Gesundheits- und Kinderkrankenpflege [5. aktualisierte ed.] 3132415871, 9783132415874

Dein idealer Begleiter in der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege. Du startest in deinen Traumberuf in der Gesundheit

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Gesundheits- und Kinderkrankenpflege [5. aktualisierte ed.]
 3132415871, 9783132415874

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TEIL I

Grundlagen der Pflege und Betreuung von gesunden und kranken Kindern 1 2 3 4 5 6

Professionelle Pflege · 31 Ethik in der Pflege · 44 Qualitätssicherung in der Pflege · 54 Pflegerecht und Ökonomie · 82 Arbeitsfelder der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege · 100 Wachstum und Entwicklung · 148

7

8 9

Erleben und Bewältigen von Gesundheitsstörungen im Kindes- und Jugendalter · 172 Familienorientierte Pflege und Betreuung · 188 Pflegerische Beobachtung – Wahrnehmen, Beobachten, Beurteilen, Handeln · 204

TEIL II Beobachtung und Unterstützung des Kindes und seiner Familie 10 11 12 13 14 15

Kommunizieren · 217 Atmen und Kreislauf regulieren · 244 Körpertemperatur regulieren · 272 Sich sauber halten und kleiden · 298 Essen und Trinken · 324 Ausscheiden · 364

16 17 18 19 20 21

Sich bewegen · 396 Schlafen · 420 Für eine sichere Umgebung sorgen · 432 Sich beschäftigen, spielen und lernen · 446 Mädchen oder Junge sein · 456 Sterben · 462

TEIL III Unterstützung und Betreuung in speziellen Pflegesituationen 22 23 24 25 26 27 28 29 30

Das gesunde Neugeborene und seine Eltern · 475 Pflege der Schwangeren und der Wöchnerin · 490 Pflege von Frühgeborenen · 510 Pflege von Kindern mit Störungen in der Neugeborenenperiode · 526 Pflege von Kindern mit Störungen des Sinnessystems · 534 Pflege von Kindern mit Störungen des Atemsystems · 570 Pflege von Kindern mit Störungen des Herz-Kreislauf-Systems · 586 Pflege von Kindern mit Störungen des Blutsystems · 596 Pflege von Kindern mit onkologischen Erkrankungen · 606

31 32 33 34 35 36 37 38 39

Pflege von Kindern mit Störungen des Verdauungssystems · 622 Pflege von Kindern mit Störungen des Stoffwechsels und des endokrinen Systems · 634 Pflege von Kindern mit Störungen der Niere und des Urogenitalsystems · 648 Pflege von Kindern mit Störungen des Bewegungssystems · 670 Pflege von Kindern mit Störungen des Zentralnervensystems · 684 Pflege von Kindern mit Schwerstmehrfachbehinderung · 704 Pflege von Kindern mit psychosomatischen und psychiatrischen Störungen · 718 Pflege von Kindern mit infektiösen Erkrankungen · 735 Pflege kritisch kranker Kinder · 758

TEIL IV Mitwirken bei der Diagnostik und Therapie 40

41 42

Situation von Kindern im Rahmen pflegerischer, diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen · 773 Blutentnahmen, Punktionen, Biopsien · 778 Injektionen · 800

43 44 45 46 47

Infusion und Transfusion · 810 Perioperative Pflege · 830 Wundmanagement · 840 Funktionsdiagnostik · 854 Notfallsituationen · 860

Anhang Literaturverzeichnis · 876 Glossar · 903

Abkürzungsverzeichnis · 910

Gesundheits- und Kinderkrankenpflege Herausgegeben von Mechthild Hoehl, Petra Kullick Unter Mitarbeit von Christa Aßmann*, Ilse Bayerl, Heidrun Beyer, Andrea Eichler, Michael Färber*, Monika Hensel, Pamela Jech, Ursula Junker, Gabi Kempf*, Jenny Krämer-Eder, Kurt Kullick, Diana Nowak, Brigitte Rinner, Corinna Rudolph, Heidi Schatull, Daniela Schütz, Astrid Steinberger, Simone Teubert, Eva-Maria Wagner, Tina Wilhelm

5., aktualisierte Auflage 845 Abbildungen

Georg Thieme Verlag Stuttgart • New York

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Ihre Meinung ist uns wichtig! Bitte schreiben Sie uns unter: www.thieme.de/service/feedback.html

© 2019 Georg Thieme Verlag KG Rüdigerstr. 14 70469 Stuttgart www.thieme.de Printed in Germany Zeichnungen: Karin Baum, Paphos, Zypern; Viorel Constantinescu, Bukarest; Christine Lackner, Ittlingen; Gay & Sender, Bremen Umschlaggestaltung: Thieme Gruppe Umschlagfotos: Ilya-Akinshin – stock.adobe.com; my_stock – stock.adobe.com; Paavo Blåfield; Kirsten Oborny Satz: Druckhaus Götz GmbH, Ludwigsburg, gesetzt in 3B2, Version 9.1, Unicode Druck: Aprinta Druck GmbH, Wemding Redaktion: Ann-Katrin Fröhlich, Annabel Wolpensinger

DOI 10.1055/b-006-163248 ISBN 978-3-13-241587-4 Auch erhältlich als E-Book: eISBN (PDF) 978-3-13-241588-1 eISBN (epub) 978-3-13-241589-8

123456

Wichtiger Hinweis: Wie jede Wissenschaft ist die Medizin ständigen Entwicklungen unterworfen. Forschung und klinische Erfahrung erweitern unsere Erkenntnisse, insbesondere was Behandlung und medikamentöse Therapie anbelangt. Soweit in diesem Werk eine Dosierung oder eine Applikation erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass Autoren, Herausgeber und Verlag große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernommen werden. Jeder Benutzer ist angehalten, durch sorgfältige Prüfung der Beipackzettel der verwendeten Präparate und gegebenenfalls nach Konsultation eines Spezialisten festzustellen, ob die dort gegebene Empfehlung für Dosierungen oder die Beachtung von Kontraindikationen gegenüber der Angabe in diesem Buch abweicht. Eine solche Prüfung ist besonders wichtig bei selten verwendeten Präparaten oder solchen, die neu auf den Markt gebracht worden sind. Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Gefahr des Benutzers. Autoren und Verlag appellieren an jeden Benutzer, ihm etwa auffallende Ungenauigkeiten dem Verlag mitzuteilen.

Datenschutz: Wo datenschutzrechtlich erforderlich, wurden die Namen und weitere Daten von Personen redaktionell verändert (Tarnnamen). Dies ist grundsätzlich der Fall bei Patienten, ihren Angehörigen und Freunden, z. T. auch bei weiteren Personen, die z. B. in die Behandlung von Patienten eingebunden sind. Geschützte Warennamen (Warenzeichen ®) werden nicht immer besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt. Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen oder die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die abgebildeten Personen haben in keiner Weise etwas mit der Krankheit zu tun. Die Personen und Fälle in diesem Buch sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Vorwort Seit über 20 Jahren begleiten wir Sie mit unserem Lehrbuch durch die theoretische Ausbildung und in allen Feldern der Berufspraxis. Die Ihnen vorliegende Überarbeitung wird in einer Zeit großer Umbrüche in der Pflegeausbildung fertiggestellt, an deren konkreter Ausgestaltung derzeit noch gearbeitet wird. Außer Frage wird auch zukünftig ein fundiertes Grundlagenwissen für die Pflege und Beobachtung von Kindern und Jugendlichen benötigt, um gesunde, akut und chronisch kranke sowie behinderte Kinder aller Altersstufen und ihre Familien professionell pflegen und unterstützen zu können. Bis zur endgültigen Etablierung der neuen Ausbildungsstrukturen haben wir deshalb beschlossen, den bewährten Aufbau des Lehrbuches weitestgehend beizubehalten. Das Ausscheiden einzelner Autoren hat zur Neuvergabe der jeweiligen Kapitel geführt. Bei Pflegehandlungen wurde noch stärker darauf geachtet, für die Auswahl von Maßnahmen und die Beschreibung von Handlungsabläufen nachvollziehbare Begründungen anzufügen, wo dies noch nicht explizit erfolgt war. Zugunsten der Lesbarkeit wurden längere Fließtexte klarer strukturiert und sprachlich prägnanter formuliert. Die Neugestaltung des Layouts motiviert dazu, das Lehrbuch gerne zum Lernen und Nachschlagen in die Hand zu nehmen. Die Berufsbezeichnung wurde von „Pflegeperson“ zu „Pflegefachkraft“ umformuliert in Anlehnung an die neuen Berufsabschlüsse im Pflegereformgesetz. Erkenntnisse und Empfehlungen aus der Pflegewissenschaft und pflegerelevanten

Bezugswissenschaften wurden in dieser Auflage ebenso einbezogen wie sich wandelnde gesellschaftliche, gesundheitspolitische und familiäre Strukturen, die auf die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen und das Kindeswohl einen entscheidenden Einfluss haben. Wie schon in den vergangenen Ausgaben wird weiterhin großer Wert auf die Berücksichtigung der entwicklungsbedingten Besonderheiten von Kindern und Jugendlichen im Zusammenhang mit Gesunderhaltung und Bewältigung von Gesundheitsstörungen gelegt. Die Informationsvermittlung, Anleitung und Beratung von Kindern und deren Eltern und Bezugspersonen machen einen großen Anteil des Arbeitsalltags in der professionellen Pflege von Kindern aus. Die Schwerpunkte der Beratungs-

inhalte werden in allen Kapiteln ausführlich dargestellt. Aus Leserrückmeldungen wissen wir, dass dieses Fachbuch auch in Aus-, Fort- und Weiterbildung von anderen pflegerischen, medizinischen, therapeutischen und pädagogischen Berufsgruppen Verwendung und Anerkennung findet. Auszubildende schätzen das Lehrbuch als fundierten Begleiter in Theorie und Praxis und zur Vorbereitung auf Prüfungen. Wir sind zuversichtlich, dass wir diesen Anforderungen mit dieser Neuauflage auch künftig gerecht werden, und freuen uns sehr, dass wir mit diesem Standardlehrwerk auch weiterhin – unter veränderten berufspolitischen Rahmenbedingungen – zur hohen Qualität der Kinderkrankenpflege im deutschsprachigen Raum beitragen können.

5

Dank Da die Überarbeitung des Lehrbuches nicht nur Herausgeberinnen, Autorinnen und Autoren in der gesamten Arbeitsphase sehr gefordert hat, danken wir auf diesem Wege: unseren Partnern, Familien und Freunden für ihre Entbehrungen, ihre Geduld und Unterstützung während der gesamten Zeit, allen beteiligten Autorinnen und Autoren für ihren unermüdlichen Einsatz und ihre fachlich qualifizierte Arbeit, wir danken den Korrekturleserinnen und -lesern für alle fachlichen,

6

sprachlichen und strukturellen Anregungen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Thieme Gruppe, allen voran Frau Ann-Katrin Fröhlich und Herrn Dr. Dieter Schmid für die hervorragende, freundliche und geduldige Unterstützung bei der Neugestaltung und Frau Wolpensinger für die redaktionelle Überarbeitung und ihre guten Anregungen, allen Leserinnen und Lesern der ersten vier Ausgaben, durch deren Akzeptanz die Herausgabe einer fünften Auflage erst notwendig wurde.

Besonders bedanken wir uns bei denen, die durch konstruktive Kritik Verbesserungsvorschläge eingebracht haben in Form von mündlichen und schriftlichen Anregungen. Einige Veränderungen der Neuauflage spiegeln diese Anmerkungen wider. Wir möchten Sie ermutigen, auch in Zukunft durch konstruktive Rückmeldungen zur Weiterentwicklung von Pflegewissen in der professionellen Pflege von Kindern und Jugendlichen beizutragen.

Inhaltsverzeichnis TEIL I Grundlagen der Pflege und Betreuung von gesunden und kranken Kindern 1

Professionelle Pflege. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

Diana Nowak 1.1

Was ist Pflege? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

1.1.1 1.1.2 1.1.3

Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Informelle und berufliche Pflege . . . . . . . . . Profession . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.2.5 1.2.6 1.2.7 1.2.8 1.2.9

1.3

1.3.1 1.3.2 1.3.3

2

1.3.4 1.3.5

Nach dem Ersten Weltkrieg. . . . . . . . . . . . . . Nach dem Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . .

34 34

31 32 32

1.4

Aktueller Stand und Zukunftsperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

Historische Entwicklung der Pflege . . .

32

1.5

Berufsbild und Arbeitsfelder . . . . . . . . . .

35

Prähistorie (3000 v. Chr.) . . . . . . . . . . . . . Antike (1000 v. Chr. bis 500 n. Chr.) . . . . Frühes Mittelalter (500 bis 900) . . . . . . . Spätes Mittelalter (1200 bis 1400) . . . . . Frühe Neuzeit (Ende 15 Jh. bis Anfang 18. Jh.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ende der Neuzeit (Ende 18. Jh. bis Ende 19. Jh.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vor dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . Nationalsozialismus (1933 – 1945) . . . . . Nach dem Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . .

. . . .

32 33 33 33

1.5.1 1.5.2

Berufsbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitsfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35 36

1.6

Pflegeausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36

...

33

1.6.1

. . . .

. . . .

33 33 33 33

1.6.2 1.6.3 1.6.4

Gesetz über die Berufe in der Krankenpflege (KrPflG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausbildungs- und Prüfungsverordnung (KrPflAPrV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reform der Pflegeausbildung . . . . . . . . . Berufskompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . .

Historische Entwicklung der Kinderkrankenpflege . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

. . . .

. . . .

...

36

... ... ...

37 39 39

1.7

Modelle von Gesundheit und Krankheit

40

1.7.1 1.7.2

Salutogenese. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pflegemodell nach Roper et al.: Gesundheit/ Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

Ethik in der Pflege. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

. . . .

Frühes Mittelalter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ende des 18. Jahrhunderts. . . . . . . . . . . . . . . 19. Jahrhundert/Anfang des 20. Jahrhunderts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34 34

42

34

Diana Nowak 2.1

Was ist Ethik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

2.5

Menschenbilder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

2.2

Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

2.6

Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

2.3

Normen und Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

2.6.1

Grundrechte der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4

Maxime . . . . . . Sprichwörter. . Goldene Regel . Handlungen . .

. . . .

45 45 46 46

2.7

Pflegeethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

2.7.1

ICN-Ethik-Kodex für Pflegende. . . . . . . . . . .

49

2.4

Formen der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

2.8

Kultursensible Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4 2.4.5

Deontologie. . . . . . . . . Teleologie . . . . . . . . . . Utilitarismus . . . . . . . . Verantwortungsethik. Bioethik . . . . . . . . . . . .

46 46 46 47 47

2.8.1 2.8.2

Aspekte der kultursensiblen Pflege . . . . . . . Kulturspezifische und religiöse Besonderheiten der islamischen Lebensordnung . . . .

50

. . . .

. . . .

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. . . . .

52

7

Inhaltsverzeichnis

3

Qualitätssicherung in der Pflege. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54

Diana Nowak 3.1

Was ist Qualität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54

3.5.1 3.5.2

Formen der Pflegestandards . . . . . . . . . . . . . Nationale Expertenstandards in der Pflege .

66 67

3.1.1

Qualitätsentwicklung/Qualitätsmanagement in der Pflege . . . . . . . . . . . . . .

55

3.6

Pflegekonzepte, -modelle, -theorien . .

68

3.2

Pflegeprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

58

3.6.1 3.6.2

68

3.2.1 3.2.2

Entwicklung des Pflegeprozesses . . . . . . . . Erster Schritt – Einschätzen des Pflegebedarfs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweiter Schritt – Planung der Pflege . . . . . Dritter Schritt – Durchführung der Pflege . Vierter Schritt – Evaluierung der Pflege . . . Implementierung des Pflegeprozesses . . . .

58

Begriffsdefinitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historische Einordnung von Pflegemodellen und -theorien. . . . . . . . . . . . . . . . . Einordnung von Pflegetheorien nach Meleis Weitere Modelle zur Einordnung . . . . . . . . . Pflegemodell von Dorothea Orem . . . . . . . . Auf einem Lebensmodell beruhendes Pflegemodell. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3.7

Pflegewissenschaft/Pflegeforschung . .

75

3.7.1 3.7.2

Pflegewissenschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75 76

3.8

Mitarbeiterqualifikation – lebenslanges Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

Weiterbildung und Studium . . . . . . . . . . . . . Arbeiten mit Fachliteratur und Internet. . . .

78 78

...........................................................

82

3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.2.6

3.3

. . . . . .

58 59 61 62 62

Pflegedokumentation und Berichterstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

3.3.1

Computergestützte Dokumentation. . . . . . .

63

3.4

Pflegediagnosen und Gesundheitsdiagnosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64

3.4.1 3.4.2 3.4.3

Klassifikationssysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . Klassifizierung von Pflegediagnosen . . . . . . Formen von Pflegediagnosen . . . . . . . . . . . .

64 64 65

3.5

Pflegestandards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66

4

Pflegerecht und Ökonomie

3.6.3 3.6.4 3.6.5 3.6.6

3.8.1 3.8.2

69 69 70 70 71

Ilse Bayerl 4.1

Pflegerecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82

4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.1.5 4.1.6

Strafrecht . . . . . . . . Straftatbestände . . . Zivilrecht . . . . . . . . . Elterliche Sorge. . . . Kinderschutzrechte Arbeitsrecht . . . . . .

82 85 88 93 93 94

5

Vergütungsregelung bei einem stationären Aufenthalt im Krankenhaus (Diagnosis Related Groups – DRG) . . . . .

95

Rechtsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eingruppierung in eine DRG . . . . . . . . . . . . . Vergütung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95 96 96

Arbeitsfelder der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

100

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

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. . . . . .

. . . . . .

4.2

4.2.1 4.2.2 4.2.3

Mechthild Hoehl (5.1, 5.2), Ursula Junker (5.3), Jenny Krämer-Eder (5.4, 5.7, 5.8), Petra Kullick (5.5, 5.6) 5.1

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5.1.1

Konsequenz für das tägliche pflegerische Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rolle der Pflegenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5.1.2

100

100 100

5.2

5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.2.5

8

Gesundheitsförderung und Prävention im Kindesalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

101

Neue Herausforderungen im Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgangssituation der Familie . . . . . . . . . . . Zentrale Setting-Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgabenschwerpunkte. . . . . . . . . . . . . . . . .

101 102 103 104 105

Inhaltsverzeichnis 5.2.6 5.2.7 5.2.8 5.2.9

5.3

5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4 5.3.5 5.3.6 5.3.7 5.3.8

5.4

5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4

5.5

5.5.1 5.5.2

6

Zusammenarbeit im interdisziplinären Team . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Belastungen und Bewältigungsstrategien Gesetzliche Grundlagen. . . . . . . . . . . . . . . Qualitätssichernde Maßnahmen. . . . . . . .

5.5.3 . . . .

. . . .

109 109 109 109

Pädiatrische Gesundheitseinrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

110

Stationäre pädiatrische Einrichtungen . . . . . Ambulanzen, Tageskliniken, Überleitungspflege. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Organisation der pflegerischen Versorgung Aufgabenschwerpunkte der Gesundheitsund Kinderkrankenpflege . . . . . . . . . . . . . . . Interdisziplinäres therapeutisches Team . . . Kind und Angehörige in der Kinderklinik . . Belastungen und Bewältigungsstrategien . . Qualitätssichernde Maßnahmen. . . . . . . . . .

Pflege und Betreuung im häuslichen Umfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

110 111 111 111 112 112 113 114

5.5.4 5.5.5 5.5.6 5.5.7 5.5.8 5.5.9 5.5.10 5.5.11

5.6

5.6.1 5.6.2 5.6.3 5.6.4 5.6.5 5.6.6

114

Voraussetzungen für eine stationäre Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Träger und Leistungen der Rehabilitation . . Antragsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geeignete Rehabilitationseinrichtungen . . . Rehabilitationskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenarbeit im Rehabilitationsteam . . Spezifische Belastungen und Bewältigungsmöglichkeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Qualitätsmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbsthilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Strukturierte Aufnahme, Verlegung und Entlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung für das Kind und seine Familie Strukturierte Aufnahme . . . . . . . . . . . . . . . Administrative Tätigkeiten . . . . . . . . . . . . . Verlegung eines Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . Entlassung eines Kindes. . . . . . . . . . . . . . . . Qualitätsentwicklung im Rahmen der Entlassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

126 126 127 127 127 129 130 130 131

132

. . . . .

132 132 138 138 139

.

139

.... .... ....

116 116 116

5.7

Pflegeüberleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

141

5.8

Pflegerisches Case-Management . . . . . .

142

....

119

Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

121

5.8.1 5.8.2 5.8.3 5.8.4 5.8.5

Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgaben einer Case-Managerin . . Situation pflegender Angehöriger. Aussichten für Pflegefachkräfte . .

. . . . .

142 143 143 145 145

Wachstum und Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

148

Arbeitsfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau und Organisationsstrukturen. . Aufgabenschwerpunkte. . . . . . . . . . . . . Rechtliche und ökonomische Rahmenbedingungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

122 124

Astrid Steinberger (6.1–6.6), Eva-Maria Wagner (6.7, 6.8), Christa Aßmann (6.7, 6.8)* 6.1

Begriffsdefinition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

148

6.4

Entwicklungsabschnitte . . . . . . . . . . . . . .

150

6.2

Einflussfaktoren auf die Entwicklung . .

148

Bedeutung von Genetik und Epigenetik. . Bedeutung der Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . Aktive Selbststeuerung . . . . . . . . . . . . . . . Wechselseitige Abhängigkeit von Anlage, Umwelt und Selbststeuerung . . . . . . . . . .

.. .. ..

148 149 149

..

149

6.4.5 6.4.6

Pränatale Entwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung im Säuglingsalter (0 – 2 Jahre) Entwicklung in der frühen Kindheit (2 – 4 Jahre) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung in der mittleren Kindheit (4 – 6 Jahre) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung im Schulalter (6 – 12 Jahre) . . Entwicklung im Jugendalter (12 – 18 Jahre)

153 153

6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4

6.4.1 6.4.2 6.4.3

157 158 158

Entwicklungsaufgaben und kritische Lebensereignisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

150

6.5

Entwicklung der Bindungsfähigkeit . . .

160

Kritische Lebensereignisse . . . . . . . . . . . . . . Entwicklungsaufgaben. . . . . . . . . . . . . . . . . .

150 150

6.5.1 6.5.2

Bonding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bindung und Bindungsqualität . . . . . . . . . . .

160 160

6.3

6.3.1 6.3.2

6.4.4

156

9

Inhaltsverzeichnis

6.6

Entwicklungsabweichungen . . . . . . . . . .

161

6.8

Massage von Babys und Kindern . . . . . .

167

6.6.1 6.6.2 6.6.3

Entwicklungsverzögerungen. . . . . . . . . . . . . Entwicklungsstörungen. . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklungsfördernde Therapiekonzepte .

161 162 162

6.8.1 6.8.2 6.8.3 6.8.4

Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Formen der Massage . . . . . . . . . . . Voraussetzungen für die Massage. Wirkung der Babymassage . . . . . .

. . . .

168 168 169 169

6.7

Basale Stimulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

163

6.7.1 6.7.2 6.7.3

Grundelemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zentrale Ziele/Lebensthemen . . . . . . . . . . . . Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

164 165 167

7

Erleben und Bewältigen von Gesundheitsstörungen im Kindes- und Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

172

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

Astrid Steinberger (7.1, 7.2), Petra Kullick (7.2)*, Daniela Schütz (7.3) 7.1

7.1.1 7.1.2 7.1.3 7.1.4 7.1.5 7.1.6

Erleben und Bewältigen von Krankheit in den verschiedenen Entwicklungsphasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kinder bis zum 3. Lebensjahr . . . . . . . . . . . Kinder vom 3.– 6. Lebensjahr . . . . . . . . . . . Kinder vom 6.–12. Lebensjahr . . . . . . . . . . Jugendliche ab dem 12. Lebensjahr . . . . . . Familiäre Einflussfaktoren auf das Erleben und Bewältigen von Krankheit . . . . . . . . . . Kommunikation mit erkrankten Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7.2

Leben mit chronischer Krankheit und Behinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

172 172 173 173

.

174

.

174

7.2.1 7.2.2 7.2.3

7.3

Begriffsbestimmung chronische Krankheit . Begriffsbestimmung Behinderung . . . . . . . . Behinderte und chronisch kranke Kinder in der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

175 175 175

Kinder und Jugendliche im Krankenhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

180

Auswirkungen von Krankenhausaufenthalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedürfnisse von Kindern im Krankenhaus. EACH-Charta. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterstützungsstrategien . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

180 181 183 183

..........................................

188

Pflegerische Aufgaben in Bezug auf die Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

192

8.6

Elternintegration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

193

8.6.1 8.6.2

Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umsetzungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . .

193 194

8.7

Patienten- und Familienedukation. . . . .

194

8.7.1

Stellenwert in der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beratung im Pflegeprozess . . . . . . . . . . . . . Beratungssituationen in der Gesundheitsund Kinderkrankenpflege . . . . . . . . . . . . . . Qualifizierungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . .

7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.3.4

8

175

172

Familienorientierte Pflege und Betreuung Daniela Schütz (8.1–8.6) , Petra Kullick (8.7)

8.1

Definition Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

188

8.2

Lebensformen in der Bevölkerung . . . . .

188

8.2.1 8.2.2

Familienbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wandel familiärer Lebensformen . . . . . . . . .

189 189

8.3

Familienstrukturen im Wandel . . . . . . . .

189

8.3.1

Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

190

8.4

Funktion der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . .

190

8.4.1 8.4.2 8.4.3 8.4.4 8.4.5

10

Familie als System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theorie des systemischen Gleichgewichts von Marie-Luise Friedemann . . . . . . . . . . . Rolle der Eltern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rolle der Geschwister . . . . . . . . . . . . . . . . . Familie und Peers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

.

190

. . . .

190 191 192 192

8.5

8.7.2 8.7.3 8.7.4 8.7.5

. . .

195 195 197

. .

201 202

Inhaltsverzeichnis

9

Pflegerische Beobachtung – Wahrnehmen, Beobachten, Beurteilen, Handeln . .

204

Petra Kullick 9.1

Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

204

9.2

Wahrnehmungsprozess . . . . . . . . . . . . . .

204

9.2.1

Wahrnehmungsgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . .

204

9.3

Beeinflussende Faktoren . . . . . . . . . . . . .

205

9.4

Beobachtungs- und Beurteilungsfehler

205

9.4.1 9.4.2 9.4.3

Erster Eindruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stereotypen und Vorurteile. . . . . . . . . . . . . . Berufliche Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . .

205 205 205

9.5

Beobachtungsqualität – Gütekriterien .

9.5.1

9.7.4 9.7.5 9.7.6

Objektive Beobachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . Unsystematische Beobachtung . . . . . . . . . . . Systematische Beobachtung . . . . . . . . . . . . .

207 208 208

9.8

Verlässliches Beobachtungsergebnis . .

209

9.9

Pflegerischer Beobachtungsprozess . . .

209

9.9.1 9.9.2

Ziele pflegerischer Beobachtung. . . . . . . . . . Schritte des Beobachtungsprozesses . . . . . .

209 209

9.10

Beobachtungssystem . . . . . . . . . . . . . . . .

210

9.10.1

Beobachtungsbereiche. . . . . . . . . . . . . . . . . .

210

206

9.11

Beobachtung von Kindern . . . . . . . . . . . .

211

Qualität von Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

206

9.12

Einfühlsame Beobachtung . . . . . . . . . . . .

211

9.6

Beobachtung im Pflegeprozess . . . . . . .

206

9.13

Beobachtungskompetenz von Pflegenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

211

9.7

Beobachtungsformen . . . . . . . . . . . . . . . .

206

9.7.1

Teilnehmende und nicht teilnehmende Beobachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fremd- und Selbstbeobachtung . . . . . . . . . . Subjektive Beobachtung . . . . . . . . . . . . . . . .

Aufbau von Beobachtungskompetenz bei Eltern und Kind . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

211

Dokumentation und Informationsweitergabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

212

9.14

9.7.2 9.7.3

206 207 207

9.15

TEIL II Beobachtung und Unterstützung des Kindes und seiner Familie 10

Kommunizieren

........................................................................

217

Kurt Kullick (10.1–10.5), Eva-Maria Wagner (10.6) 10.1

Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

217

10.4

Kommunikation im Pflegeprozess . . . . .

225

10.2

Beeinflussende Faktoren . . . . . . . . . . . . .

217

10.4.1 10.4.2

..

225

10.2.1 10.2.2 10.2.3 10.2.4 10.2.5 10.2.6

Körperliche Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alters- und entwicklungsbedingte Faktoren Psychologische Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . Soziokulturelle Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . Wirtschaftliche/politische Faktoren . . . . . . . Umgebungsabhängige Faktoren . . . . . . . . . .

217 218 218 218 220 220

..

226

..

227

..

228

..

229

10.3

Beobachten und Beurteilen . . . . . . . . . . .

220

10.4.6

..

230

10.3.1 10.3.2 10.3.3

Kommunikationsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikationsformen . . . . . . . . . . . . . . . . Individuelle Situationseinschätzung. . . . . . .

220 222 225

10.4.7

Förderung der Sprachentwicklung . . . . . . Kommunizieren mit hörgeschädigten Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunizieren mit sehgeschädigten Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunizieren mit geistig behinderten Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunizieren mit sprachgestörten Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunizieren mit fremdsprachigen Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunizieren bei beeinträchtigter Körpersprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikationshilfsmittel . . . . . . . . . . .

.. ..

230 231

10.4.3 10.4.4 10.4.5

10.4.8

1

Inhaltsverzeichnis

10.5

Berufliche Kommunikation . . . . . . . . . . .

233

10.6

Schmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

236

10.5.1 10.5.2

Gesprächstechniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patientenbezogene Kommunikation . . . . . .

233 236

10.6.1 10.6.2 10.6.3 10.6.4 10.6.5

Begriffsbestimmungen. . . . . . . . . . . . . Schmerzerfassung . . . . . . . . . . . . . . . . Umgang mit chronischen Schmerzen. Pflegemaßnahmen bei Schmerzen . . . Schmerzbewältigung . . . . . . . . . . . . . .

. . . . .

237 237 239 240 240

......................................................

244

11

Atmen und Kreislauf regulieren

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

Mechthild Hoehl 11.1

Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

244

11.6

Puls: Beobachten und Beurteilen . . . . . .

261

11.2

Atmung: beeinflussende Faktoren. . . . .

244

11.6.1 11.6.2

.

261

11.3

Atmung: Beobachten und Beurteilen . .

244 11.6.3 11.6.4

Fühlen des Pulses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Möglichkeiten der Herzfrequenzmessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abweichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Individuelle Situationseinschätzung. . . . . .

. . .

262 263 263

11.7

Puls: Pflegemaßnahmen. . . . . . . . . . . . . .

265

11.7.1 11.7.2 11.7.3

Vermeidung von Belastungsfaktoren . . . . . . Belastungsarme Lebensführung . . . . . . . . . . Sichere medikamentöse Therapie. . . . . . . . .

265 265 265

11.8

Blutdruck: beeinflussende Faktoren . . .

266

11.9

Blutdruck: Beobachten und Beurteilen

266

11.9.1 11.9.2 11.9.3

Messen des Blutdrucks . . . . . . . . . . . . . . . . . Abweichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Individuelle Situationseinschätzung. . . . . . .

266 268 268

11.10

Blutdruck: Pflegemaßnahmen . . . . . . . .

265

11.3.1 11.3.2 11.3.3 11.3.4 11.3.5

Zählen der Atemzüge. . . . . . . . . . . . . Indirekte Beobachtung der Atmung . Physiologische Atmung (Eupnoe) . . . Abweichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Individuelle Situationseinschätzung.

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

244 245 245 245 245

11.4

Atmung: Pflegemaßnahmen . . . . . . . . . .

249

11.4.1 11.4.2 11.4.3 11.4.4 11.4.5 11.4.6 11.4.7 11.4.8 11.4.9 11.4.10

Luftqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Atemtechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Atemunterstützende Körperpositionen . Atemübungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Atemstimulierende Einreibungen. . . . . . Sekretlockernde Maßnahmen . . . . . . . . . Sekretlösende Maßnahmen. . . . . . . . . . . Sekretentleerende Maßnahmen . . . . . . . Sauerstofftherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pneumonieprophylaxe. . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . .

249 249 249 251 253 253 254 256 257 260

11.5

Puls: beeinflussende Faktoren . . . . . . . .

261

11.10.1 Prävention. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.10.2 Maßnahmen bei Hypotonie. . . . . . . . . . . . . . 11.10.3 Hypertonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

269 270 270

12

Körpertemperatur regulieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

272

. . . . . . . . . .

. . . . .

. . . . . . . . . .

Petra Kullick

12

12.1

Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

272

12.2

Beeinflussende Faktoren . . . . . . . . . . . . .

272

12.2.1 12.2.2 12.2.3 12.2.4 12.2.5

Körperliche Faktoren . . . . . . . . . Psychische Faktoren . . . . . . . . . . Soziokulturelle Faktoren . . . . . . Umgebungsabhängige Faktoren Wirtschaftliche Faktoren . . . . . .

. . . . .

272 272 273 273 273

12.3

Beobachten und Beurteilen . . . . . . . . . . .

273

12.3.1 12.3.2 12.3.3 12.3.4

Messen der Körpertemperatur . . . . Physiologische Körpertemperatur . Abweichende Körpertemperaturen Erhöhte Körpertemperatur . . . . . . .

273 278 279 279

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . .

. . . . .

. . . .

. . . . .

. . . .

. . . . .

. . . .

. . . . .

. . . .

. . . . .

. . . .

. . . .

12.3.5 12.3.6 12.3.7

Verminderte Körpertemperatur . . . . . . . . . . Schweiß. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Individuelle Situationseinschätzung. . . . . . .

282 282 284

12.4

Pflegemaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

284

12.4.1 12.4.2 12.4.3

Prävention und Unterstützen beim Regulieren der Körpertemperatur . . . . . . . . Pflege eines Kindes mit Fieber . . . . . . . . . . . Pflege eines Kindes mit Hypothermie . . . . .

284 285 288

12.5

Physikalische Therapie . . . . . . . . . . . . . . .

289

12.5.1 12.5.2 12.5.3

Trockene Wärme- und Kälteanwendungen . Hydrothermotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wickel und Auflagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

289 291 293

Inhaltsverzeichnis

13

Sich sauber halten und kleiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

298

Eva-Maria Wagner 13.1

Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

298

13.4

Pflegemaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

303

13.1.1 13.1.2 13.1.3

Körperpflege und Kleidung . . . . . . . . . . . . . . Gewaschen werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Hände der Pflegenden. . . . . . . . . . . . . . .

298 298 298

13.2

Beeinflussende Faktoren . . . . . . . . . . . . .

298

13.2.1 13.2.2 13.2.3 13.2.4

Körperliche Faktoren . . . . . . . . . Psychologische Faktoren . . . . . . Soziokulturelle Faktoren . . . . . . Umgebungsabhängige Faktoren

. . . .

298 298 298 299

13.4.1 13.4.2 13.4.3 13.4.4 13.4.5 13.4.6 13.4.7 13.4.8 13.4.9 13.4.10

Intakte Haut . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Regeln beim Waschen Baden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Duschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ganzwaschung . . . . . . . . . . . . . . . . Zahn- und Mundpflege . . . . . . . . . Haarpflege. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nagelpflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wickeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sonnenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . .

303 304 305 307 308 312 316 318 318 319

13.3

Beobachten und Beurteilen . . . . . . . . . . .

299

13.5

Pflegemaßnahmen bei der LA „Sich kleiden“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

319

13.3.1 13.3.2 13.3.3 13.3.4

Entwicklung der Selbstständigkeit . . . . . . . . Haut, Schleimhaut und Hautanhangsgebilde Abweichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Individuelle Situationseinschätzung. . . . . . .

299 300 301 303

Auswahl von Kleidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hilfestellung beim An- und Ausziehen . . . . .

319 320

14

Essen und Trinken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

324

. . . .

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13.5.1 13.5.2

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. . . . . . . . . .

. . . . . . . . . .

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. . . . . . . . . .

Mechthild Hoehl 14.1

Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

324

14.4

Pflegemaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

340

14.2

Beeinflussende Faktoren . . . . . . . . . . . . .

324

14.2.1 14.2.2 14.2.3 14.2.4

Körperliche Faktoren . . . . . . . . . Psychische Faktoren . . . . . . . . . . Soziokulturelle Faktoren . . . . . . Umgebungsabhängige Faktoren

. . . .

324 325 325 326

14.4.1 14.4.2 14.4.3 14.4.4 14.4.5 14.4.6

Präventive Ernährungsberatung . . . . . . . . . . Ernährung der Schwangeren. . . . . . . . . . . . . Ernährung der Stillenden . . . . . . . . . . . . . . . Ernährung des Säuglings . . . . . . . . . . . . . . . . Unterstützung bei der Nahrungsaufnahme . Besondere Ernährungssituationen von Kindern mit Gesundheitsstörungen . . . . . . .

340 341 341 341 353

14.3

Beobachten und Beurteilen . . . . . . . . . . .

326

14.3.1 14.3.2 14.3.3

Physiologische Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . Abweichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Individuelle Situationseinschätzung. . . . . . .

326 331 338

15

Ausscheiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

364

. . . .

. . . .

. . . .

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. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

354

Heidrun Beyer 15.1

Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

364

15.1.1 15.1.2 15.1.3

Lebensspanne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abhängigkeit und Unabhängigkeit . . . . . . . . Umgang mit Ekelgefühlen . . . . . . . . . . . . . . .

364 364 364

15.2

Beeinflussende Faktoren . . . . . . . . . . . . .

365

15.3

15.3.1 15.3.2 15.3.3

Beobachten und Beurteilen der Urinausscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

365

Physiologische Urinausscheidung. . . . . . . . . Pathologische Abweichungen . . . . . . . . . . . . Individuelle Situationseinschätzung. . . . . . .

365 365 366

3

Inhaltsverzeichnis

15.4

15.4.1 15.4.2 15.4.3 15.4.4 15.4.5 15.4.6 15.4.7

Pflegemaßnahmen zur Urinausscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Physiologische Nieren- und Harnableitungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hilfestellung zur physiologischen Urinausscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gewinnung von Spontanurin . . . . . . . . . . . Hilfestellung bei Urininkontinenz. . . . . . . . Katheterisieren und Punktieren der Harnblase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Messende Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . Urinuntersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15.5 367

381

.

367

15.5.1 15.5.2 15.5.3

Physiologische Stuhlausscheidung . . . . . . . . Abweichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Individuelle Situationseinschätzung. . . . . . .

381 381 381

. . .

367 368 369

15.6

Pflegemaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

383

. . .

371 378 380

15.6.1 15.6.2 15.6.3

Physiologische Darmtätigkeit . . . . . Hilfestellung zur Stuhlentleerung. . Hilfestellung bei Verdauungs- und Defäkationsstörungen . . . . . . . . . . . Einläufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Darmspülungen . . . . . . . . . . . . . . . . Stuhluntersuchungen. . . . . . . . . . . .

....... .......

383 383

. . . .

. . . .

384 387 391 392

Sich bewegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

396

15.6.4 15.6.5 15.6.6

16

Beobachten und Beurteilen der Stuhlausscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

Andrea Eichler 16.1

Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

396

16.3

Beobachten und Beurteilen . . . . . . . . . . .

396

16.2

Beeinflussende Faktoren . . . . . . . . . . . . .

396

16.2.1 16.2.2 16.2.3 16.2.4 16.2.5

Körperliche Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychische Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umgebungsabhängige Faktoren . . . . . . . . . Soziokulturelle Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . Beeinflussende Faktoren im Krankenhaus.

396 396 396 396 396

16.3.1 16.3.2 16.3.3 16.3.4

Physiologische Entwicklung . . . . . . . . . . . Abweichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewegungsunterstützende Maßnahmen . Individuelle Situationseinschätzung. . . . .

. . . .

396 397 400 402

16.4

Pflegemaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

402

16.4.1 16.4.2 16.4.3 16.4.4

Prophylaxen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kinaesthetics Infant Handling . . . . . Unterstützen einer Körperposition. Rückenschonende Arbeitsweisen . .

. . . .

402 408 414 417

Schlafen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

420

17

. . . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

Simone Teubert

14

17.1

Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

420

17.4

Pflegemaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

425

17.2

Beeinflussende Faktoren . . . . . . . . . . . . .

420

17.2.1 17.2.2 17.2.3 17.2.4 17.2.5

Körperliche Faktoren . . . . . . . . . Psychische Faktoren . . . . . . . . . . Soziokulturelle Faktoren . . . . . . Umgebungsabhängige Faktoren Wirtschaftliche Faktoren . . . . . .

. . . . .

420 420 421 421 421

17.4.1 17.4.2 17.4.3 17.4.4 17.4.5

Gesunde Schlafumgebung . . . . Fördern des gesunden Schlafs . Einschlafrituale. . . . . . . . . . . . . Beruhigende Maßnahmen. . . . Schlaffördernde Positionen . . .

. . . . .

425 426 427 427 427

17.5

Krankenbett . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

428

17.3

Beobachten und Beurteilen . . . . . . . . . . .

421

17.5.1

Einsatz und Handhabung des Klinikbettes. .

428

17.3.1 17.3.2 17.3.3 17.3.4

Physiologischer Schlaf . . . . . . . . . . . . Abweichungen im Schlafverhalten . . Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Individuelle Situationseinschätzung.

421 423 423 425

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . .

. . . . .

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. . . . .

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. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

Inhaltsverzeichnis

18

Für eine sichere Umgebung sorgen

..................................................

432

Simone Teubert 18.1

Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

432

18.3

Beobachten und Beurteilen . . . . . . . . . . .

433

18.2

Beeinflussende Faktoren . . . . . . . . . . . . .

432

18.3.1

Individuelle Situationseinschätzung. . . . . . .

433

18.2.1 18.2.2 18.2.3 18.2.4 18.2.5

Körperliche Faktoren . . . . . . . . . Psychische Faktoren . . . . . . . . . . Soziokulturelle Faktoren . . . . . . Umgebungsabhängige Faktoren Wirtschaftliche Faktoren . . . . . .

432 432 432 432 433

18.4

Pflegemaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

433

18.4.1 18.4.2 18.4.3 18.4.4 18.4.5 18.4.6

Hygiene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Persönliche Hygiene und Berufsbekleidung Umgang mit Arzneimitteln . . . . . . . . . . . . . . Transport eines Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . . Unfallprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sicherheit am Arbeitsplatz . . . . . . . . . . . . . .

434 437 438 441 441 443

19

Sich beschäftigen, spielen und lernen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

446

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

Eva-Maria Wagner 19.1

Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

446

19.4

Pflegemaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

448

19.1.1 19.1.2

Bedeutung für das kranke Kind. . . . . . . . . . . Bedeutung für Pflegefachkräfte . . . . . . . . . .

446 446

19.2

Beeinflussende Faktoren . . . . . . . . . . . . .

446

19.3

Beobachten und Beurteilen . . . . . . . . . . .

446

19.3.1 19.3.2

Spielverhalten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Individuelle Situationseinschätzung. . . . . . .

447 448

19.4.1 19.4.2 19.4.3 19.4.4 19.4.5 19.4.6 19.4.7 19.4.8

Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spielen im Krankenhaus . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung des Spielens für kranke Kinder Spiele für bettlägerige Kinder . . . . . . . . . . . Spiele ohne Spielzeug . . . . . . . . . . . . . . . . . Umgang mit (Bilder-)Büchern. . . . . . . . . . . Basales Spielen mit behinderten Kindern . Digitale Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . .

448 448 449 451 452 453 453 454

20

Mädchen oder Junge sein

.............................................................

456

Eva-Maria Wagner 20.1

Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

456

20.3

Beobachten und Beurteilen . . . . . . . . . . .

457

20.1.1 20.1.2

Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexuelle Belästigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

456 457

20.3.1 20.3.2 20.3.3

Entwicklung der Geschlechtsidentität . . . . . Besonderheiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Individuelle Situationseinschätzung. . . . . . .

457 458 458

20.2

Beeinflussende Faktoren . . . . . . . . . . . . .

457

20.4

Pflegemaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

459

20.4.1 20.4.2

Wahrung der Intimsphäre . . . . . . . . . . . . . . . Menstruationshygiene . . . . . . . . . . . . . . . . . .

459 460

Sterben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

462

21

Mechthild Hoehl, Eva-Maria Wagner* 21.1

Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

462

21.3

Beobachten und Beurteilen . . . . . . . . . . .

463

21.2

Beeinflussende Faktoren . . . . . . . . . . . . .

462

21.2.1 21.2.2 21.2.3 21.2.4 21.2.5

Körperliche Faktoren . . . . . . . . . Psychologische Faktoren . . . . . . Soziokulturelle Faktoren . . . . . . Umgebungsabhängige Faktoren Wirtschaftliche Faktoren . . . . . .

462 462 462 462 463

21.3.1 21.3.2 21.3.3 21.3.4

Entwicklung des Todesverständnisses . Begriffsbestimmungen. . . . . . . . . . . . . . Sterbeprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Individuelle Situationseinschätzung. . .

463 463 464 465

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

5

Inhaltsverzeichnis . . . .

466 466 467 469

Das gesunde Neugeborene und seine Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

475

21.4

Sterbebegleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

465

21.4.1 21.4.2

Begriffsbestimmungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . Umgang mit Sterben und Tod . . . . . . . . . . . .

465 466

21.4.3 21.4.4 21.4.5 21.4.6

Pflegemaßnahmen beim sterbenden Kind Maßnahmen nach Eintritt des Todes . . . . . Besonderheiten in der Begleitung. . . . . . . . Berücksichtigung religiöser Bedürfnisse . .

TEIL III Unterstützung und Betreuung in speziellen Pflegesituationen 22

Heidrun Beyer 22.1

Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

475

22.3

Verlegung des Neugeborenen. . . . . . . . .

479

22.2

Erstversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

475

22.3.1 22.3.2

......

479

22.2.1 22.2.2

Maßnahmen im Kreißsaal . . . . . . . . . . . . . . . Einschätzen des Gesundheitszustandes . . . .

475 478

Aufgaben der Neugeborenenpflege . Physiologische Besonderheiten des Neugeborenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . Diagnostische und prophylaktische Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entlassungsgespräch . . . . . . . . . . . . .

...... ...... ......

480 482 482

...... ......

486 487

.......................................

490

22.3.3 22.3.4 22.3.5 22.3.6

23

Pflege der Schwangeren und der Wöchnerin Heidrun Beyer, unter Mitwirkung von Isolde Reitter (23.2)

23.1

Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

490

23.2

Laktation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

498

23.1.1 23.1.2 23.1.3 23.1.4

Entbindungseinrichtungen . . . . . . . . . . . . . Dauer und Kennzeichen des Wochenbetts Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und Pflegemaßnahmen . . . . . .

490 492 493 493

23.2.1 23.2.2 23.2.3

Physiologie der Milchbildung . . . . . . . . . . . . Stillen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Brustpflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

498 500 504

23.3

Pflege der Wöchnerin mit Mastitis puerperalis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

507

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

507 507 507

Pflege von Frühgeborenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

510

. . . .

23.3.1 23.3.2 23.3.3

24

Eva-Maria Wagner

16

24.1

Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

510

24.2

Pflege eines zu früh geborenen Kindes

510

24.1.1 24.1.2

Bedeutung für das Baby . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung für die Eltern . . . . . . . . . . . . . . . .

510 510

24.2.1 24.2.2 24.2.3 24.2.4 24.2.5 24.2.6

Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . Familienorientierte Pflege . . . . Spezielle Pflegemethoden . . . . Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . . .

510 511 511 520 522 524

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

Inhaltsverzeichnis

25

Pflege von Kindern mit Störungen in der Neugeborenenperiode . . . . . . . . . . . . . . . . .

526

Simone Teubert Pflege eines Neugeborenen mit Hypoglykämie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

529

25.4.1 25.4.2 25.4.3

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

529 530 530

25.5

Pflege eines Neugeborenen mit drogenabhängiger Mutter . . . . . . . . . . . .

531

25.3.1 25.3.2 25.3.3

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

531 532 532

26

Pflege von Kindern mit Störungen des Sinnessystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

534

25.1

Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25.2

Pflege eines Neugeborenen mit Hyperbilirubinämie . . . . . . . . . . . . . . . . . .

526

25.2.1 25.2.2 25.2.3

Allgemeine Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

526 526 526

25.3

Pflege eines Neugeborenen mit Infektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

528 528 529 529

526

25.4

25.5.1 25.5.2 25.5.3

Tina Wilhelm (26.1–26.6), Gabi Kempf (26.1–26.6)*, Eva-Maria Wagner (26.2.2, 26.8), Mechthild Hoehl (26.7, 26.9–26.11), Jenny Krämer-Eder (26.12–26.14), Heidrun Beyer (26.15) Pflege eines Kindes nach Augenoperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

539

26.6.1 26.6.2 26.6.3

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

539 539 539

26.7

Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

539

26.8

Allgemeine Maßnahmen bei Erkrankungen des HNO-Systems . . . . . .

540

26.8.1 26.8.2

Nasentropfen und Nasensalben . . . . . . . . . . Ohrentropfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

540 540

26.9

Pflege eines Kindes mit einer akuten Otitis media . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

541

26.9.1 26.9.2 26.9.3

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

541 541 541

26.10 538

Pflege eines Kindes bei Tonsillitis, nach Tonsillektomie (TE) und Adenotomie (AT) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

543

538 539 539

26.10.1 Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . 26.10.2 Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . 26.10.3 Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

543 543 543

26.1

Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26.2

Allgemeine Maßnahmen bei Erkrankungen des Auges . . . . . . . . . . . . .

534

26.2.1 26.2.2 26.2.3 26.2.4

Augentropfen und -salben. . . . . . . . . Augenspülung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Augenverbände. . . . . . . . . . . . . . . . . . Augenprothesen und Kontaktlinsen .

. . . .

535 536 536 536

26.3

Pflege eines Kindes mit Strabismus . . .

537

26.3.1 26.3.2 26.3.3

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

537 537 537

26.4

Pflege eines Kindes mit Verletzungen des Auges und der Lider . . . . . . . . . . . . . .

538

26.4.1 26.4.2 26.4.3

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

538 538 538

26.5

Pflege eines Kindes mit Glaukom (grüner Star). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

26.5.1 26.5.2 26.5.3

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

534

26.6

7

Inhaltsverzeichnis

26.11

Pflege eines Kindes mit Lippen-KieferGaumen-Spalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

544

26.14

26.11.1 Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . 26.11.2 Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . 26.11.3 Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

544 545 546

26.12

Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

549

26.13

Pflege eines Kindes mit Soor . . . . . . . . . .

549

26.13.1 Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . 26.13.2 Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . 26.13.3 Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

549 550 550

Pflege eines Kindes mit Neurodermitis

552

26.14.1 Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . 26.14.2 Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . 26.14.3 Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

552 554 554

26.15

27

Pflege eines Kindes mit thermischen Verletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

559

26.15.1 Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . 26.15.2 Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . 26.15.3 Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

559 561 562

Pflege von Kindern mit Störungen des Atemsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

570

Mechthild Hoehl 27.1

Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

570

27.2

Pflege eines Kindes mit Pneumonie . . .

571

27.2.1 27.2.2 27.2.3

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

571 572 572

28

27.3

Pflege eines Kindes mit Asthma bronchiale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

573

27.3.1 27.3.2 27.3.3

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

573 574 574

27.4

Pflege eines Kindes mit Mukoviszidose

579

27.4.1 27.4.2 27.4.3

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

579 579 579

Pflege von Kindern mit Störungen des Herz-Kreislauf-Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

586

Simone Teubert 28.1

Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

586

28.3

Herzkatheteruntersuchung . . . . . . . . . . .

593

28.2

Pflege eines Kindes mit Herzinsuffizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

586

28.3.1 28.3.2

Vorbereitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

593 594

28.2.1 28.2.2 28.2.3

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

586 587 588

29

Pflege von Kindern mit Störungen des Blutsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

596

Pamela Jech

18

29.1

Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

596

29.2

Pflege von Kindern mit Anämie . . . . . . .

596

29.2.1 29.2.2 29.2.3

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

596 596 596

29.3

29.3.1 29.3.2 29.3.3

Pflege von Kindern mit chronisch hämolytischer Anämie . . . . . . . . . . . . . . .

598

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

598 599 599

Inhaltsverzeichnis

29.4

Pflege eines Kindes mit erworbener Blutungskrankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

600

29.5

Pflege eines Kindes mit Hämophilie . . .

601

29.4.1 29.4.2 29.4.3

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

600 601 601

29.5.1 29.5.2 29.5.3

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

601 602 602

30

Pflege von Kindern mit onkologischen Erkrankungen

.............................

606

Pflege von Kindern und Jugendlichen im Terminalstadium . . . . . . . . . . . . . . . . . .

618

Brigitte Rinner 30.1

Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30.2

Grundlagen der zytostatischen Therapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

606

Ziele der Therapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sicherer Umgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nebenwirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

607 607 608

30.2.1 30.2.2 30.2.3

30.3

606

30.4

30.4.1 30.4.2 30.4.3 30.4.4 30.4.5 30.4.6 30.4.7

Äußere Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . Einbeziehung der Eltern . . . . . . . . . . . . . . . Hilfe bei der Bewältigung von Todesangst . Unterstützung bei der Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterstützung der Darmtätigkeit . . . . . . . . Dekubitusprophylaxe. . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswirkungen der Pflege auf das Pflegepersonal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . .

618 618 618

. . .

618 619 619

Pflege eines Kindes mit onkologischer Erkrankung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

608

.

619

30.3.1 30.3.2 30.3.3

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

608 608 608

31

Pflege von Kindern mit Störungen des Verdauungssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

622

Simone Teubert 31.1

Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31.2

Pflege eines Kindes mit Ösophagusatresie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

622

31.2.1 31.2.2 31.2.3

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

622 622 623

31.3

Pflege eines Kindes mit Ileus . . . . . . . . . .

626

31.3.1 31.3.2 31.3.3

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

626 626 626

31.4

Pflege eines Kindes mit Appendizitis . .

627

31.4.1 31.4.2 31.4.3

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

627 627 627

622

31.5

Pflege eines Kindes mit chronischentzündlicher Darmerkrankung . . . . . . .

628

31.5.1 31.5.2 31.5.3

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

628 628 628

31.6

Pflege eines Kindes mit Stomaversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

629

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

629 630 630

31.6.1 31.6.2 31.6.3

9

Inhaltsverzeichnis

32

Pflege von Kindern mit Störungen des Stoffwechsels und des endokrinen Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

634

Mechthild Hoehl (32.1, 32.3), Diana Nowak (32.2) Pflege eines Kindes mit Phenylketonurie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

644

32.2.1 32.2.2 32.2.3

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

644 645 645

33

Pflege von Kindern mit Störungen der Niere und des Urogenitalsystems . . . . . . . .

648

32.1

Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32.2

Pflege eines Kindes mit Diabetes mellitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

634 634 635 635

634

32.3

32.3.1 32.3.2 32.3.3

Heidrun Beyer

20

33.1

Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33.2

Pflege eines Kindes mit Harnwegsinfektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

648

33.2.1 33.2.2 33.2.3

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

648 648 648

33.3

Pflege eines Kindes mit Harntransportstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

649

33.3.1 33.3.2 33.3.3 33.3.4

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . Urologisch-nephrologische Diagnostik

649 651 651 653

33.4

Pflege eines Kindes mit Harnsteinerkrankung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

654

33.4.1 33.4.2 33.4.3

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

654 654 654

33.5

Pflege eines Kindes mit neurogener Blasenentleerungsstörung . . . . . . . . . . . .

655

33.5.1 33.5.2 33.5.3

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

655 656 656

33.6

Pflege eines Kindes mit Kolon-Conduit

656

33.6.1 33.6.2 33.6.3 33.6.4

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Präoperative Pflegeziele und -maßnahmen Postoperative Pflegeziele und -maßnahmen

656 656 657 657

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

648

33.7

Pflege eines Kindes mit kontinentem Stoma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

657

33.7.1 33.7.2 33.7.3 33.7.4

Funktion des MAINZ-Pouch I . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . Funktion des Mitrofanoff-Stomas .

. . . .

657 658 658 659

33.8

Pflege eines Jungen mit Phimose . . . . . .

660

33.8.1 33.8.2 33.8.3

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

660 660 660

33.9

Pflege eines Jungen mit Hypospadie . . .

661

33.9.1 33.9.2 33.9.3 33.9.4

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Präoperative Pflegeziele und -maßnahmen Postoperative Pflegeziele und Pflegemaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

661 661 661

33.10

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

662

Pflege eines Jungen mit Hodendystopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

662

33.10.1 Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . 33.10.2 Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . 33.10.3 Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

662 662 662

33.11

Pflege eines Jungen mit Orchitis . . . . . .

663

33.11.1 Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . 33.11.2 Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . 33.11.3 Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

663 663 663

33.12

Pflege eines Kindes mit nephrotischem Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

663

33.12.1 Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . 33.12.2 Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . 33.12.3 Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

663 663 663

Inhaltsverzeichnis

33.13

Pflege eines Kindes mit akuter postinfektiöser Glomerulonephritis . . . . . . .

665

Pflege eines Kindes mit Peritonealdialyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

666

33.13.1 Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . .

665

33.15.1 Peritonealdialyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

666

Pflege von Kindern mit Störungen des Bewegungssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

670

33.14

33.15

Pflege eines Kindes mit akuter Niereninsuffizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

665

33.14.1 Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . 33.14.2 Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . 33.14.3 Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

665 665 666

34

Mechthild Hoehl 34.1

Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

670

34.4

Pflege von Kindern mit Frakturen . . . . .

673

34.2

Pflege eines Kindes mit angeborener Fußfehlstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

670

34.4.1 34.4.2 34.4.3

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflege eines Kindes mit Gipsverband . . . . . . Pflege eines Kindes mit Extension . . . . . . . .

673 674 676

34.2.1 34.2.2 34.2.3

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

670 670 670

34.5

Pflege eines Kindes mit Osteomyelitis .

678

34.3

Pflege eines Kindes mit Hüftgelenksdysplasie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

671

34.5.1 34.5.2 34.5.3

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

678 678 678

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

671 672 672

34.6

Pflege eines Kindes mit einer rheumatischen Erkrankung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

679

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

679 680 680

Pflege von Kindern mit Störungen des Zentralnervensystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

684

34.3.1 34.3.2 34.3.3

34.6.1 34.6.2 34.6.3

35

Mechthild Hoehl 35.1

Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

684

35.2

Pflege eines Kindes mit Hydrozephalus

684

35.2.1 35.2.2 35.2.3

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

684 684 685

35.3

Pflege eines Kindes mit Spina bifida . . .

690

35.3.1 35.3.2 35.3.3

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

690 690 691

35.4

Pflege eines Kindes mit Schädel-HirnTrauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

693

35.4.1 35.4.2 35.4.3

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

693 694 694

35.5

Pflege eines Kindes mit zerebralen Krampfanfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

697

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

697 698 698

35.5.1 35.5.2 35.5.3

1

Inhaltsverzeichnis

36

Pflege von Kindern mit Schwerstmehrfachbehinderung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

704

Heidi Schatull (36.1, 36.2), Daniela Schütz (36.3) 36.1

Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

704

36.3

Pflege eines Kindes mit Zerebralparese

712

36.1.1

Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

704

36.2

Pflege von Kindern mit schwersten Behinderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36.3.1 36.3.2 36.3.3

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

712 713 714

705

36.2.1 36.2.2

Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

705 705

37

Pflege von Kindern mit psychosomatischen und psychiatrischen Störungen . . . .

718

Diana Nowak Pflege eines Kindes mit Enkopresis/ Enuresis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

726

37.5.1 37.5.2 37.5.3

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

726 726 726

37.6

Pflege eines Jugendlichen mit Essstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

727

37.6.1 37.6.2 37.6.3

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

727 727 728

37.7

Pflege von Kindern mit Gewalterfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

728

37.7.1 37.7.2 37.7.3

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

728 729 729

37.8

Pflege eines Jugendlichen mit selbstverletzendem Verhalten und Suizidalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

731

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

731 732 732

Pflege von Kindern mit infektiösen Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

735

37.1

Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

718

37.2

Betreuung durch Bezugspersonen . . . . .

718

37.2.1 37.2.2 37.2.3 37.2.4 37.2.5

Betreuungsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . Kriterien zur Verhaltensbeobachtung Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziele der Betreuung . . . . . . . . . . . . . . . Therapieformen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

719 719 719 719 722

37.3

Pflege eines Kindes mit einem Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

723

37.3.1 37.3.2 37.3.3

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

723 724 724

37.4

Pflege eines Jugendlichen mit einer depressiven Störung . . . . . . . . . . . . . . . . .

725

Ursache und Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . Pflegebedarf einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

725 725 725

37.4.1 37.4.2 37.4.3

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

37.5

37.8.1 37.8.2 37.8.3

38

Diana Nowak

22

38.1

Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

735

38.3

Hygienische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . .

739

38.1.1

Psychische Situation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

735

38.3.1

Isolierungsmaßnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . .

740

38.2

Rechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . .

736

38.4

Impfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

741

38.2.1 38.2.2

Infektionsschutzgesetz (IfSG) . . . . . . . . . . . . Unfallverhütungsvorschriften . . . . . . . . . . . .

736 738

38.5

Exanthembeobachtung . . . . . . . . . . . . . . .

742

Inhaltsverzeichnis

38.6

Pflege eines Kindes mit Durchfallerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

742

Pflege eines Kindes mit Meningitis/ Enzephalitis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

750

38.6.1 38.6.2 38.6.3 38.6.4

Erreger und Inkubationszeit . . Infektionsweg . . . . . . . . . . . . . . Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen .

. . . .

742 742 743 743

38.13.1 38.13.2 38.13.3 38.13.4

Erreger und Inkubationszeit . . Infektionsweg . . . . . . . . . . . . . . Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen .

. . . .

750 750 750 751

38.7

Pflege eines Kindes mit Hepatitis . . . . .

743

38.14

Pflege eines Kindes mit MRSA. . . . . . . . .

752

38.7.1 38.7.2 38.7.3

Erreger, Inkubationszeit und Infektionsweg Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

743 744 745

38.14.1 Erreger, Inkubationszeit und Infektionsweg

752

38.8

Pflege eines Kindes mit Herpessimplex-Infektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

745

38.8.1 38.8.2 38.8.3

Erreger, Inkubationszeit und Infektionsweg Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

745 745 745

38.9

Pflege eines Kindes mit Influenza (Virusgrippe) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

746

38.9.1 38.9.2 38.9.3

Erreger, Inkubationszeit und Infektionsweg Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

746 746 746

38.10

Pflege eines Kindes mit Keuchhusten (Pertussis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

746

38.10.1 Erreger, Inkubationszeit und Infektionsweg

746

38.11

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

38.13

38.15

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

Pflege eines Kindes mit Pfeifferschem Drüsenfieber (infektiöse Mononukleose) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

752

38.15.1 Erreger, Inkubationszeit und Infektionsweg 38.15.2 Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38.15.3 Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

752 752 753

38.16

Pflege eines Kindes mit Scharlach . . . . .

753

38.16.1 Erreger, Inkubationszeit und Infektionsweg 38.16.2 Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38.16.3 Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

753 753 753

38.17

Pflege eines Kindes mit Skabies (Krätze) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

754

38.17.1 Erreger und Infektionsweg . . . . . . . . . . . . . . 38.17.2 Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38.17.3 Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

754 754 754

Pflege eines Kindes mit Kopfläusen (Pediculosis capitis) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

748

Pflege eines Kindes mit Stomatitis aphthosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

755

38.11.1 Erreger und Infektionsweg . . . . . . . . . . . . . . 38.11.2 Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38.11.3 Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

748 748 748

38.18.1 Erreger, Inkubationszeit und Infektionsweg 38.18.2 Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38.18.3 Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

755 755 755

38.12

38.18

Pflege eines Kindes mit Masern (Morbilli) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

749

Pflege eines Kindes mit Windpocken (Varizellen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

756

38.12.1 Erreger, Inkubationszeit und Infektionsweg 38.12.2 Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38.12.3 Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

749 749 749

38.19.1 Erreger, Inkubationszeit und Infektionsweg 38.19.2 Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38.19.3 Pflegeziele und -maßnahmen . . . . . . . . . . . .

756 756 756

Pflege kritisch kranker Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

758

39

38.19

Eva-Maria Wagner 39.1

Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

758

39.1.1 39.1.2 39.1.3

Bedeutung für das Kind . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung für die Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung für das Pflegepersonal . . . . . . . .

758 758 759

39.2

Klinische und apparative Überwachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

759

39.3

Spezielle Intensivpflegemaßnahmen . .

760

39.3.1 39.3.2

Unterstützung bei der Intubation . . . . . . . . . Endotracheales Absaugen . . . . . . . . . . . . . . .

760 762

3

Inhaltsverzeichnis 39.3.3 39.3.4 39.3.5 39.3.6 39.3.7

Geschlossenes endotracheales Absaugen. Sekretmobilisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Künstliche Beatmung . . . . . . . . . . . . . . . . . Atemgasklimatisierung . . . . . . . . . . . . . . . Unterstützung bei der Extubation . . . . . .

. . . . .

. . . . .

763 764 764 764 765

39.3.8 39.3.9

Nicht invasive Beatmung . . . . . . . . . . . . . . . . Tracheostomapflege und Trachealkanülenwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39.3.10 Häusliche Kinderintensivpflege . . . . . . . . . .

766 767 769

TEIL IV Mitwirken bei der Diagnostik und Therapie 40

Situation von Kindern im Rahmen pflegerischer, diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

773

Diana Nowak 40.1

Angst vor Interventionen . . . . . . . . . . . . .

773

40.2

Pflegerische Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . .

774

40.1.1 40.1.2 40.1.3

Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maßnahmen gegen die Angst . . . . . . . . . . . .

773 773 773

40.2.1 40.2.2 40.2.3

Information. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rahmenbedingungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

774 774 775

41

Blutentnahmen, Punktionen, Biopsien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

778

Monika Hensel (41.1, 41.2), Pamela Jech (41.3, 41.4), Tina Wilhelm (41.5, 41.6), Michael Färber (41.5, 41.6)* 41.1

Blutentnahmen: Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . .

778

41.1.1 41.1.2

Begriffsbestimmungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . Zuständigkeitsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . .

778 778

41.2

Blutentnahmen: Pflegerische Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . .

778

41.2.1 41.2.2

Allgemeine pflegerische Aufgaben . . . . . . . . Spezielle pflegerische Aufgaben . . . . . . . . . .

778 779

41.3

Punktionen und Biopsien: Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . .

782

41.3.1 41.3.2

Begriffsbestimmungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . Zuständigkeitsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . .

782 783

42

41.4

Punktionen und Biopsien: Pflegerische Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . .

783

41.4.1 41.4.2

Allgemeine pflegerische Aufgaben . . . . . . . . Spezielle pflegerische Aufgaben . . . . . . . . . .

783 785

41.5

Umgang mit Labormaterial: Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . .

794

41.5.1

Begriffsbestimmungen. . . . . . . . . . . . . . . . . .

794

41.6

Umgang mit Labormaterial: Pflegerische Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . .

797

Zuständigkeitsbereiche . . . . . . Vorbereitung. . . . . . . . . . . . . . . Durchführung . . . . . . . . . . . . . . Hygienische Grundprinzipien . Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . .

797 798 798 798 798

Injektionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

800

41.6.1 41.6.2 41.6.3 41.6.4 41.6.5

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

Monika Hensel

24

42.1

Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . .

800

42.2

Pflegerische Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . .

803

42.1.1 42.1.2

Begriffsbestimmungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . Zuständigkeitsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . .

800 802

42.2.1 42.2.2

Allgemeine pflegerische Aufgaben . . . . . . . . Spezielle pflegerische Aufgaben . . . . . . . . . .

803 803

Inhaltsverzeichnis

43

Infusion und Transfusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

810

Tina Wilhelm (43.1–43.4), Michael Färber (43.1–43.4)*, Monika Hensel (43.2.5) 43.1

Infusionstherapie: Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . .

810

43.1.1 43.1.2

Begriffsbestimmungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . Zuständigkeitsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . .

810 811

43.2

Infusionstherapie: Pflegerische Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . .

43.2.6 43.2.7 43.2.8

Zentrale Venendruckmessung. . . . . . . . . . . . Nabelkatheter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Blutaustauschtransfusion . . . . . . . . . . . . . . .

820 821 823

43.3

Transfusionstherapie: Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . .

824

811

43.3.1 43.3.2

Begriffsbestimmungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . Zuständigkeitsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . .

824 826

811 815 816

43.4

Transfusionstherapie: Pflegerische Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . .

827

Bluttransfusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

827

43.2.5

Vorbereitung, Wechsel und Entfernen einer Infusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Legen eines peripheren Gefäßzugangs. . . . . Pflege eines Kindes mit Infusionstherapie. . Pflegeziele und Maßnahmen bei liegender Infusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zentraler Venenkatheter (ZVK) . . . . . . . . . . .

44

Perioperative Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

830

43.2.1 43.2.2 43.2.3 43.2.4

43.4.1 817 818

Heidrun Beyer 44.1

Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . .

830

44.2

Pflegerische Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . .

830

44.1.1 44.1.2

Begriffsbestimmungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . Zuständigkeitsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . .

830 830

44.2.1 44.2.2 44.2.3

Pflegerische Aufgaben vor der Operation . . Pflegerische Aufgaben am Operationstag . . Pflegerische Aufgaben nach der Operation .

830 832 834

45

Wundmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

840

Heidrun Beyer 45.1

Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . .

840

45.2

Pflegerische Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . .

842

45.1.1

Begriffsbestimmungen. . . . . . . . . . . . . . . . . .

840

45.2.1 45.2.2

Allgemeine pflegerische Aufgaben . . . . . . . . Spezielle pflegerische Aufgaben . . . . . . . . . .

842 844

46

Funktionsdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

854

Tina Wilhelm, Michael Färber* 46.1

Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . .

854

46.2

Pflegerische Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . .

854

46.1.1 46.1.2

Begriffsbestimmungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . Schutzmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

854 854

46.2.1 46.2.2

Allgemeine pflegerische Aufgaben . . . . . . . . Spezielle pflegerische Aufgaben . . . . . . . . . .

854 855

47

Notfallsituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

860

Mechthild Hoehl 47.1

Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

860

47.2

Notfallmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . .

860

47.2.4 47.2.5 47.2.6

47.2.1 47.2.2 47.2.3

Erkennen eines Notfalls . . . . . . . . . . . . . . . . . Hilferuf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Notfallmanagement im Krankenhaus. . . . . .

Ruhe bewahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebensrettende Basismaßnahmen beim Kind „Paediatric Life Support (PLS)“ . . . . . . . Neugeborenenreanimation . . . . . . . . . . . . . .

861 861 865

860 860 861

5

Inhaltsverzeichnis

47.3

Akute Atemstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

866

47.6

Vergiftungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

869

47.3.1 47.3.2 47.3.3 47.3.4 47.3.5 47.3.6

Ertrinken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aspiration von Fremdkörpern . . . . . . . . Krupp-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epiglottitis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Status asthmaticus . . . . . . . . . . . . . . . . . Insektenstich im Mund-Rachen-Raum.

. . . . . .

866 866 867 867 867 868

47.7

Traumatische Notfälle . . . . . . . . . . . . . . . .

870

47.7.1 47.7.2 47.7.3

Verbrennung, Verbrühung. . . . . . . . . . . . . . . Polytrauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kindesmisshandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

870 870 871

47.8

Physikalische Notfälle . . . . . . . . . . . . . . . .

871

47.4

Akute Herz-Kreislauf-Störungen. . . . . . .

868

47.4.1 47.4.2 47.4.3 47.4.4

Paroxysmale Tachykardie Kardiogener Schock . . . . . Volumenmangelschock . . Anaphylaktischer Schock.

. . . .

868 868 868 868

47.8.1 47.8.2 47.8.3

Hitzschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sonnenstich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stromunfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

871 871 871

47.9

Notfälle bei erwachsenen Patienten . . .

871

47.5

Neurologische Notfälle . . . . . . . . . . . . . . .

868

47.9.1 47.9.2

Herzinfarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hirninfarkt (Schlaganfall) . . . . . . . . . . . . . . .

872 872

47.5.1 47.5.2

Zerebraler Krampfanfall. . . . . . . . . . . . . . . . . Bewusstlosigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

868 869

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

876

Glossar

..........................................................................................

903

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

910

Sachverzeichnis

911

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Anhang

26

................................................................................

Anschriften Herausgeber Mechthild Hoehl Kinderkrankenschwester (RbP), Familien-, Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin FGKiKP, Praxisanleiterin, Präventionsassistentin, freiberufliche Dozentin, Elternberaterin In den Werkstückern 22 54331 Pellingen Petra Kullick Kinderkrankenschwester, Praxisanleiterin, Lehrerin für Pflegeberufe, stellvertretende Schulleitung Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Staatlich anerkannte Schule für Gesundheits- und Krankenpflege, Schule für Krankenpflegehilfe, Schule für Gesundheits- und Kinderkrankenpflege Am Pulverturm 13 55131 Mainz

Pamela Jech Kinderkrankenschwester für neonatologische und pädiatrische Intensivpflege, Praxisanleiterin DRK Klinikum Westend Spandauer Damm 130 14050 Berlin Ursula Junker Gabi Kempf* Jenny Krämer-Eder Examinierte Kinderkrankenschwester, Pflegefachkraft für Außerklinische Beatmung Stift Mobil Häusliche Kinderkrankenpflege Heimesgasse 14b 55218 Ingelheim Kurt Kullick Dipl.-Sozialarbeiter (FH) und Diplompädagoge, Berufsbetreuer Mombacher Str. 68 55122 Mainz

Mitarbeiter Christa Aßmann* Ilse Bayerl Juristin Rhönweg 15 65462 Ginsheim-Gustavsburg Heidrun Beyer Kinderkrankenschwester, Lehrerin für Pflegeberufe und Entbindungspflege Andrea Eichler Fachkinderkrankenschwester für päd. Intensivpflege, Lehrerin für Pflegeberufe, MH Kinaesthetics Trainerin UKT Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Hoppe-Seyler-Straße 1 72076 Tübingen Michael Färber* Monika Hensel Fachkinderkrankenschwester, Kinderintensivstation Helios Dr. Horst Schmidt Kliniken Ludwig-Erhard-Str. 100 65199 Wiesbaden

Daniela Schütz Kinderkrankenschwester und Pflegepädagogin (FH) Hildegardisschule – Berufsbildende Schule Bingen, in Trägerschaft des Bistums Mainz Holzhauserstraße 16 55411 Bingen

Diana Nowak M.A. Erwachsenenbildung, Diplom-Pflegepädagogin (FH), Kinderkrankenschwester (RbP) Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Fort- und Weiterbildung Am Pulverturm 13 55131 Mainz Brigitte Rinner Kinderkrankenschwester, Fachkrankenschwester für Onkologie und Palliativ-Care Mainz Corinna Rudolph MPH, Dipl.-Pflegepädagogin (FH), RbP Bamberger Akademien für Gesundheitsund Pflegeberufe Buger Str. 80 96049 Bamberg Heidi Schatull Kinderkrankenschwester, Heilpädagogin Haus St. Martin Fördereinrichtung für Kinder und junge Menschen mit Mehrfachbehinderung Belzerstraße 7 55218 Ingelheim

Astrid Steinberger M.A. Dozentin, Mediatorin, TRUST-Resilienztrainerin, Krankenschwester Bildungscampus Katholisches Klinikum Koblenz*Montabaur David-Roentgen-Str. 10 56073 Koblenz Simone Teubert Kinderkrankenschwester, Familiengesundheits- und Kinderkrankenpflegerin Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin Langenbeckstr. 1 55131 Mainz Eva-Maria Wagner Kinderkrankenschwester, Fachkinderkrankenschwester für pädiatrische Intensivpflege, Praxisanleiterin, Fachkraft Pädiatrische Palliative Care, Koordinatorin ambulanter Kinder- und Jugendhospizdienst Huxelrebenweg 58 55129 Mainz Tina Wilhelm Kinderkrankenschwester, Gesundheitsund Pflegepädagogin (M.A.) Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Staatlich anerkannte Schule für Gesundheits- und Krankenpflege, Schule für Krankenpflegehilfe, Schule für Gesundheits- und Kinderkrankenpflege Am Pulverturm 13 55131 Mainz

Die mit * gekennzeichneten Autoren haben an früheren Auflagen mitgewirkt, und ihre Beiträge sind in der aktuellen Auflage noch teilweise enthalten.

7

Teil I Grundlagen der Pflege und Betreuung von gesunden und kranken Kindern

I

1 Professionelle Pflege

31

2 Ethik in der Pflege

44

3 Qualitätssicherung in der Pflege

54

4 Pflegerecht und Ökonomie

82

5 Arbeitsfelder der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege

100

6 Wachstum und Entwicklung

148

7 Erleben und Bewältigen von Gesundheitsstörungen im Kindes- und Jugendalter

172

8 Familienorientierte Pflege und Betreuung

188

9 Pflegerische Beobachtung – Wahrnehmen, Beobachten, Beurteilen, Handeln

204

1.1 Was ist Pflege?

1 Professionelle Pflege 1

Diana Nowak

1.1 Was ist Pflege? Wenn in der Bevölkerung von Pflege gesprochen wird, ist nicht immer die professionelle Unterstützung von Menschen mit Gesundheitsfragen oder -problemen gemeint. Mit dem Begriff „Pflege“ werden auch allgemein Handlungen bezeichnet, die bei Lebewesen oder Gegenständen einen gewünschten Zustand erhalten bzw. verbessern sollen. Im technischen Bereich wird so z. B. die Pflege als ein Teil der Wartung von Maschinen oder Motoren angesehen. Die sog. Denkmalpflege beinhaltet die Instandhaltung von Gebäuden oder Einrichtungen. Von Pflege wird auch im Zusammenhang mit dem Aufbau und Erhalt von sozialen Strukturen, dem Pflegen von Freundschaften oder Beziehungen, gesprochen. Weitere Bereiche sind z. B.die Tierpflege, Landschaftspflege, Brauchtumspflege und Imagepflege. Es gibt also vielseitige Möglichkeiten, den Begriff Pflege anzuwenden. Daher ist es notwendig, die professionelle Pflege von Menschen im Gesundheitsbereich zu definieren, um diese somit von anderen Bedeutungen von Pflege abzugrenzen.

1.1.1 Definitionen ▶ Tab. 1.1 zeigt Definitionen des Internationalen Weltbundes der professionell Pflegenden (International Council of Nurses = ICN) und dessen offizielle Übersetzung des Deutschen Berufsverbandes

für Pflegeberufe (DBfK), des Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverbandes (ÖGKV) und des Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK). Weiterhin folgt eine Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Diese Definitionen ermöglichen es den Pflegenden, ein einheitliches Verständnis der beruflichen Pflege zu entwickeln. Darüber hinaus gibt es weitere Faktoren, die das Verständnis von Pflege beeinflussen. Hierzu zählen z. B. die gesellschaftlichen Erwartungen an die Pflege, die finanzielle Vergütung erbrachter pflegerischer Leistungen und auch die damit verbundene Wertschätzung durch die Gesellschaft. Zur Pflege und dessen Ausübung schrieb bereits Florence Nightingale 1878 im „Ratgeber für Gesundheits- und Krankenpflege“: „Das Wort Pflege, wie ich es verstanden wissen will, hat eine weit tiefere Bedeutung als ihm im gewöhnlichen Leben zugeschrieben wird, wo man sich nicht viel mehr dabei denkt als die Darreichung von Arzneimitteln oder von Umschlägen und andere bloße Handleistungen. Von Rechts wegen aber begreift diese Tätigkeit die richtige Verwendung und Regelung der frischen Luft, des Lichts, der Wärme in sich, die Sorge für Reinlichkeit, Ruhe, richtige Auswahl und rechtzeitige Darreichung von Speise und Trank, und zwar das alles unter größtmöglicher Schonung der Lebenskraft des

Kranken. Jedes weibliche Wesen ist eine geborene Krankenpflegerin – so oft ich auch diesen Satz schon aussprechen gehört und gedruckt gelesen habe, so habe ich meines Teils mich im Gegenteil überzeugt, dass den meisten so genannten Pflegerinnen vielmehr die Kenntnis gerade vom ABC der Pflege abgeht [...]. Zum Schluss will ich noch gegen die, unter der Männer- wie unter der Frauenwelt gleich, sehr verbreitete Ansicht Verwahrung einlegen, wonach sich zur Krankenpflege ohne weiteres alle Personen eignen, welchen es in anderen Dingen fehlgeschlagen, die in der Liebe Unglück gehabt oder irgendeinen andern Beruf verfehlt haben: eine Ansicht, die mich an die Geschichte von jener Dorfgemeinde erinnert, welche einen alten Dummkopf deshalb zum Schulmeister einsetzte, weil er zum Schweinehirten nichts taugte! Keinem Menschen wird es beikommen, jenes Rezept für untergeordnetere Berufsarten, z. B. für Dienstboten, anzuerkennen, aber auf dem so schwer verantwortlichen Gebiete der Krankenpflege schreckt man vor solcher Unbedachtsamkeit nicht zurück. Möge man doch endlich einsehen, dass die Kunst der Behandlung kranker Menschen sowie die Kenntnis aller für Kranke zuträglichen Außenbedingungen keinem Menschen, am wenigsten dem Opfer unglücklicher Liebe oder der brotlos gewordenen Arbeiterin, im Schlafe gespendet wird, vielmehr eine lange Vorschule reiflichen Nachdenkens und sorgfältiger Beobachtung voraussetzt.“

Tab. 1.1 Definitionen von Pflege verschiedener Verbände/Organisationen. Verband/Organisation

Definition

ICN

Nursing encompasses autonomous and collaborative care of individuals of all ages, families, groups and communities, sick or well and in all settings. Nursing includes the promotion of health, prevention of illness, and the care of ill, disabled, and dying people. Advocacy, promotion of a safe environment, research, participation in shaping health policy and in patient and health systems management, and education are also key nursing roles.

Übersetzung DBfK, ÖGKV und SBK

Pflege* umfasst die eigenverantwortliche Versorgung und Betreuung, allein oder in Kooperation mit anderen Berufsangehörigen, von Menschen aller Altersgruppen, von Familien oder Lebensgemeinschaften sowie von Gruppen und sozialen Gemeinschaften, ob krank oder gesund, in allen Lebenssituationen (Settings). Pflege schließt die Förderung der Gesundheit, Verhütung von Krankheiten und die Versorgung und Betreuung kranker, behinderter und sterbender Menschen ein. Weitere Schlüsselaufgaben der Pflege sind Wahrnehmung der Interessen und Bedürfnisse (Advocacy), Förderung einer sicheren Umgebung, Forschung, Mitwirkung in der Gestaltung der Gesundheitspolitik sowie im Management des Gesundheitswesens und in der Bildung.

WHO

Der gesellschaftliche Auftrag der Pflege ist es, dem einzelnen Menschen, der Familie und ganzen Gruppen dabei zu helfen, ihr physisches, psychisches und soziales Potenzial zu bestimmen und zu verwirklichen, und zwar in dem für die Arbeit anspruchsvollen Kontext ihrer Lebens- und Arbeitsumwelt. Deshalb müssen die Pflegenden Funktionen aufbauen und erfüllen, welche die Gesundheit fördern, erhalten und Krankheit verhindern. Zur Pflege gehören auch die Planung und Betreuung bei Krankheit und während der Rehabilitation, und sie umfasst zudem die physischen, psychischen und sozialen Aspekte des Lebens in ihrer Auswirkung auf Gesundheit, Krankheit, Behinderung und Sterben. Pflegende gewährleisten, dass der Einzelne und die Familie, seine Freunde, die soziale Bezugsgruppe und die Gemeinschaft ggf. in alle Aspekte der Gesundheitsversorgung einbezogen werden, und unterstützen damit Selbstvertrauen und Selbstbestimmung. Pflegende arbeiten auch partnerschaftlich mit Angehörigen anderer, an der Erbringung gesundheitlicher und ähnlicher Dienstleistungen beteiligter Gruppen zusammen.

* Pflege meint hier professionelle Pflege in Deutschland: durch eine(n) Altenpfleger(in), Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger(in) oder Gesundheits- und Krankenpfleger(in), in Österreich: diplomierte(n) Gesundheits- und Krankenschwester/-pfleger, diplomierte(n) psychiatrische(n) Gesundheits- und Krankenschwester/-pfleger und diplomierte(n) Kinderkrankenschwester/-pfleger und in der Schweiz: diplomierte(n) Pflegefachfrau/-mann.

1

Professionelle Pflege

Lernaufgabe

1

M ●

Bearbeiten Sie bitte folgende Fragen bzw. Aufgabenstellungen: 1. Welche gesellschaftliche Sichtweise von Pflege kritisiert Florence Nightingale hier? 2. Lassen Sie Menschen aus Ihrem Umfeld Pflege definieren. 3. Vergleichen Sie die verschiedenen Sichtweisen und Definitionen von Pflege. Inwiefern unterscheiden sie sich bzw. welche Parallelen sind erkennbar?

1.1.2 Informelle und berufliche Pflege Um Missverständnissen im Gebrauch des Begriffes Pflege vorzubeugen, ist es sinnvoll, zwischen informeller und beruflicher Pflege zu unterscheiden.

Informelle Pflege Als informelle Pflege wird die nicht erwerbsmäßige Pflege bezeichnet, die oft von den Familienangehörigen eines pflegebedürftigen Menschen erbracht wird. Die dabei ausgeübten pflegerischen Tätigkeiten von Personen ohne qualifizierten Berufsabschluss werden auch als Laienpflege bezeichnet. Angehörige stellen eine wichtige Ressource für den Pflegeempfänger dar und können somit auch Anteile der pflegerischen Versorgung übernehmen. Zum einen kennen sie die Persönlichkeit des Patienten, zum anderen sind sie in die Lebenswelt miteinbezogen und teilen das Krankheitserleben ihres Angehörigen. In welcher Form sie in die Pflege einbezogen werden können, hängt neben der Situation des Patienten u. a. auch von der Qualität der Beziehung und Bereitschaft, sich einzubringen, ab. Angehörige dürfen sich nicht überfordern und sollten ggf. Hilfestellung zur Bewältigung der veränderten Situation erhalten.

Berufliche Pflege Bei der beruflichen Pflege handelt es sich um eine erwerbsmäßige Ausübung der Pflege. Die Pflegeperson verfügt über berufliche Fachkenntnisse und Qualifikationen. Je nach Berufsabschluss besteht ein zugeordneter eigener oder arztabhängiger Verantwortungsbereich. Alle Tätigkeiten, mit denen die Pflegefachkraft die medizinische Diagnostik und Therapie unterstützt, sind an eine Arztanordnung gebunden (S. 91). Hierzu zählt z. B. das Verabreichen von Medikamenten. Zu den eigen-

32

verantwortlichen Pflegeleistungen zählt die Unterstützung bei der Ausübung der Lebensaktivitäten, z. B. die Hilfestellung bei der Körperpflege. Die Anleitung oder Beratung des Patienten bzw. seiner Angehörigen in pflegefachlichen Fragen gehört ebenfalls zu den eigenständigen Aufgaben der beruflichen Pflege.

1.1.3 Profession Definition

L ●

„Profession“ kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „Beruf, Gewerbe“ (Duden, 2015). Professionell handelnde Personen sind also Menschen, die eine Tätigkeit als Beruf ausüben.

Es gibt verschiedene Definitionen, die den Begriff Profession gegenüber dem Beruf abgrenzen, indem sie zusätzliche Merkmale definieren, die eine Profession ausmachen. Die am häufigsten angeführten Kriterien sind: ● spezifische Kompetenz, basierend auf wissenschaftlich fundierten Technologien ● erkennbarer Nutzen der ausgeübten Profession für die Gesellschaft ● berufliche Selbstständigkeit/Autonomie im Handeln ● ethische Ausrichtung im Handeln ● öffentliche Anerkennung/Ansehen (Prestige) ● akademische Ausbildung ● fachspezifisches Wissen ● eigenes Disziplinarrecht/Selbstverwaltung ● Fachsprache ● soziale Dienstorientierung ● Handlungsmonopol ● Berufsorganisation Die Pflege befindet sich in einem Professionalisierungsprozess, d. h. die Pflegeberufe sind auf dem Weg, eine Profession zu werden. Einige der o. g. Kriterien werden bereits erfüllt. Hierzu zählen u. a. die soziale Dienstorientierung, das fachspezifische Wissen und die Fachsprache. Eine berufspolitische Interessenvertretung mit der Möglichkeit, ein eigenes Disziplinarrecht zu entwickeln, ist mit der Errichtung der ersten Landespflegekammer in Rheinland-Pfalz 2016 initiiert worden. Es gibt jedoch kein Handlungsmonopol der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege für die Ausübung von allen pflegerischen Tätigkeiten. In § 1 des Gesetzes über die Berufe in der Krankenpflege ist zwar die Berufsbezeichnung „Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin/Kinderkrankenpfleger“ gesetzlich geschützt, nicht aber die

Durchführung von Pflege, d. h., auch Personen, die keine Pflegeausbildung absolviert haben, dürfen pflegerische Tätigkeiten verrichten.

1.2 Historische Entwicklung der Pflege Schon immer versuchten Menschen, die Gesundheit zu erhalten; wurden sie krank, so strebten sie danach, sich oder andere von ihrem „Leid“ zu erlösen oder es zu lindern. Einfluss hierauf hatten – oder haben immer noch – religiöse Vorstellungen, Riten, kulturelle und gesellschaftliche Ansichten, Erfahrungen, vermitteltes Wissen, Traditionen und schließlich wissenschaftliche Erkenntnisse. Die Pflegeberufe haben in der Vergangenheit einen Entwicklungsprozess durchschritten, der von verschiedenen Faktoren beeinflusst wurde. Innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft e. V. (DGP) wurde 1991 unter Mitarbeit von Hilde Steppe die Sektion „Historische Pflegeforschung“ gegründet. Hiermit sollte ein wichtiger Beitrag zur Erforschung der Berufsgeschichte der Pflegeberufe geleistet werden. Historische Pflegeforschung ist die kontinuierliche systematische Erforschung der auf die Pflege bezogenen Vergangenheit nach gültigen wissenschaftlichen Regeln. Sie hat die Aufgabe, diese Vergangenheit zu dokumentieren, zu analysieren und zu bewerten. Mit der historischen Pflegeforschung werden folgende Ziele angestrebt (Steppe, 1993): ● Erkenntnisse für die heutige Zeit gewinnen ● Zusammenhänge verdeutlichen ● Entwicklungsprozesse aufzeigen ● Lehren für die Gegenwart und Zukunft ermöglichen Im Folgenden wird nun zunächst ein kurzer historischer Überblick gegeben, aus dem die Entstehung und Entwicklung der Pflege deutlich werden.

1.2.1 Prähistorie (3000 v. Chr.) Zu dieser Zeit stehen medizinische, empirische, von Magie und Religion geprägte Heilpraktiken im Vordergrund. „Götter wachten über Gesundheit und Krankheit des Menschen. Priester waren gleichzeitig Ärzte“ (Oehme u. Schmoeger, 1994).

1.2 Historische Entwicklung der Pflege

1.2.2 Antike (1000 v. Chr. bis 500 n. Chr.) Es sind überwiegend Frauen, die im häuslichen Bereich die pflegerischen Maßnahmen in der Gesundheitsvor- und -fürsorge übernehmen. In alten Papyri, die in Ägypten gefunden wurden, wird bereits u. a. von Chirurgie, Frauenheilkunde und Kinderpflege gesprochen. Auch wird ärztliches Hilfspersonal, wie Masseure, Bandagisten, Haarbehandler und Kosmetiker, benannt. Die Behandlung der Kranken findet um 500 v. Chr. in Griechenland in den Asklepios-Tempeln hauptsächlich durch die als Heilpersonal tätigen Schüler der Ärzte statt. Es beschäftigen sich viele Ärzte mit der Anatomie und Physiologie des menschlichen Körpers. In Indien erscheint in buddhistischen Schriften der Begriff „Pflegestand“. Die Zusammenarbeit von Arzt und Pflegendem wird hierin betont.

1.2.3 Frühes Mittelalter (500 bis 900) Benedikt von Nursia gründet die Pflege in Klöstern. Pflege versteht sich als Dienst an Christus. Im Vordergrund stehen die Besitzlosigkeit und das Beten. Laienbrüder und -schwestern übernehmen die Pflege kranker Gemeindemitglieder.

1.2.4 Spätes Mittelalter (1200 bis 1400) Beginen und Begaden werden als Pflegende vorwiegend in Belgien, Holland, Frankreich und in der Schweiz, besonders in der Gemeindehilfe und in der Familie, tätig. Die alleinige Versorgung der Kranken durch die Klosterspitäler reichte nicht aus, sodass Hospize und Spitäler durch öffentliche Stiftungen entstanden.

1.2.5 Frühe Neuzeit (Ende 15 Jh. bis Anfang 18. Jh.) Die Frau wird aus der Heilkunde verdrängt. Sie wird zur Assistentin des Arztes. Pflegen geschieht unter dem christlichen Gedanken der Nächstenliebe. Diese Rolle wird v. a. der Frau als eine von Gott gegebene Fähigkeit zugeschrieben. Vinzenz von Paul, ein Priester, gründet in Paris den Orden der Barmherzigen Schwestern zur Versorgung der Armen und Kranken. Hieraus entsteht später der Orden der Vinzentinerinnen. Mädchen, die sich zu einem gemeinsamen christlichen Leben verpflichten, werden als Krankenwärterinnen ausgebildet. Sie übernehmen die Hauskrankenpflege und später durch Gestellungsverträge auch die Betreuung der Kranken in den Spitälern.

1.2.6 Ende der Neuzeit (Ende 18. Jh. bis Ende 19. Jh.) Der Bedarf an Pflegepersonal steigt. Die Beschäftigung in Mutterhäusern nimmt zu, welche, durch ein Abkommen mit den Krankenhäusern, die „Entlohnung“ der Schwestern selbst vornehmen. 1836 gründete der evangelische Pastor Theodor Fliedner die Diakonissenschwesternschaft in Kaiserswerth. Hierbei wurde er durch seine erste Ehefrau Friederike und seine zweite Frau Caroline maßgeblich unterstützt. Fliedner erkennt, dass es notwendig ist, die Pflegenden auszubilden, und trägt dieser Erkenntnis Rechnung, indem er eine theoretische und praktische Ausbildung im Krankenhaus mit anschließender Prüfung durchführt. Florence Nightingale ist drei Monate (1850 und 1851) in Kaiserswerth zu Gast. Sie stammt aus der englischen Oberschicht. Mit einer Gruppe von Frauen pflegt sie im Krimkrieg verwundete Soldaten. Aus Spendengeldern richtet sie 1860 in London am St.-Thomas-Hospital die erste nicht konfessionelle und von einem Krankenhaus unabhängige Krankenpflegeschule ein. Die Ausbildungsdauer der Pflegeschülerinnen beträgt ein Jahr. Florence Nightingale betont die Notwendigkeit einer Ausbildung für Pflegende. Sie kritisiert die Ansicht, dass jede Frau, nur weil sie eine Frau ist, schon gleichzeitig eine gute Pflegerin ist (S. 54). Pflege wird von ihr als Kunst und Wissenschaft bezeichnet. Florence Nightingale gilt heute als erste Pflegetheoretikerin. Henry Dunant gründete 1863 aus Erfahrung mit der schlechten Versorgung der Soldaten bei der Schlacht von Solferino das Rote Kreuz. Die damals entstehenden Genfer Konventionen regeln noch heute die Vorgehensweise, z. B. die Versorgung der Verwundeten im Kriegsfall. Die Schwesternschaft des Roten Kreuzes entsteht in Deutschland aus den Vaterländischen Frauenvereinen, die sich ebenfalls nach dem bereits bewährten Mutterhausprinzip organisieren.

1.2.7 Vor dem Ersten Weltkrieg Die Bezeichnung „Wilde Schwestern“ wird als Schimpfwort vonseiten der etablierten Pflegeorganisationen zur Abwertung der nicht an ein Mutterhaus gebundenen Krankenpflegepersonen in Deutschland verwendet. Agnes Karll (▶ Abb. 1.1), eine ehemalige Schwester des Roten Kreuzes, gründet 1903 für die freiberuflichen Pflegepersonen die erste Berufsorganisation der Krankenpflegerinnen Deutschlands (BO).

1

Abb. 1.1 Agnes Karll. Fotografie aus dem Jahr 1912. (Abb. von: Deutscher Berufsverband für Pflegerufe (DBfK), Berlin)

1904 tritt diese Berufsorganisation dem Internationalen Council of Nurses (ICN) bei. Agnes Karll setzt sich für eine staatliche Regelung der Ausbildung in der Pflege ein, die für Preußen erstmals 1907 gesetzlich festgelegt wird. Der nach ihr benannte Agnes-Karll-Verband wird im Jahr 1973 umbenannt zum Deutschen Berufsverband für Krankenschwestern und Krankenpfleger (DBfK).

1.2.8 Nationalsozialismus (1933 – 1945) 1938 entsteht das erste einheitliche Krankenpflegegesetz für ganz Deutschland. Krankenschwestern der NS-Schwesternschaft, die sog. „braunen Schwestern“, sollen dem „Vaterland“ und nicht mehr dem einzelnen Menschen dienen. Alle anderen Schwesternschaften werden im Reichsbund Deutscher Schwestern und Pfleger, den sog. „blauen Schwestern“, zusammengefasst. Die Aktivitäten der bisherigen Berufsorganisationen werden verboten.

1.2.9 Nach dem Zweiten Weltkrieg Die vor dem Dritten Reich gegründeten Schwesternorganisationen leben wieder auf. Die Pflege orientiert sich zunehmend an der medizinischen Sichtweise und dem naturwissenschaftlichen Fortschritt und wird mehr und mehr zu einem ärztlichen Assistenzberuf. In der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) wird 1951 die Ausbildung der Pflege an zentralen Fachschulen vorgenommen, die nach der Wiedervereinigung das Krankenpflegegesetz der alten

3

Professionelle Pflege Bundesländer übernehmen. Der Studiengang Diplom-Medizinpädagoge entsteht 1963 an der Humboldt-Universität in OstBerlin. Im Gesetz über die Berufe in der Krankenpflege (1985) werden erstmals in der Bundesrepublik Deutschland die geplante Pflege und Prävention als pflegerische Aufgabe erwähnt. Das Gesundheitsstrukturgesetz tritt 1993 in Kraft. Mithilfe der Pflegepersonalregelung (PPR) soll der Bedarf an Pflegepersonal neu berechnet werden. Der Deutsche Bildungsrat für Pflegeberufe wird aus folgenden Organisationen gegründet: ● Bundesarbeitsgemeinschaft der leitenden Krankenpflegepersonen e. V. (BALK) ● Bundesausschuss der Landesarbeitsgemeinschaft der Lehrerinnen und Lehrer für Pflegeberufe (BA) ● Berufsverbände Arbeitsgemeinschaft Deutscher Schwesternverbände (ADS) ● Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK)

1

Der Deutsche Bildungsrat für Pflegeberufe hat sich als oberstes Ziel die Entwicklung der beruflichen Autonomie gesetzt. 1994 wird die gesetzliche Pflegeversicherung neben der Kranken-, Rentenund Arbeitslosenversicherung als weitere soziale Sicherung beschlossen. Sie beinhaltet eine finanzielle Unterstützung für den notwendigen Pflegebedarf eines Menschen. Eine freiwillige Registrierung für beruflich Pflegende ist seit 2003 bei der unabhängigen Registrierungsstelle in Berlin möglich. Träger ist seit 2006 der Deutsche Pflegerat. Die freiwillige Registrierung dient der Autonomie des Berufes und der Sicherung der Pflegequalität durch anerkannte Qualifizierungsnachweise. Weiterhin können durch die Registrierung statistische Aussagen über Arbeitsfelder und Qualifikation der beruflich Pflegenden getroffen werden. In vielen Bundesländern entstehen parallel Bestrebungen zur Errichtung einer Pflegekammer, um mit einer verpflichtenden Mitgliedschaft eine berufliche Selbstverwaltung und berufspolitische Vertretung zu gewährleisten. Die erste Landespflegekammer beginnt in Rheinland-Pfalz 2015 mit der Registrierung der Mitglieder und startet 2016 mit einer konstituierenden Sitzung der Vertreterversammlung.

34

1.3 Historische Entwicklung der Kinderkrankenpflege Als selbstständiger Beruf ist die Kinderkrankenpflege erst mit dem Ende des 19. bzw. Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden. Bei der Hospitalidee, zu der auch das Findel- und Waisenhauswesen gehörte, standen weniger die heilkundlichen Interessen im Vordergrund als die Milderung von sozialer, physischer und psychischer Not der Armen und Hilfsbedürftigen, also eine Institution für verwaiste und unerwünschte und weniger für kranke Kinder.

1.3.1 Frühes Mittelalter Das erste Findelhaus wird 787 von Erzbischof Dattheus in Mailand gegründet. Die Mütter können durch eine Drehlade die unerwünschten Kinder ablegen, ohne erkannt zu werden.

1.3.2 Ende des 18. Jahrhunderts Es wird nach Ursachen für die hohe Kindersterblichkeit und nach geeigneten Maßnahmen zu deren Bekämpfung gesucht. Die kranken Kinder „lagen in den Sälen zwischen den Erwachsenen, bis zu acht Kinder in einem Bett und fielen zu über 90 % ansteckenden Krankheiten zum Opfer“ (Geiger 1986).

1.3.3 19. Jahrhundert/ Anfang des 20. Jahrhunderts In Paris entsteht aus einem früheren Waisenhaus 1802 das „Hôpital des Enfants malades“, das erste Kinderkrankenhaus der Welt. In Deutschland wird 1830 die erste Kinderabteilung an der Berliner Charité eröffnet. Die Entwicklung, kranke Kinder in speziellen Kinderabteilungen und Kinderkrankenhäusern medizinisch zu behandeln und zu pflegen, geht nur sehr langsam voran. Viele Krankenhäuser weigern sich, Kinder unter einem Jahr aufzunehmen. Der Grund hierfür liegt in der hohen Säuglingssterblichkeit. In Wien eröffnet Ludwig Wilhelm Mauthner 1837 eine Kinderabteilung. Als einer der ersten bildet er „Kinderwärterinnen“ zur Pflege kranker Kinder aus. Etwa zur gleichen Zeit erhalten in Deutschland die Diakonissen in Kaiserswerth auch Unterricht in der Pflege kranker Kinder. Die ersten „Säuglingspflegerinnen“ werden 1897 in Dresden von dem Kinder-

arzt Arthur Schloßmann im ersten deutschen Säuglingsheim für kranke Kinder ausgebildet. Dies geschah sowohl theoretisch als auch praktisch und endete mit einer Abschlussprüfung. Staatlich anerkannt werden Säuglingspflegeschulen erstmals 1917 durch eine 1-jährige Ausbildung mit 200 Stunden Theorie und einer staatlichen Prüfung zur „Säuglingspflegerin“ in Preußen.

1.3.4 Nach dem Ersten Weltkrieg Der Kinderheilkunde wird als eigenständige Disziplin immer mehr Beachtung geschenkt. Im Krankenhaus wird die Hygiene entscheidend verbessert, z. B. durch Händedesinfektion und die Einrichtung von Milchküchen, um die Säuglingsnahrung hygienisch herzustellen. Diese Maßnahmen mildern die Säuglingssterblichkeit im Krankenhaus. Zur „Aufzucht von Frühgeborenen“, wie man die Frühgeborenenpflege zu dieser Zeit nennt, stehen bereits Inkubatoren zur Verfügung. Außerhalb des Krankenhauses sind Fürsorgeschwestern in den Familien präventiv tätig. Hierzu gehört v. a. die Aufklärung der Mütter in den Bereichen Hygiene und Säuglingspflege. Die Reichsanstalt zur Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit wird von ausgebildeten Säuglingsschwestern unterstützt. 1923 dauert die Ausbildung zur „Säuglings- und Kleinkinderschwester“ mit 200 Stunden Theorie 2 Jahre. Die Oberinnen Antonie Zerwer und Margarete Albrecht gründen 1927 den „Reichsverband für Säuglings- und Kleinkinderschwestern“, der 1934 durch die Nationalsozialisten aufgelöst wird. Ein Gesetz zur Neuordnung der Krankenpflege mit der Berufsbezeichnung „Säuglingsund Kinderschwester“ tritt 1938 in Kraft. Die gesellschaftliche Stellung der Säuglings- und Kinderschwester ist in dieser Zeit sehr hoch. Einerseits fördert sie durch die erwähnten präventiven Maßnahmen die Volksgesundheit, andererseits wird sie zur Ausführung der Anweisungen durch das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses herangezogen. Dieses Gesetz verlangt z. B. die Tötung von Kindern, die behindert oder unheilbar krank sind.

1.3.5 Nach dem Zweiten Weltkrieg Die Kinderkrankenschwester arbeitet überwiegend im Krankenhaus, weniger im ambulanten Bereich. Bei strengen Besuchszeitenregelungen übernimmt die Kinderkrankenschwester die Rolle der Mutter.

1.5 Berufsbild und Arbeitsfelder Die Berufsbezeichnung „Kinderkrankenschwester“ wird erstmals 1957 durch das Krankenpflegegesetz geschützt. Die Ausbildung dauert 2 Jahre mit 400 Stunden Theorie und einem Anerkennungsjahr von 50 Stunden Theorie. Das folgende Krankenpflegegesetz von 1965 erhöht die theoretische Ausbildung auf 1200 Stunden und die Ausbildungsdauer auf insgesamt 3 Jahre. 1968 wird das Aktionskomitee „Kind im Krankenhaus“ (AKIK) von einer Elternselbsthilfegruppe in Frankfurt (Main) gegründet. Grundlegendes Ziel von AKIK ist die Berücksichtigung der Bedürfnisse und Rechte von Kindern und Jugendlichen während eines Krankenhausaufenthaltes. 1977 beginnt die häusliche Kinderkrankenpflege, die auch als ambulante Kinderkrankenpflege bezeichnet wird. Der „Arbeitskreis für Kinderkrankenschwestern“ (AKK) wird 1980 gegründet und ist mittlerweile vom „Berufsverband für Kinderkrankenschwestern und Kinderkrankenpfleger“ (BKK) umbenannt zum „Berufsverband Kinderkrankenpflege Deutschland“ BeKD e. V. 1982 erscheint die Fachzeitschrift „Kinderkrankenschwester“ des Verlags Schmidt Römhild in Lübeck für alle Bereiche der stationären und ambulanten Kinderkrankenpflege. Das Krankenpflegegesetz wird 1985 erneut modifiziert. Hier wird auch zum ersten Mal die männliche Berufsbezeichnung „Kinderkrankenpfleger“ aufgenommen. 1991 wird die Kinderkrankenpflegeausbildung der ehemaligen DDR durch das gültige Krankenpflegegesetz der Bundesrepublik Deutschland (BRD) neu geregelt. Das erste deutsche Kinderhospiz wird 1998 in Olpe eröffnet. Inzwischen sind bundesweit weitere Kinderhospize entstanden bzw. in der Planung. Ab 2004 ändert sich durch ein neues Krankenpflegegesetz die Berufsbezeichnung in Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin bzw. Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger. Mit einer integrativen Grundausbildung sollen die jeweiligen eigenständigen Schwerpunkte der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege bzw. der allgemeinen Krankenpflege erhalten bleiben (S. 36). Seit 2012 ist mit der Zeitschrift JuKiP des Georg Thieme Verlages ein weiteres Fachmagazin für die Gesundheits- und Kinderkrankenpflege erhältlich.

1.4 Aktueller Stand und Zukunftsperspektiven Die Zunahme von chronischen sowie psychosomatischen Erkrankungen, der Ausbau der palliativen Versorgung und die Miteinbeziehung der Eltern und Angehö-

rigen in die Pflege verändern auch die Aufgabenfelder der Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerinnen bzw. der Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger. Sie haben nun vermehrt psychosoziale und präventive Maßnahmen zu leisten, z. B. die Beratung und Anleitung von Kindern und deren Eltern. Der Rückgang der Geburten, die demografische Entwicklung, gesetzliche und wirtschaftliche Veränderungen im Krankenhaus, die z. B. zunehmende ambulante Behandlungsmöglichkeiten mit sich bringen, haben Auswirkungen auch auf die Pflegeberufe. Bedingt durch die kürzere Verweildauer sind im Krankenhaus immer mehr schwer kranke und schwerstpflegebedürftige Kinder. Dies ist auch durch die Finanzierungsumstellung der stationären Patientenversorgung auf das DRG-Fallpauschalensystem (Diagnosis Related Groups) eingetreten. Weiterhin werden ärztliche Aufgaben zunehmend an das Pflegepersonal delegiert. Dies hat wiederum Auswirkungen auf die Ausübung und die Verteilung der pflegerischen Aufgaben auf weniger qualifiziertes Hilfspersonal. Auf der anderen Seite haben sich die Pflegestudiengänge weiterentwickelt und an die internationalen Abschlüsse des „Bachelor“ und „Master“ angepasst. Eine weitere Ausbildungsreform für die Pflegeberufe wurde 2017 beschlossen. Sie soll ab 2020 in Kraft treten. Vorgesehen ist eine Zusammenführung der bisher getrennten Ausbildungsberufe in der Alten-, Kranken- und Kinderkrankenpflege. Nach zwei gemeinsamen Ausbildungsjahren können sich die Auszubildenden im dritten Ausbildungsjahr für einen generalistischen oder einen in der Alten- bzw. Kinderkrankenpflege spezialisierten Abschluss entscheiden.

1.5 Berufsbild und Arbeitsfelder 1.5.1 Berufsbild Ein Berufsbild dient der Definition einer Berufsgruppe. Es verdeutlicht die gemeinsame Zielsetzung, die Aufgabenbereiche und die Stellung in der Gesellschaft. Das Berufsbild definiert weiter den Begriff Pflege, die Berufsaufgaben, die Aus-, Fortund Weiterbildung und mögliche Arbeitsbereiche der Berufsgruppe. Für die Pflegeberufe gilt es, beruflich oder professionell ausgeübte Pflege (S. 32) von „Laienpflege“, z. B. durch Angehörige, abzugrenzen. Der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK) erstellte das Berufsbild der Pflege in Anlehnung an die Definition von Krankenpflege des ICN (Weltverband der Pflegeberufe) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO).

Definition

L ●

1

„[...] Pflege erstreckt sich auf Gesunde und Kranke, bezieht also Gesundheitsvor- und -fürsorge sowie die Betreuung gesunder Hilfsbedürftiger mit ein [...]. Es gehört zum beruflichen Selbstverständnis [...], dass sich Pflege an der Bedürftigkeit des Menschen orientiert, nicht an einzelnen Funktionen. Der Mensch wird in seiner Ganzheit betreut [...]“ (DBfK, 1993).

Die WHO erklärt die Krankenpflege zu einem eigenständigen Fachbereich im Gesundheitswesen. Die primäre Aufgabe ist, die optimale Funktionsfähigkeit bei unterschiedlichen Gesundheitszuständen in jedem Lebensalter zu bewahren. Die Definition der WHO berücksichtigt auch psychosomatische und psychosoziale Aspekte der Betroffenen. Pflege wird sowohl als Kunst wie auch als Wissenschaft gesehen, die Kenntnisse und Techniken aus anderen Wissenschaftsbereichen verwendet. Das Vorgehen in der Pflege geschieht auf der Grundlage des Pflegeprozesses und in Zusammenarbeit mit Angehörigen anderer Berufsgruppen im Gesundheitswesen. Der Berufsverband Kinderkrankenpflege Deutschland (BeKD e.V.) legt seinen Schwerpunkt auf die Interessen der Pflegefachkräfte, die in der Kinderkrankenpflege tätig sind. Er betont, dass zur Pflege von Kindern eine spezielle Berufsausbildung notwendig ist, um den Bedürfnissen der Kinder gerecht werden zu können. Gesundheits- und Kinderkrankenpflegefachkräfte befassen sich mit verschiedenen Aufgabenfeldern innerhalb der Gesellschaft, z. B. mit der Betreuung von Kindern und deren Familien im stationären, ambulanten und familiären häuslichen Bereich. „Kinderkrankenpflege versteht sich als eine spezielle Fachdisziplin ‚ganzheitlicher‛ pflegerischer Leistungen, in deren Mittelpunkt das einzelne Kind in seinem unmittelbaren Lebensprozess steht. [...] Kinderkrankenpflege ist eine moderne, spezialisierte, gesellschaftlich als Beruf ausdifferenzierte Weise dieses Umgangs innerhalb des Gesundheitssystems. Sie umfasst die Betreuung gesunder, akut kranker, chronisch kranker und behinderter Kinder aller Altersstufen vom Früh- und Neugeborenen bis zum Jugendlichen. Dabei muss die Pflege dem jeweiligen psychischen und physischen Zustand des einzelnen Kindes altersgerecht angepasst werden. In solcher individueller Pflege ist sich die/der Pflegende der besonderen Aufgabe als ‚Anwalt‘ des Kindes bewusst“ (BeKD e. V., 1994).

5

Professionelle Pflege ○

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Abb. 1.2 Aufgabenbereiche. Von Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger/-innen.

Merke

H ●

Beruflich ausgeübte Pflege bedeutet nicht nur Unterstützung oder Hilfestellung, wenn ein Mensch erkrankt ist. Zum Aufgabengebiet gehören ebenso Prävention und Rehabilitation. Mit Prävention ist das Ziel verbunden, die Gesundheit des Kindes zu erhalten und zu fördern. Rehabilitation dient der Wiederherstellung von Gesundheit bzw. der Förderung der Akzeptanz der Gesundheitsstörung. Im ambulanten und stationären Bereich fördert Kinderkrankenpflege die körperliche, geistige, psychische und soziale Entwicklung des Kindes unter Miteinbeziehung der Familie (▶ Abb. 1.2).

1.5.2 Arbeitsfelder Einige mögliche Arbeitsfelder für Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger/-innen sind: ● Kinderkliniken ● Einrichtungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie ● ambulante Kinderkrankenpflege ● Kinderarztpraxen ● Gesundheitsamt ● integrative Einrichtungen für Kinder, z. B. Kindergarten ● Kurkliniken, z. B. Mutter-Kind-Kurheim, Rehabilitationskliniken ● sozialpädiatrische Zentren ● Kinderhospize

36

einer Erlaubnis als Krankenpflegehelfer/-in oder einer erfolgreich abgeschlossenen landesrechtlich geregelten Ausbildung von mind. 1-jähriger Dauer in der Krankenpflegehilfe oder Altenpflegehilfe

1.6 Pflegeausbildung Die gesetzlichen Vorgaben sind im Gesetz über die Berufe in der Krankenpflege (Krankenpflegegesetz – KrPflG) vom 16. 07. 2003 und in der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für die Berufe in der Krankenpflege (KrPflAPrV) vom 10. 11. 2003 festgelegt. Seit 2007 regelt eine neue EU-Richtlinie die Anerkennung von pflegeberuflichen Qualifikationen. Damit werden die bestehenden Rechtsvorschriften zur Anerkennung beruflicher Qualifikationen abgelöst. Ziel ist die Vereinfachung der gegenseitigen Anerkennung der Berufsabschlüsse innerhalb der Europäischen Union (EU).

1.6.1 Gesetz über die Berufe in der Krankenpflege (KrPflG) Zugangsvoraussetzungen Der § 5 des Krankenpflegegesetzes regelt die Voraussetzungen für den Zugang zur Ausbildung: ● gesundheitliche Eignung ● Realschulabschluss oder eine gleichwertige abgeschlossene Schulbildung oder ● erfolgreicher Abschluss einer sonstigen 10-jährigen allgemeinen Schulbildung oder ● Hauptschulabschluss oder eine gleichwertige Schulbildung, zusammen mit ○ einer erfolgreich abgeschlossenen Berufsausbildung (mind. 2 Jahre Ausbildungsdauer) oder

Der Abschnitt 1 enthält Angaben zur Erlaubnis zum Führen von Berufsbezeichnungen. § 1 des Krankenpflegegesetzes (KrPflG) vom 16. 07. 2003 schützt die Berufsbezeichnungen Gesundheits- und Krankenpfleger/-in, Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger/-in. In § 2 sind die Voraussetzungen zur Erteilung der Berufsbezeichnung enthalten: ● Ableistung der gesetzlich vorgeschriebenen Ausbildungszeit ● Bestehen der staatlichen Prüfung ● Zuverlässigkeit zur Ausübung des Berufes ● gesundheitliche Eignung zur Berufsausübung

Ausbildungsziel In Abschnitt 2 werden Angaben zur Ausbildung gemacht. Besonders hervorzuheben ist § 3, der das Ausbildungsziel beschreibt: „Die Ausbildung [...] soll entsprechend dem allgemein anerkannten Stand pflegewissenschaftlicher, medizinischer und weiterer bezugswissenschaftlicher Erkenntnisse fachliche, personale, soziale und methodische Kompetenzen zur verantwortlichen Mitwirkung insbesondere bei der Heilung, Erkennung und Verhütung von Krankheiten vermitteln. Die Pflege [...] ist dabei unter Einbeziehung präventiver, rehabilitativer und palliativer Maßnahmen auf die Wiedererlangung, Verbesserung, Erhaltung und Förderung der physischen und psychischen Gesundheit der zu pflegenden Menschen auszurichten. Dabei sind die unterschiedlichen Pflege- und Lebenssituationen sowie Lebensphasen und die Selbstständigkeit und Selbstbestimmung der Menschen zu berücksichtigen [...].“ Die Ausbildung soll so gestaltet sein, dass sie befähigt: ● Die folgenden Aufgaben eigenverantwortlich auszuführen: ○ Erhebung und Feststellung des Pflegebedarfs, Planung, Organisation, Durchführung und Dokumentation der Pflege; ○ Evaluation der Pflege, Sicherung und Entwicklung der Qualität der Pflege; ○ Beratung, Anleitung und Unterstützung von zu pflegenden Menschen und ihrer Bezugspersonen in der individuellen Auseinandersetzung mit Gesundheit und Krankheit;

1.6 Pflegeausbildung Einleitung lebenserhaltender Sofortmaßnahmen bis zum Eintreffen der Ärztin oder des Arztes. Die folgenden Aufgaben im Rahmen der Mitwirkung auszuführen: ○ eigenständige Durchführung ärztlich veranlasster Maßnahmen; ○ Maßnahmen der medizinischen Diagnostik, Therapie und Rehabilitation; ○ Maßnahmen in Krisen- und Katastrophensituationen. Interdisziplinär mit anderen Berufsgruppen zusammenzuarbeiten und dabei multidisziplinäre und berufsübergreifende Lösungen von Gesundheitsproblemen zu entwickeln. ○





Die Ziele der Ausbildung sind gesetzlich verankert und müssen somit durch die praktische und theoretische Ausbildung in der Pflege erreicht werden.

1.6.2 Ausbildungs- und Prüfungsverordnung (KrPflAPrV) Theoretischer und praktischer Unterricht Die 3-jährige Ausbildung in der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege umfasst laut § 1 der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung mindestens 2100 Stunden theoretischen und praktischen Unterricht und 2500 Stunden praktische Ausbildung. Die Themenbereiche des theoretischen und praktischen Unterrichts sind in ▶ Tab. 1.2 dargestellt. Laut § 1 Abs. 1 sind sie als Mindestanforderung zu sehen. Der Unterricht kann weiterhin in Wissensgrundlagen eingeteilt werden. ▶ Tab. 1.3 zeigt die gesetzlich vorgeschrie-

bene Verteilung der Stundenzahl. Die praktische Ausbildung muss mindestens 80 und höchstens 120 Stunden im Nachtdienst ab der zweiten Hälfte der Ausbildungszeit unter Aufsicht eines/einer Gesundheits- und Krankenpfleger/-in bzw. Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger/in gewährleisten (§ 1 Abs. 3 KrPflAPrV). Die Einsatzbereiche mit der vorgeschriebenen Mindesteinsatzdauer sind in der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung in der Anlage 1B festgelegt (▶ Tab. 1.4). In § 3 „Staatliche Prüfung“ sind Angaben zur Abschlussprüfung gemacht, die aus einem schriftlichen, mündlichen und praktischen Teil besteht; die Prüfung wird an der Schule, an der die Ausbildung abgeschlossen wird, durchgeführt.

1

Tab. 1.2 Themenbereiche des theoretischen und praktischen Unterrichts (nach Anlage 1A der KrPflAPrV). Themenbereich

Befähigungsziele

1. Pflegesituationen bei Menschen aller Altersgruppen erkennen, erfassen und bewerten

Die Schülerinnen und Schüler sind zu befähigen, ● auf der Grundlage pflegewissenschaftlicher Erkenntnisse und pflegerelevanter Kenntnisse der Bezugswissenschaften, wie Naturwissenschaften, Anatomie, Physiologie, Gerontologie, allgemeine und spezielle Krankheitslehre, Arzneimittellehre, Hygiene und medizinische Mikrobiologie, Ernährungslehre, Sozialmedizin sowie der Geistes- und Sozialwissenschaften Pflegesituationen wahrzunehmen und zu reflektieren sowie Veränderungen der Pflegesituationen zu erkennen und adäquat zu reagieren; ● unter Berücksichtigung der Entstehungsursachen aus Krankheit, Unfall, Behinderung oder im Zusammenhang mit Lebens- und Entwicklungsphasen den daraus resultierenden Pflegebedarf, den Bedarf an Gesundheitsvorsorge und Beratung festzustellen; ● den Pflegebedarf unter Berücksichtigung sachlicher, personenbezogener und situativer Erfordernisse zu ermitteln und zu begründen; ● ihr Pflegehandeln nach dem Pflegeprozess zu gestalten.

2. Pflegemaßnahmen auswählen, durchführen und auswerten

3. Unterstützung, Beratung und Anleitung in gesundheits- und pflegerelevanten Fragen fachkundig gewährleisten

4. Bei der Entwicklung und Umsetzung von Rehabilitationskonzepten mitwirken und diese in das Pflegehandeln integrieren 5. Pflegehandeln personenbezogen ausrichten

Die Schülerinnen und Schüler sind zu befähigen, pflegerische Interventionen in ihrer Zielsetzung, Art und Dauer am Pflegebedarf auszurichten; ● die unmittelbare vitale Gefährdung, den akuten oder chronischen Zustand bei einzelnen oder mehreren Erkrankungen, bei Behinderungen, Schädigungen sowie physischen und psychischen Einschränkungen und in der Endphase des Lebens bei pflegerischen Interventionen entsprechend zu berücksichtigen; ● die Pflegemaßnahmen im Rahmen der pflegerischen Beziehung mit einer entsprechenden Interaktion und Kommunikation alters- und entwicklungsgerecht durchzuführen; ● bei der Planung, Auswahl und Durchführung der pflegerischen Maßnahmen den jeweiligen Hintergrund des stationären, teilstationären, ambulanten oder weiteren Versorgungsbereichs mit einzubeziehen; ● den Erfolg pflegerischer Interventionen zu evaluieren und zielgerichtetes Handeln kontinuierlich an den sich verändernden Pflegebedarf anzupassen. ●

Die Schülerinnen und Schüler sind zu befähigen, Pflegebedürftige aller Altersgruppen bei der Bewältigung vital oder existenziell bedrohlicher Situationen, die aus Krankheit, Unfall, Behinderung oder im Zusammenhang mit Lebens- oder Entwicklungsphasen entstehen, zu unterstützen; ● zu Maßnahmen der Gesundheitsvorsorge, zur Erhaltung, Förderung und Wiederherstellung von Gesundheit anzuregen und hierfür angemessene Hilfen und Begleitung anzubieten; ● Angehörige und Bezugspersonen zu beraten, anzuleiten und in das Pflegehandeln zu integrieren; ● die Überleitung von Patienten in andere Einrichtungen oder Bereiche in Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen kompetent durchzuführen sowie die Beratung für Patienten und Angehörige oder Bezugspersonen in diesem Zusammenhang sicherzustellen. ●

Die Schülerinnen und Schüler sind zu befähigen, den Bedarf an pflegefachlichen Angeboten zur Erhaltung, Verbesserung und Wiedererlangung der Gesundheit systematisch zu ermitteln und hieraus zielgerichtetes Handeln abzuleiten; ● Betroffene in ihrer Selbstständigkeit zu fördern und sie zur gesellschaftlichen Teilhabe zu befähigen. ●

Die Schülerinnen und Schüler sind zu befähigen, in ihrem Pflegehandeln insbesondere das Selbstbestimmungsrecht und die individuelle Situation der zu pflegenden Personen zu berücksichtigen; ● in ihr Pflegehandeln das soziale Umfeld von zu pflegenden Personen einzubeziehen, ethnische, interkulturelle, religiöse und andere gruppenspezifische Aspekte sowie ethische Grundfragen zu beachten. ●

7

Professionelle Pflege

Tab. 1.2 Fortsetzung

1

Themenbereich

Befähigungsziele

6. Pflegehandeln an pflegewissenschaftlichen Erkenntnissen ausrichten



7. Pflegehandeln an Qualitätskriterien, rechtlichen Rahmenbestimmungen sowie wirtschaftlichen und ökologischen Prinzipien ausrichten

8. Bei der medizinischen Diagnostik und Therapie mitwirken

Die Schülerinnen und Schüler sind zu befähigen, sich einen Zugang zu den pflegewissenschaftlichen Verfahren, Methoden und Forschungsergebnissen zu verschaffen; ● Pflegehandeln mithilfe von pflegetheoretischen Konzepten zu erklären, kritisch zu reflektieren und die Themenbereiche auf den Kenntnisstand der Pflegewissenschaft zu beziehen; ● Forschungsergebnisse in Qualitätsstandards zu integrieren. Die Schülerinnen und Schüler sind zu befähigen, an der Entwicklung und Umsetzung von Qualitätskonzepten mitzuwirken; ● rechtliche Rahmenbestimmungen zu reflektieren und diese bei ihrem Pflegehandeln zu berücksichtigen; ● Verantwortung für Entwicklungen im Gesundheitssystem im Sinne von Effektivität und Effizienz mitzutragen; ● mit materiellen und personalen Ressourcen ökonomisch und ökologisch umzugehen. ●

Die Schülerinnen und Schüler sind zu befähigen, in Zusammenarbeit mit Ärzten sowie den Angehörigen anderer Gesundheitsberufe die für die jeweiligen medizinischen Maßnahmen erforderlichen Vor- und Nachbereitungen zu treffen und bei der Durchführung der Maßnahmen mitzuwirken; ● Patienten bei Maßnahmen der medizinischen Diagnostik und Therapie zu unterstützen; ● ärztlich veranlasste Maßnahmen im Pflegekontext eigenständig durchzuführen und die dabei relevanten rechtlichen Aspekte zu berücksichtigen. ●

Die Schülerinnen und Schüler sind zu befähigen, in akuten Notfallsituationen adäquat zu handeln; ● in Katastrophensituationen Erste Hilfe zu leisten und mitzuwirken.

9. Lebenserhaltende Sofortmaßnahmen bis zum Eintreffen des Arztes einleiten



10. Berufliches Selbstverständnis entwickeln und lernen, berufliche Anforderungen zu bewältigen



11. Auf die Entwicklung des Pflegeberufs im gesellschaftlichen Kontext Einfluss nehmen



12. In Gruppen und Teams zusammenarbeiten

Die Schülerinnen und Schüler sind zu befähigen, den Pflegeberuf im Kontext der Gesundheitsfachberufe zu positionieren; ● sich kritisch mit dem Beruf auseinanderzusetzen; ● zur eigenen Gesundheitsvorsorge beizutragen; ● mit Krisen- und Konfliktsituationen konstruktiv umzugehen. Die Schülerinnen und Schüler sind zu befähigen, Entwicklungen im Gesundheitswesen wahrzunehmen, deren Folgen für den Pflegeberuf einzuschätzen und sich in die Diskussion einzubringen; ● den Pflegeberuf in seiner Eigenständigkeit zu verstehen, danach zu handeln und weiterzuentwickeln; ● die eigene Ausbildung kritisch zu betrachten sowie Eigeninitiative und Verantwortung für das eigene Lernen zu übernehmen. Die Schülerinnen und Schüler sind zu befähigen, pflegerische Erfordernisse in einem intra- sowie in einem interdisziplinären Team zu erklären, angemessen und sicher zu vertreten sowie an der Aushandlung gemeinsamer Behandlungs- und Betreuungskonzepte mitzuwirken; ● die Grenzen des eigenen Verantwortungsbereichs zu beachten und im Bedarfsfall die Unterstützung und Mitwirkung durch andere Experten im Gesundheitswesen einzufordern und zu organisieren; ● im Rahmen von Konzepten der integrierten Versorgung mitzuarbeiten. ●

Innerhalb dieser Themenbereiche sind jeweils verschiedene fachliche Wissensgrundlagen zu vermitteln. Bei der Planung des Unterrichtes sind diese den einzelnen Themenbereichen zuzuordnen.

Prüfung

Tab. 1.3 Wissensgrundlagen (nach Anlage 1A der KrPflAPrV). Wissensgrundlage

Stunden

Kenntnisse der Gesundheits- und Krankenpflege, der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege sowie der Pflege- und Gesundheitswissenschaften

950

pflegerelevante Kenntnisse der Naturwissenschaften

500

pflegerelevante Kenntnisse der Geistes- und Sozialwissenschaften

300

pflegerelevante Kenntnisse aus Recht, Politik und Wirtschaft

150

zur Verteilung

200

Stundenzahl insgesamt

2100

Im Rahmen des Unterrichts entfallen 500 Stunden auf die Differenzierungsphase in Gesundheits- und Krankenpflege oder Gesundheits- und Kinderkrankenpflege.

38

▶ Schriftliche Prüfung (§ 13). Sie beinhaltet folgende Themenbereiche (TB): ● TB 1 – Pflegesituationen bei Menschen aller Altersgruppen erkennen, erfassen und bewerten ● TB 2 – Pflegemaßnahmen auswählen, durchführen und auswerten ● TB 6 – Pflegehandeln an pflegewissenschaftlichen Erkenntnissen ausrichten ● TB 7 – Pflegehandeln an Qualitätskriterien, rechtlichen Rahmenbestimmungen sowie wirtschaftlichen und ökologischen Prinzipien ausrichten

1.6 Pflegeausbildung

Tab. 1.4 Praktische Ausbildung (nach Anlage 1B der KrPflAPrV). Bereich

1

Stunden

I. Allgemeiner Bereich 1. Gesundheits- und Krankenpflege von Menschen aller Altersgruppen in der stationären Versorgung in kurativen Gebieten in den Fächern Innere Medizin, Geriatrie, Neurologie, Chirurgie, Gynäkologie, Pädiatrie, Wochen- und Neugeborenenpflege sowie in mindestens zwei dieser Fächer in rehabilitativen und palliativen Gebieten.

800

2. Gesundheits- und Krankenpflege von Menschen aller Altersgruppen in der ambulanten Versorgung in präventiven, kurativen, rehabilitativen und palliativen Gebieten.

500

II. Differenzierungsbereich 1. Gesundheits- und Krankenpflege: stationäre Pflege in den Fächern Innere Medizin, Chirurgie, Psychiatrie oder 2. Gesundheits- und Kinderkrankenpflege: stationäre Pflege in den Fächern Pädiatrie, Neonatologie, Kinderchirurgie, Neuropädiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie.

700

III. Zur Verteilung auf die Bereiche I. und II.

500

Stundenzahl insgesamt

2500

▶ Mündliche Prüfung (§ 14). Für den mündlichen Teil sind jeweils mind. 10 bis max. 15 Minuten pro Prüfung in folgenden Themenbereichen vorgesehen: ● TB 3 – Unterstützung, Beratung und Anleitung in gesundheits- und pflegerelevanten Fragen fachkundig gewährleisten ● TB 8 – bei der medizinischen Diagnostik und Therapie mitwirken und TB 12 in Gruppen und Teams zusammenarbeiten ● TB 10 – berufliches Selbstverständnis entwickeln und lernen, berufliche Anforderungen zu bewältigen ▶ Praktische Prüfung (§ 15). § 15 regelt den praktischen Teil der Prüfung, in der eine prozessorientierte Pflege, einschließlich der Dokumentation und Übergabe einer Patientengruppe von höchstens 4 Patienten, vorgesehen ist. Die Prüfungssituation ist in einem anschließenden Prüfungsgespräch zu reflektieren. Dabei soll der Prüfling sein Handeln erläutern und begründen. Die Prüfung soll i. d. R. in 6 Stunden abgeschlossen sein (kann auf 2 aufeinanderfolgende Tage verteilt werden).

1.6.3 Reform der Pflegeausbildung Durch das neue Pflegeberufegesetz (PflBRefG) werden ab dem 1. Januar 2020 die im Krankenpflegesetz und Altenpflegegesetz bisher getrennt geregelten Kranken-, Kinderkranken- und Altenpflegeausbildungen zusammengeführt – ein neues Berufsbild entsteht. Ziel ist es, eine attraktive und qualitativ hochwertige Pflegeausbildung, orientiert an den zukünftigen Anforderungen und Entwicklungen im Pflegebereich, zu gestalten. Erstmals werden Vorbehaltsaufgaben für den Pflegebereich definiert, die nur Pflegekräfte

mit einer Ausbildung nach dem PflBRefG ausführen dürfen. Durch die Reform der Ausbildung soll der Pflegeberuf aufgewertet und den Pflegenden in Deutschland mehr Anerkennung gezollt werden. Gleichzeitig soll dem Fachkräftemangel gegengesteuert und ein universeller Einsatz möglich werden. Es können verschiedene Qualifizierungswege gewählt werden einhergehend mit verschiedenen Berufsbezeichnungen. Alle Auszubildenden erhalten zunächst eine zweijährige gemeinsame, generalistische Ausbildung. Danach können folgende Ausbildungswege beschritten werden: ● die Weiterführung der generalistisch ausgerichteten Ausbildung mit der Berufsbezeichnung „Pflegefachfrau“/„Pflegefachmann“ nach erfolgreichem Abschluss oder ● die Schwerpunktsetzung in einer Spezialisierungsphase im dritten Ausbildungsjahr in der Versorgung von Kindern und Jugendlichen oder in der Pflege von alten Menschen mit dem gesonderten Abschluss „Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger/in“ oder „Altenpfleger/in“ Ergänzend wird ein berufsqualifizierendes Pflegestudium etabliert mit dem Abschluss „Pflegefachfrau“/„Pflegefachmann“ und zusätzlicher Verleihung des akademischen Grades. Gesetzliche Regelungen, Diskussionen und aktuelle Entwicklungen zum neuen Pflegeberufegesetz sind in der Fachwelt und in den Medien zu verfolgen. Im vorliegenden Pflegefachbuch werden in der Übergangsphase die bisherige Berufsbezeichnung „Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger/-in“ und die Begriffe Pflegefachkraft bzw. „Fachkraft für Gesundheits- und Kinderkrankenpflege“ verwendet.

1.6.4 Berufskompetenzen Die individuelle Pflege eines Menschen erfordert Fähigkeiten und Fertigkeiten, fachliches Wissen flexibel einsetzen zu können. Um die Bedürfnisse und Ressourcen des Pflegebedürftigen berücksichtigen zu können, bedarf es damit der Reflexion situativer Einflussfaktoren. Das bedeutet für die Ausbildung zum/zur Gesundheitsund Kinderkrankenpfleger/-in die Notwendigkeit einer frühzeitigen Herausbildung der eigenverantwortlichen Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit. Die Ausübung der beruflichen Pflegetätigkeit erfordert neben einer Fach- und Methodenkompetenz somit auch Fähigkeiten im Umgang mit anderen Menschen und zur Selbstreflexion.

Kompetenzbereiche Folgende Kompetenzbereiche sind im KrPflG (§ 3 Abs. 1) benannt und können unterschieden werden: ● fachliche Kompetenz ● methodische Kompetenz ● soziale Kompetenz ● personale Kompetenz Um eigenverantwortlich handeln zu können, sind Sicherheit in fachlichen Anforderungen und methodische Flexibilität, d. h. Wissen um verschiedene Handlungswege, Voraussetzung. Hinzu kommt die Bereitschaft zur Weiterentwicklung der Interaktionsfähigkeit mit anderen Menschen und der Fähigkeit, das eigene Handeln zu reflektieren. ▶ Fachkompetenz. Sie beinhaltet spezifische berufliche Fähigkeiten und Kenntnisse, die je nach Pflegesituation flexibel eingesetzt werden. Hierzu zählt u. a. die Erfassung der Patientensituation durch gezielte Beobachtung oder die fach- und sachgerechte Durchführung der notwen-

9

Professionelle Pflege digen Pflegemaßnahmen. Als Basis dienen aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse der Pflege- und Bezugswissenschaften.

1

▶ Methodenkompetenz. Hierunter wird die Fähigkeit verstanden, in speziellen Situationen die Art und Weise des Vorgehens anpassen zu können. In Kombination mit Fachkompetenz kann der Pflegeprozess als Problemlösungsmethode die notwendige Pflege an den individuellen Pflegebedarf des Patienten ermitteln und anpassen. ▶ Sozialkompetenz. Durch den Kontakt zu anderen Menschen ist die Sozialkompetenz von besonderer Bedeutung. Sie beinhaltet Fähigkeiten im täglichen Umgang mit anderen Menschen. Die Sozialkompetenz umfasst den Bereich der Kommunikation, z. B. Beratung oder Anleitung von Patienten und deren Angehörigen oder das Erlernen eigener Verhaltensweisen in Konfliktsituationen. Die Fähigkeit zur Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen oder im eigenen Pflegeteam gehört ebenfalls zur Sozialkompetenz. Diese zeigt sich u. a. in einer konstruktiven Konflikt- und Kritikfähigkeit sowie in der Argumentationsfähigkeit. Weiterhin zählt zur Sozialkompetenz die Fähigkeit zur Empathie. Hiermit ist das Einfühlungsvermögen in das Erleben einer Situation eines anderen Menschen gemeint. ▶ Personale Kompetenz. Die Bereitschaft zur Reflexion der eigenen Person ist in der personalen Kompetenz enthalten. Zu dem genannten Kompetenzbereich gehören die Motivation zur Entwicklung der eigenen Persönlichkeit, die Aktualisierung des Wissensstandes, die Reflexion der eigenen Einstellungen, des beruflichen Handelns und das Verantwortungsbewusstsein für das eigene Tun.

Kompetenzentwicklung Bereits während der Ausbildung werden hohe Anforderungen an Pflegende gestellt. Von Pflegenden wird erwartet, dass sie sich neues Wissen selbstständig aneignen, um die Patienten adäquat betreuen und versorgen zu können. Daher ist die Förderung der Eigenverantwortlichkeit innerhalb der Lernprozesse von großer Bedeutung, um spezielles Fachwissen dem aktuellen Stand der Wissenschaft anzupassen. Der Erwerb von Kompetenzen wird nicht mit der Grundausbildung abgeschlossen, sondern entwickelt sich kontinuierlich weiter. Nach der amerikanischen Pflegewissenschaftlerin Patricia Brenner werden 5 Ebenen des Erwerbs und der Entwicklung von Fähigkeiten beschrieben (Benner 2012):

40

Tab. 1.5 Stufen der Pflegekompetenz (nach Benner 2012). Stufe

Kompetenz

1. Neuling



feste Regeln und konkrete Vorgaben sind für die Bewältigung einer Situation erforderlich

2. fortgeschrittene/r Anfänger/-in



Aspekte einer Situation werden erfasst Pflegeperson verfügt bereits über Erfahrungen

3. kompetente Pflegende







4. erfahrene Pflegende

● ● ●

5. Pflegeexperte/ Pflegeexpertin





starkes Bewusstsein und überlegte Planung für gegenwärtige und zukünftige Situationen wichtige Aspekte können von unwichtigen unterschieden werden bedeutsame Aspekte werden erkannt gesamte Situation kann erfasst werden Zusammenhänge sind klar enormer Erfahrungshintergrund ermöglicht intuitives Verstehen der Situation direkte, sichere Problembewältigung erfolgt

1. Novice (Anfänger) 2. Advanced Beginner (fortgeschrittene Anfänger) 3. Competent (fachlich kompetente Berufsangehörige) 4. Proficient (erfahrene Berufsangehörige) 5. Expert (Experte) Die Ebenen verdeutlichen eine Entwicklung in der Ausübung von Fähigkeiten; weg von abstrakten Regeln und Prinzipien hin zur Anwendung eigener Erfahrungen. Der Lernende nimmt zu Beginn eine Situation noch nicht komplex wahr, sondern sieht mehr die Einzelaspekte. Auch ist die Konzentration beim Anfänger noch auf den Ablauf der auszuführenden Tätigkeit begrenzt. In ihrer Arbeit „From Novice to Expert“ stellt Brenner die sog. Stufen der Pflegekompetenz dar (▶ Tab. 1.5).

Merke

H ●

Die Aneignung von Kompetenzen endet nicht mit der Berufsausbildung. Deren Ausbildung erstreckt sich über die gesamte Berufstätigkeit bzw. das gesamte Leben eines Menschen.

1.7 Modelle von Gesundheit und Krankheit Die Begriffe „Gesundheit“ und „Krankheit“ werden oft unterschiedlich interpretiert. Einige Möglichkeiten sollen hier betrachtet werden.

Definition

L ●

Die WHO beschreibt 1948 Gesundheit als einen „Zustand des völligen körperlichen, psychischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit oder Gebrechen.“

Die o. g. Definition entstand in einer Zeit, in der versucht wurde, den Menschen als eine ganzheitliche Person wahrzunehmen. Es erscheint als ein hoher Anspruch, einen absoluten Zustand des Wohlbefindens erreichen zu müssen, um als gesund zu gelten. Es ist problematisch, eine Trennung zwischen Gesundheit und Krankheit vorzunehmen, da die Befindlichkeit jedes Einzelnen subjektiv ist. Beeinflusst wird diese subjektive Befindlichkeit von vorherrschenden Einstellungen, die auch durch die Gesellschaft und die Kultur des Landes, in dem ein Mensch lebt, mitgeprägt sind. Die geschichtliche Entwicklung spielt ebenso eine Rolle wie der wissenschaftliche Fortschritt, der immer mehr Möglichkeiten der Behandlung bietet. Eine Definition von Gesundheit kann letztlich nur durch jeden Einzelnen selbst erfolgen. Das geschieht aufgrund der Erwartungen, des Grades des individuellen Wohlbefindens und der Zufriedenheit. Somit ist es also denkbar, dass jemand, der eine körperliche oder geistige Beeinträchtigung oder eine Krankheit hat, sich trotzdem wohlund somit gesund fühlt, obwohl ein Außenstehender dies nicht für möglich halten würde. Ebenso ist es vorstellbar, dass jemand, der keine Anzeichen physischer Krankheit zeigt, sich unwohlfühlt und sich somit als „nicht gesund“ bezeichnet.

Professionelle Pflege digen Pflegemaßnahmen. Als Basis dienen aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse der Pflege- und Bezugswissenschaften.

1

▶ Methodenkompetenz. Hierunter wird die Fähigkeit verstanden, in speziellen Situationen die Art und Weise des Vorgehens anpassen zu können. In Kombination mit Fachkompetenz kann der Pflegeprozess als Problemlösungsmethode die notwendige Pflege an den individuellen Pflegebedarf des Patienten ermitteln und anpassen. ▶ Sozialkompetenz. Durch den Kontakt zu anderen Menschen ist die Sozialkompetenz von besonderer Bedeutung. Sie beinhaltet Fähigkeiten im täglichen Umgang mit anderen Menschen. Die Sozialkompetenz umfasst den Bereich der Kommunikation, z. B. Beratung oder Anleitung von Patienten und deren Angehörigen oder das Erlernen eigener Verhaltensweisen in Konfliktsituationen. Die Fähigkeit zur Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen oder im eigenen Pflegeteam gehört ebenfalls zur Sozialkompetenz. Diese zeigt sich u. a. in einer konstruktiven Konflikt- und Kritikfähigkeit sowie in der Argumentationsfähigkeit. Weiterhin zählt zur Sozialkompetenz die Fähigkeit zur Empathie. Hiermit ist das Einfühlungsvermögen in das Erleben einer Situation eines anderen Menschen gemeint. ▶ Personale Kompetenz. Die Bereitschaft zur Reflexion der eigenen Person ist in der personalen Kompetenz enthalten. Zu dem genannten Kompetenzbereich gehören die Motivation zur Entwicklung der eigenen Persönlichkeit, die Aktualisierung des Wissensstandes, die Reflexion der eigenen Einstellungen, des beruflichen Handelns und das Verantwortungsbewusstsein für das eigene Tun.

Kompetenzentwicklung Bereits während der Ausbildung werden hohe Anforderungen an Pflegende gestellt. Von Pflegenden wird erwartet, dass sie sich neues Wissen selbstständig aneignen, um die Patienten adäquat betreuen und versorgen zu können. Daher ist die Förderung der Eigenverantwortlichkeit innerhalb der Lernprozesse von großer Bedeutung, um spezielles Fachwissen dem aktuellen Stand der Wissenschaft anzupassen. Der Erwerb von Kompetenzen wird nicht mit der Grundausbildung abgeschlossen, sondern entwickelt sich kontinuierlich weiter. Nach der amerikanischen Pflegewissenschaftlerin Patricia Brenner werden 5 Ebenen des Erwerbs und der Entwicklung von Fähigkeiten beschrieben (Benner 2012):

40

Tab. 1.5 Stufen der Pflegekompetenz (nach Benner 2012). Stufe

Kompetenz

1. Neuling



feste Regeln und konkrete Vorgaben sind für die Bewältigung einer Situation erforderlich

2. fortgeschrittene/r Anfänger/-in



Aspekte einer Situation werden erfasst Pflegeperson verfügt bereits über Erfahrungen

3. kompetente Pflegende







4. erfahrene Pflegende

● ● ●

5. Pflegeexperte/ Pflegeexpertin





starkes Bewusstsein und überlegte Planung für gegenwärtige und zukünftige Situationen wichtige Aspekte können von unwichtigen unterschieden werden bedeutsame Aspekte werden erkannt gesamte Situation kann erfasst werden Zusammenhänge sind klar enormer Erfahrungshintergrund ermöglicht intuitives Verstehen der Situation direkte, sichere Problembewältigung erfolgt

1. Novice (Anfänger) 2. Advanced Beginner (fortgeschrittene Anfänger) 3. Competent (fachlich kompetente Berufsangehörige) 4. Proficient (erfahrene Berufsangehörige) 5. Expert (Experte) Die Ebenen verdeutlichen eine Entwicklung in der Ausübung von Fähigkeiten; weg von abstrakten Regeln und Prinzipien hin zur Anwendung eigener Erfahrungen. Der Lernende nimmt zu Beginn eine Situation noch nicht komplex wahr, sondern sieht mehr die Einzelaspekte. Auch ist die Konzentration beim Anfänger noch auf den Ablauf der auszuführenden Tätigkeit begrenzt. In ihrer Arbeit „From Novice to Expert“ stellt Brenner die sog. Stufen der Pflegekompetenz dar (▶ Tab. 1.5).

Merke

H ●

Die Aneignung von Kompetenzen endet nicht mit der Berufsausbildung. Deren Ausbildung erstreckt sich über die gesamte Berufstätigkeit bzw. das gesamte Leben eines Menschen.

1.7 Modelle von Gesundheit und Krankheit Die Begriffe „Gesundheit“ und „Krankheit“ werden oft unterschiedlich interpretiert. Einige Möglichkeiten sollen hier betrachtet werden.

Definition

L ●

Die WHO beschreibt 1948 Gesundheit als einen „Zustand des völligen körperlichen, psychischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit oder Gebrechen.“

Die o. g. Definition entstand in einer Zeit, in der versucht wurde, den Menschen als eine ganzheitliche Person wahrzunehmen. Es erscheint als ein hoher Anspruch, einen absoluten Zustand des Wohlbefindens erreichen zu müssen, um als gesund zu gelten. Es ist problematisch, eine Trennung zwischen Gesundheit und Krankheit vorzunehmen, da die Befindlichkeit jedes Einzelnen subjektiv ist. Beeinflusst wird diese subjektive Befindlichkeit von vorherrschenden Einstellungen, die auch durch die Gesellschaft und die Kultur des Landes, in dem ein Mensch lebt, mitgeprägt sind. Die geschichtliche Entwicklung spielt ebenso eine Rolle wie der wissenschaftliche Fortschritt, der immer mehr Möglichkeiten der Behandlung bietet. Eine Definition von Gesundheit kann letztlich nur durch jeden Einzelnen selbst erfolgen. Das geschieht aufgrund der Erwartungen, des Grades des individuellen Wohlbefindens und der Zufriedenheit. Somit ist es also denkbar, dass jemand, der eine körperliche oder geistige Beeinträchtigung oder eine Krankheit hat, sich trotzdem wohlund somit gesund fühlt, obwohl ein Außenstehender dies nicht für möglich halten würde. Ebenso ist es vorstellbar, dass jemand, der keine Anzeichen physischer Krankheit zeigt, sich unwohlfühlt und sich somit als „nicht gesund“ bezeichnet.

1.7 Modelle von Gesundheit und Krankheit

Ernährung

Genetik

nese toge Salu

Genussmittel (Alkohol, Koffein, Nikotin)

Ruhe und Schlaf finanzielle Ressourcen

Gesundheit

Bewegung

Was

hält Menschen

gesund? Lebenssinn, Religion

soziale Beziehungen

Arbeitsbedingungen

1

nese oge Path Was

macht Menschen

Umwelt

Lebensfreude

krank?

Abb. 1.3 Gesundheit. Sie wird von vielen Faktoren beeinflusst. Abb. 1.4 Salutogenese und Pathogenese. Wie entstehen Gesundheit und Krankheit?

Der Übergang von Gesundheit zu Krankheit und umgekehrt ist als Prozess zu sehen, der häufig nicht schlagartig stattfindet. Eine klare Grenze kann nicht festgelegt werden, die Übergänge sind fließend zu sehen. Je nach Betrachtungsweise gibt es daher unterschiedliche Definitionen von Krankheit.

Definition

L ●

Unter Krankheit versteht man „[...] im weiteren Sinne: Fehlen von Gesundheit; im engeren Sinne: Vorhandensein von subjektiv empfundenen bzw. objektiv feststellbaren körperlichen, geistigen bzw. seelischen Veränderungen bzw. Störungen [...]“ (Pschyrembel, 2010).

Früher wurde Krankheit als übernatürliches Phänomen in Verbindung mit bösen Geistern gebracht. Dementsprechend wurde versucht, die Heilung durch Austreibung der bösen Geister zu erreichen. Dies geschah mittels Zauberei oder religiöser Riten, z. B. mit Opfergaben. Erst als der menschliche Körper anatomisch und physiologisch erforscht wurde, erfolgte ein Umdenken. Heute ist bekannt, dass es mehrere Faktoren sind, die die Entstehung einer Krankheit begünstigen. Psychische, geschlechtliche, erbliche, altersbedingte, soziale, ökonomische, berufliche, kulturelle, umgebungsabhängige Faktoren (z. B. Umwelt) und der individuelle Lebensstil beeinflussen den Gesundheitszustand eines Menschen (▶ Abb. 1.3). Heute wird Krankheit oft unter wirtschaftlichen Aspekten gesehen, die mit Leistungsausfall und Kosten für das Sozialgefüge in Verbindung gebracht werden. In ihrem Konzept „Gesundheit 2000“ forderte die WHO Ende der 1970er-Jahre für

alle Menschen der Welt „das Erreichen eines Gesundheitsniveaus, das ihnen erlaubt, ein sozial und wirtschaftlich produktives Leben zu führen“. Das daraus abgeleitete europäische Regionalprogramm befasst sich daher in erster Linie mit Problemen der Industriegesellschaft und erstreckt sich auf folgende 3 Hauptgebiete: ● Förderung gesundheitsdienlicher Lebensweisen ● Eindämmung von Externrisiken, z. B. Umweltschutz ● Bereitstellung einer ausreichenden, für alle zugänglichen und annehmbaren Gesundheitsversorgung

1.7.1 Salutogenese Aaron Antonovsky (1923 – 1994), amerikanisch-israelischer Medizinsoziologe und Stressforscher, entwickelte 1970 den Begriff der Salutogenese. Sein sog. Salutogenese-Modell stellte er 1987 vor. ▶ Gesundheitsentstehung. Der Begriff Salutogenese setzt sich zusammen aus den lateinischen Begriffen „salus“ (gesund) und „genese“ (Entstehung). Im Gegensatz zur Pathogenese, die nach den Ursachen für die Entstehung einer Erkrankung fragt, betrachtet die Salutogenese den Aspekt der Entstehung bzw. den Ursprung der Gesundheit (▶ Abb. 1.4). Damit wird Gesundheit in der Salutogenese als Prozess und nicht als Zustand definiert. ▶ Kohärenzgefühl. Als ein wichtiger beeinflussender Faktor wird das Kohärenzgefühl oder der Kohärenzsinn gesehen. Das Kohärenzgefühl steht in einem engen Zusammenhang mit der Persönlichkeit eines Menschen und damit seiner Grundeinstellung zum Leben. Es könnte mit einem Gefühl der Zuversicht oder Hoffnung beschrieben werden. Ein optimistischer Mensch versucht, die positiven As-

pekte in den Vordergrund zu stellen, um auch schwierige Situationen im Leben zu bewältigen. Menschen, die ihr Leben als sinnvoll einschätzen, sind eher bereit, sich Herausforderungen zu stellen. ▶ Widerstandsressourcen. Je nachdem wie ein Mensch auf körperliche und seelische Belastungen reagiert und damit umzugehen lernt, beeinflusst dieser Umgang mit Stressfaktoren und Spannungszuständen seine Gesundheit. Hierbei sind sog. Widerstandsressourcen hilfreich. Antonovsky meint hiermit z. B. die körperliche Verfassung oder das soziale Umfeld eines Menschen. Diese werden auch als Protektivfaktoren (Beschützerfaktoren) bezeichnet. Das Gesundheits-KrankheitsKontinuum steht für den fortlaufenden Prozess zwischen Gesundheit und Krankheit (▶ Abb. 1.5). Für Antonovsky kann kein Mensch absolut krank oder gesund sein. Der jeweilige Gegenpol ist immer, und sei es in einem minimalsten Anteil, vorhanden.

Merke

H ●

Beim salutogenetischen Denkansatz wird nach Schutzfaktoren gesucht, die es ermöglichen, auch unter Gesundheitsrisiken (z. B. Stress) physisch und psychisch gesund zu bleiben.

▶ Resilienz. Aufbauend auf dem Konzept der Salutogenese lässt sich Resilienz beleuchten. Mit Resilienz ist die psychische Widerstandskraft eines Menschen gemeint. Sind Menschen gleichen bzw. ähnlichen Belastungen und Risikofaktoren ausgesetzt, lässt sich beobachten, dass einige krank werden, andere jedoch gesund bleiben. Die Resilienzforschung versucht ausschlaggebende Fähigkeiten des Men-

1

Professionelle Pflege

1

schen zu identifizieren, welche dieses Phänomen erklären könnten. Daraus lassen sich ggf. allgemeine positive Bewältigungsstrategien ableiten, um die Gesundheit von Menschen gezielt zu fördern.

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Gesundheitsfaktoren

Kra

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Risikofaktoren

Abb. 1.5 Gesundheits-Krankheits-Kontinuum. Die Übergänge zwischen Gesundheit und Krankheit sind fließend.

42

1.7.2 Pflegemodell nach Roper et al.: Gesundheit/ Krankheit Das diesem Buch zugrunde liegende Pflegemodell von Roper et al. nimmt keine eigene Definition der Begriffe Gesundheit und Krankheit vor. Es wird z. B. die Veränderung in der Rolle und dem Status eines Menschen durch die Erkrankung beschrieben. Hier sind Wegfall von Verpflichtungen und Aufgaben der Gesellschaft an einen kranken Menschen zu nennen, z. B. gesetzliche Regelungen zur Arbeitsbefreiung.

Kapitel 2 Ethik in der Pflege

2.1

Was ist Ethik?

44

2.2

Moral

44

2.3

Normen und Werte

44

2.4

Formen der Ethik

46

2.5

Menschenbilder

47

2.6

Menschenrechte

47

2.7

Pflegeethik

48

2.8

Kultursensible Pflege

49

Ethik in der Pflege

2 Ethik in der Pflege Diana Nowak

2.1 Was ist Ethik? 2

Ethik (gr. ethos) ist eine wissenschaftliche Disziplin der Philosophie. Sie sucht nach verantwortungsvollen Handlungsmöglichkeiten unter den Bedingungen einer konkreten Situation: ● Wie soll ich mich verhalten? ● Was soll ich tun? Ethik ist keine Religion, sie steht aber in enger Beziehung zu religiösen Werten und Normen.

Definition

L ●

„Ethik ist die ,Lehre vom sittlichen Wollen und Handeln des Menschen in verschiedenen Lebenssituationen [...]‘. Ethik beschreibt ,Normen und Maximen der Lebensführung, die sich aus der Verantwortung gegenüber anderen herleiten‘“ (Duden, Fremdwörterbuch 2015).

Ethik beschreibt, beeinflusst und beurteilt die Absichten und das Handeln von Menschen. Sie gibt keine allgemeinen Vorschriften, wie gute Absichten und richtiges Handeln auszusehen haben. Dieses ist jeweils in den konkreten Situationen zu reflektieren. Ethik gibt aber eine Hilfestellung zur Entscheidung, wie gehandelt werden kann bzw. wie eine Handlung zu beurteilen ist. Hierzu werden auch Werte und Normen reflektiert.

2.2 Moral Ursprünglich wurden die Begriffe Ethik und Moral (lat. mos) gleichbedeutend verwendet. In der neuzeitlichen Philosophie werden die beiden Begriffe jedoch unterschieden. Mit Moral werden die bestehenden verbindlichen Normen und Werte einer Gesellschaft bezeichnet. Als übergeordnete Wissenschaft der Moral wird die Ethik auch als Moralphilosophie bezeichnet. Sie bewertet z. B. Handlungen als moralisch oder unmoralisch.

Definition

L ●

Moral bezeichnet das sittliche Verhalten eines Einzelnen oder einer Gruppe (Duden, Fremdwörterbuch 2015).

Die moralische Beurteilung des Verhaltens ist abhängig von gesellschaftlichen Normen und Werten (S. 44), also davon, was

44

in der Gesellschaft als gut und richtig bzw. als schlecht und verboten angesehen wird. Die moralische Beurteilung wird von der jeweiligen Kultur beeinflusst, in der ein Mensch lebt. Eine positiv bewertete moralische Eigenschaft wird Tugend genannt. Hierzu zählen z. B. bei Platon die 4 Tugenden Gerechtigkeit, Weisheit, Tapferkeit und Besonnenheit, im christlichen Glauben u. a. Demut, Mäßigkeit, Geduld und Keuschheit. Die kognitive, affektive und psychomotorische Entwicklung eines Menschen hat Einfluss auf die Fähigkeit, moralisch zu handeln und zu urteilen. Diese wird wiederum u. a. von der kulturellen und sozialen Umwelt, der Erziehung, Bildung und den Erfahrungen beeinflusst (S. 44). Ein moralisches Verhalten erfolgt somit auch auf der Basis der individuellen, reflektierten Entscheidungsfähigkeit einer Person. Die Ebenen einer moralischen Entwicklung sind laut Lawrence Kohlberg, einem amerikanischen Psychologen und Philosophen, in 6 kognitive Entwicklungsstadien zu unterteilen. Sein Stufenmodell entwickelte er in den 1960er-Jahren aufgrund moralbezogener Argumentationen von Versuchspersonen, die ihre Meinung zu einem vorgegebenen moralischen Dilemma, d. h. dem Konflikt zwischen zwei moralischen Normen, äußern sollten. Bei dem sog. Heinz-Dilemma ging es um die todkranke Ehefrau von Heinz, deren Heilung durch ein neues teures Medikament möglich gewesen wäre. Heinz konnte das Geld hierfür nicht aufbringen und der Apotheker war nicht bereit, ihm das Medikament günstiger (z. B. zum Selbstkostenpreis) zu überlassen. Darauf-

hin stahl Heinz das Medikament für seine Frau. Zu dieser Situation stellte Kohlberg folgende Frage: „Durfte Heinz das Medikament stehlen und warum?“ Dabei interessierte er sich besonders für die Begründungen der Antworten und wodurch diese geleitet wurden. Aus den verschiedenen Orientierungen entwickelte er dann 3 Niveaus mit je 2 Stufen, in die sich die moralische Entwicklung einordnen lässt (▶ Tab. 2.1). Zum Modell von Kohlberg ist kritisch anzumerken, dass niemand immer auf einer erreichten moralischen Entwicklungsstufe reagieren wird, da neben kognitiven Aspekten auch weitere Faktoren (s. o.) unser moralisches Handeln beeinflussen. Damit ist es möglich, dass eine Person auch in einem kurzen Zeitabstand unterschiedlich differenziert reflektiert und reagiert.

2.3 Normen und Werte Definition

L ●

Mit Normen werden allgemeingültige Regeln und Leitlinien bezeichnet, die das moralische Handeln von Menschen leiten. Sie geben vor, welches Verhalten gut und richtig ist. Normen beziehen sich auf Werte, d. h. Vorstellungen der Menschen, welche Aspekte wichtig sind. Werte sind z. B. Gesundheit, Freiheit, Frieden, Familie oder Gerechtigkeit. Der Norm „Du sollst nicht töten“ liegt der Wert „Leben“ zugrunde.

Tab. 2.1 Stufenmodell nach L. Kohlberg (zit. nach Oerter u. Montada, 2008). Ebenen moralischer Entwicklung

Stufen

vormoralische oder vorkonventionelle Ebene = Orientierung an eigenem Wohlbefinden

Stufe 1: Orientierung an Bestrafung und Gehorsam = Gehorsamkeit, um Bestrafung zu vermeiden Stufe 2: Orientierung an den eigenen Bedürfnissen = Entscheidung soll dem eigenen Wohlbefinden dienen

konventionelle Ebene = Orientierung an Angehörigen, Freunden, an der bestehenden Gesellschaftsform

Stufe 3: Lösungssuche auf persönlich bekannte Personen beschränkt = eigenes Verhalten wird von der Einschätzung anderer bestimmt Stufe 4: Lösungssuche auf übergreifende Systeme wie Staat und Religionsgemeinschaft erweitert = Normen und Gesetze sind entscheidend

post-/nachkonventionelle oder autonome Ebene = Orientierung an Prinzipien

Stufe 5: Abwägung von Prinzipien zum Nutzen/zur Gerechtigkeit = Normen und Gesetze werden nicht mehr statisch gesehen, abweichende Orientierung ist möglich Stufe 6: allgemeingültige ethische Prinzipien zur Prüfung konkreter Entscheidungen = abstrakte ethische Prinzipien dienen zur Orientierung für die ethische Entscheidung

2.3 Normen und Werte Woher kommen Normen und Werte? In Märchen werden sie oft von Generation zu Generation weitergegeben. Hierzu ein Märchen der Brüder Grimm: Der alte Großvater und der Enkel Es war einmal ein steinalter Mann, dem waren die Augen trüb geworden, die Ohren taub, und die Knie zitterten ihm. Wenn er nun bei Tische saß und den Löffel kaum halten konnte, schüttete er Suppe auf das Tischtuch und es floss ihm auch etwas wieder aus dem Mund. Sein Sohn und dessen Frau ekelten sich davor, und deswegen musste sich der alte Großvater endlich hinter den Ofen in die Ecke setzen. Und sie gaben ihm sein Essen in ein irdenes Schüsselchen, und noch dazu nicht einmal satt. Da sah er betrübt nach dem Tisch und die Augen wurden ihm nass. Einmal auch konnten seine zittrigen Hände das Schüsselchen nicht festhalten, es fiel zur Erde und zerbrach. Die junge Frau schalt, er sagte nichts und seufzte nur. Da kaufte sie ihm ein hölzernes Schüsselchen für ein paar Heller, daraus musste er nun essen. Wie sie da so sitzen, so trägt der kleine Enkel von vier Jahren auf der Erde kleine Brettlein zusammen. „Was machst du da?“ fragte der Vater. „Ich mache ein Tröglein“, antwortete das Kind, „daraus sollen Vater und Mutter essen, wenn ich groß bin!“ Da sahen sich Mann und Frau eine Weile an, fingen endlich an zu weinen, holten sofort den alten Großvater an den Tisch und ließen ihn von nun an immer mitessen, sagten auch nichts, wenn er ein wenig verschüttete.

Lernaufgabe

M ●

Was ist bzw. bedeutet für Sie wertvoll? Inwiefern beeinflussen Sie diese Werte in Ihrem Leben?

Werte sind für uns das, was wir als wertvoll erachten, was wir in unserem Leben erreichen bzw. erhalten wollen. Es ist uns wichtig, es ist für unser Leben förderlich, gibt unserem Leben Sinn und macht es lebenswert. Normen entstehen aus dieser Motivation und dienen als Grundlage für eine Haltung und einer daraus abgeleiteten Handlung. Folgende Geschichte von Kurt Bucher (1980) zeigt unterschiedliche Wertvorstellungen, die zwei Menschen in einer Situation haben können: Haben oder sein? Ein Fischer sitzt am Strand und blickt auf das Meer, nachdem er die Ernte seiner mühseligen Ausfahrt auf den Markt gebracht hat (▶ Abb. 2.1). Warum er nicht einen Kredit aufnehme, fragt ihn ein Tourist, dann könne er einen Motor kaufen und das Doppelte fangen. Das brächte Geld für ei-

Lernaufgabe

M ●

Überlegen Sie Situationen, in denen Normen plötzlich eine andere Bewertung erhalten können!

2 2.3.1 Maxime Abb. 2.1 Haben oder sein? (Foto: AWP – stock.adobe.com)

nen Kutter und für einen zweiten Mann. Zweimal täglich auf den Fang hieße das Vierfache verdienen. Warum er eigentlich herumtrödle? Auch ein dritter Kutter wäre zu beschaffen; das Meer könnte viel besser ausgenutzt werden, ein Stand auf dem Markt, Angestellte, ein Fischrestaurant, eine Konservenfabrik – dem Touristen leuchteten die Augen. „Und dann?“ unterbricht ihn der Fischer. „Dann brauchen Sie gar nichts mehr zu tun. Dann können sie den ganzen Tag sitzen und glücklich auf Ihr Meer hinausblicken!“ – „Aber das tue ich doch jetzt schon!“ sagte darauf der Fischer. Als Prinzipien werden Normen zur abstrakten allgemein anerkannten Richtschnur, z. B. „Du sollst nicht stehlen“. Hiermit kann eine soziale Ordnung innerhalb einer Gesellschaft aufrechterhalten werden. Prinzipien dienen dem Einzelnen als Orientierung für die persönliche Lebensgestaltung. Sie entlasten von einer permanenten Reflexion von Gut und Böse, da sie bestimmte Maßstäbe vorgeben. Ethische Grundhaltungen sind auch in Gesetzen und Geboten zu finden, z. B.: ● Jeder Verkehrsteilnehmer hat sich so zu verhalten, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird (Straßenverkehrsordnung = StVO § 1, Abs. 2). ● Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst (christliches Gebot). In einer konkreten Situation kann es jedoch auch vorkommen, dass die Normen plötzlich einen anderen Stellenwert erhalten als sie zuvor hatten, dies zeigt folgendes Zitat von Wolfgang Borchert:

Als Maxime wird ein Leitsatz, ein Motto oder ein subjektiver Vorsatz für das eigene sittliche Handeln bezeichnet. Werden Normen und Werte durch eine Maxime verinnerlicht, steuern sie die Wahrnehmung und das Handeln der betreffenden Person. So z. B. der Leitsatz „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“, der der o. g. Geschichte „Haben oder sein?“ zugrunde liegen könnte. Immanuel Kant beschreibt zum Umgang mit einer Maxime den Begriff des kategorischen Imperativs: „Handle so, daß [sic] die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip [sic] einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne (Kant 1788).“ Menschen sollen demnach so vorgehen, dass ihr Handeln als allgemeingültiges Prinzip immer auch für andere Menschen wichtig und anwendbar erscheint.

2.3.2 Sprichwörter Sprichwörter sind Sätze, die Lebenserfahrungen ausdrücken und eine Anleitung zum richtigen Handeln beinhalten. Sie sind Weisheiten eines Volkes und dienen dazu, moralische Vorstellungen weiterzugeben. Als Maxime verstanden können sie das Handeln eines Menschen auch grundlegend beeinflussen. Sprichwörter geben differenzierte Ratschläge für unterschiedliche Lebenssituationen, basierend auf den jeweiligen gesammelten Erfahrungen: ● Wie können oder sollen wir grundsätzlich handeln? ● Wann und wie soll in welchen speziellen Situationen gehandelt werden? ● Welche Fehler können beim Handeln auftreten? ● Welche Vorteile/Nachteile bringt das Handeln? Einige bekannte Sprichwörter sind: Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen. ● Morgenstund hat Gold im Mund. ● Ohne Fleiß kein Preis. ● Wer schön sein will, muss leiden. ● Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. ●

Warum nicht? Als der Krieg aus war, kam der Soldat nach Haus. Aber er hatte kein Brot. Da sah er einen, der hatte Brot. Den schlug er tot. „Du darfst doch keinen totschlagen“, sagte der Richter. „Warum nicht?“ fragte der Soldat.

5

Ethik in der Pflege

2.3.3 Goldene Regel Im engeren Sinn wird als Goldene Regel die moralische Aussage des folgenden Sprichwortes bezeichnet: „Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu.“ 1997 wurde diese Regel vom InterAction Council (ein Zusammenschluss von 42 ehemaligen Staats- und Regierungsoberhäuptern) als Teil der allgemeinen Erklärung der Menschenpflichten aufgenommen. Darüber hinaus ist die Goldene Regel auch in den Weltreligionen zu finden.

2

Lernaufgabe

M ●

Reflektieren und notieren Sie: ● Welche Sprichwörter kennen Sie? Was verbinden Sie mit ihnen? ● Ergänzen Sie weitere Ihnen bekannte Sprichwörter, die eine moralische Aussage haben!

Stellen Sie sich vor, Sie bekommen die Möglichkeit, sich jetzt so zu bewegen wie Sie möchten. Sie können z. B. spazieren gehen, tanzen oder gar nichts tun. Egal wie Sie sich entscheiden, Sie können zunächst einmal nur eine Handlung ausführen. Egal, für was Sie sich entscheiden, Sie entscheiden sich automatisch auch gegen etwas: gegen das, was Sie jetzt nicht tun möchten. Es ist nicht immer leicht, sich bewusst für oder gegen etwas zu entscheiden. Auch die Folgen einer Entscheidung können nicht immer alle im Voraus gesehen werden. Viele Entscheidungen stellen sich oft erst später als richtig oder falsch heraus.

M ●

Lernaufgabe

Überlegen Sie: ● Wann waren die Folgen einer Handlung negativ, obwohl Sie eine gute Absicht hatten? ● Welche Ursachen hatte dies?

2.3.4 Handlungen Durch das Handeln wird die innere Einstellung (Haltung, Gefühl oder Absicht) eines Menschen nach außen erkennbar. Dieses Handeln hat wiederum Einfluss auf das eigene Leben selbst oder/und das anderer Menschen. Wer handelt, wird aktiv, er bewegt sich oder irgendetwas. Welche Möglichkeiten des Bewegens bzw. Handelns gibt es? Einige Aussagen sollen diesen Sachverhalt verdeutlichen. Wir können uns: ● aufeinander zu bewegen (▶ Abb. 2.2) ● voneinander weg bewegen ● miteinander bewegen Wir können: ● einen eigenen Standpunkt einnehmen ● einen Standpunkt verteidigen ● auf einem Standpunkt beharren ● eine andere Perspektive kennenlernen ● einen anderen Standpunkt einnehmen ● Gefühle wahrnehmen und ausdrücken

2.4 Formen der Ethik In ▶ Tab. 2.2 werden verschiedene Formen der Ethik aufgeführt. Eine weitere Unterteilung der normativen Ethiktheorien ist in Deontologie (S. 46) und Teleologie (S. 46) möglich. Zur Beurteilung von Haltungen und Handlungen legen die verschiedenen Ethiktheorien unterschiedliche Schwerpunkte. Eine Beurteilung er-

folgt bei der Deontologie auf der subjektiv/personalen Ebene mit „gut“ und „böse“, bei der Teleologie auf der objektiven materialen Ebene mit „richtig“ oder „falsch“ (▶ Abb. 2.3).

2.4.1 Deontologie Die Deontologie betrachtet und bewertet die für die Handlung zugrunde liegende Motivation oder Gesinnung einer Person. Die Beurteilung erfolgt somit auf der subjektiven personalen Ebene. Die Person wird dann als gut oder böse bezeichnet. Die Gesinnung einer Person beruht auf deren Wertvorstellungen und Normen. Die Deontologie wird auch als Pflichtethik bezeichnet. Der deutsche Philosoph Immanuel Kant (1724 – 1804) ist ein bekannter Vertreter der Gesinnungsethik.

2.4.2 Teleologie Bei der Teleologie stehen die Handlungsfolgen, also die Konsequenzen der Handlung, im Vordergrund. Die Bewertung der Handlung erfolgt dann auf der objektiven materialen Ebene, das bedeutet: Richtiges Handeln ist jenes, welches Menschen dienlich, also nützlich ist, falsches Handeln, wenn es keinen Nutzen bringt.

2.4.3 Utilitarismus Der Utilitarismus wird der Teleologie zugeordnet, da nach dieser Theorie ein Nutzen für möglichst viele Menschen wichtig ist.

Tab. 2.2 Formen der Ethik. Form der Ethik

Erläuterung

deskriptive oder empirische Ethik





vorhandene Werte und Normen einer bestimmten Kultur oder Gesellschaft werden erklärt ethisches Verhalten wird festgestellt, beschrieben und analysiert

normative Ethik



ethische Kriterien zur kritischen Beurteilung der menschlichen Haltungen und Handlungen werden herangezogen

Metaethik



Ethik wird selbst zum Gegenstand der wissenschaftlichen Betrachtung ethische Theorien werden untersucht



Handlung aufgrund ethischer Entscheidung

Deontologie

subjektive personale Ebene gut/böse

Teleologie Beurteilung der Handlung und ihre Konsequenzen

objektive materiale Ebene richtig/falsch

Abb. 2.2 Handeln. Aktiv sein bewegt. (Foto: A. Fischer, Thieme) Abb. 2.3 Beurteilung ethischer Entscheidungen und deren Konsequenzen.

46

Ethik in der Pflege

2.3.3 Goldene Regel Im engeren Sinn wird als Goldene Regel die moralische Aussage des folgenden Sprichwortes bezeichnet: „Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu.“ 1997 wurde diese Regel vom InterAction Council (ein Zusammenschluss von 42 ehemaligen Staats- und Regierungsoberhäuptern) als Teil der allgemeinen Erklärung der Menschenpflichten aufgenommen. Darüber hinaus ist die Goldene Regel auch in den Weltreligionen zu finden.

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Lernaufgabe

M ●

Reflektieren und notieren Sie: ● Welche Sprichwörter kennen Sie? Was verbinden Sie mit ihnen? ● Ergänzen Sie weitere Ihnen bekannte Sprichwörter, die eine moralische Aussage haben!

Stellen Sie sich vor, Sie bekommen die Möglichkeit, sich jetzt so zu bewegen wie Sie möchten. Sie können z. B. spazieren gehen, tanzen oder gar nichts tun. Egal wie Sie sich entscheiden, Sie können zunächst einmal nur eine Handlung ausführen. Egal, für was Sie sich entscheiden, Sie entscheiden sich automatisch auch gegen etwas: gegen das, was Sie jetzt nicht tun möchten. Es ist nicht immer leicht, sich bewusst für oder gegen etwas zu entscheiden. Auch die Folgen einer Entscheidung können nicht immer alle im Voraus gesehen werden. Viele Entscheidungen stellen sich oft erst später als richtig oder falsch heraus.

M ●

Lernaufgabe

Überlegen Sie: ● Wann waren die Folgen einer Handlung negativ, obwohl Sie eine gute Absicht hatten? ● Welche Ursachen hatte dies?

2.3.4 Handlungen Durch das Handeln wird die innere Einstellung (Haltung, Gefühl oder Absicht) eines Menschen nach außen erkennbar. Dieses Handeln hat wiederum Einfluss auf das eigene Leben selbst oder/und das anderer Menschen. Wer handelt, wird aktiv, er bewegt sich oder irgendetwas. Welche Möglichkeiten des Bewegens bzw. Handelns gibt es? Einige Aussagen sollen diesen Sachverhalt verdeutlichen. Wir können uns: ● aufeinander zu bewegen (▶ Abb. 2.2) ● voneinander weg bewegen ● miteinander bewegen Wir können: ● einen eigenen Standpunkt einnehmen ● einen Standpunkt verteidigen ● auf einem Standpunkt beharren ● eine andere Perspektive kennenlernen ● einen anderen Standpunkt einnehmen ● Gefühle wahrnehmen und ausdrücken

2.4 Formen der Ethik In ▶ Tab. 2.2 werden verschiedene Formen der Ethik aufgeführt. Eine weitere Unterteilung der normativen Ethiktheorien ist in Deontologie (S. 46) und Teleologie (S. 46) möglich. Zur Beurteilung von Haltungen und Handlungen legen die verschiedenen Ethiktheorien unterschiedliche Schwerpunkte. Eine Beurteilung er-

folgt bei der Deontologie auf der subjektiv/personalen Ebene mit „gut“ und „böse“, bei der Teleologie auf der objektiven materialen Ebene mit „richtig“ oder „falsch“ (▶ Abb. 2.3).

2.4.1 Deontologie Die Deontologie betrachtet und bewertet die für die Handlung zugrunde liegende Motivation oder Gesinnung einer Person. Die Beurteilung erfolgt somit auf der subjektiven personalen Ebene. Die Person wird dann als gut oder böse bezeichnet. Die Gesinnung einer Person beruht auf deren Wertvorstellungen und Normen. Die Deontologie wird auch als Pflichtethik bezeichnet. Der deutsche Philosoph Immanuel Kant (1724 – 1804) ist ein bekannter Vertreter der Gesinnungsethik.

2.4.2 Teleologie Bei der Teleologie stehen die Handlungsfolgen, also die Konsequenzen der Handlung, im Vordergrund. Die Bewertung der Handlung erfolgt dann auf der objektiven materialen Ebene, das bedeutet: Richtiges Handeln ist jenes, welches Menschen dienlich, also nützlich ist, falsches Handeln, wenn es keinen Nutzen bringt.

2.4.3 Utilitarismus Der Utilitarismus wird der Teleologie zugeordnet, da nach dieser Theorie ein Nutzen für möglichst viele Menschen wichtig ist.

Tab. 2.2 Formen der Ethik. Form der Ethik

Erläuterung

deskriptive oder empirische Ethik





vorhandene Werte und Normen einer bestimmten Kultur oder Gesellschaft werden erklärt ethisches Verhalten wird festgestellt, beschrieben und analysiert

normative Ethik



ethische Kriterien zur kritischen Beurteilung der menschlichen Haltungen und Handlungen werden herangezogen

Metaethik



Ethik wird selbst zum Gegenstand der wissenschaftlichen Betrachtung ethische Theorien werden untersucht



Handlung aufgrund ethischer Entscheidung

Deontologie

subjektive personale Ebene gut/böse

Teleologie Beurteilung der Handlung und ihre Konsequenzen

objektive materiale Ebene richtig/falsch

Abb. 2.2 Handeln. Aktiv sein bewegt. (Foto: A. Fischer, Thieme) Abb. 2.3 Beurteilung ethischer Entscheidungen und deren Konsequenzen.

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2.6 Menschenrechte

2.4.4 Verantwortungsethik Die Verantwortungsethik orientiert sich an der Verantwortbarkeit der Folgen, die eine bestimmte Handlung mit sich bringt. Dabei werden auch die Absichten eines Menschen miteinbezogen. Jedoch werden die Auswirkungen einer Handlung für die ethische Entscheidung in den Fokus gestellt. Der Mensch und seine Handlungen werden dabei auch in seiner Rolle im sozialen Gefüge und seiner sozialen Verantwortung wahrgenommen. Neben aktuellen Folgen einer Handlung werden zudem weitere absehbare Auswirkungen in Betracht gezogen.

2.4.5 Bioethik Ethik wird in verschiedenen Teilgebieten unter speziellen Schwerpunktthemen betrachtet. Hier wird kurz auf die Bioethik eingegangen. Die Pflegeethik wird in einem eigenen Kapitel erläutert (S. 48).

Definition

L ●

Die Bioethik befasst sich mit den ethischen Aspekten der sog. Lebenswissenschaften. Diese beinhalten die wissenschaftlichen Entwicklungen in den Bereichen der Medizin und Biologie.

Die Bioethik befasst sich vorrangig mit ethischen Grundsatzfragen, die z. B. in der Gentechnologie oder Reproduktionsmedizin auftreten. Zur Erörterung bioethischer Fragestellungen ist der Deutsche Ethikrat als Beratungsgremium des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung gegründet worden. Dieser veröffentlicht seit 2007 entsprechende Stellungnahmen und Empfehlungen. Damit löste der deutsche Ethikrat den im Jahr 2001 eingesetzten Nationalen Ethikrat ab. Detaillierte Fragestellungen zur Bioethik können der Internetseite der „Aktion Mensch“ (www. aktion-mensch.de) entnommen werden; hier einige Beispiele aus dem ehemaligen „1000-Fragen-Projekt“ von 2002: ● Worauf beruht der Wert eines Menschenlebens? ● Gibt es ein Grundrecht auf gesunde Kinder? ● Was wollen wir, wenn alles möglich ist? ● Darf der Mensch alles, was er kann? ● Dürfen Gene patentiert werden? ● Wird der Gentest in Zukunft den Einstellungstest ersetzen? Es gibt unterschiedliche methodische Ansätze der Bioethik, um Situationen und Handlungen zu beurteilen.

▶ Kasuistik. Hier werden ethische Urteile in einer Situation durch Bezug auf vorherrschende moralische Überzeugungen und Vorgehensweisen aus Einzelfällen getroffen. Entscheidungen aus vergleichbaren Situationen werden somit in die Beurteilung einbezogen. ▶ Theorieanwendung. Für die ethische Entscheidung einer Fragestellung wird eine Ethiktheorie zugrunde gelegt. Diese wird auf die ethische Fragestellung angewendet, ohne Einzelfälle zu sehen. Als bekannte, aber auch bedenkliche Theorie ist der Präferenzutilitarismus von Peter Singer zu nennen (zit. nach Graumann, 2002). Hier ist das wichtigste Grundprinzip die Maximierung des Glücks der betreffenden Personen. Dabei legt Singer fest, wer als Person bezeichnet wird. Hierzu zählt er Menschen, die sich ihrer Existenz und damit auch ihrer Interessen bewusst sind. Neugeborenen oder bewusstlosen Menschen spricht er diese Fähigkeit ab. Damit treten die Interessen und Rechte der zuletzt genannten in den Hintergrund. ▶ 4-Prinzipien-Modell. Im Modell nach Beauchamp und Childress (zit. nach Graumann, 2002) sind folgende 4 Prinzipien für die ethische Urteilsbildung entscheidend. Diese werden bei der Beurteilung einer Entscheidung berücksichtigt: 1. Autonomie (Selbstbestimmung) 2. Benefizienz (Wohltätigkeit) 3. Nonmaleffizienz (Nichtschädigung) 4. Fairness (Gerechtigkeit)

prägen auch das Weltbild und das Verständnis über das Mensch-Sein, weshalb unterschiedliche Menschenbilder existieren. Im Folgenden werden einige Menschenbilder kurz benannt.

▶ Humanismus. Hier wird der Mensch als Individuum gesehen, der in der Lage ist, vernunftgeleitet selbstständig zu handeln. ▶ Naturwissenschaftliche Betrachtung. Der Mensch kann auch streng naturwissenschaftlich betrachtet werden, hierzu zählen z. B. die anatomisch-physiologischen Abläufe bzw. deren pathologische Abweichungen. ▶ Darwinismus. Der Mensch wird als Produkt eines Evolutionsprozesses gesehen. Er ist im Entwicklungsursprung dem Tier gleichgesetzt und stellt sich daher nicht als ein besonderer Schöpfungsakt dar. ▶ Christliches Menschenbild. Der Mensch gilt als Abbild Gottes und steht über dem Tier. Die menschliche Seele gilt als unsterblich.

Um in einer ethischen Beurteilung eine einseitige Betrachtungsweise und damit auch Willkür zu vermeiden, ist es notwendig, die verschiedenen Perspektiven und die Folgen für alle Betroffenen mit einzubeziehen. Das bedeutet, eine umfangreiche Situationserfassung durchzuführen, bevor eine ethische Beurteilung stattfinden kann.

▶ Philosophie. In der Philosophie unterscheidet sich der Mensch vom Tier durch die Fähigkeit zum Nachdenken und die Fähigkeit des Problemlösens. Innerhalb einer und zwischen verschiedenen Gesellschaften können Unterschiede in der Wertschätzung von Menschen vorkommen, die z. B. aufgrund des Geschlechts, einer Abweichung im Aussehen oder im Verhalten von der vorherrschenden Norm begründet werden.

2.5 Menschenbilder

2.6 Menschenrechte

Ein Menschenbild beinhaltet die Vorstellung, Wahrnehmung und Wertschätzung von Menschen und hat damit Einfluss auf den Umgang mit Menschen. Beeinflusst wird das Menschenbild z. B. von bestimmten Überzeugungen oder Religionen. Die Definition von Mensch-Sein ist schwierig. Das zeigt sich schon in der Frage: „Wann beginnt ein Mensch, Mensch zu sein, und wann endet das MenschSein?“ Im Laufe der Geschichte haben sich die Antworten auf die Frage „Wann ist ein Mensch ein Mensch?“ verändert. Jede Kultur hat Vorstellungen über die Entstehung der Erde und des Menschen. Diese

2

▶ Monotheismus. Dies bezeichnet den Glauben an einen Gott, der den Menschen erschaffen hat. Der Mensch erscheint als ein von einem Gott abhängiges Wesen und unterscheidet sich von Gott durch seine Sterblichkeit.

Definition

L ●

Menschenrechte sind Rechte, die allen Menschen gleichermaßen zugesprochen werden. Die Universalität der Menschenrechte besagt, dass keinem Menschen diese Rechte abgesprochen werden dürfen.

Die weltweit erste Festlegung der Menschenrechte geschah 1948 durch die Vereinten Nationen über die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ („Interna-

7

Ethik in der Pflege tional Bill of Human Rights“). Diese wurden in einem internationalen Pakt über bürgerliche und politische sowie wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 1966 von der UN-Generalversammlung verabschiedet. Es gibt eine Reihe von Konventionen, die eine konkrete Regelung der Menschenrechte vornehmen, z. B. die Genfer Flüchtlingskonventionen oder die UNKinderrechtskonventionen. Weiterhin ist z. B. die Europäische Menschenrechtskonvention im Europarat 1950 unterzeichnet worden. Deutschland hat sich allen bedeutenden Menschenrechtsübereinkommen der Vereinten Nationen angeschlossen. Das Auswärtige Amt schreibt u. a. in den Prinzipien der deutschen Menschenrechtspolitik, dass Menschenrechtsschutz keinen Unterschied zwischen Deutschen und Nichtdeutschen macht, und weiter, dass die Menschenrechte unteilbar sind und nicht gegeneinander ausgeschlossen werden dürfen. Zum Schutz und zur Förderung der Menschenrechte ist aufgrund einer Empfehlung des Deutschen Bundestages 2001 das Deutsche Institut für Menschenrechte gegründet worden. Eine Aufgabe der nationalen Menschenrechtsinstitution ist die Information über die Situation der Menschenrechte im In- und Ausland.

2

2.6.1 Grundrechte der Bundesrepublik Deutschland Die Grundrechte der Bundesrepublik Deutschland sind im Grundgesetz in Artikel 1–19 festgelegt. Sie beinhalten seit der Verabschiedung im Jahr 1949 die Menschenrechte der Bevölkerung gegenüber dem Staat. Artikel 1 ist als Grundlage für alle weiteren Artikel zu sehen (▶ Tab. 2.3): „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

2.7 Pflegeethik „Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern ihre Urteile und Meinungen über sie.“ Dieses Zitat von Epiktet (römischer Philosoph aus dem 1. Jh. n. Chr.) besagt, dass die Einschätzung und Bewertung einer Situation auf der Grundlage der Haltung eines Menschen basiert. Die eigene Haltung beeinflusst also die eigene Wahrnehmung und Beurteilung einer Situation und somit auch die darauf folgenden Reaktionen und Handlungen.

48

Tab. 2.3 Grundrechte der Bundesrepublik Deutschland (aus dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949). Artikel

Inhalt

1

Menschenwürde, Rechtsverbindlichkeit der Grundrechte

2

Freiheit der Person

3

Gleichheit vor dem Gesetz

4

Glaubens- und Gewissensfreiheit

5

Freiheit der Meinungsäußerung, Freiheit von Kunst, Wissenschaft und Lehre

6

Ehe und Familie

7

Schulwesen

8

Versammlungsfreiheit

9

Vereins- und Koalitionsfreiheit

10

Brief- und Postgeheimnis

11

Freizügigkeit

12

freie Berufswahl

12a

Dienstpflicht

13

Unverletzlichkeit der Wohnung

14

Gewährleistung des Eigentums

15

Überführung in Gemeineigentum

16

Staatsangehörigkeit, Auslieferung

16a

Asylrecht

17

Petitionsrecht

17a

Einschränkung der Grundrechte im Wehrdienst

18

Grundrechtsverwirkung

19

Einschränkung von Grundrechten, Gewährleistung des Rechtsweges

Definition

L ●

„Ethik in der Pflege“ bedeutet, dass Pflegefachkräfte Normen und Werte, die sich beim Umgang mit anderen Menschen in Pflegesituationen stellen, reflektieren sollten. Ziel der Pflegeethik ist, die eigene ethische Verantwortung in der Berufsausübung wahrzunehmen.

Einige Aspekte, die zur ethischen Beurteilung einer Situation in der Pflege herangezogen werden können, sind: ● Interessen, Werte, Gefühle des betroffenen Patienten ● Interessen, Werte, Gefühle der Pflegefachkraft ● Berufsethos ● Gesetze, Rahmenbedingungen ● Konsequenzen von Handlungen ● Handlungskompetenz der Pflegefachkraft Ein wichtiger Wert in der Pflege ist z. B. die Achtung der Autonomie (Selbstbestimmung) eines Menschen. In der Kinderkrankenpflege sind Pflegende täglich mit Aufgaben konfrontiert, in denen sie stellvertretend für das Kind entscheiden sollen, was ihm guttut oder schadet. Für Pflegende ergeben sich hieraus immer

wieder Konfliktsituationen. Einerseits die Selbstbestimmung des Kindes, andererseits das Wissen um die notwendigen Maßnahmen, z. B. einem Kind ein Medikament gegen seinen Willen zu geben oder es zur Blutentnahme festzuhalten. Hier gilt es, einen eigenen, verantwortungsbewussten Entscheidungsprozess zu entwickeln, inwiefern die Bedürfnisse der Kinder einbezogen werden können. Mitentscheidend für diese beiden Beispiele sind sicherlich der Entwicklungsstand des Kindes und damit seine kognitiven Fähigkeiten, die Situation zu erfassen. Darüber hinaus ist auch die Einwilligung der Eltern zu berücksichtigen. Grundsätzlich gilt, dass möglichst viele Informationen über eine Situation erfasst werden müssen, bevor eine ethische Entscheidung gefällt werden kann. Die Rechte der Kinder in der Pflege sind z. B. in der EACHCharta (Charta für Kinder im Krankenhaus, ▶ Abb. 7.7) formuliert. Sie enthält Werte und Normen, die auch das Handeln in der Kinderkrankenpflege leiten. In einer konkreten Pflegesituation beeinflussen z. B. folgende Haltungen die Handlungen der Pflegefachkraft: ● Gleichbehandlung der Kinder ● Wahrung der Intimsphäre ● Miteinbeziehung und Förderung der Ressourcen des Kindes

2.8 Kultursensible Pflege ●



Wahrnehmung und Beachtung der individuellen Bedürfnisse des einzelnen Kindes und seiner Familie Einbeziehung von psychosozialen und kulturellen Aspekten (S. 50)

Lernaufgabe

M ●

Im Folgenden werden 3 kurze Fallbeispiele beschrieben. Zum einen können diese von Ihnen selbst reflektiert werden, zum anderen können die Beispiele darüber hinaus für eine Diskussion in einer Gruppe dienen: 1. In einem katholischen Krankenhaus befindet sich in jedem Patientenzimmer ein Kreuz. Ein Patient mit einer anderen Religionszugehörigkeit bittet um die Entfernung des Kreuzes aus dem Patientenzimmer. Die Stationsleitung besteht aus religiösen Gründen darauf, das Kreuz im Zimmer zu belassen. 2. Ein 3-jähriger Junge soll für eine Untersuchung nüchtern bleiben. Da er keine Bettruhe einhält und auch in andere Patientenzimmer geht, klebt ihm die Pflegefachkraft ein Schild auf den Pulli mit der Aufschrift: „Bitte nicht füttern!“ 3. Ein 14-jähriger Junge mit Diabetes mellitus wird gegen seinen Willen zu einer geplanten venösen Blutentnahme festgehalten (es handelt sich nicht um eine Notsituation). Bereits bei der Aufnahme hatte er seine Ablehnung gegenüber einer Blutentnahme geäußert.

2.7.1 ICN-Ethik-Kodex für Pflegende Um Pflegefachkräften ethische Grundsätze zur Reflexion des eigenen Handelns zu geben, hat der Weltbund der Krankenschwestern und Krankenpfleger (International Council of Nurses = ICN) einen internationalen Ethik-Kodex verfasst. Der ICN-Ethik-Kodex für Pflegende wurde erstmals 1953 formuliert und enthält die grundlegenden Aufgaben der Pflegenden. Die letzte Überarbeitung fand im Jahr 2012 statt.

Merke

H ●

In der Präambel des ICN-Ethik-Kodex für Pflegende werden 4 grundlegende Verantwortungsbereiche der Pflegenden beschrieben: 1. Gesundheit fördern 2. Krankheit verhüten 3. Gesundheit wiederherstellen 4. Leiden lindern

Weiterhin sind folgende ethische Grundregeln festgelegt, die bei der Ausübung der Pflege zu beachten sind: ● Achtung der Menschenrechte, einschließlich kultureller Rechte, des Rechts auf Leben und Entscheidungsfreiheit auf Würde und auf respektvolle Behandlung. ● Respekt des einzelnen Menschen unabhängig von Alter, Hautfarbe, Glaube, Kultur, Behinderung oder Krankheit, Geschlecht, sexueller Orientierung, Nationalität, politischer Einstellung, ethnischer Zugehörigkeit oder sozialem Status. ● Das Wohl des Einzelnen, der Familie und der sozialen Gemeinschaft. ● Koordination der Dienstleistungen mit denen anderer beteiligter Gruppen.

Merke

H ●

Der ICN-Ethik-Kodex für Pflegende bestimmt ethische Verhaltensweisen in 4 Grundelementen: 1. Pflegende und ihre Mitmenschen 2. Pflegende und die Berufsausübung 3. Pflegende und die Profession 4. Pflegende und ihre Kolleginnen und Kollegen

▶ Verantwortung der Pflegenden gegenüber ihren Mitmenschen. Hierzu gehört die Verpflichtung, die Menschenrechte und deren Wertvorstellungen zu beachten. Religiöse und kulturelle Bedürfnisse des Einzelnen, der Familie und der sozialen Gemeinschaft sind zu respektieren. Der Pflegebedürftige hat ein Recht auf eine umfassende Information bezüglich der pflegerischen Versorgung, um seine Zustimmung oder Ablehnung deutlich machen zu können. Persönliche Informationen über den Patienten sind vertraulich zu behandeln. Neben die Verantwortung gegenüber dem einzelnen Patienten gehört ebenso eine Verantwortung gegenüber den gesundheitlichen und sozialen Bedürfnissen der Bevölkerung und dem Schutz der natürlichen Umwelt. ▶ Verantwortung für die Berufsausübung. Die Pflegefachkraft trägt die Verantwortung für die Berufsausübung. Dies beinhaltet zum einen die Förderung der eigenen fachlichen Kompetenz durch ständige Fort- und Weiterbildung. Zum anderen soll sie auf den Erhalt der eigenen Gesundheit achten. In ihrem beruflichen Handeln soll die Pflegefachkraft das Ansehen des Berufsstandes und somit das Vertrauen gegenüber professioneller Pflege in der Bevölkerung fördern.

▶ Verantwortungsbereich innerhalb der Profession. Hierzu gehört die Mitwirkung bei der Entwicklung, Festlegung und Umsetzung neuer Erkenntnisse. Hiermit wird die Qualität der Pflege beeinflusst. Durch die Organisation in einem Berufsverband soll die Pflegefachkraft die Arbeitsbedingungen in der Pflege positiv unterstützen.

2

▶ Pflegende und ihre Kollegen. Zum Wohle des Patienten arbeitet die Pflegefachkraft mit ihren Kollegen aus der eigenen Berufsgruppe oder aus anderen Berufsgruppen zusammen.

Lernaufgabe

M ●

Wie würden Sie sich verhalten, wenn Sie bemerken, dass eine Kollegin einen Blutdruckwert in das Dokumentationssystem einträgt, den sie nicht ermittelt hat?

2.8 Kultursensible Pflege Definition

L ●

Eine Kultur beinhaltet gemeinsame Wertvorstellungen und Lebensweisen einer definierten Gruppe (intrakulturell). Diese beeinflussen die Haltungen und Handlungen der Menschen im täglichen Leben. Kultursensible Pflege berücksichtigt die individuell unterschiedlichen kulturellen und religiösen Bedürfnisse eines Menschen. Eine interkulturelle Kompetenz beinhaltet die Fähigkeit, mit Menschen aus anderen Kulturen zu interagieren.

Das multikulturelle Gefüge unserer Gesellschaft spiegelt sich auch in Pflegesituationen wider (▶ Abb. 2.4). Zum einen durch die Pflege von Menschen aus ver-

Abb. 2.4 Interkulturelle Pflege. Menschen aus verschiedenen Kulturen können Pflege erbringen oder auch empfangen. (Foto: A. Fischer, Thieme)

9

Ethik in der Pflege schiedenen Kulturen, zum anderen in der Erbringung pflegerischer Leistungen durch Kollegen aus unterschiedlichen Herkunftsländern bzw. -kulturen. Eine professionell ausgeübte Pflege beinhaltet im Rahmen der individuellen Pflege eines Menschen auch die Wahrnehmung und die Einbeziehung kulturbeeinflusster Bedürfnisse. Ein Mensch soll unter Berücksichtigung seiner Bedürfnisse, Ressourcen und Erwartungen, die sich aus seinen individuellen Wertvorstellungen ergeben, gepflegt werden. Dabei sind sowohl die kulturellen Einstellungen und die Haltung des Patienten als auch selbige der Pflegefachkraft zu beachten. Innerhalb des Pflegeprozesses sind zu berücksichtigen: ● Erfassung von kulturellen Bedürfnissen (Einschätzen des Pflegebedarfs und Evaluation/Auswertung der Pflegeergebnisse). ● Berücksichtigung der kulturellen Bedürfnisse in der Pflege (Planung und Durchführung der Pflege).

2

Merke

H ●

Sollen die Bedürfnisse des Patienten in der Pflege berücksichtigt werden, dürfen kulturelle und religiöse Aspekte nicht ignoriert werden. Voraussetzung hierfür ist, dass Pflegefachkräfte ihre eigenen kulturellen Einstellungen und ihr Kommunikationsverhalten bewusst reflektieren.

Pflegefachkräfte sollten sich demnach mit ihren eigenen Ängsten, Hemmungen und Vorurteilen gegenüber anderen Kulturen auseinandersetzen, d. h. diese wahrnehmen und verändern. Erst dann können sie Menschen aus anderen Kulturen mit Respekt und Verständnis begegnen. So kann z. B. ein unterschiedliches Verständnis von Gesundheit und Krankheit, von den Erwartungen über das Ausmaß der Ausübung von Pflege, Betreuung und therapeutischen Verfahren vorliegen. Diese unterschiedlichen Vorstellungen können Auswirkungen auf die einzelnen Lebensaktivitäten eines Menschen haben. Bei Kindern sind auch die Einstellungen der Eltern zu erfassen, die Einfluss auf die Pflege haben können. Vielen Kulturen ist es wichtig, dass ihre Kinder heimatorientiert erzogen werden, d. h. nach deren traditionellen und soziokulturellen Normen und Wertvorstellungen. In der Anleitung und Beratung von Kindern/Jugendlichen und deren Eltern sollte dies akzeptiert und berücksichtigt werden. Dabei ist zu beachten, dass jeder Mensch seine Religion oder Kultur unterschiedlich ausgeprägt leben kann. In der

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Pflegesituation sollten daher die speziellen kulturellen und religiösen Bedürfnisse und Wünsche jedes Einzelnen erfasst werden. Eine Übersicht bezüglich der Berücksichtigung religiöser Bedürfnisse in der Pflege findet sich im Kap. Sterben (S. 462). Juliana Roth und Silke Ettling benennen 4 Kulturkategorien, die damit Dimensionen grundlegender Werte darstellen. Sie beeinflussen die Wahrnehmung, Deutung und die Bewertung von Situationen. Hierdurch können auch mögliche „kulturelle Stolpersteine“ in der Interaktion von Menschen deutlich werden: 1. Individualismus/Kollektivismus 2. Machtdistanz 3. Zeit 4. Raum ▶ Individualismus/Kollektivismus. Hier werden die Bestrebungen nach Individualität bzw. die Selbstverwirklichung des Einzelnen gegenüber einer Unterordnung der Interessen und dem Wohlergehen für die Gemeinschaft (z. B. Familie) unterschiedlich favorisiert. So kann ein Fehlverhalten einer einzelnen Person ggf. als Schande für die ganze Familie empfunden werden. ▶ Machtdistanz. Menschen in beruflich übergeordneten Positionen oder in familiären Strukturen werden nicht überall gleichwertig als Autoritäten anerkannt. Abweichungen lassen sich z. B. im Umgang mit älteren Menschen aufgrund der Bewertung ihrer Lebenserfahrung oder des Leistungsvermögens finden. ▶ Zeit. Die Bedeutung und damit auch der Einfluss und die Abhängigkeiten von der zur Verfügung stehenden Zeit können kulturell bedingt variieren. In einigen Kulturen spielt die Pünktlichkeit eine sehr große Rolle. Hier kann Unpünktlichkeit einer Person auch als persönliche Missachtung oder Kränkung empfunden werden. ▶ Raum. Kulturelle Erfahrungen prägen auch die Gewohnheiten und das Wohlbefinden im Zusammenhang mit dem Erleben und Zulassen von Nähe und Distanz zwischen Menschen. Bereits bei der Begrüßung zwischen fremden Personen sind körperliche distanzierte Verbeugungen bis hin zu engen Umarmungen zu beobachten. ▶ Stiftung Weltethos. Die Stiftung Weltethos setzt sich für interkulturelle und interreligiöse Forschung, Bildung und Begegnung ein. Übergeordnetes Ziel ist die Verdeutlichung von Werten, die vom materiellen Wohlstandsdenken einzelner Menschen weg zu einem gemeinsamen

Leben in Frieden und Freiheit führen. Dieses basiert auf dem „Projekt Weltethos“ des Theologen Hans Küng, der als Voraussetzung hierfür einen Konsens bezüglich bestehender Werte der Religionen der Welt sieht. Das Projekt Weltethos beschreibt 4 Grundüberzeugungen: 1. Kein Friede unter den Nationen ohne Friede unter den Religionen. 2. Kein Friede unter den Religionen ohne Dialog zwischen den Religionen. 3. Kein Dialog zwischen den Religionen ohne globale ethische Standards. 4. Kein Überleben unseres Globus ohne ein globales Ethos, ein Weltethos, gemeinsam getragen von religiösen und nicht religiösen Menschen. Das Parlament der Weltreligionen verabschiedete 1993 in Chicago eine Erklärung zum Weltethos. Vertreter aller Religionen haben sich in dieser Erklärung auf 4 Weisungen verpflichtet: 1. Verpflichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben. 2. Verpflichtung auf eine Kultur der Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung. 3. Verpflichtung auf eine Kultur der Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit. 4. Verpflichtung auf eine Kultur der Gleichberechtigung und die Partnerschaft von Mann und Frau.

2.8.1 Aspekte der kultursensiblen Pflege Madeleine M. Leininger hat in ihrer Pflegetheorie die kulturelle Dimension menschlicher Pflege beschrieben. Kernelement der Pflegetheorie ist „Culture Care“ (kulturelle Fürsorge), welches eine Methode zur Erforschung kulturspezifischer und kulturübergreifender Aspekte der menschlichen Fürsorge ermöglicht. Ihre Theorie stellt die speziellen Bedürfnisse von Menschen in einen engen Bezugsrahmen zu ihrem kulturellen Hintergrund. Ein erfolgreicher Heilungsprozess setzt somit eine auf die kulturellen Bedürfnisse abgestimmte Pflege voraus. Die Theorie von Leininger darf nicht ohne die notwendige Interaktion mit dem einzelnen Patienten und seinen Angehörigen gesehen und angewendet werden. So ist nicht nur die einzelne Kultur zu betrachten, sondern vielmehr der Mensch inklusive seiner kulturell geprägten, speziellen Bedürfnisse. Eine Pflegefachkraft sollte daher das eigene Wissen um mögliche soziokulturelle Einflüsse erweitern. Dies ist dann von ihr in der konkreten Pflegesituation zu reflektieren und anzuwenden.

2.8 Kultursensible Pflege Hierzu bedarf es unterschiedlicher Kenntnisse und Fähigkeiten aus den sozialen, personalen, methodischen und fachlichen Bereichen (S. 39). Dagmar Domenig beschreibt hierzu das Konzept der transkulturellen Kompetenz, welches besonders die gemeinsamen bzw. verbindenden Elemente verschiedener Kulturen in den Blick nimmt. Werden Kulturen nur durch ihre Unterschiede bzw. Abweichungen definiert, verstärkt dies die Gefahr einer distanzierten Wahrnehmung. Zudem können durch ein Definieren spezifischer kulturtypischer Eigenschaften Vorurteile und Stereotypen begünstigt werden. Vielmehr ist innerhalb der Pflege die Vielfalt von kulturell geprägten Möglichkeiten, den Lebensalltag zu bewältigen, wahrzunehmen. In diesem Sinne sind fachliche Kompetenzen mit dem Erwerb von Wissen über verschiedene Kulturen und Religionen nur als Grundlage und in Verbindung mit der individuellen Einordnung in der jeweiligen Pflegesituation zu verstehen. Dies bedeutet z. B., dass nicht jeder Mensch mit einem christlichen Glauben in einer schwierigen Lebensphase den Beistand eines christlichen Seelsorgers wünscht. Es ist trotzdem hilfreich zu wissen, dass es das Sakrament der Beichte gibt, um eine Äußerung hierzu nachvollziehen zu können bzw. auch gezielt nach speziellen Bedürfnissen zu fragen. Es folgen einige allgemeine Aspekte, die in der Pflege von Menschen anderer Kulturen beachtet werden sollen.

hierbei nicht überfordert werden. Insbesondere bei komplizierten medizinischen oder pflegerischen Sachverhalten werden qualifizierte Dolmetscher benötigt. Neben sprachlichen Herausforderungen sind kulturell bedingte Unterschiede im Kommunikationsverhalten bzw. der nonverbalen und paraverbalen Signale zu beachten. Hierbei können die Bedeutung von Handzeichen, Sprachmelodie und Tonfall differieren. Darüber hinaus können Menschen Sachverhalte direkt oder indirekt zum Ausdruck bringen. Eine direkte Äußerung kann für einen Menschen, der es kulturell gewohnt ist, die Dinge zu umschreiben, als unhöflich interpretiert werden. Dies kann dann ggf. eine Ablehnung des Gesagten bzw. der Person bewirken.

Verständigung und Interaktion

Im islamischen Kulturkreis wird es z. B. als Pflicht angesehen, kranke Freunde, Verwandte und Bekannte im Krankenhaus zu besuchen. Einschränkungen in der Besucheranzahl durch das Pflegepersonal können auf Unverständnis stoßen. So kann der häufige und intensive Besuch eines türkischen Kindes durch seine Großfamilie von der Pflegefachkraft als Missachtung ihrer Autorität verstanden werden. Vom Kind und auch besonders von den Eltern wird jedoch der Besuch der Familienangehörigen und Freunde erwartet und als Wertschätzung geachtet (▶ Abb. 2.5). Aufgrund dieser unterschiedlichen Erwartungen kann es zu Konflikten in der Beziehung zwischen der Pflegefachkraft und dem Kind und seiner Familie kommen. Weitere kulturelle Unterschiede in der Familienstruktur können in der Rollenverteilung innerhalb der Familie liegen. So entscheidet meist der Vater des Kindes über wichtige diagnostische und therapeutische Maßnahmen und ist daher zwingend einzubeziehen.

Problematische Situationen können durch die Unkenntnis der Sprache in Schriftform und dem gesprochenen Wort oder der Bedeutung sowie der Interpretation von Gestik und Mimik entstehen. Eine Ursache hierfür können fehlende soziale Kontakte sein. So können z. B. Frauen mit Migrationshintergrund, die ausschließlich für den Haushalt zuständig sind und keine Kontakte außerhalb der Familie haben, verunsichert und isoliert werden. Sind bestimmte Therapien wie z. B. Ernährungsempfehlungen nicht bekannt, kann auch das Verständnis und evtl. die Akzeptanz hierfür fehlen. Weiterhin besteht die Gefahr, dass wichtige Informationen nicht erfasst werden, aber dies aus Höflichkeit oder Scham nicht deutlich gemacht wird. Durch das Recht auf umfassende Informationen haben alle Patienten bei Verständigungsschwierigkeiten ein Recht auf die Anwesenheit eines Dolmetschers. Größere Geschwister können als Dolmetscher für einfache Informationen oder Erklärungen eingesetzt werden, teilweise sogar die kranken Kinder/Jugendlichen selbst. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Kinder

Praxistipp Pflege

Z ●

Erwartungen von Pflegefachkräften und Patienten sind nicht immer klar formuliert und führen dadurch oft zu Missverständnissen. Fragen Sie das Kind und seine Eltern nach ihren kulturellen Bedürfnissen und Erwartungen. Formulieren Sie ihre eigenen Erwartungen, die Sie an die Pflegesituation haben.

2

Abb. 2.5 Familienbesuch. Das Kind erfährt Wertschätzung durch den Besuch der Familie (Symbolbild). (Foto: Monkey Bussiness – stock.adobe. com)

Praxistipp Pflege

Z ●

Eltern sollten bestärkt werden, ihre traditionellen und religiösen Gewohnheiten beizubehalten, dies ist besonders auch in der fremden und sorgenvollen Situation wichtig. Der Zusammenhalt der Familie und der Freunde kann Sicherheit vermitteln und Unterstützung bedeuten.

Gesundheit und Krankheit Familienstruktur

Bestimmte Körperbereiche und deren Erkrankungen können tabuisiert werden, was evtl. das frühzeitige Erkennen und die notwendige Behandlung verhindern bzw. verzögern kann. Ursachen für psychische Verhaltensauffälligkeiten, Behinderungen, Erkrankungen bzw. Unfälle können mit Magie und Religion in Verbindung gebracht werden. Dies wird in bestimmten Äußerungen, z. B. jemand ist vom „bösen Blick getroffen worden“, deutlich. Daher wird z. B. mit einem Amulett oder durch bestimmte Rituale versucht, die magischen Kräfte zu verhindern bzw. die Götter gütig zu stimmen. Nach diesem Verständnis gibt es keine Heilung ohne Glauben und Gebete zu Gott. Die Gesundheitsversorgung variiert von Herkunftsland zu Herkunftsland. Daher kann das Verständnis für bestimmte Therapien, Prophylaxen oder Vorsorgeuntersuchungen fehlen. Auch Organisationsstrukturen oder Gesundheitseinrichtungen, z. B. ambulante Behandlungsmöglichkeiten, Notarztdienste oder Beratungsstellen, können unbekannt sein.

1

Ethik in der Pflege

2.8.2 Kulturspezifische und religiöse Besonderheiten der islamischen Lebensordnung

2 Merke

H ●

Generelle Pflegeregeln für Muslime oder Christen, Männer oder Frauen gibt es nicht. Vielmehr ist jeder Mensch mit seinen individuellen Bedürfnissen und Lebensgewohnheiten zu sehen, die kulturell bedingt sein können.

Am Beispiel der islamischen Lebensordnung folgen nun einige mögliche Besonderheiten bzw. Lebensgewohnheiten, die in den einzelnen Lebensaktivitäten für die betreffenden Personen wichtig sein können.

Kommunizieren Frauen können bei der Anwesenheit von Besuch vermehrt Schmerzen äußern, um die Aufmerksamkeit der Besucher zu erhalten. Dies geschieht, um Achtung durch die Familienmitglieder zu erhalten. Die Pflegefachkraft sollte dieses Verhalten respektieren und nicht negativ bewerten.

Sich sauber halten und kleiden Der Körperreinigung unter fließendem Wasser wird eine symbolische reinigende Wirkung zugesprochen. So können z. B. Waschungen von Händen, Füßen und Gesicht vor und nach den Mahlzeiten rituell unabdingbar sein. Bei der Durchführung

52

medizinischer Bäder sollte die Möglichkeit des vorherigen und anschließenden Abduschens gegeben sein. Reinigungsbäder hingegen werden i. d. R. abgelehnt. In Bezug auf ihre Bekleidung achten viele Mädchen und Frauen darauf, ihren Körper und die Haare zu verdecken.

Essen und trinken Nach islamischem Grundsatz ist der Genuss „unreiner“ Speisen verboten, da die Reinheit des Körpers die Voraussetzung für die Reinhaltung der Seele darstellt. So ist z. B. der Genuss von Schweinefleisch, Blutwurst und Alkohol verboten. Generell wird die Nahrungsaufnahme mit der rechten Hand vorgenommen. Im Monat Ramadan (neunter Mondmonat) wird gefastet, d. h. von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang nicht gegessen, getrunken und geraucht. Das Fasten soll der Reinigung und Kontrolle von Körper und Geist dienen. Kinder, ältere und kranke Menschen sind vom Fasten ausgenommen.

Ausscheiden Zur Wahrung der Intimsphäre sollten Mädchen nur von weiblichem Pflegepersonal und Jungen nach Möglichkeit nur von männlichem Pflegepersonal betreut werden. Nach der Ausscheidung ist es üblich, die Genitalregion mit klarem Wasser zu spülen. Dies geschieht mit der linken Hand.

Mädchen oder Junge sein Aus hygienischen und moralischen Gründen ist die Beschneidung der Jungen als

ein übliches Ritual bekannt, das mit einem Familienfest verbunden sein kann. Die Beschneidung von Frauen ist im Koran nicht vorgesehen. Muslima sollten – soweit möglich – von Ärztinnen untersucht werden; zumindest sollte immer eine weibliche Pflegefachkraft anwesend sein. Die Rollen von Männern und Frauen sind klar definiert. Männer haben für den Unterhalt der Familie zu sorgen. Die Frau hat dagegen ihre Aufgaben im Haushalt der Familie und untersteht der Autorität des Mannes. Gesetzlich und gesellschaftlich untersagt ist Homosexualität. Erlaubt ist Empfängnisverhütung, Abtreibung dagegen nur bei strenger medizinischer Indikation der Mutter. In-vitro-Fertilisation ist nur erlaubt, wenn die jeweilige Eizelle und das Sperma von dem betreffenden Ehepaar stammen.

Sterben/Sinn finden Es gibt 5 feste Gebetszeiten der Muslime. Diese sind vor Sonnenaufgang, mittags, nachmittags, nach Sonnenuntergang und nachts. Vor dem Gebet findet eine besondere Reinigung des Körpers statt. Das Gebet wird in Himmelsrichtung auf den Ort Mekka ausgerichtet durchgeführt und enthält feste Gebetstexte und Bewegungsabläufe. Neben dem bereits erwähnten Gebet und dem Fasten im Monat Ramadan gehört zu den 5 religiösen Grundsätzen das Glaubensbekenntnis, die Armensteuer und die Pilgerfahrt nach Mekka. Weitere zu beachtende Aspekte sind im Kap. Sterben (S. 462) zu finden.

Kapitel 3 Qualitätssicherung in der Pflege

3.1

Was ist Qualität?

54

3.2

Pflegeprozess

58

3.3

Pflegedokumentation und Berichterstattung

63

Pflegediagnosen und Gesundheitsdiagnosen

64

3.5

Pflegestandards

66

3.6

Pflegekonzepte, -modelle, -theorien

68

3.7

Pflegewissenschaft/Pflegeforschung

75

3.8

Mitarbeiterqualifikation – lebenslanges Lernen

78

3.4

Qualitätssicherung in der Pflege

3 Qualitätssicherung in der Pflege Diana Nowak

3.1 Was ist Qualität? Definition

L ●

Qualität wird laut Duden (2015) folgendermaßen definiert: „lat. für Beschaffenheit, Güte, Wert“. Der Vergleich zwischen dem tatsächlichen (Ist) und dem erstrebenswerten Zustand (Soll) bestimmt den Grad der Qualität. Je mehr man sich dem Sollwert nähert, desto höher wird die Qualität (▶ Abb. 3.1). Nach dem amerikanischen Wissenschaftler Avedis Donabedian ist Qualität der Grad an Übereinstimmung zwischen dem Ergebnis und den zuvor formulierten Zielen (Statistisches Bundesamt, Gesundheitsberichterstattung des Bundes, www.gbe-bund.de). Die Quantität bezeichnet, mithilfe numerischer Werte, die Größe, Menge oder Anzahl von qualitativen Eigenschaften. Mit einer quantitativen Einschätzung werden somit Aussagen über Mengen- oder Messwerte, das Ausmaß oder Verhältnis von Qualität vorgenommen. Qualitative Aussagen sind über die Beschaffenheit, Eigenschaften oder den Zustand einer Sache oder eines Vorgangs möglich. Qualitätssicherung ist eine Sammelbezeichnung für alle Maßnahmen, die zur Bestimmung, zur Verbesserung und zur Erhaltung von Qualität getroffen werden. Der Begriff stammt aus dem industriellen Bereich. Hier entwickelte sich die Qualitätssicherung über viele Jahrzehnte von produktionsprozessbezogenen Qualitätsprüfungen bis hin zu betriebsweiten Konzepten.

3

In Japan lassen sich Anfänge der modernen Qualitätssicherungsprogramme finden. In den USA werden seit den 1980erJahren Qualitätsprüfungen im Krankenhaus durchgeführt. Anhand derer wird

QU ALI Ist

TÄT Soll

Abb. 3.1 Qualitätsgrad. Je mehr sich der Ist-Zustand dem Soll-Zustand nähert, umso höher ist die Qualität zu bewerten.

54

entschieden, welche Krankenhäuser eine Anerkennung und somit auch Gelder von den Krankenkassen erhalten. In Deutschland ist durch das Gesundheitsstrukturgesetz (01. 01. 1993) gesetzlich festgeschrieben, dass Krankenhäuser unter dem Aspekt der Wirtschaftlichkeit, aber auch unter qualitätssichernden Aspekten zu arbeiten haben. Es erscheint widersprüchlich, auf der einen Seite höhere Qualitätsleistungen erbringen, andererseits aber Kosten reduzieren zu sollen. Beides gleichermaßen zu erreichen stellt eine Herausforderung für die Verantwortlichen dar. Der Begriff „Qualität“ ist vom Gesetzgeber nicht definiert, sodass sich in Bezug auf die Qualitätsbeurteilung der zu erbringenden Leistung auch rechtliche Probleme ergeben. Auf der anderen Seite ist es eine Chance, Qualität selbst zu definieren. Dies bedeutet für den Bereich der Pflege, als im Gesundheitswesen tätigen Berufszweig, Qualitätskriterien zu erstellen, einzuhalten und zu überprüfen. Der Krankenhausträger hat die Gesamtverantwortung für die Qualität, er hat Organisations- und Überwachungspflichten. Fahrlässigkeit und Unterlassungen können zu rechtlichen Sanktionen führen. Alle Krankenhäuser sind nach dem Sozialgesetzbuch (§ 134–137 SGB V) verpflichtet, ein Qualitätsmanagement einzurichten und seit 2014 jährlich einen strukturierten Qualitätsbericht im Internet zu veröffentlichen. Dieser Qualitätsbericht beinhaltet Angaben zur Struktur und Leistung des Krankenhauses, z. B. Anzahl der Betten, Fachabteilungen und durchgeführte Operationen. Weiterhin konkrete Angaben zu Maßnahmen, welche der Qualitätssicherung dienen und im Qualitätsmanagement kontrolliert und umgesetzt werden.

Merke

H ●

Ziele der Qualitätssicherung im Gesundheitswesen: ● gesteigertes Wohlbefinden und verbesserter Gesundheitszustand des Patienten ● erhöhte Patientensicherheit und -zufriedenheit ● erhöhte Mitarbeitersicherheit und -zufriedenheit ● patientenorientierte Prozessoptimierung ● strukturiertes, alle Bereiche umfassendes Risiko- und Fehlermanagement

Praxistipp Pflege

Z ●

Optimal ist es, wenn diese Ziele mit wirtschaftlichem Handeln kombiniert erreicht werden.

▶ Qualitätsmanagement. Es regelt das Verfahren, wie die Qualität innerhalb eines Unternehmens erreicht werden soll. ▶ Tab. 3.1 benennt einige Modelle des Qualitätsmanagements. In einer Qualitätsmanagement-Norm sind die Anforderungen an ein Qualitätsmanagement definiert, um einem festgelegten Standard zu entsprechen. Diese können für das Unternehmen intern sowie für den Qualitätsnachweis extern von Bedeutung sein. Als vergleichbare Richtlinien können hier zertifizierbare Normen herangezogen werden. So sind in der Normenreihe EN ISO 9000 ff. (EN = europäische Norm, ISO = International Organisation for Standardisation) Grundlagen und Anforderungen für Qualitätsmanagement-Systeme erläutert. Diese können in verschiedenen Unternehmensarten, auch im Dienstleistungsbereich, angewendet werden. Um eine Zertifizierung eines Unternehmens nach dieser Norm zu erreichen, müssen die hier beschriebenen Prozesse deutlich gemacht werden. Dies erfolgt u. a. auf der Grundlage eines Qualitätsmanagement-Handbuchs, das die Gestaltung der Abläufe beschreibt. Es enthält die Qualitätskategorien Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität (nach Donabedian, Statistisches Bundesamt, Gesundheitsberichterstattung des Bundes): ● Strukturqualität: Hierunter fallen alle Rahmenbedingungen der gesamten Arbeitsorganisation eines Unternehmens und einzelner Mitarbeiter, z. B. Abgrenzung der Verantwortungsbereiche, bauliche und räumliche Ausstattung, Anzahl der Mitarbeiter und deren Aus-, Fort- und Weiterbildungsstand, weiterhin Leitbild und Dokumentationssystem. ● Prozessqualität: Zur Prozessqualität werden Arbeitsabläufe gerechnet, die unmittelbar mit dem Kunden zu tun haben, z. B. Art und Umfang erforderlicher Pflegemaßnahmen, also der Pflegebedarf. Dieser ergibt sich aus Informationserfassung, Planung der Pflege und Durchführung mit aktualisierter Pflegeeinschätzung (S. 58). ● Ergebnisqualität: Die Ergebnisqualität wird durch die Kunden und Mitarbeiter deutlich, durch deren Gesundheitszustand und Zufriedenheit. Im Pfle-

Qualitätssicherung in der Pflege

3 Qualitätssicherung in der Pflege Diana Nowak

3.1 Was ist Qualität? Definition

L ●

Qualität wird laut Duden (2015) folgendermaßen definiert: „lat. für Beschaffenheit, Güte, Wert“. Der Vergleich zwischen dem tatsächlichen (Ist) und dem erstrebenswerten Zustand (Soll) bestimmt den Grad der Qualität. Je mehr man sich dem Sollwert nähert, desto höher wird die Qualität (▶ Abb. 3.1). Nach dem amerikanischen Wissenschaftler Avedis Donabedian ist Qualität der Grad an Übereinstimmung zwischen dem Ergebnis und den zuvor formulierten Zielen (Statistisches Bundesamt, Gesundheitsberichterstattung des Bundes, www.gbe-bund.de). Die Quantität bezeichnet, mithilfe numerischer Werte, die Größe, Menge oder Anzahl von qualitativen Eigenschaften. Mit einer quantitativen Einschätzung werden somit Aussagen über Mengen- oder Messwerte, das Ausmaß oder Verhältnis von Qualität vorgenommen. Qualitative Aussagen sind über die Beschaffenheit, Eigenschaften oder den Zustand einer Sache oder eines Vorgangs möglich. Qualitätssicherung ist eine Sammelbezeichnung für alle Maßnahmen, die zur Bestimmung, zur Verbesserung und zur Erhaltung von Qualität getroffen werden. Der Begriff stammt aus dem industriellen Bereich. Hier entwickelte sich die Qualitätssicherung über viele Jahrzehnte von produktionsprozessbezogenen Qualitätsprüfungen bis hin zu betriebsweiten Konzepten.

3

In Japan lassen sich Anfänge der modernen Qualitätssicherungsprogramme finden. In den USA werden seit den 1980erJahren Qualitätsprüfungen im Krankenhaus durchgeführt. Anhand derer wird

QU ALI Ist

TÄT Soll

Abb. 3.1 Qualitätsgrad. Je mehr sich der Ist-Zustand dem Soll-Zustand nähert, umso höher ist die Qualität zu bewerten.

54

entschieden, welche Krankenhäuser eine Anerkennung und somit auch Gelder von den Krankenkassen erhalten. In Deutschland ist durch das Gesundheitsstrukturgesetz (01. 01. 1993) gesetzlich festgeschrieben, dass Krankenhäuser unter dem Aspekt der Wirtschaftlichkeit, aber auch unter qualitätssichernden Aspekten zu arbeiten haben. Es erscheint widersprüchlich, auf der einen Seite höhere Qualitätsleistungen erbringen, andererseits aber Kosten reduzieren zu sollen. Beides gleichermaßen zu erreichen stellt eine Herausforderung für die Verantwortlichen dar. Der Begriff „Qualität“ ist vom Gesetzgeber nicht definiert, sodass sich in Bezug auf die Qualitätsbeurteilung der zu erbringenden Leistung auch rechtliche Probleme ergeben. Auf der anderen Seite ist es eine Chance, Qualität selbst zu definieren. Dies bedeutet für den Bereich der Pflege, als im Gesundheitswesen tätigen Berufszweig, Qualitätskriterien zu erstellen, einzuhalten und zu überprüfen. Der Krankenhausträger hat die Gesamtverantwortung für die Qualität, er hat Organisations- und Überwachungspflichten. Fahrlässigkeit und Unterlassungen können zu rechtlichen Sanktionen führen. Alle Krankenhäuser sind nach dem Sozialgesetzbuch (§ 134–137 SGB V) verpflichtet, ein Qualitätsmanagement einzurichten und seit 2014 jährlich einen strukturierten Qualitätsbericht im Internet zu veröffentlichen. Dieser Qualitätsbericht beinhaltet Angaben zur Struktur und Leistung des Krankenhauses, z. B. Anzahl der Betten, Fachabteilungen und durchgeführte Operationen. Weiterhin konkrete Angaben zu Maßnahmen, welche der Qualitätssicherung dienen und im Qualitätsmanagement kontrolliert und umgesetzt werden.

Merke

H ●

Ziele der Qualitätssicherung im Gesundheitswesen: ● gesteigertes Wohlbefinden und verbesserter Gesundheitszustand des Patienten ● erhöhte Patientensicherheit und -zufriedenheit ● erhöhte Mitarbeitersicherheit und -zufriedenheit ● patientenorientierte Prozessoptimierung ● strukturiertes, alle Bereiche umfassendes Risiko- und Fehlermanagement

Praxistipp Pflege

Z ●

Optimal ist es, wenn diese Ziele mit wirtschaftlichem Handeln kombiniert erreicht werden.

▶ Qualitätsmanagement. Es regelt das Verfahren, wie die Qualität innerhalb eines Unternehmens erreicht werden soll. ▶ Tab. 3.1 benennt einige Modelle des Qualitätsmanagements. In einer Qualitätsmanagement-Norm sind die Anforderungen an ein Qualitätsmanagement definiert, um einem festgelegten Standard zu entsprechen. Diese können für das Unternehmen intern sowie für den Qualitätsnachweis extern von Bedeutung sein. Als vergleichbare Richtlinien können hier zertifizierbare Normen herangezogen werden. So sind in der Normenreihe EN ISO 9000 ff. (EN = europäische Norm, ISO = International Organisation for Standardisation) Grundlagen und Anforderungen für Qualitätsmanagement-Systeme erläutert. Diese können in verschiedenen Unternehmensarten, auch im Dienstleistungsbereich, angewendet werden. Um eine Zertifizierung eines Unternehmens nach dieser Norm zu erreichen, müssen die hier beschriebenen Prozesse deutlich gemacht werden. Dies erfolgt u. a. auf der Grundlage eines Qualitätsmanagement-Handbuchs, das die Gestaltung der Abläufe beschreibt. Es enthält die Qualitätskategorien Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität (nach Donabedian, Statistisches Bundesamt, Gesundheitsberichterstattung des Bundes): ● Strukturqualität: Hierunter fallen alle Rahmenbedingungen der gesamten Arbeitsorganisation eines Unternehmens und einzelner Mitarbeiter, z. B. Abgrenzung der Verantwortungsbereiche, bauliche und räumliche Ausstattung, Anzahl der Mitarbeiter und deren Aus-, Fort- und Weiterbildungsstand, weiterhin Leitbild und Dokumentationssystem. ● Prozessqualität: Zur Prozessqualität werden Arbeitsabläufe gerechnet, die unmittelbar mit dem Kunden zu tun haben, z. B. Art und Umfang erforderlicher Pflegemaßnahmen, also der Pflegebedarf. Dieser ergibt sich aus Informationserfassung, Planung der Pflege und Durchführung mit aktualisierter Pflegeeinschätzung (S. 58). ● Ergebnisqualität: Die Ergebnisqualität wird durch die Kunden und Mitarbeiter deutlich, durch deren Gesundheitszustand und Zufriedenheit. Im Pfle-

3.1 Was ist Qualität?

Tab. 3.1 Einige Modelle des Qualitätsmanagements. Abkürzung

Bedeutung

DIN/ISO

Deutsches Institut für Normung/International Organisation for Standardisation

EFQM

European Foundation for Quality Management

KTQ

Kooperation für Transparenz und Qualität im Gesundheitswesen

TQM

Total Quality Management

KAIZEN

Kontinuierliche Verbesserungsprozesse

geprozess erfolgt mit der Evaluation eine Beurteilung der Pflegewirkung, z. B., ob die angestrebten Pflegeziele erreicht wurden. ▶ Audit. Hierunter wird eine systematische und unabhängige Untersuchung verstanden. Tatsächliche Abläufe werden mithilfe von festgelegten Prozessen überprüft. In einem Auditbericht werden die Ergebnisse der Überprüfung und Bewertung zusammengefasst und können dann als Grundlage für einen Verbesserungsprozess genutzt werden. Die Auditierung kann durch interne oder externe Beauftragte erfolgen. Damit sind neben einem sog. Zertifizierungsaudit auch interne Überprüfungen möglich. Das übergeordnete Ziel ist die Qualitätssteigerung, die als prozesshaftes Geschehen gesehen wird. Jeder einzelne Mitarbeiter hat innerhalb dieses Prozesses in seinem Aufgabenbereich Einfluss auf das Qualitätsergebnis. ▶ Gesamtbetriebliche Qualitätssicherung. Sie wird auch als Total Quality Management (TQM) bezeichnet. Die Maßnahmen zur Qualitätssicherung sind auf den ganzen Betrieb, d. h. auf alle Funktionsbereiche und alle Ebenen eines Unternehmens bezogen. In diesen Prozess sind alle Mitarbeiter, durch einen permanenten Verbesserungsprozess, einzubeziehen. Die Qualität eines Betriebes kann z. B. durch einen Qualitätszirkel gesichert werden. Unter einem Qualitätszirkel wird eine Gruppe von Mitarbeitern verstanden, die in regelmäßigen Abständen zusammenkommt, um zu bestimmten Fragestellungen in ausgewählten Bereichen die Qualität innerhalb des Betriebes zu verbessern. ▶ Qualitätskontrolle. Sie ist ein Teilaspekt der Qualitätssicherung und bezeichnet Maßnahmen zur Feststellung, Erhaltung und Verbesserung von Qualität nach zuvor festgelegten Kriterien und Richtwerten (Qualitätsindikatoren). Mit der Überprüfung der Qualität einer Leistung oder eines Produktes lassen sich Rückschlüsse auf die Eignung von Prozessabläufen bzw. Herstellungsverfahren ziehen. Interne Qualitätskontrollen können durch das hauseigene Qualitätsmanagement und berufsgruppenübergreifende

bzw. -spezifische Qualitätszirkel durchgeführt werden (interne Audits). Weitere Qualitätskontrollen entstehen durch externe Audits (Zertifizierung). Das Pflegeweiterentwicklungsgesetz (§ 113a SGB XI) kennzeichnet pflegespezifische Kontrollansätze wie die Umsetzung des Pflegekonzeptes, die Planung, Durchführung und Evaluation der Pflege und die fachgerechte Führung der Pflegedokumentation. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) überprüft die Einhaltung dieser gesetzlichen Vorgaben und bestimmt damit das Ausmaß der vorhandenen Qualität der Pflege einer Einrichtung. ▶ PDCA-Zyklus. William Edwards Deming entwickelte mit dem PDCA-Zyklus eine Methode für die Umsetzung eines kontinuierlichen Qualitätsverbesserungsprozesses. Die Buchstaben PDCA stehen für die englischen Begriffe Plan, Do, Check und Act: ● P = Plan (Planung): Ein Arbeitsablauf, ein Arbeitsmittel oder ein Produkt, dessen Qualität verbessert werden soll, wird ausgewählt, analysiert und eine Strategie entwickelt. ● D = Do (Umsetzung/Ausführung): Die geplante Strategie wird als „Test- oder Probelauf“ in einem ausgewählten Bereich umgesetzt. ● C = Check (Überprüfung): Die durchgeführten Maßnahmen und deren Auswirkungen werden bewertet. In dieser Phase werden neue Erkenntnisse aus dem Prozess deutlich. ● A = Act (Aktion/Anpassung): Qualitätssteigernde Maßnahmen werden beibehalten bzw. noch weiterentwickelt. Ungeeignete Methoden werden in einem neu gestarteten PDCA-Zyklus ersetzt. Stellen sich hierbei Prozesse und Instrumente als geeignet dar, werden diese auf alle Bereiche angewendet. Der Qualitätsentwicklungsprozess ist damit jedoch nicht zu Ende, es erfolgt eine fortlaufende regelmäßige Überprüfung durch o. g. Audits. ▶ Case-Management. Eine Möglichkeit der positiven Beeinflussung der qualitativen Versorgung von Patienten innerhalb des Gesundheitswesens und in der sozialen Arbeit kann durch ein sog. Case-

Management (Fallmanagement) erfolgen. Speziell qualifizierte Case-Manager haben die Aufgabe, die Leistung für den konkreten Fall (Patient) zu optimieren, indem sie den Behandlungsablauf des Patienten von der Aufnahme bis zur Entlassung koordinieren (S. 100). Die Krankenhäuser sind nach § 39 SGB V verpflichtet, im Rahmen des Entlassungsmanagements den Patienten bei der Überleitung in eine notwendige anschließende medizinische und pflegerische Versorgung zu unterstützen.

3

▶ Disease-Management. Einfluss auf die Qualität der Versorgung von Patienten haben auch sog. Disease-Management-Programme (DMP). Dabei handelt es sich um spezielle, strukturierte Behandlungsprogramme für Menschen mit chronischen Erkrankungen. Ziel des Disease-Managements ist, durch ein abgestimmtes diagnostisches und therapeutisches Vorgehen die Betreuung zu verbessern. Hiermit sollen Komplikationen oder Folgeschäden durch die Erkrankung reduziert werden. Bisher sind solche Programme für Patienten mit Diabetes Typ I und II, Brustkrebs, koronarer Herzkrankheit und Asthma/ COPD (chronisch obstruktive Atemwegserkrankungen) erstellt worden. Es werden wissenschaftlich überprüfte Leitlinien für die koordinierte Behandlung mit verbindlichen Dokumentationsparametern genutzt. Neben der verbesserten Lebensqualität für die Betroffenen sollen auch Kosten eingespart werden, indem ineffektive Behandlungen oder unnötige diagnostische Maßnahmen wegfallen. Der Hausarzt übernimmt bei diesem Modell i. d. R. eine Lotsenfunktion und steuert damit die notwendige Behandlung und Mitbehandlung durch Fachärzte.

3.1.1 Qualitätsentwicklung/Qualitätsmanagement in der Pflege Pflegefachkräfte haben direkten Einfluss auf die Qualität ihrer Leistung im Rahmen der Gesundheitsversorgung. Innerhalb der verschiedenen Tätigkeitsbereiche in der Pflege trägt jeder Einzelne Verantwortung für die Qualität der Ausführung von Aufgaben. So beeinflussen Pflegefachkräfte in Leitungspositionen ebenso die Qualität der Pflege wie die Teammitglieder einzelner Pflegebereiche.

Pflegeverständnis Wie Pflege verstanden, definiert und „gelebt“ wird, zeigt sich im Verhalten der Pflegefachkraft in der Pflegesituation. Das Pflegeverständnis entwickelt sich durch verschiedene Faktoren, hierzu zählen z. B.:

5

Qualitätssicherung in der Pflege ●





● ●

3

● ●

persönliche Einstellung zu anderen Menschen (Menschenbild) Vorstellungen über die Aufgaben der Pflege Fachkompetenz, fachliche Erfahrungen und Wissen Vorbilder Sozialkompetenz, Wahrnehmungs-, Beobachtungs-, Kommunikations- und Beziehungsfähigkeit Selbsteinschätzung und -reflexion Rahmenbedingungen der Institution

Lernaufgabe

M ●

Formulieren Sie Ihr Pflegeverständnis! Beantworten Sie folgende Fragen: ● Wie definieren Sie Pflege? Worin sehen Sie Ihre Aufgaben als Pflegefachkraft? ● Wo sehen Sie Ihre eigenen Stärken und Schwächen? ● Welche Bedeutung hat diese Einschätzung Ihrer Stärken und Schwächen für Ihre Pflegetätigkeit? ● Welche Rahmenbedingungen finden Sie in Ihrem Arbeitsfeld vor?

gemeinsamen Orientierung formuliert werden. Das Pflegeleitbild ist dem betrieblichen Leitbild untergeordnet, das Verpflichtungen und Einstellungen der Institution dem Patienten gegenüber formuliert. Das tatsächliche Verhalten der Pflegenden kann an den Vorgaben gemessen werden. Ein Pflegeleitbild könnte z. B. folgende Aspekte beinhalten: ● Patienten und deren Angehörige werden unterstützt, sich mit der neuen Lebenssituation auseinanderzusetzen. ● Die Pflegemaßnahmen werden auf die Bedürfnisse des Patienten abgestimmt. Es werden Ruhephasen ermöglicht. ● Die Selbstständigkeit des Patienten wird gefördert. ● Die Selbstbestimmung des Patienten wird geachtet.

Werteorientierung und Pflegeleitbild Grundlage und Maßstab des Handelns ist die eigene Werteorientierung. In der Ausübung der Pflege zeigt sich die Grundhaltung der Pflegenden. In einem Pflegeleitbild können die Werteorientierung und das konkrete Pflegeverständnis für die Pflegenden, z. B. in einer Institution, zur

Praxistipp Pflege

Arbeitsorganisation und Pflegesysteme Die Arbeitsorganisation regelt die Verteilung der anstehenden Aufgaben. In der Pflege kann dies durch die Zuordnung von Patienten, Zimmern bzw. Bereichen, entsprechend dem zur Verfügung stehenden Personal, geschehen. Die methodische Gestaltung der Arbeitsabläufe in der Pflege resultiert aus den Pflegesystemen. Diese können sich an den anstehenden Tätigkeiten oder den Bedürfnissen des Menschen orientieren. Dementsprechend wird eine Einteilung in funktionelle Pflege, auch Funktionspflege genannt, oder in patientenorientierte Pflege vorgenommen (▶ Tab. 3.2). Im Pflegealltag zeigen sich oft Mischformen von funktionellem und patientenorientiertem Arbeiten. Die Arbeitsorganisation nach Patienten gewährleistet noch nicht automatisch eine patientenorientierte Pflege. Auch hier kann die Pflegefachkraft funktionsorientiert pflegen, d. h. einzelne Pflegetätigkeiten ohne Berücksichtigung der Bedürfnisse des Patienten vornehmen. Welches Pflegesystem in der Pflegepraxis Anwendung findet, wird durch die Rahmenbedingungen und das Pflegeverständnis der einzelnen Pflegefachkraft beeinflusst.

Z ●

Der Erhalt bzw. die Verbesserung der Pflegequalität kann überall dort erfolgen, wo Pflegefachkräfte tätig sind. Das bedeutet, dass Qualitätssicherungsmaßnahmen nicht nur im Krankenhaus, sondern auch in anderen Tätigkeitsbereichen, z. B. im ambulanten Pflegedienst, Anwendung finden. Die Pflegefachkräfte können die Qualität ihrer Arbeit erhalten bzw. verbessern, indem sie durch Fort- und Weiterbildung den eigenen Wissensstand aktualisieren und erweitern. Durch die Mitarbeit in Arbeitsgruppen kann Einfluss auf die betriebliche Organisationsstruktur genommen werden, um damit die Patienten- und Mitarbeiterzufriedenheit zu steigern.

Funktionelle Pflege/ Funktionspflege Die pflegerischen Aufgaben werden in Einzeltätigkeiten aufgeteilt. Eine Pflegefachkraft misst z. B. bei allen Patienten den Blutdruck, eine andere teilt die Fieberthermometer aus, eine dritte lagert die Patienten oder führt die Verbandwechsel

Tab. 3.2 Gegenüberstellung von Funktionspflege und patientenorientierter Pflege. Funktionspflege ●

Ein Mensch wird als Summe von Teilen gesehen, die jeweils einzeln betrachtet werden.



Ein Mensch wird als Einheit von Leib, Seele und Geist wahrgenommen.

Arbeitsorganisation



tätigkeitsorientiert Tätigkeiten bestimmen den Ablauf



patientenorientiert Patient hat Einfluss auf den Ablauf

geübte, routinierte, d. h. schnelle Ausführung eines Arbeitsschrittes, gibt ein Gefühl der Sicherheit (Spezialist) Aufgabenverteilung je nach Qualifikation, auch Hilfskräfte können eingesetzt werden



Gesamtverantwortung für die Pflege des Patienten liegt bei der Stationsleitung. Durchführungsverantwortung für die jeweilige Aufgabe hat die ausführende Pflegefachkraft (Hierarchie).



Gesamtverantwortung für die Pflege des Patienten liegt bei der Bezugspflegeperson, die alle Pflegeaufgaben bei dem Patienten durchführt.

keine festen Ansprechpartner Patient erlebt Unruhe und Unsicherheit durch unkoordinierte Einzelpflegemaßnahmen. Pflegefachkraft erlebt wenig Erfolge/Selbstbestätigung.



fester Ansprechpartner Sicherheit weniger Unruhe für den Patienten ermöglicht mehr Handlungsspielräume für die Pflegenden

erschwert durch reduzierte Kommunikationsmöglichkeiten Gefahr, dass Patient zum Objekt wird

● ●

kann sich leichter entwickeln intensiverer Kontakt möglich

Einzelaufgaben werden gesehen. Gesamtüberblick/Zusammenhänge fehlen.



steigt durch Kontinuität und Gesamtblick



nötiges Wissen und Fähigkeiten (Kompetenzen der Pflegenden)





Verantwortungsbereich der Pflegenden





Zufriedenheit des Patienten und der Pflegenden

● ●



Beziehung zum Patienten

● ●

Qualität der Pflege

● ●

56

patientenorientierte Pflege

Wahrnehmung der Situation eines Menschen





● ● ●

komplexere Aufgaben qualifiziertes Personal nötig

3.1 Was ist Qualität? durch. Das Prinzip der Arbeitsteilung entstand Ende der 1970er-Jahre in der Industrie, um die Arbeit zu rationalisieren, damit ungelernte Arbeitskräfte einzelne Arbeitsschritte übernehmen konnten. Die Orientierung erfolgt an den Betriebsabläufen der jeweiligen Institution und den allgemeinen physischen Bedürfnissen des Patienten. Individuelle Bedürfnisse des Patienten spielen eine untergeordnete Rolle (▶ Abb. 3.2).

Patientenorientierte Pflege Es werden auch andere Bezeichnungen für die patientenorientierte Pflege verwendet, diese sind z. B. patientenzentrierte, ganzheitliche oder individuelle Pflege. Eine Pflegefachkraft übernimmt hier alle pflegerischen Aufgaben an einem Patienten. Die Verantwortung für die Durchführung der Pflege liegt somit bei ihr. Günstige Arbeitsorganisationsformen für die Anwendung der patientenorientierten Pflege sind die Aufteilung der Patienten nach Zimmern oder Bereichen (▶ Abb. 3.3).

Abb. 3.2 Funktionspflege. Die Pflegefachkraft orientiert sich in ihrem Arbeitsablauf an den notwendigen Tätigkeiten. (Abb. aus: Lauber A, Schmalstieg P. verstehen und pflegen. Thieme; 2018)

Primary Nursing (Primärpflege) Das Primary Nursing stellt eine besondere Form der patientenorientierten Pflege dar. Ende der 1960er-Jahre sind die Anfänge hierfür in den USA entwickelt worden. Jeder Patient erhält bei der Aufnahme eine für ihn verantwortliche und zuständige Pflegefachkraft, die sog. Primary Nurse. Sie ist für die Pflege des Patienten „rund um die Uhr“ verantwortlich. Bei ihrer Abwesenheit übergibt sie den Patienten an eine Associated Nurse. Diese führt die Pflege nach dem Pflegeplan der Primary Nurse weiter. Von diesem Plan darf sie nur ausnahmsweise, in „Notfällen“, abweichen. Das Ziel ist eine kontinuierliche Pflege, die systematisch erfolgt und sich nicht je nach Einschätzung der einzelnen Pflegenden beliebig ändern kann. Damit wird eine qualitativ hochwertige Versorgung des Patienten angestrebt. Voraussetzung, eine Primary Nurse zu werden, ist Berufserfahrung mit entsprechender Qualifikation. Die Aufgaben der Primary Nurse sind u. a.: ● Aufnahmegespräch führen ● Pflegeplanung mit dem Patienten erstellen ● Pflege durchführen bzw. delegieren, z. B. an die Associated Nurse ● gesamte Dokumentation überwachen ● Arztvisite begleiten ● Patientenaktivitäten wie Diagnostik, Therapie, Pflegemaßnahmen koordinieren ● Pflegeplanung evaluieren ● Patienten entlassen Neben der Patientenorientierung durch die Pflegefachkräfte selbst sind weitere organisatorische Rahmenbedingungen nötig, damit das Pflegesystem Primary Nursing umgesetzt werden kann. So ist es z. B. notwendig, die Arbeitsorganisation interdisziplinär nach dem Ablauf der Pflege des Patienten auszurichten. Funktionsabteilungen, wie u. a. die Röntgenabteilung, die Physiotherapie oder das Labor, orientieren sich an der Pflege des Patienten und nicht umgekehrt.

Merke

Abb. 3.3 Patientenorientierte Pflege. Die Pflegefachkraft übernimmt sämtliche Pflegeaufgaben, die einen Patienten betreffen und orientiert sich an seinen Bedürfnissen. (Abb. aus: Lauber A, Schmalstieg P. verstehen und pflegen. Thieme; 2018)

H ●

Die Auswahl und Anwendung eines Pflegesystems beeinflussen: ● die Qualität der pflegerischen Versorgung ● die Patientenzufriedenheit ● die berufliche Motivation/Zufriedenheit der Pflegefachkraft

▶ Risikomanagement, Umgang mit Fehlern. Die Zufriedenheit und das Wohlbefinden der Patienten sind ein wichtiges Qualitätsmerkmal in der Pflege. Hierzu müssen die Pflegemaßnahmen unter Berücksichtigung aktueller pflegefachlicher Erkenntnisse korrekt ausgeführt und auf

die Bedürfnisse des Patienten abgestimmt werden. Fehler in der Durchführung können im Extremfall sogar die Sicherheit des Patienten gefährden. Es ist daher notwendig, Fehler zu vermeiden und entsprechende Ursachen für das Auftreten von Fehlern zu erkennen. Ein Risikomanagement oder sog. Risk-Management kann hier als Instrument dienen, mit dem Ursachen für Fehler geklärt und entsprechende Maßnahmen eingeleitet werden, um diese in Zukunft zu verhindern. Dazu müssen alle (auch die beinahe) aufgetretenen Fehler und Schadensfälle systematisch erfasst werden. Diese kritischen Ereignisse können evtl. Schwachstellen in der Organisation oder dem Ablauf der Pflege aufzeigen, die dann gezielt beseitigt werden können. Die Erfassung kann mithilfe elektronischer Datenverarbeitungssysteme geschehen, was als elektronisches Critical Incident Reporting System (CIRS) bezeichnet wird.

Merke

3

H ●

Ein gezieltes, geplantes und gemeinsames Vorgehen bildet die Grundlage für die Erreichung eines möglichst hohen Qualitätsstandards. Weiterhin müssen Pflegemaßnahmen der individuellen Pflegesituation und den neuesten pflegewissenschaftlichen Erkenntnissen angepasst werden. Voraussetzung für die Überprüfung der Pflegequalität ist die Zieldefinierung, d. h. die Festlegung des zu erreichenden Qualitätsergebnisses. Wünschenswert ist das Erreichen einer möglichst hohen Pflegequalität; das bedeutet, dass die Abweichungen zwischen dem Ist-Zustand und dem SollZustand möglichst gering sind. Bei größeren Abweichungen liegt eine mangelnde bzw. schlechte Qualitätsleistung vor.

Merke

H ●

In der Qualitätskontrolle wird eine Reflexion der Bedingungen vorgenommen, die für das Qualitätsergebnis entscheidend waren. Neben der Fachrichtigkeit der ausgeführten Pflegetechnik ist auch die Beziehung zwischen Pflegenden, Patient und Angehörigen zu betrachten. Weiterhin können auch organisatorische Rahmenbedingungen, z. B. Arbeitsbelastung, die Pflegesituation und damit die Qualitätsleistung beeinflussen. Die Instrumente Pflegeprozess, Pflegedokumentation, Pflegediagnosen, Pflegestandards, Pflegetheorien, Pflegewissenschaft, Pflegeforschung und Mitarbeiterqualifikation können die Pflegequalität erhöhen (▶ Abb. 3.4). Im Verlauf dieses Kapitels werden sie näher erläutert.

7

Qualitätssicherung in der Pflege

Mitarbeiterqualifikation

3.2.2 Erster Schritt – Einschätzen des Pflegebedarfs

Pflegestandards

Informationssammlung Pflegediagnosen

Pflegewissenschaft Qualität der Pflege

3

Pflegedokumentation

Pflegetheorien Pflegeprozess

Pflegeforschung

Abb. 3.4 Pflegequalität. Faktoren, die zur Qualitätssicherung in der Pflege beitragen.

3.2 Pflegeprozess Der Pflegeprozess dient als Instrument zur Qualitätssicherung, um die Vorgehensweise in der Pflege bedarfsgerecht auf die individuelle Situation des Patienten abzustimmen.

3.2.1 Entwicklung des Pflegeprozesses Seit 1985 ist in der Bundesrepublik Deutschland im Krankenpflegegesetz die geplante Pflege vorgesehen. Sie geschieht mithilfe des Pflegeprozesses, in welchem die individuelle Situation des Menschen ermittelt wird, um danach seine Pflegeprobleme unter Berücksichtigung seiner Ressourcen systematisch zu lösen. Dabei ist das prozesshafte Vorgehen wichtig; kein Schritt des Pflegeprozesses darf übersprungen werden. Je nach Pflegetheorie werden die einzelnen Schritte im Pflegeprozess unterschiedlich bezeichnet, die inhaltliche Vorgehensweise ist jedoch gleich. Der Pflegeprozess ist eine systematische Abfolge von Schritten der Planung und dient zur Erleichterung der Durchführung der Pflege. Dabei wird ein zielgerichtetes Vorgehen zur individuellen Pflege angestrebt. Der Pflegeprozess findet überall dort Anwendung, wo Menschen Unterstützung durch professionelle Pflege benötigen. Er kann somit nicht nur während eines Krankenhausaufenthaltes, sondern auch z. B. in der ambulanten Pflege die Vorgehensweise in der Pflege bestimmen (S. 111). Der Pflegeprozess lässt sich auf das „Vier-Stufen-Modell“ von Yura und Walsh aus dem Jahr 1967 zurückführen:

58

1. 2. 3. 4.

Assessment Planung Intervention Evaluation

Im „Fünf-Stufen-Modell“ fügte Gordon 1994 einen weiteren, zwischen Assessment und Planung erfolgenden Schritt, die Diagnose, ein (siehe hierzu auch Pflegediagnosen (S. 64) und ▶ Abb. 3.9). Der problemlösende Prozess wurde ebenfalls von Fiechter und Meier erstmals 1981 beschrieben und durchläuft 6 Schritte (▶ Abb. 3.5). Eine andere Möglichkeit ist die Darstellung des Pflegeprozesses nach Roper u. a. (1993) in 4 Hauptkomponenten (▶ Abb. 3.6). Dabei werden im Schritt Planung der Pflege folgende Punkte zusammengefasst: Pflegeprobleme und Ressourcen erkennen, Pflegeziele festlegen und Pflegemaßnahmen planen. Das von Roper u. a. strukturierte und prozesshafte Vorgehen im Pflegeprozess lässt sich dem PDCA-Zyklus von Deming (S. 55) folgendermaßen zuordnen: ● Plan = Einschätzen des Pflegebedarfs und Planung der Pflege ● Do = Durchführung der Pflege ● Check = Evaluierung/Auswertung der Pflege ● Act = Konsequenzen der Evaluation: Anpassung der Pflege

Merke

H ●

Der Pflegeprozess ist nicht nur ein Problemlösungs-, sondern auch ein Beziehungsprozess, da Pflegende und Patient gemeinsam an der Problemlösung arbeiten.

Das Ziel des ersten Schrittes des Pflegeprozesses ist, das Kind und seine Eltern kennenzulernen. Im Rahmen der Pflegeanamnese oder durch andere Informationsquellen werden die aktuellen Ressourcen (Fähigkeiten), Bedürfnisse, Gewohnheiten und Einschränkungen (Probleme) erfasst. Hierbei werden objektive oder subjektive Daten direkt oder indirekt ermittelt. Direkte Daten erhält die Pflegefachkraft vom Kind selbst. Sie können im Gespräch geäußert oder gemessen werden. Indirekte Informationen erhält sie im Gespräch mit den Angehörigen oder anderen Personen. Weitere Quellen können Patientendokumente sein. Messwerte werden als objektive Daten bezeichnet. Hierzu zählen z. B. die Vitalzeichen oder das Körpergewicht. Empfindungen des Patienten, die von ihm geäußert werden, sind subjektive Daten, z. B. die Intensität und Qualität des Schmerzes (S. 236). Je intensiver die Informationsermittlung erfolgt, je mehr die Bedürfnisse des Kindes Berücksichtigung finden, desto individueller kann die Pflege sein. Die Informationssammlung legt die Basis für die Definierung der Pflegeprobleme oder Pflegediagnosen, die Miteinbeziehung der Ressourcen sowie für die Festsetzung der Pflegeziele. Begonnen wird mit der Pflegeanamnese im Pflegeerstgespräch (S. 134). Bei jedem weiteren Kontakt mit dem Kind bzw. Jugendlichen und seinen Angehörigen werden neue Informationen in der Pflegeanamnese ergänzt oder Veränderungen im Pflegebericht festgehalten. Hieraus können dann evtl. neue Ressourcen und Pflegeprobleme erkennbar werden.

Eltern

a ●

Wichtig ist es, die Angehörigen bzw. bei Kindern die Eltern mit in die Informationssammlung einzubeziehen.

▶ Assessment. Bevor eine Pflegefachkraft in einer Pflegesituation konkrete Maßnahmen an einem Patienten durchführen kann, muss sie die Pflegebedarfssituation einschätzen. Hierbei können wissenschaftlich überprüfte Assessment-Instrumente hilfreich sein. Der Begriff Assessment oder Wirkungsanalyse stammt aus den Wirtschaftswissenschaften und bezeichnet die Erfassung und Einschätzung von Merkmalen bzw. Gegebenheiten und

3.2 Pflegeprozess

3.2.3 Zweiter Schritt – Planung der Pflege

1 Informationssammlung

Der zweite Schritt im Pflegeprozess kann seinerseits unterteilt werden in: ● Feststellen der Ressourcen ● Definition der Pflegeprobleme ● Festlegung der Pflegeziele ● Planung der Pflegemaßnahmen

2

6

Erkennen von Problemen und Ressourcen des Patienten

Beurteilung der Wirkung der Pflege

Pflegeprozess 3

5 Festlegung der Pflegeziele

Durchführung der Pflege 4 Planung der Pflegemaßnahmen

Abb. 3.5 Pflegeprozess. Der Regelkreis verläuft in 6 Schritten. (Nach: Fiechter u. Meier, 1998)

1 Einschätzen des Pflegebedarfs

4 Auswertung/ Evaluierung der Pflege

2 Pflegeprozess

Planung der Pflege

3 Durchführung der Pflege

Abb. 3.6 Pflegeprozess. Darstellung des Pflegeprozesses in 4 Schritten. (Nach: Roper u. a., 1993)

deren möglichen Auswirkungen. Es werden Problembereiche durch die Erfassung der Situation, z. B. durch einen standardisierten Fragebogen, eingeschätzt. Das bedeutet, dass Assessment-Verfahren für die Pflege als Instrumente zur strukturierten Einschätzung pflegerelevanter Probleme des Patienten und zum daraus resultierenden Unterstützungsbedarf hilfreich sein können. Assessment-Instrumente können für spezielle Pflegephänomene entwickelt werden. So gibt es Risikoskalen zur Einschätzung des Dekubitusrisikos wie die Norton- oder Braden-Skala (▶ Tab. 16.8). Als weiteres Beispiel sind Schmerzeinschätzungsskalen (S. 238) zu nennen.

Pflegeanamnese In der Pflegeanamnese werden Informationen über das Kind dokumentiert, die für die Pflege von Bedeutung sind. Der Pflegeanamnesebogen kann nach dem zugrunde liegenden Pflegemodell, z. B. von Roper, Logan und Tierney, strukturiert werden. Die Lebensaktivitäten geben dann die Struktur für die Dokumentation der Pflegeanamnese, der Ressourcen und Pflegeprobleme. Als Orientierungsrahmen dient ein Grundschema von Fragen zu Gewohnheiten, Fähigkeiten, Einstellung zur Krankheit sowie aus dem Bereich des persönlichen Befindens und sozialen Umfelds.

3

Die Pflegefachkraft trifft im Optimalfall zusammen mit dem Kind und seinen Eltern die Entscheidung, ob aufgrund der Beobachtungen und des Gesprächs ein Pflegebedarf vorliegt. Die Miteinbeziehung in die Planung der Pflege kann motivieren, eigene Ressourcen in die Pflege mit einzubringen. Das Kind und seine Eltern fühlen sich ernst genommen und werden an dem Prozess der Gesundung aktiv mitarbeiten. ▶ Aktivierende Pflege. Die Planung der Pflege ist auf eine „aktivierende Pflege“ auszurichten, bei der die Fähigkeiten des Kindes miteinbezogen werden. Das Gegenteil ist der Fall, wenn die Pflegefachkraft für das Kind diese Maßnahme übernimmt, obwohl es in der Lage wäre, dies selbst durchzuführen. Gründe hierfür können sein, dass es mehr Zeit in Anspruch nimmt, wenn das Kind die Maßnahme selbst durchführen würde oder dass eine aufwendigere Unterstützung hierbei nötig ist. Die Pflegefachkraft gibt z. B. dem Kind das Brot direkt in den Mund, auch wenn es schon alleine essen kann (▶ Abb. 3.7). Eine sog. abnehmende Pflege ist zu vermeiden, da hierdurch vorhandene Fähigkeiten wieder verloren gehen und Entwicklungsrückschritte entstehen können. Bei der „aktivierenden Pflege“ isst das Kind alleine (▶ Abb. 3.8). Es dauert etwas länger, bis es die Nahrung gefasst und zum Mund geführt hat. Vielleicht fällt auch etwas hinunter oder das Kind beschmutzt sich hierbei. Die Pflegefachkraft sollte dem Kind die selbstständige Nahrungsaufnahme ermöglichen, um seine Fähigkeiten und damit seine Entwicklung zu fördern.

Merke

H ●

Die Einbeziehung des Kindes in die Pflege erfolgt entsprechend seiner Entwicklung und seinen Fähigkeiten. Dadurch sollen Ressourcen erhalten bzw. gefördert und einer Regression vorgebeugt werden.

▶ Pflegeplanung. Die schriftlich fixierte Planung der Pflege erleichtert die kontinuierliche Umsetzung und Überprüfung der Pflegequalität. Kollegen, die das Kind nicht kennen, sollen sich anhand der Pfle-

9

Qualitätssicherung in der Pflege

3

Abb. 3.7 Abnehmende Pflege. Sie ist zu vermeiden. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Abb. 3.8 Aktivierende Pflege. Sie fördert die Selbstständigkeit des Kindes. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

geplanung ein Bild über die Situation und den Pflegebedarf machen können. Individuelle Pflegepläne berücksichtigen den speziellen Pflegebedarf eines Menschen. Nach der Identifizierung der Pflegeprobleme erfolgen die Festlegung der Pflegeziele und die Planung der Maßnahmen unter Einbeziehung der Ressourcen des Einzelnen.

Feststellen der Ressourcen Definition

L ●

Ressourcen sind individuelle Hilfsquellen im physischen, psychischen, geistigen und sozialen Bereich des Menschen. Sie beeinflussen den Genesungsprozess positiv. Eine aktuelle Erfassung und fortlaufende Ergänzung sind notwendig, um sich auf die veränderte Situation einzustellen.

Zu den Ressourcen zählen: Motivation des Kindes ● Kräfte, Können und Wissen des Kindes ● Fähigkeiten von Angehörigen und Unterstützung durch Angehörige ● Hobbys und Vorlieben des Kindes ● Hilfsmittel, welche die Eigenständigkeit des Kindes fördern bzw. erhalten, z. B. Rollstuhl ●

60

Die Pflege soll den Menschen aktivieren und ihm nicht seine Eigenständigkeit nehmen. Ressourcen beeinflussen somit die Pflegeziele und Pflegemaßnahmen. Die Selbstständigkeit eines Kindes soll durch die Miteinbeziehung der Ressourcen gefördert werden: z. B. Gesicht und Oberkörper selbst zu waschen, wenn es dies kann. Um Ressourcen zu erkennen, muss man sich fragen: Was kann das Kind zu seiner Situation beitragen? Die Fähigkeiten werden unabhängig von der zugrunde liegenden Erkrankung im Pflegeanamnesebogen festgehalten. Sie müssen während der pflegerischen Betreuung berücksichtigt und erhalten werden. Ein Kind, das z. B. bereits seine Ausscheidungen kontrollieren kann, muss auch im Krankenhaus aufs Töpfchen gesetzt werden. Es ist wichtig, die Selbstpflegemöglichkeiten des Kindes zu erhalten und zu fördern, um Entwicklungsrückschritte zu vermeiden. Im Pflegeplan können die Ressourcen dem jeweiligen Pflegeproblem zugeordnet werden.

Merke

H ●

Durch die Berücksichtigung von Ressourcen können die Eigenständigkeit und das Selbstwertgefühl erhalten und gefördert werden.

Definition der Pflegeprobleme Definition

L ●

Pflegeprobleme sind physische, psychische und soziale Beeinträchtigungen in der Lebenssituation eines Menschen. Gemeint sind hier jene Bedürfnisse und Einschränkungen eines Menschen, die er nicht alleine befriedigen kann und bei denen er pflegerische Hilfe benötigt.

Die Unterstützung durch die Pflegenden kann z. B. durch Anleitung, Beratung, emotionale Begleitung oder durch teilweise oder vollständige Übernahme der Maßnahme für das Kind erfolgen. Ziel der Pflegemaßnahmen sind die Linderung, Akzeptanz bzw. Beseitigung der Pflegeprobleme. Folgende Fragen können bei der Feststellung der Pflegeprobleme helfen: ● Was empfindet das Kind als Belastung? ● Was möchte das Kind ändern? ● In welchen Lebensaktivitäten benötigt das Kind Unterstützung? ● Welchen absehbaren, potenziellen Problemen/Gefahren kann durch die Pflege vorgebeugt werden?



Welche Äußerungen des Kindes oder Beobachtungen deuten auf einen Unterstützungsbedarf hin?

Die Pflegeprobleme des Kindes werden aus den Informationen, die aus dem Gespräch mit dem Kind und seinen Eltern oder anderen Informationsquellen stammen, deutlich. So weit wie möglich werden sie zusammen mit den Kindern und ihren Eltern formuliert. Da so die Einschätzung der Pflegesituation transparent gemacht wird, können Missverständnisse reduziert werden. Pflegeprobleme werden so konkret wie möglich beschrieben; Ursachen und mögliche Beobachtungen werden ergänzt, um Ziele und Maßnahmen so konkret wie möglich darauf abstimmen zu können. Beispiel: „Arife hat Angst, weil sie eine andere Sprache spricht und daher die Informationen nicht versteht.“ Die Formulierung der Probleme kann auch mit dem sog. PES- oder PÄS-Schema systematisiert werden. Die Buchstaben bedeuten: ● P = Problem (Arife hat Angst) ● E/Ä = Einflussfaktor/Ätiologie (Sie versteht die Informationen nicht.) ● S = Symptom(e); Merkmal(e) (Sie spricht eine andere Sprache.) In Ergänzung können mit dem PESRSchema auch die Ressourcen mitbezeichnet werden. R = Ressource (Arifes ältere Schwester ist jeden Tag zu Besuch. Sie versteht die Sprache und kann ihr die Informationen übersetzen.) Ein Pflegeproblem ist ein Problem des jeweiligen Kindes, daher sollte es aus dessen Sicht aus formuliert werden: z. B. „Anna hat Angst vor der i. m. Injektion und weint, da sie bei der letzten Injektion Schmerzen hatte“. Die Injektion soll aber nicht als Problem der Pflegefachkraft dargestellt werden, die Schwierigkeiten damit hat, die Injektion zu verabreichen, wenn sich das Kind dagegen wehrt. Pflegeprobleme können wie folgt unterschieden werden: ● Aktuelle Pflegeprobleme: momentan vorhandene Pflegeprobleme, z. B. „Susanna hat aufgrund von Schmerzen im linken Oberbauch keinen Appetit und verweigert die Nahrungsaufnahme“. ● Potenzielle Pflegeprobleme: Pflegeprobleme, die durch Fachwissen voraussehbar sind und evtl. eintreten können; es besteht eine mögliche Gefährdung in der Zukunft, z. B. „Tom hat eine erhöhte Dekubitusgefahr aufgrund der strengen Bettruhe nach seiner Halswirbelfraktur“. Das tatsächliche Auftreten eines Pflegeproblems kann durch prophylaktische Maßnahmen verhindert werden.

3.2 Pflegeprozess ●



Verdeckte Pflegeprobleme: vermutete Pflegeprobleme; werden vom Betroffenen nicht klar als Problem geäußert, z. B. „Peter verweigert immer das Abendessen, nachdem seine Mutter nach Hause gegangen ist“. Dies lässt die Vermutung zu, dass die Nahrungsverweigerung mit dem Weggehen der Mutter in Verbindung stehen könnte. Verdeckte Pflegeprobleme sollten durch konkretes Nachfragen oder spezielle Beobachtung bestätigt werden. Individuelle Pflegeprobleme: spezielle Pflegeprobleme des jeweiligen Kindes unter Berücksichtigung der persönlichen Lebenssituation, z. B. „Sven neigt zu Hypoglykämien, da er seinen erhöhten Bedarf an Kohlenhydraten beim Fußballspiel bei seiner Insulinberechnung nicht berücksichtigt“.

Festlegung der Pflegeziele Definition

L ●

Pflegeziele sind die Ziele, die durch die Pflege in Bezug auf die Erfüllung der Bedürfnisse und Akzeptanz, Linderung oder Beseitigung von Einschränkungen eines Menschen angestrebt werden. Pflegeziele können mit unterschiedlichem Ausmaß an pflegerischer Hilfestellung erreicht werden.

Die Pflegeziele beschreiben einen Zustand, den der Mensch erreichen soll, oder ein Verhalten, das er nach festgelegter Zeit zeigen soll. Sie gelten als Indikator für die Effektivität der Pflege. Daher sollten sie möglichst exakt formuliert sein. Voraussetzung für eine realistische und korrekte Zielsetzung ist eine klare und eindeutige Formulierung der Pflegeprobleme.

Merke

H ●

Aufgrund der Ressourcen und der Pflegeprobleme des Kindes wird überlegt: Welcher Zustand oder welches Ergebnis soll in welcher Zeit erreicht werden?

Das Pflegeziel wird von der Pflegefachkraft mit dem Kind und evtl. seinen Eltern festgelegt. Es dient als Kriterium zur Überprüfung der Effektivität der Pflegemaßnahmen. Veränderungen zur Ausgangssituation werden verdeutlicht. Pflegeziele können sich auf die Erhaltung, Verbesserung und Bewältigung einer Situation beziehen.

Pflegeziele können für folgende Bereiche angestrebt werden: ● physischer, psychischer und sozialer Zustand ● Können ● Wissen ● messbare Befunde ● Verhalten und Entwicklungsprozess Es wird zwischen Nah- und Fernzielen unterschieden: ● Nahziele beschreiben Pflegeziele, die schnell zu erreichen sind, und dienen somit stark der Motivation des Kindes. ● Fernziele berücksichtigen die Gesamtsituation des Menschen und streben einen langfristigen, bestmöglichen Zustand für das Kind an. ▶ Zielformulierung. Pflegeziele sollten folgendermaßen formuliert werden: ● realistisch und individuell, d. h. für das Kind erreichbar ● auf den Punkt gebracht und verständlich ● überprüfbar, d. h. mit Angabe, wann das Ziel erreicht sein soll ● positive Formulierung, d. h., was erreicht werden soll ● messbar und nachvollziehbar ● aus Sicht des Kindes So sollte es z. B. heißen: „Gewichtszunahme von 100 g pro Woche“, und nicht: „keine Gewichtsabnahme“. Im ersten Fall hat man eine genaue Vorstellung über das zu erreichende Pflegeziel vor Augen. Mit „keine Gewichtsabnahme“ ist bekannt, was nicht erreicht werden soll, aber es ist unklar, was erreicht werden soll. Pflegeziele müssen jedoch so formuliert sein, dass eine spätere Kontrolle der Zielerreichung möglich ist: Sie müssen quantifizierbar sein. Die Überprüfung der Pflegeziele wird im letzten Schritt des Pflegeprozesses, der Evaluation, vorgenommen.

Planung der Pflegemaßnahmen Definition

L ●

Als Pflegemaßnahmen werden die Maßnahmen bezeichnet, die von der Pflegefachkraft übernommen werden, um die geplanten Pflegeziele zu erreichen. Pflegemaßnahmen werden auch als Pflegeinterventionen bezeichnet. Sie beinhalten eine vollständige oder teilweise Unterstützung in den Lebensaktivitäten.

Die Pflegemaßnahmen werden aufgrund der zuvor festgelegten Pflegeziele und anhand des aktuellen Pflegefachwissens geplant. Die Fähigkeiten des Kindes und seiner Angehörigen werden berücksichtigt, da sie das Ausmaß des Pflegebedarfs entscheidend mitbestimmen. Die Auswahl der Pflegemaßnahmen folgt der Überlegung: Wie kann das Pflegeziel erreicht werden? Mit der schriftlichen Fixierung der Pflegemaßnahmen soll verhindert werden, dass jede Pflegefachkraft eine andere Pflegemaßnahme durchführt. Der Erfolg der Pflege und die Überprüfbarkeit hängen von der kontinuierlichen Anwendung der ausgewählten Pflegemaßnahmen ab. Die notwendigen Pflegeinterventionen können beratender, anleitender und in Teilbereichen unterstützender Art sein oder die vollständige Übernahme beinhalten. Pflegemaßnahmen, die regelmäßig durchgeführt werden, sind in der Pflegeplanung aufzuführen. Es sollten jedoch nur die individuellen Pflegemaßnahmen dokumentiert werden und keine allgemeingültigen, routinemäßigen Tätigkeiten, wie etwa „Urinflasche entleeren“, „Händedesinfektion“, „Bettenmachen“. Einmalige Pflegemaßnahmen werden im Pflegebericht vermerkt, z. B. die Information über die Mitaufnahme einer Begleitperson.

Merke

3

H ●

Anhand von 5 W-Fragen kann die Festlegung der Pflegemaßnahmen konkret beschrieben werden: ● Was? Welche Pflegemaßnahme? ● Wann? Zu welchem Zeitpunkt? ● Wie oft? Mit welcher Häufigkeit? ● Wie? Welche Technik, welches Vorgehen? ● Womit? Welche Pflegehilfsmittel?

3.2.4 Dritter Schritt – Durchführung der Pflege Die Pflegeplanung dient als Grundlage für die Durchführung der Pflegemaßnahmen. Sie ist notwendig, damit eine einheitliche Vorgehensweise in der Pflege des Menschen eingehalten und somit das Pflegeziel erreicht werden kann. Während der Durchführung beobachtet die Pflegefachkraft, ob Veränderungen durch die pflegerische Intervention eintreten. Der Pflegebericht dient in diesem Zusammenhang dazu, Beobachtungen und zusätzliche außerplanmäßig durchgeführte Pflegemaßnahmen zu dokumentieren, um diese nachweisen und die

1

Qualitätssicherung in der Pflege Wirksamkeit der Maßnahmen überprüfen zu können. Die Dokumentation der Durchführung erfolgt bei geplanten Maßnahmen im Pflegeplan mittels Handzeichen.

3.2.5 Vierter Schritt – Evaluierung der Pflege Im letzten Schritt des Pflegeprozesses, der Evaluierung, werden die Auswirkungen der pflegerischen Maßnahmen überprüft. Der Pflegeverlauf und die Wirkung der Pflege sowie die Veränderungen in der Situation des Kindes werden deutlich. Die Fortschritte des Kindes werden mit den angestrebten Zielen verglichen und es wird ermittelt, welche Bedürfnisse des Kindes erfüllt sind bzw. welche in der Planung neu überdacht werden müssen. Hierzu ist es notwendig, dass in der Erstellung der Pflegeplanung neben den Pflegezielen auch konkrete Kriterien zur Evaluation festgelegt werden. Die Evaluationskriterien sollten zusätzlich Angaben zur Art der Beobachtung und Einschätzung (Assessment) und zum Zeitpunkt bzw. zur Häufigkeit enthalten. Beispiele: ● Die Atemfrequenz von Philipp vor und nach der Inhalation einschätzen und den Verlauf vergleichen. ● Die Mutter von Philipp während der Inhalation beobachten, ob sie Philipp beruhigen kann und die Inhalation bei starkem Husten und starker Unruhe unterbricht.

3

Der Erfolg bzw. Misserfolg der Pflege findet sich in der Auswertung der Evaluationskriterien wieder. Auf die Beispiele übertragen könnte die Evaluation klären: War die Inhalation wirksam? Normalisierte sich die Atemfrequenz bei Philipp durch die Inhalation? Atmete er ruhiger und gleichmäßiger? Konnte die Mutter von Philipp adäquat reagieren und ihren Sohn bei der Anwendung der Inhalation wirksam unterstützen? Wurde ein Pflegeziel durch die gewählten Pflegemaßnahmen nicht erreicht, kann dies verschiedene Ursachen haben, z. B.: ● unvollständige Informationssammlung ● Fehler beim Ermitteln des tatsächlichen Pflegeproblems bzw. der Ressource ● unrealistische Pflegeziele ● unvollständige/unrealistische Pflegeplanung ● nicht sinnvolle Pflegemaßnahmen ● unzureichende Mitarbeit des Kindes und/oder seiner Bezugspersonen Abhängig von der Ursache für das Nichterreichen eines Pflegezieles muss eine Neuanpassung innerhalb der Pflegeplanung stattfinden. Pflegeziele und Pflege-

62

maßnahmen, evtl. auch das Pflegeproblem, müssen präziser definiert oder verändert werden. Manchmal müssen auch die Ressourcen neu überdacht werden.

Eltern

a ●

Die Anpassung der Pflegeplanung sollte in jedem Fall mit dem Kind und seinen Eltern erfolgen. Durch das gemeinsame Gespräch werden evtl. neue Informationen gewonnen. Die Änderung des Pflegeverlaufs, z. B. durch die Planung neuer Pflegemaßnahmen, hat das Ziel, das Pflegeergebnis positiv zu beeinflussen.

Veränderungen, die im Pflegeplan Berücksichtigung finden, sind mit Datum und Handzeichen zu dokumentieren. So sind neue Pflegeprobleme bzw. Ressourcen im Pflegeplan zu ergänzen. Ebenso sind erreichte Pflegeziele und dadurch nicht mehr benötigte Pflegemaßnahmen zu kennzeichnen. Eine zusätzliche Start- und Stopp-Spalte dient dem Eintragen des Datums und des Handzeichens der Pflegefachkraft.

Merke

H ●

Mit der Evaluation findet eine Beurteilung des Erfolgs einer Pflegemaßnahme statt. Die Überprüfung, ob die Pflegeziele erreicht wurden, geschieht durch Beobachtungen oder Gespräche.

Pflegebericht Im Pflegebericht wird der Verlauf der Pflege festgehalten. Hierzu zählen auch Beobachtungen über das Verhalten sowie Äußerungen des Kindes über sein Befinden. Somit dient der Pflegebericht der Beurteilung der Pflegewirkung und der ergänzenden Informationssammlung über das Kind. Folgende Hilfsfragen können gestellt werden: ● Welche Veränderungen sind in der Lebenssituation des Kindes durch die Pflege aufgetreten? ● Welche Wirkungen zeigen die Pflegemaßnahmen? Es werden alle durchgeführten Pflegemaßnahmen notiert, die nicht an einer anderen Stelle im Dokumentationssystem vermerkt sind. Auch die Durchführung außerplanmäßiger Maßnahmen, d. h. die nicht in der Pflegeplanung enthalten sind, werden dokumentiert. Die Dokumentation sollte möglichst zeitnah erfolgen, um keine Informationen zu vergessen. Neben dem Datum und der Uhrzeit des Eintrags

wird auch das Handzeichen der betreffenden Pflegefachkraft vermerkt. Weiterhin wird der Erfolg der durchgeführten Pflegemaßnahmen direkt von der betreuenden Pflegefachkraft dokumentiert. Hierbei wird notiert, ob das Kind seine Ressourcen mit in die Pflege einbringt und ob sich Veränderungen durch die Pflege ergeben haben. Dies sollte kurz, prägnant, sachlich und ohne wertenden Sprachgebrauch geschehen, z. B. nicht: „Kind verhält sich unmöglich“, sondern: „Julia äußert Angst vor der Operation und weigert sich, ihr Medikament zu nehmen.“ Es sollte also die konkrete Situation beschrieben werden. Interpretationen sind als solche zu kennzeichnen. Zusätzlich werden im Pflegebericht Begründungen für Abweichungen vom individuellen Pflegeplan oder von Pflegestandards gegeben.

Definition

L ●

Problembezogene Auswertung bedeutet, sich in der Evaluation im Pflegebericht zu äußern, inwieweit sich die Pflegeprobleme verändert haben und welche Pflegemaßnahmen oder Umstände dies bewirkten. Es werden alle Beobachtungen/Wahrnehmungen dokumentiert, die Einfluss auf die Pflege und den Genesungsprozess haben.

3.2.6 Implementierung des Pflegeprozesses Um den Pflegeprozess in die Praxis umsetzen zu können, bedarf es bestimmter Rahmenbedingungen. Dazu gehört auch ein Pflegesystem (S. 56), das die Interaktion (Beziehungsprozess) zwischen Patient und Pflegefachkraft ermöglicht. Die Pflege nach dem Pflegeprozess ist in einem funktionalen Pflegesystem (S. 56) nicht möglich. Hingegen wird bei der patientenorientierten Pflege (S. 57) ein Patient von einer Pflegefachkraft betreut. Diese übernimmt dann alle anfallenden Pflegehandlungen bei diesem Patienten. Hierbei ergibt sich eher die Möglichkeit des Aufbaus einer Beziehung zwischen dem Patienten, seinen Angehörigen und der betreuenden Pflegefachkraft. In einer Pflegevisite (S. 236) können die an der Pflege beteiligten Pflegefachkräfte zusammen mit dem Patienten die aktuelle Pflegesituation besprechen und den weiteren Verlauf der Pflege festlegen. Eine weitere Voraussetzung für die Anwendung des Pflegeprozesses ist die Wandlung des Bewusstseins der Pflegen-

3.3 Pflegedokumentation und Berichterstattung den weg von der krankheitsorientierten hin zur patientenorientierten Pflege, d. h., dass nicht nur die Krankheit eines Menschen gesehen und behandelt wird, sondern der Mensch selbst im Mittelpunkt der Pflege steht. Die Bedürfnisse und somit auch der Pflegebedarf können bei verschiedenen Menschen mit den gleichen Gesundheitsstörungen unterschiedlich sein, so wie auch die Pflegeprobleme bzw. Ressourcen andere sein können. Hierbei ist die Anwendung einer Pflegetheorie oder eines Pflegemodells hilfreich. Sie ermöglichen die Reflexion der Einstellung zu anderen Menschen (Menschenbild), der Bedeutung und Ziele von Pflege sowie der im Vordergrund stehenden Kriterien zur Pflege eines Menschen (S. 68).

die jederzeit überprüfbare Dokumentation sind alle Prozessschritte schriftlich fixiert und nachvollziehbar.

Auswirkungen auf die Pflegequalität

▶ Berufszufriedenheit. Es kommt zu einer höheren Berufszufriedenheit, da der Pflegeerfolg sichtbar und nachvollziehbar wird. Dies hat Auswirkungen auf die Persönlichkeit, die Kreativität, die Motivation und das Selbstwertgefühl. Das Verantwortungsbewusstsein jeder einzelnen Pflegefachkraft wird gestärkt.

Positive Auswirkungen für den Patienten ▶ Ressourcen. Die nach dem Pflegeprozess geplante Pflege ermöglicht dem Kind und seinen Eltern einen Rollenwechsel vom passiven Empfänger der Pflege zum aktiven Mitarbeiter am Gesundungsprozess. Seine Ressourcen (Fähigkeiten) und seine individuellen Bedürfnisse werden erkannt und im Problemlösungsprozess berücksichtigt. ▶ Eigenverantwortung. Durch die gemeinsame, realistische Zielsetzung werden das Kind und seine Eltern motiviert, sich aktiv am Heilungsprozess zu beteiligen; damit werden auch Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit des Kindes gefördert. Das Bewusstsein des Pflegepersonals verändert sich, das Kind wird stärker als Individuum mit Bedürfnissen, Wünschen, Gefühlen und Fähigkeiten angesehen. ▶ Selbstwertgefühl. Durch die Kommunikation mit den Pflegenden erhalten das Kind und seine Eltern mehr und umfassendere Informationen. Das Kind fühlt sich sicherer und kann ein stärkeres Vertrauensverhältnis zum Pflegepersonal entwickeln. Sein Selbstwertgefühl wird gesteigert. Wenige feste Bezugspersonen erleichtern die Bildung einer Vertrauensbasis. ▶ Überprüfbarkeit. Die Pflegemaßnahmen werden einheitlich und kontinuierlich durchgeführt. Der Pflegeerfolg wird nicht durch „Versuch und Irrtum“ oder nicht überprüfbare Pflegemaßnahmen gefährdet. Unnötige Ruhestörungen werden eher vermieden, da die Pflegetätigkeiten besser koordiniert werden können. Durch

Positive Auswirkungen für das Pflegepersonal ▶ Nachweisbarkeit. Die Stellung des Pflegedienstes im Krankenhaus und in der Gesellschaft verändert sich. So werden z. B. die Eigenständigkeit und der therapeutische Wert der Pflege deutlich. Die Effektivität der Pflegemaßnahmen ist ersichtlich und überprüfbar, da die erreichten Pflegeziele erkennbar werden. Es ist ein Nachweis über die pflegerische Vorgehensweise für evtl. juristische Verfahren gegeben.

▶ Informationsweitergabe. Durch die umfassenderen systematischen Informationen über die Pflege sind gute Voraussetzungen für einen zügigen und gezielten Arbeitsablauf gegeben. So sind unterschiedliche Pflegetätigkeiten besser koordinierbar. Pflegefachkräfte mit Teilzeitbeschäftigung und neue Mitarbeiter können sich schneller einen Überblick verschaffen und besser eingearbeitet werden. Insgesamt gesehen wird die Informationsweitergabe erleichtert. Schon in der Ausbildung kann so eine gezielte und systematische Vorgehensweise eingeübt werden.

Vorteile für das Krankenhaus und die Gesellschaft ▶ Leistungsnachweis. Die Pflegeleistung ist anhand der Dokumentation des Pflegeprozesses nachweisbar und damit abrechenbar. ▶ Pflegequalität. Durch eine gezielte, geplante, kontinuierliche und evaluierte Pflege steigt die Pflegequalität. Die Berücksichtigung und Förderung der Ressourcen ermöglichen eine Förderung der Selbstständigkeit des Kindes. Hieraus resultiert eine frühere Reduzierung oder Aufhebung des Pflegebedarfs. Dadurch kann es auch zu finanziellen Einsparungen im Gesundheitswesen kommen.

3.3 Pflegedokumentation und Berichterstattung Die Dokumentation der Pflege ist ein wichtiges Instrument im Pflegeprozess. Mithilfe der schriftlichen Fixierung der einzelnen Phasen, d. h. der Informationssammlung, Planung, Durchführung und Evaluation, wird der Anteil der Pflege am Heilungsprozess verdeutlicht. Dadurch wird auch die Beurteilung der Qualität der Pflege ermöglicht (Qualitätssicherung). Für alle, die den Patienten noch nicht kennen, ist die Dokumentation ein gutes Hilfsmittel, um sich über das Kind umfassend zu informieren. Direkte Eintragungen schließen Übertragungsfehler aus.

Merke

3

H ●

Juristisch gesehen gelten nur die Tätigkeiten als tatsächlich verrichtet, die auch dokumentiert sind. Durch die Unterschrift bzw. das Handzeichen der einzelnen Pflegefachkraft versichert diese die Ausführung der Pflegemaßnahme bzw. die Beobachtung. Es dürfen keine Angaben ausradiert, überklebt oder unleserlich gemacht werden. Das ist Dokumentenfälschung! Lediglich das Durchstreichen von falschen Angaben ist erlaubt: aber so, dass sie noch lesbar sind!

Praxistipp Pflege

Z ●

Das Führen einer Handzeichenliste aller Mitarbeiter erleichtert die Zuordnung, welche Person mit welchem Handzeichen dokumentiert.

3.3.1 Computergestützte Dokumentation Mithilfe des Computers lassen sich die einzelnen Schritte des Pflegeprozesses erfassen. Voraussetzung für eine elektronisch unterstützte Pflegedokumentation sind eine Vereinheitlichung und Standardisierung der Fachsprache und die Akzeptanz der Mitarbeiter für die Arbeit am Computer. Die Anwender müssen entsprechend fortgebildet werden und evtl. Ängste oder negative Einstellungen im Umgang mit dem Computer erkannt werden. Eine informationstechnologisch gestützte Pflegedokumentation kann die Qualität der Dokumentation verbessern, dies ergibt sich aus folgenden Vorteilen: ● Erleichterung der Dokumentation durch Formulierungsvorgaben

3

Qualitätssicherung in der Pflege ●



● ●

schnellere Datenanalysen durch eine bessere Übersicht größere Transparenz und Vergleichbarkeit der Daten erhöhte Lesbarkeit der Dokumentation zeitsparende Dateneingabe

„Eine Pflegediagnose ist die klinische Beurteilung der Reaktionen von Einzelpersonen, Familien oder sozialen Gemeinschaften auf aktuelle oder potenzielle Probleme der Gesundheit oder im Lebensprozess“ (Nordamerikanische Pflegediagnosevereinigung – NANDA, 1990).

Für die Auswahl einer geeigneten Software muss zunächst mittels einer Ist-Analyse erfasst werden, welche Dokumentationsstrukturen vorhanden sind, die auch mit der EDV abgedeckt werden sollen. Neben dem Vergleich der Kosten für die Anschaffung müssen natürlich auch die Folgekosten durch Update-Versionen oder Serviceleistungen, wie Schulungen oder Hilfestellung bei Problemen in der Anwendung, berücksichtigt werden.

3

L ●

Definition

3.4.1 Klassifikationssysteme Klassifikationssysteme ermöglichen die Erfassung und die Einschätzung patientenbezogener Daten. Klassifikationen dienen damit als Hilfsmittel zur Strukturierung und Erleichterung der Dokumentation. Zur Einordnung von Krankheitsdiagnosen hat die WHO die ICD (International Classification of Disease) und zur Einordnung der funktionalen Gesundheit die ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) erstellt. Klassifikationssysteme für die Pflege beinhalten die Einteilung des Pflegebedarfes durch die Formulierung von Pflegediagnosen anhand bestimmter Merkmale. Daraus werden die damit notwendigen pflegerischen Leistungen verdeutlicht. Der Weltbund der Krankenschwestern und Krankenpfleger (International Council of Nurses = ICN) begann 1989 mit der Entwicklung einer internationalen Klassifikation für die Pflegepraxis: der International Classification of Nursing Practice = ICNP. Neben der Beschreibung von Pflegediagnosen werden auch Pflegephänomene, Pflegehandlungen und Pflegeergebnisse

3.4 Pflegediagnosen und Gesundheitsdiagnosen Im Verlauf des Pflegeprozesses ist die Festlegung der Pflegediagnose zwischen der Einschätzung des Pflegebedarfs und der Planung der Pflege zu sehen (▶ Abb. 3.9). Mit Pflegediagnosen sind vorgegebene Formulierungen zur Problemdefinierung gegeben. Damit können Pflegediagnosen anstelle der Pflegeprobleme in die Pflegeplanung aufgenommen werden. Pflegefachkräfte haben durch Pflegediagnosen eine einheitliche fachspezifische Begrifflichkeit. Ein Vorteil der strukturierten Diagnoseformulierung liegt somit in der Verständigung der Pflegenden untereinander.

1 Einschätzen des Pflegebedarfs

5

2

Auswertung/ Evaluierung der Pflege

Festlegung der Pflegediagnose Pflegeprozess

4 Durchführung der Pflege

3 Planung der Pflege

Abb. 3.9 Einordnung der Pflegediagnose im Pflegeprozess.

64

mit einer einheitlichen Fachsprache verwendet. Weiterhin können Klassifikationen von Pflegediagnosen, Pflegezielen und Pflegemaßnahmen durch die European Nursing Care Pathways = ENP vorgenommen werden.

3.4.2 Klassifizierung von Pflegediagnosen Um eine Diagnose bestimmen zu können, muss eine Pflegefachkraft zunächst die Situation des Patienten einschätzen, hierzu ist eine Informationssammlung Voraussetzung. Diese kann durch spezifische Assessment-Instrumente ergänzt werden (S. 58). Die Pflegefachkraft erfasst also Merkmale durch das Gespräch bzw. die Beobachtung des Patienten, die sie anschließend zur Auswahl der Pflegediagnose benötigt. Im Erfassungsprozess der zutreffenden Pflegediagnosen können vorgegebene Ordnungssysteme hilfreich sein. Die Einordnung von Pflegediagnosen kann z. B. nach der NANDA-InternationalTaxonomie (NANDA-I) vorgenommen werden.

NANDA-I Taxonomie der Pflegediagnosen Die Abkürzung NANDA stand bis 2002 für die Bezeichnung North American Nursing Diagnosis Association. Diese, von nordamerikanischen Pflegewissenschaftlern in den 1970er-Jahren gegründete, Organisation besteht inzwischen aus Mitgliedern der ganzen Welt. Daher nennt sich die Organisation seit 2002 NANDA International. Seit 2011 wird sie als NANDA International, Inc. (Abk. NANDA-I) bezeichnet. Die Ziele dieser Organisation sind: ● professionelle Beurteilung von Pflegebedarfssituationen aufgrund von Assessmentkriterien, welche dann als Basis für eine Interventionsplanung genutzt werden ● Verbesserung der Verständigung durch einheitliche Terminologie und Dokumentation innerhalb der Berufsgruppe, auch international Die Pflegediagnosen der NANDA sind in einer Klassifikation als Taxonomie II veröffentlicht. Die Taxonomie bezeichnet hierbei die Einordnung der Pflegediagnosen in ein Ordnungssystem nach einer bestimmten Hierarchie. Diese Taxonomie II beinhaltet 3 Ebenen. Die erste Ebene enthält 13 Bereiche (Domänen), diesen sind auf einer zweiten Ebene Klassen und auf einer dritten Ebene Pflegediagnosen zugeordnet.

3.4 Pflegediagnosen und Gesundheitsdiagnosen

Tab. 3.3 Aktuelle Pflegediagnose bei unterbrochenem Stillen (nach NANDA-I, 2013; S. 321). Definition

bestimmende Merkmale

Eine Unterbrechung in der Kontinuität des Stillprozesses aufgrund der Unfähigkeit oder weil es nicht ratsam ist, das Kind zum Stillen an die Brust anzulegen.













▶ Beispiel für die Aufteilung nach der Taxonomie II. Der Domäne 2 „Ernährung“ ist in der Klasse 1 „Nahrungsaufnahme“ die Pflegediagnose „Saug-/ Schluckstörung des Säuglings“ zugeordnet. In der Beschreibung der Pflegediagnose finden sich dann – neben einer Definition – weitere Angaben zu bestimmenden Merkmalen und beeinflussenden Faktoren. Darüber hinaus sollen die NANDA-Pflegediagnosen mit anderen Aspekten des Pflegeprozesses in ein Gesamtsystem integriert werden. Weitere Klassifikationen sind hier Nursing Interventions Classification (NIC), dieses meint übersetzt die Pflegemaßnahmenklassifikation, und Nursing Outcomes Classification (NOC), was Pflegeergebnisklassifikation bedeutet. Zusammengefasst werden diese drei Klassifikationen als NNN-System beschrieben.

