. 38 die allerdings m i t Schollers „Geheimsphäre" oder „Eigensphäre" nicht identisch ist. Vgl. hierzu § 7, 3.1.3. Fn. 287, u n d § 7, 3.2.4. Fn. 357. 39 So die Handhabung der Religionsfreiheit i n den U S A ; vgl. E. v. Hippel, N J W 67, S. 541.

2. Die „Schranken" der Gewissensfreiheit

229

doch einer weiteren Stütze bedarf, die seinen Anfang und sein Ende markiert. Damit münden aber die Schrankenerwägungen für die gesamte Außensphäre i n die Suche nach dem entscheidenden Prinzip, das erlaubt, einerseits dem fehlenden Gesetzesvorbehalt, andererseits dem Bedürfnis nach Schranken gerecht zu werden. Dieses Prinzip w i r d hier i m Grundsatz der Güter(Interessen-, Rechtsgüter-) ab wägung gesehen. 2.2. Verhältnis

von Abwehr-

und

Leistungsrecht

Allerdings ist zuvor noch auf das Verhältnis von Abwehr- und Leistungsrecht einzugehen, da es den Raum für eine Güterabwägung möglicherweise erheblich beschneiden kann, m. a. W.: Inwieweit vermag das Leistungsrecht der Gewissensfreiheit ihr Abwehrrecht zu beschränken? Jener Teil des Leistungsrechts, der sich auf ein sonstiges positives Tätigwerden des Staates richtet, sofern ein staatliches Unterlassen einer positiven Beeinträchtigung der Gewissensfreiheit nach Tragweite und Schwere gleichkommt und die staatliche Leistung möglich und zumutbar ist („sonstiges Leistungsrecht") —: dieses Leistungsrecht hat ein positives Tun zum Gegenstand und ein die Gewissensfreiheit verletzendes Unterlassen zum Grund. Demgegenüber hat das Abwehrrecht ein Unterlassen des Staates zum Gegenstand und dieses Unterlassen w i r d gefordert, u m die Gewissensfreiheit gerade nicht zu verletzen. Damit können durch ein und dasselbe Unterlassen bzw. durch ein und dasselbe positive Tun nicht beide Tatbestände gleichzeitig erfüllt werden. Vielmehr gilt: wo das Leistungsrecht, dort kein Abwehrrecht, und wo das Abwehrrecht, dort kein Leistungsrecht. Beide stehen deshalb insoweit zueinander i m Verhältnis der Disjunktion: entweder ein Abwehrrecht oder ein Leistungsrecht. Hier scheidet eine Beschränkung des Abwehrrechts durch das Leistungsrecht von vorneherein aus. Zu unterscheiden ist jedoch die Möglichkeit, Abwehrrecht und sonstiges Leistungsrecht nacheinander kumulativ anzuwenden. Betrachtet man jedoch das Verhältnis jenes Teils des Leistungsrechts, der sich als Anspruch auf die Bereitstellung von Alternativen ausweist („Alternativenrecht"), so w i r d dieses Verhältnis zum Problem, besonders deutlich unter der Perspektive als Entlastungsfunktion und Verlagerungsfunktion. Unter dem Aspekt des tripolaren Spannungsverhältnisses stellt sich hier die Frage, wie Alternativenrecht und Abwehrrecht verknüpft werden sollen, u m den etwaigen Gefahren zu begegnen, die die Entlastung, also der Unterlassungsanspruch des einzelnen, für den Dritten und die Gesellschaft entstehen läßt. Koppelt man Verlagerungsfunktion und Entlastungsfunktion zusammen, d. h. fällt das Abwehrrecht m i t dem Alternativenrecht weg, so be-

230

§1

Die Schranken des

erechts

steht jenseits der Alternative keine Gewissensfreiheit; ein Unterlassungsanspruch ist insoweit ausgeschlossen40. Die generelle Pflicht und das generelle Recht bleiben unberührt; der Mißbrauch der Gewissensfreiheit ist abgewehrt; dem Gleichheitssatz ist genügt; die Gewissensfreiheit ist insoweit relativiert. Diese Lösung hat den Vorzug der Klarheit und beseitigt das Problem des Mißbrauchs, indem diese Frage allein über das Leistungsrecht reguliert wird. Andererseits engt sie die Gewissensfreiheit zu stark ein, da i n vielen, womöglich den meisten Fällen Alternativen nicht ersichtlich, nicht möglich oder unzumutbar sind. Damit w i r d das Bedürfnis des Staates nach Stabilisierung des Systems überschätzt und der Gewissensfreiheit auch dort kein Raum gelassen, wo dem einzelnen zwar keine Verlagerungsfunktion zustatten kommt, aber dennoch hinreichend Raum zugestanden werden kann, ohne den Dritten zu benachteiligen oder die Gesellschaft zu sprengen. Betrachtet man deshalb die Entlastungs- und Verlagerungsfunktion insoweit als selbständige Funktionen der Gewissensfreiheit, als m i t dem Wegfall der Verlagerungsfunktion nicht notwendig die Entlastungsfunktion zusammenbricht, so bleibt die Gewissensfreiheit auch jenseits der Alternativen als Abwehrrecht bestehen. Soweit jedoch ein Alternativenrecht besteht, hat es den Vorrang vor dem Abwehrrecht, das insoweit zurücktritt („Subsidiarität des Abwehrrechts"). Man kann das verbleibende Abwehrrecht als unbeschränkt betrachten; der Gewissensträger w i r d frei 4 1 . Zureichender Grund der Ungleichheit gegenüber den anderen Bürgern ist das Grundrecht der Gewissensfreiheit, das der Gewissensnot des einzelnen steuern w i l l 4 2 . Die Gewissensfreiheit ist gestärkt, die Generalität der Pflicht oder des Rechts zurückgedrängt. Diese Lösung ließe sich vertreten, weil Gewissenskonflikte i n der Tat selten sind, denn einmal sind weite Erlebnis- und Handlungsfelder heute unpersönlich 43 , zum anderen ist der Sozialisationsdruck enorm und über die soziale Kontrolle eine weitgehende Übereinstimmung i n den entscheidenden Lebensfragen gewährleistet, zum dritten w i r d das „Gewissen" einengend interpretiert und pathologische Fälle werden ausgegrenzt 44 . Abgesehen von der dritten Variante, die vom hier 40