Pflegediagnosen nach funktionellen Verhaltensmustern M. Gordon (2001) nimmt eine eigene Ordnung der Pflegediagnosen nach funktionellen Verhaltensmustern vor: 1. Wahrnehmung und Umgang mit der eigenen Gesundheit 2. Ernährung und Stoffwechsel 3. Ausscheidung 4. Aktivität und Bewegung 5. Schlaf und Ruhe 6. Kognition und Perzeption (beschreibt Sinn, Sprachvermögen, Entscheidungsfähigkeit, Schmerzwahrnehmung) 7. Selbstwahrnehmung und Selbstkonzept 8. Rolle und Beziehung (beschreibt Engagement in verschiedenen sozialen Rollen) 9. Sexualität und Reproduktion 10. Bewältigungsverhalten und Stresstoleranz 11. Werte und Überzeugungen

Wissensdefizit über das Abpumpen der Muttermilch Wissensdefizit über das Aufbewahren der Muttermilch Säugling erhält bei manchen oder allen Mahlzeiten keine Nahrung von der Brust Wunsch der Mutter, schlussendlich Muttermilch für den Ernährungsbedarf des Kindes zu haben Wunsch der Mutter, das Stillen für den Ernährungsbedarf des Kindes aufrechtzuerhalten Trennung von Mutter und Kind

beeinflussende Faktoren ●

● ● ● ● ●

Kontraindikationen für das Stillen (z. B. bestimmte pharmazeutische Wirkstoffe) Krankheit des Säuglings Frühgeburt Berufstätigkeit der Mutter Krankheit der Mutter Situation, die eine plötzliche Entwöhnung des Säuglings erfordert

3

Tab. 3.4 Auszug aus einer Risiko-Pflegediagnose (nach NANDA International, 1978 und 1998/ Berger et al., 2008). Definition

Risikofaktoren (Beispiele)

Risiko einer Entwicklung der Unfähigkeit der erziehenden Person, ein Umfeld zu errichten, zu erhalten oder wiederherzustellen, in dem das Wachstum und die Entwicklung des Kindes in optimalem Maße gefördert werden.

Säugling oder Kind: ● anhaltende Trennung vom Elternteil ● veränderte Wahrnehmungsfähigkeiten Wissen: ● geringe kognitive Funktion ● geringe Kommunikationsfähigkeiten psychologisch: ● Depression ● Schlafmangel sozial: ● Armut ● Ehekonflikt

Ein Verhaltensmuster wird hier als die Beziehung zwischen dem Individuum, dem sozialen Umfeld und der Umwelt verstanden. Beeinflusst wird das Verhalten durch verschiedene Faktoren, z. B. biologische, entwicklungspsychologische, kulturelle, soziale und religiöse Aspekte.

3.4.3 Formen von Pflegediagnosen Eine Einteilung lässt sich nach NANDA wie folgt darstellen: ● aktuelle Pflegediagnosen ● Verdachtspflegediagnosen ● Hochrisikopflegediagnosen ● Syndrom-Pflegediagnosen ● Gesundheitsdiagnose oder WellnessPflegediagnosen ▶ Aktuelle Pflegediagnosen. Sie beschreiben die bestehenden Gesundheitsprobleme eines Menschen, deren Kennzeichen und ätiologische Faktoren. Die Kennzeichen werden je nach Bedeutung für die spezielle Pflegediagnose in Hauptund Nebenkennzeichen unterschieden. Hauptkennzeichen sind Beobachtungen, die bei der bestimmten Pflegediagnose

vorliegen. Nebenkennzeichen können bei einer oder mehreren Pflegediagnosen auftreten. Ein Beispiel für eine aktuelle Pflegediagnose ist die Pflegediagnose „unterbrochenes Stillen“ (▶ Tab. 3.3). ▶ Verdachtspflegediagnosen. Werden Gesundheitsprobleme vermutet, können aktuelle Pflegediagnosen mit dem Zusatz „Verdacht auf“ formuliert werden. Sie enthalten dann die ätiologischen Faktoren, die den Rückschluss auf die Verdachtsdiagnose zulassen. ▶ Hochrisiko- oder Gefährdungspflegediagnosen. Sie zeigen Risikofaktoren für die Entstehung eines Gesundheitsproblems. ▶ Tab. 3.4 zeigt ein modifiziertes Beispiel. ▶ Syndrom-Pflegediagnosen. Komplexe Problemsituationen mit mehreren aktuellen oder Risiko-Pflegediagnosen sind in den Syndrom-Pflegediagnosen beschrieben. Von der NANDA sind bisher als Syndrom-Pflegediagnosen das Inaktivitätssyndrom, das Vergewaltigungssyndrom und das Verlegungsstresssyndrom benannt. Sie enthalten neben einer Definition auch typische Kennzeichen.

5

Qualitätssicherung in der Pflege

Tab. 3.5 Auszug aus einer Gesundheitsdiagnose (nach NANDA International 1990 [Berger et al., 2008]). Definition

Kennzeichen

Mutter-Kind-Dyade/Familie zeigt ausreichende Fertigkeiten beim und Befriedigung mit dem Stillprozess.

Bestimmende Merkmale: ● angemessene altersentsprechende Gewichtsentwicklung des Säuglings ● regelmäßiges und anhaltendes Saugen an der Brust ● Säugling ist zufrieden nach dem Stillen beeinflussende Faktoren: ● Gestationsalter des Säuglings > 34 Wochen ● grundlegende Kenntnisse über das Stillen ● normaler Aufbau des Mundraums des Säuglings

3

▶ Gesundheitsdiagnose. Aus der bisherigen defizitorientierten Sichtweise fallen die Gesundheitsdiagnosen oder WellnessPflegediagnosen heraus. Sie enthalten als Kennzeichen Ressourcen des Menschen, die er zur Erhaltung der Gesundheit bzw. Steigerung des Wohlbefindens einsetzen kann (▶ Tab. 3.5).

Merke

H ●

Pflegediagnosen unterscheiden sich von medizinischen Diagnosen. Letztere beziehen sich auf Krankheiten oder Störungen von Organen. Hingegen ist bei den Pflegediagnosen das Verhalten auf aktuelle oder potenzielle Störungen der Gesundheit oder Veränderungen der Lebenssituation Ausgangslage für die Auswahl der notwendigen Pflegemaßnahmen.







Grundlage für die Anwendung innerhalb eines EDV-Systems Grundlage für die Kosten- und Leistungsrechnung einheitliche Pflegefachsprache

Nachteile der Pflegediagnosen sind: ● Zuordnung der Pflegediagnose nicht immer eindeutig bei verschiedenen Ursachen für die Störung ● festgelegte Systematik, individuelle Formulierung nicht möglich ● teilweise unzureichende Abgrenzung zur medizinischen Diagnosestellung ● Defizitorientierung ● Übersetzung der Pflegediagnosen in die deutsche Sprache trifft nicht immer die gleiche Bedeutung

3.5 Pflegestandards Definition

In der Einordnung im Pflegeprozess erfolgt die Festlegung der Pflegediagnose zwischen der Pflegeanamnese und der Planung der Pflege. Pflegefachkräfte erstellen bei einer Pflegediagnose aufgrund genauer Beachtung der Reaktionen des Menschen eine Beurteilung über Gesundheitsprobleme oder Lebensprozesse. Aufgrund der zutreffenden Pflegediagnose erfolgt die Planung der weiteren Pflegeinterventionen. Jeder Mensch erlebt und reagiert auf gesundheitliche Störungen oder bestimmte Lebenssituationen unterschiedlich. Daher wählt die Pflegefachkraft auch weiterhin mit dem Patienten und evtl. seinen Angehörigen realistische Ziele und die hierfür notwendigen Pflegemaßnahmen aus. Vorteile der Pflegediagnosen sind: ● Kontinuität in der Pflegepraxis ● Förderung der Qualitätssicherung, durch Ableitung von Kriterien für die Definition der Qualität ● Orientierung für den Bereich der Pflegewissenschaft

66

L ●

Pflegestandards dienen der Festlegung von bestimmten Kriterien zur Sicherung der Qualität in der Pflege. Sie stellen eine Vereinheitlichung der fachlichen Anforderungen und Richtlinien dar, die in einer bestimmten Situation als Mindestanforderungen verbindlich einzuhalten sind.

Ein Pflegestandard kann z. B. mit Zielvorgaben und festgelegten Kriterien zum Ablauf eines Verbandwechsels bei einer aseptischen Wunde erstellt werden. Einfluss auf die Erstellung von Pflegestandards haben: ● wissenschaftliche Erkenntnisse ● Erfahrungen ● Rahmenbedingungen der Institution ● bereits vorhandene Standards und Richtlinien ● Mitarbeit durch die vor Ort tätigen Pflegenden und deren Qualifikation

3.5.1 Formen der Pflegestandards Anhand der 3 Qualitätskategorien (S. 54) von Donabedian (Struktur, Prozess und Ergebnis) können Pflegestandards unterschiedlich betrachtet werden.

Strukturorientierte Pflegestandards Sie beschreiben Kriterien, die die strukturelle Organisation der Pflege betreffen. Welche Anforderungen z. B. an eine Stationsleitung gestellt werden, kann schriftlich in einer Stellenbeschreibung fixiert werden.

Prozessorientierte Pflegestandards Sie bezeichnen Merkmale, die sich mit einem Prozess, also einem Ablauf beschäftigen. In der Pflege sind das im Besonderen der Pflegeprozess (S. 58) und die Standardpflegepläne. Der Standardpflegeplan ist eine standardisierte Pflegeplanung. Er beinhaltet generelle Einschränkungen, die bei den meisten Patienten unter gleichen Bedingungen auftreten können, und kann sich auf eine medizinische oder pflegerische Diagnose beziehen. Sie erleichtern die Dokumentation der Pflegeplanung und geben Formulierungshilfen. Standardpflegepläne sind auf die individuelle Situation abzustimmen, dazu müssen für die jeweiligen Pflegesituationen Ergänzungen und Korrekturen vorgenommen werden.

Definition

L ●

Generelle Pflegeprobleme sind häufig auftretende Pflegeprobleme bei einer bestimmten Erkrankung oder Störung, z. B. „gestörte Nachtruhe durch Hustenanfälle“ (bei Pertussis).

Diese Standardpflegepläne stellen Pflegeprobleme dar, die aus der medizinischen Diagnose resultieren (▶ Tab. 3.6). Im Unterschied dazu wird die sich auf die pflegerische Diagnose beziehende Pflegeplanung mit einzelnen Problemen bzw. Einschränkungen ohne Bezug zur Erkrankung beschrieben (▶ Tab. 3.7). Sinn und Zweck eines Standardpflegeplans sind zum einen die Dokumentationserleichterung und Formulierungshilfe, die auch Zeit einsparen. Zum anderen wird die Einheitlichkeit der Pflege gefördert, da die Kommunikation vereinfacht und Missverständnisse verringert werden. Besonders für neue Mitarbeiter und Auszubildende

Qualitätssicherung in der Pflege

Tab. 3.5 Auszug aus einer Gesundheitsdiagnose (nach NANDA International 1990 [Berger et al., 2008]). Definition

Kennzeichen

Mutter-Kind-Dyade/Familie zeigt ausreichende Fertigkeiten beim und Befriedigung mit dem Stillprozess.

Bestimmende Merkmale: ● angemessene altersentsprechende Gewichtsentwicklung des Säuglings ● regelmäßiges und anhaltendes Saugen an der Brust ● Säugling ist zufrieden nach dem Stillen beeinflussende Faktoren: ● Gestationsalter des Säuglings > 34 Wochen ● grundlegende Kenntnisse über das Stillen ● normaler Aufbau des Mundraums des Säuglings

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▶ Gesundheitsdiagnose. Aus der bisherigen defizitorientierten Sichtweise fallen die Gesundheitsdiagnosen oder WellnessPflegediagnosen heraus. Sie enthalten als Kennzeichen Ressourcen des Menschen, die er zur Erhaltung der Gesundheit bzw. Steigerung des Wohlbefindens einsetzen kann (▶ Tab. 3.5).

Merke

H ●

Pflegediagnosen unterscheiden sich von medizinischen Diagnosen. Letztere beziehen sich auf Krankheiten oder Störungen von Organen. Hingegen ist bei den Pflegediagnosen das Verhalten auf aktuelle oder potenzielle Störungen der Gesundheit oder Veränderungen der Lebenssituation Ausgangslage für die Auswahl der notwendigen Pflegemaßnahmen.







Grundlage für die Anwendung innerhalb eines EDV-Systems Grundlage für die Kosten- und Leistungsrechnung einheitliche Pflegefachsprache

Nachteile der Pflegediagnosen sind: ● Zuordnung der Pflegediagnose nicht immer eindeutig bei verschiedenen Ursachen für die Störung ● festgelegte Systematik, individuelle Formulierung nicht möglich ● teilweise unzureichende Abgrenzung zur medizinischen Diagnosestellung ● Defizitorientierung ● Übersetzung der Pflegediagnosen in die deutsche Sprache trifft nicht immer die gleiche Bedeutung

3.5 Pflegestandards Definition

In der Einordnung im Pflegeprozess erfolgt die Festlegung der Pflegediagnose zwischen der Pflegeanamnese und der Planung der Pflege. Pflegefachkräfte erstellen bei einer Pflegediagnose aufgrund genauer Beachtung der Reaktionen des Menschen eine Beurteilung über Gesundheitsprobleme oder Lebensprozesse. Aufgrund der zutreffenden Pflegediagnose erfolgt die Planung der weiteren Pflegeinterventionen. Jeder Mensch erlebt und reagiert auf gesundheitliche Störungen oder bestimmte Lebenssituationen unterschiedlich. Daher wählt die Pflegefachkraft auch weiterhin mit dem Patienten und evtl. seinen Angehörigen realistische Ziele und die hierfür notwendigen Pflegemaßnahmen aus. Vorteile der Pflegediagnosen sind: ● Kontinuität in der Pflegepraxis ● Förderung der Qualitätssicherung, durch Ableitung von Kriterien für die Definition der Qualität ● Orientierung für den Bereich der Pflegewissenschaft

66

L ●

Pflegestandards dienen der Festlegung von bestimmten Kriterien zur Sicherung der Qualität in der Pflege. Sie stellen eine Vereinheitlichung der fachlichen Anforderungen und Richtlinien dar, die in einer bestimmten Situation als Mindestanforderungen verbindlich einzuhalten sind.

Ein Pflegestandard kann z. B. mit Zielvorgaben und festgelegten Kriterien zum Ablauf eines Verbandwechsels bei einer aseptischen Wunde erstellt werden. Einfluss auf die Erstellung von Pflegestandards haben: ● wissenschaftliche Erkenntnisse ● Erfahrungen ● Rahmenbedingungen der Institution ● bereits vorhandene Standards und Richtlinien ● Mitarbeit durch die vor Ort tätigen Pflegenden und deren Qualifikation

3.5.1 Formen der Pflegestandards Anhand der 3 Qualitätskategorien (S. 54) von Donabedian (Struktur, Prozess und Ergebnis) können Pflegestandards unterschiedlich betrachtet werden.

Strukturorientierte Pflegestandards Sie beschreiben Kriterien, die die strukturelle Organisation der Pflege betreffen. Welche Anforderungen z. B. an eine Stationsleitung gestellt werden, kann schriftlich in einer Stellenbeschreibung fixiert werden.

Prozessorientierte Pflegestandards Sie bezeichnen Merkmale, die sich mit einem Prozess, also einem Ablauf beschäftigen. In der Pflege sind das im Besonderen der Pflegeprozess (S. 58) und die Standardpflegepläne. Der Standardpflegeplan ist eine standardisierte Pflegeplanung. Er beinhaltet generelle Einschränkungen, die bei den meisten Patienten unter gleichen Bedingungen auftreten können, und kann sich auf eine medizinische oder pflegerische Diagnose beziehen. Sie erleichtern die Dokumentation der Pflegeplanung und geben Formulierungshilfen. Standardpflegepläne sind auf die individuelle Situation abzustimmen, dazu müssen für die jeweiligen Pflegesituationen Ergänzungen und Korrekturen vorgenommen werden.

Definition

L ●

Generelle Pflegeprobleme sind häufig auftretende Pflegeprobleme bei einer bestimmten Erkrankung oder Störung, z. B. „gestörte Nachtruhe durch Hustenanfälle“ (bei Pertussis).

Diese Standardpflegepläne stellen Pflegeprobleme dar, die aus der medizinischen Diagnose resultieren (▶ Tab. 3.6). Im Unterschied dazu wird die sich auf die pflegerische Diagnose beziehende Pflegeplanung mit einzelnen Problemen bzw. Einschränkungen ohne Bezug zur Erkrankung beschrieben (▶ Tab. 3.7). Sinn und Zweck eines Standardpflegeplans sind zum einen die Dokumentationserleichterung und Formulierungshilfe, die auch Zeit einsparen. Zum anderen wird die Einheitlichkeit der Pflege gefördert, da die Kommunikation vereinfacht und Missverständnisse verringert werden. Besonders für neue Mitarbeiter und Auszubildende

3.5 Pflegestandards

Tab. 3.6 Standardpflegeplan nach medizinischer Diagnose am Beispiel Gastroenteritis (Auszug). Pflegeprobleme

Pflegeziele

Pflegemaßnahmen

LA Essen und trinken Flüssigkeits-, Elektrolyt- und Nährstoffmangel durch Nahrungsverweigerung, Durchfall, Übelkeit und Erbrechen Ressourcen: Wunschkost ist mit Ernährungsempfehlung vereinbar



● ●

ausgeglichener Elektrolyt- und Flüssigkeitshaushalt Kind zeigt Appetit Einhalten und Akzeptanz der Ernährungsempfehlungen



Bauchschmerzen sind gelindert



● ●

Flüssigkeitszufuhr nach Arztverordnung (AVO) orientiert sich am Zustand Infusionstherapie nach AVO Nahrungsaufbau im Rahmen des Möglichen mitbestimmen lassen, nicht zum Essen zwingen

3

LA Ausscheiden gestörtes Wohlbefinden durch kolikartige Bauchschmerzen Ressourcen: Kirschkernkissen wird toleriert



● ●

Gewichtsabnahme durch häufige Stuhlentleerung, Erbrechen und mangelnde Nahrungszufuhr



Körpergewicht wird gehalten

● ●

feuchtwarme Bauchwickel nach ärztlicher Verordnung oder Kirschkernkissen Bauch mit Kümmelöl einreiben Medikamente zur Schmerzlinderung nach AVO Flüssigkeitszufuhr, Nahrung (s. o.) tgl. Gewichtskontrollen

LA Sich sauber halten und kleiden Schmerzen bei der Stuhlentleerung durch Wundsein Ressourcen: selbstständiges Waschen und Eincremen

● ●

Schmerzen sind gelindert intakte Haut im Analbereich





nach jeder Stuhlentleerung vorsichtige Reinigung des Analbereiches eincremen mit Zink-Lebertran-Salbe (nach AVO)

LA = Lebensaktivität (S. 71)

Tab. 3.7 Standardpflegeplan nach pflegerischer Diagnose am Beispiel trockene Mundschleimhaut bei einem Kleinkind*. Pflegeprobleme

Pflegeziele

Pflegemaßnahmen

Spannungsgefühl und unangenehmer Geschmack im Mund Ressourcen: kann den Mund ausspülen

Wohlbefinden durch nachlassendes Spannungsgefühl und angenehmen Geschmack

4-mal täglich Mund mit Fencheltee ausspülen

Gefahr der Entstehung von Verletzungen der Mundschleimhaut

intakte, feuchte Mundschleimhaut

Mundschleimhaut inspizieren, 4-mal täglich Mund pinseln, mit den für das Kind angeordneten Tinkturen

* exemplarisch, kein Anspruch auf Vollständigkeit!

bringt der Standardpflegeplan Erleichterungen. Die individuellen Bedürfnisse des Menschen müssen weiterhin Beachtung finden. Aus den Vorgaben des Standardpflegeplans ist dann der individuelle Pflegeplan zu modifizieren: ● Angaben, die nicht zutreffen, sind zu streichen ● Fehlendes ist zu ergänzen Durchführungsstandards einzelner Pflegemaßnahmen, z. B. Nabelpflege oder Säuglingsbad, sind handlungsorientiert. Eine genaue Beschreibung eines Ablaufs einer Tätigkeit, z. B. das Legen einer Magensonde oder die Nabelpflege bei einem Neugeborenen, dient der Gewährleistung einer qualitativ hochwertigen Tätigkeitsausübung. Dieser Standard bezieht sich konkret auf die Art der Durchführung von Pflegemaßnahmen.

Ergebnisorientierte Pflegestandards Sie beschreiben ein erwünschtes Ergebnis bzw. Ziel und den Weg, dieses Ergebnis zu erreichen. Dies bezieht sich auf den Gesundheitszustand des Patienten. Hier können generelle Pflegeziele festgelegt werden. Zu den ergebnisorientierten Standards zählen auch Lernzielkataloge für die Ausbildung von Gesundheits- und Kinderkrankenpflegeschülern auf den Stationen. Durch eine Steigerung der Ausbildungsqualität durch Lernkontrollen kann auch die Pflegequalität dieser Schüler verbessert werden.

3.5.2 Nationale Expertenstandards in der Pflege Die genannten 3 Qualitätskategorien Struktur, Prozess und Ergebnis können auch zusammen innerhalb eines Standards festgelegt werden. Durch die umfassende Darstellung der Qualitätskriterien

wird eine hohe Ausprägung der Qualitätssicherung angestrebt. Dies findet in den vom Deutschen Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) entwickelten, nationalen Expertenstandards in der Pflege Anwendung. Die Mitglieder sind bundesweit in verschiedenen Disziplinen der Pflege, wie Pflegewissenschaft, -management, -lehre und -praxis, tätig. Ein wissenschaftliches Team der Fachhochschule Osnabrück steht für die Durchführung wissenschaftlicher Projekte zur Verfügung. Enge Kooperationsbeziehungen bestehen zum Deutschen Pflegerat e. V. (DPR) und zur Bundeskonferenz für Qualitätssicherung im Gesundheitsund Pflegewesen e. V. (BUKO-QS). Veröffentlichte Expertenstandards des DNQP: ● Dekubitusprophylaxe in der Pflege ● Entlassungsmanagement in der Pflege ● Schmerzmanagement in der Pflege bei akuten Schmerzen ● Schmerzmanagement in der Pflege bei chronischen Schmerzen

7

Qualitätssicherung in der Pflege ● ●







3

Sturzprophylaxe in der Pflege Förderung der Harnkontinenz in der Pflege Pflege von Menschen mit chronischen Wunden Ernährungsmanagement zur Sicherstellung und Förderung der oralen Ernährung in der Pflege Förderung der physiologischen Geburt

Ein weiterer Expertenstandard wurde von der DNQP zum Thema „Erhaltung und Förderung der Mobilität“ entwickelt. Dieser wurde im Jahr 2015 dem GKV-Spitzenverband (zentrale Interessenvertretung der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen) zur Modell-Implementierung übergeben. Es wird geprüft, ob dieser als erster Expertenstandard nach § 113a des SGB XI mit dem Inkrafttreten des Pflegeweiterentwicklungsgesetzes verbindlich eingeführt werden soll.

3.6 Pflegekonzepte, -modelle, -theorien „Die Pflege stellt doch einen praktischen Beruf dar, wozu brauchen wir denn dazu abgehobene Pflegetheorien?“ Diese oder ähnliche kritische Aussagen werden nicht selten aus der Pflegepraxis über Pflegetheorien deutlich. Innerhalb des Professionalisierungsprozesses der Pflegeberufe haben Pflegetheorien jedoch eine wichtige wissenschaftliche Bedeutung. Sie können die praktische Arbeit unterstützen, indem sie z. B. die Pflegeplanung und damit die Durchführung der Pflege beeinflussen.

3.6.1 Begriffsdefinitionen Im Zusammenhang mit Pflegetheorien werden die Begriffe Konzept, Modell und Theorie verwendet. Das wichtigste Merkmal zur Unterscheidung von Modell und Theorie ist der Abstraktionsgrad. Pflegetheorien wird ein höherer Abstraktionsgrad zugesprochen als Modellen. Um den Unterschied zu verdeutlichen, sollen die Begriffe definiert werden.

Definition

L ●

Theorie bedeutet ein „System wissenschaftlich begründeter Aussagen zur Erklärung bestimmter Tatsachen oder Erscheinungen und der ihnen zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten [...]. Lehre von den allgemeinen Begriffen, Gesetzen, Prinzipien eines bestimmten Bereichs. [...] rein begriffliche, abstrakte (nicht praxisorientierte oder -bezogene) Betrachtung(-sweise)“ (Duden, 2015).

68

Modell bedeutet „Muster, Vorbild, Entwurf [...] vereinfachte Darstellung der Funktion eines Gegenstandes oder des Ablaufs eines Sachverhalts, die eine Untersuchung oder Erforschung erleichtert oder erst möglich macht“ (Duden, 2015). Konzept bedeutet „(stichwortartiger) Entwurf einer Rede oder einer Schrift“ (Duden, 2015).

Pflegekonzepte Konzepte sind als Idee zu einer Theorie zu verstehen. Sie könnten damit auch als Basis für die Theorieentwicklung beschrieben werden. Pflegekonzepte bezeichnen Phänomene, d. h. Gegenstände, Verhaltensweisen oder Ereignisse. Dies geschieht aufgrund direkter Beobachtung oder abstrakter Vorstellungen der Phänomene. So kann z. B. bei einem Schmerzkonzept, das Phänomen „Schmerz“ von verschiedenen Aspekten her, z. B. Definition, Ursachen, Verhalten, Erleben, beleuchtet werden.

Pflegemodelle Modelle dienen dem Verständnis eines Gegenstandes oder eines Sachverhaltes. Sie stellen die tatsächliche Situation in vereinfachter Form dar, was z. B. mit anatomischen Modellen erfolgen kann. Diese werden auch empirische Modelle genannt, da sie die beobachtete Wirklichkeit darstellen bzw. kopieren. Im Unterschied dazu stellen theoretische Modelle mit Worten oder Symbolen die Wirklichkeit bzw. die Vorstellungen über die Wirklichkeit dar. Pflegemodelle beschreiben als Modelle das „Wesen“ bzw. die Charakteristik von Pflege. Da dies von vielen Faktoren beeinflusst wird, enthalten viele komplexere Pflegemodelle folgende 4 Komponenten: ● Mensch und Gesellschaft (people) ● Gesundheit (health) ● Umwelt (environment) ● Pflege (nursing)

Pflegetheorien Theorien entstehen in einem Prozess der Sammlung von Betrachtungsweisen verschiedener Annahmen innerhalb eines bestimmten Phänomens. Es wird mithilfe von wissenschaftlichen Erkenntnissen eine bestimmte Situation systematisch dargestellt. Theorien sind somit als komplexe strukturierte Betrachtungsweise von Phänomenen, Ideen und Erklärungen zu verstehen. Pflegetheorien gehen damit über die Beschreibung der Pflege hinaus, indem andere Wissenschaften, wie Philosophie, Psychologie oder Soziologie ein-

bezogen werden. Theorien können vergangene Ereignisse klären und dazu beitragen, aktuelle zu verstehen. Wissenschaftlich erklärbare Aspekte der Pflege können somit gezielt für das Wohl der Patienten oder der Pflegenden selbst genutzt werden. Innerhalb der Theorienentwicklung werden verschiedene Konzepte überprüft und evtl. Zusammenhänge dargestellt. Theorien in der Pflege bezwecken eine Ausübung der Pflege auf der Basis wissenschaftlicher Grundlagen. Pflege soll als eigenständige Disziplin verstanden werden. In der Pflegetheorie werden die ureigenen Aufgaben von beruflich tätigen Pflegenden festgelegt und beschrieben. Jede Pflegetheorie definiert Pflege und das Verständnis von Gesundheit, Krankheit und die Rolle der Pflegefachkraft innerhalb des Genesungsprozesses. Das Menschenbild bildet hierbei die Grundlage für die Bedeutung und die Art und Weise der Interaktion mit dem Patienten und seinen Angehörigen. Bedingungen für eine entsprechende Umsetzung der Vorstellungen werden, z. B. durch die Vorgehensweise in der Pflege (nach dem Pflegeprozess) oder die Auswahl von Pflegesystemen (wie Bezugspflege), formuliert. ▶ Theorien von großer Reichweite. Sehr komplexe, weitreichende Einbeziehung von vielen anderen Theorien, hoher Abstraktionsgrad, nicht geeignet, unmittelbar in die Praxis umgesetzt zu werden. ▶ Theorien von mittlerer Reichweite. Speziellere Betrachtung als die „großen Theorien“, aber weitreichender als die Mikrotheorien. ▶ Mikrotheorien. Beinhalten einfache Konzepte und beziehen sich auf spezifische Aspekte. Es gibt verschiedene Anforderungen an eine Pflegetheorie: ● Sie soll systematisch aufgebaut sein und keine willkürliche Zusammenstellung von Beobachtungen und Meinungen enthalten. ● Sie soll eine Struktur für die Pflege enthalten, die eine systematische und theoretisch fundierte Pflege ermöglicht. ● Sie soll Erkenntnisse der Pflegeforschung und aus anderen Wissenschaften als Grundlage berücksichtigen. ● Sie soll die Bestandteile logisch miteinander verknüpfen und die Nutzbarkeit für die Pflege deutlich machen. ● Sie soll die Übertragung auf die Praxis überprüfen.

3.6 Pflegekonzepte, -modelle, -theorien

3.6.2 Historische Einordnung von Pflegemodellen und -theorien Pflegefachkräfte erbringen in unterschiedlichen Einsatzbereichen pflegerische Leistungen zur Gesunderhaltung und Gesundheitsförderung von Menschen. Diese können sich in den Aufgabenschwerpunkten unterscheiden. Daher ist es sinnvoll, von verschiedenen Pflegetheoretikern entwickelte Pflegetheorien bzw. Pflegemodelle zu betrachten, um eine geeignete für den jeweiligen Bereich auszuwählen (▶ Tab. 3.8).

3.6.3 Einordnung von Pflegetheorien nach Meleis Bestehende Pflegetheorien lassen sich z. B. nach Meleis in bedürfnis-, interaktionsund ergebnisorientierte Theorien ordnen.

Bedürfnistheorien

Interaktionstheorien

Bedürfnistheorien stellen eine an den Bedürfnissen der Patienten orientierte Pflege dar. Pflege wird dann notwendig, wenn ein Mensch für die Erfüllung einzelner oder mehrerer Bedürfnisse Unterstützung benötigt. Die Hauptaufgabe der Pflege besteht also darin, die Bedürfnisse des Menschen wahrzunehmen und den Menschen bei Defiziten bei der Erfüllung dieser zu helfen. Der Ursprung der Bedürfnistheorien lässt sich bei Florence Nightingale und Virginia Henderson finden. Zu den Bedürfnistheorien zählen u. a.: ● Dorothea Orem: Selbstfürsorge-DefizitTheorie (S. 70) ● Nancy Roper, Winifred Logan, Alison Tierney: Modell des Lebens (S. 71). Dieses Modell ist die Grundlage des vorliegenden Pflegefachbuches.

Bei den Interaktionstheorien stehen die Beziehung zwischen dem Patienten und der Pflegefachkraft im Vordergrund sowie die Art und Weise, wie Pflege ausgeübt und vom Patienten wahrgenommen wird. Zu den Interaktionstheorien werden z. B. gezählt: ● Imogene King: Zielerreichungstheorie ● Hildegard Peplau: Interpersonale Beziehungen in der Pflege, psychodynamische Krankenpflege ● Ida Jean Orlando: Die lebendige Beziehung zwischen Pflegenden und Patienten

3

Pflegeergebnisorientierte Theorien Pflegeergebnisorientierte Theorien gehen der Frage nach, warum etwas geschieht. Hier steht das Ergebnis der Pflege im Vor-

Tab. 3.8 Chronologische Auflistung einiger Pflegetheoretikerinnen und deren Pflegemodelle. Jahr

Pflegetheoretikerin

Pflegemodell

1860

Florence Nightingale

Moderne Krankenpflege – „Notes on Nursing“

1952

Hildegard E. Peplau

Psychodynamische Krankenpflege – Interpersonale Beziehungen in der Pflege

1960

Faye G. Abdellah

Typologie von 21 Pflegeproblemen

1961

Ida Jean Orlando, geb. Pelletier

Pflegeprozesstheorie – Die lebendige Beziehung zwischen Pflegenden und Patienten

1964

Ernestine Wiedenbach

Die helfende Kunst der klinischen Krankenpflege

1966

Lydia E. Hall

Kern, Pflege und Heilungsmodell

1966

Virginia Henderson

Grundprinzipien der Krankenpflege – Definition der Krankenpflege

1966

Joyce Travelbee

Mitmenschliches Beziehungsmodell

1967

Myra E. Levine

Vier Erhaltungsprinzipien

1970

Martha E. Rogers

Einheitliche Menschen – Theoretische Grundlagen der Pflege

1971

Dorothea E. Orem

Selbst-Pflege-Defizit-Theorie der Krankenpflege – Strukturkonzepte der Pflegepraxis

1971

Imogene M. King

Zielerreichungstheorie – Eine Theorie für die Krankenpflege

1974

Schwester Callista Roy

Adaptionsmodell – Einführung in die Krankenpflege

1976

Nancy Roper, Winifred W. Logan, Alison J. Tierney

Die Elemente der Krankenpflege

1976

Josephine G. Paterson, Loretta T. Zderad

Humanistische Pflege

1978

Madeleine M. Leininger

Kulturelle Dimensionen menschlicher Pflege – Theorie der kulturellen Pflege

1979

Jean Watson

Philosophie und Wissenschaft der Krankenpflege – Pflege-Wissenschaft und menschliche Zuwendung

1979

Margaret A. Newman

Gesundheitsmodell

1980

Dorothy E. Johnson

Verhaltenssystemmodell

1980

Joan P. Riehl

Symbolischer Interaktionismus

1980

Betty Neuman

Das System-Modell

1981

Rosemarie Rizzo Parse

Mensch werden – Leben – Gesundheit

1986

Patricia Benner

Vom Anfänger zum Experten – Stufen der Pflegekompetenz

1989

Marie-Luise Friedemann

Theorie des systemischen Gleichgewichts – Familien- und umweltbezogene Pflege

9

Qualitätssicherung in der Pflege dergrund. Zu den ergebnisorientierten Pflegetheorien zählt z. B.: ● Callista Roy: Theorie der Anpassung (Adaption)

3.6.4 Weitere Modelle zur Einordnung Weiterhin lassen sich Pflegetheorien in humanistische bzw. kulturorientierte Theorien ordnen, hierzu zählen z. B.: ● Madeleine Leininger: Theorie der transkulturellen Pflege (S. 49) ● Jean Watson: Theorie der transpersonalen Zuwendung

3

Speziell für die Pflege chronisch kranker Menschen haben Corbin u. Strauss (zitiert nach Woog, 1998) das Pflegemodell „Chronische Krankheiten“ entwickelt. Dem Modell der familien- und umweltbezogenen Pflege nach Marie-Luise Friedemann (S. 190) liegt ein systemischer Denkansatz zugrunde.

Merke

H ●

Pflegetheorien dienen der wissenschaftlichen Betrachtungsweise von Pflege. Sie können die Haltung und Handlung von Pflegenden beeinflussen. Somit haben Pflegetheorien Einfluss auf die Pflegepraxis und die Qualität der Pflege, durch bewusste und begründbare Entscheidungen. Die Möglichkeit zur Umsetzung in die Praxis ist von dem jeweiligen Abstraktionsgrad einer Theorie abhängig.

3.6.5 Pflegemodell von Dorothea Orem Bereits Ende der 1950er-Jahre entwickelte Dorothea Orem (1914 – 2007) in den USA die ersten Ideen für ihr Modell, mit dem sie der Pflegepraxis einen theoretischen Rahmen geben wollte. 1971 erschien dann ihr Buch „Nursing: concepts of practice“. Sie überarbeitete dieses mehrfach und arbeitete weiter an der Entwicklung ihres Modells, das sich als Grundlage in vielen Lehrbüchern und Pflegeplanungen in verschiedenen Ländern etablieren konnte. Orem selbst sah die Anwendbarkeit ihrer Selbstpflegetheorie nicht nur ausschließlich für die Pflegeausübung, sondern auch für die Unterstützung der Patienten durch andere Berufsgruppen im Gesundheitswesen.

70

Selbstpflegetheorie

Selbstpflegeerfordernisse

Nach Orem (zitiert nach Cavanagh, 1997) kann ein Mensch die Selbstpflege bewältigen, wenn er bewusst reflektierend und aktiv seine Lebensprozesse und deren Funktionsfähigkeit erhält, d. h. seine Gesundheit und sein Wohlbefinden fördert. Beeinflusst wird dies durch Faktoren wie Alter, Geschlecht, Kultur und Entwicklung eines Menschen. Der Mensch strebt danach, zwischen den Erfordernissen seiner Selbstpflege und seinen Fähigkeiten, diese zu erfüllen, die Balance zu halten (▶ Abb. 3.10a). Mit Selbstpflege sind die Handlungen gemeint, die Menschen ausführen, um ihr Leben, ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden zu erhalten. Somit lässt sich nach Orem ein Individuum als selbstpflegend bezeichnen, wenn es folgende Bereiche effektiv bewältigt (zitiert nach Cavanagh, 1997): ● Lebensprozesse und deren normale Funktionsfähigkeit erhalten ● normales Wachstum, normale Reifung und Entwicklung aufrechterhalten ● Krankheiten und Verletzungen vorbeugen oder diese kontrollieren ● Behinderungen vorbeugen oder diese kompensieren ● eigenes Wohlbefinden fördern

Für Orem sind 8 Erfordernisse zur Selbstpflege für alle Menschen von Bedeutung, unabhängig von z. B. Alter oder Gesundheitszustand. Diese werden von ihr als universelle Selbstpflegeerfordernisse bezeichnet: 1. ausreichende Zufuhr von Luft 2. ausreichende Zufuhr von Wasser 3. ausreichende Zufuhr von Nahrung 4. Vorkehrungen im Zusammenhang mit Ausscheidungsprozessen und Ausscheidungen 5. Erhalt eines Gleichgewichts zwischen Aktivität und Ruhe 6. Erhalt eines Gleichgewichts zwischen Alleinsein und sozialer Interaktion 7. Abwendung von Gefahren für Leben, menschliche Funktionsfähigkeit und menschliches Wohlbefinden 8. Förderung der menschlichen Funktionsfähigkeit und Entwicklung innerhalb sozialer Gruppen in Einklang mit den menschlichen Fähigkeiten, Grenzen und dem Wunsch nach Normalität

Grundsätzlich besitzt jeder Mensch die Motivation, für sich selbst sorgen zu wollen und zu können. Ein gesunder Mensch kann sich laut Orem selbst pflegen, bemüht sich im Bedarfsfall um entsprechende Hilfe und handelt entsprechend den erhaltenen Informationen.

SelbstpflegeErfordernisse

SelbstpflegeFähigkeit

a Mensch bewältigt die Selbstpflege

Selbs tp Er for flegedern isse

b

Selbs tpfle Fähig gekeit

Selbstpflegedefizit

Abb. 3.10 Selbstpflegetheorie von Dorothea Orem. a Selbstpflege. (Nach: Cavanagh, 1997) b Selbstpflegedefizit. (Nach: Cavanagh, 1997)

Die Selbstpflegeerfordernisse beinhalten physische, psychische, soziale und spirituelle Anteile des Lebens. Sie gewährleisten die Lebensprozesse des Menschen. Ohne die Zufuhr von Luft, Nahrung und Wasser ist der Mensch nicht lebensfähig. Andere Erfordernisse, wie das Gleichgewicht zwischen Aktivität und Ruhe oder zwischen Alleinsein und sozialer Interaktion, beeinflussen das Wohlbefinden und die Entwicklung eines Menschen. Orem unterscheidet darüber hinaus Erfordernisse im Zusammenhang mit Entwicklung und Krankheiten. Entwicklungsbedingte Selbstpflegeerfordernisse sind: ● intrauterine Lebensphase und die Geburt ● neonatale Lebensphase ● Säuglingsalter ● Entwicklungsstadien der Kindheit, Jugend und des frühen Erwachsenenalters ● Entwicklungsstadien des Erwachsenenalters ● Schwangerschaft In den verschiedenen Entwicklungsstadien können zu den bereits vorhandenen universellen Selbstpflegeerfordernissen noch weitere spezifische Erfordernisse auftreten. Hier sind äußere Bedingungen zu beachten, die Einfluss auf die Entwicklung nehmen können, z. B. gefährdende Umweltbedingungen, Drogenkonsum oder Verlust von nahestehenden Menschen.

3.6 Pflegekonzepte, -modelle, -theorien Orem benennt als zusätzliche Kategorie die krankheitsbedingten Selbstpflegeerfordernisse: ● Sich um angemessene medizinische Unterstützung bemühen. ● Auswirkungen bestehender Krankheiten wahrnehmen und ihnen entgegenwirken. ● Medizinisch verordnete Maßnahmen effektiv durchführen. ● Auswirkungen medizinischer Behandlungsmaßnahmen wahrnehmen und ggf. regulieren. ● Akzeptanz eines veränderten Gesundheitszustandes und evtl. notwendiger Pflege. ● Auswirkungen von Krankheiten und medizinischen Maßnahmen in das eigene Leben integrieren, um persönliche Weiterentwicklung zu ermöglichen. Durch die Veränderungen in der Fähigkeit, die Erfordernisse selbst zu erfüllen, wird ein kranker Mensch Unterstützung bei kompetenten anderen Personen einholen. Darüber hinaus kann durch eine Krankheit, Verletzung oder Behinderung eine Veränderung des eigenen Selbstkonzeptes, z. B. bezüglich noch vorhandener Fähigkeiten, entstehen. Die präventive Gesundheitspflege ist für Orem ein zentraler Bestandteil ihres Modells. Primäre Prävention wird durch eine effektive Erfüllung der universellen Selbstpflegeerfordernisse gewährleistet. Durch Früherkennung mit entsprechender Abwendung von negativen Auswirkungen von Krankheiten kann die sekundäre Prävention erreicht werden. Rehabilitationsmaßnahmen bei Krankheiten oder Behinderungen ordnet sie der tertiären Prävention zu.

Theorie des Selbstpflegedefizits Definition

● L

Kann ein Mensch seine Selbstpflegeerfordernisse nicht selbstständig erfüllen, spricht Orem von einem Selbstpflegedefizit (▶ Abb. 3.10b).

In der Theorie des Pflegesystems wird die helfende Person hierbei als Agent der Selbsthilfe gesehen. Orem beschreibt verschiedene Möglichkeiten des Helfens: ● etwas für einen anderen tun ● jemanden führen oder leiten ● physische Unterstützung ● psychologische Unterstützung ● Umgebung schaffen, die Entwicklungen positiv unterstützt ● jemanden unterrichten

Der Pflegefachkraft werden damit vielschichtige Aufgaben zugesprochen. Neben der Unterstützung der körperlichen Bedürfnisse ist die Hilfestellung bei der Bewältigung der gesundheitlichen Erfordernisse, z. B. durch Informieren und Anleiten, wichtig. Dabei sieht Orem die Pflegefachkraft als Partner des Patienten, sie bilden (zusammen mit anderen Beteiligten) ein Arbeitsteam. Orem sieht in der Anwendung des Pflegeprozesses eine gute Möglichkeit, die theoretischen Grundlagen des Modells in die Praxis umzusetzen. Hierbei beschreibt sie 4 Schritte: 1. Assessment, Einschätzung. Die Pflegefachkraft führt die Pflegediagnostik durch und erfasst den pflegerischen Unterstützungsbedarf: ● Verhältnis der gegenwärtigen und zukünftigen Selbstpflegefähigkeit zum gegenwärtigen und zukünftigen Selbstpflegebedarf. 2. Planung. Entscheidung der Pflegefachkraft mit dem Patienten über die „verordneten Handlungen“ unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Situation und der ganzheitlichen Betrachtung des Patienten: ● Auswahl und Koordination geeigneter Pflegeinterventionen, um die Selbstpflegeerfordernisse zu erfüllen. 3. Intervention. Therapeutische oder regulatorische Handlungen: ● praktische Umsetzung nach einem zuvor festgelegten Zeitplan unter Berücksichtigung der Selbstpflegefähigkeit des Patienten. 4. Evaluation (Auswertung). Case-Management-(Kontroll-)Tätigkeiten: ● einzelne Aspekte des Pflegeprozesses überwachen und auswerten, Reaktion auf Veränderungen der Patientensituation einbeziehen. Für den Ablauf des Pflegeprozesses ist es nach Orem notwendig, dass die Pflegenden zwischenmenschliche und soziale sowie technisch-professionelle Handlungen entwickeln und einbringen müssen. Hierzu zählt sie u. a. einen effektiven Beziehungsaufbau zum Patienten und zu seinen Angehörigen. Mit einem Pflegesystem bezeichnet sie die Art der Interaktion zwischen Pflegefachkraft und Patient sowie die Umgebung des Kontaktes. Orem definiert, je nach vorhandenen Selbstpflegefähigkeiten der Patienten und entsprechend erforderlichem Unterstützungsbedarf, 3 Arten von Pflegesystemen: ● vollständig kompensatorisch ● teilweise kompensatorisch ● unterstützend anleitend

Merke

H ●

Pflegefachkräfte sollen innerhalb des Pflegeprozesses den Patienten bei gesundheitlichen Einschränkungen (Selbstpflegedefiziten) kompensierend helfen, ihre Selbstpflegeerfordernisse zu bewältigen. Darüber hinaus sollen vorhandene Ressourcen (Selbstpflegefähigkeiten) gefördert und der Patient präventiv vor neuen Selbstpflegedefiziten bewahrt werden.

3

3.6.6 Auf einem Lebensmodell beruhendes Pflegemodell Das Pflegemodell von Roper, Logan und Tierney ist im deutschsprachigen Raum sehr bekannt. Es wird nach seinem inhaltlichen Schwerpunkt den Bedürfnismodellen zugeordnet. Im vorliegenden Buch dient es in modifizierter Form als Grundlage für die Betrachtung der Pflegesituationen. Nancy Roper (1918 – 2004) war 15 Jahre als Unterrichtsschwester tätig. Sie schrieb Fachbücher, hatte ein Forschungsstipendium, promovierte und war von 1975 – 1978 im schottischen Gesundheitsdepartment für Pflegeforschung beschäftigt. Winifred W. Logan war 12 Jahre Dozentin für Krankenpflege an der Universität Edinburgh und ebenfalls im schottischen Gesundheitsdepartment für Krankenpflegeausbildung beschäftigt. Danach war sie in verschiedenen Ländern als Beraterin tätig und von 1978 – 1980 Geschäftsführerin des ICN. Dann leitete sie das Department für Gesundheits- und Pflegestudien am College für Technologie in Glasgow. Alison J. Tierney gehörte zu den ersten Absolventinnen eines Universitätskurses in Krankenpflege in Schottland und war danach Dozentin im Department für Pflegestudien an der Universität Edinburgh. Hier entwickelte sie ein Programm für die Krankenpflegeausbildung. Gemeinsam führten Roper, Logan und Tierney Studien der Krankenpflege an der Universität in Edinburgh durch, entwickelten das Modell von Nancy Roper (von 1976) weiter und veröffentlichten 1980 die 1. Auflage der „Elements of Nursing“, ein Lehrbuch für die Krankenpflege. Durch die Betonung, dass es sich hier um ein Pflegemodell handelt, das auf einem Lebensmodell beruht, wird die Sichtweise bekräftigt, dass die Pflege eines Menschen nicht nur die Pflege kranker, sondern auch die Betreuung gesunder Menschen beinhaltet.

1

Qualitätssicherung in der Pflege

H ●

Merke

Förderung und Erhaltung von Gesundheit sowie Verhütung und Unterstützung bei der Genesung von Krankheiten sind wichtige Aufgaben der Pflegefachkraft.

3

Das Modell wird zunächst allgemein vorgestellt. In einem folgenden Abschnitt wird eine Möglichkeit der Übertragung auf die Gesundheits- und Kinderkrankenpflege erläutert.

Fünf Komponenten Das Pflegemodell nach Roper u. a. (1993) charakterisiert das Leben eines Menschen durch 5 Komponenten (▶ Abb. 3.11): ● 12 Lebensaktivitäten ● Lebensspanne ● Abhängigkeits- und Unabhängigkeitskontinuum ● Faktoren, die die Lebensaktivitäten beeinflussen ● Individualität des Lebens

12 Lebensaktivitäten (LA) Die Lebensaktivitäten stehen im Mittelpunkt des Modells. Die anderen 4 Komponenten beeinflussen die Wahrnehmung

0 Jahre

Faktoren, welche die Lebensaktivität beeinflussen körperliche psychologische soziokulturelle umgebungsabhängige wirtschaftspolitische

und Ausübung der 12 Lebensaktivitäten. Die folgende Darstellung der Lebensaktivitäten dient der Übersicht. Im Teil „Beobachtung, Unterstützung und stellvertretende Übernahme der Lebensaktivitäten (LA)“ werden die Lebensaktivitäten ausführlich beschrieben, s. Kap. Kommunzieren (S. 217) bis Kap. Sterben (S. 462). ▶ Für eine sichere Umgebung sorgen. Um die Gesundheit zu erhalten und das Leben zu sichern, werden ständig Vorbeugungsmaßnahmen getroffen, z. B. der Schutz vor Unfällen durch Umsicht und Beseitigung von Unfallgefahren. Die eigene, persönliche Sicherheit und die allgemeine Sicherheit für viele Menschen und zukünftige Generationen, z. B. Umweltschutz, stehen im Zentrum dieser Lebensaktivität. Die Anwendung bestimmter Hygienemaßnahmen dient ebenfalls der Erhaltung von Gesundheit. ▶ Kommunizieren. Der Mensch als soziales Wesen tritt in Kontakt zu anderen Menschen. Dies geschieht verbal durch die Sprache und nonverbal durch Gesichtsausdruck, Körpersprache, Ausdruck von Gefühlen, Berührung usw. Diese Lebensaktivität ist als eine wichtige und grundlegende Dimension im Leben eines Menschen und damit auch für die Pflege zu sehen.

Lebensspanne

Lebensaktivitäten

Für eine sichere Umgebung sorgen Kommunizieren Atmen Essen und trinken Ausscheiden Sich sauberhalten und kleiden Die Körpertemperatur regulieren Sich bewegen Arbeiten und spielen Sich als Mann oder Frau fühlen und verhalten Schlafen Sterben

Individualität im Leben Einschätzung Planung Durchführung Auswertung

Abb. 3.11 Diagramm des Pflegemodells nach Roper, Logan u. Tierney (1993).

72

▶ Atmen. Atmen ist lebensnotwendig, um Körperfunktionen aufrechtzuerhalten. Atmen geschieht meist unbewusst. Alle Lebensaktivitäten sind von einer suffizienten Atmung abhängig. ▶ Essen und trinken. Von Geburt an nehmen wir Nahrung zu uns. Bereits Neugeborene sind mit dem lebensnotwendigen Saug- und Schluckreflex ausgestattet. Essen und trinken sowie die Zubereitung der Nahrung nehmen einen wichtigen Stellenwert im sozialen Leben ein. ▶ Ausscheiden. Zuerst geschieht die Ausscheidung reflektorisch, im Laufe der Entwicklung kann sie später willentlich beeinflusst und kontrolliert werden. Die Lebensaktivität Ausscheiden wird mit zunehmender sozialer Entwicklung zu einer intimen Angelegenheit, die auch mit Schamgefühlen verbunden ist. ▶ Sich sauber halten und kleiden. Das Wohlbefinden ist in einem engen Zusammenhang mit dieser Lebensaktivität zu sehen. Weiterhin werden die Kontaktaufnahme mit anderen Menschen und die Wirkung auf diese davon beeinflusst. ▶ Die Körpertemperatur regulieren. Das Aufrechterhalten der Körpertemperatur ist notwendig, damit der Körper seine Funktionen ausführen kann. Die Körper-

100 Jahre

Abhängigkeit

3.6 Pflegekonzepte, -modelle, -theorien temperatur hat Einfluss auf unser Wohlbefinden. Die Regulation der Körpertemperatur unterliegt der Entwicklung. ▶ Sich bewegen. Durch Bewegung kann der Mensch einen neuen Standort und einen anderen Blickwinkel einnehmen. Die Wahrnehmung wird durch Bewegung beeinflusst, die Kontaktaufnahme mit der Umwelt und den Mitmenschen ermöglicht. ▶ Arbeiten und spielen. Arbeiten und spielen kann Lebenssinn und Zufriedenheit geben. In dieser Lebensaktivität nimmt der Mensch auch Kontakt zu anderen auf. Beim Spielen lässt sich das Sozialverhalten beobachten. Schließlich dient die Arbeit dem Gelderwerb und somit der Sicherung der Lebensgrundlage und dem sozialen Status. ▶ Sich als Mann oder Frau fühlen und verhalten. Sexualität ist ein Ausdruck der Geschlechtszugehörigkeit, die im Verhalten, in der Erscheinung sowohl körperlicher als auch psychischer und sozialer Art deutlich werden kann. Dazu gehört auch, ob sich ein Mensch in seiner Rolle als Mann oder Frau wohlfühlt, diese leben will und kann. ▶ Schlafen. Ruhen und schlafen kann als Ausgleich für die geistige und körperliche Arbeit und zur Entlastung der Körperfunktionen gesehen werden. Der Bedarf an Schlaf ist bei jedem Menschen unterschiedlich. Er wird z. B. von Alter und Gewohnheiten beeinflusst. ▶ Sterben. Ein Teil des Lebens ist das Sterben. Dieses bewusst annehmen zu können ist eine wichtige Lebensaufgabe. Dazu gehört es auch zu lernen, mit dem Verlust eines geliebten Menschen und der eigenen Trauer umzugehen.

Merke

H ●

Die Lebensaktivitäten sind nur zum Zweck der Beschreibung voneinander getrennt worden. Sie sind jedoch in der ganzheitlichen Betrachtung eines Menschen im Zusammenhang zu sehen, da eine enge Wechselbeziehung und Beeinflussung der Lebensaktivitäten untereinander besteht.

Der Begriff „Lebensaktivitäten“ wurde dem der „Bedürfnisse“ vorgezogen, da er deren aktive Natur darstellt und die Komplexität betont. Die Ausführungen der Lebensaktivitäten sind z. T. beobachtbar, klar zu beschreiben und objektiv messbar.

Lebensspanne Definition

L ●

Das gesamte Leben eines Menschen, von der Empfängnis bis zum Tod, wird als Lebensspanne bezeichnet.

Ein Mensch entwickelt sich im Laufe seines Lebens. Der im Moment bestehende Entwicklungsstand kann sehr unterschiedlich von dem Vergangenen oder zu erwartenden Zukünftigen sein. Dies ist v. a. bei Kindern im 1. Lebensjahr zu beobachten. In der Lebensspanne verändern sich Lebensäußerungen durch den Prozess der körperlichen, geistigen, emotionalen und sozialen Entwicklung.

Abhängigkeit/Unabhängigkeitskontinuum Die Abhängigkeit bzw. die Unabhängigkeit in den Lebensaktivitäten eines Menschen wird durch seine Lebensspanne und die Faktoren, die die Lebensaktivitäten beeinflussen, deutlich.

Merke

H ●

Ein Mensch befindet sich in den Lebensaktivitäten irgendwo zwischen völliger Abhängigkeit und völliger Unabhängigkeit. Die Abhängigkeit bzw. Unabhängigkeit kann jedoch in jeder Lebensaktivität unterschiedlich sein.

Ein Säugling kann z. B. in der Lebensaktivität „Atmen“ völlige Unabhängigkeit besitzen, indem er ohne äußere Hilfe atmen kann, unterliegt jedoch in der Lebensaktivität „Essen und trinken“ einer gewissen Abhängigkeit, da er auf das Anbieten von Nahrung angewiesen ist. Innerhalb einer Lebensaktivität können auch situationsbezogene Abhängigkeiten bestehen. Ein Kleinkind, das ohne Hilfestellung laufen kann, benötigt evtl. beim Fortbewegen mit einem Fahrrad Hilfestellung durch einen Erwachsenen oder durch Stützräder (▶ Abb. 3.12). Es ist somit in der Lebensaktivität „Sich bewegen“ in Teilbereichen abhängig und in anderen Teilbereichen unabhängig. Mit der Abhängigkeits- und Unabhängigkeitseinschätzung einer Person in einer einzelnen Lebensaktivität können auch Veränderungen der Situation über einen bestimmten Zeitraum dargestellt und beobachtet werden. Ein Neugeborenes ist fast vollständig abhängig in den Lebensaktivitäten. Entsprechend zur Förderung seiner Fähigkei-

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Abb. 3.12 Abhängigkeit/Unabhängigkeit. Größere Unabhängigkeit wird beim Fahrradfahren durch Stützräder erreicht (Symbolbild). (Foto: chihana – stock.adobe.com)

ten entwickelt es sich allmählich hin zur Unabhängigkeit. Einfluss hierauf können körperliche und geistige Entwicklungsstörungen haben. Es treffen dann sog. individuelle Abhängigkeiten für das Kind zu. Ziel ist es, die für dieses Kind größtmögliche Unabhängigkeit zu erreichen, ohne den Anspruch, einen Vergleich mit der Norm der Gesellschaft vorzunehmen, da sonst die Gefahr besteht, dass individuelle Fähigkeiten des Kindes missachtet werden. Ein Erwachsener, der in seinen Lebensaktivitäten weitgehend unabhängig ist, kann durch einen Unfall oder eine Erkrankung wieder vermehrt abhängig werden. Im Alter kann es zu einem Verlust von erreichter Unabhängigkeit bis hin zur vollen Abhängigkeit kommen.

Lebensaktivitäten beeinflussende Faktoren Körperliche, psychologische, soziokulturelle, umgebungsabhängige und wirtschaftspolitische Faktoren wirken sich auf die Unabhängigkeit bzw. die Abhängigkeit eines Menschen in den Lebensaktivitäten aus. Hier ist die Wechselbeziehung zu den anderen Komponenten des Modells zu sehen. Es gibt viele Faktoren, die die Individualität der Lebensweise ausmachen. In dem Modell von Roper u. a. (1993) wurden fünf Hauptfaktoren ausgewählt, die die Lebensaktivitäten beeinflussen, aber auch sie können nicht isoliert gesehen werden. Die Trennung geschieht hier lediglich zur besseren Erläuterung. ▶ Körperliche Faktoren. Die Funktionsfähigkeit des Organismus hängt von den anatomischen Verhältnissen und den Vorgängen im Körper ab. Diese sind z. T. durch Vererbung vorgegeben, verändern sich jedoch durch Alter, Entwicklung und gesundheitsschädigende Einflüsse wie Krankheitserreger, Umweltgifte oder Verletzungen.

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Qualitätssicherung in der Pflege ▶ Psychologische Faktoren. Hierzu zählen z. B. intellektuelle (kognitive) und emotionale Faktoren, die wiederum durch die individuelle Entwicklung eines Menschen, seine Erlebnisse und Erfahrungen im Leben geprägt werden. Schon ein Säugling sendet Signale über sein Wohlbefinden, empfängt von der Außenwelt Reize und reagiert darauf, wenn auch zu Beginn mehr reflexartig. Psychologische Faktoren beeinflussen die Ausübung der Lebensaktivitäten durch Wissen und Erfahrungen.

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▶ Soziokulturelle Faktoren. Die geistigen, religiösen und ethischen Einflüsse auf Menschen sind in den soziokulturellen Faktoren beinhaltet. Soziale Gruppen, wie z. B. die Gesellschaft, die Familie, Freunde, und die sich daraus mitbestimmende Kultur spiegeln sich in den einzelnen Lebensaktivitäten wider. So kann die Lebensaktivität „Essen und trinken“ einerseits von religiösen Faktoren, z. B. Verzicht auf bestimmte Speisen in der Fastenzeit, andererseits von ethischen Aspekten, z. B. Lebensmittel nicht wegzuwerfen, solange es noch Menschen gibt, die verhungern, beeinflusst werden. Die Rolle innerhalb der Familie oder am Arbeitsplatz kann ebenfalls Einfluss auf Lebensaktivitäten haben. ▶ Umgebungsabhängige Faktoren. Unter Umgebung wird der unmittelbare Lebensraum des einzelnen Menschen verstanden. Die Atmosphäre mit ihren anorganischen und organischen Substanzen, das Klima und Umweltfaktoren, z. B. Luftbeschaffenheit, haben Auswirkungen auf die Lebensaktivitäten. Aber auch die häuslichen Gegebenheiten, z. B. hygienische Lebensbedingungen, beeinflussen die Lebensaktivitäten. ▶ Wirtschaftliche und politische Faktoren. Das Land, in dem ein Mensch lebt, die politische und die wirtschaftliche Lage beeinflussen ebenfalls seine Lebenssituation. So können z. B. Gesetze als Beeinträchtigung bzw. Einschränkung der persönlichen Freiheiten in den Ausübungen der Lebensaktivitäten empfunden werden. Dies ist stark von der vorherrschenden Staatsform eines Landes abhängig, die mittels Gesetzgebung direkt oder indirekt in das persönliche Leben eines jeden Menschen eingreift.

Individualität des Lebens Die Individualität eines Menschen zeigt sich in der Wahrnehmung, Ausübung und in seinen Äußerungen über die Lebensaktivitäten, z. B. wie, wie oft, wo, warum und wann die Lebensaktivitäten ausgeführt werden. Weiterhin macht sich die Individualität darin bemerkbar, welches Wissen ein Mensch über die Lebensaktivi-

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täten hat, seine Überzeugungen und seine Haltung hierzu. Auch der momentane Standort in der Lebensspanne und der individuelle Grad der Abhängigkeit bzw. Unabhängigkeit in den einzelnen Lebensaktivitäten werden deutlich. Im Leben jedes einzelnen Menschen beeinflussen die vier vorher beschriebenen Komponenten seine individuelle Situation.

Merke

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Jeder Mensch ist einzigartig, sozusagen ein Unikat.

Übertragungen auf die Pflege Die Forderung nach individueller Pflege eines Menschen ergibt sich aus der Tatsache der Individualität des Lebens. Sie wird bestimmt durch die Lebensweise, Erfahrungen und Erwartungen des Menschen. Gesundheit und Krankheit sind untrennbar mit Lebensstil und Ausübung der Lebensaktivitäten des Einzelnen verbunden. Am Grad der Unabhängigkeit bzw. Abhängigkeit innerhalb einer Lebensaktivität, die durch körperliche, psychologische, soziokulturelle, umgebungsabhängige und politisch-ökonomische Faktoren beeinflusst wird, zeigt sich der Pflegebedarf eines Menschen.

Merke

H ●

Die Pflegefachkraft übernimmt die Rolle, dem anvertrauten Menschen zu helfen, seine größtmögliche Unabhängigkeit in den Lebensaktivitäten zu erhalten, zu fördern oder wiederherzustellen und die mit der Abhängigkeit verbundenen Probleme zu lösen bzw. mit bleibenden Abhängigkeiten zurechtzukommen. Der Patient ist als aktiver Partner zu sehen und hat das Recht auf Selbstbestimmung.

Pflege dient nicht nur dem einzelnen Menschen, der Hilfe benötigt, sondern auch der Gesellschaft. Umgekehrt ist die Pflege nur im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Strukturen und Veränderungen zu sehen. Die 12 Lebensaktivitäten dienen als Struktur für Einschätzung, Planung, Durchführung und Auswertung der Pflege. Der Pflegeprozess dient als Instrument zur Erreichung einer individuellen professionellen Pflege, indem er den Blick auf den individuellen Bedarf des jeweiligen Menschen lenkt. Ergänzend müssen immer auch die beeinflussenden Faktoren, die Lebensspanne, die Abhängigkeit und

Unabhängigkeit und somit der individuelle Mensch gesehen werden. ▶ Zweck des Modells. Das Modell dient als Rahmen für die Pflegefachkraft, die aus eigener Initiative individuelle Pflegemaßnahmen plant, die unter Berücksichtigung der Lebensaktivitäten des Menschen notwendig werden. Auszubildenden in den Pflegeberufen vermittelt das Modell eine allgemeine Auffassung von professioneller Pflege, um so in der Praxis eine Methode für eine individuelle Pflege entwickeln zu können. Die Anwendung des Pflegemodells erfordert eine bewusste Auseinandersetzung mit der Situation eines Menschen. Sie widerspricht somit einer zufälligen, unreflektierten Vorgehensweise. Weiterhin eignet sich das Modell zur interdisziplinären Zusammenarbeit, da gemeinsame Interessenbereiche von verschiedenen Berufsgruppen durch die umfassende Sichtweise des Menschen deutlich werden.

Modifizierung für die Gesundheits- und Kinderkrankenpflege Für die Anwendung in der Gesundheitsund Kinderkrankenpflege wurde das Modell geringfügig modifiziert. Die Grundaussagen des Modells wurden übernommen. Die Integration der Eltern in die Pflege ist in dem Modell von Roper, Tierney und Logan gut möglich; auch sie betonen die Bedeutung der soziokulturellen Faktoren, die Einfluss auf die Lebensaktivitäten haben. Die Individualität im Leben ist auf die Situation in der Familie übertragbar. Die Familie und andere Bezugspersonen können dem einzelnen Mitglied der Familie, wenn es durch eine Abhängigkeit in einer Lebensaktivität oder zu einem Unabhängigkeitsverlust gekommen ist, in der Ausübung der Lebensaktivität helfen. Die Ermittlung des Ausmaßes an Abhängigkeit und Unabhängigkeit dient der Feststellung der Hilfsbedürftigkeit. Der Grad der Hilfsbedürftigkeit bestimmt den Pflegebedarf. Die Lebensaktivitäten sind im vorliegenden Pflegebuch in folgender Reihenfolge und Formulierung gewählt worden: ● Kommunizieren ● Atmen/Kreislauf regulieren ● Körpertemperatur regulieren ● sich sauber halten und kleiden ● Essen und trinken ● Ausscheiden ● sich bewegen ● Schlafen ● für eine sichere Umgebung sorgen ● sich beschäftigen, spielen und lernen ● Mädchen oder Junge sein ● Sterben

3.7 Pflegewissenschaft/Pflegeforschung Dabei macht die Reihenfolge der Lebensaktivitäten keine Aussage über die Wertigkeit. Belassen wurde die aktive Form der Lebensaktivitäten, um den dynamischen Aspekt zu betonen. Die Lebensaktivitäten selbst wurden in folgenden Punkten geändert: Aus didaktischen Gründen erweiterten wir die Bezeichnungen der Lebensaktivität „Atmen“ durch den Zusatz „Kreislauf regulieren“. „Sich beschäftigen, spielen und lernen“ sowie „Mädchen oder Junge sein“ werden den Lebensaktivitäten der Kinder eher gerecht. Das Modell sieht ursprünglich eine Verbindung zwischen den Lebensaktivitäten und den einzelnen Körpersystemen und ordnet dementsprechend die einzelnen Systeme den Lebensaktivitäten zu, z. B. Lungensystem und Atmen, Verdauungssystem und Ausscheiden. Entsprechend werden die Erkrankungen und die pflegerischen Interventionen zugeordnet und beschrieben. Da jedoch durch die Komplexität der Lebens- und Pflegesituationen viele Lebensaktivitäten beeinflusst werden, ist diese Zuordnung von Roper et al. nicht übernommen worden. Im Teil III „Unterstützung und Betreuung in speziellen Pflegesituationen“ sind spezielle Lebenssituationen und Pflegesituationen, die sich z. B. durch eine Gesundheitsstörung eines Menschen verändern, erläutert. Es soll noch einmal erwähnt werden, dass die alleinige Anwendung der Lebensaktivitäten in Checklistenform nicht Sinn des Modells ist. Berücksichtigt werden muss die Interaktion zwischen Pflegefachkraft, dem Kind und seinen Angehörigen. Erst diese macht eine individuelle Betrachtung der Person und deren Pflege möglich.

3.7 Pflegewissenschaft/ Pflegeforschung 3.7.1 Pflegewissenschaft Bereits während der Ausbildung sollen Pflegende lernen, ihr Handeln an pflegewissenschaftlichen Erkenntnissen auszurichten. Hierzu sieht die Ausbildungsund Prüfungsverordnung für die Berufe in der Krankenpflege (KrPflAPrV) vom 10. 11. 2003 in Anlage 1 (zu § 1 Abs. 1 zur Gliederung der Ausbildung) vor: „Die Schülerinnen und Schüler sind zu befähigen, ● sich einen Zugang zu den pflegewissenschaftlichen Verfahren, Methoden und Forschungsergebnissen zu verschaffen ● Pflegehandeln mithilfe von pflegetheoretischen Konzepten zu erklären, kritisch zu reflektieren und die Themen-



bereiche auf den Kenntnisstand der Pflegewissenschaft zu beziehen Forschungsergebnisse in Qualitätsstandards zu integrieren“

Definition

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Nach dem Brockhaus (2003) ist Wissenschaft: „Inbegriff dessen, was überlieferter Bestand des Wissens einer Zeit ist sowie v. a. der Prozess methodisch betriebener Forschung und Lehre als Darstellung der Ergebnisse und Methoden der Forschung mit dem Ziel, fachliches Wissen zu vermitteln und zu wissenschaftlichem Denken zu erziehen. Die Wissenschaft beginnt mit dem Sammeln, Ordnen und Beschreiben ihres Materials. Weitere Schritte sind die Bildung von Hypothesen und Theorien. Sie müssen sich am Material bestätigen (Verifikation) oder bei Widerlegung (Falsifikation) durch neue ersetzt werden. Die Zusammenfassung wissenschaftlicher Einzelergebnisse zu einer Ganzheit ist das System. Die Wissenschaft ist dem Ziel nach entweder theoretische (reine) Wissenschaft oder angewandte (praktische) Wissenschaft und wird traditionell in Natur- und Geisteswissenschaften geschieden.“

Wissenschaft besteht aus Forschung und Lehre, d. h. die neu gewonnenen Erkenntnisse werden schriftlich dargestellt, veröffentlicht und damit weitergegeben. Die Pflegewissenschaft beinhaltet somit die Lehre, Forschung, Beobachtung und Beurteilung von Pflege. Sinn und Zweck der Pflegewissenschaft sind: ● Probleme/Fragestellungen der Praxis darstellen und klären ● Pflegeinterventionen auf Effektivität überprüfen und Wirkungen beschreiben ● Erkenntnisse aus anderen wissenschaftlichen Bereichen in die Pflegepraxis übertragen ● Pflegequalität beurteilen und verbessern ● Ansehen, Selbstbewusstsein und die Selbstverwaltung der Pflege fördern ▶ Evidence-based Nursing (EBN). Zentren für evidenzbegründete Pflege bemühen sich um die Erfassung von wissenschaftlichen Erkenntnissen mit Einschätzung ihrer Bedeutung. Hierzu haben sich internationale Netzwerke gegründet, die Teil aller evidenzbegründeten „health services“ (Gesundheitsberufe) sind.

Definition Wissenschaftliche Forschung ist die strukturierte, methodische Suche nach neuen Erkenntnissen. Im Gegensatz dazu sind unstrukturierte Wissensquellen spontan, unsystematisch und nicht überprüft. Hierzu zählen Intuition, Erfahrung, Versuch und Irrtum oder Tradition und Autorität. Diese Wissensquellen sind nicht automatisch falsch. Durch die fehlende strukturelle Vorgehensweise ist die Aussagekraft jedoch nur begrenzt allgemeingültig, da zu viele unberechenbare bzw. unbekannte Einflussfaktoren vorliegen können. Das sog. „logische Denken“ beinhaltet dagegen als strukturierte Wissensquelle ein regelhaftes gezieltes Vorgehen, den Erkenntnisprozess. Es gibt 2 Wege, diesen Prozess zu durchlaufen, um einen Erkenntnisgewinn zu erlangen: ● Induktion: vom Besonderen oder Einzelfall auf die Allgemeinheit geschlossen. Dieser Weg beginnt meist mit einer Beobachtung, einer Erfahrung = Empirie. Aus dieser entsteht dann eine Theorie, ein allgemeines Prinzip. ● Deduktion: Von einer allgemeinen Aussage wird auf einen Einzelfall abgeleitet. Eine Theorie dient hier als Grundlage, die empirisch überprüft, also bestätigt oder widerlegt wird.

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Das deutsche Zentrum für EBN an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg definiert Evidence-based Nursing (EBN oder Evidenzbasierte Pflege) als „die Integration der derzeit besten wissenschaftlichen Beweise in die tägliche Pflegepraxis unter Einbezug theoretischen Wissens und der Erfahrung der Pflegenden, der Vorstellungen des Patienten und der vorhandenen Ressourcen“.

Evidence (engl.) bedeutet Beweis, based (ebenfalls engl.) steht für „zugrunde liegend“ oder „basierend auf“. Die EBN-Methode soll Pflegende unterstützen, ihr Vorgehen durch den Einbezug wissenschaftlich fundierter Erkenntnisse zu begründen und Entscheidungen zu erleichtern. EBN stellt damit eine Möglichkeit dar, Forschungsergebnisse für das eigene Aufgabenfeld und die damit sich stellenden speziellen Fragestellungen zu nutzen. Sie besteht aus 6 Schritten: 1. Aufgabenklärung: Klärung der Aufgabenstellung 2. Fragestellung: Formulierung einer präzisen Frage 3. Literaturrecherche: z. B. mittels Datenbanken 4. Kritische Beurteilung der Ergebnisse der Recherche

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Qualitätssicherung in der Pflege 5. Implementierung und Adaption: Veränderung der Pflegepraxis 6. Evaluation: Beurteilung des Nutzens Die Pflegefachkraft nutzt mit der EBNMethode empirisch abgesicherte, wissenschaftlich fundierte Daten und Ergebnisse aus der Pflegeforschung, um Patienten und Angehörige professionell pflegen bzw. unterstützen zu können. Bei der Auswahl der Forschungsliteratur sind die Ergebnisse auch kritisch im Hinblick auf die zuverlässigen Aussagen und die Umsetzung in die aktuelle Patientensituation zu beurteilen.

3

3.7.2 Pflegeforschung Die Pflegeforschung ist in Deutschland eine noch relativ junge pflegewissenschaftliche Disziplin. Zuvor wurden aus anderen wissenschaftlichen Bereichen Forschungsstudien in der Pflege erhoben. Diese beschäftigen sich hauptsächlich mit der Organisation des Krankenhauses und den Pflegefachkräften selbst. Die eigentliche Erforschung der Pflege, die sich auf die Ausübung der Pflege bezieht, entstand erst in den 1980er-Jahren. Seit 1984 gibt es in Deutschland die Agnes-Karll-Stiftung für Pflegeforschung, seit 1991 das AgnesKarll-Institut für Pflegeforschung in Eschborn. Der Deutsche Verein zur Förderung der Pflegewissenschaft setzt sich für die Verbreitung der Pflegeforschung ein. Der Studiengang Pflegeforschung ist an Fachhochschulen eingerichtet worden.

Definition

L ●

Pflegeforschung kann durch die Anwendung von wissenschaftlichen Methoden fundierte Antworten auf bestimmte Fragen und Probleme finden. Dadurch wird bekanntes Wissen untersucht und neues Wissen entwickelt (▶ Tab. 3.9).

In der Pflege beruhen viele Kenntnisse auf dem sog. Erfahrungswissen, das im Laufe der Zeit weitergegeben wurde. Sinn und Zweck der Pflegeforschung ist, dieses Wissen nicht mehr unreflektiert zu übernehmen, sondern zu hinterfragen und mit objektiven Messmethoden zu untersuchen. Die Pflegeforscher sind auf Hinweise und Beobachtungen aus der Praxis angewiesen. Forschung ist für die Pflegenden vor Ort durch neue Erkenntnisse von großem Nutzen. Dadurch wird deutlich, dass alle Beteiligten eng zusammenarbeiten müssen, damit Änderungen durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse dem ein-

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Tab. 3.9 Fachbegriffe zur Pflegeforschung. Fachbegriff

Definition

Deduktion

Ableitung des Besonderen aus dem Allgemeinen

Empirie

auf Erfahrung und Beobachtung beruhende Erkenntnis

falsifizieren

widerlegen

Hypothese

noch unbewiesene begründete Annahme oder Vermutung (wird durch die Forschungsarbeit belegt oder widerlegt)

Induktion

vom Besonderen auf das Allgemeine schließen

Reliabilität

Zuverlässigkeit einer Untersuchung/Messung, Ausmaß, in dem wiederholte Messungen dieselben Werte liefern

Validität

Aussagekraft eines Messinstrumentes; misst es das, was es messen soll?

Variable

Faktor

abhängige Variable

Reaktion, die durch unabhängige Variable verändert wird

unabhängige Variable

Faktor, der bewusst verändert wird, um Auswirkungen zu beobachten

verifizieren

belegen, bestätigen

zelnen Menschen und der Gesellschaft zugutekommen sollen. Ziele wissenschaftlicher Pflegeforschung sind: ● neues Pflegewissen schaffen ● Entscheidungshilfen anbieten ● verantwortliches Arbeiten in der Pflege ermöglichen ● Effektivität pflegerischen Handelns überprüfen Es ist wichtig, dass Forschungsprojekte bestimmte ethische Forderungen erfüllen. So sollen Forschungsprojekte immer die Zustimmung und den Datenschutz der betreffenden Personen gewährleisten bzw. voraussetzen. Selbstverständlich ist, dass der betreffenden Person kein Schaden durch das Forschungsvorgehen entstehen darf. Weiterhin müssen die Würde des Menschen sowie seine Freiheit und Selbstbestimmung gewahrt bleiben. Kulturelle und religiöse Kriterien müssen berücksichtigt und gewonnene Kenntnisse dürfen nicht missbraucht werden. Der Nutzen soll nicht an bestimmte Personen und Situationen gebunden sein, sondern Allgemeingültigkeit haben. Gegenstand der Forschung können die unterschiedlichsten Fragestellungen sein, z. B. zwischenmenschliche, psychologische, soziale oder eher physische Aspekte. ▶ Quantitative Forschung. Sie ermittelt die Häufigkeit von bestimmten Ereignissen oder Merkmalen bei einer möglichst großen Zahl von Personen oder Situationen, und zwar so, dass ihre Ergebnisse als repräsentativ gelten können. ▶ Qualitative Forschung. Bei ihr steht das subjektive Erleben und Verhalten, z. B. zwischenmenschliche Beziehungen in

einer bestimmten Situation, im Vordergrund. Die Vorgehensweise kann je nach Zweck und Methode unterschieden werden.

Forschungsvorhaben nach Zweck Forschungsvorhaben nach Zweck werden unterteilt in: ● Grundlagenforschung (allgemeine Forschung): nicht unmittelbar praxisorientiert, dient zur Theorieentwicklung ● angewandte Forschung: praxisorientiert, Umsetzung in die Praxis wird angestrebt ● evaluierende Forschung: vergleicht zwischen zwei oder mehreren Möglichkeiten, soll der Entscheidungsfindung dienen ● Forschung und Entwicklung effektiver Produkte/Konzepte in bestimmten Bereichen (z. B. Curriculumentwicklung) ● Aktivitätenforschung: Lösung eines vor Ort bestehenden konkreten Problems

Forschungsvorhaben nach Methode Hier werden folgende Forschungstypen unterschieden: ● Historische Forschung: erforscht vergangene Ereignisse, um aktuelle und zukünftige Vorkommnisse zu erklären bzw. verändern zu können. Die Frage lautet: „Was war?“ ● Deskriptive Forschung: versucht, den Ist-Zustand (z. B. eines Problems) zu beschreiben und zu analysieren. Dabei werden Zusammenhänge und Auswirkungen nicht beachtet. Es wird der Frage nachgegangen: „Was ist?“ ● Experimentelle Forschung: untersucht, wodurch bestimmte Ergebnisse beein-

3.7 Pflegewissenschaft/Pflegeforschung flusst bzw. erzielt werden können. Dies geschieht durch die bewusste Veränderung einer Variablen, um die Auswirkungen zu vergleichen. Der Einfluss des Neuen geht der Frage nach: „Was wird sein?“

Lernaufgabe

Der Ablauf des Forschungsprozesses erfolgt in verschiedenen Phasen. Der Prozess kann, vergleichbar dem Pflegeprozess, wieder von Neuem beginnen, sollten sich z. B. neue Fragen oder Interessen aufzeigen, oder der Forschungsprozess kann stagnieren, sodass eine neue Problembzw. Zielformulierung nötig wird (▶ Abb. 3.13).

M ●

Beispiele für Forschungsfragen ergeben sich aus dem ständig diskutierten Thema in der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege: „Darf man ein Neugeborenes mit Nabelschnurrest baden oder nicht?“ Sie können sich folgende Fragen stellen: ● Was kann passieren, wenn ein Neugeborenes mit Nabelschnurrest gebadet wird? ● Kann eine Infektion entstehen? ● Ist eine Infektionsgefahr ausgeschlossen? ● Heilt die Wunde schlechter/besser?

Dritte Phase: Formulierung der Forschungsfrage oder Hypothese

Erste Phase: Auswahl des Forschungsthemas

Vierte Phase: Festlegung des Forschungsplans und der Untersuchungsmethoden

Zweite Phase: Literaturstudium

Die Struktur des Vorgehens beim Forschungsprozess wird auch als Forschungsdesign bezeichnet. Hierzu zählt z. B., welche Methoden bei der Forschung Einsatz finden werden und welcher Zeitablauf geplant ist. Für die spätere Datenanalyse ist es wichtig, hier zwischen dem Forschungsansatz der quantitativen und qualitativen Forschung zu unterscheiden, da dies bereits das weitere Vorgehen beeinflusst. Quantitative Forschung will objektive Merkmale erfassen und damit z. B. biologische, psychologische und soziale Merkmale messen. Die Probanden werden zufällig gewählt. An ihnen wird die zuvor aufgestellte Hypothese, z. B. „Hat die Gabe von Saccharose Einfluss auf die Schmerzempfindung von Neugeborenen bei der Blutentnahme?“, bestätigt oder widerlegt. Die qualitative Forschung geht von der

Beim Literaturstudium werden bisherige Veröffentlichungen zum Forschungsthema erfasst. Es wird gezielt auf die eigene Fragestellung hin überprüft. Welche Ergebnisse liegen zu dem Forschungsthema bereits vor? Gibt es Widersprüche oder ungeklärte Bereiche? Als Literaturquellen dienen z. B. Lexika, Fachzeitschriften, Internet, Fachbücher, Broschüren. Hier wird zwischen Primär- und Sekundärliteratur unterschieden. Bei der Primärliteratur erhält man Informationen „aus erster Hand“, d. h. direkt von Personen, die Zeugnis über ein erlebtes Ereignis abgeben oder ein selbst entwickeltes Gedankengut veröffentlicht haben. Hingegen finden sich in der Sekundärliteratur Informationen „aus zweiter Hand“, d. h., Primärinformationen wurden zusammengefasst oder

H ●

Pflegeforschung ermöglicht es, spezielles Wissen der Pflege weiterzuentwickeln und somit die Pflege als eigenständige Wissenschaft zu etablieren. Die wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse können dann für die Pflegepraxis genutzt werden und zu einer Verbesserung der Pflegequalität beitragen.

1. Phase Auswahl des Forschungsthemas

2. Phase Literaturstudium

8. Phase Veröffentlichung des Forschungsergebnisses

3. Phase Formulierung der Forschungsfrage oder Hypothese

7. Phase Dateninterpretation

4. Phase Festlegung des Forschungsplans und der Untersuchungsmethoden 6. Phase Datenanalyse

3

Unter einer Hypothese wird das vermutete Ergebnis des Forschers verstanden, das er aufgrund der Literatur und seiner Erfahrungen am Ende seiner Forschungsarbeit erwartet. Die Formulierung der Hypothese, die bestätigt oder widerlegt wird, oder die Forschungsfrage, die beantwortet werden soll, bilden z. B. die Grundlage für die Auswahl der Forschungsmethode.

Das Forschungsthema kann in Form einer aus der Praxis entstandenen Frage oder eines aufgetretenen Problems definiert sein. Bereits im ersten Schritt des Forschungsprozesses wird versucht, das Problem oder die Frage einzugrenzen, um den Blickwinkel für die Betrachtung der Fragestellung festzulegen. Weiterhin wird der Zweck der Studie überlegt, um ein zielgerichtetes Vorgehen zu ermöglichen.

Die Pflegeforschung könnte Antworten finden, die dann in der konkreten Pflegesituation für die Nabelversorgung der Neugeborenen genutzt werden.

Merke

interpretiert. Bei der Literaturrecherche können über Bibliotheken oder Fachbuchhandlungen Informationen über vorliegende Literatur eingeholt werden. Eine Erleichterung bieten sog. Datenbanken, die eine Recherche durch die EDV ermöglichen.

Forschungsprozess

5. Phase Datenerhebung

Abb. 3.13 Forschungsprozess. Die 8 Phasen des Forschungsprozesses können als Regelkreis dargestellt werden.

7

Qualitätssicherung in der Pflege subjektiven Situation einzelner Menschen aus. Jeder Mensch kann die Wirklichkeit durch die unterschiedliche Wahrnehmung individuell verschieden erleben. Hierbei werden die Teilnehmer der Forschung nach bestimmten Merkmalen ausgewählt. Als Beispiel könnte die Frage untersucht werden: „Was bedeutet Lebensqualität für chronisch kranke Menschen?“

3

Fünfte Phase: Datenerhebung Voruntersuchungen, sog. Pretests, finden bei einer kleinen Personengruppe statt, um die Methoden auf ihre Eignung zu überprüfen. Anhand von repräsentativen Stichproben kommt dann die eigentliche Datenerhebung zur Anwendung. Hierbei werden einzelne Personen aus einer Gesamtheit von Individuen ausgewählt, die bestimmte für die Untersuchung relevante Merkmale besitzen. Diese können u. a. Alter, Geschlecht, Beruf, Staatsangehörigkeit sein. So kann z. B. in einer Stichprobe eine Untersuchung über ausländische Kinder, die in einer Kinderklinik über 1 Woche stationär behandelt worden sind, durchgeführt werden. Die Datensammlung kann durch unterschiedliche Methoden, z. B. Beobachtung, Interviews mit Fragebögen oder Ermittlung von Messwerten, erfolgen.

Sechste Phase: Datenanalyse Die Auswertung der ermittelten Daten erfolgt quantitativ durch die Zusammenfassung und Zuordnung der ermittelten Messzahlen. Hiermit kann z. B. die Häufigkeit einer genannten Antwort erfasst werden. Die Darstellung kann durch Grafiken oder Tabellen unterstützt werden. Qualitative Daten werden anhand umfassender Beschreibungen ausgewertet. Sie lassen subjektive Betrachtungsweisen im Kontext deutlich werden, z. B. in welcher Kultur bestimmte Überzeugungen zu finden sind.

Siebte Phase: Dateninterpretation Die Bewertung der Forschungsergebnisse sollte auf die tatsächliche Aussagekraft beschränkt bleiben. Vermutungen sind als solche zu verdeutlichen.

Achte Phase: Veröffentlichung der Forschungsergebnisse Um die Ergebnisse möglichst für viele nutzbar zu machen, ist es notwendig, diese zu veröffentlichen. Dieses kann sowohl schriftlich (z. B. in einer Fachzeitschrift) als auch durch einen Vortrag erfolgen. Im Forschungsbericht sollte neben dem Forschungsablauf auch die Bedeutung für die Praxis herausgestellt werden.

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3.8 Mitarbeiterqualifikation – lebenslanges Lernen Mit der Fähigkeit des lebenslangen Lernens soll ein Mensch in der Lage sein, sich Wissen und Bildung anzueignen, um sein Leben und Arbeiten gestalten zu können. Das Lernen beschränkt sich nicht nur auf die Schulzeit und die anschließende Berufsausbildung bzw. Studienzeit. Lebenslanges Lernen gilt für alle Lebensphasen. Es ist über die Berufsausbildung hinaus nötig, um die eigene Arbeitsqualität und damit die Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen. Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) entwickelte Aktionsprogramm „Lebensbegleitendes Lernen für alle“ soll zu einer nachhaltigen Förderung des lebensbegleitenden Lernens aller Menschen beitragen. Neben der Stärkung der Eigenverantwortlichkeit der Lernenden sollen aber auch Chancenungleichheiten abgebaut werden. Dabei soll das Lernen über nationale Grenzen hinweg im Ausland ermöglicht werden. Die Europäische Union fördert den Austausch im europäischen Bildungsraum. Bildung ist besonders durch den wirtschaftlichen und demografischen Wandel wichtig geworden, um die Kompetenzen an die gewachsenen Anforderungen auf dem globalen Markt anzupassen. Mit dem Lernen im Ausland können zudem andere Kulturen erfahren und gezielt sprachliche Kompetenzen gefördert werden. Es gibt verschiedene Programme, die das lebenslange Lernen finanziell unterstützen, z. B.: ● Nationale Agentur für Comenius, Pädagogischer Austauschdienst (PAD), von der Kultusministerkonferenz unterstützte Schulpartnerschaften (www. kmk-pad.org) ● Nationale Agentur für Erasmus, Deutscher Akademischer Austauschdienst (DAAD), unterstützt Auslandsaufenthalte der akademischen Jugend und ihrer Dozenten (https://eu.daad.de/de/) ● Nationale Agentur Bildung für Europa beim Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB), fördert in verschiedenen Programmen die berufliche Aus- und Weiterbildung und allgemeine Erwachsenenbildung (www.na-bibb.de)

3.8.1 Weiterbildung und Studium Nach einer Ausbildung in der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege sind verschiedene Möglichkeiten der Kompetenzerweiterung gegeben. Es gibt Weiterbildungen mit einer staatlichen Anerkennung. Diese werden durch die jeweiligen Landesgesetze der einzelnen Bundeslän-

der geregelt und können daher auch unterschiedliche Bezeichnungen haben. Genauere Informationen zu den zahlreichen Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten und den Studiengängen sind bei den Berufsverbänden zu erhalten. Durch die fortschreitenden Informations- und Kommunikationstechnologien halten neben den herkömmlichen Möglichkeiten der Wissensvermittlung auch neue Lehr- und Lernmethoden Einzug in den Bildungsbereich der Pflegeberufe. Diese sind bereits bei der Grundausbildung in der Pflege möglich. Darüber hinaus sind sie bei Fort- und Weiterbildung, Studium und bei Fachtagungen oder Kongressen denkbar. ▶ E-Learning. Hierdurch wird ein elektronisch unterstütztes Lernen durch die Präsentation von Lernmaterialien über digitale Medien ermöglicht. Der Lernenden können bei freier Zeiteinteilung ihr Lerntempo selbst bestimmen. Allerdings erfordert diese Freiheit auch eine gewisse Selbstdisziplin. Mit Online-Studienprogrammen wird das Lernen standortunabhängig. Voraussetzung hierfür ist, dass die Lernenden über einen Internetzugang mit entsprechender Hard- und Software verfügen. Als ein Beispiel kann das Certified Nursing Education (CNE) als „multimediales Fortbildungskonzept“ speziell für die Gesundheits- und Krankenpflege genannt werden (https://cne.thieme.de). ▶ Blended Learning. Das bedeutet die Kombination des Wissenserwerbs über E-Learning mit Präsenzveranstaltungen zum persönlichen Austausch und der praktischen Anwendung des erworbenen Wissens. Hiermit wird versucht, die Vorteile des E-Learnings, wie selbstbestimmtes Lernen, zu nutzen und Nachteile, wie den fehlenden persönlichen Kontakt, auszugleichen.

3.8.2 Arbeiten mit Fachliteratur und Internet Um sein Wissen auf dem neuesten Stand zu halten, ist das regelmäßige Studium der Fachliteratur zu empfehlen. Dies sind in erster Linie Fachzeitschriften und Fachbücher. Mithilfe des Internets kann darüber hinaus heute jeder schnell aktuelle Informationen erhalten. Suchmaschinen können hilfreich sein, wenn zunächst eine allgemeine Recherche zu einem Thema oder einem Begriff durchgeführt werden soll. Hierbei besteht jedoch leicht die Gefahr, sich in der Fülle der Informationen zu verzetteln. Daher ist es sinnvoll, die Suche möglichst von Beginn an mit mehreren Angaben einzugrenzen bzw. die Suchanfrage so konkret wie möglich zu gestalten. Für den Gesundheitsbereich gibt es

3.8 Mitarbeiterqualifikation – lebenslanges Lernen eine Vielzahl von Datenbanken, mit deren Hilfe zu speziellen Fragestellungen recherchiert werden kann. Einige kostenlose Datenbanken lassen sich in der Deutschen Datenbank-Sammlung finden, z. B.: ● www.dimdi.de (DIMDI = Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information), enthält einige Datenbanken, nur ein Teil ist kostenfrei: z. B. MedLine, GeroLit, SoMed)

Englischsprachige kostenlose Datenbanken, z. B.: ● PubMed (www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/)



Darüber hinaus gibt es auch eine Reihe von kostenpflichtigen Literaturdatenbanken, z. B. CINAHL oder Cochrane Library. Einige Fachzeitschriften für Pflegeberufe, z. B.: ● Die Schwester Der Pfleger (Bibliomed Verlag) ● Fachzeitschrift für Intensivpflege und Anästhesie (Thieme Verlag)



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Häusliche Pflege (Vincentz) Heilberufe (Urban & Vogel) JuKiP, Fachmagazin für Gesundheitsund Kinderkrankenpflege (Thieme Verlag) Kinderkrankenschwester (Verlag Schmidt-Römhild) Pflege (Hans Huber Verlag) Pflegewissenschaft (Verlag hpsmedia) Pflegezeitschrift (Kohlhammer) ProCare (Springer Verlag)

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9

Qualitätssicherung in der Pflege

3

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Kapitel 4 Pflegerecht und Ökonomie

4.1

Pflegerecht

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4.2

Vergütungsregelung bei einem stationären Aufenthalt im Krankenhaus (Diagnosis Related Groups – DRG)

95

Pflegerecht und Ökonomie

4 Pflegerecht und Ökonomie Ilse Bayerl

4.1 Pflegerecht Das Recht im objektiven Sinne umfasst die Gesamtheit aller Vorschriften (Rechtsnormen), die das Verhalten der Menschen und die Lebensverhältnisse in einem Staat regeln. Man unterscheidet: ● geschriebenes Recht (Gesetze, Rechtsverordnungen, Satzungen) ● ungeschriebenes, sog. Gewohnheitsrecht

4

Vom objektiven Recht zu unterscheiden ist das subjektive Recht. Subjektive Rechte sind die durch das objektive Recht, also die Gesetze, Verordnungen usw., geschützten Interessen des Einzelnen. Hierzu gehören das Recht der Eltern, für ihr minderjähriges Kind zu sorgen, oder auch das Recht der angestellten Pflegefachkraft auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Die Rechtsnormen werden in 2 Rechtsgebiete aufgeteilt: ● öffentliches Recht ● Zivilrecht ▶ Öffentliches Recht. Das öffentliche Recht beinhaltet alle Vorschriften, die ausschließlich den Staat oder einen Vertreter des Staates berechtigen oder verpflichten; hierzu zählen u. a. das Steuerrecht, Sozialrecht und die Straßenverkehrsordnung. Auch das Strafrecht ist Bestandteil des öffentlichen Rechts. Zuständig für die Verurteilung von Straftätern sind die Strafgerichte, die grundsätzlich von Amts wegen tätig werden. ▶ Zivilrecht. Das Zivilrecht vereint alle Gesetze, die die Beziehungen einzelner beliebiger Personen und auch Personenmehrheiten (z. B. GmbH, Vereine) untereinander regeln. Die Grundregeln finden sich im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB). Im Zivilrecht kann sich der Einzelne freiwillig durch Verträge zu einem bestimmten Handeln oder Unterlassen verpflichten. Das Zivilrecht regelt auch den gegenseitigen Ausgleich bei bewussten und unbewussten Schadenszufügungen. Zuständig für Klagen aus dem Bereich des Zivilrechts sind die Zivilgerichte, die wie die Strafgerichte bei den Amts- und Landgerichten angesiedelt sind. Im Gegensatz zu den Strafgerichten werden die Zivilgerichte nur tätig, wenn eine Person Klage erhebt. Es gibt auch gemischte Rechtsgebiete, die sowohl Zivilrecht als auch öffentliches Recht beinhalten, wie das Arbeitsrecht. Streitigkeiten aus dem Bereich des Ar-

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beitsrechts werden vor dem Arbeitsgericht geklärt. Durch eine Handlung können unterschiedliche Rechtsgebiete betroffen sein, für die verschiedene Gerichte zuständig sind.

Fallbeispiel

I ●

Eine Handlung – viele Rechtsgebiete

Die im Krankenhaus angestellte Pflegefachkraft Mutig tritt nach einem erlebnisreichen freien Wochenende am Montag übermüdet ihren Dienst an. Als sie das Zimmer des Patienten Pius betritt, um weisungsgemäß dessen Blutdruck und Puls zu messen, stolpert sie aufgrund ihrer Müdigkeit und fällt über das Bett von Pius. Dieser fällt dadurch aus dem Bett und bricht sich den rechten Arm. Ob Mutig sich strafbar gemacht hat – in Betracht kommt fahrlässige Körperverletzung –, entscheidet das Strafgericht. Wenn Pius von Mutig Schadensersatz und Schmerzensgeld begehrt, muss er selbst eine entsprechende Klage vor dem Zivilgericht erheben. Dieses entscheidet dann über die Ansprüche von Pius gegen Mutig. Falls der Arbeitgeber wegen dieses Vorfalls Mutig das Arbeitsverhältnis kündigt und diese sich gegen die Kündigung wehren will, muss sie eine Kündigungsschutzklage beim zuständigen Arbeitsgericht einreichen.

4.1.1 Strafrecht Das Strafrecht gibt dem Staat Zwangsmittel zur Hand, mit denen er wichtige Rechtsgüter schützen kann, die für das Leben des Einzelnen und das Zusammenleben der Menschen unabdingbar sind. Dies geschieht dadurch, dass bestimmte Verhaltensweisen, die für das Zusammenleben der Menschen besonders schädlich sind, mit Strafe bedroht sind. Strafrechtliche Tatbestände sind im Strafgesetzbuch (StGB), aber auch in zahlreichen anderen Gesetzen geregelt, die an sich ganz andere Materien zum Gegenstand haben (z. B. Betäubungsmittel-, Infektionsschutz-, Mutterschutzgesetz).

Straftat Eine Bestrafung ist nur möglich, wenn die Strafbarkeit der Tat gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Eine Straftat liegt in folgenden Fällen vor:







Die durch ein Strafgesetz beschriebene Verhaltensweise wird verwirklicht (Tatbestand). Es liegen keine Gründe vor, die das Verhalten im konkreten Fall ausnahmsweise rechtfertigen (Rechtswidrigkeit). Die Tat kann dem Täter im konkreten Fall persönlich vorgeworfen werden (Schuld).

Täter oder Teilnehmer Strafbar handelt, wer Täter oder Mittäter ist, die Straftat also selbst oder gemeinsam mit anderen begeht.

Fallbeispiel Mittäterschaft

I ●

Die Pflegefachkraft Hilfreich und ihre Kollegin Höflich beschließen gemeinsam, dem Kollegen Gütlich einen „Streich“ zu spielen. Nach dem Plan der beiden verwickelt Höflich den Kollegen Gütlich in ein Gespräch, sodass Hilfreich, von Gütlich unbemerkt, eine Überdosis des Aufputschmittels „Bumbum“ in dessen Kaffee geben kann. Wie von Hilfreich und Höflich geplant, erleidet Gütlich nach dem Genuss des Kaffees einen Kreislaufkollaps, aufgrund dessen er mehrere Tage arbeitsunfähig ist. Hilfreich und Höflich haben sich hier beide einer vorsätzlichen Körperverletzung, begangen in Mittäterschaft, strafbar gemacht. Beide hatten einen gemeinsamen Tatplan, wonach jede von ihnen einen gleich wichtigen Tatbeitrag leistete.

Strafbar handelt aber auch derjenige, der zwar nicht Täter ist, aber Beihilfe zur Tat leistet, die Straftat also in irgendeiner Weise fördert, und auch, wer Anstifter ist, d. h. einen Dritten zur Begehung der Tat verleitet.

Vorsatz und Fahrlässigkeit Strafbar ist stets die vorsätzliche Tat, fahrlässiges Handeln nur dann, wenn dies im Gesetz ausdrücklich vermerkt ist. Vorsätzlich handelt, wer mit Wissen und Wollen die Tat begeht.

4.1 Pflegerecht

Fallbeispiel Vorsatz

I ●

Die Pflegefachkraft Gütlich ist genervt durch die Quengelei des 4-jährigen Patienten Peter und beschließt, diesem eine „Lektion“ zu erteilen. Sie verabreicht eine notwendige Injektion bewusst nicht fachgemäß. Dadurch erleidet Peter, wie von Gütlich gewollt und vorausgesehen, ein Hämatom. Gütlich hat vorsätzlich eine Körperverletzung bei Peter verursacht.

die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bedroht sind. Demgegenüber sind Vergehen rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit einer Freiheitsstrafe von unter einem Jahr oder mit Geldstrafe bedroht sind. Versuchte Vergehen sind nur strafbar, wenn dies ausdrücklich gesetzlich bestimmt ist. Eine Straftat versucht, wer nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung der Tat bereits unmittelbar angesetzt, diese aber nicht vollendet hat.

Fallbeispiel Fahrlässig handelt, wer nicht so sorgfältig handelt, wie er nach den Umständen hätte handeln müssen und nach seinen persönlichen Fähigkeiten auch hätte handeln können. Dies kann dadurch geschehen, dass der Täter nicht bedenkt, welche möglichen Folgen sein sorgfaltswidriges Handeln haben kann (unbewusste Fahrlässigkeit), aber auch dadurch, dass der Täter die möglichen Folgen seines pflichtwidrigen Handelns erkennt, aber darauf vertraut, dass diese nicht eintreten (bewusste Fahrlässigkeit).

Fallbeispiel

I ●

Unbewusste Fahrlässigkeit

Die Pflegefachkraft Gütlich ist genervt durch die Quengelei des 4-jährigen Patienten Peter und möchte dessen Krankenzimmer so schnell wie möglich verlassen. Sie verabreicht ihm deshalb schnell die für den Abend angeordneten Medikamente A und B. Dabei übersieht sie, dass laut ärztlicher Anordnung Medikament B frühestens 2 Stunden nach der Einnahme von Medikament A gegeben werden darf. Durch die gleichzeitige Einnahme von Medikament A und B erleidet Peter einen Kreislaufkollaps. Gütlich hat sich der fahrlässigen Körperverletzung strafbar gemacht. Als ausgebildete Pflegefachkraft weiß sie, dass die Medikamentenausgabe einer sorgfältigen Kontrolle bedarf. Diese Kontrolle hat sie sorgfaltswidrig nicht vorgenommen und deshalb die Gefährlichkeit der gleichzeitigen Medikamenteneinnahme auch nicht erkannt. Sie hat so fahrlässig den Kreislaufkollaps, eine Körperverletzung, verursacht.

Vollendung oder Versuch Die Vollendung einer Straftat ist stets strafbar. Versuchte Straftaten sind strafbar, wenn es sich um ein Verbrechen handelt. Verbrechen sind rechtswidrige Taten,

Versuchter Totschlag

I ●

Die Pflegefachkraft Hilfreich beabsichtigt, dem schwer kranken Patienten Pius ohne dessen Wissen eine tödlich wirkende Dosis eines Medikaments zu injizieren, um diesen von seinem Leiden zu „erlösen“. Bei Ausführung dieses Plans kommt es zu einer Verwechslung. Statt des tödlichen Medikaments injiziert Hilfreich dem Patienten Pius ein absolut harmloses Stärkungsmittel, das keinerlei Nachwirkungen zeigt. Hilfreich ist strafbar wegen versuchten Totschlags. Sie hat nach ihrer Vorstellung bereits unmittelbar mit der Ausführung der Tat begonnen. Ihre Handlung sollte auch ohne weitere Zwischenschritte zum Tod von Pius führen.

Für die Strafbarkeit der versuchten Tat ist unerheblich, ob die Vollendung der Tat durch äußere Umstände verhindert wird oder ob die Tat nur deshalb nicht vollendet wird, weil der Täter ein untaugliches Mittel zur Tatausführung benutzt.

Rechtfertigungsgründe Wer eine Tat begeht, die im Gesetz mit Strafe bedroht ist, geht dennoch straffrei aus, wenn seine Tat im konkreten Fall gerechtfertigt ist und daher vom Gesetz gebilligt wird. Wesentliche Rechtfertigungsgründe sind: ● Einwilligung ● mutmaßliche Einwilligung ● rechtfertigender Notstand ● Notwehr/Nothilfe

Einwilligung Im Folgenden werden die Voraussetzungen einer wirksamen Einwilligung in einen ärztlichen Eingriff und in pflegerische Maßnahmen, die tatbestandsmäßig eine Körperverletzung (S. 85) darstellen, erläutert. Eine Einwilligung in die tatbestandsmäßige Handlung (Körperverletzung) ist rechtswirksam, wenn der Einwilligende

über das Rechtsgut, in das eingegriffen werden soll, verfügen darf. Angehörige haben grundsätzlich keine Verfügungsberechtigung über den Körper und das Leben eines Verwandten. Der Einwilligende muss zudem fähig sein, die Folgen der Einwilligung oder deren Verweigerung zu erkennen.

Merke

H ●

Die Einsichtsfähigkeit des Patienten ist unabhängig von dessen Alter zu prüfen. Jugendliche und auch Kinder sind selbst zur Erteilung der Einwilligung berechtigt, wenn sie in der Lage sind, Bedeutung und Tragweite der ärztlichen Behandlung oder auch die Folgen eines Unterlassens der Behandlung zu verstehen.

4

Für Kinder unter 12 Jahren ist davon auszugehen, dass diese noch nicht in der Lage sind, eine eigenständige Entscheidung zu treffen. Sie können daher eine rechtswirksame Einwilligung in einen ärztlichen Eingriff nicht erteilen. Ab einem Alter von 12 Jahren ist der Minderjährige jedoch in die Entscheidung über die Einwilligung mit einzubeziehen. Dabei sind ihm in einer altersgerechten Sprache die Bedeutung und die Folgen einer Einwilligung zu erklären. Lehnen die Eltern und auch der einsichtsfähige Minderjährige eine Behandlung ab, darf der Arzt nicht gegen deren Willen handeln. Ist der Minderjährige einsichtsfähig und stimmen er und seine Eltern zu, kann ein ärztlicher Eingriff vorgenommen werden. Erteilen nur die Eltern ihre Einwilligung – beide Elternteile müssen ihre Einwilligung erteilen, ein Elternteil kann aber bei sog. Routineeingriffen den anderen Elternteil bevollmächtigen, für ihn die Einwilligung zu erteilen –, jedoch nicht der Minderjährige, dann darf die Behandlung nicht durchgeführt werden, wenn der Arzt der Überzeugung ist, dass der Minderjährige zu einer verständigen Beurteilung der Bedeutung und der Folgen seiner Einwilligungsverweigerung in der Lage ist. Lehnen die Eltern eine Behandlungsmaßnahme ab, nicht aber der einsichtsfähige Minderjährige, darf der Arzt in gerechtfertigter Weise den Minderjährigen behandeln. Wenn Zweifel an der Einsichts- und Einwilligungsfähigkeit des Minderjährigen bestehen, hat der Arzt die Möglichkeit, das Familiengericht anzurufen. Das gilt auch, wenn die Eltern des nicht einsichtsfähigen Kindes ihre Einwilligung für das Kind verweigern oder sich die Eltern in ihrer Entscheidung nicht einig sind. Das Familiengericht kann, wenn

3

Pflegerecht und Ökonomie das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährdet ist, die elterliche Einwilligung selbst ersetzen oder eine dritte Person als Pfleger bestellen, die die Interessen des Kindes wahrnimmt und auch über die Einwilligung in die ärztliche Behandlung entscheidet (S. 93). Volljährige Personen können für den Fall, dass sie einwilligungsunfähig werden, z. B. wenn sie als Folge eines Unfalls oder einer Krankheit nicht bei Bewusstsein sind, oder sie als Folge einer möglichen zukünftigen Demenzerkrankung eine selbstständige Entscheidung nicht mehr treffen können, einer Person ihres Vertrauens eine Vorsorgevollmacht erteilen. Dieser Vorsorgebevollmächtigte kann dann für den Vollmachtgeber die Einwilligung erteilen oder verweigern.

4

Merke

H ●

Für volljährige Personen, die nicht einwilligungsfähig sind und keine Vorsorgevollmacht erteilt haben, ist vom Betreuungsgericht ein Betreuer zu bestellen, der für die betreute Person rechtswirksam eine Einwilligung zu einem ärztlichen Eingriff oder einer Behandlung erteilen kann. Bei Untersuchungen, Heilbehandlungen oder ärztlichen Eingriffen ist jedoch zusätzlich zu der Einwilligung des Betreuers oder des Vorsorgebevollmächtigten die Genehmigung des Betreuungsgerichts notwendig, wenn die begründete Gefahr besteht, dass der Betreute aufgrund einer ärztlichen Maßnahme stirbt oder einen schweren und länger dauernden gesundheitlichen Schaden erleidet.

Sowohl Betreuer, Vorsorgebevollmächtigter als auch das Betreuungsgericht haben bei ihrer Entscheidung eine möglicherweise vorliegende wirksame Patientenverfügung der nicht mehr einwilligungsfähigen Person zu berücksichtigen. Die Einwilligung darf nicht mit Willensmängeln behaftet sein. Ein Willensmangel liegt immer dann vor, wenn der Einwilligende getäuscht oder gar zur Einwilligung gezwungen wurde, aber auch dann, wenn der Einwilligende nicht oder nur unvollständig über den bevorstehenden Eingriff aufgeklärt wurde. Eine ordnungsgemäße Aufklärung ist nur dann zu bejahen, wenn der Patient über Notwendigkeit und Dringlichkeit des Eingriffs, über mögliche Folgen und Risiken einer Nichtbehandlung, Heilungs- und Besserungschancen bei einer Behandlung, aber auch über alternative Behandlungsmöglichkeiten und deren Risiken umfassend informiert wurde.

84

Merke

H ●

Eine Delegation der Aufklärung des Patienten an das Pflegepersonal ist unzulässig.

Pflegerische und ärztliche Handlungen, die tatbestandsmäßig eine Körperverletzung darstellen, bleiben trotz Einwilligung rechtswidrig, wenn sie gegen die guten Sitten verstoßen. Eine Körperverletzung ist sittenwidrig, wenn nach Ziel, Beweggründen, Mittel und Art der Verletzung der überwiegende Teil der Bevölkerung in dieser Verletzung einen Verstoß gegen ihre Vorstellungen von Moral und Ordnung sieht.

Fallbeispiel Sittenwidrige Körperverletzung

I ●

Patient Pius möchte, dass der Arzt ihm einen gesunden Arm amputiert, weil er hofft, als dann schwer behinderte Person einen Anspruch auf Rente zu haben.

Die Einwilligung muss immer vor dem Eingriff erteilt werden. Diese kann schriftlich, mündlich oder auch durch Gestik, wie Kopfnicken und Handzeichen, erfolgen.

Merke

H ●

Eine erteilte Einwilligung kann jederzeit widerrufen werden.

Mutmaßliche Einwilligung Aufgrund einer mutmaßlichen Einwilligung handelt gerechtfertigt, wer eine Handlung im Interesse des Betroffenen vornimmt und dabei davon ausgehen darf, dass dieser vermutlich einwilligen würde, aber nicht rechtzeitig einwilligen kann.

Fallbeispiel

I ●

Mutmaßliche Einwilligung

Pius wird bewusstlos ins Krankenhaus eingeliefert. Der diensthabende Arzt erkennt, dass nur eine sofortige Operation Pius’ Leben retten kann. Pius selbst kann keine Einwilligung erteilen. Ein Vorsorgebevollmächtigter ist nicht bekannt und wegen der Unaufschiebbarkeit der Operation kann auch nicht mehr rechtzeitig ein Betreuer bestellt werden. Der

Arzt darf diesen ärztlichen Eingriff dennoch vornehmen, wenn er davon ausgehen darf, dass Pius, wäre er bei Bewusstsein, in die Operation einwilligen würde.

Rechtfertigender Notstand Wer in einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben eine Tat begeht, um diese Gefahr abzuwenden, handelt gerechtfertigt, wenn das geschützte Interesse das beeinträchtigte Interesse wesentlich überwiegt.

Fallbeispiel

I ●

Rechtfertigender Notstand

Die Pflegefachkraft Gütlich hört einen Schrei aus einem Patientenzimmer. Sie eilt hinzu und sieht, dass Patient Pius eine tiefe Schnittwunde am linken Arm hat, aus der es heftig blutet. In aller Schnelle reißt sie das Bettlaken in Streifen und bindet damit den Arm des Patienten ab. Zwar hat Gütlich bezüglich des Bettlakens, das im Eigentum des Krankenhauses steht, den Tatbestand einer vorsätzlichen Sachbeschädigung erfüllt. Dennoch ist sie nicht strafbar, da sie durch diese Sachbeschädigung ein höherwertiges Rechtsgut, nämlich das Leben des Patienten, retten konnte.

Notwehr/Nothilfe Gerechtfertigt ist eine Verteidigungshandlung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff auf die eigene Person (Notwehr) oder eine andere Person (Nothilfe) abzuwehren. Zu beachten ist, dass es gegenüber offensichtlich schuldunfähigen Personen, wie Kindern, Verwirrten oder auch Betrunkenen, geboten sein kann, auf Abwehr zu verzichten, d. h. auszuweichen oder sich ohne ernstliche Gefährdung des Angreifers zu verteidigen. Wenn dies jedoch nicht möglich ist, darf der Angegriffene die Verteidigungsmaßnahme ergreifen, die geeignet ist, den Angriff zu beenden. Niemand, auch nicht das Pflegepersonal in Krankenhäusern, muss das Risiko einer eigenen Verletzung in Kauf nehmen.

Schuldfähigkeit Eine rechtswidrige Tat kann nur bestraft werden, wenn dem Täter die Tat auch persönlich vorgeworfen werden kann. Kinder unter 14 Jahren sind nicht schuldfähig,

4.1 Pflegerecht können also nicht wegen einer begangenen Straftat bestraft werden. Ohne Schuld handelt auch, wer bei Begehung der Tat infolge einer krankhaften seelischen Störung, einer tief greifenden Bewusstseinsstörung, Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

Merke

● H

Wer schuldfähig ist, kann dennoch entschuldigt handeln, wenn ihm die Tat nicht zum Vorwurf gemacht werden kann.

Fallbeispiel Entschuldigtes Handeln

I ●

Gütlich arbeitet auf der Intensivstation der Kinderklinik. Zeitgleich werden 3 Kinder eingeliefert, die alle dringend apparativ beatmet werden müssen. Gütlich stehen jedoch nur 2 Beatmungsgeräte zur Verfügung. Sie kann daher auch nur zwei Kinder an ein Beatmungsgerät anschließen. Das dritte Kind stirbt wenig später, wie von Gütlich vorausgesehen. Hier hat Gütlich zwar den Tatbestand einer vorsätzlichen Tötung rechtswidrig verwirklicht, weil die Tötung eines Menschen unter keinen Umständen von der Rechtsordnung gebilligt werden kann. Dennoch kann ihr der Tod des Kindes nicht vorgeworfen werden, weil sie in dieser Situation nicht anders handeln konnte.

Rechtsfolgen der Straftat Schuldhaft begangene rechtswidrige Taten sind mit Strafe bedroht. Als Strafarten nennt das Gesetz Freiheitsstrafe oder Geldstrafe. Zusätzlich zu einer Strafe können Nebenstrafen, wie Fahrverbot, oder Nebenfolgen, wie Verlust der Wählbarkeit für öffentliche Ämter oder des Stimmrechts, ausgesprochen werden. Außerdem besteht die Möglichkeit, Maßregeln der Besserung und Sicherung anzuordnen. Zu den Maßregeln zählen die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt sowie die Sicherungsverwahrung, Führungsaufsicht, Entziehung der Fahrerlaubnis und das Berufsverbot. Sie verfolgen entweder den Zweck, den Täter zu bessern oder die Allgemeinheit vor ihm zu schützen, und zwar unabhängig von der Schuld des Täters. Ihre Anordnung ist daher auch bei Schuldunfähigkeit des Täters möglich.

4.1.2 Straftatbestände Nachstehend werden einige ausgewählte Strafvorschriften vorgestellt, mit denen insbesondere Pflegefachkräfte in Berührung kommen können: ● Körperverletzung (S. 85) ● Misshandlung von Schutzbefohlenen (S. 85) ● Aussetzung (S. 86) ● Freiheitsberaubung (S. 86) ● Verletzung von Privatgeheimnissen (S. 86) ● strafbare Handlungen durch Unterlassen (S. 87)

Körperverletzung Definition

L ●

Wer einen anderen körperlich misshandelt oder an der Gesundheit schädigt, begeht eine Körperverletzung. Eine körperliche Misshandlung verwirklicht, wer einen anderen unangemessen behandelt, sodass entweder das körperliche Wohlbefinden des anderen oder dessen körperliche Unversehrtheit erheblich beeinträchtigt sind. Auch die Gesundheitsschädigung eines anderen stellt eine Körperverletzung dar.

Nach dieser Definition ist jeder Eingriff chirurgischer, elektrischer, thermischer, radioaktiver oder sonstiger medizinischer Art eine Körperverletzung. Aber auch durch Handlungen der Pflegefachkräfte wird oftmals der Tatbestand der Körperverletzung verwirklicht, z. B. beim Verabreichen von Injektionen oder dem Legen eines Blasenkatheters (▶ Abb. 4.1). Die Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit muss nicht mit Schmerzen für das Opfer verbunden sein; zum tatbestandsmäßigen Handeln genügt des-

Abb. 4.1 Körperverletzung. Körperverletzung kann vorsätzlich (z. B. Verabreichen einer Injektion) oder fahrlässig (z. B. unsachgemäße Anwendung von technischen Geräten, nachlässige Patientenbeobachtung, fehlerhafte Positionierung eines Patienten) begangen werden. (Foto: K. Oborny, Thieme)

halb auch das Schneiden von Haaren und Finger- oder Fußnägeln. Ob eine von Arzt oder Pflegefachkraft durch ärztliche oder pflegerische Maßnahmen verwirklichte vorsätzliche Körperverletzung auch strafwürdig ist, bestimmt sich danach, ob ein allgemeiner Rechtfertigungsgrund oder auch ein Entschuldigungsgrund besteht.

Misshandlung von Schutzbefohlenen Definition

L ●

4

Wer eine Person unter 18 Jahren oder eine Person, die wegen Krankheit oder Gebrechlichkeit wehrlos ist und die seiner Fürsorge oder Obhut untersteht, quält oder roh misshandelt oder wer durch böswillige Vernachlässigung seiner Pflicht, für sie zu sorgen, sie an der Gesundheit schädigt, macht sich strafbar.

Diese Vorschrift richtet sich auch an Pflegefachkräfte, die eine besondere Sorgfaltspflicht für ihre Patienten und insbesondere für jugendliche Patienten haben. Derjenige, der länger andauernde oder wiederkehrende Schmerzen oder Leiden eines anderen vorsätzlich verursacht, quält oder misshandelt diesen roh. Dazu zählen auch seelische Misshandlungen. Wer aus unlauteren Motiven, wie Hass, Geiz und Eigennutz, seine Fürsorgepflicht einem anderen gegenüber vernachlässigt, ist strafrechtlich verantwortlich, wenn der andere dadurch eine Gesundheitsschädigung erleidet. Denkbar ist, dass in einer Klinik aufgrund schlechter Rahmenbedingungen, wie mangelnder Organisation, Mangel an Pflegefachpersonal oder auch unzureichender Ausstattung, pflegerische Standards (S. 66) nicht eingehalten werden. Unterversorgung, Vernachlässigung und letztlich auch Gewalt gegen Patienten können die Folge sein. Gerade Kinder und auch jugendliche Patienten sind selten in der Lage, sich selbst gegen solche Missstände zur Wehr zu setzen, und deshalb besonders schutzbedürftig. Die Pflegefachkraft hat gegenüber den ihr anvertrauten Patienten eine besondere Garantenstellung (S. 87). Sie ist daher verpflichtet, alle ihr zustehenden Mittel zu nutzen, damit pflegerische Missstände behoben werden. Führt dies nicht zum Erfolg, muss sie offensichtliche Fehler bekannt machen, um sich nicht dem Vorwurf der Misshandlung von Schutzbefohlenen auszusetzen.

5

Pflegerecht und Ökonomie

Aussetzung Definition

L ●

Wer einen Menschen in eine hilflose Lage versetzt oder in einer hilflosen Lage im Stich lässt, obwohl er ihn in seiner Obhut hat oder ihm sonst beizustehen verpflichtet ist, und ihn dadurch der Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung aussetzt, macht sich der Aussetzung strafbar.

4 Fallbeispiel Aussetzung

● I

Die Pflegefachkraft Gütlich ist zur Sitzwache beim Patienten Pius eingeteilt, der unter Erstickungsanfällen leidet. Pius schläft friedlich. Nach 2 Stunden wird es Gütlich zu langweilig und sie verlässt das Zimmer, um in der Kantine einen Kaffee zu trinken. Nach 1 Stunde kehrt Gütlich zurück. Pius schläft immer noch. Gütlich hat sich wegen Aussetzung strafbar gemacht. Sie hat den hilflosen Pius vorsätzlich im Stich gelassen, obwohl er unter ihrer Obhut stand, und ihn dadurch konkret gefährdet.

Freiheitsberaubung Geschütztes Rechtsgut ist die persönliche Bewegungsfreiheit eines Menschen.

Definition

L ●

Eine Freiheitsberaubung begeht, wer einen anderen Menschen einsperrt oder auf andere Weise seiner Freiheit beraubt.

Es muss diesem, wenn auch nur vorübergehend, die Möglichkeit genommen werden, sich nach seinem Willen fortzubewegen, insbesondere einen Raum zu verlassen. Mittel der Freiheitsberaubung können neben dem Einsperren auch die Fesselung (sämtliche Arten der Fixierung), das Abschließen des Zimmers oder der Station oder auch die Wegnahme von Gehhilfen, wie Rollstuhl und Gehstock, sein. Ebenso kann die Wegnahme von Kleidern den anderen daran hindern, sich frei zu bewegen. Mittel der Freiheitsberaubung kann auch eine Drohung sein („Wenn du das Zimmer verlässt, darf deine Mama dich nicht besuchen.“). Selbst das Verabreichen von Sedativa fällt unter diesen Tatbestand. Freiheitsberaubungen

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in jeglicher Form sind nur ausnahmsweise erlaubt, wenn eine wirksame Einwilligung oder ein Rechtfertigungsgrund vorliegt (S. 83). Kleinkinder, die noch nicht selbstständig gehen können, können insoweit auch nicht an der Fortbewegung gehindert werden. Hier kann ein Bettgitter zum Schutz ohne Einschränkungen angebracht werden. Ansonsten können das Anbringen von Bettgittern, eine Fixierung und auch das Verabreichen von Sedativa wegen der Schwere des Eingriffs in die persönliche Freiheitssphäre des Patienten nur erfolgen, wenn die sorgeberechtigten Eltern ihre Einwilligung erteilen und der Arzt diese Einschränkungen angeordnet hat. Ohne ärztliche Anordnung kann eine Fixierung nur ausnahmsweise erfolgen, wenn sie zur Abwehr einer unmittelbar drohenden schweren Gefahr für den Patienten oder durch den Patienten für andere unbedingt notwendig ist. In diesem Fall ist die ärztliche Entscheidung unverzüglich nachzuholen.

Verletzung von Privatgeheimnissen Definition

L ●

Ein Privatgeheimnis und damit die Schweigepflicht verletzt, wer unbefugt ein fremdes Geheimnis, insbesondere ein zum persönlichen Lebensbereich gehörendes Geheimnis offenbart, das ihm anvertraut oder sonst bekannt geworden ist (§ 203 StGB).

Einer solchen Schweigepflicht unterliegen neben Ärzten, Zahnärzten und Apothekern auch die Angehörigen eines anderen Heilberufs oder Heilhilfsberufs, der für die Berufsausübung oder die Führung der Berufsbezeichnung eine staatlich geregelte Ausbildung erfordert. Da die Erlaubnis zur Führung der Berufsbezeichnung „Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger/-in“ nur dann erteilt wird, wenn der Antragsteller die gesetzlich vorgeschriebene Ausbildungszeit abgeleistet und die staatliche Prüfung bestanden hat, zählt der Beruf „Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger/-in“ zu den sog. anderen Berufen, deren Angehörige bei der Ausübung des Berufes stets der Schweigepflicht direkt unterliegen. Soweit die Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger/-in den Arzt bei der Ausübung seiner Tätigkeit unterstützt und bei der Behandlung des Patienten mitwirkt, hat er/sie die ärztliche Schweigepflicht in gleichem Umfang wie der Arzt zu beachten. Die Schweigepflicht erstreckt sich

auch auf die Personen, die in der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege zur Vorbereitung auf ihren Beruf tätig sind – das sind alle Schüler, aber auch Praktikanten. Durch diese umfassende Vorschrift wird das Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Pflegefachkraft oder Arzt geschützt, aber auch das Vertrauen der Allgemeinheit in die Verschwiegenheit der Pflegefachkräfte und der Ärzte.

Merke

H ●

Die Schweigepflicht erstreckt sich auf: ● sämtliche persönlichen Daten des Patienten, wie Name, Alter, Wohnort usw. ● Mitteilungen über die Krankheit des Patienten ● Tatsachen aus seinem familiären und wirtschaftlichen Bereich

Die Schweigepflicht besteht auch nach dem Tod des Patienten fort. Nach dem Tod des Schweigepflichtigen unterliegt jede Person, die das Geheimnis von dem Verstorbenen oder aus dessen Nachlass erlangt hat, ebenfalls der Schweigepflicht.

Entbindung von der Schweigepflicht Eine Verletzung der Schweigepflicht liegt nicht vor, wenn das Wissen an eine Person weitergegeben wird, die zum Kreis der „Berufenen“ gehört. „Berufene“ sind Personen, die mit der Behandlung oder Pflege desselben Patienten befasst sind. Ansonsten ist die Diskussion über einen Patienten, auch im Kollegenkreis, nur zulässig, wenn die Anonymität des Patienten gewahrt bleibt. Die Offenbarung eines fremden Geheimnisses ist auch zulässig, wenn dies gesetzlich vorgeschrieben ist. So bestimmt das Personenstandsgesetz, dass die Geburt eines Kindes binnen einer Woche beim zuständigen Standesamt angezeigt werden muss. Ist ein Kind tot geboren oder während der Geburt verstorben, so muss die Anzeige spätestens am folgenden Werktag erstattet werden. Auch viele andere Gesetze enthalten Meldepflichten, z. B. das Infektionsschutzgesetz (S. 736), Transfusionsgesetz und die Röntgenverordnung. Derjenige, der von dem Vorhaben oder der Ausführung eines besonders schweren Verbrechens zu einer Zeit, zu der die Ausführung oder der Erfolg noch abgewendet werden kann, glaubhaft erfährt, ist verpflichtet, dies der Behörde oder dem Bedrohten anzuzeigen. Unterlässt er diese Anzeige, macht er sich strafbar. Die Verbrechen, deren Vorhaben oder Ausfüh-

4.1 Pflegerecht rung angezeigt werden müssen, sind im Gesetz abschließend geregelt. Dazu zählen Mord und Totschlag, Geiselnahme, Raub, Brandstiftung und Geldfälschung. Ebenfalls kann bei Vorliegen eines allgemeinen Rechtfertigungsgrundes (S. 83) die Schweigepflicht durchbrochen werden. Ein Rechtfertigungsgrund ist gegeben, wenn der betroffene Patient wirksam seine Einwilligung erteilt hat oder, wenn dies nicht möglich ist, der Schweigepflichtige von der mutmaßlichen Einwilligung des betroffenen Patienten ausgehen kann. Einwilligungsfähige Kinder und Jugendliche (S. 83) sind vor der Erteilung einer Auskunft an Eltern oder auch an dritte Personen zu befragen, ob sie damit einverstanden sind. Bei nicht einwilligungsfähigen Minderjährigen darf erlaubterweise eine Mitteilung nur an die sorgeberechtigten Eltern erfolgen. Auch nicht miteinander verheirateten Eltern kann die gemeinsame elterliche Sorge zustehen (S. 83). Einem nicht sorgeberechtigten Elternteil oder auch sonstigen Personen, die dem Minderjährigen nahestehen, dürfen Auskünfte über den minderjährigen Patienten nur erteilt werden, wenn der Sorgeberechtigte seine Einwilligung dazu erteilt hat.

Merke

H ●

Wenn ein rechtfertigender Notstand vorliegt, darf die Pflegefachkraft die Schweigepflicht brechen.

Fallbeispiel

I ●

Schweigepflicht – Verdacht auf Misshandlung

Die Pflegefachkraft Gütlich hat den dringenden Verdacht, dass die 8-jährige Patientin Anna misshandelt wurde (S. 85). Sie darf die Schweigepflicht brechen und ihren Verdacht zur Anzeige bringen, da das Interesse der Allgemeinheit an der strafrechtlichen Verfolgung solcher Taten das Interesse an der Einhaltung der Schweigepflicht in diesem Fall wesentlich überwiegt und damit ein rechtfertigender Notstand zu bejahen ist.

Da bei einem stationären Klinikaufenthalt der behandelnde Arzt letztlich die Verantwortung für den Patienten trägt, ist es geboten, den Arzt über einen Verdacht zu informieren und so in die Entscheidung mit einzubeziehen, ob und wie in den Fällen, die dem Fallbeispiel „Schweigepflicht – Verdacht auf Misshandlung“ ähnlich sind, zu handeln ist. Erteilt der behandelnde Arzt jedoch nicht sein Einver-

ständnis zur Offenbarung des Geheimnisses, obliegt es der Pflegefachkraft, in eigener Verantwortung zu entscheiden, ob sie sich bei Vorliegen eines rechtfertigenden Notstands über die Weisung des behandelnden Arztes hinwegsetzt (S. 91). Ebenfalls im rechtfertigenden Notstand handelt die Pflegefachkraft, wenn sie ihr Schweigen bricht, um sich gegen Anschuldigungen oder Schadensersatzansprüche des Patienten zu wehren.

Fallbeispiel

I ●

Schweigepflicht – Verdacht auf vorsätzliche Körperverletzung

Die Pflegefachkraft Gütlich führt ihre Tätigkeit stets gewissenhaft aus. Dennoch erstatten die Eltern des 6-jährigen Patienten Peter gegen Gütlich Anzeige wegen vorsätzlicher Körperverletzung. Sie soll beim Anziehen Peters Arm ausgerenkt haben. Gegen diese Anschuldigung darf Gütlich sich verteidigen, auch wenn sie dadurch die Schweigepflicht bricht.

Schweigepflicht vor Gericht Jedem Schweigepflichtigen steht im Verfahren vor einem Gericht ein Zeugnisverweigerungsrecht zu. Hier unterscheidet der Gesetzgeber zwischen Zivilprozess und Strafprozess. Im Zivilprozess kann die Pflegefachkraft selbst entscheiden, ob sie die Aussage verweigert oder ein Rechtfertigungsgrund eine Aussage zulässt. Die Strafprozessordnung hingegen sieht die Pflegefachkraft lediglich als berufsmäßig tätigen Gehilfen des Arztes. Daraus folgt, dass im Strafprozess der Arzt die Entscheidung trifft, ob die Pflegefachkraft die Aussage verweigern darf. Die Pflegefachkraft und auch der Arzt dürfen aber sowohl im Zivil- als auch im Strafprozess die Aussage nicht verweigern, soweit der Patient sie wirksam von der Schweigepflicht entbunden hat. Auch hier genügt es im Strafprozess, dass der Patient den behandelnden Arzt von seiner Schweigepflicht entbindet. Diese Entbindung von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit erstreckt sich ohne Weiteres auf die Pflegefachkraft. Es besteht dann eine Pflicht zur Aussage, soweit nicht aus anderen Gründen ein Recht zur Aussageverweigerung vorliegt.

Strafbare Handlungen durch Unterlassen Grundsätzlich werden Straftaten durch Handlungen der Täter begangen. Eine Straftat kann aber auch durch „Nichtstun“, d. h. durch Unterlassen einer an sich gebotenen Handlung begangen werden. Bei den echten Unterlassungsdelikten ist das Unterlassen bereits als eigener Tatbestand im Strafgesetzbuch festgeschrieben.

Unterlassene Hilfeleistung Strafbar ist jeder, der bei Unglücksfällen oder bei Gefahr oder Not für die Allgemeinheit nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich wäre. Ein Unglücksfall liegt immer dann vor, wenn plötzlich ein Ereignis eintritt, das erhebliche Gefahr für Menschen oder Sachen mit sich bringt. Im Krankenhaus ist hier an einen plötzlichen Asthmaanfall, einen Herzinfarkt oder auch einen Sturz eines Patienten, eines Besuchers oder Mitarbeiters zu denken. Ein normal verlaufender Krankheitsfall löst hingegen keine solche allgemeine Hilfeleistungspflicht aus.

4

Unechte Unterlassungsdelikte (Garantenstellung) Auch in den Fällen, in denen das Gesetz ein Unterlassen nicht ausdrücklich unter Strafe stellt, macht sich derjenige strafbar, der in besonderer Weise für eine Person oder auch eine Sache verantwortlich ist. Diese Verantwortung wird auch als rechtliche Einstandspflicht oder als Garantenstellung bezeichnet. Eine Garantenstellung und damit die besondere Pflicht, durch rechtzeitiges Handeln eine drohende Gefahr für eine andere Person oder auch eine Sache abzuwenden, kann aus verschiedenen Gründen bestehen. Eltern sind z. B. gesetzlich verpflichtet, für ihre Kinder zu sorgen. Pflegefachkräfte verpflichten sich durch den Arbeitsvertrag, in besonderer Weise für die ihnen anvertrauten Patienten zu sorgen. Personen, die in einer engen Beziehung zueinander stehen, sind ebenfalls zum gegenseitigen Beistand verpflichtet, auch wenn dies nicht ausdrücklich durch ein Gesetz ausgesprochen wird. Dies trifft für Personen, die in einer Lebensgemeinschaft leben, ebenso zu wie für Menschen, die nur eine relativ kurze Zeitspanne miteinander verbringen, weil sie etwa ein gemeinsames Ziel verfolgen, wie die Wandergruppe, die zu einer Bergwanderung aufbricht. Auch wer eine gefährliche

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Pflegerecht und Ökonomie Situation schafft, ist in besonderer Weise verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass aus dieser geschaffenen Situation ein anderer keinen Schaden erleidet. Jeder, der einer ihm obliegenden besonderen Handlungspflicht nicht nachkommt und damit ein gebotenes Tun unterlässt, ist strafrechtlich verantwortlich, wenn infolge seines Nichthandelns ein strafrechtlicher Tatbestand verwirklicht wird.

Fallbeispiel Unechte Unterlassung

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I ●

Die Pflegefachkraft hat zulässigerweise das Gitter am Bett eines Säuglings heruntergelassen, aber nach Beendigung der Pflege vergessen, das Gitter wieder zu befestigen. Sie hat dadurch eine Gefahrensituation für den Säugling geschaffen und ist aufgrund dessen verpflichtet, die Gefahr zu beseitigen. Dies ist in fahrlässiger Weise nicht geschehen. Wenn der Säugling nun aus dem Bett fällt und dabei eine Gehirnerschütterung erleidet, ist die Pflegefachkraft strafbar wegen fahrlässiger Körperverletzung, begangen durch Unterlassen.

4.1.3 Zivilrecht Das Zivilrecht beinhaltet sehr verschiedenartige Rechtsgebiete, die vom Vertragsrecht, Handelsrecht, Wertpapierrecht über das Gesellschaftsrecht bis hin zum Familien- und Erbrecht reichen. Wesentliche Teile des Zivilrechts sind im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) zusammengefasst, so auch die im Folgenden erwähnten Rechtsgebiete.

Rechtsfähigkeit Definition

L ●

Rechtsfähigkeit bezeichnet die Fähigkeit, Inhaber von Rechten und Pflichten zu sein. Die Rechtsfähigkeit eines jeden Menschen beginnt mit der Geburt und endet mit seinem Tod.

Merke

H ●

Bereits ein Säugling kann Rechte gegenüber der Pflegefachkraft haben, die ihm durch ein schuldhaftes Fehlverhalten einen Schaden zugefügt hat. Auch ein pflegebedürftiger, geistig verwirrter Mensch hat die Pflicht, die Miete für seine Wohnung zu zahlen.

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Wenn die Person nicht in der Lage ist, ihre Rechte selbst einzufordern oder ihre Pflichten selbst zu erfüllen, müssen andere Menschen für sie handeln. Bei einem Säugling sind dies im Regelfall seine Eltern, für den Pflegebedürftigen kann, soweit kein sonstiger Vertreter vorhanden ist, ein Betreuer bestellt werden.

Handlungsfähigkeit Definition

L ●

Handlungsfähig ist eine Person, die in der Lage ist, in rechtlich erheblicher Weise zu handeln, d. h. selbstständig Rechte zu erwerben und Pflichten zu begründen.

Die Handlungsfähigkeit teilt sich auf in die Geschäftsfähigkeit und die Deliktsfähigkeit.

Geschäftsfähigkeit Definition

L ●

Die Geschäftsfähigkeit bezeichnet die Fähigkeit einer Person, im Rechtsleben wirksam ihren Willen zu erklären und dadurch private Rechtsverhältnisse (z. B. Verträge) zu begründen, zu ändern oder zu beenden.

Eine solche Willenserklärung braucht nicht ausdrücklich zu erfolgen. Sie kann sich auch aus einer entsprechenden Handlung ergeben und ist grundsätzlich auch wirksam, wenn sie nicht schriftlich festgehalten wird. Nur in wenigen Ausnahmefällen schreibt der Gesetzgeber vor, dass eine Willenserklärung nur gültig ist, wenn sie schriftlich erklärt (z. B. Bürgschaftsvertrag) oder sogar notariell beurkundet wird (z. B. Kaufvertrag über ein Grundstück). Wer noch nicht sieben Jahre alt ist, ist nicht geschäftsfähig. Volljährige Personen sind geschäftsfähig, es sei denn, ihre freie Willensbestimmung ist durch eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit auf Dauer ausgeschlossen. In diesem Fall sind sie geschäftsunfähig und können, ebenso wie Kinder unter sieben Jahren, keine rechtsverbindlichen Willenserklärungen abgeben. Für den Geschäftsunfähigen handeln dessen gesetzliche Vertreter, für Kinder im Normalfall die sorgeberechtigten Eltern, für erwachsene Personen kann ein Betreuer bestellt werden. Ein Minderjähriger, der das 7. Lebensjahr vollendet hat, ist beschränkt geschäftsfähig.

Merke

H ●

Die Willenserklärung eines beschränkt geschäftsfähigen Minderjährigen ist grundsätzlich nur dann wirksam, wenn sein gesetzlicher Vertreter vor Abgabe der Willenserklärung in diese eingewilligt hat.

Gibt der Minderjährige eine Willenserklärung ohne die erforderliche Einwilligung des gesetzlichen Vertreters ab, so kann diese Erklärung wirksam werden, wenn der gesetzliche Vertreter sie nachträglich genehmigt. Bis zur Genehmigung oder deren Verweigerung ist die Willenserklärung schwebend unwirksam. Ein von dem Minderjährigen ohne Zustimmung des gesetzlichen Vertreters geschlossener Vertrag gilt aber als von Anfang an wirksam, wenn der Minderjährige seine Verpflichtung aus dem Vertrag mit Mitteln erfüllt, die ihm zu diesem Zweck von dem gesetzlichen Vertreter überlassen worden sind. Dazu zählt das Taschengeld, das die sorgeberechtigten Eltern dem Kind gewähren. Ebenfalls wirksam ist eine Willenserklärung, wenn der Minderjährige dadurch keine Verpflichtung eingeht, sondern nur rechtliche Vorteile erhält, so bei der Annahme einer Schenkung. Wenn der gesetzliche Vertreter den Minderjährigen ermächtigt, in ein Arbeitsverhältnis einzutreten oder, mit zusätzlicher Genehmigung des Familiengerichts, einen selbstständigen Betrieb zu führen, dann ist der Minderjährige für solche Rechtsgeschäfte unbeschränkt geschäftsfähig, die sich aus dem Arbeitsverhältnis oder dem Geschäftsbetrieb ergeben. Aus einem von dem Minderjährigen wirksam geschlossenen Vertrag muss dieser selbst den sich daraus ergebenden Pflichten nachkommen, nicht seine gesetzlichen Vertreter.

Deliktsfähigkeit Definition

L ●

Die Deliktsfähigkeit bezeichnet die Fähigkeit, schuldhaft zu handeln und damit für den einer anderen Person vorsätzlich oder fahrlässig zugefügten Schaden zu haften, d. h. den Schaden zu ersetzen.

Kinder unter sieben Jahren sind nicht deliktsfähig. Für einen Schaden, den sie einem anderen zufügen, können sie nicht verantwortlich gemacht werden und brauchen keinen Schadensersatz zu leis-

4.1 Pflegerecht ten. Das Gleiche gilt für einen Schaden, den ein Kind im Alter zwischen sieben und neun Jahren bei einem Unfall im Straßenverkehr einem anderen zufügt, es sei denn, das Kind hat den Schaden vorsätzlich verursacht. Ebenfalls nicht verantwortlich handelt derjenige, der in einem Zustand, in dem er seinen Willen nicht mehr frei bestimmen kann, einem anderen einen Schaden zufügt. Ein solcher Zustand kann eine nur vorübergehende Bewusstlosigkeit sein, aber auch auf einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit beruhen. Nur eingeschränkt deliktsfähig ist, wer mindestens sieben, aber noch nicht 18 Jahre alt ist. Jugendliche in diesem Alter sind für einen Schaden, den sie einem anderen zufügen, nur dann verantwortlich, wenn sie geistig bereits so weit entwickelt sind, dass sie das Unrecht einer Handlung erkennen können und auch in der Lage sind einzusehen, dass sie in irgendeiner Weise für das Unrecht der Handlung selbst einstehen müssen. Ob diese Verantwortlichkeit vorliegt, ist in jedem Einzelfall besonders zu prüfen. Voll deliktsfähig ist grundsätzlich, wer das 18. Lebensjahr vollendet hat.

Vertrag und Haftung Definition

L ●

Ein Vertrag ist ein Geschäft auf rechtlicher Ebene. Er kommt dadurch zustande, dass mindestens zwei Personen sich einig sind und gegenseitig übereinstimmend ihren Willen erklären, einen bestimmten rechtlichen Erfolg herbeizuführen.

Dabei beinhaltet die Willenserklärung des einen das Angebot zum Vertragsabschluss, zu dem, wenn sich die Parteien über alle Vertragspunkte geeinigt haben, der andere seine Annahme erklärt. Die Vertragsparteien schulden sich gegenseitig die Vertragserfüllung. Dabei ist jeder verpflichtet, seine von ihm geschuldete Leistung so zu erfüllen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.

Merke

H ●

Wer seine sich aus dem Vertrag ergebenden Pflichten schuldhaft, also vorsätzlich oder fahrlässig, verletzt, muss dem Vertragspartner den dadurch entstandenen Schaden ersetzen.

Die Person, die Schadensersatz leisten muss, ist verpflichtet, den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn das schädigende Ereignis nicht eingetreten wäre. Bei Verletzung einer Person oder auch bei Sachbeschädigungen kann der Geschädigte vom Schädiger statt der Herstellung des ursprünglichen Zustandes den dazu erforderlichen Geldbetrag verlangen. Dieser umfasst: ● die für die Herstellung des ursprünglichen Zustandes direkt notwendigen Kosten ● die dem Geschädigten mittelbar durch die schuldhafte Vertragsverletzung entstandenen Kosten, wie etwa ein Verdienstausfall als Folge einer erlittenen Gesundheitsschädigung Ist wegen einer Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung Schadensersatz zu leisten, kann der Verletzte zusätzlich ein angemessenes Schmerzensgeld verlangen. Schmerzensgeld ist ein finanzieller Ausgleich für einen erlittenen Schaden, der nicht Vermögensschaden ist und daher eigentlich nicht mit Geld bewertet werden kann, wie durch das schädigende Ereignis erlittene Schmerzen, körperliche Entstellungen oder entgangene Lebensfreude.

Fallbeispiel

I ●

Schadensersatz und Schmerzensgeld

Der 4-jährige Patient Peter lebt zu Hause bei seinen Eltern. Da er pflegebedürftig ist und seine Eltern die Pflege nicht allein bewältigen können, kommt 3-mal täglich die in der ambulanten Pflege selbstständig arbeitende Pflegefachkraft Gütlich ins Haus. Ihr obliegt auch die pflegerische Beobachtung des Patienten (S. 209). Weil es in der Vergangenheit nie irgendwelche besonderen Vorkommnisse gab, hat sie die Beobachtung in letzter Zeit vernachlässigt und dabei die ersten Anzeichen eines entstehenden Dekubitus übersehen. Nun hat sich bereits ein Dekubitus im Stadium 2 (S. 403) an der Ferse von Peter gebildet. Peter benötigt jetzt spezielle Kissen und Salben, damit der Dekubitus sich zurückbilden kann. Dadurch entstehen Kosten von ca. 2000 €. Peter, vertreten durch seine Eltern, und Gütlich haben einen Vertrag über die ambulante Pflege geschlossen. Aufgrund dieses Vertrags ist Gütlich verpflichtet, die Pflege in fachlich einwandfreier Weise durchzuführen. Dazu gehört auch die ständige sorgfältige Patientenbeobachtung. Diese hat sie unterlassen und darauf

vertraut, dass Peter keine nachteiligen Folgen entstehen. Dadurch hat Gütlich fahrlässig ihre Vertragspflichten verletzt und ist so verantwortlich für den entstandenen Dekubitus. Sie ist deshalb verpflichtet, Peter den aufgrund der Vertragsverletzung entstandenen Schaden zu ersetzen. Dies sind einmal die direkten Kosten für die Genesung, wie Medikamente, zusätzliche Pflegehilfsmittel und ärztliche Behandlung. Zusätzlich kann Peter ein angemessenes Schmerzensgeld von Gütlich verlangen.

4 Wer zur Erfüllung seiner vertraglichen Pflichten Hilfspersonen, sog. Erfüllungsgehilfen, heranzieht, haftet für deren Verschulden grundsätzlich genauso wie für eigenes Verschulden.

Fallbeispiel

I ●

Haftung für Erfüllungsgehilfen

Das Fallbeispiel „Schadensersatz und Schmerzensgeld“ kann derart abgewandelt werden, dass statt Gütlich die bei dieser beschäftigte Pflegefachkraft Hilfreich mit der Pflege von Peter betraut war. Obwohl Gütlich sie ausdrücklich angewiesen hatte, die Patientenbeobachtung stets sorgfältig durchzuführen, hat Hilfreich diese vernachlässigt. Auch hier muss Gütlich Peter Schadensersatz leisten. Zwar hat nicht Gütlich, sondern die Angestellte Hilfreich fahrlässig, also schuldhaft, gehandelt und dadurch den Schaden herbeigeführt. Für das Verschulden ihrer Gehilfin haftet Gütlich so, als ob sie selbst schuldhaft gehandelt hätte. Ob Peter auch gegen Hilfreich selbst Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche geltend machen kann, bestimmt sich nach den Grundsätzen der Haftung aus unerlaubter Handlung (S. 90).

Verträge im Krankenhaus Bei der stationären Aufnahme schließen der Träger des aufnehmenden Krankenhauses und der Patient einen Vertrag, aus dem sich die Rechte und Pflichten beider Parteien für die Dauer des Krankenhausaufenthaltes des Patienten ergeben. ▶ Totaler Krankenhausaufnahmevertrag. Soweit die durch den Krankenhausaufenthalt für den Patienten entstehenden Kosten von dessen gesetzlicher Krankenversicherung übernommen werden, wird ein sog. totaler Krankenhausaufnahmevertrag geschlossen. Dieser beinhaltet die gesam-

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Pflegerecht und Ökonomie te notwendige Versorgung des Versicherten, insbesondere die ärztliche Behandlung, Krankenpflege, Versorgung mit Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln, Unterkunft und Verpflegung. ▶ Gespaltener Krankenhausaufnahmevertrag. Daneben besteht die Möglichkeit, einen sog. gespaltenen Krankenhausaufnahmevertrag abzuschließen. Hier schließt der Patient Verträge mit mindestens zwei Parteien: mit dem Krankenhausträger über dessen zu erbringende Leistungen mit Ausnahme der ärztlichen Leistungen und mit einem oder mehreren Ärzten über die ärztliche Versorgung während der Dauer des Krankenhausaufenthalts. Zudem besteht sowohl beim totalen als auch beim gespaltenen Krankenhausaufnahmevertrag meist zusätzlich die Möglichkeit, weitere besondere Leistungen vertraglich zu regeln, wie die Art der Krankenhausunterkunft, Einbett- oder Zweibettzimmer, aber auch die Nutzung von Fernsehprogrammen und Telefon.

4

Merke

H ●

Die im Krankenhaus tätige Pflegefachkraft schließt in keinem Fall selbst einen Vertrag mit dem Patienten über die pflegerische Betreuung ab. Die Pflegefachkraft wird vielmehr als Erfüllungsgehilfe des Krankenhausträgers tätig. Deshalb können sich vertragliche Ersatzansprüche des Patienten auch nur gegen den Krankenhausträger richten (S. 89).

Fallbeispiel

Geschäftsführung ohne Auftrag

Pius wird bewusstlos ins Krankenhaus eingeliefert und erfährt dort eine medizinische Erstversorgung. Nachdem er aus der Bewusstlosigkeit erwacht ist, weigert er sich, die Kosten zu zahlen, die während seiner Bewusstlosigkeit entstanden sind. Bei Einlieferung haben Pius und der Krankenhausträger keinen Vertrag geschlossen, da Bewusstlose keine wirksamen Willenserklärungen abgeben können. Der Krankenhausträger hat daher auch keine vertraglichen Ansprüche gegen Pius. Die für den Krankenhausträger handelnden Personen, also die bei ihm beschäftigten Pflegefachkräfte und Ärzte, haben hier jedoch mit der Pflege und der medizinischen Versorgung des Patienten Pius ein Geschäft für diesen geführt, ohne von Pius dazu beauftragt zu sein. Da ihnen nichts Gegenteiliges bekannt war, durften sie auch annehmen, dass dieses Geschäft dem mutmaßlichen Willen des Patienten Pius entsprach. Daher ist Pius verpflichtet, dem Krankenhausträger die durch die Erstversorgung entstandenen Aufwendungen zu ersetzen, d. h. die Kosten seiner Behandlung zu tragen.

Unerlaubte Handlung und Haftung Definition

Geschäftsführung ohne Auftrag Definition

L ●

Eine Geschäftsführung ohne Auftrag liegt vor, wenn jemand ein Geschäft für einen anderen besorgt, ohne von ihm beauftragt oder ihm gegenüber sonst dazu berechtigt zu sein. Der Begriff „Geschäft“ umfasst dabei alle erdenklichen Handlungen.

So besorgt der Krankenhausträger, der einen Bewusstlosen stationär aufnimmt, ebenso ein Geschäft für den Bewusstlosen wie der Arzt, der einem bewusstlosen Unfallopfer zu Hilfe eilt. Wenn der Geschäftsführer ohne Auftrag objektiv im Interesse und dazu im wirklichen oder mutmaßlichen Willen des anderen, Geschäftsherr genannt, handelt, kann er für die ihm aus der Geschäftsführung entstandenen Aufwendungen Ersatz verlangen.

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I ●

L ●

Eine unerlaubte Handlung begeht derjenige, der vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen rechtswidrig verletzt.

Der Schädiger ist dem Geschädigten zum Ersatz des Schadens verpflichtet, der diesem aus der Verletzungshandlung entstanden ist. Ob diese Verletzungshandlung auch eine strafbare Tat darstellt, bestimmt sich nach den Regeln des Strafrechts (S. 82). Diese Regelung gilt unabhängig davon, ob zwischen Schädiger und Geschädigtem bereits eine – vertragliche – Rechtsbeziehung besteht. Es ist also durchaus möglich, dass der Geschädigte Schadensersatzansprüche damit begründen kann, dass der Schädiger durch eine Handlung einen bestehenden Vertrag schuldhaft verletzt hat und diese Verletzungshandlung gleichzeitig eine unerlaubte Handlung darstellt. Doch auch wenn beide Schadensersatzansprüche begründet sind, er-

hält der Geschädigte den aus einer Verletzungshandlung herbeigeführten Schaden nur einmal ersetzt. Dies gilt auch, wenn der Geschädigte aufgrund einer Verletzungshandlung Schadensersatzansprüche gegenüber zwei Personen herleiten kann. Er kann in diesem Fall die Person, die den Schadensersatz leisten muss, bestimmen. Ob und in welchem Maße die zum Schadensersatz verpflichteten Personen untereinander zum Ausgleich des geleisteten Schadensersatzes verpflichtet sind, bestimmt sich nach den Rechtsverhältnissen dieser beiden Personen untereinander und hat keinerlei Einfluss auf die Ansprüche des Geschädigten.

Fallbeispiel

I ●

Haftung wegen Vertragsverletzung und unerlaubter Handlung

Pius schließt mit der Privatklinik Dr. Clever einen totalen Krankenhausaufnahmevertrag ab. Zur Erfüllung seiner gegenüber Pius bestehenden Verpflichtungen beschäftigt Dr. Clever die Pflegefachkraft Gütlich. Infolge einer Unaufmerksamkeit verabreicht Gütlich Pius ein falsches Medikament. Durch dieses fahrlässige Verhalten von Gütlich wird die Gesundheit von Pius so geschädigt, dass er 7 Tage arbeitsunfähig ist. Er begehrt nun den Ersatz der notwendigen Kosten von 1500 € für die Wiederherstellung seiner Gesundheit sowie 1000 € Verdienstausfall. Pius kann diese Schadensersatzansprüche gegenüber Dr. Clever geltend machen, weil dieser wegen schuldhafter Vertragsverletzung haftet, s. Vertrag und Haftung (S. 89). Gegenüber Gütlich kann Pius keine vertraglichen Schadensersatzansprüche geltend machen (S. 89). Durch ihr fahrlässiges Verhalten, das zur Gesundheitsschädigung von Pius führte, hat Gütlich aber eine unerlaubte Handlung begangen. Pius kann daher gegenüber Gütlich ebenfalls Schadensersatzansprüche geltend machen. Aufgrund einer Verletzungshandlung steht Pius ein Schadensersatzanspruch gegen mehrere Personen, Dr. Clever und Gütlich, zu. Pius kann wählen, ob er seinen Schadensersatzanspruch, den er nur einmal einfordern kann, gegenüber Dr. Clever oder gegenüber Gütlich oder gegenüber beiden Personen anteilmäßig geltend macht. Als geschädigter Patient braucht Pius keine Rücksicht darauf zu nehmen, ob und in welcher Weise zwischen Dr. Clever und Gütlich ein Ausgleich stattfindet.

4.1 Pflegerecht

Aufsichtspflicht und Haftung Kinder und Jugendliche, die für einen von ihnen verursachten Schaden nicht persönlich haften (S. 89), sind ordnungsgemäß zu beaufsichtigen. Die Aufsichtspflicht kann sich aus dem Gesetz ergeben – so sind die Eltern berechtigt, aber auch verpflichtet, für das minderjährige Kind zu sorgen. Diese Sorgepflicht umfasst eine dem Entwicklungsstand des Kindes angemessene Aufsichtspflicht. Die Aufsichtspflicht kann sich aber auch durch eine vertragliche Verpflichtung ergeben. Eine Pflegefachkraft ist aufgrund ihres Arbeitsvertrags mit dem Krankenhausträger verpflichtet, die ihr anvertrauten minderjährigen Patienten zu beaufsichtigen. Die vertraglich übernommene Aufsichtspflicht geht in diesem Fall sogar der sich aus dem Gesetz ergebenden Aufsichtspflicht der sorgeberechtigten Eltern vor.

Merke

H ●

Auch wenn die Eltern im Krankenzimmer ihres Kindes weilen, entbindet dies die Pflegefachkraft nicht von ihrer – vertraglich übernommenen – Aufsichtspflicht.

Die Pflegefachkraft ist deshalb verpflichtet, auch während des Besuchs der Eltern in regelmäßigen Abständen, mindestens alle 45 Minuten nachzusehen, ob „alles in Ordnung“ ist (Höfert, 2009). Bei Vernachlässigung der Aufsichtspflicht ist sie zum Ersatz des Schadens verpflichtet, den der Minderjährige einem Dritten zufügt. Sollte der Minderjährige selbst zu Schaden kommen, ist die Pflegefachkraft bei schuldhafter Verletzung der Aufsichtspflicht auch diesem gegenüber zum Schadensersatz verpflichtet.

Delegation und Haftung Eine weisungsbefugte Pflegefachkraft, z. B. die Stationsleitung, kann ihr obliegende pflegerische Maßnahmen grundsätzlich an eine andere Pflegefachkraft delegieren. ▶ Anordnungsverantwortung. Im Rahmen der Delegation trägt die anweisende Pflegefachkraft die Verantwortung dafür, dass die Maßnahme zur Pflege des Patienten geeignet ist und die angewiesene Pflegefachkraft auch über die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt, um die Maßnahme durchzuführen. Sie muss diese deshalb sorgfältig auswählen, falls notwendig anleiten und auch überwachen, d. h. sich in regelmäßigen Abständen davon überzeugen, dass diese der ihr gestellten Aufgabe (noch) gewachsen ist.

▶ Durchführungsverantwortung. Die angewiesene Pflegefachkraft ist für die fachgerechte Durchführung der pflegerischen Maßnahme verantwortlich. Sie ist verpflichtet zu prüfen, ob nach ihren Kenntnissen über die Pflege die Anweisung fehlerfrei ist. ▶ Remonstrationspflicht. Ist die Anweisung fehlerbehaftet, muss die Pflegefachkraft die Ausführung der Anweisung ablehnen. Sollte sie nicht über die notwendigen Fertigkeiten verfügen oder zum Zeitpunkt der Anordnung aus sonstigen Gründen nicht in der Lage sein, die Anweisung ordnungsgemäß durchzuführen, muss sie die Durchführung ebenfalls ablehnen. ▶ Übernahmeverschulden. Lehnt die Pflegefachkraft die Anweisung nicht ab und führt sie diese ohne Rückfragen aus, ist sie für einen ihr unterlaufenen Fehler und den daraus entstehenden Schaden schon aus diesem Grund haftbar. Erteilt ein Arzt im Rahmen seiner Weisungsbefugnis einer Gesundheits- und Kinderkrankenpflegefachkraft eine Anweisung, so trägt er ebenfalls die Verantwortung für die ordnungsgemäße Anordnung (Wahl der richtigen Maßnahme, des richtigen Medikaments und der richtigen Technik) und die richtige Auswahl der ausführenden Pflegefachkraft. Auch in diesem Fall ist die Pflegefachkraft verpflichtet, die Anordnungen des Arztes zu überprüfen. Dabei muss sie beachten, dass sie als Pflegefachkraft nicht berechtigt ist, Diagnose- und Therapieentscheidungen zu treffen, da diese zum alleinigen ärztlichen Aufgabenbereich zählen. Weiter darf sie keine Maßnahmen durchführen, die objektiv gefährlich sind und im konkreten Fall für den Patienten wegen seines Gesundheitszustands auch eine besondere Gefährdung bedeuten. Sie muss sich dabei stets bewusst sein, dass es Medikamente gibt, die wegen ihrer Gefährlichkeit nicht von Pflegefachkräften verabreicht werden dürfen. Dazu zählen Röntgenkontrastmittel, Zytostatika sowie die Injektion von Herzmitteln, wie Digitalispräparate, und alle Medikamente, bei denen bereits häufig Zwischenfälle beobachtet wurden. Eine Ausnahme gilt nur für Intensivstationen und Anästhesieabteilungen, wenn sichergestellt ist, dass im Notfall ein Arzt sofort eingreifen kann.

Merke

H ●

Wird einem Gesundheits- und Kinderkrankenpflegeschüler auf einer Station eine Anweisung erteilt, haftet er für die Übernahme und die ordnungsgemäße Durchführung ebenso wie eine ausgebildete Pflegefachkraft.

Unmittelbare Aufsicht Der Patient darf sich darauf verlassen, dass pflegerische Maßnahmen dem Stand der Technik entsprechen, gleich welche Person diese an ihm durchführt. Auch Auszubildende müssen sich deshalb zivilrechtlich mit dem Maßstab einer examinierten Pflegefachkraft messen lassen. Wenn sie sich (noch) unsicher in der Ausführung fühlen, können sie ihre Haftung nur dadurch verhindern, dass sie bei Übernahme einer Anweisung Bedenken hinsichtlich ihrer Kenntnisse und Fertigkeiten äußern und die Maßnahme nur unter unmittelbarer Aufsicht einer examinierten Pflegefachkraft ausführen, die dann die Verantwortung übernimmt. Eine unmittelbare Aufsicht liegt vor, wenn die beaufsichtigende Person jederzeit unverzüglich eingreifen kann. Kann die Aufsichtsperson nur auf Zuruf eingreifen, liegt eine nur mittelbare Beaufsichtigung vor.

Merke

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H ●

Jede/r Auszubildende und jede anweisende examinierte Pflegefachkraft muss im Krankenhaus und/oder auf der Station vorhandene Dienstanweisungen betreffend die Zulässigkeit des selbstständigen Handelns von Schülern beachten.

Rechtsfolgen von Pflegefehlern Werden die Dienstanweisungen missachtet, ergibt sich allein daraus eine Haftung sowohl für die/den Auszubildende/n (Übernahmeverschulden) als auch für die anweisende Pflegefachkraft (Anordnungsverschulden). Hohe Schadensersatz- und Schmerzensgeldforderungen können die Folge von Pflegefehlern sein. Eine abgeschlossene Berufshaftpflichtversicherung tritt bei einem fahrlässig verursachten Pflegefehler für den entstandenen Schaden ein und zahlt auch bei Bedarf ein Schmerzensgeld an die verletzte Person aus. Die Versicherung übernimmt auch die Kosten, die entstehen, wenn die Pflegefachkraft zu Unrecht auf Schadensersatz oder Schmerzensgeld in Anspruch genommen wird und sich gegen die Forderung außergerichtlich oder auch gerichtlich wehren muss. ▶ Organisationsverantwortung. Wenn bei einer Pflegemaßnahme ein Patient einen Schaden erleidet, ist stets zu prüfen, ob der Krankenhausleitung diesbezüglich ein Vorwurf gemacht werden kann. Die Organisationsverantwortung des Krankenhausträgers umfasst die Einhaltung aller Sorgfaltspflichten, die für einen ord-

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Pflegerecht und Ökonomie nungsgemäßen Betrieb des Krankenhauses zum Ausschluss von Schadensfällen notwendig sind. So hat der Krankenhausträger dafür zu sorgen, dass die baulichen, technischen, organisatorischen und personellen Voraussetzungen so gegeben sind, dass von diesen keine Gefahren für die Patienten ausgehen. Geräte sind ordnungsgemäß zu warten, die ärztliche Behandlung muss dem Standard eines erfahrenen Facharztes entsprechen, die Pflege muss dem aktuellen Stand der Pflegewissenschaft und Medizin entsprechen (Weber 2011).

4 Fallbeispiel Delegation und Haftung

I ●

Der Krankenhausträger, vertreten durch die Stationsleitung, hat der Pflegefachkraft Gütlich die Anweisung erteilt, den Patienten Pius zu pflegen. Gütlich vernachlässigt die notwendige Mobilisation. Pius erleidet dadurch eine Streckkontraktur im rechten Bein. Der Krankenhausträger beauftragte hier Gütlich mit der Ausübung einer Tätigkeit. Im Rahmen der Ausführung dieses Auftrags hat das Fehlverhalten von Gütlich zu einer Gesundheitsschädigung bei Pius geführt. Gütlich hat insoweit eine unerlaubte Handlung begangen (S. 90). Für dieses Fehlverhalten kann der Krankenhausträger ebenfalls im Rahmen der unerlaubten Handlung haftbar gemacht werden, wenn Gütlich in seinem Auftrag als sog. Verrichtungsgehilfin tätig geworden ist und der Krankenhausträger hinsichtlich der Auftragserteilung selbst fehlerhaft gehandelt hat. Der Krankenhausträger kann sich dieser Haftung nur entziehen, wenn er beweisen kann, dass Gütlich für die angewiesene Tätigkeit, die Pflege des Patienten Pius, ordnungsgemäß ausgewählt war. Eine ordnungsgemäße Auswahl liegt vor, wenn Gütlich für die ihr übertragene Tätigkeit ausgebildet und persönlich geeignet war, wenn zusätzlich ihr Aufgabenbereich genau bestimmt war, auch keine andauernde Überforderung oder Überbelastung, etwa wegen ständigen Personalmangels oder fehlerhafter Schichtplanung, vorlag, und wenn die von Gütlich geleistete Arbeit regelmäßig durch weisungsbefugte Angestellte überprüft wurde.

Aber auch wenn der Krankenhausträger die Schadensersatzforderung abwehren kann, weil er selbst nicht schuldhaft gehandelt hat, bleibt dennoch seine vertragliche Haftung (S. 89) gegenüber dem Patienten bestehen.

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Unabhängig davon, ob der Krankenhausträger haftet, weil ihm eine Vertragsverletzung und/oder eine unerlaubte Handlung vorgeworfen wird, haftet auch der Verrichtungsgehilfe selbst wegen der begangenen unerlaubten Handlung, vgl. Fallbeispiel Haftung wegen Vertragsverletzung und unerlaubter Handlung (S. 90). Die Organisationsverantwortung kann vom Krankenhausträger auf Mitarbeiter übertragen werden, wie die Pflegedienstleitung, aber auch die Stationsleitung und selbst die jeweilige Schichtleitung. Diese sind dann verantwortlich dafür, dass z. B. ausreichend qualifizierte Pflegefachkräfte auf der Station bzw. in einer Schicht beschäftigt sind. Ist dies nicht der Fall, können sie nur durch eine sog. Überlastungsanzeige, auch Gefährdungsanzeige genannt, die Verantwortung ablehnen. Eine solche Anzeige ist, ebenso wie alle relevanten pflegerischen Maßnahmen, präzise zu dokumentieren (S. 63).

Beweislast Die Pflegedokumentation hat bei zivilrechtlichen Haftungsfragen eine besondere Bedeutung. Im Zivilprozess, also auch im Haftungsprozess wegen Pflegefehlern, muss grundsätzlich der Geschädigte, also der Patient, beweisen, dass ihm ein Schaden entstanden ist, dass die Pflegefachkraft fehlerhaft gehandelt hat und dass sein Schaden gerade durch das Fehlverhalten der Pflegefachkraft entstanden ist. Dazu kann er die Pflegedokumentation heranziehen.

Umkehr der Beweislast Ist die Pflegedokumentation jedoch lückenhaft oder offensichtlich fehlerhaft geführt, hat sie keinerlei Beweiskraft mehr. In diesem Fall wirkt sich dies zuungunsten der beklagten Pflegefachkraft aus. Eine mangelhafte Dokumentation ist ein Anzeichen dafür, dass auch ansonsten fehlerhaft gearbeitet wurde und daher auch ein Pflegefehler Ursache des Schadens ist und deshalb der Patient zu Recht Schadensersatz begehrt. Diesen Anschein einer fehlerhaften Pflege muss die beklagte Pflegefachkraft im Prozessverfahren entkräften. Wenn sie dazu nicht in der Lage ist, weil mögliche Zeugen sich nicht mehr erinnern und zudem die mangelhafte Pflegedokumentation keine Hinweise für eine Entlastung der Pflegefachkraft aufweist, wird das Gericht sie zur Leistung verurteilen müssen, allein deshalb, weil sie ihre sorgfältige Arbeit nicht beweisen kann.

Merke

H ●

Eine mangelhafte, unvollständige und/ oder verfälschte Pflegedokumentation führt dazu, dass es zu einer Umkehr der Beweislast vor Gericht kommt. Nicht mehr der Geschädigte muss die Tatsachen beweisen, die ursächlich für seinen Schaden sind, sondern die beklagte Pflegefachkraft muss beweisen, dass ihr kein Fehler unterlaufen ist.

Zu einer solchen Umkehr der Beweislast kommt es auch dann, wenn der Patient im Rahmen der Grundpflege zu Schaden kommt. Grundpflege bezeichnet hier die Pflege, die das Selbstpflegedefizit des Patienten ausgleicht. Diese Pflege wird von der Rechtsprechung als von der Pflegefachkraft „voll beherrschbar“ eingestuft. Wenn der Patient daher eine im Zusammenhang mit der Grundpflege eingetretene Verletzung beweisen kann, muss die Pflegefachkraft ihrerseits beweisen, dass diese Verletzung nicht durch ihr Verschulden entstanden ist.

Fallbeispiel

I ●

Beweislast (nach BGH VI ZR 169/90)

Der Patient Pius muss nachts auf die Toilette. Die ihn betreuende Pflegefachkraft Gütlich setzt ihn dazu auf den Nachtstuhl. Beim Herunternehmen vom Nachtstuhl fällt Pius und bricht sich den linken Arm. Gütlich vermerkt dies in der Pflegedokumentation und gibt als Begründung an, dass Pius beim Herunternehmen vom Nachtstuhl „Übergewicht bekommen habe“. Pius behauptet nun, Gütlich habe nicht sorgfältig genug gehandelt, und begehrt Schadensersatz und Schmerzensgeld. Beweisen kann er das Fehlverhalten von Gütlich jedoch nicht. In einem ähnlich gelagerten Fall hat der Bundesgerichtshof (BGH) entschieden, dass es hier zu einer Umkehr der Beweislast kommt. Gütlich muss also beweisen, dass ihr kein Fehler unterlaufen ist. Der BGH begründet dies damit, dass die Hilfe beim Ausscheiden ebenso wie die Hilfe bei der Bewegung zum Aufgabengebiet der Grundpflege zählt. Risiken der Grundpflege sind von dem Pflegepersonal aber „voll beherrschbar“. Wenn im Rahmen der Grundpflege dennoch ein Patient zu Schaden kommt, spricht vieles dafür, dass eine unsachgemäße Pflege ursächlich für den Schaden war, sodass der Patient diese Ursächlichkeit nicht mehr beweisen muss, sondern die Pflegefachkraft beweispflichtig dafür ist, dass sie sich nicht fehlerhaft verhalten hat.

4.1 Pflegerecht Diese Rechtsprechung des BGH ist seit 2013 gesetzlich geregelt. Damals hat der Bundestag das sog. Patientenrechtegesetz verabschiedet. Das Bürgerliche Gesetzbuch ist um einen eigenen Abschnitt ergänzt worden, der Regelungen über den medizinischen Behandlungsvertrag enthält (§§ 630 a–630 h BGB). Hier finden sich nun neben den besonderen Pflichten aus dem Behandlungsvertrag auch die Beweislastregeln, die in den vergangenen Jahren bereits durch die Gerichte erarbeitet wurden. Jeder kann jetzt im Gesetz nachlesen, wer im Haftungsprozess was beweisen muss (www.bundesgesundheitsministerium.de). Diese Beweislastregeln werden auch im Verhältnis von Pflegefachkraft zum Patienten angewandt (Jorzig).

Merke

H ●

Ein Fehler der Pflegefachkraft wird vermutet, wenn sich ein allgemeines Risiko verwirklicht hat, das für die Pflegefachkraft voll beherrschbar war. Falls die Pflegefachkraft wesentliche Maßnahmen nicht dokumentiert hat, wird vermutet, dass sie diese Maßnahmen nicht getroffen hat. Wenn die Pflegefachkraft und ebenso die/der Auszubildende für die von ihr/ihm vorgenommene Pflegemaßnahme nicht befähigt war, so wird vermutet, dass diese mangelnde Befähigung für den Eintritt der Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit des Patienten ursächlich war. Gleiches gilt, wenn festgestellt wird, dass ein grober Pflegefehler vorliegt.

Verjährung Die regelmäßige Verjährungsfrist für Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche aus Pflegefehlern beträgt 3 Jahre. Nach Ablauf dieser Zeit ist die Person, von der Schadensersatz und/oder Schmerzensgeld begehrt wird, berechtigt, den Anspruch unter Hinweis auf die eingetretene Verjährung zurückzuweisen. Die Verjährungsfrist beginnt mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und die geschädigte Person von den Umständen, die den Anspruch begründen, und der Person, die den Schaden verursacht hat, Kenntnis erlangt hat oder hätte erkennen müssen, wenn sie naheliegende Überlegungen angestellt und beachtet hätte, was im gegebenen Fall jedem einleuchten musste (grob fahrlässige Unkenntnis). Die Ersatzansprüche, die auf Verletzung des Lebens, des Körpers, der Gesundheit oder der Freiheit beruhen, verjähren ohne Rücksicht auf ihre Entste-

hung und die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis in 30 Jahren von der Begehung der Handlung, der Pflichtverletzung oder dem sonstigen, den Schaden auslösenden Ereignis an.

4.1.4 Elterliche Sorge Eltern haben die Pflicht und das Recht, für das minderjährige Kind zu sorgen. Dabei umfasst diese elterliche Sorge die Sorge für die Person des Kindes und das Vermögen des Kindes. Bei der Pflege und Erziehung müssen die Eltern die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbstständigem und verantwortungsbewusstem Handeln berücksichtigen. Sie müssen mit dem Kind, soweit es nach dessen Entwicklungstand angezeigt ist, Fragen der elterlichen Sorge besprechen und anstreben, zu einer von allen Seiten getragenen Entscheidung zu gelangen. Zum Wohl des Kindes gehört i. d. R. der Umgang mit beiden Elternteilen und auch mit Personen, zu denen das Kind Bindungen besitzt, wie Großeltern, sonstigen Angehörigen, Pflegefachkräften, wenn der Umgang für die Entwicklung des Kindes förderlich ist. Die elterliche Sorge steht den Eltern eines Kindes grundsätzlich gemeinsam zu. Alle Entscheidungen, die das Kind betreffen, haben die Eltern gemeinsam zu treffen, und zwar in eigener Verantwortung und in gegenseitigem Einvernehmen zum Wohl des Kindes. Bei Meinungsverschiedenheiten müssen sie versuchen, sich zu einigen. Die Personensorge umfasst die Pflicht und das Recht, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen. Dabei hat das Kind ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig. Sind die Eltern bei der Geburt des Kindes nicht miteinander verheiratet, dann steht ihnen nach dem Gesetz die elterliche Sorge gemeinsam zu, wenn sie erklären, dass sie die Sorge gemeinsam übernehmen wollen, wenn sie einander heiraten oder soweit ihnen das Familiengericht die elterliche Sorge gemeinsam überträgt. Das Familiengericht wird in dieser Weise tätig, wenn ein Elternteil das gemeinsame Sorgerecht beantragt und diese gemeinsame Sorge dem Kindeswohl nicht widerspricht. Ansonsten hat die Mutter die elterliche Sorge. Wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder auch sein Vermögen gefährdet ist und die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden, dann entscheidet das Familiengericht über die Maßnahmen, die zur Abwendung der Gefahr erforder-

lich sind. Diese Maßnahmen reichen von Geboten, öffentlichen Hilfen, wie Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe und der Gesundheitsfürsorge, bis zu der Ersetzung von Erklärungen der Eltern für das Kind, wie Einwilligungen in ärztliche oder pflegerische Maßnahmen, oder auch der teilweisen oder vollständigen Entziehung der elterlichen Sorge.

4.1.5 Kinderschutzrechte Am 20. 11. 1989 hat die Vollversammlung der Vereinten Nationen (UN) das „Übereinkommen über die Rechte des Kindes“ (Kinderrechtskonvention – KRK) verabschiedet. Die KRK gewährt jedem Kind einen angemessenen rechtlichen Schutz vor und nach der Geburt bis zum Alter von 18 Jahren. In Art. 3 KRK ist festgeschrieben, dass bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleich wer diese Maßnahmen ergreift, immer das Wohl des Kindes der vorrangig zu berücksichtigende Gesichtspunkt ist. Die in der KRK festgeschriebenen Kinderrechte lassen sich in drei Gruppen einteilen: ● Schutzrechte vor Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung ● Förderrechte auf bestmögliche Gesundheit und soziale Sicherung, auf Bildung und Freizeit ● Beteiligungsrechte in allen Angelegenheiten, die Kinder betreffen, durch Anhörung oder auch Mitwirkung (www. netzwerk-kinderrechte.de).

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In Deutschland ist die KRK 1992 in Kraft getreten. Das „Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention“ (National Coalition Deutschland, NCD) hat die Aufgabe übernommen, die KRK in Deutschland bekannt zu machen. In der NCD sind zurzeit 120 bundesweit tätige Organisationen zusammengeschlossen, darunter auch der Bundesverband Kinderkrankenpflege Deutschland e. V. (BeKD). Am 1. Januar 2012 ist in Deutschland das Gesetz zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen (Bundeskinderschutzgesetz – BKiSchG) in Kraft getreten. Ziel des Gesetzes ist es, „das Wohl von Kindern und Jugendlichen zu schützen und ihre körperliche, geistige und seelische Entwicklung zu fördern“ (Art. 1 BKiSchG). Durch Prävention und Intervention (Vorbeugen und Eingreifen) soll dieses Ziel erreicht werden. Der Staat bietet Eltern vielfältige Unterstützung bei der Wahrnehmung ihres Erziehungsrechts und ihrer Erziehungsverantwortung an, durch Information, Beratung und praktische Hilfe. Wenn aber eine Gefährdung des Wohls eines Kindes nicht anders zu vermeiden ist, können aufgrund des Gesetzes staatliche Stellen, aber auch Privat-

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Pflegerecht und Ökonomie personen, unverzüglich handeln. So zählen beispielsweise nach Art. 1 BKiSchK zu den Personen, die einer besonderen Schweigepflicht unterliegen, neben Ärztinnen oder Ärzten, Hebammen oder Entbindungspfleger/-innen auch die Angehörigen eines anderen Heilberufs, der für die Berufsausübung oder die Führung der Berufsbezeichnung eine staatlich geregelte Ausbildung erfordert. Dies trifft auf Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger/-innen zu. Die eben genannten Personen sind befugt, das Jugendamt zu informieren und so die ihnen eigentlich obliegende Schweigepflicht zu brechen, wenn ihnen ein Fall von Kindeswohlgefährdung bekannt wird und ein Gespräch mit den Eltern oder sonstigen Personensorgeberechtigten ergebnislos verlaufen ist oder auch gar nicht erst geführt werden konnte.

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Merke

● H

Wesentliche Leitlinien der Bundesregierung zum Kinderschutz sind: ● Ein wirksamer Kinderschutz braucht starke Kinder und Jugendliche. ● Ein wirksamer Kinderschutz braucht eine starke Kinder- und Jugendhilfe. ● Ein wirksamer Kinderschutz braucht starke Partner in starken Netzwerken. (Bericht der Bundesregierung, Evaluation des Bundeskinderschutzgesetzes vom 16. Dezember 2015).

4.1.6 Arbeitsrecht Das Arbeitsrecht befasst sich mit den besonderen Rechten und Pflichten von Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Arbeitnehmer ist, wer sich durch Vertrag verpflichtet hat, als Nichtselbstständiger dem Vertragspartner seine ganze Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen. Der Arbeitgeber kann im Rahmen des Arbeitsvertrags über die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers frei verfügen. Insbesondere kann er bestimmen, welche Art von Arbeit, zu welcher Zeit und an welchem Ort diese zu leisten ist. Derjenige, dem durch Vertrag ein solches Weisungsrecht über die Arbeitskraft mindestens eines Menschen zusteht, ist Arbeitgeber.

Rechtliche Grundlagen Bei der Ausübung seines Weisungsrechts darf der Arbeitgeber nicht willkürlich handeln. Er muss vielfältige arbeitsrechtliche Gesetze und Regelungen beachten, die seiner Weisungsbefugnis Grenzen setzen. Da ein bestehendes Arbeitsverhältnis

94

den Arbeitnehmer persönlich besonders intensiv in Anspruch nimmt, zudem seine wirtschaftliche Existenz grundsätzlich auf dem Arbeitsverhältnis beruht, weil er durch die Lohnzahlungen seinen Lebensunterhalt bestreiten muss, verstehen sich die vorhandenen arbeitsrechtlichen Regelungen v. a. als Schutzrechte für die Arbeitnehmer gegen einen sonst übermächtigen Arbeitgeber. Bis heute existiert zwar kein Arbeitsgesetzbuch; arbeitsrechtliche Regelungen finden sich aber in einer Vielzahl von Einzelgesetzen. Wichtige arbeitsrechtliche Gesetze sind: ● Kündigungsschutzgesetz ● Arbeitszeitgesetz ● Mutterschutzgesetz ● Jugendarbeitsschutzgesetz Weitere arbeitsrechtliche Regelungen sind in den allgemeinen Gesetzen zu finden, wie dem Bürgerlichen Gesetzbuch oder dem Handelsgesetzbuch. Einige Bereiche des Arbeitsrechts sind nicht gesetzlich geregelt, so das Streikrecht oder die Haftung des Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber. Hier entscheidet in Zweifelsfragen die Rechtsprechung. In den einzelnen Betrieben bzw. Dienststellen können Betriebsrat bzw. Personalrat im Rahmen von Betriebsvereinbarungen die Rechtsstellung des Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber stärken. Zudem hat jeder Arbeitnehmer die Möglichkeit, bei Abschluss eines Arbeitsvertrages sein Arbeitsverhältnis individuell zu gestalten.

Gewerkschaften und Tarifverträge Dort, wo über die bestehenden Gesetze hinaus ein Regelungsbedarf besteht, kämpfen Gewerkschaften für die ihnen angeschlossenen Arbeitnehmer um deren Rechte durch den Abschluss geeigneter Tarifverträge mit den zuständigen Arbeitgeberverbänden oder auch einem einzelnen Arbeitgeber. Ein Tarifvertrag ist stets zweigeteilt. Er regelt zum einen die Rechte und Pflichten der Tarifvertragsparteien untereinander. Zum anderen enthält er Rechtsnormen, durch die der Abschluss, der Inhalt und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen geregelt werden können. Diese Rechtsnormen gelten unmittelbar und zwingend für die Arbeitsverhältnisse, bei denen sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer tarifgebunden sind. Tarifgebunden ist der Arbeitnehmer, wenn er Mitglied der vertragsschließenden Gewerkschaft ist, sowie der Arbeitgeber, der selbst mit der Gewerkschaft einen Tarifvertrag abschließt oder der einer Arbeitgebervereinigung angehört, die

stellvertretend für ihn mit der zuständigen Gewerkschaft einen Tarifvertrag abschließt. Ist nur der Arbeitgeber oder nur der Arbeitnehmer oder keiner der Parteien des Arbeitsvertrags tarifgebunden, kann die Geltung eines Tarifvertrags dennoch im Arbeitsvertrag vereinbart werden. Ist der Arbeitgeber tarifgebunden, nicht jedoch der Arbeitnehmer, dann ist der Arbeitgeber aufgrund des Gleichbehandlungsgrundsatzes verpflichtet, den Tarifvertrag auf alle Arbeitsverhältnisse anzuwenden, wenn in seinem Betrieb mindestens ein tarifgebundener Arbeitnehmer beschäftigt ist, auf dessen Arbeitsverhältnis die tarifvertraglichen Vereinbarungen anzuwenden sind. Weiter kann das Bundesministerium für Arbeit und Soziales einen Tarifvertrag für allgemein verbindlich erklären. Dann gilt dieser Tarifvertrag für alle Betriebe, die unter diese Allgemeinverbindlichkeitsklausel fallen.

Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis Durch das Arbeitsverhältnis ergeben sich zahlreiche Pflichten für die Vertragspartner. ▶ Hauptpflicht des Arbeitgebers. Hauptpflicht des Arbeitgebers ist, neben der Zahlung des vereinbarten Entgelts, die Beschäftigung des Arbeitnehmers. Die Nebenpflichten des Arbeitgebers werden unter dem Begriff „Fürsorgepflicht“ zusammengefasst. Dazu gehört insbesondere die Pflicht, für die Einhaltung der Unfallverhütungsvorschriften zu sorgen, aber auch, den Arbeitnehmer entsprechend seinen Fähigkeiten einzusetzen und nicht zu überlasten. ▶ Hauptpflicht des Arbeitnehmers. Hauptpflicht des Arbeitnehmers ist die sorgfältige, nach dem Stand der Technik gebotene Ausführung seiner Arbeit nach den Anweisungen des Arbeitgebers. Unterläuft ihm bei Ausführung der ihm übertragenen Arbeiten ein Fehler, der zu einem Schaden des Arbeitgebers führt (S. 89), muss nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber diesen Schaden ersetzen, wenn er den Fehler vorsätzlich oder grob fahrlässig verursacht hat (Rückgriffshaftung). Hat der Arbeitnehmer hingegen nur leicht fahrlässig gehandelt, kann der Arbeitgeber keine Ansprüche gegen den Arbeitnehmer geltend machen. Bei einem mittleren Grad von Fahrlässigkeit ist der Arbeitgeber berechtigt, einen Teil des ihm entstandenen Schadens von dem Arbeitnehmer zurückzufordern (https://www.bag-urteil.com/28–10–2010 –8-azr-418–09/) unter Verweis auf die

4.2 Vergütungsregelung bei einem Krankenhausaufenthalt Entscheidung des BAG vom 27. September 1994 – GS 1/89 (A) – BAGE 78, 56 = AP BGB § 611 Haftung des Arbeitnehmers Nr. 103 = EzA BGB § 611 Arbeitnehmerhaftung Nr. 59). Die gleichen Grundsätze gelten auch, wenn der Arbeitnehmer von einer durch sein schuldhaftes Verhalten geschädigten Person direkt in Anspruch genommen wurde und dieser Schadensersatz und/ oder Schmerzensgeld zahlen musste (S. 90). Bei einer leichten Fahrlässigkeit kann er also den an die geschädigte Person gezahlten Betrag vom Arbeitgeber zurückfordern, bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit haftet er alleine und ansonsten findet eine „Aufteilung“ statt. Der Arbeitnehmer ist stets verpflichtet, auf die Interessen des Arbeitgebers Rücksicht zu nehmen. Ihm obliegt die sog. Treuepflicht. Dazu zählen: ● Einhaltung der Verschwiegenheitspflicht ● Erhaltung der eigenen Arbeitskraft ● sorgsamer Umgang mit dem Eigentum des Arbeitgebers ● Beachtung der Betriebsordnung

Beendigung des Arbeitsverhältnisses Die Beendigungsgründe für ein Arbeitsverhältnis sind vielfältig. Ein Arbeitsverhältnis wird beendet durch den Tod des Arbeitnehmers. Der Tod des Arbeitgebers führt hingegen nicht zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses; das Arbeitsverhältnis wird in seiner bestehenden Form mit den Erben des Arbeitgebers fortgeführt. Zeitlich befristete Arbeitsverträge sind mit Zeitablauf beendet; entsprechend ist das Arbeitsverhältnis, das zu einem bestimmten Zweck eingegangen wurde, mit der Erreichung des Zwecks aufgelöst.

Fallbeispiel

I ●

Zweckgerichtetes Arbeitsverhältnis

Die Pflegefachkraft Gütlich und Herr Anton schließen einen Arbeitsvertrag, durch den sich Gütlich verpflichtet, die erkrankte 3-jährige Tochter von Herrn Anton zu pflegen, bis diese wieder geheilt ist. Mit der Heilung der Tochter ist das Arbeitsverhältnis beendet.

Natürlich kann ein Arbeitsverhältnis, das durch einen Arbeitsvertrag begründet wurde, auch wieder durch einen Vertrag aufgelöst werden, wenn beide Vertragspartner sich einig sind und dementsprechend übereinstimmende Willenserklärungen abgeben. Auch eine volle Erwerbsminderung des Arbeitnehmers kann zur Beendigung des

Arbeitsverhältnisses führen. Wichtigster Beendigungsgrund ist jedoch die Kündigung, die sowohl vom Arbeitgeber als auch vom Arbeitnehmer ausgesprochen werden kann. Die Kündigung ist kein Vertrag. Zu ihrer Wirksamkeit genügen eine schriftliche Erklärung des Kündigungswilligen unter Beachtung der für das Arbeitsverhältnis geltenden Regelungen und die Kenntnisnahme des Vertragspartners von der Kündigungserklärung. Bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses hat der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer ein schriftliches Zeugnis zu erteilen. Dieses muss zwingend Angaben über die Person von Arbeitnehmer und Arbeitgeber sowie über Art und Dauer der Beschäftigung enthalten. Wenn der Arbeitnehmer dies ausdrücklich wünscht, werden zusätzlich seine Leistungen und sein Verhalten während der Dauer des Arbeitsverhältnisses in dem Zeugnis bewertet.

4.2 Vergütungsregelung bei einem stationären Aufenthalt im Krankenhaus (Diagnosis Related Groups – DRG) 4.2.1 Rechtsgrundlage Die Vergütung für stationäre Krankenhausleistungen ist grundlegend im Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG) geregelt. Danach gilt für die Vergütung der allgemeinen Krankenhausleistungen ein „durchgängiges, leistungsorientiertes und pauschalisierendes Vergütungssystem“ (§ 17 b KHG). Dies war nicht immer so. Bis zum Jahr 2003 wurden allgemeine Krankenhausleistungen über krankenhausindividuelle Pflegesätze vergütet, die je Tag des Krankenhausaufenthaltes zu zahlen waren. Diese tagesbezogenen Pflegesätze wurden unabhängig davon berechnet, wie hoch der Behandlungsaufwand für einzelne Patientinnen und Patienten tatsächlich waren. Ein leicht erkrankter Patient beziehungsweise seine Krankenversicherung zahlte damit bei gleicher Behandlungsdauer genauso viel wie ein schwer kranker Patient, der in der gleichen Fachabteilung eines Krankenhauses behandelt wurde. (Bundesministerium für Gesundheit, Krankenhausfinanzierung; www.bundesgesundheitsministerium.de) Diese Abrechnung nach Pflegesätzen ist nun durch ein Vergütungssystem ersetzt, das sich an einem international bereits eingesetzten Vergütungssystem auf Grundlage der Diagnosis Related Groups (diagnoseorientiertes Fallpauschalensystem, DRG genannt) orientiert. Sehr vereinfachend kann dieses Abrechnungssystem nach Fallpauschalen so beschrieben

werden: Alle möglichen Erkrankungen (Diagnosen) sind genau definiert, deren Behandlung wird kalkuliert und ebenso die Dauer, die ein Patient mit einer solchen Erkrankung voraussichtlich im Krankenhaus stationär behandelt und gepflegt werden muss. Daraus errechnen die Spitzenverbände der Krankenkassen (GKV) und der Verband der privaten Krankenversicherung (PKV) gemeinsam mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) eine Vergütung für jede denkbare Diagnose. Für jede Erkrankung, die stationär behandelt wird, erhält das Krankenhaus diese festgesetzte Vergütung, unabhängig davon, wie lange der Patient tatsächlich in stationärer Behandlung war und wie aufwendig und kostenintensiv die ärztliche Behandlung und die Pflege tatsächlich waren. Die Höhe der Vergütung erfolgt unabhängig von den tatsächlich entstandenen Kosten oder der tatsächlichen Verweildauer des einzelnen Patienten im Krankenhaus. Die Vergütung ist auch für alle Krankenhäuser gleich. Mögliche Gewinne aus der Behandlung eines Patienten bleiben bei den Krankenhäusern; ebenso müssen sie aber auch die Verluste einer Behandlung tragen, z. B. wenn die Behandlung eines Patienten höhere Kosten verursacht hat, als dem Krankenhaus aufgrund der Eingliederung des Patienten in eine bestimmte Fallgruppe zugestanden wird. Das Vergütungssystem wird jährlich den tatsächlichen Gegebenheiten angepasst, dabei werden insbesondere medizinische Entwicklungen, Kostenentwicklungen, Verweildauerverkürzungen und Leistungsverlagerungen berücksichtigt. Zuständig für die Weiterentwicklung sind GKV, PKV und DKG, die zu diesem Zweck gemeinsam das „Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus gGmbH“ (InEK) gegründet haben. Im Rahmen der jährlichen Beratungen und Verhandlungen hat auch ein Vertreter der Berufsorganisationen der Gesundheits- und Krankenpflegeberufe Gelegenheit zur beratenden Teilnahme an den Sitzungen, soweit die Pflege betreffende Fragen der Entgelte und der zugrunde liegenden Leistungsabgrenzung auftreten.

Merke

4

H ●

Bei der Verwendung von DRGs werden einzelne stationäre Behandlungsfälle anhand bestimmter Kriterien (u. a. Diagnose, Schweregrad, durchgeführte Behandlung, Alter, bei Kleinkindern bis zu einem Jahr das Aufnahmegewicht) in Fallgruppen eingeteilt und nach einem besonderen Modus verschlüsselt.

5

Pflegerecht und Ökonomie

4.2.2 Eingruppierung in eine DRG DRGs sind 4-stellige Kombinationen aus Buchstaben und Ziffern. Die erste Stelle einer DRG bezeichnet dabei die Hauptdiagnose. Diese wird zunächst nach dem ICD-10-GM (International Classification of Diseases 10. Revision German Modification), das ist die deutsche Ausgabe des amtlichen Katalogs der Weltgesundheitsorganisation für die Verschlüsselung von Haupt- und Nebendiagnosen, ermittelt. Die Unterscheidung erfolgt hier entweder nach der Art der Erkrankung (z. B. Erkrankung des Nervensystems) oder auch der Ursache der Erkrankung (z. B. Verletzungen). Anhand der Hauptdiagnose kann in den meisten Fällen die Eingruppierung in eine Major Diagnostic Category (MDC) erfolgen. Sehr intensive und kostenaufwendige Fälle, wie Transplantationen, Langzeitbeatmungen oder Querschnittlähmungen, werden in besonderen MDCs, sog. PräMDCs, aufgeführt. Die zweite und dritte Stelle einer DRG wird bestimmt durch die am Patienten durchgeführten oder auch fehlenden Prozeduren, also die Art der Behandlung des Patienten (sog. Partition). Dabei wird von 3 möglichen unterschiedlichen Partitionen ausgegangen: ● Eine „operative Partition“ liegt dann vor, wenn zur Behandlung des Patienten mindestens ein zur Hauptdiagnose passender und an die Nutzung eines Operationssaales gebundener Eingriff durchgeführt wurde. ● Eine „andere Partition“ liegt bei einer nicht operativen, jedoch invasiven Behandlung vor. ● Die „medizinische Partition“ beschreibt alle anderen Behandlungsfälle.

4

Die Prozeduren wie auch die ICD-10-GM werden nach einem vom Gesetzgeber vorgeschriebenen (§ 301 Abs. 2 SGB V) und vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) herausgegebenen sog. Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS) verschlüsselt. Fälle mit ungewöhnlichen Diagnose-Prozedur-Kombinationen werden in „FehlerDRG“ eingruppiert. Die letzte Stelle eines DRG-Codes bezeichnet den „Patienten-Schweregrad“ (Patient Clinical Complexity Level – PCCL).

96

Mit dem PCCL werden Begleiterkrankungen eines Patienten oder auch Komplikationen berücksichtigt, die zu einem erhöhten Personal- oder auch Materialbedarf und damit auch zu höheren Kosten geführt haben. Der PCCL-Wert wird für jeden Patienten von einem speziellen Softwareprogramm (Grouper) anhand der über die Behandlung und die Pflege des Patienten eingegebenen Daten ermittelt.

Merke

H ●

Kostendeckende und dem Aufwand entsprechende Erlöse können nur erzielt und finanzielle Verluste für das Krankenhaus vermieden werden, wenn die behandelten Diagnosen nebst Nebendiagnosen und die erbrachten ärztlichen und pflegerischen Leistungen am und für den Patienten vollständig dokumentiert werden.

Ebenfalls mitbestimmend für die Zuordnung zu einer DRG sind weitere Kriterien, wie Alter und Geschlecht des Patienten, bei Kleinkindern unter einem Jahr das Körpergewicht am Tag der stationären Aufnahme bzw. das Geburtsgewicht, die Verweildauer und auch die Art der Entlassung. Die Abrechnungsregeln und Fallpauschalen werden jährlich überarbeitet und in einem G-DRG-Katalog veröffentlicht. Der aktuelle Katalog enthält über 1000 (2017: 1255) verschiedene abrechenbare Fallpauschalen.

4.2.3 Vergütung Die Berechnung der Vergütung für das einzelne Krankenhaus wird letztlich bestimmt durch den sog. Basisfallwert und den Wert des ermittelten DRG-Codes. Der Basisfallwert ist ein Wert, der jährlich auf der Grundlage eines durchschnittlichen Standard-Behandlungsfalls berechnet und in einem Euro-Betrag festgesetzt wird. Für jeden DRG-Code wird ebenfalls jährlich ein Wert auf der Grundlage des durchschnittlichen Kostenaufwands für jede einzelne Fallpauschale bestimmt und ihre Abweichung von dem Basisfallwert berechnet. Durch diese Berechnung erhält man das „Relativgewicht“ der einzelnen

DRG. Das Relativgewicht kann sowohl unter als auch über dem Basisfallwert liegen. Aus der Multiplikation des Basisfallwertes mit dem Relativgewicht ergibt sich der Betrag, den das Krankenhaus für eine stationäre Behandlung eines Patienten beanspruchen kann.

Fallbeispiel

I ●

Berechnung der Kosten einer Krankenhausleistung Der Basisfallwert beträgt 2000 €, der der Abrechnung zugrunde liegende DRG-Code hat ein Relativgewicht von 0,87. Aus der Multiplikation des Basisfallwertes mit dem Relativgewicht (2000 × 0,87 = 1740) ergibt sich, dass dem Krankenhaus für diese abrechenbare DRG ein Betrag von 1740 € zusteht.

Bei der Abrechnung ist zusätzlich zu beachten, dass für die meisten DRG-Codes eine obere Grenzverweildauer (OGVD) im Krankenhaus festgesetzt ist. Müssen Patienten aufgrund der Art ihrer Erkrankung länger als nach der OGVD vorgesehen stationär behandelt werden, erhält das Krankenhaus für jeden über der OGVD liegenden Tag einen Zuschlag. Ebenso muss das Krankenhaus aber auch einen Abzug von der ihm eigentlich zustehenden Vergütung hinnehmen, wenn der stationäre Aufenthalt wesentlich kürzer als im Normalfall war. Aus der Summe der Relativgewichte aller behandelten Fälle eines Krankenhauses ergibt sich schließlich der Case-Mix für dieses Krankenhaus für einen bestimmten Zeitraum. Durch Division des Case-Mix durch die Anzahl der behandelten Fälle erhält man den Case-Mix-Index (CMI), der Aufschluss über das durchschnittliche Relativgewicht und damit den durchschnittlichen Aufwand für die im Krankenhaus behandelten Fälle gibt. Anhand des Case-Mix-Indexes lässt sich so errechnen, ob das einzelne Krankenhaus wirtschaftlich arbeitet. Eine Zusammenfassung und kurze Erläuterung der für die Abrechnung nach dem Fallpauschalensystem (DRG) notwendigen Begriffe finden Sie in ▶ Tab. 4.1.

4.2 Vergütungsregelung bei einem Krankenhausaufenthalt

Tab. 4.1 Begriffe rund um die DRG (UKL Impuls, 2002; zitiert nach Grethler, 2017). Begriff

Erklärung

AR-DRG

Australian refined Diagnosis Related Groups; dienten als Basis für das deutsche G-DRG-System

Baserate

Basisfallpreis = Bewertung der Bezugsleistung des durchschnittlichen Behandlungsfalls

Basis-DRG

Wird anhand einer Hauptdiagnose und der notwendigen Prozeduren bestimmt

CC

Complication or Comorbidity (Komplikation oder Komorbidität)

CCL

Complication or Comorbidity Level (Schweregrad von Komplikationen und Begleiterkrankungen): Gewicht einer Nebendiagnose

CM

Case-Mix = Bewertungs- und Vergleichswert bezogen auf einzelne Fälle wie auch auf das in einem Krankenhaus behandelte Patientenspektrum, oftmals wird der Begriff „Case-Mix“ auch synonym für Patientenklassifizierung angewendet.

CMI

Case-Mix-Index = durchschnittlicher Fallschweregrad des Patientenklientels einer Abteilung/Klinik (Summe der Relativgewichte aller Behandlungsfälle dividiert durch die Anzahl der Behandlungsfälle)

CW

Cost Weight (Relativgewicht/Bewertungsrelation) = relativer „Wert“ einer Fallgruppe bezogen auf einen durchschnittlichen, üblicherweise mit 1,0 bewerteten Fall

DKR

Deutsche Kodierrichtlinien

DKR-Psych

Deutsche Kodierrichtlinien für die Psychiatrie und Psychosomatik

DRG

Diagnosis Related Group = Zusammenfassung von Diagnosen und Prozeduren zu klinischen und aufwandshomogenen Behandlungsfallgruppen (Diagnosebezogene Fallgruppen)

Fehler-DRG

Rest- oder Fehler-DRG; dient der Zuordnung von fehlerhaft kodierten, unzulässigen oder nicht zuzuordnenden Patientenfällen zu einer DRG, um dem Anspruch der vollständigen Zuweisung aller akutstationären Fälle zu DRGs zu entsprechen.

G-DRG

German Diagnosis Related Groups

Grouper

Software zur Gruppierung aller Krankenhausfälle in MDCs, und DRGs

Hauptdiagnose (HD)

„Die Diagnose, die nach [...] (Evaluation der Befunde am Ende des stationären Aufenthaltes) [...] als diejenige festgestellt wurde, die hauptsächlich für die Veranlassung des stationären Krankenhausaufenthaltes des Patienten verantwortlich ist.“ (DKR D 002f)

ICD-10

International Classification of Diseases (10. Revision) = amtlicher Katalog für die Verschlüsselung von Haupt- und Nebendiagnosen

InEK

Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus GmbH

MDC

Major Diagnostic Category = organbezogene Gliederung der DRG in Hauptdiagnosegruppen

Nebendiagnose (ND)

„Eine Krankheit oder Beschwerde, die entweder gleichzeitig mit der Hauptdiagnose besteht oder sich während des Krankenhausaufenthaltes entwickelt“ (DKR D 003l). Eine Nebendiagnose muss Einfluss auf das Patientenmanagement haben, das bedeutet, es werden entweder diagnostische oder therapeutische Maßnahmen durchgeführt, es besteht ein erhöhter Betreuungs-, Pflege- und/oder Überwachungsaufwand und die Nebendiagnose verlängert üblicherweise die Dauer des stationären Aufenthaltes.

NUB

neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden

OPS

Operationen- und Prozedurenschlüssel) = amtlicher Katalog für die Verschlüsselung abrechenbarer Prozeduren

Partition

Unterteilung der Hauptdiagnosegruppe in Abhängigkeit von der Kodierung einer Prozedur. Es werden drei Partitionen unterschieden: operative, medizinische und andere Partition

PCCL

Patient Clinical Complexity Level (Patientenbezogener Gesamtschweregrad) = mathematisch ermittelter Fallschweregrad; aus den Gewichten der Nebendiagnosen (siehe CCL) wird unter Einbeziehung weiterer Parameter ein Fallschweregrad errechnet, der Ausgangspunkt für die Zuordnung zu Fallschweregruppen ist.

Prä-MDC

besonders kostenaufwendige und seltene Fälle, z. B. Transplantationen

4

7

Pflegerecht und Ökonomie

4

98

Kapitel 5 Arbeitsfelder der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege

5.1

Einführung

100

5.2

Gesundheitsförderung und Prävention im Kindesalter

101

5.3

Pädiatrische Gesundheitseinrichtungen

110

5.4

Pflege und Betreuung im häuslichen Umfeld

114

Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen

121

Strukturierte Aufnahme, Verlegung und Entlassung

132

5.7

Pflegeüberleitung

141

5.8

Pflegerisches Case-Management

142

5.5 5.6

Gesundheits- und Kinderkrankenpflege

5 Arbeitsfelder der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege 5.1 Einführung Mechthild Hoehl Die Neufassung des Krankenpflegegesetzes im Jahr 2003 schuf für die Kinderkrankenpflege die neue Berufsbezeichnung „Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger/-in“. Was sich zunächst einmal ungewohnt und befremdlich anhörte, beschreibt jedoch treffend den erweiterten Aufgabenbereich und das damit verbundene veränderte Berufsbild. Die Grundlage der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege bildet in allen Aufgabenbereichen das fundierte Fachwissen über alle Aspekte der Pflege und Betreuung gesunder und kranker Kinder. Dazu gehört die Beobachtung der physiologischen und pathologischen Besonderheiten von Kindern aller Altersstufen im Zusammenhang mit körperlicher und seelischer Gesundheit bzw. Gesundheitsstörungen. Das Wissen über geeignete prophylaktische und lindernde Maßnahmen und über Durchführung und Assistenz bei diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen ist weitere zentrale Kompetenz. Dennoch sind die Aufgaben, der sich Gesundheitsund Kinderkrankenpflegefachkräfte in heutiger Zeit stellen müssen, kaum noch vergleichbar mit denen der Kinderkrankenpflege, die vor wenigen Jahrzehnten gelehrt und gelernt wurde. Die Gesundheits- und Kinderkrankenpflege findet nur noch zu einem Teil in stationären Einrichtungen statt (▶ Abb. 5.1). Weitere Arbeitsfelder in der Pflege finden sich in der Prävention, der ambulanten Versorgung und in Spezialzentren für Rehabilitation, Beratung und Anleitung von chronisch kranken Kindern sowie der palliativen Pflege von sterbenden Kindern.

5

Abb. 5.1 Arbeitsfelder. Gesundheits- und Kinderkrankenpflege findet in unterschiedlichen Arbeitsbereichen statt. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

100

▶ Präventionsarbeit. Der Schwerpunkt des präventiven Aufgabenbereiches liegt verstärkt auf der Vorbeugung von Krankheiten (S. 101). Das Wissen um die Grundlagen gesunder Entwicklung, die Gesunderhaltung des Kindes sowie die psychosozialen Grundbedürfnisse von gesunden und kranken Kindern in ihren Familien gehört zum Basiswissen von Gesundheitsund Kinderkrankenpflegefachkräften. Die präventive Arbeit umfasst die Aufklärung der Familien aller gesellschaftlichen Schichten sowie anderer Berufsgruppen, die mit Kindern in unterschiedlichen Settings arbeiten. ▶ Stationäre Einrichtungen. Bei der Pflege von Kindern in stationären Einrichtungen spezialisieren sich die Aufgabenbereiche in verstärkter Weise (S. 111). In den klassischen Kinderkliniken verbleiben die Patienten, die einer Hightechmedizin bedürfen oder besonders aufwendige Behandlungen erfahren. Neben den klassischen infektiös bedingten Krankheiten des Kindesalters sind verstärkt Krankheitsbilder wie Allergien aufgetreten, die spezialisierter Behandlungen bedürfen. Wo früher lange Zeit immobilisierte Kinder in chirurgischen und orthopädischen Abteilungen gepflegt werden mussten, können heute durch moderne Behandlungsmöglichkeiten kurze Verweildauern einkalkuliert werden. Ein Teil der Pflege von kranken Kindern kann unter Anleitung der Pflegefachkraft von den Eltern selbst übernommen werden. Dadurch wächst der Aufgabenbereich an der Schnittstelle von der stationären zur ambulanten Versorgung mit der Anforderung, im vor-, nach- oder teilstationären Bereich Kompetenzen zu zeigen, indem z. B. Familienangehörige angeleitet und verstärkt beratende Funktionen übernommen werden. Weltweite Migrationsbewegungen stellen eine zunehmende Herausforderung an die interkulturellen Kompetenzen, v. a. in der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege, wenn Schwierigkeiten einer sprachlichen Kommunikation auf komplexe, durch Flucht und Migration unzureichend oder falsch behandelte Krankheiten oder multiple Traumatisierungen bei den Familien treffen. ▶ Ambulante Versorgung. Ein Schwerpunkt des Aufgabenbereiches der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege verändert sich vom stationären Krankenhausaufenthalt hin zu einer ambulanten Pflege und Betreuung (S. 111). Die Kinder sollen,

sobald dies vertretbar erscheint, aus der Klinik in die häusliche Umgebung entlassen werden. In häuslicher Atmosphäre erfolgt ein weitestgehend eigenständiges Pflegehandeln in enger Kooperation mit Hausärzten und weiteren außerklinischen Institutionen. ▶ Spezialzentren. Sie nehmen sich kranker Kinder an, die in der Rehabilitation von ihrer akuten Krankheit genesen oder bei chronischen Krankheiten einen eigenständigen und gesundheitsförderlichen Umgang mit der gesundheitlichen Beeinträchtigung erlernen (S. 172). Kinderhospize ermöglichen eine würdevolle Pflege und Begleitung in fast häuslicher Atmosphäre im Rahmen einer palliativen Pflege.

5.1.1 Konsequenz für das tägliche pflegerische Handeln Da die Gesundheits- und Kinderkrankenpflege auf weitere Arbeitsfelder ausgeweitet wurde, bestehen Notwendigkeit und Chance zum Aufbau weiterer Kompetenzen und gleichzeitig das Erfordernis einer lebenslangen Aneignung von spezialisiertem Fachwissen. Neben vermehrten administrativen Tätigkeiten haben v. a. kommunikative und beratende Kompetenzen deutlich an Bedeutung gewonnen, da ein Teil der täglichen Pflege kranker Kinder unter Anleitung der Pflegefachkraft von den Eltern selbst übernommen wird. Im Beratungsbereich ergeben sich häufig große Schnittstellen zu angrenzenden Berufsgruppen, was hohe Anforderungen an den interdisziplinären Austausch und die Zusammenarbeit im therapeutischen Team stellt, s. Case-Management (S. 142).

5.1.2 Rolle der Pflegenden Die Pflegefachkräfte bleiben auch unter veränderten gesellschaftlichen und gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen Ansprechpartner mit häufigen intensiven Kontakten zu kranken oder gesunden Kindern und ihren Familien. Somit kommt der Pflegefachkraft als niedrigschwellig erreichbarer Vertrauensperson – also einer Person, gegenüber der Menschen aller Gesellschafts- und Bildungsschichten keine großen Hemmungen haben, Fragen und Bedürfnisse zu äußern – die zentrale Rolle in der gesundheitlichen Versorgung von Kindern und Jugendlichen aller Altersklassen zu.

5.2 Gesundheitsförderung und Prävention im Kindesalter

Praxistipp Pflege

Z ●

Im Klinikalltag trauen sich manche Eltern nicht, ihre Fragen direkt während einer Arztvisite zu stellen, und bitten die Pflegenden anschließend um die Erklärung dessen, was in der Visite besprochen wurde, bzw. um die Übersetzung der Fachbegriffe. Im außerklinischen Bereich ist die Inanspruchnahme einer Beratungsstelle bei Fragen rund um das Baby häufig eine hohe Hürde. Ein Besuch eines Stillcafés oder der Besuch einer aufsuchenden Pflegefachkraft, z. B. einer Familien-Gesundheits- und Kinderkrankenpflegefachkraft (FGKiKP), ermöglicht es der Familie, einen Ansprechpartner für ihre Sorgen und Fragen zu haben.

In den folgenden Abschnitten werden die unterschiedlichen Arbeitsfelder, die Besonderheiten, Rahmenbedingungen und spezifischen Aufgabenschwerpunkte der Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger/ -innen vorgestellt.

5.2 Gesundheitsförderung und Prävention im Kindesalter Mechthild Hoehl

5.2.1 Neue Herausforderungen im Gesundheitswesen „Wer keine Zeit für seine Gesundheit hat, der wird sich Zeit für Krankheiten nehmen müssen.“ (englisches Sprichwort) Gesunderhaltung und Gesundheitsförderung sind keine neuen Themen in der Heilkunst und Pflege. In vergangenen Jahrhunderten bis vor etwa 50 Jahren standen hierbei jedoch in erster Linie die Eindämmung von Infektionen und übertragbaren Krankheiten sowie die Sorge um eine ausreichende Nahrungszufuhr im Vordergrund – ebenso wie es in Entwicklungsländern oder in Gebieten nach Naturkatastrophen und Kriegen heute noch der Fall ist. Die Leidtragenden von Gesundheitsstörungen durch Infektionen und Mangelernährung waren und sind häufig gerade die Schwachen der Gesellschaft – die Kinder. Durch die Verbesserung hygienischer Grundvoraussetzungen, den Einsatz von Impfungen sowie systematischer Diagnoseverfahren (Früherkennung) und verbesserter Therapiemöglichkeiten ist nicht nur die Kindersterblichkeit dramatisch gesun-

ken, es hat sich auch die gesamte Landschaft des Gesundheitswesens, insbesondere der Kinderheilkunde und Kinderkrankenpflege in den westlichen Gesellschaften, geändert. Während die sog. (infektiösen) Kinderkrankheiten und andere durch Infektionen und Mangel hervorgerufene Krankheiten fast aus dem Bewusstsein verschwunden sind, treten andere Krankheiten, die früher nahezu unbekannt waren, in der Häufigkeit an deren Stelle, sodass in manchen Kreisen bereits von den „neuen Kinderkrankheiten“ die Rede ist. Neue Probleme entstehen durch Umweltveränderungen und ökologische Belastung, v. a. aber durch einen veränderten Lebensstil: Fehlernährung im Sinne einer kalorischen Überversorgung mit minderwertigen Nahrungsmitteln (Fast Food, Süßigkeiten, Fette, Softdrinks) – gepaart mit gleichzeitigem Bewegungsmangel durch übermäßigen Medienkonsum, fehlenden Bewegungsflächen und -möglichkeiten und vielen weiteren Veränderungen in der Erlebniswelt von Kindern – kann dramatische Folgen für die Gesundheit der kommenden Generationen und damit für das gesamte Gesundheitssystem haben, wenn keine ausreichenden präventiven Maßnahmen eingeleitet werden. ▶ Störungen des Essverhaltens. Nach Daten der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS; durchgeführt vom Robert KochInstitut) sind insgesamt 15 % der Kinder und Jugendlichen im Alter von 3–17 Jahren übergewichtig, davon 6,3 % adipös (Kurth et al. 2007). Die Ursachen beginnen bereits früh beim übermäßigen Angebot gesüßter und zu fetthaltiger Nahrungsmittel vonseiten der Eltern an die Kinder, die die Eigenregulation des Appetits stören. Die Folgeerscheinungen führen zur Belastung des Stoffwechsels (Hypercholesterinämie, verminderte Glukosetoleranz), des HerzKreislauf-Systems (Bluthochdruckgefahr) und des Bewegungssystems (frühzeitige Verschleißerscheinungen). Zusätzlich fühlen sich viele dieser Kinder „nicht wohl in ihrer Haut“ und bekämpfen diese psychischen Probleme nicht selten wiederum mit übermäßigem Essen. Gleichzeitig steigt die Anzahl an Jugendlichen, die zwanghaft Gewicht und Nahrungsaufnahme kontrollieren bis hin zur Ausbildung der Krankheitsbilder Anorexie, Bulimie oder Orthorexie. ▶ Bewegungsarmut. Die o. g. Fettleibigkeit wird durch die Bewegungsarmut verstärkt. Zunehmende Motorisierung der Familien führt schon bei Säuglingen zu längeren Aufenthalten in Baby-Autositzen, in denen eine aktive Beweglichkeit und

Entwicklung der wichtigen Bewegungsgrundlagen erschwert ist. Fehlende Tobeund Spielräume schränken die Kinder in freiem, spielerischem Bewegungsverhalten ein. Jedes 3. Kind bewegt sich in Deutschland weniger als 1 Stunde am Tag intensiv. Gleichzeitig nimmt eine passive Sitzhaltung vor Fernsehern, Computern und Spielkonsolen deutlich zu (▶ Abb. 5.2). Kinder sitzen heute im Durchschnitt bis zu 9 Stunden am Tag, davon 2 Stunden vor dem Fernseher. Dies kann wiederum zu orthopädischen Problemen, Haltungsschäden, Wahrnehmungs- und Koordinationsschwierigkeiten sowie zu psychischen Auffälligkeiten führen. ▶ Störungen im psychischen Bereich. Die Zahl der Kinder, die unter diesen Störungen leiden, nimmt deutlich zu. Nach Angabe des Zentrums für Kinder- und Jugendforschung in Freiburg leiden 18 % aller Kinder im Vorschulalter unter klar feststellbaren Verhaltensauffälligkeiten. Medienkonsum führt zu Reizüberflutung bei Kindern, zumal die medialen Sinneseindrücke von jungen Gehirnen oft nicht zielgerichtet verarbeitet werden können. Familiäre Spannungen, Existenzängste der Eltern, v. a. im sozial benachteiligten Milieu, schlagen sich auch auf die psychische Stabilität von Kindern nieder. Die Folgen sind vermehrtes Auftreten von AD(H)S, Kontakt- und Beziehungsstörungen, Störungen im schulischen Bereich, psychosomatische und affektive Störungen, kindliche Ängste und Depressionen bis hin zu einem frühen Einstieg in Suchtverhalten.

5

▶ Zunahme autoimmuner Erkrankungen. Eine weitere Herausforderung für das Gesundheitssystem der Zukunft liegt in der Zunahme von Allergien, atopischen Erkrankungen, Asthma und Unverträglichkeitsreaktionen. Durch Umweltverschmutzung wird der Körper einerseits massiv mit Umweltgiften konfrontiert,

Abb. 5.2 Mediennutzung. Computer, Fernseher, Handy oder Tablet üben eine magische Anziehungskraft auf Kinder aus, die Nutzung ist jedoch nicht unbedenklich (Symbolbild). (Foto: gpointstudio – stock.adobe.com)

1

Gesundheits- und Kinderkrankenpflege übertriebenes Hygieneverhalten führt andererseits zur Verminderung einer „gesunden Keimflora“, sodass nach Elternangaben mittlerweile bei mehr als jedem 4. Kind (26,0 %) bereits einmal im Leben mindestens eine der 3 atopischen Erkrankungen Asthma bronchiale, Heuschnupfen oder Neurodermitis ärztlich festgestellt wurde (Bundesgesundheitsblatt 7/2014). Im Rahmen der sog. KiGGS-Welle 2, der zweiten Datenerhebungswelle der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland des Robert Koch-Instituts, wurden in den Jahren 2014–2017 systematisch statistische Daten zu diesem Thema erhoben. Sie werden aktuell ausgewertet; die ersten grundlegenden Ergebnisse liegen bereits vor.

5

▶ Spezifische und unspezifische Maßnahmen. Bei der Primärprävention wird zwischen unspezifischen Maßnahmen, wie ausgewogener Ernährung, positivem Bewegungsverhalten und förderlichem Freizeitverhalten, sowie spezifischen Maßnahmen, die ganz gezielt einzelnen möglichen Gesundheitsstörungen vorbeugen sollen, unterschieden. ▶ Beispiel. Wenn alle Familien eine umfassende Beratung zum Stillen sowie zur Säuglings- und Kleinkindernährung im 1. Lebensjahr erhalten, handelt es sich hierbei um eine unspezifische Maßnahme der Primärprävention. Werden alle Familien mit Allergierisiko bezüglich allergiepräventiver Maßnahmen beraten, ist dies eine spezifische Maßnahme.

5.2.2 Definitionen Die Begriffe Gesundheitsförderung und Prävention werden häufig synonym benutzt. Streng genommen ist Prävention jedoch orientiert an den Auslösefaktoren von Gesundheitsstörungen („Vermeidung des Auftretens von Krankheiten“), Gesundheitsförderung richtet sich dagegen an die Verbesserung der Lebensbedingungen i. A. zur „Stärkung der gesundheitlichen Entfaltungsmöglichkeiten“ (Hurrelmann u. a., 2004).

Definition

L ●

Unter Prävention wird die Vermeidung von Krankheiten unter Einbeziehung medizinischer und biowissenschaftlicher Erkenntnisse verstanden.

Definition

● L

Primärprävention beinhaltet alle Bemühungen zur Krankheitsvermeidung, bevor sich erste Zeichen einer Störung zeigen (▶ Abb. 5.3).

Primärprävention Maßnahmen vor dem Auftreten erster Symptome

Definition

Bei der Sekundärprävention geht es um die Früherkennung bzw. das Eingreifen bei ersten Anzeichen einer Gesundheitsstörung mit dem Ziel der Gesundung (▶ Abb. 5.3).

▶ Beispiel. Bei den Vorsorge- und Einschulungsuntersuchungen fallen übergewichtige Kinder auf. Durch langfristig angelegte Programme zur Beratung und Begleitung der Familien kann eine Umstellung der Ernährung und der Freizeitgestaltung erreicht werden, sodass die Gewichtsentwicklung der Kinder sich wieder normalisiert und weitere Gesundheitsstörungen vermieden werden.

Definition

L ●

Beim Auftreten einer chronischen Gesundheitsstörung dient die Tertiärprävention dazu, Rezidive der Krankheit zu verhindern oder abzumildern und den Umgang mit der Krankheit zu erleichtern (▶ Abb. 5.3).

Sekundärprävention Maßnahmen bei ersten Zeichen einer Gesundheitsstörung zur Besserung der Situation

Abb. 5.3 Prävention. Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention.

102

L ●

Tertiärprävention Umgang mit chronischen Gesundheitsstörungen, Krankheitsbewältigung

▶ Beispiel. Ein Kind im Grundschulalter hat allergisches Asthma entwickelt. In der Asthmaschulung lernt das Kind durch Meiden der auslösenden Allergene und die richtige Anwendung der medikamentösen Therapie, mit der Krankheit so umzugehen, dass es dadurch in seiner Lebensqualität nicht beeinträchtigt ist.

Merke

H ●

Das an Krankheitsvermeidung orientierte Prinzip der Prävention beinhaltet also im Wesentlichen die Verminderung von Risikofaktoren.

Im Rahmen der Prävention unterscheidet man außerdem die medizinische Prävention, die medizinische, diagnostische oder therapeutische Maßnahmen umfasst, von der individuellen Prävention, die das Verhalten der Zielgruppe zu beeinflussen versucht und daher auch als „Verhaltensprävention“ bezeichnet wird. Sie zielt auf einen bewussten Umgang mit der individuellen Gesundheit durch aufgeklärtes, förderliches Verhalten. Dagegen versucht die sog. Verhältnisprävention durch Beeinflussung der Lebensbedingungen ein Umfeld für ein gesundes Leben überhaupt erst zu schaffen. Hierbei geht es z. B. in sog. Setting-Ansätzen (setting, engl. = Umfeld, Milieu) um die Schaffung gesundheitsfördernder Lebensverhältnisse in sozial benachteiligten Familien sowie in Kindergärten und Schulen in benachteiligen Stadtbezirken. Elemente der Gesundheitsförderung und Prävention sind (▶ Abb. 5.4): ● Gesundheitsaufklärung: Sie ist eine breit angelegte Informationsweitergabe durch Printmedien, Kampagnen zu Themen wie SIDS-Prävention (S. 426) (SIDS = Sudden Infant Death Syndrome = Plötzlicher Kindstod), Impfungen, HIV-Prävention. ● Gesundheitsbildung: Sie vermehrt in familienbildenden Institutionen das Grundlagenwissen von freiwilligen Teilnehmern über die Gesundheit und Gesunderhaltung (z. B. Infoabend zum Thema Allergien und Allergieprävention). ● Gesundheitsberatung: Dies ist eine individuelle Beratungsleistung durch Gesundheitspersonal, z. B. eine individuelle Stillberatung. ● Gesundheitserziehung: Dies sind Bildungs- und Erziehungsmaßnahmen, die i. d. R. durch geschulte Multiplikatoren in Kindertagesstätten und Schulen umgesetzt werden. Themen sind Zahngesundheit, Verkehrserziehung, Suchtprävention.

5.2 Gesundheitsförderung und Prävention im Kindesalter

Gesundheitsaufklärung Informationsweitergabe durch Medien und Kampagnen Gesundheitstraining Verhaltenstraining zum Einüben von gesunden Verhaltensweisen (z.B. Rückenschule)

Gesundheitsförderung und Prävention

Gesundheitsberatung individuelle Beratungsleistung durch Gesundheitspersonal (z.B. Stillberatung)

Gesundheitsbildung in familienbildenden Institutionen (z.B. Infoabende)

Gesundheitserziehung in Kindertagesstätten und Schulen (z.B. Zahngesundheit)

Abb. 5.4 Gesundheitsförderung und Prävention.



Gesundheitstraining: Dies ist ein Verhaltenstraining zum Erlernen, Einüben und Stabilisieren von gesunden Verhaltensweisen, z. B. Rückenschule.

▶ Salutogenese. Im Zusammenhang mit der Gesundheitsprävention wird zunehmend der Begriff des Medizinsoziologen und Stressforschers Aaron Antonovsky verwendet: die Salutogenese. Hierbei geht es um die Frage, was einen Menschen grundsätzlich gesund erhält.

Definition

L ●

Die Salutogenese zielt auf die Rahmenbedingungen, die ein Mensch braucht, um sich ganzheitlich gesund zu entwickeln und gesund zu erhalten.

Salutogenese beinhaltet mehr als nur die Krankheitsvermeidung. Lebensqualität, individuelles Erleben und persönliche Lebensentwürfe werden ebenfalls berücksichtigt. Im Salutogenese-Modell von Antonovsky (S. 41) ist Gesundheit kein Zustand, sondern muss als Prozess gesehen werden. Dieser Prozess wird davon beeinflusst, welche äußeren Einflüsse auf das individuelle Leben einwirken, ob diese vorhersehbar oder erklärbar sind, von den individuellen Ressourcen, sich diesen Anforderungen zu stellen, und der individuellen Fähigkeit, den äußeren Einflüssen eine sinnhafte Bedeutung zuordnen zu können.

Die Grenze zwischen Prävention und einzelnen Aspekten der Gesundheitsförderung ist fließend und eine strenge Trennung anhand einzelner Definitionen ist der Sache nicht dienlich. Gerade im Bereich der Primärprävention im Kindesalter ist ein ganzheitlicher Ansatz notwendig, der das System Familie in seinem gesellschaftlichen Kontext berücksichtigt.

5.2.3 Ausgangssituation der Familie Körperlich beeinflussende Faktoren Die Primärprävention setzt bei einem zunächst gesunden Individuum an. Daher kommt der Primärprävention bei Kindern eine noch größere Rolle zu als bei Erwachsenen, da die meisten Kinder zunächst einmal gesund zur Welt kommen. Allerdings können auch bei gesund geborenen Kindern erbliche Faktoren eine Entwicklung in Gesundheit erschweren. Es gibt familiäre Häufungen verschiedener Gesundheitsstörungen, z. T. sind Erblichkeit oder Prädisposition durch genetische Untersuchungen nachweisbar. Dennoch muss auch eine nachgewiesene Disposition nicht in jedem Fall automatisch zur Gesundheitsstörung führen. Daher ist die Notwendigkeit der Primärprävention bei bekannter Disposition umso wichtiger, z. B. mittels Allergieprävention, wenn bereits ein oder zwei Familienmitglieder eines Kindes an einer Allergie leiden, oder

einer vorbeugenden Ernährungsberatung, wenn die Familie zu Fettleibigkeit, möglicherweise sogar mit Bluthochdruck, Hypercholesterinämie oder Diabetes, neigt. Aber auch bereits vorhandene Erkrankungen oder Behinderungen führen häufig sekundär zu zusätzlichen Gesundheitsstörungen. Bei Kindern mit DownSyndrom kommt es oft zu einer gewissen Bewegungsarmut und Neigung zu Adipositas. Rollstuhlpflichtige Kinder sind durch ihre Immobilität ebenfalls stärker gefährdet, übergewichtig zu werden. Dem sollte nicht nur im Hinblick auf die Gesundheit der Kinder, sondern auch auf die körperliche Belastung der pflegenden Angehörigen möglichst vorgebeugt werden. Auch die Einnahme von verschiedenen Medikamenten kann die Disposition für sekundäre Gesundheitsstörungen erhöhen. So ist mittlerweile ein Zusammenhang zwischen Antibiotikabehandlungen im 1. Lebensjahr und der Gefährdung, Allergien zu entwickeln, nachgewiesen. Psychopharmaka, besonders Antidepressiva, führen häufig zur Antriebslosigkeit, Kortison zur Stammfettsucht. Bei den Kapiteln in Teil III dieses Buches (S. 472), in dem es um die Pflege von Kindern mit verschiedenen Gesundheitsstörungen geht, wird im Einzelnen auf diese zusätzlichen Präventionsberatungen eingegangen.

5

Psychisch beeinflussende Faktoren Psychische Belastungsfaktoren begünstigen das Auftreten von Gesundheitsstörungen. Stress macht empfänglich, z. B. für Infektionserreger, für ungesunde Lebensweise und für die Ausbildung von Allergien. Allerdings: Nicht jede Person wird in vergleichbaren Situationen in gleichem Maße eine Gesundheitsstörung ausbilden. Manche Menschen besitzen eine sog. Resilienz, die Fähigkeit, belastende Situationen nahezu unbeschadet zu überstehen. Diese ist besser ausgebildet, je stabiler die familiären und gesellschaftlichen Verhältnisse sind, in denen ein Mensch aufwächst. Mit verschiedenen Angeboten der Entspannung und Stressbewältigung können gesunde wie kranke Menschen ihre persönliche Resilienz verbessern, um mit unvermeidlichen Belastungssituationen gelassener umgehen zu können. Bei Kindern ist die Resilienz eng verbunden mit positiven Bindungserfahrungen.

Definition

L ●

Der Begriff Resilienz bezeichnet die seelische Widerstandsfähigkeit, die Fähigkeit des Menschen, Lebenskrisen ohne dauerhafte Beeinträchtigung zu überstehen.

3

Gesundheits- und Kinderkrankenpflege Sind Belastungssituationen zu groß, so sollte professionelle Hilfe, z. B. beim Umgang mit Traumafolgen, Mobbingsituationen, Ängsten oder Trauererfahrungen, in Anspruch genommen werden, um auch die Gesundheit zu stabilisieren.

Soziokulturelle Ausgangssituation Viele Entwicklungen in der Kinderheilkunde sowie Gesundheits- und Kinderkrankenpflege hängen ursächlich mit Familienpolitik, demografischer Entwicklung und Veränderungen des Systems Familie zusammen: Die Kinderanzahl in Deutschland ist seit der Einführung familienplanerischer Maßnahmen im Jahr 1965 kontinuierlich gesunken bis auf eine durchschnittliche Kinderzahl von 1,3 Kindern pro Frau (Statistisches Bundesamt 2005 www.destatis.de). Seit 2015 scheint die Geburtenrate pro Frau in Deutschland wieder zu steigen, was jedoch auch den Migrationsbewegungen zuzuordnen ist. In den vergangenen Jahren kam es zu einem Bevölkerungsrückgang, der die sozialen Sicherungssysteme gefährdet. Ob diese Problematik durch die Migration ausgeglichen werden kann, ist fraglich. Viele Eltern werden mit dem Eintritt ins Familienleben erstmalig konkret mit den Bedürfnissen eines Säuglings konfrontiert. Sie können nicht mehr auf erlebtes Wissen über Pflege, Ernährung und Beschäftigung eines Kleinkindes zurückgreifen und so sind viele Familien mit der ganz normalen Umstellung auf die Familienphase überfordert, was die Eltern-KindBeziehung und ein intuitives Eingehen auf die kindlichen Bedürfnisse erschweren kann. Auch Neumigranten, die in ihrer Heimat in Großfamilien gelebt haben und die Säuglingspflege dort erlebt haben, sind durch unterschiedliche Ansichten und Lebensweisen verunsichert. Die im Heimatland häufig stützende Großfamilie steht hier nicht zur Verfügung. Als Folge konsultieren viele verunsicherte Eltern wegen normaler Säuglingsphänomene, wie Zahnungsbeschwerden, Blähungen oder normaler nächtlicher Schlafstörungen, den Arzt, andere nehmen gravierende Beschwerden und Entwicklungsverzögerungen gar nicht wahr, weil ihnen Erfahrung und Vergleiche fehlen. Wenn Kinder nicht mehr zum Alltag gehören, verschwinden gleichzeitig auch die Spielräume für Kinder. Sie finden ihre Spielkameraden nicht mehr auf der Straße vor dem Haus oder auf dem Spielplatz um die Ecke. Sozialkontakte finden häufig nur in Betreuungseinrichtungen und Schulen statt oder können nur dann aufrechterhalten werden, wenn Kinder passiv mit dem Auto zu Angeboten für Kinder transpor-

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104

tiert werden. Für viele Kinder bedeutet es aber auch eine Vereinsamung vor dem heimischen Computer mit den damit verbundenen gesundheitlichen Folgen.

risiko bei den Kindern. Diese Kinder haben geringere Bildungschancen und kommen so häufig aus dem Teufelskreis der Perspektivlosigkeit nicht heraus.

Wirtschaftliche Ausgangssituation

Umgebungsgestaltung

Die Auswirkungen familiärer Veränderungen werden noch fataler, wenn Familien sozial benachteiligt sind. Während nahezu alle Familien durch die Familiengründung wirtschaftliche Einbußen verzeichnen, bedeutet es für viele in Deutschland lebende Kinder das Leben am Existenzminimum. Nach einer Studie des Bundesfamilienministeriums (BMFSFJ) ist das Armutsrisiko von Kindern und Jugendlichen in Deutschland seit Ende der 1990er-Jahre der Tendenz nach angestiegen. Alleinerziehende, Geringverdiener oder Arbeitslose haben oft wenige Möglichkeiten, ein aktives Freizeitverhalten ihrer Kinder zu unterstützen, weil ihr Wohnumfeld und ihre finanzielle Situation es nicht zulassen. So kann z. B. der Eintritt ins Schwimmbad für eine mehrköpfige Familie, die am Existenzminimum lebt, schon zu einer unüberwindbaren finanziellen Hürde werden. Eine interessante Auswahl an ökologisch wertvollen Nahrungsmitteln mit viel frischem Obst und Gemüse scheitert oft an den Kosten. Das Forschungsinstitut für Kinderernährung (FKE) hat berechnet, dass der Sozialhilfesatz selbst bei preisgünstiger Einkaufspolitik eine Kinderernährung nach den offiziellen Empfehlungen nicht mehr ermöglicht. Dennoch versuchen viele Familien, trotz ihres begrenzten Budgets mit kostengünstigen Aktivitäten, wie Wanderungen, Naturerlebnis oder Spielplatzbesuchen, das Freizeitverhalten der Kinder positiv zu beeinflussen sowie eine gesunde Ernährung mit preiswerten Angeboten zu ermöglichen, z. B. durch selbst gekochte Menüs, wie Eintöpfe oder Kartoffelsuppen. In einer von Medien und Werbung geprägten Zeit haben diese Dinge jedoch häufig Akzeptanzprobleme und führen zu einem subjektiven Gefühl der sozialen Isolierung. Auch das Suchtpotenzial ist in armutsbelasteten Familien größer, sowohl als Ursache wie auch als Folge der Armut. Kinder von Müttern, die in der Schwangerschaft geraucht haben, kommen mit einem durchschnittlich geringeren Geburtsgewicht zur Welt, zeigen nach der Geburt Entzugserscheinungen, die die Mutter-Kind-Bindung negativ beeinflussen können, leiden später häufiger unter Gedeihstörungen, chronischen Atemwegserkrankungen und Allergien. Alkoholmissbrauch eines Elternteils erhöht das Misshandlungs- und Verwahrlosungs-

So wie die verbesserten Bedingungen für die Hygiene in vergangenen Jahrhunderten zur Zurückdrängung von Infektionen geführt haben, können durch die planerische Gestaltung des Wohnumfeldes unter Berücksichtigung gesundheitsfördernder Aspekte, wie Erholungs- und Bewegungsflächen, Grundlagen für eine gesündere Zukunft geschaffen werden. Der quantitative Ausbau von Kinderbetreuungsmöglichkeiten erleichtert den Familien die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und verringert hierdurch ihr Armutsrisiko. Gleichzeitig muss jedoch auch die Qualität der Kinderbetreuungseinrichtungen an die veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen angepasst werden, wobei insbesondere gesundheitsfördernden Aspekten Rechnung getragen werden muss. Ideal sind ausreichende Möglichkeiten der körperlichen, sinnlichen und sozialen Entfaltung und Entwicklung mit einem Angebot an gesunden Mahlzeiten sowie die Schulung des weiteren Gesundheitsverhaltens wie Hygieneverhalten, Ernährungsverhalten, Freizeitgestaltung und Suchtprävention. Hierbei ist eine enge Kooperation der Betreuungseinrichtung mit den Familien wichtig.

5.2.4 Zentrale SettingAnsätze Gesundheitsförderung kann nur gelingen, wenn sie die Menschen dort erreicht, wo sie sich gerade befinden, dies gilt insbesondere für die Prävention im Kindesalter. Die zentralen Setting-Ansätze befinden sich daher in: ● Geburtsvorbereitung und Familiengründungsphase ● nachgeburtlicher Betreuung, Begleitung und Beratung ● Betreuungseinrichtungen (z. B. Kinderkrippen, Kindertagesstätten, Kindergärten, [Ganztags-]Schulen, Horten) ● Vereinen, v. a. Sportvereinen, Kinderund Jugendgruppen ● Jugendzentren ● Zentren für die ganze Familie, mit Angeboten für alle Altersstufen, z. T. als Mehrgenerationenprojekt ● Selbsthilfegruppen für Familien mit spezifischem Beratungsbedarf (z. B. bei Krankheiten, für frühgeborene Kinder, Mehrlinge, verwaiste Eltern) ● Bildungsstätten

5.2 Gesundheitsförderung und Prävention im Kindesalter ●

Gesundheitseinrichtungen (z. B. Krankenhäuser, (Arzt-)Praxen, Gesundheitsämter, Krankenkassen)

5.2.5 Aufgabenschwerpunkte In ▶ Tab. 5.1 werden zentrale Beratungsaspekte der Gesundheitsförderung vorgestellt, in denen Gesundheits- und Kinderkrankenpflegefachkräfte präventiv ak-

tiv sind. Diese Tätigkeiten werden im stationären Arbeitsalltag ausgeübt und in von Kliniken unterstützten und finanzierten, ihnen angegliederten sog. Elternschulen oder offenen Sprechstunden angeboten. Sie finden in Institutionen wie Gesundheitsämtern, Krankenkassen, Arztpraxen, aufsuchender Familienhilfe, Kindertagesstätten oder Schulen statt oder die Gesundheits- und Kinderkrankenpflegefachkräfte arbeiten auf freiberuflicher Basis als Honorarkraft in Eltern-Kind-

Gruppenarbeit, Familienberatung oder Elternfortbildung, z. B. in Bildungseinrichtungen, Familienzentren, Hebammenpraxen, aufsuchenden Einzelberatungsangeboten (▶ Tab. 5.2). Das nötige Grundlagenwissen für die Beratungsinhalte ist in den Kapiteln des Buchteils II (S. 214) zu finden. Eine fundierte familienorientierte Ausbildung in der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege sollte alle Kinderkrankenpflegefachkräfte dazu befähigen, Familien in ihren

Tab. 5.1 Präventive Aufgaben für Gesundheits- und Kinderkrankenpflegefachkräfte. Prävention

Inhalte der Beratung

rund um die Geburt Primärprävention

● ● ● ● ●

Sekundärprävention





Tertiärprävention

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gesundheitsförderliches Verhalten in der Schwangerschaft Ernährungsberatung, Folsäurezufuhr Vermeidung von Suchtmitteln ganzheitliche Geburtsvorbereitung Ausstattungsberatung und Säuglingspflegekurse, Stillvorbereitung Beratung und Begleitung von Schwangeren mit Schwangerschaftskomplikationen, Ernährungsberatung bei Schwangerschaftsdiabetes, Gestose Beratung und stationäre Pflege von Frauen mit vorzeitiger Wehentätigkeit



frühzeitige Kontaktaufnahme, Beratung und Begleitung von Familien, die eine Geburtskomplikation, eine Frühgeburt, ein behindertes Kind oder eine Fehlgeburt erwarten



Unterstützung des Bondings Stillberatung, ggf. Beratung zur Auswahl und Herstellung industrieller Säuglingsflaschennahrung Anleitung zur Säuglingspflege SIDS-Prävention (S. 426), Unfallverhütung und Allergieprävention Erkennen der Feinzeichen des Hungers, des Unbehagens und der Erschöpfung Impfberatung Assistenz und Beratungsleistung bei Vorsorgeuntersuchungen Information z. B. über Vitamin-K-, -D- und Fluoridprophylaxe

bei Säuglingen und Kleinkindern Primärprävention

● ● ● ● ● ● ●

Sekundärprävention

● ● ●

Tertiärprävention

● ● ●

Beobachtung von Auffälligkeiten Einleiten geeigneter Erstmaßnahmen bei familiären Problemen und Gesundheitsstörungen Hilfestellung im Zusammenhang mit Schwierigkeiten beim Stillen, bei der Nahrungsaufnahme oder der Selbstregulation ganzheitliche Begleitung von Eltern frühgeborener oder kranker Kinder Schulung im Umgang mit Frühgeburt, Krankheit oder Behinderung Einweisung in längerfristig notwendige Pflegemaßnahmen

im Kindergarten- und Schulalter Primärprävention

● ● ● ● ● ● ● ●

Sekundärprävention





● ●

Tertiärprävention



● ●

Bewegungsförderung, Sinnesschule spielerische Schulung des Ernährungsverhaltens und der Zahngesundheit Kontrolle des hygienischen Verhaltens Unfallverhütung, Erlernen des korrekten Verhaltens im Straßenverkehr Entspannungsübungen Sucht- und Missbrauchsprävention Gestaltung von Elternabenden und Schulung des pädagogischen Personals über Gesundheitsthemen ggf. Beratung der Einrichtungen zur ganzheitlichen Gestaltung unter gesundheitsförderlichen Gesichtspunkten Information über geeignete Maßnahmen bei aufgetretenen Erkrankungen, z. B. Infektionskrankheiten, Läusen usw. gezielte Angebote für besondere Zielgruppen, z. B. Sport- und Ernährungsschulung für übergewichtige Kinder, Entspannungsübungen für Kinder mit ADHS Begleitung und integrative Betreuung chronisch kranker Kinder im Unterricht Erste-Hilfe-Maßnahmen durch die sog. School Nurse, soweit vorhanden (school nurses = Schulgesundheitsund Kinderkrankenpflegefachkräfte, sind in anderen europäischen Ländern bereits als gesundheitspflegerisches Personal in Schulen etabliert) Schulungsprogramme für Kinder mit chronischen Krankheiten: Diabetesschulung, Asthmaschulung, Neurodermitisschulung Schulung im Selbstkatheterismus für Kinder mit Spina bifida Schulbegleitung, -assistenz zur Integration oder Inklusion chronisch kranker oder behinderter Kinder in den Schulalltag

5

Gesundheits- und Kinderkrankenpflege

Tab. 5.2 Inner- und außerklinische Arbeitsfelder der Prävention. innerklinisch ● ● ● ● ●

außerklinisch

in tägliche Pflegemaßnahmen integrierte Beratung gezielte und geplante Anleitungs- und Beratungssituation auf Station Schulung in besonderen Zentren und Fachambulanzen angegliederte Elternschulen Sprechzimmer und Sprechzeiten für Elternberatungsfachleute (Stillberater/-innen, Präventionsassistenten/-assistentinnen, Überleitungsund Nachsorgepflegekräfte, Diabetesberater/-innen usw.)

● ● ● ● ●

● ●

Arztpraxen, Hebammenpraxen oder therapeutische Zentren Beratungszentren, Jugend- oder Gesundheitsämter eigene Beratungspraxis, selbstständige Elternschule Familienzentren, Bildungsstätten Dorfgemeinschaftshäuser, Kirchengemeinden, Begegnungszentren als Anbieter für Elternabende, Eltern-Kind-Gruppen, Kinder- und Jugendarbeit Kindergärten, Schulen, Betreuungseinrichtungen aufsuchende Beratung, „Frühe-Hilfen-Projekte“

stellungen im Familienleben. Die erweiterte Vorbereitung auf das Familienleben mit Informationen über ein gelingendes Bonding, die Grundlagen der intakten Eltern-Kind-Beziehung sowie die Stärkung von Familienkompetenzen und Konfliktlösungsmanagement kann gar nicht früh genug ansetzen.

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Abb. 5.5 Elternschule. a Allergieprävention: öffentliche Kampagne mit Plakaten, (Foto: P. Blåfield, Thieme) b individuelle Beratung in der Elternschule. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Lebenssituationen beratend zur Seite zu stehen. Weiterbildungen für die Stillberatung, Geburtsvorbereitung und Familienbegleitung, Eltern-Kind-Gruppenleitung, Präventionsassistenz, Familiengesundheits- und Kinderkrankenpflege, Familiengesundheitspflege, Gesundheitsberatung und fachspezifische Weiterbildungen zu verschiedenen Beratungsthemen der präventiven Kinderkrankenpflege vermitteln darüber hinaus Methodik und Didaktik für gezielte Präventionsschwerpunkte.

Information, Beratung, Begleitung und Anleitung von Familien rund um die Geburt ihres Kindes Auf Entbindungsabteilungen, in an Kliniken angeschlossenen Elternschulen, freien Bildungseinrichtungen, Familienzentren sowie Hebammen-, Still- und Beratungspraxen geht die präventive Beratung durch Pflegefachkräfte in der ganzheitlichen Geburtsvorbereitung längst über die Vermittlung der sog. Säuglingspflege hinaus. Gemeinsam mit Hebammen beraten sie über gesundheitsförderndes Verhalten in der Schwangerschaft, besonders Ernährungsrichtlinien und Suchtmittelabstinenz, die Bedeutung der Allergieprävention (▶ Abb. 5.5) sowie die Wichtigkeit und die Grundlagen des Stillens. Sie helfen bei der Ausstattungsberatung und erläutern Eltern die Unterschiede notwendiger und wichtiger Ausstattungsgegenstände

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und möglicherweise unnötiger oder übertriebener, durch Werbung angepriesener Konsumartikel. Bei der Ausstattungsberatung wird im Hinblick auf die Kindergesundheit großer Wert auf Sicherheit und Ökologie gelegt. Bei der Beratung über Kinderzimmer und Babybett werden die Empfehlung zur SIDS-Prävention (S. 425) berücksichtigt.

Lernaufgabe

M ●

Befragen Sie Familien, welche Fragestellungen sich für sie in der Familiengründungsphase ergeben haben, wer sie hierbei unterstützt hat und welche Unterstützung ihnen gefehlt hat. Überlegen Sie, welche Rolle Ihre Berufsgruppe hierbei einnehmen kann.

Aufgrund der Tatsache, dass heutzutage viele junge Eltern mit ihrer eigenen Familiengründung erstmalig mit den Bedürfnissen von Säuglingen konfrontiert werden, beinhalten die Beratungen die Grundlagen über die Grundbedürfnisse eines Babys im Hinblick auf Geborgenheit und Interaktion sowie auf möglicherweise auftretende Belastungen im Leben mit dem Baby. Der beruhigende Umgang mit schreienden Säuglingen und der Umgang mit negativen Gefühlen werden ebenso thematisiert wie das Eingehen auf einzelne Entwicklungsmeilensteine des Babys und damit verbundenen neuerlichen Um-

Information, Beratung, Begleitung und Anleitung von Familien mit Säuglingen und Kleinkindern Sobald das Kind geboren ist, werden die Fragen der Familien konkreter. Fragen zum Stillen, zu Ernährung und Beikost sowie zum Schlaf- und Schreiverhalten sind zentrale Inhalte der Beratung. Ein kontinuierliches, niedrigschwelliges Beratungsangebot in Stillgruppen, Elterncafés, fortlaufenden Eltern-Kind-Gruppenangeboten oder offenen Treffs, die Entbindungskliniken, Bildungsstätten oder Beratungspraxen angeschlossen sind, gewährleistet das Eingehen auf viele Fragen, die sich im Laufe der Entwicklung erst ergeben.

Fallbeispiel

I ●

Frau S. besucht mit ihrem 6 Monate alten Säugling Markus das Stillcafé der Elternschule. Bislang wurde Markus voll gestillt, nun steht die Umstellung auf Beikost an. Die Mutter möchte die Breie für ihren Sohn selbst zubereiten. Da Markus unter Verstopfung leidet, will die Mutter auf Karotten verzichten. Frau Gerber, die Pflegefachkraft und Stillberaterin, nennt ihr bekömmliche Gemüsesorten und erklärt ihr die Zubereitung. Sie erläutert geeignete Getränke in der Beikostphase und zeigt der Mutter eine hilfreiche Bauchmassage gegen die Obstipation. In den folgenden Wochen wird sie in der Stillgruppe über weitere geeignete Nahrungsmittel beraten. Die kontinuierliche Beratungsmöglichkeit nimmt die Mutter dankend an.

5.2 Gesundheitsförderung und Prävention im Kindesalter In anderen europäischen Ländern ist die präventive Elternberatung in Gesundheits- und Familienzentren angegliedert, fundiert und strukturiert. Sie wird von den Familien als hilfreich angesehen und gut angenommen. Auch in Deutschland gab es in den 1960er-Jahren ein System der sog. Mütterberatung, das über die Gesundheitsämter organisiert war und in regelmäßigen Abständen in den einzelnen Gemeinden Beratungssprechstunden hielt. Leider hat sich das System nur noch in wenigen Landkreisen aufrechterhalten lassen, in den anderen Regionen sollten die ärztlichen Vorsorgeuntersuchungen diese ersetzen. Eine aufsuchende Familienhilfe durch Familienhebammen, Familiengesundheits- und Kinderkrankenpfleger/-innen und pädagogisches Fachpersonal wird i. d. R. über die Jugendämter installiert und erreicht insbesondere auch Familien, die für andere Bildungsangebote schwer zu erreichen sind. Die aufsuchende Familienhilfe in den ersten Lebenswochen ist für Familien aller sozialen Schichten und Bildungsniveaus wünschenswert, jedoch entwickeln sich viele Fragen und Probleme verstärkt im 2. Lebenshalbjahr. Diese gehen dann über die flächendeckend finanzierte Hebammenhilfe hinaus, da die Fragen zur Entwicklung älterer Säuglinge und auftretende Gesundheitsstörungen, wie Entwicklungsdefizite, Unverträglichkeiten und Allergien, gehäufte Infekte und sonstige Gesundheitsprobleme ein fundiertes Wissen in der Beobachtung und Einschätzung auch größerer Säuglinge und Kleinkinder bedarf. Diese Fragen der jungen Familien werden i. d. R. bei den Vorsorgeuntersuchungen (sog. Us) gestellt (▶ Abb. 5.6). Präventionsassistenten und -assistentinnen übernehmen in manchen Kinderarztpraxen den Beratungsanteil. Die Beratung in dieser Lebensphase beinhaltet Aufklärung über folgende Themen: ● Stillen, Stillprobleme und deren Behebung











● ●



● ●





Ernährung des Säuglings, Auswahl und Zubereitung von Flaschennahrung bei Bedarf, Zubereitung bzw. Auswahl der Beikost, Umgang mit besonderen Kostformen, Unverträglichkeiten und Allergien Passivrauchvermeidung und Allergieprävention Hautpflege, Umgang mit Auffälligkeiten und Störungen der Hautfunktion, Sonnenschutzberatung Schlaf- und Schreiverhalten, Auswahl und Gestaltung des Schlafplatzes, Unterstützung des Säuglings bei Regulationsstörungen Kindersicherheit und Unfallverhütung, häusliche Sicherheitsmaßnahmen und Beobachtungskriterien, Auswahl und Einsatz z. B. von Transporthilfsmitteln, Tragehilfen, Kinderwagen, Autokindersitzen sinnvolle Hygienemaßnahmen Zahngesundheit (z. B. Fluoridprophylaxe, Zahnpflege, Vermeiden von gesüßten Getränken in Nuckelflaschen, Einsatz des Beruhigungssaugers) Entwicklungsunterstützung (z. B. durch geeignetes Spielzeug, Bewegungsmöglichkeiten, Kommunikation und Beschäftigung) Impfberatung Beratung und Unterstützung bei der Beobachtung der kindlichen Entwicklung und Gesundheit, Einschätzung von Gesundheitsstörungen Schulung in Erster Hilfe bei Kindernotfällen Verweisen auf Beratungsstellen (z. B. bei postpartalen Depressionen, Familienkonflikten, Geldmangel, Betreuungsbedarf)

Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerinnen sind aufgrund ihrer Ausbildung und Erfahrungen, die sie mit gesunden und kranken Kindern machen, geeignet, sich auf den Beratungsbedarf der Eltern einzustellen und ihnen in unterschiedlichen Einrichtungen und Setting-Ansätzen Hilfestellung zu geben. Leider sind die gesetzlichen (und damit finanziellen) Grundlagen für diese Beratungstätigkeiten in Deutschland derzeit noch unbefriedigend geregelt.

Gesundheitsförderung in Kindergarten und Schule

Abb. 5.6 Vorsorgeuntersuchung beim Neugeborenen (Symbolbild). (Foto: Bernd Libbach – stock.adobe.com)

Die pädagogische Arbeit in Kinderkrippen, -gärten, -tagesstätten und Schulen wird den veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nur dann gerecht, wenn auch sie gesundheitsbewusstes Verhalten ermöglicht und vermittelt. Hierzu gehören hygienebewusstes Verhalten, Ernährungsverhalten, Bewegungsverhalten, Unfallverhütung, aber auch Konfliktlö-

sungsverhalten, Entspannungsübungen, Sinnesschulungen und die Stärkung der kindlichen Persönlichkeit zur frühkindlichen Sucht-, Gewalt- und Missbrauchsprävention. Die Präventivmaßnahmen in diesen Setting-Ansätzen können jedoch nur in engem Dialog mit den Eltern und ggf. mit gleichzeitiger Schulung derselben gelingen. Programme, die die Eltern miteinbeziehen, z. B. das Elternschulprogramm der Landesgesundheitszentrale von Rheinland-Pfalz oder das bundesweite Suchtpräventionsprogramm „Klasse2000“ (www.klasse2000.de) haben große Chancen auf Erfolg. Unter den Gesundheitsförderern, die dieses Projekt begleiten, befinden sich auch Pflegefachkräfte. Ebenso steigt die Nachfrage an Gesundheitsförderungseinheiten in den Angeboten der Ganztagsschulen. Gesundheitsund Kinderkrankenpflegefachkräfte werden hier in folgende Themenbereiche integriert: Sie informieren nicht nur kindgemäß über Anatomie, Physiologie und Gesunderhaltung des Körpers, sondern trainieren mit den Schulkindern auch Erste-Hilfe-Maßnahmen oder Säuglingspflege. Zusätzlich leiten in Entspannungspädagogik geschulte Pflegefachkräfte in den Ruhepausen Angebote zur Stressreduktion.

Fallbeispiel

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I ●

Die Pflegefachkraft Gabriele H. arbeitet auf Honorarbasis an einer süddeutschen Ganztagsgrundschule. Ihr Tätigkeitsfeld beinhaltet die Unterstützung des Sachkundeunterrichtes des 3. Schuljahres, in dem kindgerecht der Bau des menschlichen Körpers sowie dessen Gesunderhaltung unterrichtet werden. Hierbei ist ihr die Ernährung der Kinder ein besonderes Anliegen, da viele Kinder keine gesunden Pausenbrote kennen. Anhand der Ernährungspyramide der Deutschen Gesellschaft für Ernährung erarbeitet sie mit den Kindern spielerisch einen Nahrungsplan. Das gemeinsame Zubereiten von Obstsalaten, das Kochen von Gemüsesuppen und das Backen von Brot macht die Einheiten anschaulich. Damit alles keine graue Theorie bleibt, hat sie auch auf den Speiseplan der Mensa Einfluss genommen und die Eltern ihrer Schüler bei einem Elternabend informiert. An zwei Nachmittagen in der Woche bietet Frau H. Erste-Hilfe-AGs an, in der die Schüler den korrekten Notruf, Verbände, Positionierung bei Verletzungen und vieles mehr lernen. Derzeit macht sie eine Weiterbildung zur Entspannungspädagogin, weil sie einen Bedarf für ein Entspannungsangebot in der Mittagspause der Schule sieht.

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Gesundheits- und Kinderkrankenpflege Es reicht sicherlich nicht, die Gesundheitsförderung zu einem Unterrichtsfach von vielen zu machen, die gesamte Struktur der Schule sollte unter folgendem Aspekt betrachtet werden: Wie muss die Einrichtung beschaffen sein, damit Kinder hier gesund heranwachsen können? Das Projekt „Gute und gesunde Schule“ – das 2004 in Nordrhein-Westfalen vorgestellt wurde und mittlerweile auch in anderen Bundesländern Beachtung findet – zeigt, dass Gesundheitsförderung, integriert in alle Fächer, ja in die bauliche und zeitliche Gestaltung der Schule Einzug halten muss. Wenn der Schulhof zur Bewegung einlädt und die Schulkantine frisches, gesundes Essen reicht, bleibt die Gesundheitsförderung nicht nur Theorie. In anderen europäischen Ländern gibt es sog. School Nurses, die neben relevanten Unterrichtseinheiten auch geeignete Ansprechpartner für Erste-Hilfe-Maßnahmen bei akuten Zwischenfällen sind und Schüler mit chronischen Gesundheitsproblemen unterstützen. Im Kindergarten- und Schulalter zeigt sich bereits, wo die Primärprävention versagt hat. Angebote zur Ernährungsberatung, Prävention von Adipositas, Bewegungsförderung, Körperhygiene und Zahnprophylaxe werden oft zu sekundärpräventiven Maßnahmen für Kinder, die erste Beeinträchtigungen zeigen (▶ Abb. 5.7). Da gerade diese Familien oft schwer erreicht werden, sind die Institutionen Kindergärten und Grundschulen der Setting-Ansatz mancher Präventivprogramme. Schon der 13. Kinder- und Jugendbericht aus dem Jahr 2009, noch stärker hingegen der 14. aus dem Jahr 2013, fordert eine engere, gleichsinnige Verknüpfung der Bildungssysteme mit den Systemen von Jugend- und Gesundheitshilfe. Gerade in Hinblick auf die geforderte Inklusion von chronisch kranken und behinderten Kindern in den allgemeinbildenden Schulen kann der Einsatz einer School Nurse nützlich sein, um den gesundheitlichen Erfordernissen der Schüler angemessen zu begegnen. Ein weiteres Arbeitsfeld für Gesundheits- und Kinderkrankenpflegefachkräfte in dieser Altersstufe bietet daher die Arbeit als Integrations- oder Inklusionsfachkraft, die behinderten Kindern mit ständigem Hilfebedarf den Besuch eines Regelkindergartens oder der Schule ermöglicht (▶ Abb. 5.8). In der Altersgruppe Kindergarten- und Schulalter gibt es viele weitere Arbeitsfelder der Tertiärprävention für Gesundheits- und Kinderkrankenpflegekräfte in Kliniken, Praxen oder in Rehabilitationseinrichtungen bei Schulungs- und Disease-Management-Programmen (S. 55). Das Kompetenznetz Patientenschulung (KomPaS) bietet modulare Schulungs-

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Abb. 5.7 Balance halten. Das Gleichgewicht zu halten ist nicht immer leicht und muss geübt werden (Symbolbild). (Foto: dglimages – stock.adobe.com)

Abb. 5.8 Inklusion (Symbolbild). (Foto: dglimages – stock.adobe.com)

module, sog. ModuS-Schulungen für unterschiedliche pädiatrische Krankheitsbilder, z. B. Asthma bronchiale, chronisch entzündliche Darmerkrankungen, Diabetes, Harninkontinenz, Mukoviszidose, Nephrotisches Syndrom, Niereninsuffizienz, chronische somatoforme Bauchschmerzen, Phenylketonurie (PKU), primäre Immundefekte. Weitere Schulungsprogramme existieren zu ADHS, Adipositas, Anaphylaxie, Epilepsie, Hämophilie, Neurodermitis, Psoriasis, rheumatischen Erkrankungen, Schmerzen, Selbstkatheterismus, z. B. bei Spina bifida, oder Transition (Übergang mit einer pädiatrischen Krankheit in die Erwachsenenmedizin). Außerdem gibt es Schulungen sowohl für die Angehörigen als auch für das pädagogische Personal in Schulen und Kitas, in denen der korrekte Umgang mit dem erkrankten Kind vermittelt wird.

Gesundheitsförderung in Adoleszenz und Erwachsenenalter Präventionsprogramme für das Jugendund Erwachsenenalter setzen die Schwerpunkte Sucht- und Gewaltprävention, gesunde Freizeitgestaltung, Essverhalten, Bewegungsverhalten und Stressbewältigung fort.

Ein wichtiger Präventionsaspekt im Jugendalter besteht auch in der Sexualerziehung zur Vorbeugung sexuell übertragbarer Krankheiten, sexualisierter Gewalt und Teenagerschwangerschaften. Professionell geschulte Mitarbeiter örtlicher Beratungsstellen arbeiten eng mit den Schulen zusammen und bieten häufig auch offene Beratung für verschiedene Aspekte des Sexuallebens. Da die Pubertät heute immer früher einsetzt, arbeiten bereits Grundschulen in Aufklärungseinheiten mit Pflegefachkräften und Hebammen zusammen mit den noch recht jungen Jugendlichen an der Thematik körperlicher Veränderungen in der Pubertät und informieren über die Entwicklung eines Babys in der Schwangerschaft. Hiermit erreichen sie eine Verbindung zur allgemeinen vorgeburtlichen Aufklärung. Informationen, Fragestunden und Themenabende für Rat suchende Eltern runden das Angebot ab. Für junge Mädchen gibt es gesonderte Angebote, wie Teenagersprechstunden bei niedergelassenen Frauenärzten.

Betriebliche Gesundheitsförderung Die Gesundheitsgefährdung in Pflegeberufen ist sehr hoch. Beispiele hierfür sind: ● Infektionen ● physische und psychische Belastungen ● Schichtdienst ● hohe Verantwortung Zu den Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung gehören Infektionsschutz und Arbeitssicherheit, rückenschonendes Arbeiten sowie Ausgleichssport. Idealerweise koordiniert die betriebsärztliche Abteilung nicht nur die Reihenuntersuchungen der Mitarbeiter, sondern bietet auch gezielte Programme zu Stressmanagement, Mobbingbekämpfung, Prävention sexualisierter Übergriffe und ein Hilfsangebot zum Umgang mit psychisch belastenden Situationen am Arbeitsplatz sowie Beratungsangebote für Belastungen außerhalb des Arbeitsplatzes, die die Arbeitssicherheit gefährden können, wie Suchtgefährdung oder Suchtverhalten. Bedingt durch die historische Entwicklung des Krankenpflegeberufes, dem immer noch die Bereitschaft zum Dienen und Helfen zugeschrieben wird, kommt es besonders hier zum Phänomen des sog. Helfer-Syndroms, bei dem das Helfen zum Selbstzweck wird und der Helfer sein Selbstbewusstsein allein aus der Tätigkeit für andere zieht. Diese altruistische Grundeinstellung ist wiederum der Nährboden des „Burn-out“-Syndroms, übersetzt „Ausgebranntheit“ (S. 114).

5.2 Gesundheitsförderung und Prävention im Kindesalter

Abb. 5.9 Beratungsgespräch. Auch Eltern gesunder Kinder müssen über den Bereich Gesunderhaltung beraten werden. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

5.2.6 Zusammenarbeit im interdisziplinären Team Bei der präventiven Arbeit erstreckt sich die interdisziplinäre Zusammenarbeit – anders als bei der Arbeit mit kranken Kindern – auf Berufsgruppen, die üblicherweise mit gesunden Kindern zu tun haben (z. B. Hebammen, Erzieherinnen, [Sozial-] Pädagogen). Die Eltern sind Teil des präventiven Teams. Ärzte unterstützen und initiieren die Beratungstätigkeiten (▶ Abb. 5.9). Bei Tätigkeiten außerhalb der Klinik werden Kontakte zu Behörden, Gesundheitseinrichtungen oder Krankenkassen gepflegt. Einrichtungsleiter und andere Mitarbeiter werden wichtige Ansprechpartner, um die räumlichen, zeitlichen und finanziellen Voraussetzungen für eine Beratungstätigkeit zu schaffen.

Praxistipp Pflege

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Bei der Sekundärprävention ergeben sich Kontakte, Zusammenarbeit und Abgrenzungen zu Ernährungsberatern und Therapeuten, die mit Kindern zu tun haben, z. B. Ergotherapeuten, Krankengymnasten, Logopäden. In der Arbeit mit sozial benachteiligten Kindern ist ein Team aus Sozial- und Heilpädagogen sowie Vertretern des Jugendamts unumgänglich.

5.2.7 Belastungen und Bewältigungsstrategien Die Präventivarbeit ist zumeist ein befriedigendes und positives Arbeitsfeld, da es weniger mit psychisch belastenden Grenzsituationen und unbefriedigenden Verläufen zu tun hat. Konflikte ergeben sich manchmal in der Arbeit mit wenig aufgeschlossenen Klienten, bei der Arbeit mit sozial benachteiligten oder aus ande-

ren Ursachen problembeladenen Familien. Hier wird eine Beratungsperson schnell in Gesprächssituationen verwickelt, in denen sie den Bedarf der Familie an Unterstützung durch psychologisch oder familientherapeutisch geschulte Fachleute erkennt, es aber schwierig sein kann, den Familien genau dieses nahezubringen. Da die Pflegefachkraft i. d. R. in den Beratungssituationen nicht im Team arbeitet, möglicherweise komplett freiberuflich ohne Teamhintergrund, ist sie bei der Bewältigung von Konfliktsituationen auf sich gestellt. Da der Wert und die Leistung präventiver Maßnahmen schwer messbar oder vorzeigbar sind, fällt es den präventiv tätigen Pflegefachkräften manchmal schwer, die Erfolge ihrer Tätigkeit darzustellen. Die Schwierigkeiten der Finanzierung der präventiven Tätigkeiten spiegeln die fehlende Wertschätzung in der Gesellschaft wider. Das gilt umso stärker für freiberuflich außerklinisch tätige Pflegefachkräfte. Während andere Berufsgruppen, wie z. B. Hebammen, mit Krankenkassen problemlos abrechnen können, ist dies für Gesundheits- und Kinderkrankenpflegepersonal in Deutschland noch ausgesprochen problematisch. Honorarkräfte in Schulen und Bildungsstätten erhalten nicht selten einen Stundensatz, der weit unterhalb dem des tariflichen Stundenlohnes für Gesundheits- und Krankenpflegefachkräfte in den Kliniken liegt. Die Jugendämter geben bei der aufsuchenden Familienhilfe häufig immer noch dem pädagogischen Fachpersonal den Vorzug, selbst dann, wenn es sich um Familien mit Säuglingen mit Ernährungs-, Ess- und Gedeihstörungen handelt. Hier wird deutlich, dass sich die Berufsgruppe der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege noch stärker in diesem Tätigkeitsfeld behaupten muss.

5.2.8 Gesetzliche Grundlagen Die neue Berufsbezeichnung Gesundheitsund Kinderkrankenpfleger/-in zeigt, dass diese Berufsgruppe in Zukunft stärker präventiv tätig sein will und muss. In § 3 Krankenpflegegesetz von 2003 heißt es: „Die Pflege [...] ist dabei, sich unter Einbeziehung präventiver, rehabilitativer und palliativer Maßnahmen, auf die Wiedererlangung, Verbesserung, Erhaltung und Förderung der physischen und psychischen Gesundheit der zu pflegenden Menschen auszurichten.“ Im Artikel 24 der UN-Kinderkonvention heißt es: „Die Vertragsstaaten erkennen das Recht des Kindes auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit an“ und verständigen sich auf Maßnahmen, um „si-

cherzustellen, dass allen Teilen der Gesellschaft, insbesondere Eltern und Kindern, Grundkenntnisse über die Gesundheit und Ernährung des Kindes, die Vorteile des Stillens, die Hygiene und die Sauberhaltung der Umwelt sowie die Unfallverhütung vermittelt werden“. Dennoch ist es in Deutschland im Einzelfall schwierig, diese Maßnahmen wirklich allen Bevölkerungsschichten in gleichem Maße zu ermöglichen. Die Krankenkassen finanzieren die empfohlenen Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen und haben ihre Zuständigkeiten in der Primärprävention in dem sog. Präventivleitfaden nach § 20 SGB V festgelegt. Sie unterstützen Maßnahmen der Ernährungsberatung, Bewegungsförderung, Stressbewältigung, Suchtprävention und betrieblichen Gesundheitsförderung sowie einige Setting-Ansätze, z. B. die gesundheitsfördernde Schule. Allerdings ist das Berufsbild der Gesundheitsund Kinderkrankenpfleger in diesem Leitfaden nicht explizit aufgeführt, sodass die Kostenübernahme einer Beratungsleistung, z. B. einer Stillberatung durch eine Gesundheits- und Kinderkrankenpflegefachkraft und zertifizierte Stillberaterin, im Einzelfall Verhandlungssache ist und in den meisten Fällen nicht erfolgt. Der flächendeckende Ausbau der sog. Frühen Hilfen im Rahmen des Bundeskinderschutzgesetzes seit 2012 hat für Familien-Gesundheits- und Kinderkrankenschwestern (FGKiKP) die Möglichkeit der Finanzierung einer aufsuchenden Beratung im sekundärpräventiven Bereich eröffnet. Manche Gemeinden bezuschussen die präventive Gesundheits- und Kinderkrankenpflege nach § 16 des KJHG (Kinder- und Jugendhilfegesetz) Förderung der Erziehung in der Familie, § 27 KJHG Hilfe zur Erziehung und § 35 a KJHG Eingliederungshilfe, die besagen, dass Kinder vor „drohenden“ Schädigungen zu schützen sind. Auf internationaler Ebene dient die „Ottawa Charta“ der WHO als Grundlage aller Diskussionen zur Gesundheitsförderung. Im Jahr 1986 fand in Ottawa die erste Gesundheitsförderungskonferenz statt, die das Umdenken im Gesundheitswesen von der Krankheits- zur Gesundheitsorientierung postulierte.

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5.2.9 Qualitätssichernde Maßnahmen Die Qualität von präventiven Maßnahmen ist nur schwer zu messen. Vereinzelte Präventionsprogramme der frühkindlichen Pädagogik, in denen auch Pflegefachkräfte eingesetzt werden, sind mittlerweile evaluiert. Verschiedene zertifizierte Weiterbildungen im Beratungsbereich dienen

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Gesundheits- und Kinderkrankenpflege dazu, die spezifischen Qualifikationen zu verbessern. Weiterbildungsmöglichkeiten bestehen in anerkannten Studiengängen zu Public Health, Gesundheitswissenschaften und Familiengesundheitspflege, Zertifikatskursen, z. B. zu Familiengesundheits- und Kinderkrankenpflege, Stillund Ernährungsberatung, Familienbegleitung, Entspannungs- oder Bewegungspädagogen, Gesundheitsberatern, Gesundheitspädagogen. Erkennbar wird, wenn die Prävention versagt hat. Vergleichende Studien können aufzeigen, unter welchen Bedingungen die Prävention gelingt, d. h. ein Mensch die wenigsten Gesundheitsstörungen entwickelt.

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Praxistipp Pflege

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So ist es sinnvoll, präventive Maßnahmen in Gesundheitseinrichtungen mit Maßnahmen der Evaluation (z. B. Klientenbefragung vor und nach der Beratung, Vergleichsgruppenbeobachtung) zu begleiten und damit ihre Effizienz und Notwendigkeit zu belegen. Hier bieten sich Arbeitsfelder für Gesundheits- und Pflegewissenschaftler mit dem Ziel einer deutlichen Verbesserung der Gesamtgesundheit der Bevölkerung.

5.3 Pädiatrische Gesundheitseinrichtungen Ursula Junker Das zentrale Einsatzgebiet von Gesundheits- und Kinderkrankenpflegefachkräften befindet sich in pädiatrischen Gesundheitseinrichtungen, hierzu gehören: ● stationäre Einrichtungen ● Ambulanzen und Tageskliniken ● präventive, rehabilitative und palliative Einrichtungen Die Inhalte der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege haben sich im geschichtlichen Kontext stark verändert, vgl. Kap. Historische Entwicklung der Kinderkrankenpflege (S. 34). Prägte früher die Infektionsvermeidung in den pädiatrischen Abteilungen pflegerisches Handeln und bauliche Gestaltung, so kristallisieren sich heute zusätzlich neue Schwerpunkte heraus: ● Beraten, Anleiten und Begleiten der Eltern ● ganzheitliche Beobachtung des Kindes ● Organisation und Dokumentation ● Arbeiten und Koordinieren im interdisziplinären Team

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Weitere Berufsgruppen haben Einzug in die Kinderkliniken gehalten. Neben dem eher somatisch orientierten Wissen der Mediziner erweitern Psychologen, Pädagogen, Sozialarbeiter und Vertreter anderer therapeutischer Berufe die Versorgungsmöglichkeiten der Kinder. Vielerlei Entwicklungen (auch gesellschaftliche) und sich zunehmend erweiternde Möglichkeiten der Medizin verändern ständig das Feld der stationären Betreuung. So stellt die Kinderklinik nicht nur einen Ort dar, wo kranke Kinder genesen und diesen als geheilt verlassen. Die Kinderklinik ist häufig Drehscheibe zwischen stationärer und ambulanter Versorgung der Kinder oder sie ist Zwischenstation zur Versorgung chronisch kranker oder behinderter Kinder, die dann von den Eltern zu Hause, z. T. mit ambulanter Unterstützung, versorgt werden. Die Kinderklinik ist somit auch ein Ort, wo Angehörige lernen, mit der Krankheit oder Behinderung des eigenen Kindes umzugehen. Und nicht selten werden in solchen Konstellationen die Eltern zu „Pflegeexperten“.

5.3.1 Stationäre pädiatrische Einrichtungen Definition

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Unter stationären oder teilstationären Einrichtungen werden größere Institutionen des Gesundheitswesens erfasst, in denen alle notwendigen Vorrichtungen zur ganztägigen Pflege, Versorgung und medizinischen Betreuung gegeben sind.

„Stationär“ bedeutet die Bindung an einen Standort. Die stationäre Gesundheits- und Kinderkrankenpflege ist i. d. R. an Kinderkliniken oder Kinderfachabteilungen angebunden. In strukturschwachen Gebieten ohne Kinderkliniken oder in spezialisierten Fachkliniken kann es vorkommen, dass auf altersgemischten Stationen spezielle „Kinderzimmer“ eingerichtet sind oder die Kinder gar in der nicht kindgemäßen Atmosphäre der Erwachsenenmedizin betreut werden müssen.

Praxistipp Pflege

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Das dichte Netz der Kinderkliniken bzw. Kinderfachabteilungen in Deutschland findet sich bei der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (www.dgkj.de).

Die Vorhaltung stationärer Einrichtungen wird im Krankenhausgesetz der jeweiligen Länder geregelt. So heißt es z. B. im Bayerischen Krankenhausgesetz in Art. 1: „Ziel dieses Gesetzes ist eine bedarfsgerechte stationäre Versorgung der Bevölkerung im Freistaat Bayern durch ein funktional abgestuftes und effizient strukturiertes Netz einander ergänzender Krankenhäuser freigemeinnütziger, privater und öffentlich-rechtlicher Träger. Dies soll auf der Grundlage der Krankenhausplanung durch die Förderung eigenverantwortlich wirtschaftender, leistungsfähiger Krankenhäuser erreicht werden.“ Das Krankenhausgesetz legt eine „bedarfsgerechte stationäre Versorgung der Bevölkerung durch [...] einander ergänzender Krankenhäuser“ fest. Hier findet auch die Pädiatrie ihren Platz. Ob die Pädiatrie die Unterstützung und Anerkennung findet, die ihr zustehen müsste, bleibt offen. Im Gesundheitssystem mag sich die Werteordnung unserer Gesellschaft widerspiegeln. Anlässlich der 1. Europäischen Konferenz, später EACH-Konferenz (European Association for Children in Hospital), wurde im Mai 1988 in Leiden/Niederlande die EACH-Charta verabschiedet (▶ Abb. 7.7). Außerhalb von gesetzlichen Regelungen des Gesundheitswesens soll sie für das Recht der Kinder auf eine angemessene Versorgung im Krankenhaus sensibilisieren. Auf der fachlich-medizinischen Ebene stellen sich die Versorgungsstufen anders dar. Neben der akuten medizinischen Versorgung der Kinder wird ein Ort benötigt, wo Medizin und Pflege mit allen vorhandenen Infrastrukturen sinnvoll ausgeübt, entwickelt und praktisch erlernt werden können. Einrichtungen unterschiedlicher Versorgungsstufen unterscheiden sich in ihren Angeboten und Möglichkeiten. Diese reichen von der hoch differenzierten Universitätsklinik bis hin zur kleinen Fachabteilung eines Kreiskrankenhauses. Schwerpunkte stationärer pädiatrischer Einrichtungen sind: ● Akuteinrichtungen ● Langzeiteinrichtungen Hier werden Kinder sowohl stationär als auch ambulant versorgt, und zwar: ● präventiv ● kurativ ● rehabilitativ ● palliativ Mit diesen Versorgungseinheiten sind die Einsatzmöglichkeiten und Aufgaben der Pflegefachkraft im Krankenpflegegesetz (KrPflG, in der Fassung vom 16. Juli 2003) definiert. Hier wird erstmals die Berufsbezeichnung „Gesundheits- und Kinder-

5.3 Pädiatrische Gesundheitseinrichtungen krankenpfleger und -pflegerin“ eingesetzt. In der Akutklinik steht die kurative, d. h. die primär therapeutisch versorgende Medizin im Vordergrund. Die Kinder werden sowohl stationär als auch ambulant betreut und behandelt. Die Versorgung gilt für alle Kinder und Jugendlichen von der Geburt bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres. Ist eine Kinderklinik baulich einer Entbindungsklinik angeschlossen, kann ein Perinatalzentrum gebildet werden. Hier werden Mutter und Kind vor und nach der Geburt versorgt. Präventiv können frühzeitig Störungen in der Schwangerschaft erkannt und behandelt werden. Pädiatrisches und geburtshilfliches Fachpersonal arbeiten Hand in Hand. Insbesondere bei einer Frühgeburt stehen Geburtshelfer, Pädiater, Hebamme und Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin für Mutter und Kind bereit. Das Kind kann, ohne dass weite Wege zurückgelegt werden müssen, auf der FrühgeborenenIntensivstation versorgt werden. Die Mutter kann ihr Kind besuchen und betreuen. Das gilt auch für reife Neugeborene, die wegen einer Anpassungsstörung oder einer anderen Indikation auf einer neonatologischen Station betreut werden müssen. Auf der geburtshilflichen Station können Mutter und Kind in einer Versorgungseinheit beieinanderbleiben. Auf der Frühgeborenen-Intensivstation werden häufig neben den Einheiten für Frühgeborene Intensivplätze für Kinder aller Altersstufen bereitgehalten. Je nach Konzept des Hauses sind die Stationen nach Fachabteilungen und/oder Altersstufen unterteilt (▶ Tab. 5.3). Letzteres hat den Vorteil, dass sich die Mitarbeiter ganz auf die Bedürfnisse der Kinder in einem bestimmten Entwicklungsabschnitt einlassen können. In Kliniken mit besonderen medizinischen Schwerpunkten werden häufig Kinder mit gleichen Gesundheitsstörungen auf einer Station zusammengefasst, sodass Kinder aller Altersstufen auf einer Station versorgt werden. Je nach Klinikschwerpunkten werden pädiatrische, kinderchirurgische, neuropädiatrische, kardiologische, onkologische und weitere Stationen mit einzelnen Fachdisziplinen getrennt geführt.

Kleinere Kinderkliniken bevorzugen häufig interdisziplinäre Stationen, d. h. Kinder mit pädiatrischen und chirurgischen Erkrankungen werden auf einer Station versorgt. Hieraus ergeben sich jeweils unterschiedliche organisatorische Herausforderungen und unterschiedliche Schwerpunkte bei der Qualifikation des pflegerischen Personals. In Hospizeinrichtungen werden Kinder, die an einer unheilbaren, das Leben verkürzenden Krankheit leiden, im Sinne einer Palliativpflege versorgt und begleitet (S. 465).

5.3.2 Ambulanzen, Tageskliniken, Überleitungspflege Neben den Stationen befinden sich in den Kliniken Ambulanzen und Abteilungen für die tagesklinische Betreuung und Nachsorgemöglichkeiten. In die Notfallambulanz kommen Kinder mit akuten Erkrankungen oder nach Unfällen, insbesondere zu Zeiten und in Situationen, an denen die Kinderarztpraxis nicht aufgesucht werden kann. Verschiedene Fachambulanzen stehen Kindern mit chronischen Erkrankungen zur Verfügung, die einer kontinuierlichen Betreuung durch Fachpersonal und regelmäßigen Kontakt zu vertrauten Personen bedürfen. Nicht selten begleiten Personal aus dem medizinischen und pflegerischen Bereich und andere Therapeuten ihre Patienten über mehrere Jahre und erleben diese in entscheidenden Entwicklungsschritten. Die Verknüpfung von stationärer (prä- und poststationärer) und ambulanter Versorgung ist möglich, sodass eine kontinuierliche und Vertrauen fördernde Behandlung gewährleistet wird. In pädiatrischen Fachambulanzen werden neben medizinischen Fachangestellten Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerinnen wegen ihrer speziellen Fachkompetenz eingesetzt. Für aufwendige diagnostische Untersuchungen, therapeutische Maßnahmen oder manche Operationen können Kinder auf eine Station aufgenommen und ohne stationären Aufenthalt am selben Tag entlassen werden. Manche ambulanten Abteilungen sind organisatorisch vom Sta-

tionsbetrieb getrennt. In der Operationsabteilung stehen Vorbereitungsraum, Aufwachraum und Aufenthaltsmöglichkeiten für die Eltern zur Verfügung. Die Kinder werden von Pflegefachkräften vorbereitet und nachbetreut. Die Überleitungspflege erwächst u. a. aus Intensivbetreuungen, wie z. B. auf einer Frühgeborenen- oder einer onkologischen Station, und stellt die Verbindung zur ambulanten Versorgung dar (S. 141). Das Personal (häufig nicht von Station) hilft Eltern und Kindern bei der stationären Nachbetreuung, unterstützt die Eingewöhnungsphase zu Hause oder schafft Stabilität für die Zeit, in der eine stationäre Behandlung nicht mehr nötig ist. Je nach Organisation und Kostenträger stellen diese Strukturen die Schnittstelle zur häuslichen Pflege (S. 114) dar, die von den ambulanten Pflegediensten und Sozialstationen übernommen wird (S. 142).

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5.3.3 Organisation der pflegerischen Versorgung Bei der Organisation der Arbeit der Pflegefachkräfte werden im Wesentlichen 2 Modelle unterschieden, die Bezugs- und die Bereichspflege (S. 56): ● Bereichspflege: Der Pflegefachkraft wird eine bestimmte Patientengruppe, meist in mehreren aneinandergrenzenden Zimmern, zugewiesen. ● Bezugspflege: Der Pflegefachkraft wird eine bestimmte Anzahl von Patienten, evtl. mit ganz bestimmten pflegerischen Fragestellungen, zugewiesen. In beiden Fällen steht die Pflegefachkraft immer in engem Kontakt und Austausch mit der jeweiligen Bezugsperson des Kindes.

5.3.4 Aufgabenschwerpunkte der Gesundheitsund Kinderkrankenpflege Die Berufsgruppe der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege hat innerhalb der Gesundheitseinrichtung i. d. R. den häufigsten und intensivsten Kontakt mit dem Kind und seiner Familie. Zu ihren Aufgaben gehören:

Tab. 5.3 Vergleich der Unterteilung nach Alter und Fachrichtung. Unterteilung nach Altersstufen (häufig in kleineren Häusern)

Unterteilung nach Fachabteilungen (z. B. Pädiatrie, Kinderchirurgie, Neuropädiatrie, Kardiologie, Onkologie)

Vorteil

Bedürfnisse der Kinder in einem bestimmten Entwicklungsabschnitt werden berücksichtigt.

Qualifikation des Personals ist spezialisiert auf die Gesundheitsstörung.

Nachteil

Unterschiedliche organisatorische Herausforderungen und unterschiedliche Schwerpunkte bei der Qualifikation des pflegerischen Personals

Altersmischung nicht immer bedarfsangepasst, schlechtere Einstellung auf gleichzeitig auftretende fachfremde Gesundheitsstörungen

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Gesundheits- und Kinderkrankenpflege ●













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Die Versorgung des Kindes von der Aufnahme bis zur Entlassung. Ansprechpartner für die Begleitperson sein, aufklären und beruhigen, insbesondere bei der ersten Begegnung; Vertrauen schaffen, auch für die weitere Zusammenarbeit zwischen Familie, Kind und Klinikpersonal. Dem Arzt bei der Erstversorgung des Kindes assistieren. Administrative Tätigkeiten (S. 138) ausführen. Das Kind und die Begleitperson – meist ist es die Mutter – von der Aufnahme zur Station bringen. Während des stationären Aufenthaltes als Ansprechpartner für die Begleitperson und das Kind zur Verfügung stehen. Bei Kindern, deren Bezugspersonen nicht anwesend sein können, das pflegerische Versorgen übernehmen und das Kind in seinen Lebensaktivitäten unterstützen. Die anwesende Bezugsperson bei der Pflege des Kindes unterstützen, begleiten und beraten. Kinder in ihrer Symptomatik gemeinsam mit der Bezugsperson wahrnehmen, beobachten und beurteilen.

Zusätzliche administrative Aufgaben: Verlauf und Beobachtungen dokumentieren. ● Diagnostische und therapeutische Maßnahmen koordinieren, organisieren und ausführen. ● Bei Untersuchungen und medizinischen Eingriffen assistieren. ●

Praxistipp Pflege

Z ●

Neben diesen alltäglichen Aufgaben während der stationären Betreuung kranker Kinder fordern spezifische Krankheitsbilder ein Spezialwissen. Es gibt Zusatzausbildungen, um z. B. Kinder mit Diabetes mellitus, Epilepsie oder Asthma bronchiale zu betreuen. Berufsbegleitende Weiterbildungen qualifizieren das Personal für die Versorgung frühgeborener und intensiv betreuter Kinder. Mittlerweile steht eine Vielzahl an Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten zur Verfügung, um sich fachlich fortzubilden.

5.3.5 Interdisziplinäres therapeutisches Team Mit den verschiedenen fachlichen Schwerpunkten ändert sich auch die Zusammensetzung des therapeutischen Teams. Wurden in den Anfängen der Pä-

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Verwaltungsangestellter Seelsorger Vater Kind

Psychologe

Gesundheits- und Kinderkrankenpflegepersonal

Ökotrophologe

Mutter Psychotherapeut Arzt

Stationssekretär

Abb. 5.10 Ansprechpartner. Die Pflegefachkraft ist sowohl für die Familie als auch das interdisziplinäre therapeutische Team erste Ansprechpartnerin.

diatrie die Kinder von Kinderarzt und Kinderkrankenschwester versorgt, so haben sich für die vielfältigen Anforderungen neue Berufe herausdifferenziert und spezialisiert. Häufig ist ein ganzes Therapeutenteam an Diagnostik und Therapie der Kinder beteiligt. Je nach Fragestellung werden z. B. Psychologen, Pädagogen, Fachärzte, Physiotherapeuten, Ökotrophologen, Logopäden, Orthopädiemechaniker u. a. hinzugezogen. Jedes Mitglied des therapeutischen Teams nimmt das Kind oder Angehörige anders wahr, hat eine eigene Zugangsweise und entwickelt aus der jeweils spezifischen Fachkompetenz heraus individuelle Strategien, um die Kinder und Angehörigen in ihrer Auseinandersetzung mit der Krankheit zu erreichen und zu unterstützen. Die Pflegefachkraft ist häufig erster Ansprechpartner und übernimmt damit eine Lotsenfunktion für die verschiedenen Fachkräfte, gibt und dokumentiert Informationen, vereinbart Konsile und organisiert Termine (▶ Abb. 5.10). Während Visiten oder Fallbesprechungen werden die Erfahrungen und Ideen zusammengetragen, um daraus gemeinsam ein umfassendes Therapiekonzept zu erstellen.

5.3.6 Kind und Angehörige in der Kinderklinik Die Arbeitsfelder in der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege sind vielfältig. Dies fängt mit der Beobachtung des Kindes an und reicht bis zur hoch differenzierten Betreuung schwerstkranker Patienten auf der Intensivstation. Viele dieser Tätigkeiten müssen theoretisch erlernt und praktisch eingeübt werden. Die Freude am Beruf hängt aber auch davon ab, ob im Arbeitsalltag der Umgang mit Kind und Familie gelingt. Historisch gesehen gehörte dies nicht immer zum Aufgabenfeld der

Kinderkrankenpflege – selbst heute tätige Pflegefachkräfte haben evtl. noch zu Zeiten gelernt und gearbeitet, als sich die Mutter vor der Stationstür von ihrem Kind verabschieden musste.

Lernaufgabe

M ●

Führen Sie ein Gespräch mit einer Pflegefachkraft, die ihre Berufsausbildung vor 1975 abgeschlossen hat, und erfragen Sie das damals übliche Arbeiten auf einer Station eines Kinderkrankenhauses. Lassen Sie sich berichten, wie sie die Entwicklungen in der Kinderkrankenpflege in den darauffolgenden Jahren erlebt hat.

Der damals völlig neue Gedanke, dass die Familie ihr Kind uneingeschränkt während des Stationsaufenthaltes begleiten darf, stieß zunächst auf Widerstand, dürfte aber heute in Deutschland überall umgesetzt sein. Selbst in Frühgeborenenund Intensivpflegeeinheiten ist eine Pflege, die die Eltern-Kind-Bindung fördert, ein zentraler Aspekt der Gesundheitsund Kinderkrankenpflege. Für die Pflegefachkraft stellt dies eine konstante professionelle Herausforderung dar, an der (neben der fachlich-sachlichen Kompetenz) ihre Qualifikation gemessen wird. Marguerite Dunitz-Scheer von der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde in Graz führt in ihrem Artikel „Die belastete Mutter-Kind-Beziehung“ (2001) wertvolle Erläuterungen für Pflegende im Umgang mit Mutter und Kind aus und leitet davon Hinweise für ein professionelles Handeln ab. ▶ Tab. 5.4 stellt unangemessenen Reaktionsweisen im Alltag professionelles Verhalten gegenüber.

5.3 Pädiatrische Gesundheitseinrichtungen

Tab. 5.4 Verhalten von Pflegenden. unprofessionelles Verhalten

professionelles Verhalten

Unverständnis für die Besorgnis wegen des vergleichsweise „banalen“ Eingriffs

Wahrnehmung von Angst und Sorgen, Signalisierung von Verständnis

Aktivitäten nachgehen und der Bezugsperson ausweichen

bei der Bezugsperson bleiben und ihre Fragen beantworten

Unverständnis für Fragen über bereits geklärte Sachverhalte

● ●

Verärgerung, dass gewissenhaftes und verantwortungsbewusstes Arbeiten nicht geschätzt wird



die Bezugsperson für die Bestätigung des eigenen Selbstwertgefühls verantwortlich machen







Geduld, Fragen beantworten Erkennen, dass Eltern in angstbesetzten Situationen häufig nicht alles aufnehmen, was mit ihnen besprochen wurde rechtzeitiges Erklären von fachlich notwendigen Maßnahmen Verständnis für Irritation und Abwehrhaltung der Bezugsperson Selbstwertgefühl nicht von der Reaktion der Bezugsperson abhängig machen keine „Schuld“ zuweisen

eigene Familienideale zu allgemeingültigen Maßstäben einer gelungenen Eltern-Kind-Beziehung machen



Partei ergreifen für das Kind, bei einer z. B. „überbehütenden“ Mutter

neutrale Haltung gegenüber der gesamten Familie

Fallbeispiel

I ●

Professionelles oder unprofessionelles Verhalten?

Frau Berger kommt mit ihrem 6 Monate alten Sohn zur Leistenhernien-Operation. Dieser operative Eingriff wurde vor 1 Woche festgelegt. Frau Berger hat bereits mit dem Chirurgen und dem Anästhesisten gesprochen. Sie ist also bestens informiert. Trotzdem ist sie sehr aufgeregt. Sie wiederholt gegenüber der Pflegefachkraft, Frau Bauer, mehrmals ihre Bedenken und erfragt immer wieder das bevorstehende Prozedere. Nach der Operation schaut Frau Bauer zur Überwachung nach ihrem Sohn. Nachdem er anfangs etwas unruhig war, ist er jetzt eingeschlafen. Da der Infusomat Alarm gibt, sieht sich Frau Bauer die Einstichstelle der Venenverweilkanüle am linken Handrücken des Kindes genauer an, damit sie nichts übersieht und es nicht zu Komplikationen kommt. Das Kind wird wach und fängt an zu schreien. Darauf reagiert seine Mutter sehr ungehalten und kommentiert das Verhalten von Frau Bauer kritisch und vorwurfsvoll. Frau Bauer ist sehr verärgert. Sie hätte eine andere Reaktion erhofft. Da die Vitalwerte stabil sind und die Infusion problemlos läuft, geht Frau Bauer anderen Arbeiten nach und versucht, dieses Zimmer möglichst zu meiden. Eigentlich erlebt Frau Bauer das Kind als ein liebenswertes Kind, dem sie sich gerne etwas intensiver gewidmet hätte. Doch die Reaktion von Frau Berger hat sie enttäuscht.

Lernaufgabe



Kind und Eltern wertfrei gegenübertreten wahrnehmen und unterstützend eingreifen

M ●

Welche Eltern-Kind-Konstellationen haben Sie während Ihres letzten Stationseinsatzes erlebt? Greifen Sie ein für Sie eindrückliches Beispiel heraus und reflektieren Sie anhand der Tabelle Ihre Empfindungen und Ihre Reaktionen in dieser Situation.

Die Aufnahme des Kindes in das Krankenhaus stellt immer eine Belastung für die gesamte Familie dar. Sorge und Angst sind rein subjektiv und stehen oft nicht im Verhältnis zur Schwere der Krankheit. Kinder und Angehörige nehmen den Krankenhausaufenthalt anders wahr als medizinisches Fachpersonal. Es geht nicht um richtig oder falsch, um angemessen oder unangemessen, sondern immer nur um Wahrnehmung und um ein wertfreies, professionelles Agieren und Reagieren. Das eigene Handeln darf nicht von persönlichen (Familien-)Idealen gesteuert werden. Bestätigung und Dankbarkeit zu erwarten ist keine professionelle Haltung.

Merke

H ●

Professionelles Arbeiten ist gekennzeichnet durch ein offenes und waches Wahrnehmen von Kind und Angehörigen. Subjektive Wertungen sind kontraproduktiv und blockieren konstruktive Lösungsansätze.

5 5.3.7 Belastungen und Bewältigungsstrategien In einem Pflegeberuf zu arbeiten bringt Belastungen mit sich, die bei der Berufswahl nicht immer berücksichtigt und überschaut werden können. Jedem ist klar, dass Patienten im Krankenhaus rund um die Uhr betreut werden müssen. Die Arbeitszeiten sind als Schichtdienst geregelt: Frühdienst, Spätdienst, Nachtdienst; hinzu kommen Wochenend- und Feiertagsdienste. Häufig wird diese Notwendigkeit zu idealistisch gesehen und die Folgen werden nicht überschaut. Bisher gewohnte Freizeittermine können mit der Berufswahl nicht mehr vereinbart werden. Nicht nur, dass ein lieb gewonnenes Hobby, das einem Kraft gibt und Ausgleich schafft, nicht mehr wahrgenommen werden kann, mit dem Verlust dieser Aktivitäten brechen auch soziale Strukturen auseinander. Wenn sich der Freundeskreis trifft, steht der eigene Dienst an, wenn es einen freien Tag unter der Woche gibt, steht keiner zur Verfügung, mit dem die Freizeit geteilt werden könnte. Möglichkeiten für Ausgleich, Entspannung und soziale Kontakte müssen neu ausgelotet werden. Eine weitere Belastung stellt der Inhalt des Berufes selbst dar. Sich beruflich mit der Thematik kranker Kinder auseinanderzusetzen bleibt oft auch in der Freizeit präsent. Kinder auf ihrem Weg zur Gesundung zu begleiten wird als lohnend erlebt. Doch gibt es viele chronisch kranke Kinder, Kinder mit körperlichen und geistigen Behinderungen oder Kinder mit Erkrankungen, deren Ursachen im psychosomatischen oder sozialen Bereich gesehen werden und für wirkungsvolle Therapien schwer erreichbar sind oder in Familienstrukturen entlassen werden, die für die Gesundheit des Kindes nicht förderlich

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Gesundheits- und Kinderkrankenpflege sind. Hier scheint das pflegerische Engagement ins Leere zu laufen; die Sinnfrage bleibt oft unbeantwortet. Weitere Belastungsfaktoren sind Teamkonflikte, interdisziplinäre Konflikte im Krankenhaus, hierarchische Krankenhausstrukturen und wirtschaftlicher Druck im Gesundheitswesen, der zu erhöhter Arbeitsbelastung bei sinkender personeller Besetzung führt. Große Verantwortung, oft begleitet von Angst vor folgeschweren Fehlern, steht einer eher geringen gesellschaftlichen Anerkennung, die sich nicht zuletzt in durchschnittlichen Einkommensverhältnissen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung ausdrückt, gegenüber. Alternativen in Form von Fort- und Weiterbildungen können oft nur durch ein hohes eigenes zeitliches und finanzielles Engagement wahrgenommen werden. Es drohen Resignation und Ausgebranntsein.

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Praxistipp Pflege

Z ●

Burnout kommt häufig in helfenden Berufen vor. Wolfgang Schmidbauer, ein renommierter Autor und Psychologe, greift dieses Thema in mehreren Büchern auf. In seinem wohl bekanntesten Werk „Die hilflosen Helfer“ stellt er diese Problematik erstmals dar. Er hat den Begriff „Helfersyndrom“ geprägt und in seinem 2002 erschienenen Buch „Helfersyndrom und Burnout-Gefahr“ mit frühzeitiger Erschöpfungs- und Resignationssymptomatik bei Menschen in helfenden Berufen direkt in Verbindung gebracht. Schmidbauer unterscheidet sehr genau zwischen – sicher wohlgemeintem – Helfenwollen und professionellem Arbeiten.

Wie bereits oben ausgeführt, unterscheidet sich der reale Arbeitsalltag in der Kinderkrankenpflege von vielen Vorstellungen, die zur Berufswahl geführt haben. Die Motivation, kranken Kindern zu helfen, ist eng verbunden mit einer Erwartung der Dankbarkeit und Anerkennung für geleistetes Engagement. Kinder und Eltern erleben das Krankenhaus aber nicht nur als hilfreich. Sie müssen sich in angstbesetzten und sehr belastenden Situationen zurechtfinden und können eine fordernde, vielleicht auch vorwurfsvolle oder aggressive Haltung zeigen. Professionelles Arbeiten fordert sachliches Wahrnehmen der Situation, das Entgegenbringen von Verständnis und Unterstützung oder auch ein klares Setzen von Grenzen ohne Angst vor Sympathieverlust.

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Merke

H ●

Wenn sich Kind und Eltern gut betreut und verstanden fühlen, stellt sich eine partnerschaftliche Ebene ein, auf der konstruktiv und gesundheitsfördernd gehandelt werden kann, ohne dass die Bedürfnisse des Patienten, der Angehörigen, aber auch der Pflegenden missachtet werden.

Es fällt oft schwer, im Berufsalltag diese Strukturen wahrzunehmen und eine Distanz zum eigenen Handeln aufzubauen. Das zwischenmenschliche System eines Stationsteams verstärkt eher emotionale Reaktionen, als dass es Sachlichkeit fördert. Wichtig ist es, zeitig Symptome der eigenen Erschöpfung zu erkennen und diese ernst zu nehmen. Neben den eigenen Möglichkeiten, Erholung und Regeneration zu finden, sollten sich Pflegefachkräfte nicht scheuen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Oft stehen in der eigenen Einrichtung Mitarbeiter für eine erste psychologische Beratung zur Verfügung. Da die Problematik aber nicht auf den Einzelnen beschränkt ist, sondern meist im System begründet liegt, ist es sinnvoll, dass ein Team sich gemeinsam diesen Fragen stellt. Dies ist im Rahmen einer Gruppensupervision möglich. Hier können oft Probleme bearbeitet werden, die dem eigenen Blickfeld entschwunden sind und deshalb auch nicht adäquat angegangen werden konnten.

Merke

H ●

Hilfe von außen schafft eine neue Sichtweise und Wahrnehmung der eigenen Situation, der eigenen Bedürfnisse und erleichtert die Entwicklung von Lösungsstrategien.

5.3.8 Qualitätssichernde Maßnahmen Der Qualitätsanspruch eines Krankenhauses ändert sich ständig. Qualität muss gesichert und verbessert werden. Um dem Wettbewerb standzuhalten, ist eine Zertifizierung der Einrichtung nötig.

Merke

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Qualität ist nur da möglich, wo Menschen engagiert und motiviert ihrem Beruf nachgehen können.

Maßnahmen sind: ● innerbetriebliche Fortbildungen ● Leitlinien und Pflegestandards ● Mitarbeitergespräche Leitungskräfte tragen dafür Sorge, dass Leitlinien und Anweisungen im Arbeitsalltag umgesetzt werden. Pflegefachkräfte der mittleren Leitungsebene stellen das Bindeglied zwischen Krankenhausleitung und den Mitarbeitern auf Station dar. In Besprechungen der Führungskräfte erhalten sie Informationen, die sie an das Pflegepersonal weitergeben. Dies wird von ihnen unterstützt, um die gesetzten Ziele zu erreichen. Im Rahmen von regelmäßig stattfindenden Mitarbeitergesprächen findet ein Austausch zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter statt. Hier soll die Stationsleitung die Pflegefachkraft beurteilen, Stärken und Schwächen aufzeigen, Unterstützung anbieten oder auch Wege zur Weiterqualifikation eröffnen. Die Pflegefachkraft gibt ihrem Vorgesetzten Rückmeldung, wie sie den Arbeitsalltag erlebt, wo sie Verbesserungsmöglichkeiten sieht oder wo sie sich Änderungen wünscht. In einem gesunden, professionellen Austausch wird der Arbeitsalltag als eine sich ständig ändernde Dynamik gesehen, in der konstruktive Kritik ihren Raum bekommt. Derzeit ist ungeklärt, wie sich die Versorgung von Kindern in Kinderfachabteilungen weiterentwickeln wird. Zum einen bedroht die Ökonomisierung die ausreichende pädiatrische Versorgung (Weyersberg 2018). Zum anderen wird die Reform der Pflegeberufe (S. 39) zu Veränderungen in der pflegerischen Grundausbildung führen, was vor allem den Neonatologen Sorgen bereitet. Bereits jetzt besteht in besonders sensiblen Bereichen der Neonatologie Fachkräftemangel. Ob die notwendige Expertise für die Pflege kritisch kranker Kinder innerhalb der generalistischen Ausbildung erworben werden kann, stellen viele Fachleute infrage (DGKJ 2017).

5.4 Pflege und Betreuung im häuslichen Umfeld Jenny Krämer-Eder „Ambulant vor stationär“ – dieser Slogan hat in den letzten Jahren im Gesundheitswesen weite Kreise gezogen und für Veränderungen gesorgt. Spätestens seit der Einführung der Fallpauschalen in den Kliniken werden immer mehr Patienten im ambulanten Bereich medizinisch und pflegerisch betreut. Der Bedarf an ambu-

5.4 Pflege und Betreuung im häuslichen Umfeld lanter pflegerischer Versorgung steigt seit vielen Jahren stark an und mit ihm die Anzahl ambulanter Pflegedienste. Wie haben sich diese Umstrukturierungen auf die Situation kranker Kinder ausgewirkt?

Definition

L ●

Häusliche Kinderkrankenpflege ist eine qualifizierte, ganzheitlich orientierte Pflege und Betreuung akut erkrankter, chronisch kranker, behinderter und sterbender Säuglinge, Kinder und Jugendlicher in ihrem gewohnten, häuslichen Umfeld.

Fallbeispiel

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Linus erleidet während seiner Geburt eine Mekoniumaspiration und verbringt seine ersten Lebenswochen auf der Kinderintensivstation, umringt von zahlreichen medizinischen Geräten. Immer wieder stellen sich aufgrund pulmonaler sowie neurologischer Auffälligkeiten lebensbedrohliche Situationen ein, in welchen die Eltern um Linus’ Leben bangen müssen. Insbesondere die rezidivierenden, lang anhaltenden Apnoen geben Anlass zur Sorge. Linus benötigt kontinuierlich Sauerstoffgaben und regelmäßige Inhalationen, seine Ernährung erfolgt über eine Magensonde, da er unter einer Trinkschwäche und Gedeihstörung leidet. Mehrmals täglich wird er zum Trinken animiert. Die Eltern bewerkstelligen einen Spagat zwischen dem gesunden Bruder Leonard zu Hause und dem kranken Säugling in der Klinik. Nach einigen Wochen fühlen sie sich unter den Belastungen erschöpft und ausgelaugt. Auch die Unterbringung von Leonard während der Klinikbesuche seiner Mutter gestaltet sich immer schwieriger. Als Linus 8 Monate alt ist, kann er nach Hause entlassen werden. Die Eltern freuen sich über die Aussicht, bald beide Kinder zu Hause vereint zu sehen und eine „richtige“ Familie zu sein. Doch es plagen sie auch Ängste, der Situation nicht gewachsen zu sein, obwohl sie in der aufwendigen Pflege ihres kleinen Sohnes intensiv angeleitet wurden. Linus benötigt weiterhin viele pflegerische und therapeutische Maßnahmen. Insbesondere der Wechsel der Magensonde gestaltet sich bei ihm jedes Mal sehr schwierig, da er sich stark wehrt und die Luft anhält. Die Ärzte schlagen den Eltern die Unterstützung durch einen ambulanten Kinderkrankenpflegedienst vor. Im Gespräch mit einer Mitarbeiterin, Frau

Theobald, erfahren die Eltern, dass die Einrichtung ausschließlich Kinder betreut. Diese werden von qualifizierten Pflegefachkräften versorgt, welches auf die Beratung und Anleitung großen Wert legt. Die Eltern fassen Vertrauen und beschließen, gemeinsam mithilfe des häuslichen Kinderkrankenpflegedienstes ihr Kind zu Hause zu pflegen. Drei Wochen später kann Linus von der Kinderintensivstation nach Hause entlassen werden und endlich seinen Bruder Leonard sehen.

Die Pflege des kranken Kindes hat in den letzten Jahrzehnten einen grundlegenden Wandel durchgemacht. Die Eltern werden in die Pflege ihres kranken Kindes bereits im Krankenhaus einbezogen und angeleitet. Der technische und medizinische Fortschritt ermöglicht eine verbesserte und erweiterte Therapie im klinischen Bereich sowie im häuslichen Umfeld. So kann auch zahlreichen Kindern mit schwerwiegenden Krankheitsverläufen eine deutlich verbesserte Lebensqualität und längere Lebensdauer ermöglicht werden. Dies ist ein weiterer Grund dafür, dass der Bedarf an Pflege kontinuierlich steigt, insbesondere im ambulanten Bereich. Die Ursachen für manche Erkrankungen können ggf. zu Hause „vor Ort“ besser geklärt werden, z. B. mangelnde Hygiene, unsachgemäße Nahrungszubereitung oder -verabreichung. Im häuslichen Bereich können Infektionen häufiger vermieden werden. Eine ambulante gegenüber einer stationären Versorgung gestaltet sich i. d. R. für die Krankenkassen kostengünstiger.

Merke

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Der wichtigste Vorteil der ambulanten Kinderkrankenpflege ist, dass auf die Bedürfnisse und Wünsche der Kinder und ihrer Familie in ihrem häuslichen Umfeld individueller eingegangen werden kann.

Dem Kind bleiben sein Platz in der Familie sowie der häusliche Lebensraum und die gewohnten Lebenszusammenhänge erhalten. Dazu gehören z. B. Kontakte zum sozialen Umfeld und die vertrauten Rituale im Rahmen der Lebensaktivitäten (▶ Abb. 5.11). Der Grundstein zur Integration und Rehabilitation wird gelegt. Die Zusammengehörigkeit und Zufriedenheit innerhalb der Familie werden dadurch gefördert. Das Kind gesundet schneller. Um eine kontinuierliche und qualifizierte Betreuung und Pflege nach dem stationären Aufenthalt des Kindes zu ge-

Abb. 5.11 Soziales Umfeld. Gemeinsames Frühstück zu Hause. (Foto: E. Gurian)

währleisten und die Familie zu stabilisieren, hat sich die Nachversorgung des kranken Kindes durch einen ambulanten Kinderkrankenpflegedienst bewährt. Stationäre Aufenthaltszeiten können so deutlich verkürzt werden. Besonders anschaulich wird dies in der Intensivpflege. Mittlerweile können Kinder, die intensivmedizinische Maßnahmen benötigen und über deren Entlassung vor einigen Jahren noch gar nicht nachgedacht werden konnte, nach Hause entlassen werden. Nicht selten erfolgt die Entlassung direkt von der Intensivstation in das häusliche Umfeld. Die Betreuung dieser kleinen Patienten erfordert von den Pflegenden viel Fachkompetenz. Aus diesem Grund werden in ambulanten Pflegeeinrichtungen, die ausschließlich auf Säuglinge, Kinder und Jugendliche spezialisiert sind, examinierte Gesundheits- und Kinderkrankenpflegefachkräfte bevorzugt beschäftigt. Zahlreiche Mitarbeiter verfügen zudem über zusätzliche Qualifikationen, wie eine pädiatrische Palliativ- oder Intensivausbildung. Voraussetzungen zur Arbeit in der häuslichen Kinderkrankenpflege sind: ● abgeschlossenes Examen zum/zur Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger/-in ● Berufserfahrung ist empfehlenswert, jedoch nicht verpflichtend ● Bereitschaft, eigenes Fachwissen durch Fortbildungen und Seminare regelmäßig zu aktualisieren und zu erweitern ● verantwortungsbewusstes und selbstständiges Handeln sowie viel Eigenengagement ● Interesse an einem breiten Spektrum pflegerischer Handlungen ● Flexibilität für unterschiedliche Arbeitsbedingungen von Familie zu Familie (z. B. auch in Asylunterkünften oder ungünstigen sozialen Verhältnissen) ● Fähigkeit, mit oftmals einfachen Mitteln optimale Pflege zu leisten

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Besteht das Interesse, im ambulanten Bereich der Pflege zu arbeiten, empfiehlt es sich, zu hospitieren oder ein Praktikum zu

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Gesundheits- und Kinderkrankenpflege absolvieren. Im Klinikalltag kann meist auf eine Kollegin oder einen Arzt zurückgegriffen werden. Im ambulanten Bereich hingegen tragen Pflegende die Verantwortung für so manche Entscheidung u. U. alleine. Dies kann z. B. der Fall sein, wenn sich der Gesundheitszustand des Kindes akut verschlechtert und die zuständige Pflegefachkraft adäquat und umsichtig reagieren muss. Andererseits besteht die Möglichkeit, ganzheitliche Pflege und patienten- und familienorientiertes Arbeiten nicht nur zu diskutieren, sondern wirklich zu praktizieren. Viele Kinder werden über Wochen oder Monate, manche sogar über Jahre in ihrer häuslichen Umgebung betreut und meist entsteht ein großes Vertrauensverhältnis. So erleben die Pflegenden viele Entwicklungsschritte mit, u. U. auch solche, die selbst die behandelnden Ärzte zuvor nicht für möglich gehalten hätten.

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5.4.1 Arbeitsfelder Im häuslichen Bereich werden Frühgeborene, Säuglinge, Kinder und Jugendliche mit ganz unterschiedlichen Gesundheitsstörungen gepflegt. Ihre Altersspanne reicht von einigen Tagen bis über 18 Jahre. Etwa die Hälfte der versorgten Kinder ist jünger als 1 Jahr. Die Mehrzahl der Kinder wurde zuvor stationär behandelt. Die Pflegesituationen und Arbeitsfelder können sehr variieren und erfordern ein hohes Maß an Flexibilität vonseiten der Pflegefachkräfte. Es häufen sich jedoch folgende Diagnosen der versorgten Kinder: akute und chronische Erkrankungen der oberen und unteren Atemwege, mehrfache Behinderungen, neurologische Erkrankungen, Stoffwechselerkrankungen, Frühgeburtlichkeit, Ernährungs- und Gedeihstörungen sowie Darm- und Muskelerkrankungen.

5.4.2 Aufbau und Organisationsstrukturen In der Bundesrepublik Deutschland existieren ca. 160 ambulante Pflegedienste, die jährlich etwa 3800 Säuglinge, Kinder und Jugendliche bis 15 Jahre betreuen (Stand 12/2015). Die Anzahl der ambulanten Kinderkrankenpflegedienste, die ausschließlich Kinder in ihrem häuslichen Umfeld versorgen, fällt jedoch geringer aus. Die Mehrheit der Einrichtungen befindet sich in den „alten“ Bundesländern. Die Mehrzahl der Kinder wird in den Großstädten und deren Umgebung gepflegt. Manche Pflegedienste versorgen ihre kleinen Patienten in einem Umkreis von 100 km. Etwa 8100 Gesundheitsund Kinderkrankenpflegefachkräfte in

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Deutschland sind in der häuslichen Pflege tätig (Stand 12/2015). Einige Kinderkliniken bieten auch ambulante Weiterversorgungsmöglichkeiten an (z. B. „Der Bunte Kreis“ in Augsburg). Aufgrund des stetig wachsenden ambulanten Pflegebedarfs gibt es großen Personalbedarf im häuslichen Bereich, der kaum gedeckt werden kann. In einigen Einrichtungen haben Auszubildende in der Pflege die Möglichkeit, während eines 4 – 6 Wochen langen Einsatzes einen Einblick zu gewinnen und Erfahrungen in der ambulanten Kinderkrankenpflege zu sammeln. Der Bundesverband Häuslicher Kinderkrankenpflege (BHK) setzt sich für eine flächendeckende häusliche Versorgung schwerstkranker Kinder durch qualifizierte Gesundheits- und Kinderkrankenpflegefachkräfte ein. Er unterstützt die einzelnen Einrichtungen in den Bereichen Öffentlichkeitsarbeit, Vernetzung und Fortbildung sowie in der Aushandlung leistungsgerechter Vergütungen.

5.4.3 Aufgabenschwerpunkte Im häuslichen Bereich kann meist eine ganzheitliche und familienorientierte Pflege praktiziert werden. Diese wird mit weiteren notwendigen therapeutischen Elementen kombiniert. Die Orientierung an den Bedürfnissen des kranken Kindes und seiner Familie steht dabei stets im Vordergrund (▶ Abb. 5.12).

Zielsetzungen Zielsetzungen der häuslichen Kinderkrankenpflege sind: ● fachspezifische Durchführung pädiatrischer Pflege ● altersgemäße Anleitung, Integration und Rehabilitation des kranken Kindes ● Erhaltung und Förderung der Ressourcen des kranken Kindes ● Förderung und Stabilisierung der elterlichen Pflegekompetenz ● Verkürzung von Klinikaufenthalten

Abb. 5.12 Häusliche Kinderkrankenpflege. Vorbereitung der Peritonealdialyse. (Foto: E. Gurian)





● ●







Alternative zu Klinik- und Heimaufenthalten Sicherung der kinderärztlichen Behandlung zu Hause Gesundheitsvorsorge und -förderung positive Beeinflussung der Familiendynamik, z. B. durch die Entlastung der Eltern und die Einbeziehung der Geschwisterkinder in die Pflege Koordination der Kontakte zwischen Eltern/Kind und therapeutischen Berufsgruppen, wie z. B. Kinderarzt, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Logopäden, Fachkräften in der Hör- und Sehfrühförderung, Rehabilitationsberatern regelmäßiger Kontakt und Austausch mit dem Kinderarzt und den beteiligten Therapeuten Durchführung der einzelnen Pflegehandlungen nach einheitlichen Pflegestandards des Pflegedienstes

Pflege des Kindes in seinem häuslichen Umfeld Die Pflegeüberleitung (S. 141) gehört zu den Aufgaben der Pflegefachkräfte der Einrichtung der häuslichen Kinderkrankenpflege, falls diese an sie delegiert wird. Der frühestmögliche Entlassungszeitpunkt hängt entscheidend davon ab, ob eine qualifizierte Überleitung in die Häuslichkeit und eine reibungslose weitere Betreuung des kranken Kindes und seiner Familie durch einen Kinderkrankenpflegedienst gesichert sind. Laut einer Studie (Gessenich, 2009) verteilt sich die Zuweisung der kleinen Patienten folgendermaßen: 62 % über Kinderkliniken, 20 % über Eigeninitiative der Eltern und „Mund-zuMund-Propaganda“ und nur 4 % über Kinderarztpraxen. Die Überleitung in die häusliche Versorgung sollte bereits geplant werden, wenn bei der Diagnosestellung deutlich wird, dass das Kind dauerhaft umfangreiche pflegerische Maßnahmen benötigt. In der Regel nimmt der zuständige Arzt oder Sozialarbeiter der Kinderklinik den Kontakt zum ambulanten Pflegedienst auf und informiert über die bevorstehende Entlassung des Kindes. Durch das Kennenlernen bereits in der Kinderklinik kann die Pflegefachkraft viele Informationen über das Kind und seine Familie sammeln und eine Vertrauensbasis bilden. Vom Stationsteam erfährt sie, welche Kompetenzen die Eltern in der Versorgung ihres kranken Kindes während des stationären Aufenthaltes bereits erworben haben und wo noch Unsicherheiten und Berührungsängste bestehen. Die Eltern und Kinder wiederum haben viele Fragen zur Gestaltung des Alltags mit der Krankheit zu Hause. Sie freuen sich, dass der Pflegealltag in ihrem häuslichen Umfeld weitestgehend auf ihre Be-

5.4 Pflege und Betreuung im häuslichen Umfeld

Abb. 5.14 Peritonealdialyse zu Hause. (Foto: E. Gurian)

tern bewältigen, obwohl sie „den Kopf voll“ haben. Häufig entsteht eine chronische Sorge um das Kind, die sich in periodisch auftretender Traurigkeit äußern kann. Dabei hat das Verhalten der Eltern unmittelbaren Einfluss auf das Krankheitserleben des Kindes (S. 176). Umso mehr, je jünger und abhängiger das Kind ist. Folglich können inadäquate Verhaltensweisen der Eltern wiederum dem Kind die Krankheitsbewältigung in großem Maße erschweren.

Merke ●



Abb. 5.13 Pflegehilfsmittel. Medizinische Geräte im häuslichen Umfeld. (Foto: E. Gurian)







dürfnisse und Vorlieben abgestimmt werden kann. Zudem sind durch den technischen Fortschritt viele medizinische Geräte so handlich konzipiert worden, dass das Kind und seine Eltern zu Hause und unterwegs eine gewisse Mobilität genießen können. So kann die Pflegefachkraft ihre Patienten mitsamt den notwendigen medizinischen Geräten auch in den Kindergarten oder in die Schule begleiten. Hier setzt sie die fachgerechte Pflege des Kindes fort. Die benötigten Pflegehilfsmittel und medizinischen Geräte werden häufig in Zusammenarbeit mit den Ärzten der Station ausgewählt und organisiert (▶ Abb. 5.13). Dazu gehören auch die Kontaktaufnahme zu den zuständigen Herstellern (z. B. Sauerstoffbedarf, Tracheostomabedarf, Magensonden, Dialysegeräte, Beatmungsgeräte, Monitoren) und eine Einweisung in die benötigten medizinischen Geräte. Eine Überprüfung der hygienischen Gegebenheiten und Standortvoraussetzungen für Medikamente, Pflegehilfsmittel und medizinische Geräte im häuslichen Bereich des Kindes ist zur Gewährleistung einer komplikationslosen Pflegeüberleitung notwendig. Pflegerische Tätigkeiten im häuslichen Umfeld sind: ● Beobachtung, Unterstützung und stellvertretende Übernahme der Lebensaktivitäten (z. B. Ganzkörperwaschung, Lagern und Betten, Mobilisation, Sondenernährung, Basale Stimulation)



pflegerische Handlungen in Zusammenhang mit der Therapie, z. B. Beatmung, Peritonealdialyse (▶ Abb. 5.14), Infusionstherapie, Verbandwechsel, Injektionen, Inhalationen pflegerische Handlungen in Zusammenhang mit der ambulanten Diagnostik (z. B. Abstriche, Stuhl- oder Urinproben, Assistenz bei der Blutentnahme) präventive und prophylaktische Maßnahmen Beratung und Anleitung der Kinder, ihrer Eltern und Geschwister Begleitung im psychosozialen Bereich (z. B. im Rahmen der Absprachen mit dem Jugendamt) spezifische therapeutische Elemente, die regelmäßig in den Tagesablauf integriert werden (z. B. Therapie nach Vojta oder Bobath, orofasziale Therapie nach Castillo Morales)

Unterstützung der Familie Nach der Ankunft zu Hause im Kreise der Familie müssen sich das kranke Kind und die weiteren Familienmitglieder aneinander und an die geänderten Lebensbedingungen gewöhnen. Es überwiegen freudige Gedanken, jedoch tauchen auch Sorgen, Fragen, Zweifel und Ängste auf: ● Welche Auswirkungen wird die Krankheit oder Behinderung im Alltag mit sich bringen? ● Wie werden Freunde, Nachbarn und Verwandte reagieren? ● Wird eine Fortsetzung des gewohnten Tagesablaufs und Lebensstils möglich sein? Besonders die ersten Tage und Nächte werden oft als unruhige und aufregende Zeit empfunden. Viele Termine gilt es nun zu koordinieren und wahrzunehmen, die bisher in der Klinik organisiert wurden. Die therapeutischen Maßnahmen zur Behandlung der Krankheit sowie der Rehabilitation erfordern eine gute Organisation des Alltags, um diese regelmäßig zu gewährleisten. Der Tagesablauf muss sich erst einpendeln. All dies müssen die El-

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Eine primäre Aufgabe der Gesundheitsund Kinderkrankenpflegefachkräfte im ambulanten Bereich besteht in der Begleitung der Familie bei der Krankheitsbewältigung.

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Sie sollten sich dabei von den Betroffenen leiten lassen. Die Rolle als Pflegefachkraft richtet sich nach dem Stand der Krankheitsbewältigung. Hat die Familie diese ersten Wochen zu Hause durchlebt, spürt jedes einzelne Familienmitglied den unmittelbaren Einfluss der gesundheitlichen Veränderungen auf die gesamte Familiendynamik. Manchmal treten aus diesem Grund Zukunftsängste auf, da die Zukunft als nicht mehr vorhersehbar und planbar erlebt wird. In der Anfangsphase und den sich anschließenden Lebensabschnitten kann die Familie Unterstützung und Entlastung durch eine Einrichtung der häuslichen Kinderkrankenpflege erhalten. Den Eltern können Freiräume geschaffen werden. Sie haben in dieser Zeit die Möglichkeit, eigenen Interessen nachzugehen. So können sie neue Kraft tanken und dem Gefühl einer Überbelastung oder mangelnder Selbstverwirklichung vorbeugen. Ebenso kann das Teilen der Verantwortung entlastend wirken und Gespräche mit der Pflegefachkraft ein Gefühl der Empathie hervorrufen und die Vertrauensbasis fördern. Die Familie erreicht den Pflegedienst auch in pflegerischen Notsituationen rund um die Uhr. Das primäre Pflegeziel ist die Lebensbewältigung mit der Erkrankung. Dieses Pflegeziel strebt eine bestmögliche Lebensqualität an, verbunden mit Lebenszufriedenheit und Wohlbefinden. Manche Eltern fühlen sich im Alltag mit ihrem chronisch kranken oder behinderten Kind überfordert. Hier gilt es, alle möglichen Hilfsangebote auszuschöpfen und auf nutzbare Ressourcen und Kraftquellen aufmerksam zu machen. Dabei ist es für die Familie u. U. hilfreich, schädigende Einflüsse zu erkennen und zu meiden. Manchmal müssen neue Einstellun-

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Gesundheits- und Kinderkrankenpflege gen und Werte gefunden, neue Prioritäten gesetzt und muss Altes losgelassen werden.

Merke

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Die Pflegefachkraft sollte sich klare Ziele für weitere Interventionen stecken, um das Gleichgewicht innerhalb der Familie zu fördern.

Hierbei können Pflegetheorien, die eine familienorientierte Pflege in den Vordergrund stellen, z. B. nach Marie-Luise Friedemann (S. 190) oder Dorothea E. Orem (S. 70), Denkanstöße und Hilfestellungen geben.

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Merke

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Die Eltern und Geschwister sind stets die ersten Bezugspersonen für das kranke Kind. Die Pflegefachkraft im häuslichen Bereich ist immer Gast in der Familie. Nicht mehr und nicht weniger.

Eltern

a ●

Die Orientierung an den Bedürfnissen aller Familienmitglieder ist eine Voraussetzung zur positiven Einflussnahme auf die Familieninteraktion. Eltern und Kind sind als Einheit zu sehen. Somit ist die Elternintegration in die professionelle pflegerische Betreuung eines kranken Kindes unerlässlich.

Beratung und Anleitung Die Pflegefachkraft berät (S. 197) das betroffene kranke Kind, seine Eltern und Geschwister zu Hause in vielfältigen Bereichen. Sie leitet die an der häuslichen Pflege beteiligten Personen in den für das Kind relevanten Pflegemaßnahmen an: ● bei der Unterstützung oder stellvertretenden Übernahme der Lebensaktivitäten ● bei pflegerischen Handlungen in Zusammenhang mit der Therapie, z. B. Vorbereiten und Applizieren von Medikamenten, Inhalationen, Injektionen, Stomapflege, Verbandwechsel ● bei der pflegerischen Beobachtung, damit die Eltern Symptome frühzeitig erkennen können ● bei hygienischen Maßnahmen, z. B. Sterilisation, Desinfektion ● bei präventiven und gesundheitsfördernden Maßnahmen

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bei der Anwendung alternativer Pflegemethoden, wie z. B. Wickel, Teezubereitung, Aromatherapie, Farbtherapie

Merke

H ●

Wichtiges Ziel der Beratung und Anleitung ist die Stärkung der kindlichen und elterlichen Pflegekompetenz, um ihnen Sicherheit für den Alltag und die Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebens zu geben.

Meist werden die Kinder und Eltern bereits in der Kinderklinik in wesentlichen Pflegemaßnahmen angeleitet. Aber zu Hause angekommen, herrscht dennoch zunächst Unsicherheit vor, da sie andere räumliche, hygienische und zeitliche Voraussetzungen vorfinden. Mit der Zeit wachsen die Pflegekompetenzen der Eltern und Kinder und damit die Zuversicht in die eigenen Fähigkeiten, wenn sie in die pflegerische Versorgung miteingebunden und darin angeleitet werden.

Eltern

a ●

Die Eltern sollten möglichst jene Pflegemaßnahmen übernehmen, die für das Kind positiv behaftet sind. Schmerzhafte und unangenehme Maßnahmen (z. B. Legen einer Magensonde) sollten nach Möglichkeit vom häuslichen Pflegedienst übernommen werden.

Ebenso kann sich die Einbeziehung der Geschwisterkinder in pflegende Aufgaben positiv auf das Verhältnis zwischen den Geschwistern auswirken. Diese Tätigkeiten sollten den Neigungen, dem Alter sowie dem Entwicklungsstand des Geschwisterkindes entsprechend ausgesucht werden, um eine mögliche Überforderung zu vermeiden. Die Möglichkeit, sich aktiv an den pflegerischen Handlungen zu beteiligen, kann das familiäre Zusammengehörigkeitsgefühl fördern und es hilft den Kindern, die Krankheit zu begreifen. Zudem werden Erlebnisse im Zusammenhang mit Hoffnung, Kranksein, Trennung, Schmerz und Sterben intensiver erlebt und verarbeitet.

Dokumentation In der häuslichen Kinderkrankenpflege ist eine ausführliche, lückenlose schriftliche Dokumentation unerlässlich. Die dokumentierten Unterlagen dienen gegenüber der Krankenkasse als Nachweis über die geleisteten Pflegemaßnahmen, zur Ab-

Abb. 5.15 Dokumentation. (Foto: E. Gurian)

rechnung und auch zur rechtlichen Absicherung der Pflegefachkraft. Die Pflegedienste richten ihre Dokumentation nach einem ausgesuchten Pflegemodell aus. Jedes betreute Kind erhält eine eigene Mappe mit den nötigen Unterlagen (▶ Abb. 5.15). Diese verbleibt im Haushalt des Kindes und kann von den Erziehungsberechtigten jederzeit eingesehen werden. Aus ihnen werden der Pflegeverlauf und die Pflegeintensität ersichtlich. Der Pflegebericht dient der schriftlichen Übergabe an die nächste Pflegefachkraft und beschreibt den aktuellen Zustand des Kindes. Weiterhin bezieht er sich auf die Motivation, Mitarbeit und Reaktion des Kindes bei den pflegerischen und therapeutischen Handlungen.

Merke

H ●

Der prozessorientierten Pflegeplanung sind die Probleme, Ressourcen, Pflegeziele und Pflegemaßnahmen zu entnehmen. Diese Planung wird im Pflegeverlauf immer wieder evaluiert und aktualisiert.

Ein Medikamenten- und Ernährungsplan sowie die Aufzeichnung z. B. der Vitalfunktionen, der Ausscheidungen und des Gewichtes komplettiert die schriftliche Dokumentation. Je nach Pflegesituation wird z. B. auch eine Wunddokumentation (S. 842) oder ein Verlaufsbogen, z. B. über zerebrale Anfälle, benötigt. Des Weiteren kann sich die Pflegefachkraft mithilfe des Hygieneplans über die notwendigen Hygienemaßnahmen informieren.

Zusammenarbeit im interdisziplinären Team Das Pflegeteam stellt das Fundament in der häuslichen Pflege dar. Regelmäßige Teamsitzungen gewährleisten den ständigen Informationsaustausch, z. B. über die betreuten Familien, Therapien und Kas-

5.4 Pflege und Betreuung im häuslichen Umfeld

Kranken- und Pflegekassen

Ergotherapeuten Rehabilitationsberater Therapeuten der Hör- und Sehfrühförderung

Kinderkliniken

niedergelassene Kinderärzte

Schule

Gesundheits- und Kinderkrankenpflegeperson in der ambulanten Pflege

Kindergarten

Logopäden

Physiotherapeuten

Die Arbeit der ambulanten Kinderkrankenpflegeeinrichtungen finanziert sich aus den Kostenerstattungen der Krankenund Pflegekassen, des Sozialamtes und des Jugendamtes. Einige erhalten außerdem Gelder über Spenden oder Sponsoren.

Krankenversicherung SGB V

Abb. 5.16 Zusammenarbeit im interdisziplinären Team. Die Gesundheits- und Kinderkrankenpflegefachkräfte arbeiten in Kooperation mit zahlreichen Therapeuten und Institutionen.

senverhandlungen. Es werden Terminabsprachen getroffen und administrative Aufgaben verteilt, z. B. Bürotätigkeiten, Telefonate, Besuch in der Kinderklinik). Gemeinsam können Standardpflegepläne (S. 66) erstellt und besprochen werden. Die Arbeit nach Durchführungsstandards ermöglicht eine prozessorientierte und möglichst einheitliche Pflege. Diese dient der Orientierung der Eltern, neuer Mitarbeiter und Auszubildender sowie der Qualitätssicherung. Die Gesundheits- und Kinderkrankenpflegefachkraft im ambulanten Bereich arbeitet in enger Kooperation mit den Kinderkliniken, Palliativteams, Kinderhospizen, den niedergelassenen Kinderärzten und Therapeuten (z. B. Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Logopäden, Fachkräften der Hör- und Sehfrühförderung) zusammen (▶ Abb. 5.16). Der Austausch erfolgt meist im Gespräch, z. B. wenn das Kind zu Therapien oder Arztbesuchen begleitet wird oder diese im häuslichen Bereich des Kindes stattfinden. Dann werden die aktuelle Entwicklung des Kindes, Ressourcen und Probleme gemeinsam erörtert und ggf. neue Ziele gesteckt. Dieser Austausch wird später schriftlich in der Dokumentationsmappe des Kindes festgehalten. Die Pflegenden nehmen häufig eine vermittelnde Rolle zwischen der Einheit Kind/Eltern und den weiteren mitbetreuenden Berufsgruppen ein. Sie können z. B. einschätzen, wenn das Kind durch eine Therapie gut gefördert oder aber auch unter- oder überfordert ist. Auch mit den Kindergärten und Schulen der kleinen Patienten steht das ambulante Pflegeteam in Kontakt. Viele Kinder werden durch die Pflegefachkräfte auch in diese Einrichtungen begleitet und erhalten dort ihre fachspezifische Pflege.

5.4.4 Rechtliche und ökonomische Rahmenbedingungen

Spezifische Belastungen und Bewältigungsstrategien Die psychische Belastung kann in der häuslichen Pflege u. U. sehr hoch sein, da eine unmittelbare Nähe zur betreuten Familie besteht und eine Distanzierung schwer möglich ist. Eine seelische Entlastung und Verarbeitung des Erlebten kann oftmals bereits beginnen, wenn während der Teamsitzungen hierüber Gespräche möglich sind. Hierzu bedarf es einer offenen und vertrauensvollen Atmosphäre. Besondere Situationen, die das Bedürfnis nach einem gemeinsamen Austausch erhöhen, können sein: ● die stationäre Wiederaufnahme eines Kindes ● die akute Verschlechterung des Gesundheitszustandes eines Kindes ● während und nach Sterbebegleitungen ● der Verdacht auf Misshandlung eines Kindes ● die Verwahrlosung eines Kindes (seelisch und/oder körperlich) ● Drogenmissbrauch durch die Eltern ● die Arbeit in einer Familie, die durch die Erkrankung des Kindes bereits über einen längeren Zeitraum belastet ist Viele Einrichtungen praktizieren Supervisionen. Auch Fortbildungen mit speziellen Angeboten im Rahmen von Kommunikation und Gesprächstraining bieten eine Bewältigungsmöglichkeit. Das offene Gespräch innerhalb der betroffenen Familie kann dazu beitragen, Belastungen für alle Gesprächsteilnehmer abzumildern. Auch werden bundesweite oder ggf. innerbetriebliche Fortbildungen zu Themen, wie Krankheitsbewältigung, Trauer, das sterbende Kind, angeboten.

Die Kostenübernahme durch die Krankenkasse ist in § 37 und § 39 Sozialgesetzbuch SGB V festgeschrieben. In der Regel werden die Kosten für jene schwer kranken Kinder übernommen, die anstelle von Krankenhausbehandlung oder zur Sicherung der ambulanten ärztlichen Betreuung zu Hause fachpflegerisch versorgt werden.

Merke

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H ●

Für Kinder mit einem sehr großen Pflegebedarf (z. B. bei Tracheotomie, Heimbeatmung) treffen die Krankenkassen „Einzelfallentscheidungen“, die nur für die Behandlung des betroffenen Kindes gelten.

Neben der ärztlichen Behandlung erhalten Versicherte in ihrem Haushalt oder in ihrer Familie in folgenden Fällen häusliche Krankenpflege durch geeignete Pflegefachkräfte: ● Krankenhausbehandlung ist geboten, jedoch nicht durchführbar ● Krankenhausbehandlung wird durch die häusliche Krankenpflege vermieden oder verkürzt Die häusliche Krankenpflege umfasst die im Einzelfall erforderliche Grund- und Behandlungspflege sowie die hauswirtschaftliche Versorgung. Der Anspruch besteht bis zu 4 Wochen. In begründeten Ausnahmefällen kann ein längerer Zeitraum bewilligt werden, wenn der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) feststellt, dass dies erforderlich ist. Auch die Bestimmungen zur ambulanten Palliativversorgung sind im SGB V geregelt. Diese gesetzlichen Grundlagen sind nicht bezogen auf Kinder, sondern allgemein auf „Patienten“, die natürlich auch Kinder sein können. Bis heute gibt es keine gesonderten gesetzlichen Bestimmungen der Kostenübernahme für fachgerechte pädiatrische Pflege von Kindern im häuslichen Umfeld.

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Gesundheits- und Kinderkrankenpflege So forderte der Bundesverband Häuslicher Kinderkrankenpflege (BHK), dass der Anspruch auf Leistungen der häuslichen Kinderkrankenpflege für Kinder im § 37 des Sozialgesetzbuches (Häusliche Krankenpflege) separat aufgeführt werden müsse. „Dann könnte der Anspruch der Versicherten auf diese Leistung eindeutig sichergestellt werden, da dieser ausdrücklich benannt wäre. Die Auslegung der bestehenden Gesetze führt bisher immer wieder zu einer unzureichenden Berücksichtigung der besonderen Erfordernisse in der Versorgung von schwer kranken Kindern“ (M. Böll, Januar 2007). Es spricht für sich, dass sich leider bis heute an diesem Anliegen nichts geändert hat, da der Gesetzgeber bislang keine separate Erwähnung von Kindern vorsieht.

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Merke

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Die „Verordnung für häusliche Krankenpflege“ ist für Erwachsene und Kinder einheitlich konzipiert und berücksichtigt die notwendigen pflegerischen Maßnahmen bei Kindern nur unzureichend.

Kinder sind jedoch keine kleinen Erwachsenen und benötigen bei den pflegerischen Verrichtungen mehr Ansprache und Zeit. Es ist wichtig, zunächst das Vertrauen der kleinen Patienten zu gewinnen, um dann ihren Gesundheitszustand beurteilen zu können. Doch die Beurteilung des Gesundheitszustandes oder auch die pflegerischen Beobachtungen werden ebenso wie die dringend notwendige und von den Eltern gerne angenommene Beratung nicht in den Leistungskatalogen erwähnt und gerade sie dienen der Prävention. Hier ist der Handlungsbedarf vonseiten der politisch Verantwortlichen nach wie vor sehr groß. Eine Veränderung der Leistungserstattung seitens der Krankenkassen ist längst überfällig. Hinzu kommen manchmal lange Wartezeiten auf eine Kostenzusage der Krankenkassen nach einer Entlassung aus der Klinik. Dies kann negative Auswirkungen auf die finanzielle Situation der Pflegedienste zur Folge haben. Um dem Ideal „ambulante vor stationäre Behandlung“ näher zu kommen, werden dringend gesonderte Vereinbarungen benötigt, die speziell auf Frühgeborene, Säuglinge, Kinder und Jugendliche zugeschnitten sind. Diese sollten gesetzlich festgehalten sein, damit ein grundsätzlicher Rechtsanspruch für die betroffenen Kinder besteht.

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Pflegeversicherung SGB XI Seit April 1995 werden Leistungen für die häusliche Pflege an Pflegebedürftige gewährt. Das Pflegeversicherungsgesetz (PflegeVG) hat am 26. 05. 1994 mit der Sozialen Pflegeversicherung eine eigenständige Versicherung (SGB XI) geschaffen. Vorrangig soll die häusliche und familiäre Pflege gefördert und die Pflegesituation der Pflegebedürftigen verbessert werden. Die Soziale Pflegeversicherung unterstützt mit ihren Leistungen auch die Pflegebereitschaft der Angehörigen, damit die Pflegebedürftigen möglichst lange in ihrer häuslichen Umgebung leben können.

Definition

L ●

Pflegebedürftig sind Personen, die gesundheitlich (körperlich, kognitiv oder psychisch) bedingte Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit aufweisen und diese nicht alleine bewältigen und kompensieren können. Sie bedürfen der Hilfe durch andere. Pflegebedürftigkeit kann in allen Lebensabschnitten auftreten und besteht auf Dauer.

Seit dem 01. 01. 2017 lösen nach der Einführung des 3. Pflegestärkungsgesetzes 5 Pflegegrade die bisherigen 3 Pflegestufen ab. Dies ist eine Reaktion auf den demografischen Wandel unserer Gesellschaft und stellt die Selbstständigkeit und Alltagskompetenz der Pflegebedürftigen in den Vordergrund. Im Unterschied zum bisherigen Begutachtungsverfahren ist der Maßstab zur Einschätzung der Pflegebedürftigkeit nicht mehr die erforderliche Pflegezeit, sondern der Grad der Selbstständigkeit bei der Durchführung von Aktivitäten und der Gestaltung von Lebensbereichen. Bevor Leistungen der Pflegeversicherung in Anspruch genommen werden können, muss zuvor ein Antrag bei der zuständigen Pflegekasse gestellt werden. Diese beauftragt den MDK mit der Begutachtung zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit. Diese muss langfristig bestehen, jedoch mindestens für 6 Monate. Der MDK prüft und schätzt den Hilfebedarf in den folgenden 6 Lebensbereichen ein: ● Mobilität ● kognitive und kommunikative Fähigkeiten ● Verhaltensweisen und psychische Problemlagen ● Selbstversorgung (Körperpflege, Ernährung, Ausscheidungen) ● Umgang mit krankheits-/therapiebedingten Anforderungen und Belastungen



Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte

Dieses neue Begutachtungsassessment (Instrument) erfasst die individuelle Pflege- und Lebenssituation der Menschen umfassender als das vorherige. Auf dieser Grundlage erhalten alle Pflegebedürftigen ab dem 01 .01. 2017 gleichberechtigten Zugang zu den Leistungen der Pflegeversicherung, unabhängig davon, ob sie von körperlichen, geistigen oder psychischen Beeinträchtigungen betroffen sind. Dennoch zeigt diese gesetzliche Festlegung, wie schwierig die Feststellung der Pflegebedürftigkeit von Säuglingen und Kleinkindern ist, da diese auch eine Unterstützung oder stellvertretende Übernahme von Lebensaktivitäten benötigen, wenn sie gesund sind. Die Begutachtungsrichtlinien für Kinder entsprechen in großen Teilen weiterhin denen der Erwachsenen. Jedoch wird die Selbstständigkeit des kranken Kindes durch den Vergleich mit der Selbstständigkeit eines gesunden altersentsprechend entwickelten Kindes oder Jugendlichen bewertet. Für die Leistungszuordnung ist der zusätzliche (also altersunübliche) Hilfsbedarf gegenüber einem gesunden gleichaltrigen Kind maßgebend.

Eltern

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Den Eltern kann empfohlen werden, einige Tage vor der Begutachtung ein Pflegetagebuch zu führen, in welchem sie alle pflegerischen Maßnahmen dokumentieren. Die Pflegekassen senden auf Anfrage den Vordruck eines Pflegetagebuches zu.

In Deutschland sind 2,9 Millionen Menschen auf Pflege angewiesen (Stand 12/ 2015). Es wird davon ausgegangen, dass sich diese Zahl in den kommenden 15 Jahren um 1 Million Menschen erhöhen wird. Das Statistische Bundesamt wies zum Jahresende 201 580 539 Pflegebedürftige im Alter von 0–15 Jahren aus. Die Zahl der pflegebedürftigen Kinder ist somit im Vergleich zum Jahresende 2013 um 9 % gestiegen. 80 338 Kinder (dies entspricht 99,7 %) werden zu Hause gepflegt. Je nach Eingruppierung in den Pflegegrad erhalten die Eltern der betroffenen Kinder ein monatliches Pflegegeld (Geldleistung). Sie können auch eine Sachleistung beantragen, indem ein Pflegedienst beauftragt wird, stundenweise die Pflege des Kindes zu übernehmen und die Eltern zu entlasten. Die Kombination von Sachund Geldleistung ist möglich und wird von zahlreichen betroffenen Familien in Anspruch genommen. Insbesondere,

5.5 Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen wenn diese zudem Leistungen der Krankenkasse nach SGB V erhalten und bereits von einem ambulanten Kinderkrankenpflegedienst versorgt werden. Pflegefachkräfte können zudem Kurzzeitpflege, Verhinderungspflege und zusätzliche Betreuungsleistungen beantragen. Informationen hierüber erhalten die Eltern bei ihrer Pflegekasse oder dem Pflegedienst. Außerdem besteht der Anspruch auf individuelle Pflegeberatung und Hilfestellung durch eine/n Pflegeberater/-in bei der Auswahl und Inanspruchnahme von Sozialleistungen und Hilfsangeboten. Pflegeberater/-innen werden von den Pflegekassen benannt und erstellen einen Versorgungsplan und achten auf dessen Umsetzung. Die Einrichtungen der häuslichen Kinderkrankenpflege leisten auch Pflegebegutachtungen nach § 37 SGB XI: Pflegebedürftige, die Pflegegeld beziehen, sind gesetzlich verpflichtet, einen Pflegeeinsatz durch eine Pflegeeinrichtung, mit der die Kasse einen Versorgungsvertrag abgeschlossen hat, abzurufen. Diese Pflegeeinsätze dienen: ● der Sicherung der Qualität der häuslichen Pflege ● der regelmäßigen Hilfestellung und Beratung des häuslich Pflegenden Generell ist den Eltern bei Eintritt einer Behinderung, schweren Erkrankung oder Pflegebedürftigkeit ihres Kindes zu empfehlen, einen Beratungstermin beim zuständigen Sozial- sowie beim Jugendamt zu vereinbaren und sich über zustehende Leistungen informieren zu lassen.

Merke

H ●

Die Kostenübernahme für die häusliche Krankenpflege ist im Sozialgesetzbuch V und XI verankert. In besonderen Situationen übernehmen auch das Sozialamt oder das Jugendamt die Kosten für den Einsatz eines ambulanten Kinderkrankenpflegedienstes, z. B. im Rahmen der Hilfestellung in der Erziehung oder der Pflege.

Qualitätsmanagement Die in regelmäßigen Abständen stattfindenden Teamsitzungen dienen dem Informationsaustausch, der Reflexion der praktizierten Pflege und den weiteren Zielsetzungen der gemeinsamen Pflegeinterventionen. Daraus resultiert eine stete gemeinschaftliche Qualitätsentwicklung

und Qualitätssteigerung. Die bereits erwähnte Dokumentation (S. 118) dient dem Nachweis der durchgeführten pflegerischen Tätigkeiten und kann z. B. den Krankenkassen einen Anhalt für die qualitative Arbeit eines Pflegedienstes geben. In Anlehnung an die Expertenstandards des Deutschen Netzwerks für Qualitätssicherung in der Pflege (DNQP) hat der BHK im Jahr 2015 kindspezifische Pflegestandards ausgearbeitet. Diese Arbeitshilfen beschreiben das professionelle Handeln von Pflegefachkräften in unterschiedlichen Pflegesituationen wie der Sturzprophylaxe, des Schmerzmanagements, der Dekubitusprophylaxe, der Behandlung chronischer Wunden sowie dem oralen Ernährungsmanagement. Ziel ist es, eine möglichst einheitliche Durchführung der spezifischen pflegerischen Tätigkeiten zu erreichen. Innerbetriebliche Fortbildungen werden zu pflegerischen Themen angeboten, die gerade aktuell bei den kleinen Patienten auftreten (z. B. Tracheostomapflege, Pflege eines Kindes mit Hirntumor, Kinästhetik). Auch der BHK bietet fachspezifische Fortbildungen an. In Kooperation mit pflegewissenschaftlichen Institutionen soll eine Qualitätssteigerung erzielt werden, indem in der häuslichen Kinderkrankenpflege die Pflegeforschung und Fortbildung gefördert werden. Im November 2008 veröffentlichte der BHK erstmals ein Handbuch über Qualitätsmanagement in der häuslichen Kinderkrankenpflege. Es enthält Beschreibungen der wichtigen Kernprozesse in den Kinderkrankenpflegediensten (z. B. Anleitung der Eltern, Neuaufnahme eines Kindes, Einarbeitung neuer Mitarbeiter, Erstellung von Pflegeplanungen). Alle Dokumente wurden in Gruppen erarbeitet, deren Mitglieder Leitungskräfte häuslicher Kinderkrankenpflegedienste waren. Folgende Weiterbildungen werden z. B. angeboten: ● Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger/-in für häusliche Kinderkrankenpflege (auch berufsbegleitend) ● Stationsleiterlehrgänge für ambulante Sozialstationen ● Mentorenlehrgänge (Praxisanleitung) ● Fortbildungen im Überleitungs- und Case-Management Immer häufiger gefragt sind Weiterbildungen zu den Themen „Palliative Pflege bei Kindern“ und „Heimbeatmung bei Kindern“.

5.5 Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen Petra Kullick Rehabilitation und Kinder scheinen sich auf den ersten Blick eher auszuschließen, da Rehabilitation in unserer Gesellschaft vorrangig mit älteren Menschen in Verbindung gebracht wird. Aber in epidemiologischen Studien häufen sich die Hinweise auf eine Zunahme chronischer Erkrankungen bei Kindern (z. B. Asthma bronchiale, Diabetes mellitus, Adipositas, Neurodermitis). Insbesondere psychische Störungen nehmen in ihrer Häufigkeit und in ihrem Schweregrad zu. Gleichzeitig zeigen immer mehr Kinder und Jugendliche Mehrfacherkrankungen. Auch Unfälle spielen in der Kinder- und Jugendrehabilitation eine Rolle. Kinder aus sozial belasteten Familien oder mit Migrationshintergrund sind im Hinblick auf viele Gesundheitsbereiche stärker gefährdet und betroffen als andere. Auch angeborene Störungen können zu chronischen Erkrankungen führen (z. B. Herzfehler). Bei Kindern und Jugendlichen können dadurch die gesunde Entwicklung und die Bewältigung der Entwicklungsaufgaben langfristig bedroht sein. Chronische Erkrankungen und deren Folgeerscheinungen im körperlichen, psychischen und sozialen Bereich bleiben häufig im Erwachsenenalter bestehen und können dann zu Beeinträchtigungen und hohen Folgekosten führen. Die normale Entwicklung, die Bewältigung des Alltags, Freizeitaktivitäten, die schulische Entwicklung und/oder der Einstieg und die Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben können beeinträchtigt und damit auch die gesellschaftliche Teilhabe gefährdet sein. Angepasst an das sich verändernde Krankheitsspektrum tragen frühzeitige qualitätsgesicherte Vorsorge-, Rehabilitations- und Nachsorgemaßnahmen dazu bei, die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit zu erhalten, wiederherzustellen bzw. zu verbessern, um die Teilhabe von beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen an Alltag, Schule, Ausbildung und Gesellschaft zu gewährleisten. Ein weiteres Ziel ist es, die Lebensqualität der Patienten zu verbessern und deren Familien zu unterstützen.

5

1

Gesundheits- und Kinderkrankenpflege

Merke

H ●

Rehabilitation ist ein ganzheitlicher, sektorenübergreifender Behandlungsansatz in einem multidisziplinären Team, der über das Therapieren der Erkrankung hinausgeht und krankheitsbezogene physische, psychische und soziale Belastungsfaktoren und Ressourcen einbezieht.

In Zeiten knapper finanzieller Ressourcen und des Grundsatzes „Rehabilitation vor Pflege“ gewinnt die Rehabilitation eine immer größere Bedeutung und dringt stärker in das politische und gesellschaftliche Bewusstsein. Angestrebt wird eine engere Verzahnung gesundheitsfördernder, präventiver, kurativer und rehabilitativer Interventionen, die bei Bedarf auch gleichzeitig erforderlich sein können. Rehabilitative Pflege findet nicht nur in speziellen Rehabilitationskliniken stationär statt, sondern auch in ambulanten Einrichtungen und ist im klinischen Bereich in viele Pflegeinterventionen integriert, ohne dass diese Pflegehandlungen explizit als „rehabilitative Maßnahmen“ bezeichnet werden. Zukünftig soll die Vernetzung stationärer und ambulanter Reha-Angebote verbessert werden. Leistungen sind effizienter, wenn sie individuell auf das einzelne Kind oder den einzelnen Jugendlichen zugeschnitten sind und durch gezielte Planung nachhaltig das erreichte Ergebnis sichern.

5

Merke

H ●

Frühzeitige Leistungen der Kinder- und Jugendrehabilitation können die Lebensqualität, die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und die spätere Erwerbsfähigkeit sichern.

▶ Frührehabilitation. Wenn rehabilitative Maßnahmen erforderlich sind, dann sollten sie so früh wie möglich einsetzen. Rehabilitative Interventionen müssen z. B. bei einem scheinbar nicht reagierenden komatösen Kind mit Schädel-Hirn-Trauma bereits auf der Intensivstation parallel zur Akutbehandlung integriert werden, ebenso wie eine gezielte Frühförderpflege unter Ressourcennutzung bei einem (neurologisch auffälligen) Frühgeborenen auf der neonatologischen Station. Im Mittelpunkt stehen dabei z. B. eine aktivierende Pflege und Elemente der sensorischen Integration in multiprofessioneller Zusammenarbeit mit Therapeuten. Pflegerische und therapeutische Interventionen sind z. B. basale Stimulation, Kinästhetik Infant Handling, Trink-, Kau-, Schluck- und Esstraining, Physio- und Ergotherapie, Logopädie.

122

Merke

H ●

Eine wichtige Aufgabe von Pflegefachkräften ist die Früherkennung von Anzeichen oder Risikofaktoren, die auf eine chronische Erkrankung, auf Entwicklungsverzögerungen oder eine Behinderung hinweisen. Durch Früherkennung können Kinder einer frühzeitigen Diagnostik, effektiven Frühtherapie und -förderung zugeführt werden.

5.5.1 Definitionen Rehabilitation Zum Begriff der „Rehabilitation“ (lat. rehabilitare = wiederherstellen) liegen verschiedene Definitionen und Erläuterungen vor.

Definition

L ●

Der Duden bietet für Rehabilitation folgende Definition: „1. [Wieder-]Eingliederung eines Kranken, körperlich oder geistig Behinderten in das berufliche und gesellschaftliche Leben [...]“ (Duden, Das Fremdwörterbuch, 2015). Im Brockhaus Gesundheit ist zu lesen: „Maßnahmen zur Linderung oder Beseitigung von chronischen körperlichen oder seelischen Erkrankungen. Die Rehabilitationsmaßnahmen zielen darauf ab, den Einfluss behindernder und benachteiligender Faktoren zu beheben oder zu verringern und die verbleibenden Fähigkeiten und Begabungen so zu trainieren und zu entfalten, dass sich die Betroffenen in ihrer Umgebung zurechtfinden. Dazu sind sowohl medizinische als auch berufliche und soziale Maßnahmen notwendig“ (Der Brockhaus Gesundheit, 2010).

Rehabilitation gliedert sich in medizinische, berufliche und soziale Rehabilitation. Bei Kindern ist ein zentraler Aspekt die Verbesserung der entwicklungsgemäßen Teilhabe.

ICF – Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (International Classification of Functioning, Disability and Health, ICF) dient als Grundlage für Rehabilitationsmaßnahmen. „Die ICF dient fach- und länderübergreifend als einheitliche und standardisierte Sprache zur Beschreibung des funktionalen Gesundheitszustandes, der Behinderung, der sozialen Beeinträchtigung und der relevanten Umgebungsfaktoren eines Menschen. Mit der ICF können die bio-psycho-sozialen Aspekte von Krankheitsfolgen unter Berücksichtigung der Kontextfaktoren systematisch erfasst werden.“ (www.dimdi.de/dynamic/de/ klassifikationen/icf/) Die englischsprachige Version der ICF wurde 2001 von der WHO verabschiedet und ist die weiterentwickelte Fassung der Internationalen Klassifikation der Schädigungen, Fähigkeitsstörungen und Beeinträchtigungen (ICIDH) von 1980. Die ICF geht über die rein biomedizinische Krankheitsbetrachtung hinaus, indem sie die krankheitsbedingten bio-psycho-sozialen Beeinträchtigungen mitbeachtet. Die ICF stellt für alle an der Rehabilitation Beteiligten eine gemeinsame Denk- und Handlungsstruktur dar. Durch die gemeinsame Sprachregelung sind Vergleiche zwischen den betreffenden Bereichen des Gesundheitswesens auf nationaler und internationaler Ebene möglich.

Merke Aus den angeführten Zitaten geht hervor, dass Rehabilitation verschiedene Bereiche berücksichtigt – medizinische, berufliche, soziale und integrative. Andere Definitionen beinhalten auch rechtliche oder präventive Komponenten. Die Begriffe Rehabilitation und tertiäre Prävention werden sogar synonym verwendet.

Lernaufgabe

M ●

Recherchieren Sie im Internet: Vergleichen Sie verschiedene Definitionen des Begriffs Rehabilitation und erarbeiten Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Finden Sie Erklärungen für unterschiedliche Definitionen. Beachten Sie dabei auch den Rehabilitationsgedanken in Bezug auf Kinder und Erwachsene.

H ●

Die ICF basiert auf einem ganzheitlichen bio-psycho-sozialen Modell. Durch die ICF findet eine Veränderung des Blickwinkels statt, indem der gesamte Lebenshintergrund und die Ressourcen eines Menschen einbezogen werden.

Die Betrachtungsweise ändert sich; weg vom Verständnis des Krankheitsfolgenmodells mit z. B. Krankheit – Einschränkung der Aktivität – Behinderung hin zu den Wechselwirkungen zwischen Gesundheitsproblem (Gesundheitsstörung oder Krankheit), Funktionsfähigkeit und Kontextfaktoren eines Menschen. Sie wurde damit der Lebenssituation betroffener Menschen besser angepasst (▶ Abb. 5.17). Das Modell besteht aus verschiedenen Komponenten. Durch die ICF kann der Zustand der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit einer Per-

5.5 Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen

Tab. 5.5 Begriffe der ICF. Begriff

Beschreibung

Funktionsfähigkeit und Behinderung



● ●



Funktionsfähigkeit und Behinderung enthalten die Komponenten Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten und Teilhabe bezeichnet positive, neutrale oder nichtproblematische Aspekte des Zustandes Beeinträchtigungen in der Folge eines Gesundheitsproblems sowie Beeinträchtigungen der Aktivität und Teilhabe beschreibt negative Aspekte der Wechselwirkung zwischen einer Person mit einem bestimmten Gesundheitszustand und deren individuellen umwelt- und personenbezogenen Faktoren, s. u.

Körperfunktionen



physiologische Funktionen von Körpersystemen und psychische Funktionen (z. B. auch mentale Funktionen)

Körperstrukturen



anatomische Teile des Körpers (Organe, Gliedmaßen und deren Bestandteile)

Aktivitäten



Durchführung einer Aufgabe oder Handlung durch eine Person Beeinträchtigung der Aktivität = Schwierigkeit oder Unmöglichkeit für eine Person, die Aktivität auszuführen



Teilhabe (Partizipation)





an Lebensbereichen bzw. Lebenssituationen teilhaben (z. B. an der Selbstversorgung, Mobilität, Kommunikation, an sozialen Beziehungen, Bildung, Ausbildung, Erwerbsarbeit) Beeinträchtigung in der Teilhabe = Problem einer Person, an einem Lebensbereich bzw. einer Lebenssituation zu partizipieren

Kontextfaktoren (umwelt- und personenbezogene Faktoren)



Umweltfaktoren



materielle, soziale und einstellungsbezogene Umwelt des Menschen (z. B. Produkte wie Lebensmittel, Hilfsmittel, Dienste und Leistungen, z. B. des Gesundheitswesens, Werte und Überzeugungen, Beziehungen/Unterstützung, z. B. Familie, Vorgesetzte)

personenbezogene Faktoren (bisher in der ICF nicht klassifiziert, da es weltweit große kulturelle Unterschiede gibt. Einbezug ist aber wichtig).



sind Eigenschaften oder Attribute einer Person (z. B. individueller Lebenshintergrund/Lebensführung), die nicht Teil des Gesundheitsproblems sind, aber eine Relevanz für die Behinderung haben (z. B. Geschlecht, Alter, ethnische Zugehörigkeit, Persönlichkeit, Gewohnheiten, Lebensstil, sozialer Hintergrund, Erfahrungen, Erziehung, Bildung, Ausbildung, Beruf, Erfahrungen, Verhaltensmuster, Bewältigungsstrategien)



gesamter individueller Lebenshintergrund eines Menschen mit Umweltfaktoren und persönlichen Faktoren können einen positiven oder negativen Einfluss auf die Funktionsfähigkeit haben

Lernaufgabe

Gesundheitsproblem (Gesundheitsstörung oder Krankheit) Körperfunktionen und -strukturen

5

Partizipation (Teilhabe)

Aktivitäten

Umweltfaktoren

M ●

Recherchieren Sie unter www.bar-frankfurt.de/ICF Fallbeispiele, um sich die komplexe ICF-Klassifikation in der Anwendung zu erschließen.

personenbezogene Faktoren

Grad der Behinderung (GdB) Abb. 5.17 Bio-psycho-soziales Modell der ICF. Komponenten und Wechselwirkungen. (Abb. von: Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit, WHO 2005)

Ein weiteres Klassifikationssystem mit nationaler Gültigkeit ist der „Grad der Behinderung“ (GdB).

Lernaufgabe son vor ihrem gesamten Lebenshintergrund, einschließlich Förder- und Barrierefaktoren beschrieben werden. Die ICF ist eine komplexe Klassifikation und kann hier nur in Ansätzen dargestellt werden. Wichtige Begrifflichkeiten der ICF sind in ▶ Tab. 5.5 erläutert. Wesentliche Aspekte der Vorläuferfassungen der ICF wurden unter Berücksichtigung der in Deutschland historisch gewachsenen und anerkannten Besonderheiten in das 9. Sozialgesetzbuch (SGB IX) „Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“ aufgenommen.

▶ ICF-CY (ICF – children and youth). Für die Klassifikation bei Kindern und Jugendlichen wurde die ICF-CY von der WHO herausgegeben. Sie berücksichtigt die Besonderheiten im Hinblick auf die in Entwicklung befindlichen Funktionen und die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen.

M ●

Informieren Sie sich im Internet zum Thema „Grad der Behinderung“ über die Definition, die Feststellung des GdB, die Einstufung und Leistungen, über Behinderten- bzw. Schwerbehindertenausweis. Können sich Ihrer Meinung nach neben Vorteilen auch Benachteiligungen durch eine Einstufung ergeben?

3

Gesundheits- und Kinderkrankenpflege

5.5.2 Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen Die Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin e. V. (DGSPJ) beschreibt Kinderrehabilitation folgendermaßen:

Definition

L ●

„Die Rehabilitation von Kindern mit chronischen Krankheiten, von behinderten und von Behinderungen bedrohten Kindern hat das Ziel, Folgeerscheinungen von Gesundheitsstörungen abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen oder eine Verschlimmerung zu verhüten. Sie hat das Ziel, das Anrecht eines jeden Kindes auf die ihm gemäße ungestörte körperliche, geistige, seelische und soziale Entwicklung zu erreichen oder zumindest anzustreben. Die Rehabilitation ist eine Komplexleistung, die neben den rein medizinischen Leistungen auch nichtärztliche, sozialpädiatrische, psychologische, heilpädagogische, psychosoziale Leistungen und die Beratung der Erziehungsberechtigten umfasst. Behinderte Kinder sollen dabei alters- und entwicklungsentsprechend an der Planung und Ausgestaltung der einzelnen Hilfen beteiligt und ihre Sorgeberechtigten intensiv in Planung und Gestaltung der Hilfen einbezogen werden [...]“ (DGSPJ, 2008).

5

Definition

L ●

Unter Entwicklungsrehabilitation wird die Anbahnung noch nicht entwickelter Funktionen (z. B. Motorik, Sprache) verstanden, die sich aufgrund von angeborenen und erworbenen Störungen nicht oder nur verzögert entwickeln würden.

Elemente des Konzeptes sind Frühdiagnostik, Frühtherapie und frühe soziale Eingliederung. Die Entwicklungsrehabilitation umfasst die Förderung der: ● motorischen Entwicklung ● Sinnesentwicklung ● Sprachentwicklung ● geistigen Entwicklung ● sozial-emotionalen Entwicklung Der Gesetzgeber hat im 9. Sozialgesetzbuch (SGB IX) „Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“ festgelegt, dass nach § 1 SGB IX behinderte oder von Behinderung bedrohte Menschen Leistungen erhalten, um ihre Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilnahme am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken. Kinder werden darin

124

ausdrücklich erwähnt. Damit wurden wichtige Aspekte der ICF in die Zielformulierung aufgenommen.

Merke

H ●

Zentraler Aspekt sind die ganzheitliche Förderung der persönlichen Entwicklung des chronisch kranken oder behinderten Kindes und Jugendlichen und die Unterstützung einer möglichst autonomen und selbstbestimmten Lebensführung.

sie gefordert sind, den Alltag und die Erkrankung gemeinsam mit ihrem Kind zu bewältigen. Spezielle Patienten- und Elternschulungen und Unterweisungen sollen die Nachhaltigkeit der Therapie sichern.

Merke

Kinder und Jugendliche haben besondere Bedürfnisse und benötigen deshalb spezifische Rehabilitationsangebote unter Einbeziehung ihrer Familie (S. 125).

Grundprinzipien der Rehabilitation für Kinder und Jugendliche

Rehabilitationsformen

Medizinische Vorsorge und Rehabilitation sind gekennzeichnet durch einen ganzheitlichen Ansatz, s. ICF/ICF-CY. (S. 122) Neben dem Erkennen und Heilen der Erkrankung ist es ein wichtiges Ziel, die entwicklungsgerechte Teilhabe am familiären, schulischen, beruflichen und gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Medizinische Rehabilitation verfolgt verschiedene Ziele: ● Verbesserung des Gesundheitszustandes unter Berücksichtigung der körperlichen, psychischen und sozialen Ebene (bio-psycho-soziales Rehabilitationsverständnis) ● Prävention von Sekundärerkrankungen ● Gewährleistung einer weitgehend normalen Teilhabe am Leben in der Gesellschaft

Stationäre medizinische Vorsorgeleistungen

Die Vernetzung der Bereiche und ihrer Einflussfaktoren trifft besonders für Kinder und Jugendliche zu. Neben den altersbedingten Unterschieden in den Erkrankungen sind bei chronisch kranken Kindern in der stationären Rehabilitation häufig auch psychische Probleme und schwierige soziale Verhältnisse zu beobachten. Dazu zählen Entwicklungsstörungen, Konzentrationsstörungen, Schulangst oder eine unangemessene Krankheitsbewältigung. Hinzu kommen viele Kinder mit problematischen familiären Bedingungen. Deshalb unterscheidet sich das Indikationsspektrum von dem in der Erwachsenenrehabilitation, denn auch die psychischen und sozialen Beeinträchtigungen müssen im Rahmen der Planung eines Rehabilitationsaufenthaltes und im Rehabilitationskonzept berücksichtigt werden. ▶ Kontext „Familie“. Integraler Bestandteil des Rehabilitationsansatzes bei Kindern und Jugendlichen sind die Eltern oder andere nahe soziale Bezugssysteme. Sie müssen möglichst eng in die Rehabilitationsmaßnahme einbezogen werden, da

H ●

Nachfolgend sollen verschiedene Formen der Rehabilitation für chronisch kranke und behinderte Kinder und Jugendliche unterschieden und deren Charakteristika kurz beschrieben werden. Allen gemeinsam sind ein bio-psycho-soziales Rehabilitationsverständnis und die Beachtung des familiären Kontextes.

Vorsorgemaßnahmen haben primär- und sekundärpräventiven Charakter. Die Vorsorgeleistungen sollen z. B. Risikofaktoren minimieren bzw. beseitigen, der Gefährdung der gesundheitlichen Entwicklung entgegenwirken, bei Gefährdung der alters- und entwicklungsgemäßen Leistungsfähigkeit diese erhalten oder verbessern, eine Chronifizierung oder Verschlimmerung der Gesundheitsstörung/ der Erkrankung verhüten und Pflegebedürftigkeit verhindern. Zielgruppen können z. B. Kinder und Jugendliche sein mit drohendem Übergewicht, rezidivierenden Atemwegserkrankungen, Diabetes mellitus oder der Notwendigkeit der Unterstützung des Gesundungsprozesses nach schweren Erkrankungen oder bei bestehenden psychosozialen Problemen. Ausgenommen sind z. B. Erkrankungen, die einer Akuttherapie oder einer medizinischen Rehabilitation bedürfen.

Anschlussheilbehandlung Eine Anschlussheilbehandlung (AHB) schließt sich unmittelbar an eine stationäre Krankenhausbehandlung an. Diese Leistung wird nur bei bestimmten Indikationen gewährt und kann stationär oder – meist bei Erwachsenen – auch ambulant erfolgen. Erforderliche Schritte können bereits in der Klinik durch den behandelnden Arzt eingeleitet werden. Der Sozialdienst der Klinik unterstützt bei der Antragstellung und bei anderen organisatorischen Belangen.

5.5 Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen

Stationäre medizinische Rehabilitation Eine stationäre medizinische Rehabilitation für Kinder und Jugendliche findet über mehrere Wochen in einer speziell ausgerichteten Rehabilitationsklinik statt. Diese Maßnahme kann notwendig werden, um das Therapieziel unter ICF-Gesichtspunkten zu erreichen, wenn eine Beeinträchtigung der Funktionen, Aktivitäten oder Teilhabe droht oder eingetreten ist und durch die stationäre Rehabilitation eine positive Beeinflussung zu erwarten ist, oder wenn verfügbare ambulante Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft oder nicht möglich sind. Weitere Gründe für eine stationäre Rehabilitation können deshalb u. a. sein: ● unangemessene Krankheitseinsicht und Krankheitsakzeptanz ● mangelnde Compliance ● unzureichendes Krankheitsmanagement oder unzureichende Bewältigungsstrategien ● verminderte Lebensqualität ● Störungen der sozialen Integration ● häufige schulische Fehlzeiten mit negativen Auswirkungen auf die Leistungen ● drohende Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit ● Unterstützung eines durch die Krankheit und deren Auswirkungen beeinträchtigten Familiensystems

Ambulante Rehabilitation für Kinder und Jugendliche Definition

L ●

Ambulante Rehabilitation für Kinder und Jugendliche ist ein multiprofessioneller, ärztlich geleiteter Rehabilitationsprozess, der wohnortnah erfolgt. Die Patienten kommen nur tagsüber in die behandelnde Einrichtung und verlassen sie abends wieder.

Der Grundsatz „ambulant vor stationär“ lässt sich aber aus verschiedenen Gründen nicht ohne Weiteres auf Kinder und Jugendliche übertragen. Bei ambulanten Rehabilitationsmaßnahmen für Kinder und Jugendliche besteht Aufbaubedarf, entsprechende Rahmenempfehlungen sind bzw. werden erarbeitet. Auch lassen viele Erkrankungen oder Schädigungen sowie eine erheblich eingeschränkte Belastbarkeit keine ambulante Maßnahme zu. Bei Kindern mit belastenden sozialen Faktoren kann eine Distanzierung vom sozialen Umfeld sogar förderlich sein. Das ist aber bei einer ambulanten Maßnahme nicht gegeben.

Überwiegend ambulante Rehabilitation findet z. B. in Frühförderstellen und Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) statt. SPZ sind der Diagnostik, Frühförderung, Therapie und Rehabilitation behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher gewidmet, umfassen damit aber nicht das gesamte Spektrum von Indikationen für eine Rehabilitation. Das Indikationsspektrum umfasst Entwicklungsstörungen, chronische Kopfschmerzen, psychosomatische Störungen, Verhaltensauffälligkeiten, Folgen chronischer Erkrankungen, Epilepsie, neuropädiatrische Erkrankungen, Langzeitbegleitung nach Früh- bzw. Risikogeburt, familiäre Interaktionsstörungen, Vernachlässigung, Misshandlung, sexueller Missbrauch u. a.

Familienorientierte Rehabilitation (FOR) Bei einer familienorientierten Rehabilitation wird die gesamte betroffene Familie (Eltern, Geschwister) zusammen mit dem schwerst chronisch kranken Kind/Jugendlichen in eine entsprechende Rehabilitationsklinik aufgenommen und in die Rehabilitationsmaßnahme integriert. Der Kostenträger kann eine FOR z. B. bei onkologischen Erkrankungen, bei Herzfehlern, Mukoviszidose und Organtransplantationen übernehmen. Voraussetzungen sind, dass das Kind schwerst chronisch krank ist, der Alltag der Familie erheblich beeinträchtigt ist und die Mitaufnahme der Familie dazu beiträgt, den Rehabilitationserfolg nachhaltig zu sichern. Hintergrund ist, dass eine Behinderung oder eine schwere oder chronische Erkrankung eines Kindes die gesamte Familie belastet und deren soziale Funktion erschüttert. Familienangehörige leiden häufig selbst unter einem gesundheitsgefährdenden physischen und psychischen Druck. Besteht bei Familienmitgliedern ein eigener Rehabilitationsbedarf, gibt es die Möglichkeit, die beiden Rehaleistungen im Optimalfall örtlich und zeitlich zu koordinieren. Grundgedanke ist, dass das kranke oder behinderte Kind die familiäre Unterstützung zur Bewältigung der Erkrankung und des Alltags braucht. Eine FOR umfasst deshalb ein erweitertes komplexes Aufgabenspektrum. Während einer FOR soll die Familie in einem stressarmen Umfeld mit Unterstützung durch ein speziell ausgebildetes interdisziplinäres Team wieder zusammenfinden und sich stabilisieren.

Sozialmedizinische Nachsorge Unter sozialmedizinischer Nachsorge werden Maßnahmen aus medizinischen Gründen für chronisch und schwerstkranke Kinder und Jugendliche verstanden, die

i. d. R. das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Die ergänzende Leistung zur Reha wird von den gesetzlichen Krankenkassen in unmittelbarem Anschluss an eine stationäre Krankenhausbehandlung nach § 39 Abs. 1 SGB V oder eine stationäre Rehabilitation übernommen. Die Indikation ergibt sich aus einer Kombination von gelisteten Diagnosen und von schweren Beeinträchtigungen der Funktionsfähigkeiten nach ICF. Vorliegen müssen Schädigungen der Körperfunktionen, Beeinträchtigungen der altersgemäßen Aktivitäten und Teilhabe sowie Schwierigkeiten in der Organisation der Therapie (Kontextfaktoren). Am häufigsten ist die sozialmedizinische Nachsorge bei Frühgeborenen, kranken Neugeborenen und Kindern mit Krebserkrankungen. Anspruchsberechtigt sind auch Kinder mit einer Erkrankung im Finalstadium. Die sozialmedizinische Nachsorge übernimmt eine Brückenfunktion zwischen stationärer und ambulanter Versorgung, analysiert und koordiniert den einzelfallspezifischen Interventions- und Unterstützungsbedarf.

Merke

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H ●

Sozialmedizinische Nachsorge für schwerst oder chronisch kranke Kinder und Jugendliche unterstützt, wenn die Nachsorge wegen der Art, Schwere und Dauer der Erkrankung erforderlich ist, mit dem Ziel, den stationären Aufenthalt zu verkürzen, die ambulante Weiterbehandlung sicherzustellen, eine Überforderungssituation der Angehörigen und eine stationäre Wiederaufnahme zu vermeiden.

Gesetzliche Grundlagen Das Krankenpflegegesetz (KrPflG) vom 16. 07. 2003 und die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung (KrPflAPrV) vom 10. 11. 2003 haben die Veränderungen im Gesundheitswesen berücksichtigt und eröffnen dem Pflegeberuf damit auch neue Zukunftsperspektiven sowie erweiterte Handlungsfelder. Im Ausbildungsziel § 3 KrPflG ist Folgendes festgelegt: „Die Pflege [...] ist dabei unter Einbeziehung präventiver, rehabilitativer und palliativer Maßnahmen auf die Wiedererlangung, Verbesserung, Erhaltung und Förderung der physischen und psychischen Gesundheit der zu pflegenden Menschen auszurichten.“ In der KrPflAPrV wird der Rehabilitation ein eigener Themenbereich gewidmet. Gemäß Anlage 1 zu § 1 Abs. 1 KrPflAPrV sind die Auszubildenden im

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Gesundheits- und Kinderkrankenpflege

5

Rahmen von Themenbereich 4 zu befähigen: ● den Bedarf an pflegefachlichen Angeboten zur Erhaltung, Verbesserung und Wiedererlangung der Gesundheit systematisch zu ermitteln und hieraus zielgerichtetes Handeln abzuleiten ● Betroffene in ihrer Selbstständigkeit zu fördern und sie zur gesellschaftlichen Teilhabe zu befähigen



Weitere wichtige gesetzliche Grundlagen sind u. a. die Sozialgesetzbücher (SGB): ● SGB V: Gesetzliche Krankenversicherung ● SGB VI: Gesetzliche Rentenversicherung ● SGB VII: Gesetzliche Unfallversicherung (z. B. Reha bei Schulunfall) ● SGB IX: Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen ● SGB XI: Soziale Pflegeversicherung ● Pflegestärkungsgesetz I–III ● Bundesteilhabegesetz (BTHG)

Rehabilitationsfähigkeit

5.5.3 Voraussetzungen für eine stationäre Rehabilitation Für eine stationäre Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen müssen bestimmte medizinische Gründe vorliegen. Weitere Voraussetzungen sind u. a. Rehabilitationsbedürftigkeit, Rehabilitationsfähigkeit und Rehabilitationsmotivation. Außerdem müssen die Eltern versicherungsrechtliche Vorgaben erfüllen, die sie bei den jeweiligen Kostenträgern (z. B. gesetzliche Krankenversicherung, Rentenversicherung) in Erfahrung bringen können.

Rehabilitationsbedürftigkeit „Eine Rehabilitation für Kinder und Jugendliche kommt in Betracht, wenn hierdurch voraussichtlich eine erhebliche Gefährdung der Gesundheit beseitigt oder eine schon beeinträchtigte Gesundheit wesentlich gebessert oder wiederhergestellt werden kann“ (Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, 2002). Insofern haben Rehabilitationsmaßnahmen für Kinder und Jugendliche auch präventiven Charakter. Außerdem wird das Kindes- und Jugendalter als eine optimale Entwicklungs- und Lernphase gesehen, um gesundheitliche Probleme erfolgreich und dauerhaft positiv zu beeinflussen. Indikationen für eine Rehabilitation sind z. B. folgende Erkrankungen: ● chronische Atemwegserkrankungen (z. B. Asthma bronchiale, Mukoviszidose) ● Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparates (z. B. rheumatische Erkrankungen) ● Essstörungen (z. B. Anorexie), Adipositas ● Hauterkrankungen (z. B. Neurodermitis)

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Erkrankungen der inneren Organe (z. B. Herzerkrankungen, Morbus Crohn) neurologische Erkrankungen (z. B. Epilepsie) psychosomatische Störungen, Verhaltensstörungen (z. B. ADHS, Ängste, Kopfschmerzen, Einnässen) Stoffwechselstörungen (z. B. Diabetes mellitus) onkologische Erkrankungen

Kriterien zur Einschätzung der Rehabilitationsfähigkeit sind z. B. ausreichende körperliche und psychosoziale Belastbarkeit, eine entwicklungsentsprechende Möglichkeit des Kindes oder Jugendlichen, aktiv an der Rehabilitation mitzuwirken, und die Fähigkeit zur Integration in eine Gruppe.

Merke

H ●

Akute Erkrankungen, Infektions- oder Suchterkrankungen schließen eine Rehabilitation zunächst aus.

Rehabilitationsmotivation Die Motivation des Kindes bzw. Jugendlichen und ggf. der Begleitperson ist eine wichtige Voraussetzung für erfolgreiche Lernprozesse und Rehabilitation. Die Motivation ist u. a. abhängig vom Entwicklungsstand (z. B. Fähigkeit zur Krankheitsund Therapieeinsicht), bei Jugendlichen sollte der Wille zur Verbesserung des gesundheitlichen Status vorhanden sein. Besteht selbstgefährdendes Verhalten, kann eine Rehabilitation mit psychosozialem Schwerpunkt auch ohne positive Grundhaltung zu einer Reha-Maßnahme sinnvoll sein, um eine Krankheitsakzeptanz zu erzeugen. Die Entscheidung für eine stationäre Rehabilitation sollte gemeinsam mit dem Kind bzw. Jugendlichen, seiner Familie und dem Arzt getroffen werden. Bei der familienorientierten Rehabilitation muss v. a. die Bereitschaft der Eltern bestehen, das psychosoziale Therapieangebot zu nutzen. Aufgabe der Reha-Klinik ist es, eine motivationsfördernde Atmosphäre zu schaffen, in der die Reha-Ziele erreicht werden können.

länger anzusetzen als bei Erwachsenen, da Kinder mehr Zeit zur Eingewöhnung in die neue soziale Umgebung und die Adaptation an die Therapiemaßnahmen brauchen. Der für Kinder erforderliche Freiraum muss gegeben sein.

Rehabilitationsprognose Die Rehabilitationsprognose wird beeinflusst von: ● Schwere und Stadium der Erkrankung, zusätzlichen Erkrankungen ● individuellen und sozialen Ressourcen ● Motivation des Kindes und seiner Familie ● Qualität der ambulanten Vorbereitung und Nachsorge ● Qualität des Therapiekonzeptes und der Kompetenz des Reha-Teams in der stationären Rehabilitation ● Qualität der Kommunikation zwischen dem ambulanten und stationären Behandlungsteam

5.5.4 Träger und Leistungen der Rehabilitation Die Kosten für eine Rehabilitation für Kinder und Jugendliche übernehmen u. a. die gesetzlichen Krankenkassen und die Rentenversicherungsträger zuzahlungsfrei. Grundsätzlich ist bei der gesetzlichen Rentenversicherung eine Kinderrehabilitation bis zum 18. Lebensjahr möglich, unter bestimmten Voraussetzungen aber bis zum 27. Lebensjahr (z. B. bei Jugendlichen, die aufgrund einer Behinderung nicht selbst für sich sorgen können). In den Leistungen sind Unterkunft und Verpflegung, Reisekosten und Nebenkosten z. B. für eine erforderliche Begleitperson eingeschlossen. Zum Leistungsspektrum gehören je nach Bedarf auch die Kosten für ärztliche, therapeutische, psychologische, pädagogische und berufsorientierende Maßnahmen.

Merke

H ●

Eltern erhalten konkrete Informationen und Tipps zur Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen z. B. bei den entsprechenden Auskunfts- und Beratungsstellen der Leistungsträger, beim Sozialdienst im Krankenhaus und im Internet.

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Rehabilitationsdauer

Merke

Die Rehabilitationsdauer orientiert sich an den Gesetzesvorgaben, der Indikation, dem Schweregrad der Erkrankung und den Rehabilitationszielen jedes einzelnen Kindes. I.d.R. dauert die Rehabilitation bei Kindern aufgrund der entwicklungsspezifischen Besonderheiten 4 – 6 Wochen. Die Dauer der Rehabilitation ist bei Kindern

Mutter/Vater-Kind-Kuren sind keine Maßnahmen der Kinderrehabilitation und kein Urlaub. Sie sind eine Sonderform der stationären Vorsorge oder Reha für Mütter und Väter mit Kind. Diese Leistungen dienen der Erholung von überlasteten Eltern.

5.5 Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen

5.5.5 Antragsverfahren Die folgenden Schritte sind bei der Antragsstellung durchzuführen (▶ Abb. 5.18). Gemeinsam mit dem Arzt wird der vollständige und begründete Antrag für eine stationäre Vorsorgemaßnahme oder Kinder- und Jugend-Rehabilitation erstellt. Den Reha-Antrag müssen die Eltern oder der junge Erwachsene selbst beim Leistungsträger einreichen. Ein ärztlicher Befundbericht und alle erforderlichen Unterlagen sind beizulegen. Der Leistungsträger klärt die versicherungsrechtlichen und individuellen Voraussetzungen wie Reha-Bedarf, Reha-Fähigkeit und Reha-Prognose. Nach eingehender Prüfung der Antragsunterlagen empfiehlt er entsprechend den medizinischen und individuellen Bedürfnissen des Kindes eine geeignete Rehabilitationseinrichtung. Berechtigte Wünsche der Eltern bzw. des Rehabilitanten werden berücksichtigt. Nach schriftlicher Bewilligung durch den Leistungsträger vergibt die Reha-Klinik einen Termin und gibt weitere Informationen. Im Falle eines ablehnenden Bescheids kann innerhalb einer festgelegten Frist ein begründeter Widerspruch eingelegt werden (Arzt einbeziehen).

Praxistipp Pflege

Z ●

Wer hilft weiter? Fachkundige Mitarbeiter von Auskunfts-, Beratungs- und Servicestellen der Leistungsträger in Wohnortnähe bieten kostenlos und neutral Informationen zur Rehabilitation und unterstützen bei der Antragstellung. Über Service-Telefone sind Experten zum Nulltarif erreichbar. Unter den Internetadressen der Kostenträger können Ratsuchende aktuelle Listen der Servicestellen, Informationen, Vordrucke und Broschüren herunterladen. Kompetente Beratung bieten auch Sozialdienste im Krankenhaus, Reha-Kliniken und Selbsthilfegruppen.

▶ Begleitperson. Die Mitaufnahme und Finanzierung einer Begleitperson sind möglich. Die trägerspezifischen Vorgaben sind dabei zu beachten.

5.5.6 Geeignete Rehabilitationseinrichtungen Bundesweit stehen zahlreiche, indikationsspezifisch ausgerichtete stationäre Rehabilitationseinrichtungen für Kinder und Jugendliche zur Verfügung. Bei der Auswahl wird versucht, die individuellen Bedürfnisse der Rehabilitanden zu berücksichtigen. Zur Regeneration trägt auch die entsprechende klimatische und geogra-

Antrag auf stationäre Vorsorge und Rehabilitation (Eltern und Arzt mit Befundbericht) Rentenversicherung (§ 31 SGB VI) bzw. gesetzl. Krankenversicherung (§ 23 u. § 40 SGB V) Auswahl einer geeigneten Vorsorgeund Rehabilitationseinrichtung (Leistungsträger, Arztempfehlung möglich) schriftliche Bewilligung (Leistungsträger)

Ablehnung (Leistungsträger)

Termin durch Rehaklinik

Widerspruch (Eltern, Arzt)

Abb. 5.18 Antragsverfahren. Korrekte Vorgehensweise.

fische Lage der Rehabilitationsklinik bei (z. B. klare Seeluft für Patienten mit Atemwegs- und Hauterkrankungen). Das Kindernetzwerk z. B. verfügt über einen bundesweiten Wegweiser zu Einrichtungen der Vorsorge und Rehabilitation für Kinder und Jugendliche und setzt sich neben vielen anderen Zielen dafür ein, dass behinderte und chronisch kranke Kinder und Jugendliche bessere Versorgungsstrukturen, Lebens- und Heilungschancen erhalten.

Kind- und adoleszentengerechte Ausstattung Stationäre Einrichtungen der Kinder- und Jugendrehabilitation benötigen eine dem Kindes- und Jugendalter angepasste, konzeptionelle, bauliche und personelle Ausstattung. Sie sollen ein Umfeld bieten, in dem sich verschiedene Altersgruppen vom Klein- und Schulkind bis zum Jugendlichen wohlfühlen. Dies beinhaltet: ● Unterbringung und Betreuung in altersund entwicklungsentsprechenden Räumen und Gruppen ● Begegnungs-, Rückzugs-, Lern- und Lebensräume zur Förderung der Integration, der Selbstständigkeit und eines angemessenen Rückzugs ● entsprechende Wohnmöglichkeiten für Begleitpersonen (z. B. Appartements in der familienorientierten Rehabilitation) ● indikationsgerechte Unterbringung (z. B. allergenarm, barrierefrei) ● pädagogische Betreuung durch speziell ausgebildetes Personal

5.5.7 Rehabilitationskonzept Die Konzepte der Rehabilitation sollten auf den neuesten Erkenntnissen von Wissenschaft und Forschung basieren. Aufgrund indikationsspezifischer Konzepte

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ist eine auf die speziellen Bedürfnisse des Rehabilitanden und seiner Familie abgestimmte Rehabilitation möglich. Zu Beginn der Rehabilitation erstellt das interdisziplinäre Rehabilitationsteam einen individuellen Rehabilitationsplan unter Einbeziehung des familiären und sozialen Umfelds sowie des Kindes bzw. Jugendlichen, wenn möglich. Das Rehabilitationskonzept basiert auf einem ganzheitlichen Therapieansatz – ICF/ICF-CY (S. 122). Eine Rehabilitationsmaßnahme umfasst alle Bemühungen der medizinischen, psychologischen, therapeutischen, pädagogischen, schulischen sowie berufsorientierenden und sozialen Rehabilitation. Der an den Rehabilitations- und Therapiezielen ausgerichtete Rehabilitationsplan wird kontinuierlich überwacht, evaluiert und bei Bedarf modifiziert.

Merke

H ●

Rehabilitation ist ein dynamischer Prozess, der fortlaufend neu eingeschätzt und angepasst werden muss (▶ Abb. 5.19).

Pädagogische Arbeit In der Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen spielt die pädagogische Arbeit eine große Rolle.

Merke

H ●

Entwicklungsziel pädagogischer Arbeit in Einrichtungen der Kinder- und Jugendrehabilitation ist das „kompetente Kind bzw. der kompetente Jugendliche“.

7

Gesundheits- und Kinderkrankenpflege

regelmäßige Evaluation der Rehabilitationsergebnisse

Rehabilitationsdiagnostik Sozialanamnese Kontext Familie

Handlungsleitend: ICF/ICF-CY Durchführung der Rehabilitationsmaßnahmen (interdisziplinär)

Rehabilitationsziele

5 Erstellung eines Rehabilitationsgesamtplans (interdisziplinär)

Abb. 5.19 Rehabilitation. Der Rehabilitationsprozess wird fortlaufend an die aktuelle Situation angepasst.

Zur Erreichung der Reha-Ziele sind die Einschätzung und Berücksichtigung der individuellen krankheits-, entwicklungsund altersgerechten Situation des Kindes eine Voraussetzung. Insbesondere spielt auch der psychosoziale und sozioökonomische Hintergrund eine wichtige Rolle bezüglich der vorhandenen Ressourcen und der Festlegung angemessener RehaZiele. Durch die Abstimmung des Rehabilitationsplans mit dem Kind oder Jugendlichen und ggf. mit seinen Bezugspersonen kann die Zusammenarbeit optimiert, eine realistische Sicht auf Erwartungen, Ziele, Inhalte und Aufgaben der Rehabilitation gefördert sowie die Motivation zur aktiven Mitwirkung an den Maßnahmen erhöht werden. Durch die Betrachtung der familiären Bedingungen kann gemeinsam an der Umsetzung und Mitwirkung für die Familie akzeptabler und praktikabler Maßnahmen für zu Hause gearbeitet werden. Dabei ist auf eine kind- und jugendlichengemäße, verständliche Erklärung und anschauliche Vermittlung des zu erlernenden gesundheitsförderlichen Verhaltens zu achten.

Einbeziehen der Begleitpersonen Dieses Ziel soll durch ein pädagogisches Konzept erreicht werden, das die medizinischen und psychologischen Rehabilitationsziele berücksichtigt und durch pädagogisch ausgebildetes Fachpersonal umgesetzt wird. Es werden v. a. folgende Methoden angewandt: ● Schulungen, Selbstmanagement- und Selbstständigkeitstraining ● Maßnahmen zur Integration in eine Gruppe ● Verhaltensbeobachtung und Verhaltensmodifikation in alltagsnahen Situationen ● Erarbeitung und Einüben von umsetzbaren Strategien der weiteren Therapie und der Alltagsbewältigung ● Stress-, Überforderungs- und Konfliktmanagement Die klinikeigenen Schulen bieten sog. Überbrückungsunterricht in wichtigen Fächern an, damit schulpflichtige Kinder und Jugendliche so wenig Unterrichtsstoff wie möglich versäumen. Der Unterricht wird in den Gesamttherapieplan integriert und erfolgt in kleinen Gruppen am eigenen Schulstoff. Gleichzeitig können Schulleistungsstörungen erkannt und diesen durch gezielte Lernstrategien begegnet werden. Der Besuch der Schule ist Alltag für die Rehabilitanden und wird damit auch zu einer Erprobung der Belastbarkeit.

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Flankierende Ziele Während der stationären Rehabilitation kann eine Vorbereitung der Kinder und Jugendlichen auf Schule, Ausbildung und Beruf erfolgen. Im Rahmen der Berufshinführung findet für Jugendliche eine individuelle Berufsberatung statt, die am Heimatort fortgeführt wird. Dabei soll unter Einbeziehung der persönlichen Neigungen und der medizinischen Eignung ein Problembewusstsein bezüglich der geeigneten Berufswahl geweckt werden.

Einbeziehen des Kindes bzw. Jugendlichen Eine Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Rehabilitation ist die aktive Einbindung des Kindes oder Jugendlichen in den Rehabilitationsprozess.

Merke

H ●

Eine eigenverantwortliche Mitarbeit bei der Therapie bzw. im Gesundungsprozess und der Bewältigung der Erkrankung und ihrer Folgen kann den RehaErfolg entscheidend positiv beeinflussen.

Der Rehabilitationserfolg hängt in vielen Fällen entscheidend von der Mitarbeit der Eltern ab. Die Anleitung und Beratung der Bezugspersonen sind eine zentrale Aufgabe der medizinischen Rehabilitation. Ziel ist die Befähigung der Bezugspersonen, ihr Kind bei der Bewältigung der Erkrankung und ihrer vielschichtigen Folgen angemessen zu unterstützen, ohne sich selbst zu überfordern. Eltern sollte Raum zur körperlichen und emotionalen Entlastung, zur Entspannung und zum Austausch von Erfahrungen gegeben werden. Es soll u. a. Vertrauen in die eigenen Kompetenzen und die ihrer Kinder geschaffen werden, sie sollen Kraft tanken, neue positive Sichtweisen im Umgang mit ihrer Situation entwickeln sowie persönliche und familiäre Ressourcen mobilisieren können. Eltern brauchen Zeit und Unterstützung, um in die Situation hineinzuwachsen. Sie müssen lernen, bleibende Beeinträchtigungen zu akzeptieren und auf der anderen Seite Hilfsangebote aufzugreifen und mitzutragen. ▶ Elternschulungen. Mit den unterschiedlichsten Schwerpunkten können sie z. B. ambulant oder kurzstationär bzw. als Schulung und Beratung von mit aufgenommenen Begleitpersonen erfolgen. Es kann auch sinnvoll sein, Geschwister in Schulungen einzubeziehen.

5.5 Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen ▶ Elternberatungen. Hier können eheliche, familiäre und Erziehungsprobleme mit Psychologen oder Sozialpädagogen besprochen werden. Bei schwerwiegenden Störungen im Interaktionsmuster zwischen Eltern und ihrem Kind kann zusätzlich eine gezielte familientherapeutische Intervention erforderlich werden.



● ● ● ●



Therapieangebote Je nach Erkrankung, Begleitstörungen und individuellem Bedarf werden verschiedene Therapieangebote von vernetzt im Team zusammenarbeitenden Berufsgruppen zielorientiert angeboten. Dabei wird auch beachtet, dass der Transfer in Alltagssituationen geleistet werden kann. Ausgewählte therapeutische Leistungen sind z. B.: ● Physiotherapie ● neurophysiologische Behandlungsmethoden (Vojta, spezielle Haltungsschulung) ● Schwimm-, Bewegungs- und Sporttherapie ● Atemtherapie, Inhalationstherapie (z. B. Sole- und Medikamenteninhalation) ● physikalische Therapie (Kneipp-Anwendungen, Balneo-, Kryo-, Elektrotherapie) ● Ergotherapie ● Logopädie ● Ernährungstherapie, Diätetik ● Gesundheitsförderung ● Reittherapie ● Aufmerksamkeits- und Konzentrationsförderung ● Beschäftigungs-, Kreativ-, Mal- und Musiktherapie ● Entspannungs- und Verhaltenstraining ● indikations- und altersgerechte Patientenschulungen (z. B. bei Asthma, Neurodermitis, Adipositas)

Gymnastiklehrer bzw. Sportlehrer

Anleitung zum Selbstmanagement in alltagsnahen Situationen (in alters- und entwicklungsgerechten Gruppen) Heil- und Erlebnispädagogik Sozialtraining Patientenschulungen Seminare, Schulungen und Beratung für Eltern psychosoziale und psychotherapeutische Betreuung

5.5.8 Zusammenarbeit im Rehabilitationsteam Die Rehabilitation erfolgt grundsätzlich in einem ganzheitlich orientierten interdisziplinären Team von qualifizierten Mitarbeitern unter ärztlicher Leitung. Das Rehabilitationsteam besteht i. d. R. aus einem festen Kernteam und wird je nach individuellem Rehabilitationsbedarf des Kindes oder Jugendlichen durch einbezogene Berufsgruppen ergänzt (▶ Abb. 5.20).

Merke

Alle am Rehabilitationsprozess Beteiligten wirken gemeinsam darauf hin, das bestmögliche Rehabilitationsergebnis für das einzelne Kind oder den einzelnen Jugendlichen zu erreichen.

Der interdisziplinäre Austausch erfolgt regelmäßig, z. B. in Form von Team- oder Fallbesprechungen, um den Rehabilitationsprozess für alle transparent zu gestalten und für die Rehabilitanden zielorientiert zum Erfolg führen zu können. Die Rehabilitation von chronisch kranken und behinderten Kindern unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von der Rehabilitation Erwachsener und benötigt deshalb kind- und jugendspezifisch ausgebildetes Fachpersonal, wie qualifizierte

Heilpädagoge Erzieher

Kinderarzt chronische Erkrankungen der Atemwege z.B. chronische Bronchitis Asthma bronchiale Mucoviscidose

Gesundheitsund Kinderkrankenpfleger Physiotherapeut

Dipl.-Psychologe bzw. Diplompädagoge

Aufgabenschwerpunkte der Pflegefachkräfte im Rehabilitationsteam Pflegefachkräfte übernehmen im Rehabilitationsprozess spezielle Aufgaben und leisten einen wichtigen Beitrag zur Erreichung der Therapie- und Rehabilitationsziele sowohl in Akut- oder Rehabilitationskliniken als auch im ambulanten Bereich. Um die erweiterten Anforderungen im Rahmen der Rehabilitation erfüllen zu können, muss ein entsprechendes Pflegeverständnis entwickelt und Kompetenzen in Bezug auf eine ganzheitlich-rehabilitierende, prozesshaft ausgerichtete Pflege aufgebaut werden. Ein Repertoire an rehabilitativen Methoden soll Pflegende in die Lage versetzen, Patienten bedarfsgerecht zu unterstützen. Die Vertiefung umfangreicher Konzepte erfolgt in speziellen Fort- und Weiterbildungen (z. B. BobathKonzept, Kinästhetik und Basale Stimulation). Es werden auch Beratungs-, Schulungsund Anleitungskompetenzen, bezogen auf Kinder und Angehörige, erwartet. Grundlegend ist die Weiterentwicklung pädagogischer und kommunikativer Kenntnisse.

Merke

5

H ●

Im Zuge der Professionalisierung sollte es zunehmend selbstverständlich werden, auch rehabilitatives Pflegehandeln evidenzbasiert an (pflege-)wissenschaftlichen Erkenntnissen zu orientieren.

Pflegerische Aufgaben im Rehabilitationsprozess

evtl. Kunsttherapeut Musiktherapeut

Bademeister

Diätassistent

H ●

Pädiater, Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerinnen, pädagogisches Fachpersonal und andere Berufsgruppen, um der spezifischen Situation gerecht werden zu können.

Med.-techn. Assistent Röntgenassistent

Abb. 5.20 Rehabilitationsteam. Interdisziplinäre Zusammensetzung am Beispiel von chronischen Erkrankungen der Atemwege.

Pflegefachkräfte sind in Rehabilitationskliniken in die Organisation, Koordination und Dokumentation des gesamten Rehabilitationsablaufs eingebunden. Neben pflegerischen und gesundheitsfördernden Aufgaben liegt der Schwerpunkt auch auf pädagogischer Unterstützung. Folgende Aufgabenschwerpunkte zeigen das erweiterte Spektrum pflegerischer Unterstützung im Rehabilitationsprozess: ● Aufbau eines vertrauensvollen „therapeutischen Klimas“ sowie einer haltgebenden und verlässlichen Pflegebeziehung

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Gesundheits- und Kinderkrankenpflege ●









5 ● ●





● ●





Erkennen von Gesprächsbedarf und Führen von Gesprächen, um Zugang zur Lebens- und Gefühlswelt des Kindes oder Jugendlichen zu finden gezielte Beobachtung im Rehabilitationsalltag (z. B. Ausführung der Lebensaktivitäten, Fortschritte/Stagnation/ Rückschritte, Verhaltensbeobachtung, Eltern-Kind-Interaktion, Situation der Begleitperson) Förderung der Selbstständigkeit und Handlungsfähigkeit Motivation und Unterstützung des Kindes oder Jugendlichen bei der Krankheitsbewältigung individuelle pädagogische Betreuung und Führung (z. B. Alltagsbewältigung, tägliche Körperpflege, Tagesstrukturierung, einfühlsame Begleitung bei Heimweh, Ängsten, Konflikten) Selbstwertstärkung Mitwirkung bei der Integration in Gruppen Gleichaltriger Beratung zu gesundheitsfördernder Lebensführung und Reduktion von gesundheitsschädigenden Risikofaktoren Mitwirkung an indikationsspezifischen Patientenschulungen (z. B. Neurodermitisschulung), Mitarbeit bei Elternschulungen Unterstützung im Gebrauch von Hilfsmitteln, bei der Anwendung bestimmter Techniken (z. B. Einsatz von Dosieraerosolen, Insulininjektionen mit Pen, Hautpflege bei Neurodermitis) Mitwirkung bei der ärztlichen Diagnostik und Therapie Mitgestaltung des interdisziplinären Austausches (z. B. Fallbesprechung)

Hilfsmittelversorgung Definition

L ●

Hilfsmittel sind Rehabilitationshilfen, die den Alltag und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erleichtern.

Die Internationale Fördergemeinschaft Kinder- und Jugend-Rehabilitation e. V. (rehaKIND e. V.) betont in der Broschüre „rehaKIND Erhebungsbogen“ (2007) die Bedeutung von Kinder-Reha-Hilfsmitteln: „Kinder werden mit Hilfsmitteln nicht rehabilitiert, sondern habilitiert, d. h. befähigt zu einem selbstständigen, selbstbewussten Leben.“ Viele Hilfsmittel werden ärztlich verordnet. Hilfsmittel gleichen nicht vorhandene oder eingeschränkte Körperfunktionen aus und dienen der Integration. Sie können dazu beitragen, einem Menschen ein würdevolles Leben zu ermöglichen. Andererseits bedeutet der Einsatz von Hilfsmitteln für die Eltern und das Kind bzw. den Jugendlichen auch, dass die Behinderung bewusster wahrgenommen wird. Bei einer Hilfsmittelversorgung erleben sie

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sowohl positive als auch negative Aspekte.

Merke

H ●

Hilfsmittel sollen nur so viel Unterstützung wie nötig geben.

Ihre Notwendigkeit muss deshalb regelmäßig überprüft sowie die Hilfsmittel an die veränderten Bedingungen (z. B. Wachstum) angepasst werden. Ein optimal versorgtes Kind spart Pflegeaufwand und Rehabilitationskosten und es profitiert vom Gewinn an Selbstständigkeit und anderen positiven Effekten (▶ Abb. 5.21). Hilfsmittel dürfen vorhandene Fähigkeiten nicht erschweren, sie sollen praktikabel und ästhetisch ansprechend sein und sich durch kind- und jugendspezifisches Design auszeichnen. Dies sind wichtige Faktoren für die Akzeptanz durch die Betroffenen. Für Hilfsmittel zur Rehabilitation existieren zwar Vorschriften, aber keine klaren Richtlinien oder Empfehlungen, die als Leitlinie für eine gelingende Versorgung oder als Standard für die Qualität der Produkte dienen können. In Zusammenarbeit mit anderen am Versorgungsprozess beteiligten Fachleuten und Betroffenen hat rehaKIND e. V. Bedarfsermittlungsbögen entwickelt mit dem Ziel einer optimalen, individuellen und bezahlbaren Hilfsmittelversorgung für jedes einzelne Kind. Hilfsmittel zur Kompensation der unterschiedlichsten Einschränkungen können z. B. über spezielle Kinder-RehaFachhändler oder Sanitätshäuser bezogen werden, die fachkundig beraten. Kinder und Eltern werden in der Anwendung und Pflege der Hilfsmittel angeleitet, sie erhalten Informationen über die therapeutische Funktion und über eine unfallverhütende Anwendung. Da Hilfsmittel auch ein sichtbares Zeichen einer Einschränkung sind, muss ggf. zunächst eine Akzeptanz bei den Betroffenen erreicht werden.

Abb. 5.21 Unabhängigkeit. Die selbstständige Fortbewegung z. B. mit einem Rollstuhl erweitert den Handlungsspielraum des Kindes. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Entlassungsmanagement Nach Beendigung der Rehabilitationsmaßnahme unterstützen kostenträgerspezifische Regelungen zum Entlassungsmanagement eine lückenlose bedarfsgerechte Anschlussversorgung und die Sicherung der Nachhaltigkeit der Leistungen. Im Entlassungsbericht werden insbesondere der Rehabilitationsverlauf, die durchgeführten Rehabilitationsmaßnahmen, die erreichten Rehabilitationsergebnisse in den verschiedenen Bereichen und die weiteren Empfehlungen zur Sicherung des Rehabilitationserfolgs dargestellt. Im Entlassungsgespräch werden Eltern und ggf. Kinder oder Jugendliche über alle zentralen Aspekte informiert und gemeinsam wird beraten, welche Maßnahmen im Anschluss erforderlich sind und z. B. wohnortnah realistisch umgesetzt werden können. Weitere Unterstützung ist abhängig vom Leistungsträger möglich (z. B. Terminvereinbarungen mit Ärzten, Heilmittelerbringern, Pflegediensten, Selbsthilfegruppen, Hilfe zur Rückkehr in die Schule oder bei der Antragstellung).

5.5.9 Spezifische Belastungen und Bewältigungsmöglichkeiten Die Arbeit in einer Rehabilitationseinrichtung kann sehr befriedigend sein, da bei vielen Kinder und Jugendlichen während der Rehabilitationsmaßnahme deutlich sichtbare Fortschritte zu sehen sind und die Rehabilitationsziele erreicht werden. Der ganzheitliche Konzeptansatz und die intensive Betreuung der Kinder und Jugendlichen stellen hohe Ansprüche an die Mitarbeiter im multiprofessionellen RehaTeam. Der Erwerb erforderlicher Kompetenzen und zunehmende Erfahrung verleihen Handlungssicherheit. Hilfreich in der Verarbeitung belastender Erkrankungen und deren Auswirkungen bzw. problematischer familiärer/sozialer Situationen ist der Austausch im Team oder die Supervision. Bereichernd ist das abwechslungsreiche Aufgabengebiet, das nicht nur auf die als traditionell angesehenen Pflegeaufgaben begrenzt ist. Durch die intensive und strukturierte Zusammenarbeit mit den unterschiedlichsten Berufsgruppen erweitert sich der Blick über die Pflege hinaus. Spezielle Rehabilitationseinrichtungen liegen in landschaftlich attraktiven Gebieten und bieten damit einen Anreiz, sich dieses Betätigungsfeld auszusuchen.

5.5.10 Qualitätsmanagement Rehabilitationskliniken sind vom Gesetzgeber aufgefordert, qualitätssichernde Programme zu implementieren und ständig weiterzuentwickeln, um Patienten

5.5 Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen eine hochwertige Versorgung anbieten und das Geld der Leistungsträger effektiv einsetzen zu können.

Merke

H ●

Durch eine frühzeitige, auf qualitativ hohem Niveau und auf Nachhaltigkeit ausgelegte Rehabilitation sind Einsparungen in Milliardenhöhe (z. B. an Renten und Sozialleistungen) möglich.

Im Bereich der medizinischen Rehabilitation stehen zurzeit verschiedene Ansätze einer externen und internen Qualitätssicherung zur Verfügung, die sich in unterschiedlichem Umfang auf die folgenden 3 Qualitätsdimensionen beziehen: ● Strukturqualität: z. B. räumliche, medizinisch-technische und personelle Ausstattung, ein am aktuellen wissenschaftlichen Stand ausgerichtetes Therapiekonzept, Interdisziplinarität, Zusammenarbeit mit Versorgungsstrukturen, die der Rehabilitation vor- und nachgelagert sind. ● Prozessqualität: z. B. Optimierung des Therapieverlaufs, orientiert an den individuellen Rehabilitationszielen; Zusammenarbeit des Rehabilitationsteams; Qualität der einzelnen therapeutischen Leistungen. ● Ergebnisqualität: Festlegung und Evaluation von Reha-Zielen anhand definierter Kriterien zur Erfolgsbeurteilung, z. B. die Erfassung des Diabetesmanagements des Kindes zu Beginn und am Ende der Rehabilitationsmaßnahme. ▶ Dokumentation. Eine wichtige Voraussetzung zur Qualitätssicherung ist eine systematische, nachvollziehbare Dokumentation zur rehabilitationsspezifischen Datenerfassung. Dokumentiert werden z. B. die diagnostischen und therapeutischen Leistungen und die Reha-Maßnahmen nach Art, Umfang und Erfolg. Die Daten können unter Berücksichtigung des Datenschutzes zur Kontrolle des Rehabilitationsverlaufs, aber auch zur Evaluation (z. B. statistische Auswertung, Vergleiche) herangezogen werden. ▶ Maßnahmen zur Qualitätsentwicklung. Weitere Maßnahmen zur Qualitätsentwicklung sind klinikinterne Qualitätszirkel zur Verbesserung der Kommunikation und Kooperation im interdisziplinären Team, zur Optimierung des Behandlungskonzeptes und der Qualitätssicherungsinstrumente. Auch Patientenbefragungen zum individuellen Rehabilitationsprozess und z. B. die Zertifizierung von Rehabilitationskliniken durch unab-

hängige Stellen tragen zur Qualitätsverbesserung bei. Auch für die ambulante Rehabilitation liegen Rahmenempfehlungen zum Qualitätsmanagement vor.

Personalstandards Die qualitativ hochwertige Versorgung von Kindern und Jugendlichen im Rahmen der Rehabilitation erfordert von dem in diesen Bereichen tätigen Fachpersonal ein hohes Maß an Motivation, Engagement, an aktuellem und (pflege-)wissenschaftlich untermauertem Fachwissen sowie Fortbildungsbereitschaft. Seit 2006 müssen die Vertragsärzte der gesetzlichen Krankenversicherungen rehabilitationsspezifische Qualifikationen nachweisen, um Rehabilitationsmaßnahmen verordnen zu können. Die Betreuung in Rehabilitationseinrichtungen sollte durch rehabilitationserfahrene Pädiater und Ärzte mit sozialpädiatrischer Qualifikation gewährleistet sein.

Rehabilitationsvorbereitung

Rehabilitationsdurchführung

Rehabilitationsnachsorge

regelmäßiger Informationsaustausch zur Abstimmung – Kind bzw. Jugendlicher – Eltern – behandelnder Arzt – weitere Einrichtungen (z. B. Spezialambulanzen, sozialpädagogische Zentren, Psychotherapeuten) – Leistungsträger – Jugendamt – Kindertagesstätten, Schule – Selbsthilfegruppen

5

Abb. 5.22 Rehabilitationskette. Qualitätssicherung durch eine enge Vernetzung von Versorgungsbereichen und Rehabilitationspartnern.

Kooperation und Vernetzung Eine zukunftsweisende Qualitätsstrategie ist die engere Verzahnung und Kooperation aller in die Rehabilitation eingebundener Rehabilitationspartner und Versorgungsstrukturen, wie betroffene Kinder, Jugendliche und deren Eltern, Kinderfachabteilungen an Akutkliniken, stationäre und ambulante Rehabilitationseinrichtungen, behandelnde niedergelassene Ärzte, Kostenträger, medizinische Dienste der Krankenkassen, Kindertagesstätten, Schulen und Selbsthilfeorganisationen.

Merke

H ●

Voraussetzung für die erfolgreiche Arbeit eines Netzwerks ist eine gute Abstimmung durch einen regelmäßigen Informationsaustausch mit dem Ziel der Sicherung der Nachhaltigkeit des Rehabilitationserfolges und der Überwindung der Schnittstellenproblematik.

Bereits während der Reha-Maßnahme werden weiterführende Versorgungsschritte eingeleitet. Die Institutionen dieser Rehabilitationskette sollen Aufgaben in der Rehabilitationsvorbereitung, -durchführung und -nachsorge erfüllen (▶ Abb. 5.22). Stationäre und ambulante Rehabilitation sollen sich gegenseitig ergänzen. Der Austausch mit Selbsthilfegruppen, Interessengemeinschaften und Verbänden dient u. a. der „Hilfe zur Selbsthilfe“, der zielgruppennahen Arbeit und der Weiterentwicklung von Konzepten.

5.5.11 Selbsthilfe In den letzten Jahren hat sich die Selbsthilfe zu einer weiteren wichtigen Säule im System gesundheitlicher Versorgung entwickelt und leistet einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Gesunderhaltung und Problembewältigung, insbesondere chronisch kranker und behinderter Menschen aller Altersgruppen und deren Angehörigen. Infolge der wachsenden Verbreitung und gesellschaftlichen Anerkennung der Selbsthilfe werden Selbsthilfevereinigungen vermehrt in Beratungsgremien des Gesundheitswesens einbezogen, die ihnen neue Formen der Mitsprache und Mitbestimmung eröffnen. In § 29 SGB IX „Förderung der Selbsthilfe“ ist Folgendes festgelegt: „Selbsthilfegruppen, -organisationen und -kontaktstellen, die sich die Prävention, Rehabilitation, Früherkennung, Behandlung und Bewältigung von Krankheiten und Behinderungen zum Ziel gesetzt haben, sollen nach einheitlichen Grundsätzen gefördert werden.“ Es existieren verschiedene Formen von Selbsthilfevereinigungen unterschiedlichen Formalisierungsgrades, wie Selbsthilfegruppen, Selbsthilfeorganisationen und Selbsthilfekontaktstellen mit spezifischen Aufgaben.

Selbsthilfegruppen (SHG) Bei der gruppenorientierten Selbsthilfe schließen sich Menschen aus eigener Initiative zusammen, die selbst an einer bestimmten Erkrankung oder Behinderung leiden oder Angehörige von Betroffenen

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Gesundheits- und Kinderkrankenpflege sind. Ziel ist die gegenseitige Hilfe bei der Bewältigung von Erkrankungen und Behinderungen mit ihren psychosozialen Folgen. Hilfreich und entlastend sind der Erfahrungsaustausch und die gegenseitige Unterstützung. Vielen Menschen gelingt es, wieder Mut zu fassen, ihr Selbstvertrauen zu stärken, eigene Bedürfnisse zu erkennen und wahrzunehmen sowie durch den Kontakt zur Gruppe aus der Isolation herauszutreten. In dieser Weise gestärkt, kann der Betroffene besser mit den Folgen der Krankheit im Alltag umgehen, Belastungen in der Familie und Partnerschaft eher standhalten.

Merke

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H ●

„Selbsthilfegruppen entfalten sowohl das Selbsthilfeprinzip (das heißt Lösung von Problemen ohne professionelle Hilfe) als auch das Gruppenprinzip (das heißt gemeinschaftliche Problembearbeitung)“ (www.nakos.de).

Viele Selbsthilfegruppen sind in Wohnortnähe zu finden. Die Mitarbeiter engagieren sich ehrenamtlich, geleitet werden die Gruppen von Betroffenen selbst. Die Teilnahme ist kostenlos. Darüber hinaus arbeiten Selbsthilfeverbände öffentlichkeitsorientiert, treten mit Fachleuten in den Dialog und vertreten die Interessen der Betroffenen gegenüber der Gesellschaft und Politik. Auf gesundheitspolitischer Ebene wirken Selbsthilfevertretungen in verschiedenen Gremien mit und nehmen Einfluss auf Entscheidungsprozesse. Selbsthilfeorganisationen bieten fachliche Beratungen, Seminare und Fortbildungen auch für interessierte Nichtmitglieder an. Diese leisten auch einen Beitrag zur Qualitätssicherung und -steigerung. Ihr Engagement gilt u. a. der Verbesserung von Versorgungsstrukturen, der Qualifikation von Fachpersonal und der Intensivierung von Forschung.

Formen der Kooperation Zwischen Mitarbeitern der Selbsthilfe und Fachleuten im Gesundheitssystem gibt es vielfältige positive Effekte der Zusammenarbeit zum Wohle der Betroffenen: ● Vermittlung von spezifischem Fachwissen und erfahrungsbasiertem Wissen zum Umgang mit den Gesundheitsproblemen und der Lebensführung an Betroffene (insbesondere bei seltenen Erkrankungen) ● Sensibilisierung von Fachleuten für die spezifische Lebenssituation Betroffener ● therapieergänzende Arbeit insbesondere in der psychosozialen Versorgung und dadurch auch zeitliche und emotio-

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nale Entlastung der professionell Tätigen Selbsthilfegruppen profitieren vom Fach- und Erfahrungswissen der Fachleute Patienteninteressen und Patientenrechten kann durch gemeinsames Auftreten mehr Nachdruck verliehen werden

Praxistipp Pflege

Z ●

Pflegende sollten Kontaktadressen und Informationsmaterialien von Selbsthilfegruppen bereithalten.

elternorientiert und zur höheren Zufriedenheit von Patienten, Angehörigen und Mitarbeitern zu gestalten.

Merke

Ein strukturiertes Aufnahme-, Verlegungs- und Entlassungsmanagement, orientiert an der Situation des Patienten und seiner Angehörigen, zeugen von einem hohen Qualitätsstandard. Reibungslose Prozessabläufe von der Aufnahme bis zur Entlassung bzw. zur Nachsorge sind ein Qualitätsmerkmal auch im Wettbewerb mit anderen Kinderkliniken.

5.6 Strukturierte Aufnahme, Verlegung und Entlassung

5.6.2 Strukturierte Aufnahme

Petra Kullick

Der erste Eindruck

5.6.1 Bedeutung für das Kind und seine Familie Krankenhausaufenthalte sind im Kindesalter keine Seltenheit. Eine Aufnahme ins Krankenhaus kann aufgrund akuter oder chronischer Gesundheitsstörungen erfolgen. Für viele chronisch kranke Kinder sind sie Bestandteil ihres Lebensalltags. Eine Krankenhauseinweisung ist mit vielfältigen Erfahrungen, Eindrücken und Stressoren verbunden, die sich unterschiedlich auswirken können. Nicht selten werden Erkrankung und Krankenhausaufnahme von der Familie als traumatisches Ereignis erlebt. Dies betrifft insbesondere notfallmäßige Aufnahmen, die den größten Anteil an Krankenhauseinweisungen im Kindesalter ausmachen. Auch eine Verlegung und Entlassung bringen Veränderungen für Eltern und Kind mit sich. Informationen und ein geplantes Vorgehen helfen, sich auf die veränderte Situation einstellen zu können. Die Planung der Entlassung beginnt optimalerweise bereits bei der Aufnahme mit der Festlegung von zielgerichteten Diagnose-, Behandlungs- und Pflegeschritten. Die Steuerung von Prozessabläufen bei Aufnahme, Verlegung und Entlassung gewinnen einen immer höheren Stellenwert, wenn der Spagat zwischen Sachzwängen und patientenorientierter Versorgung von der Aufnahme bis zur Entlassung und darüber hinaus gelingen soll. Die Entwicklung von Qualitätsstandards für das systematische Vorgehen bei Aufnahme, Verlegung und Entlassung eines Kindes sind zentrale Methoden, um den steigenden Anforderungen zu entsprechen, Organisationsabläufe kind- und

H ●

Die erste Begegnung während der Aufnahme zwischen Pflegenden, dem Kind und seinen Eltern hinterlässt häufig einen bleibenden Eindruck. Das Erleben dieser Situation kann für den Aufbau einer tragfähigen Pflegebeziehung mitentscheidend sein und hat damit Auswirkungen auf den Pflegeprozess. Der Aufnahmesituation kommt hierbei eine Schlüsselrolle zu.

Fallbeispiel Normaler Klinikalltag?

I ●

Frau W. steht mit ihrem 2-jährigen Kind auf dem Flur vor dem Stationszimmer. Lara soll heute stationär aufgenommen werden. Eine Pflegefachkraft telefoniert und nickt ihr kurz zu. Zwei Ärzte sind in ein Fachgespräch vertieft und warten auf den Beginn der Visite. Weitere Menschen „in Weiß“ laufen geschäftig an ihr vorbei. Ein kurzer Blick streift sie, andere nehmen keine Notiz von ihr. Im Zimmer gegenüber gibt ein Monitor Alarm, eine Pflegefachkraft eilt hinein, wirft einen Blick auf den Patienten und geht mit schnellen Schritten an ihr vorbei. Wieder versucht Frau W. einen Blickkontakt herzustellen – vergebens. Ein Vater schiebt seinen Sohn im Kinderwagen vorbei. Der Kleine ist blass, trägt einen Kopfverband und aus seiner verbundenen Hand ragt eine Infusionsleitung. Die Pflegefachkraft im Stationszimmer beendet ihr Telefonat und ruft ihr kurz zu, dass es jetzt nicht mehr lange dauert. Lara sieht sich mit großen Kulleraugen um und beginnt zu weinen.

5.6 Strukturierte Aufnahme, Verlegung und Entlassung

Lernaufgabe

M ●

Versuchen Sie, die Sicht der Mutter einzunehmen, wie sie auf dem Flur steht. Was geht möglicherweise in ihr vor? Wie möchten Sie empfangen werden, wenn Sie an ihrer Stelle wären? Entwickeln Sie Ideen, wie die beschriebene Aufnahmesituation gestaltet werden sollte.

Aufgabenschwerpunkte während der Aufnahme Nachfolgend werden Aufgabenschwerpunkte im Rahmen einer geplanten Aufnahme eines Kindes in ein Krankenhaus beschrieben. Ziel ist eine strukturierte, kind- und elternorientierte Aufnahme. Zeitpunkt und Umfang der einzelnen Handlungen sollte sich deshalb an der Situation des Kindes und seiner Eltern orientieren und nicht nur an organisatorischen Routineabläufen. Der Ablauf einer notfallmäßigen Aufnahme ist vom Zustand des Kindes abhängig, im Vordergrund stehen die Stabilisierung des Kindes und die psychische Begleitung der Eltern. Um eine Aufnahmesituation geplant und unter Qualitätsaspekten durchführen zu können, sind Entwicklung und Implementierung eines Aufnahmestandards hilfreich. Die zentralen Pflegeaufgaben während der Aufnahme eines Kindes sind: ● organisatorische und administrative Tätigkeiten durchführen ● Eltern und Kind in der ungewohnten Umgebung Halt und Orientierung geben ● das Kind während der Aufnahme einfühlsam unterstützen, um z. B. Gefühle von Hilflosigkeit, Kontrollverlust, Schmerzen, Angst vor Untersuchungen oder Trennungsschmerz von Beginn an zu mildern und Hilfe zur Bewältigung der Situation zu geben ● Aufnahmegespräch führen und die Pflegeanamnese erstellen ● Eltern und Kind bzw. Jugendliche in bestimmte Entscheidungsprozesse einbinden zum Erhalt der Selbstkontrolle ● Eltern und Kind in die stationären Gegebenheiten einführen ● Gesamtsituation des Kindes und seiner Familie einschätzen ● bei der ärztlichen Aufnahmeuntersuchung assistieren

Unterbringung des Kindes Praxistipp Pflege

Z ●

Die Vorbereitung des Patientenzimmers erfolgt vor Eintreffen des Kindes.

Bei der Auswahl eines geeigneten Zimmers sollten Alter, Geschlecht, Art der Erkrankung (z. B. Infektion), Ruhebedürfnis und das Ausmaß des Überwachungsbedarfs berücksichtigt werden. Es sollte auch in Betracht gezogen werden, dass die Bettnachbarn harmonieren, da Kontakte zu anderen Kindern die Bewältigung des Krankenhausaufenthaltes günstig beeinflussen können. Vorbereitet werden nach Bedarf: ● ein entsprechendes Bett mit Nachtschrank, Inkubator oder Wärmebett ● Rufanlage, Bettklingel ● Pflegeutensilien ● Urinflasche, Steckbecken oder Töpfchen bei Bettruhe ● weitere Ausstattung nach Zustand des Kindes (medizinisch-technische Geräte, z. B. Monitor und Infusionsgerät, Hilfsmittel zur Positionierung) ● wenn erforderlich, Schutzkleidung ● Sitzgelegenheiten für Angehörige, Elternliege und Bettwäsche ● Dokumentationssystem ▶ Unfallprävention. Die Krankenhausumgebung muss sicher gestaltet werden, um Unfälle auszuschließen (z. B. Steckdosen und medizinische Geräte außerhalb der Reichweite von Kindern, sichere Verwahrung von Medikamenten, von Zuund Ableitungen, Sturzprophylaxe). Sicherheitsmaßnahmen werden Eltern und Kindern nachvollziehbar erklärt und auf deren Einhaltung wird geachtet.

Abstimmung mit anderen Berufsgruppen Bei der Aufnahme des Kindes sollten die ärztlichen und pflegerischen Handlungen koordiniert werden, um einen reibungslosen Ablauf zum Wohle des Kindes und aller Beteiligten zu gewährleisten. Der Arzt erhebt die ärztliche Anamnese und den klinischen Befund, plant die erforderlichen diagnostischen und therapeutischen Interventionen und dokumentiert die ermittelten Daten. Er übernimmt weiterhin die Aufklärung über das Krankheitsbild und die bevorstehenden Maßnahmen.

Eltern und Kind Halt und Orientierung geben Eltern und Kind benötigen Informationen, um sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden und sich mit der veränderten Situation vertraut machen zu können. Da der Erstkontakt bei der Aufnahme i. d. R. durch Pflegende erfolgt, kommt dem Pflegepersonal eine maßgebliche Bedeutung zu, um bei den Betroffenen Verunsicherung und Ängste abzubauen.

Praxistipp Pflege

Z ●

Bei Ankunft auf der Station tragen eine freundliche Begrüßung von Eltern und Kind und das Vorstellen mit Namen und Funktion dazu bei, sich als Neuankömmling wahrgenommen und willkommen zu fühlen. Die erste Begegnung prägt und überlagert oft die weitere Beziehung. Der offene und freundliche Empfang, begleitet von einem Lächeln, ist der erste Schritt auf dem Weg zu einer positiv verlaufenden Pflegebeziehung (▶ Abb. 5.23).

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Für kurze Wartezeiten sollte Eltern und Kind eine ansprechende Wartezone mit Zeitschriften, Spielmaterialien und anderen Ablenkungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Sie werden zum Aufenthaltsraum begleitet und es wird ihnen ein Sitzplatz angeboten. Sie sollten wissen, auf wen sie warten, die Dauer und ggf. den Grund der Wartezeit erfahren.

Merke

H ●

Eine angenehm gestaltete Aufnahmesituation: ● hilft Ängste und Verunsicherungen abzubauen ● schafft Vertrauen, erhöht die Kooperationsbereitschaft ● bildet die Basis für eine konstruktive und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Eltern, Kind und Pflegefachkräften

Abb. 5.23 Ankunft. Freundliche Begrüßung des Kindes und eines Elternteils bei der Aufnahme. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

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Gesundheits- und Kinderkrankenpflege

Pflegerisches Aufnahmegespräch Im Rahmen des pflegerischen Aufnahmegesprächs bekommt die Pflegefachkraft ein erstes Bild von der Situation des Kindes und seiner Familie. Weitere Aspekte sind das gegenseitige Kennenlernen, der Austausch von Erwartungen, Wünschen und Informationen. Die Abklärung von beiderseitigen Erwartungen und die Besprechung von Krankenhausregelungen sollen die Zusammenarbeit erleichtern und Missverständnissen vorbeugen. Das Aufnahmegespräch wird normalerweise mit einem oder beiden Elternteilen geführt, bei Jugendlichen auf deren Wunsch auch alleine. Erforderliche Kompetenzen zur Führung des Aufnahmegesprächs sind kommunikative Fähigkeiten, eine respektvolle und wertschätzende Haltung, Einfühlungsvermögen und Erfahrung. Das Aufnahmegespräch sollte vor Beginn weiterer Maßnahmen eingeplant werden. Die Entscheidung für den günstigsten Zeitpunkt wird aber immer durch die individuelle Situation bestimmt, d. h. abhängig vom physischen und psychischen Zustand des Kindes und der Eltern. Am günstigsten erfolgen die Aufnahme und die Erhebung der Pflegeanamnese durch die zukünftige Bezugsperson oder Primary Nurse, die das Kind auch weiter betreut.

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Lernaufgabe

● ●











Gesprächsebene, alle Beteiligten sitzen am Tisch, ohne dass dieser eine Barriere bildet (▶ Abb. 5.24). Blickkontakt wird gehalten. Eltern und älteren Kindern wird die Zielsetzung des Aufnahmegesprächs dargestellt. Bei Familien aus anderen Kulturkreisen, die ausschließlich ihre Muttersprache beherrschen, wird nach Möglichkeit ein Dolmetscher hinzugezogen, um zu gewährleisten, dass die Beteiligten in gleicher Weise ihre Bedürfnisse äußern können bzw. informiert werden. Viele Kliniken halten Dolmetscherlisten mit Übersetzern der verschiedensten Fremdsprachen bereit. Piktogramme (Symbole/Icons) können hilfreich sein. Eltern und Kind werden ermutigt, Fragen zu stellen. Offene Fragen der Pflegefachkraft erleichtern den Gesprächseinstieg. Informationen werden in einer klaren und für Laien verständlichen Sprache gegeben. Mit Kindern wird in einer dem Entwicklungsstand angemessenen Sprache und mit kindgerechten Methoden kommuniziert. Das „Eis kann gebrochen werden“, indem die Pflegefachkraft bei kleinen Kindern eine Handpuppe „sprechen“ lässt (▶ Abb. 5.25).

M ●

Finden Sie Argumente dafür, dass die Aufnahme und Weiterbetreuung des Kindes und der Eltern in einer Hand bleiben sollten.

Vertrauensfördernde Gesprächsatmosphäre gestalten Ein einfühlsam gestaltetes Aufnahmegespräch kann Eltern und Kind helfen, sich leichter in die Krankenhausumgebung einzufinden. Folgende Bedingungen tragen dazu bei, eine angenehme Gesprächsatmosphäre zu schaffen: ● Die Pflegefachkraft stellt sich mit Namen und Funktion vor. ● Sie spricht Eltern und Kind mit Namen an. ● Für das Aufnahmegespräch soll genügend Zeit eingeplant sowie ein ungestörter und ansprechender Raum ausgewählt werden. ● Eltern, Kind und Pflegefachkraft befinden sich auf einer gleichberechtigten

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Abb. 5.24 Aufnahmegespräch. Dies sollte in ruhiger und entspannter Atmosphäre stattfinden. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Abb. 5.25 Kommunikation mit dem Kind. Der Einsatz einer „sprechenden“ Handpuppe kann das Eis brechen. (Foto: P. Blåfield, Thieme )









Weitere Grundsätze sind: zuhören und weniger selbst reden sowie sich durch regelmäßige Rückfragen vergewissern, dass alle Informationen richtig verstanden wurden. Am Ende des Gesprächs werden wichtige Gesprächsanteile zusammengefasst, wiederholt und ggf. ergänzt. Anschließend wird Auskunft über das weitere Vorgehen gegeben. Es ist wichtig, Gesprächsbereitschaft über das Aufnahmegespräch hinaus anzubieten bzw. Gesprächsbedarf zu erkennen, da in der ersten Aufregung Informationen erfahrungsgemäß häufig vergessen werden und weitere Fragen auftreten. Viele Kliniken stellen deshalb schriftliche Informationsmaterialien zum Nachlesen zur Verfügung. Einige Krankenhäuser bieten Informationen z. B. auf der Homepage ihrer Klinik an, damit Eltern und Kinder sich vorab informieren können und erfahren, was sie z. B. bei einer geplanten Aufnahme mitbringen sollen.

Merke

H ●

Ein ausführliches Aufnahmegespräch hat das Ziel, Bedürfnisse, Erwartungen und Wünsche des Kindes und seiner Eltern kennenzulernen und diese im Pflegeprozess zu berücksichtigen. Dabei ist es wichtig, Eltern transparent zu machen, welche Bedürfnisse und Erwartungen erfüllt werden können und wo Grenzen bestehen. Denn es führt zu Frustrationen und dem Gefühl, nicht ernst genommen zu werden, wenn Informationen zwar gesammelt werden, dann aber unkommentiert keine Berücksichtigung in der Pflege finden.

Erhebung der Pflegeanamnese Ein Bestandteil des pflegerischen Aufnahmegesprächs ist die Erstellung der Pflegeanamnese (S. 59). Die Pflegeanamnese ist eine systematische Sammlung von Informationen über das Kind und seine Familie und bildet die Grundlage für den individuellen Pflegeprozess. Die Informationssammlung soll nach Möglichkeit in Form eines Gesprächs erfolgen. Starres, eng geführtes Abfragen, orientiert am Aufbau eines Aufnahmeformulars, lässt kaum Gesprächsfluss zu. Dies kann Eltern und Kind daran hindern, die für sie relevanten Wünsche, Erwartungen und Fragen zu formulieren, ohne die keine individuelle Pflege stattfinden kann. Standardisierte Checklisten und Pflegeanamnesebögen unterstützen auf der anderen Seite Prozesse des Qualitäts-

5.6 Strukturierte Aufnahme, Verlegung und Entlassung

Abb. 5.26 Kennenlernen. Das neu aufgenommene Kind lernt die Bettnachbarin kennen (Symbolbild). (Foto: P. Blåfield, Thieme)

managements im Rahmen der Aufnahme und im Hinblick auf die Entlassungsplanung und können unerfahrenen Pflegefachkräften als Strukturierungshilfe dienen (S. 239). Hauptschwerpunkte der Pflegeanamnese sind die Ermittlung der Lebensgewohnheiten und des Gesundheitsverhaltens zu Hause, um deren Fortführung auch im Krankenhaus – soweit umsetzbar – zu ermöglichen. Mithilfe einer strukturierten Pflegeanamnese werden Informationen für einen Unterstützungs- und/ oder Beratungsbedarf erfasst sowie die Basisdaten für ein strukturiertes Entlassungsmanagement (S. 140) erfasst und dokumentiert. Gesprächsinhalte sind deshalb in erster Linie die Bedürfnisse und Gewohnheiten des Kindes, sein Entwicklungsstand, die Ausübung der Lebensaktivitäten und Strategien, die dem Kind und seiner Familie zur Bewältigung der Erkrankung und der veränderten Situation zur Verfügung stehen. Bedeutsam ist es, im Rahmen der Pflegeanamnese einzuschätzen, welche Erfahrungen das Kind mit Krankheit und Krankenhaus mitbringt und ob das Kind auf den Krankenhausaufenthalt vorbereitet ist. Sämtliche Informationen werden im Pflegedokumentationssystem aufgezeichnet.

Merke

H ●

Die Informationssammlung als Basis des Pflegeprozesses beginnt mit der Aufnahme und wird während des Krankenhausaufenthaltes fortlaufend aktualisiert.

Einführen in die stationären Gegebenheiten Im Rahmen des Aufnahmegesprächs werden Eltern und Kind über den stationären

Abb. 5.27 Orientierung. Die Pflegefachkraft zeigt der neu aufgenommenen Patientin die Stationsräume. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Abb. 5.28 Aufnahme. Kinder sollten ermutigt werden, ihre Bettumgebung wohnlich zu gestalten. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

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Dienstag

Montag 7°°

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

Aufstehen nüchtern bleiben

Körperpflege

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Frühstück

9°°

EKG

10°°

Spielzimmer

12°°

Mittagessen

14°°

Besuch!

8°°

Blutentnahme

9°° 10°°

Röntgen

14°°

Besuch!

Lehrer

Abb. 5.29 Tagesstrukturierung. Stundenplan für Kinder im Krankenhaus.

Tagesablauf, organisatorische Regelungen, wie Dienst-, Essens- und Visitenzeiten, die Möglichkeit der Mitaufnahme eines Elternteils, Rückzugsmöglichkeiten zur Entspannung, Cafés, den Besuch des Spielzimmers oder der Schule im Krankenhaus informiert. Hinweise auf unterstützende Dienste, wie z. B. Klinikseelsorger, Patientenfürsprecher, Sozialdienst, können bei Bedarf nützlich sein. Die Pflegefachkraft stellt Neuankömmlinge den Bettnachbarn und anwesenden Eltern vor (▶ Abb. 5.26). Sie macht Eltern und Kind mit dem Patientenzimmer, den sanitären Einrichtungen und anderen Räumlichkeiten, z. B. dem Stationszimmer, vertraut (▶ Abb. 5.27). Rufanlage, Telefon, Fernseh- und Rundfunkgeräte sowie Hygienemaßnahmen (z. B. Händedesinfektion) werden erklärt. Eltern und Kind erhalten Informationen über die sichere Verwahrung von Wertsachen. Die Situation des neu aufgenommenen Kindes und seiner Eltern wird dem Pflegeteam im Rahmen der Patientenübergabe dargestellt.

▶ Kindgerechte Krankenhausumgebung. Insbesondere bei längeren Krankenhausaufenthalten sollten Kinder ihre Bettumgebung mit Beschäftigungsmaterialien, Familienfotos, Zeichnungen oder Postern ihrer Lieblingsstars dekorieren können, um eine wohnlichere Atmosphäre zu erzeugen (▶ Abb. 5.28). Eltern können Gegenstände beim Kind lassen, die eine Verbindung nach zu Hause herstellen. Bei jüngeren Kindern kann auch eine Aufnahmekarte z. B. für den Teddy ausgefüllt werden. Das Angebot, dass ggf. Alltagskleidung wie zu Hause getragen werden kann, trägt zu etwas mehr Normalität bei. Für Neugeborene und Säuglinge wird eine ruhige Atmosphäre geschaffen, die Geborgenheit vermittelt. Eltern, die ihr Kind während eines längeren Krankenhausaufenthalts nicht begleiten können, sollten darauf aufmerksam gemacht werden, dass viele Kliniken und auch das Aktionskomitee „Kind im Krankenhaus e. V.“ (AKIK e. V.) ehrenamtliche Mitarbeiter vermitteln, die die Kinder zeitweise besuchen. Die Einwilligung

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Gesundheits- und Kinderkrankenpflege der Eltern muss dazu vorliegen. Sozialrechtliche Informationen, z. B. zur Mitaufnahme eines Elternteils in das Krankenhaus, erteilen die Krankenkassen. ▶ Tagesstrukturierung. Älteren Kindern kann eine Tagesplanung angeboten werden, wenn sie länger im Krankenhaus bleiben und ein ausgiebiges Diagnostikund Therapieprogramm zu bewältigen haben. Als Strukturhilfe dient ein Stundenplan, der neben festgelegten Therapieund Untersuchungszeiten auch angenehme Aktivitäten enthält (▶ Abb. 5.29). Der Vorteil ist, dass das Kind informiert ist, so weit wie möglich mitbestimmen und sich auf die geplanten Maßnahmen einstellen kann. Besuche, Beschäftigung und Entspannungsphasen lassen sich zur Zufriedenheit aller besser planen. Familienbindungen, Kontakte zu Freunden und Lehrern können durch Besuche, Telefonate und Internet gepflegt werden.

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Mitentscheidung und Selbstkontrolle Bereits im Rahmen der Aufnahme kann mit den Eltern abgestimmt werden, wie sie in die Pflege ihres Kindes einbezogen werden möchten. Eltern sollten von Anfang an ermutigt werden, an bevorstehenden Maßnahmen und der Pflege ihres Kindes mitzuwirken. Um Eltern nicht unter Druck zu setzen, sollte zuvor geklärt werden, ob und in welcher Form ein Einbeziehen z. B. bei Untersuchungen gewünscht ist. Das Abspracheergebnis sollte zur Transparenz für das Pflegeteam dokumentiert werden.

Merke

H ●

Ein erfolgreicher Pflegeprozess ist auch davon abhängig, ob Pflegende die neu ankommenden Kinder bzw. Jugendlichen und deren Eltern bereits ab dem Aufnahmegeschehen aktiv beteiligen oder von Beginn an als passive Pflegeempfänger behandeln. Es ist ein Ausdruck von hoher Pflegequalität, wenn der Pflegeplan mit den Eltern und älteren Kindern abgestimmt und evaluiert wird.

Pflegende sollten Eltern vermitteln, dass sie während der Aufnahmesituation und des sich anschließenden Krankenhausaufenthalts die wichtigste Bezugsperson für ihr Kind darstellen. Durch Zuwendung und Körperkontakt bieten sie ihrem Kind emotionale Unterstützung. Ist es Eltern nicht möglich, während des Krankenhausaufenthalts bei ihrem Kind zu bleiben, können zusammen mit der Pflegefach-

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kraft Möglichkeiten gefunden werden, die Zeit der Trennung zu überbrücken. Die frühzeitige Zuordnung von Bezugspersonen aus dem Pflegeteam trägt dazu bei, dem Kind und seinen Eltern Kontinuität zu geben, Vertrauen aufzubauen und einen Ansprechpartner zu haben.

Eltern

a ●

Von Anfang an sollten Eltern bestärkt werden, Fragen zu stellen und ihre Gefühle, Ängste und Sorgen auszudrücken.

Einschätzen der Situation des Kindes Neben den im Aufnahmegespräch gewonnenen Informationen ergänzen folgende pflegediagnostischen und ärztlich angeordneten Maßnahmen die erste Gesamteinschätzung bei der Aufnahme ins Krankenhaus: ● Beobachten des körperlichen und psychischen Zustands (z. B. Beurteilung der Körperproportionen, Haut- und Pflegezustand, Verhalten, Ängste, Schmerzen, Ressourcen und Einschränkungen in den Lebensaktivitäten) ● Ermitteln und Beurteilen von Ausgangswerten, wie Körpertemperatur, Puls, Blutdruck und evtl. Atmung ● Feststellen von Körperlänge (S. 328) und Körpergewicht (S. 328) ● Durchführen von Umfangsmessungen (z. B. Kopfumfang bis zum 1. Lebensjahr (S. 478), bei Auffälligkeiten oder abhängig von der Erkrankung, Brust- und Bauchumfang bei entsprechender Indikation) ● Eintragen von Körperlänge und -gewicht in ein Somatogramm, bei Säuglingen zusammen mit dem Kopfumfang in eine Perzentilenkurve (S. 329) ● Durchführung ärztlich angeordneter diagnostischer Maßnahmen, wie Gewinnung von Urin- oder Stuhlproben, mikrobiologische Abstriche ● Übertragung aller Beobachtungen und ermittelten Daten in das Pflegedokumentationssystem

Assistenz bei der ärztlichen Aufnahmeuntersuchung Der Arzt untersucht das Kind und dokumentiert den Aufnahmestatus. Die Mitwirkung der Pflegefachkraft besteht in der emotionalen Begleitung des Kindes und in Assistenzaufgaben bei der ärztlichen Untersuchung. Durch eine planvolle Zusammenarbeit zwischen Arzt und Pflegefachkraft kann

dem Kind unnötiger Stress erspart werden. Die Pflegefachkraft kann während der Aufnahmeuntersuchung bereits eigene Beobachtungen vornehmen und Ausgangsmesswerte bestimmen. ▶ Vorbereitung auf die Aufnahmeuntersuchung. Die Pflegefachkraft bereitet das Kind abhängig von seiner Situation und seinem kognitiven Verständnis auf die bevorstehende ärztliche Untersuchung vor, damit diese behutsam und mit möglichst wenig Stress durchgeführt werden kann (S. 137). Jüngere Kinder ängstigen sich möglicherweise bereits beim Abhören mit einem Stethoskop, beim Anlegen einer Blutdruckmanschette oder beim Abtasten des Körpers. Die Vorbereitung reduziert Ängste, erhöht die Kooperationsbereitschaft und hilft den Kindern, die Situation zu meistern. Während der Untersuchung unterstützt die Pflegefachkraft das Kind individuell, lenkt es ab, tröstet und beruhigt es.

Praxistipp Pflege

Z ●

Einzelne Untersuchungsschritte werden in verständlichen Worten angekündigt und erklärt, damit das Kind weiß, was es erwartet. Ihm kann z. B. erklärt werden, was es bei der Untersuchung fühlen, sehen, hören und riechen wird und wie es mithelfen kann.

▶ Kooperationsbereitschaft des Kindes fördern. Auf Wunsch können Eltern ihr Kind während der Untersuchung begleiten oder aber außerhalb des Untersuchungszimmers warten. Ältere Kinder entscheiden selbst, ob sie die Anwesenheit der Eltern wünschen. Viele Kinder fühlen sich in Anwesenheit ihrer Eltern sicherer und verarbeiten die Prozedur mit deren Unterstützung besser.

Eltern

a ●

In die Aufnahmeuntersuchung einbezogene Eltern erhalten Informationen, was sie während der Untersuchung tun können und dass sie im Blickfeld des Kindes stehen sollen.

Die Intimsphäre ist zu respektieren. Heranwachsenden wird die Möglichkeit gegeben, sich hinter einem Wandschirm auszuziehen. Sie werden aufgefordert, nur den zu untersuchenden Bereich zu entkleiden. Es sollen sich nicht mehr Personen als notwendig im Untersuchungsraum aufhalten und Störungen von außen sollen

5.6 Strukturierte Aufnahme, Verlegung und Entlassung unterbleiben, um die Untersuchungszeit für das Kind kurz zu halten. Jeder Schritt der Untersuchung wird angekündigt, unangenehme oder schmerzhafte Untersuchungen (z. B. Racheninspektion, Blutentnahmen) werden am Ende der Untersuchung durchgeführt.

Praxistipp Pflege

Z ●

Kleinkinder können während der Untersuchung durch Spielsachen abgelenkt werden. Mithilfe von Puppen, die dem Menschen anatomisch nachgebildet wurden, kann dem Kind eine Untersuchung oder Erkrankung anschaulich erklärt werden.

Jüngere Kinder dürfen eine Puppe, Eltern, Arzt, Pflegefachkraft oder sich selbst mit dem Stethoskop abhören (▶ Abb. 5.30). Wenn möglich, soll dem Kind die Wahl gelassen werden, sich eine angenehme Liege- oder Sitzposition auszusuchen. Eltern können ihr Kind auf dem Schoß halten und dem Arzt bei einzelnen Untersuchungen assistieren. Nach erfolgter Untersuchung wird das Kind für seine Mithilfe gelobt und erhält ein kleines Geschenk.

Praxistipp Pflege

Z ●

Bei jüngeren Kindern sollten Angst auslösende Instrumente außerhalb ihres Blickfeldes gelegt werden. Vorschulkindern kann der Gebrauch des Stethoskops oder des Reflexhammers demonstriert werden und sie dürfen bestimmte Untersuchungsinstrumente anfassen.

Pflegerische Assistenzaufgaben Nachfolgend werden Assistenzaufgaben bei verschiedenen Aufnahmeuntersuchungen beschrieben, in die auch Eltern einbezogen werden können. ▶ Auskultation. Bei der Auskultation werden die Geräusche im Körper abgehört, um den Zustand von inneren Organen, wie Herz, Lunge oder Magen-DarmTrakt, zu untersuchen. Auskultiert wird üblicherweise mit dem Stethoskop (▶ Abb. 5.31a), ist aber auch direkt mit dem Ohr möglich. Beurteilt werden Häu-

figkeit, Intensität, Dauer und Qualität der Geräusche. Die Aufgabe der Pflegefachkraft oder der Eltern besteht darin, jüngere Kinder abzulenken. Das tiefe Ein- und Ausatmen beim Auskultieren der Lunge kann durch Nachahmen oder spielerisch bewirkt werden, indem das Kind einen Wattebausch oder ein kleines Windrad pustet. Die Membran des Stethoskops sollte vor der Untersuchung in der Hand angewärmt werden. ▶ Perkussion. Bei der Perkussion wird die Körperoberfläche mit den Fingerspitzen oder der Faust abgeklopft (▶ Abb. 5.31b), um Größe, Grenzen und Konsistenz von inneren Organen einzuschätzen. Außerdem kann durch Perkussion das Vorhandensein von Flüssigkeitsansammlungen in Körperhöhlen festgestellt und deren ungefähre Menge eingeschätzt werden.

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▶ Palpation. Palpation ist eine Untersuchung durch Abtasten mit den Händen (▶ Abb. 5.31c), bei der der Untersuchende die Beschaffenheit, Größe, Konsistenz und

▶ Vorbereitung des Untersuchungsraums. Untersuchungsraum und -liege müssen warm sein (Wärmelampe, warme Unterlage). Für eine gute Beleuchtung ist zu sorgen. Da sich Kinder evtl. unerwartet bewegen, müssen sie vor einem Sturz von der Untersuchungsliege geschützt werden. Alle Instrumente zur Aufnahmeuntersuchung werden komplett vorbereitet.

Abb. 5.30 Untersuchungsvorbereitung. Der Junge hört sein Herz interessiert mit dem Stethoskop ab. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Abb. 5.31 Aufnahmeuntersuchungen. a Auskultation der Lunge, (Foto: P. Blåfield, Thieme) b Perkussion, (Foto: P. Blåfield, Thieme) c Palpation, (Foto: P. Blåfield, Thieme) d Reflexprüfung. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

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Gesundheits- und Kinderkrankenpflege Lokalisation bestimmter Körperteile und -strukturen erfühlt. Beim Palpieren z. B. des Abdomens muss die Bauchdecke entspannt sein. Das Kind liegt deshalb mit angewinkelten Beinen auf dem Untersuchungstisch, die Füße sind aufgestellt. Säuglingen kann eine Rolle unter die Knie gelegt werden. Zur Entspannung werden größere Kinder aufgefordert, durch den Mund zu atmen. Jüngere Kinder entspannen sich durch Ablenkung.

Praxistipp Pflege

Z ●

Arzt und Pflegefachkraft sollten bei der Untersuchung warme Hände haben (Hände mit warmem Wasser waschen), um keine Abwehr beim Kind hervorzurufen.

5

▶ Reflexprüfung. Das Testen der Reflexe mit dem Reflexhammer ist ein Teil der neurologischen Untersuchung (▶ Abb. 5.31d). Um eine Anspannung zu verhindern, versucht die Pflegefachkraft, das Kind durch ein interessantes Gespräch oder Spielsachen abzulenken. ▶ Otoskopie. Bei der Ohrspiegelung inspiziert der Arzt mithilfe des Otoskops den äußeren Gehörgang und das Trommelfell. Bei einer Entzündung des Ohrs wird entweder zuerst das gesunde Ohr untersucht oder vorsichtshalber für jedes Ohr ein neuer Ohrentrichter auf das Otoskop aufgesetzt, um eine Keimverschleppung zu verhindern. Das Kind kann im Sitzen oder in der Seitenlage gehalten werden. ▶ Halten im Sitzen. Während der Ohruntersuchung soll das Kind auf dem Schoß des anwesenden Elternteils oder der Pflegefachkraft sitzen. Kopf und Arme müssen dabei sicher festgehalten werden (▶ Abb. 5.32), um keine Verletzung des

Abb. 5.32 Halten zur Otoskopie im Sitzen. Vor Einführen des Otoskops wird auch der Arm des Kindes sicher fixiert. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

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Trommelfells durch eine Abwehrbewegung des Kindes zu verursachen. ▶ Halten in Seitenlage. Die Pflegefachkraft fixiert die Arme des Kindes mit einer Hand. Den Kopf stabilisiert sie mit der anderen Hand und hält ihn gegen ihren Oberkörper. Diese Position ist nur für sehr junge Säuglinge und ältere Kinder geeignet, die kaum Gegenwehr zeigen. Für sehr unruhige Kinder ist sie nicht zu empfehlen.

Merke

H ●

Die Inspektion des Rachens und der Mundhöhle wird meistens zum Schluss vorgenommen (nach der Ohrinspektion), da sie von vielen Kindern als unangenehm empfunden wird.

Die Patientenidentifikation muss z. B. durch Identifikationskarten oder Patientenarmbänder sichergestellt werden. Für Vorschulkinder sollte ein Symbol, z. B. ein Tier, angebracht werden, das sie selbst auswählen dürfen. Anhand des Symbols können sie ihren Bereich leichter wiederfinden. Das Patientendokumentationssystem und die Krankenakte werden angelegt. Sind diagnostische Maßnahmen, wie Blutentnahmen, spezielle Untersuchungen oder Operationen, geplant, werden die entsprechenden Formulare, wie Laborbegleitscheine, Informationsblätter, Einverständniserklärung oder Narkoseprotokoll, vorbereitet.

5.6.4 Verlegung eines Kindes

▶ Racheninspektion. Auch hier müssen je nach Mitarbeit des Kindes Kopf und Arme sicher gehalten werden. Das Kind wird aufgefordert, den Mund weit zu öffnen, die Zunge herauszustrecken und „A“ zu sagen. Die Zunge wird durch diese Lautbildung im hinteren Mundbereich nach unten gedrückt und erlaubt gute Sicht. Mithilfe eines Mundspatels kann nun die Untersuchung vorgenommen werden. Verschiedene Untersuchungspositionen sind möglich: Racheninspektion im Sitzen (▶ Abb. 5.33a) und im Liegen (▶ Abb. 5.33b).

Die Verlegung eines Kindes erfolgt entweder klinikintern von einer Station zur anderen oder extern in eine andere Gesundheitseinrichtung. Die Entscheidung zur Verlegung wird vom Arzt in Absprache mit dem Pflegenden getroffen. Verlegt werden Patienten: ● bei Verbesserung des Gesundheitszustandes ● bei Verschlechterung des Gesundheitszustandes ● bei Ausbruch einer Infektionserkrankung ● zur Therapie auf eine Spezialstation ● zur Versorgung in eine heimatnahe Gesundheitseinrichtung

5.6.3 Administrative Tätigkeiten

Pflegehandlungen bei einer internen Verlegung

Die administrativen Tätigkeiten beinhalten Anmeldeformalitäten, Organisation der Mitaufnahme eines Elternteils, Anfordern von Patientenetiketten und der ausgewählten Mahlzeiten für das Kind, ggf. von Essenskarten für die Begleitperson.

Vor einer geplanten Verlegung werden Eltern und Kind sowie die nachfolgende Station rechtzeitig informiert, um Vorbereitungen treffen zu können. Der Arzt erklärt Eltern und Kind den Grund der Verlegung. Von Pflegenden erhalten sie vorab Infor-

Abb. 5.33 Racheninspektion. a Im Sitzen, (Foto: P. Blåfield, Thieme) b im Liegen. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

5.6 Strukturierte Aufnahme, Verlegung und Entlassung mationen über die weiterbetreuende Station. Ist dies nicht möglich, z. B. bei einer notfallmäßigen Verlegung durch Eintreten einer akuten Verschlechterung des Gesundheitszustandes, darf die telefonische Benachrichtigung der Eltern nicht vergessen werden. Die zur Verlegung notwendigen Unterlagen (z. B. der Arztbericht) werden zusammengestellt. Sinnvoll ist die Anfertigung eines Pflegeverlegungsberichtes in Form eines Standardformulars. Mithilfe dieses Instrumentes können Informationsdefizite so gering wie möglich und die Versorgungskontinuität aufrechterhalten werden. Inhalte, wie die Ausführung der Lebensaktivitäten, fortzuführende Pflegemaßnahmen und die persönliche Situation des Kindes und seiner Familie, sollen den Pflegebedarf des Kindes abbilden. Alle eigenen Sachen des Kindes und z. B. Medikamente und Hilfsmittel werden mitgenommen. Das Transportmittel und die Begleitperson werden nach Alter und Gesundheitszustand des Kindes und zurückzulegender Wegstrecke ausgewählt. Die Anforderung eines Rettungsfahrzeugs bei entsprechender Indikation ist Aufgabe des Arztes. Schwer kranke, bewusstlose, narkotisierte oder stark sedierte Kinder werden immer in Begleitung eines Arztes und einer examinierten Pflegefachkraft verlegt. Die Pflegefachkraft begleitet das Kind und anwesende Eltern am verabredeten Termin zur weiterversorgenden Station. Bei jeder Verlegung erfolgt eine ausführliche Übergabe. Aufgabe der weiterbetreuenden Pflegefachkraft ist es, Kind und Eltern dabei zu unterstützen, sich erneut zurechtzufinden.

Merke

H ●

Die Erarbeitung und Einführung eines Standards zur Verlegung von Patienten gehören zu einem professionellen Vorgehen.

5.6.5 Entlassung eines Kindes Ein optimales Entlassungsmanagement beginnt bereits mit der Klinikaufnahme. Die Entlassung wird vorausschauend und systematisch geplant, damit Eltern oder weiterversorgende Leistungserbringer erforderliche Vorbereitungen treffen können und somit bei Bedarf eine poststationäre Weiterversorgung ohne Versorgungseinbrüche sichergestellt werden kann.

Benötigt das Kind weitere Behandlung oder fachpflegerische Unterstützung, muss der Übergang in eine nahtlose Weiterversorgung durch z. B. rehabilitative (S. 124) oder ambulante Versorgungseinrichtungen sichergestellt werden (S. 111). Nach der Entlassung wird die Dokumentation aller beteiligten Berufsgruppen abgeschlossen, zur Patientenakte zusammengeführt und archiviert.

5.6.6 Qualitätsentwicklung im Rahmen der Entlassung Ein patientenorientiertes Entlassungsmanagement gewinnt als Qualitätsmerkmal in Kliniken immer mehr an Bedeutung. Zur Erfassung und Optimierung des Qualitätsstandards in Bezug auf die Entlassung können z. B. Befragungsbögen eingesetzt werden. Der nationale Expertenstandard „Entlassungsmanagement in der Pflege“ ist ein Instrument, um die Versorgungsqualität rund um die Entlassung von Patienten (S. 139) zu verbessern und zu evaluieren.

Nationaler Expertenstandard „Entlassungsmanagement in der Pflege“ Expertenstandards basieren auf wissenschaftlicher Grundlage und definieren das nationale Qualitätsniveau zu zentralen pflegerischen Themen, wie z. B. der Entlassung. Expertenstandards werden federführend vom Deutschen Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) nach einer umfangreichen Literaturrecherche und deren Analyse entwickelt (S. 75). Der zweite nationale Expertenstandard befasst sich mit dem Entlassungsmanagement in der Pflege. Er hat die Situation der Entlassung aus stationären Einrichtungen zum Gegenstand, die am häufigsten Versorgungseinbrüche auslöst. Ein qualitativ hochwertiges, systematisches Entlassungsmanagement soll unter Vernetzung der beteiligten Berufsgruppen, des Patienten und seiner Angehörigen auf das Leben nach dem stationären Aufenthalt vorbereiten und den erzielten Therapieerfolg langfristig sichern. Ein Entlassungsmanagement kann zentral oder dezentral organisiert werden. Der Expertenstandard gibt keine konkreten Vorgaben zum organisatorischen Vorgehen, sondern dient vielmehr dazu, bereits vorhandene Ansätze eines Entlassungsmanagements in den jeweiligen Gesundheitseinrichtungen zu optimieren.

Merke

H ●

Der Expertenstandard hat folgendes Ziel: „Jeder Patient mit einem erhöhten Risiko poststationärer Versorgungsprobleme und einem daraus resultierenden weiter andauernden Pflege- und Unterstützungsbedarf erhält ein individuelles Entlassungsmanagement zur Sicherung einer kontinuierlichen bedarfsgerechten Versorgung“ (DNQP, 2009).

Der Entlassungsstandard definiert den pflegerischen Beitrag im Rahmen eines multidisziplinären Entlassungsmanagements.

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Entstehungshintergrund Als Hauptargument für ein geregeltes Entlassungsmanagement wird angeführt, dass die Entlassung aus der Klinik ein erhöhtes Risiko für Versorgungseinbrüche birgt mit der Folge von unnötiger Belastung von Patienten und Angehörigen, Überforderung mit der Situation, vermeidbarer Wiederaufnahme ins Krankenhaus („Drehtüreffekt“) sowie hohen Folgekosten. Durch die Einführung des Abrechnungssystems mittels DRGs (Diagnosis Related Groups) sind Verweildauerkürzungen eingetreten. Dies bedeutet, dass Patienten mit akuten, aber auch mit chronischen und schwerwiegenden Erkrankungen früher entlassen werden. Dadurch steigt die Zahl der Patienten, die nach dem Krankenhausaufenthalt weitere Therapie-, Versorgungs- und Pflegemaßnahmen benötigen. Um diesen Herausforderungen begegnen zu können, werden Konzepte wie ein geregeltes Entlassungsmanagement entwickelt und umgesetzt. Zur Implementierung eines Entlassungsmanagements bedarf es der Bereitstellung von Ressourcen, der Schaffung eines konstruktiven Kooperationsklimas, der begleiteten Einführung und Evaluation (z. B. Projektarbeit) sowie der Fortbildung zum Wissens- und Kompetenzerwerb aller Prozessbeteiligten.

Merke

H ●

Gezielte Entlassungsvorbereitungen und eine professionell gesteuerte Entlassungsplanung sind Maßnahmen, die die Qualität der Versorgung in diesem Bereich weiterentwickeln sollen.

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Gesundheits- und Kinderkrankenpflege

Wichtige Aspekte des Entlassungsstandards

Merke

Der Entlassungsstandard ist vorgesehen für die Entlassung von Patienten aus der stationären in eine nachsorgende Betreuungsform. Bei allen ökonomischen Gesichtspunkten soll der Patientenperspektive und einer Versorgung, orientiert an den Bedürfnissen des Patienten, nach dem Krankenhausaufenthalt mehr Beachtung geschenkt werden. Es handelt sich um einen multidisziplinären Ansatz, bei dem alle Zahnräder ineinandergreifen sollen. Grundvoraussetzung hierfür sind ein geeignetes Kooperationsklima sowie eine effiziente Kommunikationsstruktur unter den Prozessbeteiligten (Schnittstellenmanagement).

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Merke

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Die Pflegefachkraft soll im Entlassungsprozess eine entscheidende Steuerungsund Koordinationsfunktion einnehmen.

Integraler Bestandteil ist die Pflegeprozessmethode. Empfohlen wird, die evidenzbasierten Struktur-, Prozess- und Ergebniskriterien des Entlassungsstandards beizubehalten. Zentral ist auch die Beachtung des Datenschutzes.

Strukturiertes Entlassungsmanagement Der Gesetzgeber hat die Krankenhäuser verpflichtet, ein strukturiertes Entlassungsmanagement (auch Entlassmanagement genannt) für die Versicherten bis zum 01.10.2017 zu etablieren. Damit soll eine sektorenübergreifende Versorgung beim Übergang von der Krankenhausbehandlung in die poststationäre Anschlussversorgung sichergestellt werden. Die Entlassung von Patienten ist damit systematisch vorzubereiten und zu organisieren (▶ Abb. 5.34). Für alle Beteiligten sind schriftliche und transparente Standards zu etablieren (für die Pflege z. B. der Expertenstandard Entlassungsmanagement in der Pflege), um die Vorgaben zu erfüllen. Der Geltungsbereich umfasst Entlassungen von Patienten aus allen Formen stationärer Behandlungen durch das Krankenhaus. Grundlagen sind z. B. das Gesetz zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-VSG), der Rahmenvertrag über das Entlassungsmanagement, das Sozialgesetzbuch V (§ 39 Abs. 1a SGB V) sowie die Umsetzungshinweise der Deutschen Krankenhausgesellschaft zum Rahmenvertrag über ein Entlassungsmanagement nach § 39 Abs. 1a Satz 9 SGB V.

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Im gesamten Prozess ist das Wahlrecht des Patienten jederzeit durch alle am Entlassungsmanagement Beteiligten zu gewährleisten (z. B. Annahme oder Ablehnung des Entlassungsmanagements, freie Wahl der weiterversorgenden Leistungsträger). Abb. 5.34 Entlassmanagement. Die Eltern werden über die anstehende Entlassung informiert und die Anschlussversorgung zu Hause besprochen (Symbolbild). (Foto: WavebreakMediaMicro – stock.adobe.com)

Merke

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Das Entlassungsmanagement hat das Ziel, eine sektorenübergreifende, lückenlose und patientenindividuelle Anschlussversorgung der Versicherten beim Übergang in die poststationäre Weiterversorgung zu gewährleisten. Damit soll die Kontinuität des Versorgungsprozesses sichergestellt und eine kurzfristige Wiedereinweisung in die Klinik vermieden werden („Drehtüreffekt“). Die gesetzlichen Vorgaben müssen in einem multidisziplinären Team in standardisierten Prozessen umgesetzt werden. Die Verantwortlichkeiten der Beteiligten sollten geklärt und transparent sein (z. B. Assessment).

Eine Anschlussversorgung umfasst z. B. medizinische, pflegerische und therapeutische Leistungen. Das multidisziplinäre Krankenhausteam setzt sich zusammen aus z. B. am Entlassungsmanagement beteiligten Ärzten, Pflegefachkräften, Psychologen und erforderlichen Therapeuten.

Patienteninformation und -beratung Jedem Patienten ist das Entlassungsmanagement anzubieten, er wird darüber informiert, aufgeklärt und beraten. Er kann zustimmen, ablehnen und die Einwilligung widerrufen. Die Information, die Einwilligung und der Widerruf müssen schriftlich dokumentiert werden. Der Patient hat ein Recht auf freie Wahl der Leistungserbringer. Anstelle des Patienten tritt in definierten Fällen der gesetzliche Betreuer oder Personensorgeberechtigte.

Assessment Jeder Patient muss ein Assessment („Einschätzung“) erhalten, um den individuellen Bedarf für eine Anschlussversorgung zu erfassen. Unterschieden werden ein initiales Assessment (für alle Patientengruppen) und ein differenziertes Assessment (für besondere Patientengruppen). Der Patient wird über Ziele und Inhalte des Assessments aufgeklärt. Das Assessment wird dokumentiert.

Kommunikation und Koordination Das Krankenhaus ist verpflichtet, Informationen zum Entlassungsmanagement in seinem Internetauftritt bereitzustellen. Festgelegt ist auch, dass das Krankenhaus frühzeitig Kontakt zu den Leistungserbringern der Anschlussversorgung aufnimmt. Das Krankenhaus hat damit Kommunikations- und Koordinationsaufgaben zu erfüllen und stellt den Informationsfluss mit allen in die Weiterversorgung involvierten Leistungsträgern sicher. Beispielsweise sind bei einer notwendigen pflegerischen Weiterversorgung durch die häusliche Kinderkrankenpflege die relevanten Informationen an den entsprechenden Pflegedienst strukturiert weiterzugeben (z. B. unter Nutzung eines Pflegeüberleitungsbogens). Das Krankenhaus darf Verordnungen für bis zu 7 Tage mitgeben, das Wirtschaftlichkeitsgebot ist dabei zu berücksichtigen. Verordnet werden können z. B. Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmittel, Soziotherapie, häusliche Krankenpflege und Rehabilitationsleistungen durch einen Facharzt mit abgeschlossener Facharztweiterbildung. Das Krankenhaus erhält eine Betriebsstättennummer (BSNR) und Krankenhausärzte zukünftig eine Krankenhausarztnummer (KHNR), die auf allen Rezepten angegeben werden müssen. Zur Verordnung von Arzneimitteln sind bundeseinheitliche Medikationspläne zu nutzen.

5.7 Pflegeüberleitung

Entlassungsplan Im Entlassungsplan sollen alle dem Krankenhaus verfügbaren Informationen, auch Informationen aus der Zeit vor der stationären Krankenhausbehandlung, enthalten sein, um einen kontinuierlichen Versorgungsprozess zu gewährleisten. Mindestinhalte sind festgelegt. Dazu gehören u. a.: ● Entlassungsdatum ● Diagnose ● Versorgungssituation (inkl. Betreuung/ Personenstandsberechtigte) ● weiterbehandelnde Ärzte, Therapeuten u. Ä. ● Informationen aus der Zeit vor dem Krankenhausaufenthalt, z. B. ambulante Pflege ● Dokumentation des Assessments ● Erforderlichkeit einer Anschlussversorgung ● Dokumentation der Beratung von Patient und Angehörigen ● Einbezug der Kranken-/Pflegekasse ● stattgefundene Kontaktaufnahme mit Angehörigen, Betreuern, ambulanter Palliativversorgung, zu Einrichtungen und Diensten ● Pflegebedürftigkeit (Pflegestufen bzw. -grade) ● Entlassung in häusliche Umgebung, Krankenhaus, Einrichtungen der Rehabilitation, Hospiz, betreutes Wohnen u. a. ● Verordnungen ● Einbezug von Fachberatung (z. B. Diabetesberatung, Stomatherapeut, PEGBerater) ● Medikamente ● Verordnung der Arbeitsunfähigkeit Zur Gestaltung des Entlassungsplans eignet sich die Form eines elektronischen Journals zur besseren Nachvollziehbarkeit der einzelnen Aktivitäten, Entscheidungen, ggf. Modifikationen und gescheiterten Kommunikationsversuche. Alle am Entlassungsmanagement beteiligten Mitarbeiter müssen Zugang zu den jeweils relevanten Informationen haben.

Entlassbrief Verpflichtend für den Tag der Entlassung ist ein (mindestens vorläufiger) Entlassbrief. Der vorläufige Entlassbrief enthält alle Informationen, die für eine lückenlose Anschlussversorgung bis zum Erhalt des endgültigen Entlassbriefs notwendig sind. Für den endgültigen Entlassbrief sind Mindestinhalte vorgegeben, z. B.: ● Patientenstammdaten ● Aufnahme- und Entlassungsdatum



● ● ●

● ● ● ●

Name des behandelnden Krankenhausarztes inkl. Telefonnummer für Rückfragen Diagnosen alle Befunde inkl. Entlassungsbefund Epikrise (Anamnese, Diagnostik, Therapie inkl. Prozeduren) weiteres Prozedere veranlasste Verordnungen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nachfolgende Versorgungseinrichtungen

Die Gestaltung, z. B. in Form einer Checkliste, sorgt für Übersichtlichkeit und effiziente Bearbeitung. Verbindlich festgelegt ist, dass die Patienten und die weiterversorgenden Leistungserbringer die Möglichkeit haben müssen, telefonische Rücksprache nach Entlassung zu halten. Die telefonische Erreichbarkeit über die gesamten 7 Tage der Woche zu vorgegebenen Zeiträumen ist deshalb zu gewährleisten.

Dokumentation und Datenschutz Im Rahmenvertrag zum Entlassungsmanagement sind verbindliche Hinweise bzw. Empfehlungen zur Dokumentation enthalten, um ggf. erforderliche Nachweise führen zu können. Der Gesamtprozess des Entlassungsmanagements ist in der Patientenakte zu hinterlegen. Datenschutzrechtliche Bestimmungen schützen die sensiblen Daten im Rahmen des Entlassungsmanagements. Die Kranken- bzw. Pflegekasse unterstützt das Entlassungsmanagement.

Pflegetheoretische Perspektive Dem Entlassungsmanagement kommen aus pflegetheoretischer Sicht 2 zentrale Aufgaben zu (Höhmann 2004): ● Abstimmung und Koordination der im poststationären Bereich erforderlichen Unterstützungs- und Versorgungsleistungen in Abstimmung mit den Einschätzungen der Betroffenen. ● Stärkung der Selbststeuerungs- und Selbstmanagementfähigkeiten der Patienten und ihrer Familien im Umgang mit der meist neuen Situation. Weitere Informationen zum Thema finden Sie in den Abschnitten „Nationale Expertenstandards“ (S. 139), „Pflegeüberleitung“ (S. 141) und „Case-Management“ (S. 142).

5.7 Pflegeüberleitung Jenny Krämer-Eder

Fallbeispiel

I ●

Emil soll nach Hause Emil kam als Frühgeborenes in der 25. SSW zur Welt. Mittlerweile ist er 8 Monate alt und ein munterer kleiner Junge geworden. Eigentlich könnte er entlassen werden, doch seine Eltern haben Bedenken. Emil musste sehr lange beatmet werden und ist nun mit einem Tracheostoma versorgt, über das er zeitweise eine Sauerstoffzufuhr benötigt. Er muss mehrmals täglich inhalieren und abgesaugt werden. Während der Sauerstoffgaben und im Schlaf überwacht ein Monitor seine Vitalfunktionen. Emil isst etwas passierte Kost vom Löffel und trinkt mit Genuss seine Milchflaschen. Die Mengen, die der Säugling zu sich nimmt, sind jedoch noch zu gering, sodass er über eine Magensonde zusätzlich ernährt werden muss. In der Klinik sind die Eltern gut in die Versorgung ihres Kindes eingebunden und fühlen sich mittlerweile meist sicher. Aber wie wird sich die Situation zu Hause gestalten?

5

Pflegeüberleitung bedeutet mehr als einen Patienten möglichst reibungslos von einer betreuten Umgebung in eine andere zu verlegen.

Merke

H ●

Die Pflegeüberleitung hat einen geplanten und begleiteten Wechsel des Patienten von der stationären in die ambulante Versorgung zum Ziel. Die Nachsorge ist ein wichtiger und unverzichtbarer Teil der Versorgung kranker Menschen.

Ein optimaler Übergang für den Patienten erfordert eine Reihe von Maßnahmen, die bereits während der stationären Behandlungszeit durchzuführen sind. Die Pflegeüberleitung wird aus diesem Grund auch „Überleitungsmanagement“ genannt. Zu diesen Maßnahmen gehören z. B.: ● Pflegeberatung und Anleitung des Patienten (altersabhängig) ● frühzeitige Schulung des Patienten und seiner Angehörigen ● Information des Patienten und seiner Angehörigen über den zu erwartenden Heilungsverlauf ● Vermittlung und Koordination von Heilund Hilfsmitteln sowie der benötigten

1

Gesundheits- und Kinderkrankenpflege





medizinischen Geräte, z. B. Absauggerät, Beatmungsgerät, Monitor Besichtigung des häuslichen Umfeldes möglichst vor der Entlassung, um die Voraussetzungen für die Unterbringung der benötigten Medikamente, Pflegehilfsmittel und medizinischen Geräte kennenzulernen Kontaktaufnahme mit weiteren therapeutischen oder beratenden Berufsgruppen (z. B. Kinderarzt, ambulanter Pflegedienst, Physiotherapeut, Ergotherapeut)

Es werden zwei Formen der Pflegeüberleitung unterschieden: die direkte und die indirekte Form. ▶ Direkte Form. Hier werden die Aufgaben der Entlassungsplanung von den Pflegenden in den stationären Betreuungsprozess integriert. Es wird also auf den Einsatz zusätzlicher Kräfte verzichtet. Der Patient wird unmittelbar durch eine Pflegefachkraft der Klinik in die häusliche Versorgung begleitet. In vielen Fällen kann hierbei bereits während des stationären Aufenthaltes eine Vertrauensbasis aufgebaut werden.

5

▶ Indirekte Form. Im Gegensatz zur direkten Form wird bei der indirekten Form die Pflegeüberleitung an einen CaseManager, eine Überleitungsfachkraft oder eine Pflegefachkraft des ambulanten Pflegedienstes delegiert. Auch in dieser Situation ist es von großer Bedeutung, möglichst frühzeitig einen Kontakt zu dem Kind und seinen Eltern herzustellen und in mehreren Beratungsgesprächen den Grundstein für ein Vertrauensverhältnis zu legen. Das Annähern und Herantasten an die bestehenden Erwartungen, Hoffnungen und Ängste („Wie meistern wir den Alltag mit der Krankheit zu Hause?“) hilft wesentlich, Ängste und Unsicherheiten des Kindes und seiner Eltern in Bezug auf die Versorgung zu Hause abzubauen. Das Ermitteln von vorhandenen Ressourcen gibt zusätzliche positive Impulse der Unterstützung.

Merke

H ●

Eine ausführliche Informationssammlung ist sehr wichtig, damit eine lückenlose häusliche Versorgung direkt nach der Entlassung aus der Klinik gelingen kann.

142

Während der Gespräche mit der Familie, den Pflegefachkräften, den betreuenden Ärzten und weiteren an der therapeutischen Arbeit beteiligten Berufsgruppen erfährt die mit der Pflegeüberleitung beauftragte Pflegefachkraft die Ursache und den Verlauf der Erkrankung sowie deren Auswirkungen auf die Lebensaktivitäten des Kindes. Neben den Ressourcen werden die bestehenden Pflegeprobleme sowie Besonderheiten der Pflegeintensität und des Pflegebedarfs ermittelt und dokumentiert. Eine weitere Informationsquelle stellen die Dokumentationssysteme, wie Pflegeberichte, Verlaufsbögen, Befunde und Verlegungsbriefe, dar. Um die Versorgung auch nach dem Krankenhausaufenthalt umfassend zu gewährleisten, sind eine berufsgruppenübergreifende Kooperation und Informationsweitergabe notwendig. In der Praxis finden sich jedoch häufig folgende Probleme, die mit dem Konzept des Case-Managements behoben werden können, wie beispielsweise: ● mangelnde Patientenorientierung ● mangelnde Zusammenarbeit der professionellen Betreuer ● zu kurzfristige Entlassungsplanung Wird mit der Planung und Organisation der Betreuungssituation zu Hause erst am Entlassungstag oder kurz zuvor begonnen, kann dies zur Folge haben, dass Pflegeoder therapeutische Maßnahmen nicht lückenlos eingesetzt und fortgeführt werden können. Dies birgt die Gefahr einer Fülle von organisatorischen Schnittstellen und Problemen und kann zu einer Zustandsverschlechterung oder gar einer Wiedereinweisung des Patienten führen. In der ambulanten Pflege und Betreuung sind – ähnlich wie im Krankenhaus – viele Berufsgruppen in die pflegerische und therapeutische Betreuung eines Patienten involviert. Während sich jedoch in der Klinik alles „unter einem Dach“ befindet und somit Zusammenarbeit und Informationsweitergabe durch die Organisationsstrukturen geregelt sind, werden diese Leistungen im ambulanten Bereich von verschiedenen Anbietern erbracht. Es trägt zum Wohl der Patienten bei, wenn über Grenzen von Professionen und Institutionen hinweg kooperiert und kommuniziert wird. Die Gewährleistung von kontinuierlich erbrachten Pflege- und Betreuungsmaßnahmen sowie gute Kooperationsbeziehungen dienen dem „Schnittstellenmanagement“ einer gelungenen Pflegeüberleitung.

5.8 Pflegerisches CaseManagement Jenny Krämer-Eder

5.8.1 Entwicklung Das Case-Management wurde bereits im 19. Jahrhundert erstmals von Wohlfahrtsorganisationen in den USA angewandt und Mitte der 1970er-Jahre im ambulanten Bereich weiterentwickelt. Zu dieser Zeit war es vornehmlich ein Feld der Sozialarbeit. Nach und nach etablierte sich das Konzept auch in weiteren Professionen, z. B. dem „Nursing Case-Management“ (Pflegerisches Case-Management), von dem im Folgenden auch die Rede ist, wenn von Case-Management gesprochen wird. In den USA ist das Nursing CaseManagement mittlerweile als Methode und Dienstleistung erfolgreich erprobt und aufgrund nachgewiesener optimierter Versorgungsleistungen bei gleichzeitiger Kostenreduzierung sehr anerkannt. Es ist ein wichtiger Bestandteil der Modernisierung der Leistungserbringung im Sozial- und Gesundheitswesen geworden. In den 1990er-Jahren gewann das Case-Management auch im deutschsprachigen Raum zunehmend an Bedeutung. In Deutschland findet es bevorzugt in der Pflegeüberleitung Anwendung. Das Überleitungsmanagement ist eine grundlegende Aufgabe des Case-Managements. Der Begriff des Case-Managements stammt aus dem angloamerikanischen Sprachraum. Dieses Konzept stellt den kranken Menschen in den Mittelpunkt. Der Begriff „Case“ bedeutet „Fall“ und beschreibt nicht die kranke Person, sondern ihre problematische Situation.

Definition

L ●

Im Case-Management wird der Weg zur Bewältigung und Lösung einer Problematik „gemanagt“. In einer Zeit eskalierender Kosten im Gesundheitswesen hat es sich als eine wichtige Strategie zur Koordination und Versorgung von Patienten etabliert.

Neben dem Fallmanagement umfasst das Case-Management auch das Systemmanagement. Dieses befasst sich mit der Optimierung der Versorgung in einem ganzen Zuständigkeitsbereich.

5.8 Pflegerisches Case-Management Case-Management garantiert dem Patienten eine erhöhte Versorgungsqualität und einen verbesserten Zugang zu Versorgungsangeboten auch nach der Entlassung aus der Klinik. Kosten können optimiert und eingespart werden. In Studien konnte zudem eine erhöhte Patienten- und auch Mitarbeiterzufriedenheit festgestellt werden. Im Mittelpunkt der Nachsorge stehen die Sicherung der Behandlungskontinuität durch eine nahtlose Fortführung von Pflege- und Behandlungsprozessen und die Knüpfung eines „Helfernetzes“.

krankes Kind (im Krankenhaus)

Abb. 5.35 Familiensituationen. Eine intakte Familie steht im Gegensatz zu einer durch Krankheit zerrissenen Familie.

5.8.2 Ziele Ziele des Case-Managements sind: ● bedürfnis- und bedarfsorientierte Versorgung des Patienten ● erhöhte Versorgungsqualität des Patienten ● verbesserter Zugang zu Versorgungsangeboten ● Kontrolle des Ressourceneinsatzes ● (Wieder-)Herstellung von Selbstpflegekompetenzen des Patienten für Aktivitäten des täglichen Lebens bzw. das Erreichen der höchstmöglichen Eigenständigkeit ● Unterstützung und Koordination von Versorgung ● Förderung einer möglichst unabhängigen Lebensgestaltung für den kranken Menschen und seine Familie ● Erhöhung der Patientenzufriedenheit ● Erhöhung der Mitarbeiterzufriedenheit ● reduzierte Verweildauer in der Klinik ● reduzierte Anzahl von Wiedereinweisungen ● reduzierte Ausgaben im Gesundheitswesen, Kosteneinsparungen Ein zentrales Merkmal des Case-Managements liegt in der Überwindung einer professionsdominierten zugunsten einer aufgabenorientierten Arbeitsweise.

Merke

H ●

Eine Kernaufgabe des Case-Managements ist die Lösung von Patientenproblemen über die Grenzen von Professionen und Institutionen hinweg.

5.8.3 Aufgaben einer CaseManagerin Die Aufgaben einer Case-Managerin oder eines Case-Managers sollen anhand eines Fallbeispiels verdeutlicht werden.

Krankenkasse Selbsthilfegruppen

Physiotherapeut

5

Schule Arzt

Jugendamt

krankes Kind (zu Hause oder im Krankenhaus) Abb. 5.36 Unkoordiniert. Viele Eindrücke strömen zu Hause auf die Familie ein und überfordern sie.

Fallbeispiel Manuel

I ●

Der 3-jährige Manuel erlitt vor 4 Monaten einen Ertrinkungsunfall und liegt seitdem im Wachkoma in der Kinderklinik. Er wird konstant beatmet und über eine PEG-Sonde ernährt. Mehrmals täglich erhält er zahlreiche pflegerische und therapeutische Anwendungen. Sein 2 Jahre älterer Bruder leidet sehr darunter, dass Manuel nun schon so lange im Krankenhaus ist. Seine Eltern fühlen sich durch das Doppelleben – mal nach Hause, dann schnell wieder in die Klinik zu fahren – mittlerweile sehr belastet (▶ Abb. 5.35). Immer mehr wächst der Wunsch, Manuel nach Hause zu holen. Doch wie soll Manuel dort seine zahlreichen Anwendungen und Therapien erhalten? Wie groß werden die Belastungen sein?

Die erste Zeit zu Hause nach einer Entlassung aus der Klinik ist sehr entscheidend für das Kind und seine Eltern. Jetzt werden viele Weichen gestellt. Die Eltern sind mit den Gedanken und Sorgen bei ihrem

kranken Kind und haben häufig nicht die Zeit oder die Nerven, u. U. auch nicht das Wissen, sich die entsprechende Hilfe zu suchen bzw. sich an die zuständigen Ansprechpartner zu wenden. Aufgrund der gesamten Situation sind sie oftmals überfordert, sich die richtige Hilfe zu holen (▶ Abb. 5.36). Gerade jetzt kann die CaseManagerin durch ihre geplante Hilfestellung zu einer verbesserten Lebensqualität der ganzen Familie maßgeblich beitragen. Sie geht in systematischen Schritten vor, welche aus den verschiedenen Phasen des Case-Management-Verfahrens (▶ Abb. 5.37) resultieren.

Identifikation Die Case-Managerin Frau Weiß sucht Manuel gemeinsam mit den betreuenden Ärzten und Pflegekräften aufgrund seines erhöhten Versorgungsbedarfes nach der Entlassung auf. Der Erstkontakt zwischen Manuel, seinen Eltern und der CaseManagerin findet bereits in der Klinik statt, als erkennbar wird, dass nach der Entlassung eine kompetente Nachsorge erfolgen soll.

3

Gesundheits- und Kinderkrankenpflege

Planung

7. Abschlussevaluation

1. Identifikation

6. Evaluation

2. Assessment

5. Monitoring

3. Planung

4. Implementation

Abb. 5.37 Case-Management. Phasen der interdisziplinären Überleitung.

5

Assessment („Einschätzung“) Die Case-Managerin stellt sich den Eltern vor und bietet ihre Hilfe an. Die Annahme der Hilfe ist freiwillig. Empathie, Offenheit und Vertrauen sind eine wichtige Basis für die Zusammenarbeit. Nach einem beratenden Gespräch willigen die Eltern Manuels gerne in diese Art der Hilfe ein. Frau Weiß wendet zur systematischen Einschätzung von Manuels Gesundheitszustand und der Ermittlung des Versorgungsbedarfs unterschiedliche Assessment-Instrumente an: ● Gespräche mit den Eltern, den Ärzten, den Pflegefachkräften und Therapeuten ● Skalen, wie die Glasgow-Koma-Skala, die Braden-Skala (Dekubitusrisikoskala), die Atemskala nach Bienstein und eine Schmerzskala ● Sichtung und Auswertung bestehender Dokumentationen aus dem Krankheitsund Pflegeverlauf ● Anwendung des Pflegemodells von Roper, Logan und Tierney (S. 71) ● eigene Beobachtungen Der Einsatz von Assessment-Instrumenten ist in allen Phasen des Pflegeprozesses möglich. Kompetenzen, Ressourcen und Stärken werden ebenso berücksichtigt wie Versorgungsdefizite und Schwächen. Auch das persönliche Umfeld wird miteinbezogen.

Merke

H ●

Die Erhebung umfassender Daten und Informationen ist die Voraussetzung einer bedarfsgerechten und individuellen Versorgungsplanung.

144

Frau Weiß analysiert nun die gesammelten Informationen und Daten. Sie sucht aus der Fülle der Gesundheitsangebote die notwendigen Helfer und Hilfsangebote aus und orientiert sich dabei ganz an den Bedürfnissen Manuels und seiner Familie. Sie übernimmt damit eine Art „Lotsenfunktion“. In Absprache und Abstimmung mit Manuels Eltern vereinbart sie konkrete Versorgungsziele und legt fest, welche Ziele durch welche Maßnahmen erreicht werden können. Im ausführlichen Gespräch entscheidet die Case-Managerin gemeinsam mit den Eltern, welche Leistungen diese für Manuel und sich in Anspruch nehmen möchten und in welchem Umfang. Die eingeleiteten Hilfen der Case-Managerin beziehen sich im Idealfall auf die individuellen Bedürfnisse aller Familienmitglieder. Eine CaseManagerin übt mehrere Funktionen gleichzeitig aus: ● Vermittelnde Funktion („Broker“): Sie kennt die verschiedenen und zahlreichen Angebote und behält den Überblick. ● Selektierende Funktion („Gatekeeper“): Sie stellt aus den Angeboten ein möglichst bedarfsgerechtes, umfassendes und effizientes Versorgungspaket zusammen. ● Anwaltschaftliche Funktion („Advocacy“): Als Fürsprecherin für das kranke Kind setzt sie sich für seine Interessen ein.

Implementation („Umsetzung“) Jetzt erfolgt die Umsetzung des erstellten Versorgungsplans. Frau Weiß nimmt Kontakt zu den jeweiligen Ansprechpartnern auf, koordiniert Termine und vernetzt alle in die Betreuung des Patienten involvierten Berufsgruppen. Dabei fungiert sie stets als Ansprechpartnerin für die Familie Bachmann wie auch für das interdisziplinäre versorgende Team. Somit werden die Eltern von zahlreichen Kontakten entlastet und können ihre Energie auf Manuel, seinen Bruder und sich selbst konzentrieren. Gemeinsam mit einer Mitarbeiterin des ausgewählten ambulanten Kinderkrankenpflegedienstes bereitet Frau Weiß das häusliche Umfeld für die Pflege und Versorgung Manuels vor. Dann kommt der von den Eltern herbeigesehnte Tag: Manuel kann nach Hause entlassen werden. Die Case-Managerin begleitet die Familie gemeinsam mit einer ambulanten Pflegefachkraft auch an diesem Tag und steht beratend zur Seite. Sie pflegt Manuel nicht selbst, diese Funktion

übernimmt der ambulante Kinderkrankenpflegedienst. Ziel ist die Begleitung, Anleitung und Ermutigung der Familie zur Selbstständigkeit.

Monitoring („Verlaufskontrolle“) Die Case-Managerin verfolgt den Pflegeprozess Manuels und die psychosoziale Betreuung seiner Familie in ihrem häuslichen Umfeld. Sie nimmt außerdem eine fortlaufende Kontrolle und Steuerung der Leistungserbringung vor (▶ Abb. 5.37). Auch während des Monitorings werden Daten systematisch erhoben. Frau Weiß besucht die Familie Bachmann anfangs täglich, nach einer Woche kann sie die beratenden Einsätze bereits strecken, da sie Manuel und seine Familie gut versorgt sieht. Weiterhin steht sie allen Beteiligten als Ansprechpartnerin jederzeit zur Verfügung.

Evaluation („Wirkungsanalyse“) Diese Phase beinhaltet die Bewertung der neu erhobenen Daten, Gespräche und Beobachtungen. Die Wirksamkeit der eingeleiteten Maßnahmen wird überprüft. Ein zentrales Kriterium ist die Patientenzufriedenheit. Case-Management ist dadurch gekennzeichnet, messbare Ergebnisse („Outcomes“) zu produzieren, die die Effektivität der eingeleiteten Hilfsangebote darlegen. Diese Ergebnisse können in folgende Kategorien eingeteilt werden: ● medizinische Ergebnisparameter ● Qualität der Pflege ● Lebensqualität ● Zufriedenheit mit der erbrachten Leistung ● psychosoziale Ergebnisparameter ● Selbstständigkeit, Eigenverantwortlichkeit ● finanzielle Ergebnisparameter

Abschlussevaluation Ist das Versorgungsziel erreicht worden? Falls nicht, schließt sich der Kreis und die Phasen des Case-Management-Prozesses werden erneut durchlaufen. Es erfolgt eine Neueinschätzung („Re-Assessment“) der Situation des kranken Kindes und seiner Familie. Vergleichen Sie hierzu auch „Entlassung eines Kindes“ (S. 139) und Nationaler Expertenstandard „Entlassungsmanagement in der Pflege“ (S. 139).

5.8 Pflegerisches Case-Management

Merke

H ●

Höchstes Ziel der Case-Managerin ist, Hilfe zur Selbsthilfe zu geben und sich selbst im Laufe der Zeit überflüssig zu machen.

5.8.4 Situation pflegender Angehöriger Mit 2,1 Millionen Menschen sind pflegende Angehörige der „größte Pflegedienst“ der Bundesrepublik (Statisches Bundesamt, Stand 12/2015). Wer einen Angehörigen über längere Zeit pflegt, kann an seine physischen und psychischen Grenzen kommen und ist enormen Anstrengungen ausgesetzt. Die Pflege Angehöriger geht mit hohen zeitlichen, sozialen, gesundheitlichen und finanziellen Belastungen einher. Pflege erfordert ein hohes Maß an Verpflichtung, Verantwortung, aber auch an Verzicht. Im familiären und beruflichen Bereich kann es zu einer Doppelbelastung kommen, die zu Überforderung und Erschöpfung führt. Häufig werden soziale Kontakte und Aktivitäten sehr eingeschränkt, bis hin zur Isolation. Von pflegenden Angehörigen wird erwartet, dass sie mit der Pflege und mit dem Problem der Hilfsbedürftigkeit der Pflegebedürftigen umgehen können. Andererseits sollen sie ihre eigenen Bedürfnisse erkennen und leben, ihre Belastungsgrenze begreifen und Unterstützungsangebote selbstständig in Anspruch nehmen. Dies gelingt jedoch nur manchen. Pflegende Angehörige zeigen im Vergleich zu nicht pflegenden Personen vermehrt Erschöpfungszustände, chronische Schmerzen, Depressionen, gesteigerte Ängstlichkeit oder Aggressionen sowie ein geringeres Ausmaß an körperlicher Gesundheit und Lebenszufriedenheit. Nicht selten erkranken Angehörige pflegebedürftiger Menschen selbst. Noch immer werden sie in Deutschland zu ungezielt und eher zufällig konkret unterstützt. Bei stark belasteten Angehörigen kann es zu aggressivem Verhalten gegenüber der pflegebedürftigen Person kommen. Diese Tatsache ist leider häufig ein TabuThema. Eine Entlastung pflegender Angehöriger führt i. d. R. zu einer harmonischeren Beziehung gegenüber der pflegebedürftigen Person. Angehörige, die sich weniger belastet fühlen, pflegen die Pflegebedürftigen über einen längeren Zeitraum zu Hause, wodurch wiederum das gesellschaftliche System entlastet wird. Durch die gezielte und geplante Unterstützung wird die angestrebte sozial-

politische Verlagerung von „stationär nach ambulant“ über längere Zeiträume gelingen. Nur wer selbst gesund ist, kann auf Dauer pflegen. Pflegende Angehörige haben das Recht auf eine medizinische Reha-Maßnahme. Diese kann bei entsprechender Indikation vom Hausarzt verordnet werden. Dieser begründet die medizinische Notwendigkeit. Die Reha-Maßnahme kann mit oder ohne den Pflegebedürftigen angetreten werden. Die Soziale Pflegeversicherung (SGB XI) wiederum bietet den pflegenden Angehörigen verschiedene Hilfsangebote und Leistungen an: ● finanzielle Unterstützung (Pflegegeld, Rentenansprüche, Arbeitslosen- und Unfallversicherung) ● Beratungsangebote (Pflegeberatung, Pflegekurse) ● Urlaubsvertretung (Verhinderungspflege, Kurzzeitpflege) ● Einklang von Pflege und Beruf (Pflegezeit) Viele pflegende Angehörige sind jedoch nur unzureichend über die vielfältigen Hilfsangebote informiert. Bezüglich des Informationsflusses und der Koordination der Angebote kann die Case-Managerin den Betroffenen zur Seite stehen. Es gibt bereits Projekte, in denen Case-Managerinnen pflegende Angehörige in sozialen und gesundheitlichen Problemlagen gezielt und systematisch unterstützen. Sie praktizieren ein „Unterstützungsmanagement“. Ziel ist es, Überlastungen frühzeitig zu erkennen und Lösungsstrategien für die eigene Situation zu finden. Die Selbstpflegekompetenz soll gestärkt werden. Dieser Aspekt kommt auch bei dem Selbstpflegemodell nach Dorothea E. Orem (S. 70) zum Tragen. Danach muss der Mensch zunächst seine eigenen Selbstpflegepotenziale erkennen und fördern, erst dann kann er diese bei anderen wecken und sich pflegerisch um andere Menschen sorgen.

5.8.5 Aussichten für Pflegefachkräfte In den USA gehören die Aufgaben der Case-Managerin seit über 30 Jahren zu den Aufgaben der Pflegefachkräfte. In Deutschland wird die Übernahme dieser Tätigkeiten von Pflegefachkräften, Sozialarbeitern, Hausärzten und auch den Krankenkassen angestrebt. Was spricht dafür, dass die Pflegefachkräfte für diese Arbeit geeignet sind? Ist pflegerisches oder psychosozial kompetentes Personal überhaupt erforderlich? Der technische und medizinische Fortschritt ermöglicht eine wesentlich verbesserte und erweiterte

Therapie im häuslichen Umfeld. Die Kriterien, nach welchen ein Kind aus der Klinik entlassen werden kann, haben sich verändert. Entscheidend für die Frage, ob eine Entlassung in Erwägung gezogen werden kann, ist nicht mehr die Diagnose. Ausschlaggebend ist, ob das Kind zu Hause adäquat versorgt werden kann. Die Erfahrungen zeigen, dass in der Nachsorge der Patienten und deren Familien Fachkompetenz in der Pflege unbedingt erforderlich ist. Diese Fachkompetenz bildet eine wichtige Basis für den Vertrauensaufbau zu dem Patienten und seinen Angehörigen. Pflegefachkräfte werden diesem Anspruch aufgrund ihrer Qualifikation und Praxisnähe gerecht. In Deutschland ist „Case-Manager/-in“ bislang keine geschützte Berufsbezeichnung. Dementsprechend gibt es keine gesetzlich festgelegten Richtlinien, denen die Weiterbildungen zum/zur Case-Manager/-in inhaltlich und organisatorisch folgen müssen. Die Teilnehmer erhalten nach dem Abschluss ein institutsinternes Zertifikat. Ein wichtiger Indikator für einen qualitativ hochwertigen Lehrgang bietet die Zertifizierung durch die Deutsche Gesellschaft für Care- und Case-Management (DGCC). Diese Institution, welche im Juni 2005 gegründet wurde, hat im Wesentlichen zur Standardisierung beigetragen. Das Basismodul vermittelt eine grundlegende arbeitsfeld- und professionsübergreifende Qualifikation in CaseManagement-Verfahren, wie z. B. der Beratungskompetenz, Moderation und Kommunikation, der Rollenanalyse, Fall- und Systemanalyse und -steuerung und Evaluation sowie dem Erstellen von Versorgungsplänen. Aufbaumodule können erworben werden. Zielgruppe sind Fach- und Führungskräfte in Einrichtungen des Sozial- und Gesundheitswesens. In Zeiten des demografischen Wandels sind die Berufs- und Karriereaussichten für Case-Managerinnen in Zukunft voraussichtlich sehr gut. Angesichts des breiten Aufgabenspektrums eines Case-Managers wird in Deutschland diskutiert, ob das CaseManagement die Schaffung eines neuen Berufes zur Konsequenz haben sollte. Denkbar wäre auch, zusätzliche Qualifikationen in die Pflegeausbildung zu integrieren. Die Pflege verändert ihr Rollenverständnis dramatisch, wenn sie die Verantwortung für das Case-Management übernimmt. Sie erhält hierdurch eine größere Autonomie (Schomburg, 1996).

5

5

Gesundheits- und Kinderkrankenpflege

5

146

Kapitel 6 Wachstum und Entwicklung

6.1

Begriffsdefinition

148

6.2

Einflussfaktoren auf die Entwicklung

148

6.3

Entwicklungsaufgaben und kritische Lebensereignisse

150

6.4

Entwicklungsabschnitte

150

6.5

Entwicklung der Bindungsfähigkeit

160

6.6

Entwicklungsabweichungen

161

6.7

Basale Stimulation

163

6.8

Massage von Babys und Kindern

167

Wachstum und Entwicklung

6 Wachstum und Entwicklung Astrid Steinberger

6.1 Begriffsdefinition Definition

● L

„Entwicklung bezieht sich auf relativ überdauernde intraindividuelle Veränderungen des Erlebens und Verhaltens über die Zeit hinweg“ (Lohaus, Vierhaus, Maass 2010).









Entwicklung wird demnach als ein lebenslanger Prozess verstanden, der sich vom Zeitpunkt der Zeugung bis zum Tod erstreckt. Entwicklungsbedingte Veränderungen des Erlebens und Verhaltens eines Menschen stehen in einem wechselseitigen Zusammenhang. So führen z. B. Veränderungen in der motorischen Entwicklung, wie das selbstständige Laufen eines Kleinkindes, dazu, dass das Kind seinen Explorationsradius erweitert und selbstbestimmt Informationen seiner Umwelt aufnehmen kann. Dies führt zu einer Veränderung der Wahrnehmung und Erweiterung der kognitiven Fähigkeiten. In der aktuellen entwicklungspsychologischen Diskussion wird zwischen einem engen Entwicklungsbegriff, welcher sich auf Phasen- und Stufenmodelle (z. B. Erikson) bezieht, und einem weiten Entwicklungsbegriff differenziert.

6

▶ Phasen- und Stufenmodelle. Sie gehen davon aus, dass Veränderungen in einer bestimmten, bei einem normalen Entwicklungsverlauf nicht umkehrbaren Reihenfolge auftreten. Der enge Entwicklungsbegriff fokussiert sich auf universelle Veränderungen im Entwicklungsverlauf. In der Sprachentwicklung z. B. ausgehend vom Schreien, Lallen und von der Lautnachahmung im 1. Lebensjahr über Einwort- und Zweiwortsätze im 2. Lebensjahr und die Nutzung erster Flexionen (Deklination oder Konjugation) im 3. Lebensjahr. ▶ Weiter Entwicklungsbegriff. Der erweiterte Entwicklungsbegriff beschreibt Entwicklungsgewinne sowie Entwicklungsverluste und bezieht sich auf die gesamte Lebensspanne. Folgende Kernpunkte des erweiterten Entwicklungsbegriffs werden in Schneider und Lindenberger (2012) angeführt: ● Beschreibung von Entwicklung bezogen auf die gesamte Lebensspanne mit dem Blick darauf, dass Entwicklung nicht nur Gewinne, sondern auch Verluste und Einschränkungen bedeutet

148

von der allgemeinen Entwicklung zu einer differenziellen Entwicklung Einbindung von Sondergruppen wie Hochbegabten, aber auch Störungen in der Beschreibung von Entwicklung von der Beschränkung auf Entwicklungen hin zur Berücksichtigung von reifungsbedingten Veränderungen, welche auch Verluste und Einschränkungen bedeuten können von der Beschränkung auf „normale“ Entwicklung hin zu Veränderungen, welche auf spezifische Konstellationen oder Dispositionen zurückzuführen sind, welche als Ursache oder Folge von defizitärer Entwicklung anzusehen sind.

Lernaufgabe

M ●

1. Welche Bedeutung haben Kenntnisse über die menschliche Entwicklung in der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege? 2. Diskutieren Sie die Vor- und Nachteile, die sich aus den verschiedenen Perspektiven des engeren (Phasenund Stufenmodell) und erweiterten Entwicklungsbegriffs auf die Entwicklung ergeben.

6.2 Einflussfaktoren auf die Entwicklung Definition

L ●

„Mit dem Begriff Entwicklungsfaktoren bezeichnet man die Faktoren, die eine Entwicklung in Gang setzen, aufrechterhalten und positiv oder negativ beeinflussen“ (Ekert, Ekert 2014).

Welchen Anteil haben Anlage und Umwelt bei der Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen? Eine Frage, der nicht nur Psychologen und Pädagogen seit langer Zeit versuchen auf den Grund zu gehen und die im wissenschaftlichen Diskurs immer wieder kontrovers betrachtet wird. Auch Eltern betrachten ihre Sprösslinge häufig fragend: „Woher hat unser Kind das nur?“ Welchen Wirkungsanteil verschiedene Faktoren, wie Genetik, Epigenetik, Umweltfaktoren und die Selbststeuerung haben, ist eine wichtige Fragestellung in der Entwicklungspsychologie. Ihre Beantwor-

endogene Faktoren individuell genetische Anlagen, strukturelle Reifung

exogene Faktoren Umwelteinflüsse

Entwicklung der Persönlichkeit

autogene Faktoren Selbststeuerung/ Eigenaktivität

Abb. 6.1 Einflussfaktoren auf die Entwicklung. Die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit wird von endogenen, exogenen und autogenen Faktoren bestimmt.

tung gibt einerseits darüber Auskunft, wie bestimmte Persönlichkeitseigenschaften und Verhaltensweisen entstanden sind, und andererseits, wie Entwicklungsverläufe durch gezielte Maßnahmen beeinflusst und gestaltet werden können. Generell wird davon ausgegangen, dass verschiedene Faktoren vielfältig und kontinuierlich miteinander interagieren und dass sich erst aus dieser Interaktion heraus die Entwicklung eines Menschen gestaltet (▶ Abb. 6.1).

6.2.1 Bedeutung von Genetik und Epigenetik Die genetische Ausstattung eines Individuums entsteht in ihrer Einmaligkeit durch die Verschmelzung der Zellkerne einer Samenzelle und einer Eizelle. Die entstandene genetische Information ist verantwortlich für die Ausprägung von Persönlichkeitseigenschaften und speziellen Fähigkeiten wie Intelligenz, Sportlichkeit und Musikalität. Bei dem psychologischen Merkmal Intelligenz wird z. B. davon ausgegangen, dass die genetische Verankerung bei 50 % liegt (Schwarzer, Jovanovic 2015). Die Gene bestimmen darüber hinaus auch den Ablauf und Zeitpunkt entwicklungsbedingter Veränderungen, was sich in den sog. sensiblen Perioden Entwicklungsaufgaben und kritische Lebensereignisse (S. 150) zeigt.

6.2 Einflussfaktoren auf die Entwicklung In der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion gewinnt das Wissen um epigenetische Prozesse und deren Auswirkung auf die Entwicklung zunehmend an Bedeutung. In der Epigenetik wird davon ausgegangen, dass die Umwelt Einfluss auf die Genaktivität von Zellen nimmt und sie zu bestimmten Zeitpunkten „anoder abschalten“ kann. Diese Programmierung verändert das Genom eines Menschen nicht, kann aber bei der Zellteilung an Tochterzellen weitergegeben werden und führt so zu veränderter Genaktivität, auch in nachfolgenden Generationen (Schwarzer, Jovanovic 2015). ▶ Exkurs – Zwillingsstudie zur Epigenetik. Die eineiigen Zwillinge A. und G. aus Barcelona sind prädestiniert für epigenetische Untersuchungen. Als eineiige Zwillinge sind sie genetisch vollkommen identisch, Unterschiede können nur auf Umweltvariationen zurückgeführt werden. Bis zum 16. Lebensjahr lebten A. und G. gemeinsam und machten viele gleichartige Erfahrungen. Doch danach trennte sich ihr Lebensweg – die Eine ging nach England und die Andere nach Mexiko. Ihre Lebensumwelt, ihr Lebensstil und vor allem ihr Essverhalten unterschieden sich von da an deutlich. G. steht auf Fastfood, Pasta und Fleisch, kocht selten und kauft sich schnell was für zwischendurch. A. treibt Sport, kocht gern und achtet auf gesunde Ernährung. Sie isst viel Obst und Gemüse. Die Zwillinge nahmen an einer Studie des Krebsforschungszentrums teil. Dabei zeigte sich in den Speichelproben der jungen Frauen, dass sie sich mit zunehmendem Alter nicht in ihren Genen unterschieden, doch die Funktionsweise der Gene, die biochemische epigenetische Programmierung hatte sich verändert (Podbregar, Lohmann 2013).

6.2.2 Bedeutung der Umwelt Die Umwelt eines Menschen ist außerordentlich komplex und kann auf die Entwicklung sowohl eine optimierende Wirkung haben und eine gesunde Entwicklung ermöglichen als auch eine hemmende Wirkung und somit Entwicklungsstörungen hervorrufen. ▶ Materielle Umwelt. Die materielle Umwelt spielt schon in der pränatalen Phase eine Rolle. Das Essverhalten (z. B. einseitige Ernährung, Nährstoffmangel), die Lebensgewohnheiten bzw. -umstände der Mutter (z. B. Alkohol, Drogen, Stress) sowie die Zugänglichkeit und Nutzung von medizinischen Vorsorgesystemen beeinflussen die Entwicklung des Fötus schon in der vorgeburtlichen Phase. Des Weiteren beeinflusst der sozioökonomische

Status der Familie, in der das Kind aufwächst, die weitere Entwicklung. Der sozioökonomische Status wird i. d. R. durch die Dauer und die Art der Ausbildung von Vater und Mutter und das Familieneinkommen definiert (Schwarzer, Jovanovic 2015). ▶ Sozial-emotionale Umwelt. Nach der Geburt besteht die sozioemotionale Umwelt des Kindes vor allem aus seinen unmittelbaren Bezugspersonen. Gerade in den ersten Lebensmonaten ist das Kind auf eine feinfühlige Begleitung und die Befriedigung der sozial-emotionalen Grundbedürfnisse angewiesen. Nach Erikson führt eine einfühlsame und verlässliche Begleitung dazu, dass ein Kind ein sog. Urvertrauen entwickelt. Werden Bezugspersonen verlässlich erlebt, ist das eine gute Ausgangsbasis für eine gelingende soziale und kognitive Entwicklung, das Selbstwirksamkeitserleben und die Bindungsfähigkeit eines Kindes. In den anschließenden Lebensjahren werden die sozialen Beziehungen des Kindes immer vielfältiger. Es interagiert nicht nur mit Erwachsenen, sondern zunehmend auch mit Gleichaltrigen. Das Kind handelt nach sozialen und moralischen Regeln und entwickelt im Miteinander Konfliktlösestrategien. Kinder sind bestrebt, sich im Sinne moralischer und sozialer Regeln zu verhalten, um von der Umwelt als beliebt und kompetent wahrgenommen zu werden. Ein weiterer wesentlicher sozial-emotionaler Faktor ist der Erziehungsstil der Bezugspersonen. Eltern, die einen wirkungsvollen Erziehungsstil umsetzen, sind engagiert, akzeptieren und kontrollieren ihr Kind. Sie sind liebevoll, aufmerksam und einfühlsam, beachten die Bedürfnisse ihres Kindes und gewähren ihm Autonomie (Schwarzer, Jovanovic 2015). ▶ Kultur. Die Kultur umfasst sämtliche Umweltsysteme, in denen ein Kind heranwächst. Die Entwicklung eines Kindes ist in einem hohen Maße von dem spezifischen kulturellen Kontext, in dem es lebt, geprägt. Die jeweiligen entwicklungspsychologischen Überzeugungen und kulturgebundenen Regeln bestimmen die Entwicklungsaufgaben und -ziele für spezifische Entwicklungsabschnitte (Schwarzer, Jovanovic 2015).

6.2.3 Aktive Selbststeuerung Die aktive Selbststeuerung, auch Eigenaktivität genannt, ist ein weiterer Einflussfaktor auf die Entwicklung.

Definition

L ●

„Eigenaktivität beschreibt die Art und Weise, in der der Mensch auf Entwicklungsreize antwortet: Wie er sie verarbeitet, Neues ausprobiert, in seine Verhaltensmöglichkeiten aufnimmt, Lust an der Wiederholung und Übung hat und sich schließlich am ,Erfolg‘ freuen kann“ (Ekert, Ekert 2014).

In welchem Ausmaß sich selbst steuernde Tendenzen bei einem Menschen entwickeln, hängt im hohen Maß von der Erziehung ab. Erziehende bestimmen durch ihr erzieherisches Handeln, wie groß der Spielraum ist, der diesen Tendenzen gewährt wird.

6.2.4 Wechselseitige Abhängigkeit von Anlage, Umwelt und Selbststeuerung

6

Das Zusammenspiel von Anlage, Umwelt und Selbststeuerung soll anhand der Sprachentwicklung dargestellt werden. Im Alter von einem Jahr sind i. d. R. folgende Voraussetzungen erfüllt: ● muskuläre und neuronale Beherrschung der Lautbildung durch Mund, Kiefer, Zunge und Stimmbänder (Reifung) ● Hören und Verstehen einzelner Wörter (sensorische Voraussetzungen) ● Förderung durch Menschen, die mit dem Kind sprechen (Umwelt) ● Wiederholung einzelner Worte, wie „Mama“, „Papa“, „Auto“: Das Kind freut sich an der Verständigung und führt sie immer wieder herbei, es hat Lust am Sprechen (Eigenaktivität). Eine gute Sprachentwicklung wird durch das gelungene Zusammenwirken dieser verschiedenen Entwicklungsfaktoren ermöglicht (Ekert, Ekert 2014). ▶ Exkurs – ein tierisches Experiment. Der amerikanische Psychologe Winthrop Kellogg nahm im Juni 1931 das Schimpansenkind Gua in seine Familie auf, um es gemeinsam mit seinem 10 Monate alten Sohn zu erziehen. Ziel dieses Experiments war es, die Fragestellung zu klären, welche Einflüsse die Entwicklung eines Menschen dominieren. Würde das Affenkind die typischen Verhaltensweisen eines Menschen übernehmen, würde dies die Allmacht der Umwelt auf die Entwicklung verdeutlichen. Entwickelt sich der Affe nicht wie ein Menschenkind, wären vererbte Instinkte bestimmend. Gua spielte mit Bauklötzchen, kam täglich in die Badewanne, trug Kleider,

9

Wachstum und Entwicklung musste Schuhe tragen und lernen, aufrecht zu gehen. Sie zeigte erstaunliche Anpassungen an ihre menschliche Umgebung: Sie gehorchte besser als sein Sohn, bat mit einem Kuss um Verzeihung und zeigte früh an, wenn sie auf die Toilette musste. Im Verlauf des Experiments zeigte sich zu Kelloggs Überraschung, dass sein Sohn nicht Vorbild für das Affenkind wurde, sondern umgekehrt. Wenn der Junge Hunger oder Durst hatte, kreischte er wie seine „haarige“ Schwester. Er lief zeitweilig gern auf allen vieren und benutzte seinen Mund als Greifwerkzeug. Mit 19 Monaten beherrschte sein Sohn genau 3 Wörter, während ein amerikanisches Durchschnittskind zu diesem Zeitpunkt 50 Worte sprechen kann. Im Unterschied zu Gua war der Junge jedoch der bessere Imitator, womit lediglich die Bedeutung des Modelllernens für die menschliche Entwicklung verdeutlicht werden konnte. Unbewiesen blieb, inwieweit die Umwelt eine größere Bedeutung für die Entwicklung hat als das Erbgut. Vermutlich um die Entwicklung seines Sohnes nicht zu gefährden, brach Kellogg das Experiment nach 9 Monaten ab (Schneider 2006).

6

Lernaufgabe

M ●

1. Gestalten Sie eine Mindmap mit den Faktoren, die Ihre persönliche Entwicklung beeinflusst haben. 2. Finden Sie Beispiele für förderliche und hemmende Umwelteinflüsse auf die Entwicklung.

6.3 Entwicklungsaufgaben und kritische Lebensereignisse Ausgelöst durch Reifungsprozesse, soziokulturelle und gesellschaftliche Einflüsse sowie individuelle Zielsetzungen und Werte, die sich aus der persönlichen Lebensgeschichte ergeben, sind wir im Laufe unseres Lebens aufgefordert, altersnormative Krisen und Entwicklungsaufgaben sowie nichtnormative Herausforderungen, sog. kritische Lebensereignisse, zu bewältigen. Entwicklungspsychologische Phasenmodelle gehen davon aus, dass die Mehrzahl der Menschen altersnormative Krisen und Entwicklungsaufgaben in der gleichen Entwicklungsphase (sensible Perioden) bewältigt. Erfolgt eine adäquate Bewältigung während dieses bestimmten Lebensabschnitts, ist ein optimaler Entwicklungsverlauf gewährleistet.

150

Definition

L ●

„In der Entwicklungspsychologie werden sensible Perioden als Entwicklungsabschnitte definiert, in denen entgegen vorangehender oder nachfolgender Perioden spezifische Erfahrungen maximale positive und negative Wirkungen haben, also als Perioden erhöhter Plastizität unter dem Einfluss spezifischer Bedingungsfaktoren“ (Schneider, Lindenberger 2012).

6.3.1 Kritische Lebensereignisse Die Geburt eines Geschwisterkindes, die Scheidung der Eltern, der Verlust von Familienangehörigen, Krankheit und Behinderung der eigenen oder einer nahestehenden Person sind nichtnormative Einschnitte in den Lebenslauf. Im Gegensatz zu vorhersehbaren normativen Entwicklungsaufgaben sind kritische Lebensereignisse plötzliche, unerwartete Einschnitte in das Leben eines Menschen und erfordern eine erhebliche Umstellung der bisherigen Lebensweise. Dies kann multiple Probleme hervorrufen: Einerseits können sie als Herausforderungen wahrgenommen werden und eine Chance für positive Entwicklung darstellen, andererseits als Risikofaktor für Fehlanpassungen und Störungen wirken. Die Resilienzforschung beschäftigt sich mit den Risiko- und Schutzfaktoren, welche die Bewältigung kritischer Lebensereignisse beeinflussen. Dabei wird davon ausgegangen, dass die psychische Widerstandsfähigkeit eines Menschen entwickelt und erlernt werden kann.

Definition

L ●

„Resilienz ist die Fähigkeit, sich von Belastungen schnell zu erholen und schwierige Lebenssituationen zu meistern“ (nach Marsh in McAllister, Lowe 2013).

Eine angemessene Bewältigung kritischer Lebensereignisse führt zu einem erweiterten Selbstbild, mehr Selbstvertrauen und einem Wissenszuwachs über die eigenen Handlungsmöglichkeiten. Zukünftige Probleme und Krisen können dadurch besser bewältigt werden.

Lernaufgabe

M ●

Im Rückblick auf Ihren bisherigen Entwicklungsweg haben Sie sicherlich schon kritische Lebenssituationen bewältigen müssen. Wählen Sie eine aus und betrachten Sie diese Situation näher: ● Welche Probleme, Konflikte oder belastenden Emotionen waren damit verbunden? ● Auf welche Weise haben Sie diese Herausforderung bewältigt? ● Was hat Ihnen dabei geholfen? ● Welche Bedeutung hat das Erlebte für Ihre weitere Entwicklung?

6.3.2 Entwicklungsaufgaben Zur Darstellung unterschiedlicher altersnormativer Krisen und Entwicklungsaufgaben wird in ▶ Tab. 6.1 das Konzept der psychosozialen Entwicklung nach Erikson (1902 – 1994) dargestellt, das die menschliche Entwicklung über die gesamte Lebensspanne hinweg beschreibt. Erikson geht in seinem Phasenmodell von Krisen bzw. Konflikten aus, die durch Reifungsvorgänge des Organismus hervorgerufen werden und im Zentrum der unterschiedlichen Lebensabschnitte stehen. Dabei beeinflusst die Art und Weise der Bewältigung die nachfolgenden Entwicklungsphasen nachhaltig. Gelingt keine angemessene Lösung der beschriebenen psychosozialen Krise, kann dies auf Dauer zu Entwicklungs- und Persönlichkeitsstörungen führen. Eine spätere Lösung eines zuvor inadäquat bewältigten Konflikts wird dabei jedoch nicht ausgeschlossen.

6.4 Entwicklungsabschnitte Die folgenden Abschnitte beschreiben entwicklungsbedingte Veränderungen ausgehend von der pränatalen Entwicklung bis zum frühen Erwachsenenalter. Die Zeitangaben in den verschiedenen Entwicklungsbereichen beziehen sich auf standardisierte Durchschnittswerte. Diese Zeitangaben sollen Anhaltspunkte sein und eine grobe Orientierung bieten. Aufgrund individueller Unterschiede in der Geschwindigkeit der Entwicklung sind jedoch Differenzen möglich. Sollte ein Kind in seinem Entwicklungsverlauf ungewöhnliche Abweichungen von diesen Werten zeigen, ist die Suche nach Ursachen wichtig. Dies sollte ggf. in Zusammenarbeit mit den Eltern und entspre-

Wachstum und Entwicklung musste Schuhe tragen und lernen, aufrecht zu gehen. Sie zeigte erstaunliche Anpassungen an ihre menschliche Umgebung: Sie gehorchte besser als sein Sohn, bat mit einem Kuss um Verzeihung und zeigte früh an, wenn sie auf die Toilette musste. Im Verlauf des Experiments zeigte sich zu Kelloggs Überraschung, dass sein Sohn nicht Vorbild für das Affenkind wurde, sondern umgekehrt. Wenn der Junge Hunger oder Durst hatte, kreischte er wie seine „haarige“ Schwester. Er lief zeitweilig gern auf allen vieren und benutzte seinen Mund als Greifwerkzeug. Mit 19 Monaten beherrschte sein Sohn genau 3 Wörter, während ein amerikanisches Durchschnittskind zu diesem Zeitpunkt 50 Worte sprechen kann. Im Unterschied zu Gua war der Junge jedoch der bessere Imitator, womit lediglich die Bedeutung des Modelllernens für die menschliche Entwicklung verdeutlicht werden konnte. Unbewiesen blieb, inwieweit die Umwelt eine größere Bedeutung für die Entwicklung hat als das Erbgut. Vermutlich um die Entwicklung seines Sohnes nicht zu gefährden, brach Kellogg das Experiment nach 9 Monaten ab (Schneider 2006).

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Lernaufgabe

M ●

1. Gestalten Sie eine Mindmap mit den Faktoren, die Ihre persönliche Entwicklung beeinflusst haben. 2. Finden Sie Beispiele für förderliche und hemmende Umwelteinflüsse auf die Entwicklung.

6.3 Entwicklungsaufgaben und kritische Lebensereignisse Ausgelöst durch Reifungsprozesse, soziokulturelle und gesellschaftliche Einflüsse sowie individuelle Zielsetzungen und Werte, die sich aus der persönlichen Lebensgeschichte ergeben, sind wir im Laufe unseres Lebens aufgefordert, altersnormative Krisen und Entwicklungsaufgaben sowie nichtnormative Herausforderungen, sog. kritische Lebensereignisse, zu bewältigen. Entwicklungspsychologische Phasenmodelle gehen davon aus, dass die Mehrzahl der Menschen altersnormative Krisen und Entwicklungsaufgaben in der gleichen Entwicklungsphase (sensible Perioden) bewältigt. Erfolgt eine adäquate Bewältigung während dieses bestimmten Lebensabschnitts, ist ein optimaler Entwicklungsverlauf gewährleistet.

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Definition

L ●

„In der Entwicklungspsychologie werden sensible Perioden als Entwicklungsabschnitte definiert, in denen entgegen vorangehender oder nachfolgender Perioden spezifische Erfahrungen maximale positive und negative Wirkungen haben, also als Perioden erhöhter Plastizität unter dem Einfluss spezifischer Bedingungsfaktoren“ (Schneider, Lindenberger 2012).

6.3.1 Kritische Lebensereignisse Die Geburt eines Geschwisterkindes, die Scheidung der Eltern, der Verlust von Familienangehörigen, Krankheit und Behinderung der eigenen oder einer nahestehenden Person sind nichtnormative Einschnitte in den Lebenslauf. Im Gegensatz zu vorhersehbaren normativen Entwicklungsaufgaben sind kritische Lebensereignisse plötzliche, unerwartete Einschnitte in das Leben eines Menschen und erfordern eine erhebliche Umstellung der bisherigen Lebensweise. Dies kann multiple Probleme hervorrufen: Einerseits können sie als Herausforderungen wahrgenommen werden und eine Chance für positive Entwicklung darstellen, andererseits als Risikofaktor für Fehlanpassungen und Störungen wirken. Die Resilienzforschung beschäftigt sich mit den Risiko- und Schutzfaktoren, welche die Bewältigung kritischer Lebensereignisse beeinflussen. Dabei wird davon ausgegangen, dass die psychische Widerstandsfähigkeit eines Menschen entwickelt und erlernt werden kann.

Definition

L ●

„Resilienz ist die Fähigkeit, sich von Belastungen schnell zu erholen und schwierige Lebenssituationen zu meistern“ (nach Marsh in McAllister, Lowe 2013).

Eine angemessene Bewältigung kritischer Lebensereignisse führt zu einem erweiterten Selbstbild, mehr Selbstvertrauen und einem Wissenszuwachs über die eigenen Handlungsmöglichkeiten. Zukünftige Probleme und Krisen können dadurch besser bewältigt werden.

Lernaufgabe

M ●

Im Rückblick auf Ihren bisherigen Entwicklungsweg haben Sie sicherlich schon kritische Lebenssituationen bewältigen müssen. Wählen Sie eine aus und betrachten Sie diese Situation näher: ● Welche Probleme, Konflikte oder belastenden Emotionen waren damit verbunden? ● Auf welche Weise haben Sie diese Herausforderung bewältigt? ● Was hat Ihnen dabei geholfen? ● Welche Bedeutung hat das Erlebte für Ihre weitere Entwicklung?

6.3.2 Entwicklungsaufgaben Zur Darstellung unterschiedlicher altersnormativer Krisen und Entwicklungsaufgaben wird in ▶ Tab. 6.1 das Konzept der psychosozialen Entwicklung nach Erikson (1902 – 1994) dargestellt, das die menschliche Entwicklung über die gesamte Lebensspanne hinweg beschreibt. Erikson geht in seinem Phasenmodell von Krisen bzw. Konflikten aus, die durch Reifungsvorgänge des Organismus hervorgerufen werden und im Zentrum der unterschiedlichen Lebensabschnitte stehen. Dabei beeinflusst die Art und Weise der Bewältigung die nachfolgenden Entwicklungsphasen nachhaltig. Gelingt keine angemessene Lösung der beschriebenen psychosozialen Krise, kann dies auf Dauer zu Entwicklungs- und Persönlichkeitsstörungen führen. Eine spätere Lösung eines zuvor inadäquat bewältigten Konflikts wird dabei jedoch nicht ausgeschlossen.

6.4 Entwicklungsabschnitte Die folgenden Abschnitte beschreiben entwicklungsbedingte Veränderungen ausgehend von der pränatalen Entwicklung bis zum frühen Erwachsenenalter. Die Zeitangaben in den verschiedenen Entwicklungsbereichen beziehen sich auf standardisierte Durchschnittswerte. Diese Zeitangaben sollen Anhaltspunkte sein und eine grobe Orientierung bieten. Aufgrund individueller Unterschiede in der Geschwindigkeit der Entwicklung sind jedoch Differenzen möglich. Sollte ein Kind in seinem Entwicklungsverlauf ungewöhnliche Abweichungen von diesen Werten zeigen, ist die Suche nach Ursachen wichtig. Dies sollte ggf. in Zusammenarbeit mit den Eltern und entspre-

6.4 Entwicklungsabschnitte

Tab. 6.1 Phasen der psychosozialen Entwicklung (nach Erikson). positive Bewältigung Lebensjahr, Phase

psychosozialer Konflikt

Entwicklungsthemen

0–1,5 Säuglingsalter

Vertrauen vs. Misstrauen





1,5–3 frühe Kindheit

Autonomie vs. Selbstzweifel





3–6 Kindheit

Initiative vs. Schuldbewusstsein





ab 6 – Pubertät, Schulalter

Kompetenz vs. Minderwertigkeitsgefühl





negative Bewältigung Folgen

mögliche Ursachen

Folgen

Vertrauen entwickelt sich (Urvertrauen) durch Erfahrungen mit Bezugspersonen, diese sollten verlässlich und zugewandt sein. In dieser Lebensphase Erfahrenes kann sich ein Leben lang, z. B. auf die Bindungsfähigkeit, auswirken.



Gefühl der Sicherheit.



Durch Mangel an körperlicher Nähe und Zuwendung sowie durch wechselhafte Behandlung kann sich ein Gefühl von Misstrauen entwickeln.



Unsicherheit und Angst.

Durch fortschreitende sprachliche und motorische Entwicklung kommt es bei der Entdeckung der Welt zur zunehmenden Unabhängigkeit von Bezugspersonen. Das Kleinkind kann durch klare Grenzen, angemessene Unterstützung und Vertrauen in die Fähigkeiten des Kindes in seinem Autonomiestreben unterstützt werden.



Das Kleinkind nimmt sich selbst als Person wahr, die ihren Körper und Ereignisse kontrollieren kann. Austesten von Grenzen.



Zu Selbstzweifeln kann es führen, wenn sich das Kleinkind in seinem Handeln nicht erfolgreich erlebt, übermäßige Einschränkungen erfährt, kritisiert oder überfordert wird.



Gefühl der Hilflosigkeit. Zweifel an den eigenen Fähigkeiten, Ereignisse kontrollieren zu können.

Diese Phase ist gekennzeichnet durch den zunehmenden Wissensdrang und Neugierde, die Welt zu erkunden. Typisch für diese Zeit sind häufig gestellte „Sesamstraßen-Fragen“. Das Kind knüpft neue soziale Kontakte außerhalb der Familie. Es entwickelt ein Gefühl von Freiheit und Selbstvertrauen.



Vertrauen auf eigene Initiative und Kreativität.



Erfährt das Kind in seinem Tatendrang häufig Verbote und wird es mit überzogenen Leistungserwartungen konfrontiert, kann es tief liegende Schuldgefühle entwickeln.



Mangelndes Selbstwertgefühl.

Die Neugierde und Lernbereitschaft im Schulalter führen zur systematischen Weiterentwicklung kognitiver Fähigkeiten (Lesen, Rechnen, Schreiben), damit verbunden sind Leistungsanforderungen und -bewertungen. Durch Vergleich und in Interaktion mit Gleichaltrigen lernt das Kind, seine Fähigkeiten einzuschätzen.



Angemessenes Wissen um Kompetenz in sozialen und intellektuellen Fähigkeiten. Entdecken von Begabungen und Leistungsfähigkeit. Sich selbst realistisch einordnen.



Fehlende Erfolgserlebnisse, Überforderung und übermäßige Kritik können zu Ängstlichkeit und Minderwertigkeitsgefühlen führen.



Mangelndes Selbstwertgefühl. Gefühl des Versagens. Trägheit und mangelnde Entscheidungsfähigkeit.









6





1

Wachstum und Entwicklung

Tab. 6.1 Fortsetzung positive Bewältigung Lebensjahr, Phase

psychosozialer Konflikt

Entwicklungsthemen

Adoleszenz

Identität vs. Rollenkonfusion





6

frühes Erwachsenenalter

mittleres Erwachsenenalter

hohes Alter

Intimität vs. Isolierung

Generativität vs. Stagnation

Ich-Integrität vs. Verzweiflung









152

negative Bewältigung Folgen

Zentrale Aufgabe dieser Phase ist die Entwicklung der eigenen Identität, ausgelöst durch körperliche Reifungsprozesse, den veränderten Umgang mit dem anderen Geschlecht, Integration und Behauptung in Peergroups und der Forderung nach Neubestimmung der sozialen Rolle als Jugendlicher. Der Heranwachsende sollte eine Vorstellung über sein zukünftiges Leben entwickeln, z. B. über seine Berufsziele.



Der Aufbau stabiler, intimer sozialer Beziehungen im privaten und beruflichen Bereich gehört zur wesentlichen Aufgabe des frühen Erwachsenenalters. Dies erfordert vom Individuum den Verzicht auf einige persönliche Präferenzen, Übernahme von Verantwortung und teilweise Aufgabe von Unabhängigkeit.



In dieser Lebensphase steht die Unterstützung der nachfolgenden Generationen in ihrem Fortkommen durch die Weitergabe von Wissen, Können und Lebenserfahrung im Vordergrund.



Im letzten Lebensabschnitt wird das eigene Leben reflektiert und dessen Begrenztheit akzeptiert. Wurden die vorangegangen Entwicklungsphasen und Konflikte angemessen bewältigt, entsteht ein Gefühl der Ganzheit und Zufriedenheit mit dem Erreichten.











mögliche Ursachen

Festes Vertrauen in die eigene Person. Entspanntes Erleben der eigenen Person. Erkennen von Eigenschaften, Fähigkeiten, Interessen.



Bindungsfähigkeit zu anderen wird erworben. Vom „ich“ zum „wir“, ohne Selbstaufgabe.



Über die eigene Person hinaus Sorge um die Familie, Gesellschaft und zukünftige Generationen tragen.



Grundlegende Zufriedenheit mit dem Leben. Gefühl der Ganzheit.



Folgen

Gelingt es nicht, widersprüchliche Erfahrungen und gesellschaftliche Erwartungen sowie die bisher erlernten Rollen und Kompetenzen in Einklang zu bringen, kommt es zu Gefühlsverwirrungen und zu einem unklaren Selbstkonzept mit instabilen Zielen.



Wird die Aufgabe des frühen Erwachsenenalters nicht angemessen gelöst, kommt es zu egozentrischem Verhalten, Isolation und zur Unfähigkeit, bedeutsame soziale Beziehungen eingehen zu können.



Durch subjektiv empfundenen Entwicklungsstillstand, beginnenden körperlichen Abbau und den Vergleich mit jüngeren Generationen kann es zu einer pessimistischen, Ich-bezogenen oder gelangweilten Lebenshaltung kommen.



Wurden die an das Individuum gestellten Entwicklungsaufgaben und Konflikte unzureichend oder nicht gelöst, kommt es zur Unzufriedenheit über das eigene Leben.















Das eigene Selbst wird als bruchstückhaft und diffus wahrgenommen. Unsicheres Selbstbewusstsein.

Gefühl der Einsamkeit. Leugnung des Bedürfnisses nach Nähe. Pathologische Exklusivität und Extravaganz.

Egozentrisches Verhalten. Ablehnende Grundhaltung. Fehlende Zukunftsperspektive.

Gefühl der Sinnlosigkeit. Enttäuschung und Selbstverachtung.

6.4 Entwicklungsabschnitte chendem Fachpersonal, z. B. mit Kinderärzten und Heilpädagogen, erfolgen.

6.4.1 Pränatale Entwicklung Mit der Befruchtung der Eizelle beginnt die pränatale Entwicklung. Diese Entwicklungsphase wird stark von biologischen Reifungsprozessen gestaltet, jedoch besteht auch schon in diesem Entwicklungsabschnitt ein komplexes Zusammenspiel von Anlagen und Umwelt. So wirken sich viele Umwelteinflüsse, denen die Schwangere während der Schwangerschaft ausgesetzt ist, wie Stress oder der Konsum von Genussmitteln wie Alkohol, auf das Ungeborene aus (▶ Abb. 6.2). Die pränatale Entwicklung wird in drei Stadien unterteilt und erstreckt sich auf 40 Schwangerschaftswochen (SSW). ▶ Zygotenstadium. Mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle beginnt das Zygotenstadium. Es beschreibt die Zeitspanne von der Befruchtung bis zur Einnistung der befruchteten Eizelle in der Gebärmutterwand. Dieses Stadium umfasst die ersten zwei Lebenswochen (Lohaus, Vierhaus, Maass 2010). ▶ Embryonalstadium. Dieses Stadium reicht von der 3. bis zur 8. Lebenswoche. Hier finden bereits erste Differenzierungen der Organsysteme statt. Es kommt zur zunehmenden Ausbildung spezieller Strukturen und Funktionen wie des Nervensystems, der inneren Organe und der Extremitäten (Lohaus, Vierhaus, Maass 2010). Unter dem Einfluss der Geschlechtschromosomen sorgen Sexualhormone ab der 6. SSW für die Ausbildung der weiblichen bzw. männlichen Geschlechtsorgane, welche ab der 12. SSW auch äußerlich erkennbar sind. Durch die Wirkung der Sexualhormone auf den Körper und das Gehirn bilden sich geschlechtstypische Merkmale aus (Schneider, Lindenberger 2012).

▶ Fetalstadium. Von der 9. SSW bis zur Geburt erstreckt sich dieses pränatale Entwicklungsstadium. Die Binnendifferenzierung der Strukturen und Funktionen der Organsysteme setzt sich fort. Die Fähigkeit, Informationen sensorisch aufzunehmen, entwickelt sich, sodass im Laufe des Embryonalstadiums alle wesentlichen Sinnesleistungen (Sehen, Hören, Geschmack, Geruch, Tastsinn) ausgebildet werden, bei der Geburt zur Verfügung stehen und sich nachgeburtlich weiterentwickeln (Lohaus, Vierhaus, Maass 2010). Durch die Entwicklung des Nervensystems sowie der ersten Muskeln kommt es zu ersten koordinierten Bewegungen, welche für die Mutter in der 17.– 20. SSW spürbar werden. Ab der 30. SSW wird der Körper des Fötus auf das Leben außerhalb der Gebärmutter vorbereitet. Die Lungen reifen, u. a. zur Temperaturregulation wird eine Fettschicht angelegt und der Fötus erhält Antikörper aus dem Blut der Mutter (Schneider, Lindenberger 2012). Potenziell schädigende Umwelteinflüsse (Teratogene) in der pränatalen Entwicklungsphase sind (Schneider, Lindenberger 2012): ● ionisierende Strahlungen (z. B. Röntgenstrahlungen) ● Umweltgifte (z. B. Dioxin) ● Krankheiten der Mutter (z. B. HIV, Röteln, Toxoplasmose) ● Medikamente ● Drogen oder Konsum von Genussmitteln (z. B. Tabak, Alkohol) ● Ernährung der Mutter (z. B. Menge, Nährstoffzusammensetzung) ● starker negativer Stress der Mutter

ler anderen Bereiche, z. B. der Sprache, der Motorik und der kognitiven Fähigkeiten. Bereits im Mutterleib werden die Grundlagen für alle Wahrnehmungsbereiche geschaffen. Bis zur Geburt haben sich alle Sinne entwickelt, sie sind jedoch unterschiedlich ausgeprägt. Die Nahsinne, zu denen der Gleichgewichts-, Tast-, Bewegungsund Geschmackssinn gehören, sowie der Geruchssinn (Fernsinn) sind bei Neugeborenen schon sehr gut entwickelt. Die Fernsinne „Hören“ und „Sehen“, das Zusammenspiel der einzelnen Sinne sowie die Verbindung von sensorischen und motorischen Leistungen (Sensomotorik) müssen sich noch differenzieren.

Die Wirkung von Teratogenen ist abhängig von der Art und Dosis des Einflusses sowie dem Zeitpunkt des Einwirkens während der Schwangerschaft.

Das Neugeborene reagiert bereits auf Berührungen und Druck, Beklopfen und Vibrationen, Wärme und Kälte, Schmerz sowie sanftes und festes Streicheln. Es lernt über diese verschiedenen Reize und deren Verarbeitung den eigenen Körper zu empfinden und mit diesen Empfindungen umzugehen. Fühlen und Berühren sind daher in den ersten Monaten besonders wichtig für das Wohlbefinden des Säuglings und den Aufbau emotionaler Beziehungen zu seinen Bezugspersonen. Für das Erfassen der Umwelt sind weiterhin vielfältige taktile Wahrnehmungen bedeutsam. Wenn das Kleinkind mit Gegenständen spielt, macht es Erfahrungen mit unterschiedlichen Größen, Formen und Materialien. Dadurch lernt es Materialeigenschaften, wie die Beschaffenheit einer Oberfläche (rau, glatt oder wollig) und Festigkeit (hart oder weich), kennen und differenzieren. Ergreifen kommt vor Begreifen: Die Möglichkeit zu vielfältigen und anregenden taktilen Wahrnehmungen im Säuglingsalter fördert die kognitive, emotionale und sprachliche Entfaltung eines Kindes.

6.4.2 Entwicklung im Säuglingsalter (0–2 Jahre) Wahrnehmung Definition

L ●

„Wahrnehmung ist ein Prozess, der zur Gewinnung und Verarbeitung von Informationen führt, die aus inneren und äußeren Reizen gewonnen werden; diese Reize führen zu einem Auffassen und Erkennen von Gegenständen und Vorgängen“ (Baacke 1992).

Abb. 6.2 Kein Alkohol in der Schwangerschaft. (Foto: Amelie – stock.adobe.com)

Mithilfe der Wahrnehmung ist das Kind in der Lage, sich eine Vorstellung von der Umwelt zu schaffen und sich in ihr zu orientieren. Wahrnehmung ist somit die Basis für die Entwicklung und Gestaltung al-

Vestibuläre Wahrnehmung (Gleichgewichtssinn) Der Gleichgewichtssinn bildet sich im 2. und 3. Schwangerschaftsmonat und ist somit das erste sensorische System. Bei normal verlaufender Schwangerschaft gilt er im 6. Monat als ausgereift. Das Kleinkind erhält über diesen Sinn grundlegende Informationen über seine Körperlage und reagiert auf entsprechende Reize, z. B. auf Schaukeln und Wiegen. Die fortschreitende Entwicklung zeigt sich z. B. mit der Fähigkeit, allein zu sitzen oder im zunehmenden alleinigen Stehen des Kindes am Ende des 1. Lebensjahres. Im 2. Lebensjahr beginnt es Treppen zu steigen, ohne sich festzuhalten, und kann kurzzeitig auf einem Fuß stehen.

6

Taktile Wahrnehmung (Tastsinn)

3

Wachstum und Entwicklung

Abb. 6.3 Olfaktorische Wahrnehmung. Stillkinder können 4 Tage nach der Geburt den personenspezifischen Geruch der Mutter erkennen. (Foto: K. Oborny, Thieme)

Gustatorische Wahrnehmung (Geschmackssinn) Die Geschmackswahrnehmung ist bei der Geburt im Wesentlichen ausgeprägt. In Untersuchungen konnte festgestellt werden, dass Säuglinge schon 2 Stunden nach der Geburt beim Schmecken süßer, salziger, saurer und bitterer Flüssigkeiten unterschiedliche Gesichtsausdrücke zeigen.

6

Olfaktorische Wahrnehmung (Geruchssinn) Der Geruchssinn ist bei der Geburt sehr gut entwickelt. Während der ersten Lebensmonate spielt er eine wichtige Rolle bei der Anbahnung erster sozialer Beziehungen. So belegen Untersuchungen, dass insbesondere Säuglinge, die mit der Brust ernährt werden, im Alter von 4 Tagen den personenspezifischen Geruch ihrer Mutter erkennen und von anderen stillenden Müttern differenzieren können (Schneider, Lindenberger 2012, ▶ Abb. 6.3). Es wird davon ausgegangen, dass Säuglinge ihr anfangs eingeschränktes Sehvermögen durch ihren Geruchssinn kompensieren. Ein bekannter Geruch gibt dem Säugling Sicherheit. Daher hilft es in fremder Umgebung häufig ein Tuch oder ein Hemd, das die Bezugsperson einige Zeit am Körper getragen hat, ins Bett zu legen, um den Säugling zu beruhigen.

Visuelle Wahrnehmung (Sehsinn) In dem zweiten Schwangerschaftsdrittel reifen die visuellen Sinnesorgane, sodass in der 20. SSW erste Reaktionen auf Lichtreize auftreten. Von allen Sinnen entwickelt sich die Sehkraft zuletzt. Die Ursache hierfür liegt vermutlich in der geringen Stimulation dieses Sinnes in der dunklen Umgebung der Gebärmutter. Intrauterin kann das Kind nur zwischen Hell und Dunkel differenzieren. Außerdem

154

sind die für das Sehen zuständigen Gehirnareale (Sehrinde) sowie die Augen (Sehrezeptoren auf der Netzhaut und die Ziliarmuskeln) zum Zeitpunkt der Geburt noch nicht voll ausgebildet. Die Sehschärfe eines Neugeborenen ist daher begrenzt. Es kann Gegenstände bis zu einem Abstand von etwa 25 cm klar sehen (Schneider, Lindenberger 2012). Säuglinge bevorzugen kräftige Farben, Hell-Dunkel-Kontraste und scharfe Konturen. Dabei scheint das menschliche Gesicht mit dem Hell-Dunkel-Kontrast der Augen, der Augenbrauen und der Haut die interessanteste visuelle Reizkombination in den ersten Lebenswochen zu sein. In den ersten Lebensmonaten nimmt das Kleinkind jedoch das menschliche Gesicht nur sehr verschwommen wahr. Erst mit ungefähr 6 Monaten ist die Kontrastsensitivität ähnlich der eines Erwachsenen. Das Tiefensehen ist zwar angeboren, entwickelt sich aber erst durch die Eigenbewegung des Kindes im Raum. Es wird davon ausgegangen, dass Kleinkinder bereits ab dem 2. Lebensmonat Tiefen wahrnehmen können, ab dem 9. Monat reagieren sie jedoch erst mit Angst bei Abgründen. Dies begründet sich in den nicht vorhandenen Bewegungserfahrungen jüngerer Kinder. Durch zunehmende Bewegungserfahrungen und das Spielen mit unterschiedlichen Gegenständen entwickelt sich bis zum Ende des 2. Lebensjahres die Fähigkeit, Objekte trotz unterschiedlicher Entfernung, Betrachtungsperspektive, Schattierung und Beleuchtung als dieselben wiederzuerkennen und von anderen ähnlichen Objekten zu unterscheiden. Diese Fähigkeit wird als Wahrnehmungskonstanz bezeichnet (Ekert u. Ekert 2014).

Auditive Wahrnehmung (Hörsinn) Ab der 20. SSW kann der Fötus Geräusche wahrnehmen und schon kurze Zeit nach der Geburt reagiert das Kind auf diese. Es ist in der Lage, die menschliche Stimme von anderen Geräuschen zu unterscheiden. Untersuchungen belegen, dass Säuglinge, vermutlich geprägt durch die intrauterinen Wahrnehmungen, schon 4 Tage nach der Geburt die Stimme der Mutter von anderen unterscheiden können. Hörpräferenzen bei Neugeborenen sind nach Schneider und Lindenberger (2012): ● komplexe Laute (z. B. Stimmen) gegenüber einzelnen Tönen ● „Ammensprache“ gegenüber normaler Sprache ● Stimme der Mutter gegenüber der anderer Frauen ● Muttersprache gegenüber einer anderen Sprache

Abb. 6.4 Interaktion. Durch die Interaktion mit der Mutter lernt das Kind, Formen und Funktionen sowie Ereignisse und Vorgänge mit dem dafür gebrauchten Sprachbegriff zu verbinden. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Je mehr die Eltern mit ihrem Kind sprechen, umso mehr kann sich das auditive Wahrnehmungsvermögen differenzieren. Gegenstände sollten benannt und Handlungen von den Bezugspersonen erklärt werden (▶ Abb. 6.4).

Motorik Voraussetzung für die motorische Entwicklung ist die Reifung des Nervensystems, der Muskulatur und der Sinnesorgane. Die einzelnen Entwicklungsschritte der motorischen Entwicklung treten bei allen Menschen etwa im gleichen Lebensalter auf und sind stark vom jeweiligen körperlichen sowie neurologischen Reifungsstand abhängig. Die motorische Entwicklung steht in engem Zusammenhang mit anderen Entwicklungsbereichen wie der kognitiven Entwicklung. In der sensomotorischen Phase (S. 156), sog. kognitive Entwicklung nach Piaget, versucht das Kind, erste Schemata von der Welt zu bilden, indem es beginnt, sich mit der gegenständlichen Umwelt auseinanderzusetzen. Die Bewegungsentwicklung und die kognitive Entwicklung beeinflussen sich dabei gegenseitig. Treten Störungen in einem dieser beiden Entwicklungsbereiche auf, hat das unweigerlich negativen Einfluss auf den Entwicklungsverlauf im anderen. Wichtige Etappen der motorischen Entwicklung von der Geburt bis zum 2. Lebensjahr werden in ▶ Tab. 6.2 und ▶ Abb. 6.5 dargestellt.

Merke

H ●

Die motorische Entwicklung verläuft sehr individuell. Sie sollte aufmerksam beobachtet werden, um Entwicklungsverzögerungen ggf. frühzeitig zu erkennen.

6.4 Entwicklungsabschnitte

Tab. 6.2 Wichtige Etappen der motorischen Entwicklung von der Geburt bis zum 2. Lebensjahr. Alter

motorische Entwicklung

nach der Geburt

In den ersten Lebenswochen sind die Bewegungen des Säuglings wenig zielgerichtet. Das Neugeborene ist mit einer Vielzahl von Reflexen ausgestattet, z. B. dem Greif-, Saug- und Schreitreflex.

2.–3. Monat

Kontrolle über Kopfhaltung: Das Kind kann in verschiedenen Positionen seinen Kopf halten und frei bewegen.

4.–9. Monat

Zunehmende Rumpfkontrolle: Das Kind kann in die „Sphinxstellung“ (Bauchlage mit aufgestützten Armen) gehen, dabei stützt es sich mit den Armen seitlich ab (▶ Abb. 6.5a). In der Rückenlage kann sich das Kind von einer Seite auf die andere rollen. Häufig ist bei Kindern in diesem Entwicklungsabschnitt auch die sog. „Fliegerhaltung“ oder auch „Jet-Position“ zu beobachten (▶ Abb. 6.5b). Das Kind kann Sitzen mit Unterstützung bis hin zum selbstständigen Sitzen.

5.–12. Monat

Zunehmende Differenzierung der feinmotorischen und sensomotorischen Fähigkeiten: Das Kind greift gezielt nach Gegenständen bis hin zum Ergreifen auch kleinerer Dinge mit dem „Pinzettengriff“.

6.–11. Monat

Das Kind rollt, robbt, krabbelt und bewegt sich im Sitzen vorwärts. Im Laufe dieses Entwicklungsabschnittes beginnt das Kind sich zum Stehen hochzuziehen.

11.–18. Monat

In diesem Entwicklungsabschnitt erlernt das Kind das freie Gehen.

16.–30. Monat

Das Kind beginnt rückwärts zu gehen, klettert und bückt sich, ohne umzufallen. Es steigt Treppen und kann einen Gegenstand mit dem Fuß anstoßen, ohne umzufallen. Es isst mit dem Löffel und trinkt aus der Tasse.

Abb. 6.5 Motorische Entwicklung. Beispiele. a „Sphinxstellung“ – Bauchlage mit aufgestützten Armen. (Foto: P. Blåfield, Thieme) b „Fliegerhaltung“ oder „Jet-Position“. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Viele Studien belegen, dass die frühe Fortbewegung vielfältiger ist als lange Zeit angenommen. So lassen einige Kinder gewisse Entwicklungsschritte aus, wie das Robben oder das Krabbeln, andere bewegen sich überhaupt nicht auf allen vieren fort und kommen aus der Bauchlage in den Stand (Largo 2011). Trotz großer interindividueller Unterschiede sollte die motorische Entwicklung eines Kindes aufmerksam verfolgt werden, da sich Entwicklungsverzögerungen in den ersten Lebensmonaten häufig in der motorischen Entwicklung äußern. Lernt ein Kind erst ungewöhnlich spät, seinen Kopf eigenständig zu halten, und liegt es mehrere Monate friedlich auf dem Rücken und macht keine Versuche, diese Position zu verändern, kann dies auf einen herabgesetzten Muskeltonus hinweisen. Um weiteren Störungen in der Entwicklung vorzubeugen, ist eine Betreuung durch Fachpersonal dringend notwendig.

Sprache Der Erwerb der Sprache zählt zu den wichtigsten Entwicklungsaufgaben der ersten Lebensjahre. Die Fähigkeit, Sprache zu verstehen, zu verarbeiten und sie als Kommunikationsmittel zu nutzen, beeinflusst erheblich den weiteren Entwicklungsverlauf in unterschiedlichen Bereichen, z. B. der kognitiven Fähigkeiten, zu denen z. B. das Gedächtnis und die Intelligenz zählen. Eine umfassende Darstellung der Sprachentwicklung erfolgt im Kap. Kommunizieren (S. 217).

Sozial-emotionale Entwicklung Die soziale Entwicklung beginnt mit dem Aufbau einer engen emotionalen Beziehung zwischen dem Säugling und seinen Bezugspersonen. Dabei ist es wichtig, dass das Kind Regelmäßigkeitserfahrungen macht. Es lernt, seiner sozialen Umwelt zu vertrauen, entwickelt ein Grundvertrauen (Urvertrauen) in seine Bezugspersonen, kann deren Verhalten antizipieren und sein eigenes Verhalten darauf abstimmen. Dies ist die Grundvoraussetzung für die

Entwicklung sozialer Handlungsfähigkeit und emotionaler Bindungsfähigkeit (S. 160). Schon von Geburt an bringt das Kleinkind wichtige Fähigkeiten mit auf die Welt, die wichtig für die Interaktion des Säuglings mit seiner Umwelt sind. Zu Beginn sind es das Blickverhalten, die Kopfhaltung, das Weinen und ab der 6.–8. Lebenswoche – das von vielen Eltern ersehnte – erste soziale Lächeln. Dieses Lächeln gilt jedoch nicht ausschließlich seinen Bezugspersonen: Das Kind reagiert zu diesem Zeitpunkt lediglich auf das menschliche Gesichtsschema. Erst ab dem 6. Monat kann es zunehmend zwischen seinen Bezugspersonen und ihm fremden Personen differenzieren. Ab dem 8. Monat beginnt das Kleinkind häufig zu „fremdeln“. Der Kontakt zu Bezugspersonen ist für den Säugling ein wesentlicher Entwicklungsimpuls, nicht nur für die soziale Entwicklung, sondern auch für die Ausreifung aller seiner Funktionen.

Merke

6

H ●

Wenn Bezugspersonen auf die Bedürfnisse des Kindes nur unregelmäßig oder lieblos reagieren, lernt es nicht, das Verhalten der Bezugspersonen zu antizipieren. Dadurch können die Entwicklung seiner sozialen Handlungsfähigkeit, seiner emotionalen Bindungsfähigkeit sowie die kognitive Entwicklung negativ beeinflusst werden.

5

Wachstum und Entwicklung

Kognitive Entwicklung Definition

L ●

„Kognitive Entwicklung ist die Entwicklung von geistigen Prozessen und Fähigkeiten, wie der Vorstellungskraft, der Wahrnehmung, des Schlussfolgerns und des Problemlösens sowie der zugehörigen Wissensgrundlagen“ (Zimbardo, Gerrig 2016).

Die Forschung und die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur geistigen Entwicklung eines Menschen wurden insbesondere von dem Schweizer Wissenschaftler Jean Piaget (1896 – 1980) geprägt. Sein Forschungsinteresse galt der Untersuchung des Prozesses, wie sich Kinder ein Verständnis von der Welt und ihren Bedingungen aufbauen, wie neue Erfahrungen vorhandene Wissensstrukturen beeinflussen und verändern, wie der Umgang mit Symbolsystemen erlernt und logisches Denken ermöglicht wird. Die folgenden Ausführungen zur kognitiven Entwicklung beziehen sich ausschließlich auf das von Piaget entwickelte Modell der kognitiven Entwicklung (Zimbardo, Gerrig 2016). Piaget beschreibt die kognitive Entwicklung in 4 diskontinuierlich verlaufenden Stadien: dem sensomotorischen, präoperatorischen, konkret-operatorischen und formal-operatorischen Stadium. Dabei geht er davon aus, dass erst durch die beiden sich wechselseitig beeinflussenden Prozesse der Assimilation und der Akkommodation kognitives Wachstum möglich wird.

6

Assimilation und Akkommodation Assimilation bedeutet, dass das Individuum neue Wahrnehmungen in schon vorhandene Schemata integriert oder diese so modifiziert werden, dass sie zu den vorhandenen kognitiven Strukturen passen. Dies findet z. B. statt, wenn ein Kind erstmalig eine Gabel benutzt, bisher jedoch ausschließlich mit dem Löffel gegessen hat und nun die Gabel mit dem Wort „Löffel“ benennt, da diese die gleiche Funktion hat und im gleichen Kontext genutzt wird. Das Kind versucht dadurch ein Gleichgewicht herzustellen, um Anforderungen und Probleme richtig lösen zu können. Das Kind gerät in ein Ungleichgewicht durch die Erkenntnis, dass der „neue“ Gegenstand eine andere Funktion besitzt als der dem Kind bekannte Löffel und der Korrektur der Mutter bei der falschen Bezeichnung der Gabel. Der nun einsetzende Akkommodationsvorgang ermöglicht es dem Kind, bestehende kogni-

156

tive Strukturen (Schemata) zu modifizieren, um so die neue Erfahrung angemessen darin einzugliedern und somit eine angemessene Problemlösung zu finden. Das Individuum passt sich der Umwelt an.

Definition

L ●

„Als Schemata beschreibt Piaget die kognitiven Strukturen, die sich entwickeln, wenn Säuglinge und kleine Kinder lernen, die Welt zu interpretieren und sich an ihre Umgebung anzupassen“ (Zimbardo, Gerrig 2016).

Sensomotorisches Stadium Zu Beginn des sensomotorischen Stadiums (Geburt bis 2. Lebensjahr) ist der Säugling von der äußeren Stimulation abhängig. Sein Verhalten beruht in den ersten Monaten auf einer begrenzten Reihe angeborener Schemata, z. B. Saugen, Betrachten und Greifen, über die er eine Vorstellung von Objekten entwickelt. Im Verlauf des 1. Lebensjahres erweitert er diese Vorstellung, indem er eigeninitiativ versucht, mehrere Schemata miteinander zu kombinieren, z. B. Ergreifen eines Gegenstandes und in den Mund nehmen. Das Kind macht dadurch vielfältige Erfahrungen und begreift den Zusammenhang zwischen seinen eigenen Aktivitäten und ihren Auswirkungen auf die Umwelt. Bis zum Ende des 2. Lebensjahres hat das Kind die Fähigkeit zur mentalen Repräsentation nicht vorhandener Objekte (Objektpermanenz) erworben. Es verfügt folglich über ein inneres Bild, eine kognitive Struktur eines Gegenstandes, ohne dass das Kind in direktem Kontakt zu diesem steht.

6.4.3 Entwicklung in der frühen Kindheit (2–4 Jahre) Durch die zunehmende Möglichkeit, aktiv auf ihre Umwelt einzuwirken und sich gleichzeitig Umwelteinwirkungen anzupassen, machen Kinder in dieser Entwicklungsphase enorme Fortschritte in ihrer sensorischen Integration. Das Gehirn ist bis zum 7. Lebensjahr besonders aufnahmefähig gegenüber Wahrnehmungseinwirkungen und hat die besten Voraussetzungen, diese zu gliedern. Kinder in diesem Entwicklungsabschnitt verbessern ihre Augen-Hand-Koordination, können besser Gleichgewicht halten und beginnen ihre Handlungen und Bewegungsabläufe zu planen. Die Menschenbildzeichnung ist in diesem Altersabschnitt ein sog. „Kopffüßler“.

Motorik Das Kleinkind wird durch seine fortschreitenden motorischen Fähigkeiten immer selbstständiger in der Erkundung seiner Umwelt und in seiner Kontaktaufnahme zur sozialen Umwelt (▶ Tab. 6.3).

Wahrnehmung Vestibuläre Wahrnehmung (Gleichgewichtssinn) Die zunehmende Differenzierung der vestibulären Wahrnehmung zeigt sich im Alter von 3 – 4 Jahren, wenn das Kind in der Lage ist, Bewegungen abrupt zu beenden, ohne umzufallen.

Zeitliche Wahrnehmung Bis zum 3. Lebensjahr lebt das Kind in einer dauernden Gegenwart. Erst mit 3 Jahren lernt es, einfache Zeitabfolgen zu verstehen, d. h., erst tritt das eine ein und dann das andere, z. B.: „Erst wird Mittagsschlaf gemacht und danach fahren wir zur Oma.“ Es beginnt die sprachliche Bezeichnung von „Zukunft“ und „Vergangenheit“

Tab. 6.3 Motorische Entwicklung vom 2.– 6. Lebensjahr. Alter

Motorische Entwicklung

3. Lebensjahr

Das Kind steht für kurze Zeit auf einem Bein und springt aus geringen Höhen. Es beginnt mit Messer und Gabel zu essen.

4. Lebensjahr

Das Kind klettert sicherer, kann Dreirad fahren und aus ca. 30 cm Höhe springen.

5. Lebensjahr

Das Kind klettert und balanciert sicher. Es kann Fahrrad fahren und auf einem Bein hüpfen.

6. Lebensjahr

Das Kind kann Purzelbäume schlagen. Es schneidet exakt vorgegebene Formen aus und zeichnet z. B. Dreiecke nach. Es benutzt sicher verschiedene Werkzeuge (z. B. Schere, Stifte) und Materialien (z. B. Knete).

6.4 Entwicklungsabschnitte richtig zu nutzen und deren Bedeutung – jedoch noch undifferenziert – zu verstehen.

Sprache Das Kleinkind spricht im 2. Lebensjahr zunehmend in Zwei- und Dreiwortsätzen. Sie erfinden oft treffende Wortneuschöpfungen (z. B. „Flugschrauber“). Im 3. Lebensjahr benutzt das Kleinkind komplexere Sätze, teilweise schon verschachtelt, und Flexionen. Das Kind mag es, sich mittels Sprache mit seiner sozialen Umwelt zu verständigen. Ein weiterer wichtiger Entwicklungsschritt im 3. und 4. Lebensjahr ist die Verlagerung des Neugierverhaltens von der sensomotorischen Bewältigung – begreifen durch Begreifen – zur geistigen Bewältigung mittels Sprache (▶ Abb. 10.1). Dabei können nach SchenkDanzinger 2 Perioden sowie 3 Funktionen unterschieden werden (Schenk-Danzinger 2006). Perioden des Fragealters sind: ● In der 1. Phase fragt das Kind nach Namen (Bezeichnungen): „Was ist das?“ ● Etwa 1 Jahr später, in der 2. Phase, möchte das Kind den Zweck der Dinge ergründen: „Warum?“ Funktionen der gesteigerten sprachlichen Aktivität im Fragealter: ● Kontakt herstellen ● Wortschatzerweiterung, Begriffsbildung ● Informationsgewinn über den Zweck von Handlungen (S. 194).

Soziale Entwicklung Die weiteren Entwicklungsschritte der sozialen Entwicklung lassen sich am deutlichsten an der Entwicklung des Spielverhaltens darstellen. Bis zum 2. Lebensjahr spielt das Kind vorwiegend allein und hat kaum Interesse an wechselseitigem Kontakt mit Gleichaltrigen. Ab dem 2. Lebensjahr spielen Kinder meist nebeneinander, nicht miteinander (sog. Parallelspiel). Kinder in diesem Alter sind zu einem Miteinander aufgrund ihrer häufig wechselnden Bedürfnisse, der geringen Ausdauer und ihrer Intoleranz nicht in der Lage. Ab dem 3. Lebensjahr sind zwischen den Kindern Kontakte des Gebens und Nehmens zu beobachten, diese sind jedoch unorganisiert (sog. assoziiertes Spiel).

Kognitive Entwicklung Der entscheidende kognitive Fortschritt des präoperatorischen Stadiums (2.– 7. Lebensjahr) ist laut Piaget die verbesserte Fähigkeit des Kindes zur mentalen Repräsentation von physikalisch nicht vorhandenen Objekten. Das kindliche Denken während dieser Entwicklungsphase ist von Egozentrismus und der Zentrierung geprägt.

L ●

Definition

Egozentrisches Denken: Dem Kind fällt es schwer, die Perspektive einer anderen Person einzunehmen und einen Sachverhalt aus einer fremden Perspektive zu betrachten (Lohaus, Vierhaus, Maass 2010).

Dies wird z. B. beim Versteckspielen mit Kindern in diesem Alter deutlich, bei dem sie häufig nicht den gesamten Körper verstecken, oder in der Unfähigkeit, eine Landschaft aus einer anderen Perspektive zu beschreiben. Mit Zentrierung beschreibt Piaget die mangelnde Fähigkeit des Kindes, zu Beginn des präoperatorischen Stadiums mehr als einen perzeptuellen (wahrnehmbaren) Faktor gleichzeitig zu berücksichtigen. Das bedeutet, Kinder in diesem Alter neigen dazu, sich auf ein auffälliges bzw. zentrales Merkmal eines Objekts zu konzentrieren. Das Experiment zur Zentrierung (▶ Abb. 6.6) macht deutlich, dass Kinder im Vorschulalter nur den Ausgangs- und Endzustand des Versuchs miteinander vergleichen. Es ist ihnen jedoch nicht möglich, gedanklich die Handlung zurückzuverfolgen, um die richtige Schlussfolgerung zu ziehen. Kinder in diesem Alter haben noch kein Verständnis für das Erhaltungsprinzip (Invarianzprinzip), dass sich physikalische Eigenschaften nicht ändern, wenn nichts hinzugefügt oder weggenommen wird, obwohl sich die äußere Erscheinungsform ändern kann.

6.4.4 Entwicklung in der mittleren Kindheit (4–6 Jahre) Motorik Im Vorschulalter sind Unterschiede in der motorischen Entwicklung von Jungen und Mädchen zu beobachten. Während Mädchen in diesem Entwicklungsabschnitt differenzierte Formen des Springens und der Fortbewegung beherrschen, sind Jungen in ihren grobmotorischen Fähigkeiten, die vorwiegend Körperkraft erfordern, weiterentwickelt. Dies zeigt sich auch deutlich in den bevorzugten Spielen in diesem Altersabschnitt. Mädchen bevorzugen möglichst komplizierte Spiele, z. B. „Laufeimer“ laufen und „Himmel und Hölle“, während Jungen Kraft- und Sportspiele bevorzugen (▶ Abb. 6.7).

6

Wahrnehmung Im Alter von 3 – 7 Jahren lernt das Kind, Werkzeuge und Materialien, wie Messer, Gabel, Schaufel, Eimer, Schere, Bleistift, Papier, Schnürsenkel sowie Reißverschlüsse, zu gebrauchen. Die Menschenbildzeichnung enthält Kopf, Körper, Arme und Beine. Das ist ein Zeichen für die zunehmende Integration und Differenzierung von motorischen und sensorischen Fähigkeiten. ▶ Vestibuläre Wahrnehmung (Gleichgewichtssinn). Mit ca. 5 Jahren kann das

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Abb. 6.6 Piagets Demonstration der Zentrierung. 5-Jährige wissen, dass die Limonade in dem hohen Glas dieselbe Limonade wie zuvor ist, sagen aber, dass es jetzt mehr Limonade sei.

Abb. 6.7 Motorische Entwicklung vom 4.– 6. Lebensjahr. Mädchen beim Himmelund-Hölle-Hüpfspiel (Symbolbild). (Foto: Robert Kneschke – stock.adobe. com)

7

Wachstum und Entwicklung Kind sein Gleichgewicht so halten, dass es auf einem Bein stehen und hüpfen sowie Fahrrad oder Roller fahren kann.

Sprache Bis zum Schuleintritt hat das Kind einen korrekten Sprachgebrauch und einen Wortschatz von ungefähr 2100 Wörtern. Es kann somit erfolgreich mit seiner sozialen Umwelt kommunizieren.

Soziale und kognitive Entwicklung Das kindliche Spiel wird bei 5-jährigen Kindern zunehmend organisierter. Es ist auf ein Ziel ausgerichtet, es gibt feste Regeln (Regelspiel) und gemeinsame Aktionen. In Rollenspielen wird Erlebtes verarbeitet, Beobachtetes übernommen und eigenes Verhalten im Miteinander erprobt. Die kognitive Entwicklung wurde bei der Entwicklung in der frühen Kindheit erläutert (S. 157).

6

6.4.5 Entwicklung im Schulalter (6–12 Jahre) Motorik Die motorischen Leistungen des Kindes gewinnen zunehmend an Sicherheit und Reaktionsgeschwindigkeit. Jungen gleichen in diesem Alter den Entwicklungsvorsprung der Mädchen aus, indem sie schnell differenzierte motorische Koordinationsleistungen zeigen. Dies zeigt sich z. B. beim Ballwerfen. Insgesamt scheint es so zu sein, dass die Jungen im motorischen Bereich eine Vielfalt an Bewegungsabläufen erwerben und damit den Mädchen überlegen sind, deren motorische Entwicklung spätestens in der Pubertät stagniert. Als eine spezielle sensomotorische Leistung beim Schuleintritt gilt das Erlernen des Schreibens.

Wahrnehmung Bis zum 8. Lebensjahr sind die Sinnesorgane ausgereift. Das Kind kann Auskunft darüber geben, wo, wie und durch was es berührt wird. Sein Körpergefühl ist ebenfalls vollständig ausgeprägt. Die verbesserte Körperwahrnehmung wird bei der zunehmenden Differenzierung in der Zeichnung von Personen deutlich. ▶ Zeitliche Wahrnehmung. Im Vorschulalter beginnt das Kind die Wochentage richtig anzugeben. Mit 6 – 7 Jahren kann es mit Zeitangaben, wie Monaten, Jahren und der Uhrzeit, umgehen und bildet sich eine genaue Vorstellung über Zukünftiges und Vergangenes. Es kann nun zwischen

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der nahen Vergangenheit (gestern) und einer länger zurückliegenden Zeit (vor Monaten) sowie naher und ferner Zukunft differenzieren. Ab dem 10. Lebensjahr kann das Kind zunehmend mit geschichtlichen Zeiträumen umgehen.

Soziale Entwicklung Im Schulalter kommt es neben dem Erlernen fester Regeln immer mehr zur Zusammenarbeit zwischen den Heranwachsenden (▶ Abb. 6.8). Teamspiele setzen voraus, dass die Kinder zu Toleranz, Empathie und Kooperation bereit sind. Im 10. Lebensjahr sind grundlegende soziale Verhaltensmuster vorhanden, die in der weiteren Entwicklung ausdifferenziert werden.

Sprache Ein Kind kann in den ersten Lebensjahren jede Sprache der Welt erlernen. Der sprachspezifische Redefluss (Dialekt) manifestiert sich erst jetzt zwischen dem 6. und 10. Lebensjahr und bleibt danach meist ein Leben lang erhalten.

Kognitive Entwicklung Kinder im konkret-operatorischen Stadium (7.–11. Lebensjahr) sind zu mentalen Operationen in der Lage. Das sind Handlungen, die im Geist ausgeführt werden und eine physikalische Handlung ersetzen. Dieses Denken ist jedoch noch an konkrete Situationen und Probleme gebunden. Zimbardo u. Gerrig beschreiben hierzu folgendes Beispiel (Zimbardo, Gerrig 2016): Wenn ein Kind sieht, dass Anton größer ist als Sarah, und später sieht, dass Sarah größer ist als Tanja, dann kann das Kind schlussfolgern, dass Anton der Größte von den dreien ist. Das Kind kann aber noch immer nicht zur richtigen Schlussfolgerung kommen, wenn das Problem nur verbal beschrieben wird („Anton ist am größten.“). Weiterhin erwerben Kinder während dieser Entwicklungsphase die kognitive

Fähigkeit, Objekte aufgrund mehrerer Merkmale einzuordnen. Es ist ihnen möglich, das Invarianzprinzip – das Prinzip der Erhaltung von Masse, Menge und Volumen – anzuwenden, und sie haben ein Verständnis dafür, dass sowohl gegenständliche als auch geistige Operationen umgekehrt werden können. Bezogen auf das „Limonadenexperiment“ (S. 157) kann ein Kind in diesem Alter schlussfolgern, dass die Menge an Limonade sich nicht verändert haben kann, weil bei einer Umkehrung des Vorganges die Limonaden im Ausgangsglas wieder gleich aussehen.

Lernaufgabe

M ●

Erarbeiten Sie einen Zeitstrahl, auf dem Sie die wichtigsten Etappen, z. B. die Sprachentwicklung oder die Entwicklung des kindlichen Spielverhaltens, eintragen.

6.4.6 Entwicklung im Jugendalter (12–18 Jahre) „Die Pubertät ist eine Phase, in der Kinder mit niemandem in der Familie etwas zu tun haben wollen, in einem Chaos hausen, das sie ,mein Zimmer’ nennen, und nur dreimal am Tag auftauchen, um etwas Essbares hinunterzuschlingen und die Familie anzuknurren“ (Arp 2010). Das Jugendalter (Adoleszenz) beschreibt eine Phase des Überganges von der Kindheit und den damit verbundenen Rollenerwartungen zum Erwachsensein. Das heißt Privilegien und Verhaltensformen der Kindheit werden aufgegeben, um Merkmale und Kompetenzen zu erwerben, die den Status des Erwachsenen begründen. Im Erleben dieses Entwicklungsabschnittes gibt es sehr individuelle Unterschiede. Aufgrund der körperlichen, sozialen und intellektuellen Veränderungen kommt es zu Situationen, in denen der Heranwachsende nicht mehr mit dem bisher genutzten Bewältigungsschema agieren kann. Dies führt zu emotionalen Verwirrungen. Der Adoleszente reagiert mit Rückzug, opportunistischem, provozierendem oder auch autoaggressivem Verhalten.

Körperliche Entwicklung

Abb. 6.8 Soziale Entwicklung. Junge beim Regelspiel. (Foto: K. Oborny, Thieme)

Unter dem Einfluss von Wachstumshormonen kommt es bei Mädchen ab etwa dem 10. und bei Jungen ab dem 12. Lebensjahr zu einem pubertären Wachstumsschub. Der Adoleszente wächst nun etwa 8 – 15 Zentimeter pro Jahr und nimmt schnell an Körpergewicht zu.

6.4 Entwicklungsabschnitte Durch die unterschiedliche Wachstumsgeschwindigkeit der Extremitäten, des Kopfes und des Rumpfes ergibt sich bei vielen Heranwachsenden ein unproportionales Bild, unter dem viele Jugendliche leiden.

Definition

L ●

„Als Pubertät wird das Erreichen der sexuellen Reife bezeichnet; bei Mädchen durch die Menarche gekennzeichnet, bei Jungen durch die Produktion fruchtbarer Spermien und das Erlangen der Ejakulationsfähigkeit“ (Zimbardo, Gerrig 2016).

▶ Metakognition. Der Heranwachsende reflektiert seine eigenen Gedanken. ▶ Relativität des Denkens. In der Betrachtung der eigenen Lebenswelt und bei Entscheidungen werden verschiedene Gegebenheiten und Möglichkeiten im Verhältnis zueinander beurteilt. ▶ Multidimensionales Denken. Es werden unterschiedliche Aspekte in das Denken einbezogen und verarbeitet. Der Jugendliche kann aus verschiedenen Perspektiven heraus argumentieren (Ekert u. Ekert 2014).

Lernaufgabe Körperliche Entwicklung beim Mädchen Bei Mädchen beginnt der Prozess der sexuellen Reifung etwa mit 9 Jahren. Die Eierstöcke beginnen 2 Hormone zu produzieren: das Östrogen, das sich auf die Entwicklung der Brüste, die Schambehaarung und die Fettbildung auswirkt, und das Progesteron, das den Menstruationszyklus steuert. Mädchen haben ihre erste Regelblutung (Menarche) mit etwa 11 – 14 Jahren.

Körperliche Entwicklung beim Jungen Bei Jungen bewirkt mit etwa 11 Jahren das Hormon Testosteron das Wachstum der Hoden und des Penis, der Schamhaare, der Achselhaare und des Bartes. Für den starken Wachstumsschub, bei Jungen meist am Ende der Pubertät, sind verschiedene Androgene (Sammelbegriff für die männlichen Sexualhormone) verantwortlich. Nach dem Stimmwechsel ist im Alter von 18 Jahren dieser Reifungsprozess abgeschlossen.

Kognitive Entwicklung Das formal-operatorische Stadium beginnt etwa mit dem 11. Lebensjahr. In der Adoleszenz entwickeln sich insbesondere die folgenden Fähigkeiten. ▶ Abstraktes Denken/Denken in Möglichkeiten. Jugendliche lösen sich zunehmend von konkreten Erfahrungen in ihrem Denken. Sie können abstrahieren und in theoretischen Möglichkeiten denken. Sie erkennen, dass ihre Realität nur eine von mehreren vorstellbaren Realitäten ist.

M ●

1. Stellen Sie die Stadien der kognitiven Entwicklung nach Piaget in einer Tabelle zusammen! 2. Diskutieren Sie: Wie beeinflusst der jeweilige kognitive Entwicklungsstand eines Heranwachsenden die Bewältigung von Krankheit und Krankenhausaufenthalt? Wie sollte die Edukation bezogen auf den kognitiven Entwicklungsstand erfolgen? 3. Finden Sie weitere Beispiele für Assimilations- und Akkommodationsprozesse (S. 156)! 4. Diskutieren Sie: Wie beeinflusst der kognitive Entwicklungsstand des Kindes die Bewältigung von Krankheit und Krankenhausaufenthalt? Wie sollte die Edukation (Beratung/ Bildung) bezogen auf den kognitiven Entwicklungsstand erfolgen?

Entwicklungsaufgaben Der Aufbau von neuen verantwortungsbewussten Beziehungen zu Gleichaltrigen (Peergroup) und die damit verbundene zunehmende emotionale Unabhängigkeit vom Elternhaus sind ein wesentlicher Bestandteil der sozialen Entwicklung im Jugendalter (▶ Abb. 6.9). Weitere diesem Entwicklungsabschnitt zugeschriebene normative Aufgaben sind: ● Ausgestaltung der Geschlechterrolle: d. h. das von der Gesellschaft erwartete Verhalten an die Rolle der Frau bzw. des Mannes erwerben und zeigen, wobei der Jugendliche seine persönliche Lösung für die konkrete Ausgestaltung der jeweiligen Rolle finden muss.

Abb. 6.9 Peergroups. In der Adoleszenz bekommt die Beziehung zu Gleichaltrigen eine besondere Bedeutung (Symbolbild). (Foto: simoneminth – stock.adobe.com)











Aufbau intimer Beziehungen und Vorstellungen über Partnerschaft und Familie entwickeln: d. h. eine engere Beziehung zu einem Freund bzw. einer Freundin aufnehmen und sich damit auseinandersetzen, wie man Partnerschaft und die zukünftige Familie gestalten will. Akzeptieren der körperlichen Veränderungen: Kennzeichnend für das Jugendalter ist die Beschäftigung mit dem eigenen Aussehen und den Veränderungen des Körpers. Klarheit über sich selbst gewinnen: d. h. seine Fähigkeiten, Wünsche, Bedürfnisse und Ziele kennen und wissen, wie andere einen sehen. Berufliche Orientierung und das Entwickeln einer Zukunftsperspektive: d. h. sich über sein zukünftiges Leben und die damit verbundenen beruflichen Ziele Gedanken machen. Eigene Werte entwickeln: d. h. der Jugendliche schafft sich ein eigenes Wertesystem als Grundlage seines Handelns. Häufig setzen sich Jugendliche kritisch mit den durch Eltern, Gesellschaft, Kultur und Religion vorgegebenen Werten auseinander, um zu einer eigenen Weltanschauung zu gelangen (Ekert u. Ekert 2014).

6

Ziel der Beschäftigung mit der eigenen Person und der Bewältigung der unterschiedlichen Entwicklungsaufgaben des Jugendalters ist das Finden der eigenen Identität. Der Jugendliche sucht Antworten auf die Fragen: ● Wer bin ich, wie bin ich? ● Wie möchte ich sein? ● Wie sehen mich die anderen? ● Wie unterscheide ich mich von anderen?

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Wachstum und Entwicklung Die gelungene Bewältigung der Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz schafft optimale Voraussetzungen für einen guten Start und Entwicklungsverlauf im Erwachsenenalter (Ekert u. Ekert 2014).

Lernaufgabe

M ●

1. Finden Sie Beispiele für Rollenerwartungen an Adoleszente in bestimmten Situationen, die sich durch den Eintritt in diesen Entwicklungsabschnitt von den Erwartungen an Kinder unterscheiden. 2. Betrachten Sie rückblickend Ihre eigene Adoleszenz. Wie sind Sie mit den einzelnen Entwicklungsaufgaben umgegangen? Wie haben Sie sie gelöst?

6

6.5 Entwicklung der Bindungsfähigkeit Eine frühe emotionale Bindung wirkt sich nachhaltig auf die Beziehungsfähigkeit eines Menschen und seine gesamte Entwicklung aus. Es wird davon ausgegangen, dass Kinder in ihrer Entwicklung zurückbleiben, wenn sie v. a. in den ersten Lebensjahren keine stabile emotionale Bindung zu ihren Bezugspersonen aufbauen konnten.

6.5.1 Bonding Definition

L ●

„Das Phänomen Bonding beschreibt die Mutterliebe, welche dafür sorgt, dass die Mutter all ihre Zeit, Energie und Fürsorge dem Kind zuwendet und lernt, in der Interaktion mit dem Kind ihre mütterlichen Fähigkeiten zu entwickeln“ (Rauh 2005, zit. n. Eckardt 2006).

Lange Zeit wurde davon ausgegangen, dass die ersten Stunden nach der Geburt eine besonders sensible Periode für die Beziehung zwischen Mutter und Kind darstellen. Nur ein frühzeitiger unmittelbar nach der Geburt stattfindender Kontakt gewährleistet eine gute Bindung zum Kind. Zwar wirkt sich der Frühkontakt nachweislich positiv aus, Untersuchungen zeigen jedoch, dass sich die Mutter-KindBindung über mehrere Wochen entwickelt und z. B. die Einstellung der Mutter auf die Bindungsqualität einen entscheidenden Einfluss hat. Laut Eckardt

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tragen folgende Faktoren zu einem gelungenen Bonding bei (Eckardt 2006): ● Betrachtung des Kindes als Wunschkind ● komplikationsloser Verlauf von Schwangerschaft und Geburt ● Unterstützung der Mutter durch den Vater und das Umfeld ● Vorbereitung oder vorhandene Erfahrung der Mutter in der Kinderpflege und im Umgang mit Säuglingen Folgende Aspekte wirken sich negativ auf die Entwicklung einer guten MutterKind-Beziehung aus: ● Betrachtung des Kindes als Störfaktor, wenn die Mutter das Kind eigentlich (noch) nicht haben wollte ● unvollendete Persönlichkeitsentwicklung der Mutter (sehr junge Mütter) ● eigene mangelhafte Erfahrung der Mutter mit Zuwendung im Kindesalter ● geringe Unterstützung durch den Partner ● Depressionen oder andere psychische Erkrankungen der Mutter ● Leben in einem sozial desolaten Milieu Eine gestörte Mutter-Kind-Beziehung ist auch häufig bei Frühgeborenen und behinderten Kindern zu beobachten. Eltern sind solchen Belastungen häufig nicht gewachsen, da diese Kinder empfindlicher auf Störquellen reagieren und stressanfälliger sind. Gefährdete Mutter-Kind-Beziehungen sollten durch pflegerisches Fachpersonal gezielt unterstützt werden, indem die Mutter z. B. über die Pflege und den Umgang mit ihrem Säugling informiert wird. Sie sollten mit bindungsfördernden Möglichkeiten, wie Känguru-Methode und Massagetechniken, betraut werden sowie in Techniken eingewiesen werden, die Säuglinge sanft zur Ruhe kommen lassen (z. B. das Pucken).

6.5.2 Bindung und Bindungsqualität Der Säugling ist mit einem biologisch verankerten Bindungsverhaltenssystem ausgestattet. Diese biologische Grundlage ermöglicht ihm, Nähe und Kontakt zu seinen Bezugspersonen zu suchen und aufrechtzuerhalten. Dem Verhalten des Säuglings gegenüber steht komplementär das Verhalten der Bezugspersonen. Die ständigen Interaktionen zwischen dem Säugling und seinen Bezugspersonen im ersten Lebensjahr führen zum Aufbau von Bindungsbeziehungen. Diese unterscheiden sich in Intensität und Qualität voneinander (Cierpka 2012).

Ainsworth und ihre Kollegen entwickelten 1969 mit dem sog. Fremden-Situations-Test ein Setting zur Erforschung kindlicher Bindungsmuster. Die Ergebnisse sind in ▶ Tab. 6.4 zusammengestellt. Zum damaligen Zeitpunkt wurden 3 Ausprägungen von Bindungstypen, die sich innerhalb der Interaktion mit den Bindungspersonen entwickeln können, festgestellt: ● sicher ● unsicher-vermeidend ● unsicher-ambivalent Erst in einer späteren Studie (Main, Solomon 1990 in: Jungbauer 2009) wurde ein 4. Bindungsmuster klassifiziert: die desorganisierte Bindung. Die Feinfühligkeit der Mutter bzw. der primären Bezugsperson stellt nach Ainsworth eine wesentliche Entwicklungsbedingung für die Bindungsqualität dar. Eine feinfühlige Bindungsperson ist in der Lage, die körperlichen und psychischen Bedürfnisse ihres Kindes zu erkennen und einfühlsam zu reagieren. Vor allem in Situationen, in denen das Kind Angst und Kummer hat, ist eine feinfühlige Zuwendung der entsprechenden Bezugsperson wichtig (Jungbauer 2009). In der Literatur werden 3 weitere Einflussfaktoren auf die Bindungssicherheit beschrieben. Hierzu zählt die Gelegenheit zur Bindung, d. h. inwiefern das Kind in den ersten 3 Lebensjahren die Möglichkeit hat, eine stabile, feste Bindung zu Bezugspersonen aufzubauen. Ein weiterer Einflussfaktor sind die Persönlichkeitseigenschaften des Säuglings. Ein schwieriges Temperament, Krankheiten des Neugeborenen oder eine Frühgeburt erhöhen das Risiko für Bindungsprobleme. Familiäre Umstände, wie Verlust des Arbeitsplatzes, zerbrochene elterliche Beziehungen oder finanzielle Probleme, können sich negativ auf die Einfühlsamkeit der Eltern gegenüber ihrem Kind auswirken (Berk 2005). Sicher ist, dass sich die in den ersten 3 Lebensjahren gemachten Bindungserfahrungen nachhaltig besonders auf die sozial-emotionale Entwicklung auswirken. Beziehungsregeln, die ein Kind in dieser Entwicklungsphase erwirbt, sind nur schwer zu verändern und beeinflussen das Verhalten meist ein Leben lang. Sicher gebundene Kinder zeigen später im Umgang mit ihrem sozialen Umfeld prosoziale Verhaltensweisen, ein höheres Selbstwertgefühl und gehen mit neuen Situationen offener um als unsicher gebundene Kinder. Im Jugendalter werden sie von Gleichaltrigen anerkannt und nehmen häufig die Führungsposition in einer Gruppe ein. Sie zeigen eine hohe soziale Kompetenz, sind autonom und in der La-

6.6 Entwicklungsabweichungen

Tab. 6.4 Bindungsstrategien (Lohaus, Vierhaus, Maass 2010, Weinberger 2015). Bindungsstrategie

Verhalten der Bindungspersonen

Sicher Diese Kinder haben verlässliche positive Erfahrungen gemacht und dadurch gelernt, dass auf ihre Bedürfnisse angemessen reagiert wird.







Verhalten der Kinder

Sie verhalten sich emotional zuverlässig, feinfühlig und voraussagbar. Sie respektieren die kindliche Autonomie und bevormunden das Kind nicht, wenn es etwas selbst tun möchte. Sie sind in der Lage, das Kind in belastenden Situationen zu beruhigen und die Ursache seines Unwohlseins zu beseitigen.









unsicher-vermeidend Diese Kinder können ihre Bindungspersonen nicht als sichere Basis nutzen und haben eine unsichere Bindungsstrategie.

unsicher-ambivalent Diese Kinder wachsen mit Bindungspersonen auf, bei denen sie nie wissen, woran sie sind.





● ●

Sie zeigen teilweise zurückweisendes und ignorierendes Verhalten gegenüber dem Kind. Sie gehen selten oder nicht angemessen auf die Bedürfnisse des Kindes ein.



Ihr Verhalten ist sehr wechselhaft. Mal überschütten sie das Kind mit Liebe und Zuneigung, mal ignorieren sie es.









Desorganisiert Diese Kinder haben häufig ausgeprägte negative Interaktionserfahrungen.





ge, Intimität in zwischenmenschlichen Beziehungen anzunehmen und zu suchen.

Merke

● H

Frühkindliche Traumatisierungen in Form von Missbrauch und Vernachlässigung, aber auch weniger extreme nachteilige frühe Erfahrungen, so etwa das Zusammensein mit einer depressiven Mutter oder nicht optimalen Bindungserfahrungen, beeinflussen die neuronale Entwicklung eines Kindes und gestalten somit wesentliche Aspekte der Persönlichkeit. Eine möglichst frühe Intervention im Rahmen einer Beratung und Begleitung der Eltern, insbesondere bei einem defizitären oder schwierigen sozioemotionalen Umfeld des Kindes, kann sich positiv auf die weitere Persönlichkeitsentwicklung auswirken (Cierpka 2012).

Sie ängstigen das Kind durch ihr Verhalten, häufig kommt es zu Misshandlungen und sexuellem Missbrauch des Kindes. Sie ziehen sich, ohne für das Kind erkennbaren Grund, von diesem zurück. Ursache für dieses Verhalten kann ein selbst erlebtes Trauma sein.

Lernaufgabe

M ●

Welche Bedeutung haben die Erkenntnisse bezüglich der unterschiedlichen Bindungsstrategien für Ihre pflegerische Tätigkeit?

6.6 Entwicklungsabweichungen 6.6.1 Entwicklungsverzögerungen Eine Entwicklungsverzögerung (Retardierung) bezieht sich ausschließlich auf die Entwicklungsgeschwindigkeit. Dabei kann die Gesamtentwicklung auf einem allgemein niedrigen Entwicklungsniveau





Sie sind gut in der Lage, Trennungen zu verarbeiten. Sie machen ihr Bedürfnis nach Nähe und Zuwendung ihren Bindungspersonen gegenüber deutlich. Sie verhalten sich kooperativ und kompromissbereit gegenüber ihren Bindungspersonen. Mit kleineren Belastungen gehen sie selbstständig um, bei Überforderung suchen sie aktiv Unterstützung. Sie leiden unter Trennungen, zeigen dies aber nicht ihren Bindungspersonen. Sie verhalten sich konfliktbereiter und sind in Problemsituationen leichter frustriert. Sie vermeiden es, wenn sie Probleme haben oder bekümmert sind, mit Eltern oder Freunden darüber zu sprechen. Sie verhalten sich sehr anhänglich gegenüber ihren Bindungspersonen und zeigen heftige Reaktionen, z. B. Schreien und Klammern bei einer Trennung. Kümmert sich die Bindungsperson wieder um sie, wehren sie dies meist ab und reagieren aggressiv. Sie sind häufig passiv ihrer Umgebung gegenüber und zeigen kein Neugierverhalten, da sie sich auf die Bindung zur Bezugsperson konzentrieren.

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Sie können ihre Angstgefühle bei Trennungen nicht unter Kontrolle halten. Sie wenden sich dabei jedoch nicht an ihre Bezugsperson, sondern zeigen stereotype motorische Verhaltensweisen in Konfliktsituationen, d. h., sie unterbrechen ihre Bewegung und erstarren für kurze Zeit.

sein. Es ist jedoch auch möglich, dass die Entwicklung nur in einem einzelnen Teilbereich verzögert erscheint. Bei einer Verzögerung wird davon ausgegangen, dass das Kind seine Defizite durch geeignete Förderung und Unterstützung ausgleichen bzw. den „normalen“ Entwicklungsstand erreichen kann. Häufig ist eine Retardierung bei frühgeborenen Kindern, deren Entwicklungsalter nicht mit dem Lebensalter gleichgesetzt werden kann, zu beobachten. Auch ungünstige psychosoziale Bedingungen wie Vernachlässigung und besondere Belastungen (z. B. Krankheiten und damit verbundene Krankenhausaufenthalte) können sich nachteilig auf den Entwicklungsverlauf auswirken und zu Verzögerungen führen.

1

Wachstum und Entwicklung

6.6.2 Entwicklungsstörungen Definition

Tab. 6.5 Ursachen für Entwicklungsstörungen.

● L

„Eine Entwicklungsstörung betrifft die Qualität der Entwicklung: Einzelne oder mehrere Funktionen oder das ganze Kind sind deutlich gestört oder krank, eine ungestörte normale Entwicklung ist ihm verwehrt. Entwicklungsstörungen können leicht oder schwerwiegend sein und auch die Entwicklungsgeschwindigkeit beeinträchtigen“ (von Loh 2017).

Das entwicklungsgestörte Kind zeigt nicht nur eine allgemeine Verzögerung, sondern eine andersartige und sich verändernde Entwicklung. Dabei liegt meist eine Störung im organischen oder hirnorganischen Bereich vor, oft aufgrund eines spezifischen Krankheitsbildes. Verschiedene Faktoren haben einen Einfluss auf die Prognose für den Therapieerfolg einer Entwicklungsstörung. Ist die Ursache eine Krankheit, kann deren Heilung die Chancen auf einen normalen Entwicklungsverlauf verbessern. Auch der Zeitpunkt für den Beginn einer adäquaten Therapie spielt dabei eine wesentliche Rolle. Einige Entwicklungsstörungen können nicht geheilt werden. Eine angemessene Förderung und Therapie trägt aber auch hier entscheidend zur Verbesserung der Entwicklungssituation des Kindes bei.