Z u dieser Lösung k o m m t Podlech, Gewissensfreiheit, S. 35 ff. Z u dieser Lösung k o m m t Luhmann, F u n k t i o n der Gewissensfreiheit, S. 19; w o h l auch A. Arndt, N J W 65, S. 433; ders., N J W 68, S. 980. 42 Ebenso: Böckenförde, W D S t R L 28, S. 145; v. Burski, Zeugen Jehovas, S. 81. — Α. M.: Luhmann, F u n k t i o n der Gewissensfreiheit, S. 19. Auch Fr. Müller, Positivität, S. 44 f., betont, daß die Grundrechte „den Grundrechtsberechtigten... eine sachlich b e g r ü n d e t e . . . Sonderstellung (verleihen), die i m Vergleich m i t grundrechtlich nicht geschützten A k t i v i t ä t e n . . . als Vorzugsstellung erscheint". 43 Luhmann, a.a.O., S. 18. 44 Vgl. Luhmann, a.a.O., S. 19 ff. 41

2. Die „Schranken" der Gewissensfreiheit

231

vorgelegten Gewissensverständnis aus unannehmbar ist, w i r d man dem Staat aber zumindest ein Korrektiv für Krisenzeiten zusprechen müssen, i n denen sich nicht nur die Gewissensüberzeugungen einzelner, sondern ganzer Gruppen aktiv gegen die Ordnung des Grundgesetzes wenden; denn das Grundgesetz wehrt sich seiner aktiven Feinde (Art. 9 II, 18, 21 II, 87 a IV, 91 u. a.) 45 . Ferner scheitert das unbegrenzte Abwehrrecht des einzelnen daran, daß es sich durch bloße Verbalisierung von Gewissensgründen mißbrauchen läßt 4 6 . Mag auch regelmäßig keine Auflösung des Staates und der Ordnung und kein Chaos durch eine unbegrenzte Gewissensfreiheit zu befürchten sein 47 , so zeigten sich doch bereits Grenzen des Abwehrrechts, deren der Staat bedarf, u m m i t wechselnden Lebenslagen und mit verfassungswidriger Sprengung der Gesellschaft fertig zu werden. 2.3. Beschränkung des Abwehrrechts Demnach bleibt nur die Beschränkung des Abwehrrechts 48 . Diese Grenzen des Freiheitsraumes könnten relativ starr formuliert werden als Sicherung der Friedensordnung nach innen, Bestand des Staates und seine Sicherung nach außen sowie Schutz der unerläßlichen Rechte und Rechtsgüter Dritter 4 9 . Auch an die sonstigen Versuche, „Elementarschranken" oder „Fundamentalgrenzen" der Gewissensfreiheit aufzustellen oder mittelbar aus der Schrankentrias des Art. 2 I HS. 2 herzuleiten 50 , ließe sich denken. Sie 45 Z u r „streitbaren Demokratie": BVerfGE 30, 1.19f., das aber i m weiteren Verlauf seiner Entscheidung den Grundsatz i n Richtung auf eine „ m i l i t a n t e Demokratie" überdehnt. Einschränkend m i t Recht das Minderheitsvotum, ebd., S. 45. 46 Vgl. auch Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 17. 47 I m Ergebnis ähnlich: Brinkmann, Gewissen, S. 154; Böckenförde, W D S t R L 28, S. 56; v. Burski, Zeugen Jehovas, S. 67, 89; Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 27 f., 40. Zweifelnd zum „Chaosgedanken" auch A. Arndt, N J W 57, S. 361; ders., N J W 65, S. 433; ders., N J W 66, S. 2205. A . A . : Welzel, Gesetz u n d Gewissen, S. 400; A. Kraft, A c P 163, S. 477, 479; Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 43; H. Weber, N J W 68, S. 1610; Podlech, JuS 68, S. 122; ders., Gewissensfreiheit, S. 29ff.; Berg, JuS 69, S. 19; Listi , Religionsfreiheit, S. 132. 48 Die Schrankensystematik von v. Mangoldt-Klein, Vorb. Β X V , w i r d hier nicht übernommen, da sie wegen ihres Verständnisses des Rechtssatzes von der Schranke her m i t dem hier dargelegten Vorgehen unvereinbar ist. 49 So vor allem Böckenförde, W D S t R L 28, S. 59 f., 84. Vgl. auch Geiger, Gewissensfreiheit, S. 24f.; v. Burski, Zeugen Jehovas, S. 84, 86 f.; Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 74 f. Fn. 164; Kühne, Vorgänge, 72, S. 118. Zweifelnd: Bartlsperger, AöR 95, S. 128. 50 Z u diesen Elementar- oder Fundamentalschranken, die oft auch „ i m manente" (inhärente) Schranken des Grundrechts sein können, vgl. : B V e r w G E 1, 48.52; 2, 295.300; 23,104.110 (st. Rspr.; sog. „Gemeinwohlklausel"); Scholtissek, N J W 52, S. 563; Dürig, J Z 57, S. 173; Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 2 Abs. 1 Rdnr.

232

§1

Die Schranken des

erechts

s t e l l e n sich j e d o c h d a r als F o r m e l n v o n g e r i n g e m I n f o r m a t i o n s g e h a l t , besagen i m G r u n d e n u r , daß die Pole des D r i t t e n u n d der Gesellschaft n i c h t z u g u n s t e n des I n d i v i d u u m s u n t e r d r ü c k t w e r d e n d ü r f e n u n d w e i s e n z u r ü c k a u f die A r t u n d Weise, w i e sie g e w o n n e n w u r d e n , n ä m l i c h d u r c h (ausdrückliche oder m e i s t verschwiegene) G ü t e r a b w ä g u n g 5 1 . Dies g i l t auch f ü r d e n M i ß b r a u c h s g e d a n k e n 5 2 , dessen a l l s e i t i g e rechtliche V e r w e n d u n g m e i s t seine E i g e n s t ä n d i g k e i t 5 3 s u g g e r i e r t , w ä h r e n d seine A n w e n d u n g grundsätzlich auf „Interessenanalyse u n d Interessenabwägung" h i n a u s l ä u f t , u n t e r K e n n z e i c h n u n g als besondere „ T y p e der K o n f l i k t l ö s u n g " 5 4 . D e m e n t s p r e c h e n d w i r d der M i ß b r a u c h auch als Schranke der v o r b e h a l t l o s e n G r u n d r e c h t e gesehen 5 5 . H i e r sei dagegen die G e s a m t klasse der E i n s c h r ä n k u n g s m ö g l i c h k e i t e n der G e w i s s e n s f r e i h e i t als „ S c h r a n k e n " gekennzeichnet, die M i ß b r a u c h s s c h r a n k e n l e d i g l i c h als T e i l k l a s s e aufgefaßt, ganz abgesehen v o n g r u n d s ä t z l i c h e n B e d e n k e n gegen die a l l m ä h l i c h g e n e r a l k l a u s e l a r t i g e A u s u f e r u n g des M i ß b r a u c h s gedankens56.

70 ff. (elementare „Nichtstörungsschranken") ; Gallwas, Mißbrauch, S. 72 („Bestandsklausel") ; Böckenförde, D Ö V 66, S. 34; Graf, Grenzen, S. 124 ff., 148 ff.; Paul, Gewissen, S. 34; Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 146 ff.; Holland, JuS 71, S. 633; w o h l auch Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 65; H. Weber, N J W 68, S. 1610. A b i . : B V e r f G N J W 72, S. 329; DVB1. 71, S. 684 f.; Geiger, Gewissensfreiheit, S. 27 f. (zur „Tendenz, den Grundrechten die »gefährlichen Zähne' auszub r e i t e n " ) ; A. Arndt, N J W 65, S. 432; Fr. Müller, Positivität, S. 14 ff.; Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 60 ff.; Listi, Religionsfreiheit, S. 61. 51 Hinsichtlich der Gewissensfreiheit besonders deutlich bei Böckenförde, W D S t R L 28, S. 59 f., u n d Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 149. Das Gesagte gilt auch für die generelle Schranke des B V e r f G (NJW 72, S. 1184; zur Glaubensfreiheit): Glaubensbetätigungsfreiheit solange, w i e nicht „fühlbare Beeinträchtigungen f ü r das Gemeinwesen oder die Grundrechte anderer erwachsen". — Z u r Güterabwägung als Grundlage der Schrankenlehren vgl. auch Schwabe, JuS 72, S. 383. 52 So zutr. Graf, Grenzen, S. 69 f. Andeutend: Schwabe, JuS 72, S. 383, insbes. Fn. 17. 53 Vgl. BVerfGE 12, 1.4; Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 97; Lerche, Übermaß, S. 117 ff., insbes. Fn. 72 („mißbrauchswehrende Normen"), S. 134 ff.; Gallwas, Mißbrauch, S. 17 ff.; ders., Faktische Beeinträchtigungen, S. 85 f.; Bettermann, Grenzen, S. 11 f.; Schmidt-Bleibtreu/Klein, A r t . 4 Rdnr. 37; Scholtissek, Ess. Gespräche 3, S. 100; Listi, Religionsfreiheit, S. 58 ff., 76 u. ö.; Holland, JuS 71, S. 633. A b i . zur Mißbrauchslehre : Graf, Grenzen, S. 69 ff. (m. w . N.); Fr. Müller, Positivität, S. 29ff.; E. v. Hippel, Grenzen, S. 44 ff. 54 Vgl. Gallwas, Mißbrauch, S. 45 f., sowie die Formulierungen S. 32, 41 f., 51, 57, 89 u. ö. 55 BVerfG, a.a.O.; B V e r w G E 15, 134.136 ff.; 30, 29.31; Gallwas, a.a.O., S. 17, 28 f., 71, 89 u. ö.; Häberle, JuS 69, S. 266 f.; Leibholz-Rinck, GG, A r t . 4 Rdnr. 2; Listi , Religionsfreiheit, S. 59. 56 S. hierzu insbes. Fr. Müller, Positivität, S. 29 ff. Kritisch auch Schwabe, JuS 72, S. 383.