6

Merke

● H

Sowohl Entwicklungsstörungen als auch Entwicklungsverzögerungen kann das Kind nicht selbst überwinden. Entwicklungsgestörte bzw. entwicklungsverzögerte Kinder sind nicht in der Lage, ihre vorhandenen Fähigkeiten eigenständig zu entwickeln und einzusetzen. Eine Betreuung durch entsprechendes Fachpersonal muss frühzeitig beginnen, da einerseits die Behandlung häufig nur so zu optimalen Ergebnissen führen kann und andererseits dadurch negative Auswirkungen auf andere Entwicklungsbereiche und die soziale Integration vermieden werden können.

▶ Ursachen der Entwicklungsstörungen. Die Ursachen für Entwicklungsstörungen sind sehr vielfältig (▶ Tab. 6.5). Bei etwa 50 % aller entwicklungsgestörten Kinder bleibt die Ursache ungeklärt (von Loh 2017). Dennoch ist es wichtig, die der Entwicklungsstörung zugrunde liegende Ur-

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Ursache

Beispiel

genetische Ursachen

Down-Syndrom, Klinefelter-Syndrom, Phenylketonurie

vorgeburtliche (pränatale) Ursachen

Alkohol- und Drogenkonsum der Mutter, Virusinfektionen, Plazentainsuffizienz

Ursachen während der Geburt (perinatal)

Asphyxie, Vakuum-Extraktion, Aspiration

Ursachen nach der Geburt (postnatal)

Hirnverletzungen, soziale Vernachlässigung, Missbrauch, Überforderung

chronische Krankheiten

Bronchialasthma, Epilepsie, Blutungskrankheiten, Muskelkrankheiten, Diabetes mellitus

den hierzu einige entwicklungsfördernde Therapiekonzepte vorgestellt.

Physiotherapie

Abb. 6.10 Risikofaktor Frühgeburtlichkeit. Gestationsalter und Geburtsgewicht haben Einfluss auf mögliche Entwicklungsstörungen. (Baumann T. Betreuung von Frühgeborenen der 34 0/7.–36 6/7. Schwangerschaftswoche. In: Baumann T, Hrsg. Atlas der Entwicklungsdiagnostik. 4., unveränderte Aufl. Stuttgart: Thieme; 2015)

sache bzw. die Ursachen zu finden, um eine präzise Diagnose formulieren sowie eine dem Störungsbild angemessene Therapie gestalten zu können. Ebenso ist es wichtig, die Eltern damit von möglichen Schuldgefühlen zu befreien und ihnen so eine bessere Bewältigung der Situation zu ermöglichen. Eine weitere Ursache für Entwicklungsstörungen, die aufgrund des medizinischen Fortschritts immer häufiger vorkommt, ist die Frühgeburtlichkeit (▶ Abb. 6.10). Frühgeborene Kinder haben ein erhöhtes Risiko für Störungen, z. B. in der motorischen Entwicklung und der Wahrnehmung.

6.6.3 Entwicklungsfördernde Therapiekonzepte Die Diagnosestellung einer frühkindlichen Entwicklungsstörung und die Auswahl geeigneter medizinischer und therapeutischer Maßnahmen obliegen dem ärztlichen Fachpersonal. Im Folgenden wer-

Speziell für die Therapie von Kindern mit hirnbedingten Bewegungsstörungen (Zerebralparese) und den daraus resultierenden Störungen in der motorischen Entwicklung wurden Formen der Krankengymnastik entwickelt, die den jeweiligen Reifestand des kindlichen Nervensystems und die Bewegungsentwicklung in ihrem Konzept berücksichtigen. Es handelt sich hierbei um die Bobath- bzw. die VojtaTherapie. Beide Therapieformen haben das Ziel, gestörte Bewegungsabläufe in gesunde umzubahnen. Ein früher Behandlungsbeginn ist bei beiden Therapieformen wichtig, um die sensible Periode der motorischen Entwicklung in den ersten Lebensmonaten und -jahren zu nutzen. ▶ Bobath-Konzept. Das Bobath-Konzept versucht, krankhafte Muskelspannungen zu regulieren, durch gezielte Handgriffe abnorme Bewegungen zu hemmen und das Kind zu normalen Bewegungsabläufen zu motivieren. Dabei geschieht nichts gegen den Willen des Kindes. Der Therapeut muss zu einer differenzierten Einschätzung der Bewegungsabsichten des Kindes in der Lage sein. Die Hauptbezugspersonen des entwicklungsgestörten Kindes werden mit diesem Konzept vertraut gemacht, sodass es ihnen möglich ist, im täglichen Umgang mit dem Kind weiterzuarbeiten. ▶ Vojta-Konzept. Das Vojta-Konzept arbeitet auf der Basis von Reflexbewegungen, z. B. eine Abwehrbewegung oder eine Bewegung zur Erhaltung des Gleichgewichtes. Diese Bewegungen werden durch Druck auf bestimmte Punkte ausgelöst. Die dadurch hervorgerufenen Bewegungen, wie das „Reflexkriechen“ und das „Reflexumdrehen“, sollen die krankhaften Bewegungsmuster unterdrücken und gesunde anbahnen. Dabei wird das Kind in einer bestimmten Position festgehalten,

6.7 Basale Stimulation aus der heraus die Reflexbewegung ausgelöst wird. Auch hier werden die Hauptbezugspersonen des Kindes zu Co-Therapeuten, die zu Hause die Behandlung bis zu 4-mal täglich wiederholen sollen. Aufgrund der hohen psychischen und physischen Belastung der Bezugsperson – meist der Mutter – und des Kindes durch das Festhalten und den daraus resultierenden Stress für beide ist diese Therapieform nicht unumstritten.

Ergotherapie Das Ziel der Ergotherapie ist Heilen durch „Tätigsein“. Das bedeutet, dass der Therapeut dem Patienten bzw. dem Kind hilft, sinnvolle Tätigkeiten auszuüben. Verschiedene Entwicklungsstörungen, z. B. in der Wahrnehmung und Feinmotorik, können mit unterschiedlichen Therapiekonzepten behandelt werden, die auf den individuellen Entwicklungsstand bzw. das jeweilige Störungsbild abgestimmt sind. Kinder mit Entwicklungsstörungen sollen einerseits lernen, mit ihrer Einschränkung im täglichen Leben besser zurechtzukommen und andererseits durch gezielte Förderung Entwicklungsverzögerungen aufzuholen. Ein wichtiges Instrument dieser Behandlungsform ist das Spiel. Hierbei sind Spielplanung und -gestaltung, das Geschick, spielerische Aufgaben zu bewältigen, die dabei stattfindende Kommunikation, das Gewinnen- und Verlierenkönnen von wesentlicher Bedeutung.

Logopädie Senso- und psychomotorische Entwicklungsauffälligkeiten stehen oft in Verbindung mit Sprachstörungen. Die Ursache für eine Sprachstörung kann organisch, funktionell oder auch psychisch bedingt sein (S. 225). Häufig sind sie jedoch Ausdruck eines komplexen Störungssyndroms, bei dem sich Beeinträchtigungen in unterschiedlichen Bereichen, wie Wahrnehmung, Motorik, kognitiven Fä-

Abb. 6.11 Logopädie. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

higkeiten sowie Problemen im psychosozialen Bereich, wechselseitig beeinflussen. Die Aufgabe des Logopäden besteht hierbei in der Diagnostik und Therapie von Kommunikationsstörungen, die sich durch Sprachentwicklungsstörungen ergeben. Aus den verschiedenen therapeutischen Konzepten wählen Logopäden das für die Störung und die Persönlichkeit des Kindes geeignete Verfahren aus und führen unter Beobachtung und Berücksichtigung der auftretenden Veränderungen die Behandlung mit dem Kind durch (▶ Abb. 6.11).

Heilpädagogische Therapie Die Heilpädagogik richtet ihren Fokus auf Kinder, deren Entwicklung unter erschwerten Bedingungen stattfindet. Dadurch können sich Störungen im Entwicklungsverlauf ergeben. Die wesentlichen Aufgaben der Heilpädagogik sind (Straßburg 2018): ● ganzheitliche Erfassung der senso- und psychomotorischen Auffälligkeiten im Zusammenhang mit den psychosozialen Bedingungen ● Vermittlung pädagogischer und sozialer Hilfen in der familiären Umgebung ● heilpädagogische Übungsbehandlung zur Förderung der Eigentätigkeit des Kindes im freien und strukturierten Spiel (▶ Abb. 6.12) ● Koordination der Frühförderung im Team mit Fachkräften anderer Disziplinen ● keine Betonung genormter Leistungsmessungen Die heilpädagogische Entwicklungsförderung betrachtet daher in ihrer Therapie nicht nur das Kind mit seinen individuellen Bedürfnissen und Einschränkungen, sondern verfolgt ein ganzheitliches Konzept, das die gesamte Familie berücksichtigt. Die Bedeutung der Eltern für die Erziehung wird respektiert und sie werden

Abb. 6.12 Heilpädagogische Therapie. Förderung der Eigentätigkeit, Kreativität und Wahrnehmung (Symbolbild). (Foto: nagaets – stock.adobe.com)

als Partner in das therapeutische Handeln integriert. Es findet ein regelmäßiger Austausch mit den Eltern statt, um für das Kind erschwerende Entwicklungsbedingungen herauszuarbeiten und zukünftig zu vermeiden bzw. zu verringern.

Lernaufgabe

M ●

1. Beschreiben Sie verschiedene negative Einflussfaktoren insbesondere auf die frühkindliche Entwicklung und ihre möglichen Auswirkungen. 2. Nennen Sie soziale Faktoren, die die kindliche Entwicklung günstig beeinflussen können.

6.7 Basale Stimulation Eva-Maria Wagner

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„Menschen werden mit unterschiedlicher genetischer Ausstattung, mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten in diese Welt hineingeboren. Vom ersten Lebenstag an begeben sie sich in Interaktionen mit ihren Bezugspersonen und ihrer personalen und dinglichen Umwelt. Durch ihre Eigenaktivität im Austausch mit den an sie herangetragenen Angeboten entwickeln sie sich und entfalten ihre Fähigkeiten. Bereits als Säugling oder Kleinkind sind Menschen kompetente Akteure ihrer eigenen Entwicklung und keineswegs nur Objekte von Pflege, Versorgung und Erziehung“ (Bienstein, Fröhlich 2016). Basale Stimulation ist ein Konzept, das in den 1970er-Jahren von Prof. Dr. Andreas Fröhlich entwickelt wurde. Das Konzept stammt ursprünglich aus der Heilpädagogik und wurde zur individuellen Förderung von schwerstmehrfachbehinderten Kindern und Jugendlichen angewendet. Im Zentrum des Konzepts stehen die Fähigkeiten zur Wahrnehmung, Kommunikation und Bewegung, die auch bei Menschen mit wesentlichen Einschränkungen vorhanden sind. Mitte der 1980er-Jahre übertrug Christel Bienstein, Krankenschwester und Diplompädagogin, das Konzept auf die Pflege. Seitdem ist das Konzept in unterschiedlichen pflegerischen Bereichen eingesetzt worden und Inhalt zahlreicher deutschsprachiger Ausbildungscurricula. Seit 1997 werden Weiterbildungskurse zum „Praxisbegleiter für Basale Stimulation in der Pflege“ angeboten, deren Teilnehmer befähigt werden, das Konzept sowohl in der Praxis anzuwenden als auch in der eigenen Berufsgruppe weiterzugeben. Basale Stimulation bedeutet, dass auf bereits gemachte Erfahrungen des einzel-

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Wachstum und Entwicklung nen Menschen zurückgegriffen wird, die grundlegend = basal sind. Der Mensch muss keinerlei Voraussetzungen erfüllen, um mit der Basalen Stimulation zu beginnen. Mit diesem Konzept kann gearbeitet werden, sobald ein Mensch geboren ist, solange er lebt und ganz gleich, wie schwer seine Einschränkungen sein mögen.

Merke

H ●

„Basale Stimulation versteht sich ● als Angebot körperbezogenen und ganzheitlichen Lernens, ● als umfassende Entwicklungsanregung in sehr frühen Lebensphasen, ● als Orientierung in unklaren Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Bewegungssituationen, ● als Stressreduzierung für Menschen in belastenden Grenzsituationen, z. B. in schweren gesundheitlichen Krisen, ● als Begleitung von Menschen in ihrem Sterben […]“ (Bienstein, Fröhlich 2016).

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Im Folgenden werden beispielhafte Pflegesituationen geschildert, in denen die Basale Stimulation eingesetzt werden und hilfreich sein kann. ▶ Umfassende Entwicklungsanregung in sehr frühen Lebensphasen. Frühgeborene Kinder werden aus der physiologischen Umgebung im Mutterleib in die hoch technisierte Umgebung der neonatologischen Intensivstation katapultiert. Damit sie dieses Ereignis möglichst gut überleben und sich langfristig entwickeln können, muss die erforderliche neonatologische (Intensiv-)Pflege entwicklungsorientiert erfolgen, d. h. die basalen Bedürfnisse des Frühgeborenen erfüllen. ▶ Körperbezogenes und ganzheitliches Lernen. Schwerstmehrfachbehinderte Kinder und Jugendliche sind genauso schulpflichtig wie gesunde Kinder und Jugendliche. Allerdings benötigen sie andere Lernformen, um Entwicklung zu erleben und Erfahrung zu gewinnen. Darüber hinaus haben diese Kinder und Jugendlichen rund um die Uhr einen hohen Pflegebedarf. Dieser erfordert eine abwechslungsreiche Tages- und Lebensgestaltung, um Monotonie und einer starken Einschränkung von Lebenserfahrungen vorzubeugen.

▶ Stressreduzierung in belastenden Grenzsituationen. Eine schwere, lebensbedrohliche Erkrankung im Kindes- und Jugendalter, die eine intensivmedizinische Behandlung erfordert, stellt eine akute existenzielle Krise dar. Bisher übliche Formen der Wahrnehmung, Kommunikation und Bewegung werden durch die Erkrankung und Behandlung beeinträchtigt und verändert: nicht sprechen können aufgrund künstlicher Beatmung, sich nicht bewegen können aufgrund von Medikamenten u. a. ▶ Begleitung von Menschen in ihrem Sterben. Wenn das Leben ausklingt, soll der Mensch den eigenen Körper nicht nur als Last empfinden, sondern über den Körper möglichst Geborgenheit und intensive Zuwendung erfahren.

Z ●

Praxistipp Pflege

Gemeinsames Merkmal der geschilderten Pflegesituationen ist die Tatsache, dass eine verbale Kommunikation alleine häufig nicht ausreicht, um Kontakt zu diesen Kindern und Jugendlichen herzustellen. Hier kann die Basale Stimulation unterstützend wirken.

6.7.1 Grundelemente Die basale Stimulation beruht auf einem ganzheitlichen Entwicklungsverständnis. Ganzheitlichkeit meint in diesem Zusammenhang, dass die Pflegefachkräfte nicht nur die Diagnose oder die Einschränkung (z. B. durch Behinderung) im Blick haben, sondern das ganze Kind. Wie das „Sechseck der Ganzheitlichkeit“ in ▶ Abb. 6.13 zeigt, sind unterschiedliche Bereiche der Erfahrung untereinander verknüpft und beeinflussen sich wechselseitig. Alle Erfahrungsbereiche sind gleich wichtig.

sich bewegen

verstehen

kommunizieren

Menschen erfahren

wahrnehmen

Gefühle erleben

den eigenen Körper erfahren

Abb. 6.13 Basale Stimulation. Ganzheitlichkeit des „Erlebens“.

164

Jede pflegerische Tätigkeit berührt das ganze Kind: Die Pflegefachkraft wird von dem Kind wahrgenommen, es erfährt sie als Mensch, es erlebt ein Gefühl und es erfährt seinen eigenen Körper; Pflegefachkraft und Kind kommunizieren miteinander. Dies gilt für die Ganzwaschung ebenso wie für die Vitalzeichenkontrolle oder den Verbandwechsel, das Einnehmen einer bestimmten Körperposition im Rahmen der Positionierung oder die Unterstützung bei der Nahrungsaufnahme usw.

Wahrnehmungsbereiche Basale Stimulation bezieht sich auf die körperlichen Erfahrungen, die jeder Mensch bereits vor der Geburt gemacht hat – die grundlegenden, d. h. basalen Elemente unserer Wahrnehmung. Durch Anknüpfen an diese frühen Erfahrungen kann es gelingen, mit Menschen in Kontakt zu kommen, die scheinbar nicht kommunizieren, zumindest nicht mit Worten (verbal), sondern nonverbal. Diese Wahrnehmungsbereiche sind (▶ Abb. 6.14): ● somatische Erfahrungen (den Körper betreffend) ● vibratorische Erfahrungen (schwingende Bewegungen betreffend) ● vestibuläre Erfahrungen (die Lage des eigenen Körpers im Raum betreffend) ● audiorhythmische/auditive Erfahrungen (das Gehör betreffend) ● orale und olfaktorische Erfahrungen (den Geschmack und Geruch betreffend) ● visuelle Erfahrungen (das Sehen betreffend) ● taktile Erfahrungen (das Fühlen und Spüren betreffend)

Merke

H ●

„Besonders die ersten drei Wahrnehmungsbereiche (somatischer, vestibulärer und vibratorischer Bereich) bilden die Grundlage unseres Urvertrauens. Sie knüpfen an unsere Embryonalzeit an und spiegeln Erfahrungen wider, die viele Kinder in ihrer Kindheit erleben und erfahren durften. Die Maßnahmen des Tröstens und des Beschützens durch andere Menschen (Eltern, Geschwister, Freunde, Erzieher) waren zumeist durch die intuitive Nutzung dieser drei Wahrnehmungsbereiche gekennzeichnet. Auf sie greifen Menschen in Krisenzeiten immer wieder zurück: sich tröstend in die Arme nehmen, gemeinsam wiegen und beruhigende Töne sprechen. Diese Fähigkeiten haben universelle Aussagen, sie bedürfen keiner gemeinsamen Sprachkenntnisse und greifen in jedem Kulturkreis“ (Bienstein, Fröhlich 2016).

6.7 Basale Stimulation

Visuelle Erfahrung • visuelle Stimulation schafft Orientierung Stimulation mit • Schwarz-Weiß-Fotos • Gegenständen im Zimmer (große Uhr, Lampe) Achten auf • Kind/Jugendlicher soll sich abwenden können • Blickfeld nicht verstellen

Orale und olfaktorische Erfahrung

Vestibuläre Erfahrung

Audiorhythmische Erfahrung

• orale Stimulation verbessert Schlucken und Kauen

• vestibuläre Stimulation fördert den Lage- und Gleichgewichtssinn

• audiorhythmische Stimulation fördert den Hörsinn

Stimulation mit • Schaukelbewegungen

Stimulation mit • Lieblingsmusik • Ansprache durch die Eltern

Stimulation mit • Lieblingsnahrungsmitteln • vertrauten Gerüchen (z.B. Kleidung, Tierdecken)

Achten auf • Lautstärke • Kind/Jugendlicher muss sich abwenden können

Vibratorische Erfahrung

Somatische Erfahrung

Taktile Erfahrung

• vibratorische Stimulation fördert die Wahrnehmung der Gliedmaßen, Knochen und Gelenke

• taktile Stimulation verbessert die Tastfähigkeit

Stimulation mit • z.B. elektrischer Zahnbürste an gelenknahen Stellen

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• somatische Stimulation fördert Kommunikation durch Berührung Stimulation mit • Initialberührung • atemstimulierender Einreibung

Stimulation mit • Gegenstände ertasten • taktilem Kasten

Abb. 6.14 Wahrnehmungsbereiche. (Abb. nach: I care – Pflege. Thieme; 2015)

6.7.2 Zentrale Ziele/ Lebensthemen Das Konzept der Basalen Stimulation besteht nicht aus einer Auflistung von Maßnahmen, die zur Förderung einzelner Wahrnehmungsbereiche eingesetzt werden, sondern es beinhaltet grundsätzliche Ziele, die mithilfe einzelner Maßnahmen erreicht werden sollen. Diese Ziele werden aus der Perspektive der Menschen, die unterstützt werden, formuliert. Sie werden als zentrale Ziele oder zentrale Lebensthemen bezeichnet. Die zentralen Ziele/Lebensthemen sind: ● Leben erhalten und Entwicklung erfahren ● das eigene Leben spüren ● Sicherheit erleben und Vertrauen aufbauen ● den eigenen Rhythmus entwickeln ● das Leben selbst gestalten ● die Außenwelt erfahren ● Beziehungen aufnehmen und Begegnungen gestalten ● Sinn und Bedeutung geben und erfahren





Selbstbestimmung und Verantwortung leben die Welt entdecken und sich entwickeln

Leben erhalten und Entwicklung erfahren Dieses zentrale Ziel steht an erster Stelle, denn das Überleben eines Kindes sicherzustellen hat oberste Priorität. Hier geht es um elementare Grundfunktionen des Lebens wie atmen, sich ernähren und sich bewegen. Schwerpunkte der Pflege sind pflegerische und medizinische Maßnahmen zur Stabilisierung dieser Grundfunktionen. Einige dieser Maßnahmen werden beispielhaft aufgeführt: ● Die Atmung kann unterstützt werden durch das Einnehmen atemunterstützender Positionen oder durch eine atemstimulierende Einreibung. ● Die Ernährung kann unterstützt werden durch das Sondieren von Nahrung nach ärztlicher Anordnung, währenddessen dürfen wache Frühgeborene und Säuglinge saugen, entweder an der eigenen Hand oder an einem Sauger. ● Die Bewegung kann unterstützt werden, indem bei der Einnahme unter-





schiedlicher Positionen die Eigenaktivität des Kindes einbezogen wird. In der eingenommenen Position soll weiter eine Eigenaktivität des Kindes möglich sein. Ein dauerhaftes Verharren in einer Position wird nicht angestrebt. Entwicklung erfahren bedeutet im Zusammenhang einer akuten Lebensbedrohung, dass das Kind bzw. der Jugendliche erlebt, dass sich die anfängliche große Abhängigkeit von pflegerischer und medizinischer Unterstützung in Richtung wiedergewonnene Selbstständigkeit entwickelt, z. B. beim intensivmedizinisch behandelten Kind die ausreichende Eigenatmung im Rahmen der Entwöhnung von der maschinellen Beatmung. Das Konzept Basale Stimulation kann auch im letzten Lebensabschnitt zur Anwendung kommen, dann unterstützt es das Ausklingenlassen des Lebens (Entwicklung des Lebens bis zu seinem Ende).

Das eigene Leben spüren Jedes Kind braucht die Erfahrung, den eigenen Körper in der Gegenwart wahrzunehmen (▶ Abb. 6.15), im Kontrast zur

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Wachstum und Entwicklung

Abb. 6.15 Körperwahrnehmung. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

unbelebten Umgebung wie dem Bett oder dem Rollstuhl. Dazu gehört die Erfahrung von Eigenaktivitäten wie z. B. der Atmung, spürbar durch Auflegen der Hände des Kindes auf seinen eigenen Brustkorb. Weitere geeignete Maßnahmen zum Spüren des eigenen Körpers sind gut im Rahmen der Körperpflege (S. 298) umsetzbar, z. B. bei der basal stimulierenden Dusche, Ganzwaschung oder Haarwäsche. Auch durch das Spüren von Kleidung auf der Haut wird der eigene Körper erfahrbar. Darüber hinaus ist im Rahmen von Positionswechseln und Mobilisation (S. 396) oder mittels einer Massage (S. 167) der eigene Körper zu spüren. Manche Kinder spüren sich selbst intensiver bei Dingen, die Außenstehende nicht als positive Erfahrung bewerten, z. B. stark erhöhter Muskeltonus bei Tetraspastik oder intensives Zähneknirschen bei Kindern mit Schwerstmehrfachbehinderung. Hier bedarf es einer besonders aufmerksamen Beobachtung, ob diesen Kindern auf andere Weise das Spüren des eigenen Körpers deutlicher gemacht werden kann, z. B. durch Vibration eine Tiefenwahrnehmung anzubieten.

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Sicherheit erleben und Vertrauen aufbauen Wird ein Kind oder Jugendlicher in eine stationäre Einrichtung aufgenommen, so bedeutet Sicherheit zu gewinnen, dass Kind bzw. der Jugendliche kommende Ereignisse erahnen und sich darauf einstellen kann. Wird das Kind regelmäßig von denselben Pflegefachkräften versorgt, kann zu ihnen Vertrauen aufgebaut werden. ▶ Anfang und Ende von Berührungen. Unerwartete Berührungen können stark verunsichern. Üblicherweise begrüßen sich Erwachsenen in unserer Kultur mittels Händedruck. Für wahrnehmungsbeeinträchtige Kinder ist dies jedoch nicht unbedingt die geeignetste Form der Kontaktaufnahme. Jedes Kind sollte mit einer Art Initialberührung (S. 310) auf die An-

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wesenheit der Pflegefachkraft und die Absicht einer Pflegebehandlung aufmerksam gemacht werden. Sie soll ausdrücken: „Hallo, guten Tag, hier bin ich, ich bin bei dir und möchte etwas gemeinsam mit dir tun.“ Bei Frühgeborenen kann das ein Halten des Babys am Kopf und an den Füßen sein. Bei einem schwerstmehrfachbehinderten Kind könnte dies ein Auflegen einer Hand auf dem Sternum sein. Erst nachdem das Kind solchermaßen aufmerksam gemacht wurde, sollte die eigentliche Pflegehandlung begonnen werden. Wird der Kontakt mit einem Kind beendet, sollte dies ebenfalls durch eine ritualisierte Berührung vermittelt werden.

Den eigenen Rhythmus entwickeln Nach einer viel zu frühen Geburt, aufgrund einer akuten schweren Erkrankung oder einer Schwerstmehrfachbehinderung sind Kinder und Jugendliche in einer Klinik darauf angewiesen, den eigenen Rhythmus neu zu entwickeln. Für das Frühgeborene kann das bedeuten, erstmals einen Tag-Nacht-Rhythmus zu erfahren und eigene Wach- und Schlafphasen daran anzupassen. Für das schwerstkranke Kind auf der Intensivstation ist der Ablauf des Tages und der Nacht nicht mehr bestimmt von alltäglichen Ereignissen, sondern von unangenehmen und erschreckenden Erlebnissen wie Bettlägerigkeit, Immobilität, Ateminsuffizienz u. a. Pflegerische, diagnostische und therapeutische Maßnahmen sollten auf den individuellen Rhythmus eines erkrankten Kindes oder Jugendlichen abgestimmt werden, auch wenn dies im Stationsalltag eine gewisse Herausforderung darstellt. Für ein Frühgeborenes könnte es bedeuten, nicht zu von außen festgelegten „Runden“ versorgt zu werden mit Vitalzeichenkontrollen, Windelwechsel, Nahrungs- und Medikamentengabe, sondern zu individuell auf die eigene Wachheit abgestimmten Zeiten.

Merke

H ●

Aufgabe der Pflegefachkraft ist es, in ihrem Alltagshandeln aufmerksam zu beobachten, wie ein Kind auf eine Pflegehandlung reagiert: Kann das Kind die ganze Zeit aufmerksam bleiben? Benötigt das Kind eine Pause, um Information zu verarbeiten? Rhythmus bedeutet auch einen Wechsel zwischen Phasen der Aktivität und der Ruhe.

Das Leben selbst gestalten Während eines Klinikaufenthaltes sollten die Pflegefachkräfte Kinder dabei unterstützen, ihre persönliche Umwelt mitzugestalten. Hierzu gehört z. B. dem schwerstmehrfachbehinderten Kind die Lieblingsmusik vorzuspielen (und nicht den von der Pflegefachkraft bevorzugten Radiosender einzustellen). Auch bei der Positionierung kann es sein, dass das Kind mitbestimmt, möglicherweise soll stets ein Fuß unter der Decke herausragen, damit es sich wirklich entspannen kann. Die Pflegeanamnese liefert den Pflegefachkräften wichtige biografische Hinweise. Eltern sollten aufgefordert werden, Dinge von zu Hause mitzubringen. Neben eigener Kleidung können auch eigene Bettwäsche und Kuscheltiere sowie Lieblingsspielzeug mitgebracht werden. Hinweise auf für das Kind wichtige Rituale sollten in der Patientenakte dokumentiert werden.

Die Außenwelt erfahren Zur Außenwelt gehören andere Personen, Materialien und Objekte, die mit allen Sinnen wahrgenommen werden können. Frühgeborene, schwer kranke oder schwerstmehrfachbehinderte Kinder können jedoch solche Erfahrungen kaum von sich aus anbahnen, sondern müssen hierbei unterstützt werden. Einige Beispiele dafür sind: ▶ Bettdecke wegnehmen. Die Bettdecke kann nach verbaler Vorankündigung rasch zurückgeschlagen werden – oder sie wird allmählich über den Körper des Kindes von oben nach unten abgerollt. Die Pflegefachkraft kann die Decke auch durch ein den Körper des Kindes nachmodellierendes Abstreifen an das Fußende bewegen. Oder die Bettdecke kann durch eine geführte Bewegung mit der Hand des Kindes in der Hand der Pflegefachkraft zur Seite geschoben werden. ▶ Blutdruckmessung. Der Oberarm des Kindes wird zunächst mehrmals mit gleichmäßigem Druck „ausgestrichen“ und erfahrbar gemacht, bevor die Blutdruckmanschette angelegt und der Blutdruck gemessen wird. ▶ Positionierung. Das Frühgeborene wird in die gewünschte Position gebracht, dabei hat es die Gelegenheit, das Material an den Händen und Füßen zu spüren, zum Abschluss erhält es die Möglichkeit, nach einem Kuscheltier zu greifen – oder es wieder loszulassen. Größere Kinder können mit Händen und Füßen die Grenze der Matratze spüren, bevor sie in eine andere Position gebracht werden, damit

6.8 Massage von Babys und Kindern sie wissen: So viel Platz ist hier beim Drehen, ich werde nicht fallen – dies kann einer Erhöhung des Muskeltonus während der Positionierung vorbeugen.

Kind unmittelbar den Sinn dieser Pflegemaßnahme, an deren Durchführung es selbst beteiligt ist, anstatt sie nur zu ertragen.

Beziehungen aufnehmen und Begegnungen gestalten

Selbstbestimmung und Verantwortung leben

Frühgeborene, schwerstkranke und schwerstmehrfachbehinderte Kinder können sich nicht aussuchen, wer sie pflegt und versorgt. Nichtsdestotrotz wollen sie Beziehungen aufnehmen zu anderen Menschen und diese Begegnungen mitgestalten. Die wichtigste Beziehung für ein Kind ist i. d. R. die zu den Eltern als primären Bezugspersonen, daher sollte der enge Eltern-Kind-Kontakt gefördert und unterstützt werden. Dies ist z. B. durch die Mitaufnahme eines Elternteils und das aktive Einbeziehen der Eltern in die Pflege möglich. Eine hervorragend geeignete Methode zur Beziehungsaufnahme zwischen dem Frühgeborenen und den Eltern ist die Durchführung der Hautkontaktmethode (Känguru-Methode) (S. 510). Im Rahmen der Pflegeanamnese sollte erhoben werden, auf welche Weise ein Kind kommuniziert, damit die Pflegefachkräfte individuell auf das Kind eingehen können.

Autonomie leben können schwerstkranke oder schwerstmehrfachbehinderte Kinder und Jugendliche nur, wenn Pflegefachkräfte genau hinsehen und auf Äußerungen des Kindes durch Mimik, Gestik, Laute oder andere Zeichen eingehen. Dass der schwerstmehrfachbehinderte Jugendliche langsam bewegt werden möchte während der Mobilisation vom Bett in den Rollstuhl, zeigt möglicherweise ein Stöhnen oder ein Schweißausbruch beim Drehen in die Sitzposition. Dass ein Frühgeborenes sich beim Wiegen unwohl fühlt, wenn es nackt durch die Luft gehoben wird, äußert sich eventuell durch das Auftreten der Moro-Reaktion und die anschließende motorische Unruhe im Liegen auf der Wiegefläche. Durch ihre Zufriedenheit und Entspannung zeigen die Kinder, welches Vorgehen in welchem Tempo ihnen guttut und ihre Autonomie wahrt.

▶ Anbahnung. Wenn eine Pflegemaßnahme nicht einfach „am Kind abgearbeitet“, sondern die Begegnung zwischen Kind und Pflegefachkraft gemeinsam gestaltet werden soll, bietet es sich an, die Maßnahme anzubahnen. Zum Beispiel die Nahrungsgabe über die PEG: Damit sie ein nachvollziehbares Ereignis wird, können die Hände des Kindes auf seinen Bauch gelegt werden. Während die Pflegefachkraft die Nahrung verabreicht und ihr Tun mit Worten begleitet, kann das Kind spüren, wie sein Magen gefüllt wird.

„In einer Lebensspanne, die von offensichtlicher Abhängigkeit gekennzeichnet ist, bleiben Inseln der eigenen Entscheidung. Diesen Inseln kann in der tagtäglichen Begegnung Raum gegeben werden. Das einfühlsame Nachspüren, welche Reaktionen durch eine Maßnahme ausgelöst werden, das Hinhören wie es dem anderen mit sich und der Umwelt geht, ermöglichen immer wieder die Entscheidung, etwas zu tun oder zu lassen“ (Bienstein, Fröhlich 2016).

Sinn und Bedeutung geben Wenn ein Kind pflegebedürftig wird, stehen für die betreuenden Erwachsenen häufig die Einschränkungen im Vordergrund, d. h. alles das, was das Kind nicht (mehr) selbst tun kann. Dem kranken oder behinderten Kind wird alles „aus der Hand genommen“, es gerät leicht in eine nicht alterstypische Abhängigkeit von seinen Bezugspersonen. Das Kind braucht jedoch auch einen Sinn und eine Bedeutung für alles, was mit ihm geschieht. Es soll nicht nur passiv den von anderen Menschen gestalteten Handlungen und Tagesabläufen ausgesetzt sein. Dies zeigt sich auch in kleinen Dingen wie z. B. dem geführten Putzen der Zähne. Dabei hält die Pflegefachkraft die Hand des Kindes, in der es die Zahnbürste hält. So erfährt das

Merke

H ●

6.7.3 Reflexion Angebote der Basalen Stimulation für einen pflegebedürftigen Menschen sollten von den Pflegefachkräften kritisch reflektiert werden. Hilfreich sind dabei die folgenden Fragen (Nydahl, Bartoszek 2012): ● Welche pflegerischen Ziele im engeren Sinne wurden erreicht? ● Inwieweit wirkte das Verhalten der Pflegefachkraft auf das Kind bzw. den Jugendlichen und seine Familie vertrauenswürdig? ● Inwieweit wurde die Selbstbestimmung des Kindes bzw. Jugendlichen gefördert? ● Inwieweit wurde das Kind bzw. der Jugendliche in seinen Fähigkeiten und seiner Entwicklung (zentrale Ziele) unterstützt? ● Hatten die Angebote Bezug zur Lebenserfahrung und Biografie des Kindes bzw. Jugendlichen?

Praxistipp Pflege

Z ●

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Die Basale Stimulation ist ein umfassendes Konzept zur Unterstützung schwer beeinträchtigter Menschen aller Altersgruppen. Um es kompetent einsetzen zu können, sollten Pflegefachkräfte eine entsprechende Qualifizierung durchlaufen. Zur Implementierung, z. B. in einer Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, empfiehlt es sich, eine Person aus dem Mitarbeiterkreis als Praxisbegleiter für Basale Stimulation in der Pflege zu qualifizieren.

6.8 Massage von Babys und Kindern Eva-Maria Wagner

Die Welt entdecken und sich entwickeln Auch schwerstkranke oder schwerstmehrfachbehinderte Kinder und Jugendliche wollen sich selbst in der Welt erleben und ihren Platz finden. Wie auch bei gesunden Kindern wollen Eltern und andere Personen (z. B. Erzieher, Lehrer, Pflegefachkräfte) ihnen dabei helfen, sich zu entwickeln. Dies ist bei häuslicher Versorgung ebenso wichtig wie bei einem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung wie einer Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, einer Rehabilitationsklinik oder einem Heim.

„Berührt, gestreichelt und massiert werden, das ist Nahrung für das Kind. Nahrung, die genau so wichtig ist wie Mineralien, Vitamine und Proteine. Nahrung, die Liebe ist.“ Frédérick Leboyer Die Haut des Menschen ist das flächenmäßig größte Organ. Über die Berührung erlebt der Mensch sich selbst und die Welt. Intrauterin entwickelt sich als erster Sinn der Tastsinn. Der Fetus spürt sowohl seine eigenen als auch die Bewegungen der Mutter, konstant über 24 Stunden jeden Tag. Mit der Geburt wird dieser ununterbrochene, enge Kontakt beendet.

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Wachstum und Entwicklung

Merke

H ●

Babymassage ist eine Form der Kommunikation und des emotionalen Austausches zwischen dem Säugling und dem Erwachsenen. Sie erfüllt das Grundbedürfnis des Säuglings nach Körperkontakt, fördert die Eltern-Kind-Bindung und das Verständnis der Eltern für die Signale des Kindes.

6.8.1 Grundlagen Seit der Antike werden Säuglinge und Kleinkinder täglich von Erwachsenen massiert. Diese alte Tradition wurde von Generation zu Generation weitergegeben und wird auch heute noch weltweit in vielen Kulturen gepflegt, u. a. in Indien, Nepal, Pakistan, China, Japan, Afrika und Lateinamerika. In den Industrieländern wurde die Babymassage in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts wiederentdeckt. In Europa geschah dies durch die Arbeit des französischen Gynäkologen und Geburtshelfers Frédérick Leboyer, in den USA durch Vimala McClure, die 1979 die Internationale Gesellschaft für Babymassage (International Association of Infant Massage) gründete. Beide waren durch längere Aufenthalte in Indien mit der traditionellen Kunst der Babymassage in Berührung gekommen. Heutzutage ist die Babymassage sehr populär und wird in vielen Elternratgebern und in zahlreichen Babymassagekursen vermittelt. Neben der Anwendung bei gesunden Säuglingen wird die Babymassage seit einigen Jahrzehnten auch bei Frühgeborenen, kranken Neugeborenen und Säuglingen sowie bei kranken oder behinderten Kindern und Jugendlichen eingesetzt. Hierfür wurden unterschiedliche Formen der Massage entwickelt.

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Z ●

Grundsätzlich kommen drei verschiedene Massagegriffe zur Anwendung: Ein Streichen mit der ganzen Hand, eine gegenläufige Bewegung beider Hände (wie beim Auswringen eines nassen Lappens) sowie das ringförmige Umfassen einer Extremität und Ausstreichen nach unten (wie die Handbewegung beim Melken). Massiert wird von oben nach unten und von der Körpermitte nach außen. Die Massagegriffe sind deutlich spürbar, die komplette Massage dauert etwa 20 Minuten.

Elemente der indischen Babymassage finden sich in fast allen Massageformen. Bei Vimala McClure werden indische und schwedische Massage spielerisch miteinander kombiniert. Diese Form der Massage liegt auch den Lehrgängen zur Kursleitung für Babymassage der Deutschen Gesellschaft für Baby- und Kindermassage zugrunde („Berührung mit Respekt“). Im Konzept der Basalen Stimulation (S. 163) wird die indische Babymassage nach Leboyer aufgegriffen als eine Möglichkeit der somatischen Stimulation für schwerstmehrfachbehinderte Kinder, Jugendliche und Erwachsene.

Schmetterlingsmassage Die Schmetterlingsmassage wurde 1952 von der Ärztin und Therapeutin Dr. Eva Reich für die Anwendung bei frühgeborenen oder kranken Babys entwickelt. Da sie mit besonders zarten Berührungen ausgeführt wird, um die Frühgeborenen oder kranken Neugeborenen nicht mit intensiven taktilen Reizen zu überfordern, wird sie als Schmetterlingsmassage bezeichnet.

Z ●

6.8.2 Formen der Massage

Praxistipp Pflege

Indische Babymassage

Die 3 grundlegenden Berührungen sind: ● Ein verbindendes, langes Streichen der Haut von oben nach unten und von der Mitte des Körpers zur Seite. Diese Berührung ist sowohl zart als auch zügig, so als ob man einen Wassertropfen von der Haut streifen möchte. ● Ein Lockern der Muskulatur, entweder durch Auflegen von zwei Fingern oder der ganzen, weichen Hand auf der Muskulatur und anschließendes leichtes Vibrieren. ● Ein Kreisen des Zeigefingers auf einer Stelle, das zentimeterweise versetzt fortgeführt wird.

Die indische Babymassage ist die in Europa am besten bekannte Form der Massage. Während in der klassischen Massage westlicher Länder von der Peripherie des Körpers zum Herzen hin massiert wird (z. B. in der schwedischen Massage), folgt die indische Massage der östlichen Auffassung vom Fließen der Energie vom Zentrum des Körpers zur Peripherie. Die indische Babymassage besteht aus der rhythmischen Massage des Körpers, des Gesichts und Yogaübungen (in dieser Reihenfolge).

168

Praxistipp Pflege

Auch diese Bewegungen folgen, wie bei der indischen Babymassage, der Richtung vom Kopf des Babys zu seinen Füßen und von der Mitte seines Körpers nach außen. Zuerst wird die Vorderseite des Körpers massiert, danach der Rücken. In den letzten Jahren wurde das Konzept der Schmetterlingsmassage mit einer festen Abfolge von Griffen weiterentwickelt zu einem mehr körperorientierten Modell der Bindungsförderung, der sog. Bindung durch Berührung. Schwerpunkt sind die Unterstützung der Bindungsbereitschaft und die Schulung der Einfühlsamkeit der Eltern. Die bundesweiten „Schrei-Ambulanzen für Babys“ gehen auf eine entsprechende Initiative von Dr. Reich in den USA zurück. Die Schmetterlingsmassage ist heute fester Bestandteil eines Behandlungskonzepts für Schreibabys, das als „Emotionelle Erste Hilfe“ bezeichnet wird.

The Loving Touch The Loving Touch (deutsch: die liebevolle Berührung), auch RISS genannt (Rice Infant Sensory Stimulation), wurde 1975 von Dr. Ruth Rice speziell zur Anwendung bei Frühgeborenen entwickelt. Diese Form der Massage wird idealerweise vier Mal täglich für je 15 Minuten durchgeführt. Die Massage dauert dabei etwa 10 Minuten, weitere 5 Minuten wird das Baby nach der Massage gut eingewickelt in den Armen des Erwachsenen gewiegt.

Praxistipp Pflege

Z ●

Jeder Massagegriff wird drei Mal ausgeführt. Die Berührungen sind bestimmt, aber sanft. Es erfolgt keine tiefe Massage der Haut, sondern ein stimulierendes Streichen mit der Handfläche bzw. den Fingerspitzen.

Die Massage erfolgt in einer festgelegten Reihenfolge von oben nach unten, zunächst an der Vorderseite des Körpers und anschließend am Rücken.

Shiatsu Der japanische Begriff Shiatsu besteht aus zwei Wörtern: shi = Finger und atsu = Druck. Diese Form der Massage beruht – ähnlich wie die Akupressur – auf der fernöstlichen Vorstellung, dass die Lebensenergie des Menschen (genannt „ki“) auf bestimmten Bahnen, sog. Meridianen, durch den Körper fließt. Ein Stocken dieser Energie führt zur Erkrankung. Die Anwendung von Shiatsu soll das Fließen der Energie in den Meridianen wieder in Gang bringen, entweder zur Heilung oder zur

6.8 Massage von Babys und Kindern Prävention von Krankheiten. Der Körper wird von 14 verschiedenen Meridianen durchzogen, 7 Meridiane führen von oben nach unten (Yang-Meridiane), 7 Meridiane führen aufwärts im Körper (Yin-Meridiane). Im Unterschied zu anderen Massageformen wird Shiatsu i. d. R. am bekleideten Menschen durchgeführt.

6.8.3 Voraussetzungen für die Massage Damit ein Baby, das zu früh geboren ist oder akut oder chronisch krank ist, von einer Massage profitieren kann, sind bestimmte Voraussetzungen erforderlich, sowohl vonseiten des Babys als auch vonseiten des Erwachsenen, der die Massage durchführt. Vonseiten des Babys: ● Das Baby ist in einem stabilen Allgemeinzustand, d. h., die Vitalzeichen (Herzfrequenz, Atmung, Körpertemperatur, Sauerstoffsättigung) liegen im Normbereich. ● Das Baby hat intakte Haut und die Massage wird mit einem für Säuglinge geeigneten Öl oder einer geeigneten Emulsion durchgeführt, damit keine Reibung auf der Haut des Babys entsteht. ● Das Baby ist wach, aber ruhig und bereit zur Kontaktaufnahme. ● Das Baby hat weder Hunger noch gerade erst eine Mahlzeit erhalten.





Vonseiten des Erwachsenen: Die Person, die das Baby massiert, hat 10–20 Minuten ungestörte Zeit zur Verfügung. Es wird eine adäquat warme Umgebung geschaffen, entweder am Wickelplatz unter der Wärmelampe oder im Inkubator bzw. im Wärmebett. Bei der Massage im Wärmebett ist es vorteilhaft, sich an das Fußende des Wärmebetts zu stellen.





Pflegefachkräfte sollten an einer qualifizierten Schulung zur Durchführung der Babymassage teilgenommen haben. Eine als Kursleitung für Babymassage geschulte Fachperson kann als Multiplikator für eine Station bzw. Klinik die anderen Mitarbeiter schulen. Eltern müssen nicht erst einen Babymassagekurs absolvieren, sollten aber durch das Fachpersonal angeleitet werden. Aus Respekt vor der Eltern-KindBindung wird die Pflegefachkraft bei der Anleitung die Handgriffe an einer Puppe demonstrieren, während die Eltern die Massagegriffe bei ihrem Baby anwenden.

Merke

● H

Alle Handgriffe und Berührungen werden mit dem Baby ausgeführt, nicht gegen das Kind.

6.8.4 Wirkung der Babymassage In den vergangenen 40 Jahren durchgeführte Studien zur Wirksamkeit der Babymassage haben folgende Erkenntnisse gebracht: ● Stationär behandelte Frühgeborene, die stabil sind und keine intensivmedizinische Behandlung mehr benötigen, profitieren von einer über 10 Tage regelmäßig durchgeführten Massage mit moderater Festigkeit. Sie nehmen rascherer an Gewicht zu und können früher aus der Klinik entlassen werden. ● Massage durch die Eltern oder andere erwachsene Bezugspersonen ist leicht vermittelbar, kostengünstig und genauso effektiv wie die Massage durch geschulte Pflegefachkräfte.









Es gibt keinerlei Hinweise auf negative Effekte der Massage wie Veränderungen der Vitalparameter (Herzfrequenz, Atemfrequenz, Körpertemperatur oder Sauerstoffsättigung). Eltern genießen den intensiven körperlichen Kontakt mit ihrem Kind und entwickeln ihre elterliche Feinfühligkeit, d. h. die Fähigkeit, Signale des Babys zu erkennen und zu deuten. Mütter mit einer Wochenbettdepression profitieren in Bezug auf ihr psychisches Empfinden von der Schulung in der Babymassage mehr als von der Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe mit anderen betroffenen Müttern. Bei reif geborenen Säuglingen wirkt die Babymassage entspannend und schlaffördernd.

Die verschiedenen Formen der Massage (Schmetterlingsmassage, The Loving Touch, indische Babymassage) wurden in den Studien einzeln in Bezug auf ihre Wirkung auf eine definierte Patientengruppe untersucht. Interessant wäre auch die vergleichende Untersuchung.

Praxistipp Pflege

6

Z ●

Die Massage von Babys und Kindern ist mehr als eine Abfolge bestimmter Handgriffe. Im Zusammensein mit dem Kind erfolgt eine körperorientierte Schulung der Erwachsenen, die die Beziehung fördert und präventiv wirkt, indem die Feinfühligkeit der Eltern für die Signale ihres Kindes verbessert wird. Daher sollten Pflegefachkräfte zumindest eine Form der Massage selbst so gut kennen, dass sie diese an Eltern vermitteln können.

9

Wachstum und Entwicklung

6

170

Kapitel 7 Erleben und Bewältigen von Gesundheitsstörungen im Kindes- und Jugendalter

7.1

7.2 7.3

Erleben und Bewältigen von Krankheit in den verschiedenen Entwicklungsphasen

172

Leben mit chronischer Krankheit und Behinderung

175

Kinder und Jugendliche im Krankenhaus

180

Erleben und Bewältigen von Gesundheitsstörungen

7 Erleben und Bewältigen von Gesundheitsstörungen im Kindes- und Jugendalter Liebe Klasse, ich habe Krebs! „Heute ist ein Scheiß-Tag! Das frühe Aufstehen, Waschen, Pille nehmen, Schule, Atemtherapie, Brechen, einfach alles! Es ist blöd, dass ich hier bin. Ich will daheim sein, bei meinem Hund, in meinem Bett, Fahrradfahren, mit meinen Freunden spielen. Etwas essen können! Es gibt noch mehr, was hier blöd ist: Mundpflege, Schmerzen, Toilette gehen, wenn es dort stinkt und wenn ich nicht abspülen darf. Mein Bauch ist einfach blöd! Mir ist alles egal. Mich stört gerade alles. Ich weiß nicht, was mir guttut. So schnell wie möglich hier raus. Ich will nicht mehr hier bleiben! Ich schreie jetzt ganz laut 3-mal Scheiße!!!, dass es alle Schwestern auf der Station hören“ (Schroeder u. a. 2000).

7.1 Erleben und Bewältigen von Krankheit in den verschiedenen Entwicklungsphasen

7

Astrid Steinberger Wie Kinder ihre Krankheit erleben und verarbeiten, hängt von verschiedenen Faktoren ab: ● Alter bzw. körperlichem, kognitivem, psychosozialem Entwicklungsstand ● zurückliegenden Krankheitserfahrungen ● Persönlichkeit und Kontrollüberzeugungen ● familiärem sowie medizinischem, therapeutischem und pflegerischem Umfeld Das Krankheitserleben von Kindern wird von Gefühlen wie Angst, Hilflosigkeit, Ausgeliefertsein, Verlassenheit, aber auch Wut und Trauer, Schmerzen und z. T. irrationalen Vorstellungen über die Krankheitsverursacher bestimmt.

Definition

● L

Die Kontrollüberzeugung eines Menschen ist ein wichtiger Aspekt des Selbstkonzeptes. Sie bezeichnet den Glauben eines Menschen daran, über sein Leben selbst bestimmen zu können. Schon kleine Kinder zeigen ein starkes Bedürfnis, Wirkung in der sozialen und physikalischen Umwelt zu erzielen. Durch Lernerfahrungen in sozialen Situationen entwickelt sich die Kontrollüberzeugung des Kindes und wird

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schließlich zu einer dauerhaften Erwartung, die eine zentrale Bedeutung für das Verhalten und Erleben eines Menschen hat (Oerter, Montada 2008).

Kinder entwickeln erst langsam eine Vorstellung über Krankheit, die der eines Erwachsenen entspricht. Je nach Alter bzw. kognitivem Entwicklungsstand ist die Sichtweise auf die eigene Erkrankung unterschiedlich. Um das 9. Lebensjahr besteht eine vorwiegend physikalische bzw. mechanische Sichtweise auf Krankheit, Schmerz wird daher als etwas von „außen“ Kommendes empfunden. Mit dem Eintritt in die formal-operatorische kognitive Entwicklungsphase ab dem 11. Lebensjahr wird Schmerz als eine Empfindung des Körpers wahrgenommen. Ebenso ist es auch dem Heranwachsenden ab diesem Alter möglich, für die Entstehung von Krankheit allgemeingültige Ursachen, wie z. B. physische und psychische Faktoren, zu erkennen (Oerter, Montada 2008). Diese vom Alters- bzw. Entwicklungsstand abhängige Betrachtung und Wahrnehmung von Krankheit hat einen entscheidenden Einfluss auf die Bewältigung von Krankheit im Kindes- und Jugendalter.

Merke

H ●

Aufgrund der unterschiedlichen kognitiven Fähigkeiten und der damit verbundenen Reflexions- bzw. Introspektionsfähigkeit eines Kindes ist es nicht möglich, zur Erklärung und zum Verständnis des Coping-Verhaltens (Bewältigungsstrategie) von chronisch kranken Kindern ein allgemeingültiges Phasenmodell, wie es z. B. bei der Erklärung von Bewältigungsstrategien bei Erwachsen genutzt wird, anzuwenden.

7.1.1 Kinder bis zum 3. Lebensjahr Kleinkinder erleben ihre Krankheit und die damit verbundenen Symptome als Minderung ihrer Vitalität, z. B. durch Schmerzen. Aufgrund des kognitiven Entwicklungsstandes ist das Kind bis zum 5. Lebensjahr nicht zu kausalem Denken (Erkennen von Ursache und Wirkung) in der Lage. Dadurch ist ihnen eine Einsicht in die Krankheit nicht möglich. Die Erkran-

kung kann deshalb als Strafe verstanden werden. Durch krankheitsbedingte Einschränkungen in den Körperfunktionen, z. B. Schlucken, Atmen und Bewegung, unangenehme therapeutische Handlungen, Trennung von den Bezugspersonen, veränderte Rituale bzw. Tagesabläufe, stellen Erkrankungen insbesondere für Kleinkinder einen massiven Eingriff in ihre Entwicklung dar. Bis zum 3. Lebensjahr haben Kinder noch kein bewusstes Krankheitskonzept und bewusste Bewältigungsstrategien entwickelt. Sie erleben daher Ängste, die durch Trennungserlebnisse und ein noch nicht entwickeltes Zeitverständnis verstärkt werden. Eine verlängerte Abhängigkeit von anderen Personen, evtl. verbunden mit dem Bewusstsein: „Ohne Hilfe geht es nicht!“, kann zu Störungen in der Entwicklung der Selbstständigkeit führen. Erklärungen über medizinische Maßnahmen versteht das Kind kaum und es kommt zu Fantasien wie „die Krankheit kann mich zerstören“ oder „ich werde durch die Medizin vergiftet“.

7.1.2 Kinder vom 3.– 6. Lebensjahr Kinder in diesem Entwicklungsabschnitt lernen erst langsam, Fantasie von Wirklichkeit zu trennen. Auch in diesem Alter spielen Ängste im Zusammenhang mit Krankheitserleben eine große Rolle.

Merke

H ●

Bezüglich der Bewältigung von Ängsten nutzen Kinder in diesem Alter häufig folgende Verhaltensmuster: Suche nach sozialer Unterstützung, Rückzugsverhalten oder das Einstellen jeglicher Handlungen. (Seiffge-Krenke, Lohaus 2007)

Kinder im Vorschulalter haben häufig noch kein Verständnis für schmerzhafte und unangenehme Behandlungen sowie für die mit einer Erkrankung verbundenen Einschränkungen, z. B. Diäten und Bettruhe. Die Reaktionen können daher sehr unterschiedlich sein. Einerseits reagieren Kinder ängstlich, bleiben passiv und warten auf Hilfe aus ihrer Umgebung. Andererseits widersetzen sich selbstbewusstere Kinder, besonders wenn die Eltern notwendige unangenehme Maßnahmen durchführen bzw. durchsetzen. In ▶ Tab. 7.1 werden frühkindliche Kon-

7.1 Erleben und Bewältigen von Krankheit

Tab. 7.1 Phasen der Denkentwicklung nach Piaget und implizite Konzepte zu Gesundheit und Krankheit (nach Schmitt 1996; Lohaus 2006). Phasen

Denkentwicklung

präoperationale Phase (3.–7. Lebensjahr *)







Konzentration auf das unmittelbar Wahrnehmbare kaum Verständnis für Zusammenhänge zwischen Ereignissen kindliches Denken ist von Zentrierung (Unfähigkeit, mehr als einen perzeptuellen Faktor zu berücksichtigen) und Egozentrismus (Unfähigkeit, sich in eine andere Perspektive hineinzuversetzen) gekennzeichnet

Konzepte über Gesundheit und Krankheit ● ●





konkret-operationale Phase (7.–11. Lebensjahr)









formal-operationale Phase (Jugendalter)







Verständnis für einfache Zusammenhänge von Sachverhalten zunehmendes Verständnis für das Invarianzprinzip (mehrere Zustände können gleichzeitig berücksichtigt werden) eingeschränkte Abstraktionsfähigkeit (Denken ist an konkrete Situationen und Probleme gebunden) Fähigkeit, die Perspektive anderer Menschen in das eigene Denken einzubeziehen



Relativität des Denkens und Denken in Möglichkeiten (Verständnis für Zusammenhänge und Fähigkeit, mehrere Realitäten zu berücksichtigen) abstraktes Denken (Fähigkeit zu hypothetischem und von der Realität losgelöstem Denken) multidimensionales Denken (Betrachtung eines Sachverhaltes aus unterschiedlichen Perspektiven)













Konzentration auf sichtbare und fühlbare Symptome Verschiedene Phänomene (Personen, Situationen, Handlungen, Gegenstände), die in einer Reihenfolge liegen, können als Ursache für eine Erkrankung gesehen werden, z. B. kann bei Kleinkindern der Mond für das Auftreten einer Erkrankung verantwortlich gemacht werden, später werden bestimmte Aktionen, wie ohne Jacke bei kaltem Wetter draußen sein, zur Erklärung genutzt. geringes Verständnis für die Prozesshaftigkeit von Erkrankungen, die Krankheit ist immer so wie zum aktuellen Zeitpunkt, sie können sich keinen Verlauf vorstellen geringes Verständnis für die Handlungsabsicht der anderen sowie die Fähigkeit der anderen, die eigene Situation zu verstehen Konzept über Verursachung von Krankheit wird spezifischer und konkreter, z. B. dass Krankheiten durch Schlucken oder Atmen nach innen gelangen zunehmendes Verständnis für die Prozesshaftigkeit von Erkrankungen Verständnis für Sachverhalte, die konkret beschrieben werden (konkrete Symptome und Therapien) Krankheitserfahrungen anderer Kinder werden verstanden und in das Denken des Kindes einbezogen

7

Verständnis über komplexe Wirk- und Funktionszusammenhänge; der Verursachung von Erkrankung werden multiple Erklärungen gegeben Jugendlicher erkennt psychosomatische Zusammenhänge Krankheiten können aus verschiedenen Perspektiven (individuell und gesellschaftlich) betrachtet werden

* Piaget gibt den Beginn dieses Stadiums mit dem 2. Lebensjahr an, die dieser Tabelle zugrunde liegenden Untersuchungen beziehen Kleinkinder erst ab dem 3. Lebensjahr ein.

zepte über Gesundheit und Krankheit in der präoperationalen Phase dargestellt. In den vorab genannten Entwicklungsabschnitten ist es besonders wichtig, die Eltern zu beraten und sie in die pflegerischen/therapeutischen Maßnahmen einzubeziehen, damit sie ihrem Kind Halt geben können und eine nachhaltige Störung des Entwicklungsverlaufes vermieden werden kann.

7.1.3 Kinder vom 6.–12. Lebensjahr In diesem Altersabschnitt ist das Verursacherkonzept (Lohaus 2006) durch eine direkte Verbindung zwischen auslösenden Bedingungen und den eigenen Körperreaktionen gekennzeichnet, z. B. durch Berühren oder falsche Handlung. Viren und Bakterien stehen als Krankheitsverursacher im Vordergrund. Als weitere auslösende Bedingungen werden folgende Faktoren genannt:



● ●



Aspekte des Lebensstils, wie Unachtsamkeit, schlechte Ernährung und unangemessene Kleidung externe Ursachen, wie Kälte und Nässe Fehlfunktionen innerer Organe und Systeme Verhalten, Einstellungen und Gefühle

Kinder in diesem Entwicklungsabschnitt bewältigen Erkrankungen und evtl. damit verbundene Krankenhausaufenthalte besser, da sie Trennungen besser akzeptieren und leichter soziale Bindungen auch außerhalb der Familie eingehen können. Weiterhin sind sie in der Lage, Verantwortung zu übernehmen, Regeln, wie eine Diät, zu befolgen, und Krankheitskonsequenzen, wie Bettruhe, anzunehmen. Kinder in diesem Entwicklungsabschnitt nutzen vorrangig als Bewältigungsstrategie im Umgang mit Stressoren (z. B. einer chronischen Erkrankung) soziale Unterstützung sowie zunehmend auch kognitive Strategien (Seiffge-Krenke, Lohaus 2007). In ▶ Tab. 7.1 findet sich eine Darstellung der impliziten Konzepte

über Gesundheit und Krankheit in der konkret-operationalen Phase.

7.1.4 Jugendliche ab dem 12. Lebensjahr In der Adoleszenz bestimmen Abhängigkeits- und Autonomiekonflikte das Krankheitserleben und die Verhaltensmuster (Dittmann 1996). Kontinuierliche Behandlungsmaßnahmen, häufige Krankenhausaufenthalte, evtl. eine an der Erkrankung orientierte Tagesstruktur verringern den Erfahrungsbereich des Jugendlichen, beeinträchtigen seine alltäglichen Aktivitäten und Kommunikationsmöglichkeiten und schränken seine beruflichen und schulischen Ausbildungsmöglichkeiten ein. Diese krankheitsbedingten Einschränkungen stehen in einem deutlichen Widerspruch zu den Anforderungen des Jugendalters, vgl. Kap. Entwicklung im Jugendalter (S. 158). Weiterhin kann das krankheitsspezifische Belastungserleben in diesem Entwicklungsabschnitt von Störungen des

3

Erleben und Bewältigen von Gesundheitsstörungen Körperbildes, Besorgnis hinsichtlich sexueller Aktivitäten und der Möglichkeit, einen Partner zu finden, körperlicher Abhängigkeit von Pflegefachkräften und der Verhinderung des Trennungsprozesses von den Eltern, durch die teilweise notwendige Kontrolle therapeutischer Maßnahmen in Konkurrenz zum Autonomiestreben geprägt sein. Folgende Reaktionen von Jugendlichen auf Krankheit kennzeichnen den Verarbeitungsprozess (von Loh 2017): ● regressives Verhalten, d. h., der Jugendliche begibt sich in eine stärkere Abhängigkeit früherer Entwicklungsphasen ● ablehnendes Verhalten der Krankheit gegenüber, d. h., der Jugendliche übernimmt keine Verantwortung, legt die Krankheit und die damit einhergehenden Entscheidungen sowie Maßnahmen in die Hände der Eltern und des medizinisch-therapeutischen Personals ● scheinbare Akzeptanz, d. h., die Krankheit wird als übermächtig erlebt und der Jugendliche identifiziert sich entgegen seiner eigenen Überzeugung mit seiner Erkrankung, er unterwirft sich den Forderungen der Eltern und des medizinisch-therapeutischen Personals ● langsam wachsende Auseinandersetzung mit der Krankheit, wodurch Kompetenzen zur Bewältigung der Krankheit erworben werden und die Persönlichkeitsentwicklung voranschreitet

7

Manche Jugendliche reagieren mit aggressivem Verhalten. Dieses Verhalten wird mit dem Zorn von Jugendlichen auf die Erkrankung sowie den damit verbundenen Einschränkungen und einer Verschiebung auf die Behandlungsmaßnahmen erklärt. Durch die fortgeschrittene kognitive Entwicklung und die damit verbundene Veränderung des Krankheitskonzeptes sind Jugendliche in der Lage, kognitive Bewältigungsstrategien bei der Auseinandersetzung mit ihrer Erkrankung zu nutzen (Seiffge-Krenke, Lohaus 2007). Implizite Konzepte von Jugendlichen über Gesundheit und Krankheit während der formal-operationalen Phase werden in ▶ Tab. 7.1 dargestellt.

7.1.5 Familiäre Einflussfaktoren auf das Erleben und Bewältigen von Krankheit Bei der Krankheitsbewältigung von Kindern und Jugendlichen hat die Familie eine besondere Bedeutung. Die in der Familie vorherrschenden Lebensbedingungen, die zur Verfügung stehenden Ressourcen, ihre gesundheits- und krankheitsbezogenen Einstellungen und Verhaltensweisen prägen das Verhalten und Erleben erkrankter Kinder.

174

Eltern und weitere Familienmitglieder sind in die Versorgung und Behandlung erkrankter Kinder auf vielfältige Weise involviert. Ihre Konzepte zu Gesundheit und Krankheit, Kontrollüberzeugung bezüglich der eigenen Bewältigungsmöglichkeiten bzw. -fähigkeiten von Erkrankungen sowie Coping-Stile beeinflussen direkt oder indirekt durch ihre Modellwirkung den Umgang mit der Erkrankung. Weitere familiäre Einflussfaktoren auf das Krankheitserleben und die Bewältigung stellen soziale und finanzielle Bedingungen der Familie, die Familiengröße, alleinerziehende Eltern, Alkoholprobleme und Mangel an sozialen Netzwerken dar.

Lernaufgabe

M ●

Erarbeiten Sie das mögliche Krankheitserleben von drei Patienten in unterschiedlichen Entwicklungsabschnitten (s. o.), die alle mit der Diagnose „Zustand nach Appendektomie“ stationär behandelt werden. ● Welche Bedeutung haben dabei der Entwicklungsstand, die Familie bzw. die Trennung von dieser sowie der Freunde auf das Krankheitserleben der betroffenen Kinder bzw. Jugendlichen? ● Welche Faktoren wirken sich weiterhin auf das Krankheitserleben aus? ● Welche Schlussfolgerungen lassen sich für Ihr pflegerisches Handeln aus dem Wissen über implizite Konzepte von Kindern über Gesundheit und Krankheit sowie mögliche Einflussfaktoren ziehen?

7.1.6 Kommunikation mit erkrankten Kindern und Jugendlichen ▶ Kontakt herstellen, Beziehung aufbauen. Dabei ist es wichtig, sich auf Augenhöhe des Kindes zu begeben, das Kind mit seinem Namen anzusprechen, sich bei der Begrüßung selbst vorzustellen und die Funktion in der weiteren Begleitung zu erklären. Durch eine Initialberührung (S. 310) kann eine erste Verbindung aufgebaut und mit einem Small Talk in das weiterführende Gespräch eingestiegen werden. ▶ Entwicklungsstand beachten. Wie in den vorherigen Abschnitten beschrieben wird, haben Kinder entsprechend ihrem Entwicklungsstand unterschiedliche mentale Krankheitskonzepte und Bewältigungsstrategien. Es ist wichtig, dass Pflegende bei der Gestaltung von Gesprächen mit Kindern diese Aspekte berücksichti-

gen und, z. B. bei Informationen zur Krankheit sowie notwendigen Behandlungsmaßnahmen, den kognitiven Entwicklungsstand beachten. Auch die Kommunikationsart und die Sprache sollten sich am Entwicklungsstand des Kindes orientieren. Säuglinge und Kleinkinder kommunizieren verstärkt über nonverbale Signale. Bei Kindern im Vorschulalter sollte auf einfache Wörter und kurze Sätze geachtet werden. Da Kinder aufgrund ihres neuronalen Entwicklungsstandes in emotional belastenden Situationen ihre Gefühle und das damit verbundene Verhalten noch nicht steuern können, kann es hilfreich sein, den Fokus des Kindes weg von der belastenden Situation zu lenken, z. B. durch Fragen nach Geschwistern, Freunden im Kindergarten oder Lieblingstiere. ▶ Aktiv zuhören. Neben dem Blickkontakt, einer zugewandten Körperhaltung und der Kommunikation auf Augenhöhe sollten Pflegende auch verbal auf die Äußerungen und Signale des Kindes eingehen. Das können weiterführende Fragen sein, das Wiederholen des Gesagten mit eigenen Worten oder das Erfassen und Benennen der emotionalen Signale des Kindes. ▶ Herstellen von Adhärenz. Für eine erfolgreiche Behandlung ist es unerlässlich, Kinder und Jugendlichen wie auch die Bezugspersonen in die Versorgung und Therapieplanung aktiv einzubeziehen. Beratung, Information und Anleitung sind dabei wichtige Aufgabenbereiche von pflegerischen und medizinischen Fachkräften in der professionellen Zusammenarbeit mit den erkrankten Kindern und Jugendlichen sowie deren Bezugspersonen. Die Gestaltung sollte sich dabei an dem Entwicklungsstand des Patienten, den sozioökonomischen Bedingungen der Familie sowie an den Vorstellungen, Bedürfnissen und Wünschen des Patienten und seinen Bezugspersonen orientieren.

Definition

L ●

Adhärenz beschreibt ein partnerschaftliches Beziehungsverständnis zwischen den Akteuren im Gesundheitswesen, den Betroffenen und deren Bezugspersonen, d. h., Therapieziele werden gemeinsam festgelegt und Therapieempfehlungen unter Berücksichtigung der Vorstellungen, Wünsche und Bedürfnisse der Betroffenen erarbeitet. Die Verantwortung der therapeutischen Vorgaben haben nach diesem Verständnis sowohl Pflegende als auch die Betroffenen (Gustke 2017).

7.2 Leben mit chronischer Krankheit und Behinderung

7.2 Leben mit chronischer Krankheit und Behinderung

Fallbeispiel

Astrid Steinberger Stattdessen „Anstatt mit dir zu gehen, werde ich mit dir kriechen. Anstatt mit dir zu reden, werde ich andere Wege finden, um mit dir zu kommunizieren. Anstatt mich darauf zu konzentrieren, was du nicht kannst, werde ich dich für das, was du kannst, mit Liebe belohnen. Anstatt dich zu isolieren, werde ich Abenteuer für dich erschaffen. Anstatt dich zu bemitleiden, werde ich dich achten“ (Huygen Hilling)

7.2.1 Begriffsbestimmung chronische Krankheit Definition

7.2.2 Begriffsbestimmung Behinderung

L ●

„Chronische Erkrankung gilt als Oberbegriff für somatische Krankheitsbilder, die über einen längeren Zeitraum andauern, wenig Besserung zeigen und/ oder als nicht heilbar gelten“ (Warschburger, in: von Hagen, Schwarz 2009).

Bin ich eigentlich noch behindert?

Ingo, ein Junge mit einer spastischen Diaparese, lernte im Alter von 4 Jahren das freie Laufen. Er ging noch recht unsicher in seinem diparetischen Muster. Einige Wochen später, als er das unglaubliche Erlebnis, laufen zu können, ein wenig verkraftet hatte, fragte er während einer Therapiestunde ziemlich unvermittelt: „Bin ich eigentlich jetzt noch behindert?“ Wie sollte die Antwort aussehen? „Du bist nicht mehr behindert, weil deine Spastik dich nicht mehr am Laufen hindert?“ Oder „Du kannst trotz deiner Behinderung laufen?“ Was heißt eigentlich Behinderung und was versteht Ingo darunter? Die Therapeutin wusste keine Antwort und stellte ihm deshalb die Gegenfrage, ob er sich selbst denn behindert fühle. Seine Antwort war klar: Auch wenn er nicht so schnell laufen könne wie die anderen, sei er jetzt kein behindertes Kind mehr (Zinke-Wolter 2005).

Lernaufgabe Aktuell wird von einer Prävalenz chronischer Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter in Deutschland von 23,7 % (d. h. rund 3 Millionen Kinder und Jugendliche) ausgegangen. Zu den häufigsten chronischen Erkrankungen zählen hierbei obstruktive Bronchitis, Neurodermitis und Allergien (insbesondere Heuschnupfen). Für chronische Erkrankungen ist häufig ein phasenhafter Verlauf mit besseren und schlechteren Zeiten sowie krisenhaften Zuspitzungen typisch. Die medizinische Versorgung chronisch kranker Kinder beschränkt sich daher meist auf eine positive Beeinflussung des Krankheitsverlaufes und der damit verbundenen Symptome sowie der Krankheitsfolgen. Eine chronische Erkrankung stellt für die Betroffenen einen hohen Risikofaktor für die Entwicklung von psychischen Störungen und Minderung der Lebensqualität dar (Warschburger, in: von Hagen, Schwarz 2009).

I ●

M ●

Setzen Sie sich mit dem Begriff „Behinderung“ auseinander. 1. Welche Gedanken, Einstellungen und Gefühle verbinden Sie mit dem Begriff? 2. Wo und wie, glauben Sie, wirkt sich eine Behinderung aus?

Der Begriff „Behinderung“ ist sehr vielschichtig und dient oft der Vereinfachung, um eine bestimmte Gruppe von behinderten Menschen einer medizinischen, pädagogischen oder gesellschaftlichen Intervention zuführen zu können. Um die Wechselwirkung zwischen Person und Umwelt im Kontext von Behinderung zu verdeutlichen, orientiert sich der neue Behinderungsbegriff im Bundesteilhabegesetz verstärkt an dem bio-psycho-sozialen Modell unter Berücksichtigung der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) (Bundesteilhabegesetz kompakt 2017).

Definition

L ●

Der neue Behinderungsbegriff in § 2 SGB IX-neu definiert Behinderung wie folgt: „Menschen mit Behinderung sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können“ (Bundesteilhabegesetz kompakt 2017)

Die Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in ihrer Fassung aus dem Jahr 2005 benennt 4 Bereiche, die eine Behinderung bedingen können: ● Körperfunktionen und Körperstrukturen: wenn Elemente des Körpersystems geschädigt sind. ● Aktivitäten: wenn ein Mensch bei der Durchführung einer Handlung oder Aufgabe beeinträchtigt ist. ● Teilhabe: wenn ein Mensch im Zusammenleben mit anderen Menschen, d. h. beim Einbezogensein in Lebenssituationen, beeinträchtigt ist. ● Umweltfaktoren: Ob und wie ein Mensch behindert ist, wird durch die wechselseitige Beeinflussung der vorab genannten Faktoren und der gesellschaftlichen Umwelt mit ihren sozialen Systemen beeinflusst. (Pädagogische Hochschule Heidelberg Projekt imh)

7

Eine weiterführende systemorientierte Betrachtung von Behinderung wird im Kap. Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen (S. 121) dargestellt. Hierbei wird Behinderung im sozialen und institutionellen Kontext beurteilt sowie die positiven Möglichkeiten innerhalb des Lebensraumes eines behinderten Menschen herausgestellt.

7.2.3 Behinderte und chronisch kranke Kinder in der Familie Die Anzahl pflegebedürftiger Kinder und Jugendlicher ist in den letzten Jahren gestiegen. 74 000 Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren galten in Deutschland laut Statistischem Bundesamt 2015 als pflegebedürftig im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes. Die Mehrzahl dieser Kinder und Jugendlichen wächst im Umfeld ihrer Familie auf, obwohl dies zu hohen psychischen und physischen Belastungen innerhalb der Familie führt. Sie sind meist über Jahre auf pflegerische Unterstützung und Hilfe bei Alltagsaktivitä-

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Erleben und Bewältigen von Gesundheitsstörungen ten sowie umfangreiche medizinische, rehabilitierende und präventive Maßnahmen angewiesen (Büker 2016). Die Behinderung und Erkrankung eines Kindes betreffen immer die ganze Familie, wobei die psychosoziale Situation von betroffenen Familien viele Facetten hat und von folgenden Faktoren abhängig ist: ● Art der Behinderung bzw. chronischen Erkrankung ● Zeitpunkt des Auftretens (angeboren oder erworben) ● Familienstruktur (z. B. Geschwister) und Beziehung der Eltern zueinander ● Verfügbarkeit und Qualität (z. B. unterstützend, abwertend) eines sozialen Stützsystems, sog. soziale Netze und Vertrauenspersonen ● finanziellen Ressourcen der betroffenen Familie ● Art und Dauer der Pflege- und Betreuungsleistung ● physischer und psychischer Belastung, welche die Eltern erleben ● subjektiver Wahrnehmung und Bewertung ● Persönlichkeit sowie Bildungsstand der Eltern und der Fähigkeit, die Herausforderung, die die Behinderung für die Familie darstellt, zu bewältigen ● Möglichkeit der Unterstützung durch externe Betreuungs- und Beratungssysteme

7

Die gesamte Familie kommt in vielfacher Hinsicht aus dem Gleichgewicht. Dies ruft unterschiedliche Abwehrmechanismen seitens der einzelnen Familienmitglieder hervor. Dabei kommen im Wesentlichen 4 Abwehrreaktionen zum Tragen (Hensle, Vernooij 2000): ● Verleugnung: Es wird so getan, als existiere die Behinderung nicht ● Projektion: Die Schuld für das Geschehen wird außerhalb der eigenen Person gesehen ● Intellektualisierung bzw. Rationalisierung: Die Behinderung wird wissenschaftlich analysiert und entsprechende Fachliteratur gelesen ● Sublimierung: Ein verstärktes soziales Engagement für Behinderte wird gezeigt, u. a. durch die Mitarbeit in entsprechenden Vereinen Diese verschiedenen Abwehrreaktionen dienen dazu, das gestörte innere Gleichgewicht des betreffenden Familienmitgliedes oder der gesamten Familie – ohne grundlegende Verarbeitung – wiederherzustellen.

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Merke

H ●

Der Prozess der Verarbeitung, der Annahme des Kindes und der damit verbundenen neuen Situation gestaltet sich bei jedem Familienmitglied unterschiedlich und kann sehr langwierig sein.

Auswirkungen auf die Eltern Für Eltern stellt die Begleitung eines behinderten oder chronisch kranken Kindes eine enorme Belastung dar. Viele Eltern beschreiben die Geburt eines behinderten Kindes oder die Diagnosestellung einer chronischen Erkrankung zunächst als Schock, als „Bruch in ihrem Leben“, als Zerstörung ihrer Wünsche, Hoffnungen und Zukunftsperspektive. Sie verlieren den Boden unter den Füßen und geraten in eine schwere persönliche Krise. Die Lebensplanung der Familie und die gewohnten täglichen Abläufe verändern sich. Die körperliche und psychische Belastung der Familie steigt. Reaktionen der sozialen Umwelt können die noch nicht verarbeitete Krisensituation verstärken. Zudem geraten Eltern in Konflikte, um konkurrierende Anforderungen der einzelnen Familienmitglieder zu erfüllen, wie die gerechte Verteilung von Zeit und Energie, die Aufrechterhaltung der Partnerschaft oder die Erledigung des Haushalts. Eine Untersuchung von Nehring aus dem Jahr 2015 beleuchtet insbesondere die psychosoziale Situation von betroffenen Familien. Hierbei gaben mehr als die Hälfte der Eltern an, dass ihnen insbesondere die Freiräume für das soziale Leben und für Kontakte außerhalb der Familie fehlen. 40–50 % der Befragten sahen auch einen direkten Zusammenhang zwischen partnerschaftlichen Problemen und der anhaltenden Betreuung eines erkrankten oder behinderten Kindes (Nehring et al. 2015). Des Weiteren erschweren häufige Krankenhausaufenthalte, Förder- und Therapieprogramme über längere Zeit das Familienleben, nicht zu vergessen der erhöhte Pflege- und Zeitaufwand, wie das Einüben von alltäglichen Tätigkeiten oder die Übernahme von Aufgaben, die das Kind nicht selbst bewältigen kann. Zusätzlich müssen Verhandlungen mit Behörden geführt werden, um finanzielle Aufwendungen wenigstens teilweise erstattet zu bekommen. Ein weiterer Belastungsfaktor für die Eltern stellen ökonomische Einschränkungen und finanzielle Probleme dar. Diese ergeben sich zum einen durch die Kosten für die Pflege sowie durch die Anschaffung notwendiger Heil- und Hilfsmittel und zum anderen durch die geringeren

Einnahmen. Laut einer aktuellen Analyse gibt in jeder zweiten bis dritten Familie ein Elternteil die Erwerbstätigkeit zugunsten der Betreuung des erkrankten oder behinderten Kindes auf (Nehring et al. 2015).

Rolle der Geschwister Geschwister von behinderten und chronisch kranken Kindern werden häufig als „Schattenkinder“ bezeichnet, da sie oft hinter dem behinderten bzw. erkrankten Kind zurückstehen müssen. Viele machen die Erfahrung, dass für ihre Wünsche und Bedürfnisse weniger Zeit und Kraft seitens der Eltern zur Verfügung steht. Die Rücksichtnahme auf das behinderte Geschwister und auf die Eltern kann zur Unterdrückung eigener Bedürfnisse führen. Weiterhin kann bei den betroffenen Kindern oft der Eindruck entstehen, dass das behinderte Geschwisterkind von den Eltern vorgezogen wird. Besonders in der frühen Kindheit kann der Mangel an Zuwendung und emotionalem Rückhalt weitreichende Folgen haben (S. 160). Das gesunde Kind bemüht sich um die Zuwendung und Aufmerksamkeit der Eltern, was so weit gehen kann, dass es vorgibt, krank zu sein, oder sich absichtlich verletzt. Geschwister können u. U. auch von Schulkameraden gehänselt werden, trauen sich nicht, über ihren behinderten Bruder oder ihre behinderte Schwester zu sprechen, und geraten in Konflikte, Freunde mit nach Hause zu bringen. Die Anforderungen an Geschwister, die sich aus der besonderen familiären Situation und den damit verbundenen besonderen Anforderungen ergeben, können sich aber auch ausgesprochen positiv auf die Persönlichkeitsentwicklung auswirken (▶ Abb. 7.1). Sie werden oft als selbstständiger, empathischer und selbstbewusster als Gleichaltrige beschrieben. Auch ihr Konfliktverhalten sowie ihre Selbstkontrolle entwickeln sich positiv. Die Sozialisation mit einem behinderten Geschwister führt zu Verständnis und Toleranz gegenüber Menschen mit Abweichungen

Abb. 7.1 Einbezug der Familie. Unterstützung beim Schuhebinden. (Foto: W. Krüper, Thieme)

7.2 Leben mit chronischer Krankheit und Behinderung vom gängigen „Normalbild“ (Haberthür 2005). Folgende Aussagen spiegeln die wechselhaften und unterschiedlichen Gefühle von Geschwistern behinderter Kinder wider (Haberthür 2005): ● Anna B. (41 Jahre), ihre Schwester leidet unter epileptischen Anfällen: „Ich fühlte mich oft allein mit all meinen Fragen und Ängsten.“ ● Lena K. (33 Jahre), ihre Schwester ist 14 Monate älter und hat Trisomie 21, Epilepsie und einen Herzfehler: „Wenn Eveline weinte, war es halt etwas anderes, als wenn ich weinte. Sie wurde getröstet, aber bei mir hieß es dann: ‚Jetzt wein’ doch nicht, das ist doch nicht so schlimm. Du bist doch schon groß.‘“ ● Felix H. (37 Jahre), sein Bruder ist 2 Jahre jünger und blind: „Wir waren einfach eine Familie, die überall Aufsehen erregte. [...] Dieses ständige Auffallen in der Öffentlichkeit, das war für mich als Kind wirklich etwas vom Schlimmsten.“ ● Frieda M. (33 Jahre), ihre Schwester ist gehörlos und psychisch krank: „Die Erfahrungen mit meiner Schwester haben mich stark gemacht. Ich glaube, gerade schwierige Erfahrungen und Herausforderungen bringen einen menschlich weiter.“ In welcher Weise die Auseinandersetzung mit der Behinderung des Geschwisterkindes erfolgt, hängt stark vom Coping-Prozess (Bewältigungsprozess, s. u.) und den Bewältigungsstrategien der Eltern sowie deren Unterstützung des nichtbehinderten Kindes bei der Bewältigung dieses kritischen Lebensereignisses ab. Eltern sollten dem gesunden Kind ihre Liebe genauso zeigen und ihm bewusst Aufmerksamkeit schenken wie dem erkrankten Kind. In regelmäßigen Gesprächen können Geschwisterkinder die Möglichkeit erhalten, über ihre Gefühle und ihre Gedanken zu sprechen. Es ist wichtig, den gesunden Kindern zu zeigen, dass auch ihre negativen Gefühle akzeptiert werden.

Coping-Strategien von Familien behinderter und chronisch kranker Kinder Definition

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Coping wird als Prozess definiert, welcher in Gang gesetzt wird, um mit inneren und äußeren Anforderungen umzugehen, die als bedrohlich oder die eigenen Kräfte übersteigend wahrgenommen werden. (Zimbardo, Gerrig 2016)

Werden Familien mit der Diagnose einer Behinderung oder chronischen Erkrankung eines Kindes konfrontiert, befinden sie sich in einer von ihnen als bedrohlich empfundenen Situation und entwickeln unterschiedliche Bewältigungsstrategien, um mit dieser neuen Situation leben zu lernen. Dabei erleben Eltern die Zeit der Diagnosestellung als besonders einschneidend und existenziell. Sie beschreiben Gegenwarts- und Zukunftsängste, Hilflosigkeit, innere Leere, Frustration, Selbstmitleid und den Wunsch nach Isolation. Bei genetisch bedingter Erkrankung kämpfen die Eltern zusätzlich mit massiven Schuldgefühlen (Bachmann 2010). Von Loh (2017) beschreibt die Krisenverarbeitung der gesamten Familie als Lernprozess, welcher in verschiedenen Phasen verläuft; diese können sich ablösen, aber auch nebeneinander bestehen. Folgende Reaktionskette ist daher häufig bei Familien sowohl von behinderten als auch chronisch kranken Kindern beobachtbar: 1. Phase (Schock, Nicht-wahrhaben-Wollen): Oft erleben betroffene Eltern wechselnde Gefühle von Unsicherheit, Angst, Verlassenheit, Verzweiflung, Einsamkeit, Hilflosigkeit und Wut. Es kommt zu Reaktionen, wie „Das kann doch nicht wahr sein, da hat sich jemand geirrt“ oder „Das passiert mir doch nicht“. Das von den Eltern gezeigte Abwehrverhalten hat eine Schutzfunktion und lindert die emotionale Belastung der Betroffenen. Teilweise kommt es zum Rückzug aus dem sozialen Umfeld und zur Zurückhaltung gegenüber anderen Menschen, da die Eltern erst einmal mit der Situation zurechtkommen müssen. Bei vielen Betroffenen zeigt sich ein fokussiertes Denken oder sie sind wie benommen. Im Kontakt mit ihnen fällt auf, dass sie häufig nicht zuhören können, Gesagtes vergessen oder sich häufig rückversichern und nachfragen. 2. Phase (Wut, Schmerz): In dieser Phase kommt häufig das Gefühl der Ungerechtigkeit auf: „Warum gerade ich?“ Oder es wird – ungerechtfertigte – Kritik geäußert („Das wäre nicht passiert, wenn [...]“) bzw. gegenüber Ärzten, Pflegefachkräften, Therapeuten, Familie und Freunden feindlich reagiert. Manche Betroffenen werden rastlos, können kaum schlafen oder haben Essstörungen. 3. Phase (Verhandeln): Die Eltern gehen eher oberflächlich auf Hilfs- und Therapieangebote ein. Sie wollen die bestmögliche Förderung für ihr Kind und suchen, um sich aus der Not zu befreien, auch nach alternativen Hilfsange-

boten, z. B. Heilpraktiker, religiösen Angeboten. 4. Phase (Depression): Hier findet eine erste Einsicht in den Verlust statt, teilweise kommt es zur Überforderung der Eltern. Sie versinken in einen stummen Schmerz. Als Folge der Konzentration auf das Kind fehlt es den Betroffenen oft an Zeit für die eigene Beziehung. Es kann aber auch zur Verstärkung des Gefühls von Nähe bei den Eltern kommen. 5. Phase (Annehmen): In der letzten Phase kommt es zur Annahme, d. h., die Eltern erkennen für sich einen Sinn. Es findet meist eine völlig neue Werteordnung statt. Sie sind zufrieden mit dem, was noch bleibt. Es stellen sich Gefühle des inneren Friedens und der Gelassenheit ein, die neue Handlungsspielräume eröffnen.

Merke

H ●

Es kann Wochen bis Jahre dauern, bis die Diagnose des Kindes von den Eltern bzw. der Familie akzeptiert wird. In dieser Phase ist das Abwehrverhalten der Betroffenen sehr groß. Die Aufgabe von Pflegenden ist es, die Familien individuell zu begleiten sowie den spezifischen Beratungsbedarf zu erkennen, um eine optimale Bewältigung der für die Familien schwierigen Situation zu ermöglichen.

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Eine Orientierung bezogen auf mögliche Beratungsangebote können einerseits die beschriebenen Bewältigungsphasen, andererseits die im Folgenden dargestellten Bewältigungsstrategien betroffener Eltern sein. Oberparleiter et al. (2009) beschreiben folgende Bewältigungsstrategien von Eltern kranker Kinder, welche sich vorwiegend positiv auf die Lebensqualität der Betroffenen auswirken: ● Suche nach sozialer Einbindung ● Streben nach familiärem Zusammenhalt ● Suche nach Informationen und Erfahrungsaustausch ● offene krankheitsspezifische Kommunikation ● Bewahren von Optimismus ● Suche nach Halt in der Religion oder Spiritualität, das Gute in den Dingen zu sehen ● Erhalt von Selbststabilität ● Verstehen der medizinischen Situation des Kindes In der Literaturstudie von Oberparleiter et al. (2009) wurde deutlich, dass Mütter und Väter teilweise unterschiedliche Bewältigungsstrategien nutzen. Bei Vätern

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Erleben und Bewältigen von Gesundheitsstörungen wirkt sich problembezogenes Coping positiv auf den Disstress (lang andauernder, starker Stress) aus, wohingegen bei den Müttern diese Bewältigungsstrategie eher zu einem erhöhten Maß an Disstress führt. Negativ auf die Bewältigung wirkt sich bei beiden Elternteilen geringe soziale Unterstützung, ein fehlender Familienzusammenhalt und Familienstress aus.

Definition

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Unter problembezogenem Coping ist die Veränderung des Stressors oder der Bezug dazu, mithilfe direkter Handlungen und/oder problemlösender Aktivität zu verstehen (Zimbardo, Gerrig 2016).

Eltern

a ●

Als „schwierig“ erlebte Eltern und Angehörige sollten immer im Kontext der Erkrankung und Behinderung ihres Kindes unter Berücksichtigung der ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen zur Bewältigung der belastenden Situation und der jeweiligen „Bewältigungsphase“ betrachtet werden. Nur so ist es Pflegenden möglich, die Familie in ihrem Bewältigungsprozess angemessen zu unterstützen.

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Selbsterleben bei chronischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter Für die Bewältigung einer chronischen Erkrankung stellen laut Schmitt (1996) das Erleben des eigenen Wertes als kranke Person und die subjektive Beurteilung der Möglichkeiten, das Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, wesentliche Einflussfaktoren dar. Das Selbstwerterleben und die Beurteilung der eigenen Kompetenzen hängen wiederum ab von: ● der Art der Erkrankung ● den individuellen und familiären Bewältigungsressourcen ● der aktuellen Entwicklungsphase des Patienten ● der Qualität der Beziehung, die das erkrankte Kind bzw. der Jugendliche zu dem betreuenden ärztlichen, pflegerischen und therapeutischen Personal hat Untersuchungen zeigen bei chronisch kranken Kindern und Jugendlichen eine durchschnittlich positive Einschätzung des Selbstwertes, trotz krankheitsbedingter psychischer und physischer Belastungen. Diese scheinbar ungewöhnlichen Er-

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Abb. 7.2 Krankheitsbewältigung. Die pflegerische Betreuung von chronisch kranken Kindern hat einen entscheidenden Einfluss auf die Krankheitsbewältigung (Symbolbild). (Foto: P. Blåfield, Thieme)

gebnisse lassen sich mit der Annahme der Selbstkonzeptforschung erklären, dass jeder Mensch in der Wahrnehmung der eigenen Person dazu tendiert, ein positives Selbstkonzept von sich zu erstellen. Dies trifft auch auf chronisch kranke Menschen zu. Es wird davon ausgegangen, dass bei optimalen ärztlichen, pflegerischen und therapeutischen Betreuungsbedingungen es chronisch kranken Kindern und Jugendlichen möglich ist, einen positiven Selbstwert aufrechtzuerhalten oder sich immer wieder mit Erfolg darum zu bemühen (▶ Abb. 7.2). ▶ Exkurs – Ansichten zum Leben. „Chronisch schwer erkrankte Menschen entwickeln offenbar schon in jungen Jahren die Fähigkeit, das Leben vom Ende her zu betrachten, und verspüren den Wunsch, im Heute zu leben und die Zeit zu nutzen. Für Gesunde ist dies eine eher ungewöhnliche Perspektive, weil sie ihr eigenes Leben stärker an der Zukunft orientieren“ (Schmitt 1996). Folgende Aussagen chronisch Kranker sind charakteristisch: ● „Mein Leben und ich sind Freunde geworden.“ 14-jähriger Patient mit septischer Granulomatose. ● „Man muss es genießen, jung zu sein, denn man ist ja die meiste Zeit im Leben alt.“ 11-jährige Patientin mit Mukoviszidose. ● „Ein gutes Leben gelebt zu haben ist nicht Sache der Jahre, die man zur Verfügung hat.“ 21-jähriger Patient mit Mukoviszidose.

Behinderte Kinder und Jugendliche Kinder mit Behinderungen haben die gleichen Bedürfnisse wie alle Kinder. Sie benötigen in bestimmten Bereichen spezielle Unterstützung und zeigen zum Teil nicht altersgemäße Abhängigkeiten in den Aktivitäten des täglichen Lebens. Zusätzlich haben sie mit sozialen Auswir-

kungen zu kämpfen, die nicht selten ebenfalls behindern. Die Reaktionen der Betroffenen auf die Behinderung sind abhängig von ihrem Alter, ihrem Entwicklungsstand, ihrer eigenen psychischen Verfassung, ihren Bewältigungsmechanismen, aber auch von den Erfahrungen, die sie mit anderen Menschen machen. In der eigenen Familie findet ein behindertes Kind bei entsprechender Akzeptanz Schutz, Sicherheit und Toleranz und kann ein weitgehend unbeeinträchtigtes Leben führen. Bei Außenkontakten wie Freizeitaktivitäten, in Kindergarten, Schule und Beruf oder bei der Partnersuche kann ein Kind oder ein Jugendlicher seine Behinderung deutlicher empfinden, weil ihm vielleicht Vorurteile und diskriminierendes Verhalten entgegengebracht werden. Ein wichtiger gesellschaftlicher Schritt für mehr Akzeptanz und Verständnis von behinderten Menschen ist die Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen in Deutschland seit 2009. Mit der Unterzeichnung der UN-Konvention wurde der freie Zugang und somit das Recht aller Kinder (unabhängig vom Grad ihrer Behinderung) zu einem inklusiven Schulsystem zum Bundesgesetz. Seitdem steigt der Inklusionsanteil in Deutschland stetig. Fast jedes dritte Kind mit Förderbedarf besucht eine Regelschule. Laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung von 2015 besuchten im Schuljahr 2008/09 18,4 % der Schüler mit Förderbedarf eine Regelschule im Schuljahr 2013/14 waren es 31,4 % (Klemm 2015).

Definition

L ●

Inklusion bedeutet vollständige gesellschaftlich gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung (Wulff 2011, in: Klemm 2015).

In einem inklusiven Bildungssystem geht es nicht darum, Kinder und Jugendliche mit einem Handicap und einem daraus resultierenden Förderbedarf „in ein bestehendes System zu integrieren. Vielmehr müssen die Systeme von Beginn an so gestaltet werden, dass sie sich den verschiedenen Bedürfnissen von Kindern flexibel anpassen können und jedem Kind die Möglichkeit geben, sein individuelles Potenzial zu entfalten. Der Begriff der Inklusion geht damit weit über den Begriff der Integration hinaus“ (Wulff 2011, in: Klemm 2015) (▶ Abb. 7.3).

7.2 Leben mit chronischer Krankheit und Behinderung

Exklusion

Integration

Inklusion

Abb. 7.3 Exklusion, Integration, Inklusion.

Rolle der Pflegenden Laut einer Untersuchung des Instituts für Soziale Pädiatrie und Jugendmedizin der LMU München fühlen sich Familien mit chronisch kranken Kindern und Jugendlichen oft nicht ausreichend unterstützt und informiert; dabei mangelt es nicht nur an Informationen über die Krankheit und ihre Konsequenzen, sondern auch an psychologischer Hilfe und Unterstützung der Familien (Nehring et al. 2015). „Eine Schlüsselrolle in der Unterstützung betroffener Familien kommt der professionellen Kinderkrankenpflege zu, die häufig unmittelbar und den intensivsten Kontakt zu den Familien hat. Im stationären Bereich (z. B. Zentren für Kinderund Jugendmedizin, pädiatrischen Intensivstationen, Rehabilitationskliniken) sind es insbesondere Aufgaben der emotionalen Unterstützung sowie Information, Schulung und Beratung“ (Büker 2016). Nicht nur im stationären Bereich werden Pflegefachkräfte mit der Herausforderung der Betreuung und Begleitung einer Familie mit einem behinderten oder chronisch kranken Kind konfrontiert, sondern auch im ambulanten Bereich. Pflegende sollten bei der Begleitung betroffener Familien von Anfang an die gesamte Familie in den Blick nehmen. Unterstützungsangebote für die betroffenen Familien sind neben der Information, Schulung und Beratung der Eltern auch die Förderung des familiären Zusammenhaltes und eine emotionale Begleitung. Weiterhin können Pflegende Kontakte zu Selbsthilfegruppen (Kap. 5.5.11) oder Beratungsstellen herstellen, den Eltern bei Pflegebegutachtungen durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherungen (MDK) zur Seite stehen oder Informationen zu möglichen professionellen Unterstützungsangeboten durch z. B. Leistungen ambulanter Pflegedienste geben.

Bachmann (2010) stellt in einer Untersuchung zur Situation von Familien mit chronisch kranken Kindern fest, dass für die betroffenen Familien das oberste Ziel „Normalität“ lautet.

Merke

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Das Ziel pflegerischer Beratung sollte dementsprechend die Normalisierung des Familienalltags sein.

Gemeinsam mit der gesamten Familie müssen Lösungen erarbeitet werden, die der Familie einen selbstständigen Umgang mit der Situation ermöglichen und genau auf die Bedürfnisse der jeweiligen Familie abgestimmt sind. Eltern chronisch kranker Kinder benötigen v. a. Informationen, welche die Familie entlasten und die Möglichkeiten für das erkrankte Kind optimieren. Die Eltern wünschen sich eine individuelle und wertschätzende Begleitung und Beratung sowohl in gesundheitlichen Fragen als auch in erzieherischer und sozialpsychologischer Sicht, so Bachmann (2010). Behinderte und chronisch kranke Kinder brauchen eine kompetente, kreative und fantasievolle Pflege. Sie brauchen einfühlsame Pflegende mit hoher sozialer Kompetenz. Insbesondere beim Begriff Behinderung zeigen sich viele Schattierungen. In erster Linie werden jedoch „Einschränkung“, „Verlust einer Funktion, der vollen Leistungsfähigkeit“, „etwas nicht tun können“, „nicht einer gängigen Norm entsprechend“ und andere defizitund problemorientierte Sichtweisen damit assoziiert. Diese Bilder im Kopf prägen teilweise unser Verständnis von Pflege, können in konkreten Pflegehandlungen und bei zwischenmenschlichen Begegnungen zum Ausdruck kommen. Pflegen-

de, die mit behinderten Kindern arbeiten, sollten sich deshalb mit den eigenen Gefühlen, Einstellungen, Haltungen und Vorurteilen auseinandersetzen mit dem Ziel, einen eigenständigen reflektierten Standpunkt zu finden, um eine professionelle Unterstützung der betroffenen Kinder und deren Familien zu gewährleisten.

Merke

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H ●

Ein Perspektivenwechsel – weg von der defizitorientierten hin zur fähigkeitsorientierten Sichtweise – eröffnet neue Chancen und Wege für betroffene Kinder, deren Familien und Pflegende.

Lernaufgabe

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1. Finden Sie Beispiele für erkrankungsbedingte und behandlungsbedingte Belastungen, die sich konkret aus bestimmten chronischen Erkrankungen ergeben können. 2. Welche Faktoren können sich positiv bzw. negativ auf die psychosoziale Situation einer Familie mit einem behinderten oder chronisch kranken Kind auswirken? 3. Welche Schlussfolgerungen ergeben sich für den Umgang mit Familien von behinderten und chronisch kranken Kindern?

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Erleben und Bewältigen von Gesundheitsstörungen

Barrieren aufseiten der Betreuer: Hemmungen, die Patienten abzugeben ● Unsicherheit und mangelnde Vorbereitung auf den Umgang mit diesem Thema ● Unsicherheit über den adäquaten Zeitpunkt ● Zeitmangel (mangelnde Planung, fehlende interdisziplinäre Absprachen, Kennenlernen neuer Patienten mit oft lang andauerndem, komplexem Krankheitsverlauf ist sehr aufwendig) ● Mangel an Spezialisten im Erwachsenenbereich

Daniela Schütz

7.3.1 Auswirkungen von Krankenhausaufenthalten Ein Kind, das ins Krankenhaus muss, wird mit den unterschiedlichsten Krankenhaussituationen konfrontiert. Einige Situationen im Krankenhaus sind belastend, weil sie ungewohnt oder neu sind, z. B. die vielen fremden Menschen, die ungewohnten Geräusche oder Gerüche, die langen Flure. Allerdings werden Ungewohntes und Neues erst dann für ein krankes Kind zum Problem, wenn es keine Möglichkeit erhält, Fragen zu stellen. Krankheit und Krankenhausaufenthalt erhalten für ein Kind v. a. dadurch ihre Bedeutung, was ihre Eltern/Bezugspersonen ihnen darüber mitteilen.

Fallmanagement

1. Transitionsgespräch



Strukturierte Epikrise

m en sen h c a Er w

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7

7.3 Kinder und Jugendliche im Krankenhaus

iz i

Aufgrund der verbesserten medizinischen und technologischen Versorgung von chronisch erkrankten Kindern und Jugendlichen mit einer schlechten Prognose in der Vergangenheit ergibt sich aktuell ein stetig wachsender Bedarf an Transition. Mit dem Erreichen der Volljährigkeit von chronisch kranken Jugendlichen steht der Wechsel bzw. die Überleitung in ein erwachsenenorientiertes medizinisches und pflegerisches Versorgungssystem an. Vier von zehn Jugendlichen haben während dieser Zeit massive Probleme. Sie gehen nach dem Wechsel seltener zum Arzt oder fallen komplett aus der spezialisierten Betreuung, womit eine adäquate medizinische Betreuung nicht mehr gewährleistet ist (van Walleghem N, MacDonald CA et al. 2006, in: Findorff 2014). Findorff (2014) benennt folgende Transitionsbarrieren, welche eine erfolgreiche Überleitung von chronisch kranken Jugendlichen in ein erwachsenenorientiertes Versorgungssystem behindern: Barrieren aufseiten der Betroffenen: ● Widerstand der Jugendlichen und der Familie (Selbstständigkeitsentwicklung) ● starke Bindung an vertraute Betreuer und Institutionen ● Ablehnung des ungewohnten Betreuungsklimas

Transitionsbereitschaft In der zweiten Phase erfolgt der Wechsel in die Erwachsenenmedizin. Hier erfolgt eine strukturierte Epikrise an die weiterbetreuenden Personen, d. h., der bisherige Krankheitsverlauf und die damit zusammenhängenden medizinischen Maßnahmen werden zusammengefasst und interpretiert. Es wird davon ausgegangen, dass eine stabile Einbindung in das Erwachsenensystem nach zwölf Monaten abgeschlossen ist. Während des gesamten Prozesses steht dem Patienten ein Fallmanager (S. 142) als Ansprechpartner zur Verfügung; dieser plant, koordiniert und organisiert alle Maßnahmen und vermittelt zwischen allen Beteiligten (Findorff 2014, Harth 2014).

Abschlussgespräch

„Die American Society for Adolescent Medicine definiert Transition als einen zielgerichteten und geplanten Übergang von Adoleszenten und jungen Erwachsenen mit chronischen physischen und medizinischen Beeinträchtigungen von einer kindzentrierten zu einer an Erwachsenenbedürfnissen orientierten Gesundheitsbetreuung“ (Harth 2014).



Fallkonferenz

L ●



Gemeinsame Sprechstunde

Definition

Strukturelle/systemische Barrieren: ● keine allgemeine Transitionstradition, diese beschränkt sich aktuell auf wenige, lokale Initiativen, keine strukturierten und strukturierenden Instrumente ● keine Sicherung der Nachhaltigkeit (Fallmanagement) ● keine Finanzierung zusätzlicher Transitionsleistungen; Vorbereitung, Assessment, Fallmanagement (S. 142) ● Wie Transition unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Barrieren optimiert werden kann, zeigt das „Berliner Transitionsprogramm“ der DRK-Kliniken Berlin (▶ Abb. 7.4). Hier wird seit 2009 eine bestimmte Gruppe Jugendlicher mit chronischer Erkrankung in der Übergangszeit zur Erwachsenenmedizin zielgerichtet und strukturiert begleitet. Dies erfolgt über einen Zeitraum von ca. 2–3 Jahren und ist in 2 Phasen gegliedert. ● In der Vorbereitungsphase vor dem Übergang in die Erwachsenenmedizin zwischen dem 16. und 18. Lebensjahr werden die Jugendlichen noch komplett in der Kinder- und Jugendmedizin versorgt. Hier erfolgen Transitionsgespräche, welche auch in der zweiten Phase fortgesetzt werden. Ziel dieser Gespräche ist es, den Entwicklungsstand des Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen zu erfassen, und es erfolgt eine gemeinsame Einschätzung des noch notwendigen Unterstützungsbedarfes. In diesen Gesprächen werden systematisch fünf Lebensbereiche behandelt, welche als wesentlich für eine erfolgreiche Transition gelten: ● Wissen über Krankheit, Behandlung, Gesundheit ● soziale Kompetenzen und Umfeld ● Zukunftsplanung ● Kenntnisse über das Gesundheitssystem

2. Transitionsgespräch

Transition von chronisch kranken Jugendlichen

ed

Transfer n ndmedizi Kinder- und Juge

Abb. 7.4 Ablauf der Transition im BTP. (Abb. aus: Findorff J. Das Berliner TransitionsProgramm. Strukturkonzept. In: JuKiP 2014; 181–184, DOI: 10.1055/s-0034-1386731)

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7.3 Kinder und Jugendliche im Krankenhaus Für ein krankes Kind wird die Situation zunehmend bedrückend, wenn es miterlebt, wie die eigenen Eltern belastet sind. Kinder erspüren auf ganz unterschiedliche Weise die Sorgen der Eltern. Diese können zwar ihren Kindern etwas vorenthalten, sie täuschen oder belügen, aber ihre eigenen Belastungen können sie nicht verheimlichen. Dabei ist es für Kinder nicht nur wichtig, was ihre Eltern/Bezugspersonen über die Situation im Krankenhaus sagen, sondern wie sie es sagen.

Kurzfristige Auswirkungen Die Reaktionen, die bei Kindern durch einen Krankenhausaufenthalt entstehen, sind sicherlich sehr unterschiedlich und auch alters- und situationsabhängig zu sehen. Es lassen sich dennoch 3 typische Phasen als Reaktion auf einen Krankenhausaufenthalt ausmachen: ▶ Protest. Die Kinder versuchen, sich mit Händen und Füßen gegen die Einweisung in ein Krankenhaus zu wehren. Dies kann auch durch aggressive Formen des Wehrens deutlich werden, indem die Kinder z. B. wild um sich schlagen, laut protestieren oder sich fest an Eltern/Bezugspersonen oder auch Pflegefachkräfte klammern. Meist haben die Kinder Angst vor der neuen Situation, davor, allein gelassen zu werden und „sich hilflos“ zu fühlen. ▶ Resignation/Regression. Dem Protest folgt die Phase der Resignation. Die Kinder haben aufgehört sich zu wehren, da die Situation scheinbar ausweglos erscheint. Dies zeigt sich z. B. durch apathisches Liegen im Bett, die Kinder sind meist zurückgezogen und wenig gesprächsbereit. Auch depressives Verhalten ist in dieser Phase möglich und kann sich bei den Kindern in unterschiedlicher Weise zeigen. Manche vergehen in Selbstmitleid oder starren wie abwesend aus dem Fenster oder ziehen sich immer weiter in sich zurück (Charlier 2001). Vor allem die Regression ist ein im Krankenhaus übliches Abwehrverhalten gegen Ängste, Überforderung und Anspannung. Häufig wird noch unbewusst vonseiten der Pflegefachkräfte regressives Verhalten gefördert und unterstützt, indem z. B. die Pflegefachkraft Pflegemaßnahmen übernimmt, die das Kind eigentlich selber machen könnte. Problematisch ist es, wenn Kinder oder Jugendliche wieder selbstständiger werden, aber trotzdem in der Regression verharren. Heilungsprozesse können dann stagnieren, Fortschritte erlahmen und die Kinder/Jugendlichen können anfälliger für weitere Erkrankungen werden (Schaub 2001).

▶ Scheinbare Anpassung. Bei längeren Krankenhausaufenthalten bleibt den Kindern häufig keine andere Wahl, als sich den Umständen anzupassen. Nach der Protest- und Resignationsphase versuchen sie nun, das Beste aus der Situation zu machen, und werden wieder ansprechbar. Sie sind bereit, sich auf das Kommende einzulassen, und wirken entspannter und gelöster. Allerdings ist die scheinbare Anpassung ein problematischer Zustand, der sich zunächst durch Wohlverhalten der Kinder darstellt, wobei sich aber hinter der Fassade ein anderes Bild, das der Enttäuschung und Verletzung, zeigt.

Merke

H ●

Wenn sich die Verhaltensform der scheinbaren Anpassung bei den Kindern zeigt, ist es ganz wesentlich und von großer Bedeutung, auf diese Form der Verhaltensäußerung durch Gesprächsbereitschaft und Kontaktaufnahme vonseiten der Pflegefachkräfte zu reagieren, um eine Verschlechterung der psychischen Situation des Kindes zu verhindern (Charlier 2001).

Langfristige Auswirkungen Es zeigt sich häufig, dass krankenhausgeschädigte Kinder häufig zu Hause unter Schlafstörungen (Albträumen) leiden und auch Veränderungen bei der Nahrungsaufnahme zeigen. Zudem kommen Niedergeschlagenheit und Ängstlichkeit hinzu. Ebenso auffällig ist, dass Kinder, die vor einem Klinikaufenthalt in der „Sauberkeitserziehung“ bereits „trocken“ waren, plötzlich wieder einnässen oder einkoten. Diese Auswirkungen sind allerdings nur vorübergehende Folgen. Typische Langzeitschäden können z. B. Gefühlsarmut, Unkonzentriertheit, Unsicherheit und Misstrauen sein.

Handlungsmöglichkeiten Negative Folgen eines Krankenhausaufenthaltes haben auf Elternseite dazu geführt, mehr Forderungen bezüglich der Pflege ihrer Kinder zu stellen und aktiver in den Prozess der Betreuung miteinbezogen zu werden. Dieses sog. Rooming-in ist mittlerweile in der Bundesrepublik so gut wie in allen Krankenhäusern eingeführt und gehört somit zum Standard. Damit verbunden sind auch die mittlerweile weit verbreiteten freien Besuchszeiten. Durch das Rooming-in sind positive Auswirkungen auf den Gesundheitsprozess des Kindes zu beobachten. Das Gefühl des Aufgehobenseins und der Sicherheit durch

Eltern und Bezugspersonen setzt positive Kräfte für den Gesundungsprozess frei.

Merke

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Die wichtige Zusammenarbeit zwischen Pflegefachkräften und Eltern geschieht ausschließlich zum Wohle des Kindes und sollte auch so verstanden werden, denn schließlich wissen Eltern am ehesten, was für ihr Kind das Beste ist. Daher werden und sollten Eltern auch von Pflegefachkräften als Helfer und nicht als Konkurrenz gesehen werden (Willig 2001).

7.3.2 Bedürfnisse von Kindern im Krankenhaus Was alle Kinder jeder Altersgruppe, ob Säugling oder Jugendlicher, bei einer Aufnahme ins Krankenhaus benötigen, sind sicher die Begleitung und Betreuung ihrer Eltern oder Bezugspersonen. Das beginnt bereits mit der Fahrt ins Krankenhaus und endet bei der Entlassung. Nicht jedes Kind benötigt die Mitaufnahme eines Elternteils bei einer stationären Aufnahme, aber was es auf jeden Fall braucht, ist das Gefühl der Geborgenheit durch die Eltern oder eine wichtige Bezugsperson wie die Oma oder den Opa, die Freunde oder die Verwandtschaft. Gerade die ersten Stunden und Tage sind im Krankenhaus besonders wichtig, um den Kindern beizustehen und ihre Ängste zu lindern. Die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen müssen im Pflegealltag auf den Stationen alters- und entwicklungsbezogen Berücksichtigung finden. Um den Bedürfnissen eines Kindes bei einer stationären Aufnahme in ein Krankenhaus Rechnung zu tragen, sind folgende Dinge zu beachten (Schweizer Verband Kind & Spital 2002): ● Kinder sollten immer auf einer Kinderstation und nicht auf einer Erwachsenenstation aufgenommen werden. ● Kinderstationen sollten kindgerecht eingerichtet sein. ● In den individuellen Behandlungsplänen der Kinder sollten sowohl physische als auch psychische Entwicklungsstadien der Kinder Berücksichtigung finden. ● Nach Möglichkeit sollten Kinder gleicher Altersgruppe bzw. gleichen Entwicklungsstands unter Berücksichtigung ihrer individuellen Bedürfnisse und Aktivitäten gemeinsam betreut und gepflegt werden. ● Jugendliche benötigen Beschäftigungsangebote in Aufenthaltsräumen, die un-

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Erleben und Bewältigen von Gesundheitsstörungen









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abhängig von den Ruhebedürfnissen kleinerer Kinder genutzt werden können. Eine Trennung von Kindern bezüglich ihrer kulturellen Besonderheiten ist zu vermeiden. Kinder und Jugendliche, bei denen eine Aufnahme auf einer speziellen Erwachsenenstation erforderlich wird, sollten dort von pädiatrisch ausgebildeten Pflegefachkräften betreut werden und möglichst zeitnah wieder in die entsprechende Kinderabteilung verlegt werden. Falls eine langfristige Aufnahme auf einer Erwachsenenstation erforderlich wird, sollte dafür Sorge getragen werden, dass die Kinder in räumlich getrennten Zimmern von Erwachsenen gepflegt und betreut werden. Kommen Geschwister oder Freunde der Kinder zu Besuch, sollte ihnen ein altersunabhängiges Besuchsrecht eingeräumt werden, sofern es der Zustand des Kindes im Krankenhaus oder die Gesundheit der besuchenden Kinder erlaubt. Besuchende Kinder sollten nach Absprache mit den Pflegefachkräften auch die Spieleinrichtungen im Krankenhaus mitnutzen dürfen.

Verschiedene Schwerpunkte Sieben Schwerpunkte spiegeln die Bedürfnisse von Kindern im Krankenhaus wider (▶ Abb. 7.5). Sie sind als übergeordnete Begriffe der Bedürfnisse von Kindern zu verstehen und haben keinen Anspruch auf

Vollständigkeit. Sie sind angelehnt an die Punkte der EACH-Charta (S. 183). ▶ Kindgemäße pflegerische Betreuung. Die kindgemäße pflegerische Betreuung wird von ausgebildeten Gesundheits- und Kinderkrankenpflegern gewährleistet. Im Rahmen ihrer Ausbildung ist es ein wesentlicher Bestandteil, die Bedürfnisse gesunder und kranker Kinder jeder Altersgruppe zu erkennen, die Persönlichkeitsentwicklung jedes Kindes, den Entwicklungsstand und letztlich den individuellen Pflegebedarf, der sich aus der vorliegenden Erkrankung ergibt. Besonders bedeutend ist bei der Umsetzung der kindgemäßen pflegerischen Betreuung die fachliche, personale, soziale und methodische Kompetenz der Pflegefachkraft. ▶ Pädiatrische Betreuung durch ein Behandlungs- und Pflegeteam. Zum medizinischen Behandlungsteam zählen neben den Pflegefachkräften auch die Ärzte sowie speziell ausgebildete Berufsgruppen, z. B. Psychologen, Pädagogen, Ergotherapeuten, Logopäden, Seelsorger und Erzieher. Für die medizinische Versorgung der Kinder und Jugendlichen in den unterschiedlichen Kinderabteilungen und Kinderfachabteilungen stehen Pädiater zur Verfügung, die, ggf. auch gemeinsam, in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit weiteren Fachärzten die Behandlung der kleinen Patienten gewährleisten. Die psychosoziale Betreuung ist ebenfalls ein wesentlicher Bestandteil des Behandlungsteams und wird nach Möglichkeit von dem zuständigen Fachpersonal abgedeckt. Die enge Zusammenarbeit dieses Fachper-

Kontakt zu anderen Familienkontakt beibehalten

kindgerechter Speiseplan

kindgemäße pflegerische Betreuung Bedürfnisse von Kindern im Krankenhaus

kindgerechte Beschäftigung

pädiatrische Betreuung durch ein Behandlungsund Pflegeteam

kinderfreundliche Umgebung

Abb. 7.5 Kinder im Krankenhaus. Ihre Bedürfnisse lassen sich in 7 Schwerpunkte aufschlüsseln.

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sonals mit Eltern und Kindern ist während eines Krankenhausaufenthaltes unabdingbar und wirkt familienunterstützend und begleitend. ▶ Kinderfreundliche Umgebung. Die kranken Kinder und Jugendlichen sollten in ihrer unmittelbaren Umgebung eine kindgerechte Einrichtung in Form eines Spielzimmers oder geeigneter Aufenthaltsräume mit entsprechendem Mobiliar und altersgerechten Beschäftigungsmöglichkeiten vorfinden. Die baulichen Gegebenheiten eines Krankenhauses sollten insofern gegeben sein, dass eine großzügige Gestaltung der Räume für die kranken Kinder gewährleistet ist, sodass auch Kinder, z. B. mit Gehhilfen oder Rollstühlen, ausreichend Platz zur spielerischen Entfaltung haben. ▶ Kindgerechte Beschäftigung. Die kindgerechte Beschäftigung sollte alters- und entwicklungsangemessen ausgerichtet sein, sodass sowohl für Säuglinge als auch für Klein- und Schulkinder sowie für Jugendliche, bis zu jungen Erwachsenen, ein ausreichendes Angebot zur Verfügung steht. Die Betreuung der ganz kleinen Patienten muss über entsprechende Pflegefachkräfte sichergestellt sein, hingegen kann die Altersgruppe der Kindergartenkinder durch Fachpersonen, z. B. Erzieher, betreut und beschäftigt werden. Gerade bei langfristigen Aufenthalten sollten Jugendliche und junge Erwachsene die Möglichkeit der Beschäftigung in Form von Schulbildung erhalten. Hierfür sind ausgebildete Lehrer die wünschenswerten Fachpersonen. ▶ Kindgerechter Speiseplan. Bei längerem stationärem Aufenthalt spielt die Ernährung eine zunehmend wichtige Rolle. Kinder sind häufig in ihrer Akzeptanz und Auswahl der Nahrungsmittel sehr wählerisch und lassen auch selten Veränderungen bezüglich ihrer Gewohnheiten zu. Daher ist es wichtig, den Bedürfnissen der Kinder bezüglich ihrer bisherigen Essensgewohnheiten nachzukommen und darauf zu achten, dass die Ernährung ausgewogen und den Wünschen der Kinder entsprechend ist (▶ Abb. 7.6). Nicht nur das „Was“ des Essens, sondern genauso wichtig ist auch das „Wie“, die Art der Anreichung bzw. der Darreichung (das Auge isst schließlich mit). Wünschenswert wäre es, wenn es für Kinder spezielle Kindermenüs gäbe, die zur Auswahl stünden und auf den Kinderstationen vorhanden sind. Bei der Auswahl der Nahrungsmittel sollte auch auf vorgeschriebene Diäten, religiöse Gebote oder kulturelle Vorlieben Rücksicht genommen werden. Die vorgeschriebenen Essenszeiten sollten ebenfalls durch individuelle Bedürfnisse gelo-

7.3 Kinder und Jugendliche im Krankenhaus hingegen z. B. um eine schwerwiegende chronische Erkrankung, können der Rat und die Hilfe durch psychosoziale Betreuung wichtiger sein. Es zeigt sich, dass die individuellen Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen unterschiedlich stark gewichtet gesehen und auch verstanden werden und dementsprechend auch unterschiedliche Folgen bei Nichtbeachten haben können.

Abb. 7.6 Kindgerechter Speiseplan. Unterstützung beim Essen (Symbolbild). (Foto: Dron – stock.adobe.com)

ckert gesehen werden, sodass es den Kindern freisteht, wann sie ihre Nahrung zu sich nehmen. ▶ Familienkontakt beibehalten. Die Unterstützung und Aufrechterhaltung des familiären Kontaktes der Eltern, Geschwister und anderer Bezugspersonen zum kranken Kind spielen bei einem stationären Aufenthalt eine wichtige Rolle. Die Möglichkeit der kostenlosen Mitaufnahme eines Elternteils oder einer Bezugsperson muss gewährleistet sein, sodass das kranke Kind auch die nötige und gewohnte Unterstützung während des Krankenhausaufenthaltes erhält. Der Kontakt zu Freunden und anderen sozial nahen Gruppen ist hiermit auch eingeschlossen, da auch diese Unterstützung einen besonderen Stellenwert hat. ▶ Kontakt zu anderen Patientenkindern. Im Punkt 6 der „EACH-Charta“ (S. 183) heißt es: „Kinder sollen gemeinsam mit Kindern betreut werden, die von ihrer Entwicklung her ähnliche Bedürfnisse haben.“ Dieser Aspekt spielt gerade bei einer längerfristigen Aufnahme auf einer Kinderstation eine bedeutende Rolle. Besonders der Kontakt zu gleichgesinnten Kindern ist wichtig, da sie sich gegenseitig eine Hilfe sein können, um die eigene Krankheit zu begreifen und zu verarbeiten. Der Austausch über gesammelte Erfahrungen kann den gesamten Aufenthalt eines kranken Kindes deutlich erleichtern.

Individuelle Bedürfnisse Die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen im Krankenhaus haben sicherlich zu unterschiedlichen Zeitpunkten und Situationen auch unterschiedliche Prioritäten. Befindet sich ein Kind z. B. in einer lebensbedrohlichen Situation, sind die Bedürfnisse nach bester medizinischer und pflegerischer Versorgung und Betreuung durch ein kompetentes Behandlungs- und Pflegeteam vordergründig. Handelt es sich

Merke

H ●

Es sollte das Bemühen aller an der Behandlung beteiligten Personen sein, nach den Bedürfnissen der Kinder zu suchen, sie ernst zu nehmen sowie das Anliegen von Eltern und Angehörigen zu respektieren und sich für die Familienbelange einzusetzen (Schweizer Verband Kind & Spital 2002).





zu dienen und ihr Wohlergehen zu fördern. Die in der EACH-Charta aufgeführten Rechte gelten für alle kranken Kinder, unabhängig von ihrer Erkrankung, ihrem Alter oder einer Behinderung, ihrer Herkunft oder ihrem sozialen oder kulturellen Hintergrund. Ebenso gelten sie unabhängig von anderen möglichen Gründen der Behandlung, der Art oder des Ortes der Behandlung, sowohl für stationär als auch für ambulant behandelte Patienten. Die EACH-Charta ist im Einklang mit entsprechenden und verbindlichen Rechten, die im „Übereinkommen über die Rechte des Kindes (UN-Kinderkonvention)“ vom 20. November 1989 vereinbart sind und die sich auf Kinder und Jugendliche im Alter von 0 – 18 Jahren beziehen.

Merke Welche weiteren Bedürfnisse fallen Ihnen noch ein, die Kinder im Krankenhaus haben könnten und die das pflegerische Handeln beeinflussen?

H ●

Das Recht auf bestmögliche Behandlung ist ein fundamentales Recht, besonders für Kinder.

7

7.3.3 EACH-Charta Die „Charta für Kinder im Krankenhaus“, die sog. EACH-Charta, beschreibt in 10 Punkten die Rechte aller Kinder vor, während und nach einem Krankenhausaufenthalt (▶ Abb. 7.7). Ziel von EACH (European Association for Children in Hospital, das anlässlich der 1. europäischen Konferenz im Mai 1988 in Leiden/NL verabschiedet wurde) und seinen Mitgliedsorganisationen ist es, diese Rechte in den Ländern Europas in verbindlicher Weise umzusetzen. Eltern, politisch Verantwortliche und alle an der Betreuung kranker Kinder Beteiligten sind aufgerufen, sich mit Unterstützung, Betreuung, den nötigen Rahmenbedingungen und v. a. mit den Rechten von Kindern im Krankenhaus vertraut zu machen und sich dafür einzusetzen, im Einklang mit diesen Rechten zu handeln. Die Erläuterungen zur EACH-Charta wurden anlässlich der 7. EACH-Konferenz im Dezember 2001 in Brüssel verabschiedet und deren deutschsprachige Fassung vom AKIK-Bundesverband (Aktionskomitee Kind im Krankenhaus, Oberursel) im Juni 2002 erstellt. Sie sollen der hilfreichen Unterstützung, als Anhang der Charta, dienen. Die EACH-Charta und die Erläuterungen der EACH-Charta sind vor folgendem Hintergrund zu verstehen (www.akik.de): ● Alle in der EACH-Charta beschriebenen Rechte und alle daraus abzuleitenden oder zu treffenden Maßnahmen haben in erster Linie den Interessen der Kinder

7.3.4 Unterstützungsstrategien Jeder Krankenhausaufenthalt stellt für ein Kind bzw. einen Jugendlichen eine große Belastung dar. Dem jungen Patienten wird eine Reihe von Einschränkungen auferlegt, denen er nicht ausweichen kann und die er als Zwang erleben muss: Diät, Bettruhe, evtl. Infusionen oder Einnahme von Medikamenten, um nur einige zu nennen. Um den Kindern den Krankenhausaufenthalt so angstfrei wie möglich zu machen, bietet es sich an, die Neugier der Kinder zu nutzen und sie schon im Vorfeld auf das Krankenhaus vorzubereiten. Ein vorheriger Besuch des Krankenhauses, bei dem es sich die Räumlichkeiten anschauen und auch Dinge ausprobieren kann, sind sicher eine sinnvolle Möglichkeit das Interesse der Kinder zu wecken und sie so kindgerecht darauf vorzubereiten (Willig 2001).

Aufgaben der Pflegefachkräfte Die verantwortungsvolle Arbeit der Pflegefachkräfte beinhaltet folgende Aspekte: ● Aufgabe der Pflegefachkräfte muss es v. a. sein, verständnisvoll und einfühlsam auf die Kinder einzugehen und sie mit ihren Sorgen und Ängsten zu verstehen. ● Pathologische Verzögerungen der Resignationsphase müssen erkannt und eine

3

Erleben und Bewältigen von Gesundheitsstörungen raussetzungen der Pflegefachkräfte beschrieben, die zur optimalen Betreuung von kranken Kindern erforderlich sind: ● Jede Pflegefachkraft, die ein Kind im Krankenhaus pflegt und behandelt, muss für alle Aspekte der pflegerischen Praxis die erforderliche berufliche Kompetenz aufweisen. ● Die berufliche Qualifikation der Pflegefachkräfte umfasst auch Kenntnisse der körperlichen, seelischen und entwicklungsbedingten Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen aller Altersstufen. ● Die Pflegefachkräfte arbeiten kontinuierlich an der Qualität der geleisteten Arbeit. ● Die Pflegefachkräfte berücksichtigen in ihrer Arbeit die Bedürfnisse von Kindern und Eltern und passen sich ändernden Bedingungen an. ● Für die Pflegefachkräfte bestehen Ausund Weiterbildungsprogramme, um berufliche Kenntnisse und Fähigkeiten zu erweitern oder neu zu erwerben.

7

Praxistipp Pflege

Z ●

Die Organisation der täglichen Pflege hat sich an den Bedürfnissen des Kindes zu orientieren und nicht an den Bedürfnissen der Institution. Darüber hinaus bezieht die Organisation und Planung der Pflege die Beteiligung der Eltern/Bezugspersonen mit ein, was voraussetzt, dass diese von Anfang an entsprechend informiert wurden (Schweizerischer Verband Kind & Spital 2002).

Vorbereitung auf den Krankenhausaufenthalt Abb. 7.7 EACH-Charta. (Abb. von: APACHE–Pef–EACH)









184

schnelle Beendigung unterstützt werden. Besteht die Phase der Resignation über einen längeren Zeitraum weiter, so müssen evtl. weitere Mitarbeiter in die Unterstützung miteinbezogen werden. Fortschritte der Kinder müssen gelobt werden, um ihr Engagement zu fördern. Eindeutige kind- und entwicklungsgerechte Erklärungen können helfen, den Kindern klarzumachen, aus welchem Grund welche pflegerische Maßnahme erfolgt. Die Selbstständigkeit der kleinen Patienten muss, durch genaue Absprache im Team, gefördert werden.





Für die Kinder muss sich ausreichend Zeit genommen werden. Die Kinder müssen die Möglichkeit bekommen, auch eigene Spielsachen oder Kuscheltiere mitzubringen, um ein Stück Normalität mit ins Krankenhaus zu bringen (Schaub 2001; Charlier 2001).

Voraussetzungen der Pflegefachkräfte Die völlig unterschiedlichen emotionalen, körperlichen und seelischen Bedürfnisse von Kindern jeder Altersgruppe erfordern eine spezifische Ausbildung der Pflegefachkräfte. Im Folgenden werden die Vo-

Zur Vorbereitung auf einen Krankenhausaufenthalt gehören immer mindestens zwei Personen. Derjenige, der vorbereitet, meist die Eltern oder ein Erwachsener, und derjenige, der vorbereitet wird, das Kind. Die Vorbereitung auf einen Krankenhausaufenthalt ist in den meisten Fällen etwas Außergewöhnliches, also nichts Alltägliches und daher bedarf es vonseiten der Eltern großen Einfühlungsvermögens bei der Vermittlung von Informationen über das bevorstehende Ereignis.

Der richtige Zeitpunkt Der richtige Zeitpunkt für ein Kind ist immer genau dann, wenn es danach fragt. Ein ebenso günstiger Zeitpunkt bietet sich an, wenn im Verwandten- oder Freundeskreis ein Krankenhausaufenthalt ansteht, so lässt sich eine Brücke zur eigenen Situation besser schlagen. Um Kinder ganz all-

7.3 Kinder und Jugendliche im Krankenhaus gemein darauf vorzubereiten, ist es sinnvoll, die Fragen der Kinder zu jedem gegebenen Zeitpunkt wiederaufzugreifen, was allerdings voraussetzt, dass auch die Eltern selber gut vorbereitet sind. Der Zeitpunkt bis zur stationären Aufnahme spielt ebenfalls eine wesentliche Rolle. Die Kinder in kurzer Zeit mit Informationen überschütten zu wollen ist sicher keine gute Lösung, sondern verbreitet noch mehr Unsicherheit und belastet unnötig. Dosiert und portioniert lautet hier die Devise.

Eltern

a ●

Für die indirekte Vorbereitung ist immer der richtige Zeitpunkt, denn wann immer Eltern ihre Kinder dabei unterstützen, selbstständig zu werden, tragen sie automatisch dazu bei, dass Kinder frühzeitig lernen, Strategien zu entwickeln, mit unbekannten Situationen umzugehen.

Die Umsetzung Ganz konkret kann die Vorbereitung auf den Krankenhausaufenthalt so aussehen, dass zunächst vonseiten der Eltern oder Bezugspersonen Informationen über das Krankenhaus gesammelt werden, um das Kind vorbereiten zu können. Die Vorbereitung selbst muss nicht nur verbal geschehen. Sie kann auch über Kinderbücher, über Malen oder gemeinsames Basteln erfolgen, je nach Alter des Kindes. Der Kreativität sind hierbei keine Grenzen gesetzt. Ein Besuch in einer ähnlichen Einrichtung, z. B. einer Kinderarztpraxis oder einer Kinderklinik, runden eine optimale Vorbereitung gut ab. Diese Umsetzungsmaßnahmen sind sicher nur ein kleiner Auszug aus den vielfältigen Möglichkeiten, die es zur idealen Vorbereitung auf einen Krankenhausaufenthalt gibt. Besonders bei jüngeren Kindern genügen eine gute Vorbereitung alleine nicht, denn zwangsläufig fehlt bei aller guten Vorbereitung das eigentliche Krankheitsempfinden des Kindes. Und genau dieses Empfinden ist im Vorfeld nicht abzusehen und sicher alters- und situationsabhängig zu sehen.

Praxistipp Pflege

Z ●

Eine gute Vorbereitung auf einen Krankenhausaufenthalt ist immer nur als ein Teil des Ganzen zu sehen. Ein weiterer wesentlicher Teil ist die Anwesenheit einer vertrauten Person (Grotensohn 1999).

Lernaufgabe

M ●

Vertiefen Sie das Gelernte: 1. Welche kindlichen Bedürfnisse sind im Zusammenhang mit einem Krankenhausaufenthalt von Bedeutung und warum? 2. Wie kann aus pflegerischer Sicht den kurzfristigen wie auch den langfristigen Auswirkungen eines Krankenhausaufenthaltes entgegengewirkt werden? Welche Aufgaben kommen den Pflegefachkräften zu?

7

5

Erleben und Bewältigen von Gesundheitsstörungen

7

186

Kapitel 8 Familienorientierte Pflege und Betreuung

8.1

Definition Familie

188

8.2

Lebensformen in der Bevölkerung

188

8.3

Familienstrukturen im Wandel

189

8.4

Funktion der Familie

190

8.5

Pflegerische Aufgaben in Bezug auf die Familie

192

8.6

Elternintegration

193

8.7

Patienten- und Familienedukation

194

Familienorientierte Pflege und Betreuung

8 Familienorientierte Pflege und Betreuung Daniela Schütz

8.1 Definition Familie Der Begriff Familie kann so vielfältig verstanden werden, dass es im Laufe der letzten Jahrzehnte zu einer Vielzahl an unterschiedlichen Definitionen und Erklärungen gekommen ist (▶ Abb. 8.1). Unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen, wie Anthropologie, Ethnologie, Geschichtswissenschaft, aber auch Psychologie, Politik- und Rechtswissenschaft, haben das Thema Familie aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet. Eine möglichst interdisziplinäre Betrachtungsweise wäre sicher wünschenswert, ist allerdings hier nicht zu leisten (Hill u. Kopp 2013). Daher sind im Folgenden auch verschiedene Definitionen oder Definitionsansätze des Familienbegriffs beschrieben. Nach deutschem Recht besteht keine einheitliche Definition des Begriffs Familie. Hier heißt es lediglich im Grundgesetz (GG) Artikel 6: „Ehe und Familie stehen unter besonderem Schutz der staatlichen Ordnung.“

8

Definition

tion, and constituting a social system whose structure is specified by familial position and whose basic societal function is replacement.“ Neidhard (1975) bestimmt Familie als „Gruppe [...], in der Eltern mit ihren Kindern zusammenleben“ (zitiert nach Hill u. Kopp 2013). Aus den unterschiedlichen Versionen des Familienbegriffs lassen sich 3 Kernmerkmale erkennen: ● eine auf Dauer angelegte Verbindung von Mann und Frau ● eine gemeinsame Haushaltsführung ● mindestens ein eigenes (oder adoptiertes) Kind Inhaltlich sind hierdurch einige Verbindungen von der Kennzeichnung als Familie ausgeschlossen: Paare ohne Kinder, Einpersonenhaushalte, homosexuelle Lebensgemeinschaften sowie Haushalte von alleinerziehenden Elternteilen (Hill u. Kopp 2013).

L ●

Im Duden findet sich eine durchaus konkretere Definition. Familie ist hier: 1. eine Gemeinschaft, der in einem gesetzlichen Eheverhältnis lebenden Eltern und ihrer Kinder, 2. eine Gruppe der nächsten Verwandten, Sippe.

le für spie Bei

Soziologen des vergangenen Jahrhunderts definierten den Begriff folgendermaßen: König (1946) sieht „das Wesen der Familie in ihrem Gruppencharakter. Familie ist eine Gruppe eigener Art.“ Winch (1971) definiert Familie folgendermaßen: „A set of persons related to each other by blood, marriage, or adap-

Abb. 8.1 Familie. Es gibt eine Vielzahl an Definitionen, was Familie ist (Symbolbild). (Foto: Robert Kneschke – stock.adobe. com)

188

8.2 Lebensformen in der Bevölkerung Allein oder zu zweit? Mit Trauschein oder in „wilder Ehe“? Als Familie oder ohne Kind? Das menschliche Zusammenleben bietet vielfältige Möglichkeiten. Neben der traditionellen Familienform, den Ehepaaren mit Kindern, gewinnen alternative Familienformen wie Lebensgemeinschaften mit Kindern und alleinerziehende Elternteile immer mehr an Bedeutung. Gleichzeitig prägen nicht familiale Lebensformen wie Alleinstehende zunehmend das Bild der Gesellschaft (▶ Abb. 8.2). Aus einer Untersuchung des Statistischen Bundesamtes von 2016 (Mikrozensus) lassen sich anhand verschiedener Merkmale unterschiedliche Lebensformen in der Bevölkerung ausmachen: ● Familien (Eltern/-teile und Kinder): Dazu zählen alle Eltern-Kind-Gemeinschaften, d. h. Ehepaare, nichteheliche und gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften sowie alleinerziehende

verschiedene Lebens form en Moderne/andere Lebensform

Traditionelle Familie/Lebensform

Abb. 8.2 Lebensformen.

8.3 Familienstrukturen im Wandel

Tab. 8.1 Familien mit Kindern im Zeitvergleich nach Lebensform in Deutschland (mod. nach Statistisches Bundesamt 2016). Jahr/Monat

Insg.

Ehepaare

Lebensgemeinschaften

Alleinerziehende

Nachrichtlich Familienmitglieder

zusammen

Darunter nichteheliche Lebensgemeinschaften

zusammen

Väter

Mütter

Insg.

1000

je Familie Anzahl

2016

11575

7894

980

970

2701

408

2293

39392

3,40

2006

12397

8989

752

748

2655

353

2303

42462

3,43

Mai 2000

12793

9855

627

621

2311

352

1960

44538

3,48

April 1997

13070

10299

532

527

2240

360

1880

45607

3,49

1 Hinweise zu methodischen Effekten in den Zeitreihen zur Haushalte- und Familienstatistik auf Basis des Mikrozensus Ergebnisse des Mikrozensus – Bevölkerung in Familien/Lebensformen am Hauptwohnsitz.





Mütter und Väter mit ledigen Kindern im Haushalt; neben leiblichen Kindern auch Stief-, Pflege- und Adoptivkinder ohne Altersbegrenzung Ehepaare, Lebensgemeinschaften ohne Kinder Alleinstehende (Alleinlebende, Einpersonenhaushalte): Hierzu zählen ledige, verheiratete, aber getrennt lebende, geschiedene und verwitwete Personen ohne Lebenspartner/-in und ohne Kinder im Haushalt

Vergleicht man anhand dieser Lebensformen die Bevölkerung in Deutschland in den Jahren 2006 und 2016, so lässt sich feststellen, dass im Jahr 2016 die Zahl der Ehepaare gesunken ist und alternative Lebensformen (Lebensgemeinschaften, Alleinerziehende) deutlich zugenommen haben (▶ Tab. 8.1). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass trotz der wachsenden Bedeutung alternativer Lebensformen in Deutschland nach wie vor die Ehepaare mit Kindern deutlich überwiegen (Statistisches Bundesamt 2016).

8.2.1 Familienbegriff Definition

L ●

Der Familienbegriff, der laut Erhebung des Berichtsjahres 2016 des Statistischen Bundesamtes veröffentlich wurde und als Standard gilt, beschreibt alle Eltern-Kind-Gemeinschaften als Familie.

Damit besteht eine statistische Familie immer aus zwei Generationen: Elternteil/e und im Haushalt lebende ledige Kinder (Zwei-Generationen-Regel).

8.2.2 Wandel familiärer Lebensformen Definition

L ●

Kernfamilie bezeichnet das System von Vater, Mutter und Kind (Eltern-Kind-Einheit). Sie besteht aus einem Vater, einer Mutter und einem oder mehreren leiblichen Kindern. Die kleinste Kernfamilie ist eine Triade (altgriechisch tri „Drei“: „Dreiheit“). Ein-Eltern-Familien oder auch Alleinerziehende sind ledige, verheiratet getrennt lebende, geschiedene oder verwitwete Mütter und Väter, die mit ihren Kindern oder volljährigen ledigen Kindern, aber nicht mit einem Ehegatten zusammenleben (Brand 2006). Patchwork-Familie ist ein Begriff aus der modernen Soziologie und beschreibt eine Familienform, in der die dort „zusammengewürfelten“ Kinder (von verschiedenen Müttern und Vätern) einen bunten „Flickenteppich“ (engl. Patchwork) einer Familie bilden. Patchwork-Familie wird häufig mit dem Begriff der „Mischfamilie“ oder der „Stieffamilie“ gleichgesetzt, ist allerdings inhaltlich umfassender zu sehen.

Wenn sich Eltern für ein Kind entscheiden, dann tun sie das i. d. R., um langfristig mit dem Kind zusammenzuleben und sein Leben mitzugestalten. Sowohl Frauen als auch Männer haben ein gesteigertes Interesse an den emotionalen Erfahrungen eines Lebens mit Kindern. Die Freisetzung von Zeitressourcen und der damit verbundenen Familienplanung haben Eltern-Kind-Beziehungen in den letzten Jahrzehnten drastisch verändert. Kinder sind längst nicht mehr „Schicksal“ oder „ungewollte Bürde“, sondern vielmehr Ausdruck elterlicher Wünsche nach Erfüllung einer Paarbeziehung und eigener Selbstverwirklichung.

Durch die zunehmende Bedeutung der alternativen Familienformen kommt es zu einer deutlichen Verschiebung der Familienstruktur, wobei die traditionelle Kernfamilie nach wie vor die häufigste Familienform darstellt.

8.3 Familienstrukturen im Wandel Das Familienmodell, in dem leibliche Eltern mit gemeinsamen Kindern zusammenleben, entspricht immer weniger der Lebensrealität der Eltern und Kinder in Deutschland. Durch die veränderten Lebensformen und den tief greifenden Wandel von Lebens-, Liebes- und ehelichen Beziehungen sowie die sinkende Heiratsziffer und die steigende Scheidungsrate scheint die bisherige lebensgeschichtliche Kontinuität der Familie infrage gestellt zu sein. Das Modell der dauerhaften Kernfamilie verliert an Bedeutung. Für Kinder und Jugendliche hat die Umstrukturierung von Familie zur Folge, dass sie sich evtl. im Laufe ihres Lebens mit verschiedenen Beziehungskonstellationen zurechtfinden müssen. Zu den unterschiedlichen Lebensformen kommt noch hinzu, dass sich leibliche Kinder mit Stief-, Pflege- und Adoptivgeschwistern arrangieren müssen. Nicht selten hat diese Situation auch negative Auswirkungen auf die Kinder. Durch den Wandel der Familienstruktur kommt es auch zu Umstrukturierungen von Elternschaft. Die Eltern-Kind-Beziehungen lösen sich von elterlichen Partnerbeziehungen. In besonderer Weise scheint das Vater-Kind-Verhältnis davon betroffen zu sein. Die biologische Vaterschaft und ein familiärer Alltag mit (eigenen) Kindern koppeln sich voneinander ab. Hiervon nahezu unberührt scheint allerdings die Mutter-Kind-Beziehung zu sein. Fast unverändert ist die Zahl der Kinder, die überwiegend und kontinuierlich mit und bei ihren Müttern leben. Nach wie vor sind die Frauen die Hauptbezugspersonen für die Betreuung der Kinder.

8

9

Familienorientierte Pflege und Betreuung

8.3.1 Fazit Insgesamt betrachtet, hat der Typus der neuzeitlichen westlichen „Normalfamilie“ (Kernfamilie) von zwei Erwachsenen mit ihren unmündigen Kindern zahlen- und anteilsmäßig in den vergangenen Jahren deutlich abgenommen und wurde durch eine Vielzahl an familiären und insbesondere nichtfamiliären Lebensformen ergänzt. Mittlerweile dominiert keine Familienform so eindeutig wie vor 40 Jahren, daher kann man zu Recht von einer Pluralisierung der Lebensformen sprechen. Hierbei spielen v. a. die unterschiedlichen Lebens- und Haushaltsformen ohne Kinder eine zunehmende Rolle, da sich das Leben zum einen deutlich verlängert und zum anderen die Kinderzahl pro Familie verringert hat. Welche Auswirkungen können die veränderten Familienstrukturen für Kinder im Krankenhaus haben? Welche möglichen „neuen“ Aufgaben kommen den Pflegefachkräften zu?

8.4 Funktion der Familie Welche Bedeutung hat Familie für die Beteiligten? Angelehnt an Hartrup (1986), lassen sich drei Funktionen ausmachen, die für Mitglieder einer nahen sozialen Beziehung, sprich einer Familie, von Bedeutung sind: ● Geselligkeit: Familien dienen der Unterstützung von Bedürfnissen nach Geselligkeit, so z. B. das Bedürfnis nach Geborgenheit, nach Akzeptanz und nach Intimität. Hier spielt Familie eine wichtige Rolle, da sie den emotionalen Bedürfnissen ihrer Mitglieder Rechnung tragen kann, wobei immer altersabhängige Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedern zu sehen sind. ● Beratung: Nicht nur in Problemsituationen des Lebens, sondern ganz besonders für das heranwachsende Kind stellt die Beratung eine unerschöpfliche Quelle an Informationen dar. Durch die Bezugspersonen (Vater, Mutter, Geschwister, Freunde) kommen unterschiedliche Beratungsperspektiven infrage. ● Entwicklung der Persönlichkeit: Familie wirkt sich ganz deutlich auf die Entwicklung der Persönlichkeit aus. So kann z. B. ein Kleinkind von der „sicheren Basis“ seiner primären Bezugsperson aus die Umwelt erkunden. Generell kann die interaktive Auseinandersetzung mit der sozialen und kulturellen Umwelt die eigene Entwicklung der Persönlichkeit eines Menschen vorantreiben.

8

190

Abb. 8.3 Kommunikation im Familienalltag (Symbolbild). (Foto: WavebreakMediaMicro – stock. adobe.com)

Merke

H ●

Familie zeichnet sich durch Kontinuität und Wandel aus, die sich im Verlauf des Lebens durch aktives Zutun aller Beteiligten verändert.

Ein wesentliches und unerlässliches Merkmal stellt die tägliche Kommunikation in einer Familie dar (▶ Abb. 8.3). Durch das Erzählen von Erlebtem in Humor, Necken und Lästern, durch Konversationen oder auch Diskussionen gestaltet sich die individuelle Struktur einer Familie. Jedes einzelne Mitglied stellt so seine Position in der Familie heraus und kooperiert ebenfalls mit der Sichtweise und den Einstellungen der anderen. Für die unmittelbare Lebensbewältigung in jeder Altersstufe stellen insbesondere die Beziehungen zwischen Familienmitgliedern eine unabdingbare Unterstützung dar. Jede Interaktion zwischen den Mitgliedern ist förderlich für die Entwicklung sozialer Kompetenz und für die Entwicklung der gesamten Persönlichkeit. Durch die alltägliche Interaktion bestätigen die Mitglieder einer Familie ihre Beziehung.

8.4.1 Familie als System Familie kann als offenes und dynamisches System verstanden oder bezeichnet werden. Grundlegende Prinzipien familiärer Systeme können mehrere Eigenschaften haben: ● Die Beziehungen in einer Familie werden als Einheit gesehen. ● Dem System Familie wird eine homöostatische Eigenschaft (Streben nach Gleichgewicht) zugeschrieben, um Stabilität in den Beziehungen aufrechtzuerhalten. ● Das System Familie ist durch Dynamik gekennzeichnet. ● Die Einflüsse zwischen den Mitgliedern einer Familie sind wechselseitig.

Familie als System kann somit in andere, über- und nebengeordnete Systeme eingebettet werden und grenzt sich gleichzeitig von anderen ab. Die Beziehungen in einer Familie, v. a. die Eltern- und Geschwisterbeziehungen, können als Subsysteme angesehen werden, die ihr Gleichgewicht (ihre Rollenverteilung, Regeln, Werte usw.) nach Veränderungen wiederherstellen. Andere Subsysteme, die als neben- oder übergeordnet anzusehen sind, sind z. B. der Bekannten- und Freundeskreis, Vereine, aber auch die Arbeitswelt, sprich die Arbeitskollegen, aber auch Schule und Kindergarten (Hofer 2002).

8.4.2 Theorie des systemischen Gleichgewichts von Marie-Luise Friedemann An dieser Stelle sollen als ein Beispiel die Theorie und das Modell von Marie-Luise Friedemann kurz Erwähnung finden, um aufzuzeigen, dass es Theorien und Modelle in der Pflege gibt, die sich mit dem Schwerpunkt familien- und umweltbezogener Pflege auseinandergesetzt haben und es heute noch tun. Die Basis ihrer Überlegungen hat ihren Ursprung in der Systemtheorie. Im Folgenden soll ein kleiner Überblick ihrer Theorie aufgezeigt werden.

Biografischer Hintergrund Marie-Luise Friedemann ist Pflegetheoretikerin und Begründerin der „Theorie des systemischen Gleichgewichts“. Sie ist gebürtige Schweizerin, die nach Amerika emigriert ist und seitdem dort lebt. Sie besuchte die Krankenpflegeschule in San Francisco und studierte später an der Wayne State University und schloss ihr Studium mit dem Bachelor in Pflege ab. Anschließend arbeitete sie als Gemeindeschwester in Michigan. Weitere zwei Jahre später begann sie ihre Masterausbildung in psychiatrischer Pflege. Sie unterrichtete daraufhin an der Eastern Michigan University psychiatrische Pflege, Gemeindepflege und Pflege von Drogensüchtigen. Zeitgleich machte sie ihren Doktor in Pädagogik und Gemeindeplanung. Neben dem Unterrichten beschäftigte sich Marie-Luise Friedemann auch mit der Forschung, was noch heute ihre Hauptaufgabe ist. Ihre Hauptgebiete der Forschung sind Familiendynamik, Familien in der Pflege von chronisch Kranken und Drogensüchtigen. Seit Anfang der 1990er-Jahre hat sie mehrere Lehraufträge in ihrem Heimatland Schweiz, um auch dadurch ihre Beziehungen mit Lehrpersonen in Ausbildung und Pflegepraxis im deutschsprachigen Europa aufzufrischen und in Verbindung zu bleiben. Ihre Theorie des

8.4 Funktion der Familie systemischen Gleichgewichts (1986) entwickelte Friedemann, um den Pflegenden in der Praxis und der Forschung eine Leitstruktur als Grundlage ihrer Arbeit zu verleihen. 1989 publizierte sie die ersten Artikel über die Theorie und 1995 erschien ihr englischsprachiges Buch. Das Gesamtwerk von Marie-Luise Friedemann umfasst die Theorie selbst, das Kongruenzmodell und das ASF-E (Assessment of Strategies in Families-Effectiveness).

Theorie Die Theorie des systemischen Gleichgewichts ist eine Pflegetheorie, die mit Einzelpersonen, Familien, Gruppen, Organisationen und Gemeinden in die Praxis umgesetzt werden kann. Sie kann auch als Rahmentheorie oder Pflegemodell bezeichnet werden, die die Grundprozesse aller sozialen Systeme beschreibt. Friedemann hat das allgemein bekannte Metaparadigma der Pflege „Umwelt, Mensch, Gesundheit und Pflege“ um die Konzepte „Familie“ und „Familiengesundheit“ erweitert und so die dynamischen Vorgänge und Interaktionen bei Einzelmenschen und Familien und anderen Unterstützungsgruppen anschaulich gemacht.

Definition

L ●

Ein Metaparadigma entsteht auf der Grundlage wissenschaftlicher Diskussionen und mit ihm lassen sich Theorien, Modelle und Konzepte einer Wissenschaft allgemein und übergeordnet einschätzen und beurteilen.

Für die Theorie des systemischen Gleichgewichts sind diese zwei Konzepte „Familie“ und „Familiengesundheit“ von herausragender Bedeutung (Köhlen u. Friedemann 2016). Die Theorie beruht auf einer holistischen, systemischen Weltanschauung, in der Menschen und ihre Familien als offene Systeme miteinander nach Kongruenz streben und vernetzte Teile des Systems der Umwelt darstellen. Friedemann beschreibt Familie in ihrer Theorie als „eine Einheit mit Struktur und Rhythmus, die in einer Wechselbeziehung zur Umwelt steht. Die einzelnen Familienangehörigen sind ihre Subsysteme.“ Weiter schreibt Friedemann: „dass die Familienmitglieder jene Menschen sind, mit denen sich die Person verbunden fühlt und Kontakt pflegt [...] Familienmitglieder müssen nicht unbedingt verwandt sein“ (Köhlen u. Friedemann 2016).

Modell Den Mittelpunkt des Modells bildet die Theorie des systemischen Gleichgewichts. Ziel ist es, Familien zu helfen und zu stärken und letzlich Familiengesundheit zu erreichen. Das Ziel der Familiengesundheit ist erreicht, wenn: ● alle Angehörigen miteinander auskommen und zufrieden sind (Kongruenz innerhalb der Familie) ● die Familie in Übereinstimmung mit den Erwartungen der Gesellschaft arbeitet (Kongruenz zwischen Familie und Umwelt) ● die Familienstrategie allen 4 Prozessdimensionen angehört (Kongruenz zwischen Angehörigen, Kongruenz zwischen Familie und Umwelt) Die 4 Prozessdimensionen beinhalten (Köhlen u. Friedemann 2016): ▶ Systemerhaltung. Sie umfasst alle Handlungen und Aktivitäten, die das Familienleben dauerhaft gesund erhalten. Bezogen auf das Individuum wird dies in der Pflege „Selbstpflege“ genannt, z. B. Zähneputzen, gesundes Essen, aber auch Zeit mit Mitmenschen zu verbringen. ▶ Kohärenz. Die Kohärenz (lat. cohaerere = zusammenhängen) beschreibt Handlungen, die die Kohärenz innerhalb des Familiensystems betreffen und die emotionale Bindung und Zusammengehörigkeit in einer Familie fördern. Was Menschen genießen, nährt ihre Kohärenz, z. B. ein gutes Buch, ein Film, Musik. ▶ Individuation. Unter Individuation (lat. individuare = sich untrennbar machen) werden Aktionen verstanden, die von einzelnen Mitgliedern der Familie ausgehen und mit Systemen der Umwelt eine Bindung eingehen und die individuelle Entwicklung verfolgen. Es meint das Werden eines Individuums bzw. einer Person durch Beeinflussung durch andere Lebewesen oder Dinge. ▶ Systemänderung. Sie ist bezogen auf äußere oder innere Einflüsse, die das Familiensystem stören und dadurch eine Systemänderung bewirken. In Krisensituationen bedeutet eine Systemänderung die Lösung der Krise, im persönlichen Bereich bedeutet sie beispielsweise, neues Glück zu finden oder Verantwortung für ein Baby zu übernehmen.

ASF-E Das ASF-E (Assessment of Strategies in Families-Effectiveness) ist ein Instrument, das der Einschätzung der Qualität der Familiendynamik dient, so wie sie in der

Theorie des systemischen Gleichgewichts festgehalten ist und von Angehörigen der Familie eingeschätzt wird. Es berechnet die Familienqualität aufgrund von Prozess- und Zieldimensionen (Stabilität, Regulation/Kontrolle, Wachstum und Spiritualität). Die Einschätzung ist immer subjektiv, da die Antworten der einzelnen Familienmitglieder unterschiedlich ausfallen können. Dennoch ist es ein maßgebliches Instrument, da eine Bewertung der Familie nach dem systemischen Gleichgewicht immer unter Einbeziehung der Beteiligten stattfindet. Die Bewertung der Aussagen erfolgt nach Punkteskalen und gibt somit den Pflegenden und Therapeuten Auskunft über die Notwendigkeit der Interventionen. Die Punktzahl der Skalen lässt sie wissen, in welchen Dimensionen und Richtungen die Interventionen angesetzt werden sollten.

Fazit Der pflegerische Bezug zur Theorie werden dadurch deutlich, dass es bei der Pflege eines Kindes nicht allein um den Einzelnen geht, sondern die Familie als soziales System immer miteinbezogen und genauso Empfänger von Pflege ist. Gerade bei Kindern sind Vernetzung und Einbeziehung der Familie elementar und wesentlich für die Erhaltung und Förderung der Gesundheit des Kindes.

Merke

8

H ●

Familie, als wichtigste soziale Vernetzung für den Betroffenen, stellt die Grundlage für pflegerisches Handeln dar.

8.4.3 Rolle der Eltern Die Elternbeziehung gilt als zentraler Faktor der Qualität des Familienlebens und auch der Eltern-Kind-Interaktion. Je zufriedener und harmonischer Elternbeziehungen sind, umso wohler fühlen sich auch die Kinder. Ist das Familienleben konfliktbeladen und gestört, so ist das Risiko verschiedener Störungsbilder der Kinder deutlich erhöht (Hofer 2002). Allerdings, so wie sich Elternbeziehungen auf die Kinder auswirken können, können sich auch umgekehrt kindliche Merkmale auf die Paarbeziehung der Eltern auswirken. So kann sich z. B. ein schwieriges Temperament des Kindes, z. B. beim Essen oder Zubettgehen, negativ auf die Partnerbeziehung auswirken und somit zur Abnahme der partnerschaftlichen Zufriedenheit führen. Kinder entwickeln und prägen in ganz besonderer

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Familienorientierte Pflege und Betreuung Weise auch die Harmonie einer Familie mit. Somit stehen beide Seiten, Eltern und Kinder, durchaus in wechselseitiger Abhängigkeit. Auf Eltern kommt noch eine weitere Entwicklungsaufgabe bezüglich ihrer Kinder zu. Sie benötigen spezielle Kompetenzen, um ihr Kind liebevoll zu betreuen und angemessen zu fördern. Der Schwerpunkt liegt hierbei in der altersangemessenen und effektiven Handlung bezüglich der kindlichen Entwicklung. In den ersten Lebensjahren geht es zunächst um ein feinfühliges Verhalten als Grundlage für eine sichere Bindung zum Kind und im weiteren Verlauf der Entwicklung wird versucht, die kognitive Entwicklung spielerisch anzuregen und zu unterstützen.

8.4.4 Rolle der Geschwister Neben Eltern und Peers, d. h. gleichaltrigen Freunden oder Bezugspersonen (S. 192), haben die Geschwister in der Familie eine wichtige Funktion, weil sie ihr tägliches Zusammenleben gegenseitig anregen, voneinander lernen und sich miteinander auseinandersetzen (▶ Abb. 8.4). In Krankenhaussituationen werden Geschwisterkinder häufig vergessen. Kommt ein schwer krankes Kind ins Krankenhaus, gelten ausschließlich ihm alle Sorgen und es wird dadurch unversehens zum Mittelpunkt der Familie. Häufig fühlen sich die gesunden Geschwister in die Ecke gestellt, fühlen sich alleine und erfahren Liebesverlust. Verhaltensweisen, die vor einer Einweisung des Geschwisterkindes selbstverständlich waren (z. B. Essen, Schlafengehen, Lernen für die Schule) verändern sich oder werden gar verweigert. Nicht selten kommt es von den Geschwistern zu negativen Wünschen für das kranke Geschwisterkind, da dieses offensichtlich mehr Aufmerksamkeit erhält. Für Eltern erfordert diese Situation viel Geduld und Einfühlungsvermögen. Der richtige Weg muss immer der sein, offen das Gespräch mit dem gesunden Geschwisterkind zu suchen, um es in die Betreuung und Für-

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sorge für das kranke Kind mit einzubeziehen. Gesunden Geschwistern können Aufgaben übertragen werden, die eine Einbeziehung in den Heilungsprozess des kranken Kindes hilfreich unterstützen, z. B. Briefe schreiben, Geschenke selber basteln oder malen oder auch der Besuch in der Kinderklinik selber.

8.4.5 Familie und Peers Unter dem Begriff Peerbeziehungen der Familie werden in erster Linie Freunde und Bekannte verstanden, die in keinem verwandtschaftlichen Verhältnis zur Familie stehen. Allen Peerbeziehungen ist gemeinsam, dass sie freiwillig aufgenommen und unterhalten werden. Meistens sucht man sich seine Peerbeziehung nach gewissen Ähnlichkeiten zur eigenen Person aus, so z. B. Alter, Erfahrungshorizont, Entwicklungsstand oder Interessenlage. Gerade bei Kindern und Jugendlichen kommt dem Umgang mit Peers eine große Rolle zu, da im Kontext von wechselseitigem Einfühlungsvermögen und Verständnis die Gruppe der Peers Einfluss auf das eigene Verhalten nimmt und den Umgang der Kinder und Jugendlichen prägt. Kinder machen im Umgang mit Gleichaltrigen wichtige Erfahrungen und können so ihre Fähigkeiten in einem „geschützten Feld“ einüben. Den Peers wird ein starker Einfluss auf die individuelle Entwicklung zugeschrieben.

8.5 Pflegerische Aufgaben in Bezug auf die Familie Welche Konsequenzen ergeben sich bezüglich der Bedeutung der Peers, der Rolle der Eltern und Geschwister in der pflegerischen Praxis? Bei der stationären Aufnahme eines Kindes ins Krankenhaus ist es Aufgabe der Ärzte und Pflegefachkräfte, Kinder und Eltern über Erkrankung, Therapie und Pflege aufzuklären und zu informieren. Darüber hinaus müssen sie die Kinder und Eltern auch aktiv auffordern, an der Pflege und Behandlung mitzuwirken.

Merke

H ●

Hilfe zur Selbsthilfe ist immer auch die Unterstützung der Familie, indem sie sich an den medizinischen und pflegerischen Anforderungen beteiligt.

Abb. 8.4 Geschwister (Symbolbild). (Foto: Claudia Paulussen – stock.adobe. com)

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Die zunehmende Zahl der Familienwohnheime in unmittelbarer Nähe des Krankenhauses oder sogar im Krankenhaus

selber zeigen einen positiven Trend zur fortschrittlichen Entwicklung und Bedeutung der Familienintegration in die Krankenhausbehandlung. Zwei Formen der Zusammenarbeit von Krankenhausteam und Familie werden unterschieden: ▶ Compliance („Therapietreue“). Hierunter werden Bereitschaft und Einwilligung des Patienten bzw. der Eltern zur Behandlung verstanden, aber auch die Anpassung und der „Gehorsam“, sich der Behandlung unterzuordnen und die Rolle des „Schwächeren“ zu übernehmen. ▶ Adherence. Unter Adherence (Adhärenz, lat. adhaerare = anhängen) werden das „Festhalten“ des Patienten oder der Eltern an einer vereinbarten Behandlung und das „Übereinstimmen“ mit den Behandlungserfordernissen verstanden. Dabei wird der Patient durch das Behandlungsteam unterstützt. Beide Formen der Zusammenarbeit haben Vor- und Nachteile. Familien, die nur geduldig und passiv die Anweisungen befolgen, lernen z. B. nie, selbstständig mit einer chronischen Erkrankung ihres Kindes umzugehen. Andererseits werden Familien, die am Behandlungsteam „kleben“, kaum ein Ende der medizinischen und pflegerischen Therapie finden, um sich zu trennen. Der goldene Mittelweg der Zusammenarbeit in Medizin und Pflege liegt sicher nicht zwischen den beiden Extremen, sondern in der feinen Unterscheidung der passiven oder aktiven Mitarbeit von Kind und Familie.

Merke

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Aufgabe der Pflegefachkräfte ist es, die einzelnen Familien und ihre Kinder zur aktiven Mithilfe anzuregen und sie zu unterstützen, sich selbstständig mit der Krankheit und der eigenen Gesundheit auseinanderzusetzen.

Eine weitere Aufgabe der Pflegefachkräfte kann und sollte es sein, sich immer wieder neu auf die unterschiedlichen Patienten und ihre Familien einzulassen und bemüht zu sein, eine gemeinsame Basis zum Beziehungsaufbau zu schaffen. Ob letztlich die weitere Zusammenarbeit für beide Seiten befriedigend verläuft, hängt von allen Beteiligten ab. Pflegefachkräfte müssen sich Zeit für Anleitungen, Erklärungen und Beratung nehmen, um gemeinsam mit der Familie mögliche Veränderungen der Behandlung oder neue pflegerische Maßnahmen zu bewältigen. Nicht selten kommt es durch hektisches, ungehaltenes oder unverständliches Verhalten zu Missverständnissen

8.6 Elternintegration zwischen Eltern und Pflegefachkräften. Natürlich bestehen auch Erfahrungsunterschiede und unterschiedliche Sichtweisen von Pflegefachkräften, von Eltern oder ihren Kindern. Um dem entgegenzuwirken, sollten Pflegefachkräfte, wenn es darum geht, Kindern oder Eltern etwas zu erklären, 2 wesentliche Dinge beherzigen: ● die innere Ruhe, Konzentration und Geduld bewahren ● die Pflegemaßnahmen stets dann erklären, wenn sie gerade durchgeführt werden Neben der Anleitung und den Erklärungen zu pflegerischen Maßnahmen durch die Pflegefachkräfte spielt auch die aktive Unterstützung der Kinder eine bedeutende Rolle. Zum größten Teil können die Eltern diese Aufgabe übernehmen, indem sie z. B. ihr Kind zu Untersuchungen begleiten, falls erforderlich die Kinder beruhigen oder sie ablenken. Aber auch Pflegefachkräfte können und müssen aktiv unterstützen, indem sie erklären oder eben manchmal auch gar nichts sagen und einfach nur da sind – je nachdem, wie es das Kind wünscht. Je ruhiger die Zusammenarbeit zwischen Eltern, Kind, Arzt und Pflegefachkraft verläuft, umso entspannter und einheitlicher wird z. B. die Untersuchung ablaufen. Entstehen Hektik, Unruhe und Stress vonseiten des Behandlungsteams, kann dies ggf. auf alle übertragen werden und im Extremfall die Situation eskalieren lassen.

Merke

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Die Unterstützung des Kindes bei pflegerischen Maßnahmen durch die Pflegefachkraft ist ein wichtiger Bestandteil, der zeigt, inwiefern das gesamte Team professionell zusammenarbeitet.

8.6 Elternintegration Mit dem Begriff der „Elternintegration“ ist im Folgenden die Integration der Eltern in der Klinik gemeint, vgl. ambulante Pflege (S. 114).

Definition

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Der Begriff der Integration (lat. integer bzw. griech. entagros = unberührt, unversehrt, ganz) wird u. a. mit „Wiederherstellung eines Ganzen“ oder „Vervollständigung und Eingliederung“ erklärt. Die Elternintegration bedeutet demnach die „Wiederherstellung oder Vervollständigung“ des „Ganzen“, also der Eltern-Kind-Beziehung, im Klinikalltag.

Das Thema der Elternintegration in den Krankenhausalltag ist mittlerweile in vielen Kliniken weitverbreitet und erfreut sich zum Wohle des Kindes zunehmender Beliebtheit. Doch dass dieser Zustand nicht zwangsläufig Alltag in allen Kliniken ist, lässt sich sicher nicht bestreiten. Wie willkommen sich Eltern auf einer Station fühlen, hängt ganz von den Prioritäten der Klinik ab und welchen Stellenwert die Mitaufnahme der Eltern hat. Es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass es durchaus auch negative Szenen im Krankenhausalltag gibt, die sich gerade in Gesprächssituationen zwischen Eltern und Pflegefachkräften oder Ärzten widerspiegeln. Aussagen wie diese: „Wieso kommen Sie erst jetzt mit Ihrem Kind?“ oder „Wir machen das schon, bleiben Sie mal besser draußen!“, signalisieren eine abweisende Haltung und zeigen deutlich negative Einstellungen gegenüber Elternintegration. Eltern fühlen sich nicht verstanden und Irritationen, Wut und Ärger können die Folge sein.

Merke

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Für eine kompetente, partnerschaftliche und v. a. qualitätsorientierte Behandlung und Betreuung von kranken Kindern und ihren Eltern ist eine positive Einstellung gegenüber der Elternintegration in den Klinikalltag erforderlich.

8.6.1 Voraussetzungen Die Mitaufnahme der Eltern oder eines Elternteils auf einer Kinderstation wird in den verschiedenen Kliniken unterschiedlich gehandhabt. Daher ist es zunächst einmal wichtig, sich mit den gesetzlichen Vorgaben und hausinternen Regelungen genauer zu befassen, um anschließend die nötigen Voraussetzungen einer Kinderklinik oder einer Kinderabteilung zu betrachten. Die zahlreichen Varianten der Mitaufnahme lassen sich in 3 Gruppen zusammenfassen: ● Mitaufnahme aus medizinischer Indikation (gesetzlich geregelt) ● Mitaufnahme als Wahlleistung (hausintern geregelt) ● unbegrenzte Mitaufnahme (hausintern geregelt)

Krankheit für die medizinisch zweckmäßige und ausreichende Versorgung des Patienten notwendig sind. Unter diesen Voraussetzungen gehören dazu [...] die aus medizinischen Gründen notwendige Mitaufnahme einer Begleitperson des Patienten [...].“ Im SGB V, § 11 Leistungsarten, Abs. (3) heißt es: „Bei stationärer Behandlung umfassen die Leistungen auch die aus medizinischen Gründen notwendige Mitaufnahme einer Begleitperson des Versicherten oder bei stationärer Behandlung in einem Krankenhaus nach § 108 die Mitaufnahme einer Pflegekraft, soweit Versicherte ihre Pflege nach § 66 Abs. 4 Satz 2 des Zwölften Buches durch von ihnen beschäftigte besondere Pflegekräfte sicherstellen.“ Da es sich allerdings bei diesen gesetzlichen Regelungen um sehr allgemein und weit gefasste Regelungen handelt, ist nahezu jede Auslegung möglich.

Wahlleistung Die Mitaufnahme als Wahlleistung ist meist hausintern geregelt und wird vertraglich zwischen dem Krankenhaus und dem Patienten bzw. den Eltern vereinbart. Es gibt die Form der schriftlichen Vereinbarung, bei dem das Krankenhaus den Betrag für Unterbringung und Verpflegung festlegt, des Weiteren die Möglichkeit des Kostenanteils, der für die Wahlleistung von den Eltern zu bezahlen ist, und/oder eine Krankenhaus-Tagegeld-Versicherung, die abzuschließen ist und die Grundlage zur Kostendeckung darstellt. Ein klarer Nachteil dieser Wahlleistung ist der finanzielle Aspekt, der von den Eltern zu tragen ist.

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Unbegrenzte Mitaufnahme Unter unbegrenzter Mitaufnahme versteht sich eine „wünschenswerte“ Form der Mitaufnahme, die keine Einschränkung bezüglich des Alters des Kindes, der Erkrankung oder der seelischen Belastung des Kindes macht und zudem für die Eltern keine Kosten entstehen lässt. Lediglich Einschränkungen bezüglich Verpflegung und Übernachtung sind gegeben und müssen im Zweifelsfall von den Eltern selber organisiert werden.

Bauliche Gegebenheiten Medizinische Indikation Die Mitaufnahme aus medizinischer Indikation ist in der Bundes-Pflegesatzverordnung (BPflV) und dem Sozialgesetzbuch (SGB V) verankert. Hier heißt es in der BPflV, § 2 Krankenhausleistung, Abs. (2): „Allgemeine Krankenhausleistungen sind die Krankenhausleistungen, die unter Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit des Krankenhauses im Einzelfall nach Art und Schwere der

Die baulichen Gegebenheiten eines Krankenhauses lassen schnell erkennen, ob eine familienorientierte Mitbetreuung während des Aufenthaltes gewährleistet sein kann oder nicht. Idealerweise benötigt das Krankenhaus eine entsprechende Infrastruktur, z. B. eine Schlafmöglichkeit in Form eines Bettes oder Klappbettes im Patientenzimmer oder in unmittelbarer Nähe. Es müssen Möglichkeiten gegeben sein, Getränke wie Wasser, Tee, Saft oder

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Familienorientierte Pflege und Betreuung Kaffee zu erhalten. Essensangebote in Form eines Bistros, Casinos oder einer Küche sollten ebenfalls vorhanden sein. Eine separate Dusche oder Toilette für Besucher, evtl. ein eigener Telefonanschluss sind durchaus auch wichtige Bestandteile einer Unterbringung. Ein Informationsblatt über alle Einrichtungen des Hauses, die zur Verfügung stehen oder von Besuchern genutzt werden können, erleichtert zudem den Aufenthalt und verschafft Sicherheit.

Besuchszeiten Familien sollte es rund um die Uhr möglich sein, ihre Kinder im Krankenhaus zu besuchen. Die nötigen Ruhezeiten für die Patienten sind dabei selbstverständlich einzuhalten und für Ausnahmen und Sonderfälle sind ebenfalls gegenseitige Absprachen zu treffen. In den Besuchszeitenregelungen sollte auch Berücksichtigung finden, dass die Kinder in Begleitung ihrer Eltern die Station verlassen dürfen, sofern es ihr Gesundheitszustand erlaubt, und unter Beachtung rechtlicher Gegebenheiten (Schweizer Verband Kind & Spital 2002).

8.6.2 Umsetzungsmöglichkeiten

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Ein wichtiger Aspekt der Elternintegration in den Krankenhausalltag ist sicher die Einbeziehung in die tägliche Pflege des eigenen Kindes. Es beginnt beim morgendlichen Aufstehen, Waschen oder Frühstücken. Oftmals können Eltern viele dieser Aufgaben in Teilen oder vollständig übernehmen. Bei pflegerischen Tätigkeiten, wie Bettenmachen, Pflaster- oder Verbändewechseln, beim Fiebermessen oder Wiegen der Kinder, gibt es viele Möglichkeiten, sich an der Pflege zu beteiligen. Pflegefachkräfte sollten die Bereitschaft der Eltern zur Mitarbeit aufgreifen und sie aktiv in die Pflege mit einbeziehen. Zudem können sie dafür sorgen, dass sie durch Information, Anleitung und Beratung von wichtigen Pflegemaßnahmen den Eltern, aber auch den Kindern zeigen, wie sie lernen, mit chronischen Krankheiten umzugehen, oder sich selber pflegen können. Dies ermöglicht Eltern und Kindern, jederzeit Fragen zu stellen und Hilfestellung zu erfahren. Ein weiterer wichtiger Aspekt der Elternintegration ist die zwischenmenschliche Komponente. Nicht allein die professionelle Beziehung zwischen der Pflegefachkraft und dem kranken Kind ist wichtig, sondern letztlich auch die Beziehung zwischen Pflegefachkraft und Eltern bzw. Bezugspersonen.

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Pflegequalität Aus der „Charta für Kinder im Krankenhaus“ (S. 183) gehen schwerpunktmäßig aus den Punkten 2, 3, 4 und 5 neben den Bedürfnissen der Kinder im Krankenhaus auch die „Elternbedürfnisse“ bzw. die Bedeutsamkeit der elterlichen Bedürfnisse hervor. Das Recht, die Eltern bei sich zu haben, die Aufforderung vonseiten des Krankenhauses zur Mitaufnahme und somit zur Integration in den Behandlungsund Pflegeprozess, das Recht auf Information und Entscheidung bei und zu medizinischer Behandlung zeigen, dass Eltern und Bezugspersonen einen besonderen Stellenwert bei kranken Kindern vor, während und nach einem Krankenhausaufenthalt haben und eine elementare Rolle spielen. Es ist mittlerweile erwiesen, dass Mitaufnahme und Unterstützung der Eltern im Krankenhaus einen enorm positiven Einfluss auf den Genesungsprozess der Kinder haben. Um Formen des Hospitalismus vorzubeugen, ist es unabdingbar, den Wünschen der Kinder und Eltern zur Mitaufnahme Rechnung zu tragen. Sind die Eltern, aus welchen Gründen auch immer, nicht dazu bereit, ist auch dieses Verhalten zu respektieren. Sicher spielen bei der Entscheidung der Mitaufnahme auch Alter und Entwicklungsstand des einzelnen Kindes eine große Rolle. Während bei kleineren Kindern eine Trennung von den Eltern zu vermeiden ist, können größere Kinder durchaus auch ermutigt werden, alleine im Krankenhaus zu bleiben, oder es wird gemeinsam nach anderen Möglichkeiten gesucht.

Information als zentrale Aufgabe Eine weitere wesentliche und damit zentrale Aufgabe ist die Information von Kindern und Eltern. Eine umfangreiche, nachvollziehbare Information und erfolgreiche Kommunikation lassen den Krankenhausaufenthalt zu einem positiv erlebten Ereignis werden, mit dem alle Beteiligten zufrieden sind. Grundsätzlich können sich die Informationen in verschiedenen Formen darstellen. Häufig und üblich sind Informationsbroschüren, in denen das Krankenhaus und seine Einrichtungen näher beschrieben werden, darüber hinaus gibt es z. B. auch Abbildungen, Videos oder Modelle, die auch als Anschauungsmaterial sehr dienlich sind. Wichtig ist hierbei, dass alle Materialien und Medien auf dem neusten Stand sind. Gespräche mit den Eltern und Kindern sollen dazu beitragen, dass die Handlungsabläufe im Pflegealltag transparenter werden, damit sich zwischen dem Pflegeteam und dem Kind mit seinen El-

tern Sicherheit und Vertrauen aufbauen lassen. Ängste und Sorgen der Kinder oder Eltern können in einem klärenden, offenen Gespräch abgebaut werden. Informationen zu geben schließt auch oftmals den Beratungsaspekt mit ein. Unterstützungsangebote in Form von Beratungsstellen oder Selbsthilfegruppen gehören selbstverständlich zur professionellen Unterstützung dazu und sollten auch thematisiert werden.

Merke

H ●

Die Elternintegration in den Krankenhausalltag hat einen besonderen Stellenwert und wird daher auch als Qualitätsmerkmal einer kindgerechten Behandlung und Pflege gesehen.

8.7 Patienten- und Familienedukation Petra Kullick Patienten- und Familienedukation gewinnt eine immer größere Bedeutung im Handlungsfeld der Pflegenden. Der Bedarf an Information, Anleitung, Schulung und Beratung von Patienten und Angehörigen wird in Zukunft weiter steigen. Gründe hierfür sind die Zunahme chronischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen, eine immer kürzere Verweildauer im Krankenhaus, ambulante Eingriffe, die Kostenexplosion im Gesundheitswesen und die Aufforderung vonseiten der Politik an Patienten bzw. deren Angehörige, einen aktiven Beitrag zur Erhaltung, Verbesserung oder Wiederherstellung ihrer Gesundheit zu leisten.

Praxistipp Pflege

Z ●

Anleitung wird in der Pflegepraxis bereits durchgeführt, aber häufig informell, nebenbei, zufällig und aus der Situation heraus. Der bewusste, zielgerichtete und systematische Prozess mit Einschätzung, Reflexion und Evaluation fehlt meist noch.

Beruflich Pflegende sind noch auf dem Weg, systematische Beratung als integralen Bestandteil pflegerischer Arbeit anzuerkennen und sich erforderliche Handlungskompetenzen anzueignen, um auf dieses Aufgabenfeld qualitativ angemessen vorbereitet zu sein. Die Pflegewissenschaftlerin Angelika Abt-Zegelin (2006a) verdeutlicht dies: „Insgesamt ist feststell-

8.7 Patienten- und Familienedukation bar, dass die Notwendigkeit der Edukation von Patienten und Angehörigen zunehmend erkannt wird; entsprechende Hinweise tauchen in Standards und Clinical Pathways auf. Es fehlt noch an (überprüfbaren) Konzepten und an der Qualifikation der Professionellen.“ An die Pflege geht der Auftrag, für die Zukunft pflegewissenschaftlich fundierte Konzepte für pflegespezifische Beratung zu entwickeln. Ein weiterer wichtiger Aspekt sind die ausdrückliche Darstellung von Beratung und Anleitung als Pflegeleistung und die entsprechende Integration in den Pflegealltag. In den USA, Großbritannien und Skandinavien ist die Patientenedukation seit Langem etabliert. Hier werden Programme entwickelt, Zeitschriften aufgelegt, es existieren Forschungsgebiete, Standards und Institute.

8.7.1 Stellenwert in der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege Die Aufgabe Kinder, Jugendliche und deren Angehörige in Zusammenhang mit ihrer Gesundheit oder Erkrankung bedarfsorientiert zu informieren, anzuleiten, zu schulen oder zu beraten, erhält durch die Entwicklungen im Gesundheitswesen und auch aufgrund der Erwartungen von Eltern einen immer höheren Stellenwert. Infolge gewandelter Familienstrukturen (S. 189) und größerer Mobilität können viele Eltern und Alleinerziehende mit Kindern immer seltener auf die Unterstützung des sozialen Umfelds bauen. Immer weniger kann auf das Laienwissen und den Rückhalt der Großeltern zurückgegriffen werden. Früher erhielten z. B. viele frischgebackene Mütter Hilfestellung und praktische Tipps von ihrer eigenen Mutter z. B. bei der Pflege oder Ernährung des Säuglings. Eltern mit chronisch kranken oder behinderten Kindern, die zu Hause z. T. komplexe Therapien und Pflegemaßnahmen fortführen müssen, benötigen professionelle pflegerische Beratung und Anleitung, um die an sie gestellten Anforderungen bewältigen zu können, ohne sich überfordert zu fühlen.

Merke

H ●

Durch qualitätsgesicherten Wissenstransfer bei Gesundheitsproblemen sollen Pflegende die Selbstmanagementkompetenz von Kindern und Jugendlichen mit chronischen Erkrankungen und deren Familien fördern.

Viele Eltern wünschen sich Information und Beratung zur Gesundheitsförderung, um ihrem Kind ein gesundes Leben zu ermöglichen. Hat das Kind bereits eine Gesundheitsstörung, brauchen sie Beratung, um in der Versorgung weitgehend selbstständig und unabhängig zu werden oder informierte Entscheidungen treffen zu können. Beratung, Anleitung und Schulung findet auch mit Kindern und Jugendlichen statt. Sie erhalten im Kindergarten und in der Schule kind- und jugendgerechte Informationen zu Gesundheit und Prävention, wie Ernährung oder AIDS-Aufklärung. Kinder mit Gesundheitsstörungen nehmen an Asthmaschulungen teil, um bei einem Asthmaanfall adäquat reagieren zu können. Sie erhalten entwicklungs- und kindgerechte Informationen über ihre Erkrankung und werden dazu angeleitet, ein Dosieraerosol effektiv anzuwenden. An diesem Beispiel wird auch deutlich, dass die Handlungen Informieren, Anleiten, Schulen und Beraten oft eng verknüpft sind.

Merke

H ●

Patienten- und Familienedukation trägt zur Verbesserung der Gesundheit und Lebensqualität bei und unterstützt Selbstständigkeit und Unabhängigkeit des ratsuchenden Menschen.

Insbesondere im präventiven Bereich gibt es für Pflegefachkräfte ein weites Betätigungsfeld und eine hohe Nachfrage nach Information, Beratung und Anleitung, um Kinder- und Jugendgesundheit zu fördern und damit auf lange Sicht Kosten zu sparen. Kinder sind zudem leicht für Lernprozesse zu gewinnen, wenn diese zielgruppengerecht gestaltet sind. Möglicherweise sind auch die Aussichten höher, dass Kinder früh erlerntes gesundheitsförderliches Verhalten auf lange Sicht beibehalten (S. 196). Beratung findet im gesamten Lebenskontinuum von Empfängnis, Schwangerschaft, Geburt, Kindheit, Adoleszenz über das Erwachsenenalter ins hohe Alter bis zum Tod statt.

Merke

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Patienten- und Familienedukation ist in verschiedenen stationären und ambulanten pflegerischen Handlungsfeldern zu finden – in gesundheitsfördernden, präventiven, kurativen, rehabilitativen und palliativen Bereichen der Gesundheitsversorgung. Pflegende übernehmen auch in der sozialmedizinischen Nachsorge Aufgaben in der Schulung von Patienten und deren Familien.

Beratung in der Ausbildung In der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung des Krankenpflegegesetzes (am 01. 01. 2004 in Kraft getreten) wurde der Bereich „Beratung, Anleitung und Unterstützung von zu pflegenden Menschen und ihrer Bezugspersonen in der individuellen Auseinandersetzung mit Gesundheit und Krankheit“ explizit in das Ausbildungsziel aufgenommen, um bereits Auszubildende für diesen Themenbereich zu sensibilisieren und grundlegende Kompetenzen aufzubauen.

8.7.2 Begriffsklärungen Die Begriffe Informieren, Anleiten, Schulen und Beraten werden häufig nicht sehr trennscharf und klar definiert. In Pflegesituationen überschneiden sich diese Handlungen häufig.

Patienten- und Familienedukation

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Definition

„Patientenedukation sind pädagogische und psychologische Maßnahmen. In der Pflege werden sie maßgeschneidert auf die individuellen Bedürfnisse und Situationen von Klienten in gesundheits- und krankheitsbezogenen Fragestellungen“ (Abt-Zegelin, 1. Hochschultag DGP, 2010).

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Patienten- und Familienedukation ist ein international gebräuchlicher Oberbegriff, dem sich verschiedene Aktivitäten, wie Information, Anleitung, Schulung und Beratung, zuordnen lassen (▶ Abb. 8.5). Der Begriff „Edukation“ ist am ehesten mit „Bildung“ zu übersetzen, darunter soll aber auf keinen Fall „Erziehung“ verstanden werden (Abt-Zegelin 2006b). Familienedukation schließt auch die Angehörigen, insbesondere bei Kindern deren Eltern oder nahestehende Bezugspersonen, ggf. auch Geschwister ein.

Patienten- und Familienedukation

Informieren

Anleiten

Schulen

Beraten

Abb. 8.5 Elemente der Patienten- und Familienedukation.

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Familienorientierte Pflege und Betreuung

Information Definition

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Information ist die gezielte Weitergabe von Fakten und Kenntnissen über einen bestimmten Sachverhalt (z. B. intermittierender Selbstkatheterismus).

Informationen erfolgen in mündlicher und schriftlicher Form. Dazu gehört auch das Bereitstellen von Informationsmaterialien in verschiedenen Sprachen (z. B. Broschüren zur Prävention des plötzlichen Kindstodes). Digitale Medien wie AudioPodcasts, Filme (z. B. zur Versorgung eines Tracheostomas), Apps (z. B. bei Diabetes) und E-Learning-Einheiten (z. B. zu Epilepsie) sind gut geeignet, um Patienten und Angehörigen Beratungsinhalte näherzubringen. Hilfreiche Adressen (z. B. von Selbsthilfegruppen und Beratungsstellen) werden angeboten und sichtbar ausgelegt.

Anleitung Definition

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Während einer Anleitung werden in erster Linie praktische Fertigkeiten und Handlungsabläufe vermittelt. Sie kann auch als Instruktion, Training oder Unterweisung bezeichnet werden. Beispiele für Anleitungen sind: ● Anleiten zur Durchführung von Pflegemaßnahmen (z. B. Anwenden eines Dosieraerosols, ▶ Abb. 8.6) ● Anwendung von Produkten und Hilfsmitteln, damit diese wie vorgesehen und sicher gehandhabt werden können (z. B. Trachealkanüle, Pen zur Insulinapplikation)

Ziel der Anleitung ist der Ausgleich von Selbstpflegedefiziten durch Aneignung von alltagspraktischen Handlungskom-

petenzen durch die Betroffenen selbst. Bei Kindern, die aufgrund ihres Alters oder einer Einschränkung nicht angeleitet werden können, erfolgt die Unterweisung der Eltern. Eine Anleitung ist ein geplanter, zielgerichteter, in Schritten verlaufender Prozess. Im ersten Schritt werden Anleitungsbedarf, Lernvoraussetzungen, Lernwiderstände und Motivation eingeschätzt. Anschließend erfolgt die Planung der Anleitung mit gemeinsamer Zielbestimmung, Festlegen des Vorgehens, Auswahl der Methoden, Medien, Materialien und ggf. Einsatz von Übungsmodellen. Im dritten Schritt schließt sich die Durchführung mit der Demonstration der zu erlernenden Tätigkeit durch den Anleiter an. Schritt vier umfasst die Trainingsphase: Der Anzuleitende führt die Handlung unter Anleitung durch, die Aktivität des Anleiters kann dabei nach Bedarf zu- oder im Idealfall abnehmen. Der Anzuleitende übt, bis er in der Lage ist, selbstständig zu handeln. Ein wichtiger Schritt sind Evaluation und Beurteilung sowie Sicherung der erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten in einem oder mehreren Reflexionsgesprächen. Die Anleitung wird dokumentiert. Dem Anzuleitenden wird auch Hintergrundwissen in mündlicher und schriftlicher Form mithilfe von Anschauungsmaterialien vermittelt. Die Durchführung kann in Teilhandlungsschritte gegliedert werden. Die Rollenverteilung zwischen Anzuleitendem und Pflegefachkraft wird abgesprochen und bei Bedarf geändert. Entsprechend dem Anleitungsverlauf oder der Komplexität der anzuleitenden Intervention kann die Demonstrations- und Trainingsphase wiederholt und flexibel gestaltet werden.

Schulung Definition

L ●

Unter Schulung wird ein zielgerichtetes, geplantes und strukturiertes Vorgehen zur Vermittlung von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten verstanden. Die Ergebnissicherung ist ein wesentlicher Aspekt.

situation. Bedürfnisse und Bedarf der Patienten und deren Bezugspersonen werden miteinbezogen. Es wird Raum zum Austausch gegeben. Eine Schulung beinhaltet folgende Schritte: ● Einschätzung (Vorwissen erfassen/ Haltung kennenlernen) ● gemeinsame Zielvereinbarung ● Planung und Durchführung ● Evaluation zur Ergebnissicherung orientiert an den Lernzielen (evtl. mit Wissensprüfung) ● Dokumentation Beispiele für umfangreichere Schulungen sind Diabetes- oder Neurodermitisschulungen. An der Zielerreichung sind häufig verschiedene Berufsgruppen beteiligt. Unter bestimmten Voraussetzungen werden die Kosten von Patientenschulungen als ergänzende Leistung zur Rehabilitation bei chronischen Erkrankungen von den Krankenkassen übernommen. ▶ Diabetesschulung. In der Patientenschulung wird z. B. Hintergrundwissen zum Verständnis der Erkrankung, zum Umgang mit Hypo- und Hyperglykämien und zur Prävention von Folgeschäden vermittelt. Die Patienten erlernen die Ernährungsprinzipien und die Berechnung des Insulins. Parallel dazu werden Anleitungen zur Insulinverabreichung, z. B. mit einem Pen, trainiert. Ältere Kinder und Jugendliche sollen lernen, ihr Leben mit Diabetes in verschiedenen Situationen, wie bei Sport, Urlaub oder Krankheit, weitgehend unabhängig und eigenverantwortlich zu gestalten. Bei Kindern erhalten auch die Eltern eine Diabetesschulung.

Mikroschulungen Definition

Zu Mikroschulungen schreibt Abt-Zegelin (2006a): „Darunter werden kleine Lerneinheiten verstanden, in denen eine ‚Wissensportion‛, eine Fertigkeit oder Verhaltensweise vermittelt wird.“

Lernaufgabe

Abb. 8.6 Anleitung. Ein Mädchen mit Asthma wird zur korrekten Anwendung eines Dosieraerosols angeleitet (Symbolbild). (Foto: P. Blåfield, Thieme)

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Unterschieden werden Einzel-, Gruppenoder Mikroschulungen. Bestandteile von Patientenschulungen sind Informationsvermittlung, Anleitung und Beratung zum Ausgleich von fehlendem Wissen und Selbstpflegedefiziten. Ziele sind das Selbstmanagement einer meist chronischen Erkrankung, aber auch die Bewältigung der dadurch veränderten Lebens-

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Sichten Sie Mikroschulungen des Netzwerks Patienten- und Familienedukation in der Pflege e. V., abrufbar auf www. patientenedukation.de unter „Materialien“, und entwerfen Sie eine eigene Mikroschulung Ihrer Wahl.

8.7 Patienten- und Familienedukation

Beratung Definition

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Beratung ist ein interaktiver ergebnisoffener Prozess, bei dem der Berater und der Ratsuchende gemeinsam eine individuelle Lösung für ein existierendes oder potenzielles Gesundheitsproblem entwickeln.

Eine Beratung bezieht die emotionale und soziale Ebene ein, da sie bei der Entwicklung von individuellen Lösungen eine wichtige Rolle spielen. Beratung setzt an einem individuellen Problem eines Menschen an und unterstützt die Auseinandersetzung damit. Die Bedürfnisse, die Ressourcen und die Perspektive des Betroffenen stehen dabei im Mittelpunkt. Beratung als ergebnisoffener Prozess bedeutet, dass der Betroffene selbstbestimmt seine Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten wahrnimmt. Der Berater begleitet die kritische Auseinandersetzung mit dem Problem. Er hilft beim Ordnen und Strukturieren der Informationen, Gedanken und Gefühle. Der Beziehungsprozess spielt dabei eine wichtige Rolle.

Merke

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Beratung ist Interaktionsarbeit. Beratungsgespräche sind Pflegearbeit.

Beratung berücksichtigt Reaktionen auf Erkrankungen – pathogenetisch orientiert – und Bedingungen zur Erhaltung bzw. Förderung von Gesundheit – salutogenetisch orientiert (S. 103) – z. B. in Form von Gesundheitsberatung. Während einer Beratung kann sich ein spezieller Informations- und Anleitungsbedarf ergeben, der in Form sich anschließender Informationsgabe und Anleitung erfüllt wird.

Fallbeispiel

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Eine Mutter äußert resigniert in einem Gespräch, dass sie bei ihrem 5-jährigen Kind mit Neurodermitis keine Idee mehr hat, was sie noch gegen den Juckreiz und das Kratzen ihres Kindes tun kann. Sie klagt: „Nichts, aber auch nichts hilft! Dabei will ich doch nur das Beste für mein Kind.“ Eine Beratung der Mutter kann Informationen zur Juckreizlinderung und Durchbrechung des Juck-Kratz-Kreislaufs beinhalten, aber auch auf eine Verhaltensänderung im Umgang mit ihrem Kind hinwirken. Die spezifische Situation der Mutter und ihres Kindes ist Ausgangspunkt für den individuellen gemeinsamen Problemlösungsprozess unter Einbezug ihrer Ressourcen.

Merke

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Ziel aller Interventionen der Patientenund Familienedukation ist es, die Betroffenen zu befähigen, ihre Situation, z. B. aufgrund einer Gesundheitsstörung, unabhängig von professioneller Hilfe zu bewältigen. Dabei steht die subjektive Sicht des Ratsuchenden im Mittelpunkt und nicht die des Beraters. Geben Sie als beratende Pflegefachkraft Hilfe zur Selbsthilfe.

8.7.3 Beratung im Pflegeprozess Pflegende sind in einer günstigen Ausgangsposition für Beratung. Aufgrund ihrer engen Kontakte zum Patienten und zu seiner Familie und auf der Basis des Pflegeprozesses nehmen sie deren individuelle Bedürfnisse umfassender wahr als andere Berufsgruppen. Sie stehen in einem Beziehungsprozess, der als grundlegende Voraussetzung für eine gelingende Beratung gilt. Die Pflege- und Behandlungsqualität zu sichern bedeutet, auch bei der Bewältigung von Gesundheitsstörungen zu unterstützen, aber auch Gesundheit zu fördern/ zu erhalten und ein entsprechendes Verhalten bei dem Patienten und seinen Angehörigen anzustoßen. In der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege werden Beratungsgespräche vorrangig mit Eltern oder auch Jugendlichen geführt, da für eine Beratung entwicklungsbedingte Voraussetzungen gegeben sein müssen (S. 217).

Übergeordnete Ziele von Beratung Diese beinhalten Folgendes: ● Beteiligung des Patienten (entwicklungs- und altersabhängig)/der Eltern am Beratungsprozess als aktiver Partner des Gesundheitspersonals ● Unterstützung bei der Bewältigung und Akzeptanz der physischen, psychischen und sozialen Auswirkungen von Gesundheitsproblemen, Behinderung oder belastender Lebenssituation ● Befähigung zum Lösen von Problemen und Treffen selbstständiger und sachgerechter Entscheidungen in Zusammenhang mit der Gesundheit des Kindes und der eigenen Gesundheit. Kinder und Jugendliche werden entsprechend ihren Möglichkeiten beteiligt und zunehmend befähigt, mit zu entscheiden. ● Bewirken von Veränderungen im Denken, Fühlen und Handeln in Bezug auf Gesundheit

Abb. 8.7 Beratung. Beratungsgespräch zum Aufbau von Selbstmanagementfähigkeiten (Symbolbild). (Foto: P. Blåfield, Thieme)





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Ausbau von Selbstmanagementfähigkeiten, z. B. bei einer chronischen Erkrankung, um eigenverantwortlich handeln, ein unabhängiges Leben führen und den Alltag bewältigen zu können (▶ Abb. 8.7) Aufzeigen, Aufbauen, Erhalten und Stärken von Ressourcen aktive Förderung der Gesundheit Verbesserung der Lebensqualität Kostenreduzierung im Gesundheitswesen

Merke

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Wichtiges Ziel einer Beratung ist der „informierte Patient“, bei Kindern die „informierten Eltern“, die autonom Entscheidungen treffen und ihr Leben und das ihrer Familie weitgehend selbstständig gestalten können. Versorgungsbrüche sollen vermieden werden.

Beratungshindernisse Einflussfaktoren, die sich störend auf den Beratungsprozess und damit auf den Beratungserfolg auswirken können, können vonseiten des Ratsuchenden, aber auch vonseiten der beratenden Pflegefachkraft auftreten. Vonseiten der Ratsuchenden: ● Gefühle wie Angst, Hoffnungslosigkeit, Machtlosigkeit, Trauer ● Müdigkeit, Erschöpfung, Depressivität ● Schmerzen ● Motivationsschwierigkeiten ● Beeinträchtigung der Wahrnehmungs-, Seh- und Hörfähigkeit, kognitive Grenzen ● Sprachbarrieren ● körperliche Einschränkungen (z. B. Hemiplegie) ● Leseschwierigkeiten, Analphabetismus ● belastende Situationen, z. B. prä- und postoperativ, vor oder nach diagnostischen und therapeutischen Eingriffen ● fehlende Unterstützung durch das soziale Umfeld

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Familienorientierte Pflege und Betreuung ●









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Vorbehalte gegenüber der beratenden Person schlechte Erfahrungen durch frühere Beratungssituationen Vonseiten der beratenden Pflegefachkraft: Einflussfaktoren wurden zu wenig berücksichtigt (z. B. Erwartungen, Bedürfnisse, Selbstbestimmung des Patienten, persönlicher Hintergrund/Biografie mit Erfahrungen, Bildung, Kultur, Religion, finanzielle Ressourcen, Lerngrenzen, physisches und psychisches Befinden) keine maßgeschneiderte Beratung (z. B. nicht angemessen an Alter, Entwicklungsstand, Bedürfnissen und Interessen orientiert, Ziele nicht gemeinsam ausgehandelt) ungünstiger Zeitpunkt keine lernfördernde Umgebung (z. B. kein angemessener Raum, mangelnde Ausstattung, Störungen) unverständliche Beratungsinhalte und -methoden, Fachsprache Überfrachtung mit Beratungsinhalten überflüssige Wiederholungen von Lerneinheiten durch mangelnde Absprache mit anderen Teammitgliedern zu lange Beratungsdauer wenig motivierende Methodik Beratung wird vom Team nicht mitgetragen zu wenig Zeit für Beratung

Zu bedenken ist, dass hinter einem scheinbar desinteressierten oder wenig motivierten Verhalten mancher Patienten oder Angehörigen verständliche Gründe stehen können.

Lernfördernde Beratungsgrundsätze Für viele der genannten Beratungshindernisse gibt es Lösungsmöglichkeiten. Durch eine genaue Einschätzung der Situation des zu Beratenden, gemeinsame Abstimmung und gezielte Planung der Beratung können vonseiten der Pflegenden Störfaktoren ausgeschaltet, reduziert oder bearbeitet werden. Für den Erfolg einer Beratung ist es erforderlich, sich auf die individuelle Situation des zu Beratenden einzulassen und seinen einzigartigen persönlichen Hintergrund zu beachten. Beratungshemmnisse sollten von beratenden Pflegefachkräften erkannt, thematisiert und bearbeitet werden. Wichtig ist es auch, lernpsychologische Kenntnisse umzusetzen.

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Merke

H ●

Grundlegende Voraussetzungen für eine erfolgreich verlaufende Beratung sind Vertrauen, angemessene Kommunikation und Beratungskompetenz (S. 202).



Beratungsgrundsätze An dieser Stelle sind einige wichtige Beratungsgrundsätze zusammengefasst. Vertiefendes Wissen können sich Pflegefachkräfte durch Weiterqualifizierung aneignen. Grundsätzlich ist Folgendes wichtig: ● Eine vertrauensvolle Beziehung aufbauen, durch wertschätzende, empathische Grundhaltung, Echtheit und Akzeptanz des anderen. ● Ein angenehmes, beratungsförderndes Klima schaffen. ● Offenheit zeigen, keine voreiligen Schlüsse ziehen. ● Eine Atmosphäre bereiten, in der auch kontrovers diskutiert werden kann. ● Persönlichkeit, Lebenswelt und sozioökonomischen Hintergrund des Adressaten beachten. ● Selbstbestimmung und Entscheidungen des Ratsuchenden akzeptieren. ● Respekt zeigen vor der Autonomie des Ratsuchenden; ihm zugestehen, dass er eine andere Einstellung/Auffassung hat. ● Adressaten aktiv beteiligen. ● Ins Gespräch kommen, d. h. auch Belehren vermeiden, da es bevormundend wirkt und damit Abwehr und Passivität hervorrufen kann. ● Motivierende Gesprächsführung (z. B. offene Fragen, aktives Zuhören, Ich-Botschaften, ausreden lassen, verständlicher Ausdruck, paraphrasieren, spiegeln); die klientenzentrierte Gesprächsführung nach Carl Rogers (S. 233) ist eine geeignete Gesprächsmethode für Beratungssituationen. ● Auch ein informeller Beratungsstil hat seinen Platz, z. B. in einem Beratungsgespräch, das während einer Pflegehandlung zustande kommt. ● Begrenzte Beratungsdauer, Pausen einlegen. ● Informationen in kleine Beratungseinheiten „portionieren“. ● Zeit zum Nachdenken und Handeln geben. ● Mit geeigneten Fragen einen Perspektivwechsel in Gang bringen, um Ziele und Lösungen zu finden; dabei werden in Gedanken Person, Zeit und Rahmenbedingungen gewechselt oder unterschiedliche Konsequenzen durchgespielt, um zum Nachdenken anzuregen und ein Thema aus verschiedenen/ neuen Blickwinkeln betrachten zu kön-











nen (Beispielfragen: „Wie würde ein optimistischer Mensch die Situation sehen?“, „Was würde geschehen, wenn wir das Ziel nicht im Auge behalten würden?“). Motivation fördern (z. B. durch realistische, an den Bedürfnissen des Ratsuchenden orientierte Zielsetzung, Lob und Anerkennung, Ermutigung, Aufzeigen von Beratungserfolgen, Einsatz anschaulicher Methoden und Materialien, Kreativität, Freude am Lernen und Humor, wo angebracht). Eine anschauliche Vermittlung der Beratungsinhalte über mehrere Sinneskanäle, wie Tasten („Begreifen“), Sehen, Hören, Riechen und Schmecken, aktiviert den zu Beratenden. Die neuen Informationen werden besser behalten, da mehrere Zugangswege zu dem neu Erlernten entstehen. An Vorwissen anknüpfen und anschließend mit ausreichendem Neuigkeitswert versehen, dies erleichtert den Lernprozess. Kein abgespecktes Profiwissen, sondern bedarfsgerechte, relevante Kenntnisse vermitteln. Bedenken und einbeziehen, dass auch Eltern oder Jugendliche im Laufe der Zeit zu Experten im Umgang mit ihrer Erkrankung geworden sind und dann nur in Einzelbereichen Beratung benötigen. Individuelle, auf den Einzelnen zugeschnittene Interventionen entwickeln.

Praxistipp

Z ●

Setzen Sie Ihre Kreativität im Beratungsprozess ein. Das erleichtert das Lernen und wirkt motivierend! Schulmeisterliches Vermitteln von Wissen sowie Beraten mit „erhobenem Zeigefinger“ sind einschüchternd und demotivierend. Eine Beratungssituation darf (themenabhängig) auch Spaß machen! Folgender Grundsatz gilt immer: Der Ratsuchende und die beratende Pflegefachkraft sind gleichwertige Akteure in einem Team.

Merke

H ●

Zentrale Aspekte einer pflegerischen Beratung sind (Engel 2006): ● Interaktionsorientierung mit aktiver Partizipation des Ratsuchenden ● Ressourcenorientierung ● Lösungsorientierung ● Präventionsorientierung ● Orientierung an Gesundheitsförderung

8.7 Patienten- und Familienedukation

Voraussetzungen aufseiten des Patienten Die Motivation des Ratsuchenden und seine aktive Mitarbeit sind wichtige Voraussetzungen für eine gelingende Beratung. Der Begriff „Compliance“ wird in der Beratung aber treffender durch Bezeichnungen, wie Adhärenz (S. 192), Kooperation, gemeinsame Vereinbarungen treffen, Übereinkunft finden, ersetzt. Der Grund hierfür ist, dass Compliance mit dem Befolgen der vorgeschriebenen Behandlung übersetzt werden kann, was der Grundhaltung innerhalb des Beratungsprozesses widerspricht. Im Rahmen einer Beratung haben Eltern eines Kindes, bzw. der Patient, nicht Ratschläge zu befolgen, sondern es werden individuelle Ziele gemeinsam mit der beratenden Pflegefachkraft bzw. dem interdisziplinären Team vereinbart und ausgehandelt. Patienten und Angehörige haben das Recht, Vorschläge abzulehnen und sich bewusst für oder gegen Angebote zu entscheiden. Eine sog. „NonCompliance“ hat vielfältige und aus Patientensicht nachvollziehbare Gründe, die bearbeitet werden sollten.

Merke

H ●

Beratung schreibt nicht vor und überredet nicht, Ratschläge zu befolgen, sondern bietet Wissen und Unterstützung an, damit Menschen selbstbestimmt Entscheidungen treffen können.

Wahl des pädagogisch günstigen Moments Definition

L ●

Pädagogisch günstige Momente sind Situationen, in denen der Patient hoch motiviert und bereit für eine Beratung ist. Lernen ist dann am effektivsten.

Um diese Gelegenheiten aufzugreifen, müssen Pflegende dem Patienten oder seinen Angehörigen mit offenen Augen und Ohren begegnen. Pädagogisch günstige Momente sind häufig verdeckt. Fragen, aber auch Andeutungen, können Signale sein, die auf das Suchen nach Antworten schließen lassen. Oftmals entstehen daraus ungeplante Beratungen und sie sind dann auch effektiv, weil der Patient in diesem Moment eine hohe Motivation mitbringt.

Fallbeispiel

I ●

Eine Mutter mit ihrem behinderten Kind lehnt z. B. nach PEG-Anlage zunächst eine Beratung und Anleitung auf Anfrage ab, weil sie noch zu sehr mit der neuen Situation beschäftigt ist oder Angst vor der Versorgung hat. Zwei Tage später fragt sie dann beim Verbandwechsel, ob die Eintrittsstelle immer desinfiziert werden muss. Diese Gelegenheit und das Interesse der Mutter können genutzt werden, um eine dosierte informelle Beratung im Rahmen der Wundversorgung durchzuführen. In weiteren mit der Mutter abgestimmten Schritten kann sie langsam an den PEG-Verbandwechsel in Form einer geplanten Beratung herangeführt werden, ohne sich überfordert zu fühlen. So kann aus einer ungeplanten, eher unvollständigen Beratung ein systematischer, vollständiger Beratungsprozess entstehen, der evaluiert und dokumentiert wird.

Merke

H ●

„Ein Patient oder Angehöriger, der ein bestimmtes Bedürfnis verspürt, ist motiviert, etwas zu unternehmen, um es zu befriedigen“ (London 2003). Mit pädagogischem Fingerspitzengefühl sollte die beratende Pflegefachkraft solche Gelegenheiten nutzen.

Beispiele pädagogisch günstiger Momente: ● während einer Pflegemaßnahme durch Erklären der Handlungsschritte Informationen geben (z. B. beim Inhalieren) ● bei Äußerungen über Schwierigkeiten, z. B. gibt ein Kind mit Spina bifida Probleme beim Katheterisieren der Harnblase an. In einer Beratungssequenz kann die Pflegefachkraft gemeinsam mit dem Kind Alternativen finden (z. B. andere Blasenkatheter ausprobieren, die besser zu handhaben sind, oder gemeinsam die Technik des Katheterisierens überprüfen, besprechen und üben)

Lernaufgabe

M ●

Schulen Sie Ihre Wahrnehmungsfähigkeit in Bezug auf das Erkennen von Beratungsbedarf bei Patienten und deren Angehörigen. Achten Sie in Ihrem nächsten Praxisfeld auf pädagogisch günstige Momente und überlegen Sie, wie diese konkret für eine Beratung genutzt werden können.

Beratungsdauer Merke

H ●

Ausgedehnte Beratungen sind zu vermeiden, um Überforderung oder Langeweile vorzubeugen.

Festgelegte Beratungssequenzen von max. 30 Minuten erhalten die Konzentration. Eltern erhalten so die Möglichkeit, neues Wissen zu integrieren und auftretende Fragen für den nächsten Termin zu formulieren. Bei Kindern ist die Beratungsdauer altersabhängig wegen geringerer Aufmerksamkeitsspannen noch kürzer zu planen.

5 Schritte des Beratungsprozesses Professionelle pflegerische Beratung erfolgt im Sinne eines individuellen Problemlösungsprozesses und wird in mehreren Schritten geplant, strukturiert, ressourcen- und zielorientiert sowie methodisch gestaltet. Der Beratungsprozess verläuft in 5 Schritten (▶ Abb. 8.8). Beratung ist ein Prozess, der mit einer systematischen Einschätzung beginnt. Dazu gehört die Erfassung des Beratungsbedarfs, von Motivation, Lernstil, lernhemmenden oder -fördernden Einflussfaktoren sowie vorhandener Ressourcen. Hierzu soll auch das Pflegeteam befragt werden oder bei Kindern deren Eltern oder Bezugspersonen. Auf der Grundlage des Beratungsbedarfs werden Beratungsziele gemeinsam mit dem Patienten bzw. den Angehörigen festgelegt. Im nächsten Schritt werden Beratungsmaßnahmen geplant und durchgeführt, die zur Erreichung der vereinbarten Ziele führen sollen. Ziele und Beratungsergebnisse werden regelmäßig reflektiert und evaluiert und bei Notwendigkeit neue Ziele gesetzt. Der Beratungsprozess wird dokumentiert. Wichtig ist es, als Pflegefachkraft eigene Grenzen im Beratungsprozess zu erkennen und andere Berufsgruppen in einem interdisziplinären Ansatz einzubeziehen.

8

Schritt 1: Beratungsbedarf und Ressourcen erfassen Unter „Beratungsbedarf ermitteln“ ist die Erfassung von Problemstellungen zu verstehen, aus denen ein Beratungsbedarf abgeleitet werden kann. Die Lernbedürfnisse können entweder vonseiten der Eltern oder des Kindes/Jugendlichen geäußert oder aber durch die Pflegefachkraft wahrgenommen bzw. aufgrund ihres

9

Familienorientierte Pflege und Betreuung

Beratung beenden

Beratungsbedarf/ -problem und Ressourcen ermitteln

Beziehungsaufbau Vereinbarung treffen

Beratungsziel gemeinsam festlegen

Evaluation

Beratungsmaßnahmen gemeinsam festlegen

Beratungsmaßnahmen umsetzen

Abb. 8.8 Beratung als Problemlösungsprozess in 5 Schritten.

Fachwissens erkannt und dann in einem Gespräch verifiziert werden. Hierbei geht es darum, den individuellen Beratungsbedarf des Ratsuchenden zu erfassen, und nicht darum, dem Ratsuchenden Ratschläge zu erteilen. Es ist wichtig herauszufinden, was das Kind, der Jugendliche oder die Eltern wissen möchten und bereits wissen. Der Beratungsbedarf kann in Form eines Problems oder einer Fragestellung aus der Sicht des Patienten konkret beschrieben werden. Aber auch Pflegediagnosen sind ein geeignetes Mittel zur Benennung des Beratungsbedarfs. Probleme können aktueller oder potenzieller Natur sein. Ressourcen können Kompetenzen des Patienten sein oder alle Quellen, die zur Lösung des Problems genutzt werden können, vgl. Pflegeprozess (S. 58). Hilfe zur Selbsthilfe bedeutet auch, dem Ratsuchenden zu zeigen, wie er Ressourcen ausfindig machen und nutzen kann.

8

▶ Pflegediagnose „Wissensdefizit“. Eine Pflegediagnose mit dem Titel „Wissensdefizit“ beschreibt fehlende oder nicht ausreichende kognitive Informationen in einem bestimmten Bereich und bildet somit den Anlass für eine Beratung. In anderen Pflegediagnosen sind Wissensdefizite unter den beeinflussenden Faktoren ausgewiesen. Auch an dieser Stelle lassen sich beratende Interventionen ableiten, um das mangelnde Wissen auszugleichen. Beispiele für Pflegediagnosen, die die Grundlage für eine pflegerische Beratung bilden können, sind nach NANDA International (Herdman, Kamitsuru 2016) für die Gesundheits- und Kinderkrankenpflege:

200





● ● ●



Gefahr einer beeinträchtigten Bindung (z. B. bei einem Frühgeborenen oder kranken Neugeborenen, mit der Elternrolle verbundene Angst) Gefahr der beeinträchtigten elterlichen Fürsorge (z. B. bei fehlendem Wissen über die Gesunderhaltung des Kindes, bei Behinderung des Kindes) Gefahr eines plötzlichen Kindstodes unwirksames Stillen ungenügende Bewältigungsformen der Betroffenen (coping) u. a.

▶ Kritische Betrachtung der Pflegediagnose „Wissensdefizit“. Die Bezeichnung „Wissensdefizit“ ist sehr begrenzt auf das Fehlen und damit die Vermittlung von Wissen ausgerichtet. Nach Fran London (2003) geht es um weit mehr: „Dem Klienten Wissen zu vermitteln ist nur der erste Schritt. Wissen allein muss noch keine Auswirkungen auf seinen zukünftigen Zustand haben. Wer edukativ tätig ist, möchte dem Klienten nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch Einfluss nehmen auf seine Einstellungen, sein Können, seine Fähigkeit zur Umsetzung des Gelernten, seine Verhaltensweisen und seine Gesundheit.“

Schritt 2: Beratungsziele gemeinsam festlegen In diesem Prozessschritt wird das Ziel im Dialog mit dem Ratsuchenden vereinbart oder geklärt. Die gemeinsame Zielvereinbarung ist eine wichtige Voraussetzung für Motivation und Mitarbeit des Patienten und seiner Angehörigen sowie dafür,

dass das Ziel auch erreicht wird. Die beratende Pflegefachkraft wendet Methoden an, die das Nachdenken und die aktive Beteiligung des Ratsuchenden unterstützen (S. 199). Wenn der Patient/Angehörige damit noch überfordert ist, kann die Pflegefachkraft auch auf Basis ihres Fachwissens Ziele vorschlagen. Diese Ziele werden mit dem Betroffenen besprochen. Die Beratungsziele sollen konkret, überprüfbar und erreichbar sein. Die Differenzierung in übergeordnete und Teillernziele kann sinnvoll sein. Es können kurz-, mitteloder langfristig erreichbare Ziele ausgehandelt werden. Im Rahmen einer Beratung können unterschiedliche Lernziele (kognitive, affektive und psychomotorische) angestrebt und auf unterschiedlichem Niveau festgelegt werden. ▶ Kognitive Lernziele. Diese umfassen alle Lernziele in Bezug auf Wissen und allgemein intellektuelle Fähigkeiten wie Wahrnehmungs- und Denkleistungen, z. B. „Frau M. kann die genaue Durchführung der Sondierung von Nahrung über die Magensonde bei ihrem behinderten Kind erklären“. ▶ Affektive Lernziele. Diesem Bereich sind Einstellungen, Haltungen, Interessen und Wertungen zuzuordnen, z. B.: „Frau M. ● erkennt, dass ihr schwer behindertes Kind eine besonders einfühlsame und wahrnehmungsfördernde Pflege benötigt; ● ist bereit, ihrem schwer behinderten Kind eine besonders einfühlsame und wahrnehmungsfördernde Pflege zu geben; ● zeigt eine einfühlsame und wahrnehmungsfördernde Pflege bei ihrem schwer behinderten Kind.“ An diesem Beispiel sind abgestufte Teillernziele auf unterschiedlichem Niveau erkennbar. ▶ Psychomotorische Lernziele. Mit diesen Lernzielen werden manuelle Fähigkeiten beschrieben, z. B.: „Frau M. ● demonstriert die Nahrungssondierung über eine Magensonde an einer Puppe; ● führt die Nahrungssondierung bei ihrem Kind unter schrittweiser Anleitung und Korrektur/Hilfestellung der Beratungsperson durch; ● führt die Nahrungssondierung selbstständig, sicher und wiederholt unter unmittelbarer Beobachtung der Beratungsperson bei ihrem Kind durch; ● führt die Nahrungssondierung selbstständig und sicher bei ihrem Kind durch.“

8.7 Patienten- und Familienedukation

Schritt 3: Beratungsmaßnahmen erarbeiten und festlegen In diesem Schritt werden gemeinsam realistische Lösungsmöglichkeiten für das Problem entwickelt und in einem Beratungsplan zusammengestellt. Im Gespräch zwischen Patient, Angehörigen und der beratenden Pflegefachkraft werden geeignete Unterstützungsmaßnahmen, die zur Erreichung der Beratungsziele führen sollen, gemeinsam ausgewählt und geplant. Die Entscheidung für oder gegen eine Maßnahme trifft der Patient, bei Kindern deren Eltern. Lösungsansätze können orientiert am jeweiligen Problem Präventivmaßnahmen (z. B. Änderung der Ernährungsgewohnheiten), Maßnahmen bei aktuellen Problemen (z. B. Verbesserung der Anwendungstechnik eines Dosieraerosols bei Asthma) oder Strategien zur Bewältigung einer belastenden Erkrankung (z. B. Änderung der Einstellung gegenüber der Erkrankung) sein. Die vorhandenen Ressourcen und das, was der Ratsuchende wissen möchte, bestimmen den Umfang der Unterstützung. Die Aufgabe der beratenden Pflegefachkraft ist es, in dieser Phase gemeinsam mit dem Patienten einzuschätzen, welche Lösungsansätze Erfolgsaussichten haben, und ihm Entscheidungshilfen vorzuschlagen. Außerdem stellt sie Materialien, wie Ernährungspläne oder Merkblätter, zur Verfügung. Die Handlungen des Patienten und ggf. die der Pflegefachkraft werden geplant. Auch die Lernmethoden werden in diesem Schritt festgelegt.

Merke

H ●

Die 6 W-Fragen „Was?“, Wann?“, Wo?“, Wer?“, Wie?“, Warum?“ sind ein guter Leitfaden für die Planung der Interventionsmaßnahmen.

Schritt 4: Umsetzung der Beratungsmaßnahmen Die im Beratungsplan festgelegten Interventionsmaßnahmen werden schrittweise umgesetzt. Beratung beinhaltet ggf. auch Bereitstellung von Informationen und Durchführung von Anleitungen. Beratungsort, Beratungsdauer, geplantes methodisches Vorgehen und die beteiligten Personen sind wichtige Faktoren in der Umsetzung der geplanten Maßnahmen. Findet eine Beratung im Krankenhaus statt, ist genügend Zeit für die Durchführung der Beratung vor der Entlassung einzuplanen. Der Patient soll die Maßnahmen aufbauend selbstständig umsetzen, die beratende Pflegefachkraft begleitet

durch Rückmeldungen, Ermutigung und gezielte aktive Unterstützung.

Schritt 5: Evaluation Unter Evaluation wird zum einen die Beurteilung/Bewertung des Erfolges des umgesetzten Beratungsplans im Hinblick auf die Erreichung der Beratungsziele verstanden. Zum anderen evaluiert die Pflegefachkraft ihre Begleitung und Unterstützung des Problemlösungsprozesses. Evaluiert wird nach kleinen Lerneinheiten und am Ende des Beratungsprozesses. Es wird überprüft, ob eine Annäherung an das Ziel bzw. die Teilziele erfolgte oder ob diese erreicht wurden. Bei planmäßigem Verlauf kann die Umsetzung des Maßnahmenkonzeptes beibehalten werden. Treten neue Erkenntnisse und Situationen ein, erfolgt eine Modifizierung. Die Evaluation erfolgt kriteriengeleitet. Es wird festgelegt, woran der Ratsuchende oder andere erkennen können, ob das Ziel erreicht wurde. Die Evaluation kann mit verschiedenen Methoden erfolgen: durch Eigen- und Fremdbeobachtung (z. B. ob sich die Atmung durch regelmäßige und korrekt durchgeführte Inhalationen bei einem Jugendlichen mit Mukoviszidose verbessert hat), durch Erkennen einer Verhaltensänderung, durch Nachfragen, Gespräche, indem der Patient demonstriert, was er gelernt hat (z. B. Verbandwechsel bei PEG), Memorys, Puzzle, Lückentexte für Kinder, computergestützte Lerntests. Auswertungsfragen können sein: „Was nehmen Sie heute mit aus unserem Gespräch/aus der Anleitung?“, „Was benötigen Sie noch, um weiterzukommen?“ Bei Auswertungen mit Kindern werden alters- und entwicklungsgerechte Fragen formuliert. Der Patient soll die Lernerfolge mit seinen eigenen Worten formulieren. Evaluationsgespräche sind sehr anspruchsvoll. Der Patient darf im Evaluationsgespräch nicht den Eindruck gewinnen, dass Erfolg und Misserfolg geprüft werden, da dies als demotivierend empfunden wird. Der Patient soll wissen, dass die Evaluationsphasen vielmehr der Reflexion der beschrittenen Lösungswege und der Motivation dienen sollen. Diese Sichtweise soll klar formuliert werden. Lob und Ermutigung sind im Rahmen der Evaluation deshalb auch sehr wichtig.

Merke

▶ Dokumentation. Der Beratungsprozess wird detailliert dokumentiert. Die Dokumentation dient auch der Transparenz für weitere Beteiligte (Pflegeteam, andere Berufsgruppen, Angehörige), der Darstellung der Beratung als herausgehobene pflegerische Leistung und der Qualitätssicherung. Zur nachvollziehbaren Dokumentation der Patienten- oder Angehörigenberatung ist ein eigens hierfür entwickeltes Formblatt empfehlenswert.

8.7.4 Beratungssituationen in der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege Gesundheits- und Kinderkrankenpflege bietet ein überaus breites und vielfältiges Spektrum an Beratungssituationen. Für eine effektive Beratung sind die Zusammenarbeit im Team und auch ein interdisziplinärer Ansatz unerlässlich. Alle Teammitglieder müssen über den Stand des Beratungsprozesses informiert sein und „an einem Strang ziehen“. Nachfolgend werden einige wenige Beispiele für Beratungsthemen aufgelistet: ● Elternberatung zur Unterstützung der Eltern-Kind-Bindung (z. B. bei einem Frühgeborenen) ● gesunde Ernährung und Bewegungsförderung bei Kindern und Jugendlichen mit Adipositas ● Stillberatung (▶ Abb. 8.9) ● Beratung zur stadiengerechten Hautpflege bei Neurodermitis ● Unterstützung eines chronisch kranken Kindes und seiner Familie bei der Krankheits- und Alltagsbewältigung (z. B. bei schwerer Behinderung oder Krebs) ● Unterstützung und Beratung im Finalstadium einer Erkrankung

Lernaufgabe

8

M ●

Finden Sie weitere Beispiele für mögliche Beratungen und Anleitungen durch Pflegefachkräfte unter den Aspekten Gesundheitsförderung, Prävention und Hilfestellung zur Bewältigung von Erkrankungen, belastende Lebenssituationen oder in der Palliativpflege.

H ●

Legen Sie die Ziele, Inhalte, Methoden und Evaluationsformen der Beratung gemeinsam mit dem Ratsuchenden fest. Fördern und erhalten Sie die Motivation des Ratsuchenden.

Abb. 8.9 Stillberatung. – mit Erfolg! (Foto: P. Blåfield, Thieme)

1

Familienorientierte Pflege und Betreuung

8.7.5 Qualifizierungsmöglichkeiten Beratungskompetenzen können Pflegende durch Fort- und Weiterbildungen sowie Studiengänge aufbauen. Zur Beratung wird fundiertes Fachwissen benötigt. Pflegende müssen zudem in die Rolle des Pädagogen schlüpfen und sich entsprechende pädagogische und psychologische Grundlagen aneignen, u. a. Kenntnisse der Entwicklungs- und Lernpsychologie und Inhalte zur Bildung von Erwachsenen und Kindern.

Kompetenzen des Beraters Vonseiten des Beraters sollten folgende Kompetenzbereiche weiterentwickelt werden: ● Fachkompetenz, (pflege-)wissenschaftlich fundiertes Fachwissen und praktische Erfahrung im Fachgebiet, z. B. in der Neonatologie bei der Beratung von Familien mit Frühgeborenen ● kommunikative Kompetenz, z. B. Beherrschen der Grundsätze von Beratungsgesprächen (S. 198) ● Personalkompetenz/soziale Kompetenz, z. B. Fähigkeit der Gestaltung von Pflegebeziehungen, Reflexion des eigenen Verhaltens, der eigenen ethischen Grundhaltungen, Konflikt- und Kritikfähigkeit ● Methodenkompetenz, z. B. Fähigkeit zur methodischen Gestaltung von Lernund Beratungsprozessen, lernpsychologische, lerntheoretische und didaktische Kenntnisse ● Medienkompetenz (S. 202), z. B. Kenntnisse zur Bewertung und die Auswahl geeigneter Medien für Erwachsene und Kinder, Sicherheit im Einsatz von Medien

8

Finden häufiger Beratungen zu bestimmten Themen statt (z. B. Stillberatung), ist es vorteilhaft, sich einen „Methoden- und Medienkoffer zu packen“ (▶ Abb. 8.10), d. h. eine Auswahl an Methoden, Medien und Materialien vorzubereiten, die jederzeit ohne großen Aufwand eingesetzt werden können.

Merke

H ●

Aktualisiertes und – wo immer möglich – evidenzbasiertes Fachwissen dient dem Ratsuchenden und ist ein Merkmal von verantwortungsvoller und fachkundiger Beratung in der Pflege.

202

Medien – schriftliche Materialien: (Broschüren, Flyer, Informationsblätter, Handouts) – Poster – Filme – CDs – Modelle (Übungsmaterialien für praktische Anleitungen wie Puppen, Verbände, Pens u. a.) – Lernprogramme (Computer) – Internet – Flipchart Methoden – Rollenspiele – Cartoons – Spiele (Puzzle, Memory) – Lückentext – Demonstration

Abb. 8.10 Methoden- und Medienkoffer. Dieser spart Zeit und Aufwand.

Medienkompetenz Medien und Internetressourcen sind, bei kompetenter Nutzung, wertvolle Hilfsmittel in der Familien- und Patientenedukation. Sie dienen der Unterstützung von Lernprozessen. Sie sollen Lerninhalte veranschaulichen, Interesse und Motivation wecken. Filme, Videos, Broschüren, Cartoons, Übungsmodelle, Demonstrationspuppen, Materialien, die angewendet werden sollen (z. B. Blasenkatheter), helfen bei der Veranschaulichung und dienen der Lernstimulation. Texte, die Problemstellungen enthalten, sollen den Betrachter dazu auffordern, Probleme zu lösen oder Entscheidungen zu treffen. Leider gibt es nur wenige überprüfte edukative Medien. Aufgabe der beratenden Pflegefachkraft ist es, sich zu informieren, wie das Internet und Lehrmaterialien für Beratungssituationen gezielt genutzt werden können. Internetquellen, Informations- und Schulungsmaterialien sollten vor Nutzung gesichtet und auf ihre Qualität und Eignung für Erwachsene bzw. Kinder beurteilt werden. Dieses Wissen kann auch an Ratsuchende weitervermittelt werden. Zur Überprüfung vorgefertigter und auch zur Konzeption neuer Informationsmaterialien sollten Qualitätskriterien herangezogen werden (z. B. Verständlichkeit, Fachrichtigkeit, Anschaulichkeit). Handouts oder andere schriftliche Materialien werden besprochen und nicht einfach Patienten überlassen.

Netzwerke und Patienteninformationszentren Im Jahr 2001 wurde in Witten das „Netzwerk Patienten- und Familienedukation in der Pflege e. V.“ gegründet. Mehrere Patienteninformationszentren (PIC) stellen ihre Angebote zur Verfügung.

Lernaufgabe

M ●

Informieren Sie sich im Internet über die Ziele und Aufgaben des „Netzwerks Patienten- und Familienedukation in der Pflege e. V.“ (www.patientenedukation. de). Was wird unter einem Patienteninformationszentrum verstanden?

Praxistipp Pflege

Z ●

Patienten- und Familienedukation ist ein spannendes und anspruchsvolles Aufgabenfeld, lassen Sie sich darauf ein! Gestalten Sie mit!

Kapitel 9 Pflegerische Pflegerische Beobachtung – Beobachtung – Wahrnehmen, Beobachten, Wahrnehmen, Beurteilen, Handeln Beobachten, Beurteilen, Handeln

9.1

Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung

204

9.2

Wahrnehmungsprozess

204

9.3

Beeinflussende Faktoren

205

9.4

Beobachtungs- und Beurteilungsfehler

205

9.5

Beobachtungsqualität – Gütekriterien

206

9.6

Beobachtung im Pflegeprozess

206

9.7

Beobachtungsformen

206

9.8

Verlässliches Beobachtungsergebnis

209

9.9

Pflegerischer Beobachtungsprozess

209

9.10

Beobachtungssystem

210

9.11

Beobachtung von Kindern

211

9.12

Einfühlsame Beobachtung

211

9.13

Beobachtungskompetenz von Pflegenden

211

Aufbau von Beobachtungskompetenz bei Eltern und Kind

211

Dokumentation und Informationsweitergabe

212

9.14 9.15

Pflegerische Beobachtung

9 Pflegerische Beobachtung – Wahrnehmen, Beobachten, Beurteilen, Handeln Petra Kullick Die umfassende Beobachtung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen ist ein zentraler Aspekt professioneller Pflege in allen Bereichen der Gesundheitsversorgung. Die Fähigkeit zum systematischen Beobachten und Beurteilen gehört zu den unverzichtbaren Grundkompetenzen von Pflegefachkräften. Pflegende gewinnen durch Beobachtung wertvolle Informationen über gesunde und kranke Kinder und deren Familien. Pflegerisches Handeln, Diagnostik und Therapie sind ohne kompetente Beobachtung nicht denkbar. Andere an der Versorgung von pflegebedürftigen Kindern und Jugendlichen beteiligte Berufsgruppen nutzen pflegerische Beobachtungsdaten im Rahmen der interdisziplinären Zusammenarbeit. Die pflegerische Beobachtung spielt insbesondere in der Gesundheitsund Kinderkrankenpflege eine bedeutende Rolle. Pflegeforschung basiert auf Beobachtungen und Untersuchungen.

Merke

● H

Der noch häufig verwendete Begriff „Krankenbeobachtung“ wurde bewusst durch „Pflegerische Beobachtung“ ersetzt, da Krankenbeobachtung eine eingeschränkte krankheits- und defizitorientierte Sicht nahelegt und dazu verleitet, andere Aspekte menschlichen Lebens außer Acht zu lassen.

9

Die Entwicklung der Wahrnehmung beginnt bereits intrauterin in aufeinanderfolgenden Stufen. Wahrnehmungsprozesse sind Voraussetzung für Wachstum, Entwicklung und Kommunikation. Beobachten, ohne wahrzunehmen, ist nicht möglich. Nimmt ein Mensch etwas wahr, was sein Interesse weckt, folgt der nächste Schritt – die Beobachtung.

L ●

Wahrnehmung ist ein komplexer Prozess der Informationsverarbeitung, bei dem Reize aus der Umwelt oder aus dem eigenen Körper über Rezeptoren (Sinneszellen) aufgenommen, über Nervenbahnen zum Gehirn übertragen und

204

Wahrnehmung geht in Beobachtung über, wenn bestimmte Merkmale, z. B. systematisch, zielgerichtet, planmäßig-selektiv, aufmerksam, erfüllt sind. Die Sinne werden dann gezielt auf bestimmte Aspekte gerichtet, um Veränderungen zu erkennen, neue Informationen und Daten zu gewinnen oder einen Sachverhalt unter einer gewissen Suchhaltung oder Fragestellung zu klären.

9.2 Wahrnehmungsprozess Wahrnehmen und Beobachten sind Prozesse, die es dem Menschen ermöglichen, sich seine Welt zu erschließen, sich darin zu orientieren und zu leben.

9.2.1 Wahrnehmungsgesetze Definition

9.1 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung

Definition

dort weiterverarbeitet werden. Wahrnehmung erfolgt kontinuierlich, eher unbewusst, zufällig und diffus. Beobachtung ist im Gegensatz zur unspezifischen Wahrnehmung ein bewusster, systematischer und zielgerichteter Vorgang mit der Absicht, neue Erkenntnisse zu gewinnen und Entscheidungen zu treffen.

L ●

Unter Wahrnehmungsgesetzen werden in der Psychologie Gesetzmäßigkeiten verstanden, die Ordnung in Wahrnehmungen bringen und diese strukturieren.

Diese Ordnung hängt von angeborenen und erworbenen Fähigkeiten ab und beeinflusst die Wahrnehmung. Wahrnehmungen werden von Selektions-, Ergänzungs-, Organisations- und Strukturierungsvorgängen sowie von der Interpretation des Wahrgenommenen unbewusst beeinflusst. Diese Prozesse stellen aber durchaus eine wichtige Fähigkeit zum Überleben dar. Der Selektionsakt – eine Art der Filterfunktion – schützt z. B. vor Reizüberflutung und dient dazu, sich in einer komplexen Umwelt zurechtfinden und zielgerichtet handeln zu können. Dabei kommt es auch zu Wahrnehmungs-

täuschungen, Beobachtungs- und Beurteilungsfehlern (S. 205). Nach Zimbardo (1995) bedeutet Wahrnehmung jedoch mehr, „als zu sehen oder zu hören, dass da etwas ist. Die Informationen aus der Umwelt müssen ausgewertet werden, damit sie uns etwas sagen“. Der Wahrnehmungsprozess beginnt mit reizauslösenden Vorgängen, die außerhalb und innerhalb des Körpers (z. B. Herzklopfen, Gefühle) entstehen. Aus der Umwelt nehmen die Sinnesorgane z. B. Licht- und Schallwellen auf. Der Körper überträgt Informationen über körpereigene sensible Systeme (z. B. Temperatur-, Schmerzempfindung, Tiefensensibilität). Entsprechende Rezeptoren befinden sich in Augen, Ohren, Nase, Zunge, Haut, aber auch in Muskeln, Gelenken und inneren Organen. Rezeptoren sind über den gesamten Körper verteilt oder an bestimmten Körperstellen konzentriert. Wahrnehmungswege sind (nach Lauber, Schmalstieg 2001): ● Sehsinn (visuelle Wahrnehmung) ● Hörsinn (auditive Wahrnehmung) ● Hautsinn (haptisch-taktile Wahrnehmung, Temperatur- und Schmerzwahrnehmung) ● Geruchssinn (olfaktorische Wahrnehmung) ● Geschmackssinn (gustatorische Wahrnehmung) ● Gleichgewichtssinn (vestibuläre Wahrnehmung) ● Bewegungssinn (kinästhetische Wahrnehmung) ● Muskel- und Gelenksinn (kinästhetische Wahrnehmung) ● Empfindungen innerer Organe (viszerale Sensibilität)

Merke

H ●

Sinnesfähigkeiten, die auch zu unterschiedlichen Anteilen in der pflegerischen Beobachtung eine wichtige Rolle spielen, liefern unzählige Informationen.

Die von den Rezeptoren aufgenommenen Reize werden als elektrische Impulse über Nervenbahnen zum Gehirn übertragen und dort weiterverarbeitet. Der Wahrnehmungsprozess umfasst psychische Vorgänge, wie Zusammenfügen, Urteilen, Schätzen, Erinnern, Vergleichen und Assoziieren (Zimbardo 1995). Das Ergebnis sind emotionale Reaktionen sowie Erkennungsund Entscheidungsvorgänge.

9.4 Beobachtungs- und Beurteilungsfehler Wahrnehmungen sind demzufolge eng mit individuellen Erfahrungs-, Lern- und Denkprozessen verbunden. Jeder einzelne Mensch nimmt aus der Fülle der Reize nur einen kleinen Teilausschnitt wahr und verändert unbewusst, was er wahrnimmt. Kinder sehen die Welt anders als Erwachsene, Gesunde anders als Kranke, Schauspieler anders als Pflegende, eine Pflegefachkraft anders als die andere.

Merke

Patienten oder einem Angehörigen zum ersten Mal und finden ihn sympathisch oder unsympathisch, gebildet oder schwierig im Umgang. Der erste Eindruck ist häufig prägend und überdauernd.

9.4.2 Stereotypen und Vorurteile

● H

Wahrnehmung ist kein genaues Abbild der Umwelt, sondern ein individueller Prozess, eine subjektive Konstruktion der eigenen Wirklichkeit.

9.3 Beeinflussende Faktoren Menschliche Wahrnehmung ist vom Blickwinkel des Beobachters und vom Kontext, in dem sie stattfindet, beeinflusst. Nachfolgend werden Faktoren dargestellt, die in die Wahrnehmung einfließen. ▶ Physiologische und physiopathologische Einflüsse. Einflussfaktoren sind z. B. die Funktion der Sinnesorgane, des Gehirns und Nervensystems, Lebensalter, Biorhythmus, Gewöhnungseffekte (z. B. Gewöhnung an einen Reiz, wie das Ticken einer Uhr), Wahrnehmungsschwelle, Kontrastierung, Assimilation, Müdigkeit, Drogen und Medikamente (z. B. Beruhigungsund Schmerzmittel), Schmerzen, Krankheiten. ▶ Psychologische und psychische Einflüsse. Eine Rolle spielen z. B. auch Konzentrationsfähigkeit, momentane Bedürfnisse, Stimmungslage, Emotionen, Motivation, Persönlichkeit, Biografie, Erfahrungen, Erwartungshaltung, Reizüberflutung, Reizentzug und Stress. ▶ Soziale und kulturelle Einflüsse. Faktoren wie soziale Herkunft, sozioökonomische Bedingungen, Medien, Kultur, Werte, Normen, Einstellungen, Gewohnheiten, Vorurteile, Rolle, Status und Sprache haben einen Einfluss auf die Wahrnehmung.

9.4 Beobachtungs- und Beurteilungsfehler Jeder Mensch unterliegt ständig Wahrnehmungsverzerrungen, Beobachtungsund Beurteilungsfehlern. Ursache hierfür sind die vielen psychischen Vorgänge und

Definition

Abb. 9.1 Wahrnehmungstäuschung. Die Kippfigur nach dem Psychologen Edgar J. Rubin (1886 – 1951) führt zu unterschiedlichen Wahrnehmungen. Je nach Blickwinkel zeigt die Figur entweder eine Vase oder zwei sich anblickende Gesichter.

Einflussfaktoren, die am Wahrnehmungsprozess beteiligt sind. Beobachtungen sind stets vom Beobachter und von der Situation bestimmt. Die Rubin’sche Vase ist ein Beispiel für eine Wahrnehmungstäuschung (▶ Abb. 9.1). Ein Betrachter interpretiert aufgrund der Mehrdeutigkeit der Abbildung entweder eine Vase oder zwei Gesichter. Andere Wahrnehmungen aus dem täglichen Leben zeigen, dass manchmal „Gestalten“ und „Strukturen“ wahrgenommen werden, wo keine sind. Die Wolken stellen vermeintlich Figuren, Gesichter und unheimliche Gestalten dar. Oftmals nehmen mehrere an einer Situation beteiligte Personen unterschiedliche Dinge wahr (z. B. unterschiedliche Zeugenaussagen zu ein und demselben Unfall). Insbesondere die Wahrnehmung von Personen (soziale Wahrnehmung) ist störanfällig. Sie spielt eine wichtige Rolle in der zwischenmenschlichen Kommunikation im Pflegeberuf. Viele Schwierigkeiten zwischen Menschen, auch in Pflegebeziehungen, rühren daher, dass der eine sich ein bestimmtes Bild von dem anderen macht. Häufig blickt man dabei durch die eigene „Brille“ und übersieht dabei möglicherweise, dass man einen Menschen falsch einschätzt. Nachfolgend wird eine Auswahl von möglichen Wahrnehmungsund Beurteilungsfehlern dargestellt, die auch die pflegerische Beobachtung beeinflussen.

9.4.1 Erster Eindruck Der erste Eindruck ist ein schematisches Einordnen von Menschen bei der ersten Begegnung und eine Vorform des Vorurteils. Pflegefachkräfte begegnen einem

L ●

Unter Stereotypen werden sowohl positive wie auch negative Verallgemeinerungen und Klischeevorstellungen über Gruppen verstanden, z. B. „Jungen weinen nicht“, „Lehrer sind besserwisserisch“. Vor-Urteile sind, wie das Wort schon sagt, vorgefertigte, pauschale, meist negative Meinungen über Menschen oder Gruppen, die nur schwer veränderbar sind.

Selbst neu hinzugewonnene Erkenntnisse führen i. d. R. nicht zu einer Loslösung von der vorgefassten Einstellung. Der Mensch neigt dazu, das zu registrieren, was in sein Bild passt und es nicht infrage stellt. Weitere Beispiele für Beobachtungsfehler sind z. B. Milde- bzw. Strengefehler, Ähnlichkeits- und Kontrastfehler, Halo-Effekt, Rosenthal-Effekt und Übergeneralisierung.

Lernaufgabe

M ●

9

Überlegen Sie, in welchen (Pflege-) Situationen Sie selbst dem „ersten Eindruck“ oder ihren Vorurteilen „zum Opfer gefallen“ sind.

9.4.3 Berufliche Wahrnehmung Mit dem Erlernen und der Übernahme einer Berufsrolle werden auch eine selektive Wahrnehmungsleistung und ein berufsspezifisches Gebilde der Wirklichkeit mit erworben. Der Blickwinkel wird eingeschränkt, ganz bestimmte Annahmen und Erwartungen entstehen. Ein Patient mit einer gesicherten Diagnose wird auf zu erwartende Symptome, die bei dem Krankheitsbild auftreten können, beobachtet. Möglicherweise werden durch die berufstypische „Brille“ tatsächlich vorhandene Symptome wahrgenommen, andere aber möglicherweise überbewertet oder Aspekte, die nicht mit der Erkrankung im Zusammenhang stehen, eher außer Acht gelassen.

5

Pflegerische Beobachtung

Merke Ich sehe das, was ich erwarte!

H ●

9.5 Beobachtungsqualität – Gütekriterien Nach den vorausgegangenen Ausführungen stellt sich die Frage, wie ein Beobachter (z. B. eine Pflegefachkraft) ein aussagekräftiges und zutreffendes Beobachtungsergebnis erzielen kann. Pflegende sollten mögliche Fehlerquellen kennen, sich diese bewusst machen und Beobachtungsergebnisse auf ihre Verlässlichkeit überprüfen (S. 206). Das Wissen um Beobachtungsfehler und die Selbstreflexion vermindern die Gefahr von voreiligen Schlussfolgerungen, falscher Situationseinschätzung und das Übersehen wichtiger Informationen. Fehlinterpretationen können zu unangemessenen Reaktionen, Verhaltensweisen und Handlungen führen, den Aufbau einer konstruktiven Pflegebeziehung und den Pflegeerfolg gefährden. Pflegende sollten sich deshalb um eine möglichst große Annäherung an eine objektive Beobachtung von Sachverhalten und Menschen, mit denen sie beruflich Kontakt haben, bemühen.

9 Merke

H ●

Selbstreflexion ist eine wichtige Methode, um die eigene Beobachtungsfähigkeit und das Pflegehandeln zu hinterfragen. Die kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen, Einstellungen, Erwartungen und Handlungen trägt dazu bei, Wahrnehmungsverzerrungen und Einflussfaktoren zu erkennen sowie deren Einfluss zu mindern.

9.5.1 Qualität von Daten Objektivität, Reliabilität und Validität sind zentrale Gütekriterien, um brauchbare Beobachtungsergebnisse und Messdaten zu erzielen. Sie können die Qualität des Beobachtungsergebnisses nachweislich verbessern und sollen zu folgerichtigen Handlungen führen.

Gütekriterium: Objektivität Eine weitgehend objektive Beobachtung ist gegeben, wenn mehrere Beobachter derselben Situation unabhängig voneinander zu übereinstimmenden oder annähernd übereinstimmenden Ergebnissen

206

kommen. Das Gegenteil von Objektivität ist Subjektivität. Objektive Beobachtungen sollen frei von Wertungen, voreiligen Interpretationen sein und die Realität widerspiegeln. Größere Objektivität ist durch messende Verfahren, kriteriengeleitete Beobachtung und standardisierte, wissenschaftlich überprüfte Messinstrumente, z. B. Fragebögen, Einschätzungsskalen (S. 238), zu erreichen.

Gütekriterium: Reliabilität Definition

L ●

Reliabilität bedeutet Zuverlässigkeit und Messgenauigkeit eines Messinstruments unabhängig von den Anwendern.

Reliabel ist ein Messinstrument dann, wenn verschiedene Anwender unter gleichen Gegebenheiten bei demselben Patienten zum gleichen Ergebnis kommen. Auch wiederholte Messungen zu verschiedenen Zeitpunkten sollten zu gleichen Ergebnissen führen. Bezogen auf den Zeitpunkt, kann es sich aber nur um Phänomene handeln, die sich nicht schnell verändern (z. B. autoaggressives Verhalten). ▶ Beispiel. Reliabel ist die Messung der Körpertemperatur dann, wenn z. B. zwei Personen mit demselben Ohrthermometer, bei demselben Patienten, unter gleichen Bedingungen (z. B. bei ruhendem Patienten) unmittelbar hintereinander das gleiche Temperaturergebnis ermitteln.

Gütekriterium: Validität Definition

L ●

Mit Validität wird die Gültigkeit/Treffsicherheit eines Messinstruments bezeichnet, d. h., sie gibt an, ob das Instrument auch tatsächlich das erfasst, was mit seiner Hilfe erfasst werden soll und nichts anderes.

▶ Beispiel. Ein nicht validiertes Messverfahren zur Erfassung der Schmerzintensität könnte unbeabsichtigt die Anpassung an Schmerzen messen, anstatt die Intensität der Schmerzen mit Auswirkungen auf den Pflege- und Therapieerfolg.

9.6 Beobachtung im Pflegeprozess Die durch Wahrnehmung und insbesondere systematische Beobachtung gewonnenen Informationen bilden die Grundlage des Pflegeprozesses (S. 58) und begleiten alle seine Einzelschritte. Ziel ist die systematische Gewinnung von Informationen, um im Pflegeprozess Entscheidungen treffen und zwischenmenschliche Beziehungen gestalten zu können. Während des gesamten Pflegeprozesses von der Aufnahme bis zur Entlassung und darüber hinaus gibt es viele Anlässe und Gelegenheiten, das Kind und seine Bezugspersonen in verschiedenen Situationen zu beobachten. Daraus ergeben sich neue Erkenntnisse, die in den Pflegeund Behandlungsplan fortlaufend einfließen. Wahrnehmen und Beobachten ist somit untrennbar mit pflegerischem Handeln verbunden und geschieht in Wechselbeziehung mit dem Kind und seinen Bezugspersonen auf der Basis von Empathie und einer vertrauensvollen Pflegebeziehung.

9.7 Beobachtungsformen In der Pflegediagnostik spielen verschiedene Beobachtungsformen eine Rolle, allerdings mit unterschiedlichem Stellenwert. Die Beobachtungsform hat Auswirkungen auf die Qualität des Beobachtungsergebnisses. In Abhängigkeit vom Blickwinkel, aus dem heraus Beobachtung stattfindet, und wie zielgerichtet sie erfolgt, wird unterschieden in: ● teilnehmende und nicht teilnehmende Beobachtung ● Fremd- und Selbstbeobachtung ● subjektive und objektive Beobachtung ● unsystematische und systematische Beobachtung ● Überwachung

9.7.1 Teilnehmende und nicht teilnehmende Beobachtung Bei der teilnehmenden Beobachtung ist der Beobachter aktiv am Geschehen beteiligt. Nachteil ist, dass allein die Anwesenheit eines Beobachters die Beobachtungssituation verändern kann. Bei der nicht teilnehmenden Beobachtung nimmt die beobachtete Person den Beobachter als solchen nicht wahr. Pflegende sind häufig teilnehmende Beobachter und beeinflussen dadurch das Verhalten des Patienten (z. B. Veränderung der Atmung beim Zählen der Atem-

9.7 Beobachtungsformen frequenz beim wachen Kind). Der Beobachtungseffekt kann ausgeschaltet bzw. abgemildert werden, wenn die Pflegefachkraft verdeckt beobachtet. Die Atembeobachtung erfolgt dann unbeeinflusst, am besten im Schlaf. Auch in vielen anderen Situationen, wie beim Spielen oder Essen, können für den Patienten nicht erkennbare Beobachtungen vorgenommen werden, z. B. die Stimmungslage.

9.7.2 Fremd- und Selbstbeobachtung Definition

L ●

Fremdbeobachtung bezeichnet das planmäßige und systematische Beobachten von anderen Menschen. Bei der Selbst- oder Eigenbeobachtung (subjektive Beobachtung) sind Beobachter und zu Beobachtender identisch, d. h., eine Person beobachtet sich selbst.

Innere Vorgänge eines Menschen sind nur ihm selbst zugänglich. Sein subjektives Befinden, seine Empfindungen, Motive, Einstellungen, Gedanken und Gefühle müssen sprachlich geäußert werden, um sie anderen transparent zu machen.

Fallbeispiel

● I

Eine Pflegefachkraft versorgt ein Kind, das sein Essen nicht anrührt. Beobachtet sie sein Verhalten, so kann sie zunächst nicht sicher beurteilen, was in diesem Moment in ihm vorgeht. Sie kann nur spekulieren, ob das Kind nicht isst, weil es keinen Hunger hat, sich unwohlfühlt oder aus Heimweh sein Essen ablehnt. Den wahren Grund findet sie, wenn überhaupt, nur durch ein einfühlsames Gespräch heraus („Mir ist schlecht“, „Das schmeckt mir nicht“, „Geh’ weg, ich will zu meiner Mama“).

Merke

H ●

Hier wird deutlich, dass die Pflegefachkraft auf die Kommunikation mit dem Patienten oder engen Bezugspersonen angewiesen ist bzw. auf anderen Wegen Zusatzinformationen sammeln muss, um nicht aus falsch interpretierten Beobachtungen falsche Schlüsse zu ziehen.

Ein Vorteil der Selbstbeobachtung ist, dass das subjektive Empfinden des Patienten ermittelt wird. Es ist im Zweifelsfall genauso wichtig, dass es dem Patienten subjektiv besser geht wie dass andere bestimmbare Parameter sich bessern. Selbstbeobachtung hat auch Schwächen. Niemand kann sich selbst beobachten, ohne dass Vorgänge, wie Denken und Fühlen, in ihm stattfinden. Durch die Beobachtung der inneren Vorgänge werden diese bereits verändert. Eine weitere Verzerrung findet durch die Umsetzung der Wahrnehmungen, Empfindungen und Gefühle in Sprachform statt. Es lässt sich nur schwer feststellen, ob die inneren Prozesse der sprachlichen Schilderung des betreffenden Menschen genau entsprechen. Vielleicht möchte er nicht alles erzählen oder es fehlen ihm Worte dafür. In der Pflege von Kindern erhält dieser Aspekt große Bedeutung, da insbesondere jüngere Kinder noch nicht über alle Begrifflichkeiten verfügen, um ihre Empfindungen in sprachlicher Form wiederzugeben, und auch eine andere Erlebniswelt haben als Erwachsene (S. 217).

9.7.3 Subjektive Beobachtung Definition

L ●

Bei einer subjektiven Beobachtung beobachtet und beurteilt eine Person (z. B. Pflegefachkraft) einen anderen Menschen aus ihrem eigenen Blickwinkel und nimmt dabei Einfluss auf das Beobachtungsergebnis.

Subjektive Beobachtungen sind von vielen Aspekten der individuellen Persönlichkeit des Beobachters und äußeren Bedingungen beeinflusst. Unter subjektiven Beobachtungen sind auch Äußerungen des Patienten über sich selbst zu verstehen, sog. Selbstbeobachtung (s. o.). Subjektivität ist nicht vollständig zu vermeiden, da die Wahrnehmung (S. 204) ständig von vielen Faktoren beeinflusst wird. Wichtig ist es, sich der Subjektivität des eigenen Beobachtens und Urteilens bewusst zu werden, dies als solches zu kennzeichnen und Beobachtungsmethoden einzusetzen, die zu einer möglichst objektiven Beobachtung führen.

Merke

H ●

Subjektive Beobachtungen müssen vorsichtig eingeordnet und anhand von eindeutigen Beobachtungskriterien, im Gespräch mit dem Betroffenen, seinen Angehörigen oder im kollegialen Austausch verifiziert (objektiviert) werden.

9.7.4 Objektive Beobachtung Definition

L ●

Eine objektive Beobachtung (S. 209) gründet sich im Gegensatz zur subjektiven Beobachtung auf Zahlen, Daten und Fakten. Sie ist weitgehend frei von persönlichen Ansichten, Meinungen, Gefühlen und Interessen. Die beobachtende Person beeinflusst das Beobachtungsergebnis kaum.

Durch die Anwendung von Beobachtungskriterien, standardisierten Beobachtungsprotokollen oder Assessment-Instrumenten (Einschätzungsinstrumenten) wird eine objektivere und systematische Pflegediagnostik unterstützt. Größtmögliche Objektivität wird z. B. durch den Einsatz von Messinstrumenten erreicht, da ein präzises, wenig beeinflussbares und überprüfbares Beobachtungsergebnis entsteht. Messgeräte sind in der Pflege z. B. dort anwendbar, wo physiologische Körperfunktionen zu ermitteln sind (z. B. geeichte Digitalthermometer zur Bestimmung der rektalen Körpertemperatur). Hilfsmittel für eine objektive und systematische Messung sind z. B.: ● Fieberthermometer ● Personenwaage ● Blutzuckermessgerät mit Teststreifen ● medizinische Überwachungsgeräte (z. B. EKG-Monitor) ● standardisierte überprüfte AssessmentInstrumente, z. B. Schmerzskala (S. 238)

Definition

9

L ●

Kriterium (griech.) bedeutet Kennzeichen, unterscheidendes Merkmal. Die Haut kann z. B. mithilfe der Kriterien Hautfarbe, -temperatur, -beschaffenheit und -turgor gezielt eingeschätzt werden.

7

Pflegerische Beobachtung Kriterien dienen als Raster, das es ermöglichen soll, detailreiche Informationen zu gewinnen und ein optimales Beobachtungsergebnis zu erzielen. Sie leiten eine Beobachtung und sind für verschiedene Beobachter nachvollziehbar.

9.7.5 Unsystematische Beobachtung Viele Beobachtungen geschehen in Pflegesituationen bei den verschiedensten Gelegenheiten „nebenbei“, ungeplant und nicht zielgerichtet, z. B. bei der Nahrungsgabe, beim „Känguruen“ eines Frühgeborenen mit der Mutter, im Gespräch, bei einem Pflegefachbesuch zu Hause. Während eine Pflegefachkraft einem Kind bei der Körperpflege behilflich ist, stellt sie fest, dass es niedergeschlagen wirkt und seine Haut blass aussieht. Obwohl unsystematische und Gelegenheitsbeobachtungen eher diffus und unspezifisch sind, nehmen sie in der Pflege einen großen Stellenwert ein. Es entsteht ein Gesamteindruck des pflegebedürftigen Menschen auch im Kontext seiner Familie. Viele brauchbare Informationen ergeben sich „nebenbei“. Die eher zufällig gewonnenen Informationen werden durch systematisches Beobachten präzisiert und ergänzt, um die Subjektivität zu reduzieren und die Aussagekraft des Beobachtungsergebnisses zu erhöhen.

9

9.7.6 Systematische Beobachtung Definition

L ●

„Systematisch heißt, dass man von vornherein festlegt, was man beobachten will, zu welchen Zeitpunkten, in welchen Zeiträumen und in welchen Situationen“ (Nolting u. Paulus 1996).

Durch die im Voraus festgelegten Bedingungen können relativ übereinstimmende Ergebnisse erzielt werden, auch wenn verschiedene Beobachter beteiligt sind. Die Belastbarkeit eines herzkranken Kindes könnte z. B. durch mehrere Pflegefachkräfte abgeglichen werden, indem das Kind in bestimmten Situationen und zu verschiedenen Tageszeiten beobachtet wird. Andere Aspekte treten dabei in den Hintergrund, da sich die Aufmerksamkeit auf einen Beobachtungsgegenstand – hier im Beispiel die Belastbarkeit des Kindes – richtet.

208

Tab. 9.1 Prozessstandard zur systematischen pflegerischen Beobachtung am Beispiel der elektronischen Blutdruckmessung. pflegerische Beobachtung beinhaltet

Beispiel: Blutdruckmessung bei einem 12-jährigen Jungen mit Herzfehler und V. a. Hypertonie

Beobachtungsgegenstand (Was soll beobachtet werden?)

Blutdruck

Ziel der Beobachtung (Warum wird beobachtet?)

Überwachung und Diagnosesicherung bei fraglichem Bluthochdruck

Beobachter (Wer beobachtet?)

Pflegefachkraft A, B, C

Zeitintervalle (Wie oft/in welchen Abständen wird beobachtet?)

3-mal täglich

Zeitpunkt (Wann wird beobachtet?)

morgens vor dem Aufstehen, mittags vor dem Essen (11:30 Uhr), abends 19:00 Uhr

Hilfsmittel (Womit wird beobachtet?)

geeichtes Blutdruckmessgerät: Dinamap mit abgemessener Manschettengröße

Systematik (Wie wird beobachtet?) Handlung





Beobachtungskriterien: systolischer, diastolischer und mittlerer arterieller Blutdruck (MAD), Blutdruckamplitude fachrichtige Blutdruckmessung immer am linken Arm im Ruhezustand

Bewertung und Weitergabe des Beobachtungsergebnisses Ableiten von Konsequenzen



Dokumentation

Messwert, Uhrzeit, ggf. Situation/Befinden

Durch eine genaue Bestimmung der Beobachtungssituation und der Beobachtungskriterien erhält der Beobachter ein detailliertes Bild, das auch von anderen Pflegefachkräften oder dem Arzt, d. h. also personenunabhängig, beobachtet werden kann. Systematisches Beobachten erlaubt eine exaktere Einschätzung der Situation des Kindes und hilft, auftretende Störungen frühzeitig zu erfassen.

Merke

H ●

Beachte: Beim Fokussieren, also dem Richten der Aufmerksamkeit auf einen einzelnen Aspekt, können wichtige Informationen übersehen werden. Die Pflegefachkraft muss nach einer gezielten Beobachtung wieder die Gesamtsituation in den Blick nehmen. Ein Prozessstandard zur systematischen pflegerischen Beobachtung ist am Beispiel der Blutdruckmessung in ▶ Tab. 9.1 dargestellt.

Unterschieden werden auch die quantitative und qualitative Beobachtung. Bei der Pulsbeobachtung kann z. B. sowohl die Quantität (z. B. Pulsschläge pro Minute) als auch die Qualität (z. B. Füllung des Pulses) beurteilt werden.

● ●

Normwert? Auffälliger Blutdruckwert? Information an den Arzt, an das Pflegeteam bei erhöhtem Blutdruck Nachkontrolle z. B. in 60 Minuten

Überwachung Definition

L ●

Überwachung bedeutet eine intensivierte Beobachtung in festgelegten Zeitintervallen oder kontinuierlich. Sie wird ärztlich angeordnet und häufig zusätzlich von medizinischen Überwachungsgeräten mit Alarmfunktionen unterstützt. Beispiele: postoperativer Überwachungsstandard, Monitoring von Herzfrequenz und Sauerstoffsättigung.

Überwachungsgeräte registrieren kontinuierlich lebenswichtige Körperfunktionen, können aber nicht die Beobachtung durch die Pflegefachkraft ersetzen, sondern diese nur unterstützen und objektivieren. Die Pflegefachkraft muss die vom Gerät ermittelten Daten und auch Alarmsignale in Zusammenhang mit der Gesamtsituation und dem Zustand des Kindes beurteilen.

Merke

H ●

Sowohl die systematische als auch die unsystematische Beobachtung besitzen ihren Stellenwert in der pflegerischen Arbeit. Die systematische Beobachtung liefert exaktere Ergebnisse. Gleichzeitig stützen sich Pflegende auf unsystematische Beobachtungen, da sie einen Menschen ganzheitlicher abbilden.

9.9 Pflegerischer Beobachtungsprozess

9.8 Verlässliches Beobachtungsergebnis Um ein zutreffendes Beobachtungsergebnis zu erzielen, sollten folgende Prinzipien beachtet werden: ● regelmäßig und auf verschiedene Weise beobachten ● so objektiv wie möglich beobachten ● so präzise wie möglich beobachten (z. B. systematisch, kriteriengeleitet) ● so unauffällig wie möglich beobachten (z. B. Verhalten eines Kindes) ● Messinstrumente vor Einsatz auf Funktionstüchtigkeit und Eichdatum prüfen ● Beobachtungsinstrumente und medizinische Geräte korrekt handhaben ● bestimmte Medizingeräte erst nach Einweisung gemäß den gesetzlichen Vorgaben anwenden ● ggf. Beobachtung durch eine andere Pflegefachkraft überprüfen lassen ● Beobachtungsergebnis hinterfragen, Selbstreflexion zur Minimierung von Beobachtungsfehlern ● nach dem Fokussieren auf Einzelaspekte den Blick bewusst wieder erweitern ● den ganzen Menschen und die Situation im Blick haben ● verschiedene Beobachtungsergebnisse in einen Gesamtzusammenhang stellen

9.9 Pflegerischer Beobachtungsprozess Systematische pflegerische Beobachtung ist ein dynamischer Prozess, der, ähnlich wie der Pflegeprozess, ständiger Anpassung an aktuelle Gegebenheiten bedarf. Im Laufe der Genesung, bei Verschlechterung der Situation, in Notfallsituationen oder bei sich wandelnden Bedürfnissen des Kindes und seiner Familie treten neue oder andere Fragestellungen auf. Beobachtungen werden bewertet, auf der Basis von Fachwissen entsprechend ihrer Dringlichkeit und Priorität eingeschätzt und müssen adäquate Handlungen zur Folge haben. Lebensbedrohliche Zustände z. B. müssen ohne Zeitverzögerung als solche erkannt werden, um dann lebenserhaltende Sofortmaßnahmen, kontinuierliche Überwachung und die Alarmierung eines Arztes einzuleiten. Risikofaktoren, z. B. eine ermittelte erhöhte Gefährdung für eine Aspiration, verlangen umgehend die Einleitung von Präventivmaßnahmen, um Sekundärschädigungen vorzubeugen. Andere Beobachtungen lösen momentan noch keinen konkreten Handlungsbedarf aus, außer dass sie z. B. bei der Visite oder Patientenübergabe weitergeleitet werden.

H ●

Merke





Die Pflegefachkraft bewertet ihre Beobachtungen, kontrolliert Auffälligkeiten, beobachtet Veränderungen im Verlauf und gibt die Beobachtungsergebnisse an den Arzt und andere an der Therapie beteiligte Berufsgruppen weiter. Nach Einschätzung leitet sie zusammen mit dem pflegerisch-therapeutischen Team adäquate Pflege-, Diagnostik-, Therapieoder Notfallmaßnahmen ein. Beobachtungsmaßnahmen werden veränderten Situationen dynamisch angepasst (z. B. Überwachungsintervalle).

den Aufbau einer vertrauensvollen Pflegebeziehung fördern dazu beitragen, Kosten und eine längere Verweildauer in der Klinik zu reduzieren

9.9.2 Schritte des Beobachtungsprozesses

H ●

Merke

Systematische pflegerische Beobachtung ist ein prozesshafter Vorgang, der immer zu einer Entscheidung und Handlungskonsequenz sowie deren Überprüfung führen muss (▶ Abb. 9.2).

9.9.1 Ziele pflegerischer Beobachtung

▶ 1. Schritt: wahrnehmen. Über die Sinnesorgane werden unbewusst Wahrnehmungsreize aufgenommen und verarbeitet. Aus der Vielzahl einströmender Wahrnehmungen wird die Aufmerksamkeit z. B. auf einzelne Symptome oder Verhaltensweisen gelenkt (Selektion). Richtet sich die Wahrnehmung auf bestimmte Aspekte, wird dieser Vorgang als Fokussierung bezeichnet. Andere Wahrnehmungen treten zurück. Beispiel: Einer Pflegefachkraft fällt beim Betreten des Patientenzimmers ein Säugling mit quengelndem, unruhigem Verhalten auf. Die stillende Mutter des Nachbarkindes wird zunächst „ausgeblendet“.

Mit der Methode der pflegerischen Beobachtung wird die Pflegefachkraft z. B.: ● individuelle Bedürfnisse des Kindes und seiner Familie ermitteln ● individuelle Ressourcen, Pflegeprobleme oder Pflegediagnosen identifizieren ● Wirkung und Erfolg der Pflege- und Unterstützungsmaßnahmen evaluieren ● Krankheits-, Therapie- und Pflegeverlauf überwachen ● Veränderungen erkennen, Komplikationen frühzeitig erfassen und vorbeugen ● Risikofaktoren, gesundheitsschädigendes und gesundheitsförderliches Verhalten einschätzen ● das Erzielen optimaler Therapie- und Operationsergebnisse unterstützen ● zur Diagnosefindung und -sicherung beitragen ● adäquate Handlungen initiieren

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▶ 2. Schritt: beobachten. In diesem Schritt werden bewusst erste gezielte Beobachtungen durchgeführt. Die Pflegefachkraft sucht aufgrund ihres Fachwissens und ihrer Erfahrung nach bestimmten Merkmalen. Sie fragt sich, ob das Kind

5 Handlungen überprüfen

4 entscheiden und handeln

1 wahrnehmen

pflegerische Beobachtung 3 interpretieren und bewerten

2 gezielt beobachten

Abb. 9.2 Prozess der pflegerischen Beobachtung.

9

9.9 Pflegerischer Beobachtungsprozess

9.8 Verlässliches Beobachtungsergebnis Um ein zutreffendes Beobachtungsergebnis zu erzielen, sollten folgende Prinzipien beachtet werden: ● regelmäßig und auf verschiedene Weise beobachten ● so objektiv wie möglich beobachten ● so präzise wie möglich beobachten (z. B. systematisch, kriteriengeleitet) ● so unauffällig wie möglich beobachten (z. B. Verhalten eines Kindes) ● Messinstrumente vor Einsatz auf Funktionstüchtigkeit und Eichdatum prüfen ● Beobachtungsinstrumente und medizinische Geräte korrekt handhaben ● bestimmte Medizingeräte erst nach Einweisung gemäß den gesetzlichen Vorgaben anwenden ● ggf. Beobachtung durch eine andere Pflegefachkraft überprüfen lassen ● Beobachtungsergebnis hinterfragen, Selbstreflexion zur Minimierung von Beobachtungsfehlern ● nach dem Fokussieren auf Einzelaspekte den Blick bewusst wieder erweitern ● den ganzen Menschen und die Situation im Blick haben ● verschiedene Beobachtungsergebnisse in einen Gesamtzusammenhang stellen

9.9 Pflegerischer Beobachtungsprozess Systematische pflegerische Beobachtung ist ein dynamischer Prozess, der, ähnlich wie der Pflegeprozess, ständiger Anpassung an aktuelle Gegebenheiten bedarf. Im Laufe der Genesung, bei Verschlechterung der Situation, in Notfallsituationen oder bei sich wandelnden Bedürfnissen des Kindes und seiner Familie treten neue oder andere Fragestellungen auf. Beobachtungen werden bewertet, auf der Basis von Fachwissen entsprechend ihrer Dringlichkeit und Priorität eingeschätzt und müssen adäquate Handlungen zur Folge haben. Lebensbedrohliche Zustände z. B. müssen ohne Zeitverzögerung als solche erkannt werden, um dann lebenserhaltende Sofortmaßnahmen, kontinuierliche Überwachung und die Alarmierung eines Arztes einzuleiten. Risikofaktoren, z. B. eine ermittelte erhöhte Gefährdung für eine Aspiration, verlangen umgehend die Einleitung von Präventivmaßnahmen, um Sekundärschädigungen vorzubeugen. Andere Beobachtungen lösen momentan noch keinen konkreten Handlungsbedarf aus, außer dass sie z. B. bei der Visite oder Patientenübergabe weitergeleitet werden.

H ●

Merke





Die Pflegefachkraft bewertet ihre Beobachtungen, kontrolliert Auffälligkeiten, beobachtet Veränderungen im Verlauf und gibt die Beobachtungsergebnisse an den Arzt und andere an der Therapie beteiligte Berufsgruppen weiter. Nach Einschätzung leitet sie zusammen mit dem pflegerisch-therapeutischen Team adäquate Pflege-, Diagnostik-, Therapieoder Notfallmaßnahmen ein. Beobachtungsmaßnahmen werden veränderten Situationen dynamisch angepasst (z. B. Überwachungsintervalle).

den Aufbau einer vertrauensvollen Pflegebeziehung fördern dazu beitragen, Kosten und eine längere Verweildauer in der Klinik zu reduzieren

9.9.2 Schritte des Beobachtungsprozesses

H ●

Merke

Systematische pflegerische Beobachtung ist ein prozesshafter Vorgang, der immer zu einer Entscheidung und Handlungskonsequenz sowie deren Überprüfung führen muss (▶ Abb. 9.2).

9.9.1 Ziele pflegerischer Beobachtung

▶ 1. Schritt: wahrnehmen. Über die Sinnesorgane werden unbewusst Wahrnehmungsreize aufgenommen und verarbeitet. Aus der Vielzahl einströmender Wahrnehmungen wird die Aufmerksamkeit z. B. auf einzelne Symptome oder Verhaltensweisen gelenkt (Selektion). Richtet sich die Wahrnehmung auf bestimmte Aspekte, wird dieser Vorgang als Fokussierung bezeichnet. Andere Wahrnehmungen treten zurück. Beispiel: Einer Pflegefachkraft fällt beim Betreten des Patientenzimmers ein Säugling mit quengelndem, unruhigem Verhalten auf. Die stillende Mutter des Nachbarkindes wird zunächst „ausgeblendet“.

Mit der Methode der pflegerischen Beobachtung wird die Pflegefachkraft z. B.: ● individuelle Bedürfnisse des Kindes und seiner Familie ermitteln ● individuelle Ressourcen, Pflegeprobleme oder Pflegediagnosen identifizieren ● Wirkung und Erfolg der Pflege- und Unterstützungsmaßnahmen evaluieren ● Krankheits-, Therapie- und Pflegeverlauf überwachen ● Veränderungen erkennen, Komplikationen frühzeitig erfassen und vorbeugen ● Risikofaktoren, gesundheitsschädigendes und gesundheitsförderliches Verhalten einschätzen ● das Erzielen optimaler Therapie- und Operationsergebnisse unterstützen ● zur Diagnosefindung und -sicherung beitragen ● adäquate Handlungen initiieren

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▶ 2. Schritt: beobachten. In diesem Schritt werden bewusst erste gezielte Beobachtungen durchgeführt. Die Pflegefachkraft sucht aufgrund ihres Fachwissens und ihrer Erfahrung nach bestimmten Merkmalen. Sie fragt sich, ob das Kind

5 Handlungen überprüfen

4 entscheiden und handeln

1 wahrnehmen

pflegerische Beobachtung 3 interpretieren und bewerten

2 gezielt beobachten

Abb. 9.2 Prozess der pflegerischen Beobachtung.

9

Pflegerische Beobachtung Hunger, Bauchschmerzen oder vielleicht Fieber hat, und sucht nach Anzeichen, die eine ihrer Vermutungen bestätigen könnten. Sie forscht z. B. nach, wann das Kind zuletzt getrunken hat, prüft, ob die Hauttemperatur erhöht ist, kontrolliert ggf. die Körpertemperatur, inspiziert und palpiert das Abdomen. ▶ 3. Schritt: Ergebnisse interpretieren und bewerten. Die gewonnenen Informationen werden eingeordnet, indem sie z. B. mit bekannten Merkmalen verglichen werden. Fachwissen und Erfahrung werden zur Bewertung benötigt und herangezogen. Weitere Überlegungen und zusätzliche Fragestellungen sollen die Interpretationsmöglichkeiten einschränken. Alle Überlegungen werden überprüft, um ein möglichst zutreffendes Beobachtungsergebnis zu erzielen. Beispiel: Nach Abschluss der Überprüfung schließt die Pflegefachkraft Hunger und Fieber als Ursache aus, da das Kind seine Nahrungsmenge erst vor einer Stunde getrunken hat und keine erhöhte Körpertemperatur aufweist. Das Abdomen beurteilt sie als stark gebläht. Sie geht weiter detektivisch vor und beobachtet das Kind kriteriengeleitet auf Bauchschmerzen. Dabei beobachtet sie, dass das Kind die Beine an den Bauch zieht, beim Betasten des Abdomens stärker weint und eine Abwehrhaltung zeigt. Sie bewertet das Verhalten des Kindes als Bauchschmerzen.

9

▶ 4. Schritt: entscheiden/handeln. Anschließend werden entsprechende Entscheidungen getroffen, z. B. pflegerische Handlungen geplant und eingeleitet oder Therapiemaßnahmen gemeinsam mit dem Arzt abgesprochen. Beispiel: Die Pflegefachkraft führt nach Rücksprache mit dem Arzt eine Bauchmassage durch, verabreicht ein Medikament gegen Blähungen und beruhigt das Kind. ▶ 5. Schritt: Handlungen überprüfen (evaluieren). Der Kreis des Beobachtungsprozesses schließt sich, indem die eingeleiteten schmerzlindernden Pflegeund Therapiemaßnahmen auf ihre Wirkung und deren Erfolg überprüft werden. Dies geschieht wieder durch Beobachtung oder Befragung der Mutter mithilfe von Evaluationskriterien innerhalb festgelegter Evaluationszyklen. Bei Bedarf müssen die Handlungen modifiziert werden. Beispiel: Die Pflegefachkraft beobachtet den Säugling auf die Wirkung der Bauchmassage, des Darmgase bindenden Medikamentes und die Beruhigungsstrategie anhand von Beobachtungskriterien (z. B.

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entspannte Mimik und Körperhaltung, nachlassendes Schreien, ruhiger Schlaf, abnehmender Bauchumfang und -spannung). Bleiben die Pflegehandlungen erfolglos, muss eine Neuanpassung erfolgen, z. B. Auswahl eines Ventilsaugers oder Beruhigen durch „Känguruen“ mit der Mutter. Die Beobachtungen, Evaluationsergebnisse (Beurteilungsergebnisse) und Handlungskonsequenzen werden nachvollziehbar dokumentiert.

Lernaufgabe

M ●

Entwickeln Sie einen differenzierten Beobachtungsprozess anhand des Beispiels „5-jähriges Kind mit Fieber“ von der ersten Wahrnehmung „roter Kopf“ bis zur angemessenen Handlung und deren Überprüfung.

9.10 Beobachtungssystem Das Beobachtungssystem bietet einen Rahmen, in dem Beobachtung systematisch stattfinden kann. Dies kann die Orientierung an einem Pflegemodell, wie das von Roper, Logan und Tierney (S. 71) oder Orem (S. 70), sein. Orientiert z. B. an den einzelnen Lebensaktivitäten nach Roper et al. (S. 72) können gesunde und beeinträchtigte Anteile beobachtet werden. Eine weitere Systematik ist die Beobachtung bzw. Untersuchung von Kopf bis Fuß, die gut dazu geeignet ist, den körperlichen Zustand zu erfassen, ohne etwas zu übersehen.

9.10.1 Beobachtungsbereiche Bestimmte Beobachtungsbereiche können systematisch mithilfe von festgelegten Beobachtungskriterien betrachtet werden. Beobachtungsbereiche müssen dabei im Zusammenhang gesehen werden. So können bei einer Erhöhung der Körpertemperatur auch Puls, Atmung und Allgemeinbefinden verändert sein. Für die Erhebung pflegerelevanter Daten ist sowohl die Einzelbeobachtung als auch die Gesamtbeobachtung von Bedeutung. Die situativen Bedingungen werden immer mitberücksichtigt, da diese bei der Einordnung der Beobachtung eine Rolle spielen (z. B. eine erhöhte Pulsfrequenz verursacht durch Schmerzen oder durch Angst vor einer Untersuchung).

Merke

H ●

Pflegerische Beobachtung umfasst nicht nur krankheitsbedingte Veränderungen, sondern auch das Gesundheitsverhalten sowie physische, psychische und soziale Aspekte von Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und deren Bezugspersonen. Nur so können Pflegende einen individuellen Gesamteindruck von den zu betreuenden Menschen und ihren Familien als Grundlage für eine wirksame Pflege, Anleitung und Beratung erhalten.

Beispiele für Beobachtungsbereiche, zu Zwecken der Anschaulichkeit getrennt, sind: ● Gesundheitsverhalten ● Vitalzeichen (Atmung, Puls, Blutdruck) (S. 244), Körpertemperatur (S. 272) ● Haut, Schleimhäute und Hautanhangsgebilde, Pflegezustand (S. 298) ● Wundzustand (S. 840) ● Körpergröße und -gewicht (S. 324) ● Ernährungsgewohnheiten und -zustand, Ess- und Trinkverhalten (S. 324) ● psychische Verfassung und Verhalten; z. B. Spiel- und Beschäftigungsverhalten (S. 446), nonverbaler Ausdruck ● Eltern-Kind-Beziehung, Ausübung der Elternrolle, familiäre Interaktionen (S. 188) ● aktives Mitwirken an der Therapie, Bewältigungsstrategien (z. B. bei Erkrankung, in Stresssituationen) (S. 172) ● Wohnsituation Einzelne Beobachtungsbereiche werden in den entsprechenden Kapiteln vertieft erläutert.

Lernaufgabe

M ●

Ergänzen Sie weitere Beobachtungsbeispiele zur Einschätzung der körperlichen, psychischen und familiären/sozialen Situation von Kindern aller Altersgruppen.

9.14 Aufbau von Beobachtungskompetenz

9.11 Beobachtung von Kindern Merke

H ●

Pflegerische Beobachtung hat einen besonderen Stellenwert in der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege, da Kinder je nach Alter und Entwicklungsstand nicht oder nur eingeschränkt in der Lage sind, ihre Bedürfnisse und ihr Befinden verbal zu äußern bzw. konkret zu beschreiben.

Zur Beobachtung von Säuglingen oder jüngeren Kindern, aber auch von Kindern mit bestimmten Behinderungen oder Bewusstseinsstörungen, mit therapeutischen Maßnahmen, wie Beatmung oder Sedierung, muss eine spezielle Beobachtungs- und Beurteilungskompetenz aufgebaut werden. Bei Äußerungen von Symptomen durch jüngere Kinder ist Sorgfalt bei der Interpretation geboten, da sie noch unklare Vorstellungen von ihrem Körper haben und Bezeichnungen von einzelnen Körperteilen noch nicht klar benennen können. So können Kinder z. B. die Lokalisation von Schmerzen nicht genau angeben und bezeichnen Schmerzen oft allgemein als Bauchweh. Es ist Aufgabe von Pflegenden, Veränderungen zu erkennen und Angaben von Kindern richtig einzuordnen durch gezielte Beobachtung, im Gespräch mit dem Kind und seinen Eltern. Große Wichtigkeit erlangt deshalb die Mitbeteiligung von Bezugspersonen an der pflegerischen Beobachtung, um herauszufinden, was sich hinter einer Äußerung verbirgt.

Eltern

a ●

Pflegende sollten ergänzend auf Informationen von Eltern zurückgreifen, die ihr Kind besser kennen und deshalb wichtige Informationen zur Einschätzung ihres Kindes beitragen können (▶ Abb. 9.3).

Aufmerksame, gezielte Beobachtung und Erfahrung ist insbesondere bei Früh- und Neugeborenen sowie Risikopatienten bedeutsam, da sich ihr Gesundheitszustand rasch verändern kann. Häufig kündigt sich eine Verschlechterung anfangs nur mit dezenten und/oder unspezifischen klinischen Zeichen an, die leicht übersehen werden können. In den Beobachtungsbereichen treten während der Lebensspanne vom Neugeborenen-, Kindes-, Jugend- und Er-

Abb. 9.3 Pflegerische Beobachtung (Symbolbild). (Foto: pressmaster – stock.adobe.com)

wachsenenalter bis zur Altersphase Veränderungen ein (z. B. Entwicklungsstand, Normwerte), die berücksichtigt werden müssen.

9.12 Einfühlsame Beobachtung Jüngere Kinder ängstigen sich vor bestimmten Beobachtungsmaßnahmen oder Hilfsmitteln (z. B. beim Aufpumpen der Blutdruckmanschette). Bei der Kontrolle von Wunden oder Drainagen kann Angst vor Schmerzen oder Ekel beim Anblick des Sekretes auftreten. Vielleicht haben ältere Kinder auch konkrete Ängste vor einem Beobachtungsergebnis. Beobachtung kann die Intim- und Privatsphäre des Kindes und seiner Familie beeinträchtigen. Für ein älteres Kind kann es z. B. sehr unangenehm sein, sich entblößen zu müssen oder zu wissen, dass seine Ausscheidungen begutachtet werden. Für Jugendliche kann es schon unangenehm sein, dass eine Pflegefachkraft sie bei der Pulskontrolle anfasst. Besonders schlafende oder schwer kranke Patienten können die Beobachtung als störend empfinden, weil das Kind und die mit aufgenommenen Eltern u. U. durch Licht oder Manipulationen geweckt bzw. belastet werden. Beobachtung erfordert deshalb Feingefühl, Planung und Kommunikation. Kinder werden entwicklungsgerecht und entsprechend ihrer Persönlichkeit über die Beobachtungsmaßnahme bzw. das Beobachtungsergebnis informiert. Einfühlsame Beobachtung, Respekt vor der Privatsphäre, wertschätzender und sensibler Umgang haben einen besonderen Stellenwert in der aufsuchenden Arbeit (z. B. häusliche Pflege, Frühe Hilfen) und in der Palliativpflege. Im Rahmen der Frühen Hilfen (S. 109) führen z. B. Pflegefachkräfte mithilfe von Beobachtungsbögen Verhaltens- und Interaktionsbeobachtung zur Früherkennung von Auffälligkeiten in der Eltern-Kind-Beziehung durch. Weitere Beobachtungsschwer-

punkte sind die Erkennung von Entwicklungsverzögerungen und die Wahrnehmung von Anhaltspunkten für die Gefährdung des Kindeswohls zur Einleitung von Präventiv- und Unterstützungsmaßnahmen. Beobachtung kann dem Kind und seinen Eltern auf der anderen Seite ein sicheres Gefühl vermitteln, indem sie wahrnehmen, dass eine Pflegefachkraft ein „wachsames Auge“ auf ihr Kind hat.

9.13 Beobachtungskompetenz von Pflegenden Kompetente Beobachtung entwickelt sich auf der Basis von theoretischem Fachwissen, der Integration pflegewissenschaftlicher Erkenntnisse und durch Beobachtungstraining. Kenntnisse der physiologischen Entwicklung, von physiologischen Zuständen, altersgemäßen Normbereichen sowie von möglichen Abweichungen werden zur Beobachtung benötigt. Mithilfe von Fachwissen aus verschiedenen Bezugswissenschaften können Sachverhalte gezielt beobachtet, interpretiert und beschrieben werden. Aber auch funktionsfähige wache Sinne, Aufmerksamkeit, Konzentration, Einfühlungsvermögen, Kombinations-, Urteils- und Entscheidungsfähigkeit, Selbstreflexion sowie die Fähigkeit, die Beobachtungen mündlich und schriftlich präzise weitergeben zu können, gehören dazu. Mit wachsender beruflicher Erfahrung nimmt die Kompetenz zu, Veränderungen rasch zu erkennen, gezielt einzuordnen, adäquate Handlungen folgen zu lassen und eine komplexe Pflegesituation mit allen Dimensionen einzuschätzen. Pflegende können durch Selbstbeobachtung zum Erhalt der eigenen Gesundheit beitragen, indem sie z. B. Stresssignale erkennen und Stressbewältigungsstrategien anwenden.

Merke

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H ●

Beobachtungskompetenz ist Pflegekompetenz.

9.14 Aufbau von Beobachtungskompetenz bei Eltern und Kind Eltern und Kinder können in die Beobachtung einbezogen werden. Zuvor müssen aber klare Absprachen getroffen werden, welche Beobachtungsaufgaben sie mit

1

Pflegerische Beobachtung übernehmen können und welche den Pflegenden vorbehalten bleiben. Eltern und Kind werden in den ihnen übertragenen Beobachtungsmaßnahmen in einer verständlichen bzw. kindgemäßen Sprache angeleitet. Die Pflegefachkraft muss sich aber grundsätzlich immer über alle Einzelbeobachtungen und die Gesamtsituation des Kindes informieren.

Eltern

a ●

Beobachtung bleibt immer im pflegerischen Verantwortungsbereich, auch wenn Eltern ihr Kind in der Klinik teilweise selbst versorgen. Vor der Entlassung von Kindern, die auch zu Hause weiterer Beobachtung bedürfen, leitet die Pflegefachkraft die Eltern und auch das Kind in der Beobachtung und Beurteilung an (z. B. bei Frühgeborenen, chronisch kranken und behinderten Kindern). Familienkinderkrankenschwestern als Mitarbeiter sozialmedizinischer Nachsorge und ambulante Pflegedienste führen den Aufbau von Beobachtungskompetenz im häuslichen Bereich fort.

Durch Schulung der Beobachtungs- und Beurteilungsfähigkeit können sie Veränderungen zu Hause frühzeitig erkennen und angemessen handeln. Auch das Outcome (= Ergebnis präventiver oder medizinischer Maßnahmen) insbesondere bei chronisch kranken Kindern kann damit verbessert werden.

9

9.15 Dokumentation und Informationsweitergabe Beobachtungsergebnisse und daraufhin initiierte Handlungen werden im Dokumentationssystem vermerkt. Eine genaue Dokumentation von Beobachtungsergebnissen ist Voraussetzung für einen effizienten Informationsfluss und die Verlaufsbeobachtung. Zunehmend werden

212

Telekommunikationstechnologien zur Informations- und Datengewinnung genutzt. ▶ Objektive Beobachtungsergebnisse (z. B. Messwerte). Sie sind unmissverständlich und präzise zu dokumentieren, z. B. die gemessene rektale Körpertemperatur von 37 °C. Bei Beschreibungen von Beobachtungen sollen, wenn möglich, Maßeinheiten oder interpretationsfreie Vergleiche mit bekannten Dingen verwendet werden, z. B. anstatt „einer kleinen Hautläsion“ – „eine kreisrunde Hautläsion von 0,5 cm im Durchmesser“ oder in der Größe einer 5-Cent-Münze. ▶ Subjektive Beobachtungsergebnisse. Diese zu formulieren gestaltet sich dagegen schon schwieriger, da auch die Wortwahl verfälschen kann. Subjektive Daten umfassen z. B. die Beschreibung von Verhaltensweisen und Gefühlsreaktionen des Kindes. Die Verwendung von Eigenschaftswörtern (z. B. traurig, unkooperativ) ist bereits mit einer Einschätzung verbunden, die den tatsächlichen Grund eines Verhaltens verdecken kann. Die Beobachtung sollte deshalb nicht wertend, d. h. so objektiv wie möglich, beschrieben werden. Dabei ist es wichtig, den persönlichen Eindruck zu kennzeichnen. Umgesetzt werden kann dies durch Formulierungen wie „Lara wirkt traurig“ anstatt zu sagen „Lara ist traurig“. Die Dokumentation soll widerspiegeln, ob es sich um eine Äußerung des Patienten bzw. seiner Bezugspersonen oder die eigene Einschätzung handelt. ▶ Eindeutige Fachsprache. Die Dokumentation und Weitergabe von Beobachtungen in einer exakten pflegerischen/ medizinischen Fachsprache dienen dazu, dass die Informationen von allen an der Pflege und Therapie beteiligten Berufsgruppen eindeutig verstanden werden. Missverständliche Abkürzungen sind zu vermeiden. Die Verwendung von Fachsprache ist ein Ausdruck von Professionalität. Erstrebenswert ist die Entwicklung einer einheitlichen Pflegefachsprache auf pflegewissenschaftlicher Ebene.

▶ Telekommunikationstechnologien in der Patientenüberwachung. Zunehmend unterstützt der Einsatz von Telekommunikationstechnologien inzwischen auch die Patientenüberwachung über räumliche Distanzen hinweg (auch weltweit). Gesundheitsdaten können z. B. an ein telemedizinisches Zentrum übermittelt, dort überwacht und ausgewertet werden (Blutzuckerwerte, Vitalwerte, Daten von Herzschrittmachern, Video von einem epileptischen Anfall u. a.). Es besteht die Möglichkeit, Diagnosen zu stellen und Therapien einzuleiten. Im Notfall kann sofort reagiert und es können Handlungsanweisungen gegeben werden. Gesundheitsakteure tauschen sich in virtuellen Netzwerken über einen Patienten aus. Zukünftig ist dies ein Feld mit hohem Entwicklungspotential, aber auch mit vielen ungelösten gesetzlichen, ethischen und regulatorischen Fragestellungen.

Lernaufgabe

M ●

Informieren Sie sich über Kommunikations- und Informationstechnologien, die bei der Patientenüberwachung, -diagnostik, -therapie und Pflege zukünftig eine Rolle spielen können. ● Was wird unter den Begriffen Telemedizin, Telenurse, e-health und mhealth-Anwendungen verstanden? ● Welche Chancen, Grenzen und Probleme sehen Sie beim Einsatz von Kommunikations- und Informationstechnologien für Patienten, Ärzte, Pflegepersonal und das Gesundheitswesen? ● Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, um eine positive Entwicklung einzuleiten?

Pflegerische Beobachtung übernehmen können und welche den Pflegenden vorbehalten bleiben. Eltern und Kind werden in den ihnen übertragenen Beobachtungsmaßnahmen in einer verständlichen bzw. kindgemäßen Sprache angeleitet. Die Pflegefachkraft muss sich aber grundsätzlich immer über alle Einzelbeobachtungen und die Gesamtsituation des Kindes informieren.

Eltern

a ●

Beobachtung bleibt immer im pflegerischen Verantwortungsbereich, auch wenn Eltern ihr Kind in der Klinik teilweise selbst versorgen. Vor der Entlassung von Kindern, die auch zu Hause weiterer Beobachtung bedürfen, leitet die Pflegefachkraft die Eltern und auch das Kind in der Beobachtung und Beurteilung an (z. B. bei Frühgeborenen, chronisch kranken und behinderten Kindern). Familienkinderkrankenschwestern als Mitarbeiter sozialmedizinischer Nachsorge und ambulante Pflegedienste führen den Aufbau von Beobachtungskompetenz im häuslichen Bereich fort.

Durch Schulung der Beobachtungs- und Beurteilungsfähigkeit können sie Veränderungen zu Hause frühzeitig erkennen und angemessen handeln. Auch das Outcome (= Ergebnis präventiver oder medizinischer Maßnahmen) insbesondere bei chronisch kranken Kindern kann damit verbessert werden.

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9.15 Dokumentation und Informationsweitergabe Beobachtungsergebnisse und daraufhin initiierte Handlungen werden im Dokumentationssystem vermerkt. Eine genaue Dokumentation von Beobachtungsergebnissen ist Voraussetzung für einen effizienten Informationsfluss und die Verlaufsbeobachtung. Zunehmend werden

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Telekommunikationstechnologien zur Informations- und Datengewinnung genutzt. ▶ Objektive Beobachtungsergebnisse (z. B. Messwerte). Sie sind unmissverständlich und präzise zu dokumentieren, z. B. die gemessene rektale Körpertemperatur von 37 °C. Bei Beschreibungen von Beobachtungen sollen, wenn möglich, Maßeinheiten oder interpretationsfreie Vergleiche mit bekannten Dingen verwendet werden, z. B. anstatt „einer kleinen Hautläsion“ – „eine kreisrunde Hautläsion von 0,5 cm im Durchmesser“ oder in der Größe einer 5-Cent-Münze. ▶ Subjektive Beobachtungsergebnisse. Diese zu formulieren gestaltet sich dagegen schon schwieriger, da auch die Wortwahl verfälschen kann. Subjektive Daten umfassen z. B. die Beschreibung von Verhaltensweisen und Gefühlsreaktionen des Kindes. Die Verwendung von Eigenschaftswörtern (z. B. traurig, unkooperativ) ist bereits mit einer Einschätzung verbunden, die den tatsächlichen Grund eines Verhaltens verdecken kann. Die Beobachtung sollte deshalb nicht wertend, d. h. so objektiv wie möglich, beschrieben werden. Dabei ist es wichtig, den persönlichen Eindruck zu kennzeichnen. Umgesetzt werden kann dies durch Formulierungen wie „Lara wirkt traurig“ anstatt zu sagen „Lara ist traurig“. Die Dokumentation soll widerspiegeln, ob es sich um eine Äußerung des Patienten bzw. seiner Bezugspersonen oder die eigene Einschätzung handelt. ▶ Eindeutige Fachsprache. Die Dokumentation und Weitergabe von Beobachtungen in einer exakten pflegerischen/ medizinischen Fachsprache dienen dazu, dass die Informationen von allen an der Pflege und Therapie beteiligten Berufsgruppen eindeutig verstanden werden. Missverständliche Abkürzungen sind zu vermeiden. Die Verwendung von Fachsprache ist ein Ausdruck von Professionalität. Erstrebenswert ist die Entwicklung einer einheitlichen Pflegefachsprache auf pflegewissenschaftlicher Ebene.

▶ Telekommunikationstechnologien in der Patientenüberwachung. Zunehmend unterstützt der Einsatz von Telekommunikationstechnologien inzwischen auch die Patientenüberwachung über räumliche Distanzen hinweg (auch weltweit). Gesundheitsdaten können z. B. an ein telemedizinisches Zentrum übermittelt, dort überwacht und ausgewertet werden (Blutzuckerwerte, Vitalwerte, Daten von Herzschrittmachern, Video von einem epileptischen Anfall u. a.). Es besteht die Möglichkeit, Diagnosen zu stellen und Therapien einzuleiten. Im Notfall kann sofort reagiert und es können Handlungsanweisungen gegeben werden. Gesundheitsakteure tauschen sich in virtuellen Netzwerken über einen Patienten aus. Zukünftig ist dies ein Feld mit hohem Entwicklungspotential, aber auch mit vielen ungelösten gesetzlichen, ethischen und regulatorischen Fragestellungen.

Lernaufgabe

M ●

Informieren Sie sich über Kommunikations- und Informationstechnologien, die bei der Patientenüberwachung, -diagnostik, -therapie und Pflege zukünftig eine Rolle spielen können. ● Was wird unter den Begriffen Telemedizin, Telenurse, e-health und mhealth-Anwendungen verstanden? ● Welche Chancen, Grenzen und Probleme sehen Sie beim Einsatz von Kommunikations- und Informationstechnologien für Patienten, Ärzte, Pflegepersonal und das Gesundheitswesen? ● Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, um eine positive Entwicklung einzuleiten?