2. Die „Schranken" der Gewissensfreiheit

233

Wollte man die Gewissensfreiheit wie auch alle übrigen Freiheitsgarantien „elementaren", „fundamentalen" oder „mißbrauchswehrenden", für alle Freiheitsrechte gleichmäßig geltenden Schranken unterwerfen, ohne Rücksicht auf ihre spezifische Eigenart und Tragweite und ohne den fehlenden Gesetzesvorbehalt zu beachten 57 , hieße das, sie i n einer Weise nivellieren, die der Verfassung nicht gerecht würde, und ließe das Güterabwägungsprinzip vergessen, das die Schranken erst gewinnen ließ. Zu beachten bleibt vielmehr, daß die Gewissensfreiheit selbst höchstrangige Verfassungsnorm ist und nicht ohne weiteres den behaupteten Letztschranken zu weichen hat, vielmehr eine Tendenz besteht, sie bis an letzte Konsequenzen heranzuführen (Art. 4 III!), die jedenfalls nur dort eine sichere Grenze finden, wo die Gewissensfreiheit die sie garantierende Verfassung selbst aus den Angeln hebt 5 8 oder das tripolare Spannungsverhältnis i n unerträglichem Maße zu ihren Gunsten verformt. Wo aber i m einzelnen die Schranken des Abwehrrechts der Gewissensfreiheit liegen, vermag nur die Güterabwägung i m konkreten Fall auszusagen, für die sich lediglich Leitlinien und Typisierungen angeben lassen. Das Zusammenspiel von Gewissensfreiheit, generellem Gesetz und Gleichheitssatz ist dem Einzelfall anheimgegeben unter dem Lichte der Abwehr faktischen Mißbrauchs. 2.4. Prinzip der Güterabwägung Das Prinzip der Güterabwägung 5 9 weist jedoch Besonderheiten auf, die es hier noch zu skizzieren gilt. 57

K r i t i s c h zu solchem Verfahren insbes. Fr. Müller, a.a.O., S. 11, 14, 16 u. ö. Ebenso Böckenförde, W D S t R L 28, S. 54; Kühne, Vorgänge 72, S. 118 f. 59 Vgl. v. Mangoldt-Klein, A r t . 4, A n m . I I I 5 a; Geißler, Kriegsdienstverweigerung, S. 136f.; Habscheid, J Z 64, S. 246; Podlech, JuS 68, S. 123 f.; ders., Gewissensfreiheit, S. 39 f.; H. Weber, N J W 68, S. 1610; Berg, JuS 69, S. 19; Bäumlin, W D S t R L 28, S. 22 ff.; Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 63 ff.; Listi, Religionsfreiheit, S. 107, 132 u. ö.; Maurer, JuS 72, S. 333 f.; Kühne, Vorgänge 72, S. 118; zum T e i l abweichend: Scholler, DÖV 69, S. 530 (Güterabwägung n u r i m Verhältnis zu Dritten, wogegen die objektiven Rechtsgüter der Gemeinschaft „dem Gewissen gegenüber inkommensurabel" seien). I n dieselbe Richtung zielt die „Stufenlehre" Herzogs, DVB1. 69, S. 721 (einschränkend Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 146ff.; kritisch Ek. Stein, Gewissensfreiheit, S. 18); ähnlich (allgemein) Wittig, Grundrechtssystematik, S. 589. Z u weitgehend: E. v. Hippel, Grenzen, S. 25 ff., der den Grundrechten jede Sachhaltigkeit abspricht (a.a.O., S. 15: „Grundsatznormen"). Das B V e r f G hat f ü r die Schrankenbestimmung i n ständiger Rechtsprechung zur Güterabwägung gegriffen (E 6, 32.43; 7, 377.397 ff.; 16, 214.217 ff.; 21, 239.243 f.; 28, 243.260 ff.). Das B V e r f G (NJW 72, S. 1184) distanziert sich allerdings (für die Glaubensfreiheit!) von einer „unbestimmten Güterabwägungsklausel" u n d glaubt die zur Abwägung anstehenden Güter n u r aus „der V e r fassung selbst" entnehmen zu können u n d müssen. Abi. zur Güterabwägung: C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 163; Hamel, Glaubens· u n d Gewissensfreiheit, S. 70 f., 82; ders., AöR 89, S. 334; Lerche, Über58

234

§1

Die Schranken des

erechts

2.4.1. Das methodische Prinzip Gemeint ist nicht eine Interessenabwägung als „immanente" Schranke 8 0 , m i t der letztlich nur Zugriffe i n Inhaltsbestimmungen umgedeutet werden. Gemeint ist vielmehr die Güterabwägung als methodisches Prinzip 6 1 . Die Güterabwägung ist i n der Tat nicht problemlos; denn sie gibt gerade nicht, was ihre Befürworter erhoffen und ihre Gegner ihr absprechen: die letztgültige Entscheidungsrichtlinie. Der Hinweis auf den fehlenden Abwägungsmaßstab 62 besteht zu Recht. Der Rekurs auf die Verfassung h i l f t nicht weiter 6 8 , da die Verfassung den Interpreten i n der hier umrissenen Situation gerade i m Stich läßt oder allenfalls vage Richtlinien und Hilfen anbietet, die aber ebensogut i n die eine wie i n die andere Waagschale geworfen werden können. Gerade die Abwägung bei der Gewissensfreiheit beweist dies, wo sich vom Grundgesetz hoch bewertete Normen gegenüberstehen können und das angeblich höhere Gewicht der einen sich lediglich als negative Behauptung zuungunsten der anderen darstellt. Es besteht also nicht die „Gefahr einer unzulässiggen Veränderung des von der Verfassung bestimmten Verhältnisses zwischen Grundrechten und anderen Rechtsgütern" 64 ; denn dieses Verhältnis ist ja gerade i m Streit, weil es durch die Verfassung nicht hinreichend deutlich entschieden ist. Diese Tatsache w i r d lediglich verdeckt, wenn man m i t Hilfe anderer Schrankenmethoden zu angeblich sicheren Ergebnissen kommt. Die Sicherheit w i r d erkauft durch die Irrationalität der Quellen, aus denen sie stammt. Solche „Kryptoargumente" 6 5 verhüllen lediglich die wahren Motive, Prämissen und Gedanken. Darin besteht gerade der besondere Vorteil der Güterabwägung, daß sie dazu zwingt,