Teil II Beobachtung und Unterstützung des Kindes und seiner Familie

II

10 Kommunizieren

217

11 Atmen und Kreislauf regulieren

244

12 Körpertemperatur regulieren

272

13 Sich sauber halten und kleiden

298

14 Essen und Trinken

324

15 Ausscheiden

364

16 Sich bewegen

396

17 Schlafen

420

18 Für eine sichere Umgebung sorgen

432

19 Sich beschäftigen, spielen und lernen

446

20 Mädchen oder Junge sein

456

21 Sterben

462

10.2 Beeinflussende Faktoren

10 Kommunizieren 10.1 Bedeutung

H ●

Merke

Kurt Kullick Kommunikation (lat.: communicare = teilen, mitteilen, teilnehmen lassen) ist für alle sozialen Prozesse unabdingbar und ein selbstverständlicher Vorgang wie das Atmen oder die Nahrungsaufnahme. Mittels Kommunikation werden Informationen, Gedanken, Meinungen und Haltungen zu einem bestimmten Zweck ausgetauscht. Als ein wesentlicher Bestandteil des menschlichen Verhaltens ist sie Grundlage jeden Kontaktes, jeder Interaktion und dient der Aufnahme und Aufrechterhaltung menschlicher Beziehungen. Auch die Entwicklung eines Kindes ist wesentlich davon abhängig, wie mit ihm kommuniziert wird. Ob unser kommunikatives Verhalten wirksam und effektiv ist, hängt sowohl von der Deutlichkeit unserer Signale als auch von unserem Gesprächspartner ab. Dessen Aufmerksamkeit und Befindlichkeit, seine Vorerfahrungen, Denkfähigkeiten und Einstellungen bestimmen, ob und wie unsere Signale ankommen und wahrgenommen werden. Deshalb ist es von großer Bedeutung, das Kommunikationsverhalten und die vorhandenen Kommunikationsmöglichkeiten von Kindern zu kennen und als Pflegefachkraft angemessen darauf zu reagieren. Kommunikation kann direkt, von Angesicht zu Angesicht, oder indirekt, mittels technischer Nachrichtensysteme erfolgen. Die Übergänge zwischen direkter und indirekter Kommunikation können fließend sein (z. B. Telefonieren mit Internet/Webcam).

10.2 Beeinflussende Faktoren

Die wichtigste Art der Verständigung ist die verbale Kommunikation. Wir kommunizieren jedoch nicht ausschließlich mit dem Mittel der Sprache, sondern auch durch Blicke, Berührungen, Gesten und Bewegungen, d. h., wir verständigen uns mit außersprachlichen Signalen.

Diese nonverbale Kommunikation hat folgende Funktionen: ● Sie kann die sprachliche Verständigung vollständig ersetzen. ● Sie kann die sprachliche Verständigung unterstützen und verdeutlichen. ● Sie kann im Gegensatz zu verbal kommunizierten Inhalten stehen. Menschen, die in ihrer Kommunikationsfähigkeit durch angeborene oder erworbene Schädigungen eingeschränkt sind, sind in besonderem Maße auf ihre Bezugspersonen oder Kommunikationspartner angewiesen. Die Bereitschaft, die individuellen Ausdrucksformen kennenzulernen sowie das Wissen über Kommunikationsprozesse und der Einsatz von Kommunikationsfertigkeiten sind die Voraussetzung für ein effektives, am Patienten orientiertes berufliches Handeln.

H ●

Merke

Kommunizieren ist eine komplexe Aktivität, die von körperlichen, alters- und entwicklungsbedingten, psychologischen, soziokulturellen, wirtschaftlichen/politischen und umgebungsabhängigen Faktoren beeinflusst wird. Die Faktoren, die die Kommunikation beeinflussen, lassen sich – in Anlehnung an die zusammenfassende Darstellung von Nancy Roper et al. – tabellarisch veranschaulichen (▶ Tab. 10.1).

10.2.1 Körperliche Faktoren Die Fähigkeit eines Menschen, durch verbale Sprache oder Körpersprache zu kommunizieren, wird durch viele körperliche Faktoren beeinflusst. Funktionsfähige Körperstrukturen im Nervensystem und im endokrinen System sind dabei besonders wichtig. Ein funktionsfähiges Gehör und ein funktionsfähiger Sprechapparat sind Voraussetzung zum Spracherwerb. Das Sprechen ist physiologisch von Atmung, Kehlkopf, Stimmbändern, Mund, Zunge, Lippen und den Sinnesorganen geprägt. Für die sprachverwandten Tätigkeiten, wie Lesen und Schreiben, wird wenigstens ein Minimum an Sehkraft und eine entsprechend funktionsfähige Hand benötigt. Die Körpersprache beruht auf einem angemessenen, funktionsfähigen Nerven- und Bewegungssystem.

10

Der Kern pflegerischer Tätigkeit ist das Eingehen von Beziehungen. Eine sinnvolle Pflegebeziehung kann nur dann entstehen, wenn Pflegende Kenntnisse und Fertigkeiten auf dem Gebiet der Kommunikation erworben haben.

Tab. 10.1 Kommunikationsbeeinflussende Faktoren. körperlich



● ● ● ● ● ●

intakte Körperstruktur und -funktion Sprechen Hören Sehen Lesen Schreiben Gestikulieren

alters- und entwicklungsbedingt ●



● ●



pränatale Phase Säuglingsalter und Kindheit Pubertät Erwachsenenalter Alter

psychologisch



● ●

Intelligenz/Wortschatz Selbstvertrauen Gemütslage

soziokulturell

● ● ●

● ●

● ● ●

Muttersprache Akzent/Dialekt restringierter/elaborierter Code Fachsprache Erscheinungsbild/ Kleidung Berührungsmuster Blickkontakt/Gestik Einstellungen, Wertvorstellungen

wirtschaftlich/politisch

● ●



● ●

Beruf/Einkommen Kommunikationstechnologien Massenmedien/Telekommunikation Computer Datenschutz

umgebungsabhängig

● ● ● ● ●

Art/Größe des Raums Belüftung/Temperatur Beleuchtung Einrichtung Gesprächsdistanz/Anordnung der Möbel

7

Kinder- und Familienunterstützung

10.2.2 Alters- und entwicklungsbedingte Faktoren Die Komponente Lebensspanne ist für die Lebensaktivität (LA) „Kommunizieren“ von großer Bedeutung. Selbst zwischen Mutter und Ungeborenem erfolgt Kommunikation. Diese geschieht auf 3 Wegen: ● über den Austausch körperphysiologischer Prozesse ● sensorisch über die Sinnesorgane ● gefühlsmäßig durch Annahme oder Ablehnung des Kindes ▶ Das Neugeborene. Es erfährt die erste postnatale Kommunikation in der Berührung durch die Hände der Hebamme oder der Mutter. Mit dem Schreien nach der Geburt kommuniziert es erstmals verbal. Während der ersten 6 Wochen verfügt der Säugling nur über das Schreien als sprachliches Erkennungszeichen. Er schreit, wenn er Hunger hat, wenn er Schmerzen hat oder wenn er missmutig ist.

10

▶ 7. Woche bis 8. Monat. Ab der 7. Woche geht das Schreien allmählich in Lallen über und nach 6 Monaten bildet das Kind erstmals 2-silbige Begriffe, z. B. „mamam“ oder „ba-ba“. Das kleine Kind ahmt die selber produzierten Lall-Laute nach – alle Kinder aller Erdteile gebrauchen die gleichen Laute. Auch Kinder, die nicht hören können, beginnen zu lallen, beenden dies dann aber, weil sie sich nicht hören können. Die Lall-Laute bezeichnen jedoch in dieser Lebensphase noch keine bestimmten Objekte oder Personen, sondern das Kind beschreibt damit vielmehr das, was für es im Zusammenhang mit seinen Bezugspersonen steht: das Fläschchen, das Spielzeug, das In-den-Arm-Nehmen, das Gut-Zureden. ▶ 9. bis 12. Monat. Das Wortverständnis nimmt erheblich zu und es kommt zu ersten intentionalen Sprachäußerungen. Bestimmte Dinge oder Personen werden mit Lautkombinationen, oft aber auch schon mit selbst erfundenen Worten bezeichnet. ▶ 2. Lebensjahr. Bis Mitte des 2. Lebensjahres entdeckt das Kind, dass alle Dinge einen Namen haben. Der Wortschatz nimmt, je nach Förderung des Kindes, rasch zu und kleine Sätze werden nachgesprochen. Gegen Ende des 2. Lebensjahres werden die ersten „3-Wort-Sätze“ gesprochen.

218

▶ 3. und 4. Lebensjahr. Im 3. Lebensjahr verfügt das Kind über einen Wortschatz von 800 – 1000 Wörtern. Die gesprochenen Sätze werden komplexer, Wortverdrehungen und Fantasienamen fallen weg. Im 4. Lebensjahr wird die Sprachentwicklung abgeschlossen, die ersten „WarumFragen“ werden gestellt. Mädchen lernen im Allgemeinen frühzeitiger sprechen als Jungen.

Merke

H ●

Die Sprachentwicklung reagiert in hohem Maße auf Störungen in anderen Systemen, wie Umwelt, emotionalen, kognitiven, neurologischen und physiologischen Strukturen. Probleme in jedem dieser Bereiche sind Indikatoren dafür, dass Sprechfähigkeit und Sprachverständnis sich evtl. nicht normal entwickeln können. Die Sprachentwicklung von Kindern zwischen einem halben und 6 Jahren ist hier in Form einer Pyramide dargestellt (▶ Abb. 10.1).

▶ Schulkind. Für das Schulkind wird die Sprache zum wichtigsten Sozialisationsinstrument. Es vergrößert seinen Wortschatz durch Hören und Nachahmen. ▶ Pubertät. Während der Pubertät grenzen sich Jugendliche häufig von der Welt der Erwachsenen ab. Sie kleiden sich jugendtypisch und sprechen eine Sprache, die von dem jeweiligen subkulturellen Milieu geprägt (z. B. Punks, Yuppies, Hooligans) und oftmals von Erwachsenen in ihrer Bedeutung nicht verstanden wird. ▶ Erwachsenenalter. Im Erwachsenenalter, meistens mit Eintritt in das Erwerbsleben, passt sich die Ausdrucksweise verbal wie nonverbal wieder gängigen Normen an und die Repertoires erweitern sich. Der durchschnittliche Erwachsene hat in seiner Muttersprache einen aktiven Wortschatz von 3000 – 5000 Wörtern. ▶ Fortgeschrittenes Lebensalter. Im fortgeschrittenen Lebensalter können die Schwächung der Sehkraft und des Gehörs und die daraus folgende Verzerrung der Sinneswahrnehmungen die Kommunikationsfähigkeit vermindern. Auch verlieren einige Gehirnzellen allmählich ihre Funktion, was zu Vergesslichkeit und manchmal zu geistiger Verwirrung führen kann. Schwellungen an Fingergelenken können das Schreiben erschweren. Gebrechlichkeit kann die Körperhaltung und Gestik beeinträchtigen. Alle diese Faktoren können älteren Menschen die Ausführung der LA „Kommunizieren“ erschweren.

10.2.3 Psychologische Faktoren Der Umfang des zum täglichen Gebrauch erworbenen Sprachschatzes ist weitgehend von der auf Intelligenz basierenden Lernfähigkeit abhängig und beeinflusst somit die Kommunikation. Die psychische Befindlichkeit eines Menschen kann die Kommunikation erheblich bestimmen. Nervosität, z. B. bei Interviews oder Vorstellungsgesprächen, kann die sprachliche Ausdrucksfähigkeit beeinträchtigen. Es kann z. B. nicht genau das ausdrückt werden, was auch gemeint ist, „der rote Faden wird verloren“ oder „es verschlägt einem die Sprache“. Auch wenn der sprachliche Ausdruck zufriedenstellend ist, kann Nervosität durch nonverbale Signale, wie zitternde Hände, erweiterte Pupillen und erhöhte Schweißsekretion, deutlich werden. Auch andere Stimmungen, z. B. Erregung, Ärger, Depressionen oder Heiterkeit, wirken sich auf die Kommunikation aus. Bei der verbalen Kommunikation drücken sich Stimmungen besonders in Sprechweise, Sprechrhythmus und Stimmqualität, bei der nonverbalen in Gestik, Mimik, Blickkontakt und Körpersprache aus. Problematisch und häufig zu Missverständnissen führend ist die Kommunikation mit Menschen, deren Selbstachtung und Selbstvertrauen eingeschränkt ist. Diese Menschen reagieren häufig, hervorgerufen aus einem Gefühl der Scham, Wertlosigkeit oder Schuld, auf unbedeutende Ereignisse mit offener Kritik und ersetzen damit Selbstsicherheit durch Aggressivität.

10.2.4 Soziokulturelle Faktoren Wir leben heute in einer zunehmend mobilen und multikulturellen Gesellschaft. Die Vielfalt sozialer und kultureller Hintergründe und die daraus resultierenden differenzierten Ausdrucksformen führen nicht selten zu Kommunikationsproblemen. In der Sprache als dem wesentlichen Kommunikationsmittel können verschiedene Faktoren zu kommunikativen Problemen führen: unterschiedliche Muttersprache, Akzent, Dialekt. Auch die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht kann zu einer Sprachbarriere führen. Ein vornehmlich von der sog. Unterschicht gesprochener restringierter Code unterscheidet sich von einem elaborierten Code, den überwiegend die oberen sozialen Schichten sprechen („Sozialdialekte“). Merkmale des restringierten Codes sind einfache, oft unfertige Sätze in Aktivform, starres Satzschema, einfache Adjektive, Adverbien, Konjunktionen (so,

10.2 Beeinflussende Faktoren

Beispiele

Wortschatz

Sprachverständnis

Artikulation

Grammatik

Sprachverständnis

Alter ca. 6 Jahre

„Als ich noch kleiner war, bin ich noch nicht alleine in den Kindergarten gegangen.“

„Gestern war ich mit Mama beim Doktor.“ „Die Sp(r)itze, die er mir gegebt hat, tat nicht weh.“

Alle Laute werden korrekt gebildet.

Wortschatz ermöglicht differenzierten Ausdruck. Auch abstrakte Begriffe werden auf kindlichem Niveau sicher gehandhabt.

Wortschatz wächst weiter an. Farben und Fürwörter werden verwendet.

Bis auf evtl. Zischlaute und schwierige Konsonantenverbindungen (z. B. kl, dr) beherrscht das Kind die Laute der Muttersprache. Eventuell „Physiologisches Stottern“ (lockere Lautund Wortwiederholungen).

Wortschatz nimmt weiter erheblich zu. „Da is ne F(r)au, die guckt aus,n Fenster. Warum ?“

„Da kommen B(r)iefmann.“ (Briefträger) „Anna nicht tönnen (sch)lafen.“

„Is,n das ?“ „Papa weg.“ „B(r)ot aufessen.“

Grammatik wird weitgehend beherrscht, Gedankengänge können variiert ausgedrückt werden (verschiedene Zeit- und Pluralformen). Geschichten können nacherzählt werden. ca. 4 Jahre Bildung komplexerer Sätze, schwierige Satzkonstruktionen können noch fehlerhaft sein. Nebensätze können gebildet werden.

Kind beginnt schwierige 2. Fragealter mit FrageLautverbindungen zu ler- wörtern (z. B. warum, wie, was). nen. (z. B. kn, bl, gr) Einfache Sätze können gebildet werden; Beginn von Nebensatzbildungen.

Bis zu 50 Wörtern, Hauptwörter, einfache Verben und Adjektive

Es kommen weitere Laute hinzu, z. B. W, F, T, D.

Einzelne Wörter

m, b, p, n Beginn von gezielter Lautbildung bei der Wortproduktion.

„Ball“ „mein“ „habn“

ca. 2½ Jahre

Zunahme der Mehrwortsätze, Endungen an Haupt- und Tätigkeitswörtern beliebig; erster Gebrauch von „ich“.

k, g, ch, r

Wortschatz nimmt erheblich zu; Wortschöpfungen.

ca. 2 Jahre

1. Fragealter mit Satzmelodie. Zwei- und Dreiwortsätze.

ca. 1½ Jahre

Einwortsätze (Frage durch Betonung)

10 ca. 1 Jahr

Erste Wörter breite Palette von Lauten Silbenverdoppelung Lallen

„Mama“ „Mimi“ „Wau-wau“

„ba-ba-ba“ „ga-ga“

ca. ½ Jahr

Lallen Gurren Schreien

„gr-gr“ „ech-ech“

ca. 3 Jahre

(Die Altersangaben sind Durchschnittswerte, sie dürfen nicht als starre Normen verstanden werden.)

Abb. 10.1 Sprachpyramide. Sprachentwicklung von Kindern zwischen 6 Monaten und 6 Jahren. (Abb. nach: Wendlandt 2006)

dann, und), traditionelle Redewendungen und ausgeprägte Körpersprache. Merkmale des elaborierten Codes sind komplexe Satzstrukturen, Konjunktionen und Präpositionen mit logischen Funktionen, unpersönliche Pronomina, stark differenzierter Wortschatz und individueller Sprachgebrauch.

Merke

H ●

Innerhalb verschiedener Berufsgruppen wird eine bestimmte Fachsprache (S. 212) gebraucht, die Nichteingeweihten z. T. völlig fremd ist. Für Patienten ist die Sprache des Krankenhauspersonals häufig unverständlich und kann beim Patienten und bei dessen Angehörigen zu Verunsicherungen und schwerwiegenden Missverständnissen führen.

Die Körpersprache verfügt über vielfältige, vom jeweiligen soziokulturellen Hintergrund geprägte Erscheinungsformen, die sich z. B. in der Kleidung, bei Körperkontakten, dem Ausmaß des Gestikulierens und des Blickkontaktes ausdrücken. Die Kleidung kann Informationen über ethnische, religiöse Zugehörigkeit oder Art der Beschäftigung vermitteln. Körperkontakte und Berührungen im zwischenmenschlichen Umgang unterliegen je nach Kultur und Religion unterschiedlichen Normen. Während in man-

9

Kinder- und Familienunterstützung

10.2.5 Wirtschaftliche/ politische Faktoren

220

10.2.6 Umgebungsabhängige Faktoren Eine erfolgreiche Kommunikation ist von einer angemessenen räumlichen Umgebung abhängig. Sowohl für persönliche Gespräche als auch für Teamgespräche oder Gruppenarbeit ist eine angenehme räumliche Atmosphäre wichtig. Grundsätzlich sollte ein Raum für Einzelgespräche nicht zu groß, für Gruppengespräche nicht zu klein sein. Der Raum sollte eher sparsam, aber ansprechend eingerichtet sein. Auf eine ausreichende Beleuchtung und eine gute Belüftung des Raumes, bei angenehmer Temperatur, ist zu achten. Die Abschirmung gegenüber Störungen von außen sollte gewährleistet sein.

Merke

H ●

Besonders bei einer vertraulichen Unterredung ist es für die Gesprächspartner von Vorteil, nicht physisch durch einen Distanz schaffenden Schreibtisch voneinander getrennt zu sein.

Bei Erwachsenen beträgt die optimale Gesprächsdistanz ca. 100 – 150 cm. Diese Entfernung lässt es zu, dass in einer Lautstärke gesprochen werden kann, die auch für sog. heikle Themen angemessen erscheint, ohne sich dabei „zu nahe zu kommen“. Auch bei Teamgesprächen oder Gruppenarbeit kann sich die Raumgestaltung positiv auf den Kommunikationsprozess auswirken. So wirken eng geschlossene Reihen von Tischen und Stühlen nicht so begünstigend wie Stühle im Kreis oder ein zentraler Tisch umringt von Stühlen. Diese Anordnung verringert die Distanz und ermöglicht allen Gruppenmitgliedern, den Sprechenden zu sehen, Augenkontakt zu halten, die Körpersprache und andere nonverbale Signale wahrzunehmen.

10.3 Beobachten und Beurteilen Kommunizieren ist kein willkürlicher oder zufälliger Prozess, sondern unterliegt bestimmten Gesetzmäßigkeiten. Die Kenntnis über die Abläufe, die sich beim Kommunizieren vollziehen, erleichtert den Aufbau einer positiven Pflegebeziehung.

10.3.1 Kommunikationsprozess Voraussetzung für die Kommunikation ist das Vorhandensein: ● eines Senders (Kommunikator) ● einer Nachricht ● eines Empfängers (Rezipient) Eine Nachricht beinhaltet 4 Aspekte (▶ Abb. 10.2): ● Sachinhalt, z. B. „Der Geschmack der Suppe ist hervorragend.“ ● Selbstoffenbarung, z. B. „Ich habe einen guten Geschmack.“ ● Beziehung, z. B. „Ich halte dich für einen guten Koch.“ ● Appell, z. B. „Ich möchte noch eine Portion Suppe.“ In einem einfachen Kommunikationsmodell wird von einer Person (Sender) über einen bestimmten Kanal eine Nachricht gesendet, die vom Empfänger erhalten wird und bei ihm eine bestimmte Reaktion hervorruft, die wiederum zu einem Feedback zum Sender führt (▶ Abb. 10.3). Das dargestellte Modell ist eines unter vielen, aber aufgrund seiner Einfachheit lässt es die Grundstrukturen des Kommunikationsprozesses leicht erkennen. Das Kommunikationsgeschehen erweist

Sachinhalt (worüber ich informiere)

Nachricht

Appell (wozu ich dich veranlassen möchte)

10

Eng mit den soziokulturellen sind ökonomische und politische Faktoren verknüpft. Die soziale Position eines Menschen in unserer Gesellschaft ist oftmals von seiner wirtschaftlichen Situation bestimmt. Kommunikation kann durch den wirtschaftlichen Status der politischen Wohngemeinde beeinflusst werden. So können Anzahl und Qualität lokaler Einrichtungen, wie Kindergärten, Spielplätze, Jugendzentren, Sportstätten, erheblich die Kommunikation und die Entfaltungsmöglichkeiten, besonders von Kindern und Jugendlichen, beeinflussen. In den reichen Industrienationen mit ihren hoch entwickelten Kommunikationstechnologien haben die Menschen mehrheitlich Zugang zu Massenmedien und Telekommunikationsnetzen. Der Umfang dieser technologischen Infrastruktur ist meist abhängig von der wirtschaftlichen Situation eines Gemeinwesens und hat somit direkte Auswirkungen auf die Kommunikationsmöglichkeiten der darin lebenden Menschen. Die Voraussetzung für ein erfolgreiches Management in der Industrie, Politik, aber auch in einer Organisation wie einem Krankenhaus, ist eine effiziente Kommunikation. Neben den traditionellen Kommunikationswegen, wie Besprechungen, Rundschreiben, Aushängen, können heute mithilfe der Computertechnologie Informationen in jedem Umfang und aller Art universell ausgetauscht werden. Im Pflegebereich werden heute Computer als Arbeits- und Kommunikationsmittel in der Praxis, Ausbildung, Verwaltung und Forschung verwendet. Die neuen Technologien bergen allerdings auch die Gefahr des unberechtigten Zugriffs und Missbrauchs gespeicherter Daten. Patientenbezogene Daten bedürfen eines besonderen Schutzes, der durch das ver-

antwortungsvolle Handeln eines jeden Klinikbeschäftigten, technische Sicherheitsvorrichtungen und entsprechende Datenschutzgesetze gewährleistet werden muss.

Selbstoffenbarung (was ich von mir selbst kundgebe)

chen Kulturen gegenseitige Umarmungen oder Wangenküsse als Willkommensoder Abschiedsgruß üblich sind, wird in anderen Kulturen nicht einmal gegenseitiges Händeschütteln sozial akzeptiert. Solche kulturell bedingten Unterschiede bestehen auch im Ausmaß des Gestikulierens, der Lippenbewegungen und des Blickkontaktes während des Kommunizierens. Während es bei uns als höflich gilt, seinem Gesprächspartner in die Augen zu sehen, gilt dies in anderen Kulturen als aufdringlich. Der Umgang mit Menschen anderer sozialer und kultureller Zusammenhänge ist nicht nur vom Verstehen einer Fremdsprache abhängig, sondern auch vom Verständnis andersartiger Lebenswelten.

Beziehung (was ich von dir halte und wie wir zueinander stehen)

Abb. 10.2 Kommunikationsprozess. Die 4 Aspekte einer Nachricht.

Feedback

Sender

Nachricht

Empfänger

Feedback

Abb. 10.3 Kommunikationsmodell. Vereinfachtes Modell nach Schulz von Thun.

10.3 Beobachten und Beurteilen sich jedoch in seiner Gesamtheit als wesentlich komplexer. Bevor der Sender das Bedürfnis hat, eine Nachricht zu übermitteln, muss er zunächst seinen Bewusstseinsinhalt codieren. Unter „Codieren“ wird verstanden, eine Nachricht derart in ein Signal umzusetzen, dass der Empfänger in die Lage versetzt wird, dieser Botschaft dieselbe Bedeutung zu verleihen wie der Sender. Die Nachricht wird vom Empfänger decodiert und mit einer bestimmten Bedeutung verknüpft. Kommunikation erfolgt in einer Wechselbeziehung, sodass als Reaktion auf die erhaltene Nachricht die gleiche Sequenz in umgekehrter Richtung läuft. Es besteht eine ideale Situation, wenn Sender und Empfänger einander vollständig verstehen, weil sie der Nachricht dieselbe Bedeutung geben. Störungen des Kommunikationsprozesses können hervorgerufen werden durch: ● Nichtbeherrschung der verbalen Sprache ● Unfähigkeit des Denkens, Sprechens, Zuhörens, Lesens und Schreibens ● das Fehlen eines gemeinsamen Codes ● Unfähigkeit zur Codierung und/oder Decodierung ● tabuisierte Gefühle ● fehlende Sachkompetenz ● gestörte Beziehung zwischen Kommunikationspartnern ● den Widerspruch zwischen verbalen und nonverbalen Signalen ● unterschiedliche Einstellungen, Werte und Überzeugungen

Grundregeln für eine erfolgreiche Kommunikation Paul Watzlawick hat mit seinen 5 Axiomen (= Aussagen, Grundsätze) einen bedeutenden kommunikationstheoretischen Ansatz zur Erklärung zwischenmenschlicher Kommunikation geliefert: 1. Axiom: Es gibt kein Nichtkommunizieren. 2. Axiom: Jede Kommunikation hat einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt. 3. Axiom: Die Natur einer Beziehung ist durch die Interpunktion der Kommunikationsabläufe seitens der Kommunikationspartner bestimmt. 4. Axiom: Kommunikation bedient sich digitaler und analoger Modalitäten. 5. Axiom: Kommunikation verläuft entweder symmetrisch oder komplementär, je nachdem, ob die Beziehung zwischen den Partnern auf Gleichheit oder Unterschiedlichkeit beruht. ▶ 1. Axiom. Jedes menschliche Verhalten hat Mitteilungscharakter, auch Schweigen und absichtliches Nichthandeln. Einer Kommunikation kann man sich nicht entziehen, es sei denn, dass sich jemand

durch Wegbegeben physisch aus einer Kommunikationssituation entfernt. Es verbleiben 4 Möglichkeiten, auf ein Kommunikationsangebot zu reagieren: ● Abweisung: Jemand macht unmissverständlich klar, dass er eine Kommunikation nicht will (z. B.: „Mit dir will ich nichts zu tun haben.“). ● Annahme: Auf das Kommunikationsangebot wird eingegangen. ● Entwertung: Den eigenen Aussagen oder denen des Partners wird durch Ungereimtheiten, häufigen Themenwechsel, absichtliches Missverstehen usw. die klare Bedeutung genommen. ● Vorschützen eines Symptoms (z. B. Kopfschmerzen): Dadurch wird die Verantwortung für eine Stellungnahme verlagert „auf eine Macht, die stärker ist als ich“. ▶ 2. Axiom. Mit der Mitteilung inhaltlicher Art (z. B. Informationen über stationsinterne Regelungen) wird gleichzeitig eine Bewertung darüber abgegeben, wie der Sender die Beziehung zwischen sich und dem Empfänger sieht (z. B.: „Nehmen Sie doch bitte Platz.“ oder „Hinsetzen!“). Im Idealfall sind sich die Kommunikationspartner sowohl auf der Inhaltsebene als auch auf der Beziehungsebene einig. Häufig treten jedoch Mischformen auf: ● Auseinandersetzung auf der Inhaltsebene, die aber die Definition der Beziehung nicht infrage stellt. ● Einigkeit auf der Inhaltsebene, gleichzeitig ist jedoch die Beziehungsebene gestört. ▶ 3. Axiom. In jeder Sekunde müssen wir Tausende von Sinneseindrücken verarbeiten und diese nach wesentlichen und unwesentlichen zergliedern (interpunktieren). Als Ergebnis dieser Interpunktion resultiert das, was jeder für sich als „die Wirklichkeit“ ansieht. Gemeint ist, dass jeder die Ursache-Wirkungs-Folgen so festlegt, dass der andere „schuld“ ist; 2 Beispiele: ● Ehemann: „Ich meide dich, weil du nörgelst.“ – Ehefrau: „Ich nörgele, weil du mich meidest.“ ● Pflegefachkraft: „Ich spiele nicht mir dir, weil du tobst.“ – Kind: „Ich tobe, weil du nicht mit mir spielst.“ ▶ 4. Axiom. Digitale Kommunikation ist das, was wir unter geschriebener Sprache verstehen. Sie dient der Übermittlung des Inhaltsaspektes und macht eindeutige präzise Mitteilungen möglich. Die analoge Kommunikation ist die „Sprache“ des Beziehungsaspektes. Sie wird zum Ausdruck gebracht z. B. durch Gestik, Mimik, Körperbewegungen, Tonfall, Sprechweise, Blickkontakt. So ist z. B. das Überreichen eines Geschenkes eine analoge Mitteilung.

Es ist jedoch von der Beziehung des Beschenkten zum Schenkenden abhängig, ob Ersterer im Geschenk ein Zeichen von Zuneigung, Bestechung oder Wiedergutmachung sieht. ▶ 5. Axiom. Bei Symmetrie besteht die Gefahr, dass es zur „symmetrischen Eskalation“ kommt, d. h., ein Partner versucht, in einem für ihn wichtigen Bereich „ein bisschen gleicher“ als der andere zu sein, was von diesem mit ähnlichen Anstrengungen beantwortet wird, sodass ein gegenseitiges Hochschaukeln die Folge sein kann. Bei Komplementarität (z. B. Mutter – Kind, Vorgesetzter – Untergebener, Pflegefachkraft – Patient) besteht die Gefahr, dass die Abhängigkeit fixiert, starr beibehalten wird.

Kommunikative Grundfähigkeiten Als kommunikative Grundfähigkeiten gelten: ● Sprachbeherrschung ● Beherrschung nonverbaler Signale ● Einfühlung ● Selbstsicherheit ● Fähigkeit, eigene Wünsche und Bedürfnisse sowie Gefühle offen darzulegen ● Fähigkeit, durch Argumente eine Sache zu vertreten ● Fähigkeit, zu sagen, was einem nicht passt, ein Problem zu erörtern, Widerstand zu leisten

Voraussetzungen für erfolgreiche Kommunikation Folgende Faktoren machen die Kommunikation erfolgreich: ● Aktives Zuhören: durch Wiederholung des Gehörten und Nachfragen die Gefühle, Empfindungen, Wünsche, Bedürfnisse, Befürchtungen des Kommunikationspartners herausfinden. ● Nichtdirekte Gesprächsführung mit den Merkmalen Einfühlung (Empathie), Offenheit, Echtheit und Verbalisierung der vom Kommunikationspartner berichteten emotionalen Erlebnisinhalte. ● Rückgekoppelte Kommunikation durch die Vergewisserung, ob man es richtig verstanden hat, und durch die Mitteilung, wie das soeben Gesagte auf mich gewirkt hat. ● Ich-Botschaften, d. h. Mitteilungen z. B. über eigene Gefühle, Wünsche, Befürchtungen. ● Feedback: Der Kommunikationspartner teilt mit, was eine vorausgegangene Botschaft bei ihm ausgelöst hat, wie sie angekommen ist, wie er sie verstanden hat, oder er teilt dem Partner mit, wie er zu ihm steht, wie er die Beziehung beurteilt.

10

1

Kinder- und Familienunterstützung Zu vermeiden sind: ● paradoxe Aufforderungen (z. B. „Sei nicht so gehorsam“ – Eltern zu ihrem Kind, das sie für zu nachgiebig halten) ● Interpretationen und sog. Lösungsbotschaften (z. B.: „Es ist gar nicht so schlimm“, „An deiner Stelle würde ich es so machen: …“) ● Doppelbindungen (= Beziehungsfalle): Eine Mitteilung beinhaltet Aussagen, die einander negieren bzw. unvereinbar sind (z. B.: Eine Pflegefachkraft sagt mit eisiger, liebloser Stimme zu einem Kind, es solle sich zu ihr auf den Schoß setzen). ● Killerphrasen (z. B.: „Geht nicht!“, „Das ist doch Blödsinn!“, „Das wird schon immer so gemacht!“)

10

Metakommunikation

● L

Massenkommunikation

Definition

Von der im vorangegangenen Abschnitt beschriebenen sozialen Kommunikation wird die Massenkommunikation unterschieden (▶ Abb. 10.4). Massenkommunikation ist eine Form der Kommunikation, bei der: ● die Aussagen öffentlich sind ● keine begrenzte oder personell definierte Empfängerschaft vorhanden ist ● die Nachricht mittels technischer Verbreitungsmittel (Medien) übermittelt wird ● eine räumliche oder zeitliche oder raumzeitliche Distanz zwischen den Kommunikationspartnern vorliegt ● Informationen einseitig an eine relativ große Zahl von Menschen unterschiedlicher Herkunft vermittelt werden

Metakommunikation bedeutet wörtlich „Kommunikation über Kommunikation“. Es wird zwischen der impliziten und der expliziten Form der Metakommunikation unterschieden.

Massenkommunikation wird im Wesentlichen von Medien, wie Fernsehen, Rundfunk, Zeitungen, Internet und zunehmend über soziale Netzwerke, wie Twitter, Facebook, Whatsapp etc., betrieben. Nach dem Grundgesetz (Art. 5) haben die Massen-

Abb. 10.4 Massenkommunikation. Informationsgewinnung über das Internet (Symbolbild). (Foto: sebra – stock.adobe. com)

222

medien eine wichtige politische Funktion zu erfüllen. Sie sollen durch Informationen an der Meinungsbildung mitwirken und durch Kritik und Kontrolle die demokratische Gesellschaft schützen und am Leben erhalten. Daneben sollen die Massenmedien dem Zuschauer, Hörer oder Leser bei Folgendem helfen: ● die Welt und sich selbst besser zu verstehen (Beitrag zur Daseinserhellung) ● sich emotional zu engagieren (Beitrag zur Daseinserfüllung) ● die täglichen Anforderungen besser zu bewältigen (Beitrag zur Daseinsbewältigung)

▶ Implizite Metakommunikation. Sie findet unbeabsichtigt ständig statt, weil jede sprachliche Botschaft von nonverbalen Signalen (z. B. Mimik, Gestik, Tonfall) begleitet ist. Dadurch wird eine „Verstehensanweisung“ mitgeliefert, die wie eine Botschaft zu interpretieren ist. ▶ Explizite Metakommunikation. Darunter wird der absichtliche Wunsch verstanden, über einen abgelaufenen Kommunikationsprozess und die Wirkungen, die er bei den jeweiligen Gesprächspartnern ausgelöst hat, in einen Austausch zu treten mit dem Ziel, Missverständnisse zu vermeiden und Konflikte zu lösen. Zu den wesentlichen metakommunikativen Grundfähigkeiten gehören: ● Kommunikationsstörungen zu erkennen ● über die Beziehung und Art der Kommunikation zu sprechen ● konstruktives Feedback zu geben und zu nehmen ● zwischen Inhalts- und Beziehungsebenen zu unterscheiden ● sich in die Rolle des Kommunikationspartners zu versetzen

10.3.2 Kommunikationsformen Im Folgenden werden die 5 Kommunikationsformen Sprechen, Zuhören, Schreiben, Lesen und Körpersprache näher erläutert.

Sprechen Nach allgemeiner Auffassung ist die Sprache etwas, das den Menschen mit am deutlichsten vom Tier unterscheidet. Die Sprache ist eine wesentliche Grundlage zur Schaffung der menschlichen Kultur, wie wir sie heute kennen.

Funktionen der Sprache Die Sprache des Menschen erfüllt mehrere Funktionen. ▶ Ausdrucksfunktion. Mithilfe der Sprache lassen sich z. B. Gefühle, Erlebnisse, Lob oder Tadel ausdrücken. ▶ Kommunikationsfunktion. Sprache dient der zwischenmenschlichen Verständigung und der Kontaktaufnahme bzw. der Kontaktbeendigung. ▶ Bezeichnungsfunktion. Mithilfe von Sprache lassen sich Dinge, Gegenstände, Sachverhalte bezeichnen und zuordnen. ▶ Beschreibungsfunktion. Sprache dient der Informationsaufnahme und -weitergabe. ▶ Handlungsfunktion. Sprachliche Befehle, Anweisungen, Bitten, Fragen, Antworten wirken sich auf das Verhalten oder Handeln von Personen aus. ▶ Denkunterstützungsfunktion. Sprache hilft mit beim Problemlösen, Aufstellen von Regeln und Plänen, Überlegen von Begründungen. ▶ Bewertungsfunktion. Mithilfe von Sprache werden Dinge, Verhalten von Personen, Meinungen und Tatsachen bewertet, es werden Geschmacksurteile abgegeben. ▶ Kulturtradierungsfunktion. Alle literarischen Werke benutzen die Sprache als Medium. Texte, Lieder, Geschichten und Verse helfen, Kultur an nachfolgende Generationen weiterzugeben und zu überliefern.

Sprachlicher Ausdruck Die Sprache besitzt keine vollkommene Klarheit und Transparenz. Jeder Mensch erfährt die Realität und ihren sprachlichen Ausdruck auf seine Weise und misst ihnen eigene Bedeutung zu. Ein und dasselbe Wort kann je nach Kontext verschiedene Bedeutungen haben. Beispiele sind z. B. die Begriffe Mutter, Steuer, Stuhl und Stift. Je abstrakter der Begriff wird, z. B. Freiheit, Freundschaft, Liebe, Ganzheitlichkeit, desto komplexer sind die Er-

10.3 Beobachten und Beurteilen fahrungen, die der einzelne Mensch damit gemacht hat, und umso unterschiedlicher sind die persönlichen Vorstellungen davon.

Merke

● H

Der sprachliche Ausdruck wird durch Fachausdrücke, Fremdwörter, Satzbau und Satzlänge, Formulierung, Passivkonstruktionen und falsche Konjunktive bestimmt. Sprechweise und Sprechgeschwindigkeit vermitteln dem Zuhörer wichtige Informationen.

▶ Fachausdrücke. Sie sind meist notwendig, da es nur selten entsprechende deutsche Ausdrücke gibt (z. B. technische, medizinische oder pflegerische Fachausdrücke). Dem Benutzer muss deren Bedeutung klar sein und er muss diese Wörter bei Rückfragen erklären können. ▶ Fremdwörter. Sie sind im Gegensatz zu Fachausdrücken meist überflüssig, weil es für jedes Fremdwort einen deutschen Ausdruck gibt. ▶ Satzbau und Satzlänge. Lange Sätze erschweren dem Zuhörer, Gesagtes zu verstehen. Häufig geht die Anzahl der Worte pro Satz einher mit einer Vielzahl von Nebensätzen und Einschüben, die Teile des Gesagten näher erläutern sollen. Der Zuhörer weiß am Ende des Satzes nicht mehr, was am Anfang gesagt wurde (der Sprecher oft auch nicht). Diese sog. Schachtelsätze sind zu vermeiden. Jede neue Aussage sollte mit einem neuen Satz begonnen werden. ▶ Formulierung. Viele Redebeiträge leiden unter schwerfälligen und unverständlichen Formulierungen. Es gibt im Deutschen einige sprachliche Phänomene, die dies begünstigen, z. B. die Substantivierung („in Auftrag geben“ statt „beauftragen“ oder „in Rechnung stellen“ statt „berechnen“).

▶ Falsche Konjunktive. So z. B. „Ich möchte Ihnen jetzt gerne vorstellen, wie ...“ statt „Ich stelle Ihnen jetzt vor, wie ...“. ▶ Sprechweise. Die Sprecher müssen differenziert und eindeutig ausdrücken können, was sie meinen, wobei aber nicht entscheidend ist, was gesagt wird, sondern wie es gesagt wird. Die Sprechweise kann z. B. im Tonfall äußerst scharf oder lieblich, hart oder weich, melodisch oder abgehackt, brummend oder piepsend sein. Die Stimme kann angehoben bzw. abgesenkt werden, um die Aufmerksamkeit des Empfängers zu steigern und bestimmte Informationen zu betonen. ▶ Sprechgeschwindigkeit und -lautstärke. Ein stockendes Sprechen vermittelt Unsicherheit, ein sehr schnelles Sprechen Nervosität und Hektik, ein extrem langsames Sprechen bewusste Gelassenheit oder geistig-seelische Verlangsamung. Bedeutenden Ausdruckscharakter hat auch die Lautstärke beim Sprechen. Wird sehr leise gesprochen, so kann dies ein Zeichen der Angst sein, aber auch der Versuch, Aufmerksamkeit zu erregen. Sehr lautes Sprechen deutet oft auf emotionale Erregung hin (▶ Tab. 10.2).

Schreiben und Lesen gehören zu den sog. Kulturtechniken, die in Schulen vermittelt werden. Trotzdem leben laut einer aktuellen Studie der Universität Hamburg, 7,5 Mio. Erwachsene unter uns, die aus unterschiedlichsten Gründen Analphabeten sind. Schreiben als indirekte Form der Kommunikation erfolgt zunächst einseitig bei Abwesenheit des Empfängers. Durch die Beantwortung des Schreibens vermittelt der Empfänger dem Sender eine Reaktion, d. h., die Kommunikation wird wechselseitig gestaltet.

Lesen Das Lesen ist wie das Schreiben eine indirekte Form der Kommunikation und ermöglicht, sich in Texten niedergelegte Sach- und Sinnzusammenhänge zugänglich zu machen. Beim Lesen von Allgemeintexten, wie Büchern und Zeitungen, findet in aller Regel kein wechselseitiger Austausch von Sender und Empfänger statt, während bei Briefen meistens eine Reaktion des Empfängers erfolgt. Lesen unterstützt das Lernen und Lehren und hat oft bildenden Wert.

Körpersprache

Zuhören Zuhören ist ein aktiver Vorgang und bedeutet weit mehr als nur das Wahrnehmen von Geräuschen und Lauten. Beim aktiven Zuhören wendet sich der Zuhörer ausschließlich dem Sprechenden zu und nimmt neben den ausgesprochenen Informationen auch die unausgesprochenen wahr.

Merke

Schreiben

Der Begriff Körpersprache ist eine der Umgangssprache entlehnte Bezeichnung für körperliches Ausdrucksverhalten in seiner kommunikativen Bedeutung. Andere, z. T. deckungsgleich verwendete Begriffe für Körpersprache sind Kinesik, nonverbale bzw. analoge Kommunikation.

H ●

Erfolgt die Kommunikation von Angesicht zu Angesicht, nicht z. B. über Telefon, so kann der aktive Zuhörer zusätzliche Informationen über die nonverbalen Zeichen, z. B. Körpersprache, Gestik, Mimik usw., beobachten und interpretieren.

▶ Passivkonstruktionen. So z. B. „Wir wurden auf die Idee gebracht“ statt „Wir sind auf die Idee gekommen“.

● H

Merke

10

Die Körpersprache ergänzt die verbale Kommunikation, kann diese aber auch ersetzen.

Dies ist der Fall, wenn Sender und Empfänger nicht dieselbe Sprache beherrschen oder sich aufgrund weitgehender Sprachbzw. Hörbehinderung, entwicklungsbedingt bei Kleinkindern und schwerstbehinderten Menschen nicht verbal verständigen können.

Tab. 10.2 Deutung der Sprechweise (nach Grond, 1985). Freude

Trauer

Erregung

Ausgeglichenheit

Tonhöhe

hoch

niedrig

unterschiedlich

mittel

Melodievariationen

stark

gering

stark

mittel

Tonhöhenverlauf

erst auf, dann ab

abwärts

stark auf und ab

gemäßigt

Klangfarbe Obertöne

viele

weniger

kaum

eher mehr

Tempo

schnell

langsam

mittel

mittel

Lautstärke

laut

leise

stark schwankend

mittel

Rhythmus

ungleichmäßig

gleichmäßig

unregelmäßig

gleichmäßig

3

Kinder- und Familienunterstützung Verschiedene Ausdrucksformen der Körpersprache sind z. T. universell genetisch vorgegeben. So ist z. B. in allen menschlichen Kulturen der mimische Ausdruck für Freude/Glück, Überraschung, Furcht/Angst, Wut/Ärger, Trauer und Ekel gleich. Andere Ausdrucksformen der Körpersprache werden in der frühen Kindheit angelernt und durch die Erziehung verstärkt. Kinder sind in ihrer Körpersprache noch unverfälscht, anders als Erwachsene, die gelernt haben, „sich zusammenzunehmen“.

Merke

H ●

Merke

Während die gesprochene Sprache dem Ausdruck von Gedanken dient, ist der Körper hingegen das Ausdrucksmittel für Gefühle. Im Gegensatz zur verbalen Kommunikation unterliegt die Körpersprache nur begrenzt einer bewussten Kontrolle.

Dies ist häufig die Ursache einer Diskrepanz zwischen den verbalen und nonverbalen Informationen (einem gelangweilten Menschen fällt es z. B. schwer, seinem Körper eine aufmerksame Haltung zu geben, oder ein Patient sagt, dass er sich wohlfühlt, obwohl er tatsächlich Angst vor der anstehenden Behandlung hat). Die Signale der Körpersprache zu verstehen kann gelernt werden (▶ Abb. 10.5). Grundsätzlich besteht aber das Problem der Mehrdeutigkeit der Signale. Vor der Brust verschränkte Arme müssen nicht zwangsläufig auf eine Abwehrhaltung hindeuten, sondern können auch nur ein Zeichen dafür sein, dass die Person friert.

▶ Körpersprache von Kindern. Sie ist ein verlässlicher Weg, ihre Gefühle und Wünsche zu verstehen. Besonders wichtig ist sie bei Kindern, die noch nicht sprechen können. So müssen Pflegefachkräfte z. B. zwischen Schreien vor Hunger, Langeweile, Einsamkeit oder Schmerzen unterscheiden lernen. Dabei können Gesichtsund Körperausdruck des Kindes entscheidende Hinweise geben.

H ●

Da der Interpretation der Körpersprache in der Pflege eine wichtige Bedeutung zukommt, kann durch sorgfältiges Beobachten des gesamten situativen Umfeldes der Gefahr grober Missdeutungen begegnet werden. Die Körpersprache umfasst Mimik, Gestik, Körperhaltung, -bewegung, -orientierung und -kontakt sowie Blickverhalten, aber auch vegetative Reaktionen (Blässe, Erröten, Schwitzen, Tränen).

▶ Mimik oder Mienenspiel. So werden die Ausdrucksbewegungen und -formen des menschlichen Gesichts bezeichnet. Die Mimik ist weitgehend unabhängig von bewusster Kontrolle und kann Hinweise auf das aktuelle Befinden der Kommunikationspartner geben. Der Gesichtsausdruck kann z. B. schmerzverzerrt, abwesend, fröhlich, traurig, gereizt oder desinteressiert sein.

10 sich streckend, abwartend

ablehnend

erstaunt, überrascht, dominant, misstrauisch, unentschlossen, zurückhaltend

sehr ärgerlich, wütend

neugierig

nachdenklich

verwirrt

affektiert

willkommen heißend

beobachtend

schleichend

schüchtern, unsicher, schamhaft, bescheiden, traurig

selbstzufrieden, ungeduldig, darstellend, zwanglos, wütend

gleichgültig, darstellend, resigniert, zweifelnd, fragend

aufgeregt

Abb. 10.5 Deutung sprechender Haltungen. Haltung und Mimik müssen immer im Zusammenhang gesehen werden. (Abb. nach: Grond 1985)

224

10.4 Kommunikation im Pflegeprozess ▶ Gestik. Sie umfasst alle Formen der veränderlichen Ausdrucksbewegungen des menschlichen Körpers. Verbale Aussagen lassen sich durch Gesten unterstreichen und illustrieren. Dabei spielen die ausdrucksstarken Hände eine besondere Rolle. Sie unterstützen das gesprochene Wort und bringen Gefühle und Gemütsregungen zum Ausdruck. Gesten können aber auch Worte ersetzen (z. B. „Vogel zeigen“) und damit eine eigene Bedeutung erhalten. Die Gebärdensprache und die Fingersprache als wichtigste Kommunikationsmittel der sprach- und hörgeschädigten Menschen bedienen sich der Gestik. ▶ Körperhaltung. Die seelische und körperliche Verfassung spiegelt sich in der Körperhaltung wider. Sie kann z. B. Selbstbewusstsein, Stolz, Trauer oder Unsicherheit zum Ausdruck bringen. Eine schlaffe Haltung weist oft auf Kraftlosigkeit, eine gekrümmte auf Schmerzen oder Krankheit hin. ▶ Körperbewegungen. Unter dem Begriff Körperbewegungen werden in erster Linie der Gang und die dazugehörigen unwillkürlichen Bewegungen der Arme und des Kopfes verstanden. Körperbewegungen können elastisch, federnd und beschwingt oder müde, kraftlos, zitternd, ungelenk und unsicher sein. ▶ Körperorientierung. Damit ist die Stellung der Körperteile in Beziehung zum Kommunikationspartner gemeint. Sie gibt Hinweise auf die Beziehung der Kommunikationspartner. Aufmerksamkeit und Einlassen auf den anderen wird durch eine zugewandte Haltung signalisiert, wohingegen die Abwendung (dem anderen die Seite zuwenden) Abgrenzung oder Abwehr bedeuten kann. ▶ Körperkontakt. Mittels Körperkontakt kann Kommunikation in ihrer intensivsten nonverbalen Form durch Anfassen, Streicheln, Handauflegen, Umarmen oder Küssen erfolgen und somit Informationen über die persönlichen Gefühle zwischen Sender und Empfänger vermitteln. Selbst bei gesellschaftlichen Gebräuchen, die mit Körperkontakt einhergehen, z. B. Händeschütteln, Wange küssen oder flüchtige Umarmungen, können emotionale Befindlichkeiten, wie Sympathie, Antipathie, Zuwendung und Distanzierung, deutlich werden. ▶ Blickverhalten. Dieses beeinflusst den mimischen Ausdruck entscheidend. Als Kommunikationsmittel liefert es leicht zu beobachtende Informationen über das innere Befinden des Senders und über seine Einstellung zum Empfänger. Es kann z. B. freudig, traurig, verärgert, kritisch oder

bejahend sein. Dabei wirkt die Betätigung der Augenbrauen (z. B. Hoch- und Zusammenziehen) und der Augenlider (z. B. Zwinkern) unterstützend. Fehlt der Blickkontakt ganz, kann dies z. B. Ausdruck von Desinteresse, mangelnder Aufmerksamkeit oder Unsicherheit sein.

10.3.3 Individuelle Situationseinschätzung Um ein Kind hinsichtlich seiner Kommunikationsfähigkeit beurteilen zu können, sollte sich die Pflegefachkraft folgende Fragen stellen: ● Stimmen die inhaltlichen und emotionalen Anteile der Mitteilung des Kindes überein? ● Meint das Kind auch das, was es sagt, oder empfindet es vielleicht etwas ganz anderes? ● Kommuniziere ich mit dem Kind nur einseitig und habe ich das Feedback des Kindes genügend berücksichtigt?

10.4 Kommunikation im Pflegeprozess Während des Klinikaufenthaltes ist die Aufnahme zwischenmenschlicher Kontakte zunächst durch die äußeren Umstände bedingt. Die Beteiligten haben einander nicht als Kommunikationspartner ausgesucht.

Merke

H ●

Um eine angenehme Atmosphäre und eine zwischenmenschliche Basis zu schaffen, bedarf es der Kontaktbereitschaft. Es ist wichtig, dass die Pflegefachkraft sowohl Offenheit und Bereitschaft als auch Toleranz und Akzeptanz signalisiert, damit sich ein tragfähiges Vertrauensverhältnis entwickeln kann (▶ Abb. 10.6).

Problematisch gestaltet sich häufig die Pflege von Menschen, die in ihrer Kommunikationsmöglichkeit beeinträchtigt sind. Weitere Einflussfaktoren sind der Grad der Störung, der von einer teilweisen bis zur vollständigen Störung reichen kann, und die Frage, ob sie reversibel ist oder nicht. Eingeschränkte Kommunikationsmöglichkeiten haben besonders bei Kindern einen erheblichen Einfluss auf alle Entwicklungsbereiche (z. B. Wahrnehmung, Gefühle, Körpererfahrung, Sprache, Bewegung, Kognition und Sozialerfahrung).

Merke

H ●

Für die Pflege kranker Kinder sind Kennen und Verstehen kindspezifischer Verhaltensweisen, Bedürfnisse und Reaktionen ebenso wichtig wie pflegerisches und medizinisches Fachwissen.

Bei Kindern mit beeinträchtigten Kommunikationsmöglichkeiten ist das Wissen um das veränderte Verhalten Voraussetzung, es besser zu verstehen und Erwartungen an seine Fähigkeiten anpassen zu können. Es ist daher zunächst zu klären, welche Kommunikationsformen das Kind gegenwärtig benutzt und wie weit das Kind in seiner geistigen Entwicklung ist. Dabei geht es nicht um allgemeine Aussagen über die Intelligenz, sondern um eine entwicklungspsychologische Beschreibung, damit das Kind „dort abgeholt werden kann, wo es steht“.

Merke

H ●

10

„All unseren Tätigkeiten und Bemühungen muss Achtung gegenüber Menschen mit Behinderungen zugrunde liegen. Wir wollen uns zurücknehmen, zuhören, besser verstehen lernen. Wir wollen begleiten, unterstützen, beraten, assistieren, stärken“ (Resolution der Lebenshilfe-Veranstaltung „Von der Förderung zur Assistenz“ am 14./ 15. 02. 1996, Marburg).

10.4.1 Förderung der Sprachentwicklung

Abb. 10.6 Kontaktaufnahme. Die Pflegende begibt sich auf die Ebene des Kindes. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Bei der Anwendung von Maßnahmen zur Förderung der Sprachentwicklung von Kindern ist zu beachten, dass Altersangaben nur Richtwerte sind. Jedes Kind hat seine eigene Geschwindigkeit. Fördernde Maßnahmen können sein:

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10.4 Kommunikation im Pflegeprozess ▶ Gestik. Sie umfasst alle Formen der veränderlichen Ausdrucksbewegungen des menschlichen Körpers. Verbale Aussagen lassen sich durch Gesten unterstreichen und illustrieren. Dabei spielen die ausdrucksstarken Hände eine besondere Rolle. Sie unterstützen das gesprochene Wort und bringen Gefühle und Gemütsregungen zum Ausdruck. Gesten können aber auch Worte ersetzen (z. B. „Vogel zeigen“) und damit eine eigene Bedeutung erhalten. Die Gebärdensprache und die Fingersprache als wichtigste Kommunikationsmittel der sprach- und hörgeschädigten Menschen bedienen sich der Gestik. ▶ Körperhaltung. Die seelische und körperliche Verfassung spiegelt sich in der Körperhaltung wider. Sie kann z. B. Selbstbewusstsein, Stolz, Trauer oder Unsicherheit zum Ausdruck bringen. Eine schlaffe Haltung weist oft auf Kraftlosigkeit, eine gekrümmte auf Schmerzen oder Krankheit hin. ▶ Körperbewegungen. Unter dem Begriff Körperbewegungen werden in erster Linie der Gang und die dazugehörigen unwillkürlichen Bewegungen der Arme und des Kopfes verstanden. Körperbewegungen können elastisch, federnd und beschwingt oder müde, kraftlos, zitternd, ungelenk und unsicher sein. ▶ Körperorientierung. Damit ist die Stellung der Körperteile in Beziehung zum Kommunikationspartner gemeint. Sie gibt Hinweise auf die Beziehung der Kommunikationspartner. Aufmerksamkeit und Einlassen auf den anderen wird durch eine zugewandte Haltung signalisiert, wohingegen die Abwendung (dem anderen die Seite zuwenden) Abgrenzung oder Abwehr bedeuten kann. ▶ Körperkontakt. Mittels Körperkontakt kann Kommunikation in ihrer intensivsten nonverbalen Form durch Anfassen, Streicheln, Handauflegen, Umarmen oder Küssen erfolgen und somit Informationen über die persönlichen Gefühle zwischen Sender und Empfänger vermitteln. Selbst bei gesellschaftlichen Gebräuchen, die mit Körperkontakt einhergehen, z. B. Händeschütteln, Wange küssen oder flüchtige Umarmungen, können emotionale Befindlichkeiten, wie Sympathie, Antipathie, Zuwendung und Distanzierung, deutlich werden. ▶ Blickverhalten. Dieses beeinflusst den mimischen Ausdruck entscheidend. Als Kommunikationsmittel liefert es leicht zu beobachtende Informationen über das innere Befinden des Senders und über seine Einstellung zum Empfänger. Es kann z. B. freudig, traurig, verärgert, kritisch oder

bejahend sein. Dabei wirkt die Betätigung der Augenbrauen (z. B. Hoch- und Zusammenziehen) und der Augenlider (z. B. Zwinkern) unterstützend. Fehlt der Blickkontakt ganz, kann dies z. B. Ausdruck von Desinteresse, mangelnder Aufmerksamkeit oder Unsicherheit sein.

10.3.3 Individuelle Situationseinschätzung Um ein Kind hinsichtlich seiner Kommunikationsfähigkeit beurteilen zu können, sollte sich die Pflegefachkraft folgende Fragen stellen: ● Stimmen die inhaltlichen und emotionalen Anteile der Mitteilung des Kindes überein? ● Meint das Kind auch das, was es sagt, oder empfindet es vielleicht etwas ganz anderes? ● Kommuniziere ich mit dem Kind nur einseitig und habe ich das Feedback des Kindes genügend berücksichtigt?

10.4 Kommunikation im Pflegeprozess Während des Klinikaufenthaltes ist die Aufnahme zwischenmenschlicher Kontakte zunächst durch die äußeren Umstände bedingt. Die Beteiligten haben einander nicht als Kommunikationspartner ausgesucht.

Merke

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Um eine angenehme Atmosphäre und eine zwischenmenschliche Basis zu schaffen, bedarf es der Kontaktbereitschaft. Es ist wichtig, dass die Pflegefachkraft sowohl Offenheit und Bereitschaft als auch Toleranz und Akzeptanz signalisiert, damit sich ein tragfähiges Vertrauensverhältnis entwickeln kann (▶ Abb. 10.6).

Problematisch gestaltet sich häufig die Pflege von Menschen, die in ihrer Kommunikationsmöglichkeit beeinträchtigt sind. Weitere Einflussfaktoren sind der Grad der Störung, der von einer teilweisen bis zur vollständigen Störung reichen kann, und die Frage, ob sie reversibel ist oder nicht. Eingeschränkte Kommunikationsmöglichkeiten haben besonders bei Kindern einen erheblichen Einfluss auf alle Entwicklungsbereiche (z. B. Wahrnehmung, Gefühle, Körpererfahrung, Sprache, Bewegung, Kognition und Sozialerfahrung).

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Für die Pflege kranker Kinder sind Kennen und Verstehen kindspezifischer Verhaltensweisen, Bedürfnisse und Reaktionen ebenso wichtig wie pflegerisches und medizinisches Fachwissen.

Bei Kindern mit beeinträchtigten Kommunikationsmöglichkeiten ist das Wissen um das veränderte Verhalten Voraussetzung, es besser zu verstehen und Erwartungen an seine Fähigkeiten anpassen zu können. Es ist daher zunächst zu klären, welche Kommunikationsformen das Kind gegenwärtig benutzt und wie weit das Kind in seiner geistigen Entwicklung ist. Dabei geht es nicht um allgemeine Aussagen über die Intelligenz, sondern um eine entwicklungspsychologische Beschreibung, damit das Kind „dort abgeholt werden kann, wo es steht“.

Merke

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„All unseren Tätigkeiten und Bemühungen muss Achtung gegenüber Menschen mit Behinderungen zugrunde liegen. Wir wollen uns zurücknehmen, zuhören, besser verstehen lernen. Wir wollen begleiten, unterstützen, beraten, assistieren, stärken“ (Resolution der Lebenshilfe-Veranstaltung „Von der Förderung zur Assistenz“ am 14./ 15. 02. 1996, Marburg).

10.4.1 Förderung der Sprachentwicklung

Abb. 10.6 Kontaktaufnahme. Die Pflegende begibt sich auf die Ebene des Kindes. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Bei der Anwendung von Maßnahmen zur Förderung der Sprachentwicklung von Kindern ist zu beachten, dass Altersangaben nur Richtwerte sind. Jedes Kind hat seine eigene Geschwindigkeit. Fördernde Maßnahmen können sein:

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Kinder- und Familienunterstützung ●





Spielen kleiner Szenen mit dem Kind: „Teddy kauft eine Fahrkarte“, „Ein Auto fährt zur Tankstelle.“ Häufiges gemeinsames Malen mit dem Kind. Fragen nach Ereignissen aus Kinderbüchern.

10.4.2 Kommunizieren mit hörgeschädigten Kindern Die Hauptrisikofaktoren für die Entstehung frühkindlicher Hörstörungen sind: ● familiäre Hörschäden mit Verdacht auf Erblichkeit ● Röteln und andere Viruserkrankungen in den ersten Schwangerschaftsmonaten ● Fehlbildungen im Kopfbereich, einschließlich Spalten ● schwere Blutungen in der Frühschwangerschaft ● Frühgeburten unter 1500 g Körpergewicht ● perinatale Asphyxie ● Ikterus gravis neonatorum ● Meningitis und Enzephalitis

Schwerhörigkeit und Gehörlosigkeit

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In Deutschland leben nach Angaben des Deutschen Gehörlosenbundes derzeit 80 000 gehörlose Menschen, die gehörlos geboren wurden oder ihr Gehör noch vor dem Spracherwerb verloren haben. Die Zahl der Schwerhörigen liegt mit 16 Millionen weit höher. Von 1000 Kindern kommen 2 – 3 mit einer behandlungsbedürftigen Hörstörung zur Welt. Das entscheidende Kriterium für die Auswirkungen auf die Kommunikationsmöglichkeiten ist der Zeitpunkt, zu dem die Schädigung eintritt.

Bei einer angeborenen Gehörlosigkeit oder Schwerhörigkeit können Kinder die sprachliche Kommunikationsfähigkeit nur sehr schwer erwerben, denn sie sind nicht in der Lage, aus eigener Kraft die Sprache zu erlernen. Besonders bei Kindern hat Schwerhörigkeit oder Gehörlosigkeit Störungen des Sprechens zur Folge. Es kommt zu fehlerhafter Akzentuierung und mangelhafter Artikulation der Laute. Sie beherrschen grammatikalische und syntaktische Formen nur eingeschränkt und haben einen erheblich begrenzten Wortschatz. Ist die Schwerhörigkeit oder Gehörlosigkeit nach dem Erwerb der vollen Sprechfähigkeit entstanden, bleibt bei entsprechender Übung der erworbene Sprachschatz als Grundlage der Kommunikation weitgehend erhalten. Mit Hörund Sprachproblemen tritt oftmals eine Beeinträchtigung der Sozialkompetenz auf. Eine der ersten Einschätzungen ist ein einfacher Hörtest im Säuglingsalter (▶ Tab. 10.3), auf dessen Grundlage ggf. der Rat eines Spezialisten frühzeitig eingeholt und spezielle Förder- und Erziehungsmaßnahmen ergriffen werden können. Neugeborene haben seit 2009 einen gesetzlichen Anspruch auf eine Früherkennungsuntersuchung auf Hörstörungen als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung.

Merke

Ohrenklingen Schlimmer als der Hörverlust wird von vielen Betroffenen die unangenehme Begleiterscheinung Ohrenklingen empfunden. Diese monotonen Summ- und Klingellaute kann zwar jeder im Ohr wahrnehmen, wenn die Umgebung still genug ist, sie werden aber normalerweise durch Umgebungsgeräusche überdeckt. Bei gehörlosen oder schwerhörigen Menschen kann das quälende Ohrenklingen zu Schlaflosigkeit und Depressionen führen.

Verhaltensregeln Für die Kommunikation mit hörgeschädigten Kindern sind folgende Grundsätze zu beachten: ● Das hörgeschädigte Kind als vollwertigen Menschen akzeptieren und es entsprechend behandeln. ● Dem Kind, um es nicht zu erschrecken, zu erkennen geben, dass man auf es zukommt (z. B. durch Betätigen des Lichtschalters). ● Langsam, deutlich und laut sprechen, aber nicht schreien (▶ Abb. 10.7). ● Das hörgeschädigte Kind muss das Gesicht seines Gesprächspartners sehen können, damit es die Laute von den Lippen ablesen kann; deshalb ist darauf zu achten, dass sich das Gesicht der Pflegefachkraft in angepasster Entfernung auf derselben Höhe des Kindes befindet und gut beleuchtet ist. ● Gestik und Mimik eindeutig und unterstützend einsetzen. ● Möglichst Hochdeutsch und in kurzen, klar verständlichen Sätzen sprechen. ● Das Kind bitten, wichtige Einzelheiten des Gesprächs zu wiederholen, um sich zu vergewissern, dass es alles verstanden hat.

H ●

Als Teil einer medizinischen Vorsorgestrategie wurde das NeugeborenenHörscreening (Screening = Früherkennung, Vorfelddiagnostik) eingeführt, das eine objektive Diagnostik des Gehörs ermöglicht und somit Hörschädigungen frühzeitig erkennt.

Tab. 10.3 Orientierende Hörtestung bei Säuglingen und Kleinkindern * (nach Hertl, 1996). Alter des Kindes

Test

Neugeborene und erste Lebensmonate

● ●

Kinderrassel in Ohrnähe Schütteln eines Schlüsselbundes

Reaktion ● ●



6 – 9 Monate

● ●

10 – 15 Monate





Zusammenzucken Veränderung der Atmung (Anhalten, verspätete Inspiration) bei geöffneten Augen kurzer, deutlicher Lidschluss

Anruf leise Geräusche (leises Schütteln der Kinderrassel, Öffnen eines Papierballes in Ohrnähe)

Umsehen nach der Schallquelle

leises Rufen des Namens aus etwa 2 m Abstand leises rhythmisches Vorsprechen von Lauten wie „S-S-S“, „P-P-P“, „K-K-K“ aus 1 m Abstand

● ●



Umsehen zur Schallquelle Beruhigung des Kindes bei vorheriger Unruhe Ausdruck einer schallbezogenen inneren Bewegung (z. B. Lachen, Nachsprechen)

* Die Prüfinstrumente dürfen von Kindern nicht gesehen werden, keine Erschütterung im Raum hervorrufen und keinen Schatten werfen.

226

10.4 Kommunikation im Pflegeprozess

Prävention von Hörschädigungen

Abb. 10.7 Kommunizieren mit hörgeschädigten Kindern. Hinweiskärtchen mit Verhaltensregeln für den Umgang mit Schwerhörigen. (Foto: K. Gampper, Thieme)





















Beachten, dass sich die Stimme von Hörgeschädigten monoton, melodiearm und schwer verständlich anhören kann und die Informationsvermittlung entsprechend viel Zeit benötigt, deshalb geduldig bleiben und Verständnis aufbringen. Andere Menschen, die mit dem betroffenen Kind in Kontakt stehen (z. B. Mitpatienten, Pflegefachkräfte, Physiotherapeuten) auf die Hörbehinderung aufmerksam machen (Gespräch, Eintrag im Dokumentationssystem). Im Krankenzimmer einen entsprechenden Hinweis, z. B. Klebepiktogramm des DSB (Deutscher Schwerhörigenbund) deutlich sichtbar am Bett anbringen. Kontakte zwischen Hörenden und Hörbehinderten fördern, damit diese integriert und nicht isoliert werden. Wenn ein hörbehindertes Kind geröntgt werden soll, muss vorher mit ihm vereinbart werden, wie es sich im abgedunkelten Raum zu verhalten hat. Die Betroffenen immer wieder bewusst informieren und einbeziehen. Falls möglich und notwendig, Hörhilfen zur Verfügung stellen und darauf achten, dass diese eingesetzt werden und funktionsfähig sind. Hilfreich kann auch die Anwendung eines Fingeralphabets sein, wobei zur Beschreibung von fremden Namen und Begriffen jeder Buchstabe des Alphabets mit den Fingern gebildet wird. Gelingt die Kommunikation nicht, kann ggf. ein Gebärdensprachendolmetscher eingeschaltet werden. Mimik, Tanz und Pantomime sind sowohl als Ausdrucksmöglichkeit des Hörbehinderten wie auch als Informations- und Unterhaltungsquelle zu fördern.

Folgende Maßnahmen sind geeignet, um Hörschäden vorzubeugen: ● Neugeborenen-Hörscreening ● Teilnahme an allen Vorsorgeuntersuchungen (U 1 bis U 10/J1) ● genaue Beobachtung der möglichen Auswirkungen auf das Gehör des Kindes bei Verabreichung ototoxischer Medikamente ● Beteiligung an Kinderimpfprogrammen, zur Vorbeugung von Kinderkrankheiten, die zu einem Gehörverlust führen können ● frühzeitige Behandlung und Austherapieren von Mittelohrentzündungen ● Vermeidung exzessiven Lärms (z. B. laute Musik, Umgebungsgeräusche, Motoren) ● möglichst geringer Geräuschpegel auf Intensivstationen ● Ruhe und harmonische sowie natürliche leise Töne (Vogelgezwitscher, Meeresrauschen) zur Entspannung und Regeneration des Gehörs

10.4.3 Kommunizieren mit sehgeschädigten Kindern In Deutschland leben ca. 164 000 blinde und ca. 1 Mio. sehbehinderte Menschen (WHO-Report 2004). Als blind gilt, wessen Sehleistung unter 1/50 (2 %) der Norm liegt. Das heißt, dass bei einem blinden Menschen theoretisch immer noch ein Sehrest vorhanden sein kann. Meist beschränkt sich dieser auf eine Hell-DunkelWahrnehmung. Kinder, die blind sind, haben keine visuellen Kommunikationsmöglichkeiten. Sie können z. B. die Körpersprache ihrer Gesprächspartner nicht wahrnehmen oder schriftliche Mitteilungen nicht aufnehmen. Personen mit Sehresten können Blickkontakt aufnehmen und dadurch mehr oder weniger uneingeschränkt kommunizieren.

Merke

H ●

Bei schwer sehbehinderten oder blinden Kindern fehlen die visuellen Reize aus der Umwelt. Daher ist es möglich, dass die geistige Entwicklung erheblich verzögert ist.

Viele dieser Kinder haben aber gelernt, andere Kommunikationskanäle, wie Hörund Tastsinn, so einzusetzen, dass ihre Sehbehinderung weitgehend kompensiert werden kann. Aufgrund der besonderen Entwicklungsumstände blinder oder seh-

behinderter Kinder zeigen sie häufig besondere Verhaltensweisen: ● Sie wirken oft schüchtern, gehemmt, zurückhaltend und bescheiden. ● Sie können aber auch misstrauisch, gereizt und aggressiv reagieren, besonders dann, wenn sie sich in einer neuen Umgebung nicht zurechtfinden. ● Im Krankenhaus leben sie in ständiger Furcht vor schmerzhaften medizinischen Eingriffen. ● Vieles Neue bereitet ihnen zunächst Angst.

Verhaltensregeln Für die Kommunikation mit erblindeten Kindern sollten folgende Regeln beachtet werden: ● Das erblindete Kind in seiner Persönlichkeit ernst nehmen, ihm unbefangen und natürlich begegnen. Mitleidsäußerungen, taktlose Fragen oder Bemerkungen wirken verletzend und stören die gegenseitige Beziehung. ● Das erblindete Kinder direkt ansprechen und nicht etwa die Begleitperson. Darauf achten, sich selbst vorzustellen, damit das Kind weiß, mit wem es gesprochen hat. Bald wird das Kind die neuen Gesprächspartner an der Stimme erkennen. ● Dem blinden Kind werden die Mitpatienten im selben Zimmer vorgestellt. ● Besonders in den ersten Stunden im Krankenhaus muss die Pflegefachkraft dem Kind behilflich sein, sich in seiner neuen Umgebung zurechtzufinden. Mit dem Kind sollte ein Rundgang gemacht, das Krankenzimmer (wo steht was?) und der Weg zur Toilette erklärt werden. Dem Kind ist die Gelegenheit zu geben, die wichtigsten Sachen, z. B. die Klingel, zu ertasten und auszuprobieren. So weit wie möglich sollten hierbei die Eltern einbezogen werden. ● Jede räumliche Veränderung im Zimmer muss dem Kind mitgeteilt werden. Auch Veränderungen in der Ordnung persönlicher Dinge des Kindes müssen erklärt werden. ● Die Angaben „rechts“, „links“ werden vom erblindeten Kind aus gesehen korrekt bezeichnet. ● Für Säuglinge und Kleinkinder ist Hautkontakt zur Aufnahme von Eindrücken und zur Gewinnung von Sicherheit und Vertrauen von großer Bedeutung. Die Pflegefachkraft sollte das Kind oft auf den Arm nehmen und es so körperliche Nähe erfahren lassen. ● Die Pflegefachkraft sollte entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes eine bildhafte, klare und einfache Sprache sprechen.

10

7

Kinder- und Familienunterstützung ●









10

Mit erblindeten Kindern sollte „normal“ kommuniziert werden. Es darf z. B. durchaus gesagt werden, dass dem Kind oder Jugendlichen z. B. die Farbe des Sweatshirts gut steht – besonders spät Erblindete erinnern Farben und Formen. Soll dem erblindeten Kind eine emotionale Botschaft übermittelt werden, etwa, dass es gelobt oder in einer Sache bestärkt wird oder ihm Mut gemacht wird, ist die Stimme deutlich zu variieren oder Körperkontakt aufzunehmen. Das erblindete Kind mit Namen ansprechen, wenn sich noch andere Personen im Raum befinden. Bevor die Pflegefachkraft den Raum verlässt, soll sie dies ankündigen, da das Kind vielleicht nichts bemerkt und irrtümlich weiterredet, nachdem das Zimmer schon verlassen wurde. Bei allen pflegerischen oder therapeutischen Maßnahmen soll die Durchführung korrekt angekündigt und verständlich erklärt werden. Die Pflegefachkraft sagt dem erblindeten Kind, was es zu essen gibt, wo sich der Teller, die Bestecke usw. auf dem Tisch befinden. Sie fragt nach, wie viel es essen möchte, schenkt Gläser und Tassen nicht zu voll ein. Das erblindete Kind sollte möglichst viel selbstständig tun dürfen, auch wenn dies zunächst eines höheren Aufwands an Zeit und Erklärungen bedarf. Ein solches Vorgehen kann die Selbstständigkeit fördern, das Selbstvertrauen stärken und damit zum allgemeinen Wohlbefinden sowie zur Entlastung der Pflegefachkräfte letztlich wesentlich beitragen.

Die Pflegefachkraft sollte sich intensiv mit einem erblindeten Kind beschäftigen, indem es ihm z. B. vorliest, Musik hören lässt oder Geschichten erzählt. Das Spielzeug blinder Kinder sollte in seiner Form und in seinem Material interessant und abwechslungsreich sein, da das Fehlen von Farben dadurch ausgeglichen werden muss.

Prävention von Augenschäden Folgende Maßnahmen sind geeignet, um Augenschäden vorzubeugen: ● Teilnahme an allen Vorsorgeuntersuchungen (U 1 bis U 10/J1) ● regelmäßige Untersuchungen beim Augenarzt ● Kleinkindern keine Spielsachen oder Instrumente mit langen spitzen Griffen oder Ausformungen in die Hand geben ● ätzende Substanzen von Kindern fernhalten ● Kindern untersagen, mit einem spitzen Gegenstand in der Hand zu gehen oder zu rennen (z. B. Zahnbürste, Besteck) ● Schutz vor direkter Sonneneinstrahlung oder Lichtreflexion (z. B. Spiegel)

228







Überwachung des Umgangs mit spitzen Gegenständen (z. B. mit Scheren beim Basteln) Fernhalten oder auf die Gefahren hinweisen, bei Wurfaktivitäten (z. B. Dart), Waffengebrauch (z. B. Bogenschießen, Schusswaffen) oder anderen Freizeitaktivitäten auf bestehende Schutzbestimmungen hinweisen (z. B. am Arbeitsplatz, im Umgang mit Werkzeugen und technischen Geräten)

10.4.4 Kommunizieren mit geistig behinderten Kindern Definition

L ●

Als Menschen mit geistiger Behinderung werden jene Menschen bezeichnet, deren Entwicklung v. a. im Leistungsbereich starke Rückstände gegenüber der Altersgruppe aufweist und die einen IQ zwischen 20 und 60 haben.

Die angegebenen IQ-Werte sind grobe Orientierungswerte, denn die verwendeten Intelligenztests wurden meist für Nichtbehinderte entwickelt und lassen sich nicht exakt auf das Leistungsniveau behinderter Menschen übertragen. Ihr Abstraktionsvermögen ist begrenzt, sie bleiben an das konkret-anschauliche Denken gebunden und erreichen maximal ein Intelligenzalter von 8 Jahren. Synonym mit geistiger Behinderung werden noch die Begriffe Imbezillität, Oligophrenie, Debilität oder Idiotie verwendet. Diese sollten jedoch vermieden werden, da sie nicht viel aussagen und insbesondere einen negativen Bedeutungsgehalt haben. Eine geistige Behinderung beruht immer auf einer hirnorganischen Schädigung. Sie kann auf Erbkrankheiten oder Chromosomenverteilungsfehler und erworbene Ursachen, z. B. Sauerstoffmangel während der Geburt, zurückgeführt werden. Unter dem zeitlichen Gesichtspunkt können unterschieden werden: ● vorgeburtliche Schädigungen, z. B. Chromosomenschädigung, Infektion der Mutter, Vergiftungen, Viruserkrankungen (z. B. Röteln), Röntgenschäden ● Schädigungen im Zusammenhang mit der Geburt, z. B. Hirnblutungen, Schädeldeformationen, Sauerstoffmangel ● nachgeburtliche Schädigungen, z. B. frühkindliche Hirnschäden aufgrund von Hirnhautentzündung oder Stoffwechselerkrankungen oder Beeinträchtigungen durch Unfälle Geistig behinderte Kinder besitzen oft nicht die notwendigen Fähigkeiten zur verbalen Kommunikation. Für diese Kinder hat die nonverbale Kommunikation

eine besonders wichtige Bedeutung. Spiele, Körperkontakt, Gebärden, Handzeichen sowie Bilder und Wortkarten und einfache Zeichensysteme eignen sich je nach Schweregrad der Behinderung für eine Erfolg versprechende Kommunikation. Neben Intelligenzminderung und eingeschränkten Möglichkeiten der verbalen Kommunikation liegen bei geistig behinderten Kindern häufig auch Beeinträchtigungen des Hör- und Sehvermögens und des Bewegungsapparates vor. Krampfanfälle und spastische Lähmungen können die Kommunikationsmöglichkeiten der Kinder ebenfalls einschränken. Für den Umgang mit geistig behinderten Kindern ist zu beachten, dass diese häufig im emotionalen Bereich und im Sozialverhalten mehr oder weniger ungewohnt reagieren. Eine leichte Reizbarkeit und niedrige Frustrationstoleranz können schnell zu aggressivem Verhalten führen. Auch enthemmtes und distanzloses Verhalten wird beobachtet.

Verhaltensregeln Als Grundlage für eine erfolgreiche Kommunikation mit geistig behinderten Kindern sollten folgende Regeln Beachtung finden: ● Das geistig behinderte Kind als vollwertigen Menschen akzeptieren. ● Kommunikationshilfsmittel verwenden, die den individuellen Möglichkeiten der Kinder entsprechen (▶ Abb. 10.8). ● Versuchen, dem Kind alle pflegerischen Maßnahmen verständlich zu machen. ● Die Pflegefachkraft muss die möglichen Formen der Verhaltensweisen geistig behinderter Kinder kennen und diesen mit Akzeptanz und Geduld begegnen. ● Die verbale Kommunikation ist eindeutig durch Gestik und Mimik zu unterstützen. ● Das geistig behinderte Kind benötigt viel Aufmerksamkeit und Zuwendung.

Abb. 10.8 Gerät zur Kommunikationsanbahnung. BIGmack und Powerlink „Sprechende Taste“ und Netzschaltadapter. Ein Hilfsmittel für geistig behinderte Kinder. (Abb. von: REHAVISTA)

10.4 Kommunikation im Pflegeprozess









Geborgenheit und Sicherheit können durch Körperkontakt (z. B. Hand halten, über den Kopf streicheln) vermittelt werden. Der Kontakt zu nicht behinderten Kindern muss gefördert werden. Kinder haben wenige Probleme mit dem Anderssein, sie können wesentlich unbefangener als Erwachsene miteinander umgehen. Das geistig behinderte Kind darf nicht überfordert werden. Ein Auftrag sollte immer nur dann erteilt werden, wenn das Kind ihn auch bewältigen kann. Hat das Kind eine Aufgabe gelöst (z. B. selbstständiges Ankleiden, Zähneputzen), muss es deutlich gelobt werden. Die Gepflogenheiten des Kindes sollten möglichst beibehalten werden. Besondere Ernährungsgewohnheiten (z. B. eine bestimmte Diät oder geschmackliche Vorlieben), Essensgewohnheiten (z. B. spezielles Besteck oder Geschirr) und die Schlafgewohnheiten und Einschlafriten müssen in der Pflegeanamnese dokumentiert und berücksichtigt werden. Dem Kind wird ausreichend Möglichkeiten zum Spiel mit geeignetem Spielzeug gegeben. Dafür sollte großes, stabiles Spielzeug ohne scharfe Ecken und Kanten ausgesucht werden. Behinderte Kinder haben häufig eine Vorliebe für Musik und Rhythmus, der durch gemeinsames Singen, Musizieren, Tanzen oder Musikhören Rechnung getragen werden sollte.

10.4.5 Kommunizieren mit sprachgestörten Kindern Merke

H ●

Der Spracherwerb eines Kindes hängt von der Wechselwirkung zwischen angeborenen Sprachfähigkeiten und Spracherfahrungen ab.

Praxistipp Pflege

Z ●

Mit Kindern sollte grundsätzlich langsam und deutlich in einfachen Satzmustern gesprochen werden. Das Sprachverständnis wird erleichtert, wenn die Pflegefachkraft anschaulich zeigt, was sie meint.

Ebenen entwickelt, d. h., es sind sowohl der Wortschatz und das Sprachverständnis wie auch die Artikulation und die Grammatik betroffen. Als wesentliche Gründe sind zu benennen: ● Beeinträchtigung der Sinnesfunktionen (Hören und Sehen): Taube Kinder erlernen die Sprache nicht selbstständig. Auch bei blinden Kindern verläuft die Sprachentwicklung aufgrund fehlender visueller Reize verzögert. ● Verzögerte Hirnreifung führt zur geistigen Retardierung, die mit einer Sprachentwicklungsverzögerung und Sprachschwäche verbunden ist. ● Bei schweren Formen geistiger Behinderung beginnt der Spracherwerb zwischen dem 3. und 6. Lebensjahr, bleibt gestört oder ist gar nicht möglich. ● Deprivation: Mangelnde Zuwendung, Vernachlässigung, mangelnder sprachlicher Umgang mit dem Kind können ebenfalls zu einer Störung der Sprachentwicklung führen. ● Zweisprachige Umwelt. Bei diesen Sprachentwicklungsstörungen kann es sich um vorübergehende kindliche Störungen handeln, die nach einiger Zeit verschwinden. Ist das nicht der Fall, ist eine Sprachheiltherapie dringend erforderlich. Die häufigsten bei Kindern auftretenden Sprachentwicklungsstörungen werden im Folgenden beschrieben.

Stottern Als Stottern wird das Unterbrechen der fließenden Sprache bezeichnet. Häufig ist die Ursache des Stotterns nicht anatomisch, sondern psychogen bedingt. Es können verschiedene Formen des Stotterns unterschieden werden: ● klonisches Stottern: einzelne Laute, Silben und Worte werden wiederholt ● primäres Stottern: organisch bedingt, tritt gleichzeitig neben anderen Störungen auf ● sekundäres Stottern: evtl. Folge eines traumatischen Erlebnisses oder von Erziehungsfehlern

Poltern Beim Poltern liegt ein überhastetes unregelmäßiges Sprechtempo vor, Stolpern im Redefluss und eine verwaschene, undeutliche Aussprache.

Dyslalie Von einer Sprachentwicklungsverzögerung wird gesprochen, wenn sich ein Kind im Vergleich zu seiner Altersgruppe in seinem Spracherwerb zu spät, aber auch zu langsam und unvollständig auf allen

Darunter wird die Fehlartikulation eines Lautes, mehrerer Laute, Lautverbindungen oder ganzer Lautgruppen verstanden. Je nach Anzahl der „gestörten“ Laute wird von einer partiellen, multiplen oder uni-

versellen Dyslalie gesprochen. Bei einer Dyslalie lassen sich 2 Formen unterscheiden: ▶ Artikulationsstörung. Das Sprechen ist gestört, die Aussprache gelingt nicht in angemessener Weise. Einzelne Laute und Lautverbindungen können nicht korrekt gebildet/ausgesprochen werden. Dabei wurde die Sprache richtig erworben und das Kind kann auch richtig über sie verfügen. Beim Lispeln (Sigmatismus) handelt es sich um eine spezielle Form der Artikulationsstörung, die bei Kindern häufig auftritt. Dabei werden „S“-Laute und Zischlaute falsch gebildet, z. B. mit der Zunge zwischen statt hinter den Zähnen. ▶ Lauterwerbsstörung. Das Kind bildet die fehlenden oder fehlerhaft gebildeten Laute nur mit gezielter Unterstützung. In seiner Spontansprache verwendet es diese Laute jedoch nicht. Es lässt einen oder mehrere Laute oder Lautverbindungen aus oder ersetzt Laute und Lautverbindungen durch andere (z. B. statt „Blume“ sagt es „Lume“ oder aus „Kuh“ wird „Tuh“).

Dysgrammatismus Unter Dysgrammatismus werden Störungen beim Erwerb und Gebrauch der Grammatik verstanden. Sie zeigen sich im Auslassen von Wörtern und Satzteilen (z. B. „Papa Auto“, „Tom müde“), in der mangelnden Übereinstimmung zwischen Artikel und Substantiv (z. B. „das Junge“, „der Milch“) oder Subjektiv und Verb (z. B. „ich spielen“, „du machen“), aber auch in einer falschen Stellung der Wörter innerhalb eines Satzes (z. B. „gestern bei Oma bin gewesen ich“).

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Dysarthrie Sie bezeichnet eine Störung der Aussprache infolge von Erkrankungen der zentralen Bahnen und Kerne der Hirnnerven, die die Artikulationsmuskulatur bewegen. Die Kinder bilden einige Laute nicht, nicht richtig oder sie ersetzen sie durch andere Laute. Als Babys oder Kleinkinder geben die Kinder oft nur minimale lautsprachliche Äußerungen von sich. Meist wirken sich die Probleme mit der Artikulationsmuskulatur auch auf die Nahrungsaufnahme aus: Häufig können diese Kinder normale Kost kaum kauen oder schlucken, sie haben Speichelfluss und keinen Mundschluss.

Alalie Das Kind hört normal, ist kognitiv altersentsprechend entwickelt, hat keine motorischen oder sozial-emotionalen Beein-

9

Kinder- und Familienunterstützung trächtigungen – aber die Sprachentwicklung bleibt bis zum 3. Lebensjahr aus. Das Kind spricht nur 2–3 Wörter oder gebraucht immer nur dieselben stereotypen Lautgebilde.





Mutismus Kinder mit vorhandenem Sprech- und Hörvermögen sprechen nicht mehr. ●

Verhaltensregeln Für die Kommunikation mit sprachgestörten Kindern ist Folgendes zu beachten: ● Auf eine logopädische, ggf. zusätzliche psychotherapeutische Behandlung hinwirken. ● Den Betroffenen annehmen und sein Selbstbewusstsein stärken, seine positiven Eigenschaften und Fähigkeiten aufzeigen und nicht ständig auf die Störung hinweisen. ● Die Sprechangst reduzieren. ● Verständnis zeigen, geduldig sein, keinesfalls die verzögerten Sätze oder Worte des Betroffenen vollenden. ● Die Störungen keinesfalls als niedliche Kindervariante der Sprache übernehmen. ● Kontakte zu gleichartig Betroffenen und zu Selbsthilfegruppen vermitteln bzw. fördern.













10.4.6 Kommunizieren mit fremdsprachigen Kindern

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In wachsender Zahl ist das Personal eines Krankenhauses mit der Pflege von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund befasst. Nicht immer beherrschen die Patienten und deren Angehörige die deutsche Sprache, was die Kommunikation erheblich erschwert. Die außergewöhnliche Situation des Krankenhausaufenthaltes kann bei eingeschränkter Kommunikationsmöglichkeit als bedrohlich empfunden werden. Die Sprachbarrieren, kulturelle und soziale Unterschiede und nicht selten traumatische Erlebnisse in den Herkunftsländern oder auf der Flucht stellen an die pflegerischen oder medizinischen Fachkräfte besondere Anforderungen.

Verhaltensregeln Für die Kommunikation mit fremdsprachigen Kindern sollten folgende Grundsätze beachtet werden: ● Durch Verständnis und Zuwendung werden Sicherheit und Geborgenheit vermittelt.

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Körperkontakt aufnehmen, z. B. durch Handhalten oder Kopfstreicheln, vorausgesetzt, dass dies den kulturellen Normen des Herkunftslandes nicht widerspricht. Berücksichtigen und respektieren der ggf. besonderen Ernährungsgewohnheiten und der religiösen und kulturellen Gepflogenheiten des Kindes und seiner Angehörigen. Falls erforderlich, kann ein Dolmetscher herangezogen werden. Häufig ist einer unter den Angehörigen des Patienten, dem Krankenhauspersonal oder den Mitpatienten zu finden. Im Krankenhaus sollte eine Dolmetscherliste bereitliegen. Das Kind kann, sofern es schreiben kann, seine Mitteilung aufschreiben, die später übersetzt wird. Eine 2-sprachig angelegte Kommunikationstafel mit Begriffen aus dem Alltag des Krankenhauslebens einsetzen. Bewusst eingesetzte Mimik und Gestik helfen. Verfügen die Pflegefachkräfte über Kenntnisse der Muttersprache des Kindes, und seien es nur einige Worte, so sollten diese verwendet werden. Das Kind spürt, dass sich jemand um es bemüht, und es wird dadurch auch motiviert, sich um Kenntnisse der deutschen Sprache zu bemühen. Die Verhaltensweisen des anderssprachigen Kindes, die unseren Erwartungen nicht entsprechen, müssen unter Berücksichtigung von Verständigungsproblemen, Erziehung, Kultur und Krankheit des Patienten beurteilt werden (S. 49).

10.4.7 Kommunizieren bei beeinträchtigter Körpersprache Die Körpersprache als Ausdrucksmöglichkeit kann in ihren verschiedenen Bereichen durch Fehlbildungen, Verletzungen, Krankheiten, Bewusstlosigkeit oder seelische Störungen beeinträchtigt oder verändert sein. Wenn ein Mensch teilweise die Fähigkeit, sich zu bewegen, verliert, kann er den betroffenen Körperteil nicht mehr zur Übermittlung von nonverbalen Äußerungen benutzen. Hierdurch wird der Betroffene in seiner Kommunikationsfähigkeit eingeschränkt, Missverständnisse und Fehleinschätzungen können die Folge sein. Schon als Säuglinge machen körperbehinderte Kinder oft die Erfahrung, dass ihre Botschaften von der Umwelt nicht wahrgenommen oder falsch interpretiert werden.

Merke

H ●

Die Pflegefachkraft muss beachten, dass Kinder mit strukturellen und funktionellen Störungen nicht wie andere ihre Stimmungen und Einstellungen mittels Körpersprache z. B. durch Haltung, Gang, Gestik, Mimik ausdrücken können.

Gesichtsausdruck Bestimmte Erkrankungen können Ursache eines veränderten Gesichtsausdrucks bei Kindern sein. ▶ Exophthalmus. Die Augäpfel sind nach vorn gedrängt. Dies kommt z. B. bei Schilddrüsenüberfunktion, Verletzungen der Augenhöhle oder des vorderen Schädels vor. ▶ Facies abdominalis. So wird ein ängstlicher Gesichtsausdruck bei akuter und schwerer Erkrankung im Bereich des Bauchraumes bezeichnet. Der Gesichtsausdruck ist teilnahmslos, die Augen sind eingefallen und umrändert, die Wangen hohl, die Nase spitz und weiß, das Gesicht ist kühl und oft von kaltem Schweiß bedeckt. ▶ Greisengesicht. Infolge starken Durchfalls entsteht greisenartiges Aussehen des Säuglings oder Kleinkindes. ▶ Facies lunata. Das Vollmondgesicht tritt typischerweise beim Cushing-Syndrom auf. ▶ Verzerrter Gesichtsausdruck. Er ist meist ein Hinweis auf starke Schmerzen. ▶ Mimikveränderungen. Sie können bei geistiger oder sprachlicher Behinderung beobachtet werden. Bei sprachlicher Behinderung geschieht das Formen der Laute häufig übertrieben deutlich. Bei geistiger Behinderung steht oft der Mund offen, der Blick kann verwirrt, starr oder unbeständig sein.

Haltung Die Ausdrucksbewegungen und die Haltung des menschlichen Körpers können durch Hemmung, aber auch durch Erkrankungen, Fehlbildungen oder Deformitäten beeinträchtigt werden. Ein solches Kind ist nicht in der Lage, eine aufrechte Haltung mit gestrafften Schultern, die mit Selbstbewusstsein und Optimismus in Verbindung gebracht wird, einzunehmen. Diese Einstellung muss dann durch andere Mittel zum Ausdruck gebracht werden.

10.4 Kommunikation im Pflegeprozess

Gestik Starken Einfluss auf die gestischen Ausdrucksbewegungen haben seelische und geistige Störungen sowie Erkrankungen des Bewegungsapparates und des Nervensystems. Kinder, bei denen eine lokale Hyperaktivität vorliegt, können eine oder mehrere Muskelgruppen nicht beherrschen und so können sich z. B. ihre Arme ziellos bewegen, was ihnen dann nicht ermöglicht, etwas zu verlangen, indem sie darauf deuten. Da diese Fehlfunktionen mit einer Intelligenzminderung verbunden sein können, die auch den Erwerb sprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten erschwert, muss die Pflegefachkraft die Körperbewegungen des Patienten sehr genau beobachten, um ihnen ggf. eine Mitteilung entnehmen zu können. Hyperaktive Kinder und Kinder mit bestimmten Erkrankungen können sich nicht ruhig halten und still sitzen, ihr Verhalten muss nicht immer einen Mitteilungscharakter, z. B. Ausdruck von Wut oder Frustration, haben. Solche Kinder dürfen nicht zwangsweise ruhig gehalten werden, da sie dadurch aggressiv und in ihrer Menschenwürde verletzt werden können. Diesen Kindern muss besondere Aufmerksamkeit entgegengebracht werden, damit sie sich selbst und andere nicht gefährden, wenn sie etwa ruhelos auf und ab gehen oder bedeutungslose Bewegungen machen und so ihre Körpersprache verfremden.

Körperkontakt Art und Intensität des Körperkontaktes sind individuell und sehr unterschiedlich ausgeprägt, ohne dass es sich dabei um Abweichungen mit Krankheitswert handeln muss. Ausdruck einer krankhaften Störung kann Distanzlosigkeit sein. Sie ist häufig bei misshandelten Kindern festzustellen, die in eine fremde Umgebung kommen (z. B. ins Krankenhaus). Andere Kinder reagieren unter denselben Bedingungen mit extremer Distanzierung von fremden Menschen. Seelische und geistige Störungen können sowohl mit Distanzlosigkeit als auch mit extremer Angst vor Nähe einhergehen. Bei Autismus zieht sich der Betroffene in die eigene Erlebnis- und Gedankenwelt zurück. Dabei ist er unfähig zur Kontaktaufnahme mit der Außenwelt und emotionale Kontakte bleiben aus. Manche Menschen haben die Fähigkeit, durch die Haut Empfindungen aufzunehmen, verloren. Den Betroffenen fehlt nicht nur beim Kommunizieren die ganze Komponente des Berührens, sondern dieser Verlust beeinträchtigt auch die Wahrnehmung von Schutzsignalen. Diese gestörte Empfindungsfähigkeit verhindert ein

rechtzeitiges Reagieren z. B. auf Verbrennungen oder Verletzungen.

10.4.8 Kommunikationshilfsmittel

Blickverhalten

Das Bedürfnis und das Recht eines Menschen nach Partizipation und Selbstbestimmung können durch eine eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit beeinträchtigt sein. Durch den Einsatz adäquater Hilfsmittel bietet die sog. unterstützte Kommunikation Möglichkeiten für alternative und ergänzende Kommunikationsformen. Die Überlegung, welches Hilfsmittel dem Kind die Kommunikation erleichtern soll, ist abhängig vom Entwicklungsstand des Kindes und von der Art und dem Grad der Behinderung. Die Kommunikationshilfsmittel müssen grundsätzlich den geistigen Fähigkeiten des Kindes entsprechen, um wirkungsvoll eingesetzt werden zu können.

Das Blickverhalten kann von Ängsten, Schamgefühl oder Unsicherheit beeinflusst werden. Dann tritt es oft auf als Absenken oder Umherschweifen des Blickes, ohne dass Blickkontakt mit dem Kommunikationspartner aufgenommen wird. Krankhafte Störungen des Blickverhaltens sind meist durch Schäden an Nerven, die die Bewegung der Augäpfel steuern, bedingt. Folgeerscheinung ist eine entsprechende Blicklähmung. Beim Blickkrampf werden die Augen zwanghaft nach oben oder zur Seite hin verdreht. Er dauert Minuten, manchmal Stunden an und tritt bei Störungen des extrapyramidalen Systems oder nach Gehirnentzündungen auf. Das Schielen kann auf den Gesprächspartner irritierend wirken, da der Blickkontakt mit ihm nur mit einem Auge aufgenommen wird.

Bewusstlosigkeit Das bewusstlose Kind kann nicht wechselseitig kommunizieren. Da nicht nachvollziehbar ist, ob das bewusstlose Kind bestimmte Reize wahrnimmt und Teile seiner Umwelt registriert, sollten ihm immer wieder Reize angeboten werden. Dies geschieht z. B. durch Ansprechen und Berühren, aber auch durch Vermitteln von Temperaturreizen, Gerüchen oder vertrauten Klängen. Die Pflegefachkraft kann z. B. die Angehörigen bitten, Tonträger, entsprechend den Vorlieben des Betroffenen, mit bestimmten Musikstücken, Menschen- oder Tierstimmen und anderen gewohnten Lauten zu bespielen, und diese dem bewusstlosen Kind vorspielen.

Praxistipp Pflege

Z ●

Durch Hautkontakt werden menschliche Nähe und Zuwendung vermittelt und können dem Bewusstlosen Vertrauen und Geborgenheit geben.

Die Art und Weise, wie die Pflegefachkraft das bewusstlose Kind pflegt, ist daher von großer Bedeutung. Pflegerische Handlungen sollten mit Worten begleitet und die Beendigung der Maßnahme angesagt werden. Andere Formen der Zuwendung mittels Hautkontakt sind Handhalten und -auflegen, das Umarmen oder Streicheln.

Praxistipp Pflege

Z ●

Eine Alternative oder Ergänzung zur Lautsprache sind zunächst körpereigene Kommunikationsformen. Gestik, Mimik, Blickbewegungen und die Gebärdensprache lassen sich, sofern es die motorischen Fähigkeiten zulassen, gezielt zu kommunikativen Zwecken einsetzen.

Lässt sich Kommunikation nicht mit körpereigenen Methoden verwirklichen, müssen externe Hilfsmittel herangezogen werden. Bei diesen Kommunikationshilfen wird zwischen nicht elektronischen und elektronischen Systemen unterschieden, die dank des technischen Fortschritts ständig weiterentwickelt werden.

10

Sprechhilfen Damit Kind und Pflegefachkraft sich auch ohne Worte verständigen können, werden Hilfsmittel aus einem breiten Angebot eingesetzt.

Nicht elektronische Systeme ▶ Sprechtafel. Die Sprechtafel wurde von der Basler Gruppe „Shanti Nilaya“ in Zusammenarbeit mit der Ärztin und Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross entwickelt (▶ Abb. 10.9). Die Sprechtafeln sind beidseitig bedruckt. Die eine Seite ist mit Symbolen aus dem täglichen Leben rund um das Krankenbett versehen. Auf der anderen Seite sind Zahlen, Buchstaben, Begriffe für einzelne Tätigkeiten, emotionale Aussagen, Namen, Medikamente und räumliche Orientierungshinweise geschrieben. Diese Seite kann aber auch an die jeweiligen individuellen Bedürfnisse des Patienten angepasst werden. Hierzu werden leere, aufklebbare Fel-

1

Kinder- und Familienunterstützung

Zähne dreh die Tafel um

Zeitung

Jacke

Fruchtsaft

Buch

Schlafrock

Tee/Kaffee

Radio

Hausschuhe

Fernseher

Socken

putzen Hilfe!

Schwester

Arzt

Medikament

Rollstuhl

schlafen Kopfende hoch

Gehhilfe

nieder Fußende

auf zu Türe

Mund spülen

kämmen

warm auf Bettschüssel

Toilette

Kissen

heiß

a 0

kalt

1

kalt

zu

Fenster

Decke/ Leintuch

an

waschen

Zeit

Wasser

Taschentuch

Brille

Telefon

Datum

Illustrierte

Pyjama

Geld

aus Licht

2

Bad/Dusche

3

4

essen

5

6

7

8

9

kratzen

nein

Doris

lies mir vor

Z

A

dreh die Tafel um

ich liebe dich

B

Schmerzmittel

es geht gut

Kopf

Mund

Kinn

Brüste

Gesäß

Arm

Willi

sprich mit mir

Y

C

Nasenspray

ich bin traurig

Stirne

Lippen

Ohren

Magen

Beine

Ellbogen

Ursula

ich bin müde

X

D

lass mich OhrenAugen nicht tropfen allein

Zähne

Nacken

Bauch

Knie

Hand

Edi

ich will schlafen

W

E

Augentropfen

ich habe Wange Gaumen Schulter Angst

Vagina

Füße

Finger

Kurt

lass mich allein

V

F

Abführ- es würgt tropfen mich

10

b

▶ Symbol- oder Bildposter. Entsprechend gestaltet, können sie an den Wänden angebracht werden und je nach Örtlichkeit, z. B. am Essplatz, in Badezimmer, Toilette, die Kommunikation erheblich vereinfachen.

trinken

ja

schmerzt waschen pflegen

Nase

Zunge

Brust

Rücken

Zehe

Nägel

Christin

brauche Bewegung

U

G

an

aus

vorne

hinten

links

rechts

oben

unten

innen

außen

T

H

I

J

K

L

M

N

O

P

Q

R

S

Abb. 10.9 Sprechtafel für sprachbehinderte und sprachlose Menschen. (Abb. nach: Juchli, 1998)

232

▶ Metacom Symbolsystem. Mit Metacom-Symbolen lassen sich Bildtafeln, Kommunikationstafeln und Talker-Deckblätter erstellen. Die Symbole sind klar und leicht verständlich und geeignet zur unterstützten Kommunikation. Die Symbole sind sowohl für Kinder als auch für Erwachsene geeignet. Metacom-Symbole werden in Kitas, Schulen, in Werkstätten und anderen Einrichtungen für erwachsene Menschen mit Behinderung eingesetzt. Aktuell umfasst das System ca. 10 000 Symbole (http://www.metacom-symbole. de/). ▶ PICSYMS-Symbolsystem (Picture-Symbol-System). Es verfügt über 800 Symbole und ist aufgrund seiner einfachen Umrisszeichnungen und der grafischen Gestaltung eher für Kinder geeignet. ▶ PCS-Symbole/Boardmaker 6. Die Basissammlung umfasst 4500 farbige Symbole, die sich durch jährlich erscheinende Symbolergänzungen erweitern lässt und für Kinder und Erwachsene geeignet ist. Die PCS-Symbolsammlung enthält außerdem eine Software z. B. für das Erstellen von Symboltafeln oder Talker-Oberflächen (Bezugsquelle: www.mayer-johnson.com, www.rehavista.de).

Elektronische Systeme

die einzelnen Begriffe und Namen sind austauschbar

der mitgeliefert, auf denen auf das Kind abgestimmte Wörter und Begriffe ergänzt werden können. Ist es einem Kind nicht möglich, mit dem Finger oder einem Hilfsgegenstand zu zeigen, übernimmt dies die Pflegefachkraft. Das Kind kann dann durch einfache Laute und Mimik reagieren.

▶ BLISS-Symbolsystem. Es wurde von Charles K. Bliss als universale grafische Symbolsprache erfunden und von Blissymbolics Communication International als Kommunikationsmittel für Menschen mit schweren Sprachstörungen weiterentwickelt. Das BLISS-Symbolsystem umfasst ca. 2400 Symbole (https://behinderung. org/bliss.htm).

▶ Kommunikationsbuch. Hierbei handelt es sich um eine Verständigungshilfe, die – thematisch geordnet – verschiedene Bereiche des täglichen Lebens beinhaltet und mit Bildern und Wortlisten die Kommunikation erleichtert.

Bei den elektronischen Kommunikationshilfen ist zwischen Kommunikationsgeräten mit natürlicher Sprachausgabe/symbolbasierten Geräten und symbol- und schriftbasierten Geräten zu unterscheiden. ▶ Symbolbasiert. Kommunikationsgeräte mit natürlicher Sprachausgabe sind i. d. R. symbolbasiert, schriftsprachliche Kenntnisse sind nicht erforderlich. Diese Geräte sind in unterschiedlichen Ausführungen und für unterschiedliche kognitive und motorische Voraussetzungen erhältlich. Weit verbreitet sind die einfachen Talker der GoTalk-Familie. Das von der Fa. Reha-

10.5 Berufliche Kommunikation eine Vielzahl von Hilfsmitteln zur Verfügung, die eine Teilnahme am sozialen Leben ermöglichen. Telefon, Rundfunk und Internet sind Möglichkeiten zur Kommunikation oder zur Informationsbeschaffung. ▶ Bücher in Großdruck. Verschiedene Verlage bieten eine Vielzahl von Büchern in Großdruck an. Abb. 10.10 Kommunikationsgerät. DynaVox M3 mit natürlicher Sprachausgabe und dynamischem Display. (Abb. von: Rehavista GmbH)

vista produzierte DynaVox M 3 ist eine symbolbasierte Kommunikationshilfe mit dynamischem Display und natürlicher Sprachausgabe, das auch von Kindern mit stärkeren körperlichen Beeinträchtigungen genutzt werden kann. Symbolverständnis muss vorhanden sein. Das Gerät kann von „sehr einfach“ bis „sehr differenziert“ programmiert werden (▶ Abb. 10.10). ▶ Schriftbasiert. Für Personen, die neben der symbolbasierten auch die schriftbasierte Kommunikation beherrschen, empfehlen sich Talker mit vorprogrammierten Inhalten bzw. durchdachten Kommunikationsstrategien und synthetischer Stimme (z. B. V/Vmax von der Fa. DynaVox). Das gängigste schriftsprachbasierte Gerät ist der Lightwriter SL 40 der Fa. Toby Churchill. ▶ Augensteuerung. Über Augensteuerung können Personen kommunizieren, die motorisch sehr stark beeinträchtigt sind. Der nicht sprechende Mensch wählt durch Hinsehen bestimmte Symbole (z. B. bei geistiger Behinderung) oder Buchstaben bzw. Floskeln (bei schriftsprachlichen Kenntnissen) auf dem Computermonitor aus. Die Auswahl wird durch eine synthetische Stimme hörbar. Die Augensteuerungen der Firmen DynaVox und Tobii sind über Rehavista erhältlich.

Hör- und Sehhilfen Zur Verständigung mit hör- bzw. sehgeschädigten Menschen stehen verschiedene Hilfsmittel zur Verfügung. ▶ Hörgerät. Für Schwerhörige ist das wichtigste Kommunikationshilfsmittel das Hörgerät. ▶ Cochlear Implantat (CI). Es handelt sich hierbei um Hörprothesen, die operativ in die Schädeldecke der Kinder implantiert werden. ▶ Telefon, Rundfunk, Internet. Für sehbehinderte oder blinde Menschen steht

▶ Lesehilfen. Leselupen ohne und mit Beleuchtung sind als Lesehilfen bei leichten Seheinschränkungen hilfreich. Lesegeräte mit Bildschirm erreichen eine nahezu unbegrenzte Vergrößerung. Für Bettlägerige eignen sich durchsichtige Leseständer und für Menschen mit eingeschränkter oder fehlender Finger- oder Handfunktion ein Lesehalter aus Acrylglas mit Mundstab oder Tipphämmerchen zum Umblättern. ▶ Tonträger. Als Alternative zum Briefeschreiben können zum Austausch von Mitteilungen auch besprochene oder zur Unterhaltung mit Musik und Geschichten bespielte Tonträger verwendet werden.

Merke

H ●

Gehörlose Menschen sind wesentlich auf nonverbale Kommunikation angewiesen. Hierzu gehört auch die Gebärdensprache oder die Fähigkeit, von den Lippen abzulesen.

10.5 Berufliche Kommunikation Gute Zusammenarbeit in Organisationen ist wesentlich davon abhängig, wie sich ihre Mitarbeiter untereinander austauschen, wie sie miteinander kommunizieren. Im beruflichen Alltag einer Pflegefachkraft ist Kommunikation in den verschiedensten Situationen erforderlich. Eine der wichtigsten Formen der Kommunikation ist das Gespräch. Die überwiegende Zahl der Gespräche wird bewusst geführt, um bestimmte Ziele, wie z. B. Anerkennung, Verständnis, Vermitteln von Sachinformationen, zu erreichen. Der Verlauf und das Ergebnis beruflicher Kommunikation sind wesentlich von der Gesprächsführung abhängig.

Merke

H ●

Voraussetzung für eine zufriedenstellende Gesprächsführung sind aber nicht nur das angeeignete Wissen und die Kommunikationstechnik, sondern auch eine einfühlende Einstellung zum jeweiligen Gesprächspartner.

10.5.1 Gesprächstechniken Im Folgenden soll zwischen 3 Gesprächstechniken unterschieden werden: ● dem helfenden Gespräch ● der themenzentrierten Interaktion ● der Transaktionsanalyse

Das helfende Gespräch „Wenn ich vermeide, mich einzumischen, sorgen die Menschen für sich selber. Wenn ich vermeide, Anweisungen zu geben, finden die Menschen das richtige Verhalten. Wenn ich vermeide zu predigen, bessern die Menschen sich selber. Wenn ich vermeide, sie zu beeinflussen, werden die Menschen sie selber“ (Laotse, 480 – 390 v. Chr.). Der amerikanische Psychologe Carl Rogers ist der Begründer der klientenzentrierten oder nicht direktiven, heute personenzentriert genannten Gesprächspsychotherapie, auf deren Erkenntnissen und Methoden das helfende Gespräch basiert. Das helfende Gespräch findet in allen Bereichen zwischenmenschlichen Umgangs Anwendung. Besonders die Psychologie, Pädagogik, Sozialarbeit und Krankenpflege bedienen sich der Methoden des helfenden Gesprächs.

Merke

H ●

Sinn des helfenden Gesprächs ist es, Bedingungen zu schaffen, unter denen sich der Gesprächspartner wieder entfalten und die Mauern wegräumen kann, mit denen er sich umgeben hat. Es wird angestrebt, die Wachstumskräfte des Menschen zum Tragen zu bringen und jenes Umfeld zu schaffen, das es ihm ermöglicht, sich selbst zu helfen.

10

Nach Rogers sind 3 Bedingungen Voraussetzung für das Gelingen des helfenden Gesprächs: ▶ Echtheit. Ein helfender Gesprächspartner wird als echt und kongruent erlebt, wenn seine Äußerungen mit dem, was er fühlt und denkt, übereinstimmen. Er zeigt keine Fassade und versteckt nichts von seinem Wahrnehmen und Erleben: also kein professionelles Lächeln oder verbal freundliche Zuwendung, wenn er entgegengesetzt fühlt. Er begegnet dem anderen als reale Person und nicht als Träger einer Rolle. ▶ Akzeptanz. Eine angstfreie und vertrauensvolle Gesprächssituation wird erreicht, indem der Gesprächspartner vorbehaltlos in seiner Person wertgeschätzt wird und er damit wieder an seine eigenen Kräfte glauben lernt und sich annehmen kann, wie er ist. Wertschätzung ohne

3

Kinder- und Familienunterstützung Vorbedingungen heißt aber nicht, jedes Verhalten des Klienten gutzuheißen. ▶ Empathie. Wenn der helfende Gesprächspartner den Klienten annehmen kann, kann er sich auch mehr und mehr in ihn hineinversetzen. Der Klient fühlt sich verstanden, wenn der Therapeut sensibel wird und „mitschwingt“. Auf keinen Fall sollte das vom Klienten Gesagte „nachgeplappert“ werden, vielmehr muss der helfende Gesprächspartner auf alle Mitteilungen, also auf Sprache, Sprechausdruck, Körperhaltung und aktuelle Verhaltensweisen des Klienten achten und dann das von ihm Gespürte dem Klienten mitteilen. So gelangt dieser schrittweise zu einem tieferen Verständnis der eigenen Person. Echtheit, Akzeptanz und Empathie haben eine besondere Bedeutung für bewusstes Kommunizieren in der Pflege. Bei der Gesprächsführung sind 3 methodische Aspekte zu berücksichtigen:

10

▶ Einfühlsam zuhören. Helfende Gesprächspartner zeigen durch Mimik und Gestik nonverbal an, dass sie interessiert zuhören. Gegebenenfalls können verbales Verstehen und Bereitschaft zum weiteren Zuhören vom Helfenden geäußert werden, etwa „Ich verstehe“ oder „Ich höre zu“ oder „Erzählen Sie ruhig weiter“. Pausen werden akzeptiert. Die Klienten bekommen durch die von den Helfern ausgehaltenen Pausen Raum für sich. Eventuell kommen die Klienten in einer Pause auf eigene Ideen zur Problemlösung. Sprechen die Helfer diese dann an oder das, was sie ergänzen oder zurechtrücken möchten, steuern sie das Gespräch und bestimmen damit, was Thema sein soll. Das helfende Gespräch ist ein dynamischer Prozess, der jedoch keinesfalls vom Therapeuten inhaltlich bestimmt wird. Auch wenn ist das helfende Gespräch natürlich, wie jedes andere Gespräch auch, ein interaktives Geschehen, auf dessen Verlauf alle Beteiligten Einfluss haben. Das helfende Gespräch ist ergebnisoffen. ▶ Verbalisieren der Gesprächsinhalte. Mittels Spiegeln oder Paraphrasieren durch den Helfenden können Klienten ihre eigenen Aussagen noch einmal zur Kenntnis nehmen. Sie können ihre weiteren Gedanken und Worte daran anknüpfen. Oft verstehen sie dadurch sich selbst und ihre Gedanken besser. ▶ Verbalisieren gespürter und vermuteter mitschwingender emotionaler Erlebnisinhalte. Hierdurch soll das Gespräch auf der Gefühlsebene, der tieferen Schicht der Persönlichkeit und dem Ort der eigentlichen Probleme gehalten werden.

234

Ausgehend von der Erkenntnis, dass in einem Gespräch der Beziehungsaspekt den Sachaspekt und nicht umgekehrt bestimmt, lassen sich für die Gesprächsführung zusammenfassend 7 Leitsätze nach Rogers formulieren: 1. Ich verhalte mich ehrlich und zeige meine ehrlichen Interessen. 2. Ich akzeptiere den anderen so, wie er ist. 3. Ich versuche über das Akzeptieren des anderen hinaus, auch ihn zu verstehen. 4. Ich fange da an, wo der andere steht. 5. Ich prüfe kritisch die Gefühle, die der andere in mir auslöst. 6. Ich meide rechthaberisches Argumentieren und Diskutieren. 7. Ich beurteile den anderen nicht nach meinem Wertmaßstab. Nach Rogers Meinung muss im helfenden Gespräch auf ein „du sollst“ oder „du sollst nicht“, ob ausgesprochen oder unausgesprochen, verzichtet werden. Der Klient braucht weder Ratschläge noch Verhaltensmaßregeln. Den Weg, der für ihn der richtige ist, kennt er selbst am besten, auch wenn ihm dies noch nicht bewusst ist, und die Kraft zur Selbstverwirklichung hat er auch. Alles, was er braucht, ist eine Atmosphäre von Wärme, Sicherheit und Vertrauen, in der er zu sich selbst finden kann.

Themenzentrierte Interaktion (TZI) Ruth C. Cohn (1912 – 2010) entwickelte das Konzept des „Lebendigen Lernens“ in Gruppen. Themenzentrierte Interaktion, unter der Abkürzung TZI als pädagogisches und therapeutisches Modell bekannt, zielt auf „lebendiges“, ganzheitliches, schöpferisches und lustvolles Lernen. Das Cohn-Modell eignet sich hervorragend für Sitzungen und Besprechungen der Mitarbeitergruppe einer Pflegeinstitution. Cohn geht davon aus, dass jede Interaktionssituation und Kommunikation in der Gruppe 3 Elemente beinhalten: ● die individuellen Bedürfnisse, das Ich, die Persönlichkeit der Gruppenmitglieder ● die Beziehungen zwischen den Gruppenmitgliedern, das Wir, die Gruppe ● das Thema, der Inhalt der Kommunikation, die Sache oder das Es Das Dreieck von „Ich, Wir und Es“ ist eingebettet in eine Kugel, die die Umgebung darstellt, in der sich die Gruppe trifft (▶ Abb. 10.11). Diese Umgebung besteht aus Ort, Zeit und anderen situativen, historischen, sozialen Bedingungen. Wichtig ist, das Gleichgewicht und die Dynamik der 3 Faktoren in der Gruppe zu

Es

Wir

Ich Umwelt

Abb. 10.11 Beziehungsdreieck TZI. Es muss eine dynamische Balance zwischen „Ich, Wir und Es“ und der Umwelt geschaffen werden. (Abb. nach: Stalmann, 1982)

erhalten oder herzustellen. Geht es nur um das Es, das Thema, so kann dies leicht zu einer akademischen Diskussion führen, in der nur „über“ etwas geredet wird. Konzentriert sich die Gruppe zu sehr auf eine Person oder auf das, was zwischen den einzelnen Gruppenmitgliedern vor sich geht, so wird sie zu einer Therapieoder Sensitivity-Gruppe. Das Besondere an der TZI ist, dass sie alle 3 Bereiche gleichwertig einbezieht. Damit soll eine dynamische Balance zwischen persönlichen, physischen, emotionalen, intellektuellen und geistigen Bedürfnissen geschaffen werden. Um diese Balance herzustellen, sollen folgende Regeln der TZI zur Anwendung kommen: ● „Sei dein eigener Chairman.“ Bestimme, wann du reden oder schweigen willst, richte dich nach deinen Bedürfnissen. Jeder ist aufgerufen, im Hinblick auf das Thema und das Wir das zu geben und das zu lassen, was er selbst geben und erhalten will. ● „Beachte deine Körpersignale und die der anderen.“ ● „Störungen haben Vorrang.“ Wenn du nicht wirklich dabei sein kannst, d. h. wenn du gelangweilt oder ärgerlich bist oder dich aus einem anderen Grund nicht konzentrieren kannst, unterbrich das Gespräch. ● „Versuche zu sagen, was du wirklich willst, nicht, was du möglicherweise sagen solltest, weil es von dir erwartet wird.“ Das schließt folgende Konsequenzen mit ein: Wenn du fragst, sage, warum du fragst und was die Frage für dich bedeutet, mache mir bewusst, was du denkst und fühlst, sei zurückhaltend mit Verallgemeinerungen. ● „Sprich nicht per ‚man‛ oder ‚wir‛, sondern per ‚ich‛!“ „Man“ bedeutet ein Verstecken vor der persönlichen Verant-

10.5 Berufliche Kommunikation













wortung. Du kannst nur für dich und nicht für andere sprechen. „Persönliche Aussagen sind normalerweise besser als unechte Fragen.“ Wenn z. B. einem Gruppenmitglied die Raumtemperatur zu warm ist, sollte es nicht fragen, ob die anderen die Wärme als unangenehm empfinden, sondern ehrlich sagen, dass es ihm persönlich zu warm ist. „Wenn mehrere Gruppenmitglieder sprechen bzw. sprechen wollen, ist es empfehlenswert, eine Einigung über den Gesprächsverlauf herbeizuführen.“ „Vermeide nach Möglichkeit Seitengespräche.“ „Vermeide nach Möglichkeit Interpretationen anderer und teile stattdessen lieber deine persönlichen Reaktionen mit.“ „Gib Feedback: Sag, wie das Verhalten anderer auf dich wirkt, wenn du dich davon berührt fühlst.“ „Wenn du Feedback erhältst, höre ruhig zu und versuche zu verstehen.“ Gib keine Rechtfertigungen und Klarstellungen.

Praxistipp Pflege

Z ●

Will eine Mitarbeitergruppe gezielte Fortschritte machen, in dieser Art miteinander umzugehen, ist es empfehlenswert, sich wenigstens für einige Sitzungen eine in TZI ausgebildete Person in die Gruppe zu holen.

Transaktionsanalyse (TA) Unter Transaktionsanalyse wird ein von Eric Berne (1910 – 1970) entwickeltes Modell verstanden, mit dessen Hilfe sich gesund und krank machende, lebenswichtige soziale Wechselbeziehungen veranschaulichen, verstehen und behandeln lassen. Nach Berne hat jeder Mensch 3 Ich-Zustände in sich vereinigt (▶ Abb. 10.12): ● Kindheits-Ich: Hierzu gehören unsere Triebe, Wünsche, Neugier, Kreativität, aber auch alle Reaktionen, die wir in den ersten 5 Lebensjahren eingesetzt haben, um mit den Anforderungen der Umwelt und der Eltern fertigzuwerden. Das Kindheits-Ich ist 3-geteilt: das angepasste, das rebellische und das freie Kindheits-Ich. ● Eltern-Ich: Es setzt sich aus dem zusammen, was das Kind in den ersten 5 Jahren an den Eltern beobachtet und erlebt hat. Im Eltern-Ich sammeln sich alle Normen, Regeln, Verbote, Prinzipien, die in der Erziehung eine wichtige Rolle gespielt haben. Das Eltern-Ich ist 2-geteilt: das fürsorgliche und das kritische Eltern-Ich. ● Erwachsenen-Ich: Es urteilt, denkt, legt sich seine Handlungen zurecht und berücksichtigt auch die Handlungskonsequenzen. Die Transaktionsanalyse untersucht, welche Strukturebene des Ichs in einer Kommunikationssituation aktiv ist bzw. angesprochen wird. Gespräche sowie Reize

und Reaktionen lassen sich durch Kreise und Vektoren abbilden. Einfach und unkompliziert sind die parallel verlaufenden Transaktionen, bei denen der Partner mit dem Ich-Zustand reagiert, den wir angesprochen haben oder umgekehrt. Wenn etwa beim einen das Kindheits-Ich die Frage stellt „Kannst du mir helfen? Ich werde damit nicht fertig.“ und der andere mit seinem Eltern-Ich reagiert und sagt: „Ja, ich zeige dir, wie es geht.“ Oder wenn der eine albern zu Späßen aufgelegt ist (Kindheits-Ich) und der andere ebenfalls mit dem Kindheits-Ich reagiert. Reagiert der andere jedoch mit der Bemerkung „Sei doch nicht so albern! Was ist los mit dir?“, dann haben wir eine gekreuzte Transaktion und damit Schwierigkeiten. Bei gekreuzten Transaktionen reagiert der andere nicht mit dem Ich-Zustand, der angesprochen wurde, sondern mit einem anderen. Streitigkeiten und das berühmte „Aneinandervorbeireden“ entstehen immer aus solchen gekreuzten Transaktionen. Wenn die Vektoren parallel verlaufen, dann spricht Berne von einer komplementären Kommunikation (▶ Abb. 10.12b), die erfolgreich verlaufen kann. Wenn sich die Vektoren von Reiz und Reaktion im Diagramm überkreuzen, dann ist eine erfolgreiche Kommunikation zu Ende (▶ Abb. 10.12c). Für die berufliche Kommunikation kann das Wissen aus der Transaktionsanalyse hilfreich sein, eigenes Sprechverhalten aus dem Kindheits-Ich, Erwachsenen-Ich oder Eltern-Ich kommend zu

10 kritisch fürsorglich

Eltern-Ich

Eltern-Ich

Eltern-Ich

Eltern-Ich

Reaktion: „Ja, ich zeige dir, wie es geht.“

Eltern-Ich Reaktion: „Was auf den Tisch kommt, wird gegessen.“

Erwachsenen-Ich

ErwachsenenIch

ErwachsenenIch

Reiz: „Was machst du heute abend?“

frei frei

Reaktion: „Ich gehe ins Kino.“

Kindheits-Ich

Kindheits-Ich Kindheits-Ich

Reiz: „Kannst du mir helfen? Ich werde damit nicht fertig.“

angepasst rebellisch

a

Reiz: „Das Essen schmeckt mir heute nicht.“ Reiz: „Warum bist du so spät gekommen?“

Erwachsenen-Ich

b

Kindheits-Ich

Kindheits-Ich

ErwachsenenIch

Kindheits-Ich Reaktion: „Warum, warum? Wer fragt, ist dumm!“

c

Abb. 10.12 Transaktionsanalyse. a Grafische Darstellung der Ich-Zustände und deren Unterteilung, (Abb. nach: Michel u. Novak, 1991) b komplementäre Kommunikation (Reize treffen auf das jeweilige Ich, das angesprochen wurde), (Abb. nach: Michel u. Novak, 1991) c überkreuzte Kommunikation (Reize treffen nicht auf das Ich, das angesprochen wurde). (Abb. nach: Michel u. Novak, 1991)

5

Kinder- und Familienunterstützung identifizieren und bewusst einzusetzen bzw. zu korrigieren.

10.5.2 Patientenbezogene Kommunikation Pflegevisite Die Pflegevisite ist ein wichtiges Instrument zur Qualitätssicherung. Sie ist in erster Linie ein Gespräch zwischen dem Patienten und seinen pflegerischen Bezugspersonen über seinen Pflegeprozess und soll eine bestmögliche individuelle Pflege gewährleisten. An der Pflegevisite sollten auch die jeweilige Stationsleitung und die Abteilungs- bzw. die Pflegedienstleitung teilnehmen. Die Ziele der Pflegevisite sind: ● Den Patienten gezielt in die Pflege miteinbeziehen und ihn umfassend über pflegerische Maßnahmen informieren und diese mit ihm besprechen. ● Pflegeprobleme gemeinsam erörtern, korrekturbedürftige Pflegemaßnahmen erkennen, Pflegeziele auf ihre Erfüllbarkeit hin überprüfen und ggf. neu formulieren. ● Pflegeergebnisse bewerten, neue Teilziele erheben und entsprechende Pflegemaßnahmen einleiten.

10

Nicht bei allen Patienten ist eine Pflegevisite notwendig. Pflegerisch unauffällige Patienten müssen nicht einbezogen werden. Die Pflegevisite sollte regelmäßig, an einem festgelegten Tag der Woche und mit einem durchschnittlichen Zeitbedarf von ca. 60 Minuten pro Patient durchgeführt werden. Die Dauer der Pflegevisite ist wesentlich von den Inhalten abhängig und kann von Patient zu Patient stark variieren. Die Moderation der Pflegevisite übernimmt die jeweilige pflegerische Bezugsperson. Inhaltlich sollte die Pflegevisite auf folgende Fragestellungen ausgerichtet sein: ● Wie ist das aktuelle Befinden des Patienten? ● Welche pflegerischen Probleme stehen im Vordergrund? ● Welche Pflegemaßnahmen werden beibehalten, welche werden umgestellt? ● Welche Teilziele müssen neu formuliert werden? ● Müssen Spezialisten oder ergänzende Dienste (z. B. Physiotherapeuten, Logopäden) in die pflegerische Betreuung einbezogen werden?

Erstgespräch durch die Pflegefachkraft Siehe Pflegeanamnese oder Situationseinschätzung (S. 58).

Arztvisite Bei der täglichen Besprechung der Patientensituation zwischen Arzt und Pflegefachkräften gibt das pflegerische Bezugspersonal therapierelevante Informationen und Beobachtungen an den Arzt weiter (▶ Abb. 10.13). Die Arztvisite ist Grundlage für die Abstimmung und Verordnung medizinischer Maßnahmen. Für die Arztvisite ist eine vollständige Pflegedokumentation Voraussetzung. Es werden 3 Formen der Arztvisite unterschieden: ● Patientenzentrierte Visite: täglich stattfindende Visite, in deren Mittelpunkt die Situation des Patienten und dessen Befinden steht. ● Kardex-Visite: wird außerhalb des Krankenzimmers vorgenommen, befasst sich mit medizinischen Problemen und dem Krankheits- und Therapieverlauf. ● Chefarzt-/Oberarztvisite: wird von der zuständigen Pflegefachkraft und dem Stationsarzt begleitet, findet i. d. R. 1mal wöchentlich statt. Oberarztvisiten werden häufiger durchgeführt.

Teambesprechungen, Patienten- oder Situationsbesprechungen Neben der zuständigen Pflegefachkraft, dem Patienten und ggf. dessen Angehörigen nimmt ein interdisziplinärer Personenkreis (z. B. Ergo-, Physio-, Sprachtherapeuten, Sozialarbeiter) an den Besprechungen teil. Diese finden wöchentlich, einen einzelnen Langzeitpatienten betreffend alle 4 – 6 Wochen statt.

Übergabegespräch Es findet bei Schichtwechsel und bei Übernahme oder Verlegung eines Kindes statt. Zweck des Übergabegespräches ist, die Kontinuität der Pflege zu gewährleisten. Im Übergabegespräch, bei Schichtwechsel, erfolgen auch die Patientenzuordnung und Aufgabenverteilung (▶ Abb. 10.14).

Merke

● H

Für alle Besprechungen ist eine exakte, vollständige und kontinuierliche Pflegedokumentation erforderlich.

236

Abb. 10.13 Patientenvisite. Der Stationsarzt erkundigt sich nach dem Befinden der kleinen Patientin (Symbolbild). (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Abb. 10.14 Übergabegespräch. Zweck des Übergabegespräches ist es, die Kontinuität der Pflege zu gewährleisten. (Foto: K. Oborny, Thieme)

10.6 Schmerz Eva-Maria Wagner

Definition

L ●

„Schmerz ist das, wovon die betreffende Person sagt, es seien Schmerzen; sie bestehen immer, wenn die betreffende Person sagt, dass sie vorhanden seien“ (McCaffery, 1997). Schmerz ist eine „unangenehme sensorische und/oder emotionale Erfahrung, die mit akuten oder potenziellen Gewebeschäden in Verbindung gebracht oder mit solchen Begriffen beschrieben wird. Schmerz ist immer subjektiv“ (International Association for the Study of Pain, 1986).

Schmerz ist ein häufiges Phänomen. Er tritt als Symptom oder Warnsignal bei Verletzungen und Krankheiten, aber auch in Verbindung mit physiologischen Veränderungen, z. B. Zahnen, Menstruation oder Entbindung, auf. Die Schmerzempfindung ist unabhängig vom Lebensalter und bereits beim Fetus nachweisbar.

10.6 Schmerz Schmerz tritt auch im Kindesalter oft auf, z. B. sind Kopfschmerzen der häufigste Grund für Fehlzeiten in der Schule. In der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin sind viele diagnostische und therapeutische Maßnahmen mit Schmerzen verbunden. Auch Pflegemaßnahmen können schmerzhaft sein. Die große Bedeutung des Themas Schmerz zeigt sich u. a. in der Veröffentlichung des Nationalen Expertenstandards Schmerzmanagement in der Pflege (Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege, 1. Aktualisierung 2011).

10.6.1 Begriffsbestimmungen

Arten von Schmerzen

Schmerzen können in akute und chronische Schmerzen unterschieden werden.

Definition

▶ Sensibilisierung oder Schmerzgedächtnis. Darunter wird die erhöhte Empfindlichkeit des zentralen Nervensystems für Schmerzreize, die bei chronischen Schmerzen lange auf den Menschen einwirken, verstanden. Diese Sensibilisierung bleibt erhalten, auch wenn die ursprüngliche Schmerzursache bereits vollständig verschwunden ist. Es werden Allodynie und Hyperalgesie unterschieden. Bei der Allodynie führen normalerweise harmlose Reize, z. B. eine leichte Berührung der Haut, zu Schmerzen. Bei der Hyperalgesie führen Schmerzreize zu abnorm starker Schmerzempfindung.

L ●

Akute Schmerzen dauern höchstens 3 Monate und lassen bei Einsetzen der Heilung nach. Sie können sowohl rasch als auch langsam auftreten und jede Intensität haben. Chronische Schmerzen sind Schmerzen, die länger als 3 Monate anhalten oder die ständig wiederkehren. Es werden Schmerzen mit bekannter Ursache, z. B. bei Rheuma oder Krebs, von Schmerzen mit unbekannter Ursache, z. B. bei Migräne, Wachstumsschmerzen, rezidivierende Bauchschmerzen, unterschieden.

▶ Schmerzschwelle. Sie bezeichnet den Augenblick, ab dem ein Reiz als Schmerz wahrgenommen wird. Da die Schmerzschwelle individuell sehr unterschiedlich ist, kann z. B. der Bedarf an Schmerzmitteln nach der gleichen Operation bei mehreren Kindern extrem unterschiedlich sein. ▶ Schmerztoleranz. Sie bezeichnet die Dauer oder das Ausmaß der Schmerzen, die ein Mensch ertragen will oder kann. Lang anhaltende oder wiederholte Schmerzen senken meist die Schmerztoleranz. ▶ Körpereigene Schmerzabwehr. Sie schützt in einem gewissen Ausmaß vor Schmerzen durch die Hemmung der Schmerzweiterleitung vom Rückenmark zum Gehirn und durch die Ausschüttung körpereigener, schmerzlindernder Substanzen, der sog. Endorphine.

Es werden nach der Schmerzqualität unterschieden: ● brennende Schmerzen (z. B. beim Wasserlassen bei Blasenentzündung) ● bohrende Schmerzen (z. B. Knochenschmerzen) ● dumpfe Schmerzen (z. B. Verletzung innerer Organe) ● klopfende Schmerzen (z. B. bei Entzündungen) ● krampfartige Schmerzen (z. B. Kolik) ● stechende Schmerzen (z. B. Zahnschmerzen) ● ziehende Schmerzen (z. B. Menstruation) ● Phantomschmerzen nach Amputationen. Darüber hinaus werden je nach Lokalisation unterschieden: ● Oberflächenschmerzen (somatische oder parietale Schmerzen) in der Haut oder im Unterhautfettgewebe ● Tiefenschmerzen an Muskeln oder Gelenken ● Eingeweideschmerzen (viszerale Schmerzen) an den inneren Organen

Folgen von Schmerzen So wichtig Schmerzen als Warnsignal und Symptom sind, sie haben auch negative Folgen. Physiologische Veränderungen umfassen Blutdruckschwankungen, Herzfrequenzveränderungen, Schwankungen der Atemfrequenz, erhöhten Muskeltonus, Schwankungen von SaO2 (arterielle Sauerstoffsättigung) bzw. tcPO2 (transkutaner Sauerstoffpartialdruck). Hormonelle und metabolische Veränderungen umfassen Hyperglykämie, Hyperkaliämie, katabolen Stoffwechsel, Hyperkoagulabilität des Blutes, erhöhte Infektanfälligkeit und verlangsamte Wundheilung. Lang anhaltende Schmerzen führen zu Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus und erniedrigen den körpereigenen Endorphinspiegel, d. h., der Mensch gewöhnt sich nicht an Schmerzen, sondern er wird

im Gegenteil schmerzempfindlicher, die Schmerztoleranz sinkt und die Gefahr einer Sensibilisierung steigt.

Merke

H ●

Je stärker der Schmerz wird, desto schwieriger ist er zu behandeln, d. h., durch die frühzeitige Gabe von adäquaten Schmerzmitteln lassen sich Menge und Dosierung insgesamt niedriger halten.

Studien zu chronischen Schmerzen im Kindesalter (Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Rückenschmerzen) lassen vermuten, dass die betroffenen Kinder ein erhöhtes Risiko haben, als junge Erwachsene weiterhin unter diesen Schmerzen zu leiden. Schmerzen in der Lebensendphase eines Kindes können dem Kind und seiner Familie die Kraft nehmen, die für die wichtigen emotionalen und spirituellen Aufgaben des Sich-Verabschiedens benötigt wird.

10.6.2 Schmerzerfassung „Schmerz sollte als ‚fünftes Vitalzeichen‘ betrachtet und genauso sorgfältig und regelmäßig gemessen und dokumentiert werden wie die Herzfrequenz, der Blutdruck, die Atemfrequenz und die Körpertemperatur“ (International Association for the Study of Pain, 2005). Da Schmerz ein sehr komplexes Phänomen ist, lässt er sich nicht so einfach messen wie die Körpertemperatur oder der Blutdruck. Allerdings können die Reaktionen eines Menschen auf Schmerzen erfasst werden. Sie umfassen die folgenden Schmerzparameter: ● Subjektives Schmerzerleben, z. B. Stöhnen, Jammern, Weinen, Schreien, Schmerzbeschreibung des betroffenen Menschen. ● Beobachtbares Verhalten, z. B. Veränderungen von Mimik, Gestik, Körperhaltung, reflektorische Bewegungen, Schonhaltungen (typischer Gesichtsausdruck bei Säuglingen mit Schmerzen: abwärts zusammengezogene Augenbrauen, gerunzelte Stirn mit vertikalen Falten zwischen den Augenbrauen, erweiterte und vorgewölbte Nasenwurzel, zusammengekniffene Augen sowie eine winkelförmig heruntergezogene Mundpartie). ● Physiologische Veränderungen von Herzfrequenz, Atmung, Blutdruck, Muskeltonus, Schwitzen an den Handflächen; Vitalparameter bieten Zusatzinformation, sind jedoch unspezifisch, da vielen Einflüssen unterworfen.

10

7

Kinder- und Familienunterstützung ●

Veränderung hormoneller und biochemischer Werte (z. B. Adrenalin, Kortison, Insulin, Laktat, Blutzucker): Diese Werte können allerdings nur im Rahmen von Studien erhoben werden, für die Schmerzerfassung im Alltag ist ihre Bestimmung zu aufwendig und langwierig.

Je nach Lebensalter bestehen bei Kindern spezielle Probleme bei der Erfassung von Schmerzen aufgrund der Unreife des Nervensystems, des ungenügend entwickelten Körperschemas (Kinder können oft Schmerz nicht eindeutig lokalisieren) und des mangelnden Sprachvermögens zur Beschreibung von Schmerzen. Zur Schmerzeinschätzung müssen die folgenden Punkte beobachtet und dokumentiert sowie dem Arzt mitgeteilt werden: ● Hat das Kind Schmerzen? ● Seit wann hat es Schmerzen? ● Wo hat es Schmerzen? ● Wie stark sind die Schmerzen? ● Welche Qualität haben die Schmerzen? ● Wann treten die Schmerzen auf? ● Was verursacht oder verstärkt die Schmerzen? ● Welche Auswirkungen haben die Schmerzen? ● Was lindert die Schmerzen?

Hilfsmittel zur Einschätzung von Schmerzen

10

Schmerzskalen sind Hilfsmittel, die in unterschiedlichem Ausmaß die o. g. Schmerzparameter berücksichtigen, um das Vorhandensein von Schmerzen zu erfassen und die Intensität der Schmerzen zu messen. Jede Schmerzskala ist entweder für eine bestimmte Altersgruppe oder eine spezielle Situation entworfen (z. B. postoperative Schmerzen, Schmerzen bei invasiven Maßnahmen). Faktoren wie das Alter des Kindes (bei Frühgeborenen das Gestationsalter, je unreifer das Baby, desto weniger ausgeprägt sind Schmerzreaktionen), die Schwere der Erkrankung und ggf. die Gabe von sedierenden Medikamenten, die die Schmerzreaktion ab-

schwächen können, müssen zusätzlich berücksichtigt werden. Besondere Probleme bei der Einschätzung von Schmerzen ergeben sich bei Kindern, die in ihrer Reaktionsfähigkeit stark eingeschränkt sind, z. B. bei Kindern auf Intensivstationen, die muskelrelaxierende Medikamente erhalten, bei bewusstlosen oder schwer mehrfachbehinderten Kindern. Bei akuten Schmerzen ist die Schmerzintensität der wichtigste Faktor. Bei chronischen Schmerzen muss neben der Intensität auch die Beeinträchtigung in verschiedenen Lebensbereichen (z. B. Familie, Schule, Freizeit) erfasst werden. Im Folgenden werden einige getestete Skalen vorgestellt, die je nach individueller Situation herangezogen werden können.

Beurteilung postoperativer Schmerzen eingesetzt werden. Es müssen 5 Verhaltensparameter bestimmt werden, die jeweils einen Punktwert erhalten. Die Gesamtzahl der Punkte gibt einen Hinweis auf den Bedarf an Analgetika. Die KUSSkala ist einfach anzuwenden und gut untersucht (▶ Tab. 10.4).

Die Fremdbeobachtung von Schmerzen wird oft als objektiver angesehen als die Selbsteinschätzung. Höchstwahrscheinlich ist diese Annahme falsch. In verschiedenen Studien über- oder unterschätzten Beobachter die Intensität der Schmerzen oder sie bewerteten eindeutige Schmerzzeichen als Folge von Hunger, Ärger oder Müdigkeit. Eltern und Pflegefachkräfte liefern Zusatzinformationen bezüglich der Schmerzerfassung, die wichtigste Quelle der Information ist jedoch das betroffene Kind.

Skalen zur Fremdeinschätzung

L ●

Definition

Schmerzskalen sind Instrumente zur Fremdeinschätzung von Schmerzen, d. h., Pflegefachkräfte oder Ärzte, manchmal auch Eltern beurteilen anhand dieser Skalen, ob ein Kind Schmerzen hat und wie stark diese Schmerzen sind.

▶ NIPS (engl.: Neonatal Infant Pain Score, zu Deutsch: Neugeborenen-Schmerzskala). Die Skala ist gut untersucht und einfach zu handhaben. Sie ist für die Bestimmung von Schmerzen aufgrund invasiver Maßnahmen bei nicht beatmeten Frühund Neugeborenen gut geeignet. Die Person, die das Baby beobachtet, muss 6 verschiedene Schmerzparameter bestimmen. Jeder Parameter erhält eine Punktzahl. Die Summe der erreichten Punkte gibt einen Hinweis, ob das Baby Schmerzen hat und eine Analgesie erforderlich ist. ▶ KUS-Skala (kindliche Unbehagens- und Schmerzskala). Diese Skala kann bei nicht beatmeten Neugeborenen und Kleinkindern bis zum Ende des 4. Lebensjahres zur

H ●

Merke

Schmerzerfassung bei schwerstmehrfachbehinderten Kindern und Jugendlichen Kinder und Jugendliche mit mehrfacher Behinderung leiden häufig unter akuten Schmerzen aufgrund von chirurgischen Eingriffen (orthopädische, neurochirurgische und andere Operationen) und Begleiterkrankungen (z. B. Aspirationspneumonie, Refluxösophagitis) sowie unter chronischen Schmerzen aufgrund ihrer Behinderung (z. B. Spastik). Allerdings können sie ihre Schmerzen nicht verbal mitteilen und verfügen oft nur über eingeschränkte Fähigkeiten der nonverbalen Kommunikation. Daher kommt bei diesen Kindern und Jugendlichen stets nur eine Fremdeinschätzung der Schmerzen infrage.

Tab. 10.4 KUS-Skala (Büttner, 1998, nach Ebinger, 2010). Kategorien

0

1

2

Weinen

gar nicht

stöhnen, jammern, wimmern

schreien

Gesichtsausdruck

entspannt, lächelnd

Mund verzerrt

Mund und Augen grimassierend aufbäumen, krümmen

Rumpfhaltung

neutral

unstet

Beinhaltung

neutral

strampelnd, tretend

an den Körper gezogen

motorische Unruhe

nicht vorhanden

mäßig

ruhelos

Das Kind wird 15 Sekunden beobachtet und danach werden Punkte vergeben: Ab 2 Punkten ist eine Intervention nötig, ab 4 Punkten dringend.

238

10.6 Schmerz

Tab. 10.5 FLACC-Skala (Merkel et al., 1997, nach Ebinger, 2010). Kategorien

0

1

2

Gesicht (Face)

keine Besonderheiten

gelegentliches Grimassieren oder gefroren, zurückgezogen, desinteressiert

häufiges oder konstantes Zittern des Kinns, zusammengebissene Zähne

Beine (Legs)

normale Position oder entspannt

angespannt, unruhig

stoßend-kickend oder angezogen

Aktivität (Activity)

ruhiges Liegen, normale Position, unauffällige Bewegungen

hin und her bewegen, angespannt

angespannt, überstreckt, wirft sich hin und her

Schreien, Weinen (Cry)

keines

Stöhnen oder Wimmern; gelegentliche Beschwerden

ständiges Schreien/Weinen, schrille Schreie

Beruhigbarkeit (Consolability)

zufrieden, entspannt

durch Berührung oder Ansprache zu beruhigen, ablenkbar

schwer zu trösten oder zu beruhigen

Merke

H ●

Die verlässlichsten Schmerzzeichen sind Veränderungen der Mimik. Diese sind bei mehrfach behinderten Kindern stärker ausgeprägt als bei nicht behinderten Kindern. Verbale und vokale Schmerzäußerungen können fehlen, trotzdem kann das Kind starke Schmerzen haben.

Es wurden einige Schmerzbeobachtungsskalen speziell für diese Kinder entwickelt. Eine einfach zu handhabende Skala ist die der KUS-Skala ähnelnde FLACC-Revised-Skala (▶ Tab. 10.5).

Instrumente zur Selbsteinschätzung Sie können bei Kindern etwa ab dem 4. Lebensjahr eingesetzt werden. Bei der Selbsteinschätzung von Schmerzen im Kindesalter gelten die folgenden Grundsätze: ● dem Kind stets glauben ● verschiedene Gefühle abfragen (Schmerz, Heimweh, Angst) ● mehrfach am Tag die Selbsteinschätzung durchführen lassen, da Schmerzzustände sich rasch ändern können (Schmerz als „fünftes Vitalzeichen“). ● Faustregel: bei stationärem Aufenthalt und postoperativem Schmerz mindestens 3-mal täglich Schmerzeinschätzung durchführen sowie bei jeder Äußerung des Kindes. ▶ Gesichterskala. Die Faces Pain Scale Revised (FPSR) oder Gesichter-Skala ist eine der genauesten, am besten untersuchten und zudem eine bei Kindern sehr beliebte Skala zur Schmerzeinschätzung. Sie besteht aus 6 gezeichneten Gesichtern, die unterschiedliche Grade von Schmerzen darstellen. Das Kind wählt dasjenige Gesicht, das seinem eigenen Empfinden am besten entspricht. Diese Skala ist einfach anzuwenden und kann bei Kindern

ab dem Kindergartenalter eingesetzt werden (▶ Abb. 10.15). Darüber hinaus liegt die Anleitung zur korrekten Anwendung in vielen verschiedenen Sprachen vor (www.iasp-pain.org/DownloadFPSR). ▶ Eland-Farbskala. Die Eland-Farbskala liefert sowohl Informationen über die Schmerzintensität als auch über die Schmerzquelle mittels eines Körperschemas, in welches das Kind die schmerzende(n) Körperstelle(n) einzeichnet. Vorher legt das Kind selbst fest, welche 4 Farben für welche Schmerzintensität stehen. Diese Skala ist sehr einfach anzuwenden, erfasst sowohl akute als auch chronische Schmerzen und kann bei Kindern ab dem 5. Lebensjahr eingesetzt werden. Meist werden schwache Schmerzen mit Orange und starke Schmerzen mit Schwarz assoziiert. ▶ Schmerzanamnese. Je nach Alter des Kindes können von der Pflegefachkraft gezielte Fragen zum Thema Schmerz gestellt werden, entweder gemeinsam mit den Eltern oder ohne die Eltern. ▶ Schmerztagebuch. Bei chronischen Schmerzen, z. B. bei Migräne oder rezidivierenden Bauchschmerzen, empfiehlt sich das Führen eines kindgerecht gestalteten Schmerztagebuches. Dieses Tagebuch wird vom Kind selbst geführt, was etwa ab dem 7./8. Lebensjahr möglich ist. Das Kind soll die Stärke, Häufigkeit und Dauer seiner Schmerzen dokumentieren und erhält dafür geeignete Verstärker, z. B. Sticker zum Einkleben in das Tagebuch. Zusätzlich werden auslösende Faktoren für die Schmerzen notiert sowie Medikamente, ob das Kind bestimmte Aktivitäten unternommen oder unterlassen hat und wie das Kind sich fühlte. Das Schmerztagebuch erleichtert nicht nur die Diagnose und Therapie von Schmerzen, sondern gibt auch dem Kind einen Überblick über den Verlauf seiner Schmerzen und seine Möglichkeiten, mit dem Schmerz umzugehen.

Faces Pain Scale 0

1

2

3

4

0 2 kein Schmerz

4

6

8

5

10 stärkster Schmerz

Abb. 10.15 Faces Pain Scale. Kinder ab 3 Jahren können mit dieser Skala ihre Schmerzen selbst einschätzen. (Abb. aus: Schewior-Popp S, Sitzmann F, Ullrich L. Thiemes Pflege. Thieme; 2017)

Praxistipp Pflege

Z ●

Schmerzfragebögen für Kinder, Jugendliche und Eltern sowie ein Schmerztagebuch unter www.deutsches-kinderschmerzzentrum.de.

10

10.6.3 Umgang mit chronischen Schmerzen Chronische Schmerzen haben selten eine eindeutige Ursache, sie besitzen keine Warn- und Schutzfunktion mehr, sondern haben sich verselbstständigt und sind zu einer eigenen Erkrankung geworden. Nach Ausschluss einer organischen Ursache ist das Ziel der Behandlung die möglichst altersentsprechende Gestaltung des Tagesablaufs für das Kind oder den Jugendlichen. Dies bedeutet z. B. regelmäßigen Schulbesuch, das Ausüben von Hobbys sowie das Erfüllen von Alltagspflichten wie Hausaufgaben erledigen, Zimmer aufräumen. Die bei akuten Schmerzen sinnvolle körperliche Schonung ist bei chronischen Schmerzen nicht zu empfehlen, da sie häufig zu unnötigen Einschränkungen führt und die Beschwerden i. d. R. auch

9

Kinder- und Familienunterstützung nicht lindert. Neben der täglichen Schmerzerfassung mittels eines Schmerztagebuches sollte keine weitere Befragung des Kindes zu seinen Schmerzen erfolgen, dass Schmerzen umso stärker empfunden werden, je mehr man sich darauf konzentriert. Wichtig für das Kind bzw. den Jugendlichen ist das Erlernen von Ablenkungs- und Entspannungstechniken (Dobe, 2009). Bei den Lebensalltag schwer beeinträchtigenden chronischen Schmerzen benötigt das Kind bzw. der Jugendliche eine ambulante interdisziplinäre Schmerztherapie an einer Kinderschmerzambulanz oder eine stationäre interdisziplinäre und multimodale Schmerztherapie an einem Kinderschmerzzentrum. Eine Einbeziehung der Familie ist für den Behandlungserfolg unerlässlich.









10.6.4 Pflegemaßnahmen bei Schmerzen Gesundheitsfördernde und unterstützende Pflegemaßnahmen haben das Ziel, Schmerzen vorzubeugen, bei der Bewältigung von Schmerzen zu unterstützen oder Schmerzen zu lindern.

Schmerzprävention Merke

● H



10.6.5 Schmerzbewältigung Eltern

Die Vermeidung von Schmerzen hat Vorrang vor der Linderung von Schmerzen!

10

Daher sollte stets die am wenigsten schmerzhafte Weise eines Eingriffs bevorzugt werden. ● Vor geplanten Punktionen sollte rechtzeitig ein Pflaster mit lokalanästhesierender Wirkung geklebt werden. ● Venöse statt kapilläre Blutentnahmen, da diese weniger schmerzhaft sind. ● Die vorbeugende Gabe von Lokalanästhetika oder/und Analgetika je nach Eingriff und ärztlicher Anordnung, wobei vorausschauend die Zeit bis zum Wirkungseintritt des Medikaments eingeplant werden muss.

Die regelmäßige Gabe von Analgetika nach ärztlicher Anordnung nach einem schmerzhaften Eingriff, anstatt abzuwarten, bis das Kind über Schmerzen klagt. Äußert das Kind trotz fester Basisanalgesie Schmerzen (sog. Durchbruchsschmerzen), wird ein zusätzliches Analgetikum als Bedarfsmedikation so rasch wie möglich verabreicht. Eine möglichst kindgerechte, d. h. schmerzlose Verabreichung von schmerzstillenden Medikamenten, d. h. oral, rektal oder intravenös über einen liegenden Gefäßzugang, aber nicht intramuskulär. Das Angebot nicht nahrungsbezogenen Saugens und die Gabe von Saccharose per os bei Früh- und Neugeborenen (führt zur Ausschüttung körpereigener Endorphine) z. B. vor Venenpunktion, subkutaner Injektion, Verbandwechsel und endotrachealem Absaugen. Das Anbieten von Hautkontakt in jedem Lebensalter, von der Känguru-Methode beim Frühgeborenen bis zum Handhalten beim Jugendlichen.

Es sollte sowohl altersentsprechende Informationen für das Kind als auch schriftliches Informationsmaterial für die Eltern geben. Gut informierte Kinder benötigen nicht weniger Schmerzmedikamente als andere Kinder, sie erleiden aber nachweislich weniger Angst und Unruhe. Geeignet für geplante Interventionen sind multimodale Konzepte wie DOLORES oder QUIPSI (siehe Literaturverzeichnis). Allerdings wirkt sich die Anwesenheit von Bezugspersonen nicht immer positiv aus auf Angst, Stress und Schmerzen beim Kind. Die Angst der Eltern kann im Sinne einer emotionalen Ansteckung auf das Kind übertragen werden. Eine Übersicht über förderliches und hinderliches Verhalten von Eltern oder Personal zeigt ▶ Tab. 10.6.

Schmerzlinderung Zur Schmerzlinderung werden nichtpharmakologische und pharmakologische Maßnahmen eingesetzt. Pharmakologische Maßnahmen bedürfen stets einer ärztlichen Anordnung.

Nichtpharmakologische Maßnahmen

a ●

Nichtpharmakologische Maßnahmen gehören in den eigenständigen Aufgabenbereich der Pflegefachkräfte und sind gut geeignet, gemeinsam mit den Eltern durchgeführt zu werden.

Die wichtigste nichtpharmakologische Maßnahme zur Schmerzprävention und Schmerzlinderung ist die Einbeziehung der Eltern!

▶ Schmerzlindernde Positionierung. Sie beinhalten: ● Ruhigstellung des betroffenen Körperteils bei bewegungsabhängigen Schmerzen ● Hochlagern oder bequemes Unterpolstern (z. B. angewinkelte Knie zur Entspannung der Bauchdecke bei Bauchschmerzen oder nach Operation im Bauchbereich) ● regelmäßiges Umlagern (verringert den Auflagedruck)

Damit Eltern bei Schmerzprävention und -linderung helfen können, müssen sie gut informiert und angeleitet werden. Sie müssen genau wissen, was z. B. bei einer Untersuchung auf ihr Kind zukommt und wie sie ihr Kind dabei unterstützen können. Unsicherheit und Ängstlichkeit der Eltern übertragen sich auf das Kind. Entspannungstechniken oder Ablenkung funktionieren oft am besten, wenn sie vom Kind gemeinsam mit den Eltern durchgeführt werden. Zum Üben ist eine gute präoperative Information geeignet.

▶ Physikalische Maßnahmen. Schmerzlindernde, physikalische Maßnahmen beinhalten die Anwendung von Wärme (z. B. Wärmflasche) oder Kälte (z. B. Cool

Tab. 10.6 Verhalten von Eltern und Personal bei medizinischen Prozeduren und dessen Wirkung auf das Erleben des Kindes (Frank et al. 1995, nach Ebinger 2010). förderlich, belastungsreduzierend ●



● ● ●

240

Ablenkung (z. B. zum Spielen anregen, Seifenblasen, Anschauen von Comics) sich unterhalten (nicht über die Behandlungsmaßnahme) Einsatz von Atemtechniken Humor, Spaß machen Information über Ablauf der Prozedur und wie es sich anfühlt

hinderlich, belastungserhöhend ● ● ● ● ● ●



beruhigen, empathische Äußerungen sich entschuldigen kritisieren mit dem Kind handeln Erklärungen während der Prozedur dem Kind Kontrolle über den Beginn der Prozedur geben katastrophisieren

neutral ● ●

loben Anweisungen geben

10.6 Schmerz Packs). Zur praktischen Durchführung von physikalischen Maßnahmen siehe das Kapitel „Körpertemperatur regulieren“, Abschnitt Physikalische Therapie (S. 289).

Merke

H ●

Der Einsatz physikalischer Maßnahmen ist ein unterstützendes Pflegeangebot und ersetzt keinesfalls eine adäquate Schmerztherapie.

den. Ablenkung ist bei kurz dauernden Schmerzen aufgrund geplanter Eingriffe sehr gut geeignet, z. B. Lumbalpunktion, Knochenmarkpunktion, Wundreinigung, Fäden ziehen, Verbandwechsel, Ziehen von Dränagen, Injektionen oder Venenpunktion. Ebenfalls geeignet ist die Anwendung bei Schmerzen aufgrund von Bewegung, z. B. bei der Mobilisation vom Bett zum Stuhl.

Merke

Ablenkung kann Schmerzen erträglicher machen, sie aber nicht beheben. Sie soll gemeinsam mit der gezielten Anwendung von Analgetika eingesetzt werden.

▶ Psychologische Schmerzbeeinflussung. Psychologische Methoden können Schmerzen nicht nehmen, aber den Umgang mit Schmerzen erleichtern. Daher sollten sie, wenn möglich, zur Ergänzung der medikamentösen Schmerztherapie eingesetzt werden.

Eltern

a ●

Aufgrund der Ablenkung richtet das Kind seine Aufmerksamkeit nicht mehr auf seine Schmerzen oder einen bevorstehenden Eingriff. Ablenkung kann sehr gut mit den Eltern gemeinsam eingesetzt werden, da sie wissen, was ihr Kind fasziniert.

Bei Kindern unter 3 Jahren werden Schnuller, Wiegen, Blickkontakt, Sprechen, gemeinsam Singen, eine nicht betroffene Körperstelle reiben oder ein Bilderbuch anschauen bevorzugt eingesetzt (▶ Abb. 10.16). Bei Kindern über 3 Jahren werden z. B. Seifenblasen pusten, ein Lied singen, einen Witz oder eine Geschichte erzählen, etwas zählen, „Ich-sehe-was-das-dunicht-siehst“ spielen, Musik oder Hörspiel anhören oder ein Video ansehen eingesetzt. Ablenkung sollte beginnen, bevor die Schmerzen einsetzen oder stärker wer-

H ●

Praxistipp Pflege

Z ●

Bei der gelenkten Imagination soll sich das Kind in Gedanken in eine andere Situation versetzen. Diese Methode ist etwa ab dem 4. Lebensjahr einsetzbar.

Beispiele für gelenkte Imagination: Die „Zauberdecke“ wird vor einer Punktion auf die Einstichstelle gelegt und zaubert die Schmerzen fast völlig weg. ● Ein „Schmerzschalter“ wird in Gedanken vom Kind gedrückt, bis die Schmerzen ausgeschaltet sind. ● Schmerzen werden „weggepustet“. ●

Eine gute Anleitung zum Einsatz der gelenkten Imagination bieten die seit Jahren erprobten „Kapitän-Nemo-Geschichten“, die bei Kindern ab 5 Jahren eingesetzt werden können.

Merke

H ●

Die gelenkte Imagination wird auch als unterstützende Maßnahme bei medikamentöser Schmerzbehandlung angeboten.

Schmerzbehandlung eigenverantwortlich zu Hause fortsetzen können. Grundprinzipien der medikamentösen Schmerztherapie sind: ● präventive Anwendung von Analgetika: Der Schmerz sollte möglichst stets unter Kontrolle sein, d. h., Schmerzmittel werden verabreicht, bevor der Schmerz auftritt oder bevor er stärker wird. ● genaue Verordnung: Sowohl Dosierung als auch Verabreichungsintervall und Verabreichungsform müssen für jedes Kind individuell angepasst werden, sodass es zu einer möglichst optimalen Schmerzlinderung mit möglichst wenig Nebenwirkungen kommt. ▶ Lokalanästhetika. Lokalanästhetika in Form von Gel oder Spray zur Betäubung der Schleimhäute werden vor diagnostischen oder therapeutischen Eingriffen eingesetzt, die zu Schleimhautreizungen führen, z. B. beim Legen eines Blasenkatheters oder einer Magensonde.

Merke

Bei der Anwendung von Lidocain muss beachtet werden, dass es seine volle anästhesierende Wirkung erst nach einer Einwirkzeit von 5 – 10 Minuten erreicht! Wird eine Magensonde oder ein Katheter mit Lidocain-Gel benetzt und sofort eingeführt, wirkt das Lidocain-Gel lediglich als Gleitmittel.

Zur Oberflächenanästhesie der Haut wird EMLA eingesetzt, d. h. eutektische Mischung von Lokalanästhetika (Lidocain und Prilocain). EMLA-Salbe ist auf einem Pflaster fertig erhältlich, das auf einen ausgewählten Hautbezirk aufgeklebt und dort 60 Minuten belassen wird. Indikationen, Kontraindikationen und die korrekte Anwendung sind im Beipackzettel erläutert. Soll ein venöser Zugang gelegt oder Blut entnommen werden, so muss nach Entfernen des Pflasters 10 – 15 Minuten gewartet werden, bis die Venen wieder deutlich sichtbar sind.

Praxistipp Pflege Pharmakologische Maßnahmen

Abb. 10.16 Schmerzbeeinflussung. Ablenkung kann helfen, Schmerzen besser zu ertragen (Symbolbild). (Foto: bluedesign – stock.adobe.com)

Pharmakologische Maßnahmen umfassen den Einsatz von Lokalanästhetika und/ oder systemisch wirkenden Analgetika nach ärztlicher Anordnung. Wesentlich ist, die Eltern über die korrekte Anwendung anzuleiten (z. B. nach ambulanten Operationen), damit die Eltern in Zusammenarbeit mit dem Kinderarzt die

H ●

10

Z ●

Da bereits nach 5 Minuten Einwirkzeit ein gewisser lokalanästhetischer Effekt vorhanden ist, sollte besser ein EMLAPflaster nach kurzer Einwirkzeit wieder entfernt als gar keines geklebt werden! Ein ähnlich wirksamer Stoff ist Tetracain 4 %, das manche Kliniken günstig selbst herstellen.

1

Kinder- und Familienunterstützung ▶ Systemisch wirkende Analgetika. Grundsätzliche Regeln zum Umgang mit Arzneimitteln und Betäubungsmitteln (S. 438) siehe auch das Kapitel „Für eine sichere Umgebung sorgen“ (S. 432). ▶ Empfehlungen der WHO. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat 1986 Empfehlungen zum Einsatz von Schmerzmitteln bei der Behandlung von Tumorschmerzen herausgegeben. Dieses sog. „WHO-Stufenschema“ ist auch als Leitfaden für die Therapie postoperativer oder posttraumatischer Schmerzen gut geeignet. Anhand dieses Schemas werden Analgetika in 3 Stufen eingeteilt, je nach der Intensität der Schmerzen, gegen die sie eingesetzt werden: ● Stufe I: bei geringen bis mittelstarken Schmerzen nicht opioide Analgetika. ● Stufe II: bei mittelstarken bis starken Schmerzen schwach wirksame Opioide, wie Tramadol oder Codein, in Kombination mit Nichtopioiden. ● Stufe III: bei starken bis stärksten Schmerzen stark wirksame Opioide (Analgetika, die unter das Betäubungsmittelgesetz fallen), wie Morphin, in Kombination mit Nichtopioiden. Nichtopioide Analgetika wirken in unterschiedlichem Maß analgetisch (schmerzstillend), antiphlogistisch (entzündungshemmend), antipyretisch (fiebersenkend) und spasmolytisch (krampflösend). Sie wirken im Gewebe am Entstehungsort der

10

242

Schmerzen analgetisch. Beispiele für nicht opioide Analgetika sind Paracetamol, Ibuprofen und Diclofenac. Opioide Analgetika wirken im Zentralnervensystem (ZNS) schmerzstillend, indem sie im Rückenmark und im Gehirn bestimmte Rezeptoren an den Nervenenden besetzen. Werden Opioide zur Schmerzlinderung regelmäßig nach einem festen Zeitschema eingenommen, kommt es nach einer gewissen Zeit (7 – 14 Tage) zu einer körperlichen Gewöhnung. Damit keine Entzugssymptome auftreten, müssen Opioide daher allmählich immer niedriger dosiert „ausgeschlichen“ und dürfen nicht abrupt abgesetzt werden. Beispiele für opioide Analgetika sind Tramadol, Morphin und Fentanyl. Opioide haben Nebenwirkungen, die prophylaktisch behandelt werden müssen. Nach 1 Woche Behandlung mit Opioiden entwickelt sich i. d. R. eine Toleranz in Bezug auf die Symptome Übelkeit/Erbrechen, Atemdepression und Sedierung. Die Obstipation ist jedoch die wichtigste und hartnäckigste Nebenwirkung, daher müssen Laxanzien so lange gegeben werden, wie eine Schmerztherapie mit Opioiden erforderlich ist. Koanalgetika oder Adjuvanzien sind Medikamente, die zusätzlich zu nicht opioiden und opioiden Analgetika eingesetzt werden, weil sie antidepressiv, sedierend, antiphlogistisch oder analgetisch wirken. Beispiele für Koanalgetika sind Kortison, Ketamin und Clonidin.

▶ Patientenkontrollierte Analgesie. Bei der kontinuierlichen Gabe von Analgetika mittels Spritzenpumpen besteht die Möglichkeit der patientenkontrollierten Analgesie (PCA), d. h. die bedarfsweise Eigenapplikation kleiner Analgetikagaben durch den Patienten. Die PCA kommt bei postoperativen Schmerzen und bei Tumorschmerzen zum Einsatz und eignet sich für Kinder ab ca. dem 6. Lebensjahr: Kann ein Kind Computerspiele spielen, dann ist es auch in der Lage, eine Schmerzpumpe zu bedienen. Bei Kleinkindern kann evtl. auch eine elternkontrollierte Analgesie durchgeführt werden, sofern eine engmaschige Unterstützung durch geschulte Pflegefachkräfte gewährleistet ist. ▶ Überwachung. Unerlässlich sind bei der Gabe systemisch wirksamer Analgetika, insbesondere bei Opioiden und bei kontinuierlicher Gabe, die Überwachung von Atemfrequenz und Sauerstoffsättigung, siehe Kap. „Atmen und Kreislauf regulieren“ (S. 244), sowie die regelmäßige Kontrolle des Sedierungsgrades und die Beobachtung auf mögliche Nebenwirkungen der Schmerztherapie wie Übelkeit/Erbrechen, Obstipation, starke Müdigkeit.

Kapitel 11 Atmen und Kreislauf regulieren

11.1

Bedeutung

244

11.2

Atmung: beeinflussende Faktoren

244

11.3

Atmung: Beobachten und Beurteilen

244

11.4

Atmung: Pflegemaßnahmen

249

11.5

Puls: beeinflussende Faktoren

261

11.6

Puls: Beobachten und Beurteilen

261

11.7

Puls: Pflegemaßnahmen

265

11.8

Blutdruck: beeinflussende Faktoren

266

11.9

Blutdruck: Beobachten und Beurteilen

266

11.10 Blutdruck: Pflegemaßnahmen

269

Atmen und Kreislauf regulieren

11 Atmen und Kreislauf regulieren Mechthild Hoehl

11.1 Bedeutung

11

244

Die Lebensaktivität Atmen ist für den Erhalt des Lebens eine notwendige Voraussetzung. Die Atmung regelt den Gasaustausch mit der Umgebung. Sauerstoff aus der Luft wird in den Lungen gegen Kohlendioxid aus dem Blut ausgetauscht. Dieser Vorgang wird auch als äußere Atmung bezeichnet. Unter der inneren Atmung wird die Abgabe des Sauerstoffs in Gewebe und Organe verstanden, um die dort stattfindenden Stoffwechselvorgänge zu ermöglichen. Eine Störung des Gasaustausches stört die Funktion der Organe. Schon eine kurze Sauerstoffunterversorgung kann zu irreversiblen Schäden und Ausfällen führen, wodurch die Atmung zum Inbegriff des Lebens wird. Eine gestörte Atmung ruft beim Patienten existenzielle Ängste hervor. Atmen ist ein physiologischer und unabhängiger Vorgang, der jedoch stark durch subjektive Befindlichkeiten beeinflusst wird. Äußerungen wie „mir bleibt die Luft weg ...“ im Zusammenhang mit Ärger- oder Stresssituationen zeigen, wie sehr sich die Atmung und das Allgemeinbefinden wechselseitig beeinflussen. Atmung und Befindlichkeit lassen sich z. B. durch Entspannungstraining gezielt steuern. Durch eine Beruhigung des Atemrhythmus und eine Vertiefung der Atemzüge kann ein in Atemtechniken geschulter Mensch über die Atmung auch seine psychische Befindlichkeit beeinflussen. Zwischen der Atmung und der Regulation von Puls und Blutdruck besteht ebenfalls eine Wechselwirkung. Der erste Atemzug eines Neugeborenen veranlasst eine Anpassung an die neue Umgebung. Wenn sich die Lungen das erste Mal kräftig mit Luft füllen, ändern sich die Druckverhältnisse im Kreislauf; die vor der Geburt bestehenden Kurzschlüsse werden mit der Zeit geschlossen. „Jeder Herzschlag ist etwas Besonderes. Man merkt es, wenn es der letzte war“, heißt es in einem Sprichwort. Neben der Atmung gehört der Herzschlag zu der Vorstellung von Leben. Die beste Sauerstoffversorgung nützt nichts, wenn sie nicht in die Zellen übertragen werden kann. Die Herztätigkeit sorgt für einen gleichmäßigen Blutstrom. Die Druckverhältnisse im Blutkreislauf stellen unter physiologischen Bedingungen eine ausreichende Durchblutung und Versorgung des Gewebes, dessen Gasaustausch und Stoffwechsel sicher. In diesem Kapitel werden die Lebensaktivitäten „Atmen“ und „Kreislauf regu-

lieren“ vorgestellt. Obwohl diese untrennbar zusammengehören, werden hier die Beschreibung der Vitalfunktionen, ihre Beobachtung und die jeweiligen gesundheitsfördernden und unterstützenden Pflegemaßnahmen zur besseren Übersicht getrennt in einzelnen Unterkapiteln dargestellt.

11.2 Atmung: beeinflussende Faktoren Definition

L ●

Unter Atmen wird im Allgemeinen die Tätigkeit der Lungen verstanden, die dazu dient, den Körper mit Sauerstoff zu versorgen und Kohlendioxid auszuscheiden. Es wird die äußere Atmung (Lungenatmung, aber auch der Gasaustausch über Haut und Schleimhäute) von der inneren Atmung (Zellatmung, Gasaustausch in den einzelnen Körperzellen) unterschieden.

▶ Körperliche Faktoren. Die Atemtätigkeit passt sich den Notwendigkeiten der Umgebung und der Konstitution an: Kinder atmen abhängig von Lebensalter, Größe und Gewicht schneller als Erwachsene, um die nötige Sauerstoffversorgung des Gewebes zu sichern, weil ihre Lungen noch ein geringes Volumen haben. Körperliche Anstrengung und Störungen der Lungen-, Herz- und Kreislauffunktion, Störungen des Stoffwechsels, Fieber sowie verschiedene Medikamente verursachen unterschiedliche Veränderungen der Atemfrequenz, -qualität und des Atemrhythmus. Bei Anstrengung können stöhnende Geräusche zu hören sein.

lastung durch Straßenverkehr und Industrieabgase lassen sich Auswirkungen auf die Atemfunktion der Bevölkerung erkennen. Besonders bei Kindern häufen sich Anfälligkeiten für akute und chronische pulmonale Gesundheitsstörungen. Aber auch die „frische Luft“ in der freien unbelasteten Natur kann die Atmung in unterschiedlicher Weise verändern. Auf feuchtkalte Winterluft reagieren viele Menschen mit einer leichten Verengung der Bronchien. Sauerstoffarme Luft (etwa im Gebirge) führt in beschränktem Maße zu einer Zunahme der Atemtätigkeit.

Lernaufgabe

M ●

Welche Assoziationen verbinden Sie persönlich mit der Atmung? Überlegen und notieren Sie, welche äußeren Reize, welche Befindlichkeiten und Situationen Ihre Atmung beeinflussen und wie wiederum Ihre Befindlichkeit von der Atmung beeinflusst wird.

11.3 Atmung: Beobachten und Beurteilen 11.3.1 Zählen der Atemzüge Die Atemzüge werden möglichst unauffällig beim schlafenden oder ruhigen Patienten über eine Minute gezählt. Bei einem Säugling, bei dem die Thorax- oder Zwerchfellbewegungen nicht sicher zu erkennen sind, kann vorsichtig die Hand auf den Thorax unterhalb des Schwertfortsatzes des Brustbeins aufgelegt werden. Hierdurch darf es jedoch nicht zu einer Beeinflussung der Atemzüge kommen (▶ Abb. 11.1). Ebenso kann die Atemfre-

▶ Psychische Faktoren. In Ruhe und psychischer Ausgeglichenheit ist die Atmung ruhig und gleichmäßig. Angst, Schmerzen und sonstige seelische Erregungszustände beeinflussen die normale Atemtätigkeit. Die Atmung wird dann häufig schneller und oberflächlicher. Im sehr ausgeprägten Fall kommt es zur Hyperventilation. In Schrecksekunden kann kurzfristig der Atem „stocken“ (kurze Atempause). ▶ Umgebungsabhängige Faktoren. Umweltbelastungen durch Schadstoffe, Autoabgase oder Rauchen führen zu einer verschlechterten Luftqualität. In dicht besiedelten Gebieten mit starker Feinstaubbe-

Abb. 11.1 Zählen der Atemzüge. Die Hand zum Erfassen der Atemzüge bei Säuglingen muss vorsichtig aufgelegt werden, damit das Kind nicht erschrickt und die Atemfrequenz hierdurch beeinflusst wird. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

11.3 Atmung: Beobachten und Beurteilen quenz durch das Auflegen eines Stethoskops auf den Thorax erfasst werden. Bei der Auskultation mit dem Stethoskop können einzelne Lungenbezirke nacheinander abgehört und damit Lungenbelüftung und Atemgeräusche erfasst werden.

Praxistipp Pflege

Z ●

Bei größeren und wachen Kindern sollte ein Berühren des Brustkorbes beim Zählen der Atmung vermieden werden, da es zu einer Beeinflussung der Atmung kommen kann.

Beim Erfassen der Atmung wird auf Atemfrequenz, Atemqualität, Atemrhythmus, Atemgeräusche, Atemgeruch und atemabhängige Auffälligkeiten geachtet.

11.3.2 Indirekte Beobachtung der Atmung Hautkolorit Aufschlüsse über die Atemleistung erlaubt auch die Beobachtung des Hautkolorits.

Merke

H ●

Die Beurteilung des Hautkolorits ist nur bei Tageslicht und/oder ausreichenden Lichtverhältnissen sicher durchzuführen.

▶ Rosige Haut. Sie spricht für gut oxygeniertes, d. h. mit Sauerstoff gesättigtes Blut. Achtung: Auch bei einer gefährlichen Kohlenmonoxidvergiftung erscheint die Haut rosig bis kirschrot. ▶ Zyanose. Hierbei handelt es sich um eine Blaufärbung von Haut, Schleimhäuten und/oder Finger- und Zehennägeln. Es werden die zentrale Zyanose (Körperstamm, Lippen und Mund) und die periphere Zyanose (Endglieder der Extremitäten oder Nasenspitze) unterschieden. Letztere wird auch Akrozyanose genannt. Eine zentrale Zyanose weist auf einen Sauerstoffmangel hin. Die Akrozyanose kann auch durch Unterkühlung bedingt sein. Für die Beurteilung der Zyanose muss unterschieden werden, ob sie ständig vorhanden ist (z. B. bei zyanotischem Vitium) oder nur in bestimmten Situationen auftritt (z. B. unter Belastung oder beim Trinken). Bei fraglicher Zyanose sollte die Sauerstoffsättigung mittels Pulsoxymetrie erfasst werden. ▶ Blassgraues Hautkolorit. Das ist häufig das erste Zeichen einer Neugeboreneninfektion oder Neugeborenenpneumonie. Das Kind ist intensiv auf das Auftreten weiterer Auffälligkeiten oder Atemprobleme zu beobachten.

Tab. 11.1 Atemfrequenz in Abhängigkeit von Lebensalter und Aktivität (Pschyrembel, 2017). Lebensalter

Ruhe-Atemfrequenz

Frühgeborenes

50–60/min

Neugeborenes (reif geboren)

30–50/min

Säugling

20–40/min

Kleinkind

20–30/min

6 Jahre

18–24/min

Erwachsener

12–16/min

▶ Dunkles Hautkolorit. Die Hautbeurteilung bei dunkelhäutigen Kindern ist besonders schwierig und erfordert viel Übung. Bei schlechtem Allgemeinzustand kommt es häufig zu aschgrauem Aussehen.

▶ Brustatmung. Dabei werden die Atembewegungen verstärkt durch die Hebung der Rippen ausgelöst. Die Atembewegungen sind am Heben und Senken des Thorax zu erkennen. Die Brustatmung wird vorwiegend von Frauen ausgeführt.

Leistungsfähigkeit

▶ Bauchatmung. Sie entsteht durch das kräftigere Zusammenziehen des Zwerchfells. Die Atembewegungen des Zwerchfells sind gut zu beobachten. Diese Atemform findet sich bei Säuglingen und Männern.

Die allgemeine Leistungsfähigkeit ist bei Beeinträchtigung der Atemleistung häufig vermindert, z. B. kann das Trinkverhalten eines Säuglings eingeschränkt sein oder das Kind spielt weniger, ist unruhig oder verschwitzt.

11.3.3 Physiologische Atmung (Eupnoe) Definition

L ●

Die normale Atmung erfolgt unwillkürlich in einer regelmäßigen Abfolge von Einatmung (Inspiration), einer etwas längeren Ausatmung (Exspiration), Pause. Diese Abfolge wird durch das Atemzentrum im Gehirn gesteuert.

Während der Einatmung werden die Rippen angehoben, das Zwerchfell wird kontrahiert und nach unten gezogen. Hierdurch wird die Lunge gedehnt und Luft eingesogen. Hierbei wird die Luft durch Härchen der Nase und Schleimhäute gereinigt, angefeuchtet und angewärmt, bevor sie über Kehlkopf, Luftröhre und Bronchien in die Lungenbläschen (Alveolen) gelangt, wo der Gastaustausch stattfindet. Mit der Erschlaffung der Zwischenrippenmuskulatur und des Zwerchfells erfolgt die Ausatmung durch passives Ausströmen der Luft. Die normale Atmung ist gleichmäßig und verläuft ohne Anstrengung. Sie verursacht weder Schmerzen noch Geräusche. Die Atemluft ist normalerweise geruchlos. Die Atemfrequenz ist abhängig vom Lebensalter und von der Aktivität. Im Schlaf ist die Atemfrequenz niedriger. Beim Schreien oder bei körperlicher Anstrengung können die in ▶ Tab. 11.1 angegebenen Werte auch kurzfristig überschritten werden.

11.3.4 Abweichungen Ein zentraler Aspekt der pflegerischen Beobachtung bei Kindern kommt der Wahrnehmung und Beurteilung relevanter Abweichungen der Vitalzeichen zu. Vor allem, wenn die Kinder klein sind und ihre Beschwerden nicht eindeutig artikulieren können.

Merke

H ●

Die geübte Beobachtung der Pflegefachkraft ist durch keine technischen Hilfsmittel (z. B. Monitoring) zu ersetzen und kann auch nicht komplett an Begleitpersonen delegiert werden.

11

In ▶ Tab. 11.2 sind alle Abweichungen von der normalen Atemfunktion mit möglichen Ursachen aufgeführt. Die Einübung dieser Beobachtung muss in der praktischen Ausbildung geübt und gefestigt werden.

11.3.5 Individuelle Situationseinschätzung Bei der Einschätzung der Atemsituation sind individuelle Besonderheiten wichtig: ● Ist das Kind besonders gefährdet, eine Atemstörung zu erleiden, z. B. durch bestehende Grundkrankheit oder postoperative Schonatmung? ● Handelt es sich um eine akute oder eine chronische Atemstörung? ● Wie ist bei einer chronischen Atemstörung die Atemqualität dieses Kindes in Ruhe und/oder in einer infektionsfreien Zeit?

5

Atmen und Kreislauf regulieren

Tab. 11.2 Atemabweichungen und mögliche Ursachen. Abweichungen

mögliche Ursachen

Beobachtungskriterium Atemfrequenz Tachypnoe ● (= Überschreitung der altersüblichen Atemfrequenz)



Bradypnoe ● (= Unterschreitung der alterstypischen Atemfrequenz)





● ● ● ●

Apnoe ● (= Atempause bzw. Atemstillstand über 20 Sekunden)

● ● ● ● ● ● ●

physiologisch bei Anstrengung oder Aufregung krankheitsbedingt durch Fieber und metabolische Störungen (erhöhten Sauerstoffbedarf oder Bedarf der CO2-Abatmung), starken Blutverlust (Verminderung des Hämoglobins), Erkrankungen der Lunge (durch erhöhten Lungenwiderstand, Obstruktion, erschwerten Gasaustausch), des Herzens (Blutrückstau bei Linksherzbelastung), der Muskulatur (geringere Atemexkursion) herabgesetzter Stoffwechsel (Schlaf/Tiefschlaf) Unterkühlung zentrale Regulationsstörungen (z. B. bei Gehirnerkrankungen) Vergiftungen Stoffwechselstörungen (z. B. Coma diabeticum) Folge einer Bradypnoe Symptom von Pertussis Unreife des Atemzentrums bei Frühgeborenen Schädigung/Lähmung des Atemzentrums (z. B. bei Vergiftung) Muskelrelaxation (z. B. bei Narkose) Aspiration Herz-Kreislauf-Stillstand

Notfall (S. 860): Ein unbehandelter Atemstillstand führt zur Schädigung durch Sauerstoffmangel! Sauerstoffmangel! aller Organe durch Beobachtungskriterium Atemrhythmus (▶ Abb. 11.2). Biot-Atmung (= periodische Atmung mit kräftigen Atemzügen, unterbrochen von längeren Atempausen)



Cheyne-Stokes-Atmung (= kleine flache Atemzüge, die immer tiefer werden, dann wieder abflache bis eine längere Atempause eintritt)



Schnappatmung (= vereinzelte, unregelmäßige und ineffektive Atemzüge mit langen Atempausen)





● ●

● ● ●

Kußmaul- oder Azidoseatmung (= große, tiefe, beschleunigte Atemzüge ohne Pause nach der Exspiration)





typisch bei Frühgeborenen mit unreifem Atemzentrum Störung des Atemzentrums bei Hirndruck (z. B. bei Tumor, Blutung, Hirnödem, Meningitis) Schädigung des Atemzentrums (z. B. bei Hirnerkrankungen) Vergiftungen schwere Schädel-Hirn-Traumen bei Sterbenden respiratorische Insuffizienz Z. n. Reanimation unzureichende Spontanatmung (z. B. direkt nach der Geburt) Kompensation einer metabolischen Azidose durch Abatmen von Kohlendioxid schwere Stoffwechselentgleisungen (z. B. Coma diabeticum)

Beobachtungskriterium Atemtiefe

11

Hyperventilation (= übermäßige Steigerung der Atemtätigkeit; durch übermäßiges Abatmen von Kohlendioxid kann es zu Krämpfen [Hyperventilationstetanie] mit typischer Pfötchenstellung der Finger und zur Bewusstlosigkeit kommen)



hechelnde Atmung (= extrem oberflächliche und beschleunigte Atemzüge mit geöffnetem Mund)



Hypoventilation (= verminderte Atemtätigkeit, die zu verringerter Kohlendioxidabgabe führt)



Schonatmung (= vorsichtige, oberflächliche und beschleunigte Atemzüge; häufig werden nicht alle Lungenbezirke belüftet)



● ●





● ● ●

Angst, Aufregung, Nervosität Schmerzen in Einzelfällen willkürlich herbeigeführt

interstitielle Pneumonie bei Früh- und Neugeborenen Pneumocystis-Pneumonie bei immunsupprimierten Patienten zentrale Störungen metabolische Alkalose (z. B. bei Säuglingen mit hypertropher Pylorusstenose) Schmerzen, v. a. im Brust- oder Bauchraum Rippenbruch Pleuritis nach Lungen- oder Bauchoperationen

Beobachtungskriterium Atemqualität Dyspnoe (▶ Abb. 11.3) (= Atemnot mit ängstlichem Gesichtsausdruck, Unruhe oder Apathie; Benutzung der Atemhilfsmuskeln und verstärkte Atembewegungen; erhöhte Atemfrequenz mit ungenügend tiefen Atemzügen; deutlich hörbare Atemgeräusche; Tachykardie, ggf. Zyanose) ● Ruhedyspnoe (= Atemnot in Ruhe) ● Belastungsdyspnoe

246

● ● ● ● ● ●

pulmonal durch eine Lungenerkrankung kardial bei Herzinsuffizienz zirkulatorisch bei schwerer Beeinträchtigung des Kreislaufes azidotisch durch Stoffwechselentgleisung psychisch bei starker Aufregung oder Angst abdominal bei Behinderung der Zwerchfellatmung (z. B. durch starke Schmerzen im Bauchraum)

11.3 Atmung: Beobachten und Beurteilen

Tab. 11.2 Fortsetzung Abweichungen ●

mögliche Ursachen

Orthopnoe (= schwerste Atemnot)

inspiratorische Dyspnoe (= erschwerte und/oder verlängerte Einatmung, ggf. mit Stridor)



verengte oder verlegte obere Atemwege (z. B. durch Enge im NasenRachen-Schlund-Bereich beim Krupp-Syndrom)

exspiratorische Dyspnoe (= erschwerte und/oder verlängerte Ausatmung, ggf. mit Stridor)



Verengung in den Bronchien (z. B. bei Asthma bronchiale)

Nasenflügeln (= Aufblähung der Nasenflügel zur Erweiterung der Atemwege)



Lungenentzündung

Einziehungen (▶ Abb. 11.4) (= atemabhängige Hauteinziehungen) ● jugular: am Hals ● klavikular: am Schlüsselbein ● interkostal: zwischen den Rippen ● sternal: am Brustbein ● epigastrisch: in der Magen- bzw. Oberbauchgegend



Atembehinderungen bei der Einatmung

pleurale Schmerzen (= zwischen den Rippen, stechend)



Pleuritis Rippenfraktur

retrosternale Schmerzen (= hinter dem Brustbein)



Beobachtungskriterium atemabhängige Schmerzen ●



tracheale oder ösophageale Entzündungen Herzerkrankungen

Keuchen



starke körperliche Anstrengung

Schnarchen (durch Zurückfallen des schlaffen Gaumensegels im Schlaf)



häufig ohne Krankheitswert v. a. bei Erwachsenen Vergrößerung der Gaumen- oder Rachenmandeln Gewebeweichheit im Gaumen Schlaf-Apnoe-Syndrom mit obstruktiven Atempausen

Beobachtungskriterium Atemgeräusche

● ● ●

Verengung in den Atemwegen bei inspiratorischem Stridor meist Enge im Kehlkopf oder Trachealbereich (z. B. bei Krupp-Syndrom, Glottis-Ödem) bei expiratorischem Stridor meist Atembehinderungen unterhalb der Bifurkation (z. B. bei Asthma bronchiale)

Stridor (= lang gezogenes pfeifendes Geräusch) ● inspiratorisch: bei der Einatmung ● exspiratorisch: bei der Ausatmung



Rasseln



durch Sekret, das durch die Atemluft hin und her bewegt wird

Brodeln



noch größere Sekretmengen als beim Rasseln

Giemen



spastische Verengungen der Luftwege Verlegung mit zähem Schleim (z. B. bei Asthma bronchiale)







Stöhnen



Atemnotsyndrom bei Früh- und Neugeborenen (exspiratorisches Stöhnen)

Schniefen



verlegte Nasenatmung

Schluckauf (= schnappartige Atembewegungen bei geschlossener Stimmritze)



Reizung des Zwerchfells gehäufter oder scheinbar unstillbarer Schluckauf bei Säuglingen kann Anzeichen einer Regulationsstörung oder selten eines zerebralen Anfalls sein



11

Beobachtungskriterium Husten Räuspern



kleine Schleimmengen abhusten

trockenes, raues Hüsteln



Nervosität

stakkatoartiger Husten (kurz, stoßend, schnell)



mit lautem Aufziehen typisches Zeichen des Keuchhustens (= pertussiform) häufig bei mukoviszidosekranken Kindern



bellender Husten

● ●

trockener Reizhusten

Pseudokrupp tracheale Entzündung



laryngeale oder tracheale Entzündung Reizgaseinwirkung

produktiver Husten (mit Sekret)



häufig Bronchitis

kupierter Husten (nur kurz anklingend, wegen Schmerzen unterdrückt)



Pleuritis schwere Pneumonie





7

Atmen und Kreislauf regulieren

Tab. 11.2 Fortsetzung Abweichungen

mögliche Ursachen

Merke: Zur Hustenbeobachtung gehört auch die Beobachtung der Begleitumstände: z. B. Zeitpunkt, Positionierung, Häufigkeit! Beobachtungskriterium Sputum weißlich



normales Sekret bei Virusinfektionen vermehrt produziert

gelblich



verdicktes Sekret

grün

● ●

eitrige Entzündungen Abszess

grau



Tuberkulose

blutig, rostfarben

● ●

feine Blutbeimengungen Lungenstauung bei Herzfehlern

blutig tingiert



Blutungen der oberen Atemwege

hellrot-schaumig



Rippenfraktur Lungenödem Lungenblutung bei Tuberkulose oder Karzinomen



● ●

Beobachtungskriterium Atemgeruch unangenehmer Mundgeruch (foetor ex ore)

● ● ●

ernährungsabhängig mangelnde Mundhygiene Entzündungen von Zähnen, Mundhöhle, Magen-Darm-Trakt oder der oberen Luftwege

übel riechend



Gewebe- und Zellzerfall

fade süßlich



Lungenabszess Bronchiektasien



Azetongeruch (stechend obstähnlich, wie Nagellackentferner)

● ● ● ●

saure Stoffwechsellage (z. B. bei Coma diabeticum) azetonämisches Erbrechen Fettverbrennung bei Hunger Nahrungsverweigerung/(Heil-)Fasten

Ammoniakgeruch (stechend)

● ●

Nierenstörung Leberstoffwechselstörung

Bittermandelgeruch



Zyankalivergiftung

normale Atmung

11

Cheyne-Stokes-Atmung

Schnappatmung

Kußmaul-Atmung

Biot-Atmung

Abb. 11.2 Atemrhythmus. Grafische Darstellung typischer Atemmuster.

248

Abb. 11.3 Dyspnoe. Das Kind setzt sich aufrecht, um die Atemhilfsmuskulatur einzusetzen (Symbolbild). (Foto: P. Blåfield, Thieme)

11.4 Atmung: Pflegemaßnahmen

11.4.1 Luftqualität Merke jugular

H ●

Eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine ungestörte Atmung ist eine gute Luftqualität.

klavikular

interkostal

sternal

epigastrisch

Abb. 11.4 Einziehungen. Haut und Gewebe können aufgrund von Atembehinderungen an verschiedenen Stellen eingezogen werden.













Hat das Kind z. B. immer leichte Einziehungen oder Atemgeräusche? Was ist das normale Hautkolorit des Kindes? Wird die Atemstörung durch Angst und Unruhe verstärkt? Ist die Atemstörung abhängig von der Tageszeit (Husten nachts oder morgens) oder bestimmten Tätigkeiten (essen, trinken oder körperliche Anstrengung)? Wie reagiert das Kind auf unterschiedliche atemerleichternde Maßnahmen – toleriert es atemerleichternde Positionen, Inhalationen usw.? Welche atemerleichternden Maßnahmen führten bei diesem Kind bereits zu Erfolgen?

11.4 Atmung: Pflegemaßnahmen Merke

H ●

Atemunterstützende Pflegemaßnahmen sollen eine ungestörte Atemtätigkeit gewährleisten oder wiederherstellen, sodass ein ausreichender Gasaustausch sichergestellt ist.

Pflegeziel bei chronischen atmungsbeeinflussenden Erkrankungen ist es, eine Atemerleichterung zu bewirken. Außerdem muss der Angst des Kindes, die durch die Atemstörung auftritt, beruhigend entgegengewirkt werden.

Im Krankenhaus kann eine gute Luftqualität durch regelmäßiges Lüften erreicht werden. Verbrauchte Luft in ungelüfteten Krankenzimmern ist nicht nur ein ideales Milieu für Krankheitserreger, sondern beeinträchtigt auch das allgemeine Wohlbefinden der Patienten erheblich. Beim Lüften sollten Zugluft und ein allzu starkes Abkühlen der Luft, besonders auf den Säuglingsstationen, vermieden werden. Kälteempfindliche Kinder müssen dabei immer ausreichend angekleidet und zugedeckt sein. Unter diesen Voraussetzungen ist auch eine Freiluftbehandlung gerade bei Kindern mit Störungen des Atemsystems sehr förderlich. In klimatisierten Räumen, in denen das Lüften verboten ist, besteht häufig die Gefahr von Lufttrockenheit. Bei Patienten mit empfindlichen oder erkrankten Atemwegen sollte an zusätzliche Luftbefeuchtung gedacht werden.

Eltern

a ●

Bei gefährdeten Kindern sollten die Pflegefachkräfte die Familien über Maßnahmen zur Verbesserung des Raumklimas im häuslichen Umfeld aufklären. Eltern und ältere Kinder sollten auf die schädigende Wirkung des Rauchens hingewiesen werden, besonders, wenn sich bereits ein Patient mit Atemwegserkrankungen in der Familie befindet.

Bei Kindern mit chronisch stark geschädigten Atemwegen kann ggf. sogar ein Umzug in eine Umgebung mit förderlicher Luftqualität angestrebt werden.

11.4.2 Atemtechnik Eine richtige Atemtechnik ist unverzichtbar für eine ungestörte Atmung. Eine beeinträchtigte Atmung, bei der nicht alle Lungenabschnitte gut belüftet werden, zieht bereits neue Gefahren nach sich, z. B. Sekretanschoppung und Keimansiedlung. Das Kind wird angehalten, ganz bewusst und in Ruhe die Bauchatmung durchzuführen. Im Sitzen und in Rückenlage wird beobachtet, wie der Bauch beim Atmen „dick“ und beim Ausatmen wieder „dünn“ wird (▶ Abb. 11.2). Um die Zwerchfellaktivität zu erspüren, kann das Kind die Hände ans Zwerchfell halten.

Größere kooperative Kinder können zum bewussten, tiefen Durchatmen angeregt werden. Um die unteren Lungenbezirke besser zu belüften, kann die Pflegefachkraft dem Kind die Flankenatmung durch Auflegen der Hände an die Flanken bewusst machen, sog. Kontaktatmung (S. 253). Das Kind kann dies auch selbst oder mithilfe eines Gurtes durchführen.

Lernaufgabe

M ●

Erspüren Sie Ihre eigene Atmung, indem Sie Ihre Hände zunächst eine Weile auf den Bauch, dann in die Flanken legen.

11.4.3 Atemunterstützende Körperpositionen Atemerleichterung, Belüftung oder Entlastung beeinträchtigter Lungenabschnitte werden durch gezielte Körperpositionen erreicht. Für atemunterstützende Körperpositionen stehen mehrere Varianten zur Verfügung.

Praxistipp Pflege

Z ●

Allgemein gilt: Hochliegende, gedehnte Lungenabschnitte werden besser belüftet. Die Position des Kindes wird regelmäßig gewechselt bzw. ein aktiver Wechsel der Körperposition unterstützt, sodass alle Lungenbezirke gleichmäßig belüftet und gedehnt werden, sofern keine anderen Indikationen für spezielle Positionen bestehen. Das Kind muss sich mit der atemunterstützenden Körperposition wohlfühlen und entspannt liegen können.

11

Atemerleichternde Ausgangsstellungen Für Kinder mit chronischen Atemwegserkrankungen ist es sinnvoll, in Schulungen Körperpositionen (sog. Ausgangsstellungen) zu lernen, die die Kinder einnehmen können, um die Atmung zu erleichtern. Dazu gehören z. B. der Kutschersitz, die Torwartstellung, Anlehnen an Wände oder Möbelstücke. Die atemerleichternden Ausgangsstellungen werden im Kap. Pflege von Kindern mit Störung des Atemsystems (S. 570) dargestellt.

9

Atmen und Kreislauf regulieren

Atemunterstützende Körperpositionen im Bett



Pneumonielage

11

250

Zur Vorbeugung von Atemstörungen und zur Linderung einer bereits bestehenden Atembehinderung eignet sich insbesondere die klassische Pneumonielage: ● Der Oberkörper des Kindes wird bis zu 45° erhöht. ● Eine zusätzliche Unterpolsterung des Brustkorbes oder des gesamten Oberkörpers bewirkt eine Dehnung und damit eine Vergrößerung der Atemfläche. ● Bei großen Kindern wird der Thorax mit Kissen gedehnt und die Knie werden unterpolstert, um die Bauchdecke zu entspannen und ein Abrutschen des Kindes aus dieser Lage zu verhindern. Atemerleichternd wirkt auch eine Unterstützung der Arme. ● Bei Säuglingen wird die Dehnung des Brustkorbes je nach Größe mit einem gefalteten Moltontuch oder einer gefalteten Stoffwindel durchgeführt. Anstatt der Knierolle wird unterhalb des Gesäßes ein gerolltes Moltontuch gelegt. Alternativ kann hierfür auch ein Hufeisenkissen verwendet werden. Dieses stützt das Kind auch zu den Seiten hin, sodass es nicht aus der atemerleichternden Positionierung abrutschen kann, sich in dieser Position wohler fühlt und ruhiger wird. ● Zusätzlich zur Thoraxdehnung sollte auch der Kopf des Säuglings so unterlegt werden, dass er nicht zurückfällt, da dies die Atmung zusätzlich behindern würde. ● Insbesondere bei kleinen Frühgeborenen sollte die Unterpolsterung des Thorax nicht zu extrem vorgenommen werden, weil sie eine krankhafte Tendenz zum Überstrecken des Kopfes (Opisthotonus) verstärken könnte und durch die dadurch verursachte Rippenstellung die Atmung sogar erschweren könnte. Eine sog. „3-Stufen-Lage“ (S. 518), bei der das Molton- oder Mulltuch beginnend von der Hüfte zunächst 1-mal gefaltet, unter dem Thorax 2-mal gefaltet und unter dem Kopf 3-mal gefaltet wird, bewirkt eine physiologischere Körperhaltung und hierdurch eine entspannte atemerleichternde Körperposition (s. auch ▶ Abb. 24.7).







V-Lage: Die V-Lage unterstützt die Dehnung der unteren Lungenanteile. Die Hilfsmittel werden V-förmig unter das Kind gebracht, sodass sich die Kissen oder Moltontücher im Beckenbereich überschneiden (▶ Abb. 11.5a). A-Lage: Die A-Lage bewirkt eine Dehnung der oberen Lungenanteile. Die Hilfsmittel werden so A-förmig unter das Kind gelegt, dass sich die Spitze unter den Schulterblättern befindet (▶ Abb. 11.5b). T-Lage: Die T-Lage erzielt eine Dehnung der unteren, mittleren und oberen Lungenanteile. Die Hilfsmittel werden Tförmig unter das Kind gelegt, sodass das Kind mit der Wirbelsäule auf dem Längskissen liegt. Die Lage des Querkissens kann je nach Indikation variiert werden (▶ Abb. 11.5c). I-Lage: Die I-Lage dient zur leichten Dehnung des gesamten Brustraums. Sie besagt, dass sich ein Kissen oder Moltontuch entlang der Wirbelsäule des Kindes befindet (▶ Abb. 11.5d).

Diese Positionierungen werden üblicherweise in flacher Rückenlage durchgeführt.

Praxistipp Pflege

Bei Kindern muss bei dem Einsatz der Hilfsmittel zur Positionierung je nach Alter und Größe variiert werden. So kommen Mullwaschlappen oder Mullwindeln bei Säuglingen, Moltontücher bei Kleinkindern und schließlich kleine Kissen bei Schulkindern zum Einsatz. Damit Säuglinge nicht aus der angestrebten Lage herausrutschen, werden sie mit einem Nestchen/einer Stützschlange umlagert. Das Kind benötigt trotz Dehnlage eine größtmögliche Bewegungsfreiheit, da aktive Bewegung die Lungenbelüftung unterstützt.

Die beschriebenen Körperpositionen sind Vorschläge, die je nach Befinden und Vorlieben des Kindes variiert werden können und sollen. Es ist sinnvoller, nicht die Position auszuführen, die „besser aussieht“, sondern bei der sich das Kind wohler fühlt, es entspannter atmen kann und es ihm subjektiv und objektiv besser geht. Bei Säuglingen wird z. B. eine Atemerleichterung meistens durch Unterlagern des gesamten Oberkörpers erzielt. Dies ist sowohl in Rückenlage als auch in Hängebauchlage möglich (▶ Abb. 11.7).

Merke a

Z ●

H ●

Die o. g. Körperpositionen werden in der Pflege von Frühgeborenen nicht angewendet. Geeignete Körperpositionen für Frühgeborene werden im Kap. Pflege von Frühgeborenen Entwicklung physiologischer Bewegungsmuster (S. 518) dargestellt.

b

c

Hilfsmittel, wie Nestchen und Stützschlangen, sind eine Unterstützung für kranke Kinder, bei gesunden Säuglingen im 1. Lebensjahr sollte nach den Empfehlungen der SIDS-Prophylaxe (S. 426) auf diese Hilfsmittel verzichtet werden.

Eltern

V-, A-, T-, I-Positionen

d

Weitere Möglichkeiten der gezielten Dehnung einzelner Lungenbezirke sind folgende, nach der Anordnung der Hilfsmittel benannte, unterstützte Körperpositionen:

Abb. 11.5 Atemunterstützende Positionen. a V-Lage. b A-Lage. c T-Lage. d I-Lage.

a ●

Die Eltern sind hierüber aufzuklären, dass sie diese Hilfsmittel nach der Krankenhausentlassung nicht ohne ärztlichen Rat weiter anwenden.

11.4 Atmung: Pflegemaßnahmen

Dehnlagen Definition

L ●

Dehnlagen sind Körperhaltungen, die vom Kind zeitlich begrenzt eingenommen werden, um gezielt bestimmte Lungenbezirke zu dehnen und zu mobilisieren.

Sie sind sowohl bei akuten Gesundheitsstörungen der Atemwege geeignet (etwa zur Öffnung von Atelektasen) als auch in besonderem Maße bei Kindern mit chronischen Störungen der Atemwege (z. B. Asthma oder Mukoviszidose), um langfristig die Lungenbelüftung und Thoraxmobilität zu fördern und zu erhalten. Daher ist es nicht nur wichtig, dass das Kind diese Körperhaltungen einnimmt, sondern dass es sich mehrmals täglich von einer Ruheoder Ausgangsposition in die gewünschte Dehnlage begibt, eine Weile verharrt und sich dann langsam zur Ausgangsstellung zurückbewegt. Dabei kommen folgende Dehnlagen zum Einsatz: ● Halbmond: Das Kind bewegt sich aus der Rückenlage in eine halbmondförmige Lage, indem es z. B. eine Hand hinter den Kopf legt und die andere so weit wie möglich an der Körperseite nach unten bewegt. Hierdurch werden die oberen und seitlichen Lungenbezirke der Gegenseite gedehnt (▶ Abb. 11.6a).







Schraube: Das Kind bewegt sich aus einer entspannten Seitenlage nur mit dem Oberkörper zur Gegenseite und dehnt damit die unteren und seitlichen Lungenbezirke (▶ Abb. 11.6b). Rutschbahn: Aus dem Fersensitz gleitet das Kind mit den Händen auf der Unterlage nach vorn, bis es mit dem Gesäß möglichst weit oben ist (▶ Abb. 11.6c). Es werden so seitliche und rückwärtige Lungenabschnitte gedehnt. Die Ruheposition nach dieser Stellung kann im „Päckchen“ (▶ Abb. 11.6d) oder in der Hängebauchlage sein. Knoten: Im entspannten aufrechten Sitz stellt das Kind ein Bein über das andere und dreht den Oberkörper gleichzeitig zur Gegenseite. Hierbei werden untere und seitliche Lungenbezirke gedehnt (▶ Abb. 11.6e).

Merke

H ●

Für Kinder mit Wirbelsäulen- und Hüftleiden dürfen die Dehnlagen nur nach ärztlicher Rücksprache eingenommen werden.

Lagerungsdrainagen Sekretverlegte Bronchien durch Lagerungsdrainagen (▶ Abb. 11.7):

werden gereinigt







Rücken-, Rechts- und Linksseitenlage sowie Bauchlage, in Hoch-, Flach- und Kopftieflage werden abwechselnd für eine begrenzte Zeit eingenommen und die Sekretlösung durch Vibration gleichzeitig gefördert. Eine Bauchlage darf beim Säugling wegen der Gefahr des plötzlichen Kindestodes nicht ohne Monitorkontrolle oder kontinuierliche Beobachtung durchgeführt werden. Die Kopftieflage wird nur während der Vibration, aber nicht über längere Zeit belassen, da sie unangenehm für das Kind sein kann. Die Kopftieflage ist bei Früh- und Neugeborenen kontraindiziert, da die Gefahr der Hirndrucksteigerung mit der Folge einer Hirnblutung zu groß ist.

11.4.4 Atemübungen Kindgerechte Atemübungen Zu den kindgerechten Atemübungen gehören das Spiel mit Seifenblasen und das Aufblasen von Luftballons. Mit Strohhalmen können Kinder bereits ab dem Kindergartenalter in Wassergläsern „blubbern“ und haben meistens sehr viel Freude daran. Singen und herzhaftes Lachen wirken sich positiv auf die Atmung aus. Allerdings können sich kurzfristig bereits bestehende Symptome erneut verstärken. So treten bei diesen „Atemübungen“ oder auch bei spontanem Toben und Spielen verstärkt

11

Abb. 11.6 Dehnlagen. a Halbmond, (Foto: P. Blåfield, Thieme) b Schraube, (Foto: P. Blåfield, Thieme) c Rutschbahn nach vorne, (Foto: P. Blåfield, Thieme) d Päckchen, (Foto: P. Blåfield, Thieme) e Knoten. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

1

Atmen und Kreislauf regulieren

Vibration Mundstück Luftauslass

Vibration

Rückenlage, flach

Rückenlage, Oberkörper hoch

Trichter Metallkugel

Vibration Abb. 11.8 Vario-Resistance-PressureGerät (Flutter). Je nach Neigung des „Pfeifchens“ können unterschiedliche Atemwegswiderstände erzeugt werden.

Vibration

Seitenlage, Kopf tief, rechts

Seitenlage, flach

Vibration Vibration

Seitenlage, Kopf tief, links

Hängebauchlage

Abb. 11.9 Inspirationstrainer. Durch tiefes Einatmen hebt sich der Ball. (Foto: K. Oborny, Thieme)

Abb. 11.7 Drainagelagerungen. Kopftieflage nicht bei Frühgeborenen anwenden.

Hustenanfälle und Atemnot auf, da durch die vertiefte Atmung Sekret gelöst werden kann.

11

Merke

H ●

Kinder sollten Atemübungen nicht allein durchführen. Es besteht die Gefahr, dass sie hyperventilieren.

Am einfachsten erreichen die Kinder eine tiefe Atmung, wenn bei den Atemzügen laut in der altersgemäßen Normfrequenz mitgezählt wird. Hierbei darf dem Kind aber keinesfalls ein Atemrhythmus vorgegeben werden, der ihm nicht entspricht. Daher ist es sinnvoll, zuerst die Atemzüge des Kindes intensiv zu beobachten und sich beim Mitzählen an den kindlichen Rhythmus anzupassen. Möglich ist auch der Einsatz von ruhiger Musik, deren Rhythmus klar erkennbar ist und den gleichmäßigen Atemrhythmus des Kindes unterstützt. Atemübungen werden in Ruhe für mindestens 5 – 10 Minuten mehrmals täglich durchgeführt.

252

Einsatz von Atemtrainern Spezielle Atemtrainer sind dazu konstruiert, die positiven Effekte der Atemübungen gezielt zu verstärken. ▶ Lippenbremse. Ohne Hilfsmittel ist es möglich, bei der Ausatmung durch die geschlossenen Lippen einen erhöhten Atemwegswiderstand zu erzeugen. Hierdurch werden die Atemwege erweitert, Sekrete gelöst und die Atemmuskulatur gestärkt. Sie wird insbesondere von Kindern mit Asthma bronchiale erlernt (S. 573), da sie bei beginnenden Beschwerden überall verfügbar und einsetzbar ist. ▶ Blubberflasche. Sie ist ein einfaches, selbst konstruierbares Hilfsmittel, das den Atemwegswiderstand erhöht. Es handelt sich dabei um eine wassergefüllte Flasche, in die ein Schlauch gehängt wird. Das Kind bläst durch den Schlauch, sodass Blasen im Wasser aufsteigen. Die Eintauchtiefe des Schlauches bestimmt dabei den Atemwiderstand. ▶ Vario-Resistance-Pressure-Gerät (VRP)/Flutter. Bei dem auch als Flutter bekannten, pfeifenähnlichen Gerät wird

eine Metallkugel durch den Druck der Ausatmung angehoben (▶ Abb. 11.8). Je nach Neigung des Flutters können unterschiedliche Atemwegswiderstände erzeugt werden. Durch den Atemwegswiderstand werden die Alveolen erweitert. Eine intermittierende Betätigung des Flutters bringt die Ausatemluft in den Bronchien zum Schwingen und unterstützt damit die Sekretmobilisation. ▶ Cornet. Dies ist ein hornähnliches Gerät, das beim Hineinblasen Druckschwankungen erzeugt, den Bronchiendurchmesser erweitert und schleimlösend wird. Das Cornet kann lageunabhängig verwendet werden. ▶ Inspirationstrainer. Mit diesen Geräten (z. B. Triflo, Inspirat, Mediflo, Triball) lassen sich bei der Inspiration bestimmte Effekte erzielen. Sie zeigen entweder die Atmungsströmung und das Volumen an oder lassen kleine Bälle durch den Flow anheben. Die Inspiration soll damit verstärkt und verlängert werden. Hierdurch gelangt die Atmung in minderbelüftete Lungenabschnitte und verhindert hier eine Sekretanschoppung und die damit verbundene Pneumoniegefahr (▶ Abb. 11.9).

11.4 Atmung: Pflegemaßnahmen ▶ Peak-Flow-Meter. Beim schnellen Ausatmen durch das Gerät zeigt es die maximale Sekundenkapazität an. Es dient üblicherweise zur Verlaufskontrolle der aktuellen Lungenfunktion bei Kindern mit chronischen Atemwegsstörungen, s. Kap. Pflege von Kindern mit Störungen des Atemsystems (S. 570). Da die Kinder im Einsatz dieses Gerätes manchmal einen „sportlichen Ehrgeiz“ entwickeln, die Werte zu verbessern, kann das Gerät unter Aufsicht auch zum Training der Sekundenkapazität eingesetzt werden.

Die Hände werden dann gleichzeitig mit kreisenden Bewegungen, die sich der gewünschten Normfrequenz der Atmung anpassen, in Richtung Steiß geführt, wobei der Druck unmittelbar neben der Wirbelsäule leicht verstärkt wird (▶ Abb. 11.10). Bei sehr kleinen Säuglingen muss die Technik individuell abgewandelt werden. Hier können die atemstimulierenden Kreise mit den Fingern oder Daumen bei einem in Bauchlage liegenden Kind ausgeführt werden.

11.4.5 Atemstimulierende Einreibungen

Kontaktatmung

Mit atemstimulierenden Einreibungen kann eine gleichmäßige, ruhige und vertiefte Atmung erzielt werden. Das Kind sitzt bequem vor der Pflegefachkraft. Bei sehr kranken Kindern können im Liegen die Thoraxhälften in Halbseiten- oder Bauchlage einzeln nacheinander eingerieben werden. Mit bloßen, warmen Händen wird eine unparfümierte Wasser-in-Öl-Lotion in Haarwuchsrichtung auf den Rücken des Kindes aufgetragen.

Merke

H ●

Wichtig dabei ist, dass die Hände der Pflegefachkraft vom Patienten als Einheit gespürt werden können, d. h., dass die Finger nicht gespreizt oder gekrümmt werden. Eine Hand bleibt immer in Körperkontakt.

Mit ihrer Hilfe werden die Atembewegungen des Thorax und des Bauches durch Auflegen der Hände an Thorax, Bauch und Flanken vertieft (▶ Abb. 11.11). Die Hände der Pflegefachkraft versuchen, sich in die Atembewegungen des Kindes einzufühlen, und machen ihm seine Atmung erfahrbarer. Bei der Ausatmung wird der Druck der Hände etwas verstärkt und verlängert, sodass anschließend eine vertiefte Einatmung erfolgt. Meistens hat diese Maßnahme auch einen sehr beruhigenden Effekt auf die Kinder und durch die Beruhigung tritt eine zusätzliche Verbesserung der Atemqualität ein.

11.4.6 Sekretlockernde Maßnahmen Viele Atemwegserkrankungen gehen mit vermehrtem und/oder eingedicktem Sekret einher, das nur schwer abgehustet werden kann. Dieses bietet einen Nährboden für Erreger. Um die Atemwege wieder freizubekommen, ist es notwendig, das Sekret zu lösen.

Vibration Eine Möglichkeit der Sekretlösung ist die Vibration. Sie ist eine physiotherapeutische Maßnahme und geschieht auf ärztliche Anweisung bzw. nach Rücksprache mit dem behandelnden Arzt. Die Pflegefachkräfte führen die Vibration nach Einweisung durch die Physiotherapeuten selbstständig durch.

Merke

H ●

Die Vibration ist kontraindiziert bei Rippenfrakturen, Lungenblutungen, Lungenembolie, erhöhtem Hirndruck und nach Operationen im Thorax- oder Bauchbereich.

Vibrationen erfolgen bei Kindern mit den Händen, seltener mit dafür geschaffenen Hilfsmitteln.

Praxistipp Pflege

Z ●

Der Vibrationseffekt kann verstärkt werden, wenn das Kind auf ein Luftkissen oder über einen Wasser- oder Gymnastikball gelegt wird. Der Einsatz dieser Hilfsmittel sollte spielerischen Charakter haben. Als weitere spielerische Hilfsmittel zur Sekretmobilisation stehen bei wenig beeinträchtigten Kindern Trampolin, Hüpfbälle oder Hüpfpferdchen zur Verfügung.

▶ Schüttelungen. Einen Vibrationseffekt erzielen auch die Schüttelungen, bei denen rhythmische Bewegungen von einem

11

Einatmung

Ausatmung

Abb. 11.10 Atemstimulierende Einreibung. Die Hände werden mit kreisenden Bewegungen in Richtung Steiß geführt. (Foto: A. Fischer, Thieme)

Abb. 11.11 Kontaktatmung. a Beim Säugling, (Foto: P. Blåfield, Thieme) b beim größeren Kind. (Foto: M. Hoehl)

3

Atmen und Kreislauf regulieren Körperteil des Kindes so ausgeführt werden, dass sich die leichten Schwingungen auf den Brustkorb übertragen. Diese Technik wird meist durch die Physiotherapeuten oder nach deren Anleitung durchgeführt.

Ätherische Substanzen und Heilkräuter Die Effektivität der manuellen oder apparativen Sekretlösung kann durch den äußerlichen oder innerlichen Einsatz ätherischer Substanzen und Heilkräuter gesteigert werden. Ätherische Substanzen können bei der Anwendung als Wickel (S. 293) für 30 – 45 Minuten auf dem Brustkorb des Patienten belassen werden.

Merke

● H

Bei Säuglingen und Schwangeren muss auf die Verwendung ätherischer Substanzen und Heilkräuter, die nicht ausdrücklich zur Anwendung bei Säuglingen bzw. Schwangeren bestimmt sind, verzichtet werden, weil diese besonders empfindlich darauf reagieren können. Bei Überdosierung und falscher Anwendung wurden eine Vergrößerung der Atemnot, Allergien sowie Nebenwirkungen auf den Kreislauf und das MagenDarm-System beobachtet.

Das Interesse am Gebrauch von Heilkräutern und ätherischen Substanzen ist gerade bei der Pflege von Kindern mit Störungen der Atemwege sehr groß. Sie werden insbesondere auch in der außerklinischen Gesundheits- und Kinderkrankenpflege verstärkt verwendet. Um die vermeintlich harmlosen Substanzen richtig anwenden zu können, sind in ▶ Tab. 11.3 wichtige Grundlagen aufgeführt. In speziellen Fort- und Weiterbildungen zur Aromapflege und naturheilkundlicher Pflege können Pflegefachkräfte dieses Wissen vertiefen. Diese Fortbildungen qualifizieren für die beratende und prophylaktische Anwendung. Dieses entbindet jedoch nicht von der Notwendigkeit einer ärztlichen Anordnung, wenn therapeutisch damit gearbeitet wird. Im Idealfall wird die Anwendung der Phytotherapeutika vom gesamten Team unterstützt.

H ●

Merke

Je kleiner das Kind, umso kritischer sollte der Einsatz von ätherischen Substanzen erwogen und umso sorgfältiger müssen Einsatz und Dosierung der Substanzen überwacht werden. Auch bei einem Verzicht auf ätherische Substanzen können feuchtwarme Wickel lindernde Wirkung auf Atemwegsbeschwerden haben.

11.4.7 Sekretlösende Maßnahmen Definition

L ●

Inhalationen dienen zur Sekretverflüssigung durch Anfeuchten der Atemluft

Als sekretlösende Maßnahmen stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung (▶ Tab. 11.4): Kalt- und Warmluftbefeuchtung sowie Inhalation. Unterstützend ist die Flüssigkeitszufuhr zu beachten.

Raumluftbefeuchtung Beheizte oder klimatisierte Räume weisen häufig eine geringe Luftfeuchtigkeit auf, was Probleme der Atemwege verstärken kann. Ein ideales Raumklima wird durch regelmäßiges effektives Stoßlüften erreicht. Maßnahmen zur Raumluftbefeuchtung mit feuchten Tüchern oder Ultraschallverneblern im Dauergebrauch müssen unter hygienischen Gesichtspunkten kritisch betrachtet werden. Neuere Ultraschallverneblungsgeräte wurden zur kurzfristigen Verneblung als Alternative zur kompressorgesteuerten Inhalationstherapie entwickelt.

Tab. 11.3 Gebräuchliche Substanzen, die in Teezubereitungen, Hustenbonbons, Erkältungsbädern und Einreibungsmitteln häufig verwendet werden.

11

254

Substanz

Wirkung

Anwendung

Hinweis

Anis

expektorierend, antiseptisch

innerlich

Allergien möglich

Efeu

spasmolytisch, expektorierend

innerlich

gut verträglich

Eibisch

reizlindernd

innerlich

gut verträglich

Eukalyptus

sekretomotorisch, expektorierend

äußerlich und innerlich

nicht anwenden bei Kindern unter 2 Jahren, bei Leber- oder Gallenerkrankungen

Fichtennadel

sekretolytisch, antiseptisch

meist äußerlich

nicht anwenden bei obstruktiven Atemwegserkrankungen, Keuchhusten

Holunder

sekretolytisch

innerlich

gut verträglich

Latschenkiefer

sekretolytisch, antiseptisch

meist äußerlich

nicht anwenden bei obstruktiven Atemwegserkrankungen, Keuchhusten

Lindenblüten

expektorierend, reizlindernd

innerlich

gut verträglich

Malve

reizmildernd

innerlich

gut verträglich

Pfefferminz

sekretolytisch, antibakteriell

äußerlich und innerlich

nicht anwenden bei Gallen- und Lebererkrankungen, Säuglingen im 1. Lebensjahr, gleichzeitiger homöopathischer Therapie

Primel

sekretolytisch, sekretomotorisch

meist äußerlich

Allergien möglich

Spitzwegerich

reizmildernd, adstringierend, antibakteriell

innerlich

gut verträglich

Süßholzwurzel (Lakritz)

sekretolytisch, sekretomotorisch, spasmolytisch, antiphlogistisch

innerlich

nicht für Schwangere, Säuglinge, Kleinkinder und Menschen mit Bluthochdruck, Leber-, Niereninsuffizienz geeignet, nicht für übermäßigen Gebrauch bestimmt

Thymian

bronchospasmolytisch, expektorierend, antiseptisch

äußerlich und innerlich

gut verträglich

11.4 Atmung: Pflegemaßnahmen

Tab. 11.4 Wirkungsorte und Applikationsformen inhalativer Sekretverflüssigung. Partikelgröße (µm)

Eindringtiefe

Applikationsform

bis 3

gelangen in die Alveolen

Inhalette, Pari-Boy

bis 10

gelangen in die Bronchien

Ultraschallvernebler

bis 100

gelangen in die oberen Luftwege

Defensor, Luftbefeuchter für den Hausgebrauch

über 100

gelangen nicht in die Atemwege

Raumluftbefeuchtung unter 80 % Feuchte

Warmluftbefeuchter zur kontinuierlichen Luftbefeuchtung sind angenehm für das Kind. Sie können z. T. mit geschlossenen Wassersystemen oder mit einer Sauerstoffapplikationsmöglichkeit kombiniert werden. Eine genaue Information über den sach- und fachgerechten Umgang mit diesen Geräten ist der jeweiligen Bedienungsanleitung zu entnehmen.

Merke

H ●

Abb. 11.12 Inhalation (Symbolbild). (tiagozr – stock.adobe.com)

Eine zu starke Raumluftbefeuchtung kann zu unerwünschter Kondensation mit der Gefahr von Schimmelbildung führen. Ein regelmäßiger Luftaustausch ist daher zu gewährleisten.

Praxistipp Pflege



Inhalation Die Inhalation mit druckluftgesteuerten bzw. kompressorgesteuerten Aerosolbildnern erlaubt eine zeitlich begrenzte Verneblung. Die druckluftbetriebene Inhalation ist zur Verneblung von physiologischer Kochsalzlösung sowie gelösten Medikamenten sehr gut geeignet (▶ Abb. 11.12). Die Druckluft zerstäubt das Inhalat in kleinste Teile. Dadurch können gelöste Medikamente bis in die Alveolen vordringen. Bei der Inhalation sind folgende Kriterien zu beachten: ● Während der Inhalation muss der Flüssigkeitsbehälter aufrecht gehalten werden. Um eine Inhalation bei liegenden Kindern zu ermöglichen, gibt es spezielle Kinderaufsätze mit Winkeleinsätzen. ● Kleine Kinder inhalieren mit einer Gesichtsmaske, die lose über Mund und Nase gelegt wird. Die Maske darf auf keinen Fall angedrückt werden. Leider gelangt bei dieser Anwendung ein Großteil des Inhalates in die Raumluft. ● Es empfiehlt sich, das Kind auf den Schoß zu nehmen, damit es keine Angst bekommt (Angst verschlechtert die Atmung!). Mit viel Fantasie muss dem Kind die Inhalation spielerisch interessant gemacht werden. ● Eltern können ihr Kind unter Anleitung inhalieren lassen. Dies verstärkt die Akzeptanz der Maßnahme beim Kind. Außerdem müssen in der Klinik begonne-

▶ Hygiene. Die Geräte sind gemäß der Bedienungsanleitung zu benutzen und zu reinigen. Üblich sind folgende hygienische Maßnahmen: Nach der Verneblung von Medikamenten wird das Gerät mit destilliertem Wasser nachvernebelt, damit die Düse sich nicht mit Medikamentenrückständen zusetzt. Jeder Inhalieraufsatz ist jeweils für einen Patienten bestimmt. Er wird täglich in der Instrumentenspülmaschine thermisch desinfiziert und anschließend sterilisiert. Für die Anwendung in der Klinik steht auch Einmalmaterial als Inhalieraufsatz zur Verfügung. Alle weiteren Teile des Inhaliergerätes werden einer täglichen Desinfektion mit einem Flächendesinfektionsmittel unterzogen. In häuslicher Umgebung wird der Inhalieraufsatz gemäß den Herstellerangaben, z. B. im Vaporisator, aufbereitet. Wenn das Inhaliergerät nicht regelmäßig verwendet wird, sollte es in ein sauberes fusselfreies Tuch eingeschlagen werden.







ne inhalative Maßnahmen häufig auch im häuslichen Umfeld durch die Eltern weitergeführt werden. Nach der Inhalation mit der Gesichtsmaske benötigt das Gesicht eine besondere Hautreinigung und -pflege. Größere Kinder setzen sich auf und inhalieren selbstständig unter Aufsicht mithilfe eines Mundstückes. Das Mundstück wird auf die Zunge gelegt und fest mit dem Mund umschlossen. Die Kinder werden angehalten, ruhig und gleichmäßig durch den Mund zu atmen. Bei einigen Geräten kann der Luftstrom unterbrochen werden, sodass es den Kindern möglich ist, die Verneblung nur in der Inspirationsphase auszulösen. Bei der Inhalation von Medikamenten sind die Wirkungen und Nebenwirkungen der Medikamente zu beachten. Das Kind braucht ggf. eine besondere Pflege oder Beobachtung, d. h. besondere Haut- bzw. Schleimhautpflege, um Medikamentenrückstände zu entfernen, oder Vitalzeichenkontrollen, vgl. Kapitel: Atmen (S. 244), Puls (S. 261), Blutdruck (S. 266) und Körpertemperatur regulieren (S. 273).

Praxistipp Pflege

Z ●

Da die Inhalationen Sekret lösen sollen, verursachen sie häufig unmittelbar nach dem Inhalieren Hustenanfälle. Daher ist es sinnvoll, die Inhalationen einige Zeit vor den Mahlzeiten durchzuführen, damit das Kind beim Husten nicht erbricht.

Z ●

Falls Kinder die Inhalation mit dem Kompressorinhalator nicht tolerieren, kommt die Anwendung von Dosieraerosolen (S. 576) auch schon bei Kleinkindern infrage. Allerdings kann hiermit nur das benötigte Medikament, aber nicht zusätzliche Befeuchtung in die Atemwege gebracht werden.

Feuchtigkeitsbewahrung Bei tracheotomierten Kindern dient der Einsatz sog. künstlicher Nasen dazu, die Atemwege feucht zu halten. Hierbei handelt es sich um Filter, die die Flüssigkeit aus der Exspirationsluft an seinem Material kondensieren lassen und bei der Einatmung die Atemluft automatisch wieder befeuchten.

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Flüssigkeitszufuhr Die Konsistenz des Bronchialschleims ist abhängig vom Flüssigkeitshaushalt. Deswegen ist eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr (S. 351) eine notwendige Voraussetzung für alle sekretverflüssigenden Maßnahmen. Es muss beachtet werden, dass Kinder mit Infekten häufig zusätzliche Flüssigkeit durch Fieber und verstärktes Schwitzen sowie Erbrechen und Durchfall verlieren. In Abhängigkeit vom Alter des Kindes sowie einer ggf. vorhandenen Kontraindikation werden zusätzliche Getränke nach Wunsch angeboten. Milch ist als Getränk eher ungeeignet, da sie die Schleimproduktion im Rachenraum verstärkt.

5

Atmen und Kreislauf regulieren

Abb. 11.14 Endotracheales Absaugen. Im häuslichen Bereich durch die Mutter. (Foto: P. Blåfield, Thieme) Abb. 11.13 Körperwarme Quarkauflage. a Der frische Quark wird 0,5 – 1 cm dick auf einem Tuch ausgestrichen und mit der Quarkseite auf die Haut aufgelegt. (Foto: P. Blåfield, Thieme) b Anschließend wird die Auflage fixiert, damit diese nicht verrutscht. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Körperwarme Quarkauflage Eine weitere Möglichkeit, die Sekretlösung zu unterstützen, ist die körperwarme Quarkauflage (▶ Abb. 11.13). Die Milchsäurebakterien verflüssigen den Schleim und steigern den Abtransport der Gewebeflüssigkeiten. Hierfür wird Speisequark 0,5 – 1 cm dick auf eine Stoffwindel gestrichen und darin eingeschlagen und auf Körpertemperatur erwärmt. Die Quarkauflage wird auf den Brustkorb aufgelegt, mit einem weiteren Tuch vor Verdunstungskälte geschützt und mit einem Netzschlauchverband, Schal oder fertigem Wickelset fixiert. Sie bleibt mindestens 15 Minuten am Körper, der danach gut gereinigt, getrocknet und warm gehalten wird.

11.4.8 Sekretentleerende Maßnahmen Abhusten durch das Kind

11

256

Das bei Atemwegserkrankungen vermehrt produzierte Sekret wird durch Abhusten hinausgefördert. Dies geschieht automatisch über den Hustenreflex. Folgende Maßnahmen können dem Kind das Abhusten erleichtern: ● Kleine Kinder neigen dazu, das Sekret hinunterzuschlucken, was zu Appetitstörungen oder zu Erbrechen führen kann. ● Die Kinder werden nach sekretlösenden Maßnahmen zum Abhusten aufgefordert, sofern sie dies noch nicht von allein tun. Dazu werden sie aufgesetzt und leicht nach vorn gebeugt. In der sitzenden Position fällt es den Kindern leichter abzuhusten. ● Mithilfe einer einfachen Atemtechnik lässt sich das Lösen von festsitzendem Sekret provozieren (Hustenprovokation). Hierbei wird nach einem initialen tiefen Atemzug mehrmals durch die



Nase eingeatmet und beim Ausatmen durch den Mund jeweils aktiv nachgeschoben, unterstützt von möglichst vielen „sch-sch-sch“ Lauten (Kinder spielen hierbei gern „Eisenbahn“). Schmerzen durch Thorax- oder Bauchoperationen können dazu führen, dass das notwendige Abhusten nicht sorgfältig genug geschieht. Ein leichter Gegendruck mit der flachen Hand auf die Wunde lindert die Schmerzen beim Husten.

Zum Auffangen des abgehusteten Sekretes werden reichlich Papiertaschentücher oder ein Sputumbecher bereitgestellt. Sputum kann zu diagnostischen Zwecken auf bestimmten Nährmedien oder in spezielle Laborgefäße gehustet werden. Dazu benötigt man i. d. R. Nüchternsputum, d. h., das Sekret sollte vor dem Frühstück und vor dem Zähneputzen gewonnen werden.

Merke

H ●

Sputum ist grundsätzlich als infektiös anzusehen und zu behandeln. Das Tragen von Einmalhandschuhen und eine sorgfältige Händedesinfektion verhindern das Verbreiten von Krankheitserregern.

Absaugen Definition

L ●

Unter Absaugen wird die Entfernung von Sekret aus den Atemwegen durch Sog mit einem Katheter verstanden.

Absaugen (S. 257) kann oral, d. h. aus dem Mund, nasopharyngeal, d. h. aus Nase und Rachen, oder endotracheal, d. h. aus der Luftröhre, erfolgen. Im Folgenden wird die Vorgehensweise beim oralen und nasopharyngealen Absaugen beschrieben.

Vorbereitung Das Kind wird alters- und situationsgemäß über die geplante Maßnahme informiert. Es wird ihm erklärt, dass ein Schlauch das Sekret aus seinen Atemwegen herauszieht und dass es anschließend weniger husten muss und besser Luft bekommt (▶ Abb. 11.14). Es wird nicht verschwiegen, dass das Absaugen eklig und unangenehm sein kann. Die Pflegefachkraft kann mit dem Kind Zeichen vereinbaren, mit denen es signalisieren kann, wenn es den Absaugvorgang gar nicht mehr akzeptieren kann. Sind solche Zeichen vereinbart, müssen sie selbstverständlich auch eingehalten werden und der Absaugvorgang ggf. unterbrochen und einige Minuten später noch einmal durchgeführt werden. Außerdem werden dem Kind Möglichkeiten gezeigt, wie es sein Sekret entleeren kann, ohne abgesaugt werden zu müssen. Folgendes Material wird benötigt: ● transportables Absauggerät oder Wandanschluss mit Absaugeinheit; Einstellung: –0,2 bar (–0,18 bar bei Frühgeborenen bis maximal –0,4 bar bei Schulkindern) ● sterile Absaugkatheter in verschiedenen Größen (richtet sich nach der Größe des Kindes und der Viskosität des Sekretes) ● Lochpfanne (Fingerdip): Verbindungsstück zwischen Schlauch und Katheter mit Öffnung, über die der Sog hergestellt werden kann (bei geschlossener Öffnung wird abgesaugt) ● unsterile Schutzhandschuhe, bei immunsupprimierten Patienten und Frühgeborenen ggf. sterile Einmalhandschuhe ● Spüllösung ● Abwurf

11.4 Atmung: Pflegemaßnahmen

Merke

H ●

Die Funktionstüchtigkeit des Absauggerätes muss regelmäßig geprüft werden. Bei Kindern, die abgesaugt werden müssen, prüft die Pflegefachkraft die Betriebsbereitschaft des Gerätes zu Beginn ihrer Schicht.

Merke

H ●

Während des Absaugens werden die Reaktion des Kindes, die Beschaffenheit des Sekrets in Menge, Farbe und Konsistenz sowie Beimengungen, z. B. Blut, beobachtet und später dokumentiert. Außerdem wird die Wirkung des Absaugens auf die Atmung beurteilt und die Häufigkeit sowie das Verhalten des Kindes dokumentiert.

Durchführung Das Absauggerät wird auf den gewünschten Sog eingestellt (i. d. R. –0,2 bar; bei Frühgeborenen –0,18 bar bis maximal –0,4 bar bei Schulkindern) und mit der Lochpfanne und dem nur am Ansatz ausgepackten Katheter verbunden. Der Absaugkatheter wird mit einem Schutzhandschuh, bei abwehrgeschwächten Kindern einem sterilen Einmalfolienhandschuh, der Verpackung entnommen. Er wird ohne Sog eingeführt, um keine Schleimhautverletzungen zu verursachen. Dann wird die Lochpfanne geschlossen und der Katheter unter Sog und leichten Drehbewegungen zügig zurückgezogen. Die Dauer des Absaugvorgangs sollte 10 Sekunden nicht überschreiten.

Merke

H ●

Wegen der Aspirationsgefahr und aus hygienischen Gründen wird zuerst tracheal, dann der Mund, dann die Nase abgesaugt. Für einen erneuten Absaugvorgang muss der Katheter gewechselt werden.

▶ Tracheales Absaugen. Siehe Kap. Pflege kritisch kranker Kinder (S. 758). ▶ Orales Absaugen. Dabei wird das Sekret aus den Wangentaschen und unter der Zunge abgesaugt. Das Berühren des weichen Gaumens und des Zäpfchens mit dem Absaugkatheter muss strengstens vermieden werden, weil es starke Ekelgefühle, Brechreiz und eine Vagusreizung hervorrufen kann. ▶ Nasopharyngeales Absaugen. Es wird das Absaugen der Nase zum Zwecke der Sekretentfernung bei verlegter Nasenatmung vom sog. „tiefen“ Absaugen des Rachenraumes unterschieden. Es dient dazu, Sekret abzusaugen, das im Rachen die Atmung behindert. Das tiefe Absaugen ist häufig nach der Geburt z. B. bei mekoniumhaltigem Fruchtwasser und nach dem Erbrechen zur Vermeidung von Aspirationen notwendig.

Nach dem Absaugen sollte die Atmung ruhiger sein und es sollten keine brodelnden Geräusche mehr hörbar sein. Ist es durch die Sekretverlegung zu Beeinträchtigungen der Vitalfunktionen oder der Sauerstoffsättigung gekommen, sollten sich diese Parameter nach dem Absaugen rasch verbessern. Kinder, die sich artikulieren können, können mittels Handzeichen signalisieren, ob Sie sich ausreichend vom Sekret befreit fühlen.

und Unterversorgung der Organe. Dann kann eine Sauerstofftherapie nötig sein.

Grundlagen Definition

Sauerstoff (griechisch Oxygenium) ist ein chemisches Element, das hauptsächlich in einer Verbindung aus 2 Sauerstoffatomen vorkommt, daher die Abkürzung O2.

In der Raumluft befinden sich 21 % Sauerstoff. Von einer Sauerstofftherapie wird gesprochen, wenn die Atemluft mit mehr als 21 % angereichert wird. Die Sauerstofftherapie erfolgt auf ärztliche Anordnung, die folgende Parameter beinhalten muss: ● Dosierung ● Dauer ● Art der Verabreichung ● Überwachungskriterien

Nachsorge Nach dem Absaugen wird der Katheter, um die Hand gewickelt, in den Handschuh hineingezogen, der umstülpend von der Hand gezogen wird. Handschuh und Katheter werden zusammen verworfen. Der Schlauch wird mit der Spüllösung gut durchgespült. Vor und nach dem Absaugvorgang erfolgt eine Händedesinfektion. Das Kind erhält eine sorgfältige Mundund Nasenpflege (S. 311). Für die Anwendung auf Patiententransporten sowie in der häuslichen Pflege stehen transportable Absauggeräte zur Verfügung. Die Funktionstüchtigkeit dieser Geräte muss vor jedem Transport geprüft werden. Manche Familien bevorzugen für absaugbedürftige Säuglinge in der häuslichen Pflege sog. Sekretfallen (mundsogbetriebene kleine Absauger, die auch in Kreißsälen Verwendung finden).

Eltern

a ●

Vor Entlassung eines absaugbedürftigen Kindes wird die Familie ausreichend eingewiesen und trainiert und bekommt eine Überleitungspflege bzw. häusliche Kinderkrankenpflege als Hilfestellung angeboten.

11.4.9 Sauerstofftherapie Reicht die Atemtätigkeit nicht mehr aus, den Körper ausreichend mit Sauerstoff zu versorgen, kommt es zu Zyanose, Atemnot

L ●

Merke

H ●

Sauerstoff ist ein Medikament, das nicht nur positive Wirkungen hat, sondern auch unerwünschte Nebenwirkungen. Sauerstoff wird immer unter genauer Beobachtung des Kindes zugeführt. Nur im Notfall darf Sauerstoff ohne explizite Anordnung verabreicht werden.

Die Hypoxämie, der Sauerstoffmangel des Blutes, führt zu einer gefährlichen Sauerstoffunterversorgung der Organe. Aber auch die Hyperoxämie, zu viel gelöster Sauerstoff im Blut, ist gerade für Kinder gefährlich: ● Bei Frühgeborenen wurden Netzhautveränderungen und Sehbehinderungen nach der Zufuhr von Sauerstoff beobachtet. Die Retinopathia praematurorum (auch ROP = Retinopathy of Prematurity) ist gekennzeichnet durch Neubildungen von Netzhautgefäßen, Einblutungen und evtl. Netzhautablösung. Die Entstehungsursache ist noch nicht endgültig geklärt. Risikofaktoren sind aber in jedem Fall die Unreife der Netzhaut und zu hohe Sauerstoffspannung in Blut und Gewebe. ● Sauerstoff trocknet die Schleimhäute aus und führt in hohen Zufuhrkonzentrationen zu einer weiteren Schädigung von Atemwegen und Lunge. Sauerstoff muss immer angefeuchtet verabreicht werden. Bei einer Durchflussrate von mehr als 4 Litern pro Minute sollte der Sauerstoff zusätzlich erwärmt werden (▶ Abb. 11.15).

11

7

Atmen und Kreislauf regulieren ●

Durchflussströmungsmesser ●

Druckmesser Wandanschluss/ Flaschenanschluss

Feinregulation

Druckminderer

Aqua-dest.- Behälter

Schlauch zum Patienten

max. Wasserstand Sauerstoffsprudler Abb. 11.15 Sauerstoffentnahmeventil. Es reguliert den Flow und die Befeuchtung des Sauerstoffs.



Die Sauerstofftherapie kann bei Kindern mit chronischer Atemschwäche und ständig erhöhter Kohlendioxidspannung im Blut auch zu einer Abnahme der Atemarbeit mit der Gefahr von Apnoen führen, da bei diesen Kindern der Atemantrieb über den arteriellen Sauerstoffgehalt und nicht über die Kohlendioxidspannung gesteuert wird.

Merke

11

H ●

Beim Einsatz von Sauerstoff muss das Zubehör zu Beginn der Schicht auf Funktionstüchtigkeit geprüft werden. Sauerstoff ist ein brennbares Gas. Es darf nicht mit anderen brennbaren Substanzen, z. B. hochprozentigem Alkohol oder Benzin, verwendet werden. Bei dem Einsatz von Sauerstoff muss sich ein einsatzbereiter Feuerlöscher in der Nähe des Kindes befinden.

Sauerstoffquellen Der Sauerstoff kann der zentralen Gasversorgung per Wandanschluss entnommen werden. Der Anschluss ist 6-eckig und weiß oder blau gekennzeichnet und kann dadurch nicht mit den Anschlüssen anderer Gase verwechselt werden. Wo keine Wandanschlüsse vorhanden sind oder für Transporte von sauerstoffpflichtigen Kindern stehen Sauerstoffflaschen in unterschiedlichen Größen zur Verfügung. Die Flaschen sind weiß und werden durch das Anschrauben eines Fla-

258



Bei Anwendung und Lagerung von konzentriertem Sauerstoff besteht eine erhöhte Brandgefahr. Feuer, Kerzen und Zigaretten gehören nicht in die Nähe von Sauerstoffflaschen. Vor Inbetriebnahme muss die Sauerstoffflasche auf Farbe, Aufschrift und Füllungszustand kontrolliert werden. Flaschen, in denen nur noch wenig Druck ist (unter 100 bar), müssen gekennzeichnet werden. Flaschen mit einem Druck unter 50 bar sind sofort auszutauschen.

Anwendung von Sauerstoffflaschen Die Sauerstoffflasche wird wie folgt angewendet: ● Schutzkappe abnehmen ● Druckmindererventil und ggf. Befeuchtung anbringen ● Ventil aufschrauben ● Haupthahn öffnen ● mit dem Feinregulator die gewünschte Literzahl pro Minute einstellen ● Beenden des Sauerstoffflaschengebrauchs: erst Haupthahn schließen; wenn beide Zeiger auf null stehen, auch den Feinregulierungshahn (Ventil ist jetzt gasfrei)

Flüssigsauerstoff

Abb. 11.16 Inhaltsberechnung einer Sauerstoffflasche. Beispielrechnung zur Ermittlung des Sauerstoffvorrats.

schenventils (Druckminderer) gebrauchsfähig. Zur Inhaltsberechnung der Sauerstoffflasche s. ▶ Abb. 11.16.

Umgang mit Sauerstoffflaschen Grundsätzlich ist beim Umgang mit Sauerstoffflaschen Folgendes zu beachten: ● Leere Flaschen sind zu kennzeichnen und gesondert aufzubewahren. ● Flaschen verschiedener Gase werden getrennt gelagert. ● Wegen Explosionsgefahr darf niemals mit Fett und Öl an den Flaschen hantiert werden, auch nicht mit eingefetteten Händen. ● Sauerstoffbehälter sind vor Wärme (Sonnenbestrahlung, Heizung, Wärmelampe) und Erschütterung zu schützen.

Für die häusliche Pflege bietet sich die Versorgung mit Flüssigsauerstoff an. Medizinischer verflüssigter Sauerstoff (–183 °C) erlaubt die Lagerung größerer Mengen im Vergleich zu medizinischem Sauerstoff in Gasform. Ein Liter Flüssigsauerstoff entspricht ca. 850 Liter gasförmigen Sauerstoffs. Flüssigsauerstoffsysteme für die häusliche Pflege bestehen aus einem Vorratsbehälter (Tank), der im Haus der Familie stationiert wird, und einer tragbaren Einheit zur mobilen Verwendung. Die mobile Einheit kann einfach am großen Tank nachgefüllt werden. Der große Tank wird regelmäßig von Wartungsfirmen nachgefüllt. Der flüssige Sauerstoff wird mit einem Verdampfer in gasförmigen Sauerstoff umgewandelt und auf Zimmertemperatur erwärmt. Dann kann er je nach Bedarf mit einer Sauerstoffbrille oder anderen Applikationsformen (z. B. Schlauchanschluss an eine künstliche Nase an der Trachealkanüle) verwendet werden.

11.4 Atmung: Pflegemaßnahmen

Abb. 11.17 Häusliche Sauerstoffversorgung. Sie ermöglicht normale familiäre Aktivitäten (Symbolbild). (Foto: lisalucia – stock.adobe.com)

Eltern

a ●

Die Eltern sind im Umgang mit dem Gerät sowie der Beobachtung und Überwachung ihres Kindes während der Sauerstofftherapie ausreichend zu schulen (▶ Abb. 11.17). Sie sollten bereits in der Klinik die eigenständige Betreuung ihres Kindes unter Aufsicht der Pflegefachkräfte durchführen, damit nach der Entlassung die korrekte Therapie und Überwachung des Kindes gewährleistet sind. Die Gebrauchsanleitung der verwendeten Systeme und Überwachungsgeräte ist unbedingt zu beachten. Eine häusliche Unterstützung durch eine Überleitungspflege oder Besuche eines häuslichen Kinderkrankenpflegedienstes sowie Dienstleister, die die regelmäßige Auffüllung, die Versorgung und den Ersatz von Verbrauchsmaterialien regelt, ist unumgänglich.

Sauerstoffapplikation Die Wahl der geeigneten Sauerstoffapplikationsform richtet sich nach der Grundkrankheit, dem Alter und der Kooperation des Kindes sowie der Sauerstoffkonzentration, die das Kind benötigt.

Sauerstoffsonde oder -brille Mit diesen wird der Sauerstoff direkt in ein bzw. beide Nasenlöcher eingebracht (▶ Abb. 11.18). Hierdurch lässt sich mit wenig Sauerstoff eine hohe Konzentration in der Einatemluft erzielen (bis zu 60 %). Diese kann allerdings nicht direkt gemessen werden. Muss die Sonde an der Haut fixiert werden, sollten die Fixierungspflaster möglichst hautschonend geklebt werden. Sie sind regelmäßig zu wechseln, wobei der Hautzustand zu beurteilen ist. Ein Unterkleben mit einer Hydrokolloidplatte kann als Dekubitusprophylaxe sinnvoll sein.

Abb. 11.18 Sauerstoffbrille. Diese stehen in verschiedenen Größen für alle Altersstufen zur Verfügung (Symbolbild). (Foto: W. Krüper, Thieme)

Der Sauerstoff reizt die Nasenschleimhaut. Deswegen muss eine gute Nasenpflege durchgeführt werden. Eine verstopfte Nase behindert die Sauerstoffzufuhr über Sonde oder Brille, sodass die Nase vor der Sauerstofftherapie und bei Bedarf gereinigt bzw. abgesaugt werden muss. Für den Anschluss an Trachealkanülen stehen besondere Sonden bereit, die mit den künstlichen Nasen verbunden werden.

Merke

H ●

Neben jeden Säugling mit Sauerstoffversorgung über eine Nasensonde gehört ein betriebsbereites Absauggerät!

Sauerstoffmaske Die Sauerstoffmaske wird über Mund und Nase gelegt und kann mit einem Gummiband am Kopf befestigt werden. Sie erlaubt eine genauer kontrollierbare Atemluftkonzentration, wird aber gerade von kleinen Kindern nur selten oder nur für kurze Zeit toleriert. Anwesenheit und Zuspruch der Eltern erleichtern die Situation. Dennoch muss i. d. R. bald auf eine andere Art der Verabreichung übergegangen werden, zumal die Kommunikation und Nahrungsaufnahme durch die Maske beeinträchtigt werden. Eine Sauerstoffmaske sollte erst ab einer Durchflussrate von 4 Litern pro Minute eingesetzt werden, da ansonsten die Gefahr einer Kohlendioxidretention droht.

Inkubator Bei Neugeborenen besteht die Möglichkeit der Sauerstoffverabreichung im Inkubator oder geschlossenen Wärmebett. Hierbei lässt sich ebenfalls die Sauerstoffkonzentration genau kontrollieren. Ein sauerstoffpflichtiges Kind sollte immer in Inkubatoren oder Wärmebetten gepflegt wer-

den, in denen der gewünschte Sauerstoffgehalt gezielt gewählt werden kann und automatisch reguliert wird, auch wenn kurzfristig die Klappen geöffnet werden. Die Pflegefachkraft ist verpflichtet, sich in die korrekte Benutzung der in ihrer Klinik gebräuchlichen Geräte nach dem Medizinprodukte-Betreibergesetz einweisen zu lassen, um die nötige Sorgfalt und Sicherheit für das Kind gewährleisten zu können.

Beatmungsgeräte Eine weitere Möglichkeit der Sauerstofftherapie (S. 764) ist beim Einsatz von Beatmungsgeräten gegeben.

Überwachung der Sauerstofftherapie Folgende Möglichkeiten der Überwachung und Dokumentation der Sauerstofftherapie stehen zur Verfügung: ● Das Sauerstoffangebot wird in Liter pro Minute angegeben. ● Die Sauerstoffkonzentration in der Atemluft (z. B. 30 %) kann mittels Sauerstoffkonzentrationsmessern überprüft werden. ● Die Sauerstoffsättigung besagt, wie viele Erythrozyten aktuell mit Sauerstoff gesättigt sind. Normalerweise sind mehr als 90 % aller Erythrozyten mit Sauerstoff beladen, d. h., dass ein gemessener Sauerstoffsättigungswert unter 90 % auf eine Minderversorgung hinweist. Mit dem Pulsoxymeter wird die Sauerstoffsättigung kontinuierlich nichtinvasiv mittels Fotosensor überwacht. Der Sensor kann an Händen und Füßen, an Fingern und Zehen und bei Frühgeborenen an den Extremitäten so angebracht werden, dass Lichtquelle und Sensor direkt gegenüberliegen (▶ Abb. 11.19). ● Bei Früh- und Neugeborenen wird in vielen Kliniken der zusätzliche Einsatz von transkutaner Sauerstoffpartialdrucküberwachung mit einer Transoxode oder einer Kapnoxode, die zusätzlich noch die Kohlendioxidspannung überwachen kann, durchgeführt. Hierbei bewirkt ein beheizter Sensor eine starke Durchblutung der darunterliegenden Haut, sodass die Gase durch die dünne Haut diffundieren und gemessen werden können. Die Überwärmung des Applikationsortes durch den Sensor über die normale Körpertemperatur führt zu einem hitzebedingten Erythem. Im schlimmsten Fall kann es zu Verbrennungen kommen. Deshalb muss der Sensor nach 2 – 4 Stunden an einer anderen Hautstelle befestigt werden. Bei sehr dicker Haut oder schlechten Kreislauf- und Durchblutungsverhältnissen sind die gemessenen Werte ungenau

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9

Atmen und Kreislauf regulieren

Merke

H ●

Die Sauerstofftherapie ist bei Kindern, v. a. bei Früh- und Neugeborenen, wegen der Gefahr von Nebenwirkungen besonders streng zu überwachen.

11.4.10 Pneumonieprophylaxe

Abb. 11.19 Pulsoxymetrie zur Überwachung der Sauerstoffsättigung. a Pulsoxymeter am Finger, (Foto: P. Blåfield, Thieme) b Pulsoxymeter am Fuß. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

und müssen mit den aktuellen Blutgaswerten verglichen und angepasst werden. Die Pflegefachkräfte benötigen vor dem Einsatz der Geräte eine Einweisung nach dem Medizinprodukte-Betreibergesetz. Die Bedienungsanleitungen der Geräte bezüglich Gebrauch und Reinigung sind zu beachten.

Praxistipp Pflege

Nosokomiale Pneumonien sind besonders gefürchtete im Krankenhaus erworbene Infektionen. Für die Pflege von erwachsenen Patienten steht die Pneumonierisikoskala nach Bienstein zur Verfügung, die jedoch auf die Kinderkrankenpflege nur bedingt übertragbar ist. Die Einschätzung des Pneumonierisikos bei Kindern ist in ▶ Tab. 11.5 dargestellt.

Z ●

Der Applikationsort des Pulsoxymetersensors ist regelmäßig zu wechseln, um Druckstellen zu vermeiden. Bei Phototherapie ist der Sensor mit einem kleinen Handschuh vor Lichteinfall zu schützen. Die Nachteile der Pulsoxymetrie liegen in der Häufigkeit der Fehlalarme durch Bewegungsartefakte und in der Messungsungenauigkeit im oberen Messbereich. Daher muss bei der Sauerstofftherapie bei Kindern die obere Alarmgrenze nach ärztlicher Anordnung eng eingestellt werden oder eine zusätzliche transkutane Überwachung vorgenommen werden.

Definition

L ●

Als Puls wird die mechanische Auswirkung der Herzaktion bezeichnet, die an oberflächlich verlaufenden Arterien gefühlt werden kann.

Tab. 11.5 Einschätzung des Pneumonierisikos bei Kindern und geeignete Maßnahmen. Pneumoniegefährdung durch

betroffene Patientengruppen

unzureichende Atemtiefe Folge: Minderbelüftung einzelner Lungenbezirke, Gefahr der Sekretanschoppung





Kinder nach Thorax- oder Bauchoperationen, die aufgrund von Schmerzen eine Schonhaltung einnehmen Kinder mit geschwächter Atemmuskulatur

geeignete Maßnahmen ●

● ● ●

11

gestörte Sekretentleerung Folge: nicht entleertes Sekret bietet idealen Nährboden für Krankheitskeime

● ●



Kinder mit Mukoviszidose Kinder mit chronischen Veränderungen der Atemwege intubierte Kinder

● ●



● ●

Schluckstörung Folge: erhöhte Aspirationsgefahr



● ● ●

Immobilität Folge: Gefahr der Sekretanschoppung in einzelnen Lungenbezirken



● ●

Immunsuppression Folge: erhöhte Anfälligkeit gegenüber Infektionen aller Art, z. B. Atemwegsinfektionen



● ● ●

Kinder mit angeborenen Schluckstörungen bewusstlose Kinder beatmete Kinder Kinder nach Extubation



Kinder mit therapeutisch erforderlicher Bettlägerigkeit unterschiedlicher Ursache schwer körperbehinderte Kinder sedierte oder relaxierte Kinder



zytostatisch oder immunsuppressorisch behandelte Kinder Kinder mit angeborener Immunschwäche Frühgeborene Kinder während oder nach schwerer Allgemeinerkrankung







● ●

● ●



akutes lungenschädigendes Ereignis Folge: auch kurz dauernde Schädigungen erhöhen das Pneumonierisiko

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● ● ●

Kinder mit akuten Aspirationen Kinder mit Inhalationstraumen Ertrinkungsunfälle



Verbesserung der Atemtiefe mittels spezieller Atemtrainer atemstimulierende Einreibungen Kontaktatmung Pustespielchen Drainagelagerungen gezieltes Atemtraining mit speziellen Atemtrainern selbstständige Durchführung von Atemübungen physiotherapeutische Thoraxmobilisation strikte Einhaltung der Hygienemaßnahmen bei intubierten Kindern Nahrungsverabreichung per Sonde Absaugen des Nasen-Rachen-Raumes bei Bedarf ggf. Seitenlage zur Aspirationsprophylaxe Mobilisierungsmaßnahmen, soweit möglich regelmäßiger Positionswechsel Maßnahmen zur Sekretmobilisation und Sekretentleerung strenge Auflagen an die hygienischen Anforderungen im pflegerischen Umgang mit den gefährdeten Kindern Isolation von erkrankten Personen Steigerung des Immunsystems über gesunde Ernährung und Lebensgestaltung soweit möglich, physikalische Maßnahmen abhängig von der Ursache sofortige adäquate Reaktion, um Dauer der schädigenden Einflüsse zu verkürzen (Absaugen, Bronchoskopie, Inhalation von Antidot usw.)

11.6 Puls: Beobachten und Beurteilen Der Begriff Puls stammt aus dem Lateinischen (pulsus) und bedeutet Stoß. Gemessen wird i. d. R. der Arterienpuls, d. h. der Anstieg der Pulswelle in den Gefäßen. Es wird zwischen dem zentralen und dem peripheren Puls unterschieden: Der zentrale Puls wird über den herznahen Gefäßen abgehört. Er entspricht der tatsächlichen Herzfrequenz. Der periphere Puls wird an den peripheren Arterien getastet. Beim Gesunden ist der periphere Puls gleich dem zentralen. Stimmen peripherer und zentraler Puls nicht überein, kommt es zu einem Pulsdefizit. Es besteht bei ungenügender Herzmuskelkontraktion, bei der zwar eine Herzkontraktion stattfindet, aber keine in der Peripherie tastbare Pulswelle entsteht.

11.6 Puls: Beobachten und Beurteilen Merke

H ●

Das Pulsfühlen ist eine verantwortungsvolle und anspruchsvolle Tätigkeit. Es gibt wichtige Informationen über die Herz-Kreislauf-Situation des Patienten. Auffälligkeiten können Informationen über vitale Bedrohungen (z. B. Schock, Hirndruck) geben.

11.6.1 Fühlen des Pulses Der Puls kann überall dort getastet werden, wo Arterien oberflächlich verlaufen und gegen einen Widerstand (Knochen, Muskel) gedrückt werden können. Geeignete Stellen sind (▶ Abb. 11.20): ● Arteria radialis (Speichenschlagader) ● Arteria carotis (Halsschlagader) ● Arteria temporalis (Schläfenschlagader) ● Arteria femoralis (Leistenschlagader) ● Arteria dorsalis pedis (Fußrückenschlagader) ● Arteria tibialis posterior (hintere Schienbeinschlagader) ● Arteria brachialis (Oberarmschlagader)

11.5 Puls: beeinflussende Faktoren

A. carotis

▶ Körperliche Faktoren. Die normale Herzfrequenz ist abhängig von dem Lebensalter, dem Körpergewicht, der Körpergröße und der körperlichen Aktivität. Die Körpertemperatur beeinflusst die Herzfrequenz: Eine Temperaturzunahme von 1 °C bewirkt eine Beschleunigung der Pulsfrequenz von ca. 8 – 10 Schlägen pro Minute. Im Schlaf ist die Herzfrequenz deutlich niedriger als im Wachzustand. Jegliche körperliche Betätigung steigert die Herzfrequenz. Das Herz schlägt schneller, um die Muskeln ausreichend mit Sauerstoff zu versorgen. Bei körperlich trainierten Menschen steigt die Herzleistung, sodass sie in Ruhe eine auffallend niedrige Herzfrequenz haben können. Erkrankungen üben einen unterschiedlichen Einfluss auf die Herzfrequenz aus (▶ Tab. 11.7). ▶ Psychische Faktoren. Psychische Belastungssituationen, Stress, Aufregung, Ärger und Wut steigern die Herzfrequenz. Wenn sich der Mensch wohlfühlt, schlägt auch sein Herz ruhig. Allerdings kann es durch freudige Erregung auch zum Anstieg der Pulsfrequenz kommen. ▶ Umgebungsabhängige Faktoren. Extreme Außentemperaturen führen durch Beeinflussung der Körpertemperatur ebenfalls zu Veränderungen der Herzfrequenz. Das auffallendste Beispiel ist die Unterkühlung, bei der der Puls stark absinkt.

A. brachialis A. temporalis A. femoralis A. radialis A. brachialis

A. radialis

A. tibialis posterior A. tibialis posterior

A. dorsalis pedis

a

b

c

d

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Abb. 11.20 Fühlen des Pulses. a Beim Kleinkind, b beim größeren Kind, c am Handgelenk, (Foto: P. Blåfield, Thieme) d am Fuß. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

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Atmen und Kreislauf regulieren

Tab. 11.6 Anzahl der pro Zeiteinheit (min) ermittelten Pulsschläge. Die Pulsfrequenz ist abhängig von der mechanischen effektiven Kontraktion des Herzmuskels und stimmt i. d. R. überein mit der Herzfrequenz. Physiologische und pathologische Ursachen führen zu Abweichungen der Pulsfrequenz von den Durchschnittswerten (Pschyrembel 2017). Alter

Pulsfrequenz

Neugeborene*

≈ 140/min

2 Jahre

120/min

4 Jahre

100/min

10 Jahre

90/min

14 Jahre

85/min

Männer

62–70/min

Frauen

75/min

im Alter

80–85/min

* In Ruhe und Schlaf sinkt die Pulsfrequenz deutlich ab, bei Aufregung kann sie z. T. deutlich höher sein. So liegt die Schwankungsbreite bei gesunden Neugeborenen zwischen 80/min im Schlaf und kann bei Aufregung kurzzeitig 180/min betragen.

Merke

H ●

Beim Pulsfühlen werden Frequenz, Rhythmus und Qualität erfasst. Der normale Puls ist in der altersentsprechenden Normalfrequenz (▶ Tab. 11.6) rhythmisch, weich und gut gefüllt.

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Üblicherweise erfolgt die Pulskontrolle beim ruhigen Kind zusammen mit weiteren Vitalzeichenkontrollen. Je nach Erkrankung (z. B. Herzerkrankung) kann es auch wichtig sein, Pulsfrequenz, -qualität und -rhythmus während oder nach einer Belastung festzustellen. Das Pulsfühlen erfolgt mit den Kuppen von Zeige-, Mittel- und Ringfinger. Der Daumen ist zum Messen nicht geeignet, da er selbst eine leichte Pulswelle besitzt. Die Finger werden mit leichtem Druck an die ausgesuchte Arterie angelegt. Dies wird i. d. R. die Arteria radialis sein. Bei Kleinkindern, bei denen die Arteria radialis schlecht tastbar ist, empfiehlt sich die Messung an der Schläfenschlagader oder Oberarmschlagader. Die Herzfrequenz wird über 15 Sekunden (Pulsuhr) gezählt, das Ergebnis mit 4 multipliziert und im Dokumentationssystem festgehalten. Bei einem unregelmäßigen Pulsschlag und neu aufgenommenen Kindern wird eine ganze Minute mithilfe einer Uhr oder Pulsuhr ausgezählt.

Praxistipp Pflege

11.6.2 Weitere Möglichkeiten der Herzfrequenzmessung Bei Kindern bereitet die Technik des Pulsfühlens an der Arteria radialis oft Probleme, weil ein Fettpolster oder das Wegziehen des Armes die Beurteilbarkeit einschränkt.

Herzfrequenzüberwachung mit Stethoskop Bei Säuglingen, bei denen Pulse schwer zu ertasten sind, bietet sich die Herzfrequenzüberwachung mit Stethoskop an (▶ Abb. 11.21):









Das Stethoskop wird zunächst durch Reibung an der desinfizierten Hand oder dem Schutzkittel des Kindes angewärmt und auf die linke Thoraxhälfte zwischen linker Brustwarze und Brustbein (Herzgegend) aufgelegt. Die Herzschläge sind deutlich hörbar und können ausgezählt werden. Es ist zu beachten, dass der normale Herzschlag zwei Herztöne verursacht, die jedoch nur als ein Schlag gezählt werden dürfen. Beim Auskultieren auffallende pathologische Herzgeräusche werden an den Arzt gemeldet. Sie können ein Anzeichen eines Herzfehlers sein. Für jedes Kind sollte ein eigenes Stethoskop bereitliegen. Vor Patientenwechsel und bei Bedarf ist das Stethoskop einer Wischdesinfektion zu unterziehen, um eine Keimverschleppung zu vermeiden.

EKG-Monitor Für schwer kranke Kinder und Kinder mit Auffälligkeiten ist die Überwachung durch EKG-Monitor möglich: Hierbei sind Arrhythmien auch optisch zu erfassen, besser zu beschreiben und zu dokumentieren. Allerdings schränkt die Monitorüberwachung die Mobilität stark ein und flößt Eltern und Kindern Angst ein. Eine Information von Eltern und Kind über den Zweck der Monitorüberwachung und mögliche Alarme ist wichtig. Die EKG-Elektroden sind gemäß den Herstellerangaben anzubringen und zu erneuern. Sie werden so angebracht, dass sie weder auf Warzenvorhof oder Brustwarzen kleben und bei geplanten oder möglichen Thoraxröntgenaufnahmen nicht entfernt werden müssen (▶ Abb. 11.22). Sie sollten keine Druckstellen und Hautreaktionen verursachen. Die EKG-Kabel sind so zu sichern, dass ein Aufliegen der Kinder oder eine Strangulation verhindert wird. Der Umgang mit EKG-Monitoren geschieht gewissenhaft nach erfolgter Geräteeinweisung nach dem Medizinprodukte-Betreibergesetz.

Z ●

Vor dem Pulsfühlen wird die Tätigkeit den Kindern alters- und situationsgerecht erklärt, sodass sie wissen, dass es nur eine leichte Berührung bedeutet.

262

Viele Kinder wehren sich nach zahlreichen schmerzhaften Eindrücken im Krankenhaus zunächst einmal gegen jede Art von Berührung von einer fremden Person. Der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zum Kind durch spielerische Aufklärung ist daher zur Durchführung der immer wieder neu notwendigen Kontrolle unerlässlich. Eine Aufregung des Kindes würde die ermittelten Werte verfälschen.



Abb. 11.21 Herzfrequenzüberwachung. Die Überwachung der Herzfrequenz mit dem Stethoskop bietet sich bei Säuglingen mit schwer zu ertastendem Puls an. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Abb. 11.22 EKG. Anbringen der EKG-Elektroden. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

11.6 Puls: Beobachten und Beurteilen Die individuelle Einstellung der Alarmgrenzen erfolgt auf ärztliche Anordnung. Die korrekte Einstellung der angeordneten Alarmgrenzen wird bei Übernahme des Kindes kontrolliert. Benötigt ein Kind auch nach der Krankenhausentlassung einen Heimmonitor, so sind die Eltern im Umgang hiermit sowie in Reanimationsmaßnahmen zu schulen.

Merke

H ●

11.6.3 Abweichungen Alle beim Pulsfühlen beobachtbaren Abweichungen sind in ▶ Tab. 11.7 zusammengefasst.

H ●

Merke

Jede Pulsveränderung ist unbedingt ernst zu nehmen, unverzüglich dem Arzt zu melden und zu dokumentieren. Auf bedrohliche Auffälligkeiten muss sofort adäquat reagiert werden (S. 860).

Eine Monitorüberwachung ersetzt nicht die professionelle Kreislaufbeobachtung und -beurteilung durch die Pflegefachkraft.

11.6.4 Individuelle Situationseinschätzung Um die ermittelten Parameter richtig beurteilen zu können, ist es wichtig, eine gewissenhafte individuelle Einschätzung vorzunehmen: ● Welches ist die normale Herzfrequenz des Kindes in Ruhe? ● Ist das Kind während der Überwachung ängstlich oder aufgeregt? ● Hat das Kind kurz vor der Überwachung geschrien oder getobt? ● Nimmt das Kind Medikamente, die die Herzaktion beeinflussen können?

Tab. 11.7 Pulsabweichungen und mögliche Ursachen. Abweichung

mögliche Ursachen

Pulsfrequenz Tachykardie (= deutliche Überschreitung der alterstypischen Normfrequenz) Merke: Die Tachykardie ist dann besonders zu beachten, wenn sie im Ruhezustand anhält.

● ● ● ● ● ● ● ● ● ●

Bradykardie (= Unterschreitung der altersgemäßen Herzfrequenz)

Aufregung körperliche Anstrengung (z. B. auch beim Trinken des Säuglings) Schmerzen verringertes Sauerstoffangebot (Höhenluft in den Bergen) Fieber Blutverlust, Schockzustand Herzinsuffizienz Hyperthyreose Sympathikusreizung, Fehlregulation des vegetativen Nervensystems herzstimulierende Medikamente (z. B. Adrenalin)



im Schlaf bei Sportlern reduzierte Stoffwechsellage (z. B. nach längerem Hungern) Vagusreiz Hirndruck Ikterus Hypothyreose AV-Block 3. Grades Schlaf- und Beruhigungsmittel Überdosierung herzaktiver Medikamente Streptokokken-Sepsis des Neugeborenen Hyperkaliämie Apnoe-Bradykardie-Syndrom des Frühgeborenen Neugeborene von Müttern mit Lupus erythematodes

relative Bradykardie (= keine Herzfrequenzerhöhung bei Fieber)



bei Typhus

Asystolie (= Herzstillstand) Merke: Ein Herzstillstand ist ein absoluter Notfall, bei dem sofort gehandelt werden muss (S. 860)



Folge einer Bradykardie oder Herzrhythmusstörungen durch Hyperkaliämie nach Kammerflimmern

● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●

● ●

11

Herzrhythmus (▶ Abb. 11.23) (normaler Herzrhythmus = Sinusrhythmus) Sinusarrhythmien (= vom Sinusknoten ausgehende schwankende Herzfrequenz)



paroxysmale Tachykardien (= anfallartig auftretendes Herzrasen mit Frequenzen bis 300 Herzschläge in der Minute) ● supraventrikuläre Tachykardien: vom Vorhof ausgehend ● ventrikuläre Tachykardien: von der Herzkammer ausgehend



Extrasystolen (ES) (= Sonderschläge, außerhalb des regulären Grundrhythmus; tastbar als vorzeitig eintretende Pulswellen mit kompensatorischer Pause; werden von den Betroffenen als „Herzstolpern“ wahrgenommen) Es werden unterschieden: ● ventrikuläre ES (= Kammer-ES) ● supraventrikuläre ES (= Vorhof-ES)





v. a. bei Jugendlichen oft ohne Krankheitswert meist atmungsabhängig (respiratorische Sinusarrhythmie): typische Verlangsamung bei der Einatmung

vegetative Fehlregulation manchmal Zeichen einer Herzerkrankung (Herzinsuffizienz, Herzmuskelerkrankung, schwere Erregungsstörungen der Herzaktivität) ● Schilddrüsenerkrankung Merke: Herzrasen führt zu Angst, Beklemmungsgefühlen und Atemnot, häufig können diese Anfälle mit einem Vagus-Reiz (eiskalter Tee, Würgen oder Eisbeutelauflage im Gesicht) unterbunden werden. ●





häufig ohne Krankheitswert bei herzgesunden Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen vom Lebenswandel oder der Ernährung abhängig (z. B. Cola-, Kaffeekonsum) manchmal erstes Anzeichen einer Herzmuskelerkrankung

3

Atmen und Kreislauf regulieren

Tab. 11.7 Fortsetzung Abweichung

mögliche Ursachen

Bigeminus (= Zwillingspuls, auf jeden Herzschlag folgt über längere Zeit regelmäßig eine ES)



typisch für eine Digitalisüberdosierung

Trigeminus (= 1 Sinusschlag, 2 ES) 2:1-Extrasystolie (= 2 Sinusschläge, 1 ES) 3:1-Extrasystolie (= 3 Sinusschläge, 1 ES)



unterschiedliche, rhythmisch wiederkehrende Muster der Extrasystolie, Ursachen s. dort

absolute Arrhythmie (= vollständige Unregelmäßigkeit der Herzfunktion)



Reizbildungs- oder Reizleitungsstörungen des Herzens mit Vorhoffflimmern Folge von angeborenen Herzrhythmusstörungen, Mitralklappenfehlern, rheumatischer Karditis, degenerativer Herzerkrankung, Herzinfarkt, Schilddrüsenüberfunktion



tachykarde Herzrhythmusstörungen (= Störungen, die mit gesteigerter Herzfrequenz einhergehen) Es werden unterschieden: ● Vorhofflattern/-flimmern: Hyperstimulation des Vorhofes, die nicht bei jeder Vorhoferregung an die Herzkammer weitergeleitet wird ● Kammerflattern/-flimmern: Übererregung der Herzkammer, führt innerhalb von 8 – 10 Sekunden zum funktionellen Herzstillstand



bradykarde Rhythmusstörungen (= Rhythmusstörungen mit verminderter Herzfrequenz) Es werden unterschieden: ● AV-Block: Blockierung der Reizleitung am AV-Knoten ● Adams-Stokes-Anfall: schwere Herzrhythmusstörung mit Minderdurchblutung des Gehirns



Vorhofflattern ist nur mit EKG-Ableitung zu erkennen Kammerflimmern ist die Folge einer Herzmuskelerkrankung, bei Kindern selten Merke: Bei Kammerflimmern kann nur eine sofortige Reanimation (S. 861) bzw. Defibrillation das Leben retten.





● ●

Blockierung des Reizleitungssystems leichte Formen nach Einnahme von herzaktiven Medikamenten (z. B: Digitalis) schwere Formen als Folge einer Erkrankung des Reizleitungssystems Behandlung medikamentös oder mit Herzschrittmacher

Pulsqualität: Pulsspannung Spannung (= Widerstand gegen den Druck, der beim Pulsfühlen ausgeübt wird)



abhängig von der Intensität der Kammerkontraktionen bzw. vom systolischen Blutdruck

Pulsus mollis (= weicher, eindrückbarer Puls)



schwache Kreislaufverhältnisse, niedriger Blutdruck, Fieber, Herzinsuffizienz

Pulsus durus (= harter, schlecht unterdrückbarer Puls)



Bluthochdruck Gefäßverkalkung

Druckpuls (= verstärkte Form des harten Pulses mit verlangsamter Herzfrequenz)







Hirndruck durch Hirnödem, Blutung oder Tumor bei Vagusreizung extrem verlangsamte Herzfrequenz

Füllung (= Blutmenge im Gefäß)



abhängig vom Schlagvolumen des Herzens

Pulsus altus (= gut gefüllter Puls)

● ●

Normalfall nur in Zusammenhang mit Druckpuls ein Hirndruckzeichen

Pulsus tardus (= schlecht gefüllter Puls)



Hypotonie

Pulsus filiformis (= fadenförmiger Puls)



kleiner beschleunigter Puls bei Schock, Kreislaufversagen, Herzinsuffizienz

Drahtpuls (= Druckpuls mit hoher Frequenz)

● ●

gleichzeitiger Anstieg von Systole und Diastole bei nephrogenem Bluthochdruck oder Eklampsie

Pulsus tardus (= langsam ansteigende Pulswelle)



Aorten- oder Aortenklappenstenose

Pulsus celer (= schnellend ansteigende Pulswelle)



Aortenklappeninsuffizienz, bei der die Windkesselfunktion der Aorta (Dehnbarkeit und Druckausgleich) verloren geht

Pulsfüllung

11

Anstieg der Pulswelle *

* (Zeitraum zwischen niedrigstem und höchstem Füllungszustand der Blutgefäße)

264

11.7 Puls: Pflegemaßnahmen

normaler Pulsschlag Extrasystolen (ES) Zwillingspuls absolute Arrhythmie

Abb. 11.23 Pulsrhythmen. Grafische Darstellung der fühlbaren Pulswellen bei verschiedenen Herzrhythmen.

Kleinkinder können bereits gut mit Spielzeug und Beschäftigung abgelenkt werden. Ein Krankenhausaufenthalt kann ihnen mit der Anwesenheit ihrer Bezugsperson erleichtert werden. Können die Bezugspersonen aus persönlichen Gründen nicht bei ihrem Kind bleiben, so erfährt das Kind eine ausreichende Zuwendung durch die Pflegefachkräfte. Ab dem Kindergartenalter können mit den Kindern Entspannungstechniken, z. B. autogenes Training oder Yoga, durchgeführt werden, um Stresssituationen unbeschadet zu überstehen.

11.7.2 Belastungsarme Lebensführung

11.7 Puls: Pflegemaßnahmen 11.7.1 Vermeidung von Belastungsfaktoren Kinder mit tachykarden Herzrhythmusstörungen benötigen eine angst- und stressfreie Atmosphäre zur Vorbeugung und Linderung der Beschwerden. Dazu gehören die Organisation von pflegerischen Maßnahmen im Sinne des Minimal-Handlings, Optimierung und gute Absprachen bei der Organisation diagnostischer, therapeutischer und pflegerischer Maßnahmen mit eindeutig abgegrenzten Ruhe-, Schlaf- und Spielzeiten für die Kinder. Belastende und/oder unverständliche Arzt- und Elterngespräche sollten immer außerhalb des Patientenzimmers geführt werden. Konflikte, z. B. zwischen den Eltern, sollten nicht in Anwesenheit des Kindes ausgetragen werden. Andererseits werden dem Kind Offenheit und Gesprächsbereitschaft für mögliche Sorgen und Konflikte signalisiert. Säuglinge erhalten bei auftretendem Hunger unverzüglich Nahrung, um lange Schreiphasen zu vermeiden. Darf ein Säugling aufgrund einer zugrunde liegenden Störung des Herz-Kreislauf-Systems nur wenig Flüssigkeit zu sich nehmen, wird nach sättigenden Alternativen gesucht. Lässt sich das Hungergefühl eines Säuglings nicht mit einer therapeutischen Diät in Einklang bringen, muss dies dem Arzt gemeldet werden, damit nach Alternativen gesucht wird. Beruhigend wirkt sich Körperkontakt oder die Positionierung in Nestlage bei Säuglingen aus. Ebenso hilft manchmal die Kontaktatmung (S. 253) den Kindern, zur Ruhe zu kommen. Beim Versagen aller dieser Maßnahmen kann eine leichte Sedierung auf ärztliche Anordnung notwendig werden.

Eine gewissenhafte Beobachtung, in welchem Zusammenhang Pulsveränderungen bzw. Herzrhythmusstörungen auftreten, kann helfen, die auslösenden Faktoren zu vermeiden. Dies gilt sowohl für die Betreuung während des Krankenhausaufenthaltes als auch für die häusliche Überwachung. Im Dokumentationssystem des Krankenhauses werden im Pflege- und Verhaltensbericht äußere Umstände der Auffälligkeiten vermerkt, z. B. im Schlaf, in Unruhephasen, bei Untersuchungen, nach Anstrengung, nach der Aufnahme bestimmter Speisen und Getränke, z. B. Schwarztee oder Kaffee bei älteren Kindern.

Eltern

a ●

Der Familie wird empfohlen, zur besseren Beobachtung und Einschätzung im häuslichen Bereich ein Tagebuch anzulegen, in dem die Begleitumstände der Auffälligkeiten erwähnt werden. Sind die begünstigenden Ursachen für Rhythmusstörungen bekannt, sollten sie gemieden werden.

Merke

Bei Säuglingen können Erbrechen, Unruhezustände oder Apathie auf mögliche Nebenwirkungen bei der Verabreichung von herzaktiven Medikamenten hinweisen. Bei Verhaltensänderungen ist daher sofort der Puls zu fühlen sowie Frequenz, Qualität und Rhythmus zu erfassen.

Auffälligkeiten der Vitalzeichen, des Bewusstseins oder des Verhaltens bei der Einnahme herzaktiver Medikamente sind unverzüglich dem ärztlichen Dienst mitzuteilen.

Definition

Nimmt das Kind Herz-Kreislauf-aktive Medikamente zu sich, so sind in der ersten Zeit engmaschige Puls- und Blutdruckkontrollen, möglicherweise eine EKG-Monitorüberwachung notwendig. Die Pflegefachkraft informiert sich und die Eltern über die Wirkungsweise des Medikaments, um mögliche Nebenwirkungen rasch zu erfassen. Das Kind wird nach seinem Allgemeinbefinden gefragt.

L ●

Als Blutdruck wird der Druck des strömenden Blutes in den Blutgefäßen bezeichnet.

Es wird zwischen systolischem, diastolischem und mittlerem arteriellem Druck unterschieden: ● Systolischer Blutdruck: Druckmaximum in den Arterien, das durch den Blutauswurf während der Herzkammerkontraktion entsteht. ● Diastolischer Blutdruck: niedrigster messbarer arterieller Druck während der Erschlaffungsphase des Herzens. ● Mittlerer arterieller Druck (MAD): rechnerischer Wert, der nach einer bestimmten Formel (s. u.) berechnet wird. ▶ MAD. Der mittlere arterielle Druck entspricht dem Perfusionsdruck der Organe, d. h., er besagt, mit welchem Druck die Organe durchblutet werden. Die Formel zur Berechnung des MAD lautet (RRdiast = diastolischer Druck, RRsyst = systolischer Druck): MAD ¼

11.7.3 Sichere medikamentöse Therapie

H ●

11

2  RRdiast þ RRsyst 3

Es ist wichtig, dass der mittlere arterielle Druck höher ist als ein anderer Druck, der auf das Gewebe einwirkt, denn sonst ist keine ausreichende Durchblutung mehr gewährleistet. Liegt der Hirndruck z. B. über dem mittleren arteriellen Druck, kann das Gehirn nicht mehr ausreichend durchblutet werden. Die Folge sind ischämische Schädigungen, also Schädigungen durch die Minderdurchblutung bis hin zum Hirntod. Bei der Verwendung des Ausdrucks „Blutdruck“ ist i. d. R. der Gefäßdruck in den Arterien gemeint. Die Messung des Zentralen Venendruckes (ZVD) wird im Kap. Infusion und Transfusion (S. 810) beschrieben.

5

Atmen und Kreislauf regulieren

Tab. 11.8 Blutdrucknormwerte in Abhängigkeit vom Lebensalter (Pschyrembel online, 2018). Lebensalter

Blutdruck systolisch (mmHg)

diastolisch (mmHg)

Neugeborenes

50–70

28–50

1–3 Monate

70–86

40–60

3–12 Monate

86–93

60–62

1–9 Jahre

95–101

65–69

9–14 Jahre

101–110

68–74

14–18 Jahre

117–124

68–75

11.8 Blutdruck: beeinflussende Faktoren ▶ Körperliche Faktoren. Bei hoher Herzleistung, großem Schlagvolumen und starkem Gefäßwiderstand steigt der Blutdruck. Dies gilt insbesondere für das Zusammenspiel all dieser Faktoren. Entsprechend ist ein niedriger Blutdruck die Folge einer geringen Herzleistung, eines niedrigen Schlagvolumens, etwa bedingt durch eine ungenügende Kontraktion des Herzens und/oder einen niedrigen Gefäßwiderstand. Das Gefäßvolumen, das vom peripheren Gefäßwiderstand und der Körpergröße sowie dem Körpergewicht abhängig ist, wirkt sich auf den Blutdruck aus. Kreislaufaktive Medikamente wirken auf die Herzleistung und/oder den peripheren Gefäßwiderstand und können so die Blutdruckwerte verändern.

11

▶ Psychische Faktoren. In Ruhe und Ausgeglichenheit senkt sich der Blutdruck. Bei einem gesunden Menschen liegt der Blutdruck in einem ausgeglichenen Zustand im unteren Normbereich. Stress, Ärger und Aufregung steigern den Blutdruck. Angst vor Untersuchungen, vor dem Blutdruckmessen selbst, kann den Blutdruck kurzfristig ansteigen lassen und die aktuell gemessenen Werte verfälschen. ▶ Umgebungsabhängige Faktoren. Der Blutdruck ist abhängig von der Umgebung und der Aktivität des Menschen. Ein Kind im Krankenhaus, das lange Zeit nur gelegen hat, bekommt beim ersten Aufstehen starke Blutdruckschwankungen durch seinen Lagewechsel, die subjektiv als Schwindel wahrgenommen werden. ▶ Soziokulturelle Faktoren. Die Ernährungsgewohnheiten haben entscheidenden Einfluss auf das Herz-Kreislauf-System. Die blutdrucksteigernde Wirkung von Koffein ist allgemein bekannt. Nicht endgültig erforscht ist der Zusammenhang zwischen Kochsalzaufnahme und Blutdruck. Über- und Fehlernährung in unserer Wohlstandsgesellschaft führen zu einer steigenden Anzahl von Menschen mit Hypercholesterinämie und Arterien-

266

verkalkung. Hierbei werden die ersten Symptome zu einem immer früheren Lebensalter sichtbar, sodass der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege eine beratende und präventive Bedeutung zukommt.

11.9 Blutdruck: Beobachten und Beurteilen Der Druck wird i. d. R. in den peripheren Arterien bestimmt. Die Normwerte des Blutdrucks sind altersabhängig. Sie werden in ▶ Tab. 11.8 dargestellt.

11.9.1 Messen des Blutdrucks Die Blutdruckmessung erfolgt bei Aufnahme, bei Bedarf (Schwindelgefühl, auffallende Blässe), zur Beobachtung der HerzKreislauf-Situation bei bestimmten Erkrankungen, vor Mobilisation und nach ärztlicher Anordnung beim ruhig sitzenden oder liegenden Patienten. Zur Ermittlung des Blutdrucks stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung: auskultatorische und palpatorische Methode sowie automatische und arterielle Blutdruckmessung.

Auskultatorische Methode Dies ist die Blutdruckmessmethode mit Manschette und Stethoskop. Sie ist begründet von Riva-Rocci. Daher wird der gemessene Blutdruck häufig mit RR abgekürzt.

Vorbereitung ▶ Messorte. Der geläufigste Messort ist die Arteria brachialis. Möglich ist die Blutdruckmessung auch an der Arteria radialis, Arteria poplitea, Arteria tibialis posterior und an der Arteria dorsalis pedis. Folgende Materialien werden benötigt (▶ Abb. 11.24): ● Blutdruckmanschette in der richtigen Größe ● Ballon zum Aufpumpen mit Schraubventil ● Manometer zur Druckanzeige ● Stethoskop

Praxistipp Pflege

Z ●

Zwei Drittel der Extremität sollen durch die Manschette bedeckt sein. Wenn nur die Wahl zwischen einer etwas zu kleinen und einer etwas zu großen Manschette besteht (▶ Tab. 11.9), sollte eher die größere Manschette gewählt werden.

Praxistipp Pflege

Z ●

Die Formel zur Ermittlung der Manschettengröße bei Frühgeborenen und Säuglingen lautet: Breite der Manschette ¼ Oberarmumfang  0; 6  1; 25cm

Die meisten Manschetten haben Markierungen, die die korrekte Auswahl erleichtern.

Abb. 11.24 Blutdruckmessen. a Blutdruckmanschetten in verschiedenen Größen, (Foto: P. Blåfield, Thieme) b Blutdruckmessgerät mit Manschette und Stethoskop. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Atmen und Kreislauf regulieren

Tab. 11.8 Blutdrucknormwerte in Abhängigkeit vom Lebensalter (Pschyrembel online, 2018). Lebensalter

Blutdruck systolisch (mmHg)

diastolisch (mmHg)

Neugeborenes

50–70

28–50

1–3 Monate

70–86

40–60

3–12 Monate

86–93

60–62

1–9 Jahre

95–101

65–69

9–14 Jahre

101–110

68–74

14–18 Jahre

117–124

68–75

11.8 Blutdruck: beeinflussende Faktoren ▶ Körperliche Faktoren. Bei hoher Herzleistung, großem Schlagvolumen und starkem Gefäßwiderstand steigt der Blutdruck. Dies gilt insbesondere für das Zusammenspiel all dieser Faktoren. Entsprechend ist ein niedriger Blutdruck die Folge einer geringen Herzleistung, eines niedrigen Schlagvolumens, etwa bedingt durch eine ungenügende Kontraktion des Herzens und/oder einen niedrigen Gefäßwiderstand. Das Gefäßvolumen, das vom peripheren Gefäßwiderstand und der Körpergröße sowie dem Körpergewicht abhängig ist, wirkt sich auf den Blutdruck aus. Kreislaufaktive Medikamente wirken auf die Herzleistung und/oder den peripheren Gefäßwiderstand und können so die Blutdruckwerte verändern.

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▶ Psychische Faktoren. In Ruhe und Ausgeglichenheit senkt sich der Blutdruck. Bei einem gesunden Menschen liegt der Blutdruck in einem ausgeglichenen Zustand im unteren Normbereich. Stress, Ärger und Aufregung steigern den Blutdruck. Angst vor Untersuchungen, vor dem Blutdruckmessen selbst, kann den Blutdruck kurzfristig ansteigen lassen und die aktuell gemessenen Werte verfälschen. ▶ Umgebungsabhängige Faktoren. Der Blutdruck ist abhängig von der Umgebung und der Aktivität des Menschen. Ein Kind im Krankenhaus, das lange Zeit nur gelegen hat, bekommt beim ersten Aufstehen starke Blutdruckschwankungen durch seinen Lagewechsel, die subjektiv als Schwindel wahrgenommen werden. ▶ Soziokulturelle Faktoren. Die Ernährungsgewohnheiten haben entscheidenden Einfluss auf das Herz-Kreislauf-System. Die blutdrucksteigernde Wirkung von Koffein ist allgemein bekannt. Nicht endgültig erforscht ist der Zusammenhang zwischen Kochsalzaufnahme und Blutdruck. Über- und Fehlernährung in unserer Wohlstandsgesellschaft führen zu einer steigenden Anzahl von Menschen mit Hypercholesterinämie und Arterien-

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verkalkung. Hierbei werden die ersten Symptome zu einem immer früheren Lebensalter sichtbar, sodass der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege eine beratende und präventive Bedeutung zukommt.

11.9 Blutdruck: Beobachten und Beurteilen Der Druck wird i. d. R. in den peripheren Arterien bestimmt. Die Normwerte des Blutdrucks sind altersabhängig. Sie werden in ▶ Tab. 11.8 dargestellt.

11.9.1 Messen des Blutdrucks Die Blutdruckmessung erfolgt bei Aufnahme, bei Bedarf (Schwindelgefühl, auffallende Blässe), zur Beobachtung der HerzKreislauf-Situation bei bestimmten Erkrankungen, vor Mobilisation und nach ärztlicher Anordnung beim ruhig sitzenden oder liegenden Patienten. Zur Ermittlung des Blutdrucks stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung: auskultatorische und palpatorische Methode sowie automatische und arterielle Blutdruckmessung.

Auskultatorische Methode Dies ist die Blutdruckmessmethode mit Manschette und Stethoskop. Sie ist begründet von Riva-Rocci. Daher wird der gemessene Blutdruck häufig mit RR abgekürzt.

Vorbereitung ▶ Messorte. Der geläufigste Messort ist die Arteria brachialis. Möglich ist die Blutdruckmessung auch an der Arteria radialis, Arteria poplitea, Arteria tibialis posterior und an der Arteria dorsalis pedis. Folgende Materialien werden benötigt (▶ Abb. 11.24): ● Blutdruckmanschette in der richtigen Größe ● Ballon zum Aufpumpen mit Schraubventil ● Manometer zur Druckanzeige ● Stethoskop

Praxistipp Pflege

Z ●

Zwei Drittel der Extremität sollen durch die Manschette bedeckt sein. Wenn nur die Wahl zwischen einer etwas zu kleinen und einer etwas zu großen Manschette besteht (▶ Tab. 11.9), sollte eher die größere Manschette gewählt werden.

Praxistipp Pflege

Z ●

Die Formel zur Ermittlung der Manschettengröße bei Frühgeborenen und Säuglingen lautet: Breite der Manschette ¼ Oberarmumfang  0; 6  1; 25cm

Die meisten Manschetten haben Markierungen, die die korrekte Auswahl erleichtern.

Abb. 11.24 Blutdruckmessen. a Blutdruckmanschetten in verschiedenen Größen, (Foto: P. Blåfield, Thieme) b Blutdruckmessgerät mit Manschette und Stethoskop. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

11.9 Blutdruck: Beobachten und Beurteilen

Tab. 11.9 Oberarmumfang und Manschettengröße für das Blutdruckmessen. Alter

Oberarmumfang (in cm)

Manschettengröße (in cm)

Frühgeborenes (ca. 2000 g)

5–9

3

Neugeborenes

7,5 – 10

4

Säugling bis 1 Jahr

10 – 12,5

5

Kleinkind

12,5 – 15

7

Schulkind

15 – 20

9

Jugendlicher

20 – 30

12

Erwachsener

25 – 40

13 (Normmanschette)

adipöser oder muskulöser Erwachsener

> 40

18

Durchführung An der Extremität, an der der Blutdruck gemessen wird, darf sich kein venöser oder arterieller Zugang oder Shunt befinden. Das Kind wird über die Blutdruckmessung aufgeklärt; vielleicht kann ein allzu ängstliches Kind die Messung zuerst bei anderen nicht so ängstlichen Kindern verfolgen. Die Messung wird folgendermaßen durchgeführt: ● Der Arm des Kindes wird entspannt in Herzhöhe gelagert, die Manschette luftleer angebracht und fixiert. ● Die Pflegefachkraft legt den Schallaufnehmer des Stethoskops in die Ellenbeuge auf die Arteria brachialis (bei der Messung an einer anderen Arterie wird die Manschette oberhalb des Messpunktes angebracht und das Stethoskop auf den Messpunkt angelegt). ● Die Manschette wird bei geschlossenem Ventil aufgepumpt. Gleichzeitig wird an derselben Extremität der Puls gefühlt. Ist der Manschettendruck gleich dem Arteriendruck, ist kein Puls mehr tastbar. Der Manschettendruck wird nur leicht über diesen Wert hin erhöht, max. 30 mmHg. ● Es erfolgt ein langsames Öffnen des Luftauslassventils (2 – 5 mmHg pro Sekunde) unter gleichzeitiger Kontrolle der Arterientöne. ● Der erste hörbare Ton entspricht dem systolischen Blutdruckwert. ● Der letzte hörbare Wert entspricht dem diastolischen Blutdruckwert (der diastolische Blutdruckwert ist bei Säuglingen häufig nicht hörbar). ● Bei Messunsicherheiten wird die Messung nach kurzer Wartezeit wiederholt. Sie sollte nicht direkt hintereinander an der gleichen Extremität wiederholt werden, da sonst der ermittelte Wert verfälscht sein kann. ● Die Dokumentation des Messergebnisses erfolgt mit Angabe der Extremität, an der gemessen wurde, und ggf. Besonderheiten während des Messens.



Die hygienische Aufarbeitung des Materials erfolgt nach den Richtlinien des Krankenhauses.

Palpatorische Methode Bei der palpatorischen Blutdruckmessung wird statt der Auskultation der Arterientöne nur der Puls getastet, wenn das Hören der Arterientöne erschwert ist. Hierbei kann nur der systolische Blutdruck ertastet werden.

Automatische Blutdruckmessung Bei Kindern wird häufig die automatische Blutdruckmessung mittels Oszillometrie angewandt (▶ Abb. 11.25): ● Die Manschettengröße wird anhand der Herstellerangaben abgemessen und ausgewählt (▶ Tab. 11.9). ● Das Auf- und Entblocken der Manschette erfolgen automatisch, entweder für eine 1-malige Messung oder kontinuierlich in einem frei zu wählenden Intervall. ● Die systolischen und diastolischen Blutdruckwerte werden durch die arteriellen Pulsationen ermittelt. ● Bei einer einmaligen Messung wird die Plastikmanschette direkt nach dem Vorgang entfernt, um Hautreizungen zu vermeiden. ● Bei der automatischen Blutdruckmessung in sehr kurzen Messintervallen wird die Manschette am Kind belassen, um es nicht durch häufige Manipulationen zu stören. Dieses Vorgehen muss jedoch kritisch abgewogen werden, da die Gefahr von Durchblutungs- und Nervenschädigungen besteht. Der Hautzustand unter der Manschette muss regelmäßig kontrolliert werden. Beim Auftreten von Hautrötungen, Druckstellen, verstärkter Schweißbildung unter der Manschette, Durchblutungs- oder gar Sensibilitätsstörungen muss der Messort häufiger gewechselt werden.

Abb. 11.25 Oszillometrie. Automatische Blutdruckmessung am Oberarm. (Foto: P. Blåfield, Thieme)





Der Gebrauch eines automatischen Blutdruckmessgerätes setzt eine Einweisung nach dem MedizinprodukteBetreibergesetz voraus. Die hygienische Aufbereitung des Materials richtet sich nach den Herstellerangaben und den kliniküblichen Richtlinien.

Arterielle Blutdruckmessung Die arterielle Blutdruckmessung ist eine in der Intensivpflege eingesetzte Methode zur invasiven Druckmessung in einer großen Arterie (z. B. Arteria radialis oder Arteria femoralis), um die aktuellen Blutdruckwerte genau und kontinuierlich zu ermitteln (▶ Abb. 11.26). Bei Neugeborenen ist die direkte Druckmessung über die Nabelarterie möglich. An einen Katheter, der in der Arterie liegt, wird ein Druckmesssystem angeschlossen, das die Druckkurve und die ermittelten Werte auf einem Monitor anzeigt. Die arterielle Kanüle wird kontinuierlich über ein spezielles Spülverfahren mit geringen Mengen heparinisierter physiologischer Kochsalzlösung gespült, damit sie nicht thrombosiert. Sie ist mit einem roten Warnhinweis „Arterie“ gekennzeichnet und die Dreiwegehähne des Druckmesssystems sind rot, um einer versehentlichen intraarteriellen Injektion vorzubeugen.

11

7

Atmen und Kreislauf regulieren Ist bei einem ermittelten niedrigen Blutdruck keinerlei Auffälligkeit bei den genannten Parametern erkennbar, so kann es sich hierbei um eine individuelle Abweichung vom Normwert handeln, d. h., das Kind hat einfach immer einen niedrigeren Blutdruck ohne Krankheitswert.

Merke Abb. 11.26 Arterielle Blutdruckmessung. Häufig in der Intensivpflege eingesetzt. a Notwendige Materialien zur Messung über die Unterarmarterie, (Foto: Thieme Archivbild) b ein arterieller Zugang muss besonders gekennzeichnet sein. (Foto: Thieme Archivbild)

Merke

H ●

Die Eintrittsstelle der arteriellen Kanüle sowie die Verbindungsstellen des Systems werden nicht zugedeckt, um eine mögliche Dislokation oder Dekonnektion sofort zu erkennen. Es besteht die Gefahr von großen Blutverlusten.



Indirekte Beurteilung des Blutdrucks

11

Neben der Ermittlung der Blutdrucküberwachungswerte kommt der Einschätzung der Kreislaufsituation über die pflegerische Beobachtung eine zentrale Rolle zu. So können mögliche Messfehler (▶ Tab. 11.10) erkannt und je nach Kind individuell unterschiedliche Blutdruckwerte besser eingeschätzt werden. Zur Ermittlung der Kreislaufsituation werden folgende Parameter herangezogen: ● Mikrozirkulation: Die Kreislaufsituation in den kleinen Gefäßen wird anhand der Hautfarbe, Hauttemperatur und der Rekapillarisierungszeit eingeschätzt. Ist





das Hautkolorit statt rosig grau-blassmarmoriert, die Hauttemperatur reduziert und füllen sich die Kapillaren nach Druck verzögert mit Blut, so ist die Mikrozirkulation beeinträchtigt. Eine Rekapillarisierungszeit über 2 Sekunden spricht für eine verminderte Durchblutungsleistung. Es kann eine Hypotonie vorliegen, jedoch ist auch eine Zentralisation ohne Blutdruckveränderung möglich. Urinausscheidung: Ein anhaltend niedriger Blutdruck reduziert auch die Durchblutung innerer Organe, besonders der Nieren, was sich in einem Rückgang der Urinausscheidung bemerkbar macht. Bei einer Oligurie oder gar Anurie muss daher an eine ausgeprägte Beeinträchtigung der Kreislaufsituation gedacht werden. Herzfrequenz: Um die Durchblutung bei einer Hypotonie zu gewährleisten, kompensiert der Organismus die Kreislaufschwäche häufig durch einen Anstieg der Herzfrequenz. Allgemeinbefinden: Allgemeine Müdigkeit und Schwindelgefühle können bei älteren Kindern eine Hypotonie anzeigen.

H ●

Die Hypertonie verursacht i. d. R. keine Symptome und ist daher durch rein pflegerische Beobachtung nicht zu erkennen.

Aufgrund der Zunahme der Hypertonien im Jugendalter werden daher routinemäßige Blutdruckkontrollen bei den Vorsorgeuntersuchungen sowie bei Arztbesuchen aus anderer Ursache und/oder der Aufnahmeuntersuchung im Krankenhaus empfohlen.

11.9.2 Abweichungen In ▶ Tab. 11.11 sind die beobachtbaren Abweichungen des Blutdrucks zusammengefasst.

11.9.3 Individuelle Situationseinschätzung Zur individuellen Situationseinschätzung muss beachtet werden: ● Was sind die Normwerte des Kindes? Manche Menschen haben z. B. immer einen etwas niedrigen Blutdruck. ● Wie ist das Allgemeinbefinden mit diesem Blutdruck? Eine leichte Hypotonie mit unbeeinträchtigtem Allgemeinbefinden ist meistens harmlos. ● Was tat das Kind unmittelbar vor der Blutdruckmessung? Schlief es, hatte es

Tab. 11.10 Fehlerquellen beim Blutdruckmessen.

268

Fehlerquelle

Folge

Manschette war nicht luftleer

verfälschte Messergebnisse

zu breite Manschette

falsch niedriger Blutdruckwert

zu schmale Manschette

falsch hoher Blutdruckwert

Stethoskop drückt zu stark auf den Arm

Geräusche auch unterhalb des diastolischen Drucks hörbar

zu schnelles Öffnen des Luftauslassventils

erster Ton wird überhört

verspätetes Öffnen des Luftauslassventils

venöser Stau führt zu einem falsch hohen Wert

undichtes Messsystem

keine Messung möglich

unruhiger Patient

keine Messung möglich oder falsch hohe Werte

schlecht hörbare Arterientöne bei Kleinkindern

keine Messung möglich, andere Messmethode bevorzugen

falsche Nullpunkteinstellung vor Beginn der Messung

verzerrte Messwerte, zu hoch oder zu niedrig

Gefäßanomalien, Shunt, arterieller oder venöser Zugang, Sättigungsableitung

Messung erschwert oder unmöglich, falsche Messwerte, Beeinträchtigung der Zugänge oder Sättigungsableitung

Geräuschquellen im Zimmer

Hören leiser Arterientöne erschwert

11.10 Blutdruck: Pflegemaßnahmen

Tab. 11.11 Blutdruckabweichungen. Abweichung

mögliche Ursachen

Hypotonie (= Unterschreitung des altersgemäßen Blutdrucks) physiologische Hypotonie: niedriger Blutdruck ohne Krankheitswert

● ● ●

orthostatische Hypotonie: körperhaltungsabhängiger Blutdruckabfall





reduzierter Stoffwechsel im Schlaf Hungerkuren plötzliches Aufstehen, besonders bei vegetativ labilen oder lange immobilisierten Patienten längeres Stehen ohne Bewegungsmöglichkeiten

symptomatische Hypotonie: ● niedriger Blutdruck als Krankheitsanzeichen ● mit Tachykardie, blasser, kaltschweißiger Haut, Schwindel

● ●

Herz-, Kreislauferkrankungen, Schock, Blutverlust Einnahme von herz- und kreislaufaktiven Medikamenten (z. B. BetaBlocker)

Kreislaufkollaps: akut auftretende Kreislaufreaktion mit Bewusstseinsverlust



kurzfristige Minderversorgung des Gehirns durch den Blutdruckabfall

vasovagale Synkope: gleichzeitiger Abfall von systolischem und diastolischem Blutdruck



„Versacken“ des Blutvolumens in abhängigen Köperregionen führt ebenfalls zum Kollaps

primäre oder essenzielle Hypertonie: Blutdruckerhöhung ohne eindeutig feststellbare Ursache



familiär gehäuft eventuell Lebens- und Ernährungsgewohnheiten (z. B. Stress)

sekundäre oder symptomatische Hypertonie (mit eindeutigen organischen Ursachen):



Hypertonie

1





angeborene oder erworbene Gesundheitsstörungen (z. B. bronchopulmonale Dysplasie) erhöhter Gefäßwiderstand



renale Hypertonie



Nierenerkrankungen



endokrine Hypertonie (stoffwechselbedingt)



vermehrte Adrenalin-, Noradrenalin-, Aldosteron- oder Glukokortikoidausschüttung (z. B. bei Nebennierenrindentumoren)



kardiovaskuläre Hypertonie (herz-, kreislaufbedingt)



Aortenisthmusstenose, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Arteriosklerose



im Stehen kleine Amplitudenverringerung, extrem bei der orthostatischen Hypotonie kleines Schlagvolumen Aortenklappenstenose

Blutdruckamplitude

2

kleine Blutdruckamplitude

● ●

große Blutdruckamplitude

● ●

● ●

Blutdruckdifferenz

großes Schlagvolumen Aortenklappeninsuffizienz, bei der durch fehlenden Klappenschluss der diastolische Blutdruck abfällt persistierender Ductus arteriosus Botalli Hirndruck

3

leichte Differenz



Normalzustand (bei Säuglingen normalerweise keine Differenz; ab 1 Jahr an Oberschenkeln max. 20 mmHg höher)

Erhöhung des Blutdrucks in der oberen Körperhälfte



Aortenisthmusstenose

Erhöhung des Blutdrucks in den Beinen



Aortenklappeninsuffizienz

11

1

deutliche Erhöhung des altersgemäßen Blutdrucks 2 Differenz zwischen systolischem und diastolischem Blutdruck 3 Differenz des Blutdrucks in den einzelnen Extremitäten; diagnostisches Hilfsmittel bei vermuteten Herzfehlern





körperliche Anstrengung oder gar Stress? Wie toleriert das Kind die Blutdruckmessung? Welche Situationen führen zu einem Blutdruckanstieg bei dem Kind, z. B. Schmerzen und Unbehagen?

11.10 Blutdruck: Pflegemaßnahmen 11.10.1 Prävention Merke

H ●

Eine gesunde ausgeglichene Lebensführung mit ausgewogener Ernährung, ausreichender Bewegung an der frischen Luft, Entspannung und einem geregelten Tagesablauf beugt bei Gesunden Blutdruckveränderungen und Kreislauferkrankungen vor.

Die Notwendigkeit der Beratung von Familien über eine gesundheitsfördernde Ernährung und gesundheitsbewusste Lebensweise sowie die Integration von Ernährungsberatung und Bewegungsförderung in die Setting-Ansätze Kindergarten und Schule wird angesichts dramatisch steigender frühzeitiger Auffälligkeiten des Herz-Kreislauf-Systems im Kindesalter inzwischen allgemein gesehen. Entsprechende Präventionsprogramme sind ein Aufgabengebiet, in dem auch Pflegefachkräfte tätig werden können.

9

11.10 Blutdruck: Pflegemaßnahmen

Tab. 11.11 Blutdruckabweichungen. Abweichung

mögliche Ursachen

Hypotonie (= Unterschreitung des altersgemäßen Blutdrucks) physiologische Hypotonie: niedriger Blutdruck ohne Krankheitswert

● ● ●

orthostatische Hypotonie: körperhaltungsabhängiger Blutdruckabfall





reduzierter Stoffwechsel im Schlaf Hungerkuren plötzliches Aufstehen, besonders bei vegetativ labilen oder lange immobilisierten Patienten längeres Stehen ohne Bewegungsmöglichkeiten

symptomatische Hypotonie: ● niedriger Blutdruck als Krankheitsanzeichen ● mit Tachykardie, blasser, kaltschweißiger Haut, Schwindel

● ●

Herz-, Kreislauferkrankungen, Schock, Blutverlust Einnahme von herz- und kreislaufaktiven Medikamenten (z. B. BetaBlocker)

Kreislaufkollaps: akut auftretende Kreislaufreaktion mit Bewusstseinsverlust



kurzfristige Minderversorgung des Gehirns durch den Blutdruckabfall

vasovagale Synkope: gleichzeitiger Abfall von systolischem und diastolischem Blutdruck



„Versacken“ des Blutvolumens in abhängigen Köperregionen führt ebenfalls zum Kollaps

primäre oder essenzielle Hypertonie: Blutdruckerhöhung ohne eindeutig feststellbare Ursache



familiär gehäuft eventuell Lebens- und Ernährungsgewohnheiten (z. B. Stress)

sekundäre oder symptomatische Hypertonie (mit eindeutigen organischen Ursachen):



Hypertonie

1





angeborene oder erworbene Gesundheitsstörungen (z. B. bronchopulmonale Dysplasie) erhöhter Gefäßwiderstand



renale Hypertonie



Nierenerkrankungen



endokrine Hypertonie (stoffwechselbedingt)



vermehrte Adrenalin-, Noradrenalin-, Aldosteron- oder Glukokortikoidausschüttung (z. B. bei Nebennierenrindentumoren)



kardiovaskuläre Hypertonie (herz-, kreislaufbedingt)



Aortenisthmusstenose, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Arteriosklerose



im Stehen kleine Amplitudenverringerung, extrem bei der orthostatischen Hypotonie kleines Schlagvolumen Aortenklappenstenose

Blutdruckamplitude

2

kleine Blutdruckamplitude

● ●

große Blutdruckamplitude

● ●

● ●

Blutdruckdifferenz

großes Schlagvolumen Aortenklappeninsuffizienz, bei der durch fehlenden Klappenschluss der diastolische Blutdruck abfällt persistierender Ductus arteriosus Botalli Hirndruck

3

leichte Differenz



Normalzustand (bei Säuglingen normalerweise keine Differenz; ab 1 Jahr an Oberschenkeln max. 20 mmHg höher)

Erhöhung des Blutdrucks in der oberen Körperhälfte



Aortenisthmusstenose

Erhöhung des Blutdrucks in den Beinen



Aortenklappeninsuffizienz

11

1

deutliche Erhöhung des altersgemäßen Blutdrucks 2 Differenz zwischen systolischem und diastolischem Blutdruck 3 Differenz des Blutdrucks in den einzelnen Extremitäten; diagnostisches Hilfsmittel bei vermuteten Herzfehlern





körperliche Anstrengung oder gar Stress? Wie toleriert das Kind die Blutdruckmessung? Welche Situationen führen zu einem Blutdruckanstieg bei dem Kind, z. B. Schmerzen und Unbehagen?

11.10 Blutdruck: Pflegemaßnahmen 11.10.1 Prävention Merke

H ●

Eine gesunde ausgeglichene Lebensführung mit ausgewogener Ernährung, ausreichender Bewegung an der frischen Luft, Entspannung und einem geregelten Tagesablauf beugt bei Gesunden Blutdruckveränderungen und Kreislauferkrankungen vor.

Die Notwendigkeit der Beratung von Familien über eine gesundheitsfördernde Ernährung und gesundheitsbewusste Lebensweise sowie die Integration von Ernährungsberatung und Bewegungsförderung in die Setting-Ansätze Kindergarten und Schule wird angesichts dramatisch steigender frühzeitiger Auffälligkeiten des Herz-Kreislauf-Systems im Kindesalter inzwischen allgemein gesehen. Entsprechende Präventionsprogramme sind ein Aufgabengebiet, in dem auch Pflegefachkräfte tätig werden können.

9

Atmen und Kreislauf regulieren

11.10.2 Maßnahmen bei Hypotonie Leichte, vegetativ bedingte, orthostatische Hypotonien, wie sie insbesondere bei pubertierenden Jugendlichen häufig sind, lassen sich durch gesundheitsfördernde Maßnahmen gut beeinflussen. Rechtzeitiges, langsames morgendliches Aufstehen, Wechselduschen, Kneipp-Anwendungen, bei Jugendlichen auch ein morgendlicher Schluck Kaffee helfen, die zumeist harmlosen orthostatischen Hypotonien abzumildern, bevor zu blutdrucksteigernden Medikamenten gegriffen werden muss. Bei Blutdruckabfällen infolge einer körperlichen Grunderkrankung (Volumenmangel, Infektionskrankheit, Herzerkrankung) wird auf ärztliche Anordnung die Grundkrankheit medikamentös beeinflusst. Es stehen spezielle Überwachungsparameter und gesundheitsfördernde und unterstützende Pflegemaßnahmen je nach Grundkrankheit im Vordergrund. Bei der postoperativen Mobilisation sowie der Mobilisation von schwer kranken Kindern ist die Kreislaufsituation besonders im Blick zu halten. Bevor ein Kind aufsteht, wird es zunächst mit den Beinen nach unten an die Bettkante gesetzt. Es kann hilfreich sein, vor der Mobilisation die Beine zu massieren, da der Gefühlsverlust für die untere Extremität nach längerer Bettruhe den Impuls, nach unten zu schauen, verstärkt. Das Kind wird aufgefordert, geradeaus zu schauen, da der Blick nach unten ein Schwindelgefühl hervorrufen kann. Zudem wird das Kind gebeten, tief und langsam durchzuatmen. Erst dann kann es auf seine Beine gestellt werden. Es wird auf Hautkoloritverfärbung (Blässe) oder Kaltschweißigkeit beobachtet.

11

270

Merke

H ●

Die Mobilisation bei kollapsgefährdeten Kindern erfolgt immer mit 2 Pflegefachkräften. Sollte eine auffallende Blässe, Kaltschweißigkeit oder gar ein starker Schwindel beobachtet werden, wird die Maßnahme sofort unterbrochen.

▶ Maßnahmen bei einem Kreislaufkollaps. Dem Kind werden im Liegen die unteren Extremitäten leicht hochgehalten, sodass das Blutvolumen von den Extremitäten zu den Organen (besonders zum Gehirn) zurückfließt (Schocklage). Das Kind erholt sich i. d. R. hierdurch rasch. Bei größeren Problemen erfolgen die Maßnahmen in Abhängigkeit von der Ursache.

11.10.3 Hypertonie Merke

H ●

Eine bekannte Hypertonie ist mit regelmäßigen Blutdruckkontrollen zu überwachen, da sie kaum Symptome bietet.

Ein Kind mit einer Hypertonie sollte, soweit möglich, Ärger und Stress vermeiden. Die Eltern sind diesbezüglich im Umgang mit dem Kind zu beraten. Sinnvoll ist der Einsatz von Tagesablaufplänen, die dem Kind ausreichend Zeit zur Erledigung der Hausaufgaben, aber auch zum Spielen und unverplante Freizeit einräumen. Die Angst vor der Hypertonie darf bei den Eltern jedoch nicht dazu führen, dass sie auf notwendige Konsequenz in ihren Erziehungsmaßnahmen verzichten.

Das Kind sollte Entspannungstechniken erlernen, mit deren Hilfe es unvermeidbare Stresssituationen besser bewältigen kann. Es ist in Bezug auf seine Nahrungsaufnahme dahin gehend zu beraten, dass es Übergewicht entgegenwirkt oder reduziert, indem es sich fettreduziert ernährt, Kaffee, Cola und Schwarzteegenuss vermeidet und seine Kochsalzzufuhr einschränkt. Es kann vorsichtig ruhige Ausdauersportarten, z. B. Schwimmen, betreiben. Da bei Kindern eher eine grundsätzliche Gesundheitsstörung Ursache der Hypertonie ist als bei Erwachsenen, wird sie von den behandelnden Ärzten intensiv gesucht. Dies kann für die Familien einen längeren Krankenhausaufenthalt mit vielen diagnostischen Maßnahmen bedeuten. Ist die Grunderkrankung herausgefunden, werden Kind und Eltern im Umgang mit dieser Krankheit, seiner Therapie und der notwendigen Überwachung angeleitet. Eine Hypertonie, die sich mit den konservativen Maßnahmen nicht ausreichend in den Griff bekommen lässt, muss zur Vermeidung weiterer Folgekrankheiten konsequent und längerfristig auf ärztliche Anordnung medikamentös behandelt werden. Regelmäßige Blutdruckkontrollen begleiten die Therapieeinstellung. Bei Veränderung der Lebensumstände und bei Wachstumsschüben muss die Therapie möglicherweise neu angepasst werden. Unterstützung und Schulung einer gesundheitsfördernden Lebensweise werden auch während der medikamentösen Therapie weiter fortgesetzt.

Kapitel 12 Körpertemperatur regulieren

12.1

Bedeutung

272

12.2

Beeinflussende Faktoren

272

12.3

Beobachten und Beurteilen

273

12.4

Pflegemaßnahmen

284

12.5

Physikalische Therapie

289

Körpertemperatur regulieren

12 Körpertemperatur regulieren Petra Kullick

12.1 Bedeutung

12

272

Die Aufrechterhaltung der Körpertemperatur ist eine notwendige Voraussetzung für die Existenz menschlichen Lebens. Alle Funktionen unseres Organismus sind an eine relativ konstante Körpertemperatur von etwa 37 °C im Körperinneren – der Körperkerntemperatur – gebunden. Bestehen größere Abweichungen von der physiologischen Körpertemperatur über längere Zeit, so treten lebensbedrohliche Funktionsverluste des Körpers auf. Die Körpertemperatur wird mittels eines Thermokontrollzentrums im Gehirn nach dem Prinzip eines Regelkreises innerhalb enger Grenzen reguliert. Um die physiologische Körperkerntemperatur aufrechtzuhalten, muss ein Gleichgewicht zwischen Wärmebildung und Wärmeabgabe bestehen. Die Wärmebildung erfolgt durch Stoffwechselprozesse in den Organen. Die Wärmeabgabe (S. 512) erfolgt hauptsächlich über die Körperoberfläche (Haut) durch Wärmeleitung, Wärmestrahlung, Wärmeströmung und Wasserverdunstung. Die Temperaturregulation bei Früh- und Neugeborenen setzt unmittelbar nach der Geburt ein, wird aber erst im Laufe der Entwicklung voll leistungsfähig. Bei Abweichungen, z. B. bei kühler oder heißer Umgebungstemperatur oder bei Erkrankungen, die Fieber auslösen, werden Regulationsmechanismen aktiviert. Starke Temperaturveränderungen werden als unangenehm empfunden und lösen Verhaltensänderungen aus. Kälteeinwirkung veranlasst den Menschen, sich z. B. durch Kleidung, Heizung, wärmende Decken oder aktive Muskelbetätigung vor Kälte zu schützen. Bei hohen Außentemperaturen entfernen wir Kleidungsstücke oder suchen einen schattigen Platz auf. Jeder Mensch zeigt in einem gewissen Rahmen ein subjektives Wärme- und Kälteempfinden. Jüngere Kinder, Menschen mit bestimmten Behinderungen oder Störungen der Wahrnehmung, wie Verwirrtheitszuständen oder Bewusstlosigkeit, müssen hinsichtlich Temperaturveränderungen beobachtet werden, da sie entweder nicht in der Lage sind, ihr Temperaturempfinden mitzuteilen, oder nicht adäquat darauf reagieren können. Sie benötigen je nach Grad der Selbstständigkeit Unterstützung beim Regulieren der Körpertemperatur. Auch psychische Erregung, wie Zorn oder Angst, kann mit kurzfristigen Temperaturanstiegen, -abfällen oder einem

veränderten Temperaturempfinden verbunden sein. Dieses Zusammenspiel von Gefühlsebene und Körperreaktion findet sich auch in unserer Sprache wieder. Redewendungen, wie „Lampenfieber haben“, „vor Wut kochen“ oder „vor Schreck kalt den Rücken herunterlaufen“, verdeutlichen dies. Und nicht zuletzt fühlen wir uns in einer „kalten Atmosphäre“ angespannt, alleingelassen und unsicher. Emotionale Wärme dagegen vermittelt ein Gefühl von Geborgenheit, Schutz und Behaglichkeit.

12.2 Beeinflussende Faktoren Die Lebensaktivität „Körpertemperatur regulieren“ wird von vielen Faktoren beeinflusst, die Auswirkungen auf die individuelle Ausführung dieser Lebensaktivität haben.

12.2.1 Körperliche Faktoren ▶ Lebensalter. In der Neugeborenenperiode ist die Temperaturregulation noch sehr instabil. Dies erklärt die besondere Empfindlichkeit von Frühgeborenen (S. 512) und Neugeborenen (S. 481) gegenüber unangemessenen Umgebungstemperaturen. Neugeborenen fehlt die Fähigkeit, die Wärmeproduktion durch Muskelzittern zu steigern. Werden Neugeborene zu kühlen Umgebungstemperaturen ausgesetzt, wird Wärme durch zitterfreie Thermogenese gebildet, einhergehend mit einem erhöhten Sauerstoff- und Energieverbrauch. Zudem neigen insbesondere Säuglinge schnell zu Wärmeverlusten, weil ihre wärmeabgebende Körperoberfläche gegenüber der wärmebildenden Körpermasse im Vergleich zum Erwachsenen relativ groß ist. Untergewichtige Kinder verlieren schneller Körperwärme, da ein Mangel an subkutanem Fettgewebe nur unzureichend isoliert. Eine Überwärmung von Säuglingen durch zu warme Umgebungstemperaturen und Bekleidung führt ebenfalls zu einem erhöhten Energieumsatz und wird als ein Risikofaktor für den plötzlichen Kindstod vermutet. Aber auch Schreien und ausgelassenes Spiel führen bei Kindern schneller zur Überhitzung, da im Verhältnis zur Körpermasse mehr Wärme produziert wird als bei Erwachsenen. Ältere Menschen frieren leichter, da ihre Stoffwechselleistung reduziert ist und sie sich häufig wenig bewegen.

▶ Hormone. Durch Einwirkung der Geschlechtshormone kommt es während des Menstruationszyklus zu Temperaturschwankungen. Stoffwechselaktive Hormone können die Wärmeproduktion verändern. So kann bei einer Überproduktion von Schilddrüsenhormonen (Hyperthyreose) die Körpertemperatur infolge der Stoffwechselbeschleunigung ansteigen. Umgekehrt tritt bei einer Unterfunktion der Schilddrüse (Hypothyreose) durch die verminderte Stoffwechseltätigkeit eine niedrigere Körpertemperatur auf. ▶ Nahrungsaufnahme. Durch Stoffwechselprozesse wird beim Abbau von Nährstoffen Wärme freigesetzt. Hochkalorische Nahrungsmittel liefern vermehrt Energie. Viele Menschen nehmen in kalten Jahreszeiten oder kalten Erdregionen eher deftige, fett- und eiweißreiche Mahlzeiten zu sich, da diese mehr Kalorien und damit mehr Energie zur Wärmeproduktion liefern. ▶ Aktivität. Durch Muskeltätigkeit wird Wärme produziert, deshalb hängt die Körpertemperatur eng mit dem Ausmaß an Bewegung zusammen. Sportliche Aktivitäten, Herumtoben oder auch heftiges Schreien eines Säuglings lassen die Körpertemperatur ansteigen. Schlaf und Immobilität lassen die Körpertemperatur leicht absinken. ▶ Erkrankungen. Infektiöse und nichtinfektiöse Erkrankungen verursachen Temperaturanstiege. Störungen der Gehirnfunktion mit Schädigung des Temperaturregulationszentrums im Hypothalamus führen häufig zu normabweichenden und schwer zu beeinflussenden Körpertemperaturen. ▶ Medikamente. Bestimmte Arzneimittel, z. B. Antibiotika, können Fieber („Drug fever“) auslösen. Antipyretika (z. B. Paracetamol) werden zur Fiebersenkung eingesetzt.

12.2.2 Psychische Faktoren Starke Emotionen, wie große Freude, Angst, aber auch Stresssituationen und Schmerzen können die Stoffwechselaktivität beeinflussen und zu leichten Veränderungen der Temperatur sowie der Schweißsekretion führen. Viele Menschen haben es selbst erlebt, dass sich z. B. in Prüfungssituationen die Hände kalt und feucht anfühlen oder dass man „ins Schwitzen kommt“. Wärme

12.3 Beobachten und Beurteilen trägt zur Entspannung und Beruhigung bei, z. B. Wärmeauflagen bei verschiedenen Schmerzzuständen oder ein warmer, beruhigender Tee bei nervlicher Anspannung. Die Körperwärme eines anderen Menschen vermittelt ein wohliges Gefühl und ist für eine gesunde psychische und körperliche Entwicklung von Kindern unentbehrlich. Auch Farben strahlen Wärme oder Kälte aus und können unser Wohlbefinden beeinflussen. Gelb- und Rottöne gelten als „warme“ Farben, Blautöne wirken kühl. In psychologischen Untersuchungen gehen Fachleute der Frage nach, ob gezielte Farbanwendungen bestimmte Erkrankungen, wie Depressionen, positiv beeinflussen können.

12.2.3 Soziokulturelle Faktoren Die Zugehörigkeit zu einem Kulturkreis bedeutet manchmal auch, eine vorgegebene Kleiderordnung einzuhalten, die es z. B. nicht erlaubt, bei hohen Außentemperaturen bestimmte Kleidungsstücke abzulegen. In südlichen Ländern halten viele Menschen in der Mittagshitze eine Siesta ein.

12.2.4 Umgebungsabhängige Faktoren Zu warme oder zu kühle Umgebungstemperaturen beeinflussen auf Dauer die Körpertemperatur. Der menschliche Körper hat zwar die Fähigkeit, sich an Hitze oder Kälte anzupassen, aber extreme Klimabedingungen, die plötzlich auftreten, z. B. eine große Hitzewelle, lassen dem Körper nur eine geringe Möglichkeit, sich zu akklimatisieren. Ein Hitzestau kann bei mangelnden Vorkehrungen die Folge sein. Ungenügende oder zu warme Bekleidung kann zu übermäßigem Wärmeverlust oder Wärmestauung führen. Die Auswahl entsprechender Kleidung schützt uns bei den unterschiedlichen Wetterbedingungen.

12.2.5 Wirtschaftliche Faktoren Eine ausreichende finanzielle Grundlage zum Beheizen einer Wohnung und den klimatischen Verhältnissen entsprechende Kleidung ermöglichen es, angemessene Bedingungen aufrechtzuerhalten.

12.3 Beobachten und Beurteilen Die Ermittlung der Körpertemperatur ist eine der am häufigsten durchgeführten Pflegetätigkeiten. Die Körpertemperatur lässt Rückschlüsse auf den Wärmehaushalt zu. Abweichungen vom Normbereich, wie Fieber, Hypothermie und Temperaturlabilität (z. B. bei Frühgeborenen), liefern wichtige Informationen über gestörte oder unreife Körperfunktionen sowie Erkrankungen, häufig bevor spezifische Symptome auftreten. Die Kontrolle der Körpertemperatur beeinflusst pflegerische Entscheidungen. Im Rahmen der interdisziplinären Zusammenarbeit orientieren sich Ärzte bei Diagnosestellung (z. B. Anordnung von Laboruntersuchungen) und Therapie (z. B. Anordnung von fiebersenkenden Medikamenten) an den Messergebnissen der Körpertemperatur. Aktuelle (pflege-)wissenschaftliche Erkenntnisse und evidenzbasiertes Wissen zur Überwachung und Beurteilung der Körpertemperatur sollten Pflegefachkräfte in die Praxis integrieren, um fundiert handeln und entscheiden zu können.

12.3.1 Messen der Körpertemperatur Ziel des Temperaturmessens ist es, Abweichungen von der normalen Körpertemperatur festzustellen und den Temperaturverlauf über eine bestimmte Zeit zu verfolgen. Die Temperaturmessung ist eine weitgehend objektive Methode zur Ermittlung der Körpertemperatur. Voraussetzung für ein verlässliches Messergebnis sind die fachrichtige Durchführung der Messmethode und die Ausschaltung von Störeinflüssen.

Indikationen zur Messung der Körpertemperatur Eine Körpertemperatur außerhalb des Normbereichs weist meist auf eine körperliche Störung oder eine Veränderung durch äußere Einflüsse hin. Aus folgenden Gründen wird die Körpertemperatur gemessen: ● zur Ermittlung eines Ausgangs- und Vergleichswertes (z. B. zur Erhebung des individuellen physiologischen Grundtemperaturwertes eines Menschen, bei Aufnahme ins Krankenhaus, vor Operationen und Bluttransfusionen) ● bei Patienten mit unreifer oder gestörter Temperaturregulation (z. B. bei Frühgeborenen, schweren SchädelHirn-Traumen, Flüssigkeitsmangel) ● bei Patienten mit Gefährdung für Fieber (z. B. immunsupprimierte Kinder)

















bei ersten Anzeichen von veränderter Körpertemperatur zum Ausschluss und zur Früherkennung von Infektionen (z. B. prä- und postoperativ, vor und nach invasiven Eingriffen, bei liegenden Zu- und Ableitungen) zur Überwachung des Fieberverlaufs, bei Untertemperatur und Temperaturschwankungen bei äußerer Wärme- oder Kältezufuhr (z. B. Pflege im Inkubator, unter Fototherapie, bei Wärme- und Kälteanwendungen) zur Kontrolle der Wirksamkeit therapeutischer Maßnahmen (z. B. zur Fiebersenkung) zu Diagnosezwecken, z. B. Erkennen von typischen Fieberverläufen bei bestimmten Erkrankungen (S. 282) zur Feststellung des Ovulationszeitpunktes zur Überwachung der Hauttemperatur, um Durchblutungsstörungen und Zentralisation (z. B. bei Sepsis) zu erkennen

Praxistipp Pflege

Z ●

Häufigere Temperaturkontrollen werden bei rektalen Körpertemperaturen ab 37,5 °C, bei Fiebergefährdung, Untertemperatur, Temperaturlabilität und Anwendung temperaturbeeinflussender Maßnahmen notwendig.

Patientenorientierte Temperaturmessung Vor der Entscheidung, wann und wie oft die Körpertemperatur bestimmt wird, sollte die Überlegung stehen, wie insbesondere bei jüngeren Kindern eine schonende und zugleich aussagekräftige Messung erzielt werden kann. Temperaturmessungen sind oft ritualisierte Pflegehandlungen. Deshalb wird nach wie vor in vielen Kliniken traditionell 1- bis 2-mal täglich die Temperatur gemessen, obwohl für einzelne Patienten keine Notwendigkeit besteht. Zudem lassen viele Kinder eine Körpertemperaturmessung nicht ohne Weiteres zu. Jüngere Kinder, besonders im Vorschulalter, ängstigen sich vor invasiven Maßnahmen, die ein „In-den-Körper-Eindringen“ erfordern, weil sie ihre eigenen Körpergrenzen noch nicht einschätzen können. Gerade die rektale Messung wird sehr oft von Kindern abgelehnt und bedeutet einen Eingriff in die Intimsphäre eines Menschen.

12

3

Körpertemperatur regulieren

Merke

H ●

Merke

H ●

Um eine hohe Messgenauigkeit, aber auch eine höhere Akzeptanz der Temperaturkontrolle bei Kindern zu erreichen, sollten Pflegefachkräfte nach Abwägen der Vor- und Nachteile der verschiedenen Messarten ein geeignetes Verfahren auswählen (▶ Tab. 12.1).

Idealerweise soll die Temperaturmessung die Körperkerntemperatur reflektieren, weitgehend unbeeinflusst von äußeren Einflüssen, patientenorientiert, sicher und leicht durchführbar sein, nicht invasiv, zeit- und kosteneffizient erfolgen.

Die Auswahl der Messmethode muss im Einzelfall mit dem Arzt abgestimmt werden, da die Genauigkeit der Messergebnisse je nach Messart variiert.

Folgende Messmethoden werden häufig angewendet: ● rektale Messung (im After) ● aurikuläre Messung (im äußeren Gehörgang) ● sublinguale/orale Messung (unter der Zunge/im Mund) ● axilläre Messung (in der Achselhöhle)

Messmethoden und deren Durchführung Die Temperaturbestimmung erfolgt an Körperstellen, die ganz oder weitgehend von der Umgebungstemperatur unbeeinflusst sind bzw. an denen unter der Haut oder Schleimhaut größere Blutgefäße verlaufen. Jeder Messort reflektiert die entsprechende Durchblutung und folgt Änderungen der Körperkerntemperatur in unterschiedlichem Ausmaß. Aus diesem Grund entstehen unterschiedliche Normwerte, die auch noch in ihrer Genauigkeit variieren. Bei der Bewertung der gemessenen Körpertemperatur muss diese Erkenntnis mit beachtet werden: Der Unterschied zwischen axillarer und rektaler Temperatur beträgt ca. minus 0,5 °C. Die sublinguale Temperatur liegt ca. 0,3–0,5 °C niedriger als die rektale Körpertemperatur. Die Normbereiche der aurikulären Messung sind in den Gesundheitseinrichtungen zu erfragen.

Die Kinder werden über die beabsichtigte Messung in verständlichen Worten informiert, z. B. „Ich sehe nach, wie warm du bist“. Die Kinder erhalten Angebote, wie sie mithelfen können.

Merke

H ●

Vor einer Temperaturmessung sollten alle Fehlerquellen ausgeschlossen und Wärme- oder Kältespender entfernt werden.

Rektale Temperaturmessung Bei der rektalen Messung muss Folgendes beachtet werden: ● Die Intimsphäre wird gewahrt (z. B. Besucher aus dem Zimmer bitten, das Kind zudecken). ● Das Thermometer wird aus hygienischen Gründen mit einer Einmalschutzhülle versehen (i. d. R. nicht bei Frühgeborenen) (▶ Abb. 12.1). ● Zum leichten Einführen soll die Thermometerspitze mit kaltem Wasser oder wenig Creme gleitfähig gemacht. Sie wird unter leichten Drehbewegungen vorsichtig in den After eingeführt. ● Bei Kindern darf das Thermometer maximal 2,5 cm tief ins Rektum eingeführt werden, bei Säuglingen nur 1,5 cm, da sich der Verlauf des Darms nach wenigen Zentimetern vom Anus aus ändert. Bei Säuglingen unter 3 Monaten besteht Perforationsgefahr durch das Thermometer. Viele Kliniken führen deshalb bei Frühgeborenen unter ca. 1500 g Körpergewicht nur eine axillare Messung durch. ● Säuglinge liegen in Rückenlage mit dem Gesäß auf einer Windel, da beim Ein-

Erzielung verlässlicher und vergleichbarer Messergebnisse: ● Temperatur nach Möglichkeit immer an der gleichen Körperstelle mit demselben Thermometer bestimmen ● zur gleichen Tageszeit ermitteln ● idealerweise bei ruhenden Patienten messen, da Aktivität oder Aufregung die Körpertemperatur erhöhen (Ruhezeit ca. 30 Minuten) ● verlässliche Thermometer auswählen (Studien- und Testergebnisse beachten!) und nach Herstellerangaben korrekt handhaben ● Messtechnik exakt durchführen ● erforderliche Messzeiten einhalten und Messergebnisse korrekt bewerten ▶ Vorbereitung der Temperaturmessung. Nach Möglichkeit soll eine dem Kind angenehme Messmethode gewählt werden. Die verschiedenen Messmethoden im Vergleich finden Sie in ▶ Tab. 12.1.

Tab. 12.1 Körpertemperatur: Messmethoden im Vergleich.

12

Messdauer

Vorteile

Digitalthermometer ca. 1 – 2 Minuten





274

Nachteile/Hinweise

rektal genaue Messmethode, Messwert entspricht weitgehend der Kerntemperatur kaum beeinträchtigt durch Umgebungseinflüsse

häufig geringe Akzeptanz bei Kindern Beeinträchtigung der Intimsphäre ● Keimverschleppung möglich ● Verfälschung des Messwertes durch Stuhl im Rektum möglich ● Verletzung der Rektumschleimhaut möglich ● Perforationsgefahr des Enddarms bei Säuglingen und insbesondere bei Frühgeborenen ungeeignet bei: ● Durchfall ● schmerzhaften Veränderungen am Enddarm (z. B. Rhagaden, Analprolaps) ● schweren Darmentzündungen ● nach bestimmten Untersuchungen und Operationen besonders am Rektum ● Blutungsneigung (z. B. bei Gerinnungsstörungen) ● ●

12.3 Beobachten und Beurteilen

Tab. 12.1 Fortsetzung Messdauer

Vorteile

Nachteile/Hinweise

äußerer Gehörgang Ohrthermometer ca. 1 – 2 Sekunden



● ● ●

● ● ● ● ●

bei präziser Anwendung genaue Widerspiegelung der Kerntemperatur sehr kurze Messzeit Einflussfaktoren leicht handhabbar hohe Akzeptanz bei Kindern, angenehm für die Pflegefachkräfte Wahrung der Intimsphäre gut zugänglicher Messort Messung im Schlaf möglich hygienische Messmethode Anschaffung und Schutzhülsen sind zwar teuer, Methode aber zeit- und damit kostensparend



angenehme Messmethode Intimsphäre wird gewahrt hygienisches Messverfahren













häufig Anwendungsfehler, wichtig: präzise Platzierung des Sensors im Ohr Gebrauchsanleitung beachten! Einweisung erforderlich! ungeeignet bei Verletzungen oder Erkrankungen des Ohrs umstritten in der Anwendung bei Säuglingen, für Kleinkinder geeignet Ohr darf nicht mit größerer Menge Ohrenschmalz verstopft sein 20–30 Minuten abwarten nach langem Liegen auf dem Ohr, nach Entfernen von Hörhilfen, Baden, Schwimmen, Haarwäsche, bei extremen Umgebungstemperaturen

axillar Digitalthermometer ca. 1 – 2 Minuten (ca. 0,5 °C niedriger als die rektale Temperatur, bei Neugeborenen kein wesentlicher Unterschied)

● ● ●





ungenau, da Messen der Körperschalentemperatur beeinflussbar durch äußere Faktoren (z. B. Verrutschen des Thermometers, Umgebungstemperatur, Achselschweiß, Deodorant) ungeeignet bei Kreislaufzentralisation (Vasokonstriktion)

sublingual/oral Digitalthermometer ca. 1 – 2 Minuten (ca. 0,3 – 0,5 °C niedriger als die rektale Temperatur)



● ●



Abb. 12.1 Thermometer mit Einmalschutzhülle. Das Kind muss während der rektalen Messung sicher über den Beugegriff fixiert werden (Symbolbild). (Foto: noorhaswan – stock.adobe.com)

relativ genauer Messwert bei genauer Platzierung der Thermometerspitze und Einhaltung der Messzeit angenehme Messmethode leicht anwendbar

führen des Thermometers häufig Stuhldrang ausgelöst wird. Setzt das Kind Stuhl ab, muss die Messung wiederholt werden. Die Pflegefachkraft hält die Beine des Kindes bis zum Ende des Messvorgangs sicher in Beugeabspreizhaltung. Größere Kinder liegen in Seitenlage mit angezogenen Beinen, da in dieser Lage der Anus entspannt und weiter geöffnet ist.

Merke

H ●

Die rektale Temperaturmessung gilt klinisch als die sicherste Methode, um bei Säuglingen und Kindern einen verlässlichen Messwert zu erzielen, Fieber festzustellen und im Verlauf zu beobachten.

Messwert leicht beeinflussbar durch unmittelbar zuvor eingenommene kalte oder heiße Getränke, Kaugummikauen, Rauchen, Sauerstoffgabe ● nicht für jüngere Kinder geeignet, nur anwendbar bei älteren Kinder, die die Anweisungen verstehen und einhalten können ungeeignet bei: ● unkooperativen Kindern ● Kindern mit Bewusstseinsstörungen/Behinderungen ● unzureichendem Lippenschluss durch Atemnot, Husten, Fazialisparese ● nach Eingriffen, Erkrankungen und Verletzungen im Mundbereich ●

Merke

H ●

12

Bei der rektalen Temperaturmessung besteht die Gefahr, die Rektumschleimhaut zu verletzen. Bei einem spürbaren Widerstand, der auch nach einer Veränderung der Thermometerposition weiter vorhanden ist, muss die Messung abgebrochen und eine andere Messart ausgewählt werden (Beobachtung dem Arzt mitteilen). Besonders bei Frühgeborenen und Säuglingen unter 3 Monaten ist die Einführtiefe des Thermometers zu beachten, da ein erhöhtes Risiko einer Darmverletzung besteht.

5

Körpertemperatur regulieren

Aurikuläre Temperaturmessung

Axillare Temperaturmessung

Die Temperaturmessung im Ohr (am Trommelfell) erfolgt präzise unter Beachtung folgender Schritte: ● Bei kleinen Kindern muss der Kopf zum Messen sicher stabilisiert werden. Jüngere Säuglinge werden am besten in eine flache Position gebracht und der Kopf so gelegt, dass das zu messende Ohr nach oben weist. ● Wichtig: Die Messspitze muss im Gehörgang genau positioniert werden, da bei falscher Platzierung abweichende Messergebnisse entstehen können. ● Dazu wird die mit einer neuen Schutzkappe bestückte Messspitze behutsam in den Gehörgang eingeführt (▶ Abb. 12.2). ● Es kann erforderlich sein, die natürliche Krümmung des Gehörgangs durch Zug am Ohr zu begradigen, damit der Sensor ungehindert auf das Trommelfell gerichtet werden kann. ● Bei Kindern bis 1 Jahr wird dazu die Ohrmuschel gerade nach hinten gezogen und die Messspitze behutsam in Richtung des gegenüberliegenden Auges in den Gehörgang eingeführt. ● Bei Kindern über 1 Jahr und bei Erwachsenen wird die Ohrmuschel schräg nach hinten oben gezogen und der Messsensor in Richtung vor das gegenüberliegende Ohr positioniert (▶ Abb. 12.3).

Praxistipp Pflege

Z ●

Bei der Temperaturmessung im Ohr ist die richtige Positionierung der Messspitze grundlegend für ein verwertbares Messergebnis. Die Interpretation der Messwerte im Vergleich zur rektalen Messung ist zu beachten (s. Bedienungsanleitung des jeweiligen Thermometers).

12

Die axillare Temperaturbestimmung erfolgt in der Achselhöhle und wird bei Kindern wegen ihrer Unzuverlässigkeit selten durchgeführt. Trotz ihrer Ungenauigkeit empfiehlt die American Academy of Pediatrics (2001) die axillare Messung bei Säuglingen bis zu 1 Lebensmonat als Screening-Methode für Fieber, wegen des erhöhten Risikos einer Perforation bei rektaler Messung (Hockenberry u. Wilson, 2011). Die axillare Messung wird wie nachfolgend beschrieben durchgeführt: ● Zur Messung muss die Achselhöhle trocken sein, Reste von Deos werden rechtzeitig entfernt. ● Die Thermometerspitze liegt tief in der Mitte der Achselhöhle über der Arteria axillaris und muss luftdicht von Haut umschlossen sein. ● Der Oberarm liegt deshalb am Oberkörper seitlich fest an, der Unterarm quer über dem Brustkorb. Bei jüngeren Kindern hält die Pflegefachkraft den Arm fest. Kleinkinder akzeptieren die Prozedur möglicherweise leichter, wenn sie auf dem Schoß eines Elternteils oder der Pflegefachkraft sitzen.

Sublinguale (orale) Temperaturmessung Die sublinguale/orale Temperaturkontrolle erfolgt unter der Zunge/im Mund. Folgendes Vorgehen ist wichtig: ● Die Spitze des Thermometers liegt unter der Zunge in der rechten oder linken hinteren sublingualen Wärmetasche seitlich des Zungenbändchens. Während des gesamten Messvorgangs bleibt das Thermometer fest von den Lippen umschlossen, aber ohne darauf zu beißen. ● Diese Messart ist ungeeignet bei Störungen der Nasenatmung oder wenn die Lippen aus anderen Gründen während des Messvorgangs nicht geschlossen gehalten werden können.

Bei Kindern wird die sublinguale Messung selten angewendet und grundsätzlich nur mit einem glasfreien Digitalthermometer. Bei kleinen Kindern, bewusstseinsgetrübten, behinderten und Patienten, die keinen Anweisungen folgen können, darf keine sublinguale Temperaturmessung durchgeführt werden, da das Thermometer zerbissen werden könnte (▶ Tab. 12.1).

Praxistipp Pflege

Z ●

Jüngere Kinder, unkooperative und desorientierte Patienten müssen bei Temperaturmessungen beaufsichtigt werden. Das Thermometer wird dabei bis zum Ende des Messvorgangs festgehalten.

Lernaufgabe

M ●

Welches Thermometer und welche Temperaturmessmethode wählen Sie für ein Frühgeborenes bzw. für ein 3jähriges Kind mit Fieber und Angst vor der rektalen Messung? Begründen Sie Ihre Entscheidung! Beschreiben Sie wichtige Aspekte, die Sie bei der Durchführung der jeweiligen Messmethode beachten!

Dokumentation der Messergebnisse Nach Ermittlung der Körpertemperatur werden die Messwerte und weitere Beobachtungen im Zusammenhang mit der Temperaturregulation in das Patientendokumentationssystem eingetragen. Die verschiedenen Messmethoden werden durch standardisierte Symbole gekennzeichnet. Ein Vergleich mit den bereits zuvor ermittelten Temperaturwerten zeigt den Temperaturverlauf.

Merke

H ●

Normabweichende Temperaturen müssen dem zuständigen Arzt mitgeteilt werden. Fiebersenkende oder erwärmende Pflegemaßnahmen werden eingeleitet und häufigere Kontrollmessungen angeschlossen.

Abb. 12.2 Infrarot-Ohrthermometer. Entnahme der Einmalschutzkappe. (Foto: K. Oborny, Thieme)

276

Abb. 12.3 Temperaturmessung im Ohr. Ein leichter Zug am Ohr gleicht die Krümmung des Gehörgangs aus. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

12.3 Beobachten und Beurteilen

Abb. 12.4 Fieberthermometer. a Quecksilberfreies Thermometer zur rektalen, axillaren und sublingualen Messung. (Abb. von: Geratherm Medical AG) b Digitalthermometer. (Abb. von: Geratherm Medical AG) c Ohr-Stirn-Thermometer. (Abb. von: Geratherm Medical AG)

Thermometerarten

Analoge Thermometer

Zur Temperaturkontrolle stehen analoge und digitale Kontakt-Thermometer, Infrarot-Thermometer zur Messung im Ohr und an der Stirn sowie an einen Monitor anzuschließende Thermosonden zur Verfügung. Je nach Thermometerart können sie zur Einzelmessung, zur kontinuierlichen sowie zur nichtinvasiven und invasiven Temperaturüberwachung eingesetzt werden. Für Kinder sind insbesondere Digitalthermometer oder auch Ohrthermometer gut geeignet. Zum Gebrauch in Kliniken müssen Thermometer gesetzliche und hygienische Qualitätsstandards erfüllen (z. B. Anforderungen des Medizinproduktegesetzes, regelmäßige Eichung, Messgenauigkeit, Desinfizierbarkeit) und sie sollten leicht handhabbar sein.

Analoge Thermometer ermitteln die Temperatur über eine Flüssigkeitssäule. Sie bestehen aus Glas und enthalten in der Thermometerspitze eine Messflüssigkeit. Die Flüssigkeitssäule dehnt sich durch Wärme aus und bleibt auf dem höchsten gemessenen Temperaturwert nahezu unverändert stehen (Maximumthermometer, ▶ Abb. 12.4a). Vorteile sind die lebenslange Genauigkeit, die Eignung für Allergiker je nach Modell, ihre Ungiftigkeit und Umweltverträglichkeit. Durch ihre glatte Oberfläche sind sie sicher zu desinfizieren. Nachteile sind die Zerbrechlichkeit und eine lange Messzeit (z. B. rektal ca. 4 Minuten). Das Ablesen erfolgt durch leichtes Hinundherdrehen des Thermometers. Die Flüssigkeitssäule muss nach dem Ablesen des Messwertes ohne anzustoßen heruntergeschüttelt werden. Analoge Thermometer sind zur rektalen, sublingualen und axillaren Messung geeignet.

Merke

H ●

Die Bedienungsanleitung der eingesetzten Thermometer muss gelesen und befolgt werden, um Fehlbestimmungen zu vermeiden. Messergebnisse sind die Grundlage von pflegerischen und ärztlichen Entscheidungen und müssen deshalb verlässlich sein.

Merke

H ●

Elternberatung: Schnullerthermometer sind gänzlich ungeeignet zur Temperaturmessung.

▶ Quecksilberthermometer. Quecksilberhaltige Thermometer sind in der EU seit 2009 verboten, da sie eine Umweltbelastung und Gesundheitsgefährdung darstellen. Bei Thermometerbruch entstehen durch das bei Raumtemperatur verdampfende Quecksilber giftige Dämpfe, die bei Aufnahme über Haut oder Schleimhäute zu schweren Intoxikationen führen.

Merke

H ●

Analoge Thermometer müssen vor der Messung auf eine intakte Glaskapillare geprüft werden.

Elektronische Digitalthermometer Digitalthermometer bestehen aus einer Hülle mit Digitalanzeige, einem Temperatursensor, der sich in der Thermometerspitze befindet, einem Messwertspeicher sowie einem Ein- und Ausschaltknopf (▶ Abb. 12.4c). Das Ende der Messzeit wird durch ein optisches und/oder akustisches Signal angezeigt (je nach Fabrikat bereits nach 30 – 60 Sekunden je nach Messort). Sie sind geeignet zur rektalen, sublingualen und axillaren Messung der Körpertemperatur. Vorteile sind eine kurze Messzeit, dass sie relativ bruchsicher und gut ablesbar sind. Nachteile sind, dass sie Batterien benötigen, nicht immer wasserdicht und schwerer zu desinfizieren sind, da sie teilweise schwer zugängliche Nischen aufweisen. Vor dem Gebrauch ist das Digitalthermometer nach den Angaben des Herstellers auf seine korrekte Betriebsbereitschaft zu prüfen. Für die Anwendung in Gesundheitseinrichtungen sind nur wasserdichte tauchdesinfizierbare Modelle geeignet. Digitalthermometer müssen kindersicher aufbewahrt werden, da die Knopfbatterien verschluckt werden können mit der Gefahr von schweren Verätzungen.

12

7

Körpertemperatur regulieren Erhältlich sind Modelle mit flexibler Spitze, mit gut ablesbarer großer Digitalanzeige, mit Solarzellen zur Energieversorgung und für Allergiker geeignete Thermometer ohne Nickel und PVC. Der Messbereich liegt zwischen ca. 32 °C und 43,9 °C.

Ohr- und Stirnthermometer mit Infrarottechnologie Es gibt Thermometermodelle für die unterschiedlichen Anforderungen im Klinikund Hausgebrauch. Ohrthermometer werden über Batterie oder über einen wiederaufladbaren Akku betrieben. Funktionsweise: Das Ohrthermometer (▶ Abb. 12.4c) misst die Infrarotwärme, die vom Trommelfell und dem umliegenden Gewebe abgestrahlt wird, berechnet die Körpertemperatur und zeigt das Ergebnis im Display in Sekundenschnelle an. Klinische Studien haben belegt, dass sich das Ohr besonders gut zur Körpertemperaturmessung eignet, weil die gemessene Temperatur die Kerntemperatur widerspiegelt. Trommelfell und Hypothalamus als Sitz des Temperaturregulationszentrums weisen die gleiche Blutversorgung auf. Die im Ohr ermittelte Temperatur ist nicht direkt mit den an anderen Körperstellen gemessenen Werten vergleichbar. Stirnthermometer ermitteln die Körpertemperatur ebenfalls mit Infrarottechnologie. Diese Messmethode wird in Gesundheitseinrichtungen noch relativ selten angewendet.

Merke

H ●

Bei Neu- und Frühgeborenen sollten rektale Messsonden zur kontinuierlichen Überwachung der Körperkerntemperatur nicht eingesetzt werden, da sie zu Druckstellen führen und mit einem erhöhten Perforationsrisiko einhergehen können. Kontraindiziert sind sie bei Gerinnungsstörungen, Verdacht auf oder diagnostizierte nekrotisierende Enterokolitis (lebensbedrohliche Darmentzündung) bei Früh- und Neugeborenen.

▶ Hauttemperatursensor. Zur Messung der Körperschalentemperatur wird ein Thermofühler auf die Haut, z. B. an der Fußsohle, aufgelegt. Über die Ermittlung der Hauttemperatur kann eine Zentralisation oder Durchblutungsstörung festgestellt werden. Beides führt zu einem Absinken der peripheren Temperatur infolge einer Vasokonstriktion. Der Hauttemperatursensor muss regelmäßig gewechselt werden, da Druckstellen entstehen können.

Merke

● H

Funktionsweise, korrekte Handhabung, Gefahren, Messzeit, richtiges Ablesen und Interpretieren des Messergebnisses, Hygienemaßnahmen, Aufbewahrung und Entsorgung von Thermometern sind der Bedienungsanleitung zu entnehmen.

Elektronische Thermometer

12

Elektronische Thermometer erlauben eine kontinuierliche und sensitive Überwachung der Körpertemperatur. Eine dünne Messsonde mit integriertem Thermoelement wird dabei ins Rektum eingeführt. Jede Änderung der Temperatur wird als elektrisches Signal an einen Monitor geleitet und dort angezeigt. Vorteilhaft sind individuell einstellbare Alarmgrenzen, die Veränderungen der Körpertemperatur frühzeitig erkennen lassen. Weitere exakte, aber invasive Messverfahren, mit denen die Kerntemperatur erfasst werden kann, sind Messungen in Ösophagus, in Pulmonalarterie und Harnblase. Die genannten Messmethoden beschränken sich auf den operativen und intensivmedizinischen Bereich.

Thermometerhygiene und Aufbewahrung Benutzte Thermometer werden nach Herstellerangaben und dem Hygieneplan der Gesundheitseinrichtung desinfiziert und aufbewahrt.

Merke

H ●

Die Aufbewahrung von Thermometern aller Art erfolgt außerhalb der Sichtund Reichweite von Kindern, um Unfälle auszuschließen.

Lernaufgabe

M ●

Informieren Sie sich in Ihren Praxiseinsätzen über die jeweilig geltenden Hygienerichtlinien zur Thermometeraufbereitung!

12.3.2 Physiologische Körpertemperatur Der normale Bereich der Körperkerntemperatur liegt bei einem gesunden Menschen bei rektaler und im Ruhezustand durchgeführter Messung durchschnittlich um 37 °C.

Physiologische Schwankungen der Körpertemperatur Die menschliche Körpertemperatur zeigt leichte individuelle Unterschiede und unterliegt in Abhängigkeit von Stoffwechselprozessen geringen tagesrhythmischen und periodischen Schwankungen von ca. 0,5 – 1,3 °C. Der Normbereich umfasst deshalb Temperaturen von ca. 36,1 – 37,4 °C (▶ Tab. 12.2). Das Temperaturminimum wird in den frühen Morgenstunden zwischen 2:00 und 4:00 Uhr erreicht, wenn der Körper noch in völliger Ruhe ist. Das Temperaturmaximum lässt sich am späten Nachmittag zwischen 17:00 und 18:00 Uhr ermitteln. Voraussetzung ist ein normaler Schlaf-Wach-Rhythmus.

Merke Eine sorgfältige Thermometerhygiene schützt Patienten vor nosokomialen Infektionen. Bei rektaler Messung wird das Thermometer mit einer Einmalschutzhülle überzogen. Bei Früh- und Neugeborenen wird häufig auf Schutzhüllen verzichtet, da die Schweißnähte der Folie zu Ver-

278

letzungen der Rektumschleimhaut führen können. Bei der Verwendung eines Ohrthermometers wird bei jedem Messvorgang eine neue, saubere Schutzkappe aufgesetzt. Das Ohrthermometer ist somit für mehrere Patienten bzw. die ganze Familie im häuslichen Bereich geeignet, da die auswechselbaren Messsondenhüllen Infektionen unter den Benutzern verhindern. Bei gleichzeitiger axillärer und rektaler Messung (z. B. zur Diagnostik bei Verdacht auf Appendizitis) werden die entsprechend zugeordneten Thermometer gekennzeichnet, um Verwechslungen auszuschließen.

H ●

Die gemessene Körpertemperatur ist abhängig vom Messort und von Einflussfaktoren wie dem Lebensalter, Hormonen, Tageszeit und der Aktivität. Es gibt deshalb keine eindeutige „Normaltemperatur“, sondern nur einen physiologischen Normbereich.

12.3 Beobachten und Beurteilen Eine Ausnahme sind Früh- und Neugeborene, sie weisen fast keine Temperaturunterschiede im Tagesverlauf auf und zeigen zudem kaum Abweichungen zwischen rektaler und axillarer Temperatur. Hormonell bedingte Temperaturschwankungen treten während des Menstruationszyklus auf. Zwischen Menstruation und Ovulation ist die Temperatur niedriger, mit der Ovulation steigt sie um ca. 0,5 °C an. Die erhöhte Temperatur bleibt bis zur nächsten Menstruation bestehen und sinkt dann wieder ab. Tritt eine Schwangerschaft ein, bleibt die Temperatur auf dem erhöhten Niveau der zweiten Zyklushälfte bestehen.

Merke

H ●

Für die Einleitung von Maßnahmen ist nicht alleine die gemessene Temperatur ausschlaggebend, sondern der klinische Zustand des Patienten. Die Bedeutung der Temperaturveränderung ist auch im Hinblick auf bestimmte Patientengruppen zu bewerten. In der Neonatalperiode z. B. ist Hypothermie ein wichtiger beteiligter Faktor für neonatale Mortalität (Sterblichkeit) und deshalb zu vermeiden.

Körperkern- und Körperschalentemperatur Die Temperatur ist nicht an allen Körperstellen gleich. Der Körperkern weist eine höhere Temperatur auf als die Körperschale. ▶ Kerntemperatur. Sie wird im Körperinneren gemessen. Zum Körperkern gehören die stoffwechselintensiven Organe des Rumpfes sowie das Innere des Kopfes. Der Mensch hält die Kerntemperatur über einen weiten Bereich unterschiedlicher Umgebungstemperaturen relativ konstant. Die Kerntemperatur ist am aussagekräftigsten und gilt deshalb im medizinischpflegerischen Bereich als Referenzwert. ▶ Schalentemperatur. Sie wird an der Hautoberfläche gemessen. Sie weist größere Temperaturunterschiede auf als die Kerntemperatur und schwankt je nach Körperregion zwischen ca. 28 und 36 °C. Die oberen Extremitäten sind meist 2 – 3 °C wärmer als die unteren Extremitäten. Erklärbar sind die größeren Temperaturunterschiede mit der stärkeren Abhängigkeit von der Außentemperatur und der Hautdurchblutung. Bei hohen Umgebungstemperaturen z. B. sind nur geringe Unterschiede zwischen Kern- und Schalentemperatur bestimmbar.

▶ Indifferenztemperatur („Wohlfühltemperatur“). Das ist die Umgebungsoder Behaglichkeitstemperatur, bei der ein Mensch unbekleidet und in Ruhe weder warm noch kalt empfindet. Wärmebildung und Wärmeabgabe sind im Gleichgewicht. Bei dieser Umgebungstemperatur wird die Körpertemperatur ohne zusätzliche Stoffwechselregulationen aufrechterhalten. Sie liegt für einen unbekleideten Erwachsenen bei ca. 28 °C, bei reifen, normalgewichtigen Neugeborenen bei ca. 32 °C, bei Frühgeborenen in Abhängigkeit von Reife, Körpergewicht und Lebensalter postpartal bei ca. 33 – 36 °C. Auch ältere Menschen reagieren empfindlicher auf sich verändernde Umgebungstemperaturen. Pflegerisch ist aber auch zu berücksichtigen, dass das subjektive Temperaturempfinden individuell verschieden ist.

12.3.3 Abweichende Körpertemperaturen Körpertemperaturen, die unter oder über dem Normbereich liegen, weisen meist auf Erkrankungen oder auf Störungen der Temperaturregulation hin. Veränderte Körpertemperaturen müssen deshalb frühzeitig erfasst und die Kinder bei der Regulierung unterstützt werden, um Schäden vom Organismus abzuwenden sowie das Wohlbefinden zu gewährleisten.

Merke

H ●

Eine erhöhte bzw. zu niedrige Körpertemperatur führt zu gesteigerten Stoffwechselvorgängen und damit zu einer Mehrbelastung des Kreislaufs sowie einem erhöhten Energie- und Sauerstoffverbrauch.

bungstemperatur, bei unreifen Frühgeborenen auf eine thermoneutrale Versorgung (S. 512) zu achten. Eine Ausnahme stellt die Hypothermiebehandlung zur Hirnödemprophylaxe dar. Bei Fieber und Untertemperatur ist eine Normalisierung der Körpertemperatur herbeizuführen, um den Organismus nicht zusätzlich zu belasten und die Energieressourcen zu schonen.

12.3.4 Erhöhte Körpertemperatur Eine kurzfristige Temperaturerhöhung ohne Krankheitswert kann z. B. durch starke körperliche Betätigung oder Aufregung entstehen. Bei Säuglingen und jüngeren Kindern kann eine kurzfristige Temperaturerhöhung ohne Krankheitswert schnell auftreten (z. B. bei körperlicher Anstrengung, bei Aufregung oder bei zu geringer Flüssigkeitszufuhr, etwa bei Hitze). Bei rechtzeitigem Handeln normalisiert sich die Temperatur wieder. Eine erhöhte Körpertemperatur kann sowohl bei akuten als auch bei chronischen Erkrankungen auftreten. Neben einem messbaren Anstieg der Körpertemperatur können weitere Zeichen auf eine erhöhte Körpertemperatur hinweisen: z. B. wenn sich die Haut des Kindes ungewöhnlich heiß anfühlt, das Gesicht gerötet ist, bei gestörtem Wohlbefinden sowie bei einem Anstieg der Puls- und Atemfrequenz ohne ersichtliche andere Ursache. Über der Norm liegende Körpertemperaturen werden in verschiedene Schweregrade eingeteilt (▶ Tab. 12.2). Bei der erhöhten Körpertemperatur wird zwischen Hyperthermie und Fieber unterschieden. Der Unterschied besteht darin, dass bei einer Hyperthermie der Sollwert unverändert bleibt, Fieber aber mit einer Sollwerterhöhung im Temperaturregulationszentrum einhergeht.

Aus diesem Grund ist besonders bei schwer kranken Menschen, z. B. bei Kreislaufinstabilität, auf eine optimale Umge-

12

Tab. 12.2 Beurteilung der Körpertemperatur bei rektaler Temperaturmessung. Temperatur (°C)

Beurteilung der Körpertemperaturwerte

> 42

Eiweißgerinnung im menschlichen Körper (führt zum Tode)

> 40

sehr hohes Fieber (Hyperpyrexie)

39,1 – 40,0

hohes Fieber

38,6 – 39,0

mäßiges Fieber

38,1 – 38,5

leichtes Fieber

37,5 – 38,0

subfebrile Temperatur

36,1 – 37,4

physiologische Körpertemperatur

< 36

Untertemperatur

< 29

kritischer Bereich

ca. 25

Erlöschen der autonomen Körperfunktionen (führt zum Kältetod)

9

Körpertemperatur regulieren

Definition

L ●

Hyperthermie ist eine Überwärmung des Organismus mit Anstieg der Körperkerntemperatur ohne Sollwerterhöhung im Hypothalamus. Die thermoregulatorischen Mechanismen sind überfordert. Infolge einer übermäßigen Wärmeproduktion bzw. Wärmezufuhr bei unzureichender Wärmeabgabe nach außen entsteht eine Überhitzung des Körpers.

Ursachen für eine Hyperthermie sind z. B. körperliche Anstrengung in sehr heißer und feuchter Umgebung, auch verbunden mit Flüssigkeitsmangel oder -verlusten. Es können Körpertemperaturen bis über 40 °C erreicht werden. Formen der Hyperthermie sind der Hitzschlag (S. 871) und das sog. Durstfieber (S. 280). Die Unterscheidung zwischen Hyperthermie und Fieber ist pflegerelevant, da aufgrund des Sollwertverhaltens unterschiedliche temperatursenkende Maßnahmen erforderlich werden, um die Körpertemperatur erfolgreich normalisieren zu können. Bei Hyperthermien sind Effekte von Antipyretika nicht eindeutig. Konsequente, oberflächenkühlende Maßnahmen sind z. B. bei einem Hitzschlag ein wirksames Vorgehen.

Merke

H ●

Kinder haben aufgrund ihrer entwicklungsbedingten Besonderheiten der Wärmeregulation ein erhöhtes Risiko für hitzebedingte Gesundheitsstörungen. Sie sind deshalb vor Hitzeexposition zu schützen. Hyperthermien erfordern unverzügliches Handeln, da lebensbedrohliche Situationen auftreten können. Eltern sollten über die Prävention von Hitzeschäden informiert sein.

12 Lernaufgabe

M ●

Was würden Sie einer Mutter erklären, die ihr 2-jähriges Kind im Sommer bei hohen Außentemperaturen für 20 Minuten im Auto lassen möchte, um schnell einen Einkauf zu erledigen?

280

Fieber Definition

L ●

Fieber (lat. febris) wird i. d. R. als eine Erhöhung der Körperkerntemperatur über 38 °C definiert. Der Sollwert ist erhöht. Die Regulationsmechanismen (z. B. Wärmeabgabe durch Schwitzen) sind primär funktionstüchtig.

Fieber tritt im Kindesalter häufig auf, da der kindliche Organismus erst noch ein Abwehrsystem in der Auseinandersetzung mit Erregern aufbauen muss. Zudem ist die Temperaturregulation bei jüngeren Kindern leichter aus dem Gleichgewicht zu bringen. Fieber stellt immer ein Symptom und keine eigenständige Erkrankung dar. Dringen Krankheitserreger wie Bakterien oder Viren in den Körper ein, werden komplizierte Abwehrvorgänge aktiviert. Es entstehen fieberauslösende Botenstoffe (Pyrogene), die eine Sollwerterhöhung im Temperaturregulationszentrum im Hypothalamus bewirken. Pyrogene entstehen nicht nur bei Infektionen, sondern auch bei nicht infektiösen Entzündungen, immunologischen oder malignen Erkrankungen. Aber auch Arzneimittel, Fremdeiweiße, Zelltrümmer nach Operationen, Traumen oder Nekrosen, Vergiftungen oder Schädigungen des Gehirns können Fieber auslösen. Die Kerntemperatur wird in Form eines Regelkreises reguliert. Steigt der Sollwert, dann wird die normale Kerntemperatur als relativ zu niedrig registriert, der Körper fröstelt und versucht die Körpertemperatur zu erhöhen. Vergleichbar mit dem Einstellen eines Thermostats auf eine höhere Solltemperatur (z. B. 38,5 °C) hebt nun der Organismus die momentane Kerntemperatur (Istwert, z. B. 37,1 °C) an, bis der neu eingestellte Sollwert erreicht ist. Bis zur Temperaturangleichung wird die Wärmeabgabe durch Abnahme der Hautdurchblutung herabgesetzt und die Wärmeproduktion durch Kältezittern (Ausnahme Neugeborene) und erhöhte Stoffwechselprozesse gesteigert. Ist die Fieberursache behoben und der Sollwert wieder im Normbereich, werden Abkühlungsvorgänge in Gang gesetzt. Die Wärmeabgabe wird durch eine gesteigerte Hautdurchblutung bei weitgestellten Hautblutgefäßen erhöht. Ein weiterer Kühlungsmechanismus bei älteren Kindern ist das Schwitzen. Der Schweiß verdunstet auf der warmen Haut und entzieht dem Körper Wärme. Das Fieber sinkt, bis die Normaltemperatur wieder

erreicht ist. Fieber wird nach seinen Ursachen (Fieberformen) und nach seinem Verlauf (Fiebertypen) eingeteilt.

Fieberformen Fieber kann durch infektiöse, entzündliche, toxische und immunologische Stimuli ausgelöst werden. Weitere Ursachen sind Schädigungen im Bereich des Temperaturregulationszentrums und maligne Erkrankungen. Fieber unklarer Genese benötigt eine umfangreiche Diagnostik, um die Ursache zu entdecken. Abhängig von der Ursache werden verschiedene Fieberformen unterschieden. ▶ Fieber durch Infektionen. Es wird durch die Immunreaktion auf eingedrungene Bakterien und deren Toxine, Viren oder seltener Pilze verursacht. ▶ Resorptionsfieber (aseptisches Fieber). Durch Gewebeschädigungen, wie Operationen oder Traumen, entstehen pyrogene Abbauprodukte, die in die Blutbahn gelangen, den Sollwert verstellen und das milde Resorptionsfieber auslösen. Es tritt ca. 24 Stunden nach der Schädigung auf, sollte nicht länger als ca. 3 Tage anhalten und 38,0 °C nicht übersteigen. Dauert das Fieber länger an oder steigt es über 38,5 °C, muss an eine beginnende Infektion gedacht werden. Das Resorptionsfieber ist gekennzeichnet durch steilen Anstieg, etwas Verweilen und langsamen, gleichmäßigen Fieberabfall. ▶ Toxisches Fieber. Dies kann als Reaktion auf körperfremde Eiweiße (Impfungen, Transfusionen, Transplantate) entstehen. ▶ Zentrales Fieber. Es wird durch eine Schädigung des Temperaturregulationszentrums verursacht. Nach Schädelverletzungen, infolge eines Tumors oder einer toxischen Schädigung können Temperaturen über 40 °C auftreten, die nur schwer beeinflussbar sind. Fiebersenkende Arzneimittel zeigen meist keine Wirkung. ▶ „Durstfieber“ („dehydration fever“). Das sog. Durstfieber ist eine durch Flüssigkeitsmangel hervorgerufene Form der Hyperthermie. Ursache ist eine unzureichende Flüssigkeitszufuhr, übermäßiger Flüssigkeitsverlust (z. B. Durchfall, Erbrechen) oder die Folge beider Ursachen. Es kommt zu einer Störung der Wärmeabgabe. Besonders gefährdet sind Neugeborene und Säuglinge aufgrund ihres labilen Wasserhaushaltes. Eine bedarfsgerechte Flüssigkeitszufuhr verhindert diesen Zustand, der lebensbedrohlich sein kann.

12.3 Beobachten und Beurteilen

Fieberphasen Der Fieberverlauf ist durch 3 Stadien gekennzeichnet: Fieberanstieg (Stadium incrementi), Fieberhöhe (Fastigium) und Fieberabfall (Stadium decrementi). Bei Auftreten von Schüttelfrost sind ausgeprägtere Fieberverläufe mit einer nachfolgenden längeren Erschöpfungsphase zu beobachten. Pflege- und Beobachtungsschwerpunkte in den einzelnen Fieberstadien finden Sie in ▶ Tab. 12.4, weitere Pflegehandlungen (S. 284). ▶ 1. Stadium: Fieberanstieg. Die Körpertemperatur kann langsam oder schnell ansteigen. Infolge einer raschen und hohen Körpertemperaturerhöhung kann bei älteren Kindern oder Erwachsenen Schüttelfrost auftreten. Kinder zwischen dem 5. Lebensmonat und dem 6. Lebensjahr sind bei raschem Fieberanstieg gefährdet, Fieberkrämpfe zu erleiden. ▶ Schüttelfrost. Er ist gekennzeichnet durch unwillkürliche, rasche Zitterbewegungen der Skelettmuskulatur zur Erhöhung der Wärmeproduktion im Fieberanstieg. Schüttelfrost entsteht durch im Blut kreisende Krankheitserreger oder deren Stoffwechselprodukte (Toxine). Sie verursachen eine Reizung des Temperaturregulationszentrums. Als Ergebnis dieses Prozesses wird der Sollwert im Hypothalamus angehoben. Um den neu eingestellten Sollwert zu erreichen, versucht der Körper durch häufige Muskelkontraktionen („Schütteln des Körpers“) und Vasokonstriktion, vermehrt Wärme zu produzieren und die Wärmeabgabe zu verringern.

Merke

H ●

Schüttelfrost tritt mit Muskelzittern, Zähneklappern, Frösteln und Gänsehaut auf. Schüttelfrost ist kreislaufbelastend und psychisch beeinträchtigend. Eine intensive Überwachung und einfühlsame Begleitung sind deshalb bedeutsam.

Merke

Der lytische Fieberabfall erfolgt langsam, der kritische Fieberabfall erfolgt schnell. Bei einer Krisis besteht eine große Kreislaufbelastung mit Kollapsgefahr (Notfall!).

Der lytische Fieberabfall kann mehrere Tage dauern und belastet den Organismus weniger. Der Schweiß ist warm und großperlig. Der kritische Fieberabfall dauert nur wenige Stunden. Durch das rasche Absinken der Temperatur besteht Kollapsgefahr. Hinweis auf ein drohendes Kreislaufversagen kann ein erneuter Pulsanstieg sein, begleitend können kalter, kleinperliger, klebriger Schweiß, Blässe und Zyanose auftreten.

Fieberzeichen Fieberzeichen sind unterschiedlich in Abhängigkeit von der Fieberphase, Dynamik (Anstieg und Absinken) und Dauer des Fiebers. Bei Fieber sind sowohl subjektive als auch objektive Begleitzeichen in mehr oder weniger ausgeprägter Form zu beobachten. Subjektive Beschwerden werden meist vom Patienten geäußert bzw. bei jüngeren Kindern von der Pflegefachkraft oder Bezugsperson z. B. durch Verhaltensänderungen wahrgenommen. Als sicherste objektive Methode zum Nachweis von Fieber gilt das Messen der Körpertemperatur. Subjektive Fieberzeichen sind: ● allgemeines Krankheitsgefühl (Schwächegefühl, Müdigkeit durch erhöhte Stoffwechselprozesse, Spielunlust) ● Kopf- und Gliederschmerzen ● Reizempfindlichkeit (Licht, Geräusche, ggf. leichte Berührungsempfindlichkeit) ● wechselndes Hitze- und Kältegefühl je nach Fieberphase ● Appetitlosigkeit, Durstgefühl, Trinkunlust bei Säuglingen Objektive Fieberzeichen sind: gemessener Fieberwert (zuverlässig bei rektaler Messung) ● Tachykardie (Faustregel: Anstieg der Pulsfrequenz um 8 – 10 Pulsschläge in der Minute pro 1 °C Körpertemperaturerhöhung) ● beschleunigte, häufig oberflächliche Atmung ● evtl. Kältezittern oder Schüttelfrost im Fieberanstieg ● Veränderungen an der Haut: ○ blasse, kühle Haut bei Fieberanstieg als Folge der Engstellung der Hautgefäße zur Drosselung der Wärmeabgabe ●

▶ 2. Stadium: Fieberhöhe. Das Fieber hat seinen Höhepunkt erreicht. ▶ 3. Stadium: Fieberabfall. Der Sollwert normalisiert sich wieder. Um den Istwert anzugleichen, wird die Wärmeabgabe durch starkes Schwitzen und eine gesteigerte Hautdurchblutung mit weit gestellten Blutgefäßen erhöht. Die Körpertemperatur sinkt ab, gleichzeitig fallen Pulsund Atemfrequenz. Es werden lytischer Fieberabfall (Lysis) und kritischer Fieberabfall (Krisis) unterschieden.

H ●

gerötete, heiße, trockene Haut bei Fieberhöhe bedingt durch die Gefäßweitstellung zur Wärmeabgabe ○ gerötete, heiße und feuchte Haut, ggf. Schweißausbrüche beim Fieberabfall aufgrund der Blutgefäßweitstellung zur Abgabe überschüssiger Wärme trockener Mund, belegte Zunge infolge des Flüssigkeitsverlustes und durch verminderte Speichelproduktion bei reduzierter Kautätigkeit, evtl. Herpes labialis (schmerzhafte Lippenbläschen) glänzende Augen weinerliches und unruhiges Verhalten, Schlaflosigkeit verminderte Urinmenge, dunkler, konzentrierter Urin durch Flüssigkeitsverlust evtl. Obstipation durch Flüssigkeitsund Bewegungsmangel, fehlende Ballaststoffe ○



● ●





Weiterhin wird darauf geachtet, ob das Fieber akut oder chronisch auftritt und ob Fieberschübe zu beobachten sind. Hohes Fieber ist nicht immer gleichbedeutend mit einer schweren Erkrankung.

Praxistipp Pflege

Z ●

Fiebernde Kinder werden gezielt auf zusätzlich auftretende Symptome beobachtet, z. B. Exantheme, Durchfall, Benommenheit, Berührungsempfindlichkeit, vorgewölbte Fontanelle, Nackensteifigkeit oder Schmerzen, die auf die ursächliche Erkrankung oder eine Komplikation hinweisen. Arzt informieren!

Komplikationen bei Fieber ▶ Fieberdelirium. Ein Fieberdelirium kann bei sehr hohem und lang andauerndem Fieber entstehen. Zu beobachten sind eine Bewusstseinstrübung, motorische Unruhe, Angst, Erregungszustände, Sinnestäuschungen, Fantasieren. Kinder sind besonders gefährdet. Weitere Komplikationen sind Krisis (S. 281) und Fieberkrämpfe (S. 699).

12

Fiebertypen Die verschiedenen Fiebertypen (▶ Abb. 12.5) können nach ihrer Verlaufsform eingeteilt werden. Durch grafische Darstellung in der Patientenkurve wird ein bestimmtes Muster erkennbar, z. B. aufgrund von Temperaturschwankungen im Tagesverlauf bzw. über längere Zeiträume. Fieberverlaufskurven dienten diagnostischen Zwecken, bevor es die Möglichkeit eines gezielten Erregernachweises gab.

1

Körpertemperatur regulieren

a

Remittierendes Fieber

39° 38°

Intermittierendes Fieber

40°

Temperatur

40°

Temperatur

Temperatur

Kontinuierliches Fieber

39° 38°

40° 39° 38°

37°

37°

37°

36°

36°

36°

1

2

3

4

5

6

7 Tage

b

– gleichmäßig hohe Temperatur – Tagesdifferenz unter 1 °C – Ursachen: Scharlach, Viruspneumonie, Typhus abdominalis

1

2

3

4

5

6

7 Tage

– nachlassendes Fieber – Tagesdifferenz bis ca. 1,5 °C – Temperatur abends hoch, dann nachlassend bis zum Morgen, tiefster Wert liegt immer über Normalwert – Ursachen: Pyelonephritis, Sepsis, Tuberkulose

c

11 2

3

4

5

6 77 Tage

– im Tagesverlauf wechseln hohe Temperaturen mit fieberfreien Intervallen – stundenweise hohe Fieberanfälle lösen oft Schüttelfrost aus – Tagesdifferenz beträgt 1,5 °C und mehr – Ursachen: typischer Fieberverlauf bei Sepsis

Abb. 12.5 Fiebertypen. Es werden je nach Verlauf des Fiebers und der auftretenden Temperaturdifferenzen verschiedene Fiebertypen unterschieden.

Klassische Fiebertypen, die auf bestimmte Erkrankungen hinweisen, sind durch den Einsatz von Medikamenten, wie Antibiotika oder Antipyretika, heute kaum noch zu beobachten, da sie die Fieberverläufe verändern bzw. das Fieber schnell senken. Impfungen lassen bestimmte Erkrankungen mit charakteristischen Fieberverläufen seltener auftreten (z. B. Masern).

12.3.5 Verminderte Körpertemperatur Definition

12

282











L ●

längere Kälteexposition, z. B. Aufenthalt von hilflosen, immobilen Personen in kalter und/oder nasser Umgebung bei Unfällen, bei Verwirrtheitszuständen, Drogen- und v. a. Alkoholintoxikationen hohe Wärmeverluste über die Haut (z. B. bei ausgedehnten Verbrennungen) ausgeprägtes Fehlen von Fettdepots (z. B. bei Anorexie, Kachexie) große Flüssigkeits- und/oder Blutverluste, Kollaps, Schock zentrale Temperaturregulationsstörungen infolge von Hirnverletzungen, Hirntumoren, Intoxikationen (zentrale Hypothermie)

Bei einer Hypothermie liegt die rektale Körpertemperatur konstant unter 36 °C.

Einen Überblick über Stadien und Symptome bei Hypothermie können Sie ▶ Tab. 12.3 entnehmen, Pflegemaßnahmen werden in einem eigenen Unterkapitel erläutert (S. 284).

Untertemperatur entsteht durch eine zu hohe Wärmeabgabe, zu geringe Wärmebildung oder eine unzureichende Regulation durch das Wärmezentrum. Physiologisch kann während des Schlafs eine erniedrigte Körpertemperatur infolge einer Stoffwechselreduktion auftreten. Längerfristig einwirkende Minustemperaturen können zu Unterkühlung und Erfrierungen führen. Risikofaktoren und Ursachen für das Auftreten einer Hypothermie sind: ● Unreife des Temperaturregulationssystems und andere anatomisch-physiologische Besonderheiten bei Frühgeborenen (S. 512)

▶ Kontrollierte Hypothermie. Eine kontrollierte Absenkung der Körpertemperatur zur Herabsetzung des Stoffwechsels mit einer Verminderung des Sauerstoffverbrauchs wird bei bestimmten Indikationen gezielt herbeigeführt. Sie wird bei großen chirurgischen Eingriffen angewendet, z. B. in der Herz- und Neurochirurgie, und bei Transplantationen, in deren Verlauf eine Unterbrechung der Blutversorgung lebenswichtiger Organe notwendig ist. Sie erfolgt z. B. mithilfe eines Wärmetauschers bei Einsatz der Herz-LungenMaschine oder durch Oberflächenkühlung.

12.3.6 Schweiß Definition

L ●

Schweiß (griech. hidros) ist die flüssige Sekretabsonderung der Schweißdrüsen. Er besteht zu 99 % aus Wasser sowie aus Kochsalz, Fettsäuren und Cholesterin.

Weiterhin werden Stoffwechselprodukte, wie Harnstoff, Harnsäure und Ammoniak, ausgeschieden. Auch Medikamente und Geruchsstoffe, wie Inhaltsstoffe des Knoblauchs, können mit dem Schweiß abgegeben werden. Zusammen mit dem Hauttalg bildet Schweiß den bakterienhemmenden Säureschutzmantel der Haut mit einem pH-Wert im sauren Bereich zwischen 4 und 5. Schweiß ist „Kühlwasser“ für unseren Körper und schützt den Organismus vor gefährlicher Überhitzung. Über die Haut und Atemluft wird ständig und unmerklich eine gewisse Menge an Wasser durch Verdunstung abgegeben, die als Perspiratio insensibilis bezeichnet wird. Sie beträgt ca. 1 – 2 ml/kg/h und ist abhängig von der Körperoberfläche. Eine intensive und wahrnehmbare Form der Wasserdampfabgabe erfolgt über das Schwitzen (Perspiratio sensibilis, Transpiration). Die Verdunstung der Flüssigkeit bewirkt einen Wärmeentzug, es entsteht Verdunstungskälte. Abhängig von der Umgebungstemperatur und der Aktivität beträgt die Schweißproduktion bei Erwachsenen ca. 400 – 1000 ml/d. Sie kann bei Schwerstarbeit bis auf 1,5 l/h ansteigen. Die Schweißproduk-

12.3 Beobachten und Beurteilen

Tab. 12.3 Stadien und Symptome bei Hypothermie*. Stadium

Symptome

I. leichte Hypothermie

● ● ● ● ● ● ●

Frieren, Kältezittern (Ausnahme Säuglinge: Fehlen von Zitterbewegungen oder nur schwache Ausprägung) blasse, kühle Haut, bläuliche Lippen, kühle Akren durch Vasokonstriktion/Zentralisation verzögerte Rekapillarisierungszeit (bei Kindern > 3s = sicher verzögert) Schmerzen Steigerung von Atmung, Herzfrequenz und Blutdruck erhöhter Sauerstoffverbrauch anfangs hellwach-erregt



zunehmend verwirrt bis apathisch Somnolenz, später Bewusstlosigkeit Atemdepression Absinken von Herzfrequenz und Blutdruck Arrhythmien erhöhter Muskeltonus fortschreitende Schmerzunempfindlichkeit Abschwächung der Reflexe

III. schwere Hypothermie



Koma: weite, lichtstarre Pupillen, auch wenn noch kein Kreislaufstillstand eingetreten ist

IV. Kreislaufstillstand



Kammerflimmern Asystolie Bradypnoe Apnoe Kältetod klinische Zeichen des Todes sind bei Temperaturen < 32 °C nicht zu verwerten, Wiedererwärmung abwarten (Scheintod, „no one is dead, until he is warm and dead“)

II. mäßige Hypothermie

● ● ● ● ● ● ●

● ● ● ● ●

* Als Referenz dient hier nicht eine gemessene Körpertemperatur, sondern das klinische Bild des Patienten.

tion ist z. B. erhöht bei körperlicher Anstrengung, Erregungszuständen (z. B. Stress, Schmerzen, Angst, Wut, sexuelle Aktivität). Schweißsekretion ist eine vegetative Funktion und wird überwiegend vom Nervus sympathicus gesteuert.

Merke

H ●

Die Schweißdrüsen erlangen erst im 2.– 3. Lebensjahr ihre volle Funktionsfähigkeit. Deshalb spielt die Wärmeabgabe durch Schwitzen bei Säuglingen und Kleinkindern eine untergeordnete, bei Frühgeborenen keine Rolle. Bei zu hohen Umgebungstemperaturen ist insbesondere bei Neugeborenen und Säuglingen das Risiko erhöht, eine Wärmestauung zu erleiden.

Bei hohen Umgebungstemperaturen und/ oder starker körperlicher Aktivität wird die Wärmeabgabe durch vermehrte Schweißsekretion gesteigert und damit die Aufrechterhaltung der physiologischen Körperkerntemperatur unterstützt. Eine sehr hohe Luftfeuchtigkeit kann die Verdunstung von Schweiß behindern und z. B. in Kombination mit körperlicher Aktivität eine Wärmestauung verursachen. ▶ Beobachtung. Normaler Schweiß ist klar, dünnflüssig, warm, großperlig und schmeckt salzig. Frischer Schweiß ist geruchlos. Lediglich die apokrinen Drüsen,

sog. Duftdrüsen, sondern ein alkalisches Sekret mit charakteristischem Duft, wahrnehmbar als individueller und geschlechtsspezifischer Körpergeruch, ab. Derartige Schweißdrüsen sitzen z. B. in der Achselhöhle und in der Genital-AnalRegion. Sie sind ab der Pubertät aktiv.

Merke

H ●

Die Beobachtung des Schweißes kann wichtige Hinweise auf die körperliche und psychische Verfassung eines Menschen geben.

Wichtige Beobachtungskriterien des Schweißes sind: ● Schweißmenge (übermäßiges Schwitzen, fehlende Schweißsekretion) ● Aussehen, Beschaffenheit (z. B. klar, durchsichtig, warm oder kalt, großoder kleinperlig) ● Lokalisation des Schweißes (z. B. Stirn, Nasenrücken, Nacken, Achselhöhlen, Brust, Oberlippe, Handinnenflächen, Fußsohlen) ● Zeitpunkt des Schwitzens (z. B. in Ruhe, bei Belastung, im Schlaf) ● Geruch (z. B. geruchlos, auffällige Ausdünstung) ● Begleitsymptome oder nachfolgende Störungen (z. B. Schmerzen, Erbrechen, Schwächegefühl und Zittrigkeit bei einer Hypoglykämie, Herz-KreislaufProbleme)

Merke

H ●

Kalter, kleinperliger und klebriger Schweiß kann auf einen akut bedrohlichen Zustand hinweisen, z. B. Kreislaufkollaps, Schock.

Bei Hinweis auf einen akut bedrohlichen Zustand sind die Vitalzeichen und die Bewusstseinslage zu kontrollieren. Abhängig vom Allgemeinzustand werden lebensrettende Erstmaßnahmen eingeleitet. Der Patient darf nicht alleine gelassen werden, ein Arzt ist zu benachrichtigen.

Veränderungen der Schweißproduktion

12

Abweichungen von der normalen Schweißproduktion können auf akute oder chronische Störungen im Organismus hinweisen. Eine erhöhte Schweißsekretion mit ständig feuchter Haut verändert das Hautmilieu und begünstigt das Wachstum von Bakterien und Pilzen. Hautveränderungen, wie Intertrigo, können die Folge sein. Starkes Schwitzen mit Schweißflecken, Schweißgeruch oder feuchte Hände können die Betroffenen belasten und zu Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Menschen führen. Menschen die nicht schwitzen können, sind gefährdet, lebensbedrohliche Wärmestauungen zu erleiden.

3

Körpertemperatur regulieren

Veränderungen des Schweißes ▶ Hypohidrosis. Die verminderte generalisierte oder lokale Schweißsekretion tritt bei hohen Flüssigkeitsverlusten (z. B. Exsikkose, Diabetes insipidus), Hauterkrankungen mit gestörter Schweißdrüsentätigkeit (z. B. atopisches Ekzem, schwere Verbrennungen), hormonellen Störungen (z. B. Hypothyreose), Nervenläsionen (z. B. Sympathikusläsionen) oder Gabe von Medikamenten (z. B. Atropin) auf. ▶ Anhidrosis. Die fehlende Schweißsekretion ist eine seltene angeborene Störung mit Fehlen der Schweißdrüsen. ▶ Hyperhidrosis. Vermehrte generalisierte oder lokale Schweißsekretion ist ein physiologischer Vorgang zur Wärmeabgabe bei hohen Umgebungstemperaturen und gesteigerter körperlicher Aktivität. Weitere Ursachen sind Fieber, hormonelle Veränderungen (z. B. Klimakterium, Hyperthyreose) und Herzfehler. Lokale Hyperhidrosis mit verstärktem Schwitzen an einzelnen Körperpartien kommt häufig bei Aufregung, Angst, vegetativen Störungen und Adipositas vor. ▶ Nachtschweiß. Vermehrter Nachtschweiß kommt bei Albträumen, vegetativen Fehlregulationen, AIDS oder Lungentuberkulose vor. ▶ Hemihyperhidrosis. Übermäßige einseitige Schweißsekretion betrifft meist nur eine Gesichts- oder Körperhälfte (z. B. bei Hemiplegie, Entzündungen oder Tumoren des Gehirns).

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▶ Bromhidrosis. Unangenehmer Schweißgeruch entsteht durch bakterielle Zersetzung des Schweißes an der Hautoberfläche, besonders an schlecht belüfteten Körperstellen und Kleidungsstücken. Auffälliger Schweißgeruch entsteht auch nach dem Genuss von bestimmten Nahrungsmitteln oder bei der Einnahme einiger Medikamente oder bei Stoffwechselstörungen, z. B. azetonartiger Geruch im diabetischen Koma durch Ausscheidung von Ketonkörpern über Schweiß und auch Harn, „mäusekotartiger“ Geruch bei unbehandelter Phenylketonurie (S. 644).

Praxistipp Pflege

Z ●

Die bei starkem Schwitzen auftretenden Flüssigkeits- und Elektrolytverluste müssen ausgeglichen werden, um einer Dehydratation vorzubeugen. Große Schweißmengen müssen ggf. in einer Flüssigkeitsbilanz berücksichtigt werden. Dazu wird die Differenz des Wäschegewichtes in trockenem und feuchtem Zustand bestimmt.

284

12.3.7 Individuelle Situationseinschätzung Eine Informationssammlung über die Ausführung der Lebensaktivität (LA) „Körpertemperatur regulieren“ bildet die Grundlage für eine bedarfsgerechte Pflege. Wichtige Fragestellungen zur Einschätzung der Lebensaktivität „Körpertemperatur regulieren“ können sein: ● Inwieweit ist das Kind in der Lage, selbstständig für eine angemessene Regulierung der Körpertemperatur zu sorgen? ● Hat das Kind bestimmte Wünsche oder Gewohnheiten (z. B. Raumtemperatur, Kleidung, zusätzliche Bettdecke)? ● Welche Temperaturmessmethode bevorzugt das Kind? ● Gibt es Risikofaktoren und Anzeichen für eine erhöhte, erniedrigte oder schwankende Körpertemperatur? ● Welche fiebersenkenden Maßnahmen wenden die Eltern im häuslichen Bereich an? Wie reagiert das Kind darauf? ● Besteht Beratungs- und Anleitungsbedarf bei den Eltern, z. B. zur Fiebersenkung oder bei Fieberkrämpfen?

12.4 Pflegemaßnahmen 12.4.1 Prävention und Unterstützen beim Regulieren der Körpertemperatur Eine Vielfalt an vorbeugenden Maßnahmen trägt zu einem ausgeglichenen Wärmehaushalt und damit zur Gesunderhaltung und zum Wohlbefinden eines Menschen bei. Insbesondere Kinder benötigen aufgrund ihrer physiologischen Besonderheiten und ihres Alters Unterstützung bei der Körpertemperaturregulation. Präventive Maßnahmen dienen der Gesundheitsvorsorge. Der Umfang unterstützender Maßnahmen sowie von Beratung und Anleitung im Rahmen der Lebensaktivität „Körpertemperatur regulieren“ orientiert sich am individuellen Bedarf. Der Pflegebedarf wird von vielen Faktoren mitbestimmt (z. B. Lebensalter, Lebenssituation, Erkrankungen, Wissen um die Unterstützung der LA „Körpertemperatur regulieren“, Fähigkeit, diese selbstständig aufrechtzuerhalten). ▶ Selbstständigkeit. Kinder erhalten je nach Grad der Abhängigkeit Hilfestellung beim Regulieren der Körpertemperatur, bis sie die erforderlichen Verhaltensweisen erlernt haben und temperaturregulierende Maßnahmen selbstständig anwenden können. Behinderte Menschen benötigen abhängig von ihren Selbstpflegedefiziten evtl. lebenslang Hilfestellung in dieser Lebensaktivität.

▶ Optimale Umgebungstemperatur. Eine behagliche Umgebungstemperatur ist besonders bei Kindern nicht mit einem Temperaturbereich zu definieren. Frühund Neugeborene benötigen besonders in unbekleidetem Zustand höhere Umgebungstemperaturen als ältere Kinder und Erwachsene. Das eigene Temperaturempfinden spielt eine wesentliche Rolle bei der Wahl der Raumtemperatur oder Bekleidung. Tagsüber wird eine Wohnraumtemperatur zwischen 20 und 22 °C empfohlen. Nachts sollte sie im Schlafbereich bei ca. 16 – 18 °C liegen. Ein gut gelüftetes und temperiertes Patientenzimmer sorgt insbesondere bei kranken Menschen für mehr Wohlbefinden. ▶ Schutz durch Bekleidung. Eine den klimatischen Bedingungen angepasste Bekleidung gleicht Temperaturunterschiede aus, schützt vor kalter und nasser Witterung sowie vor starker Sonnenstrahlung. Ein großes Angebot an Naturfasern, wie Baumwolle, Seide, Wolle oder modernem Hightechgewebe, bietet Schutz für alle Wetterbedingungen. Mehrere Bekleidungsschichten übereinander wärmen besser als ein einzelnes Kleidungsstück, da sich die dazwischenliegenden Luftschichten erwärmen („Zwiebeltechnik“). Kinder sollten im Sommer vor Sonneneinstrahlung und Hitzebelastung geschützt werden und reichlich trinken. Informationen dazu, wie sich die Freude an der Sonne und Hautgesundheit vereinbaren lassen, finden Sie im Kap. Sonnenschutz (S. 319), Prävention und Erstmaßnahmen bei Hitzeschäden im Kap. Physikalische Notfälle (S. 871). ▶ Gesundheitsförderndes Verhalten. Verschiedene Naturheilverfahren dienen der Vorbeugung und Therapie von Gesundheits- und Befindlichkeitsstörungen, sorgen aber auch für positive seelische Einflüsse. Klassische Naturheilverfahren, die auch problemlos im Alltag oder teilweise bei Kindern angewendet werden können, setzen ausschließlich natürliche Reize ein, wie Wärme und Kälte, Licht, Luft und Wasser. So helfen z. B. KneippWaschungen, wohltuende Bäder, Wechselduschen, Güsse, Luftbäder, Sauna, Aromatherapie, sich zu verwöhnen, gesund zu halten, zu beleben und Ruhe zu finden. Kinder haben Spaß an Bewegung im Freien und im Wasser und können so auf spielerische Weise zur Gesundheitsförderung motiviert werden. Sie lernen dabei früh, auf ihr körperliches und seelisches Wohlbefinden zu achten und dieses aktiv zu erhalten. In den letzten Jahren erleben sog. „Wellness-Programme“ einen wahren Boom. Besonders Menschen mit Stressbelastung (z. B. Pflegefachkräfte) können aus einem großen Angebot zum Relaxen, Vorbeugen und Lindern von Beschwerden,

12.4 Pflegemaßnahmen wie Kopf- und Rückenschmerzen, schweren Beinen oder nervlicher Anspannung, wählen.

Merke

H ●

Ein kleines persönliches Wellness-Programm trägt dazu bei, eine gesunde Balance zwischen Anspannung und Entspannung zu erhalten, die „Seele baumeln zu lassen“ und neue Energie zu schöpfen.

Die pflegerischen und therapeutischen Maßnahmen richten sich nach dem Alter, der Primärerkrankung, der Reaktion auf Fieber, dem Befinden in den Fieberphasen (▶ Tab. 12.4) sowie den Einschränkungen in den einzelnen Lebensaktivitäten. Die Situation des fiebernden Kindes wird kontinuierlich eingeschätzt, der Fieberverlauf beobachtet, die Effizienz der durchgeführten Maßnahmen evaluiert und diese bei Veränderungen neu angepasst.

Eltern

Therapie von Fieber Fiebersenkung sollte wohlüberlegt sein, denn Fieber hat auch positive Aspekte. Es ist eine wirksame Waffe gegen Viren und Bakterien und unterstützt die Abwehrreaktion des Organismus. Die Indikation zur Fiebersenkung sollte sich deshalb nicht ausschließlich an einem bestimmten Temperaturmesswert orientieren, sondern am klinischen Zustand und am subjektiven Befinden des Kindes. Fieber sollte aber immer ernst genommen werden – insbesondere bei Kleinkindern. Auch wenn Fieber eine sinnvolle Wirkung hat, sollte es bei hohen Körpertemperaturen um 39 °C, bei Kreislaufbeschwerden, beeinträchtigtem Allgemeinbefinden, Muskel- und Gliederschmerzen sowie besonderen Risikofaktoren gesenkt werden.

a ●

Eltern und Kinder erhalten bei Bedarf Informationen und Anleitung, z. B. über eine verlässliche Bestimmung der Körpertemperatur, fiebersenkende Maßnahmen, Verhalten bei Fieberkrampf. Themenspezifische Elternbroschüren in verschiedenen Sprachen ergänzen den Beratungsservice.

12.4.2 Pflege eines Kindes mit Fieber Pflegerische Interventionen bei einem Kind mit Fieber haben das Ziel, eine normale Körpertemperatur zu erreichen, das Stoffwechselgleichgewicht wiederherzustellen, fieberbedingte Beschwerden zu lindern und Fieber komplikationslos zu überstehen.

Tab. 12.4 Pflegeschwerpunkte in den Fieberphasen/bei Schüttelfrost. Phasen

Begleitzeichen

1. Fieberanstieg Erfolgt meist allmählich, bei raschem Anstieg Auftreten von Schüttelfrost möglich, bei (prädisponierten) Säuglingen und Kleinkindern auf Fieberkrämpfe achten.



● ● ●

Frieren, evtl. Schüttelfrost mit Muskelzittern, Zähneklappern, Gänsehaut kühle, blasse, marmorierte Haut Anstieg der Körpertemperatur Anstieg von Puls- und Atemfrequenz

Pflegeschwerpunkte ● ● ● ●



2. Fieberhöhe Auftreten eines Fieberdeliriums bei hohem Fieber möglich.

● ● ● ●

● ● ● ●

Hitzegefühl heiße, gerötete, trockene Haut erhöhte Körpertemperatur erhöhte Pulsfrequenz und beschleunigte, ggf. oberflächliche Atmung Unruhe, Angst ausgeprägtes Krankheitsgefühl lichtempfindliche Augen Durst

● ●



● ●

● ●

3. Fieberabfall Lytischer oder kritischer Fieberabfall möglich. Merke: Bei kritischem Fieberabfall Gefahr von Kreislaufstörungen!



● ● ●

4. Erschöpfungsphase

● ●

evtl. Schweißausbrüche (bei lytischem Fieberabfall warmer, großperliger Schweiß) Körpertemperatur sinkt Absinken von Puls- und Atemfrequenz bei kritischem Fieberabfall: Kollapsneigung (kalter, kleinperliger Schweiß, Hautblässe, erneuter Pulsanstieg)



Abgeschlagenheit, Müdigkeit, Schlafbedürfnis



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Temperaturkontrolle Wärmeabgabe weiter unterstützen ● Flüssigkeits- und Elektrolytersatz ● Körperpflege, Bekleidungs- und Wäschewechsel bei Schwitzen ● Schutz vor Zugluft Merke: Kreislaufüberwachung in kurzen Abständen! Bei Krisiszeichen Arzt informieren und beim Kind bleiben! Kreislaufstabilisierung!



Beobachtungen/Befinden des Kindes dokumentieren, bei Schüttelfrost den Verlauf beschreiben.

Wärmeabgabe gewährleisten Wärmespender entfernen, kühlende Pflegemaßnahmen medikamentöse Fiebersenkung nach Arztrücksprache Flüssigkeits- und Elektrolytersatz einfühlsame Begleitung, Sicherheit geben durch Anwesenheit reizarme Umgebung, gedämpftes Licht Überwachung von Temperatur, Vitalzeichen, Bewusstseinslage (Fieberdelir!), Allgemeinbefinden





Hinweise zur Dokumentation:

Wärmezufuhr, bis das Frieren aufhört beim Kind bleiben, Ruhe vermitteln bei Schüttelfrost: Arzt benachrichtigen nach Beendigung des Schüttelfrostes Temperatur und Vitalzeichen kontrollieren evtl. nach Arztanordnung bei der Entnahme einer Blutkultur assistieren (Zeitpunkt größter Erregerschwemme im Blut)

für ungestörte Erholungs- und Schlafphasen sorgen Pflege- und Überwachungsmaßnahmen auf das erforderliche Minimum reduzieren evtl. Hilfestellung bei der Mobilisation

Durchgeführte Pflegemaßnahmen sowie deren Effektivität und Wirkungen auf das Kind dokumentieren.

5

Körpertemperatur regulieren

Merke

H ●

Es gibt kein zuverlässiges Mittel, die Wiederholung eines Fieberkrampfes zu verhindern. Hohes Fieber, das ein Kind beeinträchtigt, sollte nach Arztanordnung gesenkt werden.

▶ Risikogruppen. Zu den Personengruppen, die durch Fieber gefährdet sind, gehören z. B. Säuglinge, Schwangere, Menschen mit chronischen und zerebralen Erkrankungen, mit stark reduziertem Allgemeinzustand, beeinträchtigter HerzKreislauf-Funktion oder gestörter Temperaturregulation. Bei Fieber entstehen Flüssigkeits- und Elektrolytverluste, es werden vermehrt Sauerstoff und Energie verbraucht, der gesteigerte Stoffwechsel belastet den Organismus. Eine frühzeitige Fiebersenkung ist deshalb bei schwer kranken, sehr jungen oder alten Menschen bzw. Personen mit bestimmten Vorerkrankungen indiziert.

Merke

H ●

Fiebernde Säuglinge (insbesondere jünger als 3 Monate) müssen unverzüglich einem Kinderarzt zur Abklärung vorgestellt werden. Fieber bei jungen Säuglingen ist meist Ausdruck einer ernsten Erkrankung. Bei Neugeborenen mit schweren neonatalen Infektionen kann Fieber, aber auch eine Hypothermie auftreten!

Fiebersenkende Maßnahmen

12

Fieber kann auf verschiedene Arten gesenkt werden: ● symptomatisch durch: ○ physikalische Maßnahmen, wie feucht-kühle Wickel, z. B. Wadenwickel (S. 293), lauwarme bis kühle Teiloder Ganzkörperwaschungen (S. 292) ○ Gabe von Antipyretika (fiebersenkende Arzneimittel) nach Abwägung/ Arztanordnung ● ursächlich durch: ○ spezifische Pharmaka zur Therapie der Grunderkrankung (z. B. Antibiotika bei bakteriellen Infektionen)

Merke

H ●

Symptomatische Maßnahmen lindern nur die Beschwerden, bekämpfen aber nicht die Fieberursache. Fiebersenkung ersetzt nicht die Untersuchung bei einem Kinder- und Jugendarzt.

286

▶ Antipyretika. Antipyretika greifen anders als physikalische Maßnahmen direkt in die pathophysiologischen Fiebervorgänge ein, indem sie den erhöhten Sollwert wieder auf ein niedrigeres Niveau regulieren. Im Kindesalter häufig angewendete Wirkstoffe mit schwach analgetischer Wirkung sind Paracetamol und Ibuprofen (bei Säuglingen ab 3 Monaten – Arzt oder Apotheker fragen!). Kindgerechte Applikationsformen, wie Säfte, Zäpfchen (Suppositorien) oder Tabletten, stehen zur Verfügung. Dosierung, Verabreichungsintervalle und Höchstdauer der Anwendung müssen streng eingehalten werden, um Nebenwirkungen zu vermeiden.

Merke

H ●

Azetylsalizylsäure (ASS) ist im Kindesalter wegen schwerer Nebenwirkungen (z. B. Reye-Syndrom mit Leberzerfall, Hirnödem und Einschränkungen der Thrombozytenfunktion) kontraindiziert.

Eltern

a ●

Da Kinder unterschiedlich auf Fieber und temperatursenkende Maßnahmen reagieren, können Informationen von Eltern helfen, Wege einer schonenden und wirkungsvollen Fiebersenkung zu finden. Elterliche Informationen werden in der Pflegeanamnese dokumentiert und im Pflegeplan berücksichtigt.

▶ Elterninformation. Oft stellt sich die Frage, wann Eltern einen Arzt aufsuchen sollten. Eltern sind häufig sehr ängstlich, wenn bei ihrem Kind Fieber auftritt. Sie fragen sich, ob das Fieber gefährlich ist und ein Arzt hinzugezogen werden muss. Es gibt Empfehlungen von Experten, wann bei Fieber ein Besuch bei einem Kinderund Jugendarzt erforderlich ist. Entscheidend ist die Situation des Kindes, aber auch die Erfahrung der Eltern.

Eltern

a ●

Ein Arzt sollte aufgesucht werden bei Säuglingen, wenn das Fieber den Organismus sehr belastet oder sogar gefährdet und wenn Symptome auftreten, die auf eine ernsthafte Erkrankung hinweisen.

In folgenden Situationen sollten Eltern einen Kinder- und Jugendarzt konsultieren: ● Fieber bei Säuglingen, insbesondere vor dem 3./6. Lebensmonat (sofort zum Arzt) ● Fieber > 39,0 °C bei Kindern ● schnell ansteigendes, hohes Fieber, das durch fiebersenkende Maßnahmen/Medikamente nicht beeinflussbar ist ● Fieber für mehr als 1 Tag bei Kindern zwischen ½ und 2 Jahren, bei älteren Kindern länger als 3 Tage ● Fieber, das unter Antibiotikatherapie länger als 3 Tage andauert ● bei reduziertem Allgemeinzustand, Teilnahmslosigkeit ● Fieber unklarer Genese, bei Fieberschüben ● bei Vorerkrankungen oder chronischen Erkrankungen (z. B. Asthma, Diabetes, Epilepsie, Herzkrankheiten, malignen Erkrankungen) ● bei zusätzlichen Beschwerden oder Hinweisen auf ernsthafte Erkrankungen (z. B. Erbrechen, Durchfall, Hautausschläge, Schmerzen, Berührungsempfindlichkeit, Nackensteifigkeit, Atembeschwerden, Bewusstseinsstörungen) unverzüglich zum Arzt ● bei Fieberkrämpfen, auch in der Vorgeschichte (S. 281) ● bei zu geringer Trinkmenge, bei Austrocknungszeichen (trockene Haut, geringe Urinausscheidung, eingefallene Fontanelle, fehlende Tränen) sofort zum Arzt ● bei Verweigern von zwei Mahlzeiten pro Tag ● wenn das Kind trotz Fieberrückgang noch deutlich beeinträchtigt ist ● nach Zeckenstichen ● nach Urlaubsreisen, um eine Infektion, z. B. Malaria oder Hepatitis, auszuschließen; vor Urlaubsreisen in gefährdete Länder Beratung zur Prophylaxe von Reisekrankheiten und Impfungen einholen ● bei Beunruhigung und Fragen der Eltern ● falls Eltern eine Bescheinigung zur Arbeitsbefreiung benötigen, da das Kind nicht in eine Gemeinschaftseinrichtung gebracht werden sollte Bei älteren Kindern entsteht Fieber meist in Zusammenhang mit einem banalen Infekt. Lang anhaltendes oder rezidivierendes Auftreten von Fieber sowie von subfebrilen Temperaturen bedarf der ärztlichen Abklärung, da schwere Erkrankungen die Ursache sein können (z. B. rheumatische Erkrankungen, chronische Entzündungszustände, maligne Erkrankungen).

12.4 Pflegemaßnahmen

Mögliche Pflegeprobleme Bei Fieber können folgende Pflegeprobleme auftreten: ● Unwohlsein durch die erhöhte Körpertemperatur, durch ein allgemeines Krankheitsgefühl, wechselndes Hitzeund Kältegefühl und trockenen Mund ● Gefahr eines Flüssigkeits- und Elektrolytmangels durch erhöhten Flüssigkeitsbedarf, Schwitzen, zu geringe Trinkmenge ● mangelnde Nährstoffaufnahme durch Appetitlosigkeit bei lang anhaltendem Fieber ● Risiko von Komplikationen, wie Ansteigen der Temperatur in kritische Bereiche, Kreislaufstörungen, Auftreten von Fieberkrämpfen und Fieberdelirium ● Unsicherheit und fehlendes Wissen der Eltern im Umgang mit ihrem fiebernden Kind

Pflegeziele und Pflegemaßnahmen Merke

H ●

Zentrale pflegerische Maßnahmen bei einem Kind mit Fieber umfassen die Unterstützung der Temperaturregulation in den einzelnen Fieberphasen (▶ Tab. 12.4), weitere Pflegehandlungen (S. 284) und die Entlastung des kindlichen Organismus, um den Selbstheilungsprozess zu fördern. Durch gezielte Beobachtung des körperlichen und psychischen Zustandes erkennen Pflegende Bedürfnisse, Veränderungen und drohende Komplikationen aufgrund des Fiebers frühzeitig und leiten adäquate Pflegehandlungen ein.

Physiologische Körperkerntemperatur Friert das Kind im Fieberanstieg, wird der Körper in seiner Anstrengung, die Körpertemperatur zu erhöhen, durch Wärmezufuhr unterstützt. Höhere Umgebungstemperaturen, Kirschkernkissen, warme Bekleidung, Decken und warme Getränke helfen, diese Phase zu verkürzen. Hat das Fieber seinen Höhepunkt erreicht, wird es dem Körper ermöglicht, Wärme abzugeben. Das Kind trägt nur leichte Bekleidung und wird mit einem dünnen Tuch bedeckt. Die Umgebungstemperatur wird reduziert. Ein gut gelüftetes Zimmer, aber ohne Zugluft, sorgt für ein Frischegefühl. Eine Fiebersenkung sollte schonend erfolgen. Kühlende, fiebersenkende Maßnahmen werden nur angewendet, wenn das Kind nicht friert und diese toleriert.

Physikalische Maßnahmen, wie Wadenwickel (S. 293) und kühle Waschungen (S. 292), sind wirksame Mittel, um Fieber zu senken. Für Kinder geeignete Antipyretika werden bei Notwendigkeit und nach Rücksprache mit dem Arzt verabreicht. Schweißtreibende Teesorten, wie Lindenblütentee, Holunderblütentee oder -saft, am besten in Arzneimittelqualität, unterstützen die Wärmeabgabe bei älteren Kindern. Säuglingen dürfen keine schweißtreibenden Mittel verabreicht werden, da sie zur Austrocknung führen können.

Praxistipp Pflege

Z ●

Ein rascher Fieberabfall belastet den Kreislauf stärker. Eine engmaschige Überwachung der Kreislaufsituation und des Allgemeinbefindens ist indiziert.

Erhalt/Wiederherstellung physiologischer Körperfunktionen Bei hohem Fieber sollten die Kinder bis nach dem Fieberabfall Bettruhe einhalten, um die Kreislaufbelastung und die Stoffwechseltätigkeit gering zu halten. Kinder, die sich krank fühlen, bleiben meist von sich aus im Bett liegen. Bei mäßigem Fieber dürfen sie, angemessen bekleidet, außerhalb des Bettes einer ruhigen Beschäftigung nachgehen. Da Fieber mit einem hohen Flüssigkeitsverlust und insbesondere bei Säuglingen und Kleinkindern mit einem erhöhten Risiko der Dehydratation einhergeht, muss unbedingt für eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr gesorgt werden. Säuglinge haben ein erhöhtes Risiko, zu dehydrieren, da das intrazelluläre Flüssigkeitsvolumen im Verhältnis zum extrazellulären Volumen geringer ist und ein Flüssigkeitsmangel sich deshalb gravierender auswirkt.

Merke

● H

Der adäquate Ersatz von Flüssigkeit und Elektrolyten ist eine vorrangige Maßnahme bei Fieber, um einer Dehydratation vorzubeugen. Ein heller, wasserklarer Urin ist ein verlässlicher Indikator für einen ausgeglichenen Flüssigkeitshaushalt.

Fiebernden Kindern werden deshalb regelmäßig reichlich Getränke in kleinen Portionen angeboten (z. B. halbstündlich). Geeignet sind stilles Wasser, Tee mit Traubenzucker als Energieträger, Vitamin-Chaltige Fruchtsäfte, Gemüsebrühe). Säug-

linge erhalten zusätzlich Muttermilch und Flaschennahrung. Die von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfohlenen Richtwerte für die tägliche Flüssigkeitszufuhr über Getränke bei gesunden Kindern und Erwachsenen finden sich im Kapitel „Essen und Trinken“ (S. 324). Bei Fieber muss mehr getrunken werden, da Flüssigkeit durch den erhöhten Grundumsatz, über Atmung und Schwitzen verloren geht. Pro Grad Celsius abweichend von der normalen Körpertemperatur steigt der Flüssigkeitsbedarf bei Kindern um 10–15 %, z. B. bei Fieber von 39,5 °C um > 30 %. Bei Säuglingen ist unbedingt auf eine ausreichende Trinkmenge zu achten, am besten häufiger Muttermilch oder Flaschennahrung anbieten. Bei einem erhöhten Angebot von Wasser oder Tee besteht das Risiko einer Überhydrierung mit gefährlichen Folgen. Die Ein- und Ausfuhr werden überwacht und dokumentiert, ggf. wird eine genaue Flüssigkeitsbilanz durchgeführt. Zur Kontrolle des spezifischen Gewichts kann ein Urinschnelltest mit Teststreifen durchgeführt werden. Eltern und ältere Kinder werden über die Einhaltung der erforderlichen Trinkmenge und die Beobachtung der Urinausscheidung informiert. Trinkt das Kind nicht ausreichend, ist eine bedarfsgerechte Flüssigkeitszufuhr durch eine intravenöse Infusion erforderlich. Da fiebernde Kinder zu Appetitlosigkeit neigen, sollten ihre Essenswünsche unter Berücksichtigung notwendiger diätetischer Einschränkungen erfüllt werden. Kleine häufige Mahlzeiten, leicht verdauliche Kost und kühle Nahrungsmittel werden meist bevorzugt (Pudding, Reis- und Kartoffelbrei, säurearmes Fruchtkompott, Joghurt). Fiebernde Kinder sollen nicht zum Essen gedrängt werden. Wenn genügend Flüssigkeit zugeführt wird, kann auch ein Kleinkind ca. einen Tag ohne feste Nahrung auskommen. Besonders bei lang anhaltendem Fieber eignen sich kohlenhydrat- und eiweißreiche Nahrungsmittel zur Deckung des erhöhten Energiebedarfs. Der normale Kostaufbau sollte so rasch wie möglich erfolgen. Einer Obstipation kann durch reichlich Flüssigkeit und z. B. Kleiezusatz in Joghurt vorgebeugt werden. Bei Bettruhe erhält das Kind in regelmäßigen Abständen Hilfestellung bei der Urinausscheidung (S. 367) und der Stuhlentleerung (S. 383).

12

Komplikationsloser Fieberverlauf Obwohl Fieber meist durch harmlose Infekte verursacht wird, muss immer auch auf Anzeichen von schwerwiegenden Er-

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Körpertemperatur regulieren krankungen (z. B. Meningitis, Sepsis) geachtet werden. Durch eine sorgfältige pflegerische Beobachtung können bedrohliche Zustände, wie Dehydratation, verhütet bzw. eine Therapie frühzeitig eingeleitet werden. Die Überwachung richtet sich nach der aktuellen Situation des Kindes, der Höhe des Fiebers sowie der Arztanordnung: ● Körperkerntemperatur (bei Kindern mit Neigung zu Fieberkrämpfen oder bei der Anwendung fiebersenkender Maßnahmen in engen Intervallen messen, z. B. alle 30 – 60 Minuten) ● Vitalzeichen (ggf. auch Sauerstoffsättigung zur frühzeitigen Erfassung eines drohenden Kreislaufproblems oder anderer kritischer Situationen) ● Flüssigkeitshaushalt (z. B. Trinkmenge, Urinmenge, Hautturgor, auf vorhandene Tränenflüssigkeit bei Weinen achten, Schwitzen, ggf. Flüssigkeitsbilanz und spezifisches Gewicht des Urins) ● Allgemeinbefinden (z. B. Wohlbefinden, Vitalität, Aussehen, Schmerzen) ● Bewusstseinslage ● Durst, Appetit, Übelkeit, Erbrechen ● Haut und Mundschleimhaut (auf Trockenheit) ● Effektivität von fiebersenkenden und symptomlindernden Maßnahmen, Reaktion des Kindes darauf

Praxistipp Pflege

Z ●

Bei sehr hohem Fieber, bei Anzeichen eines kritischen Fieberabfalls, Fieberkrämpfen und Fieberdelirium ist unverzüglich der Arzt zu informieren. Vitalzeichen und Bewusstseinslage werden in engen Abständen überwacht. Das Kind darf nicht alleine gelassen und muss bei Fieberkrampf oder Fieberdelirium vor Verletzungen geschützt werden.

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288

▶ Prophylaxen. Diese sind nach Risikoeinschätzung im Einzelfall abzuwägen, z. B.: ● Pneumonieprophylaxe (z. B. bei flacher Atmung und zähflüssigem Sekret in den Atemwegen) ● Intertrigopropyhlaxe mit hautschützenden Maßnahmen bei starkem Schwitzen ● Soor- und Parotitisprophylaxe bei lang anhaltendem Fieber mit trockener Mundschleimhaut, geringer oder fehlender oraler Nahrungsaufnahme ● sorgfältige Mund- und Lippenpflege, um die Schleimhäute feucht zu halten, sorgt für ein Frischegefühl im Mund ● Obstipationsprophylaxe bei zu geringer Flüssigkeitszufuhr, fehlenden Ballaststoffen und Bewegungsmangel

Praxistipp Pflege

Z ●

Fiebernde Patienten, die längere Zeit bettlägerig waren, werden schrittweise unter Überwachung mobilisiert, um einer Kreislaufdysregulation entgegenzuwirken.

Steigerung des Wohlbefindens Während der „heißen Phase“ fühlen sich Kinder etwas besser, wenn sie ein wenig verwöhnt werden. Kinder, die sich sehr krank fühlen, verlangen meist nach Ruhe, möchten aber jemanden in Sicht- oder Rufweite haben. Frische Luft und ungestörte Ruhe- und Schlafphasen in einem ruhigen, abgedunkelten Raum unterstützen die Genesung.

Eltern

a ●

Es ist hilfreich für das Kind, wenn sich Eltern an ausgewählten Pflegemaßnahmen beteiligen (z. B. Messen der Körpertemperatur oder Wadenwickel).

▶ Beschäftigung. Das Einhalten der Bettruhe kann erleichtert werden, indem die Art der Beschäftigung zusammen mit dem Kind ausgesucht wird. Bilderbücher betrachten, Geschichten vorlesen oder kleine Bastelarbeiten eignen sich, aufkommende Langeweile zu vertreiben, ohne anzustrengen. Nach Fieberfreiheit sollte dem Patienten noch Zeit zur Erholung vor dem Kindergarten- oder Schulbesuch gegeben werden.

12.4.3 Pflege eines Kindes mit Hypothermie Die pflegerischen und therapeutischen Maßnahmen können je nach Zustand und Auskühlungsgrad (▶ Tab. 12.3) des Kindes stark variieren. Stark unterkühlte, bewusstseinsgetrübte Patienten mit Störungen der Vitalfunktionen werden intensivmedizinisch betreut. Bei Auffinden eines unterkühlten Menschen ist ein Notruf abzusetzen. ▶ Therapieziel. Das Prinzip zur Wiederherstellung der physiologischen Kerntemperatur besteht in frühzeitiger und schonender Wiedererwärmung des Körpers unter Überwachung. Besonders wichtig ist der Schutz vor weiterer Auskühlung und einer Hypoxieschädigung bei schwerer Unterkühlung. Das kalte Körperschalenblut darf sich auf keinen Fall mit dem

wärmeren Kernblut vermischen, um ein weiteres Abfallen der Temperatur zu verhindern. Die Stabilisierung und das Therapieziel sollen mithilfe folgender Maßnahmen erreicht werden: ● Bei Kreislaufstillstand muss eine kardiopulmonale Reanimation erfolgen (S. 861). Das Reanimationsvorgehen und die medikamentöse Therapie müssen aufgrund der Hypothermie den veränderten physiologischen Bedingungen angepasst werden, um z. B. Überdosierungen von Pharmaka zu vermeiden. Der Tod darf erst nach Wiedererwärmung festgestellt werden, da bei starker Unterkühlung die Lebenszeichen extrem abgeschwächt sein können („Scheintod“). ● Weitere Wärmeverluste müssen durch Entfernen feuchter Kleidungsstücke verhindert werden. Falls möglich, wird die unterkühlte Person an einen warmen, trockenen und windgeschützten Ort gebracht. ● Wenn die Umgebungstemperatur niedriger ist als die Körpertemperatur, werden zum Transport metallbeschichtete Rettungsdecken verwendet. ● Äußere Erwärmungsmaßnahmen dürfen nur bei leichter Hypothermie und erhaltener Herz-Kreislauf-Funktion stattfinden! Warme, gesüßte Getränke werden nur bewusstseinsklaren Betroffenen schluckweise verabreicht (Energiezufuhr). Wärmflaschen dürfen nicht angewendet werden, da sie infolge der gestörten Mikrozirkulation zu Verbrennungen führen können. ● Stark unterkühlte Patienten werden schonend in eine Klinik transportiert und nur unter ärztlicher Überwachung aktiv wiedererwärmt, da lebensbedrohliche Komplikationen wie Herzrhythmusstörungen und Schock drohen! ● Deshalb muss auch aktive Bewegung unterlassen und passive Bewegungen auf ein unvermeidbares Minimum beschränkt werden. Transportiert wird schonend und in strikter Flachlage ohne stärkere Lageveränderungen, um Umverteilungsphänomene von Körperschalen- und Körperkernblut zu vermeiden („After-Drop“). ● Aus dem gleichen Grund sollten auch nur leicht unterkühlte Patienten bis zur Wiedererwärmung ruhen. ● Die Raumtemperatur wird auf 26 – 29 °C angehoben, um Wärmeverluste durch Konvektion zu minimieren. Neugeborene oder junge Säuglinge werden im Inkubator oder Wärmebett versorgt. ● Rasches Erwärmen von Neugeborenen und Säuglingen durch hohe Umgebungstemperaturen oder Wärmestrahler ist zu unterlassen, da Atemstillstände auftreten können. Die Kerntemperatur darf um maximal 1,0 °C pro Stunde

12.5 Physikalische Therapie







angehoben werden, um die Kreislaufbelastung und den Sauerstoffverbrauch möglichst gering zu halten. Invasive Erwärmung erfolgt nur in geeigneten Kliniken unter Intensivüberwachung (z. B. vorsichtige Volumentherapie, Peritoneallavage mit angewärmten Infusionslösungen, Aufwärmen mit Hämofiltrationsgeräten oder der HerzLungen-Maschine). Frühzeitige Sauerstoffapplikation und evtl. Beatmung müssen mit angewärmtem und angefeuchtetem Atemgas erfolgen. Engmaschig oder kontinuierlich werden Kerntemperatur, Vitalzeichen (Puls oft erschwert feststellbar, EKG-Monitor), periphere Durchblutung, Bewusstseinslage, Allgemeinzustand, Blutzucker, Urinausscheidung und Medikamentenwirkung überwacht. Zur Bestimmung der Körperkerntemperatur ist z. B. die Messung im Rektum mit einem bis 20 °C graduierten Spezialthermometer zuverlässig. Alle Beobachtungen und durchgeführten Maßnahmen werden engmaschig evaluiert und zur Verlaufskontrolle nachvollziehbar dokumentiert.

Merke

H ●

Aktive Erwärmung darf immer nur über den Körperstamm erfolgen und niemals isoliert über die Extremitäten, um eine Vermischung des kalten Blutes der Körperschale mit dem wärmeren Kernblut zu vermeiden! Gefahr des „Wiedererwärmungstodes“!

12.5 Physikalische Therapie Unter physikalischer Therapie wird die Anwendung von vorwiegend natürlichen Mitteln, wie Wärme, Kälte, Wasser, Licht und Luft, verstanden. Die einzelnen Wirkfaktoren werden häufig kombiniert, z. B. die Eigenschaften von Wasser und Wärme bei Bäderanwendungen.

Merke

H ●

Physikalische Maßnahmen werden mit dem Ziel eingesetzt, die Heilkräfte des Körpers anzuregen, Krankheiten zu verhüten, zu heilen oder Symptome zu lindern. Sie sind somit ein wichtiger Bestandteil der Gesunderhaltung, Prävention, Therapie und Rehabilitation.

Physikalische Heilverfahren sind integraler Bestandteil vieler therapeutischer Konzepte, deshalb wirken verschiedene Berufsgruppen eng zusammen. Viele Anwendungen haben insbesondere bei schweren und chronischen Krankheitsbildern, aber auch im häuslichen Bereich ihren Stellenwert. Physikalische Maßnahmen können sowohl kurzfristige Reaktionen auf Reize hervorrufen als auch langfristige „Umstimmungsvorgänge“ (z. B. Stärkung des Immunsystems) im Organismus bewirken. Bei Kindern werden prinzipiell mildere Reize eingesetzt. Folgende physikalische Maßnahmen werden unterschieden: ● Thermotherapie: Anwendung von Wärme und Kälte in feuchter und trockener Form. ● Hydrotherapie: therapeutische Anwendung von Wasser, meist in Kombination von Wasser- und Temperatureinwirkung (deshalb wird bei feuchten Anwendungen in diesem Kapitel der Begriff Hydrothermotherapie verwendet). ● Balneotherapie: therapeutische Bäderbehandlung in speziellen Bäderabteilungen von Gesundheitseinrichtungen, Praxen, an Kurorten mit natürlichen Heilquellen, aber auch im häuslichen Bereich (z. B. bei rheumatologischen und dermatologischen Erkrankungen). ● Lichttherapie: Behandlung mit natürlichem und künstlichem Licht. ● Bewegungstherapie: durch Heilgymnastik in Form von aktiven und passiven Bewegungsübungen sowie durch spezielle Behandlungsmethoden (z. B. bei Erkrankungen und Verletzungen des Bewegungsapparates und Zentralnervensystems, bei inneren Erkrankungen, wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, aber auch als Maßnahme zur Geburtsvorbereitung und prophylaktisch als Rückenschule). ● Massagetherapie: mechanische Behandlung der Haut und des tiefer liegenden Gewebes mit Beeinflussung des Gesamtorganismus (z. B. bei rheumatischen Erkrankungen, psychovegetativen Syndromen wie Migräne, funktionellen Organbeschwerden). ● Elektrotherapie: mit verschiedenen Formen elektrischen Stroms (z. B. zur Linderung von Schmerzen am Bewegungsapparat). ● Inhalationen (S. 255). ● Atemtherapie (S. 251). An dieser Stelle sollen nur Beispiele für trockene und feuchte Wärme- und Kälteanwendungen beschrieben werden, da sie in der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege häufiger Berücksichtigung finden. Therapien, die durch ausgebildetes Personal, wie Physiotherapeuten, in spe-

ziellen Abteilungen übernommen werden, werden nicht näher ausgeführt.

12.5.1 Trockene Wärmeund Kälteanwendungen Grundsätzliches zur Wärmeund Kälteapplikation Die Reaktion auf Wärme- oder Kältereize in trockener und auch feuchter Form ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Die Verträglichkeit ist abhängig von Alter, individuellem Empfinden, Konstitution sowie Gesundheitszustand und muss bei Wärme- und Kälteanwendungen beachtet werden. Es können ungewollte Nebenwirkungen entstehen, deshalb müssen zuvor Indikation und Kontraindikation abgeklärt werden. Die Zustimmung und das Empfinden des Patienten sind immer zu beachten. ▶ Rechtliche Aspekte. Wärme- und Kälteanwendungen müssen in der Klinik mit dem Arzt abgestimmt und von diesem schriftlich angeordnet werden. Die Durchführungsverantwortung trägt die Pflegefachkraft. Im ambulanten Bereich können prophylaktische Maßnahmen, wie Wickel, nach fachrichtiger Entscheidung und unter Zustimmung der betroffenen Person erfolgen. Liegt eine Behandlungssituation vor, dann muss der Arzt konsultiert werden. Die ärztliche Anordnung muss dokumentiert werden! ▶ Anwendungsprinzip. Kälteapplikationen werden i. d. R. vorwiegend bei akuten und Wärmeapplikationen bei chronischen Prozessen angewandt, z. B. bei akuten bzw. chronischen Entzündungen. Das subjektive Empfinden des Patienten muss dabei immer berücksichtigt werden.

Merke

H ●

Nur eine korrekte Indikationsstellung und Durchführung der Wärme- und Kälteapplikation, die Einhaltung von Applikationsdauer und Schutzmaßnahmen gewährleisten die beabsichtigte Wirkung und schützen vor unerwünschten Nebeneffekten.

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Die unterschiedlichen Wirkungsweisen von Wärme- und Kälteanwendungen, Indikationen und Kontraindikationen können ▶ Tab. 12.5 entnommen werden. ▶ Wärmeanwendungen. Sie können in trockener (z. B. Kirschkernkissen) oder feuchter Form (z. B. warmer Wickel, Bad) erfolgen. Je nach Ausmaß der Wärmeein-

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Körpertemperatur regulieren

Tab. 12.5 Therapeutische Wirkung von Wärme- und Kälteanwendungen, Indikationen und Kontraindikationen. Wirkung

Indikation

Kontraindikation

Wärmeanwendung ●



● ● ● ●

verbesserte Gewebedurchblutung durch Vasodilatation (Hyperämie mit sichtbarer Hautrötung) erhöhter Gewebestoffwechsel mit besserer Sauerstoff- und Nährstoffversorgung, Abtransport von Abbauprodukten nimmt zu erhöhte kapillare Durchlässigkeit Schmerzlinderung reflektorische Muskelentspannung Entspannung, Beruhigung (Einfluss auf das vegetative Nervensystem)





● ●

chronisch-entzündliche und degenerative Erkrankungen des Bewegungsapparates (z. B. bestimmte rheumatische Erkrankungen), Muskelverspannungen chronische Schmerzen am Bewegungsapparat krampfartige Schmerzen (z. B. Blähungen) Einschmelzen von lokalen Entzündungen, bei denen der Entzündungsprozess nicht unterbunden werden soll und die eine Öffnung zum Abfließen des Eiters haben (z. B. Panaritium)



Prellungen, Verstauchungen, Ergüsse Nasenbluten, nach Tonsillektomie und Zahnextraktionen Eindämmung von Entzündungen bei akuten Gelenkprozessen akute Schmerzen (z. B. Kopfschmerzen) Fieber, Hyperthermie nach Entbindungen Mastitis paroxysmale Tachykardien





● ● ● ●

akute Entzündungen (z. B. Appendizitis, akute Gelenkentzündungen mit überwärmten und geschwollenen Gelenken), da Gefahr der Ausbreitung und Aktivierung der Entzündung unklare Schmerzzustände (z. B. unklare Bauchschmerzen) Blutungsneigung Sensibilitätsstörungen, Lähmungen bewusstlose, desorientierte Kinder Früh- und Neugeborene, bei Kindern mit Herz-Kreislauf-Problemen (nicht anwenden oder nur milde Temperaturreize)

Kälteanwendung ●

● ●

● ● ● ●

verminderte Gewebedurchblutung durch Vasokonstriktion (antihämorrhagisch, antiexsudativ) verminderter Gewebestoffwechsel Schmerzlinderung (besonders bei akuten Schmerzen) erhöhter Muskeltonus entzündungshemmend im akuten Stadium wärmeentziehend abschwellend

wirkung können lokale oder systemische Reaktionen entstehen. Die Wirkung auf den Kreislauf muss durch die Überprüfung des Befindens, ggf. von Puls und Blutdruck während und nach der Wärmeapplikation, überwacht werden.

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▶ Kälteanwendungen. Sie werden lokal appliziert und können feucht (kalte Wickel, kühle Waschungen), trocken (Kühlelemente), gasförmig (Kühlspray) und in Form von Eis (Kryotherapie) angewendet werden. Unterschieden werden außerdem kurze oder länger andauernde sowie milde (z. B. kühler Wickel) oder intensive Kälteapplikationen (z. B. Eiskompressen). Die Intensität der Kälteauflage hängt u. a. von Lebensalter, Therapieziel und Verträglichkeit ab. Oberflächliche Hautschichten kühlen bei Kältebehandlung innerhalb weniger Minuten ab. Um tiefere Gewebeschichten abzukühlen, braucht es stärkere Kaltapplikationen mit längerer Anwendungsdauer.

Merke

● H

Kälteanwendungen rufen je nach Einwirkzeit sehr unterschiedliche Reaktionsweisen hervor und werden deshalb in Kurz- und Langzeitkälteanwendung unterschieden.

▶ Kurzzeitkälteanwendung. Eine kurzfristige lokale Kälteanwendung von wenigen Minuten führt anfangs zu einer Vasokonstriktion der oberflächlich gelegenen

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● ●



● ● ● ● ●

Blutgefäße, dann aber zu einer Durchblutungssteigerung (reaktive Hyperämie). Der Körper versucht zunächst, durch die Engstellung seine Wärmeabgabe zu drosseln. Auch die nachfolgende sekundäre Gefäßerweiterung mit lokaler Durchblutungssteigerung, erkennbar an einer Hautrötung und einem Wärmegefühl, ist als Schutzmaßnahme des Körpers zu erklären, um Kälteschäden abzuwenden. Diese Wirkungsweise wird bei KneippAnwendungen genutzt. ▶ Langzeitkältetherapie. Längerfristige Kälteanwendungen mit intensiver Kälte von ca. 15 – 20 Minuten (z. B. Eisauflagen) reduzieren die Stoffwechselfunktion. Kältespender müssen dabei dauerhaft kühl oder kalt sein, d. h., sie müssen häufiger und immer vor Erwärmung gewechselt werden.

Merke

H ●

Nur längerfristige Kälteapplikationen gelten als Kälteanwendung. Nur so können die gewünschten Effekte, wie Schmerzlinderung, Entzündungshemmung oder Blutstillung, erzielt werden.

Sehr lange intensive Kälteeinwirkung ist zu vermeiden, da der Körper mit schädlichen Nebenwirkungen reagiert. Es können z. B. Gefäßkrämpfe und Erfrierungen auftreten. Die Haut verfärbt sich dann bläulich bis wachsartig blass.



● ●

Personen mit Überempfindlichkeit gegen Kälte Erkrankungen der Blutgefäße, Durchblutungs- und Sensibilitätsstörungen Harnwegs- und Niereninfektionen bei jüngeren Kindern i. d. R. keine Kältetherapie

Trockene Wärmeanwendungen Trockene Wärme kann durch Wärmflaschen, erwärmte Kirschkernkissen und Wärmelampen zugeführt werden. ▶ Prävention von Verbrennungen und Verbrühungen. Zum Schutz vor thermischen Schädigungen ist Folgendes zu beachten: ● Temperatur und Einwirkzeit von Wärmespendern sind zu begrenzen. ● Wärmespender müssen immer mit einem Bezug aus Stoff zum Hautschutz und aus hygienischen Gründen ummantelt werden. ● Nach anleitungsgemäßer Erwärmung muss die Temperatur des Wärmemediums vor der Anwendung kontrolliert werden. Dies geschieht entweder an der eigenen Unterarminnenseite, z. B. bei einem Hot-Pack, oder mit einem Badethermometer, z. B. bei Bädern. Das individuelle Temperaturempfinden des Kindes ist dabei unbedingt mit zu beachten. ● Eine engmaschige Kontrolle der Körpertemperatur und der Haut beugt Schädigungen vor. ▶ Wärmflaschen. Sie finden Anwendung bei Frieren, kalten Füßen, Magen-DarmVerstimmungen, Menstruationsbeschwerden (nur milde Wärme, da stärkere Blutung möglich!) oder auch zum Anwärmen eines Bettes vor dem Schlafengehen.

12.5 Physikalische Therapie

Merke

H ●

Bei Früh- und Neugeborenen, Säuglingen und Kindern mit Durchblutungsund Sensibilitätsstörungen dürfen keine Wärmespender, z. B. Wärmflaschen, benutzt werden, wegen des Risikos von thermischen Schädigungen.

Trockene Kälteanwendungen Trockene Kälte zur Oberflächenkühlung kann in Form von Kühlelementen, z. B. „Cold-Hot-Packs“ oder Eiskrawatten, zugeführt werden. Der Fachbegriff für Kältetherapie ist Kryotherapie.

Praxistipp Pflege Bei Durchblutungs- und Sensibilitätsstörungen (z. B. bei Lähmungen) können die Kapillaren zur Abgabe von Fremdwärme aufgrund der unphysiologischen Gefäßinnervation nicht weit gestellt werden. Schwere Gewebeschädigungen können die Folge sein. Durch die Gefühllosigkeit einzelner Körperpartien kann sich das Kind schwere Verbrennungen zuziehen, ohne dies zu bemerken. Die Entscheidung, ob bei einem Patienten, und insbesondere bei Kindern, eine Wärmflasche eingesetzt wird, muss wohlüberlegt sein. Im Klinikbereich sollte auf die Anwendung von Wärmflaschen wegen der vielfältigen Gefahren verzichtet werden. ▶ Kirschkernkissen (z. B. Kirschkernhase). Mit diesem Medium kann sanfte Wärme zugeführt werden. Es wird im Backofen oder in der Mikrowelle erwärmt. Auch bei der Anwendung von diesen sog. natürlichen Wärmespendern müssen die angegebenen Sicherheitshinweise beachtet werden. Nach Lagerung im Tiefkühlfach ist es auch zum Kühlen geeignet. Aus Hygienegründen sind Kirschkernkissen nicht für den Klinikbereich vorgesehen. ▶ Elektrische Heizdecken. Heizdecken sollten in Kinderbetten keine Verwendung finden, da sie zur Überwärmung oder Unfällen durch Stromschläge führen können. ▶ Wärmestrahler. Sie sind mit speziellen Heizelementen ausgestattet und finden ihren Einsatz auf Früh- und Neugeborenenabteilungen sowie in der Intensivpflege, z. B. zum Schutz vor Auskühlung bei der Körperpflege oder bei Eingriffen. Die Bestrahlung mit einer Wärmelampe soll Wärmeverluste auf ein Minimum reduzieren.

Merke

H ●

Die vom Gerätehersteller angegebenen Vorsichtsmaßnahmen sind sorgsam zu beachten. Während der Versorgung unter der Wärmelampe muss das Kind beobachtet werden, um es vor Überwärmung zu schützen. Zum Schutz vor Verbrennungen dürfen keine Metallgegenstände (z. B. Klemmen) längere Zeit unter einer Wärmelampe gelagert werden und dann zum Einsatz am Patienten kommen.

Z ●

Da die effektive Kühlzeit von Eis kurz ist, müssen Eisauflagen häufig gewechselt werden, d. h. bevor der Kälteeffekt nachlässt, damit die gefäßverengende Wirkung anhält. Geschieht dies nicht, tritt der Gegeneffekt ein durch eine reaktive Steigerung der Durchblutung!

▶ Prävention von Kälteschäden. Die Haut an der Auflagestelle muss während und nach der Anwendung inspiziert werden. Die Farbe der Haut an der Auflagestelle ist ein wichtiges Beobachtungskriterium: Sie muss rosig aussehen. Bei bläulicher Verfärbung, Marmorierung, Blässe oder Äußerungen über Missempfindungen muss die Kälteauflage beendet werden. Bei jüngeren Kindern werden Kälteanwendungen nur nach strenger Indikationsstellung und begrenzter Auflagedauer, z. B. bei rheumatischen Erkrankungen, durchgeführt, da Auskühlungsgefahr besteht. Bei jungen Säuglingen ist sie obsolet. Größte Vorsicht und Sorgfalt sind bei Personen mit beeinträchtigter Wahrnehmung und älteren Menschen geboten (S. 289).

Praxistipp Pflege

Z ●

Kühlelemente und Eisauflagen werden nie direkt auf die Haut gelegt, sondern immer mit Baumwollstoff oder Einmalvlies umhüllt, um Kälteschäden/Erfrierungen auszuschließen. Die ärztliche Anordnung zu Fläche und Dauer der Kälteanwendung ist genau einzuhalten, da Nebenwirkungen (z. B. Durchblutungsstörungen) und bei der Kühlung von Gelenken eine Erhöhung der Synovialviskosität auftreten können.

▶ Thermoelemente. Sie sind z. T. kombiniert als Cold-Hot-Pack für Kälte- und Wärmeanwendungen und in verschiedenen Größen und Formen erhältlich. Die wiederverwendbaren mit formbarem Gel gefüllten Kühlelemente (Kryopacks) werden im Gefrierfach gelagert (▶ Abb. 12.6). Durch ihre Formbarkeit schmiegen sie sich den zu therapierenden Körperteilen gut an. Die Kühlauflage wird mit einem dünnen Schutzbezug ca. 15 – 20 Minuten aufgelegt, dann gewechselt bzw. nach Indikation beendet. Nach Benutzung werden sie desinfiziert und im Eisfach gekühlt. Die Kühlelemente werden z. B. bei

Abb. 12.6 Cold-Hot-Pack. (Foto: euthymia – stock.adobe.com)

Zerrungen, Prellungen, nach orthopädischen Eingriffen, bei rheumatischen Gelenkentzündungen im akuten Stadium und bei bestimmten Kopfschmerzarten angewendet. Bei schwerem Fieber können sie zum Wärmeentzug auf Körperstellen gelegt werden, unter denen große Blutgefäße verlaufen (Leistenbeugen, HalsSchulter-Bereich). Zur Wärmeanwendung werden die Hot-Packs in ca. 50 °C heißem Wasser erwärmt. Beim Kauf sollte auf nichttoxische Gelfüllungen geachtet werden. ▶ Eiskrawatte. Eiskrawatten werden nach Tonsillektomie oder Adenotomie zur Prophylaxe von Nachblutungen, zur Abschwellung und Schmerzreduktion im Nacken angewendet. Nach Einschlagen in ein trockenes Tuch wird die Eiskrawatte dem Kind ohne Druckausübung angelegt und mit den angebrachten Bändern befestigt. Der Wechsel erfolgt regelmäßig vor Erwärmung. Der Schutzbezug wird bei Durchfeuchtung (Kondensat) erneuert. ▶ Kühlbeißringe/Zahnungshilfen. Die Kühlbeißringe werden kurz in den Kühlschrank (nicht in den Gefrierschrank) gelegt und zahnenden Säuglingen zur Schmerzlinderung gegeben. Allerdings sollte die Kühlung nicht zu lange ohne Unterbrechung erfolgen, da Unterkühlungen und Erfrierungen im Mundbereich entstehen können. Es ist darauf zu achten, dass Kühlbeißringe hohe Qualitätsanforderungen erfüllen, z. B. schadstoffgeprüft sind und kein Verletzungsrisiko bergen. Bei Schadhaftigkeit müssen sie sofort ausgetauscht werden.

12.5.2 Hydrothermotherapie Definition

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L ●

Unter Hydrothermotherapie wird die therapeutische Anwendung von warmem oder kaltem Wasser, z. B. in Form von Bädern, Waschungen, Güssen, Wickeln und Dampf, verstanden.

1

Körpertemperatur regulieren Entsprechend der gewünschten Wirkungsweise auf den menschlichen Organismus werden unterschiedliche Wassertemperaturen gewählt. Zusätzlich können Wirkstoffe (z. B. ätherische Öle, Heilkräuter und medikamentöse Zusätze) dem Wasser beigefügt werden. Die Reizstärke der einzelnen Maßnahmen ist abhängig von der Art des Reizes, der Temperatur, der Einwirkungsdauer, dem Einwirkungsort, der Größe der behandelten Hautfläche und dem Reizwechsel (Dauer, Häufigkeit und Stärke des Reizes) und ist somit dosierbar. Die individuelle Reaktion ist ein weiterer Maßstab. Einfluss auf die Reagibilität des einzelnen Patienten haben z. B. Alter, Konstitution, Tagesform, Gewöhnung und/oder Erkrankungen.

Bäder

12

Bäder werden mit oder ohne (medizinische) Zusätze zur Vorbeugung, Linderung oder Beseitigung von Beschwerden durchgeführt. Sie werden nach der Körperfläche, die das Wasser bedeckt, und nach der Wassertemperatur eingeteilt. Nach der Eintauchtiefe werden Vollbad, Dreiviertelbad, Halbbad oder Teilbad, wie Arm-, Fuß- oder Sitzbad, unterschieden. Bäder können mit unterschiedlichen Wassertemperaturen, mit an- und absteigender oder regelmäßig wechselnder Temperatur (Wechselbäder) erfolgen. Die Badedauer ist unterschiedlich, für warme Teil- oder Vollbäder beträgt sie durchschnittlich 5 – 20 Minuten. Je nach Wassertemperatur, Eintauchtiefe und Art des Zusatzes können unterschiedliche Wirkungen auftreten bzw. erzielt werden: z. B. anregend, entspannend, wärmend, kühlend, hautfettend, gerbend, unterstützend bei Erkältungen und bewegungserleichternd. Bäder können besonders durch wohlriechende reine Zusätze, wie Rosen-, Mandarinen-, Vanille- oder Kokosduft, die Sinne stimulieren.

Merke

H ●

Folgende physikalischen Eigenschaften des Wassers wirken sich auf den Organismus aus: Wassertemperatur, Auftrieb, Widerstand und hydrostatischer Druck.

führten zur Definition folgender Wassertemperaturgrade: ● sehr kalt: 10 – 15 °C ● kalt: 16 – 25 °C ● kühl: 26 – 30 °C ● lauwarm: 31 – 33 °C ● indifferent (behaglich): 34 – 36 °C ● warm: 37 – 38 °C ● sehr warm: 39 – 40 °C ● heiß: über 40 °C

Merke

Je näher die Wassertemperatur der Indifferenztemperatur kommt, umso geringer ist der Reizeffekt.

▶ Auftrieb. Nach dem archimedischen Prinzip verliert jeder Körper in einer Flüssigkeit scheinbar so viel an Gewicht, wie die von ihm verdrängte Flüssigkeitsmenge wiegt. Durch den Auftrieb und die damit verbundene Abnahme der Schwerkraft wird die Muskulatur entlastet und entspannt, Bewegungen werden erleichtert. Patienten mit hochgradig geschwächter Muskulatur, Lähmungen, Kontrakturen und anderen Bewegungsstörungen oder -einschränkungen (z. B. bei chronischrheumatischen Erkrankungen) können so häufig noch Bewegungen ausführen und erfahren einen wesentlichen Motivationsantrieb. ▶ Widerstand. Bei Bewegung in Wasser muss ein gewisser Widerstand überwunden werden, der mit der Schnelligkeit der Bewegung und der Größe der bewegten Körperabschnitte zunimmt. Der Wasserwiderstand wird bei der Unterwassergymnastik zur Kräftigung der Muskulatur therapeutisch genutzt. ▶ Hydrostatischer Druck. Beim Eintauchen eines Menschen ins Wasser übt das Gewicht der jeweiligen Wassermenge einen zusätzlichen Druck vorwiegend auf das venöse System aus und verstärkt den Rückstrom des venösen Blutes zum Herzen. Mit zunehmender Eintauchtiefe steigt der Wasserdruck. Gesunde Menschen tolerieren die ausgelöste Kreislaufwirkung meist problemlos.

Merke ▶ Wassertemperatur. Sie wirkt hauptsächlich auf das Gefäßsystem, aber auch auf die Organfunktionen. Die individuelle Temperaturwahrnehmung wird von vielen Einflüssen bestimmt, es gibt deshalb keine absolute Temperaturempfindung. Lange Erfahrungen und Beobachtungen unter nahezu gleichen Voraussetzungen

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H ●

H ●

Herzkranke Menschen sollten auf Vollbäder verzichten oder den Wasserstand auf Nabelhöhe begrenzen.

▶ Vollbad. Das Kind ist bis zur Schulterhöhe ins Wasser eingetaucht. Vollbäder werden als Reinigungsbad (S. 305), Heil-

bad mit medikamentösen Zusätzen oder als physikalisches Bad durchgeführt. Warme Vollbäder entspannen die Muskulatur und führen zu einer Weitstellung der oberflächlichen Blutgefäße. Bei vasolabilen Menschen besteht die Gefahr eines Kreislaufkollapses durch eine Umverteilung des Blutes vom Körperkern in die Körperschale. Sie sollten deshalb vor dem Verlassen der Badewanne kurz mit kühlerem Wasser duschen, um einem Kreislaufkollaps vorzubeugen. ▶ Halbbad. Der Körper wird bis zur Nabelhöhe bzw. zu den unteren Rippenbögen ins Wasser eingetaucht. Ein warmes Halbbad ist für Menschen geeignet, die Vollbäder nicht vertragen, oder z. B. für Patienten mit verminderter Herzleistung. Je nach Schwere der Beeinträchtigung muss von einem Bad ganz abgesehen werden. Zu Beginn des Bades werden die Füße vorsichtig zuerst in das Wasser eingetaucht, dann sich langsam in die Wanne gesetzt (bis Nabelhöhe). Rücken und Herzgegend werden benetzt, Befinden und Kreislauf überwacht. Nach dem Bad verlässt der Patient langsam die Wanne und ruht dann nach. ▶ Teilbad. Es werden kleinere Körperabschnitte gebadet. Zu den Teilbädern zählen Sitz-, Hand-, Arm- und Fußbad. Teilbäder finden Anwendung z. B. bei Wundsein im Anogenitalbereich, als Wechselbad zur Erwärmung von kalten Händen und Füßen oder zur Schlafförderung. ▶ Sitzbad. Es wird bei Veränderungen im Anogenitalbereich, wie Windeldermatitis, Hämorrhoiden bei Erwachsenen, Intertrigo und Ekzemen, durchgeführt. Die Wassertemperatur (meist 37 °C), die medikamentösen Zusätze, Badedauer und -häufigkeit richten sich nach der Indikation und der ärztlichen Verordnung. Dabei wird keine Seife verwendet, um die Wirkung der Zusätze nicht zu beeinträchtigen. Für Sitzbäder sind spezielle Sitzbadewannen günstig, in denen das Wasser den Beckenbereich und einen Teil der Oberschenkel umspült. Oberkörper, Beine und Füße bleiben zum Schutz vor Auskühlung bekleidet. Alternativ kann das Kind mit bekleidetem Oberkörper in einer Badewanne sitzen. Während des Bades können die Kinder mit Spielsachen oder Lesestoff beschäftigt werden, um die Badezeit kurzweilig zu halten.

Temperatursenkende Waschung Die kühlende Waschung ist insbesondere für Kinder eine milde und erfrischende Methode zur Senkung der Körpertem-

12.5 Physikalische Therapie peratur bei Fieber. Durch Verdunstung und Wärmeleitung wird dem Körper Wärme entzogen. Wie beim Wadenwickel darf die Waschung nur bei einem gut durchwärmten Körper durchgeführt werden. Die Wassertemperatur sollte nur wenige Grade (ca. 5 °C, bei Akzeptanz bis 10 °C) unter der Körpertemperatur liegen. Die Wassertemperatur kann beginnend mit ca. 2 °C unter Körpertemperatur langsam abgesenkt werden. Entscheidend ist, dass die Waschtemperatur als angenehm empfunden wird. Die Körpertemperatur sollte max. um 1 °C gesenkt werden. Dem Wasser können erfrischende Zusätze, wie Pfefferminze, zugegeben werden.

Praxistipp Pflege

Z ●

Für eine Pfefferminzwaschung 30 g getrocknete oder 75 g frische Pfefferminzblätter bzw. 4 Teebeutel mit 1 l kochendem, nicht mehr sprudelndem Wasser aufgießen, 10 Minuten ziehen lassen, Kräuter abseihen und mit 4 l Wasser bis zur gewünschten Waschtemperatur verdünnen. Alternativ können 3 Tropfen naturreines Pfefferminzöl 1 l Waschwasser zugefügt werden. Beachte: kein Pfefferminzzusatz bei der Anwendung von homöopathischen Medikamenten.

Einzelne Körperteile (außer Intimbereich) werden nacheinander mit leichten Strichen gewaschen. Angenehm und beruhigend ist eine Waschung mit einem Waschhandschuh in Haarwuchsrichtung, aktivierend wirkt eine Waschung gegen die Haarwuchsrichtung. Zuerst werden Arme, dann Beine und anschließend Vorder- und Rückseite des Rumpfes mit einem ausgedrückten Waschhandschuh nacheinander befeuchtet. Dann wird die Haut trocknen gelassen (wenn es das Kind toleriert) und der gewaschene Körperteil wird leicht zugedeckt, um einer zu raschen Abkühlung vorzubeugen. Zwischen den feuchten Abreibungen einzelner Körperpartien kann kurz pausiert werden. Bei Frösteln wird die Waschung abgebrochen. Die Hautfalten müssen gründlich abgetrocknet werden, um eine Intertrigo zu vermeiden. Temperatursenkende Waschungen erfolgen als Ganz- oder Teilwaschung und können mehrmals am Tag wiederholt werden.

Wadenwickel zur Fiebersenkung

12.5.3 Wickel und Auflagen Bei einem Wickel werden einzelne Körperteile, seltener der ganze Körper, mit einem meist feuchten Tuch (Innentuch) umhüllt und mit 1 oder 2 trockenen Tüchern (Zwischen- und Außentuch) abgeschlossen. Das Innentuch wird mit Wasser verschiedener Temperaturen und Zusätzen (z. B. Kamille) getränkt oder mit einer Substanz (z. B. Quark oder Heilerde) bestrichen. Ein Kneipp-Wickel wird typischerweise mit 3 Tüchern aus Leinen, Flanell und Wolle angelegt. Wickel zeigen vielfältige Wirkungen durch ein Zusammenspiel der physikalischen Wirkung von Wärme oder Kälte (S. 289) und der spezifischen Zusätze (z. B. Heilkräuter, ätherische Öle, Essenzen, Lebensmittel. ▶ Gesundheitsförderung. Wickel und Auflagen lindern leichte gesundheitliche Störungen (z. B. Fieber, Kopfschmerzen, Blähungen) oder beugen ihnen vor, wie prophylaktische Blasenkompressen bei rezidivierenden Blasenentzündungen. Durch die Anregung immunologischer Prozesse unterstützen sie die Bewältigung von Krankheiten. Bei chronischen Erkrankungen, wie rheumatischen Prozessen, helfen sie, das Leben erträglicher zu gestalten. Im seelischen Bereich können sie Entspannung bringen und für Rückbesinnung auf einen liebevollen Umgang mit dem eigenen Körper sorgen.

Merke

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Wickel zur Selbstbehandlung von Beschwerden haben Grenzen. Bei Unsicherheit über die Beschwerden, wenn unvorhersehbare oder unklare Zustände auftreten oder keine rasche Besserung eintritt, muss, insbesondere bei Kindern, ein Arzt konsultiert werden. Wickelanwendungen werden im Klinikbereich von einem Arzt angeordnet und mit ihm abgestimmt.

Merke

Kühle, feuchte Wadenwickel sind eine effektive und einfach anzuwendende Maßnahme zur Fiebersenkung.

▶ Ziele. Durch einen Wadenwickel sollen die erhöhte Körpertemperatur durch Unterstützung der Wärmeabgabe gesenkt und die fieberbedingten Begleiterscheinungen gelindert werden. ▶ Indikation. Ein Wadenwickel ist bei rektal gemessener Körpertemperatur über 39 °C oder anderen Gründen, die eine Fiebersenkung indizieren, anwendbar. In der Klinik erfolgt der Wadenwickel nach ärztlicher Anordnung. ▶ Kontraindikation. Ein Wadenwickel darf bei kühlen Extremitäten sowie bei Frösteln nicht durchgeführt werden, da die Wärmeabgabe durch eine Verstärkung der Zentralisation weiter verhindert würde und der Kreislauf belastet wird. Ebenfalls soll er z. B. bei Säuglingen unter 6 Monaten, bei Kreislaufinstabilität, offenen Wunden, Blasen- und Nierenentzündungen nicht durchgeführt werden. Vorsicht ist bei rheumatischen Beschwerden und kälteempfindlichen Gelenken geboten. ▶ Prinzipien. Die Fiebersenkung wird durch Erhöhung der Wärmeableitung und über Verdunstungskälte erreicht. Soll eine schonende Wärmeabgabe überwiegend durch Wärmeleitung erfolgen, werden die feuchten Innentücher mit einem trockenen Außentuch umhüllt. Diese Methode ist besonders für Kinder und kreislauflabile Personen zu empfehlen. Soll das Fieber über Wärmeleitung und verstärkt über Verdunstungskälte gesenkt werden, werden die feuchten Tücher nicht umwickelt.

Praxistipp Pflege Pflegefachkräfte, die Wickel anwenden, müssen über qualifiziertes Fachwissen zu Wickelmethoden und Zusätzen verfügen. Kenntnisse über Wirkungen, Nebenwirkungen, Indikationen, Kontraindikationen und die Anwendung bei Kindern und Erwachsenen können in Seminaren mit Selbsterfahrung erworben werden. Fundierte Fachliteratur ist eine weitere Wissensquelle.

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Beim Anlegen eines Wadenwickels müssen der gesamte Körper und alle Extremitäten warm sein! Nur bei guter Blutzirkulation mit weitgestellten Blutgefäßen kann die gewünschte Wirkung erzielt werden.

3

Körpertemperatur regulieren Die Wassertemperatur sollte wenige Grade unter der des Körpers liegen. Bei hohem Fieber und empfindlichen Patienten kann mit 2 °C kälterem Wasser begonnen werden. Die Wassertemperatur wird dann langsam bis max. 5 °C (10 °C) unter der gemessenen Körpertemperatur abgesenkt. Ziel ist es, das Fieber um maximal

1,0 °C zu senken, um den Kreislauf nicht zu sehr zu belasten. Wadenwickel werden beidseits angelegt. Die Füße können mit Socken bekleidet werden (▶ Abb. 12.7). Materialien, Durchführung, Anwendungsdauer und -häufigkeit sind ▶ Tab. 12.6 zu entnehmen.

Abb. 12.7 Wadenwickel. Sie werden glatt um beide Waden modelliert, die Gelenke bleiben frei. a Material für einen Wadenwickel. (Foto: T. Möller, Thieme) b Die Anwendung ist einfach und kann mehrmals wiederholt werden. (Foto: T. Möller, Thieme)

Praxistipp Pflege

Z ●

Als Alternative zum Wadenwickel können feuchte Baumwollkniestrümpfe mit abgeschnittenem Fußteil angezogen werden (gut geeignet für Säuglinge und unruhige Kinder).

▶ Überwachung. Mithilfe folgender Beobachtungskriterien wird der Patient überwacht, um Komplikationen frühzeitig zu erkennen: ● Vitalzeichen (Puls, evtl. Blutdruck und Atmung) kontrollieren zur Einschätzung der Kreislaufsituation, Bewusstseinslage ● auf Schweißbildung auf der Stirn achten (warm? kalt?) ● Körpertemperatur vor und nach der Wickelserie rektal messen, bei Säuglingen und Kleinkindern bereits 10 Minuten nach Anlegen des Wickels, da die Temperatur rasch sinken kann

Tab. 12.6 Wadenwickel zur Fiebersenkung. Anwendung Wadenwickel

wichtige Hinweise

Materialien ● ●



● ● ● ● ●

2 Innentücher aus Baumwolle oder Leinen in Wadenlänge evtl. 2 Außentücher aus dünnem Frottee ca. 2 – 4 cm länger als das Innentuch lauwarmes bis kühles Wasser (Wassertemperatur wenige Grade unter der gemessenen Körpertemperatur) Badethermometer evtl. Obstessig als erfrischender Zusatz oder Lavendel zur Beruhigung Bettschutz (wasserdichte Unterlage mit Stoffauflage) evtl. dünnes Laken zum Zudecken Fieberthermometer, Uhr, Blutdruckmessgerät

● ●

Außentücher bei erwünschtem milderem Wärmeentzug Wickelzusätze: nach Hautempfindlichkeit und Allergien fragen, keine Zusätze bei Säuglingen

Durchführung ● ● ● ●



12



● ●

Einverständnis einholen, Kind informieren Ausgangstemperatur messen Bettschutz unter die Beine legen Innentücher in Wadenlänge abmessen (oberhalb der Knöchel bis unterhalb der Knie), Kind über den Moment des Anlegens der kühlen Tücher informieren aufgerollte Innentücher in das kühle Wasser tauchen, mäßig ausdrücken, zügig und glatt um die Unterschenkel legen (▶ Abb. 12.7) ggf. das etwas längere trockene Außentuch darüberwickeln wird nur ein Innentuch verwendet, können die Unterschenkel mit einem dünnen Tuch bedeckt werden

● ● ●





Wärmestauung unbedingt vermeiden keine luftundurchlässigen Materialien um die Waden wickeln Wadenwickel anhaltend kühl halten (immer unter der Körpertemperatur) für jeden Wickelgang frisches, kühles Wasser verwenden, die Wassertemperatur ggf. langsam absenken (bessere Akzeptanz und Verträglichkeit) Gelenke nicht umwickeln (Schutz vor rheumaähnlichen Beschwerden)

Anwendungsdauer und -häufigkeit ● ● ●

Wadenwickel nach ca. 10 Minuten erneuern, bevor sie sich erwärmen 3- bis 4-mal wechseln, dann Fieber messen und pausieren steigt die Körpertemperatur im Laufe des Tages wieder an, Wickelserie nach einigen Stunden wiederholen

Nachsorge ● ● ●

Beine abtrocknen, ggf. Hautpflege und Socken anziehen Nachruhen lassen Material entsorgen/desinfizieren

Dokumentation ● ●

294

Zeitpunkt, Anzahl der Wickelgänge, Durchführung Wirkung auf das Kind und Beobachtungen





während der Anwendung beim Kind bleiben bzw. die Eltern sind anwesend, um dem Kind Geborgenheit zu vermitteln und um Komplikationen sofort zu erkennen auf Wunsch: Eltern zum Anlegen des Wadenwickels anleiten

12.5 Physikalische Therapie ●



Beobachtung der Hauttemperatur und -durchblutung (warme Füße und Hände?) Überwachen des Allgemeinbefindens in kurzen Abständen (Unwohlsein? Frieren?)

▶ Komplikationen. Bei Veränderungen der Kreislaufsituation, Unwohlsein des Patienten, Frösteln und Abkühlen der Füße oder auf Wunsch des Patienten müssen die Wickel abgenommen werden. Sinkt das Fieber nicht oder treten Komplikationen auf, muss der Arzt benachrichtigt werden.

Lernaufgabe

M ●

Ein Vater erzählt Ihnen, dass seine Mutter ihm als Kind bei Fieber Wadenwickel mit Eiswasser anlegte und er diese „Eisbeine“ hasste. Da er bei seinem fiebernden Kind gerne selbst und perfekt Wadenwickel anlegen möchte, vereinbaren Sie eine Anleitung zum Thema. Skizzieren Sie kurz den Aufbau der Anleitung und die Inhalte. Welche Methoden und Anschauungsmaterialien setzen Sie ein?

Umschläge, Auflagen, Kompressen Diese Begriffe werden häufig synonym für Wickel verwendet. Sie unterscheiden sich dadurch, dass das Innentuch nur auf eine begrenzte Körperpartie an- oder aufgelegt wird (z. B. Quarkauflage bei Gelenkentzündung, ▶ Abb. 12.8). Kompressen bedecken nur eine kleine Körperfläche, ihre Wirkung ist deshalb weniger intensiv (z. B. Augen- oder Bauchkompresse). ▶ Packung. Sie umhüllt den ganzen Körper oder mehr als die Hälfte (z. B. Ganzkörper-Schwitzpackung) und kann als trockenheiße oder feuchte Packung angewendet werden. ▶ Kataplasma. Als Kataplasmen werden heiße Brei- und Pastenumschläge zur lokalen Therapie bezeichnet. Heiße Kataplasmen speichern die Wärme längere Zeit, führen zu lokaler Mehrdurchblutung und Schmerzlinderung. Eitrige Prozesse können zur Einschmelzung gebracht werden. Die Anwendungsdauer kann mehrere Stunden betragen. Die Haut muss vor Verbrennungen geschützt werden, indem die Temperatur des Kataplasmas vor und während der Auflage sowie die Haut re-

Abb. 12.8 Quarkauflage mit kühlender Wirkung. a Quark ca. ½ cm dick auf der Kompresse ausstreichen, (Foto: T. Stephan, Thieme) b links, rechts, (Foto: T. Stephan, Thieme) c oben und unten die Ränder einschlagen. (Foto: T. Stephan, Thieme) d Quarkkompresse auf betroffene Körperstelle legen, mit Mullbinde oder Handtuch fixieren. (Foto: T. Stephan, Thieme)

gelmäßig kontrolliert werden. Indikationen für Kataplasmen sind z. B. Mumps, Lymphadenitis, Abszesse mit Abflussmöglichkeit. Zusätze für Kataplasmen sind: ● gemahlene und gekochte Leinsamen ● gekochte, heiße und zerdrückte Kartoffeln (nicht bei Personen anwenden, die empfindlich auf intensive Wärme reagieren, z. B. jüngere Kinder) ● Antiphlogistika, wie Enelbin, als gebrauchsfertige Pasten ▶ Peloide. Dies ist ein Sammelbegriff für verschiedene Erden, wie Moor, Lehm, Schlamm, Schlick und Fango. Sie werden meist in physiotherapeutischen Abteilungen und Praxen sowie in Kureinrichtungen angewendet. Die Applikation von Peloiden erfolgt in Form von Auflagen, Packungen oder Bädern als Warm- oder Kaltanwendung. Teilweise werden die Grundstoffe in Kunststoffhüllen verpackt und sind so müheloser anwendbar. Indikationen für Peloide sind z. B. degenerative Erkrankungen des Bewegungsapparates, chronische Schmerzen am Bewegungsapparat, Muskelverspannungen, gynäkologische Erkrankungen.

Aromapflege Definition

L ●

Unter Aromapflege wird der Einsatz von ätherischen Ölen im Rahmen der Pflege verstanden.

Bei der Anwendung von ätherischen Substanzen muss bei Kindern höchste Vorsicht walten. Einige ätherische Öle sind für Kinder gänzlich ungeeignet, andere dürfen nur in kindgemäßer Verdünnung eingesetzt werden. Vor einer Anwendung mit Hautkontakt sollte das naturreine ätherische Qualitätsöl in der angegebenen Verdünnung in der Armbeuge des Kindes auf seine Verträglichkeit getestet werden. Bestehende Allergien sind zu erfragen.

Merke

12

H ●

Bei der Aromapflege sind Indikationen, Kontraindikationen, Dosierung, Art und Häufigkeit der Anwendung zu beachten, insbesondere bei Kindern, Schwangeren und Erkrankungen. Aromapflege erfordert Fachwissen und reflektiertes Handeln. Der Besuch eines fachlich fundierten Seminars zur Aromapflege ist unbedingt empfehlenswert.

5

Körpertemperatur regulieren

12

296

Kapitel 13 Sich sauber halten und kleiden

13.1

Bedeutung

298

13.2

Beeinflussende Faktoren

298

13.3

Beobachten und Beurteilen

299

13.4

Pflegemaßnahmen

303

13.5

Pflegemaßnahmen bei der LA „Sich kleiden“

319

Sich sauber halten und kleiden

13 Sich sauber halten und kleiden Eva-Maria Wagner

13.1 Bedeutung 13.1.1 Körperpflege und Kleidung Körperpflege Körperpflege dient dazu, Schmutz, Schweiß und abgestorbene Hautzellen zu entfernen und die Haut vor Umwelteinflüssen zu schützen. Ein gepflegtes Äußeres und die Anwendung von Kosmetik fördern das Wohlbefinden und steigern das Selbstwertgefühl in Bezug auf die körperliche Attraktivität. Die meisten Menschen beurteilen andere zunächst aufgrund ihres Aussehens und ihrer Kleidung.

Kleidung Kleidung übernimmt die Aufgabe, Körperund Umgebungstemperatur auszugleichen: Angemessene Kleidung soll warm halten, aber nicht zu einem Wärmestau führen. Sie muss Feuchtigkeit von außen abhalten sowie Schweiß aufnehmen und nach außen abgeben, ohne dass auf der Haut Verdunstungskälte zu spüren ist. Kleidung soll außerdem bequem zu tragen und praktisch sein. Kleidung schmückt und setzt Signale; sie sagt etwas über denjenigen aus, der sie trägt. Diese Bedeutung von Kleidung wird Kindern ab dem Kindergartenalter bewusst, sie wählen ihre Kleidung dann auch unter diesem Gesichtspunkt aus. Durch die Reibung auf der Haut beim Tragen gibt Kleidung uns die Information, wo unser Körper anfängt bzw. aufhört.

Merke

H ●

Besonders wichtig ist diese Rückmeldung bei verwirrten, komatösen oder schwerstbehinderten Menschen, die nur wenig Körpererfahrung machen können.

Bereichen des Körpers Kontakt auf, die im Alltag für Berührungen durch andere tabuisiert sind, wodurch die Intimsphäre und das Schamgefühl verletzt werden können. Das Schamgefühl entwickelt sich beim Kind im Kindergartenalter und muss genauso respektiert werden wie beim Erwachsenen, dies gilt für die Eltern des Kindes ebenso wie für Pflegefachkräfte und Ärzte, s. Kap. Mädchen oder Junge sein (S. 456). Hautkontakt mit einem anderen Menschen bedeutet Kommunikation auf nicht verbaler Ebene. Pflegende können es als unangenehm empfinden, in die Tabuzonen eines anderen Menschen einzudringen. Zudem sollen keine sexuellen Signale durch Berührung gegeben werden. Es gibt keine Patentrezepte, wie mit der eigenen Verlegenheit und der des Patienten umgegangen werden kann. Es sollte stets sachlich und mit dem Bewusstsein vorgegangen werden, dass intime Pflegehandlungen nicht besonders hastig, oberflächlich oder unsanft durchzuführen sind (z. B. Waschen des Genital- und Analbereiches). Auch der Austausch mit anderen Kollegen kann bei der Auseinandersetzung mit diesem Thema hilfreich sein. Neben Scham kann auch Ekel den Pflegenden die Körperpflege eines anderen Menschen erschweren. Zum Umgang mit Ekelgefühlen in der Pflege s. Kap. Ausscheiden (S. 364).

Merke

H ●

Bei verwirrten, komatösen oder schwerstbehinderten Menschen kann mittels Körperpflege die Wahrnehmung des eigenen Körpers gefördert werden. Das Waschen bzw. Gewaschenwerden hat somit nicht nur eine reinigende, sondern auch eine therapeutische Funktion.

Berührungen durch die Hand eines anderen Menschen stellen einen stärkeren Reiz dar als die der eigenen Hand. Sie können als angenehm oder unangenehm empfunden werden. Bei der Übernahme der Körperpflege durch einen anderen Menschen verlaufen gewohnte und bekannte Berührungen weder im vertrauten Rhythmus noch in der bevorzugten Intensität. Darüber hinaus nimmt die Pflegefachkraft mit

298

Merke

H ●

„Die Mehrzahl seiner sozialen Erfahrungen macht ein Säugling während der Pflege, während er gefüttert, gebadet, gewickelt oder an- und ausgezogen wird“ (J. Falk, 2010).

13.2 Beeinflussende Faktoren Die Lebensaktivität „Sich sauber halten und kleiden“ wird von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst.

13.2.1 Körperliche Faktoren Alter und Entwicklungsstand des Kindes haben großen Einfluss auf die Ausübung dieser Lebensaktivität, ebenso bestimmte Erkrankungen.

13.2.2 Psychologische Faktoren Persönliche Vorlieben bzw. die Orientierung an Gruppen Gleichaltriger spielen bei Schulkindern und Jugendlichen eine bedeutende Rolle.

13.2.3 Soziokulturelle Faktoren

13 13.1.2 Gewaschen werden

Hand umfangen, so sollte diese Hand warm, weich und behutsam sein. Gerade bei der Körperpflege ist es oft nicht ausschlaggebend, wie routiniert und zügig ein Handgriff durchgeführt wird, sondern welche Haltung sich dem Kind durch die Hände der Pflegenden vermittelt: Ruhe, Wärme, Geborgenheit. Dies gilt sowohl für Eltern als auch für Auszubildende.

13.1.3 Die Hände der Pflegenden Die Hände der Pflegenden sind die wichtigsten Instrumente zur Durchführung der Körperpflege. In der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege sind die Hände der Pflegenden im Verhältnis umso größer, je kleiner das Kind ist. Beim Neugeborenen bedeckt die Hand des Erwachsenen die gesamte Brust und den Bauch des Babys. Wird das Baby nun fast ganz von einer

Zu den soziokulturellen Faktoren gehören Körperpflege- und Kleidungsgewohnheiten, die die Eltern dem Kind vermitteln, sozialer und finanzieller Status der Eltern, aktuelle Modetrends, Geschlecht (geschlechtstypische Kleidung und Frisur) sowie Kultur und Religion. Im Islam hat die rituelle Reinigung des Körpers auch eine geistige Dimension: Nur wer rein ist, kann zum Gebet vor Allah treten. Da das benutzte Wasser als unrein gilt, soll es den Körper nicht mehr berühren. Somit kann eine Reinigung nur

13.3 Beobachten und Beurteilen unter fließendem Wasser erfolgen, d. h. vorzugsweise unter der Dusche. Auch im Hinduismus kann die Reinigung des Körpers nur unter fließendem Wasser erfolgen. Manche Muslime lehnen auch die Verwendung eines Waschlappens ab. Säuglinge und Kinder werden ebenfalls nicht zur Reinigung gebadet. Medizinische Bäder werden akzeptiert, wenn ein Muslim sich sowohl vor als auch nach dem Bad waschen oder duschen kann.

13.2.4 Umgebungsabhängige Faktoren Häufig müssen Kinder und Jugendliche im Krankenhaus ihre gewohnte Kleidung ablegen und klinikeigene Kleidungsstücke tragen. Dies sollte auf die unbedingt notwendigen Situationen beschränkt werden, z. B. das Tragen eines Operationshemdes nur im Operationssaal und im Aufwachraum. Vor allem bei längeren oder wiederholten Krankenhausaufenthalten können das Tragen der eigenen Kleidung und das Benutzen der eigenen Bettwäsche Geborgenheit vermitteln (▶ Abb. 13.1). Außerdem ist die Schwere der Erkrankung ein wichtiger Faktor: So sind z. B. auf Intensivstationen die Patienten meist weitgehend entkleidet, damit ihr Körper zur Beobachtung und Therapie möglichst ungehindert zugänglich ist. Auch hier soll-

Abb. 13.1 Eigene Kleidung. Das Tragen eigener Kleidung vermittelt Geborgenheit. (Foto: K. Oborny, Thieme)

te kritisch hinterfragt werden, ob dies in jedem Fall erforderlich ist.

13.3 Beobachten und Beurteilen 13.3.1 Entwicklung der Selbstständigkeit Gesunde Kinder lernen im Laufe ihrer Entwicklung, ihre Körperpflege und das Kleiden selbstständig durchzuführen (▶ Abb. 13.2). Die Kenntnis der Meilensteine der Entwicklung ist erforderlich, um die Fähigkeiten und Ressourcen eines Kindes als altersentsprechend einschätzen zu können oder eine Entwicklungsver-

Abb. 13.2 Ankleiden. Mit der Puppe kann das Binden der Schnürsenkel spielerisch geübt werden. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

zögerung zu erkennen. Diese Einschätzung ermöglicht die aktive Einbeziehung des Kindes in die Körperpflege, sodass seine Selbstständigkeit erhalten und gefördert wird. Die Altersangaben sind lediglich Richtwerte (▶ Tab. 13.1).

Tab. 13.1 Entwicklung der Selbstständigkeit bei der Körperpflege und beim Kleiden. Lebensalter

Fähigkeiten zur Körperpflege und zum Kleiden

Geburt bis 15 Monate

Das Neugeborene, der Säugling und das Kleinkind sind völlig abhängig von den sie betreuenden Personen.

ab etwa 15 Monaten

Das Kind kann beim An- und Ausziehen mithelfen, indem es auf Aufforderung einen Arm oder ein Bein streckt.

ab etwa 18 Monaten

Das Kleinkind kann einfache Anweisungen befolgen, es kann Kleidungsstücke, wie Handschuhe, Socken und Mütze, ausziehen und einen Reißverschluss öffnen.

ab etwa 24 Monaten

Das Kleinkind kann die Schuhe alleine ausziehen und einfache Kleidungsstücke selbst anziehen. Es hilft beim Haarewaschen und Kämmen. Die Eltern können mit dem Toilettentraining beginnen.

ab etwa 30 Monaten

Das Kind kann das Töpfchen selbst benutzen, braucht aber noch Hilfe beim Abputzen. Unter Aufsicht kann es die Hände waschen und abtrocknen und das Handtuch zum Trocknen aufhängen.

ab etwa 3 Jahren

Das Kind kann die Schuhe selbst anziehen, muss aber darauf hingewiesen werden, welcher Schuh an den linken bzw. rechten Fuß gezogen wird. Es kann Knöpfe auf- und zuknöpfen und sich anziehen, braucht aber noch Hilfestellung, z. B. bei Knöpfen auf dem Rücken. Das Kind ist tagsüber evtl. bereits trocken und kann sich selbst auf die Toilette setzen. Es kann sich nach dem Toilettengang selbstständig die Hände waschen.

ab etwa 4 Jahren

Das Kind kann selbst die Schuhe zubinden. Waschen und Zähneputzen kann es mit Hilfestellung durchführen. Eventuell ist es auch nachts trocken. Das Kind kann sich nach dem Toilettengang selbstständig abputzen und die Toilettenspülung betätigen (muss aber möglicherweise noch darauf hingewiesen werden).

ab etwa 5 Jahren

Das Kind entwickelt ein ausgeprägtes Schamgefühl, es möchte nicht mehr von den Eltern im Genitalbereich gewaschen werden und zieht sich nur sehr ungern vor Fremden (z. B. Pflegefachkräften und Ärzten) aus, manchmal auch nur ungern vor einem oder beiden Elternteilen. Außerdem entwickelt das Kind ein Bewusstsein dafür, welche Kleidung „in“ ist, und will sie selbst aussuchen. Dabei kann sein Geschmack den Erwachsenennormen völlig entgegengesetzt sein.

ab etwa 6 – 7 Jahren

Das Schulkind kann alleine baden und sich auf das Schlafengehen vorbereiten. Es kann seine Haare so kämmen oder bürsten, dass die Eltern die Frisur nicht korrigieren müssen.

ab etwa 10 Jahren

Das Kind ist völlig selbstständig in Bezug auf Körperpflege und Kleidung, auch beim Haarewaschen und Fönen. Die Eltern müssen es ggf. darauf hinweisen, dass Maßnahmen zur Körperpflege erforderlich sind.

ab etwa 12 Jahren

Für Mädchen wird das Tragen eines Büstenhalters zum Thema sowie mit Einsetzen der Menstruation die Monatshygiene.

ab etwa 14 Jahren

Für Jungen wird das tägliche Rasieren wichtig.

13

9

Sich sauber halten und kleiden

13.3.2 Haut, Schleimhaut und Hautanhangsgebilde Merke

H ●

Im Rahmen der Körperpflege kann sich die Pflegefachkraft ein Gesamtbild über das körperliche und psychische Befinden des Kindes verschaffen.

Der Zustand der Haut sagt etwas über die Körperpflegegewohnheiten, den Ernährungszustand, den Wasserhaushalt sowie den Kreislauf des Kindes aus. Viele Krankheiten manifestieren sich an der Haut. Teilweise spiegelt die Haut die Gefühle eines Menschen wider, z. B. beim Erröten oder Erblassen. Die Haut wird auf folgende Aspekte hin beobachtet: ● Beschaffenheit ● Farbe ● Temperatur ● Feuchtigkeit ● Hautturgor ● Abweichungen

Haut Gesunde Haut ist feinporig, weich und glatt. Ihr Spannungszustand ist prallelastisch, d. h., wird am Oberarm oder Bauch eine Hautfalte abgehoben, so verstreicht sie nach dem Loslassen prompt und ohne Veränderungen. Ödeme können bei Kindern an Ober- und Unterlidern nach längerem Schreien oder Weinen und nach dem Schlafen physiologisch sein.

Hauttypen

13

Es werden verschiedene Hauttypen unterschieden: ● normale Haut: zart, feinporig, gut durchblutet, keine Hautunreinheiten, kein fettiger Glanz ● fette Haut (Seborrhö): grobporig, glänzend, fettig, oft verbunden mit Hautunreinheiten und fettigem Haar (aufgrund vermehrter Talgbildung) ● trockene Haut (Sebostase): rau, spröde, leicht rissig oder schuppig Oft hat ein Mensch an unterschiedlichen Körperstellen verschiedene Hauttypen: fettige Haut an Stirn, Nase und Kinn, trockene Haut an den Ellenbogen und Knien und ansonsten normale Haut. Beim Vorliegen verschiedener Hauttypen wird von Mischhaut gesprochen.

300

Der Hauttyp ändert sich im Laufe des Lebens: Kinder haben eine sehr zarte, eher trockene Haut. Jugendliche dagegen haben während der Pubertät eine eher fette, unreine Haut. Im Alter wird die Haut dünn, trocken und faltig. Auch Umwelteinwirkungen (Witterung und Sonne), hormonelle Einflüsse (Pubertät, Klimakterium) sowie Krankheiten und falsche Pflege beeinflussen den Hauttyp.

Physiologische Besonderheiten der Haut beim Säugling Bezogen auf das Körpergewicht ist die Hautoberfläche beim Säugling doppelt so groß wie beim Erwachsenen. Die Epidermis ist noch sehr dünn, insbesondere die Hornschicht, daher ist die Wasserabgabe über die Haut (Perspiratio insensibilis) erhöht.

Praxistipp Pflege

Z ●

Die erhöhte Durchlässigkeit (Permeabilität) der Haut beim Säugling kann zu einer erhöhten Resorption von Medikamenten, Hautdesinfektionsmitteln und chemischen Stoffen in Hautpflegepräparaten führen. Daher sollen Babypflegeprodukte prinzipiell frei von Alkohol, Parfüm und Konservierungsmitteln sein und jodhaltige Präparate in diesem Lebensalter nur sehr zurückhaltend eingesetzt werden.

Schleimhaut Die gesunde Schleimhaut im Mund, an der Zunge, der Bindehaut und den Genitalien ist feucht, blassrosa, glänzend und ohne Beläge.

Haare Haare und Nägel werden als Hautanhangsgebilde bezeichnet. Gesundes Kopfhaar ist seidig-glänzend und gleichmäßig dicht. Die verschiedenen Hauttypen haben einen Einfluss auf das Haar. Neigt die Haut z. B. zu vermehrter Talgbildung, hat der Mensch oft auch fettiges Haar (oft bei Jugendlichen in der Pubertät). Lanugohaare oder Flaumhaare sind sehr feine, pigmentarme Haare, die beim Fetus ab dem 4. Schwangerschaftsmonat den ganzen Körper bedecken. Bei sehr kleinen Frühgeborenen sind sie reichlich, beim reifen Neugeborenen nur noch spärlich vorhanden. Bis zum 6. Lebensmonat werden sie durch das etwas gröbere, aber gleichfalls wenig gefärbte Wollhaar ersetzt. Ab der Pubertät findet sich das Terminalhaar.

Nägel Die Nägel können hinsichtlich Form, Farbe und Struktur beurteilt werden. Gesunde Nägel sind glatt, rosig und fest.

Zähne und Zahnfleisch Da der pH-Wert der Haut beim Säugling bei 6,7 liegt (beim Erwachsenen bei 5 – 6,5), ist die körpereigene Abwehr gegen Bakterien, Pilze und Viren herabgesetzt. Wird die Säuglingshaut mit alkalischer Seife gewaschen, braucht sie wesentlich länger als die Erwachsenenhaut, um ihren natürlichen Hydro-Lipid-Film (früher Säureschutzmantel genannt) wieder aufzubauen. Die Schweißdrüsen sind bei der Geburt alle vorhanden, aber erst im Alter von 2 – 3 Jahren voll funktionsfähig. Da der relative Anteil gesättigter Fettsäuren in der Säuglingshaut höher ist als beim Erwachsenen, kann eine Kälteeinwirkung zum Übergang vom öligen in den festen Zustand führen, d. h. zur Entwicklung von schmerzhaften, knotigen Fettgewebeentzündungen, vorwiegend im Wangenbereich.

Der 1. Zahn erscheint meist zwischen dem 6. und 9. Lebensmonat. Innerhalb der folgenden 2½ Jahre erscheinen nacheinander alle 20 Zähne des Milchgebisses. Der Zahndurchbruch erfolgt meist in einer charakteristischen Reihenfolge, wobei große zeitliche Abweichungen möglich sind. Manchmal brechen innerhalb weniger Wochen etliche Zähne hintereinander durch (▶ Abb. 13.3). Die ersten 4 bleibenden Backenzähne kommen etwa im 6. Lebensjahr hinter den letzten Milchzähnen durch. Zwischen dem 6. und 12. Lebensjahr wechselt das Milchgebiss Zahn für Zahn in das bleibende Gebiss über. Zuletzt brechen die letzten großen Backenzähne durch. Diese „Weisheitszähne“ erscheinen i. d. R. ab dem 18. Lebensjahr, allerdings nicht bei allen Menschen. Das Zahnfleisch (Gingiva) gehört zur Mundschleimhaut. Es umschließt die Zähne im unteren Bereich, dem Zahnhals. Gesundes Zahnfleisch ist rosa, feucht und sitzt fest auf dem Zahnhals, ohne Taschen zu bilden.

13.3 Beobachten und Beurteilen

Milchzähne 6. – 8. Monat 8. – 12. Monat 16. – 20. Monat

II

20. – 30. Monat

I

1

III

6. – 8. Jahr 7. – 9. Jahr 2

9. – 13. Jahr

3

9. – 12. Jahr

4

12. – 16. Monat

Hautturgor

Dauerzähne

IV

5

V

10. – 14. Jahr

6

5. – 8. Jahr (6-Jahr-Molar)

7

10. – 14. Jahr (12-Jahr-Molar)

8

16. – 40. Jahr (Weisheitszahn)

Abb. 13.3 Zähne. Zeitlicher Verlauf der Zahnentwicklung.

13.3.3 Abweichungen Haut Hautkolorit Es kann am besten dort beurteilt werden, wo die Haut wenig Melanin enthält, d. h. an Nagelbett, Ohrläppchen, Skleren, Konjunktiven, Lippen und Mund. An Abdomen und Rumpf lässt sich die Hautfarbe ebenfalls beurteilen, da die Haut dort meist nicht so sehr dem Sonnenlicht ausgesetzt ist wie z. B. im Gesicht und an den Händen. Das Hautkolorit (S. 245) wird bei Tageslicht begutachtet (Beobachtung von Blässe und Zyanose).

Hautverfärbungen Folgende Verfärbungen der Haut sind zu beobachten: ● Eine Hautrötung kann Folge einer Überwärmung, Einwirkung von Kälte oder einer lokalen Entzündung bzw. eines beginnenden Dekubitus oder Symptom einer Infektionskrankheit mit charakteristischem Ausschlag (z. B. Masern oder Röteln) sein. ● Eine rötlich-bläuliche Hautverfärbung tritt bei Polyzythämie auf. ● Kirschrote Haut ist Leitsymptom der Kohlenmonoxidvergiftung. ● Flammendrote Haut wie bei einem Sonnenbrand tritt bei der Kombination von Hautbestrahlung und der Gabe bestimmter Zytostatika auf. ● Ein Ikterus (Gelbfärbung) lässt sich am besten an den Skleren, den Schleimhäuten und am Abdomen erkennen. Zum Ikterus beim Neugeborenen s. Kap. Pflege von Kindern mit Störungen in der Neugeborenenperiode (S. 526). Bei chronischen Nierenerkrankungen färben sich oft die der Sonne ausgesetzten Hautpartien gelb (jedoch nicht die Skle-



ren und Schleimhäute). Beim Säugling kann häufiger Verzehr von Karotten eine Gelbfärbung der Handinnenflächen, Fußsohlen und des Gesichts verursachen (aber nicht der Skleren und Schleimhäute). Eine Braunfärbung der Haut kann die Folge von Sonneneinwirkung oder therapeutischer Bestrahlung (Radioonkologie) sein, auf einen Morbus Addison (Bronzehautkrankheit) oder einen Tumor der Hypophyse hinweisen.

Definition

L ●

Eine entzündliche Hautrötung ist ein Erythem; eine schuppende Rötung der gesamten Hautoberfläche wird Erythrodermie genannt.

Hautfeuchtigkeit Sehr trockene, raue Haut tritt bei Fehlernährung, endokrinen Störungen (z. B. Hypothyreose) und nach längerer Kälteeinwirkung auf. Sehr trockene Haut, verbunden mit Schuppenbildung, kann folgende Ursachen haben: atopische Dermatitis oder Neurodermitis (im Säuglingsalter sog. Milchschorf, hauptsächlich auf den seitlichen Gesichtspartien und der Kopfhaut); Psoriasis und seborrhoische Dermatitis (im Säuglingsalter bevorzugt am Kopf als sog. Gneis). Siehe Näheres zu vermehrter Schweißbildung (S. 283).

Definition

L ●

Der Hautturgor ist der vom Flüssigkeitsgehalt abhängige Spannungszustand der Haut. Er kann vermindert oder erhöht sein.

▶ Verminderter Hautturgor. Stehende Hautfalten sind ein Hinweis auf Dehydratation oder Fehlernährung. ▶ Erhöhter Hautturgor. Ödeme führen zu einem „aufgedunsenen“ Aussehen im Gesicht bzw. an der betroffenen Körperstelle. Wird mit dem Finger auf das ödematöse Gewebe gedrückt, so entsteht dort eine kleine Delle, die erst nach einer Weile verstreicht. Ödeme bilden sich oft in Abhängigkeit von der Lage des Menschen, d. h. an den Körperstellen, die tiefer liegen als der übrige Körper. Ursachen für Lidödeme können allergische Reaktionen oder Nierenerkrankungen sein. Ödeme an den tiefsten Partien des Körpers (z. B. Unterschenkel, Fußknöchel und Fußrücken beim stehenden Menschen, im Kreuzbeinbereich beim liegenden Menschen) treten bei Herzerkrankungen auf. Bei Nierenerkrankungen sind die Ödeme meist im Gesicht, vor dem Schienbein (prätibial), um die Fußknöchel oder bei Jungen auch am Skrotum lokalisiert.

Temperatur Eine Temperaturdifferenz zwischen Körperstamm und Extremitäten (z. B. Hände und Füße) ist normal. Insbesondere Neugeborene können ihre Temperatur noch nicht gut regulieren, sodass sie oft kühle bis kalte Hände und Füße haben. Eine Temperaturdifferenz zwischen oben und unten, d. h. warme Arme und Hände bei kalten Beinen und Füßen, kann ein Hinweis auf einen angeborenen Herzfehler sein (Aortenisthmusstenose).

Geruch Mangelnde Körperpflege zieht unangenehmen Körpergeruch nach sich und wird von den meisten Menschen als abstoßend empfunden. Bestimmte Erkrankungen bringen einen charakteristischen Geruch mit sich, z. B. Azetongeruch beim Coma diabeticum, Mundgeruch bei Mundschleimhautentzündung (Stomatitis), chronischer Tonsillitis oder Zahnerkrankungen.

13

1

Sich sauber halten und kleiden

Angeborene Hautveränderungen

Schleimhaut

Geburtsmale oder Geburtsflecken umfassen Storchenbiss, Mongolenfleck, Naevus flammeus (auch Feuermal oder Portweinfleck) und Hämangiom. Bei der Aufnahme des Kindes sollten Lokalisation und Größe dokumentiert werden und ggf. Veränderungen (z. B. wenn ein Storchenbiss blasser wird oder ein Hämangiom an Umfang zunimmt).

Sie tritt an der Zunge und im Mund bei Aufregung oder längerer Mundatmung auf, bei der Gabe von Sauerstoff über eine Nasensonde oder -brille, infolge Dehydratation oder als Nebenwirkung bestimmter Medikamente, die den Speichelfluss hemmen, z. B. Atropin. Ein fleckiger oder flächenhafter Ausschlag der Schleimhaut wird als Enanthem bezeichnet.

▶ Pigmentierung. Angeborener Pigmentmangel (Albinismus) führt zu sehr heller, blasser Haut und weißblonden Haaren. Bei der Vitiligo (Weißfleckenkrankheit) handelt es sich um eine erworbene stellenweise Depigmentierung der Haut mit weißen Hautflecken unterschiedlicher Größe. Am behaarten Kopf kommt es an den betroffenen Stellen zu einer Depigmentierung der Haare, d. h. zu weißen Strähnen.

Berührungsempfinden Bei Erkrankungen des Zentralnervensystems (z. B. Meningitis) kann es sowohl zur Herabsetzung bis zum Verlust als auch zu Fehlleistungen des Berührungsempfindens (z. B. gesteigerter Schmerzempfindlichkeit) kommen.

Juckreiz (Pruritus) Juckreiz kann bei trockener Haut oder als Symptom innerer Erkrankungen (z. B. Diabetes mellitus, Leberfunktionsstörungen, Leukämie) sowie bei Parasitenbefall, Allergien, Schwangerschaft oder Hautkrankheiten auftreten.

Hautblutungen Hautblutungen sind ein Symptom von Gerinnungsstörungen und müssen daher genau beobachtet und dem Arzt gemeldet werden (Größe, Lokalisation, Veränderungen).

13

302

Effloreszenzen Krankhafte Hautveränderungen werden als Effloreszenzen oder „Hautblüten“ bezeichnet (z. B. Knötchen, Bläschen, Pusteln und Schuppen). Ein Hautausschlag, der auf größere Körperpartien verteilt ist und aus Effloreszenzen besteht, wird auch Exanthem genannt. Hautveränderungen treten aufgrund von Infektionen mit Bakterien, Viren, Pilzen oder Befall mit Parasiten sowie infolge von Hautverletzungen auf.

Trockene Schleimhaut

Eisenmangelanämie oder Diabetes mellitus, bei hormonellen Veränderungen (postpartal oder durch Kontrazeptiva), Intoxikationen und als Folge von Medikamenteneinnahme (Zytostatika) oder Röntgenbestrahlung. Der Haarausfall kann über den ganzen Kopf verteilt sein oder nur bestimmte Stellen betreffen (sog. kreisrunder Haarausfall). Haarausfall wird oft als entstellend empfunden und belastet die Betroffenen sehr.

Säuglingsglatze Pilzinfektionen (Soor) Hier finden sich weißliche, stippchen- bis flächenförmige, schwer abwischbare Beläge der Mundschleimhaut (S. 549). Bei vaginalem Soor tritt weißliches, dickflüssiges Sekret aus der Scheide aus.

Mundschleimhautentzündung (Stomatitis) Dabei kommt es zu Rötung und Schwellung der Schleimhaut sowie zur Bildung zahlreicher Aphthen (weißliche, rot geränderte, rundliche Schleimhautdefekte), die zu brennenden Schmerzen führen. Aphthen können auch durch kleine Schleimhautverletzungen bei häufigem oralem Absaugen entstehen.

Rhagaden Es handelt es sich um kleine, häufig sehr schmerzhafte Risse am Übergang von Haut zu Schleimhaut, z. B. im Mundwinkel.

Weitere Veränderungen Sie treten auf bei Infektionen mit Bakterien oder Viren, oft in typischer Form, z. B. Mitbeteiligung bei Infektionskrankheiten (z. B. Himbeerzunge bei Scharlach, KoplikFlecken bei Masern). Bei Chemotherapien mit bestimmten Zytostatika kann es zu charakteristischen Schleimhautveränderungen im Gastrointestinaltrakt kommen.

Haare Trockenes, brüchiges Haar weist auf Fehlernährung oder falsche Pflege hin (zu häufiges Waschen, Anwendung austrocknender Pflegemittel wie Haargel). Bei Hypothyreose ist das Haar trocken und spröde.

Alopezie Hierunter wird Kahlheit aufgrund vermehrten Haarausfalls verstanden. Sie tritt auf als angeborene Haarlosigkeit, nach fieberhaften Infektionskrankheiten wie Grippe, bei chronischen Krankheiten wie

Sie ist Folge einer teilweisen Synchronisation des Haarausfalls aufgrund der mütterlichen Hormoneinwirkung während der Schwangerschaft. Dieser Haarausfall ist in jedem Fall reversibel, dies dauert bei manchen Kleinkindern bis zum 2. Lebensjahr. Darüber hinaus kommt es bei vielen Säuglingen in den ersten Lebensmonaten zu einem herdförmigen, vorübergehenden Haarausfall am Hinterkopf aufgrund ständiger Reibung auf der Unterlage.

Albinismus Beim angeborenen Albinismus weiß-blonde Haare auf.

treten

Lanugobehaarung Bei Jugendlichen mit ausgeprägter Anorexia nervosa (Magersucht) kann ein erneutes Auftreten in der Pubertät beobachtet werden.

Schambehaarung Menge und Verteilung dienen zur Beurteilung der altersentsprechenden körperlichen Entwicklung. Bei hormonellen oder Chromosomenstörungen sind der Zeitpunkt des ersten Auftretens, Menge und Verteilung der Schambehaarung verändert.

Nägel Strukturveränderungen Folgende Veränderungen können auftreten: ● Brüchige Nägel kommen vor bei Vitamin-, Eisen- oder Kalkmangel. ● Tüpfelnägel haben punktförmige Defekte im Nagel und sind Begleiterscheinungen bei Hauterkrankungen wie Psoriasis (Schuppenflechte). ● Querrillen können die Folge von schweren Systemerkrankungen, Vergiftungen, Zytostatikaeinnahme oder lokalen Infektionen sein. ● Verletzungen des Nagelbettes können Längs- oder Querrillen zur Folge haben.

13.4 Pflegemaßnahmen

Verfärbungen



Sie weisen auf Krankheiten oder Verletzungen hin: ● Punktförmige oder streifige weiße Flecken (Leukonychie) sind häufig, aber ohne Krankheitswert. ● Bläuliche oder braunschwarze Einschlüsse unter dem Nagel sind meist Hämatome (z. B. nach Einklemmen eines Fingers). ● Vom Nagelrand ausgehende, ungleichmäßige, braunschwarze Verfärbungen entstehen aufgrund von Nagelinfektionen mit Bakterien, Viren oder Pilzen. ● Eine gelbliche Verfärbung weist auf Pilzbefall hin. ● Weiße Querstreifen treten nach Verletzungen des Nagelhäutchens auf oder bei Eiweißmangel aufgrund von Leberoder Nierenerkrankungen. ● Längsstreifige Farbveränderungen sind die Folge von Nagelbettverletzungen. ● Manche Medikamente können als Nebenwirkung die Nägel verfärben.





Eine Ablösung der Nagelplatte (Onycholysis) kann nach Infektionen, Verletzungen oder ohne Krankheitsursache auftreten. Uhrglasnägel, d. h. stark vorgewölbte Nägel, werden bei Krankheiten beobachtet, die mit einem chronischen Sauerstoffmangel verbunden sind, z. B. zyanotische Herzfehler, Mukoviszidose oder Lungentuberkulose. Weiche, eingedellte „Löffelnägel“ sind Begleiterscheinungen bei Anämie.









Zähne und Zahnfleisch



Weiße Flecken auf der Zahnoberfläche oder bräunliche Verfärbungen in den Grübchen der Backenzähne sind Symptome einer Karies. Rotes, geschwollenes oder blutendes Zahnfleisch sowie Zahnbelag können auf eine Parodontitis oder Parodontose (Zahnfleisch- oder Zahnbettentzündung) hinweisen. Zahnfleischwucherungen (Gingiva-Hyperplasie) können als Nebenwirkung bei der Behandlung mit Antikonvulsiva auftreten.



Formveränderungen Sie treten aufgrund von Verletzungen oder Erkrankungen auf: ● Die Nagelform ist verändert bei Nageldystrophien (angeboren oder erworben, z. B. bei Psoriasis) oder aufgrund von Nägelkauen.



13.3.4 Individuelle Situationseinschätzung





Hat das Kind eine Allergie, eine Hauterkrankung oder spezielle Pflegemittel? Wäscht oder badet das Kind sich teilweise/nach Aufforderung/völlig selbstständig? Zu welcher Tageszeit? Hat es Angst vor der Haarwäsche? Putzt das Kind selbstständig die Zähne? Hat es lose oder wacklige Milchzähne oder eine Zahnspange? Nimmt das Kind Fluoridtabletten zur Kariesprophylaxe? Kann sich das Kind alleine oder zum Teil selbstständig an- und ausziehen? Trägt das Kind eine Spreizhose oder andere besondere Kleidung? Wie wird das Kind gewickelt? Mit welchen Worten bezeichnet das Kind seine Körperteile? Gibt es kulturelle oder religiöse Gewohnheiten zu berücksichtigen?

13.4 Pflegemaßnahmen 13.4.1 Intakte Haut Zur Hautreinigung und Hautpflege sind sehr viele unterschiedliche Produkte erhältlich. Eine allgemeine Übersicht geben ▶ Tab. 13.2 und ▶ Tab. 13.3.

Folgende Punkte sollten berücksichtigt werden: ● Welchen Hauttyp und Hautzustand hat das Kind bzw. der Jugendliche?

Tab. 13.2 Hautreinigungsmittel im Überblick. Inhaltsstoffe

Indikation

Hinweise

alle Hauttypen



Wasser ● ●

bereits klares Wasser greift den Hydro-Lipid-Film der Haut an warmes Wasser laugt die Haut stärker aus als kaltes Wasser Duschen oder Waschen sind oft dem Baden vorzuziehen

Seife Akalisalze, rückfettende Substanzen

starke Verschmutzung (z. B. mit Stuhlgang)

● ● ●

Alkalisalze greifen den Hydro-Lipid-Film an entfernen das Hautfett und lassen die Hornhaut aufquellen auf Seife sollte komplett verzichtet werden

Flüssigseife wie Seife, oft geringere Anteile rückfettender Substanzen

Klinikgebrauch



in Seifenspendern hygienischer in der Anwendung als Seifenstücke, daher in Kliniken bevorzugt



flüssige Waschlotion ist pH-neutral bei trockener Haut besser geeignet als Seife

13

Syndets (synthetische Detergenzien) waschaktive Tenside, rückfettende Substanzen

trockene Haut



Schaumbad waschaktive Substanzen, Duftstoffe

Reinigungsbad

● ●

Duftstoffe können zu allergischen Reaktionen führen bei Säuglingen nicht zu empfehlen

Duschgel waschaktive Substanzen, Duftstoffe

fettige Haut



entfettet die Haut stärker als Seife auch zum Haarewaschen oder Baden geeignet



wird auf die Haut aufgetragen und mit klarem Wasser abgewaschen



Reinigungsemulsion ähnlich wie Syndets

alle Hauttypen

3

13.4 Pflegemaßnahmen

Verfärbungen



Sie weisen auf Krankheiten oder Verletzungen hin: ● Punktförmige oder streifige weiße Flecken (Leukonychie) sind häufig, aber ohne Krankheitswert. ● Bläuliche oder braunschwarze Einschlüsse unter dem Nagel sind meist Hämatome (z. B. nach Einklemmen eines Fingers). ● Vom Nagelrand ausgehende, ungleichmäßige, braunschwarze Verfärbungen entstehen aufgrund von Nagelinfektionen mit Bakterien, Viren oder Pilzen. ● Eine gelbliche Verfärbung weist auf Pilzbefall hin. ● Weiße Querstreifen treten nach Verletzungen des Nagelhäutchens auf oder bei Eiweißmangel aufgrund von Leberoder Nierenerkrankungen. ● Längsstreifige Farbveränderungen sind die Folge von Nagelbettverletzungen. ● Manche Medikamente können als Nebenwirkung die Nägel verfärben.





Eine Ablösung der Nagelplatte (Onycholysis) kann nach Infektionen, Verletzungen oder ohne Krankheitsursache auftreten. Uhrglasnägel, d. h. stark vorgewölbte Nägel, werden bei Krankheiten beobachtet, die mit einem chronischen Sauerstoffmangel verbunden sind, z. B. zyanotische Herzfehler, Mukoviszidose oder Lungentuberkulose. Weiche, eingedellte „Löffelnägel“ sind Begleiterscheinungen bei Anämie.









Zähne und Zahnfleisch



Weiße Flecken auf der Zahnoberfläche oder bräunliche Verfärbungen in den Grübchen der Backenzähne sind Symptome einer Karies. Rotes, geschwollenes oder blutendes Zahnfleisch sowie Zahnbelag können auf eine Parodontitis oder Parodontose (Zahnfleisch- oder Zahnbettentzündung) hinweisen. Zahnfleischwucherungen (Gingiva-Hyperplasie) können als Nebenwirkung bei der Behandlung mit Antikonvulsiva auftreten.



Formveränderungen Sie treten aufgrund von Verletzungen oder Erkrankungen auf: ● Die Nagelform ist verändert bei Nageldystrophien (angeboren oder erworben, z. B. bei Psoriasis) oder aufgrund von Nägelkauen.



13.3.4 Individuelle Situationseinschätzung





Hat das Kind eine Allergie, eine Hauterkrankung oder spezielle Pflegemittel? Wäscht oder badet das Kind sich teilweise/nach Aufforderung/völlig selbstständig? Zu welcher Tageszeit? Hat es Angst vor der Haarwäsche? Putzt das Kind selbstständig die Zähne? Hat es lose oder wacklige Milchzähne oder eine Zahnspange? Nimmt das Kind Fluoridtabletten zur Kariesprophylaxe? Kann sich das Kind alleine oder zum Teil selbstständig an- und ausziehen? Trägt das Kind eine Spreizhose oder andere besondere Kleidung? Wie wird das Kind gewickelt? Mit welchen Worten bezeichnet das Kind seine Körperteile? Gibt es kulturelle oder religiöse Gewohnheiten zu berücksichtigen?

13.4 Pflegemaßnahmen 13.4.1 Intakte Haut Zur Hautreinigung und Hautpflege sind sehr viele unterschiedliche Produkte erhältlich. Eine allgemeine Übersicht geben ▶ Tab. 13.2 und ▶ Tab. 13.3.

Folgende Punkte sollten berücksichtigt werden: ● Welchen Hauttyp und Hautzustand hat das Kind bzw. der Jugendliche?

Tab. 13.2 Hautreinigungsmittel im Überblick. Inhaltsstoffe

Indikation

Hinweise

alle Hauttypen



Wasser ● ●

bereits klares Wasser greift den Hydro-Lipid-Film der Haut an warmes Wasser laugt die Haut stärker aus als kaltes Wasser Duschen oder Waschen sind oft dem Baden vorzuziehen

Seife Akalisalze, rückfettende Substanzen

starke Verschmutzung (z. B. mit Stuhlgang)

● ● ●

Alkalisalze greifen den Hydro-Lipid-Film an entfernen das Hautfett und lassen die Hornhaut aufquellen auf Seife sollte komplett verzichtet werden

Flüssigseife wie Seife, oft geringere Anteile rückfettender Substanzen

Klinikgebrauch



in Seifenspendern hygienischer in der Anwendung als Seifenstücke, daher in Kliniken bevorzugt



flüssige Waschlotion ist pH-neutral bei trockener Haut besser geeignet als Seife

13

Syndets (synthetische Detergenzien) waschaktive Tenside, rückfettende Substanzen

trockene Haut



Schaumbad waschaktive Substanzen, Duftstoffe

Reinigungsbad

● ●

Duftstoffe können zu allergischen Reaktionen führen bei Säuglingen nicht zu empfehlen

Duschgel waschaktive Substanzen, Duftstoffe

fettige Haut



entfettet die Haut stärker als Seife auch zum Haarewaschen oder Baden geeignet



wird auf die Haut aufgetragen und mit klarem Wasser abgewaschen



Reinigungsemulsion ähnlich wie Syndets

alle Hauttypen

3

Sich sauber halten und kleiden

Tab. 13.3 Hautpflegemittel im Überblick. Inhaltsstoffe

Indikation

Hinweise

Öl-in-Wasser-Emulsion (O/W-Emulsion als Creme oder Lotion) Fett-Tröpfchen in Wasser

normale, fettige und Mischhaut

● ● ●



dringt rasch in die Haut ein bildet keinen Fettfilm hoher Wasseranteil lässt die Epidermis aufquellen und führt zu Verlust an Hautfeuchtigkeit in reiner Form anwendbar oder als Trägersubstanz für medikamentöse Zusätze

Wasser-in-Öl-Emulsion (W/O-Emulsion als Creme oder Lotion) Wasser-Tröpfchen in Öl

trockene Haut

● ●

dringt langsam in die Haut ein bildet einen Schutzfilm an der Hautoberfläche

reines Pflanzenöl z. B. Mandel-, Sonnenblumen-, Weizenkeimöl in Arzneibuchqualität, kalt gepresst

alle Hauttypen

● ●



Lagerung lichtgeschützt, kühl (< 20 °C) und verschlossen Weizenkeimöl stets 1 : 1 mit Mandelöl mischen zwecks rascheren Einziehens in die Haut enthalten Wirkstoffe, die positiv wirken können wie z. B. Linolensäure, die entzündungshemmend wirkt

Mineralöl (Paraffinöl) sehr hautverträglich, auch bei Neigung zu Allergien und bei Säuglingshaut



Vaseline, Schafwollfett oder synthetischer Trägerstoff, evtl. mit therapeutischem Wirkstoff

Vaseline, Schafwollfett oder synthetischer Trägerstoff, evtl. mit therapeutischem Wirkstoff



hoch gereinigtes, schadstofffreies, farb- und geruchloses Öl sehr lange Haltbarkeit, kein Zusatz von Konservierungsstoffen erforderlich

Salbe Vaseline, Schafwollfett oder synthetischer Trägerstoff, evtl. mit therapeutischem Wirkstoff

Paste (Mischung aus Salbe und Puder) Vaseline, Fett oder Öl plus Pulver, evtl. auch therapeutischer Wirkstoff

Vaseline, Fett oder Öl plus Pulver, evtl. auch therapeutischer Wirkstoff

13.4.2 Allgemeine Regeln beim Waschen

13

304

Bei der Auswahl der Methode zur Körperpflege muss die körperliche Belastbarkeit des Kindes berücksichtigt werden. So muss beurteilt werden, ob das Allgemeinbefinden des Kindes die Durchführung der Körperpflege zulässt. Einbezogen werden sollten Faktoren wie Erkrankung und Therapie, aktuelle Probleme wie Fieber, Schmerzen, Zustand nach unruhigem Schlaf, Mobilität, Bewusstsein, Atmung, Kreislauf. Diese Einschätzung muss täglich neu durch die Pflegefachkräfte erfolgen, um aktuelle Veränderungen zu berücksichtigen. Jede Körperpflegemethode hat ihre eigenen Vor- und Nachteile, die gegeneinander abgewogen werden müssen. Vorher wird ggf. mit dem Arzt Rücksprache gehalten. Baden, Duschen oder Waschen können gut mit anderen Maßnahmen kombiniert werden, wie Mund- oder Zahnpflege, Nagelpflege, Haarwäsche, Ankleben eines Urinbeutels beim Säugling, Ermittlung der Körpermaße. Auch hier ist der Zustand des Kindes für den Umfang der Pflegetätigkeiten entscheidend. Mit dem Kind und seinen Eltern wird besprochen, wann das Kind gebadet, ge-

Vaseline, Fett oder Öl plus Pulver, evtl. auch therapeutischer Wirkstoff

duscht bzw. gewaschen wird. Der Zeitpunkt soll nicht der Stationsroutine angepasst, sondern individuell festgelegt werden. Dabei wird der Tagesablauf des Kindes in der Klinik berücksichtigt, z. B. für welche Tageszeit diagnostische und therapeutische Maßnahmen geplant sind. Ebenso hat das Ziel der Körperpflege einen Einfluss auf den Zeitpunkt: Eine anregende Ganzwaschung wird vorzugsweise morgens, ein entspannendes Bad eher abends durchgeführt.

Eltern

a ●

Die Eltern können die Körperpflege übernehmen, soweit dies aufgrund der Erkrankung des Kindes möglich und vom Kind und von den Eltern erwünscht ist. Eltern oder/und Kind benötigen ggf. eine entsprechende Anleitung. Oft bietet die Körperpflege die einzige Gelegenheit, das Kind von Kopf bis Fuß zu beobachten. Führen die Eltern die Körperpflege durch, muss mit ihnen abgesprochen werden, dass eine Pflegefachkraft die Gelegenheit zur Beobachtung des Kindes erhält.

Vorbereitung Fenster und Tür werden geschlossen, um Zugluft zu vermeiden, evtl. muss die Heizung angedreht werden (die Raumtemperatur sollte bei 20 –22 °C liegen). Bei Neugeborenen und Säuglingen, die gebadet oder auf dem Wickeltisch gewaschen werden, wird der Wärmestrahler eingeschaltet. Zum Schutz vor Auskühlung wird bei Neugeborenen und Säuglingen erst der Unterkörper entkleidet und gesäubert, falls erforderlich die Körpertemperatur gemessen und anschließend das Baby zum Waschen oder Baden vollständig entkleidet. Selbstständigen Kindern und Jugendlichen wird die Möglichkeit zu baden bzw. zu duschen gegeben. Sie werden informiert, dass die Badezimmertür nicht abgeschlossen werden darf, damit ihnen, wenn nötig, eine Pflegefachkraft zu Hilfe kommen kann. An der Badezimmertür wird ein Schild angebracht („Besetzt“ oder „Bitte nicht stören“).

13.4 Pflegemaßnahmen

Durchführung Merke

H ●

Soweit es dazu in der Lage ist, soll das Kind erreichbare Körperteile selbst waschen, z. B. Hände, Gesicht, Arme, Oberkörper, um vorhandene Fähigkeiten zur Körperpflege auch in der Klinik zu erhalten.

Bei der Anwendung von Waschzusätzen (Waschlotion) muss mit klarem Wasser nachgewaschen werden, um Produktrückstände zu entfernen, da ihr Verbleib auf der Haut zu Juckreiz, Austrocknen der Haut und evtl. einer allergischen Reaktion führt. Nach der Hautreinigung muss an den Stellen, an denen Haut auf Haut liegt (z. B. Halsfalten, Achseln, Leistenbeugen, Finger- und Zehenzwischenräumen), die Haut gut getrocknet werden, um einer Mazeration der Haut und evtl. anschließender Infektion (sog. Intertrigo) vorzubeugen.

13.4.3 Baden Merke

H ●

Das Bad dient der Reinigung, Durchblutungsförderung, Therapie (z. B. bei Hauterkrankungen) sowie der Körperwahrnehmung, Entspannung und Bewegungserfahrung.

▶ Allgemeines. Sowohl bettlägerige als auch mobile Kinder können gebadet werden. Sie dürfen aber keine Zu- und Ableitungen (z. B. Infusionen) haben und ihr Allgemeinzustand (Atmung, Kreislauf, Körpertemperatur) muss stabil sein. Säuglingen, Klein- und Kindergartenkindern wird, soweit möglich, die Gelegenheit gegeben, das Bad auch zum Spielen zu nutzen, dementsprechend wird bei der Vorbereitung Badespielzeug bereitgelegt. ▶ Vorteile. Das Bad kann anregend oder beruhigend wirken, je nach Wassertemperatur und Badezusatz (S. 310). Der Wasserauftrieb fördert die Beweglichkeit, dies ist besonders bei Kindern mit Kontrakturen oder Lähmungen günstig (S. 712). Therapeutische Zusätze können auf ärztliche Anordnung in das Badewasser gegeben werden. Hinweise des Herstellers zur Durchführung des medizinischen Bades sollten beachtet werden. ▶ Nachteile. Die warme Temperatur und der hydrostatische Druck des Wassers belasten den Kreislauf und können bei bestimmten Erkrankungen kontraindiziert

sein. Die Erkältungsgefahr ist erhöht. Die Haut wird durch das Verweilen im Wasser stark entfettet. ●

▶ Badedauer. Bei Früh- und Neugeborenen sowie Säuglingen wird die Badedauer begrenzt, um sie vor Auskühlung zu schützen. Für ein Reinigungsbad sind bis zu 10 Minuten ausreichend. Bei medizinischen Bädern, die vom Arzt verordnet werden, ist die Badedauer je nach Badezusatz unterschiedlich, teilweise wird auch eine andere Badewassertemperatur gefordert. ▶ Zeitpunkt. Ein Bad vor der Abendmahlzeit ist günstig, da das Baden die meisten Kinder ermüdet; manche Kinder werden dadurch aber erst richtig wach (Eltern befragen). Unmittelbar nach einer Mahlzeit sollte i. d. R. nicht gebadet werden, da dies den Kreislauf zu sehr belastet und bei Neugeborenen und Säuglingen die Neigung zum Spucken erhöht.

Merke

H ●

Hautärzte empfehlen bei Säuglingen mit gesunder Haut mindestens 2–3-mal Baden pro Woche, da es wesentlich schonender ist für die Haut als das Waschen mit dem Lappen.

Ein tägliches Reinigungsbad ist bei Säuglingen nicht erforderlich, da sie sich im Gegensatz zu Kleinkindern im Laufe des Tages nicht schmutzig machen. Kleinkinder können in der Badewanne sitzend mit der Handbrause abgeduscht werden, anstatt sie täglich zu baden. Bei medizinischen Bädern wird die Häufigkeit durch den Arzt angeordnet. ▶ Sicherheit. Folgende Regeln sind zu beachten: ● Um eine angenehme Wassertemperatur zu gewährleisten und eine Verbrühung oder Unterkühlung zu vermeiden, muss stets die Temperatur des Badewassers gemessen werden, sie soll i. d. R. zwischen 37 und 37,5 °C liegen. ● Ärztliche Anordnung bzw. Herstellerangaben zu Badetemperatur und Badedauer müssen beachtet werden. Badethermometer müssen unter der Wasseroberfläche abgelesen werden. Sofern möglich, wird nach dem Einlaufen des Wassers der Wasserhahn weggedreht, damit kein heißes Wasser auf das Kind tropfen kann. ● Auch Säuglinge, die bereits sitzen können, müssen beim Baden festgehalten werden, damit sie nicht in der Wanne ausrutschen und untertauchen. ● Kleinkinder sowie geistig behinderte Kinder dürfen nicht unbeaufsichtigt baden; sie können bei dem Versuch, am

Badewannenrand aufzustehen, stürzen oder mit dem Kopf unter Wasser tauchen. Beim Baden zu Hause sollten die Eltern eine Anti-Rutschmatte verwenden.

Vorbereitung ▶ Material. Handtücher, Waschlappen oder Waschhandschuhe, Waschzusatz (Waschlotion oder angeordneter Badezusatz), evtl. Shampoo, Badethermometer zur Überprüfung der Wassertemperatur, saubere Bekleidung für das Kind, evtl. frische Windel, Badespielsachen werden bereitgelegt.

Merke

H ●

Die Badewanne wird nach kliniküblichem Vorgehen gereinigt und danach mit klarem Wasser ausgespült. Eine Desinfektion ist nur erforderlich, wenn der Patient, der vorher darin gebadet wurde, eine infektiöse Erkrankung hat.

▶ Badewasser. Die entsprechende Wassermenge wird in die Badewanne eingelassen. Sie richtet sich nach dem Zweck des Bades, dem Alter des Kindes (beim Säugling und Kleinkind sind 10 –15 cm Wasserhöhe ausreichend) und seiner Erkrankung. Das Wasser bei Kindern mit angeborenem Herzfehler oder Herzerkrankungen soll z. B. nur bis in Nabelhöhe reichen, damit der Kreislauf des Kindes durch den hydrostatischen Druck nicht zu stark belastet wird.

Durchführung Neugeborenes und Säugling Auch dem Neugeborenen und Säugling wird erklärt, was mit ihm geschieht, die Pflegefachkraft spricht mit ihm so einfach und klar wie möglich, aber nicht kindisch und nicht in der dritten Person. Diese Haltung ist ein wichtiges Modell für Eltern, die ihr erstes Kind bekommen haben.

Praxistipp Pflege

Z ●

13

Aus hygienischen Gründen wird das Gesicht des Babys meist zuerst gewaschen, bevor es in die Badewanne gehoben wird. Da das Gesicht jedoch ein sehr sensibler Körperteil ist, kann es auch nach dem Bad gereinigt werden, indem ein frischer Waschlappen unter dem Wasserhahn warm anfeuchtet wird.

Die Augen werden von außen nach innen gereinigt. Bei der Beschreibung der folgenden Handgriffe wird davon ausgegangen, dass die betreffende Person Rechts-

5

Sich sauber halten und kleiden

Abb. 13.4 Baden des Säuglings. Halten des Säuglings in der Rückenlage. (Foto: K. Oborny, Thieme)

händer ist. Linkshänder müssen die einzelnen Handgriffe jeweils mit der anderen Hand durchführen. ▶ Säugling in die Badewanne heben. Die Pflegefachkraft umgreift mit der linken Hand den linken Oberarm des Säuglings, sodass sein Hinterkopf auf ihrem Unterarm ruht. Die rechte Hand schiebt sie unter dem rechten Bein des Kindes durch und umfasst damit den linken Oberschenkel. Auf diese Weise hebt sie das Baby mit seinen Füßen voran in die Badewanne, sodass es spürt, welche Veränderung auf es zukommt. Mit diesem Griff hält die Pflegefachkraft das Kind sicher, ohne Gelenke des Kindes zu blockieren. Das Kind wird im Wasser so lange gehalten, bis es sich daran gewöhnt hat und sich entspannt. Es ist günstig, wenn die Füße des Babys nahe am Wannenrand sind, da das Kind dann bei Beinbewegungen einen Halt verspürt. Nun lässt die Pflegefachkraft den linken Oberschenkel des Kindes los und hat somit ihre rechte Hand frei, um das Kind zu waschen (▶ Abb. 13.4). Auch Säuglinge, die bereits sitzen können, werden so in die Badewanne gehoben. Während des Badens hält die Pflegefachkraft mit ihrer linken Hand den Säugling an seinem linken Oberarm.

13

▶ Abfolge des Waschens. Hals, Arme von oben nach unten, Hände, Oberkörper, Bauch, anschließend die Beine von oben nach unten und die Füße waschen. Bei schlechter Hautdurchblutung wird von der Peripherie des Körpers zum Herzen hin gewaschen. Der Genitalbereich wird von vorne nach hinten, d. h. von der Symphyse zum Perineum (Damm) hin gesäubert, damit Keime aus dem Analbereich nicht in die Harnröhre bzw. Scheide gelangen können. ▶ Baden im Badeeimer. Eine Besonderheit stellt das Baden im Badeeimer dar, in dem das Baby in sitzender Position gebadet wird (▶ Abb. 13.5). Diese Form des Bades ist bei Früh- und Neugeborenen und

306

Abb. 13.5 Baden im Badeeimer („TummyTub“). a Das Baby wird auf dem Unterarm gehalten, eine Hand fixiert den Oberschenkel, die andere Hand liegt am Rücken. (Abb. von: Domovital) b Das Baby wird in den Badeeimer hineingehoben. (Abb. von: Domovital) c Das Baby wird auf den Boden des Badeeimers gesetzt. (Abb. von: Domovital) d Die Pflegefachkraft unterstützt mit einer Hand das Kinn des Babys. (Abb. von: Domovital)

Säuglingen möglich. Es sollte stets ein spezieller Badeeimer verwendet werden, der weder kippt noch rutscht, einen runden Boden und einen breiten Rand besitzt und aus transparentem Kunststoff besteht, sodass das Baby rundherum sichtbar ist (auf TÜV- und CE-Zeichen achten). Da das Wasser dem Baby bis zu den Schultern reicht, ist die Gefahr der Auskühlung wesentlich geringer als beim herkömmlichen Säuglingsbad. Das Baden im Badeeimer ist zum Reinigen des Gesäßbereiches nicht geeignet, dies muss vorher außerhalb des Eimers erfolgen. Es stellt bei unruhigen Babys oder Babys, denen eine besondere Körpererfahrung ermöglicht werden soll, eine hervorragende Möglichkeit der basalen Stimulation dar und hilft sehr gut bei Blähungen. Durch die stark begrenzende Form ist das Baby automatisch mit Armen und Beinen in Beugung, diese Ähnlichkeit zur intrauterinen Körperhaltung führt zur Beruhigung und Entspannung des Babys.

▶ Nach dem Waschen. Hat der Säugling Freude am Baden, kann die Pflegefachkraft das Kind das Bad genießen und mit dem Wasser spielen lassen. Beim Herausheben aus der Badewanne sollen die Füße das Wasser zuletzt verlassen. Dabei hält die Pflegefachkraft das Baby wie beim Hineinheben in die Wanne mit ihrer rechten Hand am linken Oberschenkel. Das Baby wird in ein großes Badetuch eingewickelt und von oben nach unten abgetrocknet. Anschließend wird es auf eine trockene Unterlage gelegt und mit einem für die Anwendung bei Säuglingen zugelassenen Hautpflegemittel (wirkstofffreie Feuchtigkeitscreme) am ganzen Körper eingecremt. Dieses Vorgehen stabilisiert die Hautbarriere und beugt der Entstehung von Neurodermitis vor. Danach wird es gewickelt und angezogen.

13.4 Pflegemaßnahmen

Kleinkind

Infantile Zerebralparese

Kleinkinder müssen während des Badens nicht mehr am Oberarm gehalten werden. Ihr Gesicht können sie sich bereits selbst waschen. Bei größeren Säuglingen und Kleinkindern fasst die Pflegefachkraft mit beiden Händen unterhalb der Achseln am Brustkorb des Kindes an und hebt es so aus der Badewanne (▶ Abb. 13.6). Das weitere Vorgehen entspricht dem beim Neugeborenen bzw. Säugling.

Säuglinge und Kleinkinder mit einer infantilen Zerebralparese können einen ausgeprägten Moro-Reflex haben; das bedeutet, wenn sie in eine halb liegende Stellung gebracht werden, fällt ihr Kopf nach hinten, die Arme schießen nach vorne oben und die Hände öffnen sich. In dieser Stellung können die betroffenen Kinder weder sitzen noch ihr Gleichgewicht halten und auch nicht ihre Hände zum Festhalten oder Abstützen benutzen. Daher muss die Auslösung des Moro-Reflexes möglichst vermieden werden, indem die Kinder in eine gebeugte Stellung gebracht werden, wobei Kopf und Arme vorne sind. In dieser Haltung wird das Kind in die Badewanne gehoben, zum Baden gehalten und auch wieder herausgehoben.

Kindergartenkind Das Kindergartenkind wird ggf. vor dem Baden auf die Toilette geschickt. Es benötigt Hilfestellung beim Waschen und um in die Badewanne zu gelangen. Zur Förderung seiner Selbstständigkeit soll es erreichbare Körperteile selbst waschen, auch wenn dies mehr Zeit beansprucht, als von einer Pflegefachkraft gewaschen zu werden.

Schulkind und Jugendliche Mit den Eltern und dem Kind wird bei der Pflegeanamnese besprochen, inwieweit das Kind alleine baden kann. Kann das Kind nicht alleine baden, z. B. bei körperlicher und/oder geistiger Behinderung, wird es, abhängig vom Ausmaß seiner Beeinträchtigung, von ein oder zwei Pflegefachkräften gebadet. Um schwere Kinder oder Jugendliche in die Badewanne zu heben, kann ein Patientenlifter benutzt werden.

Ängstliche Kinder Wasserscheue Babys und Kleinkinder sollten nur gewaschen werden (im Rahmen der Pflegeanamnese erfragen). Dürfen sie dabei mit dem Wasser spielen, können sie sich allmählich an das Baden gewöhnen.

Praxistipp Pflege

Z ●

Da es oft schwierig ist, ein nasses, schlüpfriges Kind aus der Wanne zu heben, kann erst das Wasser abgelassen, dann das Kind in ein trockenes Handtuch gewickelt und es so in gebeugter Haltung aus der Wanne gehoben werden.

Größere Kinder mit infantiler Zerebralparese können oft entweder die Hüften nicht ausreichend beugen, um mit ausgestreckten Beinen in der Badewanne zu sitzen, oder sie können im Sitzen ihr Gleichgewicht nicht halten. Daher benötigen sie einen Badewannensitz, in dem sie Halt haben. Schwerbehinderte Kinder können möglicherweise nur im Liegen gebadet werden. Aus Sicherheitsgründen sollte in solchen Fällen nur wenig Wasser in der Wanne sein. Hat das Kind eine gewisse Kopfkontrolle, kann ein Badewannenkissen mit Saugnäpfen verwendet werden, auf das das Kind seinen Kopf legen kann. Dieses Kissen sollten die Eltern von zu Hause mitbringen.

rutschens. Das Duschen kann das Kind anstrengen. Auch die Erkältungsgefahr ist erhöht. Kinder, die nicht stehen können (z. B. Rollstuhlbenutzer), werden mithilfe eines Hockers oder Duschstuhls geduscht. Bei Verwendung dieser Hilfsmittel kann allerdings der Anal- und Genitalbereich nur schwer gereinigt und auf Hautveränderungen beobachtet werden. ▶ Ganzkörperdusche im Bett. Bewegungseingeschränkte oder schwer kranke Kinder oder Jugendliche, die weder stehen noch sitzen können, können im Bett geduscht werden mithilfe eines Bettduschsystems. Das Bettduschsystem besteht aus einer wasserdichten Matratzenauflage, die wie ein Bettlaken unter das Kind gelegt wird. Diese Matratzenauflage wird am oberen und unteren Bettende eingehängt und zur Wanne umgeformt. Des Weiteren gibt es einen fahrbaren Duschwagen mit Thermostat und Frischwasserbehälter sowie einen Schmutzwasserbehälter, in den das Wasser aus dem in die Matratzenauflage integrierten Abfluss abgeleitet wird. Der Schmutzwasserbehälter wird nach Gebrauch in die Toilette entleert und desinfizierend gereinigt. Nach der Ganzkörperdusche im Bett wird die Matratzenauflage wie ein Leintuch aus dem Bett entfernt.

Basal stimulierende Dusche Um ein Erschrecken des Kindes zu vermeiden, ist es empfehlenswert, das Duschen mit körperwarmem Wasser dort zu beginnen, wo das Kind es gut wahrnehmen kann, z. B. von den Füßen aufwärts oder aber an den Händen beginnend bei Kindern, die nur wenig oder kein Gefühl in den Füßen haben (z. B. bei Spina bifida, Querschnittlähmung oder apallischem Syndrom). Ist das Kind ganz nass, kann die Pflegefachkraft vom Körperstamm ausgehend das Kind so abduschen, dass die Körperform durch den Wasserstrahl betont wird. Es sollte möglichst kein Waschzusatz verwendet werden, damit das Wasser als alleiniges Medium auf das Kind wirken kann.

13.4.4 Duschen Mobile und kreislaufstabile Kinder und Jugendliche ohne Zu- oder Ableitungen können im Stehen oder Sitzen duschen bzw. geduscht werden.

Abb. 13.6 Herausheben des Kindes. Achtung, das Kind kann durch das Bad schlüpfrig sein und sich möglicherweise gegen das Herausheben wehren (Symbolbild)! (Foto: bonnontawat – stock.adobe.com)

▶ Vorteile. Es steht viel Wasser zur Verfügung, die Reinigung erfolgt schneller und die Haut wird nicht so ausgelaugt wie beim Baden. Außerdem kann durch den Wechsel der Wassertemperatur ein kreislaufanregender Effekt erzielt werden. ▶ Nachteile. Das Kind muss sicher stehen können, dabei besteht die Gefahr des Aus-

Praxistipp

Z ●

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Ist einem schwerstmehrfachbehinderten Kind oder Jugendlichen der direkte Kontakt mit der Dusche unangenehm, so kann ein mit Wasser getränktes Badehandtuch um das Kind bzw. den Jugendlichen gelegt werden, bevor mit dem Duschen begonnen wird. Diese Vorgehensweise lässt das Kind seine Körpergrenze spüren, darüber hinaus wird auf diese Weise die Intimsphäre geschützt.

7

Sich sauber halten und kleiden Wenn das Kind das Duschen gut toleriert (insbesondere Atmung, Muskeltonus und Gesichtsausdruck beachten), kann die Pflegefachkraft vom Oberkopf her Kopf und Gesicht des Kindes ebenfalls abduschen. Manche Kinder mögen einen kräftigen Wasserstrahl im Gesicht, andere tolerieren das Wasser nur, wenn es sanft plätschert. Bei Kindern, denen Wasser im Gesicht sehr unangenehm ist, muss die Pflegefachkraft mit einer Hand Augen, Nase und Mund des Kindes abschirmen.

13.4.5 Ganzwaschung Erst wenn weder Baden noch Duschen noch Waschen im Sitzen, z. B. am Waschbecken, möglich sind, wird das Kind im Bett gewaschen. Oft ist nicht jeden Tag eine komplette Ganzwaschung erforderlich, auch eine Teilwaschung kann ausreichend sein. ▶ Ziel. Die Ganzwaschung dient der Reinigung, der Beobachtung des Kindes, der Durchführung gesundheitsfördernder und vorbeugender Maßnahmen (Prophylaxen) sowie der Förderung der Körperwahrnehmung des Kindes (S. 163).

Praxistipp Pflege

Z ●

„Aus dem morgendlichen Waschen kann entweder ein ‚Event der Wassererfahrung‛ oder ein trostloses Abwaschen im Liegen werden. Die Pflegenden haben es in der Hand, zusammen mit den Angehörigen und den Mitbeteiligten, Förderangebote bezüglich der Lebensqualität zu bieten“ (Bienstein u. Fröhlich, 2003).

Vorbereitung ▶ Material. Benötigt werden: Waschschüssel und Nierenschale, Handtücher, Waschlappen oder Waschhandschuhe, evtl. Waschzusatz (Waschlotion), Badethermometer; saubere Bekleidung für das Kind, evtl. frische Windel.

13 Praxistipp Pflege

Z ●

Wenn 2 Waschlappen verwendet werden, wird einer davon für die Intimtoilette gekennzeichnet, z. B. indem er nach links gedreht oder ein farbiger Waschlappen gewählt wird. Günstiger ist es, Waschlappen und Handtuch täglich zu wechseln.

308

Auf folgende Maßnahmen ist bei der Vorbereitung zur Ganzwaschung zu achten: ● Eine geeignete Abstellfläche bietet genügend Platz für das benötigte Material nahe dem Patientenbett und ist für die Pflegefachkraft leicht erreichbar. Die Pflegefachkraft sollte sich maximal um 45° drehen müssen, um alles zu erreichen, sonst wird ihre eigene Wirbelsäule zu stark belastet und sie verliert ständig den Blickkontakt zum Kind. ● Die Pflegefachkraft stellt, sofern möglich, das Bett oder den Inkubator auf eine Arbeitshöhe ein, die für ihre Körpergröße ein rückenschonendes Arbeiten ermöglicht. ● Bei Früh- und Neugeborenen kann die Temperatur des Wärmebettes bzw. Inkubators ein Grad höher eingestellt werden, da durch das Öffnen der Klappen die Temperatur im Inkubator bzw. Wärmebett absinken kann. Moderne Inkubatoren verfügen über einen Regelkreis, der einem Temperaturabfall automatisch entgegenwirkt. ● Bei Schulkindern und Jugendlichen wird ein Sichtschutz aufgestellt. ● Die Pflegefachkraft entfernt üblicherweise Hilfsmittel zur Positionierung aus dem Bett vor dem Beginn der Ganzwaschung. Dieses Vorgehen sollte gut überlegt werden. Bei Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen (z. B. Schwerstmehrfachbehinderung, Wachkoma) kann es passieren, dass der Muskeltonus sich ungünstig verändert, wenn sich nach Entfernen der Hilfsmittel zur Positionierung die Stellung der einzelnen Körperteile zueinander verändert. Dies kann die Beweglichkeit des Kindes verringern. Beispiel spastische Parese: Durch Entfernen der Hilfsmittel zur Positionierung kann das Kind nicht selbstständig die Beine in Beugung halten, eine Streckspastik wird ausgelöst. ● Das Kopfteil des Bettes sollte möglichst hoch gestellt werden bzw. bleiben, dies ermöglicht dem Kind, die Handgriffe der Pflegefachkraft mit den Augen zu verfolgen, es ist dann nicht völlig hilflos dem Gewaschenwerden ausgesetzt. Das Kopfteil sollte erst flach gestellt werden, wenn es wirklich erforderlich ist, z. B. wenn das Kind zum Waschen des Rückens auf die Seite gedreht werden muss. Eine für die Ganzwaschung geeignete Position ist der stabile Sitz im Bett, sofern das Kind sitzen kann. In dieser Position kann das Kind am besten aktiv mithelfen. Auch für ein Hand- oder Fußbad ist diese Position gut geeignet.

Durchführung Zu Beginn kann das Kind seine Hände in der Waschschüssel baden. Die einzelnen Schritte werden dem Kind erläutert, z. B. „Ich wasche jetzt deinen linken Arm“. Das Handtuch wird zum Schutz des Bettes jeweils unter den zu reinigenden Körperteil gelegt. Es wird nur der Körperteil aufgedeckt, der gerade gewaschen wird, damit das Kind nicht friert und seine Intimsphäre respektiert wird. Nach dem Abtrocknen wird der Körperteil wieder zugedeckt. Aus hygienischen Gründen wird die Ganzwaschung meist im Gesicht begonnen. Kinder und Jugendliche, die in der Lage sind, sich das Gesicht selbst zu waschen, sollen dazu aufgefordert werden, damit zu beginnen.

Praxistipp Pflege

Z ●

Bei Kindern, die sich nicht selbstständig das Gesicht waschen können, wird an einem weniger sensiblen Körperteil (z. B. den Händen oder dem Thorax) begonnen, um keine Abwehrreaktion hervorzurufen.

Das Gesicht wird nur mit klarem Wasser, ohne Zusätze, gesäubert. Wird das Gesicht nicht als Erstes gewaschen, kann etwas klares Wasser in einer Nierenschale zur Seite gestellt werden. Im Gesicht kann mit der Stirn begonnen werden, da sie nicht sehr berührungsempfindlich ist. Von dort kann die Pflegefachkraft den Waschlappen in einer Bewegung über die Schläfen zu den Augen führen. Die Augen werden vorsichtig vom äußeren zum inneren Augenwinkel gesäubert, entsprechend dem Selbstreinigungsmechanismus des Auges durch den Tränenkanal im inneren Augenwinkel. Für jedes Auge wird eine andere Stelle des Waschlappens benutzt. Auch der Mund soll behutsam gewaschen werden, da er ein sehr sensibler und intimer Bereich ist. Nach dem Gesicht folgen die Ohrmuscheln, die Region hinter den Ohren und der Hals. Dabei dürfen weder Wasser noch Seife in den Gehörgang dringen. Die Achselhöhlen und die Brust werden gereinigt, anschließend der Bauch bis zum Nabel. Die Arme werden an der Hand beginnend gewaschen, dann an der Innenseite des Armes entlang bis zur Achselhöhle, von dort an der Außenseite des Armes entlang zurück zur Hand. Nun folgt der Rücken, falls das Kind aufsitzen kann. Nach dem Abtrocknen kann das Schlafanzugoberteil bzw. Nachthemd angezogen werden. Kann das Kind nicht aufsitzen, muss es auf die Seite ge-

13.4 Pflegemaßnahmen

Merke

H ●

Das Waschen des Genitalbereichs stellt einen massiven Eingriff in die Intimsphäre dar, was dem Kind gegen Ende der Vorschulzeit bewusst wird.

a

b

Abb. 13.8 Fußbad in der Waschschüssel. Durchführung im Bett. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Abb. 13.7 Waschen des Rückens. a Die Pflegekraft ergreift Schulter und Knie des Kindes. b Dann dreht sie es auf den Bauch.

Merke dreht werden. Dazu wird das Bett flachgestellt oder, falls diese Positionierung vom Kind nicht toleriert wird, in die schiefe Ebene gebracht. Die Bettdecke wird zu einer festen Rolle zusammengedreht und neben dem Kind ins Bett gelegt. Die Pflegefachkraft stellt das Bein des Kindes, das nicht neben der Bettdecke liegt, auf und führt es dann angewinkelt über das andere Bein hinweg zur Bettdecke. Dann ergreift sie das Kind an Becken und Schulter und dreht es so auf die Bettdeckenrolle zu sich hin (▶ Abb. 13.7a). Am Ende dieser Drehung liegt das Kind bequem und sicher mit der Vorderseite seines Körpers auf der Bettdeckenrolle (▶ Abb. 13.7b). Es muss darauf geachtet werden, dass auch sein Kopf bequem liegt und die Atmung nicht behindert wird. Jetzt kann die Pflegefachkraft den Rücken des Kindes waschen. Sofern möglich, wird das Kind auf die von ihm bevorzugte Seite gedreht, dies gibt ihm Sicherheit und verringert evtl. aufgrund des Lagewechsels auftretende Schmerzen. Bei der Verwendung mehrerer Waschlappen und Handtücher müssen diese nun gewechselt werden. Der Unterkörper des Kindes wird entkleidet. Die Beine werden nach dem gleichen Prinzip wie die Arme gewaschen: vom Fuß aus an der Innenseite des Beines entlang nach oben, von dort an der Außenseite zurück zum Fuß. Danach werden die Füße gereinigt oder in der Waschschüssel gebadet (▶ Abb. 13.8).

Waschen des Genitalbereichs (Intimtoilette) Erst werden die Leistenbeugen gesäubert, dann der Genitalbereich und zuletzt der Analbereich. Für jeden Vorgang wird jeweils eine andere Stelle des Waschlappens genutzt.

H ●

Es wird stets von vorne nach hinten gewaschen und abgetrocknet, damit keine Darmbakterien in die Harnröhre bzw. Scheide gelangen können, da sonst Harnwegsinfekte begünstigt werden.

Wichtig ist, dass das Kind keine Scheu hat, sich selbst „da unten“ anzufassen, sonst kann es nicht lernen, seinen Genitalbereich sauber zu halten. Hier gilt es – für die Eltern ebenso wie für die Pflegefachkräfte – einen Weg zu finden, um sowohl den Intimbereich des Kindes zu respektieren als auch das korrekte Waschen des Genitalbereichs zu vermitteln. Die dem Kind von zu Hause bekannten Bezeichnungen werden für die Geschlechtsorgane verwendet, wenn über das Waschen des Genitalbereichs gesprochen wird. Diese Bezeichnungen werden bei der Pflegeanamnese von den Eltern erfragt.

Hygienische Aspekte Das Mädchen wird aufgefordert, sofern möglich, die Beine im Bett aufzustellen und leicht zu öffnen. Nun werden die Schamlippen gespreizt, dann wird von der Symphyse aus Richtung Perineum (Damm) gewischt, also von vorne nach hinten. Beim Jungen, dessen Präputium (Vorhaut) beweglich ist, wird die Vorhaut über die Glans (Eichel) zurückgezogen und diese von der Harnröhrenmündung weg abgewischt. Durch das Zurückziehen der Vorhaut können die Eichel und die darunter liegende Furche von Smegma (Sekret der Eichel- und Vorhautdrüsen) gereinigt werden. Danach wird die Vorhaut wieder vorgestreift.

Merke

H ●

Eine Phimose ist beim Neugeborenen, Säugling und Kleinkind bis zu 2 Jahren physiologisch, die Vorhaut darf auf keinen Fall mit Gewalt zurückgestreift werden.

Danach werden der Penisschaft und der Hodensack gewaschen. Auch unter dem Hodensack muss die Haut gesäubert werden, besonders bei großen Hoden kann sie bereits beim Neugeborenen rasch wund werden. Nach dem Waschen des Genitalbereichs wird die Unterhose bzw. der Schlafanzug angezogen.

Das Wechseln des Waschwassers ist aus hygienischen Gründen nicht in jedem Fall erforderlich. Ein Waschwasserwechsel ist bei folgenden Situationen empfehlenswert oder erforderlich: ● Das Waschwasser enthält sehr viele Rückstände des Waschzusatzes oder ist sichtlich verschmutzt. ● Das Wasser ist stark abgekühlt. ● Bei lokalen Infektionen; hat das Kind z. B. einen Fußpilz, so wird das Wasser vor dem Waschen des Genitalbereichs gewechselt. ● Immer wenn derjenige, der gewaschen wird, es wünscht. ● Die Reihenfolge Oberkörper, Beine, Füße und dann Genital- und Analbereich kann beim Waschen nicht eingehalten werden. Ein schwer krankes Kind z. B. wird zum Waschen nur einmal gedreht, d. h., erst wird der Vorderkörper inklusive Genitalbereich gewaschen. Nach dem Drehen des Kindes und dem Wechseln des Waschwassers wird der hintere Teil des Körpers inklusive Analbereich gewaschen.

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Die Verwendung mehrerer Waschschüsseln für die Ganzwaschung ist aus hygienischen Gründen nicht nötig. Nach Gebrauch wird die Waschschüssel nach kliniküblichem Vorgehen desinfiziert. Das Tragen von unsterilen Handschuhen beim Waschen des Genitalbereiches dient dem Schutz der Pflegefachkräfte vor Infektionen und schafft eine gewisse Distanz, die bei der Bewältigung von Scham oder Ekel hilfreich sein kann.

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Sich sauber halten und kleiden

Merke

H ●

Unerlässlich ist die konsequente und korrekte Anwendung von Schutzhandschuhen bei der gesamten Körperpflege von immunsupprimierten Kindern in Umkehrisolation.

Religiöse Besonderheiten Da die Reinigung des Körpers im Islam einen großen Stellenwert besitzt, waschen sich Muslime auch im Krankenhaus lieber selbst, anstatt sich von einer fremden Pflegefachkraft waschen zu lassen. Dies sollte bei muslimischen Kindern und Jugendlichen ihrem Alter, Entwicklungsstand und Krankheitszustand entsprechend berücksichtigt werden. Die Reinigung des Körpers erfolgt normalerweise unter fließendem Wasser, was bei der Ganzwaschung im Bett nicht möglich ist. Zur Reinigung der Hände und Füße wird eine leere Waschschüssel ins Bett gestellt, das Kind oder der Jugendliche hält seine Hände oder Füße über die Schüssel, die dann von einer Pflegefachkraft mit Wasser übergossen werden. Auch abgekochtes Wasser hat eine reinigende Wirkung. Es muss allerdings rechtzeitig abgekocht werden, damit es abkühlen kann, keinesfalls darf kaltes Leitungswasser dazugemischt werden.

Basal stimulierende Ganzwaschung Bei der basal stimulierenden Ganzwaschung steht nicht die Reinigung der Haut im Vordergrund, sondern das individuelle Angebot zur Förderung des Kindes, vgl. auch das Konzept der basalen Stimulation (S. 163). Der Ablauf der Körperpflege soll jeden Tag gleich sein, um dem Kind einen Wiedererkennungseffekt zu ermöglichen. Das bedeutet, dass für jedes Kind individuell eine Waschreihenfolge festgelegt und dokumentiert wird, die alle Pflegefachkräfte einhalten sollten.

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310

▶ Prinzipien der basal stimulierenden Ganzwaschung. Vor dem Einsatz basal stimulierender Pflegemaßnahmen erfolgt eine Pflegeanamnese der normalen Körperpflegegewohnheiten des Kindes. Es wird eine Initialberührung festgelegt und dokumentiert, die von allen Personen ausgeführt wird, die eine Pflegehandlung am Körper des Kindes durchführen wollen. Dadurch weiß das Kind, dass jetzt Körperkontakt zu ihm aufgenommen wird, und kann sich darauf einstellen. Mit dieser Berührung werden dem Kind auch das Ende jeder Pflegemaßnahme und da-

mit die Beendigung des Körperkontaktes angezeigt. Die konsequente Anwendung der Initialberührung fördert sehr stark die Orientierung des Kindes. Die Durchführung der Körperpflege erfolgt stets nur durch eine Person, möglichst jeden Tag durch dieselbe Person, z. B. nach gezielter Anleitung durch einen Elternteil. Die Pflegefachkraft bleibt soweit möglich im Gesichtsfeld des Kindes. Der Hautkontakt wird nach Möglichkeit ununterbrochen aufrechterhalten. Dies ist besonders wichtig für Kinder, bei denen der Blickkontakt eingeschränkt oder gestört ist (z. B. Sehschwäche, Blindheit oder Koma). Da die Pflegefachkraft für manche Handgriffe beide Hände benötigt, kann sie den Körperkontakt aufrechterhalten, indem sie sich z. B. auf die Bettkante setzt und mit ihrem Oberschenkel Kontakt zur Hüfte des Kindes hält oder indem sie einen Säugling auf ihrem Schoß sitzen lässt. Andere Möglichkeiten, um zu signalisieren „unser Kontakt ist nicht unterbrochen“, sind: dem Kind ein Kissen oder seinen Teddy auf den Bauch legen oder dem Kind ein großes Handtuch zum Festhalten in die Hand geben. Die Hände werden ruhig und flächig aufgelegt, da solche Berührungen die Körperoberfläche bewusster machen. Die Hände arbeiten mit gleichbleibendem Druck. Punktuelle Berührungen, z. B. mit den Fingerspitzen, werden vermieden. Da die Wahrnehmung des Kindes eingeschränkt ist, müssen die Bewegungen der Pflegefachkräfte so langsam durchgeführt werden, dass das Kind ihnen folgen kann. Dies muss vor Beginn basal stimulierender Maßnahmen bedacht werden (ausreichend Zeit einplanen).

Merke

H ●

Zeigt das Kind Zeichen von Erschöpfung, wie Verlust des Blickkontakts, beschleunigte Atem- oder Herzfrequenz oder motorische Unruhe, so wird die Ganzwaschung beendet. Eventuell ist eine Teilwaschung ausreichend.

Berührungen gegen die Haarwuchsrichtung werden intensiver wahrgenommen als Berührungen im Verlauf der Körperbehaarung. Eine der Haarwuchsrichtung folgende Ganzkörperwaschung wirkt beruhigend und gibt dem Kind Informationen über die Form seines Körpers. Eine Ganzkörperwäsche gegen die Haarwuchsrichtung wirkt eher anregend. Dies gilt auch für das Abtrocknen und die Haarwäsche. Je nach Zustand des Kindes wird eine beruhigende oder belebende Ganzkörper-

wäsche durchgeführt. Dabei sollen möglichst keine Waschzusätze angewendet werden, um die Reaktion des Kindes auf die Art der Waschung ohne weitere äußere Einflüsse beurteilen zu können. Anstatt einer Ganzwaschung kann auch ein Bad oder eine Teilwaschung (z. B. nur der Arme oder Beine) nach den genannten Prinzipien erfolgen. ● Beruhigende Ganzkörperwäsche: Die Wassertemperatur sollte 37 – 40 °C betragen (je nach Akzeptanz). Es wird in Haarwuchsrichtung gewaschen, möglichst beim Thorax beginnend zu den Armen hin. Das Gesicht wird zuletzt gewaschen. Abgetrocknet wird ebenfalls in Haarwuchsrichtung. Sowohl beim Waschen als auch beim Abtrocknen werden die Extremitäten des Kindes von der Pflegefachkraft mit einer oder beiden Händen umfasst, um die Form deutlich spürbar zu machen. Die Wirkung wird durch Verwendung eines weichen Waschlappens und weichen Handtuchs verstärkt. ● Belebende Ganzkörperwäsche: Die Wassertemperatur sollte etwas unter Körpertemperatur liegen (bis ca. 5 °C weniger, sofern diese Temperatur toleriert wird), um durch die relativ kühle Temperatur die Aufmerksamkeit des Kindes zu wecken. Es wird gegen die Haarwuchsrichtung gewaschen, bei den Händen beginnend zum Thorax hin. Auch hierbei werden die Extremitäten deutlich nachmodelliert. Das Abtrocknen erfolgt wie das Waschen gegen die Haarwuchsrichtung. Die Wirkung wird durch Verwendung eines rauen Waschlappens und rauen Handtuchs verstärkt. ● Diametrale, Spastik lösende Waschung: Bei der diametralen (gegenläufigen) Waschung arbeiten die Hände der Pflegefachkraft gegen das Muster der Spastik beim Kind. Hat das Kind beispielsweise eine Beugespastik der Arme, so lockert die Pflegefachkraft zunächst die Schulter des Kindes durch behutsame kreisende Bewegungen. Dann wird mit beiden Händen gleichzeitig und gegenläufig gewaschen. Eine Hand der Pflegefachkraft beginnt am Handgelenk des Kindes und wäscht an der Außenseite des Armes (entlang der Streckmuskulatur) zur Schulter. Die andere Hand der Pflegefachkraft wäscht gleichzeitig von der Schulter des Kindes an der Innenseite des Armes (entlang der Beugemuskulatur) in Richtung Handgelenk. Diese Bewegung wird mehrfach wiederholt, sodass sich ein ruhiger Rhythmus entwickelt, möglicherweise parallel zur Atmung des Kindes. Die Beine werden von Hüfte und Fußgelenk aus genauso gewaschen.

13.4 Pflegemaßnahmen ●

Liegt eine Streckspastik vor, so ist die Vorgehensweise umgekehrt: Es wird entlang der Beugemuskulatur hochgewaschen und entlang der Streckmuskulatur herunter.

Anstatt eines Waschlappens kann ein Waschhandschuh verwendet werden, damit das Kind beim Waschen nicht nur den Stoff spürt, sondern auch die Hand der Pflegefachkraft, die seinen Körper nachmodelliert. Werden 2 Waschhandschuhe gleichzeitig benutzt, so kann die Pflegefachkraft mit beiden Händen gleichzeitig eine Extremität zirkulär umfassend entlangstreichen und dem Kind damit diesen Körperteil erfahrbar machen (▶ Abb. 13.9). Darüber hinaus können auch andere Materialien benutzt werden (von den Eltern mitbringen lassen): Naturschwamm, weiche Hautbürste, Frotteesocken, die anstatt des Waschhandschuhs über die Hand der Pflegefachkraft gezogen werden. Unterstützende Waschung: Bei komatösen oder apallischen Kindern werden die Waschbewegungen vom Kind mit Unterstützung durch eine Pflegefachkraft oder die Eltern durchgeführt. Dabei ergreift der Erwachsene die Hand des Kindes und führt mit dieser die zum Waschen erforderlichen Bewegungen durch. Auch andere Tätigkeiten, wie Zähneputzen, Haarekämmen, Eincremen oder Mundpflege, können auf diese Weise durchgeführt werden. Intime Körperbereiche, wie Genitale, Gesäß, evtl. auch Bauch und Brustwarzen, werden bei Kindern, die keine Windeln mehr tragen, im Rahmen der allgemeinen Körperpflege gewaschen, bei der basal stimulierenden Ganzkörperwäsche jedoch nicht berührt! Die Reaktion des Kindes auf Körperpflegemaßnahmen wird beobachtet und dokumentiert. Besonders wichtig ist die Feststellung, ob und welche Veränderungen sich bei dem Kind entwickeln.

Praxistipp Pflege

Z ●

Die basal stimulierende Ganzwaschung ist keine Pflegetechnik, die – routiniert angewendet – stets zu vorhersagbaren Erfolgen führt. Sie ist vielmehr Ausdruck der Einstellung der Pflegefachkraft zum Kontakt und zur Kommunikation mit dem Kind. Ob und welche Maßnahmen sinnvoll sind, entscheidet allein das Kind durch seine Reaktion. Die Pflegefachkräfte müssen ihre eigene Wahrnehmung schulen, bevor sie die Wahrnehmung anderer Menschen fördern können. Hierzu ist der Besuch von Kursen zur Einführung in die basale Stimulation unter qualifizierter Anleitung empfehlenswert.

Ohrenpflege Normalerweise ist eine Reinigung des äußeren Ohres und der sichtbaren Teile des äußeren Gehörganges im Rahmen des täglichen Waschens ausreichend. Dabei dürfen weder Wasser noch Seife in das Ohr dringen. Zerumen (Ohrschmalz) in der Ohrmuschel kann mit einem Watteträger, etwas gedrehter Watte oder einem nicht fasernden Tuch entfernt werden.

Merke

H ●

Aufgrund der großen Verletzungsgefahr darf das Wattestäbchen nicht in den Gehörgang eingeführt werden. Außerdem besteht die Gefahr, dass mit dem Wattestäbchen das Zerumen noch weiter in den Gehörgang hineingeschoben wird.

Für jedes Ohr wird ein separates Wattestäbchen bzw. ein neuer Tupfer verwendet. Spezielle Präparate zur Entfernung von Zerumen werden nur nach ärztlicher Anordnung angewendet. Beim Austritt von Blut, Liquor oder Eiter aus dem Ohr muss sofort der Arzt verständigt werden. Das Ohr wird behutsam mit einem trockenen, sterilen Tupfer verbunden. Siehe Näheres zur Applikation von Ohrentropfen (S. 540).

Nasenpflege

Abb. 13.9 Basale Waschung. Der Arm wird mit 2 Waschlappen nachmodelliert. (Foto: K. Oborny, Thieme)

Wie bei den Ohren ist auch bei der Nase normalerweise keine besondere Pflege erforderlich. Die Reinigung der Nase erfolgt durch Schnäuzen in ein Taschentuch. Babys und Kleinkinder reinigen ihre Nase durch häufiges Niesen. Haben sie sehr zähes Sekret in der Nase, muss es evtl. mit Nasentropfen (z. B. physiologischer Koch-

salzlösung) verdünnt und danach entfernt oder abgesaugt werden.

Merke

H ●

Bei Neugeborenen und Säuglingen ist eine freie, unbehinderte Nasenatmung besonders wichtig, da sie fast ausschließlich über die Nase atmen.

Die unteren Nasengänge können mit einem in physiologischer Kochsalzlösung getränkten, nicht fasernden Tupfer behutsam gereinigt werden. Dazu wird der Tupfer unter Drehbewegungen gerade nach hinten in die Nase eingeführt. Für jedes Nasenloch wird ein separater Tupfer benutzt. Siehe Näheres zur Applikation von Nasentropfen und -salbe (S. 540).

Augenpflege Die Augen werden normalerweise wie bei der Ganzwaschung beschrieben gereinigt. Verkrustungen werden mit physiologischer Kochsalzlösung eingeweicht und dann von außen nach innen abgewischt. Physiologische Kochsalzlösung entspricht in ihrer Zusammensetzung in etwa dem Salzgehalt der Tränenflüssigkeit. Für jeden Wischvorgang wird ein neuer Tupfer benutzt.

Merke

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Ist von einer Konjunktivitis nur ein Auge betroffen, so wird dieses Auge von innen nach außen gereinigt, um eine Schmierinfektion des anderen Auges bei der Reinigung zu vermeiden. Wenn möglich, soll das Kind auf die erkrankte Seite gelagert werden, damit kein Sekret in das andere Auge gelangen kann.

Eine spezielle Augenpflege mit Augentropfen (sog. künstliche Tränen) oder Augensalbe (S. 535) wird erforderlich, wenn der Selbstreinigungsmechanismus der Augen nicht mehr ausreichend funktioniert und um eine Austrocknung der Hornhaut zu verhindern. Diese Probleme können bei fehlendem Lidschlag (aufgrund Bewusstlosigkeit, Narkose) oder bei ungenügendem Lidschluss (aufgrund Gesichtsnervenlähmung) auftreten. Die spezielle Augenpflege wird mindestens 3-mal täglich bzw. nach ärztlicher Anordnung häufiger durchgeführt.

13

1

Sich sauber halten und kleiden

13.4.6 Zahn- und Mundpflege Zahnpflege Zweck der Zahnpflege ist es, den Karies verursachenden Belag auf den Zähnen durch Bürsten zu entfernen und die Durchblutung des Zahnfleisches zu fördern (▶ Abb. 13.10).

Merke

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Einem anderen Menschen die Zähne zu putzen erfordert von der Pflegefachkraft besondere Geschicklichkeit und Behutsamkeit. Auch der Mund gehört zu den intimen Körperbereichen.

Allgemeine Regeln ▶ Zahnpasta. Die Verwendung von Zahnpasta unterstützt die Wirkung des Bürstens. Eine erbsengroße Menge Zahnpasta ist ausreichend. Zahnpasta ist mit und ohne Fluorid erhältlich. Fluoridhaltige Zahncremes erhöhen die Widerstandsfähigkeit des Zahnschmelzes gegenüber Karies. Ihre Anwendung oder andere vorbeugende Maßnahmen (Einnahme von Fluoridtabletten, fluoridiertem Speisesalz, Trinken von fluoridiertem Wasser oder eine Fluoridlackierung der Zähne) werden am besten von den Eltern im Rahmen einer Fluoridanamnese individuell mit dem Zahnarzt besprochen. Zahncremes gibt es als Kinderzahncreme, Juniorzahnpasta oder als Zahncreme für Erwachsene. Kinderzahncremes enthalten weniger Abrasivstoffe und einen unterschiedlichen Gehalt an Fluorid oder gar kein Fluorid. ▶ Altersgerechte Zahnbürsten. Für Säuglinge gibt es „Babys erste Zahnbürste“, eine Kombination von Beißring und Bürstchen, die eingesetzt werden kann, sobald der erste Milchzahn durchgebrochen ist. Kleine Kinder benötigen einen etwas ab-

gewinkelten, dicken Zahnbürstengriff, damit sie ihn gut mit der Faust greifen können. Um Kinder spielerisch an das Zähneputzen heranzuführen, können bunte Zahnbürsten und Zahnputzbecher verwendet sowie bebilderte Broschüren oder Bilderbücher zum Thema Zähneputzen verwendet werden. ▶ Zahnbürstenkopf. Kinder benötigen je nach Alter einen Zahnbürstenkopf von 1 – 2 cm Länge, Jugendliche von 3 cm Länge. Längere Bürstenköpfe behindern den Bewegungsspielraum im Mund. Der Zahnbürstenkopf soll abgerundet sein. ▶ Kunststoffborsten. Die Zahnbürste soll weiche abgerundete Kunststoffborsten haben. Naturborsten sind nicht zu empfehlen. Sie sind kantig abgeschnitten, splittern leicht und quellen auf, wodurch das Zahnfleisch verletzt werden kann und ein Nährboden für Bakterien entsteht. Sobald die Borsten sich verformen, muss die Zahnbürste gegen eine neue ausgetauscht werden (d. h. alle 6 – 8 Wochen). ▶ Elektrische Zahnbürsten. Sie sind für Kinder, die das Zähneputzen gerade erst lernen, nicht geeignet, aber für Kinder, die diese Technik bereits beherrschen.

Eltern

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Eltern werden darauf hingewiesen, dass sie Schnuller, Sauger oder Löffel des Kindes nicht ablecken, wenn diese z. B. auf den Boden gefallen sind, da die Gefahr besteht, dass Streptococcus mutans, der Erreger der Karies, aus der Mundhöhle des Erwachsenen auf das Kind übertragen wird. Säuglinge und Kleinkinder sollten keine Flaschen mit Milch, Saft oder gesüßtem Tee zum Nuckeln bekommen, da dies die Entstehung von Karies fördert. Bekommt das Kind ein „Betthupferl“, dann nur vor dem Zähneputzen, nicht danach. Der Schnuller sollte dem Kind möglichst bis zum 3. Lebensjahr abgewöhnt werden, auch wenn er kiefergerecht geformt ist.

13 Putztechnik

Abb. 13.10 Zähneputzen beim Kleinkind. Übernahme durch die Mutter. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

312

Die Zahnflächen werden aufeinandergestellt. Kaufläche, Außenseite der Zähne und Innenseite werden vom Zahnfleisch weg zum Zahn hin in kleinen, kreisenden Bewegungen mit mäßigem Druck geputzt (Merksatz: von Rot nach Weiß). Der Übergang vom Zahnfleisch zum Zahn muss besonders sauber gehalten werden, ebenso die Grübchen in den Kauflächen. Auch das

Zahnfleisch soll mit der Zahnbürste massiert werden.

Häufigkeit und Zeitpunkt Mindestens 2-mal täglich (morgens und abends) nach den Mahlzeiten und nach dem Verzehr von Süßigkeiten. Es wird empfohlen, etwa 30 Minuten nach den Mahlzeiten die Zähne zu putzen, um der Entstehung von zahnschmelzschädigenden Säuren vorzubeugen, dies ist jedoch im Alltag nicht immer praktikabel. Bei Kindern, die über eine Sonde ernährt werden, wird die Zahnpflege entweder vor der Sondenmahlzeit oder ca. 30 Minuten danach durchgeführt, um ein Hochbringen von Nahrung durch Auslösen des Würgereizes zu verhindern.

Dauer Bei korrekter Durchführung beansprucht das Bürsten von Zähnen und Zahnfleisch ca. 3 Minuten. Hilfreich ist dabei die Verwendung einer Sanduhr. Bei Verwendung fluoridhaltiger Zahnpasta wird nach dem Zähneputzen möglichst nur ausgespuckt und der Mund nicht mit Wasser ausgespült, damit die Fluoride länger einwirken können. Nach dem Zähneputzen wird die Zahnbürste unter fließendem Wasser gereinigt und zum Trocknen mit den Borsten nach oben in einen Zahnputzbecher gestellt.

Mundspüllösungen Bei Kindern sollten ausschließlich alkoholfreie Mundspüllösungen mit einem für ihr Alter geeigneten Fluoridgehalt eingesetzt werden. Fluoridhaltige Mundspüllösungen verstärken den Schutz vor Karies, auch an den Stellen, die mit der Zahnbürste nicht erreicht werden. Nach dem Spülen des Mundes wird die Lösung ausgespuckt, dies gelingt je nach Kind etwa ab dem 3. Lebensjahr. Desinfizierende Mundspüllösungen sollten nur nach ärztlicher Anordnung angewendet werden.

Zungenreiniger Bei Schulkindern und Jugendlichen kann evtl. ein Zungenreiniger eingesetzt werden, wenn das Kind dies gewohnt ist oder einen Belag auf der Zunge hat.

Besonderheiten bei der Durchführung der Zahnpflege Sie ergeben sich aus dem Alter bzw. Entwicklungsstand des Kindes (▶ Tab. 13.4). Bei kleinen Kindern kann die Durchführung der Zahnpflege an einer Puppe demonstriert werden. Danach kann die Pflegefachkraft das Kind auf ihren Schoß set-

13.4 Pflegemaßnahmen

Tab. 13.4 Besonderheiten der Zahnpflege in Abhängigkeit vom Lebensalter. Lebensalter

Besonderheiten der Zahnpflege

6 – 12 Monate

Ab Durchbruch des ersten Milchzahns wird abends mit einer Babyzahnbürste und einem kleinen Klecks Milchzahncreme gereinigt.

12 – 18 Monate

Die vorhandenen Milchzähne werden morgens und abends gereinigt.

18 Monate bis 2 Jahre

Das Kind kann nun an die Kinderzahnbürste gewöhnt werden. Die Erwachsenen sollten das Kind mit der Zahnbürste spielen lassen und mit ihm üben, den Mund auf- und zuzumachen und die Zähne zu zeigen. Zum Zähneputzen stellt sich ein Erwachsener am besten hinter dem Kind vor den Spiegel. Er fasst den Unterkiefer des Kindes mit einer Hand, sodass das Kind den Mund öffnet. Mit dem Zeigefinger kann er die Wangen des Kindes zur Seite schieben und die Zahnbürste kann eingeführt werden.

ab 2 Jahre

Das Kind ist allmählich in der Lage, den Mund mit Wasser auszuspülen und zur Übung die Zähne vorzuputzen. Jetzt sollen die Zähne auch regelmäßig nach dem Frühstück, vor dem Schlafengehen und nach dem Verzehr von Süßigkeiten geputzt werden.

4 – 6 Jahre

Das Kind ist aufgrund seiner motorischen Entwicklung in der Lage, die Zähne selbstständig zu putzen, es muss aber noch ggf. von den Erwachsenen kontrolliert werden.

zen, um es beim Zähneputzen zu unterstützen, oder das Kind auf einem Stuhl stehen lassen und sich selbst hinter das Kind stellen. Ein Kindergartenkind benötigt evtl. einen Hocker, damit es seine Zahnputzbewegungen im Spiegel beobachten kann.

Merke

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Bei Kleinkindern dürfen vor Operationen und Untersuchungen, für die das Kind nüchtern sein muss, die Zähne nicht geputzt werden. In diesem Alter wird nämlich das Wasser oft geschluckt anstatt ausgespuckt, sodass das Kind dann nicht mehr völlig nüchtern ist.

Zähneputzen im Liegen Zum Schutz der Bettwäsche wird ein Handtuch unter den Kopf des Kindes gelegt. Das Kind wird in die Seitenlage gebracht und sein Kopf an den Rand des Kopfkissens platziert. Ein zweites kleines Handtuch wird dem Kind als Wäscheschutz umgehängt. Damit das Kind den Mund ausspülen kann, wird ihm das Wasser mittels Trinkhalm angeboten.

Zahnpflege in Abhängigkeit von der Erkrankung Bei bewusstlosen Kindern und bei Kindern, bei denen Aspirationsgefahr besteht, werden die Zähne ohne Zahnpasta, lediglich mit der feuchten Zahnbürste geputzt. Eine funktionstüchtige Absauganlage muss zur Verfügung stehen. Kinder mit Zerebralparese können sich eher mit einer elektrischen Zahnbürste als mit einer normalen Zahnbürste selbstständig die Zähne putzen, da die elektrische Zahnbürste weniger Geschick in der Handhabung erfordert.

Nach Hals-Nasen-Ohren-Operationen, wie Tonsillektomie oder Adenotomie, dürfen die Kinder nach ärztlicher Anordnung ihre Zähne mit einer neuen Zahnbürste mit weichen Borsten ohne Zahnpasta putzen. Kinder mit Gerinnungsstörungen dürfen je nach ärztlicher Anordnung ihre Zähne nicht mit einer Zahnbürste putzen, sondern nur mit einem feuchten Tuch oder einem Wattestäbchen. Bei immunsupprimierten Kindern muss die Zahnbürste häufiger gewechselt werden, bei frisch transplantierten Kindern wird teilweise ein täglicher Wechsel empfohlen.

Pflege von Zahnspangen Vom Kieferorthopäden verordnete Zahnspangen müssen auch während eines Krankenhausaufenthaltes getragen werden, um den Erfolg der Behandlung nicht zu gefährden. Herausnehmbare Spangen werden nach dem Tragen mit klarem Wasser abgespült und in speziellen Behältern aufbewahrt. Die Anwendung besonderer Pflegemittel (die von den Eltern mitgebracht werden sollten) wird bei der Pflegeanamnese erfragt und nach Anweisung durchgeführt. Soweit möglich, soll das Kind die Pflege seiner Zahnspange selbstständig durchführen. Besonders wichtig ist eine sorgfältige Zahnpflege bei festsitzenden Zahnspangen, da das Zähneputzen deutlich erschwert ist.

Praxistipp Pflege

Z ●

Bei festsitzenden Spangen kann eine Munddusche benutzt werden sowie spezielle Interdentalraum-Zahnbürsten, die unter und zwischen den kieferorthopädischen Geräten putzen können. Abends müssen ggf. die für die Zahnbürste nicht erreichbaren Zahnzwischenräume mit Zahnseide gereinigt werden.

Mundpflege Die Mundpflege ist erforderlich bei Nahrungskarenz, zur Prophylaxe und Therapie bestimmter Erkrankungen und wenn die Reinigung des Mundes durch Zähneputzen nicht möglich ist. Sie dient der Reinigung der Mundhöhle, dem Anfeuchten der Mundschleimhaut und dem Erhalt bzw. der Verbesserung des Wohlbefindens des Kindes. Im Rahmen der Mundpflege kann der Saug- und Schluckreflex gefördert und Zungenbewegungen angeregt werden (wichtig z. B. bei Früh- und Neugeborenen oder Kindern mit neurologischen Erkrankungen). Bei Erkrankungen der Mundschleimhaut wird die Mundpflege zur Therapie mit vom Arzt verordneten Medikamenten durchgeführt.

Vorbereitung Zur Beurteilung des Zustandes der Mundhöhle ist eine Inspektion mittels Taschenlampe und Spatel erforderlich (▶ Abb. 13.11a). ▶ Information. Dem Kind und seinen Eltern muss erklärt werden, warum diese Inspektion und die Mundpflege durchgeführt werden und wie das Kind dabei helfen kann. Auch wenn die Eltern die Mundpflege übernehmen, ist trotzdem eine tägliche Inspektion der Mundhöhle durch Pflegefachkräfte erforderlich. Zur korrekten Beschreibung des Zustands der Mundhöhle und der Mundschleimhaut kann ein Dokumentationsbogen hilfreich sein (▶ Abb. 13.11b).

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▶ Material. Benötigt werden Watteträger bzw. Stieltupfer in passender Größe, Mundpflegelösung, Nierenschale, unsterile Handschuhe, evtl. Beißkeil aus Gummi und Lippencreme.

Durchführung Zur Mundpflege kann ein Watteträger, ein Stieltupfer oder ein um den behandschuhten Zeigefinger geschlungener Tupfer be-

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Sich sauber halten und kleiden

Praxistipp Pflege

Im Bereich der Uvula (Zäpfchen) kann der Würgereflex ausgelöst werden. In Lehrbüchern wird meist empfohlen, für jeden Wischvorgang (auf und unter der Zunge, Wangeninnenseiten, Gaumen) einen frischen Tupfer bzw. Watteträger zu verwenden. Dies ist jedoch abzuwägen mit dem Ziel der Mundpflege. Ein Kind, das nur mühsam dazu bewegt werden kann, seinen Mund zu öffnen, sollte nicht mit einem solchen Ritual „vergrault“ werden. Zum Abschluss der Mundpflege werden die Lippen eingecremt und das Kind wird für seine Mitarbeit gelobt.

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Checkliste für die Inspektion der Mundhöhle Name:

Vorname:

Blatt-Nr.

Datum: Lippen

rosig geschmeidig blass trocken spröde rissig Krusten Bläschen

rosig geschmeidig blass trocken spröde rissig Krusten Bläschen

Mund

rosig feucht trocken blass stark gerötet geschwollen Beläge: weiß, gelb, braun offene wunde Stellen Bläschen Petechien

rosig feucht trocken blass stark gerötet geschwollen Beläge: weiß, gelb, braun offene wunde Stellen Bläschen Petechien

Zunge

rosig feucht aufgeraut furchig Bläschen Borken Beläge: weiß, gelb, braun offene wunde Stellen

rosig feucht aufgeraut furchig Bläschen Borken Beläge: weiß, gelb, braun offene wunde Stellen

Zahnfleisch

rosig straff blass stark gerötet geschwollen Blutung: leicht stark geronnen

rosig straff blass stark gerötet geschwollen Blutung: leicht stark geronnen

Speichel ausreichend verringert vermehrt dünnflüssig zäh

ausreichend verringert vermehrt dünnflüssig zäh

Rachen

rosig gerötet Kratzen im Hals Schlucken: schmerzhaft kaum möglich

rosig gerötet Kratzen im Hals Schlucken: schmerzhaft kaum möglich

Sprache klar belegt heiser schmerzhaft kaum möglich

Merke

▶ Häufigkeit. Die Häufigkeit der Mundpflege richtet sich nach den Bedürfnissen des Kindes. Verschiedene Faktoren beeinträchtigen den Zustand der Mundschleimhaut: z. B. Mundatmung, Sauerstofftherapie, orales Absaugen, parenterale oder Sondenernährung, Dehydratation, Chemotherapie. Faustregel: Mundpflege findet nach jeder Mahlzeit statt, auch bei Sondenernährung bzw. bei parenteraler Ernährung so oft, wie das Kind eine Mahlzeit zu sich nehmen würde.

klar belegt heiser schmerzhaft kaum möglich

entsprechende Befunde sind zu unterstreichen b

Abb. 13.11 Mundpflege. a Inspektion der Mundhöhle. (Foto: P. Blåfield, Thieme) b Checkliste für die Inspektion.

nutzt werden. Bei Bedarf wird ein Gummikeil eingelegt, um zu verhindern, dass das Kind seinen Mund schließt bzw. zubeißt. Der Watteträger bzw. Tupfer wird

mit Mundpflegelösung befeuchtet und überschüssige Flüssigkeit abgestreift. Die Mundhöhle wird von hinten nach vorne ausgewischt.

▶ Mundpflegemittel. Vor der Auswahl eines bestimmten Mundpflegemittels müssen verschiedene Punkte beachtet werden: ● Liegt ein Pflegeproblem oder eine Erkrankung der Mundhöhle/Mundschleimhaut vor? ● Muss ein Medikament zur therapeutischen Mundpflege vom Arzt verordnet werden? ● Besteht ein besonderes Risiko für eine Mundschleimhauterkrankung aufgrund Immunschwäche (Früh- und Neugeborene, Kinder mit Zytostatikatherapie oder Bestrahlung)? ● Benutzt das Kind bereits ein bestimmtes Mundpflegemittel? Wie hat sich der Zustand der Mundschleimhaut unter dieser Behandlung verändert? ● Welche Mundpflegemittel stehen zur Verfügung? Können verschiedene Mittel zur Auswahl angeboten werden? Eine allgemeine ▶ Tab. 13.5.

314

H ●

Die Mundpflegelösung wird je nach Angaben des Herstellers bzw. nach kliniküblicher Handhabung erneuert.

PP Unterschrift

13

Z ●

Übersicht

gibt

13.4 Pflegemaßnahmen

Tab. 13.5 Mundpflegemittel im Überblick. Pflegemittel

Anwendungsart

Hinweise

Pflegeproblem: Mundtrockenheit (Xerostomie) Pflegeziel: feuchte Zunge und Mundschleimhaut Mineralwasser oder Tee, je nach Vorliebe des Kindes (möglichst kalt, da Mundschleimhaut dann länger feucht bleibt)

Mund spülen oder auswischen

Lieblingsgetränke zu Eiswürfeln gefroren

Eiswürfel lutschen

künstlicher Speichel

Mund einsprühen so oft wie gewünscht, hält ca. 1 Stunde feucht





● ●

● ●

Tee in Arzneibuchqualität (handelsüblicher Tee kann mit Pilzsporen belastet sein) Tee max. 3 min ziehen lassen, damit die Gerbsäure nicht in den Tee übergeht (Gerbsäure trocknet Mundschleimhaut aus) runde Eiswürfel mit Spezialbehältern herstellen bei somnolenten oder komatösen Kindern Eiswürfel in Gaze verpackt in die Wangentasche legen, auf Abwehrreaktion achten Zusammensetzung ähnlich natürlichem Speichel Geschmack wird teilweise abgelehnt

Vermeiden aller die Schleimhaut austrocknenden Mittel mit Gerbsäure oder Alkohol (z. B. Präparate, die Myrrhe, Salbei, Glyzerin oder Hexetidin enthalten). Pflegeproblem: reduzierte Speichelproduktion Pflegeziel: ausreichende Speichelproduktion zuckerfreie Bonbons/zuckerfreier Kaugummi nach Vorliebe des Kindes

lutschen/kauen lassen



regt den Speichelfluss stark an

salzhaltige Zahnpasta

Zähne putzen (lassen)



wird evtl. aufgrund ihres Geschmacks abgelehnt

Zusätzlich alle unter Mundtrockenheit aufgeführten Mittel. Pflegeproblem: belegte Zunge und Mundschleimhaut, Borkenbildung Pflegeziel: saubere Zunge und Mundschleimhaut ohne Beläge oder Borken kohlensäurehaltiges Mineralwasser

Mund spülen oder auswischen



Kohlensäure greift den Zahnschmelz an, daher nur befristet anwenden

Natriumbikarbonat auf ärztliche Anordnung

Mund auswischen



nur bei starker Verkrustung 1 Teelöffel Natriumbikarbonat auf 500 ml Wasser geben Geschmack kann Übelkeit, Würgen, Brechreiz verursachen

Wasserstoffperoxid 1,5 % auf ärztliche Anordnung nach zahn-, mund- oder kieferchirurgischen Eingriffen mit Nähten im Mund

Mund auswischen oder spülen

● ● ●

● ●





führt zur Schaumbildung, daher Kind vorher informieren und Absauganlage bereithalten nicht bei Kindern mit beeinträchtigtem Hustenreflex aufgrund Schaumbildung und üblem Geschmack Mund anschließend mit Wasser oder NaCl 0,9 % spülen ausschließlich zur Entfernung von Ablagerungen und nekrotischem Gewebe nicht anwenden, wenn Gewebe granuliert

Pflegeproblem: Mundgeruch Pflegeziel: Mundgeruch lindern oder beseitigen Zahnbürste und -pasta

Zähne putzen (lassen), mindestens 2-mal täglich für 3 min



Zungenreiniger (bei manchen Bürsten auf der Rückseite des Bürstenkopfes)

Zunge von dorsal nach ventral reinigen





möglichst weit hinten im Mundraum ansetzen Würgereiz möglich bei Schulkindern und Jugendlichen einsetzbar

Salzwasser

Mund spülen



1 Messerspitze Salz in 1 Glas Wasser (0,2 l) oder NaCl 0,9 %

Chlorophyll-Präparate auf ärztliche Anordnung

kauen lassen/auf Mundschleimhaut auftragen

● ●

verfärben die Zunge grün nicht bei Kindern unter 12 Jahren anwenden



bei starken Schmerzen und Nahrungsverweigerung





bestes und einfachstes Mittel zur Mundpflege verhindert Mundgeruch

Pflegeproblem: Mundaphthen Pflegeziel: intakte Mundschleimhaut, Schmerzlinderung Lokalanästhetika auf ärztliche Anordnung

betupfen

13

Pflegeproblem: Stomatitis Pflegeziel: intakte Mundschleimhaut, Schmerzlinderung NaCl 0,9 % oder Wasser

spülen oder gurgeln



nach jeder Mahlzeit

Lokalanästhetika auf ärztliche Anordnung (nach Bedarf, höchstens alle 3 Stunden)

betupfen



mit Lieblingsgetränk zu Eiskugeln gefrieren und lutschen lassen, um ihren schlechten Geschmack zu überdecken

antiviral wirkende Medikamente auf ärztliche Anordnung

betupfen



Häufigkeit nach Anordnung bzw. Herstellerangabe

5

Sich sauber halten und kleiden

Tab. 13.5 Fortsetzung Pflegemittel

Anwendungsart

Hinweise

Pflegeproblem: Parotitis Pflegeziel: normale Speichelbildung, normaler Speichelfluss, Schmerzlinderung Lokalanästhetika auf ärztliche Anordnung

Mund auswischen oder betupfen



Häufigkeit nach Anordnung

Salzwasser

Mund spülen



wirkt abschwellend

Rathaniatinktur

getränkte Tupfer in die Wangentasche legen



für 10 min in Wangentaschen belassen, fördert Speichelfluss Kind mit Nierenschale nach vorne gebeugt sitzen lassen, um Speichel aufzufangen



Pflegeproblem: Mundsoor Pflegeziel: physiologische Mundflora, Ausbreitung des Soors vorbeugen Antimykotika auf ärztliche Anordnung

pinseln oder lutschen lassen

● ●



davor den Mund reinigen danach mind. 20 min Nahrungs- und Flüssigkeitskarenz, damit das Medikament wirken kann Lutschtabletten haben eine längere Wirkungsdauer, sind aber unangenehmer im Geschmack (insbesondere Amphotericin)

Nach der Einnahme von Milch oder Milchprodukten immer den Mund reinigen, Milchreste verkleben sonst mit dem Pilzbelag und verstärken das wattige Gefühl auf der Zunge! Pflegeproblem: Zahnungsbeschwerden beim Säugling oder Kleinkind Pflegeziel: Schmerzlinderung, erleichterter Zahndurchbruch Lokalanästhetikum auf ärztliche Anordnung

betupfen



Häufigkeit nach Anordnung oder Herstellerangabe

Beißring

kauen lassen (Anwendungsdauer begrenzen)



kann von den Eltern in die Klinik mitgebracht werden vor der Anwendung in den Kühlschrank legen (nicht in das Tiefkühlfach), da Kälte schmerzlindernd wirkt

Praxistipp Pflege

Z ●

Wenn das Kind den Mund nicht öffnet, kann es dazu angeregt werden, indem die Pflegefachkraft mit dem Finger langsam vom Jochbeinbogen zum Mundwinkel streicht oder die Lippen kreisförmig bestreicht.

13

Der Effekt wird verstärkt, wenn sie dazu einen Finger des Kindes nimmt oder etwas auf den Finger gibt, was dem Kind gut schmeckt (Eltern befragen). Sie kann den Watteträger auch anfangs in eine Flüssigkeit tauchen, die das Kind mag, und dann 1 –2 Tropfen in den Mund und auf die Zunge träufeln. Manchmal hilft auch eine behutsame Massage der Kiefermuskulatur.

Merke

H ●

Der Mund darf nicht gewaltsam geöffnet werden!

Bei Kindern mit Schluckstörungen und bei bewusstlosen Kindern wird die Mundpflege mit aufrechtem Oberkörper und leicht vorgebeugtem Kopf (Kinn zeigt zur Brust) oder in Seitenlage durchgeführt,

316



um einer Aspiration des Mundpflegemittels vorzubeugen. Eine funktionstüchtige Absauganlage muss bereitstehen. Eine Munddusche oder ein Atomiseur kann verwendet werden, wenn die Mundpflege anders nicht durchführbar ist, z. B. bei verdrahteten Kiefern. Die Mundpflege dient auch der Vorbeugung von Soor und Parotitis. Da diese Erkrankungen durch eine Infektion verursacht werden, können sie durch sorgfältige Mundpflege allein nicht verhindert werden. Ungenügende Mundpflege ist jedoch ein infektionsbegünstigender Faktor, ebenso wie Chemotherapie, Bestrahlung, Einnahme von Antibiotika oder Steroiden und Sondenernährung. ▶ Basal stimulierende Mundpflege. Im Rahmen der Basalen Stimulation (S. 163) kann eine orale Stimulation durchgeführt werden. Sie fördert den Saug- und Schluckreflex, erleichtert das Öffnen des Mundes und erhöht die Wachheit des Kindes sowie seine Kooperation bei der Durchführung der Mund- und Zahnpflege. Bei der basal stimulierenden Mundpflege steht nicht die Reinigung der Mundhöhle im Vordergrund, sondern ein individuelles Angebot zur Förderung des Kindes. Dies kann z. B. bedeuten, die Mundpflege bei Früh- und Neugeborenen mit Muttermilch durchzuführen.

13.4.7 Haarpflege Zur Haarpflege zählen tägliches Frisieren, Haarwäsche und ggf. Rasur der Barthaare. Bei der Auswahl der Haarpflegemittel muss der Hauttyp berücksichtigt werden.

Frisieren der Haare Je nach Gewohnheit und Wunsch des Kindes werden die Haare 2-mal täglich mit Kamm oder Bürste frisiert. Bei Säuglingen wird eine Babyhaarbürste verwendet, auch wenn nur wenige Haare vorhanden sind, da das Bürsten die Durchblutung der Kopfhaut fördert. Bei bettlägerigen Kindern und Jugendlichen werden lange Haare seitlich zu einem oder zwei Zöpfen frisiert. Dem Kind wird ein Spiegel angeboten, sodass es seine Frisur betrachten und sich, wenn möglich, selbstständig frisieren kann. Schwarze oder farbige Kinder mit krausem Haar werden mit einem grobzinkigen Kamm oder einer Bürste frisiert. Eventuell ist die Anwendung spezieller Haarpflegemittel erforderlich. Beides können die Eltern von zu Hause mitbringen.

13.4 Pflegemaßnahmen

Merke

H ●

Vor dem Frisieren wird ein Handtuch unter den Kopf des Kindes gelegt, um ausgefallene Haare rasch entsorgen zu können. Nach dem Frisieren wird der Kamm bzw. die Bürste von Haaren gereinigt. Werden die Kämme und Bürsten vom Krankenhaus gestellt, muss vor Gebrauch bei einem anderen Kind eine entsprechende Reinigung und Desinfektion erfolgen. Aus hygienischen Gründen sollten Kämme und Bürsten aus Kunststoff sein.

Haarwäsche Sofern möglich, werden Wünsche bzw. Gewohnheiten des Kindes berücksichtigt (z. B. Häufigkeit der Haarwäsche, eigenes Shampoo und für den jeweiligen Haartyp geeignete Pflegemittel). Bei Verletzungen oder Operationen im Bereich des Kopfes muss vorher die Erlaubnis des Arztes eingeholt werden, da die Haarwäsche aus medizinischen Gründen kontraindiziert sein kann. Vor der Pubertät fetten Kinderhaare kaum, sie müssen daher nur gewaschen werden, wenn sie staubig oder schmutzig sind, d. h. ca. 1-mal pro Woche. Bei Kindern mit Heuschnupfen ist es in der Zeit des Pollenflugs sinnvoll, jeden Abend Pollen durch eine Haarwäsche zu entfernen. Tägliches Haarewaschen schadet nicht, wenn ein mildes Shampoo verwendet wird. Für die Haarwäsche bei Babys ist klares Wasser allein ausreichend. Getrocknet werden die Haare am schonendsten an der Luft in einem warmen Raum. Dabei muss das Kind vor Auskühlung und Zugluft geschützt werden. Der heiße Luftstrom des Föns regt die Talgproduktion an und schädigt die Haarstruktur. Beim Fönen wird der Fön auf die niedrigste Stufe eingestellt, die Pflegefachkraft muss den Abstand vom Fön zum Kopf des Kindes ständig überprüfen, da die Gefahr einer Verbrennung durch die heiße Luft besteht. ▶ Haarwäsche im Bett. Sie erfolgt mithilfe spezieller Haarwaschbecken, die am Kopfende in das Bett gestellt werden und das Haarwaschwasser nach außen in einen Eimer ableiten (▶ Abb. 13.12). Die Haarwäsche im Bett sollte durch zwei Personen erfolgen. Eventuell muss der Nacken des Kindes mit einem Kissen gestützt werden. Zum Klarspülen der Haare von Shampoo sind ein Behälter und ausreichend angenehm temperiertes Wasser erforderlich. Darf das Kind zum Trocknen der Haare nicht aufgesetzt werden, so

Abb. 13.12 Haarwäsche im Bett. Mithilfe eines Haarwaschbeckens wird das Wasser aus dem Bett abgeleitet. (Foto: W. Krüper, Thieme)

kann es seinen Kopf oder, falls erforderlich, den ganzen Körper auf die Seite drehen. ▶ Basal stimulierende Haarwäsche. Bei Kindern, die angeregt werden sollen, erfolgt eine belebende Haarwäsche gegen die Haarwuchsrichtung, die Wassertemperatur liegt unter der Körpertemperatur. Nach dem Waschen werden die Haare mit einem Handtuch kräftig trocken gerubbelt. Bei unruhigen Kindern wird in Haarwuchsrichtung eine beruhigende Haarwäsche durchgeführt, die Wassertemperatur liegt über der Körpertemperatur. Nach dem Waschen der Haare wird das Wasser durch Drücken der Haare in das Handtuch aufgenommen, anstatt kräftig abzutrocknen. Es kann auch ein Handtuchturban anlegt werden, sodass die Haare darunter trocknen. ▶ Angst vor der Haarwäsche. Bei älteren Säuglingen und Kleinkindern muss vorher gefragt werden, ob sie Angst vor der Haarwäsche haben. Wenn ja, empfiehlt sich die Verwendung eines Haarwaschkranzes (▶ Abb. 13.13), den die Eltern von zu Hause mitbringen sollten, oder das Ausspülen der Haare mit einem Waschlappen oder einem Schwamm. Bei einem Kind, das Angst davor hat, Wasser über den Kopf gegossen zu bekommen, sollte behutsam vorgegangen werden. ▶ Kopfgneis/Seborrhoische Dermatitis. Hat ein Baby eine fettige, kleieförmige, gelbbraune und oft festanhaftende Schuppenschicht auf der Kopfhaut, sollte diese mit der seit 2013 erhältlichen OleogelFormulierung für 2–3 Minuten einmassiert werden. Nach 30 Minuten wird Wasser auf die Kopfhaut gegeben, das mit dem Oleogel zu einer milchigen Emulsion reagiert, die sich gut abspülen lässt. Die Anwendung von Oleogel ist der Verwendung von Pflanzenöl signifikant überlegen, kann ab der dritten Lebenswoche

Abb. 13.13 Haarwaschkranz. Dieser soll verhindern, dass Shampoo in die Augen gelangt.

erfolgen und zeigt keine unerwünschte Wirkungen (Schneider 2017).