maß, S. 129; v. Pestalozza, Staat 2, S. 446 ff.; Luhmann, Grundrechte, S. 59 Fn. 18, S, 208 Fn. 11; Fr. Müller, Normativität, S. 207 ff. u. ö.; ders., Positivität, S. 17 ff. (jedoch i n der Sache nicht allzusehr von hier abweichend, vgl. S. 24, 26 f.); Graf, Grenzen, S. 62 ff.; Kempen, J Z 71, S. 453. eo So aber Häberle, Wesensgehaltgarantie, S. 51 ff., 31 ff. 81 A . A . : Ε. v. Hippel, Grenzen, S. 30 („eine dem Rechtssystem immanente Norm von überpositiver Richtigkeit"; Hervorhebung von mir). Hier verwechselt E. v. Hippel die unterschiedlichen Sprachschichten. So wenig Bedingungen über die Gültigkeit von Naturgesetzen selbst Naturgesetze sind, so wenig ist das rechtstheoretische Prinzip der Güterabwägung bei Rechtsnormen selbst eine Rechtsnorm. 62 Lerche, Übermaß, S. 129, vgl. v. Pestalozza, Staat 2, S. 448; Knies, K u n s t freiheit, S. 39 ff.; Fr. Müller, Positivität, S. 18 f. 63 So aber Häberle, a.a.O., S. 38 f., 41 u. ö.; Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 65, 68 (aber auch S. 67), 72; a. A . m i t Recht Lerche, Übermaß, S. 130 f. 64 So aber Graf, Grenzen, S. 62. 85 Formulierung nach Scheuerle, A c P 163, S. 430. — Das Bedürfnis, den Prozeß der Güterabwägung offenzulegen, betont zutr. E. v. Hippel, G r u n d rechte, S. 38 f., S. 40 Fn. 76.

2. Die „Schranken" der Gewissensfreiheit

235

die Hintergründe offenzulegen. So läßt sich die apodiktische Behauptung von der begründeten Auffassung sondern, deren rationale Argumente i n die allgemeine Diskussion eingehen können. Mehr als Offenlegung leistet die Güterabwägung nicht. Sie ist lediglich der Weg, an dessen Ende die wertende Entscheidung stehen muß, welche Regelung aufgrund welcher Argumente vorzuziehen ist. Der gewichtige Einwand, daß hierzu der Gesetzgeber berufen sei, mag dort zu beachten sein, wo Gesetzesvorbehalte seine Zugriffsmöglichkeiten regeln oder wo er ausdrücklich zur Inhalts- und Schrankenbestimmung aufgerufen ist. Dies ist hier nicht zu entscheiden. Das Grundrecht der Gewissensfreiheit hat jedoch keinen Gesetzesvorbehalt. Darin, daß der Verfassungsgeber sein Mißtrauen gegenüber der Legislative auf diese Weise institutionalisiert hat, muß der Ausschluß des Gesetzgebers aus der Schrankenziehung gesehen werden; er trägt hier i n besonders hohem Maße das Risiko eines Mißlingens der Verfassungsinterpretation. Andererseits ist eine Schrankenziehung unerläßlich. Während Verwaltung und Rechtsprechung sonst dem Grundsatz nach nur nach- und weiterdenkend und sanktionierend tätig werden, sind sie hier allein zur konkretisierenden Schrankenbestimmung berufen, was letztlich heißt, daß den Gerichten die Konkretisierung der Schranken der Gewissensfreiheit aufgegeben ist®6. 2.4.2. Leitlinien der konkreten Güterabwägung Die Eigenart der m i t der Gewissensfreiheit kollidierenden Sachgebiete, der Wirkungsraum der Beeinträchtigung, die unterschiedlichen Interessenkonstellationen und die beteiligten gesellschaftlichen Strukturen lassen den konkreten Fall i m tripolaren Spannungsverhältnis nicht voraussehbar, sondern allenfalls typisierend entscheidbar machen 67 . Diese Typisierungen würden den Rahmen der vorliegenden Untersuchungen sprengen 68 . Lediglich einige allgemeine Gesichtspunkte zur konkreten Problemerörterung seien skizziert. Ein entscheidender Gedanke i m tripolaren Spannungsverhältnis ist die Konvergenz. Sie läßt sich auf rein normativer Ebene als Prinzip der

66

Z u r richterlichen Legitimation vgl. Esser, Werte, S. 14 ff., 22 ff., 38 ff. Vgl. schon die „Mißbrauchstypen" bei Gallwas, Mißbrauch, S. 33, 37 ff. Allgemein hierzu: Ε. v. Hippel, Grenzen, S. 34 f. Vgl. auch Badura, J Z 64, S. 342; Podlech, Gewissensfreiheit, S. 39 f. 68 Z u Typisierungen f ü r das besondere Gewaltverhältnis: Podlech, a.a.O., S. 73 ff. Eine (abzulehnende) Güterabwägung zur Eidesverweigerung aus Glaubens» u n d Gewissensgründen b r i n g t K . Peters, J Z 72, S. 520 f. — Z u einer nicht konsequent durchdachten Güterabwägung des B V e r f G bei der Kriegsdienstverweigerung nach A r t . 4 I I I vgl. Hantke, Vorgänge 72, S. 137. 67