Rasieren der Barthaare Wenn der Jugendliche dazu in der Lage ist, soll er eigenständig die tägliche Rasur durchführen. Nach Augenoperationen oder bei Verletzungen im Gesicht muss vorher der Arzt befragt werden, da das Rasieren aus medizinischen Gründen kontraindiziert sein kann. Wird die Rasur durch eine Pflegefachkraft vorgenommen, ist die Verwendung eines Elektrorasierers zur Trockenrasur vorzuziehen (geringere Verletzungsgefahr, insbesondere bei Hautunreinheiten wie Pickeln). Bei bettlägerigen Jugendlichen wird vorher ein Handtuch unter den Kopf gelegt, das das Entfernen der Haare erleichtert.

Merke

H ●

Bei tracheotomierten Jugendlichen können kleine Haare in das Tracheostoma gelangen und einen Hustenreiz auslösen.

Da die Rasur die Gesichtshaut reizt, muss anschließend eine entsprechende Hautpflege durchgeführt werden, z. B. mit Aftershave oder Hautcreme.

Merke

H ●

13

Bei Elektrorasierern wird nach dem Gebrauch der Scherkopf abgenommen und von Haaren gereinigt.

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Sich sauber halten und kleiden

13.4.8 Nagelpflege Die Finger- und Fußnägel sind wichtig für das Tastempfinden und schützen die Finger- und Zehenspitzen, die viele Nervenendigungen und Blutgefäße enthalten. Das Kürzen der Fingernägel erfolgt aus hygienischen Gründen. Bei Säuglingen verhindern kurze Nägel darüber hinaus, dass sie sich das Gesicht zerkratzen. Abb. 13.15 Wickeln. Drehen des Säuglings beim Wickeln von der Hüfte aus. (Foto: K. Oborny, Thieme)

Nagelpflegemethoden Die Nägel können mit einer Nagelschere, einer Nagelfeile oder einer Nagelschneidezange gekürzt werden. Spezielle Babynagelscheren haben abgerundete Enden, schneiden jedoch häufig nicht sehr gut. Dem Ungeübten sind sie zu empfehlen, da die Verletzungsgefahr geringer ist. Die Fingernägel werden rund geschnitten oder gefeilt, die Zehennägel werden gerade geschnitten, um ein Einwachsen der Nägel zu verhindern. Ein vorhergehendes Teilbad der Hände bzw. Füße erleichtert das Nägelschneiden, da die Nägel nach dem Bad weicher sind. Bei Verwendung der Nagelfeile sollte die Feile nur in eine Richtung bewegt werden, um ein Splittern der Nägel zu vermeiden. Gefeilt wird vom Nagelrand zur Mitte des Nagels. Beim Kürzen der Nagelhaut durch Schneiden kommt es oft zu Verletzungen und anschließend zu Nagelbettentzündungen. Es ist günstiger, die Nagelhaut mit geeigneten Utensilien (sog. „Kuhfuß“) zurückzuschieben.

Merke

H ●

Vor der Durchführung der Nagelpflege wird ein kleines Handtuch untergelegt, um die abgeschnittenen Nägel bzw. den feinen Staub vom Nägelfeilen rasch zu entsorgen. Nagelpflegeutensilien, die von der Klinik gestellt werden, müssen nach dem Gebrauch auf klinikübliche Weise desinfiziert werden.

13

Durchführung ▶ Neugeborene. Bei ihnen sind die Nägel noch häutig und so weich, dass sie von selbst abschilfern, daher sollten sie in den ersten 4 Wochen nicht geschnitten werden. ▶ Säugling. Beim schlafenden Säugling wird die geöffnete Hand des Kindes in die eigene Hand genommen. Die oberen Fingerglieder werden festgehalten und die Nägel möglichst kurz geschnitten (▶ Abb. 13.14).

318

Abb. 13.14 Schneiden der Fingernägel. Die Pflegefachkraft fixiert die oberen Fingerglieder des Kindes.

▶ Kleinkinder. Bei ihnen wird so viel Nagel stehen gelassen, dass die Nägel der Linie der Fingerkuppen folgen. Kleinkinder können einbezogen werden, indem sie sagen, welcher Fingernagel als nächster geschnitten oder gefeilt werden soll oder indem sie unter Aufsicht selbst mit der Nagelfeile hantieren. ▶ Vorschulkinder. Sie können ihre Nägel im Beisein eines Erwachsenen mittels Nagelfeile reinigen und das Nägelfeilen üben. Das Nagelschneiden muss ein Erwachsener übernehmen. ▶ Schulkinder. Inwieweit sie die Nagelpflege selbstständig durchführen können, wird im Rahmen der Pflegeanamnese von den Eltern erfragt.

Merke

H ●

Das Schneiden oder Feilen der Nägel ohne Einwilligung des Kindes bzw. der Eltern stellt eine Körperverletzung dar!

▶ Besonderheiten. Bei Kindern mit Thrombozytopenie ist die Durchführung der Nagelpflege aufgrund der Blutungsgefahr kontraindiziert. Kinder mit Diabetes bedürfen einer besonders sorgfältigen und behutsamen Nagelpflege, insbesondere bei den Fußnägeln, da bei ihnen kleine Wunden schlechter verheilen.

13.4.9 Wickeln Durch das Wickeln wird der Genitalbereich sauber und trocken gehalten und vor dem Wundwerden geschützt, da längerer Kontakt mit Stuhl und Urin die Haut angreift. Wie die Körperpflege allgemein bietet auch das Wickeln eine Möglichkeit

des intensiven Kontakts zwischen Kind und Erwachsenem und der Unterstützung der physiologischen Entwicklung durch Anwendung des Säuglings-Handlings nach Bobath (▶ Abb. 13.15). ▶ Information. Die Eltern sollen Informationen über besondere Pflegemaßnahmen bei ihrem Kind an die Pflegefachkräfte weitergeben (z. B. spezielle Wickeltechnik oder Pflegemittel). Die Eltern eines Neugeborenen benötigen ggf. Anleitung bezüglich Technik und Hygiene. ▶ Hygiene. Um den Genitalbereich zu reinigen, gibt es zwei Möglichkeiten: ● Reinigung mit klarem Wasser: Stuhlgang, auch zähes Mekonium, lässt sich mit klarem Wasser entfernen. In der Klinik werden frische Waschlappen, weiche Einmalpapiertücher, Zellstofftücher oder weiches Toilettenpapier verwendet. Bevor die frische Windel verschlossen wird, müssen alle Hautfalten trocken sein. ● Reinigung mit Öl: Auch Öl entfernt Schmutz und bildet außerdem eine leichte Schutzschicht gegen Urin und Stuhl im Windelbereich. Besonders empfehlenswert sind Babypflegeöle. Vor dem Auftragen einer Creme im Windelbereich sollte das Öl abgetupft werden, damit die Creme auf der Haut haften kann.

Merke

H ●

Bei Windeldermatitis oder Soor im Genitalbereich darf kein Öl zur Reinigung verwendet werden, da es auf wunder Haut brennt und das Pilzwachstum begünstigt.

▶ Häufigkeit. Die Windel wird so oft wie nötig gewechselt, also i. d. R. beim Neugeborenen, dessen Haut recht empfindlich ist, alle 3 – 4 Stunden; beim Säugling 5-

13.5 Pflegemaßnahmen bei der LA „Sich kleiden“

bis 6-mal täglich. Bei Windeldermatitis, Durchfall oder Soor muss evtl. öfter gewickelt werden. Zudem ist die Häufigkeit des Windelwechsels abhängig von der Art der verwendeten Windel. Bei Stoffwindeln muss häufiger gewickelt werden als bei Einmal-Höschenwindeln. Generell wird nach jedem Stuhlgang gewickelt, da der Kontakt mit Stuhl über längere Zeit zu Wundsein führen kann. ▶ Zeitpunkt. Der Zeitpunkt des Wickelns wird individuell auf das Kind abgestimmt. Neigt ein Säugling nach dem Trinken zum Spucken oder sogar Erbrechen, wird er vor der Mahlzeit gewickelt. Schläft ein Baby während der Mahlzeit ein, kann es nach der Hälfte der Mahlzeit gewickelt werden bzw. beim Stillen vor dem Wechsel von einer Brust an die andere. Dieses Vorgehen ist auch nachts empfehlenswert bei Kindern, die sonst durch das Wickeln hellwach werden. Babys, die beim Trinken an Brust oder Flasche Stuhlgang haben, werden nach der Mahlzeit gewickelt. ▶ Besonderheiten. Sowohl bei der Windeldermatitis im Säuglingsalter als auch bei der inkontinenzassoziierten Dermatitis bei Kindern und Jugendlichen sollte ein standardisiertes Vorgehen im gesamten Pflegeteam umgesetzt und die Familie entsprechend angeleitet werden. Entscheidende Punkte sind (Huber, Kozon 2016): ● Die Verwendung von Einmalwindeln mit Superabsorbern. ● Sobald Stuhlgang in der Windel ist, erfolgt ein Windelwechsel, auch nachts. ● Die Hautreinigung erfolgt nur mit Wasser. ● Die Haut im Windelbereich wird tupfend gereinigt, nicht durch Wischen oder Reiben. Muss kein Stuhlgang entfernt werden, können Cremereste auch belassen werden. ● Creme oder Salbe wird nur dünn aufgetragen, damit die Saugkapazität der Windel nicht reduziert wird. ● Ein mit Salbe behafteter Finger wird nicht in der Windel abgewischt, damit die Saugkapazität der Windel erhalten bleibt. ● Die Haut wird 2-mal täglich ohne Creme für 30 Minuten offen gelassen, damit nässende Hautbereiche trocknen können. ● Im Windelbereich wird 2-mal täglich ein transparentes Hautschutzpräparat aufgetragen (Herstellerangaben beachten), das als Barriere zwischen Haut und Ausscheidungen wirkt. ● Bei Infektionen im Windelbereich, z. B. bei Soor, wird nach ärztlicher Anordnung eine antimykotisch wirksame Salbe oder Creme aufgetragen.

Praxistipp

Z ●

Säuglinge und Kinder mit infantiler Zerebralparese haben in Rückenlage oft einen ausgeprägten Streckspasmus und überkreuzen beide Beine, wodurch der Windelwechsel sehr erschwert wird. Werden sie auf die Seite gerollt, lassen sich die Beine meist leichter spreizen und Hüften und Knie lassen sich besser beugen als in Rückenlage.

13.4.10 Sonnenschutz Ein guter Schutz der Haut vor Sonneneinstrahlung ist bei Kindern sehr wichtig, da häufiger Sonnenbrand im Kindesalter das Risiko erhöht, als Erwachsener an Hautkrebs zu erkranken. Säuglinge und Kleinkinder sind besonders gefährdet: Ihr Kopfhaar ist i. d. R. noch nicht sehr ausgeprägt, ihre Haut ist wenig pigmentiert und beträgt nur ein Fünftel der Dicke der Erwachsenenhaut, die sog. Lichtschwiele (Verdickung der oberen Hautschicht unter Einwirkung von UVB-Strahlen) ist noch nicht entwickelt und der Mechanismus der Hautzellen zur Reparatur von DNSSchäden infolge Sonneneinstrahlung ist noch nicht voll funktionsfähig. Auch die Gefahr eines Hitzschlags ist umso größer, je jünger ein Kind ist. Maßnahmen zur Prävention sind: ● Meiden einer Sonnenexposition in den Mittagsstunden (11 – 15 Uhr), Säuglinge unter 1 Jahr sollten keiner direkten Sonneneinstrahlung ausgesetzt werden. ● Lichtschutz durch passende Bekleidung: Kopfbedeckung, Sonnenbrille mit UVFilter (erkennbar am CE-Zeichen und Deklaration „100 % UV-Schutz bis 400 nm“), geschlossenes Schuhwerk, Textilien, die möglichst viel Haut bedecken und möglichst wenig Sonnenstrahlen durchlassen. ● Aufenthalt möglichst im Schatten, Sonnenschirm nutzen. ● Anwendung von Lichtschutzmitteln (Sonnencreme) 30 Minuten vor dem Sonnenbad in ausreichender Menge, regelmäßiges Wiederauftragen des Mittels nach zwei Stunden, um die Wirkung zu erhalten, und nach jedem Baden oder Kontakt mit Wasser. Dies gilt auch für wasserfeste Lichtschutzmittel.

Merke

H ●

Der beste Sonnenschutz ist durch Schatten und Kleidung gewährleistet! Sonnencreme schützt vor Sonnenbrand, aber möglicherweise nicht vor Hautkrebs.

▶ Auswahl eines geeigneten Lichtschutzmittels. Lichtschutzmittel unterscheiden sich durch den Lichtschutzfaktor, d. h. den Faktor, um den sich die Zeit in der Sonne verlängern lässt, bevor im Vergleich zu ungeschützter Haut eine Hautrötung auftritt. Ein für Kinder geeignetes Lichtschutzmittel sollte einen hohen bis sehr hohen Lichtschutzfaktor (LSF) besitzen (LSF 30 oder höher), sowohl gegen UVAals auch gegen UVB-Strahlen schützen, wasserfest sein, einen physikalischen Lichtschutz basierend auf Mikropigmenten bieten und weder Konservierungsmittel noch Parfümzusätze enthalten. In der Apotheke erhältliche Sonnenschutzmittel erfüllen diese Anforderungen, beim Kauf von Lichtschutzprodukten im Einzelhandel sind Gütesiegel von Stiftung Warentest oder Öko-Test hilfreich. Für Kinder mit Hautproblemen, z. B. Neurodermitis, gibt es in der Apotheke Spezialpräparate.

13.5 Pflegemaßnahmen bei der LA „Sich kleiden“ 13.5.1 Auswahl von Kleidung Geeignete Kleidung für Kinder muss praktisch und bequem sein, die Temperaturregulation unterstützen sowie aus schadstoffarmen Materialien hergestellt sein. Bei Säuglingen und Kindern sollte Kleidung, die direkt auf der Haut aufliegt (Strampler, Unterwäsche, Socken), aus ungefärbten und nicht chemisch aufgerüsteten Naturtextilien hergestellt sein. Dies ist an entsprechenden Wäschezeichen zu erkennen. Babys und Kleinkinder sollen keine Reißverschlüsse, Schnallen oder Nieten an ihrer Kleidung haben, da diese beim Schlafen drücken und meist Chrom oder Nickel enthalten, die zu Allergien führen können. Bei Kleidungsstücken, die über den Kopf gezogen werden, wie Pullover und T-Shirts, sind weite Halsausschnitte praktisch. Kleinkinder und Kindergartenkinder brauchen Kleidung, mit der sie das selbstständige An- und Ausziehen üben können und die sie alleine ausziehen können, z. B. wenn sie auf Toilette gehen. Hosen mit Gummizug sind besser geeignet als Latzhosen oder Overalls mit komplizierten Verschlüssen. Bei Mädchen schränken kurze Kleider die Bewegungsfreiheit nicht so sehr ein wie lange Kleider.

Merke

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H ●

Soweit möglich sollen Kinder im Krankenhaus ihre eigene Kleidung tragen dürfen. Kinder, die aufstehen und herumlaufen, müssen tagsüber keine Schlafanzüge tragen.

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Sich sauber halten und kleiden

Schuhe und Socken Merke

H ●

Bei Kleinkindern wachsen die Füße sehr rasch, daher sollte alle 4–6 Monate überprüft werden, ob die Schuhe noch passen. Nicht nur die Länge, auch die Breite des Fußes muss berücksichtigt werden, um entsprechend dem WMSMaßsystem (weit, mittel, schmal) den richtigen Schuh auszuwählen.

Schuhe sollten aus luftdurchlässigen Naturmaterialien wie Leder, Baumwolle oder Leinen sein und dem Fuß genügend Halt geben, damit Bänder und Sehnen nicht überbeansprucht werden. Günstig sind herausnehmbare Innensohlen, die gewaschen werden können. Ein ausgeprägtes Fußbett ist nicht erforderlich, eine leichte Unterstützung des Fußgewölbes und eine nach unten gebettete Ferse sind ausreichend. Klettverschlüsse können vom Kind selbstständig gut geschlossen werden, Schnürsenkel dagegen werden oft nicht gleichmäßig angezogen, wodurch der Schuh dem Fuß nicht genügend Halt geben kann. Im Lauflernalter sind anstelle von Hausschuhen Socken mit aufgenähter rutschfester Sohle empfehlenswert, z. B. Hüttenschuhe. In diesem Alter müssen Kinder nur Schuhe tragen, wenn sie im Freien herumlaufen. Bei Kindern, die bereits laufen können, sind wie bei Erwachsenen ein mehrmaliger Schuhwechsel und gelegentliches Barfußlaufen im Laufe des Tages günstig. Tragen Kinder zu Hause oder im Krankenhaus Pantoffeln oder Hausschuhe, sollten auch diese dem Fuß Halt geben und nicht ausgeleiert sein. Auch die Socken bzw. Strümpfe müssen passen. Sind Stretchsocken für mehrere Fußgrößen bestimmt und das Kind benötigt die größte, wird besser die nachfolgende Sockengröße gewählt. Empfehlenswert sind Socken aus Naturfasern wie Baumwolle oder Wolle, die viel Feuchtigkeit aufnehmen können.

13 Krankenhausaufenthalt In diesem Fall muss die Kleidung evtl. den jeweiligen Bedürfnissen angepasst werden. So können die Eltern z. B. Nachthemden oder Schlafanzugoberteile im Rücken aufschneiden, damit sie auch bei langfristig bettlägerigen Kindern einfach an- und auszuziehen sind. Dies ist meist angenehmer für das Kind, als ein Flügelhemd zu tragen.

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Merke

H ●

Zur Sturzprophylaxe müssen Kinder in der Klinik entweder Hausschuhe oder Laufsocken mit rutschfester Sohle tragen.

Hat das Kind einen Beingips, können die Hosen seitlich am Hosenbein aufgeschnitten und mit einem Klettverschluss versehen werden. Wenn das Kind mehrere Sonden und Dränagen hat oder eine kontinuierliche EKG-Kabelableitung, sind Kleidungsstücke günstig, die durch Knöpfe möglichst an verschiedenen Stellen zu öffnen sind. Bei Kindern mit ausgeprägtem Spasmus oder Kontrakturen sind Kleidungsstücke empfehlenswert, die sich vorne öffnen lassen, anstatt sie über den Kopf zu ziehen.

Merke

H ●

Für Kinder mit einer Spastik in den Beinen gibt es propriozeptive Schuheinlagen, die durch Stimulation bestimmter Punkte an der Fußsohle den Muskeltonus der Beine günstig beeinflussen, sodass dem Kind das Laufen leichter fällt.

Religiöse und kulturelle Bräuche drücken sich auch in der Kleidung aus. Viele moslemische Mädchen und Frauen bedecken z. B. ihren ganzen Körper außer Händen und Gesicht, da sie sich sonst nackt und ausgeliefert fühlen. Soweit es die Beobachtung, Diagnostik und Therapie nicht beeinflusst, sollen sie auch im Krankenhaus ihre Gewohnheiten beibehalten dürfen.

13.5.2 Hilfestellung beim An- und Ausziehen Je nach Alter, Entwicklungsstand und Erkrankung benötigt das Kind Hilfestellung beim Kleiden (▶ Abb. 13.16). Soweit möglich, sollen auch bei einem pflegebedürftigen Kind die bereits vorhandenen Fähigkeiten genutzt werden, um seine Selbstständigkeit zu erhalten und zu fördern (▶ Tab. 13.1).

Merke

H ●

Das An- und Ausziehen bestehen wie das Waschen aus einer Reihe von Berührungen, die als angenehm oder unangenehm empfunden werden, wenn sie nicht selbstständig durchgeführt werden können.

Abb. 13.16 Unterstützung. Das Kind erhält nur so viel Unterstützung beim Anund Ausziehen wie erforderlich. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Unangenehm oder verunsichernd sind diese Berührungen, wenn das Kind sie nicht einordnen kann, wie beim Neugeborenen aufgrund seines Lebensalters, beim geistig behinderten Kind oder wenn die Berührungen den Zustand des Kindes negativ beeinflussen, wie die Erhöhung des Muskeltonus beim spastisch gelähmten Kind oder das Auslösen des Moro-Reflexes beim Neugeborenen und jungen Säugling. Bei diesen Kindern ist daher eine gute Ausgangsposition beim An- und Ausziehen wichtig, d. h. möglichst keine völlige Streckung des Körpers. Eine kleine Unterlage unter dem Kopf unterstützt die Beugung. Beim Anziehen soll das Kind erst den Stoff spüren, dann werden die Kleidungsstücke und die jeweils zu bekleidenden Körperteile benannt, entweder von der Pflegefachkraft oder vom Kind selbst, wenn es die Bezeichnung kennt. Auch bei komatösen oder schwerstbehinderten Kindern wird so vorgegangen, um ihre Körperwahrnehmung zu fördern. Das Überstreifen von Kleidungsstücken über den Kopf wird auch von gesunden Kindern oft als besonders unangenehm erlebt, insbesondere beim Ausziehen, das „gegen den Strich“ durchgeführt wird. Eine deutliche und ruhige Berührung mit den Händen beidseits des Kopfes des Kindes vermittelt Sicherheit, während der Kopf hinter dem Kleidungsstück „verschwunden“ ist. Das Gesicht des Kindes soll so rasch wie möglich wieder freigemacht werden. Dieser Vorgang kann mit einem „Guckguck“-Spiel verbunden werden oder, wenn das Kind nicht sehen kann (z. B. nach Augenoperation oder bei Blindheit), nach Absprache durch Berühren der Nase des Kindes dem Kind signalisiert werden „jetzt bist du wieder da“.

13.5 Pflegemaßnahmen bei der LA „Sich kleiden“ ▶ Anziehen eines Oberteils. Der Ablauf bei einem Kind mit physiologischem Muskeltonus: ● Das Oberteil wird gekrempelt, die Halsöffnung mit beiden Händen aufgehalten und dann von hinten nach vorne über den höchsten Punkt des Kopfes gezogen. ● Dann ergreift die Pflegefachkraft eine Hand des Kindes, beugt den Arm des Kindes an seinen Oberkörper und steckt die Hand des Kindes in den Ärmel. ● Während das Kind seinen Arm streckt, rutscht der Ärmel über den Arm. Günstig ist es, wenn das Kind dabei die Finger der betreffenden Hand geschlossen hält. ▶ Ausziehen eines Oberteils. Die Pflegefachkraft nimmt das Kind an einer Hand und streckt von der Hand aus seinen Arm, während sie gleichzeitig am Ärmel zieht. Wenn sie nun den Arm des Kindes loslässt, aber den Ärmel festhält, kann das Kind seinen Arm aus dem Ärmel heraus zurückziehen.

An- und Auskleiden bei Einschränkungen Ist bei einem Kind eine Extremität erkrankt oder beeinträchtigt (z. B. durch Gips, Verband oder Infusion), so wird mit dem Anziehen an dieser Extremität begonnen, beim Ausziehen dagegen an der besser beweglichen Extremität. ▶ Spastisch gelähmte Kinder. Bei ihnen wird mit dem Anziehen auf der weniger beweglichen, beim Ausziehen auf der besser beweglichen Seite begonnen. Bei ausgeprägtem Streckspasmus werden die Beine des Kindes in der Hüfte und im Knie gebeugt und seine Füße auf der Unterlage aufgestellt. Dann wird die Hose über die Füße und Beine gestreift. Nun wird das Kind mit gebeugten Hüften und Knien auf die rechte bzw. linke Seite gedreht und dabei die Hose über sein Gesäß gezogen. Säuglinge und Kleinkinder mit ausgeprägtem Streckspasmus lassen sich leichter an- und ausziehen, wenn sie auf der Seite liegen oder wenn die Pflegefachkraft das Kind auf dem Bauch über ihre Knie legt, da der Körper in dieser Stellung automatisch gebeugt wird.

▶ Kinder mit infantiler Zerebralparese. Kann ein Kind mit infantiler Zerebralparese ohne Unterstützung nicht sitzen und sein Gleichgewicht nicht halten, so kann die Pflegefachkraft das Kind mit seinem Rücken zu sich auf ihren Schoß (bei einem kleineren Kind) oder einen geeigneten Stuhl setzen (bei einem größeren Kind oder Jugendlichen). In dieser Position werden die Hüften des Kindes gebeugt und sein Rumpf nach vorne geneigt, was das An- und Ausziehen erleichtert. Außerdem kann das Kind sehen, welche Bewegungen die Pflegefachkraft ausführt. Allerdings muss die Pflegefachkraft darauf achten, dass der Kopf des Kindes nicht nach vorne oder zur Seite fällt, wenn das Kind den Kopf nicht selbstständig halten kann. Bevor Strümpfe oder Schuhe angezogen werden, sollte die Pflegefachkraft das Bein des Kindes beugen, da bei gebeugten Beinen die Fußgelenke und Füße weniger steif sind und die Zehen weniger Richtung Fußsohle eingekrallt werden als bei gestreckten Beinen.

13

1

Sich sauber halten und kleiden

13

322

Kapitel 14 Essen und Trinken

14.1

Bedeutung

324

14.2

Beeinflussende Faktoren

324

14.3

Beobachten und Beurteilen

326

14.4

Pflegemaßnahmen

340

Essen und Trinken

14 Essen und Trinken Mechthild Hoehl

14.1 Bedeutung „Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen“, so heißt es in einem alten Sprichwort. In der Tat ist die Aufnahme von Speisen und Flüssigkeiten mehr als die Versorgung mit lebenswichtigen Nährstoffen. Die altersentsprechende, ausgewogene Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr ist eine Grundvoraussetzung für das Wachsen und Gedeihen, die gesunde körperliche Entwicklung und Prävention von Gesundheitsstörungen. Es zeigt sich, dass trotz oder gerade wegen des umfassenden Angebotes von Nahrungsmitteln in Familien eine zunehmende Unsicherheit bezüglich der Ernährung der Kinder besteht. Die Auswahl, Zubereitung und Darbietung der Nahrungsmittel sind nicht mehr als selbstverständliches Grundlagenwissen der Familien anzusehen. Hierbei kommt den Gesundheitsberufen, u. a. der Gesundheitsund Kinderkrankenpflege, eine Schlüsselstellung in der Aufklärung, Anleitung und Beratung von Familien sowie in der Kindergesundheitsförderung in unterschiedlichen Setting-Ansätzen zu: ● Stillberatung im innerklinischen und außerklinischen Beratungsumfeld ● Beratung zur Beikostgestaltung und zum Übergang zur Familienkost ● primärpräventiver Bereich (z. B. Allergieprävention) ● Ernährungsberatung bei kranken Kindern

14

324

Die Begleitung von präventiven Ernährungsschulungen und Programmen in Kindergärten und Grundschulen kann sich verstärkt zum Aufgabenfeld von Pflegefachkräften entwickeln. Bereits jetzt gehört zur Aufgabe der Pflegefachkraft die Durchführung und Begleitung von Allergie-, Diabetes- oder Adipositasschulungen von größeren Kindern. Ernährung ist jedoch nicht nur als quantitative Nährstoffzufuhr zu sehen. Die Nahrungsaufnahme beinhaltet auch soziale Aspekte: man denke an die innige Beziehungspflege von Mutter und Kind beim Stillen und Nähren ihres Säuglings. Besonders für die Eltern von Säuglingen und Kleinkindern ist die Nahrungsaufnahme ihres Kindes nicht nur ein Zeichen für die gesunde Entwicklung des Kindes, sondern auch für eine gelungene ElternKind-Beziehung. Dem Ernähren des Kindes gebührt ein großer Teil der elterlichen Fürsorge. In der Gestaltung sozialer Beziehungen kommt der Interaktion bei der Ernährung (Zubereitung, Nahrungsgabe bzw. gemeinsames Essen) eine wichtige Funktion zu.

Die Ausübung der Lebensaktivität „Essen und Trinken“ wird von jedem Menschen – abhängig von seiner familiären, sozialen und gesundheitlichen Situation – unterschiedlich bewertet. Für den einen bedeutet die Nahrungsaufnahme nur ein „notwendiges Übel“. Ihm bereiten die Auswahl, Zubereitung und Aufnahme der Lebensmittel keine Freude. Andere wählen Lebensmittel bewusst aus und gestalten die Nahrungsaufnahme genussvoll. Manche schränken sich aus weltanschaulichen Gründen in der Auswahl der Nahrungsmittel ein, andere aus gesundheitlichen oder finanziellen Gründen. Für manche Familien ist der Essenstisch der gesellige Treffpunkt und Kommunikationsort, für andere der Ort von ständigen Machtkämpfen und Auseinandersetzungen um Lebensmittelauswahl und Verhaltensregeln bei Tisch. Im Falle einer Gesundheitsstörung kommt es häufig zu einer neuen Situation bei der Ausübung der Lebensaktivität „Essen und Trinken“. Appetit, Verträglichkeit der Nahrungsmittel, Nahrungsempfehlungen oder die Fähigkeit zur eigenständigen Nahrungsaufnahme können verändert sein. Dies kann wiederum die sozialen Beziehungen beeinträchtigen.

Lernaufgabe

M ●

Versuchen Sie eine Woche lang, eine therapeutische Diät einzuhalten (z. B. Verzicht auf Gluten, Milchzucker oder Milcheiweiß). Was verändert sich in Ihrem Leben hierdurch?

14.2 Beeinflussende Faktoren Die Lebensaktivität „Essen und Trinken“ ist ein über den reinen Versorgungs- und Ernährungszustand hinausreichendes Thema, das vielen Einflüssen unterworfen ist.

14.2.1 Körperliche Faktoren Die Nahrungsaufnahme ist abhängig vom Entwicklungs- und Gesundheitszustand eines Kindes (▶ Tab. 14.1). Gesundheitliche Faktoren verändern Appetit und Essverhalten: ● Frühgeborene haben eine Trink- und Saugschwäche. ● Akute Infektionen v. a. des MagenDarm-Traktes gehen mit Beeinträchtigungen des Appetits einher.



















Bei Unverträglichkeitsreaktionen führen die entsprechenden Nahrungsmittel nach der Mahlzeit zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen in Form von Blähungen, Veränderungen der Verdauung, Gedeihstörungen, Hautirritationen oder anderen allergischen Symptomen. Häufig werden sie deshalb intuitiv gemieden. Manche chronischen Erkrankungen, wie Diabetes, Phenylketonurie (PKU), Zöliakie, benötigen eine lebenslange Diät. Störungen der Mundmotorik oder Fehlbildungen, wie die Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte können die Art der Nahrungsaufnahme beeinträchtigen. Onkologische Erkrankungen können den Appetit und die Nährstoffverwertung einschränken. Schmerzen oder Läsionen im MundRachen-Bereich erschweren die Nahrungsaufnahme. Harte, saure, heiße oder bröselnde Nahrungsmittel werden gemieden. Viele Kinder verändern ihr Essverhalten auch beim Zahnen. Entzündliche Reaktionen des MagenDarm-Traktes führen zu Schmerzen nach der Nahrungsaufnahme. Beeinträchtigungen des motorischen Systems erschweren die altersentsprechende Selbstständigkeit bei der Nahrungsaufnahme. Die Ausprägung von motorischer Aktivität und Anspannung verändert den Grundumsatz: Ein wenig aktives Kind benötigt ggf. weniger Kalorien, ein aktives oder stark angespanntes Kind entsprechend mehr.

Merke

H ●

Der Flüssigkeitsbedarf ist bei körperlicher Aktivität sowie starkem Schwitzen und verstärktem Verbrauch bei verschiedenen Gesundheitsstörungen des Atemsystems oder des Stoffwechsels erhöht.

Das sensorische System beeinflusst die Ernährung, v. a. der Geschmacks- und Geruchssinn. Kommt es bei einem der beiden Sinne zu einer Irritation oder einem Ausfall, ist ein genussvolles Erleben dieser Lebensaktivität nicht mehr möglich, Mangel- oder Fehlernährung kann die Folge sein. Therapeutische Maßnahmen in Zusammenhang mit Gesundheitsstörungen haben einen direkten Einfluss auf das Essverhalten, zum einen durch veränderte Ernährungsempfehlungen (Beschränkung

14.2 Beeinflussende Faktoren

Tab. 14.1 Entwicklung der Nahrungsaufnahme. Lebensalter

Fähigkeit zur Ausübung der Lebensaktivität „Essen und Trinken“

vor der Geburt

Die Nährstoffversorgung des Kindes wird über die Plazenta und die Nabelschnur gewährleistet.

Frühgeborenes

Bis zur 32. SSW ist die Koordination von Saugen, Schlucken und Atmung noch nicht gegeben, danach kann bei stabilem Allgemeinzustand der orale Nahrungsaufbau begonnen werden, s. Kap. Pflege von Frühgeborenen (S. 510). Der Magen-Darm-Trakt ist noch unausgereift und sehr empfindlich.

Neugeborenes

Das Kind meldet mit Schreien, wenn es Hunger hat. Der Saug- und Schluckreflex ist angeboren. Das Kind kann an der Brust oder aus der Milchflasche trinken. Da sich die Trinktechnik an der Brust von der aus den meisten Trinkflaschen unterscheidet, sollte bei Stillwunsch der Mutter die Art der alternativen Milchgabe gut ausgewählt werden sowie der Verwendung von Beruhigungssaugern in den ersten Lebenswochen verzichtet werden, um einer sog. „Saugverwirrung“ vorzubeugen.

ab ca. 5–7 Monate

Das Kind signalisiert Interesse für andere Nahrungsmittel, Speichelfluss zeigt seine Verdauungsbereitschaft für weitere Lebensmittel, sein Verdauungstrakt ist für die Aufnahme der ersten Breimahlzeiten bereit, die Mundmotorik kann die Aufnahme von Löffelmahlzeiten bewältigen.

ab ca. 7–12 Monate

Das Kind möchte „selbst“ essen, es isst vorzugsweise mit den Händen (Fingerfood), es kann langsam zur Familienkost übergehen, mit den ersten Zähnen ist es jetzt in der Lage, zu beißen und zu kauen.

ab ca. 12 Monate

Das Kind ist in der Lage, unter Beobachtung und leichter Hilfestellung Besteck zu benutzen. Die Saugflasche kann gegen eine Trinklerntasse ausgetauscht werden.

ab ca. 18 Monate

Das Kind kann selbstständig aus offenen Bechern trinken, es entwickelt deutliche Geschmacksvorlieben.

ab ca. 2 Jahre

Das Kind kann seine Nahrungsaufnahme von entsprechend vorbereiteten Nahrungsmitteln weitestgehend selbstständig durchführen. Das Kind bevorzugt vertraute Geschmacksrichtungen, je nach Anleitung erlernt es einfache Verhaltensregeln bei Tisch.

ab ca. 5 Jahre

Das Kind kann Essen zur Mahlzeit selbstständig zubereiten (Brot schmieren) und beim Kochen helfen (Gemüse schneiden und putzen). Es lernt, mit Messer und Gabel zu essen. Es kann Zusammenhänge zwischen Ernährung und Gesundheit erlernen.

ab ca. 8 Jahre

Das Kind kann nach Anleitung einfache Gerichte am Herd selbstständig kochen. Das Essverhalten orientiert sich an den Bezugspersonen.

ab der Pubertät

Der Jugendliche kann ohne Anwesenheit eines Erwachsenen kochen oder backen, wenn er hierzu motiviert ist. Die Ernährungsgewohnheiten und das Essverhalten orientieren sich zunehmend an der Peer-Group und Werbung, werden aber weiterhin geprägt durch die Ernährungsgewohnheiten der Herkunftsfamilie. Problematische Entwicklungen bzgl. des Ernährungs- und Essverhaltens sowie der Gebrauch von Suchtmitteln kommen in dieser Altersgruppe gehäuft vor.

Erwachsenenalter

Ein Erwachsener regelt sein Ernährungsverhalten je nach Vorlieben, Prägung, familiärem, beruflichem und sozialem Umfeld eigenständig. Mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die eine Veränderung der Ernährung notwendig machen, kann er nach Anleitung i. d. R. gut umgehen.

Seniorenalter

Senioren haben häufig durch zunehmende gesundheitliche Beeinträchtigungen Einschränkungen bei der Ernährung bzw. die Notwendigkeit, Ihre gewohnte Ernährung umzustellen. Appetit und Durstgefühl nehmen im Alter oft ab.

der Flüssigkeitszufuhr bei herzkranken Kindern, verstärkte Fettzufuhr bei Mukoviszidose), zum anderen durch verändertes Essverhalten aufgrund von Medikamentennebenwirkungen (Geschmacksveränderungen, vermindertes bzw. verstärktes Hungergefühl). Auch das vegetative Nervensystem übt einen entscheidenden Einfluss auf Ernährungsverhalten und Verdauung aus. Stoffwechsel, Glykolyse, Drüsensekretion und Verdauungstätigkeit werden vom sympathischen und parasympathischen System gesteuert. Eine Störung des Vegetativums drückt sich daher nicht selten in einer Veränderung der Essgewohnheiten und Verdauungsfunktion aus.

14.2.2 Psychische Faktoren Die genussvolle Aufnahme einer ausgewogenen Nahrungsmittelauswahl gelingt am leichtesten in einem psychisch

ausgeglichenen Umfeld. Trauer, Depression, Vereinsamung, Ärger, familiäre und schulische Probleme oder andere Stresssituationen führen häufig zur Beeinträchtigung des Appetits mit Nahrungsverweigerung, manchmal aber auch zur unkontrollierten Aufnahme hochkalorischer, ernährungsphysiologisch unausgewogener Nahrungsmittel.

Merke

H ●

Teufelskreis psychische Beeinträchtigung durch Essstörung: Psychische Probleme führen zur Mangel- oder Fehlernährung, die wiederum die Selbstregulation der Probleme erschwert oder zu neuen Schwierigkeiten führen kann, etwa bei Hänseleien aufgrund verminderter körperlicher Leistungsfähigkeit und Übergewicht.

Sprichwörter, wie „Liebe geht durch den Magen“, „Ich hatte einen Kloß im Hals“, „Mir ist eine Laus über die Leber gelaufen“ und „Das ist mir auf den Magen geschlagen“, zeigen die auch bei medizinischen Laien bekannten Phänomene der Beeinflussung von Psyche und Essverhalten.

14.2.3 Soziokulturelle Faktoren Die Gestaltung der Lebensaktivität „Essen und Trinken“ ist beeinflusst von der Herkunft der Familie, ihren weltanschaulichen oder religiösen Wurzeln, die ggf. auf die Nahrungsauswahl Einfluss nehmen (z. B. der Verzicht auf Fleisch im Allgemeinen oder Schweinefleisch im Besonderen in manchen Religionen) oder die Nahrungsverfügbarkeit im Heimatland einer Familie (asiatische Familien bevorzugen auch in Mitteleuropa Reis als Beilage). Der Geschmackssinn eines Kindes wird bereits

14

5

Essen und Trinken in Schwangerschaft und Stillzeit durch die Nahrungsvorlieben der Mutter geprägt, frühkindliche Geschmackserlebnisse prägen auch spätere Nahrungsvorlieben. Auch der Bildungsgrad oder die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht beeinflussen das Ernährungsverhalten sowohl bei der Nahrungsauswahl wie auch bei der Gestaltung der Mahlzeiten. So wurde in diversen Studien, wie KIGGS (Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland), EsKiMo (Ernährungsstudie als KIGGS-Modul) und KiESEL (Kinder-Ernährungsstudie zur Erfassung des Lebensmittelverzehrs) das Ernährungsverhalten von Kindern und Jugendlichen erforscht und z. B. eine Häufung von Fehlernährung in benachteiligten Familien festgestellt. Die Verzehrmengen von magerem Fleisch und Fisch sind niedrig. Lebensmittel mit einem günstigen Preis-MengenVerhältnis, wie Brot, Teigwaren oder fetthaltige Lebensmittel, werden in größeren Mengen verzehrt. Der Verzehr von Obst und Gemüse sinkt bei geringerem Einkommen. Je länger Familien in Armut leben, desto stärker sind diese Auffälligkeiten. Obwohl die Selbstzubereitung von einfachen Gerichten sowohl ernährungsphysiologisch als auch ökonomisch vorteilhafter wäre, greifen benachteiligte Familien häufiger zu Fertiggerichten und kochen weniger gesund. Eine ausgewogene Ernährung mit frischen, abwechslungsreichen Nahrungsmitteln nach Vorgaben der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) ist in Familien, die finanziell am Existenzminimum leben, in unserer Gesellschaft kaum zu leisten. Die Auswahl von Nahrungsmitteln, die sich weniger an Genuss und Vollwertigkeit, sondern rein am Kaloriengehalt orientiert, ist eine weitere Fehlentwicklung. Die körperliche Aktivität reicht häufig nicht mehr aus, um aufgenommene Nahrungsenergie zu verbrauchen. Dies führt langfristig zu Übergewicht und die Kalorienaufnahme muss tagtäglich kritisch betrachtet werden. Obwohl diverse LightProdukte und Zuckeraustauschstoffe selten gesünder sind als die vollwertigen Varianten, besetzen sie immer größere Marktanteile der Ernährungsindustrie.

schaft die Nahrungsversorgung durch industrielle Verarbeitung von Lebensmitteln geprägt. Wo noch vor 50 Jahren große Teile der Bevölkerung eigenes Gemüse anbauten oder Kleinbauern, Dorfläden und -bäcker die Menschen wohnortnah versorgten und die Gerichte in den Familien frisch zubereitet wurden, werden heute viele Nahrungsmittel überwiegend in ökologisch fragwürdiger industrialisierter Herstellung gewonnen, über Großmärkte als Mengenware vertrieben und zunehmend in Großküchen verarbeitet. So geht der direkte Bezug zum Nahrungsmittel an sich zunehmend verloren, was zu einem weniger bewussten Ernährungsverhalten führen kann. Die Lebensverhältnisse in den westlichen Industrienationen institutionalisieren die Mahlzeitenaufnahmen zunehmend in die Arbeitswelt der Erwachsenen und Betreuungssituationen der Kinder. Diese werden immer häufiger mit Kantinenessen in Kindertagesstätten und Schulmensen verpflegt, was nur im Idealfall einer optimalen und frischen Ernährungszusammensetzung, entspannten Mahlzeitengestaltung und genussvollen, gesunden Nahrungsaufnahme entspricht. Auch die Gestaltung der Mahlzeiten in Krankenhäusern ist meist nicht kindgerecht. Hier verweigern Kinder oft die im Tablettsystem angebotenen Speisen, um sich anschließend von den Eltern mit Wunschkost versorgen zu lassen, die je nach Ernährungsverhalten der Familie nicht immer der Gesundung zuträglich ist. Besser wäre es, die mobilen und infektionsfreien Patienten im Krankenhaus an einem liebevoll gestalteten Tisch von einem Buffet individuell und ausgewogen zu versorgen, um so den Appetit zu fördern und ein gesundes Essverhalten zu unterstützen.

14.2.4 Umgebungsabhängige Faktoren Grundsätzlich würden Wohnort, Klima und Niederschlagsmenge, Jahreszeit und Bevölkerungsdichte über das lokale Nahrungsangebot entscheiden. Heute entscheidet jedoch eher die Anbindung an Verteilungsstrukturen der Nahrungsmittelindustrie über den Zugang zu Nahrungsmitteln. Heute ist in unserer Gesell-

326

14.3.1 Physiologische Ernährung Eine physiologische Ernährung umfasst die Beachtung des Energie- und Flüssigkeitsbedarfs, Ernährungszustands, Wachstums, Ernährungsverhaltens und der Entwicklung.

Energie- und Flüssigkeitsbedarf Der Energiebedarf ist abhängig von Größe, Gewicht, Alter und körperlicher Aktivität. Nach der Pubertät gibt es außerdem Unterschiede im Energiebedarf von Frauen und Männern. Der Energiebedarf berechnet sich aus einem konstanten Grundumsatz in körperlicher Ruhe und einem Mehrbedarf bei körperlicher Aktivität. Der Mehrbedarf wird Leistungsumsatz genannt.

H ●

Merke

Der Grundumsatz beträgt bei Erwachsenen 1 Kilokalorie (kcal) = 4,2 Kilojoule (kj) pro kg Körpergewicht pro Stunde.

Der durchschnittliche Energiebedarf von Kindern wird in ▶ Tab. 14.2 angegeben. Den Energiebedarf liefern Kohlenhydrate, Eiweiße und Fette (▶ Tab. 14.3). Der Körper eines Erwachsenen besteht zu etwa 50–60 % aus Wasser, der eines Säuglings sogar zu 70 %. Daher ist eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr sehr wichtig. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfiehlt als Richtwert für die tägliche Wasserzufuhr bei gesunden Kindern und Erwachsenen die in ▶ Tab. 14.4 aufgeführten Mengen. Bei Fieber, Erbrechen, Durchfall, starkem Schwitzen, trockener kalter Luft sowie beim Ver-

Tab. 14.2 Richtwerte für die Energiezufuhr für Säuglinge sowie für Kinder und Jugendliche mit PAL 1,4 (gerundet; mod. nach DGE 2015). Alter

14

14.3 Beobachten und Beurteilen

Energie pro Tag in kcal (kj) männlich

weiblich

0 – 4 Monate

550 (2300)

500 (2100)

4– 12 Monate

700 (2900)

600 (2500)

1– 4 Jahre

1200 (5000)

1100 (4600)

4– 7 Jahre

1400 (5900)

1300 (5500)

7–10 Jahre

1700 (7100)

1500 (6300)

10–13 Jahre

1900 (8000)

1700 (7100)

13–15 Jahre

2300 (9700)

1900 (8000)

15–19 Jahre

2600 (10 900)

2000 (8400)

14.3 Beobachten und Beurteilen

Tab. 14.3 Energielieferanten im Überblick. Kohlenhydrate

Eiweiße

Fette

Energiegehalt

1 g liefert 4,1 kcal (17,2 kj)

1 g liefert 4,1 kcal (17,2 kj)

1 g liefert 9,3 kcal (38,9 kj)

täglicher Bedarf

55–60 % der Gesamtkalorien

10–15 % der Gesamtkalorien

25–30 % der Gesamtkalorien

Quellen

Kartoffeln, Stärke, Getreide, Nudeln, Brot, Zucker, Gemüse, Obst

Fleisch, Fisch, Milch und Milchprodukte, Eier, Hülsenfrüchte

Sahne, Butter, Pflanzenöle

Besonderheiten

Kohlenhydrate in Form von Vollkorn, Obst, Gemüse und Kartoffeln sind zu bevorzugen; sie enthalten Ballaststoffe, Vitamine und Mineralstoffe

jeweils zur Hälfte aus tierischer und pflanzlicher Herkunft empfohlen, erhöhter Bedarf in der Wachstumsphase, Schwangerschaft und Stillzeit

mehrfach ungesättigte pflanzliche Fette bevorzugen

Tab. 14.4 Richtwerte für die Zufuhr von Wassera (DGE 2015). Oxidationswasserd Gesamtwasserzufuhre

Wasserzufuhr durch Getränke und feste Nahrung

ml/Tag

ml/Tag

ml/kg u. Tag



60

680

130

500

100

1000

110

820

350

130

1300

95

940

480

180

1600

75

7 bis unter 10 Jahre

970

600

230

1800

60

10 bis unter 13 Jahre

1170

710

270

2150

50

13 bis unter 15 Jahre

1330

810

310

2450

40

Alter

Wasserzufuhr durch Getränkeb

feste Nahrungc

ml/Tag

ml/Tag

0 bis unter 4 Monatef

620

4 bis unter 12 Monate

400

1 bis unter 4 Jahre 4 bis unter 7 Jahre

Säuglinge

Kinder

Jugendliche und Erwachsene 15 bis unter 19 Jahre

1530

920

350

2800

40

19 bis unter 25 Jahre

1470

890

340

2700

35

25 bis unter 51 Jahre

1410

860

330

2600

35

51 bis unter 65 Jahre

1230

740

280

2250

30

65 Jahre und älter

1310

680

260

2250

30

1470

890

340

2700f

35

1710

1000

390

3100g

45

Schwangere Stillende a

Bei bedarfsgerechter Energiezufuhr und durchschnittlichen Lebensbedingungen. Die Werte wurden absichtlich wenig gerundet, um die Nachvollziehbarkeit ihrer Berechnungen zu gewährleisten. b Wasserzufuhr durch Getränke = Gesamtwasserzufuhr – Oxidationswasser – Wasserzufuhr durch feste Nahrung c Wasser in fester Nahrung etwa 78,9 ml/MJ (≈ 0,33 ml/kcal) d etwa 29,9 ml/MJ (≈ 0,125 ml/kcal) e Gestillte Säuglinge etwa 360 ml/MJ (≈ 1,5 ml/kcal), Kleinkinder etwa 290 ml/MJ (≈ 1,2 ml/kcal), Schulkinder, junge Erwachsene etwa 250 ml/MJ (≈ 1,0 ml/kcal), ältere Erwachsene etwa 270 ml/MJ (≈ 1,1 ml/kcal) einschließlich Oxidationswasser (etwa 29,9 ml/MJ bzw. 0,125 ml/kcal) f Hierbei handelt es sich um einen Schätzwert. g gerundete Werte

14

7

Essen und Trinken zehr hoher Kochsalz- oder Proteinmengen besteht erhöhter Flüssigkeitsbedarf.

Ernährungszustand Definition

L ●

Der Ernährungszustand eines Menschen ist das Ergebnis des Ernährungsverhaltens im Verhältnis zum Nährstoffverbrauch. Er wird beurteilt nach Körpergewicht, Körpergröße, Alter und Körperbau. Ein optimaler Ernährungszustand wird als Eutrophie bezeichnet (▶ Abb. 14.1).

Der Ernährungszustand ist nicht gleichzusetzen mit dem Allgemeinzustand. Auch ein eutrophes Kind kann in einem schlechten Allgemeinzustand sein, das bedeutet in einem schlechten aktuellen Gesundheitszustand. Eine indirekte Beurteilung des Ernährungszustandes gelingt über den Zustand der Haut, Haare, Nägel, Schleimhäute und Zähne.

tung einnehmen. Dann kann das verschiebbare Fußbrett bis an die Fußsohlen geschoben und die Körperlänge abgelesen werden.





Körpergewicht Die Ermittlung des Körpergewichtes erfolgt bei Aufnahme des Patienten, vor invasiven Eingriffen, zur Bestimmung der Dosierung von Medikamenten sowie in regelmäßigen Abständen zur Verlaufskontrolle der Gewichtsentwicklung. Tägliche Gewichtskontrollen erfolgen i. d. R. bei Säuglingen in den ersten Lebenstagen, bei Kindern mit einer Flüssigkeitsbilanz, bei parenteraler Ernährung, Gastroenteritis, akuten Nieren- und Herzerkrankungen, Ödemen sowie bei der Einnahme von diuretischen Medikamenten.

Merke

H ●

Zur aussagekräftigen Beurteilung der Gewichtsentwicklung ist es notwendig, dass die Gewichtsermittlung standardisiert ist, d. h. immer unter den gleichen Bedingungen gewogen wird (geeichte Waage, gleiche Tageszeit, gleicher Bekleidungszustand, nüchtern, mit möglichst entleerter Blase). Abweichende Bedingungen müssen dokumentiert werden.

Datenerhebung Körperlänge Die Ermittlung der Körperlänge erfolgt bei der Krankenhausaufnahme, vor speziellen Untersuchungen und bei den Vorsorgeuntersuchungen. Die Körpergröße wird bei allen Kindern ohne Fußbekleidung in gerader Köperhaltung und mit durchgestreckten Beinen gemessen. Größere Kinder und Erwachsene werden mithilfe einer Messlatte gemessen (▶ Abb. 14.2). Können die Kinder nicht stehen, so wird die Köperlänge im Liegen mit einem Maßband ermittelt. Säuglinge und Kleinkinder werden mithilfe einer Messmulde gemessen. Diese wird mit einer Stoffwindel ausgelegt und das Kind so hineingelegt, dass der Kopf am oberen Ende der Messmulde sanft gehalten werden kann. Die Beugehaltung des Säuglings wird mit behutsamem Druck auf die Beine aufgelöst, bis die Beine eine parallele Hal-



Folgende Waagen stehen zur Verfügung: Stehwaage: Kind steht ohne Schuhe darauf



Sitzwaage: Kind sitzt darauf (▶ Abb. 14.3) Bettwaage: fahrbares Bettuntergestell mit integrierter Waage Säuglingswaage: als Neigungswaage, Schiebegewichtswaage oder Digitalwaage (▶ Abb. 14.4)

Die Herstellerinformationen der Waagen sind zu beachten. Die Waage muss sicher stehen und geeicht sein. Vor dem Wiegen wird die Waage mit einem Tuch bedeckt. Danach wird die Waage austariert (oder die Waage wird vorher austariert und das Gewicht des Tuchs von dem Gesamtgewicht abgezogen). Neigungswaagen sind austariert, wenn der Zeiger auf null steht. Beim Wiegen zeigt der Zeiger dann auf das ermittelte Gewicht. Bei Schiebegewichtswaagen müssen die Wiegezungen eine Waagerechte bilden. Nach dem Austarieren wird das letzte ermittelte bzw. das vermutete Körpergewicht voreingestellt (um den Wiegevorgang zu beschleunigen) und arretiert. Wenn das Kind dann auf der Waage ist, kann anhand der Wiegezungen erkannt werden, ob das Gewicht sich verändert hat. Die Schiebegewichte werden nun so weit bewegt, bis die Zungen wieder waagerecht sind. Dann kann das Gewicht abgelesen werden. Bei Digitalwaagen genügt beim Austarieren meist ein einfacher Druck auf den Startknopf. Erst wenn die Anzeige auf „0“ springt, wird das Kind auf die Waage gegeben. Wenn die Anzeige sich bei einer Zahl einpendelt, kann der Wert abgelesen werden. Säuglinge werden unbekleidet auf die Säuglingswaage gelegt. Ältere Kinder werden mit möglichst wenig Bekleidung auf die ausgewählte Waage gestellt oder gesetzt. Bei ängstlichen Kindern oder Kindern, die nicht sitzen oder stehen können, kann das Kind gemeinsam mit der Bezugsperson oder einer Pflegefachkraft gewogen werden. Anschließend wird diese Person einzeln gewogen und das Gewicht vom ersten ermittelten Wert subtrahiert. So errechnet sich das Gewicht des Kindes.

14

Abb. 14.1 Eutrophes Kind. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

328

Abb. 14.2 Ermittlung der Körperlänge. Mit einer Messlatte. (Foto: K. Oborny, Thieme)

Abb. 14.3 Sitzwaage. Mit digitaler Anzeige. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

14.3 Beobachten und Beurteilen

cm

cm 97 90 75 50 25 10 3

190 180 170

Körpergröße

160

Abb. 14.4 Säuglingswaage. Sturzprophylaxe beim Wiegen des Säuglings. Das Gewicht der Windel wird anschließend vom ermittelten Gewicht abgezogen. (Foto: K. Oborny, Thieme)

190 180 170 160

150

150

140

140

130

130

120

120

110

kg

100

100

90

90 97 90 75 50 25 10 3

80 70 Alter (Jahre)

66/12 6

56/12 5 46/12

4

36/12

3 29/12

Größe (cm) 122 121 120 119 118 117 116 115 114 113 112 111 110 109 108 107 106 105 104 103 102 101 100 99 98 97 96 95 94 93

Plus/ Minus 2σ

10 11

11 11 9

8

8

8

Gewicht (kg) 23,1 21,9 21,8 21,7 21,4 20,9 20,8 20,1 20,1 19,6 19,2 18,9 18,4 18,0 17,9 17,8 17,4 17,4 16,8 16,7 15,9 15,2 15,1 15,1 14,9 14,8 14,6 14,5 14,1 13,9

Plus/ Minus 2σ

60 50

60 50

kg

40

30

30

20 5,2

0 5,0

0

2

4

6

8

10

12

14

16

18

10 20

0

Jahre

4,8 4,2

20

Körpergewicht

10

Abb. 14.6 Perzentile. Beurteilung des Entwicklungsverlaufs.

3,8 3,4

Dokumentation: Das ermittelte Gewicht und ggf. Besonderheiten (abweichende Bedingungen) werden im Dokumentationssystem festgehalten.

2,9

Einschätzung

● H

Säuglinge niemals unbeaufsichtigt auf der Waage lassen. Zur Sturzprävention immer Blickkontakt halten und mit einer Hand unmittelbar über dem Kind bleiben (▶ Abb. 14.4).

Merke

70

5,2

Abb. 14.5 Somatogramm. Visualisierung des Entwicklungszustandes eines Kindes.

Merke

80

H ●

Zu- und Ableitungen werden zur korrekten Gewichtsermittlung ohne Zugwirkung kurz angehoben.

Zur Interpretation der erhobenen Werte von Größe und Gewicht dienen verschiedene Hilfsmittel. ▶ Somatogramm. Es dient zur Visualisierung des Entwicklungszustandes (▶ Abb. 14.5). Von links nach rechts werden Lebensalter, Körperlänge und Körpergewicht markiert und mit Linien verbunden. Eine gerade waagerechte Linie wäre ein selten zu beobachtendes Optimum. Die jeweils rechts neben den Spalten für Körperlänge und Gewicht angegebenen Zahlen entsprechen der tolerierten Abweichung (doppelte Standard-Abweichungen 2 σ). Eine starke Abweichung zeigt, ob das Längenwachstum oder die Gewichtsentwicklung verlangsamt oder beschleunigt sind und wie diese im Verhältnis zueinander stehen.

▶ Perzentilenkurve. Sie ermöglicht eine Beurteilung des Entwicklungsverlaufs (▶ Abb. 14.6). Es stehen unterschiedliche Perzentilenkurven (z. B. für Körperlänge, Gewicht, Verhältnis Größe zu Gewicht und Kopfumfang) zur Verfügung. Bei gesunden Kindern werden bei den Vorsorgeuntersuchungen in regelmäßigen Abständen die ermittelten Werte in einer fortlaufenden Grafik eingetragen, um Abweichungen frühzeitig zu erfassen. Die Grafik zeigt nicht nur die aktuellen Daten, sondern auch den Verlauf und ist daher in der Lage, eine Tendenz oder einen Bruch in der Entwicklung zu erkennen. Besondere Abweichungen des Verlaufes lassen aufmerken: Lag das Kind bislang an der 10. Perzentile, bei der nächsten Beobachtung bei der 90., so wird für diese ungewöhnliche Entwicklung die Ursache gesucht. Im Krankenhaus werden die bei Aufnahme und Routinekontrollen erhobenen Werte nach klinikinternen Richtlinien ebenfalls grafisch dargestellt. In der Perzentilenkurve sind im Vergleich Messdaten von 3, 10, 25, 50, 74, 90 und 97 % der vergleichbaren Altersgruppe eingetragen. Ein Messwert an der 75. Perzentile bedeutet, dass 75 % der Altergruppe geringere Messwerte und 25 % höhere Mess-

14

9

Essen und Trinken werte haben. Messdaten innerhalb der 3.– 97. Perzentile gelten als unbedenklich.

H ●

Merke

Bei der Interpretation der Ergebnisse sind folgende Dinge zu berücksichtigen: ● Es gibt unterschiedliche Perzentilen für die Gewichtsentwicklung von gestillten und nicht gestillten Kindern. ● Es gibt unterschiedliche Wachstumskurven mit Referenzwerten unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen und ethnischer Besonderheiten. ● Die elterliche Statur fließt bei der Interpretation der Ergebnisse mit ein.

▶ Waist-to-Height-Ratio (WtHR). Studien zufolge ist für die Bewertung von gesundheitlichen Risiken die WtHR oder das Verhältnis zwischen Körpergröße und dem Bauchumfang besser geeignet, da hier genauere Rückschlüsse auf den schädlichen Bauchfettanteil gezogen werden können. Eine Übertragung auf Kinder gibt es beim WtHR bislang noch nicht.

▶ Body-Mass-Index (BMI). Der BodyMass-Index ist eine Maßzahl für die Bewertung der Körpermasse eines Menschen.

Definition BMI ¼

men. Macht ein Kind den körperlichen Entwicklungssprung zu Beginn der Pubertät früher oder später durch als der Durchschnitt, so kann trotz Normalgewicht auch ein entsprechend der Altersgruppe zu hoher oder zu niedriger BMI errechnet werden.

L ●

Körpergewicht in kg ðKörperlänge in mÞ2

Auch bei Kindern kann der BMI unter Vorbehalt als Maß für die gesunde Entwicklung herangezogen werden. Der BMI bei Kindern wird nach derselben Formel wie der BMI von Erwachsenen berechnet, jedoch wird bei Kindern unter 25 Monaten die Länge im Liegen anstelle der Größe im Stehen herangezogen. Die WHO gibt BMITabellen für Jungen und Mädchen als Perzentilenkurven heraus. Der BMI gibt lediglich einen groben Richtwert an und ist umstritten, da er die Statur eines Menschen und die individuell verschiedene Zusammensetzung der Körpermasse aus Fett- und Muskelgewebe nicht berücksichtigt. Bei Kindern kann es entwicklungsbedingt zu Fehleinschätzungen kom-

▶ Körperoberfläche. Die Körperoberfläche (KOF) ist die äußere Oberfläche des mit Haut bedeckten Körpers. Ihre Berechnung erfolgt mithilfe eines Nomogramms oder einer aus empirischen Daten entwickelten Formel: rffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffi Körpergröße in cm  Gewicht in kg KOF ¼ 3600 Die Formel dient dem Arzt zur Berechnung von Kalorien und Flüssigkeitsbedarf beispielsweise nach Verbrennungen oder zur korrekten Dosierung von Medikamenten.

Wachstum und Entwicklung Die Verläufe der normalen Gewichts- und Größenentwicklung sind in den Perzentilen (▶ Abb. 14.6) ersichtlich. Eckdaten einer normalen Größen- und Gewichtsentwicklung bei reifgeborenen Kindern zeigt ▶ Tab. 14.5. Der Säugling wächst im ersten Lebensjahr monatlich etwa 2,5 cm, im nächsten Lebensjahr etwa halb so schnell. Die Längenentwicklung verläuft in Schüben. Es gibt in den Altersklassen große Spannbreiten. Bei der Beurteilung ist auch die Statur der Eltern zu beachten.

Merke Prospektive Endgrößenberechnung

Mädchen: (Größe des Vaters + Größe der Mutter – 13) : 2 Jungen: (Größe des Vaters + Größe der Mutter + 13) : 2

Gewichtsentwicklung In den ersten 4 Lebenstagen verlieren Neugeborene durch natürlichen Wasserverlust und Mekoniumabgang bis zu 10 % ihres Geburtsgewichtes, s. Kap. Das gesunde Neugeborene und seine Eltern (S. 475). Am 8.– 14. Lebenstag wird das Geburtsgewicht wieder erreicht. Im ersten Lebenshalbjahr sollte die durchschnittliche tägliche Gewichtszunahme mindestens 20 g betragen. Da das Gewicht natürlichen Schwankungen unterliegt, ist die Betrachtung in größeren Zeiträumen sinnvoller: Im wöchentlichen Durchschnitt sollte die Zunahme 100 – 200 g, im zweiten Halbjahr etwa 100 g betragen (Deutsche Gesellschaft für Ernährung). Die Gewichtsentwicklung voll gestillter Kindern unterscheidet sich von der nicht gestillter Kinder. Sie nehmen in den ersten Lebensmonaten rascher zu, danach verlangsamt sich die Gewichtsentwicklung deutlich, was keinen Rückschluss auf die Gesamtentwicklung oder gar eine Mangelversorgung zulässt.

Merke

330

H ●

Im Alter von 5 Monaten hat sich das Geburtsgewicht verdoppelt, bis zum 1. Geburtstag verdreifacht. Gestillte Kinder nehmen in den ersten Monaten rascher zu, was sich durch eine deutliche Verlangsamung der Gewichtsentwicklung etwa nach dem 4. Lebensmonat wieder ausgleicht.

Tab. 14.5 Normale Größen- und Gewichtsentwicklung.

14

H ●

Alter

Körpergröße

Körpergewicht

Neugeborenes

ca. 50 cm

3 – 4 kg

4.– 5. Monat

ca. 60 cm

Geburtsgewicht verdoppelt

11 – 12 Monate

ca. 75 cm (Geburtsgröße + 50 %)

Geburtsgewicht verdreifacht

2 Jahre

die Körpergröße erreicht die Hälfte der zu erwartenden Endgröße

12 – 14 kg

4 Jahre

Geburtsgröße verdoppelt

15 – 17,5 kg

6 Jahre

ca. 120 cm

Geburtsgewicht versechsfacht

10 Jahre

ca. 140 cm

Geburtsgewicht verzehnfacht

14.3 Beobachten und Beurteilen

Ernährungsverhalten Das Ernährungsverhalten gibt Aufschluss über die physische und psychische Befindlichkeit eines Menschen, seiner familiären und gesellschaftlichen Prägung sowie seiner Einstellung zur eigenen Gesundheit und seinem Körperbild. In erster Linie wird das Ernährungsverhalten durch Hunger- und Durstgefühl und den Appetit gesteuert.

Definition

L ●

Hunger ist das physiologische Bedürfnis nach Nahrung, um den Energiebedarf eines Menschen sicherzustellen. Appetit ist unabhängig vom Hungergefühl die „Lust am Essen“. Durst ist das physiologische Verlangen nach Flüssigkeitsaufnahme, um den Wasserhaushalt des Menschen zu regulieren.

Hunger- und Durstgefühl sind abhängig vom Stoffwechsel des Menschen, vom Grundumsatz und vom Verbrauch. Der Appetit wird dagegen stärker durch sensorische Reize der vorhandenen Nahrungsmittel (Geruch und Aussehen der Nahrung) sowie der psychischen Befindlichkeit reguliert. Um sich ausgewogen zu ernähren, braucht es darüber hinaus ein (alters-) entsprechendes, am persönlichen Bedarf angepasstes Lebensmittelangebot. Häufigkeit, Menge und Zeitpunkt der Mahlzeiten, Rituale, Kultur, Tischsitten und Essverhalten bestimmen das Ernährungsverhalten. Dies wird in heutiger Zeit zunehmend von jedem Einzelnen, jeder Familie selbst bestimmt. Die in den Industrieländern ständige Verfügbarkeit von Nahrungsangeboten zu jeder Tageszeit erschwert bisweilen ein ausgewogenes, ritualisiertes Essverhalten (▶ Abb. 14.7). So muss die Familie mit einer ausreichenden Motivation und Kenntnissen über aus-

gewogene Ernährung die Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme regulieren. Zur Einschätzung des Ernährungsverhaltens kann ein Ernährungsprotokoll dienen, in dem Menge, Zusammensetzung der Nahrung bzw. Flüssigkeit erfasst werden (was, wie viel isst/trinkt das Kind, welche Vorlieben oder Abneigungen hat es), die Anzahl und Zeiten der Mahlzeiten sowie Gewohnheiten bei der Nahrungsaufnahme und das subjektiv geäußerte Durst- und Hungergefühl sowie der Appetit.

14.3.2 Abweichungen Abweichungen der Größenentwicklung Die Körpergröße unterliegt genetischen, umwelt-, entwicklungs- und ernährungsabhängigen Einflussfaktoren. Die „normale“ Körpergröße ist daher großen Schwankungen unterworfen. ▶ Minderwuchs. Zu klein ist ein Kind, dessen Wachstumskurve unterhalb der 3. Perzentile verläuft. Primäre Ursachen für Kleinwuchs sind intrauterine Mangelversorgung, auch ehemalige Früh- oder Mangelgeburten, Skelettdysplasien, Stoffwechselstörungen, Chromosomenanomalien, Kleinwuchssyndrome; sekundär kommt es durch Mangelernährung, Malabsorptionssyndrome, chronische Organerkrankungen, Hormonstörungen (z. B. Cushing-Syndrom, Hypothyreose, Wachstumshormonmangel), als Therapienebenwirkung (z. B. Zytostase) oder sogar aus psychosozialen Gründen zum verminderten Wachstum. Bei zu kleinen Kindern wird auch von Hypotrophie gesprochen, wobei sich dieser Begriff nicht nur auf die Körperlänge, sondern eher auf die Gewichtsentwicklung bezieht. ▶ Großwuchs. Zu groß ist ein Kind, dessen Wachstum oberhalb der 97. Perzentile verläuft. Neben konstitutionellen Gegebenheiten bei großen Eltern und Familienangehörigen kommt es durch verschiedene Syndrome (z. B. Marfan-Syndrom), Stoffwechsel-, Hormon- oder Chromosomenstörungen zu Großwuchs.

Praxistipp Pflege

Z ●

Kinder, die zu groß oder zu klein für ihr Alter sind, werden häufig in ihrer Entwicklung falsch eingeschätzt. Im Umgang mit dem Kind sind daher das Lebensalter und der Entwicklungsstand genau zu beobachten. Abb. 14.7 Essen. Ständige Verfügbarkeit des Essens. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Abweichungen der Gewichtsentwicklung Schon bei der Geburt ergeben sich durch Schwangerschaftsdauer und intrauterine Versorgung unterschiedliche Geburtsgewichte. Verlässt ein Kind im Verlauf seiner Entwicklung seine bisherige Perzentilenentwicklung deutlich, so ist ein besonderes Augenmerk auf das Gedeihen und die Gewichtsentwicklung des Kindes zu legen.

Definition

L ●

Mangelernährung oder Malnutrition liegt vor, wenn ein Mangel oder ein Exzess an Energie, Protein und weiteren Nährstoffen zu messbaren Abweichungen führt. Der Begriff Fehl- bzw. Mangelernährung beinhaltet somit sowohl die Unterernährung als auch die Überernährung.

Gedeihstörung, Untergewicht Ein deutlicher Abfall der Gewichtsentwicklung ist ein ernst zu nehmendes Alarmsignal. Die Ursachen können vielfältig sein: ● psychosoziale Gründe ● Mangel- oder Fehlernährung, auch im Rahmen einer Nahrungsverwertungsstörung (z. B. Mukoviszidose, Zöliakie) ● chronische Organstörungen (z. B. Herz, Niere, Lunge) ● intestinale Störungen (z. B. rezidivierende Durchfälle, Nahrungsmittelunverträglichkeiten) ● konsumierende Krankheiten (z. B. Tumore) ● Stoffwechselstörungen (z. B. Hypothyreose, Diabetes mellitus) Je nach Schwere des Untergewichts wird nach Dystrophie, Atrophie oder Kachexie unterschieden (▶ Tab. 14.6).

Übergewicht Definition

L ●

Von Übergewicht wird bei einem Überschreiten der 90. BMI-Perzentile gesprochen.

14

Hierbei sind die Einteilungen nicht ganz einheitlich. Meist wird ein BMI über 25 als leichtes, über 35 als deutliches Übergewicht gewertet. Dann wird auch von Adipositas gesprochen.

1

Essen und Trinken

Tab. 14.6 Schweregrade des Untergewichts. Schweregrad

Beschreibung

Dystrophie

● ● ● ●



● ●

Atrophie

● ● ●

● ● ● ● ● ●

Kachexie

● ● ● ● ● ●

14

332

erst fehlende Gewichtszunahme, später Gewichtsabnahme eingesunkene Wangen groß wirkende Augen blasse und trockene Haut mit Falten durch zunehmende Reduktion des Unterhautfettgewebes hypotone und schwindende Muskulatur, dadurch häufig vorgewölbter Bauch Absetzen von Hungerstühlen (Pseudoobstipation) Verlangsamung des Körperwachstums extreme Abmagerung, völlig zurückgebildetes Unterhautfettgewebe „Greisengesicht“ durch eingesunkene Wangen halonierte (tief liegende) Augen, von ringförmigen Schatten umgeben (fehlende Fettpolster hinter den Augäpfeln) grau-blasse Haut, zyanotische und kühle Extremitäten hochrote, trockene Mundschleimhaut Infektanfälligkeit flache Atmung, verlangsamter Puls, herabgesetzte Körpertemperatur aussetzendes Körperwachstum labile Stimmungslage weitere Steigerung der Symptomatik, hochgradige Abmagerung skelettartiges Aussehen Abnahme des Körpergewichts um mehr als 20 % des Sollgewichts reduzierte Hautspannung allgemeiner Kräfteverfall Ursache bei Jugendlichen häufig eine Anorexia nervosa, s. Kap. Kinder mit psychosomatischen und psychiatrischen Störungen (S. 718)

Die Ursachen können durch Gesundheitsstörungen (genetische Syndrome, Stoffwechselstörungen) oder psychosozial bedingt sein. Meist kommt es bei einer Fehl- und/oder Überernährung in Verbindung mit mangelnder Bewegung zu Übergewicht. Bei einem adipösen Jugendlichen besteht eine große Gefahr, auch im Erwachsenenalter noch übergewichtig zu sein sowie an Folgeerkrankungen zu leiden, wie Störungen des Fettstoffwechsels, Bluthochdruck, Diabetes mellitus, orthopädischen Problemen und psychischen Leiden aufgrund von gesellschaftlicher Stigmatisierung. Die Gefahr der körperlichen Folgekrankheiten steigt besonders dann an, wenn die Fettverteilung stammbetont, also eher am Bauch zu finden ist. Bei einer repräsentativen Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KIGGS-Studie) wurde festgestellt, dass bereits 15 % aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland übergewichtig sind. Hierbei sind Kinder mit niedrigem sozialem Status, Kinder aus Migrantenfamilien und Kinder übergewichtiger Eltern besonders betroffen.

Merke

H ●

Da die besonders betroffenen Familien von Präventionsprogrammen häufig nicht erreicht werden, wird über die Setting-Ansätze in Kindergärten und Schulen versucht, auf Bevölkerungsebene eine Gewichtsstablisierung oder leichte Gewichtsreduktion zu erreichen.

Inhalte der Präventionsprogramme bei Kindern sind: ● Schaffung gesunder Lebensräume zur Steigerung der körperlichen Aktivität ● Verbesserung gesundheitlicher Ressourcen und des Ernährungszustandes ● Veränderung der individuellen Einstellung zum Ernährungsverhalten, z. B. Reduzierung zuckerhaltiger Getränke ● Verbesserung der Schulverpflegung Die Auswertungen von primär- und sekundärpräventiven Maßnahmen zeigen, dass die Programme zwar meist das Grundlagenwissen über Ernährung verbessern, das Ernährungsverhalten jedoch häufig nicht ausreichend verändern. Die besten Präventionsergebnisse zeigen die Programme bei übergewichtigen Mädchen normalgewichtiger Eltern. Offensichtlich zeigen sowohl die Adipositasprävention als auch die Behandlung von adipösen Kindern umso größere Erfolge, je

jünger die Kinder zu Beginn der Maßnahmen sind. Die sinnvollste Präventionsstrategie liegt in der Reduktion sozialer Ungleichheiten, besserer Schulbildung, Beratung für schwangere Frauen und Unterstützung für Familien.

Merke

H ●

Den Pflegefachkräften kommt im innerund außerklinischen Arbeitsfeld durch Stärkung der Familienkompetenzen, gezielte Aufklärung, Beratung und Bewegungsförderung sowie der Mitwirkung bei speziellen Schulungsprogrammen eine wichtige Bedeutung zu.

Malassimilation Störungen bei der Nährstoffaufnahme bzw. Nährstoffverwertung liegen vor, wenn zugeführte Nahrungsbestandteile vom Körper nicht verdaut werden können und ganz oder teilweise wieder ausgeschieden werden. Leitsymptome hierbei sind je nach Ausprägung allgemeine Verdauungsbeschwerden, Inappetenz oder Übelkeit, Massenstühle, übel riechende Stühle, Gewichtsabnahme, Unterversorgung mit Nährstoffen, v. a. Vitaminen, Mineralstoffen, Eiweißen und Spurenelementen, Muskelschwäche, Haut- und Schleimhautveränderungen sowie Anämie. Hierfür kommen als zwei mögliche Hauptursachen die Maldigestion (lat.: schlechte Verdauung) und die Malabsorption (lat.: schlechte Aufnahme) in Betracht. ▶ Maldigestion. Hierzu kommt es durch fehlende oder mangelnde Enzyme, wodurch Nährstoffe nicht ausreichend aufgespalten und aufgenommen werden können. Dies ist bei Erkrankungen der Bauchspeicheldrüse, Leber oder Gallenblase, angeborenem oder erworbenem Enzymmangel (z. B. Laktoseintoleranz) der Fall. ▶ Malabsorption. Diese liegt vor, wenn der Darm die in der Nahrung enthaltenen Nährstoffe nicht aufnehmen kann. Als Ursachen kommen Durchfälle durch Infektionen, chronische Darmerkrankungen (z. B. Colitis ulcerosa oder Morbus Crohn), Zöliakie oder Darmresektionen in Betracht, bei denen die verbliebene Darmfläche nicht mehr ausreicht, um ausreichend Nährstoffe zu absorbieren. ▶ Verdauungsstörungen. Anzeichen von Verdauungsstörungen sind Mundgeruch und -beläge, Aufstoßen, Sodbrennen (d. h. eine brennende Empfindung in der Magen- und Ösophagialgegend, z. B. infolge eines gastroösophagealen Refluxes), Völ-

14.3 Beobachten und Beurteilen le- und Druckgefühl, Blähungen (Flatulenz). Ursachen sind Unverträglichkeitsreaktionen, ungesundes, hastiges oder wenig entspanntes Essverhalten, Überreaktionen des vegetativen Nervensystems sowie psychische Belastungen.

Mangelerscheinungen ▶ Vitaminmangel. Mangelerscheinungen bei der Vitaminversorgung (Hypovitaminosen, Avitaminosen) sind in den Industrieländern sehr selten geworden und eine Supplementierung ist nur unter besonderen Lebenssituationen sinnvoll, z. B. Vit.-D- und Vit.-K-Substitution bei Neugeborenen, Kap. Pflege der Schwangeren (S. 718), Vitamin-B12-Substitution bei Veganismus. ▶ Mangel an Spurenelementen. Bei den Spurenelementen kommt es am häufigsten zur Eisenmangelanämie (S. 596) sowie zur Jodmangelstruma. ▶ Eiweißmangel. Ein Eiweißmangel ist bei unzureichender Eiweißzufuhr (Hungerzustände), Resorptionsstörungen (z. B. Malabsorption, s. o.) sowie bei Eiweißverlusten (Verbrennungen, Proteinurie, z. B. bei Nierenerkrankungen) zu erwarten. Beim Eiweißmangel kommt es zu Wachstumsstörungen, Muskelschwäche und -atrophie, Ödemen und Hautauffälligkeiten.

Essenstisch bzw. eine erhöhte Erwartungshaltung der Bezugspersonen bzgl. der Nahrungsaufnahme ihrer Kinder können sich ebenfalls negativ auf den Appetit auswirken. Somatische Ursachen der Inappetenz finden sich im Rahmen von Magen-Darm-Infekten, bei Unverträglichkeitsreaktionen, schlechtem Allgemeinbefinden, einer zytostatischen Therapie bei onkologischen Patienten, Erkrankungen im Mundbereich und neurologischen Erkrankungen.

Merke

In der Adoleszenz finden sich bei zunehmend mehr Jugendlichen psychogene Essstörungen, z. B. Anorexia nervosa (S. 728). Bei der vom Robert Koch-Institut durchgeführten KIGGs-Studie lag die Häufigkeit von Essstörungen bei Mädchen zwischen 20,2 im Alter von 11 Jahren und 35,2 % im Alter von 16 Jahren.

Frühkindliche Essstörungen Frühkindliche Essstörungen sind Ausdruck sog. Regulations- und Bindungsstörungen bei Säuglingen und Kleinkindern.

Definition Abweichendes Ernährungsverhalten Appetitstörungen ▶ Vermehrter Appetit (Hyperorexie). Dies äußert sich in einem gesteigerten Essbedürfnis und gesteigerter Nahrungsaufnahme, häufig mit unzureichender Kautätigkeit, bei evtl. fehlendem Hungeroder Sättigungsgefühl. Physiologisch werden Appetitsteigerungen in Wachstumsphasen, Schwangerschaft und Stillzeit sowie in der Rekonvaleszenz und nach körperlicher Anstrengung beobachtet. Appetitsteigerungen können Anzeichen körperlicher oder psychischer Erkrankungen sein, wie Diabetes mellitus, Hyperthyreose und der Bulimia nervosa. ▶ Verminderter Appetit (Anorexie, Inappetenz). Anzeichen sind lustloses Herumstochern im Essen, Widerwillen beim Anblick von Speisen, evtl. Würge- oder Brechreiz. Ursachen sind häufig psychische Probleme oder Abneigungen aufgrund negativer Erlebnisse bei der Nahrungsaufnahme. Einsamkeitsgefühle, Heimweh, ungewohnte Speisen oder Geschmacksrichtungen, eine ungewohnte Essenssituation und Stresssituationen am

H ●

L ●

Als Regulationsstörungen werden Schwierigkeiten eines Säuglings bezeichnet, sein Verhalten in den Bereichen Schlaf, Beruhigung, Ernährung, Aufmerksamkeit) selbst angemessen zu regulieren. Da er sein Verhalten i. d. R. nur in Interaktion mit einer Bezugsperson regulieren kann, kann eine Regulationsstörung Ausdruck oder Ursache einer Eltern-Kind-Bindungsproblematik sein.

Gravierende frühkindliche Essstörungen sind von harmlosen Anpassungsstörungen beim Übergang vom Stillen zur Flaschennahrung, bei der Einführung der Beikost oder dem selbstständigen Essen zu unterscheiden, welche bei ausreichender Geduld der Bezugspersonen von allein verschwinden. Die Unterstützung der elterlichen Kompetenzen in ihrem Wissen über kindliche Ernährung, aber auch im Erkennen kindlicher Bedürfnisse und von entwicklungsbedingten vorübergehenden Anpassungsreaktionen gehört in das Tätigkeitsfeld der Pflegefachkräfte. In repräsentativen Stichproben werden von 20 – 25 % aller Eltern Probleme bei

der Nahrungsgabe im 1. Lebensjahr angegeben (Lindberg et al., 1991). Leichte Störungen können hierbei jedoch zum Ausgangspunkt für dauerhafte Störungen werden (Wilken, 2002), die etwa 5 % aller gesunden Kinder betreffen, aber etwa 39 % von Kindern mit Entwicklungsstörungen.

Definition

L ●

Eine „frühkindliche Essstörung“ liegt vor, wenn die Mehrzahl der täglichen Mahlzeiten über einen Zeitraum von länger als 4 Wochen durch Probleme (z. B. Verweigerung, Erbrechen, Schluckprobleme und Inappetenz) bestimmt werden.

Als mögliche Ursachen kommen körperliche Störungen infrage (z. B. Fehlbildungen oder chronische Gesundheitsstörungen im Oropharyngealbereich, chronische Organprobleme an Herz, Lunge oder Magen-Darm-Trakt, Unverträglichkeiten sowie syndromale oder neurologische Krankheitsbilder). Ein großer Teil der frühkindlichen Essstörungen entwickelt sich aus einem Zusammenspiel eines anfänglichen kindlichen Ernährungsproblems mit elterlicher Traumatisierung, unsicherer Bindung und fehlender oder falscher Beratung (▶ Abb. 14.8).

Praxistipp Pflege

Z ●

Wenn es das Befinden des Kindes erlaubt, sollten in der Klinik Trinkmenge und Gewichtszunahme nicht zu stark in den Mittelpunkt des Interesses gerückt werden. Verstärkende Äußerungen der Pflegefachkräfte („Das Kind muss aber trinken!“) können Eltern zusätzlich verunsichern.

Eine Behandlung einer gravierenden frühkindlichen Essstörung benötigt ein ganzheitliches, multidisziplinäres Therapiekonzept.

Störungen der Nahrungsaufnahme Störungen bei der Nahrungsaufnahme betreffen Kinder, die aufgrund eingeschränkter Schutzreflexe (Schlucken, Husten), ihrer Bewusstseinslage sowie in der Koordination notwendiger Bewegungsabläufe in ihrer eigenständigen Nahrungsaufnahme beeinträchtigt sind. Letzteres kann entwicklungsbedingt oder aufgrund einer Koordinationsstörung verursacht sein. Hier sind eine genaue Beobachtung

14

3

Essen und Trinken

äußere Einflüsse: unbelastete Schwangerschafts- und Geburtsanamnese, einfühlsame Stillanleitung, gute Information über altersgerechte gesunde Ernährung

kindliche Voraussetzungen: eutrophes Kind, unproblematisches Essverhalten

elterliche Reaktion: Beachten der Hunger- und Sättigungssignale des Kindes, angenehme Gestaltung der Mahlzeiten, gesundes, altersentsprechendes Nahrungsangebot

ungestörtes kindliches Essverhalten

kindliche Reaktion: unproblematisches Essverhalten, gutes Gedeihen äußere Einflüsse: Essstörungen innerhalb der Familie, problematische Schwangerschaft, übermäßige Kontrolle der Nahrungsaufnahme und des Gedeihens (z. B. unnötige Wiegeproben), fehlende oder wenig einfühlsame Anleitung, unangemessene Reaktionen von medizinischem Fachpersonal oder Verwandtschaft

a

kindliche Voraussetzungen: Früh- oder Mangelgeburt, gesundheitliche Beeinträchtigung der Nahrungsaufnahme oder -Verwertung

kindliche Reaktion: Essen wird mit Unlustgefühlen verbunden, Nahrungsverweigerung, schlechte Gewichtszunahme, Gedeihstörung

14

b Abb. 14.8 Teufelskreis frühkindlicher Essstörung. a Ungestörtes kindliches Essverhalten. b Frühkindliche Essstörung.

334

Entstehen einer frühkindlichen Essstörung

ungünstige Reaktion der Eltern: verstärktes Kontrollbedürfnis, angespannte Haltung bei der Nahrungsgabe, Versagensängste bei Nahrungsverweigerung, Verbindungen von Belohnungen und Strafen mit dem Essen, Ernährung wird zum alles beherrschenden Thema

14.3 Beobachten und Beurteilen der Saug-, Kau- und Schluckbewegungen und -fähigkeiten sowie die Hilfestellung bei der Nahrungsaufnahme unter Berücksichtigung der vorhandenen Ressourcen erforderlich. Falls eine orale Nahrungsaufnahme nicht möglich oder nicht ausreichend gewährleistet ist, kann eine Sondenernährung (S. 355) unumgänglich werden.

Schluckstörungen (Dysphagien) ▶ Oropharyngeale Schluckstörungen. Hierbei handelt es sich um Störungen, die vom Mund-Rachen-Raum ausgehen, z. B. durch neurologische Schluckstörungen oder nach Langzeitintubation. Sie zeigen sich als Probleme zu Beginn des Schluckakts oder in Form von „Verschlucken“ mit Hustenattacken. ▶ Ösophageale Schluckstörungen. Sie haben ihre Ursache in der Speiseröhre, z. B. durch eine Passagebehinderung (z. B. Tumor, Ösophagusvarizen) oder Beeinträchtigung der Schleimhaut im Rahmen einer Ösophagitis im Weitertransport der festen oder flüssigen Nahrung.

Merke

H ●

Bei Schluckstörungen muss eine Aspirationsprophylaxe erfolgen.

Eine Dysphagie bedeutet Schmerzen oder Druckgefühl beim Schluckakt. Die Ursachen können organische Störungen, z. B. akute Erkrankungen (z. B. Angina), verschluckte Fremdkörper, Schilddrüsenerkrankungen mit Struma, Schlucklähmung oder Fehlbildung (z. B. Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte) sein. Psychische Belastungen, wie Ärger, Wut, Stress, Trauer oder Depressionen, führen zu dem sprichwörtlichen „Kloßgefühl“ im Hals.

Abweichendes Trinkverhalten

Dehydratation Definition

L ●

● ●

Merke

Eine Dehydratation oder auch Hypohydratation bedeutet einen Verlust des Gesamtkörperwassers durch mangelnden Ausgleich ausgeschiedener Flüssigkeit.

Die Ursachen sind zum einen eine zu geringe Flüssigkeitsaufnahme bei Nahrungsbzw. Trinkverweigerung, zum anderen ein verstärkter Flüssigkeitsverlust durch Erbrechen, Durchfall, Diurese, verstärktes Schwitzen, z. B. durch Fieber, Hitze, Flüssigkeitsverlust durch Verbrennungen, hormonale Störungen und Nierenerkrankungen. Das Ausmaß einer Dehydratation ist zu erkennen durch: ● Gewichtsverlust ● verminderter Hautturgor ● stehende Hautfalten ● eingesunkene Fontanelle ● trockene Schleimhäute ● verminderten Urinausscheidung ● Beeinträchtigungen der Vitalzeichen, des Allgemeinbefindens und des Verhaltens

Merke



H ●

Die Flüssigkeitsaufnahme ist ausreichend, wenn der Urin hellgelb gefärbt ist, die Verdauung funktioniert und die Schleimhäute nicht austrocknen.

Hypovolämie Im Gegensatz zur Dehydratation, die einen Verlust des Gesamtkörperwassers bedeutet, ist die Hypovolämie ein Flüssigkeitsverlust aus dem Blutkreislauf, etwa durch starke Blutungen. Es besteht die Gefahr eines hypovolämischen Schocks. Entsprechende Maßnahmen (z. B. Schocklage) sind dann einzuleiten. ▶ Flüssigkeitsbilanz. Aufschluss über die aufgenommene Trinkmenge im Vergleich zur Ausscheidung bietet die Flüssigkeitsbilanz (S. 379).

Erbrechen

H

Definition

L ●

Beim Erbrechen handelt es sich um einen vom Brechzentrum gesteuerten Vorgang, bei dem der Mageninhalt durch unwillkürliche Kontraktionen entgegen der normalen Peristaltik durch den Mund hinausbefördert wird.

Säuglinge sind besonders gefährdet. Bei schwerer Dehydratation besteht Lebensgefahr! Es ist umgehend der Arzt zu informieren und ein Flüssigkeits- und Elektrolytausgleich in die Wege zu leiten.

Die Dehydratationsprophylaxe erfolgt durch eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr: ● Lieblingsgetränk erfragen ● passendes Trinkbehältnis wählen bzw. gewohnten Sauger anbieten

regelmäßige Trinkangebote Angehörige entsprechend anleiten

Erbrechen ist keine Krankheit, sondern ein Schutzreflex, der den Körper vor Giftstoffen schützen soll. Allerdings ist Erbrechen auch ein Symptom von Krankheiten (▶ Abb. 14.9, ▶ Abb. 14.10). Dem Erbrechen gehen vegetative Symptome voraus, wie Übelkeit (Nausea),

Störungen des Durstgefühls ▶ Polydipsie. Eine Steigerung des Durstgefühls (Polydipsie) ist Folge eines vermehrten Flüssigkeitsverbrauchs mit endokrinologischer Ursache (Diabetes mellitus) oder bei extrarenalen Flüssigkeitsverlusten durch Schwitzen oder bei Verbrennungen. ▶ Hypodipsie. Eine Verminderung des Durstgefühls (Hypodipsie) bzw. das Erlöschen des Durstgefühls (Adipsie) kommt vorwiegend bei älteren Menschen vor, bei Kindern infolge neurologischer oder psychischer Gesundheitsstörungen. Im schlimmsten Fall kann ein vermindertes Durstgefühl zur Dehydratation führen.

Fontanellenwölbung Fieber peristierendes Erbrechen im Strahl Blutbeimengungen zum Erbrochenen

14

Resistenz zum Abdomen sichtbare peristaltische Wellen, die von rechts nach links laufen, bei Pylorusstenose von links oben nach rechts in den Mittel- und Oberbauch Dehydratation Auftreibung des Abdomens kein Mekoniumabgang innerhalb von 48 Stunden nach der Geburt Abb. 14.9 Brechvorgang. Symptome im Zusammenhang mit Erbrechen bei Säuglingen, die auf eine ernsthafte Erkrankung hinweisen.

5

Essen und Trinken

physikalische Reizung

psychische Reizung

mechanische Reizung

toxische Reizung

Blässe, Kaltschweißigkeit, verstärkte Speichelproduktion, Pupillenerweiterung und verlangsamte Atmung. Durch den Vagusreiz beim Brechvorgang kann es zu einer Bradykardie kommen.

Merke

Schwindel

Gerüche

Hirndruck

Medikamente, Gifte

H ●

Anhaltendes Erbrechen führt zu gefährlichem Flüssigkeitsverlust und Elektrolytverschiebungen!

Es werden zentrales, reflektorisches und willkürliches Erbrechen unterschieden. ▶ Zentrales Erbrechen. Es entsteht durch direkte Reizung des Brechzentrums in der Medulla oblongata, durch Hirnerkrankungen (Hirndruckerhöhung durch Hydrozephalus, Tumoren, Entzündungen oder Schädel-Hirn-Traumen) oder zentral toxische Substanzen (Alkohol- oder Medikamentennebenwirkungen, z. B. bei Zytostatika).

Brechzentrum

vermehrte Speichelsekretion

Erbechen

Kehldeckel geschlossen

Zwerchfell in Einatmungsstellung (ruckartige Kontraktion)

Kardia offen Magenausgang zu

Bauchmuskulatur gespannt (ruckartige Kontraktion)

14

▶ Reflektorisches Erbrechen. Es ist die Folge einer indirekten Reizung des Brechzentrums über das vegetative Nervensystem durch Erkrankungen des MagenDarm-Traktes (Gastritis, Gastro-Enteritis, Pylorusstenose), Überdehnung des Magens bei unphysiologischen Nahrungsmengen, Reizung des Zäpfchens am hinteren Rachenraum, Reizung des Gleichgewichtssinns (Reisekrankheit), Nahrungsmittelunverträglichkeiten sowie starke psychische und Ekel erregende Sinneseindrücke. ▶ Willkürliches Erbrechen. Im Rahmen einer Anorexie oder Bulimie kann es zu willkürlichem Erbrechen kommen, um das Gewicht zu regulieren. Kinder im Säuglings- und Kleinkindsalter sowie Kinder mit neurologischen Beeinträchtigungen können als Stressreaktion oder im Rahmen einer Rumination Essen aus dem Magen in die Mundhöhle zurückwürgen, erneut essen oder ausspeien.

Beobachtungskriterien beim Erbrechen Die Beobachtungskriterien beim Erbrechen sind in ▶ Tab. 14.7 aufgelistet.

Abb. 14.10 Erbrechen. Ursachen und Ablauf.

Merke

H ●

Die Menge des Erbrochenen sollte zur Einschätzung des Flüssigkeitsverlustes dokumentiert werden.

336

14.3 Beobachten und Beurteilen

Tab. 14.7 Beobachtungskriterien beim Erbrechen.

Azetonämisches Erbrechen

Beobachtung

Beim azetonämischen Erbrechen handelt es sich um eine im Kleinkind- und Schulalter typische Form von wiederholtem, anfallsartigem und unstillbarem Erbrechen mit Ketonämie. Das geschieht gelegentlich bei psychisch und vegetativ labilen Kindern durch Appetitlosigkeit, Nahrungsverweigerung oder bei Infekten und Nahrungsmittelallergien. Häufig bleibt die Ursache unklar. Bei diesen Kindern führt ein Mangel an Kohlenhydraten zur Bildung von Ketonkörpern, die einen schwallartigen Brechanfall auslösen, der sich mehrfach wiederholt. Weitere Symptome sind ein azetonischer Mundgeruch (nach Essig oder Apfel). Durch das heftige Erbrechen kommt es im Körper zu einem Elektrolytverlust und einer Übersäuerung (Azidose) mit einer weiteren verstärkten Bildung von Ketonkörpern, die wiederum Erbrechen auslösen. Dieses muss je nach Fortschritt der Symptomatik unverzüglich mit gelöffelter Glukose-Elektrolyt-Lösung oder Infusionstherapie unterbrochen werden. Der ansonsten entstehende Teufelskreis kann lebensbedrohlich werden. Der Übergang in ein ketonämisches Koma ist möglich.

mögliche Ursachen

Begleitumstände, Zeitpunkt, Häufigkeit Nüchternerbrechen

Schwangerschaft, Stoffwechselstörungen, Hirntumor

direkt nach dem Schluckakt

Ösophagusstenose

nach dem Essen

Nahrungsmittelallergie, hypertrophe Pylorusstenose, Ulkus, Tumor

nach Medikamenteneinnahme

Unverträglichkeit, Medikamentennebenwirkung

nachts

Ulkus, Gallenerkrankungen

periodisch, in unregelmäßigen Abständen auftretend

Migräne

zyklisch, regelmäßig wiederkehrend

hypertrophe Pylorusstenose

Brechvorgang schwallartig

Hirndruckveränderungen

spastisch = explosionsartig, schwallartig (typisches Erbrechen „in hohem Bogen“)

hypertrophe Pylorusstenose

atonisch = schlaff herausfließend, keine sichtbaren Kontraktionen

Kardiainsuffizienz, Überlauferbrechen (bei verlangsamter Magenentleerung)

würgend

Erbrechen bei bereits entleertem Magen, Reisekrankheit

Rumination = Wiederkäuen, Heraufwürgen von Mageninhalt, gefolgt von erneutem Kauen

frühkindliche Essstörung älterer Säuglinge

Regurgitation = Zurückströmen von Mageninhalt

Reflux, Ösophagusstenose

Beschaffenheit, Menge stark abhängig von der Magenfüllung

wenig Aussagekraft über die Ursache

Farbe abhängig von Zusammensetzung des Mageninhaltes lichtgelb

Magensaft

gelbgrün

Galle

hellrot

frisches Blut, Blutungsquelle oberhalb des Magens

rot-bräunlich (Hämatin mit fadenartigen Gerinnseln)

Refluxösophagitis

dunkel- bis schwarzrot (kaffeesatzartig)

von Magensaft zersetztes Blut, z. B. verschlucktes Blut oder Blutungsquelle im Magen

braun

Koterbrechen (Miserere) bei Ileus

Geruch fade

Schleimerbrechen

leicht säuerlich

kurze Verweildauer im Magen

stark sauer

längere Verweildauer im Magen

süßlich-bitter

Galle

kotartig

Miserere bei Ileus

Zusammensetzung Nahrungsreste

je nach Nahrungsaufnahme und Verweildauer im Magen

schleimige Beimengungen

Gastritis (vermehrte Schleimproduktion)

Blut, Hämatin, kaffeesatzartig

Blutung, s. o.

Beimengungen

verschluckte Fremdkörper, Ingestionen oder Intoxikationen

Pflegemaßnahmen beim Erbrechen Kinder, die erbrechen müssen, fühlen sich sehr unwohl, daher brauchen sie liebevolle Unterstützung. Bei größeren Kindern: ● Hilfreich ist eine aufrechte, leicht vorgebeugte Körperposition, damit das Erbrochene besser hinausgebracht werden kann. ● Eine Nierenschale und Zellstoff werden gereicht, um das Erbrochene aufzufangen und abzuwischen. ● Das Halten des Kopfes an der Stirn wird als hilfreich empfunden (▶ Abb. 14.11). ● Bei evtl. vorhandenen Wunden im Bauchbereich wird auf die Wunde mit der flachen Hand ein sanfter Gegendruck ausgeübt. Bei Säuglingen: Säuglinge werden unverzüglich mit dem Kopf zur Seite gedreht, um Aspirationen zu vermeiden. ● Das Erbrochene wird mit einer Mullwindel aufgefangen, die Mullwindel nachher gewogen und das Gewicht einer frischen Mullwindel davon abgezogen, um die Menge des Erbrochenen genau einschätzen zu können ●

14

7

Essen und Trinken ●









Abb. 14.11 Erbrechen. Hilfestellung beim Erbrechen (Halten des Kopfes, Vorhalten der Nierenschale). (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Merke

H ●

Säuglinge und Kleinkinder werden bei Bewusstseins- oder Schluckstörungen sowie beim Brechvorgang zur Aspirationsprophylaxe in Seitenlage gelagert.

Merke

H ●

Erbrechen ist ein pathologischer Vorgang und vom harmlosen Speien eines Säuglings beim Aufstoßen nach den Mahlzeiten abzugrenzen, bei dem ohne Würgen maximal eine mundvolle Menge Nahrung herauskommt und das i. d. R. völlig harmlos ist.

Pflegemaßnahmen nach dem Erbrechen

14

338

Nach dem Erbrechen stehen folgende Pflegemaßnahmen im Vordergrund: ● Das Kind wird getröstet und beruhigt. ● Es erhält bei Bedarf Hilfestellung beim Frischmachen und Umziehen. ● Das Zimmer wird gelüftet.



Die Mundhygiene mittels Mundspülung beseitigt nicht nur den schlechten Geschmack, sondern schützt auch die Zähne vor der Magensäure. Das Bett wird bei Bedarf frisch bezogen und alle Ekel erregenden Materialien werden schnellstmöglich entfernt. Eine kontinuierliche Beobachtung des Kindes auf Anzeichen neuerlicher Übelkeit und Brechreiz, idealerweise durch eine Bezugsperson des Kindes, sollte insbesondere bei Kindern gewährleistet sein, die sich nicht selbstständig melden können. Der Arzt wird benachrichtigt, um das weitere Prozedere (evtl. Nahrungskarenz, weitere Diagnostik) zu besprechen. Bei liegender Magensonde (z. B. bei Frühgeborenen) kann auf ärztliche Verordnung der Magenrest kontrolliert werden, um zu prüfen, ob der Magen gänzlich entleert wurde bzw. ob eine vorher verabreichte Mahlzeit gänzlich erbrochen wurde und ggf. substituiert werden muss. Das Erbrochene wird ggf. für die genaue Beobachtung, Mengenbestimmung oder ärztliche Begutachtung aufgehoben, jedoch außerhalb des Patientenzimmers.

Praxistipp

Z ●

In pädagogischen Einrichtungen gibt es spezielles Granulat („Kotzpulver“ oder Katzenstreu), um Erbrochenes und den damit verbundenen Geruch zu binden und Erbrochenes am Fußboden mittels Kehrblech hygienisch einfacher einzusammeln.

Merke

H ●

Dokumentiert werden die Art des Erbrechens, Menge, Farbe und Beschaffenheit des Erbrochenen und Angaben zum Befinden des Kindes.

Merke

H ●

Es muss unterschieden werden, ob es sich bei dem Erbrechen um ein 1-maliges oder unbedenkliches Ereignis handelt oder ob das Erbrechen Anzeichen einer ernst zu nehmenden Erkrankung ist und weiterer Maßnahmen bedarf!

14.3.3 Individuelle Situationseinschätzung Bei der Betrachtung der Ernährungssituation, des Essverhaltens und Abweichungen desselben müssen individuelle Faktoren berücksichtigt werden: ● Welche Nahrungsmittel nimmt das Kind gern zu sich? Welche lehnt es ab? ● Wie groß ist seine Selbstständigkeit beim Essen? ● Welche Einstellung haben die Eltern zur Nahrungsaufnahme, Wünsche, Vorlieben (z. B. Stillwunsch, besondere Kostformen)? ● Welchen Stellenwert nimmt die Thematik Ernährung und Nahrungsaufnahme in der Familie ein? ● Gibt es gesellschaftliche, soziale, weltanschauliche, kulturelle oder gesundheitliche Faktoren, die die Nahrungsaufnahme beeinflussen? ● Wie groß ist das Grundlagenwissen der Familie über die Thematik Ernährung? ● Wie ist die Nahrungsmittelversorgung der Familie geregelt, wird frisch gekocht, vorwiegend Fertignahrungsmittel oder Gemeinschaftsverpflegung konsumiert? Bei der Krankenhausaufnahme ist daher bei der Anamneseerhebung auch die Ernährungsanamnese (▶ Abb. 14.12) zu erheben; das gilt insbesondere bei Gesundheitsstörungen, bei denen der Ernährung eine relevante Bedeutung zukommt, sowie bei Säuglingen, Kleinkindern oder kommunikativ beeinträchtigten Kindern, deren Ernährung im Krankenhaus möglichst optimal an ihre Bedürfnisse angepasst werden muss. Für die Erwachsenenpflege oder Altenpflege entwickelte Screening- und Assessment-Skalen zur Einschätzung des Ernährungszustandes sind für die Gesundheitsund Kinderkrankenpflege nicht geeignet. In Anlehnung an die bestehende Definition bei Erwachsenen wurden verschiedene Skalen für die Beurteilung des Ernährungszustandes bei Kindern entwickelt, die neben dem BMI sowohl die Gewichtsentwicklung, als auch das Ernährungsverhalten von Kindern berücksichtigen (▶ Tab. 14.8). Dazu gehören gehören: ● der Pediatric Nutritional Risk Score (PNRS) ● das Subjective Global Nutritional Assessment for children (SGNA) ● der Paediatric Yorkhill Malnutrition Score (PYMS) ● das Screening Tool for the Assessment of Malnutrition in Paediatrics (STAMP) ● das Screening Tool for Risk Of Impaired Nutritional Status and Growth, genannt STRONGkids

14.3 Beobachten und Beurteilen

Krankenhaus Musterstadt Kinder-Ernährungsanamese für Liebe Eltern, um die Ernährungsgewohnheiten Ihres Kindes auch während des Krankenhausaufenthaltes bestmöglich berücksichtigen zu können, bitten wir Sie um einige Angaben: Mein Kind wird gestillt ○ Falls Sie nicht kontinuierlich bei Ihrem Kind anwesend sein können, so erhalten Sie vom Pflegepersonal bei Informationen zum Abpumpen, zur korrekten Lagerung und zum Transport der Muttermilch Mein Kind erhält Flaschenmilchnahrung ○

welche:

wie oft und wie viel: Besonderheiten: Mein Kind erhält Breikost ○ und zwar zu folgenden Uhrzeiten:

Mein Kind isst normale Kost, hierbei besonders gern: Frühstück: Mittagessen: Abendessen: Zwischenmahlzeiten: Getränke: Mein Kind mag überhaupt nicht: Mein Kind ist eher ein guter Esser ○, schlechter Esser ○ Mein Kind benötigt Rituale zur Nahrungsaufnahme, und zwar: Mein Kind benötigt eine Diät ○, und zwar:

Mein Kind isst selbstständig ○ Mein Kind benötigt folgende Unterstützung:

Mein Kind hat Probleme bei der Nahrungsaufnahme ○ und zwar: Mein Kind hat eine Magensonde ○, Welche:

, Sondenkost:

Mein Kind bekommt dauerhaft folgende Medikamente:

vor ○, während ○, nach den Mahlzeiten

Besonderheiten:

Bitte beachten Sie, dass Ihr Kind aufgrund seiner Erkrankung vielleicht nicht alle Nahrungsmittel zu sich nehmen darf. Falls Sie dem Kind von zu Hause Nahrungsmittel mitbringen, klären Sie dies bitte mit dem Pflegepersonal ab. Herzlichen Dank.

Abb. 14.12 Ernährungsanamnese.

14

9

Essen und Trinken

Tab. 14.8 Übersicht – Screening- und Assessment-Skalen zur Einschätzung des Ernährungszustandes. Screening- oder Assessment-Skala

Alter

Kriterien

Pediatric Nutritional Risk Score (PNRS)

1 Monat bis 18 Jahre

● ● ● ● ●

Subjective Global Nutritional Assessment for children (SGNA)

1 Monat bis 18 Jahre

● ●

● ●

Paediatric Yorkhill Malnutrition Score (PYMS)

1 Jahr bis 16 Jahre

● ● ● ●

Screening Tool for the Assessment of Malnutrition in Paediatrics (STAMP)

2 Jahre bis 17 Jahre

Screening Tool for Risk Of Impaired Nutritional Status and Growth (STRONGkids)

1 Monat bis 18 Jahre

● ● ● ● ● ● ●

Nahrungsaufnahme Schwierigkeit, Nahrung bei sich zu behalten Schmerzen Fähigkeit zu essen Gesundheitszustand Gewichtsverlauf, elterliche Größe Nahrungsaufnahme (z. B. Art, Menge, Häufigkeit), gastrointestinale Symptome (z. B. Durchfall, Erbrechen, Übelkeit) körperliche Untersuchung, Funktionsfähigkeit Grunderkrankung BMI kürzlicher Gewichtsverlust Nährstoffzufuhr Gesundheitszustand klinische Diagnose Nährstoffzufuhr Anthropometrie (z. B. Hautfalten, Muskelmasse) subjektive Einschätzung Hochrisikoerkrankung Nährstoffzufuhr Gewichtsverlust

Modifiziert nach: Joosten KF et al. Nutritional screening tools for hospitalized children: methodological considerations. Clin Nutr. 2014; 1–5, DOI: 10.1016/j.clnu.2013.08.002; Hartmann C et al. Malnutrition screening tools for hospitalized children. Curr Opin Clin Nutr Metab Care. 2012; 303–309, DOI: 10.1097/MCO.0b013e328352dcd4

14

340

14.4 Pflegemaßnahmen



Pflegemaßnahmen im Zusammenhang mit der Lebensaktivität „Essen und Trinken“ umfassen die in den letzten Abschnitten genannten Beobachtungen bzgl. des Ernährungszustandes und Essverhaltens sowie die Erstellung der Ernährungsanamnese. Zu den Aufgaben der Pflegefachkräfte gehören: ● Stillanleitung und Anleitung zur Säuglingsernährung ● präventive Ernährungsberatung zur ausgewogenen Ernährung in unterschiedlichen Lebensstufen und SettingAnsätzen ● Beratung zu Diätprinzipen bei Gesundheitsstörungen ● interdisziplinäres Arbeiten mit Ernährungsfachleuten (z. B. Still- und Laktationsberaterinnen, Diätassistenten, Küchenpersonal) ● Hilfestellung bei der Nahrungsgabe bei Beeinträchtigungen



Im Klinikalltag gehört zu den Pflegemaßnahmen auch die Einweisung in: ● relevante Räumlichkeiten (Stillraum, Küche, Patientenkühlschrank zur Einlagerung von selbst mitgebrachten Speisen, Essensraum, Verpflegungsmöglichkeiten für Begleitpersonen)





Gerätschaften (Milchpumpen, Flaschenwärmer, Wasserspender, Mikrowelle) unveränderliche Routinen (ggf. Zeiten, die von der Klinikküche vorgegeben sind) hygienische Grundprinzipien bei der Essensver- und -entsorgung im Krankenhaus notwendige Dokumentationen bzgl. Ess- und Trinkmenge

Gegebenenfalls ist eine Abstimmung in Abhängigkeit von der Gesundheitsstörung des Kindes notwendig, wenn Nahrungsmittel von der Familie mitgebracht werden. Merkblätter in verschiedenen Sprachen und Piktogramme erleichtern die Aufklärungsarbeit.

Merke

H ●

Grundsätzlich sollten die Wünsche und Bedürfnisse des Kindes bzw. der Familie bzgl. seiner Ernährung im Mittelpunkt stehen und Ernährungsgewohnheiten beibehalten werden, sofern der Gesundheitszustand des Kindes dies ermöglicht.

Bei Kindern, die Unterstützung bei der Nahrungsgabe benötigen, wird mit den Eltern abgeklärt, ob sie während der Mahlzeiten anwesend sein können oder ob und wie die Pflegefachkräfte die Kinder unterstützen sollten.

14.4.1 Präventive Ernährungsberatung Die präventive Ernährungsberatung ist eine immer wichtiger werdende Aufgabe der Pflegefachkräfte. Aufgrund veränderter sozialer Strukturen benötigen Familien immer häufiger eine umfassende Beratung zur ausgewogenen Ernährung ihrer Kinder. Die Fragen der Familien kommen auf allen Kinderstationen vor, jedoch umso mehr in den Stillambulanzen, Elternschulen, Fachambulanzen und im außerklinischen Bereich. Es ist sinnvoll, dass die Kliniken für besondere Fragestellungen speziell geschultes Personal (z. B. Stillund Laktationsberaterinnen, Diabetesfachkräfte, Neurodermitistrainer) bereithalten, dennoch sollte die Ernährungsberatung grundsätzlich von allen Beteiligten des Gesundheits- und Kinderkrankenpflegeteams geleistet werden, s. Beraten und Anleiten (S. 196). Besonders qualifizierte Kolleginnen und Kollegen sollten daher ihr Team entsprechend schulen, damit keine unterschiedlichen Informationen an die Eltern weitergegeben und diese nicht unnötig verunsichert werden.

Essen und Trinken

Tab. 14.8 Übersicht – Screening- und Assessment-Skalen zur Einschätzung des Ernährungszustandes. Screening- oder Assessment-Skala

Alter

Kriterien

Pediatric Nutritional Risk Score (PNRS)

1 Monat bis 18 Jahre

● ● ● ● ●

Subjective Global Nutritional Assessment for children (SGNA)

1 Monat bis 18 Jahre

● ●

● ●

Paediatric Yorkhill Malnutrition Score (PYMS)

1 Jahr bis 16 Jahre

● ● ● ●

Screening Tool for the Assessment of Malnutrition in Paediatrics (STAMP)

2 Jahre bis 17 Jahre

Screening Tool for Risk Of Impaired Nutritional Status and Growth (STRONGkids)

1 Monat bis 18 Jahre

● ● ● ● ● ● ●

Nahrungsaufnahme Schwierigkeit, Nahrung bei sich zu behalten Schmerzen Fähigkeit zu essen Gesundheitszustand Gewichtsverlauf, elterliche Größe Nahrungsaufnahme (z. B. Art, Menge, Häufigkeit), gastrointestinale Symptome (z. B. Durchfall, Erbrechen, Übelkeit) körperliche Untersuchung, Funktionsfähigkeit Grunderkrankung BMI kürzlicher Gewichtsverlust Nährstoffzufuhr Gesundheitszustand klinische Diagnose Nährstoffzufuhr Anthropometrie (z. B. Hautfalten, Muskelmasse) subjektive Einschätzung Hochrisikoerkrankung Nährstoffzufuhr Gewichtsverlust

Modifiziert nach: Joosten KF et al. Nutritional screening tools for hospitalized children: methodological considerations. Clin Nutr. 2014; 1–5, DOI: 10.1016/j.clnu.2013.08.002; Hartmann C et al. Malnutrition screening tools for hospitalized children. Curr Opin Clin Nutr Metab Care. 2012; 303–309, DOI: 10.1097/MCO.0b013e328352dcd4

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14.4 Pflegemaßnahmen



Pflegemaßnahmen im Zusammenhang mit der Lebensaktivität „Essen und Trinken“ umfassen die in den letzten Abschnitten genannten Beobachtungen bzgl. des Ernährungszustandes und Essverhaltens sowie die Erstellung der Ernährungsanamnese. Zu den Aufgaben der Pflegefachkräfte gehören: ● Stillanleitung und Anleitung zur Säuglingsernährung ● präventive Ernährungsberatung zur ausgewogenen Ernährung in unterschiedlichen Lebensstufen und SettingAnsätzen ● Beratung zu Diätprinzipen bei Gesundheitsstörungen ● interdisziplinäres Arbeiten mit Ernährungsfachleuten (z. B. Still- und Laktationsberaterinnen, Diätassistenten, Küchenpersonal) ● Hilfestellung bei der Nahrungsgabe bei Beeinträchtigungen



Im Klinikalltag gehört zu den Pflegemaßnahmen auch die Einweisung in: ● relevante Räumlichkeiten (Stillraum, Küche, Patientenkühlschrank zur Einlagerung von selbst mitgebrachten Speisen, Essensraum, Verpflegungsmöglichkeiten für Begleitpersonen)





Gerätschaften (Milchpumpen, Flaschenwärmer, Wasserspender, Mikrowelle) unveränderliche Routinen (ggf. Zeiten, die von der Klinikküche vorgegeben sind) hygienische Grundprinzipien bei der Essensver- und -entsorgung im Krankenhaus notwendige Dokumentationen bzgl. Ess- und Trinkmenge

Gegebenenfalls ist eine Abstimmung in Abhängigkeit von der Gesundheitsstörung des Kindes notwendig, wenn Nahrungsmittel von der Familie mitgebracht werden. Merkblätter in verschiedenen Sprachen und Piktogramme erleichtern die Aufklärungsarbeit.

Merke

H ●

Grundsätzlich sollten die Wünsche und Bedürfnisse des Kindes bzw. der Familie bzgl. seiner Ernährung im Mittelpunkt stehen und Ernährungsgewohnheiten beibehalten werden, sofern der Gesundheitszustand des Kindes dies ermöglicht.

Bei Kindern, die Unterstützung bei der Nahrungsgabe benötigen, wird mit den Eltern abgeklärt, ob sie während der Mahlzeiten anwesend sein können oder ob und wie die Pflegefachkräfte die Kinder unterstützen sollten.

14.4.1 Präventive Ernährungsberatung Die präventive Ernährungsberatung ist eine immer wichtiger werdende Aufgabe der Pflegefachkräfte. Aufgrund veränderter sozialer Strukturen benötigen Familien immer häufiger eine umfassende Beratung zur ausgewogenen Ernährung ihrer Kinder. Die Fragen der Familien kommen auf allen Kinderstationen vor, jedoch umso mehr in den Stillambulanzen, Elternschulen, Fachambulanzen und im außerklinischen Bereich. Es ist sinnvoll, dass die Kliniken für besondere Fragestellungen speziell geschultes Personal (z. B. Stillund Laktationsberaterinnen, Diabetesfachkräfte, Neurodermitistrainer) bereithalten, dennoch sollte die Ernährungsberatung grundsätzlich von allen Beteiligten des Gesundheits- und Kinderkrankenpflegeteams geleistet werden, s. Beraten und Anleiten (S. 196). Besonders qualifizierte Kolleginnen und Kollegen sollten daher ihr Team entsprechend schulen, damit keine unterschiedlichen Informationen an die Eltern weitergegeben und diese nicht unnötig verunsichert werden.

14.4 Pflegemaßnahmen

Eltern

a ●

14.4.3 Ernährung der Stillenden

Sollte bei der Ernährungsanamnese oder im Klinikalltag auffallen, dass das Ernährungsverhalten des Kindes in gravierender Weise nicht den Empfehlungen zu einer ausgewogenen Ernährung entspricht, so sollte mit der Familie ein Weg gesucht werden, sie in ihren Kompetenzen zu unterstützen. Das gilt insbesondere dann, wenn das Kind sich längere Zeit im Krankenhaus aufhält und/oder Gesundheitsstörungen durch das Ernährungsverhalten zu befürchten bzw. bereits erkennbar sind.

Abb. 14.13 Kein Alkohol oder Nikotin in der Schwangerschaft und Stillzeit (Symbolbild)! (Foto: highwaystarz – stock. adobe.com)



Hierbei ist es wichtig, der Familie nicht vorzuhalten, „alles falsch zu machen“, sondern zunächst davon auszugehen, dass Eltern auch das Beste für ihr Kind wollen. Es wird vorsichtig eruiert, woran es liegen kann, dass es den Eltern schwerfällt, ihr Kind ausgewogen zu ernähren: ob es beispielsweise an einem Wissensdefizit, mangelnder Einschätzungsmöglichkeit der Bedürfnisse des Kindes, begrenzten Mitteln und Möglichkeiten, persönlicher Unsicherheit, mangelnder erzieherischer Durchsetzungskraft oder der Ausnahmesituation der Gesundheitsstörung an sich liegt. So kann überlegt werden, ob den Eltern mit Aufklärung, Unterstützung ihrer erzieherischen Kompetenzen oder an Hinweisen zu sinnvollen Mitbringseln, Beruhigungs-, Belohnungs- und Spielangeboten geholfen werden kann. Zudem sollte mit dem Küchenpersonal überlegt werden, wie die ausgewogene Krankenhausverpflegung für die Kinder attraktiver gemacht werden kann.











Zur Deckung des Jodbedarfs werden 2 Fischmahlzeiten pro Woche und die Verwendung von jodiertem Salz empfohlen. Milch- und Milchprodukte sowie kalziumhaltiges Mineralwasser decken den Kalziumbedarf. Eine ballaststoffreiche Kost mit viel frischem Obst und Vollkornprodukten beugen einer Obstipation vor. Eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr beugt Harnwegsinfekten vor. Kaffee, Tee und andere koffeinhaltige Getränke sollten nur in geringen Mengen getrunken werden. Eine Substitution von Vitamin- und Mineralstoffpräparaten, insbesondere von Folsäure, sollte mit der Frauenärztin abgeklärt werden. Die richtige Ernährung vor und während der Schwangerschaft sowie der Stillzeit spielt eine große Rolle für die Gesundheit des Babys und seiner Mutter.

Merke

14.4.2 Ernährung der Schwangeren Dass Schwangere „nicht für zwei“ essen sollten, müsste inzwischen hinreichend bekannt sein. Es ist nicht der Energiebedarf, der deutlich ansteigt, sondern der Bedarf an Eiweiß, Eisen, Kalzium, Vitamin D, Folsäure und Jod. Folgendes ist zu beachten: ● Wenn sich die Mutter bereits vor der Schwangerschaft ausgewogen ernährt hat, sind ihre Nährstoffspeicher gut gefüllt. ● Die Heißhungerattacken sowie ungewohnte Abneigungen gegen bestimmte Nahrungsmittel in der Schwangerschaft regulieren auf natürliche Weise den Nährstoffbedarf bzw. das Meiden von ungesunden Nahrungsmitteln.

H ●

Gemieden werden sollten in der Schwangerschaft alle Nahrungsmittel, die dem Baby schaden könnten: rohes Fleisch und Rohmilchprodukte, Innereien (wegen eines erhöhten Schwermetallgehalts) sowie Alkohol. Der Verzicht auf Nikotin sollte selbstverständlich sein (▶ Abb. 14.13). Die Einnahme von Medikamenten in Schwangerschaft und Stillzeit sollte strengen Indikationen unterworfen sein. Informationen zu der Anwendung einzelner Medikamente in Schwangerschaft und Stillzeit können bei der embryonaltoxikologischen Beratungsstelle in Berlin (www.embryotox.de) erfragt werden.

In der Stillzeit ist der Energiebedarf für die Mütter merklich erhöht. Folgendes ist zu beachten: ● Nach den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) sollten pro 100 ml gebildeter Milch zusätzlich zum normalen Bedarf ca. 120 kcal (500 kj) verzehrt werden. ● Üblicherweise regelt das Hungergefühl der Mutter die zusätzliche Nährstoffaufnahme. ● Der Bedarf an Flüssigkeit kann erhöht sein. ● Die Ernährung der Mutter sollte ausgewogen sein. ● Eine Diät der Mutter in der Stillzeit wird nicht empfohlen. Im Fettgewebe gespeicherte Schadstoffe könnten in die Muttermilch gelangen. ● Auch zur Allergieprävention sind keinerlei Einschränkungen im Ernährungsverhalten empfohlen. Durch eine ausgewogene vollwertige Ernährung der Mutter wird das Kind auf natürliche Weise an verschiedene Geschmacksstoffe und Allergene herangeführt. ● Nur wenn einzelne Nahrungsmittel bei Mutter oder Kind zu gesundheitlichen Beschwerden führen, wie allergische Symptome, Bauchweh oder Wundsein des Kindes, werden die auslösenden Nahrungsmittel gemieden.

14.4.4 Ernährung des Säuglings Im 1. Lebensjahr verläuft der Nahrungsaufbau des Säuglings wie folgt (▶ Abb. 14.14): ● In den ersten (4 –)6 Lebensmonaten wird der Säugling ausschließlich gestillt oder über Muttermilch ernährt. ● Sollte das Stillen oder die Muttermilchernährung nicht möglich oder gewünscht sein, erhält der Säugling eine Muttermilchersatznahrung. ● Ab dem 5.– 7. Lebensmonat beginnt der Aufbau der B(r)eikost. ● Ab dem 10. Lebensmonat beginnt der Übergang zur Familienkost.

Muttermilchernährung Muttermilch ist die ideale Nahrung für den Säugling. Sie ist gut bekömmlich und in ihrer Zusammensetzung optimal an die Bedürfnisse des Säuglings angepasst. Sie enthält alle notwendigen Nährstoffe in der richtigen Qualität und Menge, also die richtigen Eiweiße, Fette, Kohlenhydrate, Mineralstoffe, Spurenelemente und Vitamine, die ein Säugling für sein gesundes Gedeihen braucht. Sie ist leicht verdaulich

14

1

Essen und Trinken

Monate ①

② ③

1. halbes Jahr: Muttermilch

④ ⑤

2. halbes Jahr (5. – 7. Monat): B(r)eikost und weiter stillen Ende des 1. Lebensjahres (ab 10. Monat): Essen fast wie ⑩ die Großen ⑪ ⑫

⑥ Abb. 14.15 Gestillter Säugling. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

⑦ ⑧ ⑨

Abb. 14.14 Nahrungsaufbau beim Säugling. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

und passt sich den wachsenden Nahrungsbedürfnissen des Säuglings während der Entwicklung an. Ihre Zusammensetzung verändert sich im Laufe der Stillzeit (▶ Tab. 14.9).

terstützt so die Ausscheidung von Mekonium.

Kolostrum (Vor- oder Neugeborenenmilch)

Sie wird nach dem Kolostrum ab dem 4. Tag nach der Geburt gebildet. Sie enthält weniger Eiweiß, dafür mehr Kohlenhydrate und Fett und geht nach 2–3 Wochen in die reife Frauenmilch über.

Sie hat eine dickflüssige Konsistenz. I. d. R. ist sie gelblich, kann manchmal durch unbedenkliche Blutbeimengungen aber auch leicht rötlich gefärbt sein. Im Unterschied zu regulärer Muttermilch enthält die Vormilch essenzielle Bestandteile für das Neugeborene. Zu diesen Bestandteilen gehören Proteine, Fette, Enzyme, Mineralien, Aminosäuren, Vitamine, Kohlenhydrate, Spurenelemente und Immunglobuline. Ganze Abwehrzellen, die sog. Lymphozyten, können von dem Neugeborenen mit der Vormilch aufgenommen werden. Hiermit bedeckt sie den Magen-DarmTrakt des Säuglings mit einem Film und schützt ihn so vor eindringenden Keimen. Eine rechtzeitige Gabe der Vormilch verringert so die Krankheitsanfälligkeit signifikant. Zudem bewirkt das Kolostrum eine Anregung der Darmtätigkeit und un-

Übergangsmilch (transitorische Milch)

Reife Muttermilch Sie hat einen höheren Energiegehalt und ist besonders reich an essenziellen Fettsäuren (Linolsäure). Muttermilch enthält im Vergleich zu Kuhmilch weniger Einweiß (ein zu hoher Eiweißgehalt in der Säuglings- und Kleinkindnahrung kann die Nieren schädigen), mehr Kohlenhydrate, v. a. Laktose, das beim Abbau im Darm ein schwach saures Milieu entwickelt und die gesundheitsförderliche Bifidusflora des kindlichen Darms unterstützt. Muttermilch enthält mehr Antikörper als Kuhmilch, v. a. das Immunglobulin A, das zusammen mit Immunglobulinen des diaplazentar übertragenen Nestschut-

zes (IgG) bei der spezifischen Abwehr hilft. Im Laufe einer Stillmahlzeit verändert sich die Zusammensetzung der Milch. Bei den ersten Schlucken erhält der Säugling vorwiegend die flüssigen Nahrungsbestandteile. Je länger die Stillmahlzeit dauert, desto höher wird der Fettanteil der getrunkenen Milch. Der Säugling kann somit über die Trinktechnik und Dauer der Stillmahlzeit bestimmen, ob er die Milch eher als Durstlöscher oder zum Sättigen benötigt.

H ●

Merke

Eine zusätzliche Flüssigkeitsgabe ist bei voll gestillten Säuglingen nicht notwendig.

Bei einer ausgewogenen Ernährung der Mutter enthält die Muttermilch für einen reif geborenen Säugling ausreichend Vitamine und Mineralstoffe mit Ausnahme von Vitamin D, K und Fluor, die auf ärztliche Anordnung substituiert werden. Die Milchmenge wird beim Stillen nach Bedarf („ad libitum“) nach dem Prinzip „Angebot und Nachfrage“ geregelt (▶ Abb. 14.15). Je häufiger und mehr der Säugling trinkt, umso mehr Milch wird gebildet. Die Häufigkeit und Länge der Stillmahlzeiten sind meistens stärker vom Temperament des Säuglings abhängig als von der Milchmenge der Mutter.

14 Tab. 14.9 Durchschnittliche Zusammensetzung der Muttermilch (jeweils pro 100 g).

342

Kolostrum

Übergangsmilch

reife Frauenmilch

Kuhmilch

Energie (kcal)

56

65

69

64

Eiweiß (g)

2,6

1,6

1,1

3,5

Kohlenhydrate (g)

4,9

6,6

7,0

4,8

14.4 Pflegemaßnahmen In Wachstumsphasen des Säuglings (meist um die 3. und 6. Lebenswoche sowie dem 3. Lebensmonat) ist für 1 – 2 Tage ein erhöhter Appetit bemerkbar, bis sich die Milchbildung wieder dem erhöhten Bedarf angepasst hat.

Praxistipp Pflege

Z ●

Die Pflegefachkraft sollte die Mutter dahin gehend unterstützen, das Kind bei Bedarf anzulegen.

Merke

H ●

Anzeichen für ein ausreichendes Stillen sind ein ruhiges und zufriedenes Baby, das Gedeihen des Säuglings, d. h. die zunehmende Gewichtsentwicklung (S. 330), regelmäßig nasse Windeln sowie eine physiologische Stuhlausscheidung (S. 381). Stillproben, d. h. das Wiegen des Säuglings vor und nach einer Stillmahlzeit, sind häufig wenig aussagekräftig, können sich negativ auf die Stillsituation auswirken und bedürfen daher einer strengen Indikationsstellung.

Die Grundlagen des Stillens und der Stillanleitung werden im Kap. Pflege der Schwangeren (S. 490) beschrieben. Auch ein Säugling, der aufgrund eines kindlichen Stillhindernisses, Erkrankung oder räumlicher Trennung von Mutter und Kind nicht an der Brust ernährt werden kann, kann Muttermilch erhalten. In diesem Fall wird die Muttermilch hygienisch ausgestrichen oder abgepumpt und dann dem Kind gegeben.

Haltbarkeit von Muttermilch Die Haltbarkeit ergibt sich aus der Lagerungstemperatur: ● bei 25 °C: 4 – 6 Stunden ● bei 19 – 22 °C: 10 Stunden ● bei 15 °C: 24 Stunden ● im Kühlschrank 3 Tage ● im Tiefkühlgerät (bei –19 °C): 6 Monate und länger Klinikinterne Regelungen können insbesondere bei Frühgeborenen oder kranken Neugeborenen davon abweichen und strenger gehandhabt werden. Vor allem wird beim Transport der Muttermilch auf die strenge Einhaltung einer kontinuierlichen Kühlkette Wert gelegt. Mitunter wird ein mikrobiologischer Test der Muttermilch vorgeschrieben. Die Eltern werden über die entsprechenden Regelungen informiert.

▶ Auftauen und Erwärmen. Muttermilch sollte schonend aufgetaut werden: entweder sehr langsam im Kühlschrank oder bei Raumtemperatur. Wenn es schnell gehen soll, kann sie unter fließend kaltem und allmählich wärmerem Wasser (bei max. 37 °C) aufgetaut werden. Muttermilch sollte nicht in der Mikrowelle erhitzt werden, da dadurch Bestandteile der Milch zerstört werden. Einmal aufgetaute Muttermilch kann im Kühlschrank 24 Stunden gekühlt werden. Sie sollte jedoch nicht wieder eingefroren werden. Gelagerte Muttermilch trennt sich im Gegensatz zu homogenisierter Kuhmilch in Sahne, die oben schwimmt, und in die untere wässrige Phase, die bläulich – bisweilen gelblich oder sogar bräunlich – aussieht. Vor dem Trinken sollten die Phasen durch vorsichtiges Schütteln miteinander vermischt werden.

Zwiemilchernährung Definition

L ●

Wird die Muttermilchernährung mit Säuglingsmilchnahrung (Formula) kombiniert, so wird von Zwiemilchernährung gesprochen.

Die Gabe einer Säuglingsmilchnahrung bei einem gestillten Säugling ist problematisch: Der Aufbau der gastrointenstinalen Schutzbarriere und der Bifidusflora des Darmtrakts wird gestört. Hierdurch kann die Gefahr für Darminfektionen, NEC (nekrotisierende Enterokolitis des Frühgeborenen) und Allergien ansteigen. Da die Trinktechnik an der Brust von der an Flasche und Sauger abweicht, kann es zu einer sog. Saugverwirrung kommen. Hierbei haben die Kinder Schwierigkeiten, an der Brust richtig zu saugen, wenn ihnen in den ersten Tagen postpartum verschiedene Saugmöglichkeiten angeboten wurden bzw. zwischen ihnen hin und her gewechselt wurde.

Merke

H ●

Die zusätzliche Gabe von Säuglingsmilchnahrung bei einem gestillten Säugling bedarf einer strengen Indikationsstellung. Vor der Gabe von Milchfertigprodukten sollten durch das medizinische Personal alle Unterstützungsmöglichkeiten zur Verbesserung der Milchmenge und Unterstützung in der Trinktechnik ausgeschöpft werden. Empfehlungen zum babyfreundlichen Krankenhaus s. Kap. Pflege der Schwangeren und der Wöchnerin (S. 490).

Indikationen zur ergänzenden Einführung von Milchfertignahrungen beim gestillten Säugling sind: ● Gewichtsverlust über 10 % des Geburtsgewichtes (GG), einhergehend mit verspäteter Milchbildung ● klinische Anzeichen einer Dehydratation ● Hypoglykämien bei Risikokindern (Früh- oder Mangelgeborene mit einem GG unter 2,5 kg, Kinder diabetischer Mütter, postasphyktische und unterkühlte Neugeborene, Neugeborene mit Infektionen) ● fehlendes Vorhandensein von Muttermilch bei räumlicher Trennung von Mutter und Kind (Verlegung des Neugeborenen ohne seine Mutter) Sollte eine zusätzliche Milchgabe in Einzelfällen notwendig und abgepumpte Muttermilch nicht verfügbar sein, so ist eine geeignete Milchnahrung (Pre-Nahrung, HA-Nahrung oder Spezialnahrungen, ▶ Tab. 14.10) mit einem ausgewogenen Verhältnis aller notwendigen Nährstoffe einer Verabreichung von Glukoselösungen vorzuziehen.

Merke

H ●

Bei der Gabe von Glukose kann es zu einer Stimulation der Insulinsekretion kommen und dadurch eine Unterzuckerung provoziert werden.

Falls die Zwiemilchernährung unumgänglich ist, wird zur Vermeidung der Saugverwirrung v. a. bei gesunden, reif geborenen Säuglingen bei Stillwunsch der Mutter empfohlen, dass die Nahrungsgabe nicht über den Flaschensauger, sondern über alternative Trinktechniken (▶ Abb. 14.16) erfolgen soll, z. B.: ● mit Becher, Löffel, Medikamentenschiffchen, Pipette, Spezialtrinkflasche mit einem weichen löffelförmigen Mundstück (SoftCup, ▶ Abb. 14.16a) ● mit Fingerfütterung (Fingerfeeding) mittels Spritze mit Nahrungssonde (am Finger fixiert, ▶ Abb. 14.16b) oder Fingerfeeder-Aufsatz (Silikonfütteraufsatz) ● an der Brust mit Brusternährungsset durch Spritze mit Nahrungssonde (auf der Brust fixiert, ▶ Abb. 14.16c)

14

3

Essen und Trinken

Tab. 14.10 Säuglingsmilchnahrungen im Überblick. Säuglingsnahrung

Einsatzbereich

Besonderheiten

Anfangsnahrung, Pre-Nahrung

ab dem 1. Lebenstag



1er-Nahrung

ab dem 1. Lebenstag

● ●





Folgenahrung, 2er-Nahrung

frühestens nach dem 6. Lebensmonat



● ●



3er-Nahrungen

frühestens nach dem 10. Lebensmonat





HA-Nahrung (= hypoallergen)

zur Allergieprävention

● ●



● ●

extensiv hydrolysierte Säuglingsnahrung (eHF = extensiv hydrolysierte Formula)

zur Behandlung von Allergien und Malabsorptionen



Heilnahrung

zur diätetischen Behandlung bei Durchfallerkrankungen





● ● ● ●

milchzuckerreduzierte Nahrung

bei Blähungsneigung

● ●

angedickte Nahrungen

unterstützend bei Reflux

● ●

Nahrungen auf Sojabasis

bei Milchunverträglichkeit: Galaktosämie und Laktoseintoleranz

● ●



Frühgeborenen-Nahrung

14

344

für früh- und mangelgeborene Kinder

● ●

entspricht von der Zusammensetzung am ehesten der Muttermilch, enthält nur Laktose als Kohlenhydrat kann wie Muttermilch nach Bedarf gegeben werden enthält im Unterschied zu Pre-Nahrungen neben Laktose auch andere Kohlenhydrate, wie Stärke etwas dickflüssiger/sämiger, es wird ein größeres Saugerloch als bei der Pre-Nahrung benötigt für allergiegefährdete Säuglinge und Säuglinge mit bestehenden Unverträglichkeiten stehen Spezialnahrungen zur Verfügung die Zusammensetzung der Folgemilch unterscheidet sich bei unterschiedlichen Präparaten und Firmen stärker als bei den Anfangsnahrungen höherer Einweißgehalt, höhere Nährstoffdichte, mehr Kalorien manche enthalten neben Milchzucker und Stärke weitere Kohlenhydratquellen (Glukose, Saccharose, Maltodextrin) sie dienen nur als Ergänzung zur Beikost meist noch stärker nährstoffangereichert und teilweise mit Geschmacksstoffen aromatisiert die Umstellung auf Folgemilchnahrung ist nicht notwendig; sie kann die Geschmacksgewöhnung an süße und aromatisierte Inhaltsstoffe fördern teilhydrolysiertes Kuhmilchprotein, allergenreduziert nur zur Prävention geeignet, nicht bei bestehenden Allergien anwenden HA-Nahrungen haben den gleichen Nährstoffgehalt wie die anderen Säuglingsnahrungen wird für alle Altersstufen angeboten schmeckt leicht bitter auf ärztliche Anordnung es stehen unterschiedliche Präparate je nach Indikation zur Verfügung meist nicht notwendig, da die Umstellung der bisherigen Nahrung auch eine Belastung für den Darmtrakt darstellt auf ärztliche Anordnung leichter verdaulich und bekömmlich nicht anwenden bei gestillten Kindern (weiter stillen) für Kinder, die bislang HA-Nahrung bekommen haben, stehen HA-Heilnahrungen zur Verfügung auf ärztliche Anordnung zur Ernährung bei vermuteter und leichter MilchzuckerVerdauungsschwäche auf ärztliche Anordnung größeres Saugerloch notwendig, da die Nahrung zähflüssig ist auf ärztliche Anordnung aufgrund der phytoöstrogenen Wirkung und des allergischen Potenzials von Soja nur geringen Indikationen vorbehalten evtl. eHF bevorzugen erhöhter Gehalt an Eiweiß, Kalzium und Phosphat falls ausreichend Muttermilch vorhanden, wird diese bei früh- und mangelgeborenen Kindern mineralstoffsupplementiert, d. h., es werden Kalzium und Phosphatprodukte zugegeben

Milchgabe mit Becher, Löffeloder Softcup

vorhandener Menge an Kolostrum bzw. Muttermilch.

Die ergänzende Ernährung des gestillten Säuglings erfolgt mit Becher, Löffel oder sog. SoftCup. Diese Technik ist sowohl für reif geborene als auch für zu früh geborene sowie saugschwache Kinder geeignet und einfach in der Anwendung und einfach zu erlernen. Sie ist ratsam bei gering

▶ Vorgehen. Ein kleiner Becher wird maximal zur Hälfte gefüllt und sanft und ohne Druck auf der Unterlippe angesetzt. Einige Nahrungstropfen werden in den Mund geträufelt und das Schlucken abgewartet. Während der gesamten Mahlzeit bleibt der Becher auf der Unterlippe. Das

Baby leckt die Nahrung mittels seiner Zungenbewegungen. Bei dieser Trinktechnik ist das Saugbedürfnis des Kindes nicht befriedigt.

Fingerfeeding Beim Fingerfeeding erlernt das Kind die gleichen Trinkbewegungen wie an der Brust.

14.4 Pflegemaßnahmen

a

Mund zum „Saugpunkt“ am Übergang harter/weicher Gaumen hineingezogen. Die Saug-, Kiefer- und Schluckbewegungen sollten hierbei von geschultem Personal beobachtet werden. Nach 1 – 2 Minuten koordinierter Saug-, Kiefer- und Schluckbewegungen wird die Nahrung verabreicht, indem der auf der Spritze befindliche Fingerfeeder sanft neben dem Finger 0,5 cm in den Mundwinkel eingeführt wird. Die Nahrung wird in Portionen von ca. 0,5 ml gegeben (das entspricht etwa einem Schluck bei einem Neugeborenen). Durch den im Mund befindlichen Finger ergibt sich eine gute Kontrolle über das Saug-Schluck-Verhalten des Kindes.

Zusätzliche Nahrungsgabe an der Brust

b

Diese Technik wird bei Trinkschwäche des Säuglings oder Muttermilchmangel angewendet. Die Ernährung über das Brusternährungsset ist für das Kind nicht anstrengender als das Trinken aus der Flasche. Das Saugmuster, die transkutane Sauerstoffsättigung und die Herzfrequenz der Frühgeborenen sind an der Brust jedoch stabiler als bei Flaschenernährung. ▶ Vorgehen. Bei der zusätzlichen Nahrungsgabe an der Brust wird dem Kind während des Stillens und der stillüblichen Trinkbewegungen über Spritze und Sonde oder über ein sog. Brusternährungsset zusätzliche Nahrung zugeführt.

c

Merke Abb. 14.16 Alternative Trinktechniken zur Vermeidung der Saugverwirrung. a Becherfütterung, b Fingerfütterung, c an der Brust.

▶ Vorgehen. Nach dem Desinfizieren der Hände werden diese gründlich gewaschen (um den Geruch und Geschmackssinn des Säuglings nicht zu irritieren). In manchen Kliniken wird zum Fingerfeeding ein Fingerling angezogen. Dieser wird mit Wasser abgespült und es werden einige Tropfen der Nahrung daraufgegeben. Der im Fachhandel erhältliche „Fingerfeederaufsatz“ (Silikonfütteraufsatz) wird mit 10oder 20-ml-Spritzen verbunden, in die die Nahrung aufgezogen wurde. Durch sanfte Stimulation von Mund und Wangen öffnet der Säugling den Mund. Danach wird der Finger so in den Mund des Kindes eingeführt, dass die Fingerkuppe in Richtung Gaumen zeigt. Durch die Saugbewegungen des Kindes wird der Finger tief in den

H ●

Sobald es die äußeren Umstände, Milchmenge der Mutter bzw. Gesundheitszustand des Säuglings erlauben, sollte wieder versucht werden, den Säugling an der Brust zu ernähren.

Die Saugverwirrung ist ein Phänomen reifer Neugeborener der ersten Lebenstage und -wochen. Bei Früh- und Mangelgeborenen ist sie ausgesprochen selten. Bei ihnen sowie bei älteren Säuglingen kann eine evtl. notwendige Milchernährung zusätzlich zum Stillen oder die Ernährung mit abgepumpter Muttermilch auch mit der Säuglingstrinkflasche mit Sauger angeboten werden. Einige Säuglingsmilchflaschen bieten alternative Trinkaufsätze, bei denen die Trinktechnik weniger vom Trinkverhalten an der Brust abweicht und den Kindern den Wechsel erleichtert.

Säuglingsmilchnahrung Nur bei einem geringen Prozentsatz liegt ein mütterliches oder kindliches Stillhindernis vor, s. Pflege der Schwangeren (S. 490). Wenn die Muttermilchernährung des Säuglings nicht möglich ist oder nicht gewünscht wird, kommt der richtigen Auswahl einer geeigneten Säuglingsmilchnahrung (Muttermilchersatznahrungen = Formula) sowie einer liebevollen Gestaltung der Flaschengabe eine große Bedeutung zu. Im Angebot stehen Anfangsnahrungen (Pre- und 1er-Nahrungen) und Folgemilch (2er- und 3er-Nahrungen, ▶ Tab. 14.10), für besondere Indikationen auf ärztliche Anordnung Spezial- und diätetische Nahrungen zur Verfügung (▶ Tab. 14.10).

Merke

H ●

Da die Pre-Nahrung der Muttermilch ähnelt, ist eine Umstellung auf Folgemilchnahrungen nicht notwendig!

Andere Säuglingsmilchpräparate, z. B. auf Ziegenmilchbasis, zeigen keine Vorteile, sind weniger erforscht und kontrolliert und werden daher nicht empfohlen. Die in den 1970er- Jahren übliche Selbstzubereitung einer Säuglingsmilchnahrung aus Getreideflocken (z. B. Haferschleim), verdünnter Kuhmilch, Öl und Milchzucker und ggf. Obst- oder Gemüsesaft ist aus hygienischen und ernährungsphysiologischen Gründen nicht empfehlenswert.

Merke

H ●

Gänzlich abzuraten ist von vegetarischen Milchersatztrinknahrungen, wie Reismilch oder Mandelmilch, da sie den ernährungsphysiologischen Bedürfnissen von Säuglingen nicht entsprechen und bei ausschließlicher Ernährung zu Gedeihstörungen führen können.

Zubereitung der Flaschennahrung Für die Klinik stehen meist bereits fertig zubereitete Milchnahrungen zur Verfügung oder sie werden aus Milchpulver in größeren Mengen hygienisch korrekt zentral zubereitet. Für die Anleitung der Eltern zur Zubereitung der Säuglingsmilchnahrung in häuslicher Umgebung gilt: ● Säuglingsmilchnahrung wird immer frisch zubereitet. ● Leitungswasser, das für die Zubereitung von Säuglingsnahrung geeignet ist,

14

5

Essen und Trinken men. Nach ein paar Tagen und Wochen vergrößert sich das Magenvolumen und die Mahlzeitenfolge pendelt sich auf ca. 5 – 6 Mahlzeiten am Tag ein.

H ●

Merke

Die ungefähre Tagestrinkmenge (ml) beträgt bis zum 10. Lebenstag (Finkelstein-Regel): (Lebenstage –1) × 50 – 80 g Nach dem 10. Lebenstag sollte das Kind pro Tag eine Menge trinken, die etwa ⅕ bis ⅙ seines Körpergewichts entspricht.

Abb. 14.17 Zubereitung der Säuglingsmilchnahrung. Der Messlöffel ist gestrichen voll. (Foto: P. Blåfield, Thieme)







kann verwendet werden. Bei Unsicherheit das Wasser behördlich prüfen lassen, Wasser aus Bleileitungen und ungeprüften Hausbrunnen meiden. In diesem Fall abgefülltes Wasser mit dem Aufdruck „für die Zubereitung von Säuglingsnahrung geeignet“ verwenden. Die Dosierung erfolgt nach Packungsbeilage (der dazugehörige Messlöffel sollte nur gestrichen voll sein, ▶ Abb. 14.17). Es ist keine Zugabe in Form von weiteren Flocken oder Säften notwendig. Reste werden verworfen, Flaschen und Sauger werden nach jeder Mahlzeit gründlich gesäubert. Die Flasche wird mit der Flaschenbürste unter fließendem Wasser gründlich gereinigt, die Gummisauger bei Bedarf ausgekocht. Bei kranken und immungeschwächten Kindern sowie Kindern unter 6 Monaten ist die tägliche Anwendung eines Vaporisators zur hygienischen Aufbereitung von Flaschen und Saugern zu Hause empfehlenswert.

Nahrungsmenge Bei der Nahrungsmenge gilt auch bei der Pre-Nahrung die Ad-libitum-Regel (▶ Tab. 14.11). Das gesunde Kind bekommt immer dann zu essen, wenn es sich meldet. Das kann anfangs alle 2 – 4 Stunden der Fall sein. Der Magen eines Neugeborenen kann direkt nach der Geburt etwa 5 – 10 ml Flüssigkeit aufneh-

14

Merke

Der Nährstoffbedarf und Appetit sind abhängig von der Aktivität und dem Naturell des Kindes, sodass sich natürliche Schwankungen im Bedarf ergeben.

Wie bei der Muttermilchernährung gilt auch bei den Anfangsnahrungen: Wenn das Kind einen gesunden, zufriedenen Eindruck macht und regelmäßig nasse Windeln und Stuhlgang hat und mit seiner Gewichtsentwicklung in der Norm ist, ist die Nahrungsmenge genau richtig. Bei Folgenahrungen sollte von der auf der Verpackung angegebenen Menge nicht abgewichen werden, da ansonsten eine Fehlernährung droht.

Verabreichung der Flaschennahrung Die Milchflasche wird mit einem zur Milchflasche, zur Größe des kindlichen Gaumens und zur Sämigkeit der Nahrung passenden Sauger versehen. Die Milchtemperatur der zubereiteten Flasche wird unmittelbar vor der Nahrungsgabe noch einmal überprüft. Hierzu wird die Flasche an die Unterarminnenseite der Bezugsperson oder Pflegefachkraft gehalten oder es werden ein paar Tröpfchen auf die Handgelenkinnenseite gegeben, um zu prüfen, ob die Temperatur stimmt. Die

Temperatur sollte als angenehm auf der Haut empfunden werden.

a ●

Eltern

Die Eltern werden darüber aufgeklärt, dass sie aus hygienischen Gründen nicht am Sauger des Kindes nuckeln sollen.

Der Säugling kann folgende Positionen einnehmen: ● Zur Verabreichung der Flaschennahrung wird der Säugling entspannt im Arm gehalten, was der Lage des Säuglings bei der Wiegeposition beim Stillen entspricht. Diese Position ermöglicht einen intensiven Körper- und Blickkontakt, unterstützt die Eltern-Kind-Interaktion und das Bonding (▶ Abb. 14.18). ● Eine weitere Möglichkeit der Flaschengabe ist auf den Oberschenkeln der Pflege- oder Bezugsperson. Hierbei werden die Füße auf einem Schemel aufgestellt und der Säugling wird mit erhöhtem Oberkörper parallel auf die Beine gelegt. Die Vorteile sind die bessere Beobachtungsmöglichkeit sowie die streng parallele Lage des Säuglings. Der Nachteil liegt im verringerten Körperkontakt. ● Ein Säugling, der aufgrund seiner Erkrankung nicht auf den Arm genommen werden kann, kann auch im Bett oder Inkubator mit der Flasche ernährt werden. Hierzu werden der Kopf und der

Tab. 14.11 Tägliche Nahrungsmenge. Alter

Mahlzeiten/Tag

Trinkmenge in ml/kgKG*/Tag

Anteil des Körpergewichts in etwa

Frühgeborenes

8–12 (je nach Befinden und Gedeihen)

180 – 200



1.– 3. Monat

5–8

150 – 170



4.–6. Monat

5–6

140–160

1/

7.–9. Monat

4–5

110–160 (schrittweise Reduzierung der Milchmahlzeiten, Wasser oder Tee zur Beikost)



10.–12. Monat

4–5

100–120

1/

Die Trinkmenge sollte nie größer als 1000 ml sein. * kgKG = je kg Körpergewicht

346

● H

Abb. 14.18 Verabreichung der Flaschennahrung auf dem Arm (Symbolbild). (Foto: Irina Schmidt – stock.adobe.com)

7

10

14.4 Pflegemaßnahmen Oberkörper des Kindes mit dem Unterarm der Bezugsperson oder Pflegefachkraft so unterstützt, dass der Säugling erhöht liegen kann. Das Fixieren des Kindes im Nackenbereich sollte vermieden werden, weil hierdurch die Schlucktätigkeit beeinträchtigt wird.

Merke



Merke

H

Während der Nahrungsgabe sollte die Aufmerksamkeit der Bezugsperson oder Pflegefachkraft ausschließlich auf das Kind gerichtet sein.

Praxistipp Pflege

Nahrungsmittel erfüllt eine wichtige Aufgabe bei der Versorgung des Babys und wird nacheinander in den Ernährungsplan eingeführt.

Z ●

Abb. 14.19 Mit Milch gefüllter Sauger. Der Sauger sollte kontinuierlich mit Milch gefüllt sein, damit der Säugling keine Luft schluckt (Symbolbild). (Foto: Кирилл Рыжов – stock.adobe.com)

Beobachten Sie die Eltern-Kind-Interaktion bei der Flaschengabe. Stellen Sie sicher, dass die Mahlzeitensituation so wenig wie möglich gestört wird.

Der Sauger wird in den geöffneten Mund des Kindes eingeführt, sodass die Zunge unter dem Sauger liegt. Er darf nicht gegen Widerstände eingeführt werden, ggf. werden die Lippen des Säuglings mit dem Sauger berührt, um den Suchreflex auszulösen. Bei der Nahrungsgabe wird darauf geachtet, dass der Sauger kontinuierlich mit Milch gefüllt ist (▶ Abb. 14.19). Die nahrungsanreichende Person beobachtet, ob der Säugling rhythmisch koordinierte Saug- und Schluckbewegungen zeigt. Bei Bedarf wird während der Mahlzeit, ansonsten in jedem Fall nach der Flaschenmahlzeit, dem Baby die Gelegenheit gegeben, evtl. geschluckte Luft aufzustoßen. Hierfür wird das Baby hochgenommen und sanft auf den Rücken geklopft oder darübergestrichen. Beim Klopfen sollen Wirbelsäule und Nierengegend ausgespart werden (▶ Abb. 14.20). Zeigt das Kind keine Saug- und Schluckbewegungen mehr an der Flasche, schläft ein oder wendet es sich ab, ist seine Mahlzeit beendet. Ein gesundes Kind sollte nicht dazu genötigt werden, die Flasche leer zu trinken, wenn es signalisiert, dass es statt ist. Bei kranken Kindern muss je nach Gesundheitsstörung die minimale und maximale Trinkmenge festgelegt werden und die Restmenge zur gewünschten Gesamtnahrungsmenge ggf. sondiert werden.

Merke

H ●

Dokumentiert werden die Uhrzeit, Nahrungsmenge, Art der verabreichten Nahrung (z. B. Muttermilch, Pre) sowie bei Bedarf das Trinkverhalten und evtl. aufgetretene Besonderheiten.

Abb. 14.20 Aufstoßen. Es ist sinnvoll, eine Mullwindel über die Schulter der Bezugsperson oder Pflegefachkraft zu legen, um evtl. hochgebrachte Milch aufzufangen (Symbolbild). (Foto: Brandon Klein – stock.adobe.com)

Die Dauer der Flaschenmahlzeit sollte ähnlich wie bei den Stillmahlzeiten etwa 20 Minuten betragen. Bei frühgeborenen, kranken und beeinträchtigten Säuglingen ist eine zu große Anstrengung durch das Trinken zu vermeiden, ggf. kann mit der Auswahl eines anderen Saugers oder einer anderen Art der Nahrungsgabe eine zu große Belastung des Kindes vermieden werden.

Beikost Definition

L ●

Beikost beinhaltet alle Nahrungsmittel eines Säuglings – mit Ausnahme von Muttermilch und Flaschenmilch.

Da der Säugling i. d. R. pürierte Nahrungsmittel sowie breiig angerührte Getreideflocken zu sich nimmt, könnte man genauso auch von Breikost sprechen. Zwischen dem 5. und 7. Lebensmonat wird der erhöhte Bedarf an Energie und Nährstoffen mit der Milch allein nicht mehr gedeckt. Das Kind benötigt nun Nährstoffe aus Gemüse, Obst, Kartoffeln, Butter, Öl, Fleisch und Getreide. Jedes der genannten

H ●

Die Einführung der Beikost sollte den üblichen Empfehlungen in Deutschland zufolge schrittweise zwischen dem 5. und 7. Lebensmonat erfolgen. Bis dahin sollte die Ernährung außschließlich über Muttermilch oder Fertigmilch erfolgen. Ab dem 10.– 12. Lebensmonat folgt dann der Übergang zur Familienkost. Teilgestillt wird weiterhin bei Bedarf.

Das Kind ist für die Einführung der Breikost bereit, wenn es: ● seine Hände häufiger zum Mund führt und darauf kaut ● vermehrten Speichelfluss hat ● deutliches Interesse zeigt, wenn andere Menschen in seiner Gegenwart Nahrungsmittel zu sich nehmen ● verstärkten Appetit hat (erkennbar an kürzeren Mahlzeitenabständen) ● mit Unterstützung aufrecht sitzen kann ● bei der Berührung mit dem Löffel die Zunge nicht mehr herausstreckt Wenn das Kind noch Schwierigkeiten mit den ersten Breigaben hat, so ist es vielleicht noch nicht für die Beikosteinführung bereit gewesen. Es kann mit Geduld und ohne Druck die Löffelkost weiterhin angeboten oder eine kleine Pause eingelegt werden, um 1 – 2 Wochen danach einen neuen Versuch mit der Breikost zu beginnen. Manche Kinder benötigen etwas Zeit, sich an einen neuen Geschmack oder die veränderte Form der Nahrungsaufnahme zu gewöhnen. Das Kind sollte nicht dazu gezwungen werden, den Teller leer zu essen.

Eltern

a ●

Die Eltern sind dahin gehend zu beruhigen, dass eine Fehlernährung bei gesunden Kindern, die sich ein wenig mehr Zeit bei der Umstellung auf die Beikost lassen, i. d. R. nicht zu befürchten ist. Eine zu starke Erwartungshaltung beim Übergang zur Beikost vonseiten der Eltern oder des Gesundheitspersonals könnte frühkindliche Essstörungen (S. 333) provozieren.

14

1. Schritt: Gemüse-KartoffelFleisch-Brei Um das Kind an die ausgewogene Breiund Familienkost heranzuführen, werden zwischen dem 5. und 7. Lebensmonat bei

7

Essen und Trinken Beobachtung der o. g. Anzeichen zunächst einige Löffel fein püriertes reines Gemüsemus (z. B. Karotten-, Kürbis-, Pastinaken-, Brokkolipüree) angeboten. Das Kind sollte bei den ersten Löffelversuchen weder zu hungrig noch bereits gesättigt sein. Die optimale Zeit ist daher, rechtzeitig vor einer zu erwartenden Milchmahlzeit zu beginnen. Wenn das Kind das Essen vom Löffel von sich aus beendet, erhält es seine gewohnte Milchmahlzeit. Gelingt das Essen des Gemüsepürees gut, werden im Abstand weniger Tage weitere Zutaten, wie eine Stärkebeilage (z. B. Kartoffeln), Fett in Form von Rapsöl, Fleisch und Obst (als Vitamin-C-Zugabe zur besseren Verwertung der Eisenaufnahme), dazugegeben. Erreicht die mit Löffel gegessene Nahrungsmenge eine normale Portionsgröße, wird versuchsweise nicht mehr nachgestillt bzw. die Milchnahrung nach der Breigabe wird weggelassen. Eine zusätzliche Flüssigkeitszufuhr mit Wasser oder ungesüßtem Tee ist dann notwendig. Bei allergiegefährdeten Kindern sollten zwischen der Einführung neuer Nahrungsmittel jeweils ein paar Tage vergehen, um die Verträglichkeit der einzelnen Nahrungsbestandteile besser beurteilen zu können.

2. Schritt: Milch-Getreide-Brei Der Milch-Getreide-Brei deckt den Protein- und Kalziumbedarf und versorgt den Körper mit Ballaststoffen und Spurenelementen aus dem Getreide. Er wird üblicherweise abends angeboten in der Hoffnung, dass das Kind hierdurch keine zusätzliche nächtliche Milchmahlzeit mehr benötigt.

rungsbestandteile ausspeien, finden andere Kinder so viel Freude am eigenständigen Essen, dass sie recht bald morgens und abends ein mit Frischkäse bestrichenes Brot, zum Mittagessen Kartoffeln, Nudeln und gedünstetes Gemüse aus der Hand verzehren sowie nachmittags Obst und gebackene Getreideprodukte.

Merke

H ●

Das Kind ist zum Übergang zur Familienkost bereit, wenn es: ● Interesse an festeren Nahrungsmitteln (z. B. Brot) zeigt ● bei weniger pürierten Nahrungsmitteln keinen Würgereiz bekommt ● den Brei verweigert, wenn andere Nahrungsmittel auf dem Tisch stehen ● nonverbal oder verbal deutlich seine Ernährungswünsche in Bezug auf Familienkost artikuliert ● feste Nahrungsmittel, die es mehr oder weniger zufällig erwischen kann, unverzüglich in Richtung Mund bewegt

Um den Bedürfnissen des Kindes am Familientisch gerecht zu werden, sollte die allgemeine Familienkost (S. 351) zunächst zurückhaltend gewürzt sein und keine Nahrungsmittel beinhalten, die dem Kind nicht bekommen würden. Das Kind kann dünn bestrichenes Brot, in mundgerechte Stücke geschnitten, sowie Obststückchen o. Ä. selbstständig zum Mund führen. Lauwarme Kartoffeln und gedünstete Gemüse kann das Kind ebenfalls mit den Händen essen. Bei dem Gebrauch von Besteck benötigt das Kind anfangs noch Unterstützung.

3. Schritt: Getreide-Obst-Brei

14

Der milchfreie Getreide-Obst-Brei dient zur ergänzenden Versorgung mit Vitaminen und Ballaststoffen. Er wird meistens als Zwischenmahlzeit zwischen der Gemüse-Kartoffel-Fleisch-Mittagsmahlzeit und dem Abend-Milch-Getreide-Brei gereicht. Wenn das Kind bei der Einführung dieses Breis schon Interesse zeigt, selbstständig mit den Händen essen zu wollen, können einzelne Bestandteile dieses Breis auch als Fingerfood (z. B. Reiswaffeln, Gebäck, weiche Obststückchen) unter Aufsicht verzehrt werden.

4. Schritt: Übergang zur Familienkost Hier gibt es wiederum große Unterschiede zwischen den Bedürfnissen und Vorlieben der einzelnen Kinder. Während die einen auch ihre Morgenmilchmahlzeit noch einmal durch einen Milch-GetreideBrei ersetzen lassen und alle festeren Nah-

348

Baby led weaning Das Baby led weaning (BLW) wurde von einer britischen Hebamme und Stillberaterin entwickelt und bekannt gemacht. Wörtlich übersetzt steht es für „(vom) Säugling geführtes Abstillen“ oder „Entwöhnen“. Das Baby soll schon früh bei den Mahlzeiten der Familie dabei sein. Hierdurch wird es leichter an die Familienkost herangeführt. Die BLW-Methode sieht vor, dem Kind ab einem Alter von ca. 6 Monaten von Beginn an nur Nahrung anzubieten, die sie selbst greifen, zum Mund führen und anschließend mit Zunge und Gaumen zerdrücken können, also keine zuvor pürierte Nahrung und Brei. Es bekommt, wenn es Interesse zeigt, die gleichen Lebensmittel wie die übrigen Familienmitglieder in mundgerechten Stücken. Dabei wird das Prinzip des Stillens „nach Bedarf“ bei der Beikost weitergeführt.

Im Rahmen einer im Jahr 2013 begonnenen randomisierten Studie zu BLW wurde das BLISS-Konzept (Baby-Led Introduction to SolidS) entworfen, das die Notwendigkeit von Sicherheitsmaßnahmen und einer verantwortungsvollen Nahrungsmittelauswahl betont. Das BLISS-Konzept empfiehlt: ● mit der Beikosteinführung bis zum 6. Monat zu warten ● Babys nur aufrecht sitzend und nur in Begleitung eines Erwachsenen essen zu lassen ● dem Kind selbst Auswahl und Tempo zu überlassen, anstatt ihm Lebensmittel in den Mund zu stecken ● angebotene Nahrungsmittel sollten in stiftförmigen Stücken portioniert sein, sodass das Baby sie gut greifen kann ● die Nahrungsmittel müssen so weich sein, dass sie gut mit der Zunge zerdrückt werden können. ● Nahrungsmittel wie Nüsse, Popcorn, ganze Körner, Trauben oder Cherrytomaten könnten verschluckt werden und sollten vermieden werden. Es zeigte sich, dass für Kinder, die nach dem BLISS-Konzept an die Beikost herangeführt wurden, kein erhöhtes Risiko des Verschluckens/Aspirierens besteht. Ob diese Art des Nahrungsaufbaus als Nahrungseinstieg gewählt wird, ergänzend zur Breikost oder in der Phase des Übergangs zur Familienkost, sollte von den Signalen und dem Gesundheits- und Entwicklungsstand des Kindes abhängig gemacht werden.

Zubereitung der Breie Während im Krankenhaus Breie für Säuglinge und Kleinkinder entweder aus Fertigzubereitungen benutzt oder an zentraler Stelle hygienisch korrekt zubereitet werden, spielen Anleitung und Beratung zur Breizubereitung bei der Elternschulung, in der außerklinischen Kinderkrankenpflege sowie der Präventionsarbeit im Rahmen von „Frühe-Hilfen“-Projekten eine große Rolle (▶ Abb. 14.21). In ▶ Tab. 14.12 werden empfohlene Rezepte zur Breizubereitung vorgestellt. Bei der Verwendung von Fertigprodukten („Gläschen“ oder Instantbrei mit integrierter Milchkomponente) sollten die Inhaltsstoffe so nah wie möglich an die Grundrezepte für die Selbstzubereitung angeglichen sein. Da es im Handel sehr viele unterschiedliche Präparate mit z. T. unnötigen und abzulehnenden Zusätzen von Geschmacks-, Süßungs- und Aromastoffen gibt, lohnt es sich, die Inhaltsangaben der Fertigprodukte sehr genau zu untersuchen und diese entsprechend auszuwählen.

14.4 Pflegemaßnahmen

Lernaufgabe

M ●

Vergleichen Sie in Drogeriemärkten angebotene Säuglingsbreinahrung mit den empfohlenen Rezepten. Wie viele der angebotenen Präparate entsprechen den Empfehlungen? Kontrollieren Sie die in Ihrer Klinik angebotenen Breizubereitungen, ob diese den Empfehlungen entsprechen.

Abb. 14.21 Grundrezept für einen Gemüse-Kartoffel-Fleisch-Brei Zutaten für eine Portion: 100 g Gemüse (Möhren, Pastinaken, Fenchel) • 50 g Kartoffeln • 30 g mageres Fleisch (Rind, Lamm, Pute) oder 3 Esslöffel Haferflocken • 3 – 5 Esslöffel Saft (Orangensaft 100 %) • 1 Esslöffel Rapsöl • ca.100 ml Wasser zum Garen. a Schritt 1: Gemüse waschen, schälen und in Stücke schneiden. (Abb. aus: Cremer L. Für Babys kochen – leicht gemacht.) b Schritt 2: Gemüse mit klein geschnittenem Fleisch bzw. Haferflocken in wenig Wasser etwa 10 – 15 Minuten garen. (Abb. aus: Cremer L. Für Babys kochen – leicht gemacht.) c Schritt 3: Alles mit Saft pürieren. (Abb. aus: Cremer L. Für Babys kochen – leicht gemacht.) d Schritt 4: Rapsöl unterrühren. Falls der Brei zu fest ist, noch etwas Saft zugeben.

Hygienische Grundprinzipien sollten sowohl bei der Selbstzubereitung als auch bei der Verwendung von Fertigprodukten beachtet werden: ● Geöffnete oder frisch zubereitete Breie dürfen maximal 1 Tag im Kühlschrank gelagert werden; es wird nur so viel einem Gläschen entnommen, wie für die aktuelle Mahlzeit verwendet wird. ● Mahlzeitenreste werden verworfen. ● Bei selbst zubereiteten Gemüsebreien sollten die Zutaten frisch sein und nach Möglichkeit aus biologischem Anbau stammen. ● Bei Fertiggläschen muss das Mindesthaltbarkeitsdatum beachtet werden. ● Breiflocken werden in geschlossenen Behältnissen kühl, aber nicht im Kühlschrank gelagert.

Tab. 14.12 Rezepte zur Breizubereitung. Brei

Zutaten

Zubereitung

Praxistipps

Gemüse-Kartoffel-Fleisch-Brei



1 mittelgroße Möhre (ca. 100 g) ● 1 eigroße Kartoffel (ca. 50–70 g) ● 20–30 g Fleisch oder Fischfilet ● 2 Teelöffel Rapsöl ● 2–3 Esslöffel Obstsaft oder Obstmus als Nachtisch Bei fleischfreier Zubereitung Fleisch durch 1 gehäuften Esslöffel Vollkornflocken (Hafer oder Hirse) ersetzen.

Kartoffeln und Gemüse putzen, in kleine Stücke schneiden und zusammen mit dem zerkleinerten Fleisch bzw. Fisch mit wenig Wasser kochen. Nach Zugabe von Öl und Obstsaft fein pürieren. Wenn das Kind älter wird, mit der Gabel zerdrücken.

Fleisch kann in größeren Mengen vorgekocht und in Eiswürfelbehältern schockgefroren werden. Die gefrorenen Fleischwürfel in dicht schließender Dose bis zum Verzehr tiefgekühlt lassen. Pro Mahlzeit einen Fleischwürfel in den frisch gekochten Gemüse-Kartoffel-Brei geben.

Vollmilch-Getreide-Brei



200 ml pasteurisierte Vollmilch 20 g Vollkornflocken 50 g Obstmus, geriebener Apfel oder 2 Esslöffel Obstsaft

Nach Beschreibung auf der Flockenverpackung entweder mit Milch aufkochen oder in aufgekochte abgekühlte Milch einrühren und quellen lassen, anschließend Obst zugeben.

Vollmilch im Brei ist unbedenklich, Vollmilch pur aus der Flasche zu trinken ist im ersten Lebensjahr ernährungsphysiologsich bedenklich. Die Milch enthält im Verhältnis zu den Kohlenhydraten zu viel Eiweiß.

90 ml Wasser 20 g Vollkornflocken 100 g Obstmus 1 Teelöffel Rapsöl

Vollkornflocken gemäß den Packungsangaben in aufgekochtes Wasser einrühren und quellen lassen, Obst und Öl einrühren.

Der Brei schmeckt warm und kalt.

● ●

milchfreier Obst-Getreide-Brei

● ● ● ●

14

9

Essen und Trinken

Erwärmung der Breie Obstmus kann bei Zimmertemperatur gegessen werden. Gläschenkost mit Gemüse und Menüs werden auf Esstemperatur erhitzt, jedoch nicht gekocht. Hierfür eignen sich ein Babykostwärmer, das Wasserbad oder spezielle Wärmemanschetten. Bei der Erhitzung in der Mikrowelle wird der Deckel vorher abgeschraubt, das Gläschen abgedeckt und vorsichtig erwärmt. Noch besser ist es, den Brei in ein mikrowellengeeignetes Breischälchen umzufüllen. Vor der Mahlzeit wird der Brei noch einmal durchgerührt und darauf geachtet, dass er gleichmäßig durchgewärmt, jedoch nicht zu heiß ist. Selbst bereitete Breie auf Esstemperatur abkühlen lassen.

Nahrungsgabe der Breikost Die Position des löffelgefütterten Säuglings ist eine sitzende Position, nicht etwa eine halb liegende (▶ Abb. 14.22). Hierbei wäre das Risiko von Aspirationen erhöht. Die empfohlene Position kann entweder unterstützt sitzend auf dem Schoß der Bezugsperson oder Pflegefachkraft sein, oder – wenn das Kind bereits frei sitzen kann – in einem Hochstuhl.

Merke

H ●

Sturzprävention: Beim Sitzen im Hochstuhl ist das Kind kontinuierlich zu beobachten.

Breikost ist grundsätzlich Löffelkost und sollte bei gesunden Kindern nicht aus der Trinkflasche angeboten werden. Die Nahrungsgabe erfolgt mit einem Plastiklöffel, wenn das Kind nicht zu müde oder zu hungrig ist. Der Löffel sollte gut gefüllt werden, das erleichtert dem Kind das Schlucken. Sobald der Mund geöffnet ist, wird der nächste Löffel angeboten. Die Konzentration des Säuglings während der Breimahl-

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Abb. 14.22 Nahrungsgabe bei der Breikost. Das Kind sitzt auf dem Schoß der Mutter. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

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zeit soll voll auf die Nahrungsaufnahme gerichtet sein. Spiele oder Ablenkungen stören das Essverhalten. Zwischendurch wird immer Wasser oder ungesüßter Tee aus der Trinkflasche oder dem Becher angeboten. Wenn das Kind von sich aus die Nahrung beendet, gilt sie als beendet. Hat es noch nicht ausreichend Nährstoffe aufgenommen, wird anfangs noch Milchnahrung nachgegeben. Bei Kindern mit Gesundheitsstörungen wird bei Bedarf die gegessene Breimenge durch Wiegen der Breischale vor und nach der Mahlzeit bestimmt.

Allergieprävention Mit der S 3-Leitlinie zur Allergieprävention der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) aus dem Jahr 2009 (aktualisiert 2014) wurden alle Empfehlungen zur Allergieprävention in Bezug auf die Säuglingsernährung neu definiert. Wurde früher davon ausgegangen, dass hochallergene Nahrungsmittel im ganzen ersten Lebensjahr gemieden werden sollten und nur eine ganz beschränkte Auswahl von Nahrungsmitteln für allergiegefährdete Kinder angeboten werden sollte, trifft dies mittlerweile nicht mehr zu. Mit Einführung der Beikost wird nun eine abwechslungsreiche Nahrungsauswahl empfohlen, um die Kinder schrittweise an mögliche Allergene heranzuführen. Die Empfehlungen in Bezug auf die Allergieprävention lauten wie folgt: ● Keine Einschränkungen der mütterlichen Ernährung in Schwangerschaft und Stillzeit, eine ausgewogene abwechslungsreiche Ernährung der Mutter wird empfohlen. ● Fischkonsum im 1. Lebensjahr/der Mutter ist möglicherweise protektiv. ● Das Stillen während des ersten halben Jahres wird ausdrücklich empfohlen; ist Stillen nicht möglich oder nicht erwünscht, wird HA- oder eHF-Nahrung im ersten Lebenshalbjahr empfohlen. ● Für einen präventiven Effekt durch eine Verzögerung der Beikosteinführung über den 4. Lebensmonat gibt es keine gesicherten Belege. Das Kind darf ab dem 5. Lebensmonat Beikost erhalten, wenn es seine Bereitschaft dafür signalisiert. Bei der Einführung der Beikost sollte noch teilgestillt werden. ● Das präventive Meiden möglicher Nahrungsallergene hat keinen gesicherten Effekt und ist daher unnötig. ● Die Nahrungsmittel werden schrittweise eingeführt, um mögliche Unverträglichkeiten zu erkennen. ● Ein präventiver Effekt von Probiotika konnte bislang nur in wenigen Studien für das atopische Ekzem dargestellt werden. Ob Probiotika generell schüt-



zende Effekte haben können, wird unterschiedlich bewertet. Daher kann nach derzeitiger Datenlage hierzu noch keine Empfehlung gegeben werden. Des Weiteren wurde festgestellt, dass Übergewicht häufiger mit Asthma assoziiert ist, sodass die Adipositasprävention auch als Allergieprävention sinnvoll ist.

Mit der aktuellen Allergiepräventionsleitlinie kam es zu einer Abkehr von der Vorstellung, dass eine kindliche Allergieentwicklung in erster Linie ernährungsbedingt sei bzw. durch strenge Ernährungsempfehlungen zu vermeiden sei. Vielmehr werden andere Faktoren, wie die Raumlufthygiene (Vermeiden von Tabakrauchexposition, Schimmel, flüchtigen organischen Raumluftschadstoffen aus neuen Möbeln und Renovierungsarbeiten) in den Mittelpunkt der Allergieprävention gestellt.

Auswahl von Nahrungsmitteln Dem Kind kann nach den Empfehlungen der AEMF-S 3-Leitlinie im ersten Lebensjahr eine ganze Auswahl von Nahrungsmitteln angeboten werden, die bekömmlich sind und ihm schmecken, das sind z. B.: ● Gemüse: Karotten, Kürbis, Brokkoli, Zucchini, Blumenkohl, Fenchel, Kohlrabi, Pastinaken; Kartoffeln (ohne grüne Stellen) als Stärkebeilage; Spinat ist sehr nitratreich und sollte nur frisch zubereitet und nicht lange warm gehalten werden; Hülsenfrüchte und Kohlgemüse werden häufig nicht so leicht verdaut und sollten erst ab dem 9.– 10. Lebensmonat probiert werden. ● Obst: Birnen, säurearme Äpfel (zunächst ohne Schale gedünstet und passiert, später roh gerieben), Bananen, Melonen, Pfirsiche, Aprikosen, Kirschen je nach Saison. ● Stärkebeilage, Getreide: Kartoffeln, Reis, Weizen, Dinkel, Hafer, Hirse, Grieß; Getreide kann in „aufgeschlossener“ Form (Fertigzubereitung für Kinderbreie) besser verdaut werden, Brot(Krusten), Gebäck (z. B. Reiswaffeln, Dinkelstangen, ungesüßter Zwieback) kann gegeben werden, sobald das Kind sich dafür interessiert. Müsli (Kindermüsli sollten keine ganzen Körner oder Nüsse enthalten, an denen sich die Kinder verschlucken können). ● Fleisch: mageres Fleisch von Geflügel, Kalb, Rind, Schwein. ● Fisch: grätenfreies Filet von Seefischsorten, z. B. Seelachs, Scholle, Kabeljau, Dorsch. ● Getränke: Leitungswasser (Wasserqualität beim örtlichen Wasserwerk erfragen, ggf. im Labor prüfen lassen); Was-

14.4 Pflegemaßnahmen ser aus bleihaltigen Leitungen und ungeprüften Hausbrunnen meiden. Falls die Wasserqualität nicht ausreicht (Vorsicht bei Auslandsaufenthalten), nur abgekochtes Wasser oder besser säuglingsgeeignetes Mineralwasser verwenden. Geeignet sind auch ungesüßte BioTees. Stark verdünnte Fruchtsäfte nur dann geben, wenn das Kind aus einem Trinkbecher trinken kann, um Zahnkaries zu vermeiden.

Merke

H ●

Trinkflaschen nur zur Flüssigkeitsaufnahme und nicht zum Dauernuckeln verwenden. Am Ende des ersten Lebensjahres sollte für die Flüssigkeitsaufnahme auf Trinklerntassen und Trinkbecher umgestellt werden.

Kinder bevorzugen häufig Nahrungsmittel, deren Geschmack sie aus Schwangerschaft und Stillzeit kennen. Daher werden vorzugsweise die Nahrungsmittel angeboten, die in der elterlichen Küche Verwendung finden. Manche Kinder im ersten Lebensjahr meiden intuitiv Nahrungsmittel, die ihnen nicht bekommen. Allerdings muss das Kind sich an den Geschmack eines neuen Nahrungsmittels erst gewöhnen und daher sollte es mehrfach angeboten werden. Konsequente Verweigerungen im ersten Lebensjahr sollten jedoch respektiert werden und ein Kind darf nie zum Essen gezwungen werden.

Ungeeignete Nahrungsmittel Nicht empfohlen im 1. Lebensjahr werden: ● Pure Milch und Milchprodukte (z. B. Quark) ohne Kohlenhydratbeilage sind zu eiweißlastig. ● Rohe Eier und Rohmilch sollten aufgrund der Salmonellengefahr vermieden werden. ● Kalt geschleuderter Honig kann aufgrund des noch unausgereiften Darms bei Säuglingen Botulismus verursachen. ● Kalt gepresste Öle könnten ebenfalls noch Krankheitserreger enthalten und sollten vor dem Kochen zugefügt werden. ● Besonders kleine Lebensmittel, wie Nüsse, können bei Säuglingen in die Luftröhre geraten und zu Atemnot und Ersticken führen. ● Gewürze und Salz irritieren das natürliche Sättigungsempfinden des Kindes. Salz kann die Nieren belasten und sollte höchstens in kleinen Mengen aufgenommen werden (z. B. Kochwasser für Nudeln). ● Süßungsmittel, v. a. künstliche Süßstoffe, irritieren das Geschmacksempfinden und sind schädlich.

Familienkost und gesunde Mischkost Die Ernährung des größeren Kindes orientiert sich an den Empfehlungen für eine gesunde Mischkost. Die Empfehlungen zur optimierten Mischkost des Forschungsinstitutes für Kinderernährung (FKE) lauten: 55 % der Nahrungsenergie sollten aus Kohlenhydraten, 30 % aus Fett und 15 % aus Proteinen aufgenommen werden. Dies bedeutet: ● reichlich: Getränke und pflanzliche Lebensmittel, Brot und Getreide, Kartoffeln, Nudeln, Reis, Gemüse, Obst und Hülsenfrüchte ● mäßig: tierische Lebensmittel, wie Milch und Milchprodukte, Fleisch, Fleischwaren und Eier ● sparsam: Fette und fettreiche Lebensmittel ● geduldet: zuckerreiche Lebensmittel und Süßwaren

Abb. 14.23 Ernährungspyramide.

Die Verteilung der Nahrungsmittel erfolgt über den Tag üblicherweise in 5 Mahlzeiten, davon 3 große Hauptmahlzeiten: Frühstück, Mittagessen, Abendessen sowie je nach Verteilung der Schlafphasen 2 kleinere Zwischenmahlzeiten vormittags und nachmittags. Zu jeder Mahlzeit werden Getränke gereicht.

Ernährungspyramide Sehr anschaulich beschreibt die Ernährungspyramide (▶ Abb. 14.23) die Grundregeln der gesunden Nahrungsaufnahme bei Kindern. Die Ernährungspyramide ist für die Schulung und Beratung von Eltern und Kindern bestens geeignet. Sie funktioniert nach dem 6–5-4–3-2– 1-Prinzip, was bei der täglichen Nahrungsaufnahme Folgendem entsprechen würde: ● 6 Portionen Getränke (inklusive einer Portion Obst- und Gemüsesaft) ● 5 Portionen Gemüse, Salat und Obst ● 4 Portionen Brot, Getreide und Beilagen ● 3 Portionen Milch und Milchprodukte + 1 Portion Fleisch Wurst, Fisch oder Ei ● 2 Portionen Fett und Öl ● 1 Portion Extras (Süßes, fette Snacks oder Alkohol bei Erwachsenen)

Merke

H ●

Die richtige Portionsgröße bemisst sich an der Hand des Menschen, entsprechend sind die Kinderportionen naturgemäß kleiner als die des Erwachsenen (▶ Abb. 14.24).

Portionsgrößen sind im Vergleich: Ein Glas passt in eine Hand.



Abb. 14.24 Portionsgrößen im Vergleich. Bei kleinstückigem Gemüse werden 2 Hände zur Schale gehalten.















Eine Brotscheibe (bei Kindern eine kleine Scheibe) entspricht der gesamten Handfläche mit ausgestreckten Fingern. Eine Handvoll mit grobstückigem Gemüse oder Obst. Bei Beilagen, wie Kartoffeln, Nudeln und Müsli, stellen zwei Hände voll die Portion dar. Zwei Hände zur Schale gehalten sind das Maß für zerkleinertes oder kleinstückiges Gemüse oder Obst. Die Fleischportion ist etwa so groß wie der Handteller, eine Fischportion kann so groß sein wie die Handfläche. Süßigkeiten und Knabbereien haben in einer Hand Platz. Nur die Fettmenge bemisst sich nicht mit der Hand, sondern wird in Esslöffeln abgemessen.

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Leichte Verschiebungen in der Ernährungspyramide, z. B. durch die verstärkte Aufnahme von Süßigkeiten oder fetthaltigen Nahrungsmitteln, können durch intensive körperliche Betätigung ausgeglichen werden.

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Essen und Trinken

Lernaufgabe

M ●

Stellen Sie einen Tagesernährungsplan (3 Hauptmahlzeiten, 2 Zwischenmahlzeiten) für ein Kleinkind oder ein Schulkind anhand der Ernährungspyramide zusammen.

Beratung zur ausgewogenen Kleinkinder- und Kinderernährung Eine größtmögliche Sicherheit der Eltern in Ernährungsangelegenheiten ihres Kindes ist eine wichtige Maßnahme zur Vorbeugung von Ess- und Ernährungsstörungen. Das gilt nicht nur für die optimale Zusammensetzung des täglichen Nahrungsangebotes, sondern auch für den gelassenen Umgang mit abweichendem Essverhalten, das besonders im Kleinkindsalter häufig zu beobachten ist, i. d. R. keinen Krankheitswert hat und entwicklungsbedingt von alleine verschwindet. Viele Eltern sorgen sich um das Ernährungsverhalten ihrer Kinder und suchen Rat bei Gesundheitspersonal. Eltern sollten daher über Folgendes aufgeklärt werden: ● Kleine Kinder sind häufig von einer auf die andere Sekunde satt. ● Appetit und Geschmacksvorlieben von Kindern sind oft anlagebedingt sehr unterschiedlich, die Geschmacksvorlieben verändern sich im Laufe des Lebens allerdings.



















Kinder orientieren sich im Ernährungsverhalten am Vorbild ihrer Bezugspersonen. Kinder können bei möglichst naturbelassenen Grundnahrungsmitteln (nicht gewürzt, nicht gesüßt) die optimale Nahrungsmenge selbst wählen. Sie werden sich daran nicht „überessen“; anders ist das bei der Aufnahme von gewürzten und gesüßten Nahrungsmitteln, Fertiggerichten, Fast Food und Süßigkeiten, diese können das natürliche Sättigungsgefühl irritieren. Der Gesundheitszustand hängt im Normalfall nicht von der Nahrungsmenge ab. Einschneidende Erlebnisse bei der Nahrungsaufnahme können das Essverhalten nachhaltig beeinflussen (z. B. Essen zu heiß, Zahnungsschmerzen). Kleine Kinder experimentieren gern mit Essen. 1½- bis 3-jährige Kinder sind vorzugsweise „Trennköstler“, d. h., sie nehmen Nahrungsmittel gern in Einzelkomponenten zu sich und beginnen meist mit den hochkalorischen Lebensmitteln (Belag wird zuerst gegessen, dann das Brot). Der Vitaminbedarf kann auch mit Obst gedeckt werden, wenn Gemüse abgelehnt wird (oder umgekehrt). Im Falle der Verweigerung von gekochtem Gemüse kann es als Rohkost (Fingerfood) angeboten werden; Salate werden vor dem Kindergartenalter auch lieber als Einzelrohkostangebot verzehrt. Bei Milchverweigerung kann der Kalziumbedarf durch Milchprodukte, Käse oder kalziumhaltiges Mineralwasser gedeckt werden.













Kindergartenkinder bevorzugen häufig rote oder bunte Gemüse vor grünen (z. B. Zucchini mit Tomatensoße werden eher akzeptiert als Zucchini mit Sahnesoße). Kinder im Vorschulalter lehnen allzu große geschmackliche Abwechslung meistens ab, insbesondere wenn es sich um extrem unbekannte Geschmacksrichtungen handelt. Ab dem Schulalter wird sowohl bei der Nahrungsauswahl als auch beim Benehmen bei Tisch ein „erwachsenes“ Essverhalten entwickelt. Die Einhaltung der Tischsitten ist abhängig von den Bedürfnissen der Familie, soll von Erwachsenen vorgelebt werden und vom Kind leistbar sein; sehr früh eingeführte strenge Regelungen führen häufig zu unnötigen Stresssituationen am Essenstisch. Die meisten Ernährungsprobleme sind in Wirklichkeit gar keine, da Eltern oft eine unrealistische Vorstellung von der Ernährung ihres Kindes haben (z. B. bezügl. der benötigten Menge). Bei manchen Problemen ist der Essenstisch oft nur ein zufälliger Schauplatz, das ursächliche Problem kann ganz woanders liegen.

Sinnvolle Reaktionen auf gängige Ernährungsabweichungen gesunder Kinder im Kindesalter zeigt ▶ Tab. 14.13.

Tab. 14.13 Reaktionen auf Ernährungsabweichungen. Essverhalten

mögliche Reaktion

extrem vorsichtiges Essverhalten

Neue Nahrungsmittel sind ein Angebot, kein „Muss“. Mithelfen dürfen bei der Nahrungszubereitung schafft einen positiven Zugang zu neuen Nahrungsbestandteilen. Eltern leben abwechslungsreiches Essen vor.

„Trennköstler“

Nahrungsmittel einzeln, nicht als Eintopf o. Ä. anbieten. Das Kind darf seinen Teller selbst füllen. Wenn immer nur Belag statt Brot verzehrt wird, werden bei anderen (Zwischen-)Mahlzeiten Brot oder Brötchen ganz ohne Belag gereicht.

Obst- und Gemüsemuffel

Rohkost, Fingerfood statt gekochtem Gemüse, Obst klein geschnitten und nett angerichtet, z. B. auf Spießen anbieten, ggf. Gemüse püriert als Suppe oder Soße, Obst als Mus im Joghurt oder Smoothie anbieten.

Wenigesser

Solange das Kind fröhlich und vital ist und oberhalb der 3. Perzentile bleibt, sind eine geringe Nahrungsaufnahme und ein geringeres Körpergewicht eine Normvariante. Das Kind sollte nicht zum Essen gezwungen werden, keine Belohnung für Nahrungsaufnahme oder den leer gegessenen Teller bekommen. Dem Kind sollte weder mit dem Essen hinterhergelaufen werden, noch sollte dem Kind während des Spiels Nahrung gereicht werden. Wenn bei den Mahlzeiten der Bauch „voll“ ist, sollte das Kind anschließend eine Nahrungspause von 2 Stunden einhalten und bekommt keine Zwischenmahlzeit, v. a. keine Süßigkeiten angeboten.

Vielesser

Bei normaler Gewichtsentwicklung sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Das Essen sollte aus gesunden Nahrungsmitteln bestehen, die zu festgelegten Mahlzeiten angeboten werden. Dazwischen sollte nichts Essbares in Sichtweite stehen. Unnötiges Würzen oder Süßen verstärkt den Appetit. Auf einen ausreichenden Ausgleich mit körperlicher Betätigung ist zu achten. Achtung: Gewichtssprünge bei Eintritt ins Schulalter (geringere Bewegungsmöglichkeiten) sind möglich.

14

352

14.4 Pflegemaßnahmen

Zubereitung der Mahlzeiten in häuslicher und institutioneller Atmosphäre Sofern es die Organisation und das Zeitbudget der Familie zulassen, sollte auf eine ritualisierte, frische Zubereitung der Mahlzeiten Wert gelegt werden. Schön ist es, wenn das Kind ab dem Vorschulalter in die Vorbereitungen zum Essen mit einbezogen wird. Es erhält eine natürlichere und engere Beziehung zu den einzelnen Nahrungsmitteln und eine Wertschätzung dem Essen gegenüber. Kleinere Kinder sollten sich an den bereits gedeckten Tisch setzen können; sie werden ungeduldig, wenn sie länger warten müssen. Ein liebevoll gedeckter Tisch und eine ruhige entspannte Mahlzeitenatmosphäre schaffen nicht nur die Grundlage für eine gesunde Ernährung, sondern insgesamt für einen ausgeglichenen Gemütszustand bei den Kindern. Für die institutionelle Mahlzeitengestaltung in Kindertagesstätten und Schulverpflegung halten die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) sowie das Forschungsinstitut Kinderernährung (FKE) Empfehlungen bereit.

Nahrungsgabe im Krankenhaus Der Nahrungsversorgung im Krankenhaus kommt für die Gesundung und das Wohlbefinden der dort befindlichen Patienten, Erwachsene wie Kinder, sowie deren Angehörigen und dem im Krankenhaus tätigen Gesundheitspersonal eine große Bedeutung zu. Die Nahrungszubereitung geschieht üblicherweise in einer Zentralküche, die auf verschiedene Kost- und Diätwünsche eingehen kann. In manchen Häusern sind Diätküche und Milchküche separate Abteilungen. Während sich Besucher und Personal in einer eigenen Cafeteria versorgen können, wird das Essen für die Patienten auf den Stationen verteilt. ▶ Anlieferung. Bei der Essensversorgung werden das Tablettsystem, bei dem vorbestellte Menüs auf Tabletts in der Zentralküche zusammengestellt werden und so auf die Stationen geliefert werden, und das Buffetsystem unterschieden. Hierbei wird entweder ein Buffet zur Selbstversorgung der Familien aufgestellt, die Familien holen sich, was ihnen schmeckt, und nehmen die Nahrungsmittel gemeinsam an „Familientischen“ oder im Zimmer ein. Es können auch aus einem Buffetschöpfwagensystem vom Personal nach individuellen Wünschen Tellermenüs zusammenstellt werden.

Merke

H ●

Im Umgang mit der Essensverteilung sind die hygienischen Prinzipien zu beachten: Händereinigung und -desinfektion sowie das Tragen von Einmalschürzen.

▶ Essensplatz. Kinder, die weder infektiös noch infektionsgefährdet sind, können ihre Mahlzeiten in geselliger Essensrunde gemeinsam mit anderen Kindern oder den auf eigenen Wunsch (und i. d. R. auf eigene Kosten) mitversorgten begleitenden Elternteilen einnehmen. Hierfür sollten ansprechend gestaltete Räume zur Verfügung stehen. Für Kinder, die zwar das Krankenbett, aber nicht das Zimmer verlassen können, wird am Zimmertisch eine angenehme Atmosphäre geschaffen. Der Tisch wird von Spielzeug, Zeitschriften und Pflegematerialien freigeräumt. Das Essen sollte noch nicht ins Zimmer gebracht werden, wenn ein Patient gerade seine Ausscheidungen verrichtet. Andere unangenehme Sinneseindrücke sollten möglichst ausgeschaltet werden. Bei Bedarf wird das Zimmer vor der Nahrungsaufnahme gelüftet. Das Essen sollte warm ins Zimmer gebracht werden, ein durch Wartezeiten abgekühltes Essen wird in der Mikrowelle aufgewärmt. Eingeschaltete Fernseher werden abgestellt. Besucher und Personal sollten die Nahrungsaufnahme nicht stören und ggf. Hilfestellung leisten.

Merke

H ●

Die Zeit der Nahrungsaufnahme sollte nach Möglichkeit nicht durch Diagnostik, Verbandwechsel, Visiten oder Aufklärungsgespräche gestört werden.

▶ Bettlägerige Kinder. Sie bekommen vor und nach dem Essen die Möglichkeit zu den Handlungen geschaffen, die sie gewöhnt sind („Toilettengang“, Hände waschen vor und Zähne putzen nach dem Essen). Wenn es der Gesundheitszustand und die therapeutischen Notwendigkeiten erlauben, wird das Kopfteil des Bettes hochgestellt, damit das Kind aufrecht mit leicht vorgebeugtem Kopf sitzen kann. Die optimale aufrechte Sitzhaltung hat einen entscheidenden Einfluss auf ein gesundes Essverhalten beeinträchtiger Kinder und dient zudem der Aspirationsprophylaxe. Ein Zurückbeugen des Kopfes erschwert das Schlucken deutlich. Der Tisch des Beistellschränkchens wird auf die richtige Höhe eingestellt und vor das sitzende Kind geschoben. Die Pflegefachkraft rich-

Abb. 14.25 Essen im Krankenbett. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

tet das Essen übersichtlich und gut greifbar an (▶ Abb. 14.25).

Merke

H ●

Die Kinder werden je nach Alter und Gesundheitszustand nach Möglichkeit beim Essen nicht allein gelassen. Sie erhalten eine alters-, entwicklungs- und situationsgerechte Unterstützung bei ihrer Nahrungsaufnahme.

14.4.5 Unterstützung bei der Nahrungsaufnahme Die Speisen werden so angerichtet, dass das Kind sie entsprechend seinen Ressourcen möglichst selbstständig aufnehmen kann. Dazu kann gehören, die Position des Trinkbechers, des Bestecks und des Geschirrs sorgsam zu wählen, Nahrungsbestandteile in mundgerechte Stücke zu schneiden, spezielle Hilfsmittel anzubieten, z. B. Anti-Rutschmatten (▶ Abb. 14.26), Esshilfeteller, Strohhalme, Schnabelbecher. Wenn das Kind die Nahrung nicht eigenständig zu sich nehmen kann, wird mit den Angehörigen geklärt, ob sie das Anreichen des Essens übernehmen können und wollen oder ob dieses durch die Pflegefachkräfte geschehen soll. Hierfür gilt: ● Es muss ausreichend störungsfreie Zeit eingeplant sein. ● Die Pflegefachkraft sitzt auf einem Stuhl in Augenhöhe zum Kind neben dem Bett. ● Das Kind und das Bett werden mit einer ausreichend großen Serviette vor Verunreinigung geschützt. ● Der Teller steht in Sichtweite des Kindes, sodass es sehen kann, woher das Essen kommt. ● Das Kind wird ggf. darin unterstützt, die Hand mit dem Essen selbst zum Mund zu führen. Die motorischen Abläufe

14

3

Essen und Trinken sonen und Pflegefachkräfte und den Einsatz von Hilfsmitteln.

14.4.6 Besondere Ernährungssituationen von Kindern mit Gesundheitsstörungen Abb. 14.26 Anti-Rutschmatte. (Foto: K. Oborny, Thieme)











beim Essen aktiv zu unterstützen unterstreicht nicht nur die Ressourcenunterstützung, sondern das Esserleben des Kindes. Die Portionen werden nach Wunsch gerichtet und das Kind bestimmt die Reihenfolge und Geschwindigkeit der Nahrungsaufnahme. Es werden jeweils kleine Portionen und Schlucke gereicht. Zum Kauen und Schlucken wird ausreichend Zeit gelassen, der Mund wird erst wieder neu gefüllt, wenn er geleert ist. Der Löffel wird weder an der Oberlippe abgestrichen, noch werden Nahrungsbestandteile mit dem Löffel oder einem Tuch regelmäßig während des Essens von den Wangen gewischt, da dies Irritationen verursachen kann. Bei der Verabreichung von warmen Getränken wird die Temperatur an der Unterarminnenseite der Pflegefachkraft kontrolliert.

Merke

H ●

Zeitpunkt, ggf. Dauer, Art und Menge der Nahrungsaufnahme, das Essverhalten und ggf. aufgetretene Besonderheiten werden im Dokumentationssystem vermerkt.

14

Eine dauerhafte Beeinträchtigung liegt z. B. bei Schluckstörungen vor, ein erhöhter Hilfebedarf bei der Nahrungsaufnahme häufig bei Kindern mit Behinderungen. Hierbei sollte die Begleitung multiprofessionell und in enger Zusammenarbeit von allen Beteiligen und speziell geschulten Fachleuten erfolgen: Eltern, Bezugspersonen, Pflegefachkräfte, behandelnde (Kinder-)Ärzte, Ernährungsberater, Logopäden und Physiotherapeuten. ▶ Ernährungskonzept. Das Ernährungskonzept umfasst Angebote für die orale und taktile Stimulation vor der Nahrungsgabe, die Art und Zusammensetzung der Nahrung, die empfohlene Körperhaltung, die Art der Hilfestellung durch Bezugsper-

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Im Rahmen von unterschiedlichen chronischen Krankheiten oder Behinderungen kann es zu einer veränderten Ernährungssituation kommen: ● Bei Stoffwechselstörungen sind spezielle Diätrichtlinien zu beachten (z. B. Diabetes mellitus, Phenylketonurie). ● Durch eine verringerte Mobilität kann ein verringerter Bedarf an Energie und Nährstoffen entstehen. Eine Verringerung der Energiezufuhr wird durch Einschränkung von Süßspeisen oder fetthaltigen Nahrungsmitteln erreicht. ● Spastiken oder Bewegungsabläufe, die dem Kind viel Anstrengung abverlangen, können den Energiebedarf erhöhen. Die Energiedichte der angebotenen Nahrung wird durch Zugabe von Fetten (Pflanzenölen, Sahne, Mandelmus) erhöht. Die Zugabe von bilanzierten Pulvern zur Nahrungsergänzung kann den Energiegehalt der Speisen erhöhen, ohne die Beschaffenheit merklich zu verändern. Bei Bedarf kann zusätzlich eine hochkalorische Trinknahrung angeboten werden. ● Bei Immobilität kann es zu Obstipationsneigung kommen, was bei der Ernährung durch ausreichende Flüssigkeits- und Ballaststoffzufuhr berücksichtigt werden sollte, s. Kap. Ausscheiden (S. 364). ● Bei Durchfällen ist auf eine ausreichende Flüssigkeits- und Elektrolytzufuhr zu achten. Stuhlfestigende Nahrungsmittel, z. B. mit Schale geriebener Apfel, Banane oder Karottenmus, sind zu bevorzugen. Probiotische Nahrungsmittel können beim Wiederaufbau der Darmschleimhaut helfen. ● Manche Medikamente erfordern einen vorgeschriebenen Zeitabstand zu den Mahlzeiten. Der Zeitpunkt der Medikamentengabe muss deshalb mit der Mahlzeitengabe abgestimmt werden. ● Kommunikationsbeeinträchtigte Kinder können über Fotobücher, Piktogramme oder computergestützte Kommunikation ihre persönlichen Essensvorlieben artikulieren. ● Bei Kaubeschwerden durch Zahn-, Mund-, Kiefer- oder neurologische Beeinträchtigungen sollten vorzugsweise weiche oder zerkleinerte, ggf. pürierte Nahrungsmittel angeboten werden. Alle Nahrungsbestandteile sollten einzeln püriert und angeboten werden, damit





die Kinder die unterschiedlichen Geschmäcke unverändert wahrnehmen können. Ein mangelnder Mundschluss kann durch therapeutische Konzepte, wie die orofaziale Regulationstherapie nach Castillo-Morales, verbessert werden. Die Pflegefachkräfte und Bezugspersonen sollten sich von den entsprechenden Fachleuten (Logopäden oder Physiotherapeuten) in diese Konzepte einweisen lassen. Bei Schluckstörungen sollte eine interdisziplinäre Schluckdiagnostik erfolgen. Es droht nicht nur eine Minderversorgung, sondern es besteht auch Aspirationsgefahr. Je nach Ausprägung der Störung kann ein Pürieren der Nahrung, das Andicken der zugeführten Flüssigkeiten oder eine Sondenernährung notwendig werden.

Merke

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Bei Kindern mit Schluckstörungen sollten bei Essversuchen immer betriebsbereite Absauggeräte in unmittelbarer Nähe stehen.

Kinder und Jugendliche mit chronischen Gesundheitsstörungen und Behinderungen sind besonders gefährdet, eine längerfristige Essstörung zu entwickeln, u. a. weil die Aufmerksamkeit der Eltern auf die Ernährung und Gewichtsentwicklung besonders stark ausgeprägt ist. Kinder, die nach der Geburt intensivmedizinisch versorgt waren und abgesaugt wurden, bleiben häufig im Mundraum überempfindlich. Eine Nasensonde kann durch das Fremdkörpergefühl im Rachen die Bereitschaft zur oralen Nahrungsaufnahme beeinträchtigen. Manche beeinträchtigten Kinder tun sich schwer, ihre Nahrungsvorlieben zu artikulieren, oder haben nach langer passiver Sondenernährung verlernt, ein Gefühl für ihren Nahrungsbedarf zu entwickeln. Eine Abwehr oder Verweigerungshaltung bei der Nahrungsaufnahme kann die Folge sein. In diesen Fällen kann eine psychotherapeutische Begleitung der Familie hilfreich sein.

Expertenstandard Ernährungsmanagement Zur Sicherstellung und Förderung der oralen Ernährung in der Pflege hat das Deutsche Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) einen Expertenstandard herausgegeben. Allerdings ist auch in der 2017 aktualisierten Fassung die Situation von Säuglingen, Kleinkindern, Kindern und Jugendlichen unberücksichtigt, da sich bei ihrer Ernährungsversorgung

14.4 Pflegemaßnahmen im Vergleich zu Erwachsenen deutlich andere pflegerische, medizinische und diätetische Anforderungen ergeben.

Besondere Ernährungsformen, Diätkost Während die Empfehlungen zur ausgewogenen Ernährung dazu dienen, Gesundheitsstörungen vorzubeugen, sind bei einigen Gesundheitsstörungen besondere Kostformen und Diäten indiziert.

Definition

L ●

Eine Kost ist die von einem Gesunden freiwillig ausgesuchte alternative Ernährungsform, bei der aus religiösen, weltanschaulichen oder präventiv gesundheitlichen Gründen einzelne Nahrungsmittel oder Nahrungsbestandteile freiwillig vermieden werden.

Eine ovo-lakto-vegetabile Kost ist bei Kindern unter Berücksichtigung eisenreicher Gemüse- und Getreidesorten sowie der ausreichenden Vitamin-C-Versorgung möglich, die Gefahr einer Eisenmangelanämie ist jedoch erhöht. Die vegane Kost ist für im Wachstum befindliche Kinder kritisch. Eine vegane Ernährung der stillenden Mutter kann zu Mangelerscheinungen beim Kind, besonders zu Vitamin-B12-Mangel mit schweren gesundheitlichen Folgen führen. Eine ausreichende Versorgung mit einigen Nährstoffen ist nur schwer möglich. Die Versorgung mit Vitamin B12 muss mit Nahrungsergänzungsmitteln ergänzt werden, die Versorgung mit Proteinen, langkettigen Fettsäuren, Vitaminen (Riboflavin, Vitamin D) und Mineralstoffen (Kalzium, Eisen, Jod, Zink, Selen) muss ärztlich überwacht und ggf. ausgeglichen werden. Für Schwangere, Stillende, Säuglinge, Kinder und Jugendliche rät die Deutsche Gesellschaft für Ernährung daher von einer veganen Ernährung ab.

Die vegetarische Kost ist die fleischfreie Ernährung. Es werden unterschieden: ● Ovo-Lakto-Vegetarier meiden Fleisch und Fisch, essen jedoch tierische Produkte, wie Milch, Milchprodukte und Eier. ● Lakto-Vegetarier meiden Fleisch, Fisch und Eier. ● Ovo-Vegetarier meiden Fleisch, Fisch und Milch(-produkte). ● Veganer (auch strenge Vegetarier) meiden alle vom Tier stammenden Lebensmittel inkl. Fleisch, Fisch, Milch, Milchprodukte, Eier, Honig.

Definition

L ●

Eine Diät ist die aufgrund einer vorhandenen oder drohenden Gesundheitsstörung empfohlene Ernährungsform, bei der bestimmte Nahrungsanteile vermindert oder weggelassen werden oder vermehrt verzehrt oder bestimmte Nährstoffe besonders ausgesucht und berechnet werden müssen.

Bei der Diät werden folgende Formen unterschieden: ● kurzfristige Diäten; z. B. perioperative Karenz, Nahrungsaufbau nach Darmoperationen ● längerfristige Diäten; über mehrere Wochen gehende Diäten, z. B. die Reduktionsdiät bei Adipositas ● lebenslange Diäten; aufgrund einer Stoffwechselstörung, z. B. bei Diabetes mellitus (S. 634), Zöliakie oder Phenylketonurie (S. 644)

Merke

H ●

Es ist Aufgabe der Pflegefachkräfte, die Patienten über ihre Diät zu beraten. Bei längerfristigen Diäten geschieht dies im Zusammenhang mit den Diätassistentinnen oder Ökotrophologinnen des Krankenhauses.

Gängige Kost- und Diätformen sind in ▶ Tab. 14.14 zusammengefasst.

Sondenernährung Wird der Weg der Nahrung durch den Verdauungstrakt ganz oder teilweise umgangen, wird von „künstlicher Ernährung“ gesprochen. Dabei werden unterschieden: ● enterale Ernährung per Sonde durch den Darmtrakt ● parenterale Ernährung durch intravenös verabreichte Infusionslösungen (S. 810)

Tab. 14.14 Gängige Kost- und Diätformen. Kost- oder Diätform

Indikation

Vollkost

für Patienten, die alles essen dürfen

Kinderkost

in manchen Krankenhäusern gibt es für Kinder ein besonderes Angebot von kindgerecht gestalteten Menüs

pürierte Kost

pürierte Speisen für Kinder mit Kau- oder Schluckstörungen

Schonkost

leicht verdauliche Kost bei Magen-Darm-Beschwerden

Wunschkost

bei besonderen Nahrungswünschen, Appetitlosigkeit

schweinefleischfreie Kost

Kost ohne Schweinefleisch oder daraus hergestellten Nahrungsbestandteilen, wie z. B. Gelatine, meist von islamischen Familien oder Kindern mit Schweinefleischallergie bestellt

Reduktionskost

kalorienreduzierte Kost zum Abnehmen bei Adipositas

Aufbaukost

zum Nahrungsaufbau nach längerer Nahrungskarenz

Diabetesdiät

nach den Ernährungsempfehlungen bei Diabetes mellitus mit genauer Angabe der Kohlenhydrate

PKU-Diät

im Rahmen des Ernährungsplans bei Phenylketonurie, phenylalaninfreie bzw. -arme Nahrung und Zugabe von essenziellen Aminosäuren

glutenfreie Diät

bei Zöliakie

milcheiweißfreie Diät

bei Milcheiweißunverträglichkeit

laktosefreie Diät

bei Milchzuckerunverträglichkeit

Spezialdiät

bei kindlichen Stoffwechselstörungen im Rahmen eines genau berechneten Diätplans, z. B. bei Ahornsirupkrankheit, Harnstoffzyklusstörungen, Homozystinurie, Tyrosinämie, Fruktoseintoleranz, Galaktosämie, Glykogenose, ketogener Diät

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5

Essen und Trinken

Sondenlagen



Je nach der Lage des Sondenendes werden unterschieden: ● gastral: im Magen ● duodenal: im Zwölffingerdarm ● jejunal: im Dünndarm

● ●

● ●

Bei der Sondenernährung gibt es unterschiedliche Zugangswege (▶ Abb. 14.27): ● nasal: durch die Nase ● oral: durch den Mund ● perkutan: durch die Haut direkt in die Verdauungsorgane Welche Sonde zur künstlichen enteralen Ernährung geeignet ist, richtet sich nach der Indikation zur Sondenernährung, der Art der Gesundheitsstörung sowie der (voraussichtlichen) Dauer der Sondenernährung. Im Folgenden wird auf die häufigste Art der Sondenernährung durch Magensonde eingegangen.

Indikationen zur Sondenernährung

neurologischen Beeinträchtigungen, einhergehend mit Schluckstörungen und -lähmungen Atem- und Bewusstseinsstörungen Verletzungen oder Operationen im Mund-Rachen-Raum hartnäckiger Nahrungsverweigerung Kindern, bei denen die orale Nahrungsaufnahme zu anstrengend wäre (z. B. bei Herzerkrankungen)

Weitere Indikationen zum Legen einer Sonde sind: ● Gewinnung von Magensaft zu diagnostischen Zwecken ● Ableiten oder Absaugen von Verdauungssäften oder Blut zur Entlastung oder vor Operationen ● zur Entlastung von Operationsgebieten oder zur Schienung von künstlich angelegten Anastomosen (z. B. bei Ösophagusatresie) ● Magenspülungen zur primären Giftentfernung

Merke

Die Sondenernährung wird notwendig, wenn die orale Nahrungsaufnahme nicht in ausreichendem Maße möglich ist. Dieses kann der Fall sein bei: ● Frühgeborenen vor der 32. Schwangerschaftswoche, deren Saug-TrinkSchluck-Koordination noch nicht ausgebildet ist ● Frühgeborenen und beeinträchtigten Neugeborenen mit Trinkschwäche ● Fehlbildungen, die eine orale Nahrungsaufnahme erschweren oder unmöglich machen

H ●

Kontraindikationen zum Legen einer Magensonde sind: zusätzliche Verletzungsgefahr bei Traumen, Tumoren, Ösophagusvarizen, gravierenden Stenosen, Fehlbildungen und Infektionen im Mund-Nasen-Rachen-Ösophagealbereich.

Sondenarten Es gibt unterschiedliche Modelle von Magensonden (▶ Abb. 14.28). Ihre Auswahl richtet sich nach der individuellen Situation. Das Material wird der Indikation angepasst. Länge und Durchmesser richten sich nach Größe und Gewicht des Kindes sowie der Nahrungskonsistenz.

nasal

▶ Sonden zur Kurzzeitanwendung. Sie bestehen überwiegend aus PVC-Kunststoff. Da sie nach einer bestimmten Anwendungsdauer hart werden können, ist

oral

gastral

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perkutan duodenal jejunal

Abb. 14.27 Sondenernährung. Schematische Darstellung der Zugangswege und Sondenlagen.

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Abb. 14.28 Unterschiedliche Magensonden. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

eine regelmäßige Erneuerung notwendig (z. B. alle 3 Tage), um Druckulzera zu vermeiden. ▶ Verweilsonden zur Langzeitanwendung. Sie bestehen aus säurebeständigem Silikonkautschuk und behalten ihre Flexibilität auch nach längerer Liegedauer. Da sie sehr weich sind, sind Sie zum Legen mit einem Spiralmandrin ausgestattet, der nach der Platzierung aus der Sonde entfernt werden muss. Sie können mehrere Wochen verbleiben. Die Herstellerangaben zur maximalen Liegedauer sind zu beachten.

Legen der Magensonde Vorbereitung Merke

H ●

Voraussetzung für das Legen einer Sonde ist eine ärztliche Anordnung.

▶ Material. Zum Legen einer Magensonde werden benötigt: ● Schutzkittel ● Händedesinfektionsmittel ● Schutzhandschuhe, evtl. sterile Einmalhandschuhe bei kleinen Frühgeborenen und immunsupprimierten Kindern ● Schutztuch für das Kind zum Abdecken des Oberkörpers ● abgekochtes Wasser oder NaCl 0,9 % zum Anfeuchten der Sonde ● evtl. ein Schleimhautanästhetikum als Spray oder anästhesierendes Gleitgel für die Nasen- und Rachenanästhesie bei größeren Kindern ● evtl. Zahnspangendose zur sicheren Aufbewahrung einer vor dem Legen herausgenommenen Zahnspange ● Mundspatel und Taschenlampe zur Inspektion des Mund-Rachen-Raums ● wasserunlöslicher Stift zur Markierung der Sondenlänge ● Spritze (je nach Alter des Kindes 1 – 10 ml) zur Lagekontrolle durch Abziehen von Magensaft bzw. Luftinsufflation ● pH-Indikatorpapier zur sicheren Bestimmung von Magensaft ● Stethoskop zur Auskultation ● Nierenschale, Zellstoff, Abwurfbehälter ● zugeschnittenes Pflaster zur Fixierung der liegenden Sonde ● Absauggerät, um bei Erbrechen die Atemwege freizuhalten ● evtl. Überwachungsmonitor und Notfallbesteck ▶ Vorbereitung des Kindes Es erfolgt eine Aufklärung der Angehörigen und der Kinder.



14.4 Pflegemaßnahmen ●













Falls die Maßnahme nicht zwingend akut erforderlich ist, ist eine Nahrungspause vor der Maßnahme hilfreich, um Aspirationen zu vermeiden. Die Vitalzeichen werden kontrolliert, je nach Belastbarkeit des Kindes kann eine Monitorüberwachung während der Maßnahme (mit laut gestelltem Systolenton) sinnvoll sein. Bei größeren, kooperativen Kindern werden Zeichen der nonverbalen Kommunikation vereinbart, damit das Kind evtl. auftretendes Unbehagen bei der Maßnahme artikulieren kann. Eine evtl. vorhandene Zahnspange wird entfernt. Die geeignete Nasenöffnung wird ausgewählt und gereinigt. Der Oberkörper des Kindes wird mit dem Schutztuch abgedeckt, hochgelagert oder hochgehalten. Bei unruhigen Kindern kann ggf. eine zweite Pflegefachkraft zum Halten der Kinder sinnvoll sein.















Merke

Durchführung ●



Die Materialien (s. o.) werden auf einer desinfizierten Arbeitsfläche oder einem Tablett bereitgelegt (▶ Abb. 14.29). Nach der Aufklärung des Kindes wird die einzuführende Sondenlänge bestimmt (▶ Abb. 14.30): Gemessen wird mit der Sonde von Nasenspitze – Ohrläppchen – Magengrube (Unterhalb des Processus xiphoideus), bei oralen Magensonden entsprechend Mundwinkel – Ohrläppchen – Magengrube. Wichtig ist, dass beim Abmessen der Kopf gerade gehalten wird, da die gemessene Länge sonst nicht korrekt ist.

Merke

Die einzuführende Länge wird mit dem wasserfesten Stift markiert. Das Bett wird auf eine gute Arbeitshöhe eingestellt, bei Säuglingen und Kleinkindern kann das Legen der Magensonde auch auf dem Wickeltisch erfolgen. Die Sonde wird mit abgekochtem Wasser, NaCl 0,9 % oder bei größeren Kindern mit Gleitgel benetzt. Zum Einführen der Sonde muss der Kopf des Kindes leicht nach vorn geneigt werden (▶ Abb. 14.31). Ältere Kinder werden gebeten, ruhig und gleichmäßig zu atmen und beim Vorschieben der Sonde zu schlucken. Gegebenenfalls können die Kinder schluckweise Wasser aus einem Strohhalm trinken. Dies kann einer Fehlposition vorbeugen, da beim Schlucken der Kehldeckel verschlossen ist. Die Sonde wird während des Schluckaktes zügig bis zur Markierung vorgeschoben.

● H

Da die anatomischen Verhältnisse bei Menschen unterschiedlich sein können, ist trotz gewissenhaften Abmessens die Prüfung der korrekten Sondenlage nach dem Legen der Sonde notwendig.

H ●

Die Sonde darf nie gegen Widerstände eingeführt werde. Es besteht Verletzungsgefahr.



Beim Legen der oralen Magensonde wird diese bei geöffnetem Mund auf den Zungengrund gelegt. Hierbei darf das Zäpfchen nicht berührt werden, um keinen verstärkten Würge- und Vagusreiz auszulösen. Das weitere Vorgehen entspricht dem Legen der nasogastralen Sonde.

Merke

H ●

Bei Anzeichen von Komplikationen ist die Maßnahme unverzüglich zu unterbrechen! Mögliche Komplikationen sind: ● Bradykardie oder Schwindelgefühl durch Vagusreiz ● Erbrechen mit Aspirationsgefahr ● Zyanose durch tracheale Lage der Sonde

Überprüfen der Sondenlage Die Sonde wird vorläufig fixiert, ein etwaiger Mandrin entfernt und die korrekte Sondenlage überprüft. Hierzu stehen folgende Möglichkeiten zur Verfügung: ● Aspiration einer über das Sondenlumen hinausgehenden Menge Sekret und Überprüfung mit pH-Indikatorpapier: Magensekret hat einen pH-Wert von ca. 2, Duodenalsekret von etwa 7. Bei Vorhandensein größerer Nahrungsmengen im Magen kann der pH-Wert verändert sein. Daher reicht das Indikatorpapier allein nicht aus. ● Luftinsufflation: In die Magensonde wird ein wenig Luft injiziert, um die Luftgeräusche im Magen (Gurgeln, Blubbern) mit dem Stethoskop abzuhören. ● Bei der Racheninspektion kann eine evtl. im Rachen aufgerollte Magensonde erkannt werden. Liegt die Sonde richtig, wird sie endgültig fixiert, ohne Zug und Druck auf die Nasenschleimhaut auszuüben (▶ Abb. 14.32). Bei größeren Kindern und weichen Magensonden werden diese mit einem schmalen Streifen eines hautfreundlichen Pflasters am Nasenrücken fixiert. Bei Säuglingen und Kleinkindern erfolgt die Fixierung meist unter der Nase und/oder auf der Wange. Eine Unterpolsterung mit einer dünnen Hydrocolloidplatte kann Druckulcera vorbeugen. Orale Magensonden werden mit einer Schlaufe am Mundwinkel befestigt. Das Kind sollte ggf. durch Ablenkung, Beaufsichtigung und ggf. mittels Handschuhen daran gehindert werden, die Sonde wiederherauszuziehen. Das Kind wird in eine sichere Lage gebracht, die Verbrauchsmaterialien werden entsorgt und die Hände und der Arbeitsbereich entsprechend den Klinikrichtlinien desinfiziert.

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Abb. 14.29 Material zum Legen einer Magensonde. (Foto: O. Kirschnick, Tauberbischoffsheim)

Abb. 14.30 Bestimmung der Sondenlänge. a Nasale Sonde, (Foto: P. Blåfield, Thieme) b orale Sonde. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

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Essen und Trinken

Abb. 14.31 Legen der Magensonde. Zum Einführen der Sonde den Kopf des Kindes leicht in Richtung Thorax halten.

Abb. 14.32 Befestigen der Magensonde. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Merke

H ●

Dokumentiert werden Sondenart, Sondengröße und Sondenlage, Zeitpunkt des Legens, der Zugangsweg bzw. die Nasenseite, Magenrest, pH-Wert sowie das Befinden des Kindes und evtl. aufgetretene Besonderheiten und Komplikationen.

14

358

trolliert. Bei großen Magenrestmengen oder auffälligem Magensekret wird mit dem Arzt abgeklärt, wie mit ihnen zu verfahren ist. Verworfenes Sekret wird im Dokumentationssystem vermerkt, bei der Flüssigkeitsbilanz berücksichtigt; ggf. werden auf ärztliche Anordnung Elektrolyte substituiert. Falls der Magenrest unauffällig ist, sollte er nach Möglichkeit nicht verworfen werden, damit die darin enthaltenen Elektrolyte nicht verloren gehen. Um den Magen nicht zu überfordern, wird die Menge nach ärztlicher Anordnung evtl. mit der Nahrungsmenge verrechnet. Die Fixierungsstelle wird regelmäßig auf Auffälligkeiten kontrolliert und regelmäßig gewechselt. Beim Pflasterwechsel muss die Sonde gut festgehalten werden, um ein versehentliches Herausrutschen zu verhindern. Nach der Neufixierung wird erneut die korrekte Sondenlage geprüft. Eine intensivierte Mund- und Nasenpflege ist notwendig: Die Naseneingänge werden gereinigt und mit Nasensalbe gepflegt. Wegen der veränderten Mundflora bei ausschließlicher Sondenernährung ist eine Soor- und Parotitis-Prophylaxe notwendig. Vorbeugend kann, falls der Gesundheitszustand des Kindes es erlaubt, zusätzlich eine orale Nahrungs- oder Flüssigkeitszufuhr angeboten werden. Eine orale Stimulation bei der Nahrungsgabe regt die Speichelbildung an. Die orale Stimulation unterstützt gleichzeitig die Möglichkeiten des oralen Nahrungsaufbaus.

Merke

H ●

Durch den fehlenden Magenverschluss bei liegender Magensonde kann es zu Mikroaspirationen kommen. Eine gewissenhafte Pneumonieprophylaxe sowie die Beobachtung der Atmung zur rechtzeitigen Erfassung von Komplikationen sind daher erforderlich.

Pflege eines Kindes mit liegender Magensonde

Sondenwechsel

Die Angehörigen werden im Umgang mit der Magensonde angeleitet. Sie müssen darüber aufgeklärt sein, dass zu keinem Zeitpunkt Zug auf die Magensonde ausgeübt werden darf und dass das Kind daran gehindert werden sollte, selbstständig an der Sonde zu manipulieren. Bei länger notwendiger Magensondierung kann die Familie ebenfalls in alle notwendigen Maßnahmen und Kontrollen eingewiesen werden. Regelmäßig, mindestens vor jeder Nahrungsgabe, wird die Lage der Sonde kon-

Die Frequenz des Sondenwechsels richtet sich nach den Herstellerangaben. Bei Verstopfen oder Beschädigung der Sonde sowie Schleimhaut- und Hautauffälligkeiten an der Eintritts- und Fixierungsstelle, die sich nicht mit einer Neufixierung beheben lassen, ist ein Wechsel angezeigt. Aus hygienischen Gründen werden zum Entfernen der Sonde Einmalhandschule getragen, Zellstoff und eine Abwurfmöglichkeit bereitgestellt. Das Ziehen der Sonde erfolgt nach vorsichtiger Lösung der Fixierung zur Aspirationspro-

phylaxe immer bei geschlossener Sonde, damit keine Flüssigkeit auslaufen kann. Die Sonde wird zügig gezogen, damit die Möglichkeit eines Vagusreizes minimiert ist. Die Magensonde kann hygienisch mit dem umgestülpten Schutzhandschuh entsorgt werden.

Merke

H ●

Beim Legen einer neuen Sonde wird nach Möglichkeit die Nasenseite gewechselt und die vorherige Eintrittsstelle gut gepflegt.

Perkutane Sonden Zur Langzeitsondierung wird endoskopisch ein direkter Zugang zum MagenDarm-Trakt geschaffen. Es werden unterschieden (▶ Abb. 14.33): ● PEG: perkutane endoskopische Gastrostomie ● PEJ: perkutane endoskopische Jejunostomie Diese haben die früher üblichen operativen Gastrostomien, wie die „Witzelfistel“ oder die FKJ (Feinnadel-Kathether-Jejunostomie), abgelöst. Die Weiterentwicklung der PEG ist der sog. Button, bei dem das extrakorporale Schlauchstück wegfällt. Dieser kann jedoch erst gelegt werden, sobald die Fistel stabil ist. Die Eingriffe bedürfen einer intensiven Aufklärung und schriftlichen Einverständniserklärung der Sorgeberechtigten. Bei Kindern werden sie meist in Vollnarkose durchgeführt. Bei bereits zuvor langzeitsondierten Kindern wird der Eingriff häufig mit einer Fundoplikatio kombiniert (der operativen Behebung einer Hiatushernie und damit verbundenen Refluxösophagitis, die durch die lange liegende Magensonde entstanden ist). ▶ Vorteile. Der Vorteil der perkutanen Sonden ist der fehlende Fremdkörper in Gesicht, Nase, Rachen und Ösophagus. Hierdurch kann ggf. eine orale Nahrungsaufnahme erleichtert sein. Die Gefahr einer Dislokation ist deutlich geringer, sodass eine kontinuierliche oder länger dauernde Magensondierung über Ernährungspumpe möglich ist. ▶ Komplikationen. Mögliche Komplikationen sind Fehlpunktionen bei der Anlage der Sonden, Druckstellen oder Wundinfektion an der Eintrittsstelle, Irritation der Umgebungshaut, Peritonitis, Eindringen von Luft in den Peritonealraum, Fis-

14.4 Pflegemaßnahmen Sobald das Stoma gut abgeheilt ist, wird die Sonde beim Verbandwechsel mobilisiert, d. h. in regelmäßigen Abständen etwas in den Magen vorgeschoben und leicht gedreht. Dies verhindert ein Einwachsen der Fixierplatte in die Mageninnenwand (Burried-Bumper-Syndrom). Nach Abschluss der Wundheilung darf das Kind duschen oder baden. Nach dem Duschen oder Baden wird ein Verbandwechsel durchgeführt. Sollte die Sonde versehentlich herausrutschen, muss sofort der behandelnde Arzt informiert werden. Es muss schnellstmöglich eine neue eingelegt werden, damit sich das Stoma nicht von selbst verschließt.

PEG-Sonde Haut Magen

äußere Halteplatte innere Haltescheibe

a Öffnung für Nahrungsapplikation

Ventil (zum Ent-/Blocken)

geblockter Katheter Magen

Haut gefüllter Ballon Magenausgang (Pylorus)

Ernährung durch eine Sonde

b Abb. 14.33 Perkutane Sonden. a PEG-Sonde, b geblockter Katheter.





Abb. 14.34 PEG-Verband. (Foto: W. Krüper, Thieme)





telbildung oder auslaufendes Magensekret und Nahrung an der Eintrittsstelle. ▶ Verbandwechsel. Der Verband wird regelmäßig nach klinikinternen Richtlinien sowie der Beschaffenheit des Stomas gewechselt. Die ersten Verbandwechsel postoperativ erfolgen durch den Arzt. Im weiteren Verlauf werden die Eltern in die eigenständige Versorgung der PEG und den Verbandwechsel angeleitet (▶ Abb. 14.34): ● Das Kind wird informiert und in eine entspannte Rückenlage gebracht. ● Die Hände werden desinfiziert und unsterile Einmalhandschuhe zum Entfernen des alten Verbandes angezogen. ● Es darf kein Zug an der Sonde entstehen. ● Die Eintrittsstelle wird auf Zeichen einer Entzündung kontrolliert, der Verband bei Unauffälligkeit entsorgt bzw.



bei Auffälligkeiten für eine evtl. Diagnostik aufgehoben. Halteplatte und Bügel werden gelöst, dabei wird die Zahlenmarkierung an der Sonde überprüft und die Sonde zum Reinigen etwas zurückgezogen. Ebenso wird die Eintrittsstelle auf Auffälligkeiten überprüft. Halteplatte, Bügel und Einstichstelle werden nach klinikinternen Richtlinien sowie Herstellerangaben gereinigt und desinfiziert. In der häuslichen Pflege erfolgt die Reinigung mit Wasser oder NaCl 0,9 %. Nach einer erneuten Händedesinfektion wird unter sterilen Kautelen eine Schlitzkompresse zwischen Eintrittsstelle und Halteplatte gelegt. Die Halteplatte wird bis zur dokumentierten Markierung zurückgeschoben und mit dem Bügel fixiert. Hierbei darf kein Zug auf die Sonde ausgeübt werden (ca. 5 – 10 mm Spielraum lassen, um Drucknekrosen zu vermeiden). Die Sonde wird mit einer weiteren Kompresse abgedeckt und mit einem Fixierverband (z. B. Fixomull) so befestigt, dass der Klebeverband nicht zu sehr mit der Sonde verklebt.

Merke

H ●

Dokumentiert werden der Verbandwechsel und Zustand der Wunde.

Häufigkeit, Menge, Art und Zusammensetzung der Sondenernährung werden ärztlich angeordnet. Bei Säuglingen kommen als mögliche Nahrung Muttermilch und industrielle Milchnahrungen je nach Alter und Bedarf des Kindes als Sondenkost infrage. Für ältere Kinder besteht die Möglichkeit, aus den Zutaten einer ausgewogenen, altersentsprechenden Ernährung und der bedarfgerechten Flüssigkeitsmenge selbst eine Sondenkost durch Mixen und Pürieren herzustellen bzw. in der Diätküche herstellen zu lassen. Hierbei können individuelle Vorlieben und Wünsche der Familie berücksichtigt werden. Darüber hinaus steht industriell gefertigte Sondenkost als voll bilanzierte, für verschiedene Indikationen angepasste Diätnahrung zur Verfügung. Sie sind im Alltag eines Akutkrankenhauses einfacher zu handhaben und hygienisch unproblematischer. ▶ Durchführung. Die Muttermilch oder Flaschenmilchnahrung wird erwärmt, die Sondennahrung nach Herstellerangaben vorbereitet. Benötigte Spritzen, Flaschen, Beutel, Überleitungsschläuche und ggf. die Ernährungspumpe sowie die Materialien zur Lagekontrolle der Sonde werden bereitgestellt. Das Kind und seine Eltern werden informiert und je nach Möglichkeiten und Bedarf in die Tätigkeiten miteinbezogen. Die optimale Körperposition zur Sondennahrungsgabe ist eine sitzende, mindestens 30°-halbsitzende Position, um Reflux und Aspirationen zu vermeiden. Ist aus therapeutischer Indikation eine liegende Körperposition notwendig, ist das Kind besonders intensiv auf Anzeichen eines Refluxes und Aspirationen zu beobachten. Die Sonde wird geöffnet, der Magenrest kontrolliert und die Sondenlage überprüft.

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9

Essen und Trinken

Merke

H ●

Medikamentenverabreichung über Magensonde

Eine Verwechslungsgefahr mit intravenösen Zugängen ist durch Kennzeichnung aller Zu- und Ableitungen zu vermeiden.

Manche Hersteller liefern spezielle Ernährungsspritzen, die nicht auf Infusionssysteme passen, um Verwechslungen zu vermeiden. Für die Verabreichung der Sondenkost gibt es 3 unterschiedliche Möglichkeiten: ▶ Bolusgabe. Bei der Bolusgabe in die Magensonde wird die Nahrung mit einer Spritze in die Sonde appliziert. Die Mahlzeit findet möglichst zu den üblichen Essenszeiten in regelmäßigen Zeitabständen statt. Die Dauer des Vorgangs sollte mindestens so lange sein wie die normale Nahrungsaufnahme des Kindes (z. B. 10 – 20 min beim Säugling). Zu schnelles Verabreichen der Kost birgt die Gefahr von Völlegefühl, Übelkeit und Brechreiz. ▶ Halbkontinuierliche Gabe. Unter Ausnutzung der Schwerkraft läuft die Nahrungsmenge pro Mahlzeit auf einmal mittels aufgehängter Spritze bei Früh- und Neugeborenen oder mit einem Nahrungsbeutelsystem für größere Kinder über einen Zeitraum von ca. 30 – 45 min ein (▶ Abb. 14.35). ▶ Ernährungspumpe. Bei der kontinuierlichen Gabe über Ernährungspumpe wird eine festgelegte Menge kontinuierlich in die Sonde verabreicht. Eine tägliche Nahrungspause von 4 Stunden ist empfehlenswert, um das Magensekret wieder anzusäuern und Infektionen vorzubeugen.

Merke

14

H ●

Während der Mahlzeit besteht durch Hochwürgen der Nahrung, Erbrechen oder Dislokation der Sonde Aspirationsgefahr. Bei der halbkontinuierlichen oder kontinuierlichen Nahrungsgabe muss mit ständiger Überwachung, sicherer Positionierung und Schutzmaßnahmen verhindert werden, dass das Kind an der Sonde zieht.

Eine orale Stimulation bei der Nahrungsgabe ist sinnvoll, um dem Kind den Zusammenhang zwischen Geschmack, Saugen und Magenfüllung zu erhalten bzw. zu fördern und einen späteren oralen Nahrungsaufbau zu unterstützen.

360

Merke

Abb. 14.35 Beutelsystem zur enteralen Ernährung. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Sollte es bei der Nahrungsgabe zu Problemen, wie vegetativen Symptomen (z. B. übermäßiges Schwitzen, Blässe, Übelkeit), kommen, muss die Maßnahme unterbrochen und zu einem späteren Zeitpunkt, ggf. mit verringerter Sondierungsgeschwindigkeit, fortgesetzt werden. Nach Ende der Sondenmahlzeit wird die Sonde mit Wasser, Tee oder NaCl 0,9 % gespült, um ein Verstopfen zu verhindern. Das Kind wird in eine sichere Ruheposition gebracht und die Mahlzeit dokumentiert. Dokumentiert werden Art und Menge, Zeitpunkt und Dauer der Sondennahrung sowie evtl. verabreichte Medikamente, Sonden- bzw. Systemwechsel und mögliche Besonderheiten. Grundsätzlich müssen bei der Sondenernährung folgende Grundsätze beachtet werden: ● Die Händehygiene vor jeder Nahrungszubereitung und Manipulation am Applikationssystem ist zu beachten. ● Schutzhandschuhe schützen vor Kontamination mit Körpersekret. ● Angebrochene Sondenkost sollte möglichst schnell verbraucht werden. Geöffnete Flaschen können gekühlt und verschlossen im Kühlschrank 24 Stunden aufbewahrt werden. ● Die Überleitungssysteme werden aus hygienischen Gründen alle 24 Stunden gewechselt. ▶ Besonderheiten der Sondierung über PEG. Da die Gefahr der Dislokation bei korrekt liegender PEG deutlich geringer ist, eignet sich diese besonders für die Schwerkraft- oder Dauersondierung. Auch die Gefahr von Mikroaspirationen ist geringer. Da eine Verstopfung der Sonde eine erneute Operation für das Kind bedeuten würde, ist dies unbedingt zu vermeiden. Daher ist insbesondere bei der Medikamentengabe besondere Vorsicht geboten.

H ●

Alle Medikamente sollten in flüssiger Form verabreicht, zähflüssige Medikamente evtl. noch weiter verdünnt werden. Alle Medikamente werden getrennt von der Sondenkost verabreicht.

Der richtige Zeitpunkt der Medikation (vor oder nach der Mahlzeit) ist zu beachten. Falls es die benötigten Wirkstoffe nur in Tablettenform gibt, werden diese fein zermörsert und in Flüssigkeit aufgelöst. Dabei ist die Packungsbeilage zu beachten, denn nicht alle Medikamente eignen sich zum Mörsern, z. B. dürfen magensaftresistente Tabletten oder Mikropellets nicht zerstoßen werden. Im Zweifelsfall sollte der Hersteller kontaktiert werden, um die Sondengängigkeit der Medikamente zu erfragen. Vor und nach der Gabe von Medikamenten über die Magensonde erfolgt eine ausreichende Spülung der Sonde mit Wasser, Tee oder NaCl 0,9 %, da es ansonsten zu Reaktionen mit weiteren Medikamenten oder der Sondenkost, wie Ausflocken und Verstopfen, der Sonde kommen könnte.

Anleitung der Familie bei häuslicher Sondenversorgung Benötigt das Kind eine längerfristige Sondenernährung, wird die Familie während des Krankenhausaufenthaltes in folgende Tätigkeiten eingewiesen: ● Legen der Magensonde ● regelmäßige Sondenlagenkontrolle, Sondenwechsel, ggf. PEG-Verbandwechsel ● Verabreichung der Sondenkost ● Ernährungsplan des Kindes ● mögliche Komplikationen im Zusammenhang mit dem Legen der Sonde, der liegenden Sonde und der Nahrungsverabreichung ● Beobachtung der Mund- und Nasenschleimhaut und deren Pflege Die Eltern beobachten hierbei die Tätigkeiten der Pflegefachkräfte und führen die Pflegetätigkeiten so lange unter Anleitung durch, bis sie sich sicher fühlen. Eine Überleitungspflege bzw. die Anbindung an die ambulante Kinderkrankenpflege garantiert die Sicherheit bei dem Umgang mit der Sondenversorgung in der häuslichen Umgebung. Die benötigten Materialien sowie deren Bestellung und Belieferung werden mit der Krankenkasse be-

14.4 Pflegemaßnahmen sprochen und sollten vor der geplanten Entlassung geklärt sein.

Merke

● H

Die Anleitung der Familie und deren aktueller Wissensstand und weiterer Beratungsbedarf werden im Dokumentationssystem vermerkt.

Tab. 14.15 Kriterien für die erfolgreiche Sondenentwöhnung (nach Wilken und Jotzko, 2004). Kriterien für eine erfolgreiche Sondenentwöhnung kurzfristig

1. 2. 3. 4. 5.

Das Kind zeigt spielerische Aktivität wie vor der Sondenernährung. Das Kind hat regelmäßige Ausscheidungen. Urin und Stuhl sind von normaler Farbe, Geruch und Konsistenz. Das Kind zeigt Signale von Hunger und Durst. Das Kind zeigt keine Abwehr bezüglich des Essens oder der Esssituation.

langfristig

1. 2. 3. 4.

Das Essverhalten hat sich stabilisiert. Das Kind zeigt körperliches Wachstum. Der Kopfumfang des Kindes nimmt zu. Entfernen einer Sonde (PEG, Jejunalsonde, Button).

Sondenentwöhnung Die Ernährung per Sonde muss ständig auf ihre Indikation hin überprüft werden. Die meisten Umstellungen von der Sonde zur oralen Nahrungsaufnahme verlaufen unproblematisch. Im Normalfall wird der orale Nahrungsaufbau bei vorhandenem Schluckreflex so durchgeführt, dass das Kind vor der Verabreichung der Sondennahrung ein orales Nahrungsangebot erhält. Die vom Kind aufgenommene orale Nahrung wird dann von der zu verabreichenden Sondennahrung abgezogen.

Wenn die überwiegende Nahrungsaufnahme oral erfolgt, kann eine selbstregulierte orale Nahrungsaufnahme angestrebt werden. Das Kind wird dann vorzugsweise ad libitum ernährt, wobei Maximalabstände zwischen einzelnen Mahlzeiten und Minimaltrinkmengen definiert werden. Tägliche Gewichtskontrollen und Beobachtungen des Allgemeinzustandes sind aussagekräftiger als die ermittelten Einzeltrinkmengen. Ein anfänglicher Gewichtsverlust ist v. a. bei langzeitsonden-

ernährten Kindern möglich, muss aber bei gutem Allgemeinzustand nicht unbedingt eine Indikation zur Beendigung der Sondenentwöhnung sein. Gemeinsam mit dem therapeutischen Team wird festgelegt, welche Toleranzgrenzen hierbei eingehalten werden und welche medizinischen Kontrollen erfolgen müssen. Eine psychologische Begleitung der Eltern kann helfen, eine pathologische Ess- und Gewichtsfixierung zu überwinden. ▶ Tab. 14.15 zeigt Kriterien für die erfolgreiche Sondenentwöhnung.

14

1

Essen und Trinken

14

362

Kapitel 15 Ausscheiden

15.1

Bedeutung

364

15.2

Beeinflussende Faktoren

365

15.3

Beobachten und Beurteilen der Urinausscheidung

365

Pflegemaßnahmen zur Urinausscheidung

367

Beobachten und Beurteilen der Stuhlausscheidung

381

Pflegemaßnahmen

383

15.4 15.5 15.6

Ausscheiden

15 Ausscheiden Heidrun Beyer

15.1 Bedeutung Die Ausscheidung ist für jeden Menschen, unabhängig von seinem Alter, eine tägliche Notwendigkeit, der er sich nicht entziehen kann, auch wenn ihm Ort und Zeitpunkt nicht gelegen kommen. Um diesem Bedürfnis ungestört nachkommen zu können, suchen die Menschen i. d. R. ein „stilles Örtchen“ auf. Die Häufigkeit der Urinund Stuhlentleerungen ist sehr individuell und von verschiedenen Faktoren abhängig.

15.1.1 Lebensspanne Das Ausscheidungsverhalten verändert sich vom Zeitpunkt der Geburt bis zum Tod eines Menschen. Bei einem Säugling erfolgen Miktion und Defäkation unwillkürlich. Die Kontrolle der Ausscheidung wird im Kleinkindalter mit viel Geduld vonseiten der Eltern und des Kindes erlernt, sofern keine Fehlbildungen oder psychischen Störungen vorliegen. Nach einer langen Phase der kontrollierten Urin- und Stuhlausscheidung können dann im Alter wiederum Miktionsund Defäkationsstörungen auftreten. Eine Harn- oder Stuhlinkontinenz kann aus Angst vor Bloßstellung zu sozialer Isolation und bei zusätzlichen Beeinträchtigungen zum Verlust der Selbstständigkeit führen.

15.1.2 Abhängigkeit und Unabhängigkeit

15

364

Ob ein Mensch während seiner Lebensspanne die Urin- und Stuhlausscheidung ohne fremde Hilfe verrichten kann, ist nicht allein vom Alter und vom Entwicklungsstand abhängig. Eine Verrichtung der Miktion oder Defäkation ohne fremde Hilfe wird entscheidend durch intakte Ausscheidungsorgane, ein leitungsfähiges Nervensystem und einen funktionierenden Bewegungsapparat mit beeinflusst. Während bestimmter Lebensabschnitte ist es für uns natürlich, dass Menschen bei der Verrichtung der Ausscheidung ganz oder teilweise von fremder Hilfe abhängig sind. Nach Erreichen eines bestimmten Reifungsprozesses sollten sie jedoch von fremder Hilfe unabhängig sein, sofern sich nicht die Lebenssituation durch Erkrankung oder Unfall geändert hat. Ein vorrangiges Ziel in der Betreuung von Menschen mit Ausscheidungsproblemen muss es daher sein, eine weitgehende Unabhängigkeit der Betroffenen zu erreichen, um Schulbesuche, Berufsausübung und Freizeitgestaltung zu erleichtern.

15.1.3 Umgang mit Ekelgefühlen Durch Kontakt mit Ausscheidungen werden die Pflegefachkräfte sehr häufig mit Ekelgefühlen konfrontiert. Befragungen von Christiane Sowinski in ihrer Studie über den „Stellenwert der Ekelgefühle im Erleben des Pflegepersonals“ haben ergeben, dass die befragten Pflegefachkräfte am Anfang ihrer Berufstätigkeit Probleme im Umgang mit Stuhl und Urin hatten, diese sich jedoch im Laufe der Zeit durch Gewöhnung verringerten. Große Ekelgefühle beobachteten die Befragten an sich im Zusammenhang mit Sputum und Erbrochenem. Am unangenehmsten war für sie der Umgang mit großen, tiefen Wunden; hierbei fand keine Gewöhnung statt. Dies zeigt, dass Ekelgefühle nicht allein durch Ausscheidungsprodukte des Körpers hervorgerufen werden, sondern auch andere Ursachen dafür auslösend sein können. Es wird vermutet, dass im Unterbewusstsein des Menschen die Abscheu vor Zerfall und Verwesung und somit die Angst vor dem eigenen Tod die Ekelgefühle hervorruft.

Intensität des Ekelgefühls Die Intensität des Ekelgefühls ist bei den Menschen recht unterschiedlich ausgeprägt und von der Beziehung zum Kind sowie vom eigenen Befinden der Pflegefachkraft abhängig. Ausscheidungen von Säuglingen erregen bei den Pflegefachkräften i. d. R. keine Ekelgefühle. Anders verhält es sich dagegen beim Umgang mit Ausscheidungen von Kindern und Jugendlichen, wobei Ekelgefühle anfangs stärker vorhanden waren, sich aber im Verlauf der Arbeitsjahre verringerten. Ekelgefühle bewirken bei den Pflegefachkräften Abwehr und Abwendung vom Gegenstand des Ekels und damit von der zu pflegenden Person. Dies kann zu Ambivalenzkonflikten, verbunden mit Schuldgefühlen führen: Haben sie sich doch bei ihrer Berufswahl den nahen Kontakt mit den Kindern und Jugendlichen gewünscht, müssen sie nun erleben, dass während bestimmter Pflegeverrichtungen diese negativen Gefühle auftreten.

Eingestehen von Ekelgefühlen Es ist wichtig, dass sich die Pflegenden bereits zu Beginn der beruflichen Laufbahn mit Ekelgefühlen auseinandersetzen und sie sich diese auch eingestehen. Auch ein Austausch zwischen den Kollegen kann sehr hilfreich sein, denn es wird da-

durch die Erkenntnis gewonnen, dass diese Empfindungen nicht nur einen selbst betreffen.

Praxistipp Pflege

Z ●

In Ausnahmesituationen, bei stark ausgeprägten Ekelgefühlen, kann eine Kollegin gebeten werden, die Versorgung des Patienten zu übernehmen.

Verhalten den Patienten gegenüber Um die Würde des zu pflegenden Kindes und Jugendlichen nicht zu verletzen, sollte die Pflegefachkraft ein ehrliches und offenes Verhalten zeigen und nicht die Nase rümpfen und sagen, dass es überhaupt nicht schlimm ist. Die Äußerungen der Pflegefachkraft sollten mit Mimik und Gestik übereinstimmen. Hilfreich ist, sich in die Situation des Kindes oder Jugendlichen hineinzuversetzen und zu überlegen, welches Verhalten einem selbst am angenehmsten wäre. Ungezwungenheit ist sicher die beste Lösung, was mit dem folgenden Fallbeispiel verdeutlicht werden soll.

Fallbeispiel

I ●

Die Auszubildende Sina kommt in das Zimmer und sagt zu Laurenz, der gerade auf dem Steckbecken Stuhl entleert hat: „Ich mach’ erst einmal, wenn es dir recht ist, das Fenster kurz auf, damit die Luft im Zimmer wieder frisch ist. Dir und mir ist das auch nicht angenehm, aber da müssen wir durch. Gleich haben wir es beide geschafft!“

Die Pflegefachkraft kann sich und das Kind auch ablenken, indem sie sich eingehend mit ihm unterhält. Die Äußerungen der Pflegefachkraft dem Kind oder Jugendlichen gegenüber sollten sich an der Situation orientieren. Für Kind und Pflegefachkraft ist es auch hilfreich, wenn ein Vertrauensverhältnis besteht. Häufig wünschen sich Kinder deshalb für bestimmte Pflegemaßnahmen auch ihre „Lieblingsschwester“.

15.3 Beobachten und Beurteilen der Urinausscheidung

15.2 Beeinflussende Faktoren ▶ Körperliche Faktoren. Das Ess- und Trinkverhalten sowie körperliche Betätigung haben einen sehr entscheidenden Einfluss auf die Urin- und Stuhlentleerung und somit auf den Gesundheitszustand. Kinder werden diesbezüglich in großem Ausmaß von ihrer Umgebung geprägt, sodass sie häufig das Fehlverhalten der Eltern nachahmen, indem sie sich ungesund ernähren und sich sportlich wenig betätigen. ▶ Psychologische Faktoren. Emotionale Regungen, wie Aufregung, Angst und Depression, wirken sich auf die Häufigkeit der Miktion und Defäkation individuell ganz unterschiedlich aus. Die meisten Menschen kennen das Gefühl der Prüfungsangst und ihre Auswirkungen auf die Blase oder den Darm. Kinder mit psychischen Problemen, z. B. nach der Geburt eines Geschwisterkindes, dem Verlust eines Angehörigen oder während Krankenhausaufenthalten, reagieren sehr häufig auf die veränderte Lebenssituation mit Einnässen oder evtl. sogar mit Einkoten. ▶ Soziokulturelle Faktoren. Das Kind wird bezüglich seines Schamverhaltens ganz entscheidend durch die Erziehung geprägt, die wiederum ihre Wurzeln in der Kultur und Religion hat. In islamischen Ländern, wo der Intimbereich eine noch größere Tabuzone darstellt als in den westlichen Ländern, sind daher das Schamgefühl und Schamverhalten häufig noch ausgeprägter. Ein verstärktes Schamverhalten kann u. U. die Ursache für einen willentlich unterdrückten Harn- oder Stuhldrang sein, sofern die Möglichkeit einer ungestörten Entleerung nicht gegeben ist. Als Folgen können dann evtl. Harnwegsinfektionen oder in Wiederholungsfällen Darmträgheit mit Obstipation auftreten. ▶ Umgebungsabhängige Faktoren. Unsaubere oder außerhalb des Wohnbereiches befindliche Toiletten können dazu beitragen, dass der Urin- oder Stuhldrang längere Zeit willentlich unterdrückt wird. Auch spielende Kinder oder stark beschäftigte Erwachsene ignorieren häufig diese Bedürfnisse, sodass die umgebungsabhängigen Faktoren die Ursache für gesundheitliche Schäden sein können.

▶ Ökonomische Faktoren. Infektiöse Darmerkrankungen werden durch wirtschaftliche Faktoren eines Landes in starkem Maße mit beeinflusst, da das Gesundheitssystem sehr entscheidend dazu beiträgt, das Auftreten von Epidemien zu verhindern. Dazu gehört u. a. die Überwachung von Lebensmitteln, Restaurants und Personal, sodass in den reichen Industrieländern das Auftreten von infektiösen Darmerkrankungen eine untergeordnete Rolle spielt. In den Entwicklungsländern sind dagegen sanitäre Einrichtungen, ein funktionierendes Abwassersystem und eine ausreichende Trinkwasserqualität häufig nicht vorhanden. Die Aufklärung zur Einhaltung der Hygiene wird meist völlig vernachlässigt, sodass in besonderem Maße Kinder und abwehrgeschwächte ältere Menschen an Durchfällen erkranken und auch versterben.

15.3 Beobachten und Beurteilen der Urinausscheidung Urin wird in beiden Nieren von ca. 2 Mio. Nephronen produziert, anschließend über die ableitenden Harnwege transportiert und im Bereich der Harnröhrenmündung ausgeschieden. Die Hauptaufgaben der Nephronen bestehen in der Filtration des Blutes, Rückresorption von Stoffen, wie z. B. Wasser, Elektrolyten, Glukose, sowie der Regulierung des Säure-Basen-Haushaltes. Die Aufgabe der ableitenden Harnwege besteht im Transport des Endharns, der sich zu 95 % aus Wasser, Salzen und im Wesentlichen aus den Abbauprodukten des Eiweißstoffwechsels (Harnstoff), des Purinstoffwechsels (Harnsäure) und des Muskelstoffwechsels (Kreatinin) zusammensetzt.

Merke

H ●

Kann die Niere aufgrund einer Insuffizienz ihren vielfältigen Aufgaben nicht mehr nachkommen, so treten die harnpflichtigen Stoffe in das Serum über und können in schwerwiegenden Fällen zu einer Harnvergiftung (Urämie) führen, die ohne Dialysebehandlung ein Leben unmöglich macht.

15.3.1 Physiologische Urinausscheidung Der physiologische Urin ist steril. Folgende Faktoren tragen zum Beispiel dazu bei: ● bakterienbindende Proteine, z. B. das Tamm-Horsfall-Mukoprotein der Harnblasenschleimhaut ● antimikrobiell wirksame Enzyme aus der Blasenschleimhaut, Defensine und Cathelizidine, die z. B. Escherichia coli abtöten können ● Wash-out-Phänomen bei ausreichendem Urinfluss ● vollständige Entleerung der Blase bei jeder Miktion In ▶ Tab. 15.1 werden die Kriterien zur Beobachtung der physiologischen Urinausscheidung, z. B. Farbe (▶ Abb. 15.1), Durchsichtigkeit und Geruch dargestellt.

15.3.2 Pathologische Abweichungen Bei gesunden Kindern und Jugendlichen schützen die physiologischen Abwehrmechanismen (z. B. pH-Wert des Urins 5– 8, Muzinschicht der Harnblase, antibakteriell wirksame Enzyme) vor pathogenen Keimen. 80–90 % der Harnwegsinfektionen werden durch Escherichia-coli-Bakterien ausgelöst (Schmiemann/Kniehl 2010). Als ruhende Erreger in der Blasenschleimhaut können sie im Verborgenen über Monate überleben, um dann erneut eine Infektion auszulösen (Magistro 2016). Im Ruhezustand sind sie vor Antibiotika und der Immunabwehr geschützt und können immer wieder Infektionen auslösen (Sitzmann 2004b). Veränderungen bei der Urinausscheidung durch pathologische Ursachen beschreibt ▶ Tab. 15.2.

Merke

H ●

Veränderungen des Urins, z. B. Farbe, Geruch werden sorgfältig dokumentiert. Urinentleerungen werden bei Neugeborenen häufig mit einem Symbol (z. B. „x“) vermerkt. Angeordnete Flüssigkeitsbilanzen, das Katheterisieren der Harnblase sowie diagnostische Maßnahmen, z. B. Laboruntersuchungen, werden ebenfalls dokumentiert.

15

5

Ausscheiden

Tab. 15.1 Kriterien zur Beobachtung der Urinausscheidung und physiologische Abweichungen. Beobachtungskriterium

Normbereich

Abweichungen durch physiologische Ursachen

Farbe

hellgelb

● ● ●

● ●

Durchsichtigkeit

klar



leichte Trübung bei konzentriertem oder saurem Urin durch längeres Stehen

chemische Reaktion (Wasserstoffionenkonzentration = pH)

pH-Wert 5 – 6



alkalischer pH-Wert 7 – 8, bei pflanzlicher Kost (Gefahr von Harnsteinen ist geringer) saurer pH bei eiweißreicher Kost (Harnwegsinfekte entstehen seltener)



spezifisches Gewicht

1010 – 1025



„messende Verfahren“ (S. 378)

Geruch

unauffällig, nicht unangenehm



stechender, scharfer Geruch nach Ammoniak durch langes Stehen Veränderungen durch Nahrungsmittel, z. B. durch Spargel, Kaffee



Neugeborene: am 1. Tag: ca. 15 ml bis 10. Tag: 100 – 300 ml Säuglinge: bis 500 ml Kinder unter 8 Jahren: bis 1000 ml Kinder über 8 Jahren: bis 1200 ml Erwachsene: bis 2000 ml



Menge pro Miktion

Neugeborene: 5 – 10 ml Säuglinge: 15 – 30 ml Schulkind: ca. 150 ml Erwachsene: 200 – 400 ml



Menge pro kg Körpergewicht pro Stunde

Säugling: 2,5 ml/kgKG/h Schulkind: 1,5 ml/kgKG/h Erwachsene: 1 ml/kgKG/h

Anzahl der täglichen Miktionen: Die Miktionen erfolgen (willkürlich) im Strahl und sind schmerzlos

Neugeborene: anfangs 1- bis 2-mal 1. Lebenswoche: 6- bis 8-mal Säuglinge: 12- bis 18-mal Schulkinder: 6- bis 8-mal Erwachsene: 4- bis 6-mal

tägliche Menge: sie richtet sich nach dem Alter der Kinder und der aufgenommenen Flüssigkeitsmenge

15

366

blassgelb bei hoher Flüssigkeitsaufnahme dunkelgelb bei geringer Flüssigkeitszufuhr rot gefärbter Niederschlag bei jungen Säuglingen durch Urate (Ausfällung von Harnsäuresalzen und Uroerythrin), sichtbar durch rötlichen Hof in der Windel (Ziegelmehlsediment) rötlich durch Verzehr roter Rüben leuchtend gelb durch Vitamin B

Abb. 15.1 Verschiedene Urinfarben. (Foto: T. Stephan, Thieme)





geringe Trinkmengen führen zu niedrigen Urinmengen eine hohe Flüssigkeitszufuhr führt zu großen Ausscheidungsmengen zusätzlich muss der Flüssigkeitsverlust über Atmung und Haut (Perspiratio insensibilis) mitberücksichtigt werden: Bei starkem Schwitzen (Perspiratio sensibilis) durch Sport oder hohe Temperaturen kann die Urinausscheidung verringert sein Urinmengen, die die angegebenen Werte deutlich unterbzw. überschreiten

Häufigkeit der Miktionen ist abhängig von: Entwicklungsstand, d. h., ob die Harnausscheidung willkürlich gesteuert werden kann oder nicht ● Trinkmenge ● Blasenkapazität ●

15.3.3 Individuelle Situationseinschätzung



Um Urin und Miktion beurteilen zu können, ist es wichtig, von den Angehörigen diesbezüglich Informationen zu erhalten. Bei der Aufnahme sollten deshalb gezielt Fragen zur Ausscheidung gestellt werden, z. B.:



● ●



Ist das Kind tagsüber sauber? Trägt das Kind nachts Windeln? Muss es nachts auf die Toilette? Geht es allein zur Toilette? Wie äußert sich das Kind, wenn es Wasser lassen möchte?

15.4 Pflegemaßnahmen zur Urinausscheidung

Tab. 15.2 Veränderungen des Urins durch pathologische Ursachen. Veränderung

Ursachen

Farbe







bierbrauner Urin durch Bilirubin, einen Bestandteil der Gallenfarbstoffe, z. B. bei Hyperbilirubinämie, Hepatitis fleischwasserfarben bis rot durch Blut, z. B. bei Harnwegsinfekt, Harnsteinen: ○ Makrohämaturie: sichtbares Blut im Urin ○ Mikrohämaturie: Blut kann nur durch spezielle Untersuchungen nachgewiesen werden blassgelb bis wasserhell bei Diabetes mellitus und Diabetes insipidus (bei Diabetes mellitus ist trotz der hellen Farbe das spezifische Gewicht durch die Glukose hoch!)

Durchsichtigkeit



trüb und undurchsichtig durch Eiweiß und Eiter bei massiven Harnwegsinfektionen ○ Proteinurie: Eiweiß im Urin ○ Pyurie: eitriger Urin

chemische Reaktion



saurer Urin, z. B. bei Fieber, diabetischer Azidose, Tumorzerfall durch Zellzerfall nach zytostatischer oder Strahlentherapie kann Urin sehr sauer sein, d. h. pH 4 – 5: Gefahr einer Nierenschädigung durch Harnsäure



Geruch





Miktionsstörungen: (Menge, Häufigkeit, Zeitpunkt u. a.)

















spezifisches Gewicht





übel riechender Urin weist auf eine bakterielle Harnwegsinfektion hin Obstkellergeruch bei Coma diabeticum durch Azeton im Urin (Ketonurie), s. Urinuntersuchung (S. 637) Polyurie: vermehrte Urinausscheidung, z. B. bei Diabetes mellitus und Diabetes insipidus Oligurie: verminderte Urinausscheidung, hervorgerufen z. B. durch Fieber, Erbrechen, Durchfall Anurie: fehlende Harnproduktion; führt zur Urämie, da Stoffwechselprodukte nicht ausgeschieden werden können (Ursache: z. B. Schock mit Nierenversagen) Nykturie: häufiges nächtliches Wasserlassen; Urinmenge ist nachts größer als tagsüber, was z. B. bei Herz- und Nierenerkrankungen beobachtet werden kann Pollakisurie: Bezeichnung für häufiges Wasserlassen von sehr kleinen Urinmengen bei Harnwegsinfektionen; Urinmenge über 24 Std. kann dabei normal sein Dysurie: schmerzhafte Miktion, bei der häufig nur tropfenweise Harn entleert wird (z. B. bei Harnwegsinfektionen, postoperativ durch Sphinkterspasmus und nach Entfernen des Blasendauerkatheters) Harnretention: gefüllte Blase kann nicht entleert werden; Ursache ist eine Abflussbehinderung (z. B. durch Harnsteine oder neurogene Störungen) Harninkontinenz oder Harnträufeln: Unvermögen, den Urin willkürlich zurückzuhalten (z. B. bei neurogenen Blasenentleerungsstörungen) Isosthenurie: Harnstarre; kann bei Nierenversagen beobachtet werden; Konzentrationsvermögen der Nieren ist stark herabgesetzt (spezifisches Gewicht beträgt daher konstant 1010 – 1012) Hypersthenurie: übermäßig hohes spezifisches Gewicht; massive Glukose- oder Eiweißausscheidung führt zu hohem spezifischem Gewicht bei normaler bis erhöhter Flüssigkeitsmenge und hellgelbem Urin

15.4 Pflegemaßnahmen zur Urinausscheidung 15.4.1 Physiologische Nieren- und Harnableitungsfunktion Eine störungsfreie Entwicklung und eine gesunde Lebensführung beeinflussen sehr entscheidend das Miktionsverhalten eines

Kindes sowie die Funktionsfähigkeit der Nieren und ableitenden Harnwege. Es sollte daher vonseiten der Pflegefachkräfte Ziel aller gesundheitsfördernden Pflegemaßnahmen sein, die Kinder und Eltern zu informieren und zu motivieren, alle notwendigen prophylaktischen Maßnahmen zur Gesunderhaltung durchzuführen. Dazu gehören reichliches Trinken, um die Nieren und ableitenden Harnwege gut durchzuspülen, sowie eine sorgfältige und

fachrichtige Intimpflege, damit der Entstehung von Harnwegsinfektionen vorgebeugt wird.

Sauberkeitsgewöhnung Sie beginnt i. d. R. im 2.– 3. Lebensjahr, wenn das Kind die Füllung der Blase oder Stuhldrang wahrnimmt und wird i. d. R. mit 3 Jahren beherrscht, wobei es individuelle Unterschiede gibt. Sauberwerden ist ein Entwicklungsprozess, für den neben körperlichen Fähigkeiten auch seelische Faktoren vorhanden sein müssen. Eine zu früh und unter Druck einsetzende Sauberkeitserziehung verlangsamt den Lernprozess und kann evtl. zu Störungen in der Entwicklung führen. Förderlich wirken sich eine gelassene Haltung der Eltern und eine gute Eltern-Kind-Beziehung aus. Keinesfalls sollten sie schimpfen oder gar strafen, wenn sich ihr Kind zu spät gemeldet hat. Bei einer erfolgreichen Verrichtung sollten sie auf ein übermäßiges Lob verzichten, um dem Kind zu signalisieren, dass Ausscheiden ein ganz normaler Vorgang ist.

Eltern

a ●

Eltern wird geraten, Baumwollwindeln oder -tücher in die flüssigkeitsaufsaugenden Windeln zu legen, um den Kindern die Wahrnehmung einer unangenehmen nassen Windel zu ermöglichen. Trinkmengen dürfen keinesfalls reduziert werden, da Kinder ausreichend Flüssigkeit benötigen.

Auch wenn ein Kind schon längere Zeit sauber ist, kann in besonderen Ausnahmesituationen, z. B. durch Krankenhausaufenthalt oder Geburt eines Geschwisterkindes, erneutes Einnässen auftreten. Kinder mit 5 Jahren, die primär inkontinent sind, d. h. niemals sauber waren, und ältere Kinder, die nach einer trockenen Phase wieder einnässen, müssen einem Arzt vorgestellt werden, damit die Ursache (S. 726) abgeklärt und Kontinenz durch eine individuelle Behandlung erreicht werden kann.

15.4.2 Hilfestellung zur physiologischen Urinausscheidung Anregen der Miktion

15

Folgende Maßnahmen können postoperativ hilfreich sein: ● Die Miktion kann angeregt werden, indem die Kinder die Möglichkeit erhalten, sich im Bett aufzusetzen. Hilfreich

7

15.4 Pflegemaßnahmen zur Urinausscheidung

Tab. 15.2 Veränderungen des Urins durch pathologische Ursachen. Veränderung

Ursachen

Farbe







bierbrauner Urin durch Bilirubin, einen Bestandteil der Gallenfarbstoffe, z. B. bei Hyperbilirubinämie, Hepatitis fleischwasserfarben bis rot durch Blut, z. B. bei Harnwegsinfekt, Harnsteinen: ○ Makrohämaturie: sichtbares Blut im Urin ○ Mikrohämaturie: Blut kann nur durch spezielle Untersuchungen nachgewiesen werden blassgelb bis wasserhell bei Diabetes mellitus und Diabetes insipidus (bei Diabetes mellitus ist trotz der hellen Farbe das spezifische Gewicht durch die Glukose hoch!)

Durchsichtigkeit



trüb und undurchsichtig durch Eiweiß und Eiter bei massiven Harnwegsinfektionen ○ Proteinurie: Eiweiß im Urin ○ Pyurie: eitriger Urin

chemische Reaktion



saurer Urin, z. B. bei Fieber, diabetischer Azidose, Tumorzerfall durch Zellzerfall nach zytostatischer oder Strahlentherapie kann Urin sehr sauer sein, d. h. pH 4 – 5: Gefahr einer Nierenschädigung durch Harnsäure



Geruch





Miktionsstörungen: (Menge, Häufigkeit, Zeitpunkt u. a.)

















spezifisches Gewicht





übel riechender Urin weist auf eine bakterielle Harnwegsinfektion hin Obstkellergeruch bei Coma diabeticum durch Azeton im Urin (Ketonurie), s. Urinuntersuchung (S. 637) Polyurie: vermehrte Urinausscheidung, z. B. bei Diabetes mellitus und Diabetes insipidus Oligurie: verminderte Urinausscheidung, hervorgerufen z. B. durch Fieber, Erbrechen, Durchfall Anurie: fehlende Harnproduktion; führt zur Urämie, da Stoffwechselprodukte nicht ausgeschieden werden können (Ursache: z. B. Schock mit Nierenversagen) Nykturie: häufiges nächtliches Wasserlassen; Urinmenge ist nachts größer als tagsüber, was z. B. bei Herz- und Nierenerkrankungen beobachtet werden kann Pollakisurie: Bezeichnung für häufiges Wasserlassen von sehr kleinen Urinmengen bei Harnwegsinfektionen; Urinmenge über 24 Std. kann dabei normal sein Dysurie: schmerzhafte Miktion, bei der häufig nur tropfenweise Harn entleert wird (z. B. bei Harnwegsinfektionen, postoperativ durch Sphinkterspasmus und nach Entfernen des Blasendauerkatheters) Harnretention: gefüllte Blase kann nicht entleert werden; Ursache ist eine Abflussbehinderung (z. B. durch Harnsteine oder neurogene Störungen) Harninkontinenz oder Harnträufeln: Unvermögen, den Urin willkürlich zurückzuhalten (z. B. bei neurogenen Blasenentleerungsstörungen) Isosthenurie: Harnstarre; kann bei Nierenversagen beobachtet werden; Konzentrationsvermögen der Nieren ist stark herabgesetzt (spezifisches Gewicht beträgt daher konstant 1010 – 1012) Hypersthenurie: übermäßig hohes spezifisches Gewicht; massive Glukose- oder Eiweißausscheidung führt zu hohem spezifischem Gewicht bei normaler bis erhöhter Flüssigkeitsmenge und hellgelbem Urin

15.4 Pflegemaßnahmen zur Urinausscheidung 15.4.1 Physiologische Nieren- und Harnableitungsfunktion Eine störungsfreie Entwicklung und eine gesunde Lebensführung beeinflussen sehr entscheidend das Miktionsverhalten eines

Kindes sowie die Funktionsfähigkeit der Nieren und ableitenden Harnwege. Es sollte daher vonseiten der Pflegefachkräfte Ziel aller gesundheitsfördernden Pflegemaßnahmen sein, die Kinder und Eltern zu informieren und zu motivieren, alle notwendigen prophylaktischen Maßnahmen zur Gesunderhaltung durchzuführen. Dazu gehören reichliches Trinken, um die Nieren und ableitenden Harnwege gut durchzuspülen, sowie eine sorgfältige und

fachrichtige Intimpflege, damit der Entstehung von Harnwegsinfektionen vorgebeugt wird.

Sauberkeitsgewöhnung Sie beginnt i. d. R. im 2.– 3. Lebensjahr, wenn das Kind die Füllung der Blase oder Stuhldrang wahrnimmt und wird i. d. R. mit 3 Jahren beherrscht, wobei es individuelle Unterschiede gibt. Sauberwerden ist ein Entwicklungsprozess, für den neben körperlichen Fähigkeiten auch seelische Faktoren vorhanden sein müssen. Eine zu früh und unter Druck einsetzende Sauberkeitserziehung verlangsamt den Lernprozess und kann evtl. zu Störungen in der Entwicklung führen. Förderlich wirken sich eine gelassene Haltung der Eltern und eine gute Eltern-Kind-Beziehung aus. Keinesfalls sollten sie schimpfen oder gar strafen, wenn sich ihr Kind zu spät gemeldet hat. Bei einer erfolgreichen Verrichtung sollten sie auf ein übermäßiges Lob verzichten, um dem Kind zu signalisieren, dass Ausscheiden ein ganz normaler Vorgang ist.

Eltern

a ●

Eltern wird geraten, Baumwollwindeln oder -tücher in die flüssigkeitsaufsaugenden Windeln zu legen, um den Kindern die Wahrnehmung einer unangenehmen nassen Windel zu ermöglichen. Trinkmengen dürfen keinesfalls reduziert werden, da Kinder ausreichend Flüssigkeit benötigen.

Auch wenn ein Kind schon längere Zeit sauber ist, kann in besonderen Ausnahmesituationen, z. B. durch Krankenhausaufenthalt oder Geburt eines Geschwisterkindes, erneutes Einnässen auftreten. Kinder mit 5 Jahren, die primär inkontinent sind, d. h. niemals sauber waren, und ältere Kinder, die nach einer trockenen Phase wieder einnässen, müssen einem Arzt vorgestellt werden, damit die Ursache (S. 726) abgeklärt und Kontinenz durch eine individuelle Behandlung erreicht werden kann.

15.4.2 Hilfestellung zur physiologischen Urinausscheidung Anregen der Miktion

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Folgende Maßnahmen können postoperativ hilfreich sein: ● Die Miktion kann angeregt werden, indem die Kinder die Möglichkeit erhalten, sich im Bett aufzusetzen. Hilfreich

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Ausscheiden









ist es, wenn sie anschließend eine Weile allein gelassen werden, damit sie sich nicht gedrängt fühlen. Ein geöffneter Wasserhahn wirkt sich durch das Geräusch des fließenden Wassers ebenfalls positiv aus. Ein kühler Waschlappen auf den Unterbauch im Bereich der Blase hat stimulierende Wirkung. Dürfen Kinder kurz aufstehen, so hilft es ihnen häufig, wenn sie die Toilette aufsuchen. Die Wahrung der Intimsphäre sollte unbedingt beachtet werden, da sie sich ebenfalls positiv auf eine ungestörte Miktion auswirken kann.

15.4.3 Gewinnung von Spontanurin

Abb. 15.2 Kindertopf (Symbolbild). (Halfpoint – stock. adobe.com)

Umgang mit Ausscheidungsgefäßen ▶ Kindertopf. Er ist ein geeignetes Ausscheidungsgefäß für Kinder im Krabbelalter, die für die Benutzung einer Toilette noch zu klein sind, oder für ältere Kinder, die das Krankenzimmer nicht verlassen dürfen. Kindertöpfe sind aus Kunststoff (▶ Abb. 15.2) oder Metall hergestellt und sogar mit Musik erhältlich, damit der Erfolg mit einem Lied belohnt wird. Der Topf kann direkt in das Bett gestellt werden. Aus Sicherheitsgründen muss die Pflegefachkraft am Bett stehen bleiben. Wird der Topf zur Sitzung auf den Fußboden gestellt, sollte er sich aus hygienischen Gründen auf einer Windel befinden, die zusätzlich den nackten Füßen des Kindes Platz bietet. Steht der Topf im kalten Pflegearbeitsraum, wird er durch warmes Wasser leicht angewärmt oder aber in einem temperierten Zimmer aufbewahrt.

15

368

▶ Urinflaschen für Jungen. Sie werden in der Kinderklinik für bettlägerige größere Jungen eingesetzt und können mittels einer Aufhängevorrichtung am Bett befestigt werden, damit sie nach Bedarf selbstständig benutzt werden können. Sie sind aus durchsichtigem Plastik und in der Form den anatomischen Gegebenheiten des Penis angepasst. Sie haben eine abgeflachte Liegefläche und eine Graduierung in Milliliter, damit die ausgeschiedenen Urinmengen zur Flüssigkeitsbilanzierung abgelesen werden können (▶ Abb. 15.3). Durch das durchsichtige Material ist eine gute Beobachtungsmöglichkeit des Urins bezüglich Farbe und Klarheit gegeben, sodass Veränderungen gleich erkannt werden können. Ist der Junge nicht in der Lage, die Urinflasche selbstständig zu benutzen, sollte von einem Pfleger der Penis im Bereich der Peniswurzel angefasst und in die Flaschenöffnung eingeführt werden. Besucher werden zur Wahrung der Intimsphäre aus dem Zimmer geschickt.

Das Auffangen des spontan entleerten Urins dient diagnostischen Zwecken. Er wird zur Durchführung von messenden und schätzenden Verfahren sowie zur quantitativen Bestimmung für Schnelltests oder Laboruntersuchungen benötigt. Entsprechend der Diagnosestellung können verschiedene Techniken der Uringewinnung angewendet werden: ● Spontanurin: Spontan entleerter Urin wird nach gründlicher Reinigung des äußeren Genitalbereichs aufgefangen. ● Mittelstrahlurin: Nach gründlicher Reinigung des Genitalbereichs wird nur der mittlere Harnstrahl für bakteriologische Untersuchungen verwendet. ● Morgenurin: Es handelt sich um den ersten Urin, der am Morgen spontan entleert wird. Er wird z. B. zur Durchführung eines Schwangerschaftsnachweises benötigt, da er morgens besonders konzentriert ist und größere Mengen des Hormons HCG (Humanes Choriongonadotropin) enthält.

Auffangen des Spontanurins beim Säugling Im Folgenden werden Vorbereitung und Durchführung für das Auffangen des Spontanurins beim Säugling beschrieben. Zur Anregung der Diurese kann bei Säuglingen nach ärztlicher Absprache zusätzlich Tee verabreicht werden. Abb. 15.3 Urinflasche für Jungen. Sie wird mittels Aufhängevorrichtung sicher am Bett befestigt. (Foto: F. Kleinbach, Thieme)

▶ Urinflaschen für Frauen. Sie haben eine breitere Öffnung, die während der Miktion an die äußeren Schamlippen gepresst wird. In der Kinderklinik werden sie jedoch nicht eingesetzt. Für Mädchen dienen Steckbecken (S. 383) als Auffangbehältnisse für den Urin.

Praxistipp Pflege

Z ●

Bei Berührung des Genitales und im Umgang mit Ausscheidungen werden Schutzhandschuhe getragen.

Vorbereitung ▶ Material. Folgendes wird benötigt: ● Waschutensilien ● frische Windel ● Urinauffangbeutel ● steriles Untersuchungsröhrchen ● Nierenschale ● Schutzhandschuhe ● Klebeetiketten ● ausgefüllter Begleitschein

Durchführung Bei der Durchführung zur Gewinnung von Spontanurin beim Säugling ist Folgendes zu beachten: ● Der Genitalbereich wird sorgfältig mit lauwarmem Wasser gewaschen. Bei männlichen Säuglingen darf keine Manipulation im Bereich der Vorhaut erfolgen, da bis zum dritten Lebensjahr eine physiologische Phimose besteht. Desinfektionsmittel sollten nicht verwendet werden, um eine Verfälschung des Untersuchungsergebnisses zu vermeiden. Ein sorgfältiges Trockentupfen

15.4 Pflegemaßnahmen zur Urinausscheidung













der Haut gewährleistet sicheres Kleben des Beutels. Unter das Gesäß kann zum Schutz eine frische Windel gelegt werden. Zum Auffangen des Urins werden Einmal-Klebebeutel verwendet. Bei Mädchen wird vor dem Entfernen des Schutzpapiers das untere Ende der Öffnung leicht geknickt, um das Platzieren des Beutels am Damm zu erleichtern. Nach dem Entfernen des Schutzpapiers wird der Beutel auf die großen Labien geklebt. Die hintere Kante des Beutels muss gut anliegen und die Harnröhrenmündung sich im oberen Drittel der Beutelöffnung befinden. Bei Jungen befinden sich der Penis im Beutel und die hintere Kante des Beutels an der Peniswurzel. Er wird dann auf dem Skrotum und der umliegenden Haut aufgeklebt. Eine Windel sollte anschließend locker angelegt werden, damit sich der Beutel auch füllen kann. Ein mehrmaliges Kleben sollte zur Vermeidung von Hautschäden vermieden werden.

Praxistipp Pflege

Z ●

Die Eltern werden über das Vorhandensein des Beutels informiert, damit er nicht durch das Tragen des Kindes entleert wird. Auch sollte ihnen angeboten werden, zum Entfernen des gefüllten Beutels eine Pflegefachkraft zu rufen.

Der Urinbeutel kann durch Zusammendrücken der Klebefläche vorübergehend verschlossen werden. Um eine Verunreinigung zu vermeiden, sollte der Urin mithilfe einer Urinmonovette in das Untersuchungsröhrchen umgefüllt werden. Anschließend wird es beschriftet und möglichst umgehend in das Labor gebracht. Nach der Beutelabnahme sollte die Haut des Kindes mit einer Hautlotion gepflegt werden.

Gewinnen von Mittelstrahlurin Der Mittelstrahlurin wird für bakteriologische Untersuchungen, z. B. zum Nachweis eines Harnwegsinfektes, verwendet. Durch das Auffangen des mittleren Strahles wird gewährleistet, dass die in der Urethra vorhandenen Keime weitgehend entfernt wurden. Das letzte Drittel des Harnstrahls wird für Untersuchungszwecke nicht verwendet, da er häufig Bestandteile des Sediments enthält. Dadurch kann das Untersuchungsergebnis deutlich von einer Verunreinigung abgegrenzt werden.

Größere Kinder können nach ausführlicher Information den Mittelstrahlurin selbst auffangen, bei kleineren Kindern wird dagegen die Hilfe der Pflegefachkräfte notwendig Es wird vorzugsweise Morgenurin verwendet bzw. die letzte Miktion sollte ca. 3 Stunden zurückliegen, damit evtl. vorhandene Keime genügend Zeit haben, sich zu vermehren.

Vorbereitung ▶ Material. Folgende Utensilien benötigt die Pflegefachkraft: ● warmes Wasser und pH-neutrale Waschlotion ● sterile Tupfer zur Reinigung und sterile Kompressen zum Abtrocknen ● steriles, verschließbares Urinauffanggefäß ● Klebeetiketten und Begleitschein ● Schutzhandschuhe

Durchführung Vorgehen zur Gewinnung von Mittelstrahlurin: ● Der Intimbereich wird gründlich mit Wasser, pH-neutraler Waschlotion und sterilen Tupfern gereinigt. Die Tupfer werden nach einer Wischbewegung verworfen. Bei Mädchen werden die Labien gespreizt und es wird von der Symphyse zum Anus gewischt. Bei Jungen ab dem 3. Lebensjahr kann versucht werden die Vorhaut vorsichtig zurückzuschieben. Gelingt dies mühelos, muss sie nach gründlicher Reinigung wieder nach vorn gezogen werden, um die Entstehung einer Paraphimose zu vermeiden. Das Abtrocknen erfolgt anschließend ebenfalls mit sterilen Kompressen.

Merke

H ●

Ein gewaltsames Zurückziehen der Vorhaut kann zu Einrissen und in der Folge von Narben zu einer Phimose führen.







Das Kind wird aufgefordert, sich umgekehrt mit gespreizten Beinen über die WC-Schüssel zu stellen oder zu setzen. Die erste und die letzte Urinportion lässt das Kind in die WC-Schüssel laufen, nur die mittlere Portion wird vom Kind selbst oder von der Pflegefachkraft im sterilen Gefäß aufgefangen und sofort verschlossen. Für das hygienische Auffangen des Mittelstrahlurins stehen spezielle, steril verpackte Behältnisse zur Verfügung (▶ Abb. 15.4). Der Urin sollte umgehend in das Labor gebracht werden.

Abb. 15.4 Mittelstrahlurin-Auffanggerät. Mithilfe eines speziellen Auffanggerätes ist es leichter, den Mittelstrahlurin zu gewinnen.

Merke

H ●

Der Mittelstrahlurin wird ohne Unterbrechung des Miktionsstrahles gewonnen.

15.4.4 Hilfestellung bei Urininkontinenz Ursachen und Schweregrade bei Urininkontinenz können sehr unterschiedlich sein, sodass eine sorgfältige Abklärung erfolgen muss, um gezielte Hilfestellungen geben zu können. Eine Urininkontinenz führt bei den Betroffenen häufig zu psychischer und sozialer Verunsicherung, die in schwerwiegenden Fällen eine Vereinsamung durch Isolation zur Folge haben kann. Ursachen für Urininkontinenz können sein: ● Bei inkontinenten Kindern ist häufig das Zusammenspiel von Blasenmuskulatur und Schließmuskel gestört. Es kommt daher zu unwillkürlichem Einnässen. ● Das Fassungsvermögen der Blase kann zu gering sein, sodass schon geringe Urinmengen zum Harndrang führen. ● Bei neurogenen Blasenentleerungsstörungen kann die Blase nicht willkürlich und restharnfrei entleert werden oder der Urin läuft ununterbrochen ab, da keinerlei Kontrolle über die Blasenschließmuskelfunktionen (S. 655) vorhanden ist.

Praxistipp Pflege

Z ●

Die Pflegeziele bestehen in restharnfreier Blasenentleerung, Erhalt der intakten Haut, Kontrolle der Blasenschließmuskelfunktion und einem Höchstmaß an Lebensqualität.

15

9

Ausscheiden

Blasentraining Biofeedback-Training und Elektrostimulation Definition

L ●

Unter Biofeedback wird das Erlernen unwillkürlicher Funktionsmuster durch Training mit Selbstkontrolle des Effektes (Feedback = Rückkopplung) verstanden mit dem Ziel, die Beckenbodenmuskulatur zu stärken.

Voraussetzung dafür sind eine aktive Mitarbeit des Kindes und eine weitgehend intakte Innervation des unteren Harntraktes, sodass sie nur bei okkult-neurogenen Funktionsstörungen oder Belastungsinkontinenz Erfolg versprechend ist. Das Biofeed-Gerät übernimmt die Funktion eines sensiblen Organs. Die Muskeltätigkeit im Beckenbodenbereich kann am Computerbildschirm beobachtet und somit trainiert werden. Zusätzlich können die Beckenbodenmuskulatur und der Blasenschließmuskel durch Elektrostimulation in einer bestimmten Stärke und Frequenz gekräftigt werden. Auch die urodynamische Untersuchung (Erfassen des intraabdominalen Drucks, Detrusoraktivität unter Füll- und Miktionsbedingungen sowie die BeckenbodenEMG-Ableitung; EMG = Elektromyelogramm) gilt schon als eine Form von Biofeedback. ▶ Vergrößerung des Blasenfassungsvermögens. Nachdem das Kind eine verordnete Trinkmenge zu sich genommen hat, wird es aufgefordert, Zeitpunkt des ersten Druckgefühls in der Blase, Dauer des Urineinhaltens und ausgeschiedene Urinmenge zu protokollieren. Das bewusste Wahrnehmen stellt eine gute Methode dar, die Abstände nach und nach mit dem Ziel zu vergrößern, eine nächtliche Kontinenz zu erreichen. Ein Entleerungsrhythmus kann durch regelmäßige Blasenentleerungen im Abstand von z. B. anfangs 2 Stunden trainiert und mit der Zeit ausgedehnt werden.

15

370

▶ Protokollierung. Werden erfolgte Miktionen, Urinmengen oder Einnässen tagsüber und nachts protokolliert, kann der Erfolg des Blasentrainings beurteilt werden. Der Pad-Test (Windel-Test) kann zur Erfassung der unwillkürlich abgegangenen Harnmengen durchgeführt werden. Zwölf Vorlagen werden stündlich gewechselt und gewogen (Gewicht der trockenen Vorlage abziehen!). Das Ergebnis wird mit Uhrzeit und Urinmenge notiert.

Nach den spontanen Miktionen kann anfangs die Restharnmenge mittels einer Ultraschallkontrolle bestimmt werden, da Restharn die Entstehung von Harnwegsinfekten begünstigt.

Definition

L ●

Unter Restharn wird die Urinmenge verstanden, die nach spontaner Urinentleerung in der Blase zurückbleibt.

▶ Alarmtherapie oder apparative Konditionierungsmethode. Ist das Kind älter als 5 Jahre und besteht auch bei ihm der Wunsch, nachts trocken zu bleiben, kann die Alarmtherapie eine wirksame Methode zum Erreichen der Harnkontinenz sein. Mithilfe elektronischer Weckgeräte wacht das Kind bei Einnässen auf, um zur Toilette zu gehen.









Hautpflege bei Urininkontinenz Bei Inkontinenz wird die Haut im Bereich der Genitalregion stark strapaziert. Feuchtigkeit weicht die Haut auf und der Hydro-Lipid-Film (früher: Säureschutzmantel genannt) wird durch Ammoniak, eine chemische Umwandlung des Harnstoffs, reduziert, wodurch die Haut stark angegriffen wird. Hautirritationen, wie Rötungen, Brennen oder Pilzinfektionen, können die Folge sein. Maßnahmen zur Hautpflege sind daher zu beachten: ● Säuglinge werden häufig gewickelt und die Vorlagen älterer Kinder gewechselt, um den Urinkontakt mit der Haut so kurz wie möglich zu halten. ● Nach Kontakt mit Ausscheidungen wird die Haut mit warmem Wasser oder



einer pH-neutralen Reinigungslotion gereinigt, um den Säureschutz der Haut nicht zusätzlich zu zerstören. Zum Erhalt des Säureschutzmantels kann z. B. 1 Esslöffel Essig oder Zitronensaft auf 5 Liter Wasser gegeben werden. Ist die Haut sehr ausgetrocknet, können rückfettende Ölbäder zur Hautpflege verwendet oder die Haut nach dem Waschen mit einer Wasser-in-Öl-Lotion für trockene Haut gepflegt werden. Das Abtrocknen erfolgt durch Abtupfen, um eine mechanische Belastung zu verhindern. Auf die Hautfalten muss besonders geachtet werden, um einer Pilzinfektion vorzubeugen. Zeigen sich im Bereich der Genitalregion Rötungen, können z. B. Kleie- oder Mondamin-Bäder zu einer Hautberuhigung beitragen. Eine dünn aufgetragene Paste wirkt als Nässeschutz im Bereich der strapazierten Haut. Liegt eine Zerstörung der Haut vor, können zur Heilung hydrokolloide Hautschutzplatten verwendet werden. Der Heilungsprozess wird auch gefördert, wenn die betroffenen Hautbezirke mehrmals täglich der Luft ausgesetzt werden. Die betroffenen Hautareale müssen außerdem vor Druck geschützt werden, indem die Kinder häufig umgelagert werden. Die richtige Auswahl der Versorgungssysteme oder Inkontinenzhilfsmittel trägt ebenfalls zu einer Hautschonung bei.

▶ Versorgungssysteme. Verschiedene Hersteller bieten Windeln, Inkontinenzvorlagen, Netzhosen und Einmalinkontinenzslips in verschiedenen Größen und Saugstärken an (▶ Abb. 15.5). Einige verfügen über einen Nässeindikator mit entsprechender Farbkodierung. Je nach indi-

Abb. 15.5 Inkontinenzvorlagen und Einmalinkontinenzslip. Für Jugendliche und Erwachsene. a Anatomisch geformte Inkontinenzvorlage mit Fixierhose, (Abb. von: Fa. Hartmann) b Einmalinkontinenzslip mit wiederverschließbaren Klebebändern. (Abb. von: Fa. Hartmann)

15.4 Pflegemaßnahmen zur Urinausscheidung vidueller Situation können die entsprechenden Versorgungssysteme ausgewählt werden. Um die Matratzen zu schützen, stehen Betteinlagen zur Verfügung, die entweder aufsaugende Eigenschaften haben, da sie aus Zellstoff bestehen, oder Flüssigkeiten infolge von chemischen Bestandteilen absorbieren können. Es stehen auch waschbare Unterlagen zur Verfügung, die wiederverwendet werden können. An Versorgungssysteme werden folgende Anforderungen gestellt: ● hohe Aufnahmekapazität, um Sicherheit bei den Betroffenen zu gewährleisten ● guter Tragekomfort, der unter der Kleidung nicht aufträgt und bei Bewegung nicht raschelt ● trockene Haut durch Flüssigkeitsabsorption ● Vermeidung von Allergien ● atmungsaktiv ● Verhinderung einer Geruchsbildung ● erträgliches Preisniveau ● leichte Handhabung

Merke

● H

Bei Kindern sollte nicht vom „Wickeln“ oder „Windelwechsel“ gesprochen, sondern die Begriffe Vorlagen bzw. Inkontinenzslips verwendet werden.

15.4.5 Katheterisieren und Punktieren der Harnblase Definition

L ●

Beim Katheterisieren handelt es sich um das transurethrale Einführen eines Katheters in die Harnblase zum Zweck der Harnentnahme oder Harnableitung.

Je nach Indikation kann einmaliges Katheterisieren angeordnet oder ein Dauerkatheter zur längerfristigen Urinableitung notwendig werden. Bei Mädchen wird das Legen eines Katheters i. d. R. von den Pflegefachkräften durchgeführt, bei Jungen häufig vom Arzt übernommen.

Merke

H ●

Das Katheterisieren sollte nur nach strenger ärztlicher Indikation erfolgen, um die Entstehung von Harnwegsinfektionen durch die im Harnröhrentrakt befindlichen Keime zu vermeiden.

Allgemeines Katheterarten Die Wahl des richtigen Katheters ist ein entscheidender Faktor zur Vermeidung von Schleimhautirritationen und Allergien, z. B. Auswahl beschichteter und latexfreier Katheter. Harnwegsinfektionen können reduziert werden, indem Katheter mit einer Schutzhülse verwendet werden. Diese wird ca. 15 mm in die Urethra (Harnröhre) eingeführt, um eine Kontamination des Katheters mit Bakterien zu vermeiden, die sich am Anfang der Urethra befinden (▶ Abb. 15.6b). Das berührungsfreie Einführen des Katheters ist mithilfe einer Folienumhüllung möglich, die vor dem Einführen des Katheters an der perforierten Stelle geöffnet wird.

Schutzhülse

Gleitmittelreservoir

a

Harnröhre vorgeschobener Katheter

Schutzhülse Bakterien in der Harnröhre

▶ Einmalkatheter. Sie sind aus PVC-Material gefertigt. ▶ Katheter zum intermittierenden Katheterisieren. Sie bestehen ebenfalls aus PVC-Material und sind mit einer Gleitfläche aus Polyvinylpyrrolidon (PVP) und Kochsalz (NaCl 0,9 %) versehen. Durch die wasserbindende Eigenschaft wird ein leichtes Einführen des Katheters erreicht. Eine weitere Möglichkeit zur sicheren und einfachen Handhabung ist ein GleitmittelReservoir, das sich am Anfang eines Katheters befindet und diesen während des Einführens ausreichend mit Gleitmittel beschichtet (▶ Abb. 15.6a).

Katheter

b

Abb. 15.6 Katheter. a Katheter mit Gleitmittelreservoir. (Abb. von: Fa. Hollister) b Schutzhülse in Urethra mit vorgeschobenem Katheter; Schutzhülse befindet sich in dem Bereich der Urethra, der mit Keimen besiedelt ist.

▶ Für Jungen. Für sie können die geraden Katheter von Nelaton oder in seltenen Fällen die gebogenen von Tiemann verwendet werden, die sowohl als Einmal- als auch als Dauerkatheter zur Verfügung stehen (▶ Abb. 15.7). ▶ Für Mädchen. Bei ihnen werden die geraden Katheter nach Nelaton eingesetzt. ▶ Verweil- oder Dauerkatheter. Sie sollten zur Vermeidung von toxischen Schleimhautschäden nur aus Silikon beschaffen sein oder eine spezielle Beschichtung aufweisen, um ein Herauslösen von schleimhautschädigenden Stoffen (z. B. Weichmacher) zu vermeiden. Sie sind 2lumig und weisen an ihrer Spitze einen Ballon auf, der mit Aqua dest. gefüllt wird, wodurch eine Fixierung in der Blase erfolgt (▶ Abb. 15.8). Als Dauerkatheter werden auch 3-lumige Katheter angeboten, um die Blase spülen zu können.

Kathetergrößen Kathetergrößen werden in Charrière angegeben: 1 Charr = 1/3 mm Durchmesser, z. B.: 1/3 × 6 Charr = 2 mm Durchmesser.

Tiemann

Nélaton

Abb. 15.7 Spitzen verschiedener Blasenkatheter. Tiemann-Katheter mit gebogener Spitze nur für Jungen (links), NélatonKatheter mit gerader Spitze (rechts). (Abb. aus: I care – Pflege. Thieme; 2015)

Die Wahl der Kathetergröße richtet sich nach dem Alter des Kindes. Wird ein zu kleiner Katheter eingesetzt, läuft Urin neben dem Katheter heraus. Wird der Katheter zu groß gewählt, führt der ständige Reiz durch Druck zu Schleimhautirritationen oder gar zu Schleimhautverletzungen. Außerdem kann bei einem Blasendauer-

15

1

Ausscheiden

Vorbereitung Merke

H ●

Vor dem Katheterisieren muss nach einer möglichen Latexallergie gefragt werden, um einen Kontakt mit dem Allergen bei gefährdeten Kindern zu vermeiden. Präventiv sollten latexfreie Katheter verwendet werden. Abb. 15.8 Katheterarten. Zu sehen sind (von oben nach unten): Blasendauerkatheter aus Latex mit Silikonbeschichtung, Blasendauerkatheter aus Silikon mit geblocktem Ballon, Spülkatheter aus Silikon und Einmalkatheter aus PVC. Alle Katheter haben eine Nelaton-Spitze. (Foto: W. Krüper, Thieme)

katheter das Sekret, das sich zwischen Katheter und Schleimhaut bildet, nicht abfließen, sodass Infektionen entstehen können (▶ Tab. 15.3).