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Die Schranken des

erechts

„Einheit der Verfassung" 69 deuten, auf der tatsächlichen Ebene als „Toleranzgebot" 70 , d. h. als Gebot gegenseitiger Rücksichtnahme auf der Basis gegenseitigen Verstehens 71 . Dieses Gebot w i r k t gegenüber dem Dritten wie auch der Gesellschaft und nicht zuletzt gegenüber dem Gewissensträger. Das bedingt bereits eine gewisse Grenzziehung, wie schon des öfteren betont wurde. Allerdings ist auch auf den Charakter des Grundrechts als eines „Minderheitenschutzrechtes" zurückzugreifen 72 , der es unter Umständen gebietet, das Interesse des einzelnen oder der Minderheit als schutzwürdiger verstärkt i n den Vordergrund zu rücken 73 . Als Interessen, die m i t dem Grundrecht der Gewissensfreiheit kollidieren können, kommen nicht nur Interessen gleicher Ranghöhe, also Grundrechte und Verfassungsrechtsgüter, i n Betracht 7 4 ; denn sonst könnte man daran denken, die Rechte i m Innominatsbereich des A r t . 2 I 7 5 und die Verfassungsgüter i n den weiteren Generalklauseln der Kompetenz· und Organisationsbestimmungen aufgehen zu lassen, wodurch letztlich bloße Wortfassaden ihre wahre Herkunft verschleiern und unfaßbar machen, nicht aber einen generellen Ausschluß bewirken. Andererseits findet die Gewissensfreiheit nicht schon an jedem entgegenstehenden Recht oder Rechtsgut ihre Grenze; denn sonst könnte der Gesetzgeber die Gewissensfreiheit durch freie „Rechts- oder Rechtsgut-Schöpfung"

69 Z u diesem Prinzip: BVerfGE 1, 14.321; 19, 206.220; N J W 72, S. 1183; Ehmke, W D S t R L 20, S. 77 ff. ( m . w . N . ) ; v. Pestalozza, Staat 2, S. 438; Hesse, Grundzüge, S. 28; Scheuner, Verfassungsrechtliche Fragen, S. 310 f. Dieser normative Aspekt unterscheidet die „Konvergenz" von Hesses „praktischer Konkordanz" (a.a.O., S. 28 f.; Hervorhebung von mir). 70 Hierzu f ü r die Gewissensfreiheit: Bäumlin, W D S t R L 28, S. 20 ff.; Böckenförde, ebd., S. 65 f.; Scheuner, Z e v K R 70, S. 251, 256. F ü r die Glaubensfreiheit u. a.: B V e r f G N J W 72, S. 329 (unter Β I I 3 b); N J W 72, S. 1184 (unter Β I I 2 c). F ü r die Bekenntnisfreiheit u. a.: Holland, JuS 71, S. 633 (m. w. N.). 71

S. oben, § 9, 3.3. zu Fn. 39 ff. Vgl. oben Fn. 18 f. 73 Dieses Abwägungskriterium übersieht Maunz-Dürig-Herzog, A r t . 4 Rdnr. 118. Demgegenüber andeutend: Scheuner, Verfassungsrechtliche Fragen, S. 319; Ek. Stein, Staatsrecht, S. 217 (zur Gewissensfreiheit). 72

74

So aber BVerfGE 28, 243.261; N J W 72, S. 1184 (zur Glaubensfreiheit unter Ablehnung einer „unbestimmten Güterabwägungsklausel"); Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 67. — Wie hier i m Ergebnis w o h l v. Campenhausen, DVB1. 72, S. 317 f.; Maurer, JuS 72, S. 333 f. — K r i t i s c h zum Versuch des BVerfG, reine Organisationsnormen des GG heranzuziehen, u m einem Rechtsgut (hier:: der Bundeswehr) verfassungsrechtlichen Rang angedeihen zu lassen: Hantke, Vorgänge 72, S. 137. Abi. zum Vorgehen des B V e r f G auch Kriele, W D S t R L 30, S. 160 f., der jedoch daraus die Unentbehrlichkeit des „immanenten Gemeinschaft s Vorbehalts" folgert. 75

2 I).

So etwa BVerfGE 8, 274.328 (Vertragsfreiheit als Innominatrecht des A r t .

2. Die „Schranken" der Gewissensfreiheit

237

aushöhlen 76 . Der Konflikt zwischen den Interessen läßt sich jedoch nicht etwa i n der Weise lösen, daß ein Pol auf Kosten der anderen allein dominiert; vielmehr werden die anderen immer nur zurückgedrängt, soweit dies zwingend erscheint und ohne ihren sachlichen Grundwertgehalt anzutasten 77 . So w i r d etwa bei einem Zurücktreten der Gewissensfreiheit immer noch der Restgehalt eines allgemeinen „Wohlwollensgebotes" 78 erhalten bleiben müssen, der den Gewissensträger nicht diskriminiert 7 9 . Die Frage jedoch, wie die „Ranghöhe" der Norm zu bestimmen ist, leitet zum eigentlichen Problem der Bewertung über oder — genauer — zur Frage, welche Norm i m konkreten Fall vorzuziehen ist. Rational diskutiert werden kann dies nur anhand der „Konsequenzen" 80 , die die Bevorzugung der Gewissensfreiheit oder der generellen Norm auslöst. Die Folgen für das durch die Gewissensfreiheit geschützte Individuum wurden aufgewiesen. Die Folgen bei Nichtanwendung der Norm ergeben sich aus ihr und dem konkreten Fall. Es ist demnach zu fragen, welcher der beiden möglichen Zustände und aus welchen Gründen vorzuziehen ist und welcher Zustand aus welchen Gründen benachteiligt werden darf. Hier kann auch die Unterscheidung zwischen gewissensmäßigem Tun und Unterlassen 81 bedeutsam werden, wenn etwa positives Handeln einen hochgradig unerwünschten Zustand nach sich ziehen w ü r de, dessen weitere Konsequenzen mitunter gar nicht mehr absehbar sind. Doch braucht dies keineswegs generell zu gelten und kann i m Einzelfall genau i m umgekehrten Sinne gelagert sein. Auch „Zeitfaktor" oder „Ortsfaktor" können für die Bewertung der Zustände ausschlaggebende Bedeutung gewinnen 8 2 . W i r d etwa eine Gewissensposition „zur Unzeit" geltend gemacht, so kann sich der Gewissensträger unter Umständen 76 So m i t Recht: Herzog, DVB1. 69, S. 721 f. Ä h n l i c h : Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 63 f. S. auch Kühne, Vorgänge 72, S. 118. 77 Vgl. BVerfGE 28, 243.261. Ä h n l i c h schon Fr. Müller, Positivität, S. 89. 78 Vgl. BVerfGE 23, 127.134; Leibholz-Rinck, GG, A r t . 4 Rdnr. 5 c. 79 Unter diesem Aspekt erscheint die k r i m i n e l l e „Freiheitsstrafe" unseres „modernen" Strafrechts f ü r alle Täter ohne besondere Berücksichtigung der Überzeugungstäter oder Gewissenstäter nicht n u r als deutlicher Rückschritt unserer immer stärker polarisierenden Ordnungen, sondern auch als Verstoß gegen das Wohlwollensgebot (kritisch auch Böckenförde, W D S t R L 28, S. 60 Fn. 83). Neuerdings tendiert auch das B V e r f G bei der Glaubensfreiheit (NJW 72, S. 330; N J W 72, S. 1184) dazu, die Kriminalstrafe unter besonderen Umständen als inadäquate Sanktion zu kennzeichnen. Vgl. auch Ek. Stein, Staatsrecht, S. 220; K . Peters, J Z 66, S. 461; ders., J Z 72, S. 521. Auch Schwabe, JuS 72, S. 382, befürwortet eine gestufte Reaktion des Staates. 80 So schon Welzel, Gesetz u n d Gewissen, S. 397 f.; Kühne, Vorgänge 72, S. 118, unterscheidet f ü r die Güterabwägung zwischen näherliegenden u n d fernerliegenden „Gefahren". — Vgl. ferner die Nachweise i n § 7, 3.2.1. Fn. 312. 81 S. die Nachweise oben, § 7, 3.3.1. Fn. 346. 82 Z u m „Wertewandel" vgl. Esser, Werte, S. 8 ff., u. ö. sowie Erw. Stein, Werte, S. 61 ff. u. ö.

238

§1

Die Schranken des

erechts

nicht auf sie berufen 83 , was nicht bedeutet, daß er sie v e r w i r k t hätte, sondern lediglich ihre Geltendmachung zeitlich hinausschiebt. I n Krisenzeiten können sich die zu beurteilenden Maßstäbe anders darstellen als i n rechtlich gefestigten und ruhigen Zeiten, was die Schranken der Gewissensfreiheit als eine A r t „pulsierende" Grenzen ausweist 84 . Für einen Fall jedoch hat die Verfassung die Berufung auf veränderte Umstände abgeschnitten: für den Kriegsdienst m i t der Waffe (Art. 4 III). Hier hat die Verfassung selbst die möglichen Umstände abschließend dahin bewertet, daß gegenüber der Gewissensposition des einzelnen jede andere mögliche Wertung ausgeschlossen ist 8 5 , einschließlich einer Existenzgefährdung des Gemeinwesens 86 . A r t . 4 I I I erweist sich damit als bloße Konkretisierung des Grundrechts der Gewissensfreiheit 87 . Eine unterschiedliche Bewertung der möglichen Folgezustände kann auch von der A r t und Weise der staatlichen Beeinträchtigung ausgehen. Ihre Intensität läßt nach Schwere und Tragweite nicht nur das Individuum i n Mitleidenschaft ziehen, sondern möglicherweise auch den angestrebten Zustand i n einem Licht erscheinen, der i n dieser A r t oder in dieser Auswirkung nicht erwünscht sein kann. Übermaß- und W i l l k ü r verbot sowie die Frage der Zumutbarkeit können dann korrigierend, m i l 83

Vgl. auch Podlech, Gewissensfreiheit, S. 134 f. Auch das B V e r f G (DVB1. 72, S. 383) bezeichnet erweiterte Eingriffsbefugnisse des Staates „ i n Zeiten allgemeiner Unruhe oder u m sich greifender Gewalttätigkeit" als „denkbar". 85 S. auch Podlech, a.a.O., S. 125; Ewald, Ersatzdienstverweigerung, S. 72; Erb, Frankf. Hefte 27, S. 547. 86 Ebenso: B V e r f G E 28, 243.260 (unentschieden noch E 12, 45.57 f.; kritisch hierzu: Groß, J Z 61, S. 480f.); K i p p , Kriegsdienstverweigerung, S. 100; v. Mangoldt-Klein, A r t . 4 A n m . V I 16; Geißler, Kriegsdienstverweigerung, S. 147, 152; Groß, J Z 61, S. 481; Brinkmann, Gewissen, S. 263, 268; Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 109; A. Arndt, N J W 68, S. 979; H. Weber, N J W 68, S. 1611; Podlech, Gewissensfreiheit, S. 125 f.; Böckenförde, W D S t R L 28, S. 65, 73, 85; Kempen, JZ 71, S. 453. 87 Ebenso Geiger, Gewissensfreiheit, S. 19; ders., Nonkonformismus, S. 73; A. Arndt, N J W 57, S. 361; ders., N J W 68, S. 979; Geißler, Kriegsdienstverweigerung, S. 129; Hamel, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, S. 103 f.; Welzel, Gesetz u n d Gewissen, S. 384; Groß, J Z 61, S. 480; Brinkmann, Gewissen, S. 360 ff.; Urbach, ZfJR 67, S. 171 f.; Dürig, J Z 67, S. 427; Evers, J Z 68, S. 525; Ek. Stein, Staatsrecht, S. 219; ders., Gewissensfreiheit, S. 67 f.; Podlech, Gewissensfreiheit, S. 125 f., 132; Hamann-Lenz, A r t . 4 A n m . Β 4 a; Böckenförde, W D S t R L 28, S. 74, insbesondere Fn. 142; Kempen, J Z 71, S. 453; w o h l auch Herzog, DVB1. 69, S. 720 Fn. 11; Η eilmann-Wahsner, J Z 72, S. 579. A . A . : BVerfGE 19, 135ff.; 23, 127.132; Frohberg, D Ö V 52, S. 397; Scholler, Gewissensfreiheit, S. 177; ders., D Ö V 69, S. 529; Kaufmann-Bühler, Kriegsdienstverweigerung, S. 17 f.; Zippelius, B K A r t . 4 Rdnr. 41, 46, 88; ders., W D S t R L 28, S. 91; Hannover, Vorgänge 66, S. 386; H. Weber, N J W 68, S. 1611; Frowein, W D S t R L 28, S. 139; Listi, Religionsfreiheit, S. 115 f. (der die Stell u n g des Abs. I I I i n A r t . 4 als systemwidrig bezeichnet). — Einschr.: Scheuner, Z e v K R 70, S. 248. U n k l a r : v. Mangoldt-Klein, A r t . 4 Anm. V I 4 („abgeleitetes Grundrecht"). 84

§12 Die Schranken des Ordnungsaspekts

239

dernd oder verbessernd wirken und dem Grundrecht der Gewissensfreiheit zu größerer Effektivität verhelfen. 3. Thesen zu den Schranken des Abwehrrechts

Das Abwehrrecht ist hinsichtlich des Gewissensapparates unbegrenzt und unbeschränkbar und w i r d i n der Individualsphäre durch die Wesensgehaltsgarantie des A r t . 19 I I geschützt. I m übrigen unterliegt es der Güterabwägung i m konkreten Einzelfall, für die Intimsphäre verstärkt durch eine grundsätzliche Vermutung gegen die staatliche Beeinträchtigung. § 12 Die Schranken des Ordnungsaspekts Die Ordnungsvorstellungen des Grundrechts der Gewissensfreiheit, die grundsätzlich zurückweichen, wenn die Tatbestände der vorgelagerten Rechtsaspekte unmittelbar eingreifen, und dann nur als Auslegungsleitlinie m i t interpretatorischen Impulsen sichtbar werden, können für sich allein ebenfalls m i t anderen Grundrechten und Ordnungsnormen kollidieren. I m Rahmen einer Kollision m i t anderen Grundrechten w i r d man dem Ordnungsaspekt nur begrenzende und ergänzende Aufgaben zugestehen können. Bei der Kollision m i t anderen Ordnungsvorstellungen und damit auf gleicher Abstraktionshöhe w i r d er sich freier entfalten können oder auch soweit zurückweichen müssen, wie dies i m Einzelfall unter Berücksichtigung des Übermaß Verbots unerläßlich ist 1 . Beides bedeutet aber nichts anderes, daß auch hier auf eine Güterabwägung i m konkreten Fall zurückgegriffen werden muß. U m jedoch nicht der Gefahr zu verfallen, lediglich aus der betreffenden Ordnungsvorstellung herauszulesen, was vorher i n sie projiziert wurde, w i r d der Harmonisierungs- und Deutungsspielraum des Gesetzgebers 2 m i t zunehmender Abstraktionshöhe größer und nur dort überschritten, wo das Zurückdrängen einer Norm nicht mehr logisch und systematisch zwingend erscheint oder ihr sachlicher Grundwertgehalt mißachtet w i r d 3 .

1 Graf, Grenzen, S. 48, hält solche „Grundideen" zur Schrankenermittlung für schlechthin ungeeignet. Das k a n n nicht f ü r diese Normebene insgesamt gelten u n d ist auch sonst zu apodiktisch. Ordnungsvorstellungen w i r k e n v i e l fach auf die Rechtswirklichkeit ein, sei es mittelbar über ihre Konkretisierungen, sei es unmittelbar, w e n n solche Konkretisierungen fehlen u n d die Ordnung eines Ventils oder K o r r e k t i v s bedarf. 2 Vgl. dazu f ü r die „sachlichen Richtsätze": Lerche, AöR 90, S. 347 ff. 3 So zutr. BVerfGE 28, 243.261. Zusti.: Leibholz-Rinck, GG, A r t . 4 Rdnr. 9; ähnlich: Maunz, A f K a t h K R 139, S. 437 f.

Literaturverzeichnis I n der Hauptspalte (rechte Spalte) ist das aufgeführte Schrifttum streng alphabetisch angeordnet. Aus der l i n k e n Spalte ergibt sich die Zitierweise, ebenfalls grundsätzlich i n alphabetischer Reihenfolge. Sammelwerke sind beim j e w e i l i gen A u t o r n u r m i t einem weiterführenden Hinweis zum Gesamtwerk angegeben. Soweit mehrere Autoren an einem Kommentar mitgearbeitet haben, aber n u r f ü r bestimmte Teile verantwortlich sind, ist der verantwortliche A u t o r aus der Namensreihe besonders hervorgehoben (zum Beispiel: MaunzDürig-Herzog, A r t . 1 R d n r ). Abel, Einrichtungsgarantien

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