Einmalkatheterismus Es handelt sich hierbei um das einmalige Katheterisieren der Harnblase.

Indikationen Folgende Gründe erfordern ein einmaliges Katheterisieren: ● Blasenentleerung bei Harnverhalt (z. B. postoperativ oder nach einer Geburt) ● Harngewinnung für bakteriologische Untersuchungen, sofern die Gewinnung von Mittelstrahlurin nicht möglich ist ● evtl. Röntgendarstellung mit Kontrastmittel und Restharnbestimmung

Merke

▶ Material. Für das Material wird eine entsprechend große Ablagefläche geschaffen. Benötigt werden: ● gute Lichtquelle ● frischer Schutzkittel ● Bettschutz ● sterile Einmalunterlage ● steriles Lochtuch ● Händedesinfektionsmittel ● steriles Schälchen mit 6 sterilen Tupfern ● sterile Kompresse ● Schleimhautdesinfektionsmittel (bei Säuglingen sollten nur jodfreie Mittel verwendet werden, um eine Störung der TSH-Bildung in der Hypophyse zu vermeiden) ● je nach Technik: 1 – 2 Paar sterile Handschuhe und/oder 1 – 2 sterile anatomische Pinzetten ● steriles Kathetergleitmittel ● 2 Einmalkatheter in entsprechender Größe (einer als Reserve) ● steriles Auffanggefäß für den Urin ● evtl. sterile Untersuchungsröhrchen mit Begleitzettel ● Abwurfbehältnis

Merke

● H

Es wird empfohlen, sterile Kathetersets zu benutzen, die von der Zentralsterilisation gepackt werden oder fertig vom Handel geliefert werden. Die Verwendung eines sterilen Lochtuches wird aus hygienischen Gründen dringend angeraten (▶ Abb. 15.9).

Als Folge des Katheterisierens können Schleimhautverletzungen und Harnwegsinfektionen auftreten.

Tab. 15.3 Empfehlungen für Blasenkathetergrößen.

15

372

H ●

Alter des Kindes

Kathetergrößen in Charrière

Frühgeborene

Magensonde Charr 5

Neugeborene

Magensonde Charr 5 – 6

Säuglinge

Katheter Charr 6 – 8

Kleinkinder

Katheter Charr 8

Schulkinder

Katheter Charr 8 – 10

Jugendliche

Katheter Charr 10 – 12

Erwachsene

Katheter Charr 10 – 18

Abb. 15.9 Inhalt eines Kathetersets zum Katheterisieren der Harnblase. (Foto: T. Stephan, Thieme)

▶ Kind. Beim Katheterismus eines Kindes sind diese Vorbereitungen zu treffen: ● Das Kind wird über die bevorstehende Maßnahme ausführlich aufgeklärt, damit es sich nicht anspannt. Kleine Kinder müssen deshalb gut abgelenkt werden. ● Wichtig ist die Wahrung der Intimsphäre, indem es vor Blicken von Mitpatienten und Besuchern geschützt wird. Zur Wahrung des Schamgefühls sollte das Katheterisieren von einer Pflegefachkraft des gleichen Geschlechts durchgeführt werden. ● Die Fenster werden geschlossen, um eine Auskühlung zu vermeiden. ● Das Bett wird auf eine rückenschonende Arbeitshöhe gebracht. ● Das Kind wird aufgefordert, sich bis zum Nabel zu entkleiden, kleine Kinder werden von der Pflegefachkraft ausgezogen. Ein Bettschutz wird unter das Gesäß gelegt. ● Anschließend wird eine sorgfältige Intimpflege (S. 309) mit warmem Wasser und einer pH-neutralen Waschlotion durchgeführt, sofern das Kind dazu nicht selbst in der Lage ist. ● Zum Katheterisieren nimmt das Kind eine Rückenlage mit gespreizten und angewinkelten Beinen ein (▶ Abb. 15.10). Das Becken kann bei Bedarf mithilfe eines Kissens etwas erhöht gelagert werden. Dabei hat die Pflegefachkraft Gelegenheit, das Genitale auf Auffälligkeiten, z. B. Rötung, zu kontrollieren. ● Jüngere Kinder müssen von einer zweiten Pflegefachkraft sicher gehalten werden, um eine Verletzung der Harnröhre durch Abwehrbewegungen zu vermeiden. ▶ Pflegefachkraft. Die Pflegefachkraft desinfiziert sich die Hände und zieht einen frischen Pflegekittel an. Das Katheterset wird vorsichtig auseinandergefaltet. Die sterile Innenfläche kann dann als Ablagefläche genutzt werden. Die sterile Einmalunterlage wird vorsichtig dem Set entnommen, an den Rändern gefasst und

15.4 Pflegemaßnahmen zur Urinausscheidung

sterile Einmalunterlage Schale für Urin

steriles Lochtuch

steriles Katheterset sterile Tupfer Desinfektionsmittel sterile Handschuhe Bettschutz a

Abb. 15.10 Positionierung eines Mädchens zum Legen eines Blasenkatheters. Aus hygienischen Gründen wird die Benutzung eines sterilen Lochtuchs empfohlen.

zwischen die Beine unter das Gesäß gelegt. Das sterile Lochtuch, soweit im Set vorhanden, wird so platziert, dass die Vulva gut sichtbar ist. Danach zieht die Pflegefachkraft sterile Handschuhe an, wobei die rechte Hand bei Rechtshändern zwei sterile Handschuhe trägt. Der äußere kann nach dem Desinfizieren von der Assistenzperson abgestreift werden, sodass eine längere Unterbrechung durch einen Handschuhwechsel vermieden wird.

Durchführung beim Mädchen ▶ Desinfizieren des weiblichen Genitales. Folgendermaßen wird hierbei vorgegangen: ● Die Desinfektion erfolgt mit 6 sterilen, getränkten Tupfern, da für jeden Wischvorgang, der stets von der Symphyse zum Anus erfolgt, ein neuer Tupfer verwendet wird (▶ Abb. 15.11a). ● Mithilfe des 1. und 2. Tupfers werden die beiden großen Labien desinfiziert. Während die linke Hand die Labien spreizt, erfolgt das Desinfizieren der beiden kleinen Labien mittels des 3. und 4. Tupfers. Der 5. Tupfer ist für die Desinfektion der Harnröhrenöffnung bestimmt und der 6. Tupfer bleibt während des Katheterisierens vor der Vaginalöffnung liegen, um evtl. den Austritt von Sekret zu verhindern. Die jeweilige Einwirkzeit des Schleimhautdesinfektionsmittels muss beachtet werden.

Merke

H ●

Für jeden Desinfektionsvorgang wird ein neuer steriler Tupfer verwendet.

▶ Einführen des Katheters beim Mädchen ● Die linke Hand hält weiterhin die Schamlippen gespreizt, während der 2. Handschuh der rechten Hand von einer Assistenzperson abgestreift wird. ● Zum Auffangen des Urins wird die Auffangschale von der Assistenzperson auf die sterile Unterlage zwischen die Beine gestellt. ● Der Einmalkatheter wird mit der sterilen Hand aufgenommen und die Katheterspitze evtl. mit sterilem AnästhesieGel benetzt (sterile Kompresse mit Gleitmittel wird durch die Assistenzperson vorbereitet). ● Anschließend wird der Katheter in die Harnröhrenöffnung eingeführt und vorsichtig vorgeschoben, bis Urin abläuft (▶ Abb. 15.11b). ● Für das aseptische Katheterisieren bestehen weitere Möglichkeiten, falls keine Assistenzperson zur Verfügung steht: ○ Das Desinfizieren erfolgt mit sterilen Handschuhen. Danach wird der doppelt verpackte Katheter aus der inneren Hülle, die zuvor geöffnet wurde, vorgeschoben und eingeführt, ohne diesen direkt zu berühren. ○ Die Pflegefachkraft trägt sterile Handschuhe und führt das Desinfizieren mithilfe einer sterilen anatomischen Pinzette durch, die sie anschließend verwirft. Der Katheter wird dann mit der sterilen Hand eingeführt und vorgeschoben.

b

Abb. 15.11 Einmalkatheterismus beim Mädchen. a Das weibliche Genitale wird stets von der Symphyse zum Anus desinfiziert. b Der Blasenkatheter wird vorsichtig vorgeschoben, bis Urin abläuft.

Durchführung beim Jungen ▶ Desinfizieren des männlichen Genitales. Hierbei wird folgendermaßen vorgegangen: ● Der Penis wird gestreckt und die Vorhaut wird zurückgeschoben. Während der ersten 3 Lebensjahre müssen alle Manipulationen an der Vorhaut unterbleiben, da in diesem Alter noch eine physiologische Vorhautverengung besteht (S. 660). ● Die Harnröhrenöffnung wird anschließend mithilfe von 3 sterilen mit Schleimhautdesinfektionsmittel getränkten Tupfern oder Kompressen abgetupft (▶ Abb. 15.12a). Das Desinfizieren erfolgt stets von der Harnröhrenöffnung ausgehend in Richtung Glansfurche. Mit dem 3. getränkten Tupfer wird die Harnröhrenmündung desinfiziert. Auch hier muss die jeweilige Einwirkzeit des Schleimhautdesinfektionsmittels beachtet werden.

15

3

Ausscheiden ▶ Einführen des Katheters beim Jungen. Die Katheterisierung wird wie folgt vorgenommen: ● Das Kathetergleitmittel wird langsam in die Harnröhre instilliert (▶ Abb. 15.12b). Danach wird der Penis ca. 30 Sekunden auf eine sterile Kompresse gelegt, um das anästhesierende Gleitmittel wirken zu lassen. ● Der Katheter wird ca. 4 cm hinter der Katheterspitze mithilfe der sterilen anatomischen Pinzette gefasst, über den Handrücken geführt und das Katheterende zwischen kleinem und Ringfinger fixiert. Der Penis wird angehoben und leicht gestreckt, um die physiologischen Krümmungen besser überwinden zu können (▶ Abb. 15.12c), und der Katheter in die Harnröhrenöffnung eingeführt (▶ Abb. 15.12d). Ist die erste Kurvatur überwunden, wird der Penis gesenkt und der Katheter weitergeschoben, bis Urin abfließt.

a

b

c

Merke

3 21 5–7 cm

H ●

Bei der Verwendung eines Tiemann-Katheters zeigt die Spitze stets nach oben. Sie darf während des Einführens nicht gedreht werden, um Schleimhautverletzungen zu vermeiden. Niemals darf der Katheter gegen einen Widerstand eingeführt werden, da es zu Verletzungen der Harnröhre kommen kann. Zur Vermeidung einer Paraphimose muss die Vorhaut wieder nach vorn gestreift werden.

Weitere Maßnahmen d

15

374

Abb. 15.12 Einmalkatheterismus beim Jungen. a Das männliche Genitale wird stets von der Harnröhrenöffnung in Richtung Glansfurche desinfiziert. b Das Kathetergleitmittel wird instilliert. c Schwierige Stellen beim Katheterisieren des Jungen sind erste (1) und zweite (2) Kurvatur und eine mögliche Einengung (3) durch die Prostata. Um physiologische Krümmungen beim Einführen des Katheters zu überwinden, wird der Penis leicht angehoben und gestreckt. d Der Blasenkatheter wird mittels einer Pinzette eingeführt. Nach Überwindung der ersten Kurvatur wird während des Weiterschiebens der Penis gesenkt.

▶ Auffangen des Urins. Soll der Urin bakteriologisch untersucht werden, wird er in sterilen Untersuchungsröhrchen aufgefangen, nachdem die ersten Milliliter verworfen wurden. ▶ Beenden des Katheterisierens. Durch leichten Druck auf den Unterbauch kann die Blase vollständig entleert werden, um Restharn und evtl. eingedrungene Keime zu entfernen. Anschließend wird der Katheter vorsichtig, aber zügig entfernt. Zum Schluss wird der rechte Handschuh beim Ausziehen über den Katheter gestülpt und in der Nierenschale abgelegt.

Nachsorge Bei der Nachbereitung ist zu beachten: ● Das Kind wird aufgefordert, sich anzuziehen, soweit es dazu in der Lage ist. Bettlägerige Kinder werden gelagert und zugedeckt.







Die Untersuchungsröhrchen werden mit Patientenetiketten versehen und mit dem Begleitzettel in das Labor gebracht. Für max. 4 Stunden darf der Urin im Kühlschrank bei 4 – 6 °C aufbewahrt werden. Das Einmalmaterial wird verworfen, einschließlich des geöffneten Kathetergleitmittels. Nierenschalen und Pinzetten werden durch Sterilisation wiederaufbereitet.

Intermittierende Katheterisierung Bei dieser Methode wird in regelmäßigen Abständen ein Katheter zum Ableiten des Urins in die Harnblase eingeführt, sofern eine physiologische Blasenentleerung, z. B. bei neurogenen Blasenentleerungsstörungen, nicht erfolgen kann. Das intermittierende Katheterisieren kann durch Eltern, Pflegefachkräfte oder Ärzte durchgeführt werden (intermittierende Fremdkatheterisierung). Erfolgt sie durch die Betroffenen selbst, wird von intermittierender Selbstkatheterisierung gesprochen. Sie ermöglicht den Betroffenen eine problemlose Entleerung der Harnblase i. d. R. ohne Einschränkung der Selbstständigkeit. Vorteile des intermittierenden Selbstkatheterismus (ISK) im Vergleich zum Blasendauerkatheter: ● Erhalt der Kontinenz ● geringe Komplikationsrate ● selbstbestimmte Gestaltung des Alltags Bezüglich der Einhaltung der Hygienemaßnahmen werden 3 Verfahren unterschieden: ● Sterile intermittierende Katheterisierung: Sie beinhaltet das Tragen steriler Handschuhe und entsprechender Schutzkleidung. Sie wird i. d. R. nur in Kliniken durchgeführt, da hier ein wesentlich höheres Infektionsrisiko als zu Hause besteht. ● Aseptische intermittierende Katheterisierung: Bei dieser Methode bleibt der Katheter während des Einführens steril, d. h., er wird mithilfe der vorhandenen Hülle eingeführt. ● Saubere Katheterisierung: Nach dem Händewaschen wird der Katheter mit der Hand angefasst. Diese Methode bietet den geringsten Hygienestandard. Sie wird daher nur im häuslichen Bereich angewendet. Die verschiedenen Formen des Katheterisierens werden bei Kindern mit Spina bifida im fließenden Übergang von Geburt an durchgeführt. Mit 6–8 Jahren werden sie angeleitet, sich selbst zu katheterisie-

15.4 Pflegemaßnahmen zur Urinausscheidung ren, sofern Verständnis und manuelle Fähigkeiten vorhanden sind (Beetz 2015).

Indikationen Das Einlegen eines Dauerkatheters erfolgt nach ärztlicher Anordnung: ● zur Entleerung der Harnblase nach Operationen an den ableitenden Harnwegen oder am Genitale ● zur Flüssigkeitsbilanzierung, z. B. nach Operationen oder bei Schock

Intermittierende Selbstkatheterisierung (ISK) Folgende Maßnahmen sorgen für eine hygienische Selbstkatheterisierung: ● Vor jedem Katheterisieren werden sorgfältig die Hände gewaschen. Steht keine Waschgelegenheit zur Verfügung, wird empfohlen, die Hände zu desinfizieren. Außerdem wird täglich eine Intimtoilette mithilfe einer Handbrause durchgeführt. Sie sollte auch nach jeder Stuhlausscheidung erfolgen, um eine Verunreinigung des Genitalbereiches mit Darmkeimen zu verhindern. ● Eine regelmäßige Stuhlentleerung erleichtert das Katheterisieren und verringert das Infektionsrisiko. Eine Obstipation sollte durch ausreichende Bewegung und Umstellung der Ernährung behoben werden (S. 386). ● Auch sollte auf reichliche Flüssigkeitszufuhr geachtet werden, damit pathogene Keime wieder ausgespült werden. ● Die Kinder werden von den Pflegefachkräften angeleitet, in der Klinik das Genitale vor dem Katheterisieren mit Schleimhautdesinfektionsmittel zu desinfizieren. Dabei wird die Einwirkzeit von 1 – 2 Minuten beachtet. Zu Hause genügt dann ein sorgfältiges Säubern mit Wasser oder auf Reisen evtl. mit Aqua dest. ● Der beschichtete Katheter wird zu Hause mit Leitungswasser angefeuchtet, falls es Trinkwasserqualität aufweist. In der Klinik wird jedoch die Verwendung von steriler Kochsalz-Lösung 0,9 % oder Aqua dest. empfohlen. Für unterwegs können Spezialkatheter benutzt werden, sodass das Katheterisieren auch ohne zusätzliches Befeuchten und Händewaschen durchgeführt werden kann. ● Für weibliche Personen gibt es Katheter in 2 verschiedenen Größen, die wie ein Lipgloss aussehen und daher unauffällig sind (▶ Abb. 15.13). ● Die Mädchen lernen das Selbstkatheterisieren mithilfe eines Spiegels, um den Katheter nicht versehentlich in die Vagina einzuführen (▶ Abb. 15.14). Sollte dies passiert sein, muss ein neuer Katheter benutzt werden. ● Die Kinder lernen auch das vollständige Entleeren der Blase, indem sie mit der freien Hand den Bauch leicht drücken, um verbliebenen Restharn zu entleeren. ● Sie werden informiert, sich ca. 4–6-mal täglich zu katheterisieren. ● Bei den Herstellerfirmen sind Broschüren erhältlich, wie die Anleitung so einfach und effektiv wie möglich gestaltet werden kann.

Vorbereitung Die Vorbereitung des Kindes erfolgt wie beim Einmalkatheterismus (S. 372).

Abb. 15.13 Katheter. Unauffällige Katheter für Mädchen in Form eines Lipgloss mit Beutel. (Foto: K. Gampper, Thieme)

Harnröhrenausgang

▶ Material. Wie beim Einmalkatheterismus (S. 372). Außerdem werden benötigt: ● Dauerkatheter anstelle des Einmalkatheters ● Spritze und steriles Aqua dest. ● sterile Urinableitung mit Rückschlagventil und Beutel mit Halterung (▶ Abb. 15.15) ● geschützte Klemme, Pflaster und Schere

Durchführung Das Legen des Dauerkatheters verläuft im Wesentlichen wie beim Einmalkatheter. Vor dem Einführen des Dauerkatheters sollte der Ballon mithilfe von eingespritzter Luft auf Funktionstüchtigkeit geprüft werden.

Merke Abb. 15.14 Selbstkatheterismus beim Mädchen mithilfe eines Spiegels.

Einlegen eines Blasendauerkatheters Er wird wie der Einmalkatheter über die Urethra eingeführt, kann jedoch aufgrund seiner Fixierungsmöglichkeit über einen längeren Zeitraum liegen bleiben. Die Liegedauer sollte so kurz wie möglich sein, da ein Dauerkatheter eine Verbindung in das Körperinnere darstellt und somit die Gefahr einer Harnwegsinfektion gegeben ist. Außerdem kann es durch den liegenden Katheter zu Schleimhautläsionen und einer Schrumpfblase kommen.

H ●

Aus hygienischen Gründen wird empfohlen, schon vor dem Legen des Dauerkatheters diesen mit dem Ableitungssystem zu verbinden – sofern kein Führungsstab vorhanden ist, der entfernt werden muss.

Läuft Urin ab, liegt der Katheter in der Blase und kann mit 2 – 5 ml Aqua dest. geblockt werden, um eine sichere Fixierung in der Blase zu gewährleisten. Die Blockungsmenge richtet sich nach dem Alter des Kindes und wird i. d. R. vom Arzt oder von der Herstellerfirma angegeben. Ein zu großer Blockierungsballon kann zu Irritationen der Blasenschleimhaut führen.

Merke

H ●

Vor dem Blocken wird der Katheter ein Stück weiter eingeführt, damit das Blocken in der Blase und nicht versehentlich in der Urethra erfolgt.

15

5

Ausscheiden

knickstabiler Schlauch

belüftete Tropfkammer mit sichtbarem Abtropfen über den „Pasteur-Einlauf“

Schlauchfixierung

Abklemmvorrichtung

Katheteransatz mit integrierter patientennaher Punktionskammer (Probenentnahmestelle)

Universalhaken und Band zur Befestigung Rückflusssperre (Membran-Rückschlagventil) Beutelgraduierung

Beutelentlüftung

Abb. 15.16 Blocken des Katheters und Zurückziehen auf den Blasengrund. Die Blockungsmenge richtet sich nach dem Alter des Kindes.

Stecklasche

Klemme am Ablassstutzen (einhändig zu bedienen)

Abb. 15.15 Geschlossenes Urindrainagesystem. Die Verbindungsstelle von Verweilkatheter und Urindrainage ist gesichert, versehentliche Diskonnektion wird verhindert. (Foto: T. Stephan, Thieme)

Nach dem Blocken wird der Katheter vorsichtig auf den Blasengrund zurückgezogen, um die Entfaltung des Ballons zu überprüfen (▶ Abb. 15.16). Der Katheter muss frei beweglich sein, um eine sichere Lage zu gewährleisten.

Nachsorge

15

376

Der Katheter wird spannungsfrei und sicher am Oberschenkel des Kindes fixiert. Ein Herausreißen muss unbedingt vermieden werden, da dies zu massiven Verletzungen von Blase und Harnröhre führen kann. Kinder und Eltern werden darüber so weit wie möglich aufgeklärt. Das Kind wird anschließend bequem gelagert, sofern es dazu nicht allein in der Lage ist. Für sein tapferes Verhalten wird es gelobt. Der fachgerechte Umgang mit Harnableitungen (S. 375) zur Verhinderung von Harnwegsinfektionen wird ausführlich beschrieben. Im Dokumentationssystem werden anschließend das Datum des Legens, Kathetergröße und Blockungsmenge notiert. Sind die Kinder mobil, kann ein Beinbeutel für ungestörte Bewegungsfreiheit

Abb. 15.17 Beinbeutel. Mobile Kinder erreichen durch ihn ungestörte Bewegungsfreiheit. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

sorgen (▶ Abb. 15.17). Bei einem Beinbeutel handelt es sich nicht um ein geschlossenes System, auch besitzt er keine Tropfkammer, sodass ein Aufsteigen von pathogenen Keimen gegeben ist. Deshalb muss aus hygienischen Gründen täglich ein Beutelwechsel erfolgen.

Katheterpflege Kind und Eltern werden über die Funktion eines Blasendauerkatheters und die damit verbundenen Gefahren informiert, um Harnwegsinfektionen und Verletzungen der Schleimhaut vorzubeugen. Das Kind wird außerdem darauf hingewiesen, dass es jetzt keine Urinflasche mehr benötigt, sondern der Urin in den Beutel abfließt. Eine Katheterpflege erfolgt mindestens 1-mal, besser 2-mal täglich. Der liegende Katheter führt zu einer Reizung der Harnröhrenschleimhaut. Dies ist mit vermehrter Sekretion verbunden, die Verkrustungen an der Austrittsstelle des Katheters zur Folge haben. Hinzu kommt, dass der Katheter das Aufsteigen pathogener Keime innerhalb des Katheterlumens und an der Katheteraußenseite begünstigt. Eine

Abb. 15.18 Eintrittsstellen für Keime zwischen Blasenkatheter und Beutelsystem. Eine Diskonnektion muss vermieden werden.

weitere Eintrittsstelle für pathogene Keime ist bei Diskonnektion die Verbindungsstelle zwischen dem Katheter und dem Beutelsystem (▶ Abb. 15.18).

15.4 Pflegemaßnahmen zur Urinausscheidung

Merke

H ●

Blasentraining durch intermittierendes Abklemmen des Katheters wird wegen eines erhöhten Infektionsrisikos nicht durchgeführt.

Durchführung Bei der Katheterpflege wird wie folgt vorgegangen: ● Dem Kind wird die Notwendigkeit dieser unangenehmen Maßnahme altersgemäß erklärt, die mindestens 1-mal, besser 2-mal täglich unter Wahrung der Intimsphäre durchgeführt werden muss. ● Die Genitalregion wird vorsichtig von der Symphyse zum Anus mit Wasser oder sterilem Aqua dest. und evtl. einer pH-neutralen Waschlotion sowie einem frischen Waschlappen oder einer Mullkompresse gereinigt und sorgfältig abgetrocknet. Den Jungen wird zur Reinigung die Vorhaut zurückgestreift und den Mädchen die Schamlippen gespreizt. Alle Verkrustungen müssen vorsichtig entfernt werden, um eine Keimbesiedlung zu verhindern. Die Wischrichtung sollte stets weg vom Harnröhreneingang erfolgen, damit die am Katheter befindlichen Keime nicht in die Harnröhre gelangen. ● Von einer routinemäßigen Desinfektion im Bereich der Katheteraustrittsstelle und des herausführenden Katheterabschnittes mit einer Desinfektionslösung wird heute abgesehen. Diese Empfehlung wird mit der Vernichtung der physiologischen Schleimhautflora und einer Reizung der Schleimhaut durch das Desinfektionsmittel begründet. Sollte eine desinfizierende Katheterpflege infolge massiver Verkrustungen notwendig sein, wird sie mit einem Schleimhautdesinfektionsmittel (z. B. Octenisept) durchgeführt. ● Während der Katheterpflege wird die Genitalregion auf Rötungen und Sekretausfluss beobachtet. ● Anschließend wird die Katheterpflege dokumentiert.





Den Katheter vorsichtig, aber zügig ziehen. Den Schutzhandschuh darüberstreifen und entsorgen.

Praxistipp Pflege

Z ●

Sofern kein neuer Katheter gelegt wird, muss auf die nächste Miktion geachtet werden, da diese aus Angst vor Schmerzen häufig unterdrückt wird.

Suprapubische Blasenpunktion Die gefüllte Harnblase wird über die Bauchdecke zur Gewinnung von Urin mittels einer Hohlnadel punktiert. Dies ist eine ärztliche Tätigkeit, die in Lokalanästhesie und zur Sicherheit meist unter Ultraschallkontrolle durchgeführt wird.

Merke

H ●

Die suprapubische Blasenpunktion wird heute dem transurethralen Katheterismus vorgezogen, da Infektionsgefahr sowie Verletzungsrisiko der Harnröhrenschleimhaut geringer sind und sie von den Betroffenen als weniger schmerzhaft und unangenehm empfunden wird.

Als sehr seltene Komplikationen können Verletzungen von Gefäßen, Peritoneum und Darm vorkommen. Die Aufgabe der Pflegefachkräfte besteht in der Vorbereitung des Kindes und des Materials, der Assistenz während der Durchführung sowie der Nachsorge.

Indikationen Eine Blasenpunktion wird durchgeführt: ● zur Entleerung der Harnblase bei akutem Harnverhalt ● zur Entnahme von Urin zur bakteriologischen Untersuchung ● zum Nachweis eines vesikoureteralen Refluxes durch ein Miktionszystourethrogramm (S. 653)

Entfernen des Dauerkatheters Beim Entfernen des Katheters wird folgendermaßen vorgegangen: ● Das Kind altersentsprechend informieren und auf die Angst vor Schmerzen eingehen. ● Die Hände desinfizieren und Schutzhandschuhe anziehen. ● Blockflüssigkeitsmenge abziehen, die im Dokumentationssystem vermerkt ist.

Kontraindikationen Es darf keine Blasenpunktion erfolgen bei: ● Gerinnungsstörungen ● Hautdefekten im Bereich der Punktionsstelle ● Blasentumoren ● Schwangerschaft ● Voroperationen, die zu Veränderungen im Bereich des Abdomens geführt haben

Vorbereitung ▶ Kind. Es wird folgendermaßen auf die Blasenpunktion vorbereitet: ● Das Kind sowie die Eltern werden bezüglich der geplanten Maßnahmen altersentsprechend und wahrheitsgetreu aufgeklärt, damit Ängste verringert werden und das Kind kooperativ mitarbeiten kann. ● Zur Blasenfüllung wird dem Kind ausreichend Flüssigkeit angeboten, damit eine Verletzung von Darm und Peritoneum vermieden wird. Das Auffüllen der Blase kann auch durch Infusionen erfolgen. Die Kinder müssen auch darüber informiert werden, dass sie die Blase nicht entleeren dürfen. ● Bei Jugendlichen erfolgt zuvor ggf. eine Rasur (S. 832). ● Die Punktion wird in Rückenlage mit ausgestreckten Beinen durchgeführt. Zur Entspannung der Bauchdecke wird eine Rolle unter die Knie gelegt. Eine Einmalunterlage wird zum Schutz unter dem Gesäß des Kindes platziert. ▶ Material. Benötigt wird Folgendes: Händedesinfektionsmittel ● Schutzkittel, evtl. Mundschutz ● sterile Schutzhandschuhe und evtl. steriles Abdecktuch ● Material zur Hautdesinfektion ● sterile Tupfer und Kompressen ● Emla-Pflaster oder Material zur Lokalanästhesie ● sterile Punktionskanüle, dem Alter des Kindes entsprechend ● sterile Spritze (10 – 20 ml) ● steriles Urinröhrchen ● Klebeetiketten und Begleitschein ● Pflaster, Schere und Nierenschale ●

Durchführung Folgende Vorgehensweise hat sich bewährt: ● Eine Anästhesie kann mithilfe einer lidocainhaltigen Creme (Emla) erfolgen (S. 241), die mindestens eine Stunde vor der Punktion aufgetragen werden muss. ● Die Pflegefachkraft hat die Aufgabe, das Kind zu beruhigen oder altersgemäß abzulenken und sicher festzuhalten, damit Verletzungen durch plötzliche Bewegungen vermieden werden. ● Der Arzt punktiert nach einer Desinfektion die gefüllte Blase unter Ultraschallkontrolle in der Mittellinie 1 – 2 Querfinger oberhalb der Symphyse, wobei die Nadel senkrecht eingeführt wird. ● Nachdem der Urin abgezogen wurde, wird die Kanüle entfernt und ein Kompressionsverband angelegt (S. 784).

15

7

Ausscheiden

Nachsorge Abschließende Maßnahmen sind: ● Der Verband wird auf Nachbluten kontrolliert und die erste Urinportion wird auf Blutbeimengungen beobachtet. ● Das Material wird fachgerecht entsorgt, indem Einmalmaterial verworfen und wiederverwendbares Material durch Desinfizieren und Sterilisieren aufbereitet wird (S. 434).

Suprapubische Harnableitung Der Urin wird mittels eines Katheters, der über die Bauchdecke in die Blase eingeführt wird, abgeleitet. Die suprapubische Harnableitung oder Zystostomie kann viele Wochen liegen bleiben und eine störungsfreie Harnableitung gewährleisten, da Infektionen und Schleimhautverletzungen ein geringeres Risiko als beim transurethralen Dauerkatheter darstellen. Sie wird daher bei längerfristiger Harnableitung unter Beachtung der Kontraindikationen bevorzugt. Ein Wechsel sollte nach ca. 6 Wochen erfolgen.

Vorbereitung Die Vorbereitung verläuft im Wesentlichen wie bei der suprapubischen Blasenpunktion (S. 377). Als Material stehen industriell zusammengestellte Sets zur Verfügung, die neben der Punktionskanüle mit Katheter und Abklemmvorrichtung auch eine Arretierungsplatte zur Fixierung auf der Bauchhaut enthalten. Für Säuglinge stehen besondere Punktionssets zur Verfügung. Zur Beobachtung der Kreislaufsituation dient ein Monitor.

Abb. 15.19 Suprapubische Harnableitung. Nach korrekter Platzierung des suprapubischen Katheters wird die Punktionskanüle (Trokar) entfernt. Abb. 15.20 Behälter für Sammelurin. (Foto: T. Stephan, Thieme)

Nachsorge Der Kreislauf wird beobachtet und der Verband auf Blut- oder Urinaustritt kontrolliert. Die Eintrittsstelle sollte täglich evtl. mittels Palpation durch den Verband auf Schwellung und Schmerz beurteilt werden. Ein routinemäßiger Verbandwechsel erfolgt innerhalb der 1. Woche nach 24 – 48 Stunden und ab der 2. Woche bei unauffälliger Punktionsstelle alle 48 – 72 Stunden. Wird ein durchsichtiger Folienverband verwendet, kann dieser 5 Tage belassen werden, falls keine Auffälligkeiten zu erkennen sind. Die Einstichstelle wird mit alkoholischem Hautdesinfektionsmittel desinfiziert.

Durchführung

15

378

Die Pflegefachkraft hat die Aufgabe, das Kind sicher zu halten, es kontinuierlich zu beobachten und dem Arzt zu assistieren. Nach dem Einführen des Katheters in die Punktionskanüle (Trokar) wird er mit dem Harnableitungssystem verbunden. Der Arzt führt dann die Punktion durch, schiebt den sich aufrollenden Katheter weiter vor und entfernt die Punktionskanüle durch Zurückziehen und Spalten (▶ Abb. 15.19). Der Katheter wird anschließend sicher auf der Bauchhaut evtl. mittels einer Naht fixiert. Die Einstichstelle kann mithilfe einer sterilen Schlitzkompresse und Pflaster oder einer Kompresse und Fixomull geschützt werden. Die Verwendung der Arretierplatte hilft, ein Abknicken des Katheters zu vermeiden. Durch das Fixomull wird eine zusätzliche Fixierung gewährleistet.

Merke

H ●

Ein Verbandwechsel erfolgt außerdem bei Bedarf, d. h. bei Feuchtwerden der Kompresse, um eine Infektionsgefahr durch eine feuchte Kammer zu vermeiden.

15.4.6 Messende Verfahren Sammelurin Über einen Zeitraum von 12 oder 24 Stunden wird der Urin eines Kindes kontinuierlich gesammelt. Es ist eine ärztlich angeordnete Maßnahme, die diagnostischen Zwecken dient, z. B.: ● Bestimmung der Ausscheidungsmenge ● Erstellen einer Flüssigkeitsbilanz ● Durchführung bestimmter Untersuchungen, deren Testergebnisse auf 24

Stunden bezogen sind (z. B. KreatininClearance, Glukose-Nachweis bei Diabetes mellitus)

Vorbereitung Ein Sammelgefäß wird mit Namen sowie Uhrzeit versehen und außerhalb des Patientenzimmers aufbewahrt. Es sollte eine ausreichende Größe haben und abgedeckt bzw. verschließbar sein (▶ Abb. 15.20). Wird in zeitlichen Intervallen gesammelt, müssen mehrere Sammelgefäße bereitgestellt werden. Das Kind wird altersentsprechend informiert und zur Mitarbeit motiviert, damit eine Miktion auf der Toilette verhindert wird.

Durchführung Die Sammelperiode dauert i. d. R. von morgens 7:00 Uhr bis zum nächsten Morgen 7:00 Uhr. Bei Säuglingen, Kleinkindern und inkontinenten Patienten muss ein Urinableitungssystem angelegt werden: ● Das Kind wird um 7:00 Uhr aufgefordert, Urin zu entleeren. Diese Portion wird verworfen. ● Alle weiteren Portionen werden bis 7:00 Uhr des folgenden Tages gesammelt, einschließlich der letzten Urinportion, die um 7:00 Uhr entleert wird. ● Bei Patienten mit Diabetes mellitus werden der Tag- und Nachturin für die Glukosebestimmung getrennt gesammelt. Dies kann in 2, 3 oder 4 Portionen erfolgen.

15.4 Pflegemaßnahmen zur Urinausscheidung ●

Für Untersuchungen werden häufig nur kleine Urinportionen benötigt, die nach vorherigem Durchmischen von der Gesamtmenge abgenommen werden. Auf dem Begleitzettel für die Laboruntersuchung muss die Gesamturinmenge des 24-Stunden-Sammelurins angegeben werden.

Flüssigkeitsbilanz Definition

L ●

Bei der Flüssigkeitsbilanz handelt es sich um die Flüssigkeitsmenge, die sich aus der Differenz zwischen Ein- und Ausfuhr errechnet.

Spezifisches Gewicht des Urins Definition

L ●

Das spezifische Gewicht von Urin ist das arteigene Gewicht (Gesamtgewicht aller gelösten Stoffe) von 1 ml Urin, das zu 1 ml Wasser in Beziehung gesetzt wird. Ein Milliliter Wasser wiegt bei 4 °C 1 g oder 1000 mg.

Das spez. Gewicht des Urins wird ermittelt, um eine Aussage über die Konzentrationsfähigkeit der Nieren sowie eine Einschätzung des Flüssigkeitshaushalts im Organismus zu erhalten. Die Konzentrations- und Verdünnungsfähigkeit der Nieren liegt zwischen 1001 und 1035. Das normale spezifische Gewicht schwankt zwischen 1010 und 1025. Im Säuglingsalter ist das spezifische Gewicht niedriger, da die Nieren noch nicht so gut konzentrieren können. Sehr große Flüssigkeitsmengen führen zu Verdünnung des Urins und somit zu niedrigem spezifischem Gewicht, dementsprechend ist der Urin wasserklar. Eine geringe Flüssigkeitszufuhr oder Flüssigkeitsverluste durch Schwitzen, Durchfall und Erbrechen führen zu hoher Urinkonzentration mit hohem spezifischem Gewicht und bernsteinfarbenem Urin. Das spezifische Gewicht wird mithilfe von Harnteststreifen kontrolliert (S. 381). In seltenen Fällen geschieht dies mithilfe eines Urometers, das auch als Harn- oder Senkwaage bezeichnet wird. Das Urometer wird in den Urin, der eine Temperatur von 20 °C haben sollte, eingetaucht. Er sollte daher nicht frisch entleert sein. Falls Schaum vorhanden ist, wird dieser mithilfe von Filterpapier aufgesaugt, um das spezifische Gewicht exakt ablesen zu können. Die Harnwaage muss frei schwimmen und wird in Augenhöhe abgelesen. Das ermittelte spezifische Gewicht wird anschließend protokolliert.

Sie wird häufig in einem Zeitraum von 24 Stunden durchgeführt, kann aber auch je nach Zustand des Patienten in kürzeren Intervallen angeordnet werden. Das Erstellen der Flüssigkeitsbilanz ist eine pflegerische Tätigkeit, die auf Anordnung des Arztes erfolgt und dazu dient, eine Störung der Harnbildung oder Harnausscheidung schnell zu erkennen. Dies kann während eines Schockzustandes, nach Operationen an Nieren und ableitenden Harnwegen sowie bei Herzerkrankungen usw. notwendig werden. Die Flüssigkeitsmengen, die dem Patienten zugeführt und von ihm ausgeschieden werden, müssen sorgfältig auf speziellen Protokollblättern notiert und anschließend den ausgeschiedenen Flüssigkeitsmengen rechnerisch gegenübergestellt werden. ▶ Berechnung der Einfuhrmenge. Zur Einfuhr wird die gesamte verabreichte Flüssigkeitsmenge gerechnet: ● oral in Form von Getränken, flüssigen und halbflüssigen Speisen (z. B. Joghurt) ● enteral über Sonden und Fisteln (z. B. über Magen- und Jejunumsonden sowie Gastrostomie) ● parenteral durch Infusionen ● Oxidationswasser (versteckte Zufuhr von Wasser durch Verwertung von Kohlenhydraten) wird geschätzt ▶ Berechnung der Ausfuhrmenge. Zur Ausfuhr wird jede Flüssigkeit gerechnet, die vom Kind abgegeben wird. Hierbei kann es sich handeln um: ● Urin, dünnen Stuhl und Erbrochenes ● Sekrete aus Magen und Wunden ● Punktate ● Flüssigkeit, die unbemerkt über die Atmung verloren geht (Perspiratio insensibilis) bzw. Perspiratio sensibilis (Schweißsekretion) wird mittels einer Formel berechnet oder geschätzt

Merke

H ●

Transfusionen werden i. d. R. bei der Flüssigkeitsbilanz nicht berechnet, da sie dem Ersatz dienen. Blutplasma wird ggf. zur Hälfte berechnet.

Abb. 15.21 Urimeter. Über das Urimeter wird die Urinausscheidung kontrolliert. (Foto: T. Stephan, Thieme)

Durchführung Urin, Wundsekrete und Stuhl bei Anus praeter können in speziellen Behältnissen oder Beuteln aufgefangen und abgemessen werden. Bei intensivmedizinisch betreuten Kindern wird ein geschlossenes Harnableitungssystem mit integriertem Messbehälter, einem sog. Urimeter (▶ Abb. 15.21) verwendet, um eine bessere Harnbilanzierung zu gewährleisten. Ist dies nicht möglich, werden Einmalwindeln, Stoffwindeln oder Unterlagen abgewogen und anschließend vom vorher bestimmten Trockengewicht abgezogen. Bei größeren Kindern sollte der Urin, soweit möglich, getrennt vom Stuhl gewonnen werden, um das Abmessen zu erleichtern und eine aussagekräftige Flüssigkeitsbilanz zu erhalten. Es werden folgende Bilanzen unterschieden: ● ausgeglichene Bilanz: Hierbei entspricht die Flüssigkeitszufuhr dem Flüssigkeitsverlust ● positive Bilanz: Die Flüssigkeitszufuhr ist größer als die ausgeschiedene Menge; sie kann nach Durchfall oder Erbrechen erwünscht sein ● negative Bilanz: Die Flüssigkeitszufuhr ist geringer als die ausgeschiedene Menge; dieser Zustand kann bei Schädel-Hirn-Traumen zur Reduzierung eines Hirnödems angestrebt werden (▶ Tab. 15.4)

15

9

Ausscheiden

Tab. 15.4 Unterscheidung der Flüssigkeitsbilanzen.

Flüssigkeitszufuhr: ● ● ●

● ●

positive Bilanz

negative Bilanz

2000 ml

2000 ml

2000 ml

2000 ml

1500 ml

2300 ml

±0

+ 500 ml

– 300 ml

oral enteral parenteral

Flüssigkeitsausfuhr: ●

ausgeglichene Bilanz

Urin, Stuhl u. a. Sekrete aus Drainagen, Punktate Ausscheidung über die Atmung (Perspiratio insensibilis) und Schweiß (Perspiratio sensibilis)

Tab. 15.5 Teststreifenanalytik im Überblick. Bestandteile

Kürzel

physiologisch

klinische Bedeutung

Glukose

Gluc

Nüchternurin: < 20 mg/dl Tagesurin: < 30 mg/dl

Hyperglykämie, wenn Nierenschwelle (ca. 180 mg/dl) überschritten wird, Nierenerkrankungen, Schwangerschaft

Protein

Prot

negativ

z. B. bei Harnwegsinfektionen und nephrotischem Syndrom

Ketonkörper

Keton

negativ

entsteht bei verstärktem Fettabbau aufgrund unzureichender Energiezufuhr durch Kohlenhydrate

spezifisches Gewicht

spez Gew

1010 – 1025

bei Niereninsuffizienz: Isosthenurie = Harnstarre, konstant 1010; bei Diabetes mellitus: sehr hohes spez. Gewicht durch Glukose

pH-Wert

pH

5–6

bei anhaltend saurem bzw. alkalischem Urin besteht der Verdacht einer Störung des Säure-Basen-Gleichgewichtes; anhaltend alkalischer Urin weist auf eine Infektion des Urogenitaltraktes hin

Leukozyten

Leuko

negativ

vermehrt vorhanden bei einer entzündlichen Erkrankung der Nieren und der ableitenden Harnwege

Nitrit

Nitrit

negativ

sicherer Nachweis einer bakteriellen und akuten Harnwegsinfektion (Bakterien reduzieren das Nitrat zu Nitrit)

Urobilinogen (Abbauprodukt des Bilirubins)

Urobil

< 1 mg/dl

bei gestörter Leberfunktion infolge primärer und sekundärer Lebererkrankung und gesteigertem Hämoglobinabbau z. B. infolge einer primär hämolytischen Erkrankung

Bilirubin

Bili

< 0,1 mg/dl

bei jedem Krankheitsprozess, der die Konzentration von konjugiertem Bilirubin im Plasma erhöht, kann die Ausscheidung von Bilirubin im Harn beträchtliche Werte erreichen

negativ

vorhanden bei Entzündungen oder Verletzungen

Blut/Hämoglobin

15.4.7 Urinuntersuchungen Schnelltests Es handelt sich um semiquantitative Suchtests. Sie dienen dem Nachweis von Eiweiß, Zucker, Keton, Erythrozyten, Bilirubin, Urobilinogen, Leukozyten und Nitrit. Die Bestimmung des Säure-BasenHaushaltes sowie des spezifischen Gewichtes findet ebenfalls mit Schnelltests statt (▶ Tab. 15.5). Sie können mithilfe von Teststreifen oder Testtabletten auf den Stationen oder von den Patienten zu Hause durchgeführt werden.

15

380

Merke

H ●

Um ein zuverlässiges Messergebnis zu erhalten, ist beim Umgang mit Teststreifen und Testtabletten auf Folgendes zu achten: ● Herstellerhinweise vor Gebrauch lesen ● Ablesezeiten genau einhalten

Durchführung Die Teststreifen werden in den frisch ausgeschiedenen Urin eingetaucht, dabei werden Schutzhandschuhe getragen. Überschüssiger Urin wird abgestreift. Nach der angegebenen Ablesezeit wird die Farbveränderung mit der Farbskala verglichen, ohne das Teststreifen-Behält-

Abb. 15.22 Urinteststreifen. Der Teststreifen wird mit der Farbskala des Behälters verglichen. (Foto: T. Stephan, Thieme)

nis aus hygienischen Gründen mit dem Teststreifen zu berühren (▶ Abb. 15.22). Das Ergebnis wird anschließend dokumentiert.

15.5 Beobachten und Beurteilen der Stuhlausscheidung

Tab. 15.6 Sedimentuntersuchung. Bestandteile

Kürzel

physiologisch

klinische Bedeutung

Kristalle: treten in Abhängigkeit vom pH-Wert des Urins auf

Krist

vorhanden, z. B. Harnsäurekristalle

nur von geringer diagnostischer Bedeutung

Epithelzellen

Epith

vereinzelt vorhanden

geringe diagnostische Bedeutung

Leukozyten

Leuko

0 – 5 (Gesichtsfeld)

Infektion

Erythrozyten

Ery

0 – 5 (Gesichtsfeld)

Entzündung, Verletzung

hyaline Zylinder – Proteinausgüsse der Tubuli

hyal Zyl

vereinzelt

vorhanden bei körperlicher Anstrengung, Fieber; ohne diagnostische Bedeutung

Epithelzylinder

Epith Zyl

nicht vorhanden

bei Nephropathie; weisen auf ischämisch oder toxisch bedingte Tubulus-Zellnekrosen hin

granulierte Zylinder

gran Zyl

nicht vorhanden

akute u. chronische Nephritis

Leukozytenzylinder

Leuko Zyl

nicht vorhanden

bei interstitieller Nephritis; belegen den renalen Ursprung einer Leukozyturie

Erythrozytenzylinder

Ery Zyl

nicht vorhanden

vaskuläre u. parenchymatöse Nierenerkrankung; beweisen den renalen Ursprung einer Hämaturie

Bakterien

Bakt

unter 10 000/ml = Kontamination

10 000 – 20 000/ml = Verdacht auf Harnwegsinfektion (HWI) über 100 000 Keime/ml = Harnwegsinfektion

Laboruntersuchungen ▶ Weiterleiten des Urins. Katheter- oder Mittelstrahlurin zur bakteriologischen Untersuchung wird in ein steriles Röhrchen gefüllt, sofort verschlossen und möglichst umgehend in das Labor weitergeleitet. Der Urin darf maximal für 4 Stunden im Kühlschrank gelagert werden, um eine Vermehrung von pathogenen Keimen und eine Verminderung des Glukosegehaltes infolge bakteriellen Abbaus zu vermeiden. ▶ Harnanalytik. Sie erfordert zur Absicherung der Diagnose häufig eine Sedimentuntersuchung mithilfe des Mikroskops (▶ Tab. 15.6). Dafür werden i. d. R. 10 ml frischer Mittelstrahlurin benötigt, der nicht älter als 2 Stunden sein sollte, da nach längerem Stehen eine Auflösung der zellulären Bestandteile erfolgen kann.

15.5 Beobachten und Beurteilen der Stuhlausscheidung Definition

L ●

Stuhl ist der zersetzte und unverdaute Rest des Nahrungsbreies, der im Bereich des Kolons durch massiven Wasserentzug eingedickt wird.

Unverdaute Ballaststoffe werden mithilfe von Kolibakterien gespalten, sodass es durch Kohlenhydrate zu Gärung und durch Eiweiß zu Fäulnis kommt. Der im Enddarm gesammelte Stuhl besteht im Wesentlichen aus 70 – 75 % Wasser, Zellulose, Schleim, Epithelien, Farbstoffen, Darmbakterien u. a. und wird aufgrund eines nervalen Reizes, der zum Stuhldrang führt, ausgeschieden. Kommt es zur Störung der Stuhlausscheidung, z. B. bedingt durch Passagehindernisse, Wahrnehmungsstörungen oder unzureichende Sphinkterfunktion, sind je nach Ausprägung und Schweregrad massive Beeinträchtigungen des Wohlbefindens bis zu akuten oder chronischen Krankheitszuständen zu beobachten.

15.5.1 Physiologische Stuhlausscheidung

▶ Dokumentation. Jede Stuhlausscheidung muss im Dokumentationssystem mit einem Symbol vermerkt werden, das in den verschiedenen Kliniken unterschiedlich aussehen kann.

15.5.3 Individuelle Situationseinschätzung Um den Stuhl und die Defäkation beurteilen zu können, müssen diesbezüglich wichtige Informationen vonseiten der Pflegefachkräfte bei den Angehörigen des Kindes eingeholt werden, z. B.: ● Wie häufig scheidet das Kind Stuhl aus? ● Neigt das Kind zur Obstipation? ● Welche Trink- und Essgewohnheiten hat das Kind? ● Wie sagt es, wenn es Stuhl entleeren möchte? ● Ist das Kind bereits sauber?

▶ Tab. 15.7 gibt eine Übersicht über die physiologische Stuhlausscheidung von Neugeborenen, mit Muttermilch und Kuhmilch ernährten Säuglingen sowie mit Mischkost ernährten Kindern.

15.5.2 Abweichungen Stuhlveränderungen durch pathologische Ursachen zeigt ▶ Tab. 15.8.

15

1

Ausscheiden

Tab. 15.7 Physiologische Stuhlausscheidung.

Neugeborenes

Farbe

Konsistenz

Geruch

Bestandteile

Mekonium = Kindspech, grün-schwarz

zäh-klebrig

geruchlos (keine Bakterien)

● ● ● ●

Übergangsstuhl, schwarz-grün-gelb

weniger klebrig

nahezu geruchlos



● ●

mit Muttermilch ernährter Säugling

● ●

häufig dünn, salbig oder pastig

goldgelb grün durch Oxidation mit Sauerstoff

aromatisch, säuerlich

● ● ● ●

mit Kuhmilch ernährter Säugling

hellbraun

mit Mischkost ernährtes Kind oder Jugendlicher

mittelbraun, dunkelbraun: ● Karotte: rötlich ● Spinat: grün ● Fleisch: dunkel ● Milch: hell ● eisenhaltige Lebensmittel, Blaubeeren, roter Traubensaft: braunschwarz

geformt, dickbreiig



geformt, dickbreiig, abhängig vom Wassergehalt

fäkulent, übel riechend ● Eiweiß: faulig ● Kohlenhydrate: säuerlich



Käsegeruch evtl. fäkulent, übel riechend



● ●



Defäkation

eingedickte Galle Lanugohaare Darmepithelien Fruchtwasser

innerhalb der ersten 24 – 36 Std. nach der Geburt Gefahr bei Nichtabsetzen: Mekoniumileus

Mischung aus Mekonium und Stuhl nach Nahrungsaufnahme Nahrungsreste Bakterien entsprechend der Ernährung

ein- bis mehrmals täglich

Nahrungsreste Wasser Gallensäfte Bifidus-Bakterien

1- bis 5-mal täglich, die evtl. geringen und seltenen Entleerungen erklären sich aus der guten Ausnutzung des Muttermilchstuhls

siehe mit Muttermilch ernährter Säugling (S. 341) Kolibakterien

1- bis 3-mal täglich

siehe mit Kuhmilch ernährter Säugling (S. 341) Nahrungsreste sind abhängig von der aufgenommenen Nahrung

1- bis 2-mal täglich, abhängig von der Art der Ernährung und Bewegung

Tab. 15.8 Stuhlveränderungen durch pathologische Ursachen. Veränderung

Ursachen

Erklärung

Ernährungsstörungen des Säuglings durch: Nahrungsunverträglichkeit ● Infektionen mit pathogenen Darmkeimen

Durch allergische Reaktionen oder Toxine von pathogenen Keimen kommt es zu einer Reizung der Darmschleimhaut, die zu den Veränderungen führt.

schwarz = Teerstuhl

Blutbeimengungen durch: ● Blutungen im oberen Anteil des Verdauungstraktes ● verschlucktes mütterliches Blut während des Stillens durch Läsionen der Brustwarze

Durch die Salzsäure des Magens wird das Blut verändert.

grau-weiß = acholischer Stuhl

z. B. Hepatitis, Gallenwegverschluss, nicht angelegte Gallengänge

Gallenfarbstoffe können nicht in den Darm abgegeben werden.

Eiter

Entzündungen des Dickdarmes = Colitis ulcerosa

Absonderung von neutrophilen Leukozyten und eingeschmolzenem Gewebe durch Entzündungsprozesse.

frisches Blut

z. B. Invagination, Colitis ulcerosa, Analfissuren, Hämorrhoiden, Tumoren

Salzsäure kann nicht mehr wirksam werden, Blut ist daher unverändert.

Fettauflagerung

Maldigestion, z. B. zystische Fibrose (Mukoviszidose)

Fette können durch die fehlende Lipase nicht gespalten werden.

Parasiten und Wurmeier



Farbe grünlich, ockerfarben = Dyspepsiestuhl



Beimengungen und Auflagerungen

15





Fremdkörper

382

Madenwürmer (Oxyuren): fadendünn, 4 – 12 mm lang, in großer Zahl vorkommend Spulwürmer (Askariden): regenwurmähnlich, grau, 15 – 40 cm lang Bandwurmglieder: weiß, glatt, fingernagelgroß

z. B. Münzen, Kirschkerne, Augen von Teddybären

Aufnahme von Wurmeiern über die Nahrung oder durch Kontakte mit Haustieren, z. B. Hunden.

werden von den Kindern verschluckt

15.6 Pflegemaßnahmen

Tab. 15.8 Fortsetzung Veränderung

Ursachen

Erklärung

Konsistenz breiig bis wässrig, zerhackt, schaumig





knollig, hart





grau-weiß, trocken, fest = Kalkseifenstuhl

Ernährungsstörungen bei Säuglingen durch MagenDarm-Infektionen Nahrungsmittelunverträglichkeit

Durch die Reizung oder Entzündung der Darmschleimhaut erfolgt eine schnellere Passage, sodass die Rückresorption des Wassers gestört ist.

Flüssigkeitsmangel im Darm durch geringe Trinkmengen und ballaststoffarme Ernährung geringe oder zu starke Peristaltik

Dem Darm wird zu viel Flüssigkeit durch die übermäßige Peristaltik oder infolge der zu langen Verweildauer bei geringer Peristaltik entzogen.

Fehlernährung des Säuglings mit unverdünnter Kuhmilch

Kuhmilch hat einen zu hohen Kalzium- und Natriumgehalt.

Ernährungs- und Maldigestionsstörung, z. B. Infektionen, zystische Fibrose

durch unverdaute Nahrungsreste

sauer, pH < 6

Gärung, z. B. Laktoseintoleranz

durch Kohlenhydratverdauung

alkalisch, pH > 7

Fäulnis durch Fäulnisbakterien bei Fäulnisdyspepsie

durch Eiweißverdauung

massige Stühle

Malabsorption: z. B. Zöliakie

durch Zottenatrophie gestörte Resorption

massige Fettstühle (Steatorrhö)

Maldigestion: z. B. zystische Fibrose

durch fehlende Lipase gestörte Spaltung und Resorption der Fette

sehr geringe Stuhlmengen (Hungerstuhl) = schwarz-braun-grün und dünnflüssig

bei Nahrungskarenz, z. B. nach einer Operation

Durch das Fehlen von Nahrungsresten; er besteht aus eingedicktem Gallensaft, Schleim, Darmepithelien und Kolibakterien.

Geruch übel riechend chemische Reaktion

Menge

15.6 Pflegemaßnahmen 15.6.1 Physiologische Darmtätigkeit Eine physiologische Stuhlentleerung hat nicht allein gesundheitliche Auswirkungen, sondern trägt auch entscheidend zum Wohlbefinden eines Menschen bei. Durch Untersuchungen wurde bewiesen, dass das Risiko einer Entstehung von Darmkrebs durch eine geregelte Stuhlentleerung verringert werden kann. Es sollte daher für die Pflegefachkräfte ein vorrangiges Ziel sein, Kinder, Jugendliche und Eltern bezüglich gesundheitsfördernder Verhaltensweisen zu informieren und zu motivieren, diese durchzuführen.

15.6.2 Hilfestellung zur Stuhlentleerung Umgang mit Ausscheidungsgefäßen Steckbecken Steckbecken werden für die Stuhlausscheidung sowohl bei Jungen als auch bei Mädchen verwendet und sind in zwei unterschiedlichen Größen, für Kinder und Erwachsene, erhältlich. Das Steckbecken wird unter das Gesäß des bettlägerigen

Kindes geschoben oder gesteckt, wodurch sich die Bezeichnung Steckbecken erklärt. Für ein krankes Kind ist strenge Bettruhe stets mit der Benutzung eines Steckbeckens verbunden, was für das Kind den Verlust seiner Selbstständigkeit und einen Eingriff in die Intimsphäre bedeutet. Es ist darauf angewiesen, das Steckbecken von der Pflegefachkraft zum notwendigen Zeitpunkt zu erhalten und danach so bald wie möglich davon befreit zu werden, da es hart und unbequem ist.

Praxistipp Pflege

Z ●

Eine besondere Bedeutung hat die umgehende Entfernung des Steckbeckens nach erfolgter Ausscheidung bei Patienten mit Sensibilitätsstörungen, da es sehr schnell zu Dekubiti kommen kann.

Die Wahrung der Intimsphäre ist eine sehr wichtige pflegerische Maßnahme, die diese unangenehme Verrichtung für die Betroffenen erträglicher macht: ● Besucher und evtl. auch Mitpatienten, sofern sie aufstehen dürfen, werden aus dem Zimmer gebeten. ● Bei bettlägerigen Mitpatienten kann z. B. durch eine Trennwand der Einblick verwehrt werden.



Der Sichtschutz an den Scheiben zum Flur und zwischen den Zimmern wird heruntergelassen.

▶ Unterschieben des Steckbeckens. Empfehlenswert ist folgendes Vorgehen: ● Ein Kind wird nur so weit wie notwendig aufgedeckt. ● Das Steckbecken sollte vorher mit warmem Wasser angewärmt werden. ● Anschließend wird das Kind aufgefordert, eine leichte „Brücke zu bauen“, indem es die Beine aufstellt und das Gesäß anhebt. Das Steckbecken ist richtig platziert, wenn sich der obere Teil in Kreuzbeinhöhe befindet. ● Bei schwer bewegungseingeschränkten Kindern sollten je nach Körpergewicht 2 Pflegefachkräfte die Lenden-Kreuzbein-Region anheben, um rückenschonend zu arbeiten. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, das Kind mit angewinkelten Beinen auf die Seite zu drehen, das Steckbecken am Gesäß zu platzieren und es anschließend auf das Steckbecken zurückzudrehen, während es sicher gehalten wird. Welche Methode gewählt wird, muss sich am Zustand des Kindes oder des Jugendlichen orientieren (▶ Abb. 15.23). ● Bei Jungen muss gleichzeitig eine Urinflasche angelegt werden, da bei einer Stuhlentleerung i. d. R. auch Urin entleert wird.

15

3

15.6 Pflegemaßnahmen

Tab. 15.8 Fortsetzung Veränderung

Ursachen

Erklärung

Konsistenz breiig bis wässrig, zerhackt, schaumig





knollig, hart





grau-weiß, trocken, fest = Kalkseifenstuhl

Ernährungsstörungen bei Säuglingen durch MagenDarm-Infektionen Nahrungsmittelunverträglichkeit

Durch die Reizung oder Entzündung der Darmschleimhaut erfolgt eine schnellere Passage, sodass die Rückresorption des Wassers gestört ist.

Flüssigkeitsmangel im Darm durch geringe Trinkmengen und ballaststoffarme Ernährung geringe oder zu starke Peristaltik

Dem Darm wird zu viel Flüssigkeit durch die übermäßige Peristaltik oder infolge der zu langen Verweildauer bei geringer Peristaltik entzogen.

Fehlernährung des Säuglings mit unverdünnter Kuhmilch

Kuhmilch hat einen zu hohen Kalzium- und Natriumgehalt.

Ernährungs- und Maldigestionsstörung, z. B. Infektionen, zystische Fibrose

durch unverdaute Nahrungsreste

sauer, pH < 6

Gärung, z. B. Laktoseintoleranz

durch Kohlenhydratverdauung

alkalisch, pH > 7

Fäulnis durch Fäulnisbakterien bei Fäulnisdyspepsie

durch Eiweißverdauung

massige Stühle

Malabsorption: z. B. Zöliakie

durch Zottenatrophie gestörte Resorption

massige Fettstühle (Steatorrhö)

Maldigestion: z. B. zystische Fibrose

durch fehlende Lipase gestörte Spaltung und Resorption der Fette

sehr geringe Stuhlmengen (Hungerstuhl) = schwarz-braun-grün und dünnflüssig

bei Nahrungskarenz, z. B. nach einer Operation

Durch das Fehlen von Nahrungsresten; er besteht aus eingedicktem Gallensaft, Schleim, Darmepithelien und Kolibakterien.

Geruch übel riechend chemische Reaktion

Menge

15.6 Pflegemaßnahmen 15.6.1 Physiologische Darmtätigkeit Eine physiologische Stuhlentleerung hat nicht allein gesundheitliche Auswirkungen, sondern trägt auch entscheidend zum Wohlbefinden eines Menschen bei. Durch Untersuchungen wurde bewiesen, dass das Risiko einer Entstehung von Darmkrebs durch eine geregelte Stuhlentleerung verringert werden kann. Es sollte daher für die Pflegefachkräfte ein vorrangiges Ziel sein, Kinder, Jugendliche und Eltern bezüglich gesundheitsfördernder Verhaltensweisen zu informieren und zu motivieren, diese durchzuführen.

15.6.2 Hilfestellung zur Stuhlentleerung Umgang mit Ausscheidungsgefäßen Steckbecken Steckbecken werden für die Stuhlausscheidung sowohl bei Jungen als auch bei Mädchen verwendet und sind in zwei unterschiedlichen Größen, für Kinder und Erwachsene, erhältlich. Das Steckbecken wird unter das Gesäß des bettlägerigen

Kindes geschoben oder gesteckt, wodurch sich die Bezeichnung Steckbecken erklärt. Für ein krankes Kind ist strenge Bettruhe stets mit der Benutzung eines Steckbeckens verbunden, was für das Kind den Verlust seiner Selbstständigkeit und einen Eingriff in die Intimsphäre bedeutet. Es ist darauf angewiesen, das Steckbecken von der Pflegefachkraft zum notwendigen Zeitpunkt zu erhalten und danach so bald wie möglich davon befreit zu werden, da es hart und unbequem ist.

Praxistipp Pflege

Z ●

Eine besondere Bedeutung hat die umgehende Entfernung des Steckbeckens nach erfolgter Ausscheidung bei Patienten mit Sensibilitätsstörungen, da es sehr schnell zu Dekubiti kommen kann.

Die Wahrung der Intimsphäre ist eine sehr wichtige pflegerische Maßnahme, die diese unangenehme Verrichtung für die Betroffenen erträglicher macht: ● Besucher und evtl. auch Mitpatienten, sofern sie aufstehen dürfen, werden aus dem Zimmer gebeten. ● Bei bettlägerigen Mitpatienten kann z. B. durch eine Trennwand der Einblick verwehrt werden.



Der Sichtschutz an den Scheiben zum Flur und zwischen den Zimmern wird heruntergelassen.

▶ Unterschieben des Steckbeckens. Empfehlenswert ist folgendes Vorgehen: ● Ein Kind wird nur so weit wie notwendig aufgedeckt. ● Das Steckbecken sollte vorher mit warmem Wasser angewärmt werden. ● Anschließend wird das Kind aufgefordert, eine leichte „Brücke zu bauen“, indem es die Beine aufstellt und das Gesäß anhebt. Das Steckbecken ist richtig platziert, wenn sich der obere Teil in Kreuzbeinhöhe befindet. ● Bei schwer bewegungseingeschränkten Kindern sollten je nach Körpergewicht 2 Pflegefachkräfte die Lenden-Kreuzbein-Region anheben, um rückenschonend zu arbeiten. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, das Kind mit angewinkelten Beinen auf die Seite zu drehen, das Steckbecken am Gesäß zu platzieren und es anschließend auf das Steckbecken zurückzudrehen, während es sicher gehalten wird. Welche Methode gewählt wird, muss sich am Zustand des Kindes oder des Jugendlichen orientieren (▶ Abb. 15.23). ● Bei Jungen muss gleichzeitig eine Urinflasche angelegt werden, da bei einer Stuhlentleerung i. d. R. auch Urin entleert wird.

15

3

Ausscheiden

a

b

c

Abb. 15.23 Unterschieben des Steckbeckens durch 2 Pflegefachkräfte. a Das Steckbecken wird so untergeschoben, dass der obere Rand sich in Höhe des Kreuzbeins befindet, b das Kind dreht sich dann langsam zurück auf den Rücken, c das Steckbecken wird vollends unter das Gefäß geschoben, der Griff zeigt nach außen.



Mädchen werden aufgefordert, die Beine leicht zu spreizen und auszustrecken, damit der Urin ungehindert abfließen kann.

▶ Entfernen des Steckbeckens. Auf diese Weise sollte vorgegangen werden: ● Die Pflegefachkraft schützt einen Stuhl, z. B. mit einer Windel, um die Bettpfanne abstellen zu können, und zieht sich Schutzhandschuhe an. ● Nach erfolgter Urin- oder Stuhlentleerung wird das Steckbecken beim Entfernen gut festgehalten, um eine Verunreinigung des Bettes zu vermeiden. ● Nachdem der Genitalbereich mit Toilettenpapier trocken getupft oder von vorn nach hinten abgewischt wurde, wird das Steckbecken im abgedeckten Zustand sofort in den unreinen Raum gebracht. Durch Spülen und Desinfizieren in der Spülmaschine wird es wiederaufbereitet (▶ Abb. 15.24). ● Nach der Stuhlentleerung wird das Gesäß des Kindes gesäubert. Aus hygienischen Gründen trägt die Pflegefachkraft Schutzhandschuhe. ● Die Ausscheidung muss auf Häufigkeit, Farbe, Konsistenz, Menge sowie Beimengungen kontrolliert und die Beobachtung dokumentiert werden. Auffällige Stühle sollten zur Begutachtung aufbewahrt werden. ● Jedes Kind hat entweder sein eigenes Steckbecken, das in einer Aufhängevorrichtung unter dem Nachttisch deponiert wird, oder es erhält jedes Mal ein neues Steckbecken, das sich im unreinen Arbeitsraum befindet.

15

Toiletten- oder Nachtstuhl Der Toiletten- oder Nachtstuhl ermöglicht bettlägerigen Menschen, die Probleme mit der Benutzung eines Steckbeckens haben, ihre Ausscheidungen im Sitzen zu verrichten, soweit es der gesundheitliche

384

Abb. 15.25 Toilettenstuhl. (Foto: K. Oborny, Thieme)

Praxistipp Pflege

Abb. 15.24 Steckbeckenspüle. Das Steckbecken wird in einer besonderen Spüle gereinigt und desinfiziert. (Foto: K. Oborny, Thieme)

Zustand zulässt. Er besteht aus einem fahrbaren Stuhl mit herausnehmbarem Steckbecken (▶ Abb. 15.25). Entweder dient das Steckbecken als Auffangbehältnis für die Ausscheidung oder der Toilettenstuhl wird direkt über der Toilette platziert, nachdem das Steckbecken vorher entfernt wurde. Die zweite Möglichkeit kann jedoch nur gewählt werden, wenn auch entsprechende räumliche Gegebenheiten, z. B. eine am Patientenzimmer befindliche Nasszelle, vorhanden sind. Auch wenn es sich hierbei um eine relativ schonende Methode handelt, muss die Erlaubnis des Arztes für die Mobilisation des Kindes oder Jugendlichen eingeholt werden.

Z ●

Die Sitzfläche des Toilettenstuhles darf erst geöffnet werden, nachdem der Stuhl sich über der Toilette befindet, um bei männlichen Patienten eine Verletzung des Genitales durch ein Einklemmen zwischen Stuhl und Toilettenrand zu vermeiden.

15.6.3 Hilfestellung bei Verdauungs- und Defäkationsstörungen Hilfestellung bei Stuhlinkontinenz Definition

L ●

Unter einer Stuhlinkontinenz wird der unwillkürliche Abgang von Stuhl und Darmgasen verstanden.

15.6 Pflegemaßnahmen Bei einem Säugling und Kleinkind ist die Inkontinenz ein normaler Zustand, jedoch sollten Kinder mit ca. 5 Jahren sauber sein, sofern keine pathologischen Störungen vorliegen. Die Ursachen hierfür können angeboren (z. B. Myelomeningozele) oder erworben sein (z. B. durch Beckenbodeninsuffizienz). Die Beeinträchtigungen durch Stuhlinkontinenz sind vom Alter und von der Entwicklung des Kindes abhängig. Je älter die Kinder werden, desto schwerwiegender sind die psychischen Probleme, da sie eine Bloßstellung durch Geruchsbildung befürchten. Die Folge kann soziale Isolation sein. Ein weiteres Problem ist die Hautreizung, die durch Fehlbildungen, verbunden mit verminderter Sensibilität und Immobilität, verstärkt wird.

Praxistipp Pflege

Z ●

Die wichtigsten Ziele bei der Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Stuhlinkontinenz müssen daher die Förderung der Selbstversorgung, die Stärkung des Selbstbewusstseins und der Erhalt einer intakten Haut sein.

Geeignete Maßnahmen bei Stuhlinkontinenz: ● Zur Förderung der Selbstständigkeit nur so viel Hilfestellung geben wie notwendig ist. ● Über den Einsatz von Hilfsmitteln beraten, z. B. aufsaugende Vorlagen. ● Unterstützung beim Verhaltenstraining, d. h. kontrollierte Stuhlentleerung ca. eine halbe Stunde nach einer Mahlzeit, auch wenn kein Stuhldrang verspürt wird. ● Biofeedback: Durch Sensoren werden dem Patienten hör- oder sichtbare Signale über variierende Druckverhältnisse im Darm angezeigt; diese helfen beim gezielten Sphinkter- und Beckenboden-Training. ● Beratung hinsichtlich einer ballaststoffreichen Ernährung für einen geformten Stuhl. ● Bei Anus praeter kann mit individuell abgestimmten Versorgungssystemen den Betroffenen wirkungsvoll geholfen werden (S. 629).

Praxistipp Pflege

Z ●

Um größere Kinder nicht zu beschämen, sollte nie der Begriff „wickeln“ verwendet werden. Die Pflegefachkräfte sollten altersentsprechend z. B. von „frisch machen“ oder „Wechseln der Vorlage“ sprechen.

Hilfestellung bei Dreimonatskoliken Die Dreimonatskoliken treten i. d. R. innerhalb der ersten 3 Lebensmonate auf und gehen mit längeren Schreiattacken (2–3 Stunden) unterschiedlicher und abends häufig verstärkter Intensität einher. Die Bauchmuskulatur ist durch das Schreien stark angespannt, die Beine sind angezogen und die Babys lassen sich nicht beruhigen. In einigen Fällen ist der Bauch aufgebläht und es gehen Winde ab. Die Ursache für diese Schreiattacken, die täglich 1- bis 2-mal auftreten, ist unbekannt. Diskutiert werden Milcheiweißallergie, verstärkte Bewegungen des kindlichen Darmes, die zu Krämpfen führen, blähende Speisen, die die Mutter zu sich genommen hat, oder das KISS-Syndrom (kopfgelenkinduzierte Symmetriestörung) u. a. Folgende Maßnahmen zur Besserung können eingeleitet werden: ● Eine gute Information der Eltern ist wichtig, damit sie wissen, dass es sich um keine besorgniserregende Erkrankung handelt und die Schreiattacken wieder verschwinden. Dies ist besonders für junge, unerfahrene Eltern beruhigend, da sie häufig nach längeren Schreiattacken entnervt sind und unter Schuldgefühlen leiden, weil sie annehmen, etwas falsch gemacht zu haben. ● Es sollte Sorge getragen werden, dass sich das Kind in einer ruhigen Umgebung befindet. Durch Streicheln, Inden-Armen-Wiegen und leises Zusprechen kann dem Kind Ruhe und Geborgenheit vermittelt werden. ● Die Eltern sollten wissen, dass es wichtig ist, selbst ruhig zu bleiben, um ihr Kind beruhigen zu können. Keinesfalls dürfen sie ihr Kind schütteln, da es zu lebensbedrohlichen Hirnblutungen kommen kann. ● Hilfreich kann auch ein Erfahrungsaustausch zwischen betroffenen Eltern sein, da sie Tipps austauschen und sich gegenseitig seelische Unterstützung leisten können. ● Besteht ein geblähtes Abdomen, können verschiedene Maßnahmen zu einer Besserung führen: ○ Das kreisförmige Massieren des Bauches bei Säuglingen entsprechend dem Dickdarmverlauf von rechts nach links im Uhrzeigersinn wirkt ebenfalls beruhigend. Zur Kolonmassage können entsprechende Öle, z. B. Mandelöl mit einem Tropfen Kümmelöl, zur Unterstützung der Peristaltik verwendet werden. Kümmelöl hat eine reizende Wirkung und muss daher immer sparsam verwendet werden. ○ Das vorübergehende Tragen des Säuglings auf dem Unterarm in Fliegerhaltung unterstützt den Windabgang.









Fenchel- und Kümmeltee wirken Blähungen entgegen. Bei der Milchzubereitung sollte starkes Schütteln der Milch vermieden und evtl. vorhandener Schaum entfernt werden. Kann die Schaumbildung der Milch nicht verhindert werden, bewirkt die Zugabe einer entsprechenden Tropfenzahl Entschäumungsmittel (Simethicon-Präparate) einen Zerfall des feinblasigen Schaumes. Das Medikament selbst wird unverändert ausgeschieden und beeinflusst die Verdauungsvorgänge nicht. Bei der Nahrungsgabe wird der Sauger mit Milch gefüllt und ein kleines Saugerloch gewählt, um hastiges, mit Luftschlucken verbundenes Trinken zu verhindern. Stillende Mütter sollten bedenken, dass blähende Nahrungsmittel bei ihren Säuglingen ebenfalls Blähungen auslösen können.

Eltern

a ●

Professionelle Hilfe in Schreiambulanzen sollte unbedingt in Anspruch genommen werden.

Hilfestellung bei Meteorismus Bei Meteorismus handelt es sich um Blähungen, die häufig mit schmerzhaften Oberbauchschmerzen und Völlegefühl einhergehen und das Wohlbefinden des Betroffenen stark beeinträchtigen. Ursachen sind falsche Ernährung, Hektik und Stress, die zu einer Beeinträchtigung der physiologischen Bakterienbesiedlung im Darm führen und Fäulnisprozesse mit Gasbildung zur Folge haben. Diese Gase sammeln sich als feiner Schaum, der nicht auf natürlichem Wege entweichen kann. Es sollten daher in unserer hektischen, durch Fast Food geprägten Zeit einige Verhaltensweisen berücksichtigt werden, die in den meisten Fällen eine Abhilfe schaffen: ● Die Nahrung sollte in Ruhe aufgenommen werden, um Luftschlucken zu vermeiden. ● Blähende Speisen, wie Zwiebeln, Hülsenfrüchte oder blähendes Gemüse, sollten gemieden werden, außerdem Süßigkeiten und Mehlspeisen. Da Milchprodukte die Fäulnisprozesse infolge der Eiweißverdauung verstärken, wird geraten, diese auch zurückhaltend zu sich zu nehmen. ● Ausreichende Bewegung und Bauchgymnastik verringern das Auftreten von Blähungen.

15

5

Ausscheiden ●



Ein feuchtwarmer Leibwickel oder eine Wärmflasche haben eine entspannende Wirkung, sodass die Luft besser entweichen kann. Ein Ernährungstagebuch kann bei der Identifizierung von Auslösern hilfreich sein.

Hilfestellung bei Obstipation Definition

L ●

Obstipation ist eine Verstopfung, der eine Funktionsstörung des Dickdarms, verbunden mit ungenügender und zu seltener Stuhlentleerung zugrunde liegt. Es handelt sich hierbei nicht um eine Erkrankung, sondern um ein Symptom, dessen Ursache gefunden werden muss.

▶ Beobachtungskriterien. Zu beobachten sind: ● seltene Defäkationen, alle 3 – 4 Tage und seltener ● harter, trockener und dunkler Stuhl ● Völlegefühl, Unwohlsein, Appetitlosigkeit, Leibschmerzen, Blähungen ● bei chronischer Obstipation: blasse Hautfarbe, verminderte Leistungsfähigkeit

15

386

▶ Ursachen. Grundsätzlich muss unterschieden werden, ob es sich um eine vorübergehende oder chronische Obstipation handelt und welche Ursachen ihr zugrunde liegen. Diese können zum einen in der Lebensführung oder einer besonderen Lebenssituation liegen und zum anderen durch organische, psychische oder äußere Störfaktoren hervorgerufen werden: ● ballaststoffarme Ernährung, mangelnde Bewegung, Unterdrückung des Defäkationsdranges und häufige Einnahme von Laxanzien ● hormonelle Umstellungen, z. B. vor der Menstruation, während der Schwangerschaft und im Wochenbett ● vorübergehende Darmatonien, hervorgerufen durch Narkosen oder Operationen im Darmbereich (S. 626) ● neurologische Störungen, z. B. durch eine Myelomeningozele, unfallbedingte Querschnittlähmung oder Antikonvulsiva bei Krampfleiden ● Einnahme bestimmter Medikamente, z. B. Codein-Tropfen ● Obstruktionen im Bereich des Darms, z. B. durch Fehlbildungen, Tumoren ● schmerzhafte Zustände, z. B. durch Hämorrhoiden, Analfissuren, Operationen ● psychische Erkrankungen, z. B. Depressionen, Psychosen ● endokrine Erkrankungen, z. B. Hypothyreose

▶ Beratung der betroffenen Personen. Sie werden individuell informiert und zur Umstellung der Lebensgewohnheiten motiviert. Bei bestehenden Erkrankungen sind therapeutische Maßnahmen zu ergreifen.





▶ Obstipationsprophylaxe. Um einer Obstipation wirkungsvoll begegnen zu können, ist eine wichtige Voraussetzung das Wissen um ihre Entstehung. Einer Obstipation liegt i. d. R. eine Darmträgheit unterschiedlicher Genese zugrunde. In seltenen Fällen kann eine zu starke Darmtätigkeit vorliegen, die zu Wasser- und Salzentzug des Dickdarminhaltes und somit zur Bildung von Kotknollen führt. Je länger sich der Darminhalt im Dickdarm befindet oder je intensiver er bearbeitet wird, desto stärker wird der Stuhlinhalt eingedickt. Daraus resultiert eine erschwerte Defäkation, verbunden mit Schmerzen und evtl. Fissuren, die das Einhalten des Darminhaltes zur Folge hat. Es müssen je nach Ursache entsprechende Maßnahmen ergriffen werden, um die Stuhlbeschaffenheit zu normalisieren: ● Eine Aufklärung über den Entstehungsmechanismus der Obstipation ist die Grundvoraussetzung für alle betroffenen und gefährdeten Kinder und Jugendlichen. ● Ausreichende körperliche Bewegung ist unbedingt notwendig, damit die Peristaltik des Darmes bei Darmträgheit angeregt wird. ● Reichliche Flüssigkeitszufuhr in Form von Mineralwasser, Kräutertee, Obstund Gemüsesäften sollte erfolgen. Sauerkrautsaft wirkt sich besonders günstig auf die Darmperistaltik aus. ● Eine ballaststoffreiche Ernährung in Form von Vollkornprodukten, wie Haferflocken, Roggen, Leinsamen und Weizenkleie, sollte bevorzugt werden. Durch das Quellen im Darm kommt es zu einer Vergrößerung des Darmvolumens, was zu einer verstärkten Peristaltik führt. Wichtig ist, dass genügend Flüssigkeit aufgenommen wird, um ein Aufquellen der Fasern zu ermöglichen. ● Rohkostsalate, Gemüse und rohes Obst sind faserreich, sodass es auch hier zu einer Dehnung der Darmwand kommt. ● Milchsäurehaltige Nahrungsmittel, wie Buttermilch, Sauermilch, Joghurt oder Kefir, wirken ebenfalls leicht abführend, da sie zu einer guten Darmflora beitragen. Bei Säuglingen ist die Verabreichung von Milchzucker mit der Flaschennahrung sehr wirkungsvoll. ● Der Verzehr von Süßigkeiten, insbesondere Schokolade, sowie Weißbrot, Bananen oder harten Eiern sollte in Maßen erfolgen oder besser gemieden werden, da diese Nahrungsmittel eine stopfende Wirkung haben. Auch Rotwein und





Schwarztee verstärken eine Obstipation. Die Nahrung sollte langsam gegessen und gut gekaut werden, damit der Speisebrei durchmischt und leicht befördert werden kann. Stuhldrang darf nicht aus Zeitmangel unterdrückt werden, um ein weiteres Eindicken des Darminhaltes zu vermeiden. Es empfiehlt sich ein regelmäßiges Darmtraining, damit der Darm sich an ganz bestimmte Ausscheidungszeiten gewöhnen kann. Der beste Zeitpunkt für die Stuhlentleerung ist nach dem Frühstück, da die Darmperistaltik durch die Füllung des Magens intensiviert wird (gastrokolischer Reflex). Eine ungestörte und ruhige Umgebung ermöglicht häufig eine erfolgreiche Stuhlentleerung. Soweit es möglich ist, sollte den Patienten ein Toilettenbesuch oder die Benutzung eines Toilettenstuhles (S. 384) ermöglicht werden. Führen alle prophylaktischen Maßnahmen nicht zum Erfolg, müssen nach Anordnung des Arztes ein Mikroklist, Klysma (S. 388) oder orale Laxanzien verabreicht werden. Laxanzien sind Medikamente, die durch unterschiedliche Substanzen und Wirkungsweisen die Stuhlentleerung fördern (▶ Tab. 15.9).

Merke

H ●

Die Pflegefachkräfte sollten zu einer sparsamen Einnahme von Laxanzien raten, auch wenn es sich um natürliche Substanzen handelt. Die Gefahr liegt in der daraus resultierenden Darmträgheit, die einen Gewöhnungseffekt zur Folge hat.

Digitale Ausräumung Liegt eine dauerhafte, nicht zu beherrschende schlaffe Darmlähmung aufgrund einer neurogenen Entleerungsstörung vor, muss der Darm regelmäßig digital, d. h. mit dem Finger, ausgeräumt werden. Diese Maßnahme bedeutet für den Patienten je nach Alter und Entwicklung eine sehr unangenehme und peinliche Situation, die sehr vorsichtig und mit viel Einfühlungsvermögen durchgeführt werden muss.

Vorbereitung ▶ Material. Diese Utensilien werden benötigt: ● Unterlage, Zellstoff, Windel ● Schutzhandschuhe und Fingerling ● Vaseline ● Abwurfsack

15.6 Pflegemaßnahmen

Tab. 15.9 Wirkungen von Laxanzien. Substanzen und Handelsnamen

spezifische Wirkungen

Besonderheiten

Gleitmittel: Glyzerin, dickflüssiges Paraffin (z. B. Agarol)

machen den Stuhl gleitfähiger, sodass die Defäkation erleichtert wird

Längerer Gebrauch von Paraffin verhindert die Resorption von fettlöslichen Vitaminen; Glyzerin hat eine den Darm reizende Wirkung.



osmotische Mittel: salinische Abführmittel: Karlsbader Salz, Glaubersalz ● Zucker und Zuckeralkohole: Milchzucker, Laktose, z. B. Mannitol, Sorbitol

halten die Wassermenge im Darm zurück, sodass das Darmvolumen gesteigert und die Peristaltik verstärkt wird

Durch Zitronenzusatz schmecken salinische Mittel nicht so bitter; bei zu langem Gebrauch und zu hoher Dosierung kommt es zu Störungen im Wasser- und Salzhaushalt.

Quellstoffe: Weizenkleie, Leinsamen, Flohsamenschalen

sind unverdauliche Kohlenhydrate, die zu einer Vergrößerung der Stuhlmenge führen

Es muss reichlich Flüssigkeit aufgenommen werden, damit die Fasern quellen können.

darmanregende Mittel: Sennesblättertee, Faulbaumrinde, Rhabarberwurzel, Aloe

erhöhen die Darmperistaltik durch eine reizende Wirkung auf die Darmschleimhaut oder die glatte Muskulatur

Bei unsachgemäßer Zubereitung können massive Koliken hervorgerufen werden; Sennesblättertee muss deshalb mit kaltem Wasser aufgegossen werden. Merke: Keine Verabreichung bei Kindern unter 12 Jahren bzw. nur in Absprache mit dem Arzt.

stuhlaufweichende Mittel: z. B. Florisan

setzen die Oberflächenspannung herab und führen zu einer Veränderung der Stuhlkonsistenz

Dragees werden erst im Dünndarm aufgelöst, sollten nicht mit Milch oder Antazida eingenommen werden.

Durchführung Die digitale Ausräumung des Darmes wird folgendermaßen durchgeführt: ● Das Kind wird je nach Zustand und Situation informiert, damit es diese unangenehme Pflegesituation besser erträgt. ● Anschließend wird es auf die linke Seite am Bettrand gelagert. Steht für Kinder ein Spezialkissen zur Verfügung, um das Gesäß erhöht zu lagern, kann das digitale Ausräumen in Rückenlage erfolgen. Durch Heranziehen der Beine kann die Bauchpresse unterstützt werden. ● Ein Fingerling wird über den Handschuh gestreift, mit Vaseline gleitfähig gemacht und der Finger behutsam in den Anus eingeführt. ● Danach sollte die Darmwand zirkulär mit dem Finger stimuliert werden, um die Kotballen zu lockern (▶ Abb. 15.26). Sie müssen dann vorsichtig mit dem Finger ausgeräumt werden. Große Kotballen können evtl. mit zwei Fingern entfernt bzw. geteilt werden.

Abb. 15.26 Digitale Ausräumung. Die Darmwand wird zirkulär mit dem Finger stimuliert.





Der Analbereich wird danach gereinigt und das Kind wieder in eine bequeme Lage gebracht. Anschließend erfolgt die Dokumentation der Stuhlbeschaffenheit.

Merke

H ●

Die Ausräumung kann sehr schmerzhaft sein, sofern die Sensibilität erhalten ist.

nische, thermische und chemisch-osmotische Faktoren hervorgerufen wird. ▶ Mechanische Wirkung. Sie erfolgt durch: ● Einführen des Darmrohres ● Flüssigkeitsmenge ● Druck der einlaufenden Flüssigkeit, die von der Höhe des Beutelsystems abhängig ist

Praxistipp Pflege

15.6.4 Einläufe Mithilfe von Flüssigkeiten, die in den Darm eingebracht werden, erfolgen Entleerung und Reinigung des Rektums bzw. des Kolons. Sie dienen nach ärztlicher Anordnung der Vorbereitung zur Therapie und Diagnostik ▶ Einlaufarten. Je nach Indikation stehen verschiedene Methoden zur Verfügung, um die gewünschten Ergebnisse zu erzielen: ● Einmalklistiere, d. h. Klysma sowie Mikroklist für Säuglinge und Kleinkinder ● Reinigungseinlauf ● Peristeen Anale Irrigation ● Hebe-Senk- oder Schaukeleinlauf ● hoher Einlauf ● medikamentöser Einlauf ● Verabreichung von Rektiolen ● Kontrastmitteleinlauf ● rektale Darmspülung ● orthograde Darmspülung ▶ Wirkprinzipien der Einläufe. Einläufe und Darmspülungen üben eine Reizwirkung auf die Darmschleimhaut sowie die Darmperistaltik aus, was durch mecha-

Z ●

Je größer das Darmrohr, je höher der aufgehängte Beutel, je umfangreicher die Flüssigkeitsmenge, desto stärker ist der Reiz auf die Darmschleimhaut und die Peristaltik. Entsprechende Vorgaben müssen eingehalten werden, um Komplikationen zu vermeiden.

▶ Thermische Wirkung. Der Reiz wird durch die Temperatur der Spüllösung hervorgerufen: ● Die optimale Temperatur beträgt 37 °C, da dies der Körperkerntemperatur entspricht. ● Durch eine kühlere Flüssigkeit (35 – 36 °C) wird der Reiz erhöht, aber die Gefahr der Auskühlung verstärkt.

Merke

H ●

Eine Temperatur über 37 °C kann zu Schleimhautverbrühungen führen.

15

▶ Chemisch-osmotische Wirkung. Durch chemische Zusätze können je nach Art und Konzentration bestimmte Wir-

7

Ausscheiden kungen auf die Darmschleimhaut und Darmperistaltik ausgeübt werden: ● Fertigpräparate auf salinischer Basis, z. B. Klysmen oder hyperosmolare Lösungen, haben eine flüssigkeitsentziehende Wirkung. ● Kamillosan-Lösung wirkt entzündungshemmend. ● Glyzerin hat eine darmreizende Wirkung, die genaue Dosierung muss daher nach ärztlicher Anordnung erfolgen.

Merke

H ●

Bei Säuglingen und Kleinkindern darf nur eine physiologische Spüllösung, z. B. 0,9 %ige Kochsalzlösung, verwendet werden, um eine Wasserintoxikation zu vermeiden.

▶ Gefahren bei rektalen Applikationen. Diese sind u. a.: ● Wasserintoxikation bei Säuglingen und Kleinkindern durch nicht isotone Flüssigkeiten ● Auskühlung durch zu gering temperierte oder Verbrühung durch zu hoch temperierte Spüllösung ● Belastung des Kreislaufes ● Erbrechen ● Perforation des Darmes ▶ Kontraindikationen. Einläufe dürfen nicht durchgeführt werden: ● bei Frühschwangerschaft, drohender Fehl- oder Frühgeburt ● bei Erbrechen oder Bauchschmerzen unklarer Genese ● bei akuter Baucherkrankung, z. B. bei Peritonitis, akuter Appendizitis und nekrotisierender Enterokolitis ● nach Dickdarmoperationen

Praxistipp Pflege

Z ●

Ausflussrohr verstanden (▶ Abb. 15.27a). Es beruht meist auf salinischer Basis, d. h. einer hyperosmolaren Lösung, die den Einstrom von Flüssigkeit in den Darm fördert und somit zu einer Aufweichung und Gleitfähigkeit des Stuhles führt. Bei Kindern wird häufig nur ein halbes Klysma verordnet.

Merke

H ●

Klysmen auf salinischer Basis sollen laut Herstellerangaben nur bei Erwachsenen verwendet werden, da sie bei Kindern zu einer Elektrolytstörung führen können. Als Nebenwirkung kann eine Darmreizung entstehen.

▶ Mikroklist. Dies ist ebenfalls ein kleiner Einmaleinlauf, jedoch mit 5 ml Flüssigkeit, der sowohl bei Erwachsenen als auch bei Säuglingen und Kleinkindern angewendet werden darf. Er verursacht laut Herstellerfirma keine Schleimhautreizungen und wird nicht resorbiert (▶ Abb. 15.27b).

Merke

H ●

Bei Kindern unter 3 Jahren sollte nur die Hälfte der Flüssigkeitsmenge eines Mikroklists verabreicht und das Einflussrohr nur zur Hälfte eingeführt werden.

Indikationen Ein Klysma oder ein Mikroklist werden angewendet zur: ● raschen Entleerung des Enddarmes (z. B. vor Operationen, speziellen Untersuchungen und Entbindungen) ● Stuhlentleerung bei massiver Obstipation



postoperativen Anregung der Darmperistaltik

Vorbereitung Das Kind wird auf den kleinen Einlauf folgendermaßen vorbereitet: ● Es wird informiert, beruhigt und zur kooperativen Mitarbeit motiviert. ● Eine freie Toilette muss gewährleistet sein. ● Die Intimsphäre wird gewahrt, indem Besucher aus dem Zimmer gebeten und das Kind vor Blicken geschützt wird. ● Das Kind wird dem Verlauf des Kolons entsprechend auf die linke Seite gelagert. ● Das Klysma sollte körperwarm sein, evtl. muss es im Wasserbad leicht erwärmt werden. ▶ Material. Benötigt werden: Klysma oder Mikroklist nach ärztlicher Anordnung ● Schutzhandschuhe ● evtl. Bettschutz ● Vaseline ● Zellstoff ● evtl. Darmrohr und Klemme bei Verabreichung eines Klysmas ● Reinigungsutensilien ●

Durchführung eines kleinen Einlaufs Der kleine Einlauf wird folgendermaßen durchgeführt: ● Schutzhandschuhe anziehen. ● Die Verschlusskappe wird entfernt und das Ausflussrohr mittels Vaseline gleitfähig gemacht, ohne die Öffnung zu verschließen. Mithilfe eines ausgedrückten Tropfens kann auch die Spitze des Mikroklists befeuchtet werden. ● Anschließend wird das Ausflussrohr unter leichten Drehbewegungen eingeführt.

Bei Einläufen ist zu berücksichtigen: ● Einläufe stets vor den Mahlzeiten durchführen, um Erbrechen zu vermeiden. ● Darm- oder Einflussrohr nie gegen Widerstand einführen, da Verletzungsgefahr besteht. ● Einläufe immer im Liegen durchführen, da die Gefahr einer erhöhten Kreislaufbelastung besteht. ● Für eine freie Toilette sorgen.

15

Verabreichung eines Klysmas oder Mikroklists ▶ Klysma. Darunter wird ein gebrauchsfertiger kleiner Einlauf mit 100 – 300 ml Flüssigkeit in einem Plastikbehältnis mit

388

Abb. 15.27 Klistiere. a Klysma, (Abb. aus: Köther I. Altenpflege. Thieme; 2016) b Mikroklist. (Abb. aus: Köther I. Altenpflege. Thieme; 2016)

15.6 Pflegemaßnahmen ●



Soll die Flüssigkeit eines Klysmas möglichst hoch in den Darm gelangen, kann dies mithilfe eines Darmrohres erfolgen. Die angewärmte Flüssigkeit wird durch kräftiges Zusammendrücken der Tube in das Rektum eingebracht. Je nach Alter des Kindes kann es aufgefordert werden, den Schließmuskel leicht zusammenzupressen, damit die Flüssigkeit im Darm gehalten wird. Ist es dazu nicht in der Lage, werden die Gesäßhälften von der Pflegefachkraft leicht zusammengehalten, während das Ausflussrohr bei zusammengedrückter Tube entfernt wird.

30 – 50 cm

Abb. 15.28 Materialien für einen Reinigungseinlauf. Anstelle des gebrauchsfertigen Beutels kann ein Irrigator mit entsprechender Flüssigkeit verwendet werden. (Foto: T. Stephan, Thieme)

Nachsorge Das Kind wird aufgefordert, die Flüssigkeit für ca. 5 – 10 Minuten einzuhalten, damit sie auch die gewünschte Wirkung entfalten kann. Bei Säuglingen werden die Gesäßhälften für kurze Zeit zusammengehalten. Die Pflegefachkraft muss sich vom Erfolg des Klysmas überzeugen und die Maßnahme sowie das Ergebnis dokumentieren.

Reinigungseinlauf Der Reinigungseinlauf dient der Reinigung des Darmes und zur Anregung der Darmperistaltik. Durch chemische bzw. osmotische, thermische und mechanische Reize kann die Wirkung eines Reinigungseinlaufes intensiviert werden.

Indikationen Indikationen für einen Reinigungseinlauf sind: ● hartnäckige Obstipationen ● Untersuchungen und kleine Operationen am Magen-Darm-Trakt ● evtl. zur Geburtsvorbereitung ● vor einem Kontrastmitteleinlauf

Vorbereitung Die Vorbereitung zum Reinigungseinlauf erfolgt wie bei einem Klysma oder Mikroklist. ▶ Material. Folgende Utensilien braucht die Pflegefachkraft (▶ Abb. 15.28): ● Bettschutz, Zellstoff ● angewärmte Spülflüssigkeit nach ärztlicher Anordnung (bei Früh- und Neugeborenen: z. B. Adapter mit Spritze) ● Darmrohr ● Vaseline und evtl. Spatel ● Schutzhandschuhe ● Abwurfmöglichkeit ▶ Flüssigkeitsmenge. Benötigt werden für: ● Frühgeborene: nur wenige Milliliter ● Säuglinge: 30 – 50 ml ● Kleinkinder: 100 – 300 ml

● ●

Abb. 15.29 Reinigungseinlauf. Empfohlene Höhe des Beutels oder des Irrigators.

Schulkinder: 300 – 500 ml Erwachsene: über 1000 ml

▶ Spüllösungen. Bei Säuglingen wird eine isotone Lösung verwendet, z. B. 0,9 % ige Kochsalz-(NaCl-) oder Ringer-Lösung, um Elektrolytverschiebungen zu vermeiden. Für Früh- und Neugeborene kann auch Muttermilch verwendet werden. Die Flüssigkeitsmenge einschließlich der Zusätze erfolgt nach ärztlicher Anordnung. Als Zusätze können Kamillosan-Konzentrat 0,5 % oder Glyzerin angeordnet werden. Da der Hersteller von Glyzerin keine Angaben zur Verdünnung macht, kann nur eine Verfahrensweise aus der Praxis empfohlen werden: ● Säuglinge (3500 g): 10 ml NaCl 0,9 % und 2 ml Glyzerol 85 % ● Kleinkinder: 200 ml NaCl 0,9 % und 10–20 ml Glyzerol 85 % ● größere Kinder: 500 ml NaCl 0,9 % und 50 ml Glyzerol 85 %

Merke







Merke

H ●

Da Glyzerin eine darmreizende Wirkung hat, darf die Dosierung nicht zu hoch gewählt werden. Es gilt stets die ärztliche Anordnung.

H ●

Je höher die Flüssigkeit gehalten wird, desto intensiver ist der Reiz, was zu Schmerzen und Übelkeit führen kann.



Kamillosan-Konzentrat soll bei Kindern zur inneren Anwendung laut Herstellerhinweis folgendermaßen verdünnt werden: Auf 100 ml warmes Wasser kommen 2,5 ml Kamillosan-Konzentrat. ●

Durchführung ▶ Kinder und Jugendliche. Folgendes ist zu beachten: ● Die auf 37 °C erwärmte Flüssigkeit wird in das Beutelsystem eingefüllt, sofern keine gebrauchsfertigen Beutel verwendet werden. Das Schlauchsystem wird anschließend luftleer gemacht und abgeklemmt. ● Auf das Darmrohr wird dünn Vaseline aufgetragen, ohne die Löcher zu verstopfen.

Das Darmrohr wird anschließend unter leicht drehenden Bewegungen, nie gegen Widerstand, in den Darm eingeführt. Das Ende des Darmrohres sollte sich in der Nierenschale befinden, um evtl. Verunreinigungen des Bettes zu vermeiden. Anschließend wird das Darmrohr mit dem Beutel verbunden und die Klemme langsam geöffnet. Die Flüssigkeit sollte sich nicht höher als ca. 30 – 50 cm (max. 60 cm) über dem Kind bzw. dem Jugendlichen befinden, um keinen zu starken Reiz zu erzeugen (▶ Abb. 15.29).



Während des Einlaufes muss das Kind gut beobachtet werden, da dies eine erhöhte Kreislaufbelastung darstellt. Klagt das Kind über Druckgefühl, muss der Beutel kurz gesenkt und evtl. die Lage des Darmrohres geringfügig verändert werden. Tritt keine Besserung ein oder klagt das Kind über Schmerzen, muss der Vorgang abgebrochen und der Arzt anschließend informiert werden. Treten keine Auffälligkeiten auf, lässt man die Flüssigkeit langsam, so wie das Kind es verträgt, einlaufen, während das Kind gebeten wird, mit geöffnetem Mund zu atmen, um ein Gegenpressen zu verhindern. Nachdem die Flüssigkeit eingelaufen ist, wird der Schlauch abgeklemmt, die Gesäßhälften leicht zusammengedrückt und das Darmrohr zügig entfernt.

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▶ Früh- und Neugeborene. Bei Früh- und Neugeborenen wird der Einlauf entweder vom Arzt oder von einer erfahrenen Pfle-

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Ausscheiden gefachkraft durchgeführt, da die Gefahr einer Darmperforation besteht. Anstelle des Darmrohres wird ein spezieller Adapter vorsichtig in den Anus eingeführt und wenige Milliliter einer angewärmten und physiologischen Flüssigkeit mithilfe einer Spritze langsam in den Darm eingebracht.





Das wiederverwendbare Material wird desinfiziert und bei Bedarf (nach Stuhlkontakt) sterilisiert. Einmalmaterial wird fachgerecht entsorgt.

Spezielle Einläufe

Nachsorge

Peristeen Anale Irrigation

Nach dem Einlauf sollte Folgendes beachtet werden: ● Das Kind wird aufgefordert, die Flüssigkeit möglichst lange, ca. 5 – 10 Minuten, einzuhalten, um eine gute Effektivität zu erreichen. ● Das Kind wird gesäubert, je nach Zustand wieder bequem gelagert und das Steckbecken bereitgestellt, sofern das Kind nicht auf die Toilette gehen kann oder darf. ● Der Raum wird gelüftet. ● Die Pflegefachkraft muss sich vom Erfolg des Einlaufes überzeugen und ihn anschließend dokumentieren. ● Das Neugeborene muss bezüglich der Ausscheidung, der Beschaffenheit des Abdomens sowie des Verhaltens sorgfältig beobachtet werden, um Auffälligkeiten umgehend zu erkennen und an den Arzt weiterzugeben.

Die Peristeen Anale Irrigation findet Anwendung bei Kindern mit chronischer Obstipation, z. B. bei Myelomeningozele. Das Prinzip dieses Einlaufs ist das Dehnen des Enddarmes, bevor die Flüssigkeit einläuft. Dadurch kann sich die Flüssigkeit zwischen Kotballen und Darmwand verteilen, sodass diese besser herausgespült werden können. Das fertige Set für die anale Irrigation besteht aus einem Wasserbeutel mit Deckel, einer Kontrolleinheit mit Einstellhebel zum Aufpumpen der Manschette sowie Einlaufen der Flüssigkeit und einem speziellen Darmrohr mit einer aufblasbaren Manschette (▶ Abb. 15.30). Das genaue Vorgehen ist den Herstellerangaben zu entnehmen.

Abb. 15.30 Material für Peristeen Anale Irrigation. Komplettset. (Abb. von: Coloplast GmbH)

Hebe-Senk- oder Schaukeleinlauf Eine Anregung der Peristaltik, z. B. postoperativ, kann durch wiederholtes Heben und Senken des Irrigators erzielt werden. Die Flüssigkeit läuft während des Hebens langsam in den Darm ein und durch Senken in den Irrigator zurück. Wird der Vorgang mehrmals wiederholt, wird von einem Hebe-Senk- oder Schaukeleinlauf gesprochen. Eine Übersicht über die Durchführung von weiteren speziellen Einläufen gibt ▶ Tab. 15.10.

Tab. 15.10 Spezielle Einläufe: hoher und Kontrastmitteleinlauf. hoher Einlauf

Kontrastmitteleinlauf

Begriffserklärung

Die Flüssigkeit soll mittels eines langen dünnen Darmrohres hoch in den Dickdarm möglichst bis zum Colon transversum gelangen. Ein hoher Einlauf ist kein Einlauf aus großer Höhe!

Mithilfe des einlaufenden Kontrastmittels in den Darm kann dieser mittels Röntgenstrahlen dargestellt werden; ein Kontrastmitteleinlauf wird vom Arzt durchgeführt.

Indikationen

● ● ●

Material

vor Kontrastmitteleinläufen vor Koloskopien und Operationen zur Lösung frischer Invaginationen

s. Reinigungseinlauf, zusätzlich: langes, dünnes Darmrohr ● doppelte Flüssigkeitsmenge

s. hoher Einlauf, zusätzlich: ● anstelle der Flüssigkeit Kontrastmittel, z. B. Bariumsulfatpräparat ● Irrigator mit Schlauchsystem und Y-Zwischenstück ● 2 Klemmen ● Ständer ● Auffanggefäß ● Polster zur Positionierung

s. Reinigungseinlauf Positionierung: Knie-Ellenbogen-Lage oder linke Seitenlage





Vorbereitung

Darstellung des Kolons auf dem Röntgenbild



● ●

Durchführung und Nachsorge



15 ●



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Das Darmrohr wird unter Einlaufen der Flüssigkeit aus geringer Höhe langsam vorgeschoben. Bei einer frischen Invagination erfolgt die Durchführung durch einen Arzt unter Röntgenkontrolle. Weiteres Vorgehen und Nachsorge wie beim Reinigungseinlauf. Die Kinder müssen gut beobachtet werden.

● ●





s. Reinigungseinlauf Kinder erhalten zur Vorbereitung einen Reinigungseinlauf Kind nüchtern lassen Positionierung: das Gesäß des Kindes wird auf einem Polster erhöht gelagert s. Reinigungseinlauf Unter Anweisung des Arztes wird das Einfließen des Kontrastmittels von der Pflegefachkraft reguliert, indem der zuführende und wegführende Schlauch abwechselnd geöffnet bzw. geschlossen wird. Danach wird das Kind sofort auf die Toilette geschickt. Anschließend Kontrolle der Ausscheidung, da Obstipationsgefahr besteht.

15.6 Pflegemaßnahmen

Praxistipp Pflege

Z ●

Beim hohen Einlauf kann auch ohne Knie-Ellenbogen-Lage die Flüssigkeit höher in das Darmlumen gelangen, indem der Patient auf die rechte Seite gedreht wird, nachdem die Hälfte der Flüssigkeit eingelaufen ist. Während des Drehens wird das Darmrohr abgeklemmt und festgehalten.

Medikamentöser Einlauf Der medikamentöse Einlauf dient der Medikamentenverabreichung. Bei einer Hyperkaliämie infolge Niereninsuffizienz kann ein Resonium-A-Einlauf angeordnet werden. Das Prinzip beruht auf einem Ionenaustausch, indem über die Darmschleimhaut Natrium- gegen Kaliumionen ausgetauscht werden. Das Medikament wird nach einem Reinigungseinlauf über ein dünnes Darmrohr verabreicht und nach ärztlicher Zeitangabe mittels einer Darmspülung entfernt.

Verabreichung von Rektiolen Bei Rektiolen handelt es sich um gebrauchsfertige Spezialapplikatoren mit einem entsprechenden medikamentösen Wirkstoff, die wie ein Mikroklist verabreicht werden (S. 388). ▶ Indikation. Rektiolen werden häufig zur Unterbrechung eines Krampfanfalles verordnet, z. B. Chloralhydrat-Rektiole.

Verabreichung von Suppositorien Definition

L ●

Ein Suppositorium ist ein Zäpfchen, das rektal in den Darm appliziert wird.

Die feste oder halbfeste Grundmasse schmilzt bei Körpertemperatur und gibt das darin enthaltene Medikament frei, das von der Darmschleimhaut resorbiert wird. ▶ Indikation. Ein Zäpfchen wird bei folgenden Indikationen appliziert: ● Darmentleerung vor bestimmten Operationen und Darmspiegelungen ● Abführen bei leichter Verstopfung ● schonende Verabreichung von Medikamenten und schnelle Wirkung bei Schmerzen, Fieber und Atemnot, z. B. Pseudokrupp

Merke

H ●

Die Dosierung muss beachtet werden, da Suppositorien in unterschiedlicher Konzentration vorliegen. Häufig wird auch ein halbes Suppositorium verordnet, das zur besseren Dosierung längs durchgeschnitten werden sollte.

Klemme offen

▶ Durchführung. Ein Zäpfchen wird wie folgt appliziert: ● Mit Schutzhandschuhen und einem Zellstofftupfer wird es in das Rektum eingeführt. ● Anschließend werden die Gesäßhälften zusammengedrückt und das Kind motiviert, das Zäpfchen einzubehalten; bei Säuglingen müssen die Gesäßhälften länger zusammengehalten werden.

Klemme geschlossen

Abb. 15.31 Durchführung der rektalen Darmspülung.



15.6.5 Darmspülungen Der Darm wird mithilfe großer Flüssigkeitsmengen so lange gespült, bis die aus dem Darm austretende Flüssigkeit klar ist. ▶ Indikationen. Darmspülungen werden nach ärztlicher Anordnung zur Vorbereitung und Reinigung vor Darmoperationen, speziellen Röntgenuntersuchungen und nach Vergiftungen durchgeführt. ▶ Arten. Es wird zwischen der rektalen und der orthograden Darmspülung unterschieden.

Rektale Darmspülung Die Flüssigkeitsmenge gelangt mittels eines Darmrohres in den Darm, der so lange gespült wird, bis die austretende Flüssigkeit klar und sauber ist. Die Darmspülung erfolgt nach einem vorher durchgeführten Reinigungseinlauf.

Vorbereitung ▶ Material. Zusätzlich zum üblichen Material, s. Reinigungseinlauf (S. 389), werden benötigt: ● größere Flüssigkeitsmengen nach Anordnung des Arztes, bei Erwachsenen ca. 5 Liter ● Irrigator und Y-Verbindungsstück ● zusätzliche Klemme ● Auffanggefäß

Durchführung Der Beginn der Durchführung entspricht einem Reinigungseinlauf, danach wird folgendermaßen vorgegangen: ● Das Y-Verbindungsstück wird mit dem Darmrohr verbunden.



Durch Öffnen der Klemme am zuführenden Schlauch gelangen kleine Flüssigkeitsmengen in den Darm. Der zuführende Schlauch wird danach abgeklemmt und der abführende geöffnet, damit die Flüssigkeit wieder aus dem Darm austreten kann (▶ Abb. 15.31). Der Spülvorgang wird so lange wiederholt, bis sich keine Stuhlreste mehr in der Flüssigkeit befinden.

Nachsorge Das Kind wird für sein kooperatives Verhalten gelobt und hinsichtlich Kreislaufveränderungen beobachtet. Es erhält Hilfestellungen zur Reinigung des Gesäßes und zur bequemen Positionierung. Das Material wird anschließend fachgerecht entsorgt und der Raum gelüftet.

Orthograde Darmspülung Definition

L ●

Bei der orthograden Darmspülung handelt es sich um eine Spülung des Darmes, indem die Flüssigkeit oral aufgenommen wird. Dies kann mithilfe einer Magensonde erfolgen, die isotone Flüssigkeit kann vom Patienten auch getrunken werden.

Sie dient der Vorbereitung für Untersuchungen und Operationen im Bereich des Dünn- und Dickdarmes, z. B. KolonConduit, MAINZ-Pouch (S. 657) oder Mitrofanoff-Stoma. Das Spülen des Darmes erfolgt bei der orthograden Darmspülung über den Magen oder das Duodenum, indem die isotone Elektrolytlösung mittels einer Magen- bzw. Duodenalsonde verabreicht wird. Ältere Kinder, Jugendliche

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1

Ausscheiden und Erwachsene können die Flüssigkeitsmengen auch trinken. Die Flüssigkeitsaufnahme muss hintereinander in einem bestimmten Zeitabschnitt erfolgen, damit der Darm schnell durchgespült wird, ohne dass es zu einer Resorption der Elektrolytlösung kommt. Als Richtwerte gelten: ● Jugendliche und Erwachsene: 1 Liter Flüssigkeit pro Stunde ● jüngere Kinder: ca. 1 Liter innerhalb von 2 Stunden Es besteht auch die Möglichkeit, die Spülmenge zu halbieren, sodass sie an 2 aufeinanderfolgenden Tagen verabreicht wird, um das Kind nicht übermäßig zu belasten. Vor, während und nach einer orthograden Darmspülung müssen Kontrollen des Elektrolyt- und Säure-BasenHaushaltes durchgeführt werden.

Merke

H ●

Ein langsames Einlaufen der Flüssigkeit kann durch Resorption über den Darm zu schwerwiegenden Elektrolytverschiebungen und Kreislaufproblemen führen.

Vorteile der orthograden Darmspülung sind: ● Das Kind kann bis zur Spülung normale Kost zu sich nehmen. ● Die Darmreinigung hat eine gute Effektivität bei kurzer Dauer der Durchführung. ● Bei bakteriologischen Untersuchungen wurde eine Keimreduzierung beobachtet.

Vorbereitung Eine Darmspülung wird folgendermaßen vorbereitet: ● Kind und Eltern werden eingehend über die Maßnahme informiert, z. B. über Ernährungsvorschriften; vgl. Kolon-Konduit (S. 656). ● Elektrolytgleichgewicht und SäureBasen-Haushalt werden durch eine Blutentnahme kontrolliert. ● Das Kind wird vor der Spülung gewogen, um nach einer orthograden Darmspülung eine Flüssigkeitsverschiebung erkennen zu können.

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392

▶ Material. Diese Utensilien werden benötigt: ● Material zum Legen einer Magensonde ● körperwarme Ringer-Lösung mit Infusionssystem oder aber eine isotone Elektrolytlösung, z. B. Oralav-Lösung, die nach ärztlicher Anordnung getrunken werden kann

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Bettschutz Toilettenstuhl (oder für freie Toilette sorgen) evtl. Darmrohr Blutdruckmessgerät und Überwachungsblatt

▶ Flüssigkeitsmenge. Sie ist altersabhängig: ● Kleinkind: ca. 2,5 – 3 Liter ● Schulkind: ca. 4 – 6 Liter ● Erwachsene: ca. 8 – 12 Liter

Merke

H ●

Bei Kindern richtet sich die Flüssigkeitsmenge nach dem Gewicht und wird ärztlich angeordnet.

Durchführung Die orthograde Darmspülung wird folgendermaßen durchgeführt: ● Es wird eine Magensonde gelegt (S. 356). ● Das Kind wird in eine sitzende Position gebracht und ein Bettschutz untergelegt. Die Flüssigkeit lässt man anfangs langsam einlaufen und beobachtet das Verhalten des Kindes. Durch die großen Flüssigkeitsmengen besteht die Gefahr des Erbrechens mit anschließender Aspiration. Kinder dürfen deshalb während der orthograden Darmspülung nicht allein gelassen und müssen bezüglich Übelkeit, Erbrechen und einem geblähten Abdomen beobachtet werden. Tritt kein Erbrechen auf und klagt das Kind nicht über Übelkeit, kann das Einlaufen schneller erfolgen, sodass bei älteren Kindern bzw. Jugendlichen 2 Liter in ca. 2 – 3 Stunden einlaufen können. ● Intensives Beschäftigen und Ablenken der Kinder können häufig Erbrechen verhindern. ● Ein Darmrohr kann gelegt werden, wenn nach ca. 0,5 – 1 Liter eingelaufener Flüssigkeit noch kein Stuhl entleert wurde. ● Puls und Blutdruck werden halbstündlich kontrolliert. ● Die Ein- und Ausfuhrmenge sollten, soweit möglich, bilanziert werden. ● Die Spülung kann beendet werden, wenn klare Flüssigkeit aus dem Darm entleert wird.

Nachsorge Bei der Nachbereitung ist Folgendes zu beachten: ● Die Magensonde wird im geschlossenen Zustand gezogen. ● Das Kind wird gewogen und evtl. wird eine Flüssigkeitsbilanz erstellt. ● Danach darf das Kind bis zum Operationstermin oral nur Tee sowie eine Infusionstherapie erhalten. ● Milch darf nicht verabreicht werden, da sie einen Film auf der Darmschleimhaut bildet.

15.6.6 Stuhluntersuchungen Bei den Stuhluntersuchungen werden unterschieden: ● makroskopische Untersuchungen (der Stuhl wird auf Parasiten oder Fremdkörper untersucht, die das Kind evtl. verschluckt hat) ● mikroskopische Untersuchungen (z. B. Untersuchung auf pathogene Keime, Nachweis von Wurmeiern) ● chemische Untersuchungen (z. B. Nachweis von okkultem Blut)

Untersuchung auf Enteritisbakterien Bei Durchfallerkrankungen kann der Nachweis bakterieller Enteritiserreger, wie Salmonellen, Shigellen, Campylobacter oder Yersinien, erfolgen. Bei einer Appendizitis wird häufig eine Untersuchung auf Yersinien durchgeführt. Zum Nachweis bestehender Infektionen werden i. d. R. 3 Stuhluntersuchungen aus verschiedenen Entleerungsvorgängen benötigt.

Durchführung Der Stuhl wird in ein sauberes Gefäß abgesetzt und anschließend in ein spezielles Stuhlröhrchen mit 5 ml Cary-Blair-Transportmedium gegeben (▶ Abb. 15.32). Es genügt eine haselnussgroße Stuhlprobe oder 1 – 2 ml des flüssigen Stuhls, der bevorzugt von dem Bereich abgenommen werden sollte, der Blut- und Schleimauflagen aufweist. Bei festem Stuhl werden aus der Tiefe der Stuhlwalze (nicht von der Oberfläche) 2 bohnengroße Mengen entnommen.

15.6 Pflegemaßnahmen

3

2

1

Nachweis auf Toxine und Wurmteile Durchführung Eine haselnussgroße Stuhlprobe wird in ein Stuhlröhrchen ohne Transportmedium gegeben und an das Labor weitergeleitet.

Merke

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Je nach Fragestellung werden ggf. mehrere Transportgefäße verwendet.

Nachweis von okkultem Blut Abb. 15.32 Stuhlröhrchen. Ohne Transportmedium für Toxin- und Antigennachweis sowie Wurmteile (1), mit 10 ml SAFFixierlösung für Wurmeiner (2), mit CaryBlair-Transportmedium für den Nachweis von bakteriellen Enteritiserregern (3). (Foto: T. Stephan, Thieme)

Nachweis auf Wurmeier

Durchführung

Durchführung Sie können in einer haselnussgroßen Stuhlrobe nachgewiesen werden. Die Stuhlprobe wird in ein spezielles Stuhlröhrchen mit 10 ml SAF-Fixierlösung gegeben und an das Labor weitergeleitet (▶ Abb. 15.32). Die Lagerung der Stuhlröhrchen sollte lichtgeschützt bei Raumtemperatur erfolgen.

Merke

Die Untersuchung dient dem Nachweis von verstecktem Blut im Stuhl. Sie wird durchgeführt, um diskrete intestinale Blutungen nachzuweisen, die mit dem Auge nicht zu erkennen sind. Zur Verfügung steht z. B. der Hämoccult-Test oder HemoFec-Test. Ursachen von okkultem Blut können Polypen, Hämorrhoiden, chronisch-entzündliche Darmerkrankungen und Tumoren sein.

H ●

Fixierlösung ist gesundheitsschädlich! Es sind irreversible Schäden und Sensibilisierung durch Hautkontakt möglich. Schutzhandschuhe tragen!

Meist wird der Test mithilfe von 3 Testbriefchen an 3 aufeinanderfolgenden Tagen durchgeführt (▶ Abb. 15.33). Jede der 3 Stuhlproben wird dann auf okkultes Blut kontrolliert, indem an 2 oder 3 verschiedenen Stellen jeder Stuhlportion mit jeweils einem neuen Spatel ein linsengroßes Stück auf einem getrennten Testfeld des Briefchens aufgestrichen wird. Auf der Station oder in der Arztpraxis wird die Rückseite des Briefchens geöffnet und eine Entwicklerlösung auf den getrockneten Stuhl aufgebracht. Der Test wird nach ca. 30 Sekunden abgelesen. Eine Blaufärbung zeigt an, dass okkultes Blut vorhanden ist.

Abb. 15.33 Testbrief zum Nachweis von okkultem Blut. (Foto: T. Stephan, Thieme)

Um das Testergebnis nicht zu verfälschen, wird geraten, 3 Tage vor dem Testergebnis bis zum Testende eine ballaststoffreiche Ernährung mit Gemüse, Salat und Vollkornbrot zu sich zu nehmen. Eine orale Zufuhr von Vitamin C soll unterbleiben, da dies zu einem falsch negativen Testergebnis führen kann. Je nach Test sollte evtl. auf rohes Fleisch oder Wurstwaren verzichtet werden, da durch den tierischen Blutfarbstoff der Test falsch positiv ausfallen kann. Auch Medikamente (z. B. Eisenpräparate) können zu einer Verfälschung des Tests führen.

Merke

H ●

Beim Umgang mit Stuhl müssen Schutzhandschuhe zum Eigenschutz und zur Vermeidung einer Kreuzinfektion getragen werden.

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3

Ausscheiden

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Kapitel 16 Sich bewegen

16.1

Bedeutung

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16.2

Beeinflussende Faktoren

396

16.3

Beobachten und Beurteilen

396

16.4

Pflegemaßnahmen

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Sich bewegen

16 Sich bewegen 16

Andrea Eichler

16.1 Bedeutung Die ersten Lebensjahre eines Kindes sind gekennzeichnet durch die rasche Entwicklung seiner Bewegungsfähigkeit. Es lernt, sich zu drehen, sich aufzurichten, mit einem Löffel zu essen, sich an- und auszuziehen, sich fortzubewegen und komplexe Bewegungsabläufe zu koordinieren. Die Sinnesorgane sind in diesen Prozessen eng miteinander verbunden und koordinieren die Bewegungen.

Merke

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Die Bewegungsentwicklung von Kindern in den ersten Lebensjahren gewinnt in der Öffentlichkeit zunehmend an Bedeutung, da Bewegungs- und Wahrnehmungsstörungen in den letzten Jahren zugenommen haben.

Die Entwicklung einer gesunden Bewegungsfähigkeit hat wesentliche Bedeutung für die sensomotorische und geistigsprachliche Entwicklung sowie für die Körperwahrnehmung. Diese Faktoren bilden die Voraussetzung für ein erfolgreiches Lernen in der Schule.

16.2 Beeinflussende Faktoren Die Entwicklung einer optimalen Bewegungsfähigkeit ist von verschiedenen Faktoren abhängig, auf die nachfolgend eingegangen wird.

16.2.1 Körperliche Faktoren Nicht jedes Kind hat die Möglichkeit, seine Bewegungsfähigkeit optimal zu entwickeln. ● Akute Erkrankungen (z. B. Verstauchungen, Prellungen, Zerrungen, Frakturen) können das Kind vorübergehend in der Bewegungsfähigkeit einschränken. ● Chronische Erkrankungen (z. B. Entzündungen aus dem rheumatischen Formenkreis) können dazu führen, dass das Kind Aktivitäten nicht selbstständig durchführen kann. ● Verkürzungen von Muskeln, Sehnen oder Bändern (Kontrakturen) benötigen häufig therapeutische Maßnahmen. ● Zerebrale Bewegungsstörungen sind häufig angeboren, durch Sauerstoffmangel oder andere (Geburts-)Trauma-

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ta oder Erkrankungen des zentralen Nervensystems erworben; diese Kinder sind oft auf eine permanente Unterstützung angewiesen. Erkrankungen der Lunge (z. B. Mukoviszidose) oder des Herz-Kreislauf-Systems (z. B. angeborene Herzfehler) können ebenfalls die Leistungsfähigkeit drastisch herabsetzen.

16.2.2 Psychische Faktoren In Zeiten von Freude, Wohlbefinden und Gesundheit sind Kinder aktiv und in Bewegung. Phasen von Trauer, Angst oder Krankheit sind verbunden mit einem Rückzug in die Bewegungslosigkeit (Veränderter Habitus: z. B. herabhängende Schultern, reduzierter Muskeltonus bei Depression).

16.2.3 Umgebungsabhängige Faktoren Dem Bewegungsdrang eines Kindes steht häufig nur ein eingeschränkter Bewegungsraum zur Verfügung. In den Städten finden sich nur selten (saubere) Spielplätze, Kinderzimmer sind oft sehr klein. Zudem fördert eine intensive Mediennutzung (PC, TV, Smartphone) den Bewegungsmangel. Langeweile unterstützt dieses Verhalten zusätzlich. Eltern bieten hier oft kein hilfreiches Vorbild. Selbst kurze Strecken werden mit dem Auto zurückgelegt, fast immer werden Fahrstühle oder Rolltreppen genutzt. Hilfsmittel (z. B. Kinderautositze, Kinderwagen oder Hochstühle) bringen Kinder auf die Höhe der Erwachsenen, wo ihr Bewegungsspielraum eingeschränkt wird und überwacht werden muss.

Merke

H ●

Das Gesundheitsverhalten von Kindern ist wesentlich vom Verhalten ihrer Vorbilder, den Erwachsenen, abhängig.

16.2.4 Soziokulturelle Faktoren Je nach kulturellem und sozialem Hintergrund wird das Bewegungsverhalten unterschiedlich bewertet. In manchen Kulturen wird ein Säugling vorzugsweise am Körper getragen, in anderen – oft hoch entwickelten – Gesellschaften nur im Au-

to und „Maxi-Cosi“ transportiert. In vielen Kulturen sind manche Sportarten nicht für Mädchen und Jungen gleichermaßen zugänglich oder sind sehr kostspielig, sodass sie nur von wohlhabenden Familien ausgeführt werden können. Steigende Eintrittspreise für Sportstätten (z. B. öffentliche Schwimmbäder) unterstützen eine bewegungsarme Freizeitgestaltung bei benachteiligten Bevölkerungsschichten.

16.2.5 Beeinflussende Faktoren im Krankenhaus Jeder Aufenthalt im Krankenhaus bedeutet für das Kind eine große Belastung in einer unbekannten Situation. Operative Eingriffe, Schmerzen oder therapeutische Maßnahmen (z. B. Gipsverbände, Schienen, Bettruhe) fördern die Bewegungseinschränkung. Die Übernahme von Aktivitäten durch die Pflegenden, die das Kind noch selbst oder mit Unterstützung durchführen könnte, reduzieren die Bewegungsmöglichkeiten zusätzlich.

Eltern

a ●

Die Bewegungsförderung und Unterstützung des altersentsprechenden Bewegungsverhaltens sind wichtige präventive Maßnahmen. Pflegefachkräfte wirken hier bei der Elternanleitung und Aufklärung mit.

16.3 Beobachten und Beurteilen 16.3.1 Physiologische Entwicklung Bewegung ist die Grundlage für Leben, Gesundheit und Lernen. Die sensorischen und motorischen Entwicklungen unterstützten sich gegenseitig. Aktive Bewegung fördert die Aufnahme von Sinnesreizen, was wiederum aktive Bewegung fördert. Diese wechselseitige Beeinflussung ist die Grundlage für Wahrnehmung, d. h. die Fähigkeit, Sinnesreizen und Bewegungen eine Bedeutung zu geben. Ein Krankheitsgefühl entsteht häufig dann, wenn ein Mensch nicht in der Lage ist, mittels seiner eigenen Bewegung seine wichtigsten Lebens- und Lernaktivitäten selbst zu bewältigen. Ein Kind erlernt im Lauf der Jahre ein Bewegungsrepertoire,

16.3 Beobachten und Beurteilen mit dem es alle Alltagsaktivitäten meistert. Je breiter dieses Bewegungsrepertoire ist, desto eher lassen sich alternative Bewegungsabläufe finden, falls ein Aspekt der Bewegung nicht mehr möglich sein sollte.

Merke

H ●

Bewegungsmangel sowie ineffektive Bewegungsmuster haben Auswirkungen auf alle inneren Prozesse, die geistige Leistungsfähigkeit sowie auf die Entstehung chronischer Erkrankungen im Erwachsenenalter.

In den ersten Lebensjahren entwickelt sich das liegende Neugeborene zu einem Kind im aufrechten Stand und beginnt seine Aktivitäten zu benennen. Die Reihenfolge der erlernten Fähigkeiten kann von Kind zu Kind unterschiedlich sein.

Pränatale Entwicklung Die pränatale Entwicklung findet in 2 Phasen statt: ● embryonale Phase (umfasst die ersten 3 Entwicklungsmonate) ● fetale Phase Die pränatale Entwicklung kann durch verschiedene Faktoren positiv oder negativ beeinflusst werden. Hierunter fallen z. B. die Gesundheit der Mutter und Umwelteinflüsse. Die intrauterinen Vorgänge sind jedoch wesentlich komplexer. Jedes Gewebe, jede Struktur, jedes Organ hat vom Zeitpunkt seiner Entstehung an bereits eine festgelegte Eigenschaft mit einer daraus resultierenden Aufgabe, die über das gesamte Leben des Menschen bestehen bleibt. Das ungeborene Kind führt bereits alle Bewegungen aus, die zum Leben nach der Geburt notwendig sind. Es saugt am Daumen, schluckt, verdaut, scheidet aus. Es führt die Bewegung aus, die für die Atmung notwendig ist, es verändert seine Position. Seine Sinnesorgane nehmen Informationen auf. Es kann sehen, hören, schmecken, tasten und nimmt seine eigene Bewegung durch Spannungsveränderung in der Muskulatur wahr. Die Gebärmutterwand bietet den Widerstand, der dem Fetus Bewegung ermöglicht. Die wässrige Umgebung macht Bewegung leicht. Im weiteren Verlauf der Schwangerschaft passen Mutter und Kind ihre Bewegungen aneinander an. Dieser abgestimmte Bewegungsaustausch findet über einen langen Zeitraum statt. Er bildet das Fundament für die Kommunikation durch Kontakt und Bewegung nach der Geburt (Blechschmidt, 2008).

Bewegungsentwicklung vom Neugeborenen zum Kleinkind Durch die Geburt kommt es zu drastischen Veränderungen für das Neugeborene, was auch Auswirkungen auf die Körperwahrnehmung und Bewegungskontrolle hat: ● Die Gebärmutter, die die selbstständige Bewegung des Kindes für alle notwendigen Lebensaktivitäten ermöglicht hat, ist nicht mehr vorhanden. ● Die Umgebung ist vollständig verändert, die Schwerkraft wirkt. ● Die kurzen Arme und Beine des Kindes, mit denen es sich vor der Geburt in Bewegung bringen konnte, treffen auf keinen Widerstand mehr. In dieser neuen Umgebung muss das Kind nun lernen, lebensnotwendige Prozesse (Atmen, Trinken, Verdauen, Ausscheiden, Temperaturregulation) selbstständig durchzuführen. Der Körper muss in der Schwerkraft im Gleichgewicht gehalten und komplexe Bewegungsabläufe müssen koordiniert werden.

Merke

H ●

Die motorischen, emotionalen und kognitiven Entwicklungen des Kindes laufen gleichzeitig aber nicht linear ab. Insbesondere das erste Lebensjahr des Kindes ist geprägt von vielfältigen Veränderungen der Bewegungskontrolle bei den Alltagsaktivitäten.

Entwicklung der Motorik Kinder entwickeln sich nach einem gleichen Muster, aber in unterschiedlicher Geschwindigkeit. Die Meilensteine in der Bewegungsentwicklung eines Kindes (▶ Tab. 16.1) dienen daher nur als Anhaltspunkte.

Entstehung des Körperbildes Definition

L ●

Als Körperbild wird die Art und Weise beschrieben, wie ein Mensch sich selbst wahrnimmt.

Im Laufe der Entwicklung nimmt das Gehirn des Kindes eine Vielzahl von Sinneseindrücken und Bewegungserfahrungen auf und speichert diese. Durch die Integration dieser Informationen nimmt das Kind seinen Körper wahr und lernt sich immer besser kennen. Es richtet seine Aufmerksamkeit auf einzelne Körperteile und erfährt die Abgrenzung zwischen sei-

nem Körper und der Umgebung. Mit zunehmendem Alter schafft es sich ein Bild von dessen Aussehen und bildet eine Einstellung zu ihm aus. Erfahrungen, direkter Körperkontakt und Austausch mit Geschwistern und Erwachsenen sowie soziale und kulturelle Einflüsse prägen das Körperbild, das eine große Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung darstellt. Neurologische, psychiatrische oder sensomotorische Störungen können ebenso zu einer Veränderung des Körperbildes führen wie zerebrale Bewegungsstörungen oder Immobilität. Es sind somit insbesondere Menschen betroffen, die sich wenig oder gar nicht selbst bewegen können. Die Konzepte der Basalen Stimulation (S. 163), Sensorischen Integration und Kinaesthetics bietet hier Möglichkeiten an, um dem Verlust des Körperbildes entgegenzuwirken.

16

16.3.2 Abweichungen Manche Kinder entwickeln ihre motorischen Fähigkeiten im Vergleich zu gleichaltrigen Kindern langsamer und zeigen Schwächen in einzelnen Bewegungsabläufen. In anderen Bereichen zeigen sie eine normale Entwicklung. Andere entwickeln ihre motorischen Fähigkeiten unauffällig, verhalten sich jedoch ungeschickt: Sie zeigen Probleme bei der Kontrolle ihres Gleichgewichts, stürzen häufig, lassen oft Gegenstände fallen und haben Schwierigkeiten beim Lernen komplexer Bewegungsabläufe. Diese Auffälligkeiten können verschiedene Ursachen haben. Krankhafte Schädigungen oder Funktionsstörungen (insbesondere zerebrale oder spinale Störungen), Muskel- und Gelenkerkrankungen, aber auch Atmungs- und Kreislaufprobleme haben direkten Einfluss auf die Bewegungsfähigkeit. Auch die Körperproportionen spielen eine Rolle, z. B. laufen makrozephale Kinder häufig später. Darüber hinaus kann eine eingeschränkte Sinneswahrnehmung die Bewegungsentwicklung beeinträchtigen. Das gilt insbesondere für seh- oder hörbehinderte Kinder. Auch eine mangelnde Entwicklung kognitiver Fähigkeiten ist oft gekoppelt mit der unzureichenden Entwicklung der Bewegungsfähigkeit.

Zerebrale Bewegungsstörungen Definition

L ●

Als zerebrale Bewegungsstörung werden alle bleibenden sensomotorischen Störungen bezeichnet, die infolge einer (frühkindlichen) Hirnschädigung entstanden sind.

7

Sich bewegen

Tab. 16.1 Stufen der motorischen Entwicklung.

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398

Entwicklungsstufe

Bewegungsfähigkeit

Neugeborenes

Die aktive Anpassung einer Position ist nicht möglich. Position meist in Rückenlage, Kopf liegt häufig seitlich, Arme und Beine sind überwiegend gebeugt. Leichtes Anheben des Kopfes in Bauchlage durch Aufbau der Muskelspannung mit Armen und Beinen.

2.– 3. Monat

Bis zum 2. Lebensmonat ist die Motorik geprägt durch Reflexe (z. B. Greifreflex), dann freies Halten des Kopfes und Ellenbogenstütz. Beginn der Hand-Hand- und Hand-Auge-Koordination. Spiel mit den Händen (betrachten und in den Mund stecken). Dreht sich von der Rückenlage in Richtung Seitenlage.

4. Monat

Kontrollierter Ellenbogenstütz in der Bauchlage, Nutzen der Hände zum Spielen. In Rückenlage können die Beine so weit gebeugt werden, dass mit den Händen nach den Füßen gegriffen und diese zum Mund geführt werden können.

5. Monat

Drehen zu beiden Seiten und Überrollen in die Bauchlage ist möglich. Gewicht kann von der einen auf die andere Körperhälfte bewegt werden, um nach Spielzeug greifen. Entstehung eines klaren Körperbildes, beide Körperhälften bilden oben und unten im Körper.

7.– 9. Monat

Interesse an allem, was sich in der Umgebung befindet. Beine werden zur Gewichtsverlagerung und zum Positionswechsel genutzt. Robben in alle Richtungen. Drehen ins Sitzen. Verlagerung des Gewichts im Sitzen (hin und her). Bewegung über den Schrägsitz zum Langsitz zur Bauchlage. Beginnt, auf Händen und Knien vorwärts und rückwärts und von einer Seite zur anderen zu schaukeln. Die Gleichgewichtskontrolle wird erweitert, Beginn des Krabbelns (aufgrund des schweren Kopfes, Brustkorbs und leichteren Beckens gelegentlich rückwärts). Kann in verschiedenen Positionen im Gleichgewicht sein und sich an Gegenständen hochziehen. Die räumliche Wahrnehmung entwickelt sich.

10.– 12. Monat

In Position bewegen, durch Positionen vom Liegen oder Sitzen zum Stehen kommen, robben und krabbeln. Zur Gleichgewichtskontrolle im Stehen mit den Händen loslassen. An Möbeln entlang bewegen.

15.– 18. Monat

Freies Laufen, vom Stehen in die Hocke bewegen. Gegenstände auf dem Körper balancieren, auf den Boden legen, aufheben. Beginnt, die Treppe im Stehen hinaufzusteigen. Koordination und Differenzierung von Bewegungen verfeinern.

2.– 3. Lebensjahr

Rennen, Springen und Hüpfen. Erlernen neuer Bewegungsmuster. Auf einem Fuß das Gleichgewicht halten, auf Zehenspitzen gehen, Türen öffnen, Treppenstufen nach oben und unten gehen. Beginn, sich selbstständig anund auszuziehen. Gegenstände benutzen (z. B. Löffel, Zahnbürste). Einfache Puzzleteile zusammenstecken.

16.3 Beobachten und Beurteilen

Tab. 16.1 Fortsetzung

16

Entwicklungsstufe

Bewegungsfähigkeit

3. Lebensjahr

Rennen über eine Strecke von 15 m (ohne Sturz), Anlaufsprung, kann mit beiden Beinen von einer Treppenstufe abspringen. Stehen und Gleichgewicht halten mit geschlossenen Augen. Papier wird gefaltet, Kind kann von Becher zu Becher gießen, eine Schachtel öffnen und Gegenstände entnehmen. Es beginnt, Dreirad zu fahren, und kann eine Treppe hinuntergehen und dabei die Füße abwechselnd aufsetzen.

4. Lebensjahr

Hüpfen und Balancieren auf einem Bein, kann weit springen und eine längere Strecke rennen. Das Kind wäscht und trocknet sich die Hände ab, kann einen Verschluss aufschrauben, einen Schlüssel drehen und auf- und zu knöpfen. Beginnt ein Brot zu schmieren. Oben/unten und vorne/hinten können voneinander unterschieden werden.

5. Lebensjahr

Paralleles Aufstehen aus dem Sitzen. Kind kann Perlen in eine Flasche füllen. Schneidet mit einer Schere Formen aus und kann einen Faden in einer Nadel einfädeln. Komplexere Bewegungsabläufe wie Radfahren oder Schwimmen werden möglich.

Zerebrale Bewegungsstörungen können folgende Ursachen haben: ● Hirnblutung ● Hydrozephalus ● Hirntumor ● Sauerstoffmangel (z. B. durch Reanimation) ● Schädel-Hirn-Verletzung Die Betroffenen sind in ihrer motorischen Entwicklung sehr eingeschränkt. Sie bewegen sich ungeschickter, die Bewegungsabläufe wirken steif, überschießend und unsicher. Das Ausmaß der Bewegungsstörung ist abhängig von Ort und Ausmaß der Schädigung im Gehirn. Es können sowohl leichte (nur einzelne Körperregionen betreffende) als auch schwerste (den gesamten Körper betreffende) Störungen auftreten. Zerebrale Bewegungsstörungen werden daher nicht als Krankheitsbild, sondern als Symptom betrachtet.

Zentral bedingte Bewegungsstörungen Es werden verschiedene Formen der zentral bedingten Bewegungsstörungen unterschieden (▶ Tab. 16.2). Die Bezeichnung richtet sich nach den im Vordergrund stehenden Symptomen und betroffenen Körperregionen. Die verschiedenen Formen gehen mit unterschiedlichen Muskeltoni einher.

Nicht zentral bedingte Bewegungsstörungen Hier sind insbesondere die muskulären Bewegungsstörungen mit einem sehr niedrigen Muskeltonus (muskuläre Hypotonie), Muskelschwund (spinale Muskelatrophie) und Kinder mit einer hyperkinetischen Störung (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, ADHS) zu nennen (▶ Tab. 16.3). Häufig wird diese Bewegungsstörung nicht direkt erkannt. Die betroffenen Kinder werden häufig als „verhaltensauffällig“ eingestuft.

Lähmungen Je nach Lokalisation der Schädigung wird zwischen der zentralen (spastischen) und peripheren (schlaffen) Lähmung unterschieden. ▶ Zentrale Lähmung. Die zentrale oder spastische Lähmung entsteht durch Schädigung von Pyramidalbahnen und Bewegungszentren, der Muskeltonus ist erhöht. ▶ Periphere Lähmung. Die periphere Lähmung oder schlaffe Lähmung entsteht durch Schädigung des Nervs außerhalb des Rückenmarks, der Muskeltonus ist schlaff. Eine weitere Unterscheidung beschreibt den Ort der Lähmung und ihr Ausmaß (▶ Tab. 16.4): ● Parese (Teillähmung oder inkomplette Lähmungen): Ursache kann eine neurologische Störung sein. Die Pflege eines Kindes mit einer Zerebralparese ist im Kap. Pflege von Kindern mit Schwerstmehrfachbehinderung (S. 712) beschrieben.

9

Sich bewegen

Tab. 16.2 Zentral bedingte Bewegungsstörungen.

16

Bewegungsstörung

Symptome

Spastik (krampfartig erhöhter Muskeltonus)

Nicht kontrollierbare Muskelverkrampfung (Hypertonus) mit erheblicher Bewegungseinschränkung. Spastik stellt sich mit einem Beuge- und/oder Streckmuster sehr individuell dar. Kontrolle der Bewegung ist eingeschränkt, Gleichgewichtssinn ist gestört. Frühkindliche Reflexe können erhalten bleiben. Der Muskeltonus ist nur geringfügig (z. B. in Ruhe) veränderbar.

Athetose (unwillkürliche, langsam geschraubte Bewegungen)

Kein festgelegter Muskeltonus. Kopfkontrolle kann beeinträchtigt sein, dadurch wird das Aufrichten in höhere Positionen verhindert. Gleichgewicht kann nicht dauerhaft gehalten werden, Bewegungskoordination beim Gehen erschwert. Meist ist eine Körperhälfte schwerer betroffen.

Ataxie (Störung der Koordination von Bewegungsabläufen)

Zentral bedingte Koordinations- und Gleichgewichtsstörung. Feinabstimmung einer Bewegung unmöglich. Muskelspannung ist eher niedrig (Hypotonus). Zielgerichtete Bewegungen können ausgeführt werden. Häufig mit einer Tetraplegie gekoppelt.

Hyperkinese (pathologisch gesteigerte Motorik)

Überschießende Bewegungen der Extremitäten, des Rumpfes oder Gesichts, können auch in Ruhe nicht kontrolliert werden. Ursache: Störung im ZNS, Störung des bewegungshemmenden Mechanismus.

Tab. 16.3 Nicht zentral bedingte Bewegungsstörungen. Bewegungsstörung

Symptome

Muskuläre Hypotonie

Niedrige Muskelspannung der Skelettmuskulatur. Häufig bestehend bei Chromosomenanomalie (z. B. Trisomie 21, Morbus Down), Mehrlings- und frühgeborenen Kindern mit tatsächlichen Verhaltensauffälligkeiten oder emotionalen Störungen. Kinder verfügen über unzureichende Haltungskontrolle der Skelettmuskulatur, Ungenauigkeit in Bewegungen, verminderte Geschicklichkeit, Koordinationsstörungen. Körperwahrnehmung häufig beeinträchtigt, Unsicherheit beim Sitzen, Kopfaufstützen im Sitzen, heftige, eckige Bewegungen. Gesichtsmuskulatur schlaff, Mund steht häufig leicht offen. Manchmal unangepasstes oder auffällig wirkendes Verhalten.

Muskelatrophie

Spinale Muskelatrophie (SMA). Erblich bedingte Erkrankung der Nervenzellen, die für bewusste Bewegungen der Muskulatur beim Laufen, Krabbeln, Schlucken und zur Kopfkontrolle zuständig sind. Gesamte Muskulatur des Körpers betroffen, v. a. Extremitäten, z. T. auch Atemmuskulatur. Sensibilität der Haut vollständig erhalten. Kinder verfügen über normale bis überdurchschnittliche geistige Fähigkeiten.

Hyperkinetische Störung (ADHS)

Unzureichend kontrolliertes, überaktives Verhalten in Form einer motorischen Unruhe. Ruhig sitzen nicht möglich. Kinder sind unaufmerksam, impulsiv.

Sensorische Integrationsstörung

Aufgenommene Sinnesreize können nicht im ZNS verarbeitet werden. Es liegt eine niedrige Muskelspannung vor, Kinder müssen sich aktiv aufrecht halten. Schwierigkeiten, mehrere Sinneseindrücke oder Aktivitäten gleichzeitig zu koordinieren.

Dyspraxie

Besondere Form der sensorischen Integrationsstörung. Ursache: unreife Neuronenentwicklung. Gezielte Bewegungsplanungen und -handlungen sind erschwert. Zu viele Sinnesreize, können nicht gefiltert werden. Auffällig sind ständige kleine Unfälle, Fallenlassen von Gegenständen. Grob- und feinmotorische Bewegungsprobleme führen zu schulischen und sozialen Konflikten. Kinder gelten als „ungeschickt“. Häufig kombiniert mit anderen Teilleistungsschwächen, Koordinations- und Entwicklungsstörungen.

Tab. 16.4 Lähmungserscheinungen im Überblick.

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Lähmungserscheinung

Definition

Monoparese Monoplegie

Unvollständige bzw. vollständige Lähmung einer Extremität oder eines Teils der Extremität.

Diparese Diplegie

Unvollständige bzw. vollständige Lähmung von 2 Extremitäten: 1 Arm/1 Bein oder beide Arme bzw. beide Beine.

Hemiparese Hemiplegie

Unvollständige bzw. vollständige Lähmung einer Körperhälfte, beider Extremitäten und der Gesichtsmuskulatur (Augenlid, Mund und Zunge können betroffen sein).

Paraparese Plaraplegie

Unvollständige, bzw. vollständige Lähmung beider Beine.

Tetraparese Tetraplegie

Alle Extremitäten sind betroffen, Muskulatur kann nicht mehr willkürlich angespannt werden, vollständiger Sensibilitätsausfall bzw. bei unvollständiger Lähmung aller Extremitäten kann Sensibilität teilweise erhalten sein.



Plegie (vollständige Lähmung): Folge einer schweren Rückenmarkverletzung im Sinne eines Querschnitts.

16.3.3 Bewegungsunterstützende Maßnahmen Bewegung ist für Kinder unverzichtbar. Über Bewegungen im Alltag und im Spiel lernen sie sich und ihre Umwelt kennen. Dadurch entwickeln sich Grob- und Feinmotorik. Durch spielerische Bewegung trainieren die Kinder Gleichgewicht und Koordination. In der Auseinandersetzung mit anderen Kindern lernen sie soziales Verhalten. Bewegung verknüpft Entwick-

16.3 Beobachten und Beurteilen lungs- und Lernprozesse miteinander, die sich dadurch auch wechselseitig beeinflussen. Das Erlernen von sensorischen und motorischen Fähigkeiten findet im Bewegungsaustausch zwischen Erwachsenen und Kindern sowie zwischen Kindern und Kindern statt. Im ersten Lebensjahr erarbeitet das Kind alle Fähigkeiten, die es zur Gestaltung seines Lebens braucht. Entsprechend seiner gesundheitlichen Situation wird es alle Fähigkeiten im Laufe der Zeit selbstständig durchführen können oder weiterhin auf unterschiedliche Unterstützung angewiesen sein.

Praxistipp Pflege

Z ●

Bewegungsunterstützende und entwicklungsfördernde Konzepte sind keine Maßnahmen, für die ärztliche Verordnungen benötigt werden. Sie sollten als Selbstverständlichkeit in pflegerisches Handeln integriert werden, sowohl für gesunde als auch für beeinträchtigte Kinder.

der Bewegung und Sport eine unterstützende Maßnahme sein. Wichtig ist, dass die Anstrengung selbst gesteuert werden kann. ▶ Tab. 16.5 fasst Sportangebote für Kinder mit chronischen Erkrankungen zusammen. Diese Sportarten sollten immer in Absprache mit einem Arzt ausgewählt werden. Wurden sie bereits in der Rehabilitation eingeführt, fällt es den Kindern häufig leicht, sie auch in ihren Alltag zu integrieren.

Bewegung und Spiel im Krankenhaus In der Klinik wird der Bewegungsdrang eines Kindes durch zu- und ableitende Systeme, Verbände oder auch Schmerzen häufig eingeschränkt. Die Pflegefachkraft sollte Eltern dahin gehend unterstützen und anleiten, dass diese ihr Kind altersgerecht mit unterschiedlichen Aktivitäten beschäftigen (z. B. Spielen, Vorlesen). Ziel ist es, eine Tagesstruktur zu gestalten, in der sich aktive Phasen und Ruhephasen abwechseln (S. 136).

Tragen von Kindern Bewegungsförderung bei Kindern Mittlerweile stehen Kindern aller Altersstufen zahlreiche Bewegungsangebote zur Verfügung, die auf individuelle Bedürfnisse eingehen und auf spielerische Weise präventiv wirken können.

Lernaufgabe

M ●

Informieren Sie sich über Bewegungsangebote für Kinder unterschiedlicher Altersstufen in Ihrer Stadt und stellen Sie ein Infoblatt für Familien zusammen.

Nicht allen Kindern stehen jedoch die körperlichen Ressourcen zur Verfügung, um alle Angebote nutzen zu können. Dabei können gerade für chronisch kranke Kin-

In der Verhaltenspsychologie wird der menschliche Säugling auch als Tragling bezeichnet, weil seine psychologischen und anatomischen Voraussetzungen hierzu angelegt sind. Das Kind hat ein Grundbedürfnis nach Körperkontakt, es möchte getragen und bewegt werden. Es fühlt sich dadurch geborgen und erfährt Sicherheit. Die Bewegungswahrnehmung wirkt beruhigend und hat einen positiven Einfluss auf Muskeltonus, Atmung und Kreislauf.

Tragehilfen Neben dem Tragen auf dem Arm gibt es auch die Möglichkeit, Säuglinge oder Kleinkinder über einen längeren Zeitraum in einer Tragehilfe am Körper zu tragen. Die tragende Person hat dann beide Hände bzw. Arme frei zur Bewegung. Wirbelsäulenschäden durch korrekte Tragehilfen

konnten bisher nicht nachgewiesen werden.

Merke

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16

Bei der Auswahl von Tragehilfen kommt es auf die korrekte Körperhaltung und Anhockstellung der Beine an: Der Oberschenkel wird bis zu einem rechten Winkel (oder auch stärker) angezogen, der Abspreizwinkel liegt bei durchschnittlich 45°.

▶ Tragetücher. Sie sind für alle Altersstufen geeignet. Das Kind kann liegend oder aufrecht getragen werden. Das Tuch ist variabel einsetzbar. Wichtig ist die richtige Anwendung und Bindetechnik, die von Produkt zu Produkt verschieden ist. Die Herstellerinformationen sind zu beachten. Sehr unruhige Säuglinge beruhigen sich im Tragetuch sehr schnell. Aus diesem Grund haben sie sich auch in der Klinik bewährt. Insbesondere auf sehr unruhige Kinder oder Kinder mit einer Entzugsproblematik (z. B. von drogenabhängigen Müttern) hat das Tragetuch einen positiven Effekt. Für Erstanwender kann eine Trageberatung sinnvoll sein. Eine entsprechend geschulte Pflegefachkraft kann mit einer solchen Beratung die Eltern-KindBindung auf der neonatologischen Station unterstützen. ▶ Tragebeutel, Tragesäcke. Es existiert ein großes Angebot. Zu beachten ist bei diesen Tragehilfen, dass sie den körperlichen Gegebenheiten des Kindes entsprechen müssen. Kleine Kinder sollen eine physiologische Körperposition einnehmen können und körpernah getragen werden. ▶ Tragegestelle, Rückentragen. Diese sind geeignet, wenn das Kind eigenständig eine sitzende Position einnehmen und halten kann. Auch hier gilt: Diese Tragehilfen müssen den körperlichen Gegebenheiten des Kindes entsprechen.

Tab. 16.5 Sportangebote für Kinder mit chronischen Erkrankungen. Erkrankung

Sportangebot

Asthma

Schwimmen, Wandern, Nordic Walking

Nutzen Verbesserung der Lungenfunktion

Diabetes mellitus

Wandern, Radfahren, Schwimmen

Stabilisierung des Blutzuckerhaushaltes, effektiver Stoffwechsel

Herzerkrankungen

Schwimmen, Radfahren, Reiten, Segeln

Förderung der motorischen, emotionalen, psychosozialen und kognitiven Entwicklung, langfristige Prävention von Folgeerkrankungen

Mukoviszidose

Radfahren, Wandern, Nordic Walking, Trampolin springen, alle Sportarten können ausprobiert werden

verbessertes Abhusten, Muskelaufbau, Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit

zerebrale Dysfunktionen

richtet sich nach den Möglichkeiten

erhalten und steigern der vorhandenen Fähigkeiten, Aufbau und Festigung der inneren Stabilität, Selbstvertrauen

1

Sich bewegen

Tab. 16.6 Einteilung der Kontrakturen.

16

Art der Kontraktur

Symptomatik

Flexionskontraktur = Beugekontraktur

Gelenksteife in Beugestellung, Streckung nicht möglich

Extensionskontraktur = Streckkontraktur

Gelenksteife in Streckstellung, Beugung nicht möglich

Abduktionskontraktur = Gelenk/Extremität ist in Abspreizhaltung

Adduktion (Heranführen) nicht mehr möglich

Adduktionskontraktur = Extremität ist dicht an der Körperachse

Abduktion (Abspreizen) nicht mehr möglich

16.3.4 Individuelle Situationseinschätzung Für die individuelle Situationseinschätzung sollten folgende Fragen – z. B. aus der Pflegeanamnese – beantwortet werden: ● Ist das Kind ruhig oder lebhaft? ● Welche Aktivitäten kann das Kind selbstständig oder mit Unterstützung durchführen? ● Kann es sich alleine in Positionen oder durch Positionen fortbewegen und wie tut es das? ● Benötigt es Hilfsmittel zur Fortbewegung und/oder zur Durchführung seiner Aktivitäten? ● Ist das Kind in seiner Beweglichkeit eingeschränkt? ● Gibt es besondere Bewegungsabläufe, denen es mit seiner Einschränkung leicht folgen kann? ● Ist es Rechts- oder Linkshänder? ● Hat es eine Lieblingsposition zum Einschlafen, was braucht es dazu (z. B. Lieblingsspielzeug)? ● Welche Lage ist ihm angenehm, welche nicht? ● Welche Spielgewohnheiten hat das Kind?

16.4 Pflegemaßnahmen 16.4.1 Prophylaxen Definition

L ●

Prophylaxen sind Maßnahmen zur Verhütung von Krankheiten. Prophylaktische Pflegemaßnahmen stellen ein präventives Aufgabengebiet der Pflege dar und sollen Folgeschäden bei bereits bestehenden Einschränkungen verhindern.

Hierzu erfolgt eine individuelle Situationseinschätzung mittels Anamnese, Assessmentinstrumenten oder Leitlinien.

402

Merke

H ●

Hauptziel aller Prophylaxen ist die Vermeidung von Gesundheitsstörungen.

Abduktion Supination

Kontrakturenprophylaxe Definition

L ●

Pronation Flexion

Extension

Als Kontraktur wird eine bleibende Bewegungseinschränkung eines Gelenkes durch Verkürzung von Muskeln, Sehen und Bändern, Schrumpfung der Gelenkkapsel und/oder Verwachsung der Gelenkfläche bis zur völlig Versteifung bezeichnet.

Abduktion Abduktion

Abb. 16.1 Bewegungsrichtungen des menschlichen Körpers.

Maßnahmen Systematik Eine Kontraktur kann alle Gelenke des Körpers und der Wirbelsäule betreffen. Je nach Gelenkstellung (▶ Abb. 16.1) werden verschiedene Formen von Kontrakturen unterschieden (▶ Tab. 16.6).

Ursachen Es können angeborene (kongenital) und erworbene Kontrakturen unterschieden werden. ▶ Angeborene (kongenitale) Kontrakturen. Sie entstehen durch eine Zwangshaltung vor der Geburt (sog. intrauterine Zwangspositionen) oder Knochen- bzw. Weichteildefekte, die an mehreren Gelenken auftreten können (z. B. Sichel- oder Hackenfuß, muskulärer Schiefhals). ▶ Erworbene Kontrakturen. Sie können entstehen durch: ● Verkürzung von Muskeln und Sehen durch Immobilität ● Gelenkentzündungen oder Gelenkverletzungen ● Narbenbildung (z. B. nach Verbrennung) ● spastische Gelenkfehlstellung bei zentralen und peripheren Nervenschädigungen

Kontrakturen haben fatale Folgen für die weitere Entwicklung oder Rehabilitation des Kindes. Sie sollten auf jeden Fall vermieden werden. Einschätzung des Risikos: ● Einschätzung der generellen Beweglichkeit ● Bewegungsumfang in verschiedenen Positionen aller Gelenke ● Entzündung der Gelenke ● Erkrankungen, die mit Lähmungen verbunden sind ● Erkrankungen des Nervensystems ● Erkrankungen der Muskulatur ● Schon- und Fehlhaltungen ● Bettlägerigkeit und Sedierung ● Weichlagerung Maßnahmen: regelmäßiger Positionswechsel ● frühzeitige Mobilisation ● halbsitzende Positionen anstreben ● passive und aktive Bewegungsübungen ● Unterstützung ● bewegungsförderndes Handling einsetzen (z. B. Bobath, Kinaesthetics) ● Eigenbewegung fördern durch Bewegungsangebote und Motivation ●

16.4 Pflegemaßnahmen

Spitzfußprophylaxe Definition

L ●

Als Spitzfuß wird die Streckstellung des Fußes im oberen Sprunggelenk bezeichnet. Der Fuß kann nicht gebeugt werden.

Systematik Beim Spitzfuß handelt es sich um eine spezielle Form der Kontraktur (Flexionskontraktur, Plantarflexion im oberen Sprungelenk, ▶ Abb. 16.2).

Ursachen

Können diese Möglichkeiten nicht angewendet werden, sollte eine Anpassung von Schienen in Betracht gezogen werden.

Dekubitusprophylaxe Definition

L ●

Als Dekubitus oder Dekubitalgeschwür wird eine durch Wund- oder Aufliegen entstandene lokale Schädigung durch innere und äußere Druckeinwirkung bezeichnet.

Systematik

Ursachen sind meist dauerhafte Fehlstellungen des Fußes, z. B. durch: ● Druck der Bettdecke ● Immobilität ● Schädigung des Zentralnervensystems mit Spastik

Gegenwärtig liegen 20 Klassifikationssysteme zur Stadieneinteilung vor, die erheblich voneinander abweichen. Die Stadieneinteilung des EPUAP (European Pressure Ulcer Advisory Panel) gilt als Standard für den europäischen Raum. Sie unterteilt 4 Dekubitusgrade (▶ Tab. 16.7).

Maßnahmen

Ursachen

Einschätzung des Risikos: ● allgemeine Bewegungseinschränkung ● Unbeweglichkeit des Fußes durch unterschiedliche Faktoren

Dekubitalgeschwüre sind häufig druckbedingt und treten bevorzugt an exponierten Körperstellen wie Kreuzbeinregion, Trochanter major, Fersen, bei Neugeborenen und kleinen Kindern am Hinterkopf, manchmal auch an der Ohrmuschel auf. Ursächlich ist neben einer mechanischen Belastung auch die Durchblutungssituation des Gewebes. So haben Kinder mit Durchblutungsstörungen (Diabetes mellitus, Unterkühlung, Schockzustände) ein erhöhtes Risiko. Auch Scherkräfte, die auf den Körper oder einen Teil des Körpers (z. B. Gesäß) wirken, spielen eine erhebliche Rolle.

Maßnahmen: Bettbogen über die Füße stellen, damit die Bettdecke nicht auf die Füße drückt ● in Rückenlage: Aufstellen eines Beines ● in Seitenlage: unterstützen jeweils einer Fußsohle ● in Bauchlage: Unterschenkel unterstützen, um eine dauerhafte Streckung zu vermeiden ● Aufstellen der Füße, z. B. in sitzenden Positionen ●

▶ Gefährdete Körperstellen. Ein Dekubitus entsteht insbesondere dort, wo Körperteile auf der Unterlage aufliegen und Knochen nah unter der Haut zu finden sind (▶ Abb. 16.3). In diesen Bereichen findet sich wenig Unterhautfettgewebe. ● in Rückenlage: Hinterkopf, Wirbelsäule, Schulterblätter, Kreuz- und Steißbein, Fersen und Ellenbogen ● in Seitenlage: Ohrmuschel, Schulter, Rippen, Arm (Ellenbogen), Becken (Hüftgelenk), Außenknöchel ● in Bauchlage: Ohrmuschel, Kniescheiben, Fußrücken, Knöchel. ● im Sitzen: Steißbein

16

Gefährdet sind ebenfalls alle Körperstellen, auf die Druck einwirkt (z. B. durch Sonden, Katheter, Dränagen, Gipsverbände, Schienen). ▶ Dekubitusrisiko. Risikofaktoren: Bewegungseinschränkung ● Sensibilitätsstörungen ● reduzierter Allgemeinzustand ● reduzierter Ernährungszustand ● Bewusstseinsstörungen ● Hautveränderungen (z. B. Hautfeuchte durch Schwitzen) ● Inkontinenz ●

Risikogruppen: Kinder alle Altersstufen bei Vorliegen weiterer Risikofaktoren: ● (Wach-)Komapatienten ● Kinder mit schwersten zerebralen Bewegungsstörungen (z. B. Hemi- oder Paraplegie) ● Kinder mit Muskeldystropie oder -atrophie ● brandverletzte Kinder ● Kinder mit Schock ● herzinsuffiziente Kinder

Tab. 16.7 Übersicht der Dekubitusstadien (nach EPUAP). Grad

Beschreibung

1

● ● ●

2

● ●

3

● ● ●

4 Abb. 16.2 Spitzfuß. Er entsteht durch lang anhaltenden Druck von Bettdecke und Matratze.



scharf umschriebene Rötung der intakten Haut Fingertest: unter Druck rot bleibende Haut evtl. verhärtete und überwärmte Haut partieller Verlust von Hautschichten (Epidermis, Dermis) oberflächlicher Defekt (Abschürfung oder Blase) offenes, tiefes Geschwür beginnende Nekrosen Defektausdehnung über Subkutis bis Muskulatur zerstörtes, nekrotisches oder beschädigtes Gewebe je nach Lokalisation: ○ Haut ○ Bindegewebe ○ Muskulatur ○ Sehnen ○ Gelenkkapseln ○ freiliegende Knochen

3

Sich bewegen

16

in Rückenlage

in Seitenlage

Hinterhauptknochen

Zur Ermittlung des Dekubitusrisikos kann die Braden-Q-Skala (▶ Tab. 16.8) eingesetzt werden, die für Kinder unter 6 Jahren angepasst wurde. Für ältere Kinder wird die Braden-Skala für Erwachsene eingesetzt. Das Kind wird zu jeder Kategorie mit einem Punktwert eingeschätzt. Die einzelnen Punktwerte werden addiert. Die Summer der Punkte bestimmt das Dekubitusrisiko. Je geringer die Punktzahl, desto höher ist das Dekubitusrisiko einzuschätzen. Bei einem ermittelten Risiko müssen geeignete prophylaktische Maßnahmen eingeleitet werden. Die BradenSkalen helfen dabei, das Dekubitusrisiko sachgerecht einzuschätzen, um entsprechende Maßnahmen einleiten zu können.

in Bauchlage Ohrmuschel

Ohrmuschel

Brustbein

Schulterblätter

Rippen

Schulter

Wirbelsäulenvorsprünge

Rippen Arm

Ellenbogen

Becken Kniescheibe großer Rollhügel

Kreuzbein und Steißbein

Innenknöchel

seitlicher Knöchel

Ferse

Fußrücken

Abb. 16.3 Dekubitusgefährdete Körperstellen in verschiedenen Positionen.

Tab. 16.8 Braden-Q-Skala. Dekubitusrisiko bei Kindern (nach Heinold, 2005).

404

Kategorie

1 Punkt

2 Punkte

3 Punkte

4 Punkte

A. Mobilität Fähigkeit, die Position des Körpers insgesamt oder der Extremitäten zu verändern.

vollständige Immobilität Führt nicht die geringste Positionsveränderung des Körpers oder einzelner Extremitäten ohne Hilfe aus.

stark eingeschränkt Führt gelegentlich geringfügige Positionsveränderungen des Körpers oder einzelner Extremitäten aus, ist aber unfähig, den Körper selbstständig zu drehen.

leicht eingeschränkt Führt oft, jedoch nur geringfügige Positionsveränderungen des Körpers oder einzelner Extremitäten aus.

nicht eingeschränkt Führt oft große Positionsveränderungen ohne Unterstützung aus.

B. Aktivität Ausmaß der körperlichen Aktivität.

Bettlägerigkeit Kann/darf das Bett nicht verlassen.

an Lehnstuhl/Sessel/Rollstuhl gebunden Fähigkeit zu gehen ist eingeschränkt oder nicht vorhanden. Kann das Eigengewicht nicht tragen und/oder braucht Hilfe, sich in den Stuhl zu setzen.

geht gelegentlich Geht tagsüber gelegentlich, aber nur sehr kurze Strecken mit oder ohne Hilfe. Verbringt die meiste Zeit im Bett.

keine Einschränkung der Aktivität Geht oft tagsüber wenigstens zweimal außerhalb des Zimmers und wenigstens einmal alle halbe Stunde im Zimmer. Oder: alle Patienten, die zu jung sind, um laufen zu können.

C. Sensorische Wahrnehmung Fähigkeit, Reize durch Berührung wahrzunehmen und zu verarbeiten (z. B. passive Lageveränderung, Vibration, Schmerz, Temperatur).

vollständig ausgefallen Unfähig, auf Schmerzreize zu reagieren (auch nicht durch Stöhnen, Zucken, Greifen). Ursache: herabgesetzte Wahrnehmungsfähigkeit (bis zur Bewusstlosigkeit), Sedierung oder Fähigkeit des Schmerzempfindens über den größten Anteil der Körperoberfläche herabgesetzt.

stark eingeschränkt Reagiert nur auf schmerzhafte Reize. Kann Unbehagen nur durch Stöhnen/Unruhe mitteilen. Oder: Bei mehr als der Hälfte des Körpers liegen Störungen der sensorischen Wahrnehmung vor, die die Fähigkeit, Schmerz oder Unbehagen zu empfinden, herabsetzen.

wenig eingeschränkt Reagiert auf verbale Aufforderung, kann aber nicht immer Unbehagen oder die Notwendigkeit des Positionswechsels mitteilen. Oder: Es liegen wenige Störungen der sensorischen Wahrnehmung vor, die die Fähigkeit, Schmerz oder Unbehagen zu empfinden, in ein oder zwei Extremitäten herabsetzen.

nicht eingeschränkt Reagiert auf verbale Aufforderungen. Hat keine sensorischen Defizite, die die Fähigkeit, Schmerz oder Unbehagen zu empfinden und mitzuteilen, herabsetzen.

D. Nässe Ausmaß, in dem die Haut der Nässe (z. B. Schweiß, Urin) ausgesetzt ist.

ständig feucht Die Haut ist ständig feucht durch Schweiß, Urin oder Drainageflüssigkeit. Feuchte wird jedes Mal festgestellt, wenn der Patient bewegt oder gedreht wird.

sehr feucht Die Haut ist oft, aber nicht ständig feucht. Bettlaken müssen mindesten alle 8 Stunden gewechselt werden.

gelegentlich feucht Die Haut ist gelegentlich feucht, Wäschewechsel ist etwa alle 12 Stunden erforderlich.

selten feucht Die Haut ist meistens trocken. Wechsel der Windel routinemäßig. Lakenwechsel nur alle 24 Stunden erforderlich.

E. Reibung und Scherkräfte Reibung entsteht, wenn Haut über das Bettlaken schleift. Scherkräfte entstehen, wenn sich Haut und angrenzende Oberflächen der Knochen gegeneinander verschieben.

erhebliches Problem Spastik, Kontraktur, Juckreiz oder Unruhe verursachen fast ständig Herumwerfen, Um-sichSchlagen und Reiben.

bestehendes Problem Braucht mittlere bis maximale Unterstützung beim Positionswechsel. Vollständiges Anheben, ohne über die Laken zu rutschen, ist nicht möglich. Rutscht im Bett oder Stuhl oft nach unten und braucht oft maximale Hilfe, um in die Ausgangsposition zu gelangen.

mögliches Problem Bewegt sich schwach oder benötigt geringe Hilfe. Während des Positionswechsels schleift die Haut etwas über Laken/ Stuhl/anderes Zubehör. Behält die meiste Zeit relativ gut die Position in Stuhl oder Bett, rutscht aber gelegentlich herab.

kein auftretendes Problem Ist fähig, sich während des Positionswechsels vollständig anzuheben, bewegt sich in Bett und Stuhl unabhängig und hat ausreichend Muskelkraft, um sich während des Positionswechsels zu heben. Erhält in Stuhl oder Bett jederzeit eine gute Position aufrecht.

16.4 Pflegemaßnahmen

Tab. 16.8 Fortsetzung

16

Kategorie

1 Punkt

2 Punkte

3 Punkte

4 Punkte

F. Ernährung Allgemeines Ernährungsverhalten.

sehr schlecht Keine orale Ernährung und/ oder nur klare Flüssigkeitszufuhr oder intravenöse Flüssigkeitszufuhr über mehr als 5 Tage oder Eiweißzufuhr < 2,5 mg/dl oder isst nie eine vollständige Mahlzeit. Isst selten mehr als die Hälfte der angebotenen Mahlzeit. Eiweißzufuhr beträgt nur 2 fleischhaltige Portionen oder Milchprodukte täglich. Trinkt wenig Flüssigkeit. Erhält keine Nahrungsergänzungskost.

nicht ausreichend Erhält flüssige Nahrung oder Sondenkost/intravensöse Ernährung, die eine für das Alter nicht ausreichende Menge an Kalorien und Mineralien enthält. Oder: Eiweißzufuhr < 3 mg/dl oder isst selten eine vollständige Mahlzeit und allgemein nur die Hälfte der jeweils angebotenen Portion. Eiweißzufuhr umfasst nur 3 fleischhaltige Portionen oder Milchprodukte täglich. Nimmt gelegentlich Nahrungsergänzungskost zu sich.

ausreichend Erhält flüssige Nahrung oder Sondenkost, die eine für das Alter ausreichende Menge an Eiweiß und Mineralien enthält oder isst mehr als die Hälfte jeder Mahlzeit. Isst insgesamt 4 oder mehr fleischhaltige Portionen täglich. Lehnt gelegentlich eine Mahlzeit ab, nimmt aber Ergänzungskost zu sich, sofern sie angeboten wird.

sehr gut Nimmt eine normale Ernährung ein, die genügend Kalorien für das Alter enthält. Isst fast jede Mahlzeit vollständig auf. Lehnt nie eine Mahlzeit ab. Isst im Allgemeinen 4 und mehr Portionen täglich, die Fleisch oder Milchprodukte enthalten. Isst gelegentlich zwischen den Mahlzeiten. Braucht keine Nahrungsergänzungskost.

G. Gewebedurchblutung und Sauerstoffversorgung

extrem gefährdet Hypotonie, MAP (= mittlerer arterieller Blutdruck) < 50 mmHg, < 40 mmHg beim Neugeborenen. Oder: toleriert keinen Positionswechsel.

gefährdet Normotonie, Sauerstoffsättigung bei < 95 %, Hämoglobin bei < 10 mg/dl, kapilläre Wiederauffüllzeit bei > 2 Sekunden, Serum pH < 7,40.

ausreichend Normotonie, Sauerstoffsättigung bei < 95 %, Hämoglobin bei < 10 mg/dl, kapilläre Wiederauffüllungszeit ca. 2 Sekunden, Serum-pH normal.

sehr gut Normotonie, Sauerstoffsättigung > 95 %, Hämoglobin normal, kapilläre Wiederauffüllzeit < 2 Sekunden.

Risikoeinteilung: geringes Risiko: 22 – 21 Punkte; mittleres Risiko: 20 – 17 Punkte; hohes Risiko: unter 17 Punkte; (Braden-Q-Skala wurde angepasst durch das Universitätsklinikum Tübingen, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin)

Maßnahmen Die aufgeführten Maßnahmen und Hilfsmittel richten sich nach der individuellen Situation des betroffenen Kindes. Im Fokus aller pflegerischer Maßnahmen steht immer, einen Dekubitus zu verhindern. Der „Expertenstandard Dekubitusprophylaxe“ des DNQP (Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege) sollte für die Koordination aller Maßnahmen im Rahmen der Dekubitusprophylaxe genutzt werden. ▶ Beobachtung der Haut. Beobachtung besonders der gefährdeten Körperstellen direkt im Anschluss an die Übernahme des Kindes, während der Körperpflege und nach dem Positionswechsel. ▶ Positionswechsel und Druckentlastung. Häufige kleine Positionsveränderungen (z. B. einzelner Körperteile) sollten durchgeführt werden. Scherkräfte sind dabei zu vermeiden. Ein individueller Bewegungsplan sollte erstellt und Eigenbewegung des Kindes unterstützt werden. Eltern sollten in diesen Prozess einbezogen werden. ▶ Kreislaufstimulation. Die Anregung der Durchblutung kann in die Pflege integriert werden (z. B. beim Waschen). Die aktive Muskelarbeit des Kindes im Positionswechsel ist zu fördern.

▶ Körperpflege und Hautschutz. Ziel ist die Aufrechterhaltung des Hydro-LipidFilms (früher Säureschutzmantel) und Feuchtigkeitshaushalts der Haut. Austrocknung gilt es zu vermeiden, pH-neutrale Substanzen zur Körperpflege (S. 298) sind zu verwenden. Feuchte Kammern gilt es zu vermeiden. Schwitzt das Kind, ist ein regelmäßiger Wäschewechsel erforderlich. ▶ Ernährung. Ausgewogene Ernährung und ausreichende Flüssigkeitszufuhr (S. 351) beachten, auch bei parenteraler Ernährung. ▶ Druckreduzierende Hilfsmittel. Druckreduzierende Hilfsmittel werden eingesetzt, wenn die Eigenbewegungen des Kindes deutlich reduziert sind und dadurch das Dekubitusrisiko steigt (▶ Tab. 16.9). Die Auswahl der Hilfsmittel ist abhängig von den folgenden Faktoren: ● Körpergewicht ● vorhandene Eigenbewegung ● gefährdete Körperstellen

Merke

● H

Ein druckentlastendes System reduziert die Körperwahrnehmung und die Möglichkeit der Eigenbewegung.

Praxistipp Pflege

Z ●

Der Einsatz eines Hilfsmittels zur Reduzierung des Auflagedrucks entbindet nicht von der regelmäßigen Positionsunterstützung bzw. dem Positionswechsel des Kindes. Als Intervall werden 2 Stunden empfohlen. Je nach Zustand des Kindes kann dieser Zeitraum angepasst werden.

Thromboseprophylaxe Definition

L ●

Der Verschluss eines Blutgefäßes durch ein Gerinnsel wird als Thrombose bezeichnet. Das Blutgefäß – meist eine Vene – kann teilweise oder vollständig verschlossen sein.

Systematik Thrombosen können sowohl in Arterien (arterielle Thrombosen) als auch in Venen (venöse Thrombosen) auftreten. Die Lokalisation der Thrombosen ist abhängig vom Lebensalter: Bei Neugeborenen und Säuglingen stehen Organthrombosen und

5

Sich bewegen

Tab. 16.9 Druckreduzierende Hilfsmittel zur Dekubitusprophylaxe.

16

Hilfsmittel

Vorteil

Gelkissen



● ● ●

Schaumstoff



● ● ●

spezielle Kissen





Antidekubitusmatratze (Weichlagerungsmatratzen)



● ● ●

Wechseldruckmatratze



● ●

Nachteil

geeignet für Patienten mit reduziertem Allgemeinzustand und wenig Gewicht Auflagedruck wird vermindert Auflagefläche wird vergrößert können angewärmt werden, halten Wärme



keine

in verschieden Größen, Stärken, Formen und Härtegraden erhältlich passt sich dem Körper an Verringerung des Auflagedrucks dient der Weich- und Hohllagerung



muss regelmäßig erneuert werden druckreduzierende Wirkung verliert sich reduziert die Möglichkeit der Eigenbewegung

in verschiedenen Größen und Formen erhältlich können die Positionsunterstützung erleichtern



reduzieren die Möglichkeit der Eigenbewegung

Weichlagerung (leichtes bis mittleres Dekubitusrisiko) Reduzierung von Scherkräften Vergrößerung der Auflagefläche Reduzierung des Auflagedrucks



reduziert die Möglichkeit der Eigenbewegung

wechselnde Druckentlastung bei hohem Dekubitusrisiko und vorhandenem Dekubitus Auflagefläche wird vergrößert Auflagedruck kaum vorhanden



Reduktion der Eigenwahrnehmung und Eigenbewegung kann bei neurologischen Erkrankungen Unruhe und Spasmen auslösen Positionsunterstützung schwierig

● ●





Tab. 16.10 Symptome von Thrombosen in venösen Gefäßen und inneren Organen. Lokalisation

Symptome

in venösen Gefäßen

● ●

● ● ●

in inneren Organen

● ● ●

Schweregefühl in der betroffenen Extremität Schwellung und livide (= bläuliche) Verfärbung der betroffenen Extremität, bedingt durch den gestörten Rückfluss Schmerz bei Berührung oder Druck entlang des Blutgefäßes oder Fußsohlenschmerzen Schmerzen bei Belastung bei Sinusthrombose: Halbseitenlähmung, evtl. Gesichtsmuskellähmung, Sprachprobleme, Krampfanfälle blutiger Urin (Hämaturie), Stauungszeichen Schwellung oder Umgehungskreisläufe bei Säuglingen sind die Symptome nicht eindeutig

Thrombosen des ZNS im Vordergrund, bei älteren Kindern sind es Becken- und Beinvenenthrombosen sowie Sinusthrombosen (▶ Tab. 16.10).

Ursachen Der Mechanismus, der zu einer Thrombose führt, wird als Virchow-Trias bezeichnet. Faktoren, die eine Thromboseentstehung begünstigen, sind: ● Veränderung und Schäden der Gefäßwand: durch Verletzungen, Entzündungen, Bakterien ● Veränderung der Blutzusammensetzung: durch verstärkte Gerinnungsneigung (z. B. nach Operationen) ● Veränderung der Blutströmungsgeschwindigkeit: durch Immobilität bei Wegfall der Muskelpumpe

406

▶ Thromboserisiko. Hauptrisikogruppen sind perinatal beeinträchtigte Neugeborene sowie Jugendliche ab Beginn der Pubertät. Erhöhtes Risiko besteht bei folgenden Sachverhalten: ● nach bzw. unter der Geburt: Sauerstoffmangel (Asphyxie), mütterlicher Diabetes, Lungenversagen (ARDS = Acute Respiratory Distress Syndrome) ● medizinische Interventionen: zentrale Gefäßkatheter, Immobilität, chirurgische Eingriffe, Gipsverbände ● chronische Erkrankungen: onkologische, kardiale, nephrologische oder entzündliche Erkrankungen ● akute Erkrankungen: Trauma, Blutvergiftung (Sepsis), Gefäßentzündungen (Vaskulitis) ● andere Ursachen: Medikamente (z. B. Pille), Steroide, Übergewicht (Adipositas), Nikotin

Maßnahmen Es hat sich eine Kombination aus medikamentöser und physikalischer Prophylaxe zur Verhinderung einer Thrombose durchgesetzt. Die Thromboseprophylaxe baut auf zwei Säulen auf: 1. Säule: medikamentöse Prophylaxe (wirkt auf das Gerinnungssystem des Blutes) 2. Säule: physikalische Prophylaxe (beeinflusst den venösen Rückstrom) ▶ Medikamentöse Thromboseprophylaxe. Zur medikamentösen Thromboseprophylaxe werden Heparin s. c. oder orale Antikoagulanzien eingesetzt. Für die Auswahl, Anordnung und Dosierung ist der Arzt zuständig und verantwortlich. Heparine wirken auf spezifische Gerinnungsfaktoren und verstärken die physiologische Gerinnungshemmung. Zur Prophyla-

16.4 Pflegemaßnahmen xe werden meist niedermolekulare Heparine eingesetzt, die s. c. injiziert werden.

Tab. 16.11 Maßnahmen zur physikalischen Thromboseprophylaxe. Maßnahme

Möglichkeiten

▶ Physikalische Thromboseprophylaxe. In ▶ Tab. 16.11 sind die Maßnahmen zur physikalischen Thromboseprophylaxe aufgeführt. Die physikalischen Prophylaxen haben das Ziel, den venösen Rückfluss zu beschleunigen.

Kompression der oberflächlichen Venen



▶ Medizinische Thromboseprophylaxestrümpfe (MTS). Sie komprimieren die Muskulatur der Beine von außen. MTS werden insbesondere von Patienten, die sich wenig bewegen oder immobil sind, getragen. Sie komprimieren die Muskulatur und damit das Blutgefäß von außen. Das wiederum führt zu einem besseren Rückfluss des venösen Blutes. Sie sind nur effektiv, wenn sie dem Bein entsprechend angepasst werden. Maßbänder und Tabellen liefert der Hersteller. Bevor die MTS angezogen werden, müssen die Venen entstaut werden, d. h., beide Beine werden auf einer Höhe von 30° für 10 – 15 Minuten hochgelagert. Die Strümpfe werden im Liegen angezogen und dauerhaft getragen. Der Wechsel der Strümpfe sollte alle 2 Tage erfolgen. Steht der Patient auf, verlieren die MTS ihre Wirkung, da keine ausreichende Komprimierung erfolgt. Besteht auch beim Gehen der Bedarf zur Komprimierung der Gefäße, müssen Kompressionsstrümpfe oder -verbände benutzt werden.

weitere physikalische Maßnahmen

● ●

Aktivierung der Muskelpumpe

● ● ● ●

▶ Bewegungsübungen im Bett. Bei den Bewegungsübungen im Bett ist die aktive Mitarbeit des Kindes erforderlich. Es muss in der Lage sein, die Übungen mehrmals täglich konsequent durchzuführen: ● Füße abwechselnd beugen und strecken ● Füße links- und rechtsherum kreisen lassen ● Zehen beugen und strecken, z. B. ein Tuch mit den Zehen anheben und fallen lassen ● Füße gegen die Matratze drücken, abwechselnd Ferse und Fußspitze abheben ● abwechselnd mit den Füßen gegen das Bettende drücken oder gegen einen Tennisball ● Beine wie zum Fahrradfahren in der Luft bewegen (hat die effektivste Wirkung auf die Arbeit der Muskelpumpe) ● Beine beugen und strecken in einem Übungsband (Theraband)

Merke

● H

Der Fußsohlendruck kann bei Kindern mit neurologischen Erkrankungen eine Spastik auslösen.

● ● ●

16

medizinische Thromboseprophylaxestrümpfe (MTS) Kompressionsverbände intermittierende pneumatische Kompression Bewegungsübungen im Bett Mobilisation Fußsohlendruck Bettfahrrad/Sprunggelenkpumpe Hochlagerung der Beine Atemübungen Ausstreichen der Beine

Tab. 16.12 Sturzrisikofaktoren, patienten- und umgebungsbezogen. Bezug

Sturzrisikofaktoren

patientenbezogen





● ●

● ● ●



umgebungsbezogen

● ● ● ●



Sturzprophylaxe Definition

Alters- und entwicklungsbedingt eingeschränkte Fähigkeit, Gefahren einzuschätzen Einschränkung, die Körperbalance zu halten (entwicklungsbedingt, krankheitsbedingt) Beeinträchtigungen beim Gehen (z. B. Gipsverband, Prothesen etc.) Erkrankungen, die mit einer Beeinträchtigung der Sensibilität und/ oder Bewegungsfähigkeit einhergehen Sehbeeinträchtigungen Beeinträchtigung der geistigen oder motorischen Entwicklung Erkrankungen, die zu einer kurzzeitigen Ohnmacht führen können (Unterzucker) Angst vor Stürzen oder Unkenntnis der Sturzgefahr (insbesondere Kinder < 3 Jahre) Verwendung von Gehhilfen ungeeignete Schuhe oder Kleidung Medikamente (z. B. zur Sedierung, Prämedikation) Gefahren in der Umgebung (herumliegende Gegenstände, zu geringe Beleuchtung, nasser Boden) Bettgitter (hinüberklettern bei zu niedrigen Bettgittern)

L ●

Unter Sturzprophylaxe werden Maßnahmen zur Vorbeugung von Stürzen verstanden.

Ursachen Kleinkinder und Kinder stürzen häufig deshalb, weil sie im Spiel, beim Sport und bei anderen Bewegungsaktivitäten älteren Kindern und Erwachsenen nacheifern und dabei situativ ihre noch nicht vollständig ausgebildeten Fortbewegungsfähigkeiten überfordern. Sturzgefahren können im Patienten oder in der Umgebung begründet sein (▶ Tab. 16.12).

Maßnahmen Sturzrisikofaktoren lassen sich durch gezielte Maßnahmen ausschalten oder modifizieren, sodass im Ergebnis das Sturzrisiko sinkt. Durch gezielte präventive Maß-

nahmen kann zusätzlich das Sturzfolgerisiko, d. h. das Ausmaß der sturzbedingten Verletzungen, günstig beeinflusst werden. ● Sturzrisiko mit Kind/Jugendlichen/Eltern besprechen, besonders bei Medikamenteneinnahme (z. B. Prämedikation vor einem operativen Eingriff). ● Hindernisse sollten beseitigt werden. ● Fußboden sollte trocken gehalten werden. ● Bettgitter beim Verlassen des Bettes hochstellen, auf ausreichende Höhe achten (je nach Alter, Bewegungsfreudigkeit und Entwicklungsstand des Kindes). ● Kinder nicht unbeabsichtigt auf dem Wickeltisch oder der Waage liegen lassen. Die Risikoerhebung erfolgt nach den oben aufgeführten Sturzrisikofaktoren im Rahmen des Aufnahmegespräches und wird in der Pflegeanamnese inklusive der Maßnahmen zur Sturzvermeidung dokumentiert. Begleitende Familienangehörige müssen ggf. unterschreiben, dass Sie die Maßnahmen zur Sturzvermeidung in der

7

Sich bewegen

16

Klinik gehört haben und befolgen wollen (z. B. Bettgitter, Beaufsichtigung). Ziel ist es, einen Sturz zu vermeiden. Stürzt ein Kind, muss der Arzt informiert werden, der weitere Maßnahmen einleitet.

Lernaufgabe

M ●

Informieren Sie sich über die entsprechenden Leitlinien zu den genannten Prophylaxen in Ihrer Klinik. Welche Hilfsmittel zur Beurteilung des individuellen Gefährdungsrisikos stehen Ihnen zur Verfügung? Werden Expertenstandards angewandt?

16.4.2 Kinaesthetics Infant Handling Definition

L ●

Der Begriff „Kinaesthetics“ ist eine Kombination der beiden griechischen Wörter „Kinesis“ (Bewegung) und „aisthesis“ (Wahrnehmung) und beschreibt, worum es geht: Die eigene Bewegung soll als Werkzeug für Kommunikation, Lernen und Gesundheit wahrgenommen werden.

Die beiden Instrumente Bewegung und Wahrnehmung sowie das dazugehörige Lernmodell ermöglichen es, alltägliche Aktivitäten aus der Bewegungsperspektive heraus zu betrachten und durch erfahrbare Unterschiede eine Anpassung der Bewegung aller beteiligten Personen zu ermöglichen. Dr. Lenny Maietta und Dr. Frank Hatch beobachteten und erforschten das Bewegungslernen von Kindern in Interaktion mit Erwachsenen unter Berücksichtigung der Verhaltenskybernetik. Anhand dieser Ergebnisse entwickelten sie das Programm Kinaesthetics Infant Handling. Die Haupterkenntnis lag darin, dass Kommunikation, insbesondere mit kleinen Kindern, ohne direkten Kontakt (Berührung und Bewegung) kaum möglich ist. Kinaesthetics Infant Handling setzt an den individuellen Bewegungspotenzialen eines Kindes an, und zwar unabhängig von seinem Alter oder den erwarteten Fähigkeiten. Die Annahme eines Erwachsenen darüber, wie ein Kind seine Bewegung für tägliche Aktivitäten lernt, ist ausschlaggebend dafür, wie er die Aktivitäten mit einem Kind gestaltet. Aktivitäten stehen im Mittelpunkt des menschlichen Lebens und somit auch im Zentrum des Kinaesthetics Infant Hand-

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ling. Jeder Mensch gestaltet seine Aktivitäten individuell durch die Bewegung seines ganzen Körpers. Kinaesthetics kennt 6 Werkzeuge, um Aktivitäten aus verschiedenen Bewegungsperspektiven zu betrachten: 1. Interaktion 2. funktionale Anatomie 3. menschliche Bewegung 4. Anstrengung 5. menschliche Funktion 6. Umgebung

Interaktion Kinder befinden sich bei vielen Aktivitäten im direkten (Körper-)Kontakt mit einer weiteren Person. Über Berührungen kann Bewegung geführt und gestaltet werden, über die Art und Weise der Interaktion lässt sich der Bewegungsaustausch steuern. Zur Kontaktaufnahme eignen sich die Extremitäten, das Becken und der Brustkorb. Geschwindigkeit und Richtung der Bewegung werden durch den Erwachsenen und/oder das Kind bestimmt. Die Bewegung des Erwachsenen wird so zur Quelle für die Bewegung des Neugeborenen und umgekehrt. Über eine gleichzeitig gemeinsame oder schrittweise Interaktionsform (s. u.) wird der Bewegungsprozess so gestaltet, dass das Kind an seine Bewegungserfahrungen vor der Geburt anknüpfen und in den Bewegungsablauf integriert werden kann. Jede Interaktion wird durch das Zusammenspiel der Sinnessysteme und der Bewegungselemente gestaltet. ▶ Sinne. Mit der Geburt stehen dem Kind alle Sinne zur Verfügung. Es muss jedoch lernen, den Sinneserfahrungen aus der Umwelt eine Bedeutung zu geben und sich selbst über Reize aus seinem Körperinneren wahrzunehmen. Jede Gewichtsverlagerung wird über Rezeptoren in der Haut als Druckveränderung wahrgenommen. Rezeptoren in Muskeln und Gelenken ermöglichen die Wahrnehmung wechselnder Spannungszustände und Stellungen der Gelenke. Der Gleichgewichtssinn (vestibuläres System) im Innenohr liefert Informationen über die Lage des Kopfes im Raum. Gemeinsam ermöglichen diese Informationen, zu verstehen, in welcher Position im Raum sich ein Mensch befindet und ob er im Gleichgewicht ist. ▶ Bewegungselemente. Bewegung besteht aus den Elementen Anstrengung, Raum und Zeit. Diese Elemente bedingen sich gegenseitig: Wird eines verändert, so verändert sich die gesamte Bewegung. Vor der Geburt sind die Bewegungen geprägt von der Umgebung der Gebärmut-

ter. Nach der Geburt verändern sich die äußeren Bedingungen für das Neugeborene. Die Schwerkraft erhöht den Kraftaufwand (Anstrengung) für jede Bewegung. Die Geschwindigkeit der Bewegung wird von der Geschwindigkeit des Erwachsenen bestimmt. ▶ Interaktionsformen. Das Verständnis über die Interaktionsformen hilft, den Bewegungsaustausch mit dem neugeborenen oder älteren Kind zu verstehen und zu gestalten. Es werden folgende Interaktionsformen unterschieden: ● einseitig: Eine Person bestimmt für sich alleine den Bewegungsablauf oder eine andere Person übernimmt ihn vollständig. ● Schritt nach Schritt: Alle Beteiligten bringen ihre Möglichkeiten nacheinander in den Bewegungsaustausch ein. ● gleichzeitig gemeinsam: Alle Teilnehmer bringen ihre Möglichkeiten ein.

Merke

H ●

Die 3 Interaktionsformen, einseitig, Schritt nach Schritt und gleichzeitig gemeinsam, bilden die Grundlage zur Unterstützung des Lernens praktischer und geistiger Fähigkeiten nach der Geburt.

Praxistipp Pflege

Z ●

An- und Ausziehen sind eine komplexe Aktivität. Sie erfordern die Bewegung des gesamten Körpers. Um ein Kind in seiner Bewegung zu unterstützen, hält die Pflegefachkraft den Ärmel des Jäckchens fest (▶ Abb. 16.4a). So kann das Neugeborene seinen Arm mit Unterstützung selbst aus dem Ärmel ziehen (▶ Abb. 16.4b). Die erste Bewegungsrichtung folgt der Blickrichtung des Kindes. Über das Drücken eines Fußes gegen eine Hand oder durch Zug an der Hand des Erwachsenen kommt das Kind in Bewegung und kann sich mit Unterstützung in Richtung Seitenlage drehen. Dort, wo der Rücken frei ist, kann das Jäckchen entfernt werden. Durch die Unterstützung der Bewegung auf die andere Seite kann es vollständig ausgezogen werden. Beim Anziehen muss das Kind seinen Arm strecken, um ihn in den Ärmel zu bekommen. Das Ausstrecken des Armes kann am Ellenbogen unterstützt werden.

Bedeutung der Interaktion Durch die Integration in die Bewegung kann das Kind mit seinem ganzen Körper

16.4 Pflegemaßnahmen blockiert, wird die Bewegungsmöglichkeit eingeschränkt.

16

Proportionen

Abb. 16.4 An- und Ausziehen. a Hält die Pflegefachkraft den Ärmel fest, (Foto: A. Eichler, Tübingen) b so zieht das Kind den Arm selbst aus dem Ärmel. (Foto: A. Eichler, Tübingen)

Die grundlegenden anatomischen Strukturen sind bei Erwachsenen und Kindern gleich. Ein wesentlicher Unterschied besteht in der Größe der Körperteile und der Gewichtsverteilung (▶ Abb. 16.5). Die Hände des Erwachsenen sind im Vergleich zum Kind riesig. Dies kann dazu führen, dass im Bewegungsaustausch mit Kindern mehrere Körperteile gleichzeitig festgehalten werden. Das Kind kann dadurch seine Bewegungsmöglichkeiten nicht einsetzen und reagiert häufig mit Widerstand.

Orientierung Orientierung bedeutet, die Bewegung anhand des Raumes oder des Körpers zu gestalten. Die Raumorientierung erschwert die Bewegung in der Schwerkraft. Die Körperorientierung erleichtert sie. Die anatomischen Strukturen werden eingesetzt. Neugeborenes

2 Jahre

8 Jahre

12 Jahre

> 18 Jahre

Abb. 16.5 Körperproportionen. Verlauf der Entwicklung.

an der Aktivität teilhaben und nutzt seine große Skelettmuskulatur. Dies unterstützt alle inneren Prozesse, z. B. Atmung, Verdauung, Blutdruck, die das Kind aktiv durch Bewegung zu regulieren erlernt. Es übernimmt aktiv seinen Teil der Bewegung und erlernt somit die Bewegungsgrundlage für das An- und Ausziehen. Nach und nach kann es diese Tätigkeit vollständig übernehmen.

Merke

H ●

Berührungs- und bewegungsgelenkte Interaktionen können Kinder auch mit wenigen Fähigkeiten am leichtesten folgen.

Funktionale Anatomie Die funktionale Anatomie vermittelt ein einfaches Bild über die Strukturen des menschlichen Körpers. Wir nutzen sie, um uns oder andere Menschen effektiv in der Schwerkraft zu bewegen. Die einfachsten Strukturen des Bewegungsapparates sind Knochen und Muskeln. ● Knochen: Sie stützen und ermöglichen, dass wir uns aufrecht halten. Sie leiten das Gewicht zur Unterstützungsfläche. ● Muskeln: Sie bewegen Knochen an den Ort, an dem diese Gewicht tragen müssen.

Knochen und alle Muskeln können in zwei große Gruppen zusammengefasst werden: Massen und Zwischenräume.

Massen Massen sind Brustkorb, Becken, Arme, Beine und bilden das Gewicht. Sie erscheinen hart, fest, stabil und geben die Körperform vor. Sie eignen sich gut zur Kontaktaufnahme (Berührung) und stellen den Kontakt zur Umgebung her (z. B. Matratze, Wickeltisch). Sie können einzeln, nacheinander oder in Beziehung zueinander bewegt werden. Die Vorderseiten der Massen (Gesicht, Brustkorb, Becken, Extremitäten) sind weich, sensibel und beweglich. Hier befindet sich ein großer Teil der Beugemuskulatur. Die Vorderseiten der Hände und Füße (Handfläche/Fußsohle) sind wichtig für die Bewegungskontrolle, das Gleichgewicht. Die Rückseiten der Massen sind knöchern und stabil, stellen den Kontakt zur Umgebung her und leiten das Gewicht. Hier befindet sich die Streckmuskulatur.

Zwischenräume

Praxistipp Pflege

Z ●

Die Aktivität Aufnehmen und Hinlegen geht häufig anderen Aktivitäten voraus. Das Kind braucht auch innerhalb dieser Aktivität seinen gesamten Körper. Es behält Kontrolle über das Gewicht seines Körpers, wenn ihm ermöglicht wird, seine Extremitäten selbst einzusetzen und seine Massen nacheinander zu bewegen anstatt alle auf einmal. Beim Aufnehmen verlässt der Kopf als erste Masse die Unterlage. Der Arm der Pflegefachkraft übernimmt das Gewicht von Kopf und Brustkorb (▶ Abb. 16.6a). Durch die Unterstützung am Brustkorb und unter dem Becken (▶ Abb. 16.6b) kann das Kind von der Unterlage weg auf den Arm genommen werden. Die Füße verlassen als l etzte Körperteile die Unterlage (▶ Abb. 16.6c). Beim Hinlegen des Kindes folgen die Massen einander in umgekehrter Reihenfolge. Zuerst kommt die Fußsohle, dann werden der Rest des Beines und das Becken in die Seitenlage gebracht. Der Arm stützt den Brustkorb, der Kopf rollt auf die Unterlage. Das Kind dreht sich weiter zurück in die Rückenlage. Je eindeutiger das Kind sich anhand seiner eigenen Körperstrukturen bewegen kann, umso weniger Gegenspannung muss es aufbauen, um sich zu schützen.

Zwischenräume befinden sich zwischen den Körperteilen bzw. Massen: Hals, Taille, Hüft- und Schultergelenk. Zwischenräume sind muskulär und weich. Sie verbinden die Massen miteinander und ermöglichen deren Bewegung. Werden sie

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Sich bewegen

16

Abb. 16.6 Aufnahme. a Übernahme des Gewichts von Kopf und Brustkorb, (Foto: A. Eichler, Thieme) b Unterstützung an Brustkorb und Becken, (Foto: A. Eichler, Thieme) c Wegnehmen von der Unterlage. (Foto: A. Eichler, Thieme)

Bedeutung der funktionalen Anatomie Kann ein Kind von Anfang an mit seinem ganzen Körper durch effektives Unterstützen an einer Aktivität teilhaben, werden seine Knochen und Gelenke stabiler und seine Muskulatur kann sich entwickeln. Wird es bei Aktivitäten anhand seines Körpers unterstützt, bleibt seine Körperspannung niedrig und das Kind ist ruhiger. Es kann der Bewegung folgen und ist in sich orientiert.

Merke

H ●

Durch die Bewegungsunterstützung anhand der funktionalen Anatomie kann das Kind den Bewegungsverlauf nachvollziehen und lernt seine Körpergrenzen kennen.

Menschliche Bewegung Erwachsene bewegen kleine Kinder häufig „am Stück“, in parallelen Bewegungsmustern. Das entspricht nicht den Fähigkeiten eines Kindes, sie können sich nicht an der Bewegung beteiligen. Erwachsene und Kinder müssen die Bewegung ihrer Körpermassen in verschiedene Richtungen kontrollieren können, um ihr Gewicht in der Schwerkraft im Gleichgewicht zu halten.

Die Bewegungsmuster setzen sich zusammen aus den Bewegungsbausteinen Beugen und Strecken (Haltungsbewegung) sowie Beugen, Strecken und Drehen (Transportbewegung). Bei parallelen Bewegungsmustern werden überwiegend die Ressourcen in eine Richtung – Beugen und Strecken (Haltungsbewegung) – genutzt, z. B. beim Aufstehen vom Stuhl. Dieses Bewegungsmuster benötigt ziemlich viel Kraft. Beide Körperhälften müssen gleichzeitig Gewicht tragen und sich bewegen. Dieses Muster muss von Anfang bis zum Ende – ohne Pause – durchgeführt werden. Kinder können parallele Bewegungsmuster nicht ausführen. Ihre Arme und Beine sind zu kurz, um das Gewicht steuern zu können. Kinder, die von Erwachsenen in parallelen Bewegungsmustern bewegt werden, können sich nicht beteiligen. Spiralige Bewegungsmuster nutzen Ressourcen in eine und mehrere Richtungen – Beugen, Strecken und Drehen (Tansportbewegung). Das Gewicht wird auf mehrere Körpermassen verteilt sowie innerhalb der Körpermassen in verschiedene Richtungen bewegt. Körpermassen, die gerade kein Gewicht tragen, können das Gewicht steuern. Die Bewegung kann zu jedem Augenblick angehalten und angepasst werden. Wie die Extremitäten eingesetzt werden, legt die Grundlage für das Bewegungsmuster.

Praxistipp Pflege

Die Aktivität Frischmachen ist wohl eine der am häufigsten durchgeführten Aktivitäten. Das Kind benötigt seinen gesamten Körper für diese Aktivität. Spiralige Bewegungsmuster folgen der funktionalen Anatomie bezogen auf Vorderund Rückseiten und sind für die Aktivität Frischmachen hilfreich. Die Pflegefachkraft unterstützt das Kind dabei, sich von der Rückenlage in die Seitenlage zu bewegen (▶ Abb. 16.7a). Der Po des Kindes ist frei und kann gereinigt werden (▶ Abb. 16.7b). Die Windel wird entfernt und die neue Windel kann untergelegt werden. Kinder mit mehr Bewegungsfähigkeit sollten bei der Seitwärtsdrehung ein Bein aufstellen und sich abdrücken. So kommen sie leichter in Bewegung. Werden das Becken und die Beine des Kindes hochbewegt (paralleles Bewegungsmuster), so läuft das Gewicht in Richtung Kopf. Alleine kann das Kind diese Bewegung nicht ausführen (▶ Abb. 16.7c). Diese Bewegung schränkt die Atmung ein. Nach Mahlzeiten kann dieses Bewegungsmuster dazu führen, dass sich das Kind übergibt. Ähnliches passiert, wenn das Becken des Kindes in Richtung Bauch gekippt wird.

Abb. 16.7 Frisch machen. a Im spiraligem Bewegungsmuster dreht sich das Kind mit Unterstützung auf die Seite, (Foto: A. Eichler, Thieme) b der Po ist frei und kann gereinigt werden. (Foto: A. Eichler, Thieme) c Im parallelen Bewegungsmuster werden Becken und Beine fremdbestimmt hochbewegt, die Atmung wird eingeschränkt. (Foto: A. Eichler, Thieme)

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Z ●

16.4 Pflegemaßnahmen

Merke

H ●

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Kinder haben sich bereits vor der Geburt in spiraligen Bewegungsmustern bewegt. Werden sie in diesem Bewegungsmuster unterstützt, können sie an ihre Erfahrung vor der Geburt anknüpfen.

Abb. 16.8 Bewegung. a von der Bauchlage (Foto: A. Eichler, Thieme) b in die Rückenlage. (Foto: A. Eichler, Thieme)

Anstrengung Der Motor für Bewegung ist Anstrengung. Ziehen und Drücken sind die beiden Arten der Anstrengung. Sie werden benutzt, um alle Lebensaktivitäten durchzuführen. Jede Bewegung benötigt dabei das Anund Entspannen der Muskulatur. Direkt nach der Geburt bedarf es eines Erwachsenen, der dem Neugeborenen ermöglicht, seine Extremitäten für ziehende oder drückende Anstrengung einzusetzen.

Praxistipp Pflege

Z ●

Häufig werden Kinder bei der Bewegung von der Bauchlage in die Rückenlage in der Luft gedreht und in die neue Position gebracht. Dabei kann das Kind nur passiv bleiben. Wird es unterstützt, einen Arm unter seinen Brustkorb zu bewegen, kommt es in eine leicht gebeugte Haltung (▶ Abb. 16.8a). Durch die Möglichkeit, mit einem Fuß gegen die Hand der Pflegefachkraft zu drücken, kann es die Anstrengung in seinem Körper aufbauen. Zug am Becken bringt das Gewicht tiefer in den Körper des Kindes, der Kopf kann auf die Hand der Pflegefachkraft rollen. Gibt sie weiter die Richtung vor, bewegt sich das Kind aktiv mit in die Rückenlage (▶ Abb. 16.8b). Beim Positionswechsel zum Sitzen wird das Kind unterstützt, seine Arme vor den Brustkorb gegen die Unterstützungsflächen zu drücken (▶ Abb. 16.9a). So kommt es in eine leichte – erst gedrehte und dann gestreckte – Haltung. Durch diese Möglichkeit kann es gegen die Hand der Pflegefachkraft drücken und die Anstrengung in seinem Körper aufbauen. Zug am Becken bringt das Gewicht tiefer in den Körper, der Kopf des Kindes rollt auf die Hand der Pflegefachkraft. Gibt sie weiter die Richtung vor, bewegt sich das Kind ins Sitzen (▶ Abb. 16.9b).

Abb. 16.9 Bewegung. a von der Bauchlage (Foto: A. Eichler, Thieme) b ins Sitzen. (Foto: A. Eichler, Thieme)

es die Selbstkontrolle über seinen Körper, seine Bewegungsfähigkeit und sein Bewegungsrepertoire ständig erweitern. Die Bewegung des Gewichts von einer Seite auf die andere bildet die Vorbereitung für den nächsten Schritt, das selbstständige Überrollen.

Merke

H ●

Je kleiner ein Kind ist, desto schneller übernehmen Erwachsene die Anstrengung, ohne es zu bemerken.

Menschliche Funktion Die menschliche Funktion befasst sich mit Aktivitäten, die einen bestimmten Zweck verfolgen. Die verschiedenen täglichen Aktivitäten können 2 Kategorien zugeordnet werden: ● einfache menschliche Funktionen: Grundpositionen ● komplexe menschliche Funktionen: Bewegung am Ort und Fortbewegung

Die Bedeutung des Konzeptes Anstrengung

Grundpositionen als einfache menschliche Funktionen

Kann das Neugeborene von Anfang an durch effektives Unterstützen seine eigene Anstrengung in Form von Ziehen und Drücken in jeder Aktivität einsetzen, wird

Insgesamt werden 7 Grundpositionen unterschieden (▶ Abb. 16.10). Mit ihnen kann die Gewichtsverteilung in jeder Position analysiert und effektiv gestaltet

werden. Die Grundpositionen helfen, das Gewicht der Massen in einer Position über Knochenstrukturen zu organisieren, um in der Position im Gleichgewicht bleiben zu können. Sie dienen als Grundlage, um individuelle Positionen anhand der Proportionen eines Kindes gestalten zu können. 1. Rückenlage 2. Bauchlage 3. Sitzen 4. Hand-Knie-Stand (Vierfüßlerstand) 5. Einbein-Knie-Stand 6. Einbeinstand 7. Zweibeinstand ▶ Rückenlage. In der Rückenlage bringen die zentralen Massen Kopf, Brustkorb und Becken ihr Gewicht zur Unterlage (▶ Abb. 16.11). Die Extremitäten Arme und Beine treffen nicht vollständig auf die Unterlage. Der Kopf liegt auf der rechten oder linken Seite. In dieser Position benötigt das Kind eine Unterstützung der Extremitäten und die Möglichkeit, mit dem Fuß gegen etwas zu drücken. So kann es seine Position anpassen. ▶ Bauchlage. Nach der Rückenlage lernt das Kind, sein Gewicht in der Bauchlage zu organisieren. Das Gewicht des schweren Kopfes wird über den Brustkorb und die Extremitäten organisiert (▶ Abb. 16.12). Soll ein Kind in der Bauchlage liegen, braucht es eine passende Unterstützung unter Kopf, Brustkorb und Be-

1

Sich bewegen

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Abb. 16.11 Rückenlage. a ohne Unterstützung, (Foto: A. Eichler, Tübingen) b mit Unterstützung. (Foto: A. Eichler, Tübingen)

Abb. 16.12 Bauchlage. a ohne Unterstützung, (Foto: A. Eichler, Tübingen) b mit Unterstützung. (Foto: A. Eichler, Tübingen)

cken, damit es seine Extremitäten auf der Unterlage einsetzen kann. ▶ Sitzen. Im Sitzen wird das Gewicht von Kopf, Brustkorb und Becken über das Becken und über die Extremitäten organisiert. Um eine sitzende Position halten zu können, muss das Kind seine Arme und Beine einsetzen können (▶ Abb. 16.13). Auf dem Körper eines Erwachsenen ist das für ein Kind leicht möglich, auf einem Stuhl nicht. Bevor ein Kind auf einem Stuhl sitzen kann, müssen seine Extremitäten lang genug und seine Rumpfmuskulatur stark genug ausgebildet sein. ▶ Hand-Knie-Stand. Im Hand-Knie-Stand oder Vierfüßlerstand ist das Gewicht der zentralen Körpermassen vollständig über die Extremitäten organisiert. Damit das Kind diese Position kontrollieren kann, muss es sein Gewicht über die Knie und die Unterschenkel und Fußrücken in Richtung zur Unterstützungsfläche leiten können. Die Arme steuern das Gewicht.

Abb. 16.10 Bewegungsablauf vom Liegen zum Stehen.

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Abb. 16.13 Sitzen. (Foto: A. Eichler, Tübingen)

▶ Einbein-Knie-Stand. Im Einbein-KnieStand läuft das Gewicht hauptsächlich über das Bein, das mit Knie und Schienbein am Boden ist. Das aufgestellte Bein kontrolliert über den Fuß die Position und hält das Kind im Gleichgewicht, seine Arme unterstützen die Balance. Kinder nut-

16.4 Pflegemaßnahmen zen diese Position auch, um sich auf dem Boden zu bewegen oder um vom Boden aufzustehen. ▶ Einbeinstand. Der Einbeinstand erfordert die Organisation des Gewichts über ein Bein, das andere Bein ermöglicht die Anpassungsbewegung, um im Gleichgewicht zu bleiben. Die Unterstützungsfläche, über die das Gewicht organisiert wird, ist klein. Das Kind muss sich hier – als Grundlage für das freie Laufen – immer wieder ausbalancieren. Dazu setzt es seine Arme ein. ▶ Zweibeinstand. Der Zweibeinstand benötigt die Fähigkeit, das Gewicht der Massen gleichmäßig über beide Füße am Boden zu verteilen. Diese Position ist sehr statisch. Das Kind muss sein Gewicht hin und her von einem Bein auf das andere bewegen, damit es im Gleichgewicht bleibt. Kann es seine Hände einsetzen, um sich zu halten oder loszulassen, erarbeitet es die notwendige Selbstkontrolle für das Gehen.

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Abb. 16.14 Trinken bzw. Essen. a Säugling, (Foto: A. Eichler, Tübingen) b größeres Kind. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Lernaufgabe

Trinken Sie etwas und beachten Sie, wie wichtig die Bewegung des Arms ist, um trinken zu können und wie wichtig eine aufrechte Körperhaltung ist.

Merke Bewegung am Ort als komplexe menschliche Funktion Kann ein Kind in einer Position im Gleichgewicht sein, so kann es weitere Aktivität in dieser Position durchführen. Aus der Bewegungsperspektive wird diese Kombination aus Position und Aktivität als komplexe menschliche Funktion im Sinne einer Bewegung am Ort beschrieben.

Praxistipp Pflege

Z ●

Beim Trinken, Essen und Schlucken (▶ Abb. 16.14) ist es hilfreich, wenn die zentralen Körpermassen Kopf, Brustkorb und Becken in einer Achse übereinander organisiert sind. Die Füße brauchen einen Kontakt zur Unterstützungsfläche, durch Drücken gestalten sie den Spannungsaufbau zwischen Kopf, Brustkorb und Becken. Die Arme und Hände sind frei, um das Getränk zum Mund zu führen. Das Trinkgefäß darf nicht zu groß und nicht zu schwer sein, damit das Kind seine Anstrengung mit einbringen kann. Gut ist es, wenn das Kind seinen Löffel bzw. Becher selbst hält, um die Bewegung des Brustkorb und Kopfes für das Schlucken zu koordinieren.

M ●

H ●

Gestalten Sie erst Ihre eigene Position, dann die Position des Kindes und beginnen Sie dann erst mit dem Anreichen der Getränke bzw. Nahrung.

Fortbewegung als komplexe menschliche Funktion Fortbewegung beschreibt die Bewegung von einem Ort an einen anderen oder von einer Position in eine andere. Es werden 2 Fortbewegungsarten unterschieden: ● Springen oder Hüpfen ● gehende Fortbewegung ▶ Springen oder Hüpfen. Beim Springen oder Hüpfen findet die Verlagerung des Gewichts in der Luft statt. Kinder – vor allem (sehr) kleine – können sich auf diese Art nicht selbstständig bewegen. Weil sie klein und leicht sind, werden sie jedoch häufig von Erwachsenen von einem Ort an einen anderen gehoben (gehüpft). ▶ Gehende Fortbewegung. Findet die Bewegung des Gewichts auf einer Unterstützungsfläche statt, handelt es sich um eine gehende Fortbewegung (Gehen). Gehende Fortbewegungen können in allen Positionen und durch alle Positionen durchgeführt werden, auch in der Rückenlage (z. B. beim „Hochrutschen“ im Bett). Kinder können dieser Art der Fortbewegung leichter folgen, da das Gewicht ihres Körpers auf einer Unterlage bewegt wird.

Praxistipp Pflege

Z ●

Beim Aufstehen bieten die Grundpositionen eine Struktur, um von unten nach oben und zurück zu gelangen. Um den Weg vom Sitzen in den Vierfüßleroder Hand-Knie-Stand zu erfahren, muss das Gewicht von Kopf, Brustkorb und Becken über den Oberschenkel, das Knie und den Unterschenkel auf den Fuß zum Boden geleitet werden. Wenn die Extremitäten des Kindes im Rahmen seines Wachstums länger werden und sich die Gewichtsverteilung der zentralen Massen verändert hat, kann das Kind diesen Positionswechsel selbst bewältigen. Wenn es in dieser Position sein Gleichgewicht ausbalancieren kann, beginnt es mit der Verlagerung des Gewichts von der einen auf die andere Seite sowie vor- und rückwärts. Damit erhält es eine immer bessere Kontrolle über sein Gewicht und kann sich mittels Krabbeln fortbewegen.

Lernaufgabe

M ●

Beachten Sie Ihre Bewegung, wenn Sie sich aus einer tiefen in eine höhere Position bewegen (z. B. um etwas aufzuheben). Analysieren Sie, wie Sie sich kopfwärts im Bett bewegen.

Umgebung Die Möglichkeiten des Kindes, seinen ganzen Körper einzusetzen, sind abhängig von der Umgebung. Das Erlernen der Bewegungsfähigkeit wird unterstützt, wenn die Umgebung des Kindes so gestaltet ist, dass es seine Bewegung aktiv einsetzen kann. Eine feste Unterlage ermöglicht Bewegung, eine weiche Unterlage reduziert diese. Kommen Füße oder Hände auf eine stabile Unterlage, kann das Gewicht von

3

Sich bewegen

16

Abb. 16.15 Oberkörperhochlage. (Foto: A. Eichler, Tübingen)

Kopf, Brustkorb und Becken in jeder Aktivität leichter kontrolliert werden.

Praxistipp Pflege

Z ●

Zur Unterstützung der Atmung sollte ein Kind in einer erhöhten Position sein (▶ Abb. 16.15). Damit es dort bleiben kann, benötigt es eine Unterstützung unter den zentralen Massen. Ferner muss sich das Kind dieser Position anpassen können. Am besten gelingt dies durch den Einsatz seiner Extremitäten (mindestens ein Bein und ein Arm), die hierzu eine Unterstützung brauchen, die einen Widerstand bietet. In einer gut organisierten Position kann ein Kind die Arme und Beine einsetzen, um seine Atmung mit Ziehen und Drücken zu regulieren.

16.4.3 Unterstützen einer Körperposition

Hilfestellung bei der Positionsunterstützung

Eine Position kann definiert werden anhand der Art und Weise, wie die einzelnen Körperteile und Extremitäten in ihr organisiert sind. Die 7 Grundpositionen (S. 411) können bei der Beschreibung einer Position hilfreich sein. Für gesunde Menschen ist es einfach, eine Position einzunehmen, sich in ihr zu bewegen und ihr anzupassen. Für kranke oder eingeschränkte Menschen kann das anders sein: Häufig wird hier die Position – durch äußere Umstände – vorgegeben. Eine Position muss so gestaltet sein, dass es möglich ist, sich in ihr zu bewegen. Die physiologischen und psychologischen Folgen von Bewegungslosigkeit (Immobilität) sind bekannt. Bereits kurze Immobilität, gekoppelt mit ineffektiver Bewegung, hat Auswirkung auf unterschiedliche Organsysteme. ● Nach wenigen Tagen können Herzfrequenz und Atmung verlangsamt sein. ● Verdauung und Ausscheidung sind eingeschränkt. ● Wasser lagert sich im Gewebe ein und führt zu Ödemen. ● Nicht benutzte Muskulatur wird rasch abgebaut. ● Gelenke, die nicht bewegt werden, können ihr Bewegungspotenzial verlieren und Kontrakturen entstehen (S. 402). ● Bei dauerhaftem Druck auf einen Hautbezirk kommt es zur Verminderung der Durchblutung und somit zur Verringerung oder zum Erliegen des Stoffwechsels mit der Folge eines Dekubitus (S. 403). ● Der venöse Rückstrom ist verlangsamt, es besteht die Gefahr der Thrombose.

Die Unterstützung in eine Position sollte nur dann erfolgen, wenn sie therapeutisch vorgegeben oder unbedingt erforderlich ist (▶ Tab. 16.13). Auch die Übernahme von Bewegungen oder Teilen der Bewegung sowie das Anreichen von Gegenständen (Spielzeug) sollten nur dann erfolgen, wenn das Kind die Aktivitäten nicht selbst durchführen kann. Für alle Kinder, die eine Unterstützung in einer Position erfahren, ist die Anatomie des Kindes ausschlaggebend. ▶ Hilfsmittel zur Positionsunterstützung. Zur Positionsunterstützung von Kindern steht eine Vielzahl von Materialien zur Verfügung. Allerdings können viele Hilfsmittel die Eigenbewegung einschränken oder zu einer Temperaturerhöhung führen. Vor Beginn der Positionsunterstützung sollte überlegt werden, welche Absicht verfolgt wird. Generell sollte beim Einsatz von Hilfsmitteln auf folgende Eigenschaften geachtet werden: ● hautfreundlich ● gut zu reinigen ● einfach zu desinfizieren ● luftdurchlässig ● flüssigkeitsdurchlässig oder aufsaugend ● leicht zu handhaben Folgende Materialien werden häufig benutzt: ● Kissen verschiedener Größen, speziell angefertigte Hilfsmittel zur Positionierung mit unterschiedlichen Füllungen ● Handtücher, Moltontücher, Windeln ● Bettdecken in verschiedenen Größen ● druckentlastende Systeme, Gelkissen ● Materialien zur Weichlagerung

Tab. 16.13 Indikationen, Ziele und Kriterien der Positionsunterstützung. Indikationen

Ziele

verminderte Gelenkbeweglichkeit

Erhaltung und Förderung der Mobilität, Aktivierung der Eigenaktivität, Unterstützung bei der Durchführung von alltäglichen Aktivitäten

muskuläre Hypotonie

Regulation des Muskeltonus

muskuläre Hypertonie

Regulation des Muskeltonus

therapeutische Ursachen, z. B. Ruhigstellung

Unterstützung vitaler Prozesse (z. B. Atmung), Reduktion von Schmerzen, Druckentlastung

nicht weiter spezifizierte Ursachen

Veränderung/Anpassung von Bewegungsmustern, Verbesserung der Körperwahrnehmung, Entwicklungsförderung und Unterstützung

Es gelten folgende allgemeinen Kriterien: ● ● ● ● ● ●

414

Körperteile brauchen eine große Auflagefläche für ihr Gewicht Körperteile sollten nicht direkt auf anderen Körperteilen liegen physiologische Stellung der Extremitäten beachten Reduktion der Muskelspannung Hände und/oder Füße sollten über Ziehen oder Drücken Bewegung ermöglichen häufige kleine Wechsel der Positionen

16.4 Pflegemaßnahmen

Merke

H ●

16

Weiches Material reduziert die Bewegung, festes Material erleichtert die Eigenbewegung.

Rückenlage Das Bett ist flach, der Kopf kann mit einem Kissen unterstützt werden. Die Arme können flach auf der Unterlage liegen, an den Brustkorb angelehnt oder mit Kissen unterstützt werden (▶ Abb. 16.16). Ein Bein (bei Wunsch auch beide) kann aufgestellt werden. Das Becken kippt in Richtung Unterlage, die Auflagefläche vergrößert sich. Die Bauchmuskulatur ist entspannt. Durch das Drücken mit dem Fuß gegen die Unterlage wird die eigene Bewegung gefördert. Das Kind kann sich – wenn möglich und erlaubt – von der Rücken- in die Seitenlage bewegen. Werden die Knie mit einer Rolle unterstützt, läuft das Gewicht der Beine Richtung Becken und Ferse. Diese Unterstützung sollte insbesondere bei Kindern, die ihr Bein nicht selbst wegbewegen können, nicht zu lange beibehalten werden. Das Gewicht auf die kleine Fläche der Ferse führt rasch zu einer Minderdurchblutung des Gewebes mit der Folge einer Hautrötung, Druckstelle oder eines Dekubitus. Eine schwere Bettdecke kann die Füße in eine Überstreckung bringen. Muss die Position über einen längeren Zeitraum so eingehalten werden, sollte die Bettdecke nicht direkt auf den Füßen liegen.

Oberkörperhochlage Das Kopfteil des Bettes wird hochgestellt oder der Oberkörper des Kindes mittels mehrerer „Stufen“ erhöht. Kopf, Brustkorb und Becken müssen ihr Gewicht auf die Unterstützungsfläche und die Sitzbeinhöcker bringen können (▶ Abb. 16.17). Beugen findet auf der Ebene des Hüftgelenkes statt. Auf dieser Höhe muss sich der „Knick“ des Bettes befinden. Ist das nicht der Fall, wird der Oberkörper zwischen Becken und Brustkorb gebeugt mit der Folge eines erhöhten Drucks auf den Magen und einer Behinderung der Atmung. Das Gewicht der 3 zentralen Körperteile Kopf, Brustkorb und Becken läuft auch in Richtung der Sitzbeinhöcker. Hier benötigt das Kind ebenfalls eine Unterstützung, sonst rutscht es ab. Die Arme benötigen eine Unterstützung unter den Unterarmen oder Ellenbogen, um die seitliche Kontrolle und Anpassung der Position zu unterstützen. Die Beine benötigen eine Unterstützung (z. B. seitlich am Oberschenkel). Kann ein Fuß gegen die Unterlage gedrückt werden, kann das Kind sich

Abb. 16.16 Rückenlage. (Foto: A. Eichler, Tübingen)

Abb. 16.17 Oberkörperhochlage. (Foto: A. Eichler, Tübingen)

Abb. 16.18 135° Bauchlage. (Foto: A. Eichler, Tübingen)

Abb. 16.19 Seitenlage. (Foto: A. Eichler, Tübingen)

aufrichten oder seine Position leicht verändern. In der Oberkörperhochlage über die Stufenlage ist es von Bedeutung, dass jede Körpermasse auf einer Stufe liegt. Die letzte Stufe endet tief im Becken auf Höhe des Hüftgelenks. Der Oberkörper ist aufrecht. Auch in dieser Position benötigen die Sitzbeinhöcker am Becken und die Extremitäten eine Unterstützung, sonst rutscht das Kind ab.

Bauchlage, flach oder 135° Das Kopfteil des Bettes kann flach oder leicht erhöht sein. Je nach Position des Kopfteils müssen die Beugefunktion und die Aufrichtung von Becken, Brustkorb und Kopf berücksichtigt werden (▶ Abb. 16.18). In der Bauchlage wird das Gewicht der zentralen Körperteile direkt auf einer Unterstützungsfläche organisiert, die Arme und Beine kontrollieren die Position. Möglicherweise brauchen die Unterschenkel eine Unterstützung, damit die Füße nicht in einer dauerhaften Überstreckung liegen. In 135° Bauchlage werden Kopf, Brustkorb und Becken sowie das oben liegende Bein mit Hilfsmitteln unterstützt. Eine physiologische Mittelstellung der Gelenke wird angestrebt.

Seitenlage Das Kopfteil des Bettes ist flach, leicht erhöht oder es wird eine Stufenlage verwendet. Die Seitenlage kann in verschiedenen Winkeln (30°– 90°) durchgeführt werden. Die zentralen Körperteile (Kopf, Brustkorb, Becken) benötigen eine nicht unbedingt durchgängige Unterstützung (▶ Abb. 16.19). Soll die Seitenlage erhöht sein, muss die Beugung im Hüftgelenk berücksichtigt werden. Die Extremitäten sind in physiologischer Position gebeugt und werden unterstützt.

Sitzen Im Sitzen wird das Gewicht der zentralen Körperteile in Richtung der Sitzbeinhöcker geleitet. Die Arme kontrollieren das Gewicht des Brustkorbs, die Beine das des Beckens (▶ Abb. 16.20). Eine sitzende Position kann leicht auf der Bettkante oder einem Stuhl eingenommen werden. Der Kontakt zum Boden erfolgt entweder direkt oder indirekt über einen Hocker. Das Becken ist frei beweglich und kann die Aufrichtung von Brustkorb und Kopf initiieren. Im Bett zu sitzen ist über ein erhöhtes Kopfteil möglich. Die Unterstützung tief im Becken vereinfacht die Aufrichtung. Die Beine können – falls möglich – im Schneidersitz unterstützt werden.

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Sich bewegen

Tab. 16.14 Hilfsmittel zum Positionswechsel.

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Abb. 16.20 Sitzen. (Foto: A. Eichler, Tübingen)

Merke

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Positionsunterstützungen müssen immer individuell angepasst werden, sie orientieren sich insbesondere nach den anatomischen Gegebenheiten und Bewegungsmöglichkeiten des Kindes.

Hilfestellung beim Positionswechsel (Mobilisation) Positionswechsel beschreibt den Prozess, Menschen in Bewegung zu bringen. Die Unterstützung beim Positionswechsel (z. B. vom Liegen ins Sitzen oder vom Sitzen zum Stehen) berücksichtigt immer die kleinstmögliche Eigenbewegung (Ressource) der betroffenen Person. So erfährt sie die eigene Fähigkeit, was wiederum wesentlich zum Genesungsprozess und zur Aktivierung innerer Prozesse beiträgt. Die Atmung wird vertieft, die Sekretmobilisation und das Abhusten werden erleichtert. Kreislauf, Stoffwechsel und Verdauung werden durch die Muskelarbeit angeregt und unterstützen die Ausscheidung. Die Pflegefachkraft sollte sich im Vorfeld über die Wirkung und mögliche Gefahren beim Bewegungsablauf informieren, um ggf. Hilfsmittel bereitstellen zu können. Sie muss den jeweiligen Unterstützungsbedarf einschätzen, gewährleisten und kontinuierlich anpassen.

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Hilfsmittel

unterstützt

Bettbügel

die Bewegung des Hochziehens in Richtung Zimmerdecke

Bettleiter

die Bewegung des Oberkörpers zum Aufrichten

Rutschbrett

den Positionswechsel (z. B. vom Bett in den Stuhl) durch Herübergleiten

Rollbrett

den Positionswechsel des gesamten Körpers (z. B. von einem Bett in ein anderes oder auf den Röntgentisch)

Anti-Rutsch-Matte, Anti-Rutsch-Socken

die Verhinderung des Wegrutschens (z. B. Füße beim Kopfwärtsbewegen im Bett)

Drehscheibe

das Umsetzen eines bewegungseingeschränkten Kindes

Gehhilfen

Kinder mit Einschränkungen beim Gehen, kurzfristig oder dauerhaft (z. B. Gehstock, Unterarmstützen, Vierfußgehhilfe, Rollator)

Rollstuhl

Kinder, die sich nicht/unzureichend fortbewegen können

Eltern

a ●

Eltern sollten – wenn möglich – in die Bewegungsprozesse miteinbezogen werden, insbesondere bei Kindern mit Bewegungseinschränkungen können sie sehr hilfreich sein, da Kinder an die Art der Bewegung ihrer Eltern gewöhnt sind.

Merke

H ●

In bestimmten Situationen sollte der Positionswechsel mit dem Arzt abgesprochen werden. Er bedarf u. U. sogar der ärztlichen Anordnung.

▶ Aspekte für den Positionswechsel. Es ist nicht immer einfach, Kinder zu einem Positionswechsel zu bringen. Hilfreich ist es, ihn mit einer zusätzlichen Absicht zu verbinden, z. B. anstehende Pflegemaßnahmen oder eine weitere Aktivität (z. B. Spielen oder Essen). Hat das Kind lange in einer Position verbracht, sollte es vor dem Positionswechsel kleine Bewegungen (z. B. mit den Händen, Füßen, Beinen und Armen) durchführen. Dies regt den Kreislauf an, fördert die Selbstwahrnehmung, aktiviert Bewegungsressourcen und dient dem Erkennen möglicher Schmerzen. ▶ Grundsätzliches zum Positionswechsel. Bei der Durchführung ist Folgendes zu beachten: ● Zeitrahmen ● Verabreichen erforderlicher/angeordneter Schmerzmittel ● Bewegungsressourcen des Kindes ● Überprüfen von Zu- und Ableitungen ● Belastbarkeit des Kindes







● ●







evtl. zweite Pflegefachkraft zur Unterstützung Bewegungsablauf mit den Beteiligten besprechen Platz schaffen für das Kind und die unterstützenden Personen Hilfsmittel (wenn erforderlich) bewegungsunterstützende Prinzipien berücksichtigen (z. B. Bobath, Kinaesthetics) klare Bewegungsanleitung verbal und/ oder bewegungsgelenkt Kind sollte während des Bewegungsprozesses seine Extremitäten selbst einsetzen können die eigene Belastung im Bewegungsablauf wahrnehmen und anpassen durch Mitbewegen

▶ Hilfsmittel zum Positionswechsel. Hilfsmittel können eingesetzt werden, um Kinder mit eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten zu unterstützen (▶ Tab. 16.14). Sie sollten bezüglich Größe und Gewicht an die Bewegungsfähigkeit des Kindes angepasst sein. Generell können Hilfsmittel auch dazu dienen, die Anstrengung für einen Bewegungsablauf zu reduzieren und die Selbstständigkeit zu fördern.

Positionswechsel von der Rücken- in die Seitenlage Das Kind liegt zu Beginn in der Rückenlage und stellt ein Bein auf. Die Bewegungsrichtung wird durch das ausgestreckte Bein angezeigt (▶ Abb. 16.21a). Das Kind drückt mit dem aufgestellten Bein auf die Matratze und kippt es in Richtung des ausgestreckten Beins. In diese Richtung bewegt es auch seinen Kopf. Mit seiner Hand kann das Kind am Bettgitter oder an der Hand der Pflegefachkraft ziehen. Sie unterstützt den Bewegungsprozess ggf. an Brustkorb und Becken.

16.4 Pflegemaßnahmen Um bis ins hohe Alter ohne Rückenbeschwerden arbeiten zu können, ist es sinnvoll, sich rechtzeitig Gedanken darüber zu machen, welche Möglichkeiten es gibt, sich rückenschonend zu halten, zu bewegen und zu arbeiten. Die Wirbelsäule ist im Alltag vielen Belastungen ausgesetzt: ● Stehen oder Sitzen mit einem gebeugten Rücken ● ruckartiges Aufrichten aus dem gebeugten Rücken ● schnelle drehende Bewegungen ● Heben und Tragen von schweren Gewichten ● Heben und Tragen von geringem Gewicht körperfern (Wegheben eines Kindes von der Unterlage)

Abb. 16.21 Positionswechsel. a Von der Rücken- in die Seitenlage, (Foto: A. Eichler, Tübingen) b von der Seitenlage zum Sitzen, (Foto: A. Eichler, Tübingen) c vom Sitzen zum Stehen. (Foto: A. Eichler, Tübingen)

16

Muskel-, Skelett- und Gelenkschmerzen können die Folge sein und führen häufig zu Arbeitsausfall, dauerhaften Schäden der Bandscheiben bis hin zur Berufsunfähigkeit.

Maßnahmen der Gesundheitsförderung Positionswechsel von der Seitenlage zum Sitzen In der Seitenlage mit leicht erhöhtem Kopfteil beugt das Kind beide Beine an. Der unten liegende Arm ermöglicht dem Kind, sich mit dem Ellenbogen auf der Matratze abzustützen. Die Hand des oben liegenden Arms wird diesen Prozess unterstützen. Das Kind beugt Kopf und Brustkorb vorwärts, bringt sein Gewicht auf den Ellenbogen und stützt sich ab (▶ Abb. 16.21b). Die Pflegefachkraft kann dem Kind helfen, seine Beine nacheinander aus dem Bett zu bewegen. Im Sitzen sollte das Kind mit seinen Füßen den Boden berühren, ansonsten benötigt es einen Hocker. Die Arme stützen das Kind, indem sie beide seitlich auf die Matratze drücken.

Positionswechsel vom Sitzen zum Stehen Wenn das Kind stabil auf der Bettkante sitzen kann und die Füße einen guten Kontakt zum Boden haben, kann es entweder parallel (beide Füße stehen nebeneinander) oder in einem spiraligen Bewegungsmuster (die Füße stehen versetzt am Boden) aufstehen (▶ Abb. 16.21c). Kann das Kind nicht selbstkontrolliert stehen, benötigt es die Unterstützung einer Pflegefachkraft oder es setzt sich gleich in einen bereitgestellten Stuhl um.

Unterstützen beim Gehen Kann das Kind selbstkontrolliert stehen, dann ist auch eine Fortbewegung möglich. Hier sollte die Pflegefachkraft ggf. das Kind unterstützen, sein Gewicht zu verlagern und dabei im Gleichgewicht zu bleiben. Auch hier sollte darauf geachtet werden, dass das Kind mindestens einen Arm/eine Hand frei hat, um sich abzustützen.

16.4.4 Rückenschonende Arbeitsweisen Pflegefachkräfte gelten immer noch als die Berufsgruppe mit den meisten Problemen des Muskel- und Skelettsystems.

Ursachen von Rückenbeschwerden Als Ursachen für Rückenbeschwerden kommen folgende Punkte infrage: ● Hebe- und Trageaktivitäten ● lang andauerndes Halten einer bestimmten Position (z. B. bei Blutentnahmen, Punktionen, Untersuchungen, die das Halten des Kindes erfordern) ● vorgegebene Positionen, die nur geringfügig verändert werden können (z. B. Stillanleitung, das Arbeiten am Inkubator)

Die Gesundheitsförderung der Mitarbeiter ist ein wichtiges Thema. Viele Kliniken haben diesen Aspekt in ihrem Leitbild verankert. Um diesem Ziel näher zu kommen, gibt es verschiedene Bewegungskonzepte (z. B. Aktivitas, Bobath, Rückenschule, Kinaesthetics). Die Konzepte werden von Krankenkassen, Berufsgenossenschaften oder Arbeitgebern angeboten. Die Umsetzung und Unterstützung in der Praxis sind unterschiedlich, häufig werden mehrere Konzepte und der Einsatz von Hilfsmitteln kombiniert. Alle Konzepte verfolgen 2 Ziele: ● Bewegungsunterstützung des Patienten ● Beachtung von Haltung und Bewegung der Pflegefachkräfte selbst Die Schulung und Qualifizierung der Mitarbeiter und Überprüfen des Gelernten müssen regelmäßig erfolgen. Zusätzlich müssen bauliche Aspekte gewährleistet sein (z. B. ausreichend Platz im Patientenzimmer). Bei einer optimalen Haltung sind die aktiven und passiven Strukturen (Knochen, Knorpel und Kapsel-Band-Apparat) am wenigsten belastet und die Muskulatur kann effizient arbeiten. Die Bewegungsfähigkeit der Mitarbeiter wird durch folgende Punkte unterstützt: ● Lernen, auf die eigene Bewegung zu achten. Das heißt den Kraftaufwand, der für eine Aktivität im Umgang mit dem Patienten, aber auch in anderen Aktivitäten eingesetzt wird, z. B. Bettenmachen, Infusionenaufhängen, erkennen.

7

Sich bewegen ●

16

● ●

418

Veränderung der eigenen Position, sich mitzubewegen im Positionswechsel, Hilfsmittel sinnvoll einsetzen, lernen, die Körperspannung zu regulieren und sich effektiv in jeder Situation anzupassen. Beachten und Anpassen der Betthöhe. Einschätzung der Bewegungsressourcen des Patienten und Einbeziehen des Patienten in die Aktivität.







Beachten und Anpassen der Position in Aktivitäten, die ein längeres Stehen oder Sitzen erfordern. Umgebungsgestaltung, sodass der Patient in seiner Eigenbewegung unterstützt wird und die Pflegefachkraft ausreichend Platz für ihre eigene Bewegung hat. Einnehmen verschiedener Positionen bei der Arbeit, z. B. abwechselnd sitzen, stehen und bewegen.





Erkennen, wann ein Gewicht gehoben werden muss oder es auch anders bewegt werden kann. Zweite Person – wenn nötig – in den Bewegungsprozess integrieren.

Die Verantwortung für ein rückenschonendes Arbeiten bzw. das Beachten der eigenen Anstrengung in der Gestaltung der Aktivitäten mit dem Patienten und auch in anderen Aktivitäten liegt trotz aller Angebote immer bei den Pflegefachkräften.

Kapitel 17 Schlafen

17.1

Bedeutung

420

17.2

Beeinflussende Faktoren

420

17.3

Beobachten und Beurteilen

421

17.4

Pflegemaßnahmen

425

17.5

Krankenbett

428

Schlafen

17 Schlafen Simone Teubert

17.1 Bedeutung 17

Der Schlaf ist ein wesentlicher Faktor im gesamten biologischen Rhythmus eines jeden Lebewesens. Fälschlicherweise glauben viele Menschen, dass Schlafen eine passive Tätigkeit ist. Doch während der Mensch schläft, läuft eine Vielzahl von Regenerationsprozessen im Körper ab. Der Organismus erholt sich, es werden Eindrücke des vergangenen Tages verarbeitet, das Gedächtnis festigt sich. Jeder Mensch schläft rund ein Drittel seines Lebens. Das individuelle Schlafbedürfnis und Schlafverhalten ändern sich abhängig von Lebensalter, Gefühlslage und Anforderungen von außen.

17.2 Beeinflussende Faktoren Der Schlaf ist i. d. R. ein Vorgang, der selbsttätig abläuft. Die Lebensaktivität Schlafen ist eng mit anderen Lebensaktivitäten (z. B. Bewegung, Essen und Trinken, Beschäftigung, Spielen und Lernen) verknüpft.

17.2.1 Körperliche Faktoren Merke

● H

Das Schlafverhalten verändert sich bezüglich Dauer, Tiefe und Qualität im Laufe eines Lebens. Das biologische Alter eines Menschen nimmt Einfluss auf sein Schlafverhalten und -erleben.

Jeder Mensch besitzt eine sog. innere Uhr, diese reguliert: ● allgemeine Stoffwechselvorgänge ● die Verdauung ● die Atem- und Herztätigkeit ● die Wach-, Ruhe- und Schlafphasen Die innere Uhr wird v. a. vom Tageslicht beeinflusst, was zur Folge hat, dass die meisten Menschen nachts schlafen und tagsüber aktiv sind. Äußere Zeitgeber verändern den Schlaf-Wach-Rhythmus. So verändern z. B. lange Flugreisen und Schichtdienste das gewohnte Schlafverhalten. ▶ Körperliche Bewegung. In Abhängigkeit von sportlicher Betätigung, Spiel oder körperlicher Arbeit ändert sich der Bedarf nach Ruhe und Erholung. Zu wenig Bewegung beeinflusst ebenfalls das Schlafbedürfnis und die Schlafqualität des Menschen.

420

▶ Essen und Trinken. Der Zeitpunkt des Abendessens und die Wahl der Speisen spielen eine große Rolle für einen erholsamen Schlaf. Schwer verdauliche Speisen am Abend, der Genuss von Alkohol oder koffeinhaltigen Getränken (z. B. Cola oder Kaffee) können das Ein- und Durchschlafen stören. Dies kann auch gestillte Säuglinge betreffen, deren Mütter diese Speisen bzw. Getränke zu sich genommen haben. ▶ Medikamente. Medikamente können auf das Schlafverhalten Einfluss nehmen: ● Diuretika unterbrechen durch gesteigerten Harndrang die Nachtruhe. ● Atemunterstützende Medikamente wirken nicht nur auf die Atmung stimulierend und können zu Unruhe führen. ● Sedativa (eingesetzt zur Beruhigung bei diagnostischen Maßnahmen am Tag) können zu Störungen des Schlaf-WachRhythmus führen. Der Einsatz schlaffördernder Medikamente erfolgt v. a. im postoperativen bzw. intensivstationären Bereich. Die Medikamente sollen dem kranken Kind zu erholsamem Schlaf verhelfen. Bessert sich der Zustand des Kindes, wird auf die medikamentöse Unterstützung i. d. R. verzichtet. ▶ Gesundheitsstörungen. Sie haben oft einen erheblichen Einfluss auf das Schlafverhalten und die erholsame Nachtruhe. So wird z. B. Juckreiz als besonders quälend empfunden, aber auch Fieber, Schnupfen, Husten und Schmerzen können zu einer deutlichen Beeinträchtigung des Schlafes führen. Organische Störungen im Rahmen einer Erkrankung des Zentralnervensystems sind ebenfalls häufig mit schweren Schlafstörungen verbunden.

17.2.2 Psychische Faktoren Die Stimmungslage eines Menschen beeinflusst seine Fähigkeit, erholsamen Schlaf zu finden und ausgeruht aufzuwachen. Die Gründe für die Schlafstörungen nehmen Einfluss darauf, ob der Schlaf subjektiv als erholsam empfunden wird oder nicht. So erlebt ein glücklicher Mensch die zeitweise auftretende Schlaflosigkeit nicht beeinträchtigend; ein von Sorgen geplagter und in seinem Schlafbedürfnis gestörter Mensch fühlt sich am Morgen dagegen wie „gerädert“.

Merke

H ●

Eine ausgeglichene Stimmungslage fördert den erholsamen Schlaf. Starke Glücksgefühle, Erfolgserlebnisse, aber auch Stress, Sorgen und depressive Verstimmungen können dem Menschen den Schlaf „rauben“.

▶ Äußere Reize. Auf Kinder strömt jeden Tag eine Vielzahl von Reizen und Erlebnissen ein, deren Auswirkungen nicht immer für Eltern und Bezugspersonen offensichtlich sind. Aufgrund der heutigen Medienvielfalt und eines Fernsehprogrammes, das rund um die Uhr sendet, konsumieren Kinder, oft unbegleitet, Sendungen und Filme, die nicht altersgemäß sind. Kinder verbringen heute viele Stunden täglich vor dem Computer oder mit dem Smartphone. Einerseits gehört dies inzwischen zum schulischen Alltag, andererseits haben die Kinder dadurch oft auch Zugang zu nicht altersentsprechenden Spielen und Websites. Die nicht alterskonformen Inhalte werden in nächtlichen Träumen verarbeitet und können z. B. zu Albträumen führen. Ist der Tagesablauf in seiner regelmäßig wiederkehrenden Form verändert (z. B. durch Eintritt in den Kindergarten oder die Schule, Stundenplanänderungen, Ferien, Neuorientierung der Eltern im Berufsleben), kann dies ein Kind aus dem inneren Gleichgewicht bringen. ▶ Angst. Angst ist eine das Leben stark beeinflussende Emotion, die v. a. quälend wird, wenn der Mensch, besonders ein Kind, sich alleine mit den Ursachen auseinandersetzen muss oder glaubt, alleine gelassen zu sein. Hierbei können völlig normale Faktoren (z. B. Dunkelheit, ungewohnte nächtliche Geräusche oder Unterbringung in einer fremden Umgebung) auslösende Momente sein. Aber auch nicht näher definierbare Ängste (z. B. Verlustangst durch Trennung der Eltern, Konkurrenzangst bei Geburt eines Geschwisters) oder die Angst zu versagen (z. B. in der Schule) beeinflussen das Gefühlsleben stark. Es kann dadurch zu Schlafstörungen infolge mangelnder Entspannungsfähigkeit kommen.

Merke

H ●

Konflikte im näheren sozialen Umfeld eines Kindes können ebenfalls Gefühle wie Erregung und Angst hervorrufen, die einem entspannten und erholsamen Schlaf nicht zuträglich sind.

17.3 Beobachten und Beurteilen ▶ Gewohnte Rituale. Selbst im Erwachsenenalter haben viele Menschen ihre ganz eigenen Einschlafrituale, die sie allabendlich wiederholen. Dies kann z. B. die Lektüre kurz vor dem Einschlafen oder Entspannungsübungen sein. Bei Kindern sind sie in ihrer Bedeutung für ein entspanntes Einschlafen oft von sehr großer Wichtigkeit. Sie kehren immer in der gleichen Form wieder und meistens sind immer dieselben Personen daran beteiligt. Der Zeitrahmen ist oft festgesetzt und spezielle Gegenstände oder Vorgänge spielen eine wichtige Rolle. So baden oder duschen viele Kinder vor dem Zubettgehen. Je nach Alter kann eine Spieluhr oder Musik das Kind in den Schlaf begleiten, viele Eltern erzählen bzw. lesen eine Geschichte vor. In vielen Familien der verschiedenen Kulturkreise ist es üblich, den Tag mit einem Nachtgebet zu beschließen.

17.2.3 Soziokulturelle Faktoren ▶ Schlafplatz. In vielen Kulturen ist es nicht ungewöhnlich, dass sich ganze Familien einen Schlafplatz teilen. Die kleinsten Kinder schlafen meist mit im elterlichen Bett.

Merke

H ●

Auch in Deutschland gewinnt das sog. Co-Sleeping (das Kind schläft in unmittelbarer Nähe zu einem Elternteil) immer mehr an Bedeutung. Das Schlafen in einem Bett oder auf einer Liegefläche, das Bed-Sharing, ist nicht zu empfehlen, da es nicht den empfohlenen Kriterien der gesunden Schlafumgebung entspricht.

Aus diesem Grund ist es wichtig, die begleitenden Bezugspersonen von Säuglingen über die neuesten Erkenntnisse der gesunden Schlafumgebung zu informieren. Die Form und die Nutzung eines Bettes unterscheiden sich ebenfalls sehr stark. In einigen Kulturen schlafen die Menschen lediglich auf einer Unterlage, die sie vor dem nackten Boden schützt und die nach Gebrauch zusammengerollt und weggeräumt wird. Für die einen ist ein Bett ausschließlich Schlafplatz, für die anderen nimmt es am Tag die Funktion von Sofa und Spielwiese ein. ▶ Kleidung. Die Art der Nachtwäsche unterscheidet sich in den einzelnen Kulturen sehr stark. Manche Völker (z. B. die Eskimos) schlafen in ihrer täglichen Kleidung, die Bewohner der westlichen Welt bevorzugen zumeist besondere Nachtwäsche.

Für ältere Jugendliche und Erwachsene kann es auch üblich sein, nackt zu schlafen.

17.2.4 Umgebungsabhängige Faktoren Manche Menschen können völlig unabhängig von den äußeren Umständen nahezu überall schlafen, andere brauchen ein ganz bestimmtes Umfeld. ▶ Geräusche. Die Geräuschkulisse spielt eine große Rolle. So wird ungewohnter Lärm (z. B. Straßenverkehr, laute Musik) als Störfaktor empfunden, aber auch eine ungewohnte Stille (z. B. bei Ferien auf dem Land) kann als unbekannt und somit beeinflussend erlebt werden. ▶ Luft. Eine gute Luftqualität und ausreichende Luftfeuchtigkeit des Schlafzimmers unterstützen den gesunden Schlaf. Einige Menschen bestehen aber auf ein geschlossenem Fenster beim Schlafen. ▶ Licht. Die Raumbeleuchtung im Schlafzimmer kann von der Vorliebe für völlige Dunkelheit bis zu einem ständig betriebenen Nachtlicht reichen. ▶ Bettnachbarn. Für viele Menschen ist die Mehrfachbelegung eines Raumes ein Problem, da sie gewohnt sind, alleine zu schlafen. Kinder teilen häufig gerne ein Zimmer mit Bettnachbarn, was aber auch zu verspätetem Einschlafen führen kann. ▶ Therapeutische Maßnahmen. Die unterschiedlichen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen wecken in vielen Kindern Ängste. Diese wirken sich oft auf ihr Einschlaf- und Schlafverhalten in den ersten Tagen aus.

Merke

H ●

Unkoordinierte pflegerische und ärztliche Maßnahmen stören zusätzlich die Ruhephasen (z. B. das Waschen in den frühen Morgenstunden, überflüssige diagnostische Maßnahmen während des Schlafens).

▶ Schlafhaltung. Jeder Mensch hat seine individuellen Schlafgewohnheiten, wobei die bevorzugte Einschlafhaltung einen sehr hohen Stellenwert einnimmt. Bei einem Klinikaufenthalt kann diese Gewohnheit aufgrund vielfältiger Maßnahmen empfindlich gestört werden. Eine ungewohnte Veränderung dieser Position z. B. durch Katheter, Infusionszuleitungen, Drainagen, Extensionen und Gipsverbän-

de, die die freie Beweglichkeit einschränken, werden als störend und einengend erlebt. ▶ Störungen. Die Überwachung der einzelnen Vitalparameter, die auch während der Nacht gewährleistet sein muss, bringt Unterbrechungen der Ruhephasen mit sich. Das Licht muss mehrfach angestellt werden, um das Kind adäquat beurteilen zu können. Geräusche der Station sind zu hören, die akustischen Signale der einzelnen Überwachungsgeräte stören die Kinder im Schlaf.

17

17.2.5 Wirtschaftliche Faktoren Die wirtschaftliche Situation eines Menschen ermöglicht die Gestaltung des sozialen Umfelds. Ist die wirtschaftliche Grundlage gefährdet oder sind die finanziellen Möglichkeiten herabgesetzt, sind viele Menschen genötigt, sich einzuschränken. Dies zeigt sich v. a. in einer meist beengten Wohnsituation, die mehrere Familienmitglieder zwingt, den Schlafraum zu teilen, oder es steht nur ein Wohn-Schlaf-Raum zur Verfügung. Dies wirkt sich auf das Schlafverhalten jedes Einzelnen aus. ▶ Schichtarbeit. In verschiedenen Berufen ist Schichtarbeit üblich und hat ernst zu nehmende Auswirkungen auf den Schlaf-Wach-Rhythmus. Der Tagesschlaf hat eine andere Qualität als der Nachtschlaf, die biologische Uhr wird aus dem Gleichgewicht gebracht. Die allgemeine Konzentrationsfähigkeit ist herabgesetzt, wodurch die Sicherheit bei der Ausführung verantwortungsvoller Aufgaben gefährdet sein kann. Um diesem Sicherheitsrisiko entgegenzuwirken, sind Arbeitsintervalle, Ruhepausen und Erholungsphasen gesetzlich streng geregelt.

17.3 Beobachten und Beurteilen Der Schlaf ist ein störanfälliger Vorgang. Daher ist es für die Pflegefachkraft wichtig, sich mit den Grundlagen der Schlafarchitektur vertraut zu machen und sich mit den speziellen Bedürfnissen und Gewohnheiten des Kindes auseinanderzusetzen.

17.3.1 Physiologischer Schlaf Auslöser und Schrittmacher des Schlafbedürfnisses liegen im ZNS. Die Physiologie des Schlaf-Wach-Rhythmus ist im Detail

1

Schlafen bis zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht völlig geklärt. Messbar sind eindeutige Veränderungen des gesamten Körpers, die während des Schlafvorganges stattfinden.

REM-Schlaf Non-REMSchlaf

Schlafphasen Der Schlaf wird in 5 Phasen eingeteilt, wobei zwischen 2 Phasentypen unterschieden wird: ● REM-Phase ● Non-REM-Phase

Definition

4. Zyklus

Körpertemperatur (°C)

Körperbewegungen 23:00

1:00

3:00

5:00

7:00

Uhrzeit

Die REM-Phase (= Rapid Eye Movement), charakterisiert durch die schnellen Augenbewegungen bei geschlossenen Lidern, ist die Phase mit erhöhter Traumaktivität. Die Non-REM-Phase zeichnet sich durch fehlende Aktivität der Augen aus.

Abb. 17.1 Schlafprofil eines Erwachsenen einer ganzen Nacht. Unten ist zu sehen, wie während der Nacht die Körpertemperatur sinkt und während der REM-Traumphasen die Körperbewegungen zunehmen.

Die einzelnen Schlafphasen dauern ungefähr 90 Minuten und werden in sog. wiederkehrenden Schlafzyklen, je nach Schlafdauer 4- bis 6-mal in der Nacht, wiederholt (▶ Abb. 17.1). 1. Phase: Einschlafphase (geringe Reize führen zum Erwachen). 2. Phase: leichter Schlaf (der Mensch ist leicht erweckbar, es kommt zu einer zunehmenden Entspannung). 3. Phase: mitteltiefer Schlaf (die Stoffwechselvorgänge sind gedrosselt, Geräusche des täglichen Lebens führen nicht mehr zum Erwachen). 4. Phase: tiefer Schlaf (geringe Bewegung, schwere Erweckbarkeit). 5. Phase: Traumschlaf (Auftreten von REM, der Mensch träumt).

422

3. Zyklus

1 2 3 4

37,0° 36,8° 36,6° 36,4°

L ●

Die Anteile der Stadien 1–4, die NonREM-Phase, verändern sich im Laufe eines Lebens im Verhältnis zur REM-Phase. Der Anteil der REM-Phase überwiegt im Säuglings- und Kleinkindalter und nimmt mit zunehmendem Alter deutlich ab, wobei dann die Non-REM-Phase überwiegt (▶ Abb. 17.2). Studien verschiedener Schlafforschungszentren haben einen Zusammenhang zwischen dem erhöhten Anteil an REM-Schlafphasen und der Entwicklung des kindlichen Gehirns aufgezeigt. Während des gesamten Schlafs verändern sich einige Funktionen des Körpers. Neben der vorübergehenden Ausschaltung des Bewusstseins kommt es zu weiteren körperlichen Veränderungen: ● Die Herzfrequenz wird herabgesetzt. ● Die Atemfrequenz nimmt ab, die Atemtiefe zu. ● Der Stoffwechsel wird verlangsamt.

2. Zyklus

wache Zeit

Stadien

17

1. Zyklus

wach

Stunden pro Tag

20 15 REM-Schlaf 10 5 Non-REM-Schlaf 0 1 2 1 2 5 Wochen Monate

1 2

5

10 20 Jahre

50 90

Abb. 17.2 Entwicklung des Schlafverhaltens. Die Verteilung der Schlafphasen ist abhängig vom Lebensalter.





Die Körpertemperatur sinkt (ca. 1–1,5 °C). Die Drüsensekretion nimmt insgesamt ab, aber die Schweißdrüsen steigern ihre Produktion.

Schlafbedarf Der menschliche Schlafbedarf, der durch den Schlaf-Wach-Rhythmus gesteuert ist, wird von äußeren Zwängen (z. B. feste Arbeitszeiten, Schulbesuch) beeinflusst und ist individuell völlig verschieden. Die Schlaf- und Wachzeiten, die bei unseren Vorfahren stark von Helligkeit und Dunkelheit abhängig waren, treten in der heutigen Zeit mit elektrisch produzierten Lichtquellen eher in den Hintergrund.

Babys erwerben – unabhängig von äußeren Einflüssen und Erziehungsstrategien – je nach Reife bis zum 3. und 4. Lebensmonat einen eigenen Schlaf-WachRhythmus. Die Verteilung der einzelnen Schlafzeiträume ist abhängig von Entwicklung, Aktivität und kulturellen Einflüssen. So schlafen viele Kleinkinder nachmittags 1–2 Stunden und auch Erwachsenen wird ein kurzer Erholungsschlaf von 20–30 Minuten am frühen Nachmittag empfohlen. Diese Ruhephasen erhalten die Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit. ▶ Schlaftypen. Der Mensch kann unterschiedlichen Schlaftypen zugeordnet werden, wie die Schlafforschung inzwischen auch wissenschaftlich belegen kann. Es

17.3 Beobachten und Beurteilen gibt den Morgenschläfer, der erst am Mittag aktiv wird und bis in die späten Abendstunden leistungsfähig bleibt, dafür morgens lieber länger schläft. Der Abendschläfer hat seinen Leistungsgipfel am Morgen und Nachmittag und wird dafür abends eher müde und geht auch früher zu Bett.

Merke

H ●

Insgesamt ist es schwierig, Schlafmangel oder ein Übermaß an Schlaf zu beurteilen. Einige Menschen kommen mit einem deutlich geringeren Maß an Schlaf aus als die meisten Menschen und fühlen sich dabei leistungsfähig und erholt.

Einschlafstörungen



▶ Verzögertes Einschlafen. Das Kind ist müde, kann aber über einen längeren Zeitraum keine Ruhe finden. Hierfür sind oft ungelöste Konflikte, Ängste, aber auch ungünstige Umgebungsverhältnisse (z. B. Licht, Lärm) verantwortlich. ▶ Jaktationen. Hierunter wird das Hinund Herwälzen des Kopfes oder des Körpers verstanden. Sie treten oft in Form von rhythmischen Kopf- und Rumpfbewegungen in der Einschlafphase auf. Die Neigung zu Jaktationen verliert sich mit zunehmendem Alter.

Durchschlafstörungen Nächtliches Erwachen kann die vielfältigsten Gründe haben.

Schlafqualität Die Schlafqualität ist objektiv mittels spezieller Untersuchungsmethoden, z. B. EEG (Elektroenzephalogramm) nachweisbar. Für die Pflegefachkraft gibt es jedoch Zeichen, die Rückschlüsse auf die Schlafqualität zulassen: ● Schläft das Kind prompt oder verzögert ein? ● Bewegt sich das Kind häufig und ruckartig; spricht oder schreit es im Schlaf; knirscht es mit den Zähnen? ● Wacht das Kind nachts auf oder schläft es durch? ● Fühlt es sich nach dem Aufwachen erfrischt oder noch müde und schläfrig?

Merke

H ●

Die Messung der Vitalfunktionen sind Beobachtungsparameter für einen physiologischen Schlaf. Sie sind während des Schlafs an der unteren Grenze der Normwerte angesiedelt.

17.3.2 Abweichungen im Schlafverhalten Abweichungen im kindlichen Schlafverhalten haben in seltenen Fällen Krankheitswert, werden aber von den betroffenen Eltern als sehr belastend empfunden. Hierbei ist es wichtig, sie über die einzelnen Phänomene aufzuklären und ihnen Hilfestellung anzubieten.

▶ Schlafwandeln (Somnambulismus). Dieses Phänomen tritt ebenfalls im Kleinund Schulkindalter gehäuft auf. Das Kind kann schlafend aufstehen, spielen oder aber völlig absurde Tätigkeiten (z. B. Gegenstände suchen) ausführen. Es erinnert sich am nächsten Morgen nicht; bei einem Erwachen während dieser Phase ist es verwirrt. ▶ Zähneknirschen. Das nächtliche Zähneknirschen ist für das Kind im Schlaf kein Problem, kann aber am Tag Grund für Kopfschmerzen und Verspannungen sein und langfristig zu Zahndefekten führen. Kieferbedingte Fehlstellung der Zähne, aber auch Stress können das nächtliche Mahlen mit den Zähnen begünstigen.

17.3.3 Bewusstsein Definition

● L

Ein Mensch mit klarem Bewusstsein in wachem Zustand hat die Fähigkeit, seinem Alter entsprechend auf äußere Reize zu reagieren. Das bedeutet, er nimmt sich selbst als Person wahr, ist sich seiner selbst bewusst. Er ist räumlich, zeitlich und örtlich orientiert und in der Lage, zu denken und uneingeschränkt zu reagieren. Er ist ungehindert handlungsfähig.

Durch verschiedene Einflüsse kann es zu einer Veränderung der Bewusstseinslage kommen, z. B. durch: ● zerebrale Ursachen (Entzündungen, Schädel-Hirn-Traumen, intrakranielle Blutungen, Tumoren)





metabolische Ursachen (Hyper- und Hypoglykämie, Stoffwechselerkrankungen) kardiovaskuläre Ursachen (Schock, Herz-Kreislauf-Stillstand) toxische Ursachen (Intoxikation durch Aufnahme von Giftpflanzen, Alkohol oder Drogen)

Merke

17

H ●

Die Pflegefachkraft muss auf Bewusstseinsveränderungen immer reagieren, da betroffene Patienten einer intensiven Überwachung aller Vitalfunktionen und Unterstützung in den Lebensaktivitäten bedürfen.

Bewusstseinsbeeinträchtigungen werden in 5 Stadien eingeteilt (▶ Tab. 17.1). Der Zeitraum der einzelnen veränderten Bewusstseinszustände kann sich von minutenlanger Dauer über Stunden, Tage und Wochen erstrecken. Das Wiedererlangen des klaren Bewusstseins kann durch die Beseitigung der Ursache erreicht werden, bei schweren Schäden des Gehirns und des ZNS kann es aber auch zu einem bleibenden Bewusstseinsverlust kommen. Die verschiedenen Bewusstseinsstadien sind durch die in ▶ Tab. 17.1 aufgeführten Reaktionen und Merkmale gekennzeichnet. Sie können ineinander übergehen und anhand der Glasgow-Koma-Skala, die es für jüngere und ältere Kinder gibt, durch den Arzt beurteilt werden (▶ Tab. 17.2).

Einschätzen der Bewusstseinslage Um die Bewusstseinslage eines Kindes einzuschätzen, stehen der Pflegefachkraft mehrere Möglichkeiten zur Verfügung, die im Folgenden aufgeführt sind. ▶ Ansprechen des Kindes. Es erfolgt in ruhigem und gut verständlichem Ton. Die Pflegefachkraft wählt dem Alter oder Entwicklungsstand angemessene, eindeutig zu beantwortende Fragen (z. B. „Wie heißt du?“, „Gehst du in den Kindergarten/die Schule?“). Zeigt ein Kind aufgrund der ungewohnten Umgebung Angst, können die Eltern nach vorangegangener Information diese Aufgabe im Beisein der Pflegefachkraft übernehmen. ▶ Bewegungen ausführen lassen. Die Pflegefachkraft bittet das Kind z. B., einen Arm zu heben, einen Gegenstand zu ergreifen, die Augen zu öffnen und zu schließen.

3

Schlafen

Tab. 17.1 Bewusstseinsstadien und Befunde (Huber et al., 1994).

17

Stadium

Reaktionen des Patienten, Sprache

Sensibilität

Motorik

Wachheit (ansprechbar)

adäquate Antwort, prompt, spontan, normal, Mimik differenziert, Anweisungen werden sofort ausgeführt

spürt schon leichte Berührung mit den Fingerspitzen

bewegt sich spontan und seitengleich

Apathie (apathisch)

zeitlich und örtlich desorientiert, sehr gut weckbar, oft schweigend, Befehle werden verzögert ausgeführt, Mimik differenziert, unzusammenhängende Sprache, Verständnisschwierigkeiten, Echolalie

spürt Kneifen, Stechen

bewegt sich seitenungleich (Spontaneität, Kraft, Widerstand), nicht gezielt auf Anweisungen

Somnolenz (somnolent)

desorientiert, apathisch, antriebslos, schläft ein, keine spontanen Worte, Lallen, Artikulation schlecht, Mimik undifferenziert

spürt Kneifen, Stechen

Abwehrbewegungen, bei Schmerz gezielt

Sopor (soporös)

völlig desorientiert, kein Schmerzlaut, nur mit Schmerz weckbar, Mimik nur bei Schmerz

spürt Stechen

Abwehrbewegungen bei Schmerz ungezielt

Koma (komatös)

keine Reaktionen

spürt nichts

keine Reaktionen außer einigen Reflexen

Tab. 17.2 Glasgow-Koma-Skala (modifiziert für das Kindesalter; nach Neuhäuser, 1996). Punktwert und Untersuchungsparameter I verbale Antwort (über 2 Jahre) 5 4 3 2 1

verständliche Sprache, volle Orientierung unverständliche Sprache, Verwirrtheit inadäquate Antworten, Wortsalat unverständliche Laute keine verbale Äußerung

I verbale Antwort (unter 2 Jahre) 5 4 3 2 1

fixiert, erkennt, verfolgt, lacht fixiert kurz, inkonstant, erkennt nicht sicher zeitweise erweckbar, trinkt/isst nicht mehr, Bedrohreflex negativ motorische Unruhe, nicht erweckbar keine Antwort auf visuelle, akustische, sensorische Reize

II motorische Antwort 6 5 4 3 2 1

gezieltes Greifen nach Aufforderung gezielte Abwehr auf Schmerzreize ungezielte Beugebewegung auf Schmerzreize ungezielte Armbeugung/Beinstreckung auf Schmerzreize Streckung aller Extremitäten auf Schmerzreize keine motorische Antwort auf Schmerzreize

III Augenöffnen 4 3 2 1

spontanes Augenöffnen Augenöffnen auf Zuruf Augenöffnen auf Schmerzreize kein Augenöffnen auf jegliche Reize

IV Okulomotorik (Kaltspülung äußerer Gehörgang, Puppenaugenphänomen) 4 3 2 1

konjugierte Augenbewegungen, Pupillenreaktion auf Licht beidseits erhalten konjugierte tonische Augenbewegungen bei o. g. Reflexen Divergenzstellung beider Bulbi bei o. g. Reflexen keinerlei Reaktion bei o. g. Reflexen, Pupillenreaktion auf Licht erloschen

Modifizierte Glasgow-Koma-Skala (GKS): standardisiertes Punktebewertungssystem zur Überwachung von bewusstseinsgestörten Kindern. Beurteilt werden die verbale Antwort (über und unter 2 Jahre), motorische Antwort und das Augenöffnen. Maximale Punktzahl 15 bei unbeeinträchtigten Menschen. Ab einem GKS-Wert von 8 Punkten oder weniger ist i. d. R. neurologische Intensivpflege erforderlich (z. B. Beatmung, hirndrucksenkende und kreislaufstabilisierende Maßnahmen).

▶ Reaktionen auf stärkere Reize. Die Pflegefachkraft kann z. B. die Wirkung von akustischen, Kälte- oder Schmerzreizen prüfen.

424

▶ Reflexe prüfen. Dies ist in erster Linie ärztliche Aufgabe. Für die betreuende Pflegefachkraft ist es wichtig zu erkennen, ob z. B. der Saug-, Husten- und Schluck-

reflex vorhanden sind. Fehlen diese Reflexe ganz oder teilweise, erhält das Kind keine orale Nahrung und weitere aspirationsverhindernde Maßnahmen werden durchgeführt. Diese Reflexe können vorsichtig mit einem Beruhigungsschnuller, Sauger oder Löffel geprüft werden. ▶ Pupillenkontrolle. Ein wichtiges Kriterium bei der Feststellung des neurologischen Zustandes sind Überprüfung und Beurteilung der Pupillenreaktion, -weite, -form und -position sowie eine evtl. Seitendifferenz (▶ Abb. 17.3). Die Reaktion bei Lichteinfall auf die Pupille erfolgt im Normalfall prompt und seitengleich, die Pupille ist eng und rund. ▶ Durchführung der Pupillenkontrolle. Der Ablauf gestaltet sich folgendermaßen: ● der Raum ist abgedunkelt ● die Pflegefachkraft reinigt die Augen beidseitig von evtl. vorhandenen Salbenresten ● mithilfe einer Taschenlampe bewegt sie den Lichtstrahl schnell von der Seite zum Auge hin und bewegt ihn wieder weg ● alle Merkmale werden auf beiden Seiten gleich erhoben ● die Pflegefachkraft dokumentiert die Befunde ● bedeckt ein Auge bei der Überprüfung der konsensuellen Pupillenreaktion

Definition

L ●

Konsensuelle Pupillenreaktion: Pupillen reagieren seitengleich; Isokorie: gleiche Pupillenweite auf beiden Seiten; Anisokorie: seitendifferente Pupillenweite.

17.4 Pflegemaßnahmen

Merke

Pupillenweite/ Pupillengröße 1= eng

2= mittel

3= weit Pupillenreaktion

1 = prompt 2 = verlangsamt 3 = keine

Form der Pupille

rund

entrundet Position

normale Position Verlagerung aus der Mittellinie

Abb. 17.3 Pupillenkontrolle. Pupillenweite, -reaktion, -form und -position werden beidseits ermittelt.

▶ Bewertung der Pupillenkontrolle. Die Untersuchung kann Aufschluss über einige neurologische Erkrankungen liefern: ● Eine einseitige Pupillenerweiterung kann z. B. infolge einer Kompression des Nervus occulomotorius auftreten. ● Eine beidseitige auffallende Pupillenerweiterung wird z. B. bei zerebraler Hypoxie beobachtet. ● Beidseitig enge Pupillen können auf eine sekundäre Kompression bei intrakraniellem Druckanstieg hinweisen. Beim Einsatz einiger Arzneimittel (z. B. Opiate) kommt es aufgrund der Wirkung der Präparate zu einer falschen Bewertung der Pupillenweite. Eine Überprüfung der Pupillenreaktion kann aus diesem Grund nur eingeschränkt durchgeführt werden. Weite, entrundete und reaktionslose Pupillen kennzeichnen den Ausfall der Hirnstammfunktion.

H ●

Bei einer Veränderung der Bewusstseinslage tritt eine Notfallsituation ein! Die zentrale Regulation der Vitalfunktionen kann sich dramatisch verschlechtern oder ausfallen. Die Pflegefachkraft informiert umgehend den Arzt und leitet bis zu seinem Eintreffen Erste-HilfeMaßnahmen (S. 861) ein!

17.4 Pflegemaßnahmen Schlaffördernde Maßnahmen werden eingesetzt, um gesunden bzw. erholsamen Schlaf zu fördern oder Lösungen bei Schlafstörungen zu finden. Informationsund Beratungsgespräche über schlaffördernde Möglichkeiten helfen, diese belastenden Situationen für Kinder und Familie zu mindern oder zu beseitigen. Hierbei werden Empfehlungen für Neugeborene/ Säuglinge und ältere Kinder/Jugendliche unterschieden.

17.3.4 Individuelle Situationseinschätzung

17.4.1 Gesunde Schlafumgebung

Um einem Kind erholsamen Schlaf in einer ihm fremden Umgebung zu ermöglichen oder Störungen im Schlafverhalten aufzuspüren, bedarf es genauer Kenntnisse der Schlafgewohnheiten. Mit diesen Informationen kann die Pflegefachkraft zur Schlafförderung beitragen, therapiebegleitende Störfaktoren können u. U. abgemildert werden. Die häuslichen Gewohnheiten werden mit den Eltern und dem Kind im Gespräch ermittelt. Folgende Faktoren können von Interesse sein: ● Wo schläft das Kind, wechselt es während der Nacht den Schlafplatz? ● Wann geht das Kind gewöhnlich schlafen? ● Wie schläft das Kind ein/durch? ● Welche Rituale liebt das Kind vor dem Zubettgehen? ● Welche Gegenstände braucht das Kind zum Einschlafen? ● Welche Lage bevorzugt das Kind zum Einschlafen? ● Welche Lichtverhältnisse sind wichtig? ● Welche Bettwäsche wird benutzt (z. B. Schlafsack)? ● Welche regelmäßigen Unterbrechungen der Nacht gibt es (z. B. nächtlicher Toilettengang)? ● Schläft das Kind tagsüber (z. B. Mittagsschlaf)? ● Hat das Kind Schlafprobleme? ● Wie versuchen die Eltern, Schlafprobleme zu lösen?

Der plötzliche Kindstod ist eine der häufigsten Todesursachen bei Säuglingen im 1. Lebensjahr. Die Ursachen für SIDS (= sudden infant death syndrome) sind bis heute nicht hinreichend geklärt. Studien, die sich mit dem plötzlichen Kindstod befassten, haben eine Reihe von Faktoren herausgefunden, die das Risiko erhöhen. In Ländern, in denen Eltern über die vermeidbaren Risiken und leicht umsetzbaren Präventionsempfehlungen aufgeklärt wurden, konnten die SIDS-Todesfälle deutlich gesenkt werden.

Wird das Kind innerhalb der Klinik verlegt, z. B. von der Intensivstation auf die weiterbetreuende Station, kann es für die aufnehmende Pflegefachkraft von Interesse sein, welche schlaffördernden Maßnahmen erfolgreich von den Kollegen eingesetzt werden konnten.

Merke

17

H ●

Säuglinge sind im Schlaf vom plötzlich eintretenden Kindstod bedroht (Häufigkeitsgipfel im 2.– 4. Lebensmonat). Es ist die häufigste Todesursache im Säuglingsalter.

Risikofaktoren Zu den pränatalen Risikofaktoren zählen: ● Nikotin-, Alkohol- und Drogenabusus der Mutter ● Teenagerschwangerschaften unter 21 Jahren ● 1 Jahr oder weniger Abstand zwischen den einzelnen Geburten ● Frühgeburt/Mehrlingsgeburt/pränatale Dystrophie ● ungünstige soziale Verhältnisse Postnatale Risikofaktoren sind: Die Bauchlage ist ungeeignet, weil der Schlaf in dieser Position besonders tief ist. Es kommt bei Säuglingen zu Atempausen bis zu 15 Sekunden, einige dauern länger. ● Wärmestauung durch zu dicke Decken, zu warme Kleidung und zu hohe Raumtemperatur ● Passivrauchen ● nicht gestillte Säuglinge ●

5

Schlafen

Merke

H ●

Ein Säugling darf nur in Anwesenheit einer Begleitperson oder unter Monitorüberwachung in Bauchlage liegen!

17



Stillen: ○ Stillen mindert das Risiko aus noch nicht näher geklärten Gründen. ○ Das Risiko steigt nicht bei einer ausschließlichen Ernährung durch handelsübliche Säuglingsnahrungen.

Eltern Präventionsmaßnahmen Mittels folgender Maßnahmen kann dem plötzlichen Kindstod vorgebeugt werden: ● Rückenlage zum Schlafen: ○ Diese Lage gilt als sicherste Schlafposition. ○ Die Durchblutung des Hirnstamms ist in Rückenlage besser. ○ Die Gefahr des Erstickens durch Aspiration ist in Rückenlage deutlich gemindert. ● Benutzung eines Schlafsacks anstelle einer Bettdecke: ○ Säuglinge können sich bei einem für ihre Körpergröße passenden Schlafsack ausreichend bewegen, sind optimal gewärmt und können sich die Decke nicht über den Kopf ziehen. ○ Die Gefahr der Überwärmung und Verlegung der Atemwege ist nicht gegeben. ○ Wichtig ist hierbei das der Jahreszeit angemessene Material. ○ Die optimale Größe eines Schlafsacks wird wie folgt ermittelt: Körpergröße minus Kopfhöhe plus 10 cm zum Wachsen. ● Eigenes Bett: ○ Das Kind soll in einem eigenen Bett oder Beibett im Schlafzimmer der Eltern schlafen. Es hat sich erwiesen, dass sich das gemeinsame Schlafen und die damit verbundenen Schlafund Atemgeräusche positiv auf das Schlafverhalten des Säuglings auswirken. ○ Die gemeinsame Benutzung des Elternbettes soll dem Kuscheln in der Wachphase und dem Stillen vorbehalten sein. ○ Schläft ein Säugling im Bett seiner Eltern, kann es zu Überwärmung oder einer Verlegung der Atemwege des Kindes führen. ○ Bei der Ausstattung des Bettes ist auf einen Himmel und eine Bettumrandung, Nestchen und Wärmflaschen zu verzichten, um einen Wärmestau zu verhindern. ○ Spielzeug und Kuscheltiere sind beim schlafenden Kind zu entfernen. ○ Die Anschaffung einer schadstoffarmen, nicht zu weichen Matratze ist zu empfehlen. ○ Die Schlafzimmertemperatur sollte max. 18 °C betragen. ● Rauchfreie Umgebung.

426

a ●

Diese Hauptpräventionsmaßnahmen und viele Hintergrundinformationen sind in anschaulichen Broschüren zusammengefasst. Sie können Grundlage der Beratungsgespräche sein und sollen den Eltern vor der Entlassung nach Hause ausgehändigt werden.

Einrichtungen, die Neugeborene und Säuglinge betreuen, sind dazu aufgerufen, die Präventionsmaßnahmen bei allen Säuglingen umzusetzen.

17.4.2 Fördern des gesunden Schlafs Um den gesunden Schlaf zu fördern, sollte eine schlaffreundliche Umgebung geschaffen werden. Diese Maßnahmen sind sowohl für den häuslichen als auch den klinischen Bereich wichtig.

Umgebungsfaktoren ▶ Luft. Die Luftqualität des Schlafraums spielt eine große Rolle. Der Raum sollte gut gelüftet sein und eine konstante Temperatur von 16 – 18 °C aufweisen. ▶ Geräusche. Ungewohnte Umgebungsgeräusche, hervorgerufen z. B. von noch zu verrichtenden Arbeiten oder durch Gäste, sollten abgeschirmt werden. In der Klinik sollten alle störenden Geräusche vermieden werden. ▶ Licht. Die Lichtverhältnisse werden den Bedürfnissen des Kindes angepasst. Hat es bei völliger Dunkelheit Angst, kann ein kleines Nachtlicht angebracht werden. Im Krankenhaus ist für die gute Beobachtung des Kindes eine ausreichende Lichtquelle notwendig. Sie sollte jedoch zielgerichtet eingesetzt werden. Unnötige Gesamtbeleuchtung muss vermieden werden. ▶ Schlafplatz. Das Bett sollte eine angemessene Größe haben, die dem Kind eine ausreichende Bewegungsfreiheit ermöglicht. Wichtig ist es, das Bett als Ort des Schlafens und Ruhens einzusetzen und nicht zur Spielwiese umzufunktionieren, damit das Kind klar zwischen aktiver Beschäftigung und Schlafen zu unterschei-

den lernt. Die Nachtwäsche und Bettdecke sollten funktional, d. h. wärmend und bedeckend und den individuellen Vorlieben angepasst sein.

Merke

H ●

In der Klinik sollte das Bett als Schutzraum gewahrt werden, indem hier z. B. möglichst keine schmerzhaften Eingriffe oder für das Kind unangenehme pflegerische Maßnahmen durchgeführt werden.

▶ Essen. Bei der Wahl des Abendessens sollte auf Gerichte zurückgegriffen werden, die nicht blähen und leicht verdaulich sind. Dies ist insbesondere zu beachten, wenn die Abendmahlzeit aus beruflichen Gründen der Eltern oder des Stundenplans der Kinder die warme Mahlzeit des Tages ist. Es empfiehlt sich, dass Jugendliche koffeinhaltige Speisen und Getränke ab dem frühen Nachmittag meiden. ▶ Zeitpunkt. Wichtig ist auch der Zeitpunkt des Schlafens. Es ist sinnvoll, das individuelle Schlafbedürfnis und die Müdigkeit des Kindes zu berücksichtigen und Schlaf- und Ruhephasen in den Tagesablauf einzubeziehen. Dadurch wird ein Energieschub vermieden, der das Einschlafen stört. Ereignisse des Tages, die als aufregend und belastend empfunden werden, sollten besprochen werden und im Fall eines Konflikts möglichst ein versöhnliches Ende nehmen.

Elternberatung Viele Ursachen für Schlafprobleme sind nicht offensichtlich. Oft wird die Abweichung von herkömmlichem Schlafverhalten bei den eigenen Kindern aufgrund der Meinung von Dritten (z. B. Freunden, Großeltern), Medien und dem eigenen Verständnis für gesundes Schlafverhalten überbewertet. Ein besonders belastendes Phänomen für junge Eltern sind sog. Schreikinder.

Definition

L ●

Von einem Schreibaby wird gesprochen, wenn alle folgenden Kriterien erfüllt sind: ● Das Kind schreit mehr als drei Stunden täglich, ● an mehr als drei Tagen pro Woche, ● über einen längeren Zeitraum als drei Wochen.

17.4 Pflegemaßnahmen Hilfe können Eltern in den sog. Schreiambulanzen finden, die an viele Kliniken oder sozialpädiatrischen Zentren angeschlossen sind.

Eltern

a ●

Zusammen mit den Eltern und dem Kind gilt es, bei bestehenden Schlafproblemen im häuslichen Bereich deren mögliche Ursache zu klären und Veränderungsstrategien zu entwickeln. Wichtig ist es, im Gespräch als beratende Pflegefachkraft wertfrei zu informieren. Eltern und Kinder dürfen nicht das Gefühl vermittelt bekommen, schuldhaft an den abendlichen bzw. nächtlichen Ereignissen beteiligt zu sein.

Es gibt zahlreiche Ratgeber, die unterschiedliche Positionen vertreten. Jedes Elternpaar muss für sich selbst entscheiden, welcher Weg für sie der richtige ist. Die folgenden Empfehlungen haben daher nur Vorschlagscharakter.

17.4.3 Einschlafrituale Die meisten Kinder entwickeln zusammen mit ihren Eltern Rituale, die allabendlich wiederkehren. Rituale geben in ihrer Beständigkeit dem Kind Sicherheit. Die Vorlieben sind dabei individuell verschieden und reichen von Vorlesen (▶ Abb. 17.4), dem gemeinsamen Nachtgebet bis hin zum Hören von Musik oder Hörbüchern. Die Zeitdauer sollte gemeinsam festgelegt sein. Wichtig ist, ruhigeren Aktivitäten den Vorrang zu geben und aufregende Spiele oder unmittelbaren Fernsehkonsum sowie das Spielen am Smartphone oder Tablet vor dem Zubettgehen zu vermeiden.

Abb. 17.4 Einschlafritual. Das gemeinsame Lesen eines Buches ist als GuteNacht-Ritual hilfreich. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Praxistipp Pflege

Z ●

Um einen erholsamen Schlaf zu ermöglichen, ist es förderlich, Schlafrituale in der Klinik fortzusetzen.

Praxistipp Pflege

Z ●

Grundsätzlich sollte ein Kind im wachen Zustand ins Bett gelegt werden, um nicht nach dem Einschlafen im Bett aufzuwachen und nicht zu wissen, wie es dahin gelangt ist, und evtl. Ängste zu entwickeln.

17

17.4.4 Beruhigende Maßnahmen Es gibt vielfältige Möglichkeiten für beruhigende Maßnahmen. Für spezielle Techniken, z. B. die indische Babymassage (S. 167), bedarf es der fachlichen Unterweisung. ▶ Kommunikation. Eine wichtige Hilfe bei der Einschätzung des Schlafzeitpunktes ist die meist nonverbale Kommunikation zwischen Eltern und Kind. Dies betrifft vermeintlich v. a. ältere Kinder, aber auch Neugeborene haben eine eigene Sprache, die ihren Bezugspersonen z. B. ihre Bedürfnisse nach Ruhe vermitteln. Pflegefachkräfte können Eltern darin bestärken, ihr Kind zu beobachten, und dabei unterstützen, die Mimik und Gestik zu deuten. ▶ Körperkontakt. Kinder vermissen im Krankenhaus oft den Körperkontakt zu ihren Eltern. Einige Eltern legen sich in der Einschlafphase neben ihr Kind und beruhigen es dadurch. Dies sollte in der Klinik ermöglicht werden und die Eltern sollten ggf. dazu auch ermuntert werden.

Merke

● H

Körperkontakt wirkt beruhigend und schlaffördernd. Dadurch kann unruhigen und ängstlichen Kindern ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit vermittelt werden!

Schläft ein Säugling nach der Mahlzeit auf dem Arm ein, haben Beobachtungen gezeigt, dass die Art des Hinlegens für das Weiterschlafen des Kindes eine große Rolle spielt. Die Mutter oder die Pflegefachkraft sollte versuchen, das Kind, mit den Füßen beginnend, langsam abrollend hinzulegen. Das bedeutet, dass die einzelnen Körperteile Füße, Beine, Becken und Rücken, Arme, Kopf nacheinander Kontakt mit der Unterlage aufnehmen. Dieses spezielle Hinlegen bedarf ein wenig Übung und kann zuvor mit dem wachen Kind problemlos ausprobiert werden.

17.4.5 Schlaffördernde Positionen Alle Kinder haben i. d. R. eine bevorzugte Einschlafhaltung und Schlafstellung, die sie als bequem empfinden. In der Klinik ist diese Lieblingshaltung aufgrund therapeutischer Maßnahmen manchmal nur eingeschränkt möglich. Zusammen mit dem Kind und den Eltern sollte mittels Hilfsmitteln zur Positionierung die für den Patienten bequemste Position herausgefunden werden. Dabei muss darauf geachtet werden, dass eine therapeutische Positionierung (z. B. zur Atmungserleichterung) integriert wird.

Merke

H ●

Früh- und Neugeborene haben noch keine Schlafgewohnheiten entwickelt, aber prägende Erfahrungen während ihres intrauterinen Lebens gemacht.

Säuglinge, die unbedeckt auf eine leere Fläche gelegt werden, werden unruhig, zeigen fahrige Bewegungen und fühlen sich sichtlich unwohl. Geborgenheit kann dem Kind durch begrenzende Hilfsmittel zur Positionierung vermittelt werden. Dabei haben sich Hufeisenkissen bewährt. So können speziell bei Frühgeborenen die intrauterine Haltung weitgehend nachempfunden und ihre Bewegungs- und Haltungsentwicklung positiv beeinflusst werden. Diese Positionierungen kommen bei gesunden Neugeborenen wegen des Risikos des plötzlichen Kindstodes im häuslichen Umfeld nicht zum Einsatz.

Merke

H ●

Es ist streng darauf zu achten, dass sowohl der Einsatz von Kinderwagen und Hängematten ausschließlich unter unmittelbarer Aufsicht der verantwortlichen Pflegefachkraft oder der Eltern erfolgt! Kann dies nicht gewährleistet werden, dürfen diese Maßnahmen nicht eingesetzt werden!

7

Schlafen

17

17.5 Krankenbett



Das Bett spielt für das Wohlbefinden und den erholsamen Schlaf des Menschen eine wichtige Rolle. Besonders während des Klinikaufenthaltes, der je nach Art der Gesundheitsstörung das Kind zwingt, auch im wachen Zustand das Bett zu hüten, ist es wichtig, eine Bettform zu wählen, die seinen Bedürfnissen angepasst ist.



17.5.1 Einsatz und Handhabung des Klinikbettes In der Klinik stehen verschiedene Betttypen zur Verfügung (▶ Tab. 17.3). Folgende Anforderungen sind an Klinikbetten zu stellen: ● Höhenverstellbarkeit ● einfache Handhabung







direkter Zugang von allen Seiten an das Kind höchstmöglicher Komfort und Sicherheit für das Kind (abgerundete Kanten, Abstand der Gitterstäbe gemäß DINVorschrift, Seitenteile für große Betten) leichte Beweglichkeit durch Rollen, sicherer Halt im Standbetrieb integrierte Positionierungsmöglichkeiten (z. B. Erhöhung des Kopfteils, mechanisch oder elektronisch) Desinfizierbarkeit des gesamten Bettes

Das Bettzubehör gleicht sich ebenfalls: Matratzen, Kissen und Decken müssen leicht zu reinigen und den Bedürfnissen des Kindes angepasst sein. ● Säuglinge erhalten kein Kopfkissen. Es könnte die Atemwege verlegen und das Kind könnte ersticken. Stoffwindeln, die ●



als Schutztuch eingesetzt werden, müssen an den Seiten des Bettes festgesteckt werden. Das Kind darf sie sich nicht vor das Gesicht ziehen können. Ein Matratzenschutz aus atmungsaktiven Materialien schützt den Patienten vor unangenehmem Schwitzen und die Matratze vor eventueller Verunreinigung mit Körperflüssigkeiten. I.d.R. wird heute industriell gefertigten Einmalartikeln, bzw. wasch- und desinfizierbaren Unterlagen der Vorzug gegeben.

Bei Inkubatoren und Wärmebetten (▶ Abb. 17.5a u. ▶ Abb. 17.5b) sind die Matratzen z. B. aus Gel oder speziellem Schaumstoff gefertigt und desinfizierbar. In vielen Kinderkliniken wird bunte Bettwäsche, die farbstabil und bei 95 °C

Tab. 17.3 Verschiedene Bettformen und ihre Einsatzmöglichkeiten. Bettenart

Zielgruppe

Besonderheiten

Inkubator (▶ Abb. 17.5a)

Frühgeborene mit sehr niedrigem Geburtsgewicht zur besseren Versorgung und Beobachtung

● ● ● ●

Wärmebett (▶ Abb. 17.5b)

Risikoneugeborene zur besseren Beobachtung bei Anwendung therapeutischer Maßnahmen, z. B. Fototherapie, postoperativ, zum Erhalt der stabilen Körpertemperatur







exakte Klimatisierung Möglichkeit der Sauerstoffzufuhr Infektionsschutz optimale Möglichkeit zur Positionierung bei Beatmung exakte Wärmezufuhr von unten (beheizbare Matratzenauflage oder Bodenplatte) und oben (Wärmestrahler) von allen Seiten zugänglich durch abklappbare Seiten-, Kopf- und Fußteile Funktionsleisten zur Befestigung von medizinischen Geräten

Säuglingsbett

Neugeborene und Säuglinge



der Körpergröße und dem Sicherheitsbedürfnis des Kindes angepasst

Krankenbett (▶ Abb. 17.5c)

Schulkinder, Jugendliche



Kopf- und Fußteil verstellbar Sicherung mit Seitenschutz möglich Aufzugstange und Bettbügel

● ●

Kopfteil

mechanische Notabsenkung der Rückenlehne (Reanimation)

Fußteil mit Oberschenkellehne

Nachttisch

mechanische Auslösung für Kopf- und Fußtieflagerung Bettzeugablage mit Supervisor zur Steuerung aller elektrischen Funktionen

a

b

Abb. 17.5 Betttypen. a Inkubator, (Foto: nerthuz – stock.adobe.com) b Wärmebett, (Foto: nerthuz – stock.adobe.com) c Krankenbett mit Nachttisch. (Foto: Thieme Archivbild)

428

Lösen und Feststellen

c der Bremse

Fernbedienung elektronische Höhenverstellung mechanische Einstellung der Unterschenkellehne (Stufenbett)

5. Rad zur besseren Lenkbarkeit

Schlafen

17

17.5 Krankenbett



Das Bett spielt für das Wohlbefinden und den erholsamen Schlaf des Menschen eine wichtige Rolle. Besonders während des Klinikaufenthaltes, der je nach Art der Gesundheitsstörung das Kind zwingt, auch im wachen Zustand das Bett zu hüten, ist es wichtig, eine Bettform zu wählen, die seinen Bedürfnissen angepasst ist.



17.5.1 Einsatz und Handhabung des Klinikbettes In der Klinik stehen verschiedene Betttypen zur Verfügung (▶ Tab. 17.3). Folgende Anforderungen sind an Klinikbetten zu stellen: ● Höhenverstellbarkeit ● einfache Handhabung







direkter Zugang von allen Seiten an das Kind höchstmöglicher Komfort und Sicherheit für das Kind (abgerundete Kanten, Abstand der Gitterstäbe gemäß DINVorschrift, Seitenteile für große Betten) leichte Beweglichkeit durch Rollen, sicherer Halt im Standbetrieb integrierte Positionierungsmöglichkeiten (z. B. Erhöhung des Kopfteils, mechanisch oder elektronisch) Desinfizierbarkeit des gesamten Bettes

Das Bettzubehör gleicht sich ebenfalls: Matratzen, Kissen und Decken müssen leicht zu reinigen und den Bedürfnissen des Kindes angepasst sein. ● Säuglinge erhalten kein Kopfkissen. Es könnte die Atemwege verlegen und das Kind könnte ersticken. Stoffwindeln, die ●



als Schutztuch eingesetzt werden, müssen an den Seiten des Bettes festgesteckt werden. Das Kind darf sie sich nicht vor das Gesicht ziehen können. Ein Matratzenschutz aus atmungsaktiven Materialien schützt den Patienten vor unangenehmem Schwitzen und die Matratze vor eventueller Verunreinigung mit Körperflüssigkeiten. I.d.R. wird heute industriell gefertigten Einmalartikeln, bzw. wasch- und desinfizierbaren Unterlagen der Vorzug gegeben.

Bei Inkubatoren und Wärmebetten (▶ Abb. 17.5a u. ▶ Abb. 17.5b) sind die Matratzen z. B. aus Gel oder speziellem Schaumstoff gefertigt und desinfizierbar. In vielen Kinderkliniken wird bunte Bettwäsche, die farbstabil und bei 95 °C

Tab. 17.3 Verschiedene Bettformen und ihre Einsatzmöglichkeiten. Bettenart

Zielgruppe

Besonderheiten

Inkubator (▶ Abb. 17.5a)

Frühgeborene mit sehr niedrigem Geburtsgewicht zur besseren Versorgung und Beobachtung

● ● ● ●

Wärmebett (▶ Abb. 17.5b)

Risikoneugeborene zur besseren Beobachtung bei Anwendung therapeutischer Maßnahmen, z. B. Fototherapie, postoperativ, zum Erhalt der stabilen Körpertemperatur







exakte Klimatisierung Möglichkeit der Sauerstoffzufuhr Infektionsschutz optimale Möglichkeit zur Positionierung bei Beatmung exakte Wärmezufuhr von unten (beheizbare Matratzenauflage oder Bodenplatte) und oben (Wärmestrahler) von allen Seiten zugänglich durch abklappbare Seiten-, Kopf- und Fußteile Funktionsleisten zur Befestigung von medizinischen Geräten

Säuglingsbett

Neugeborene und Säuglinge



der Körpergröße und dem Sicherheitsbedürfnis des Kindes angepasst

Krankenbett (▶ Abb. 17.5c)

Schulkinder, Jugendliche



Kopf- und Fußteil verstellbar Sicherung mit Seitenschutz möglich Aufzugstange und Bettbügel

● ●

Kopfteil

mechanische Notabsenkung der Rückenlehne (Reanimation)

Fußteil mit Oberschenkellehne

Nachttisch

mechanische Auslösung für Kopf- und Fußtieflagerung Bettzeugablage mit Supervisor zur Steuerung aller elektrischen Funktionen

a

b

Abb. 17.5 Betttypen. a Inkubator, (Foto: nerthuz – stock.adobe.com) b Wärmebett, (Foto: nerthuz – stock.adobe.com) c Krankenbett mit Nachttisch. (Foto: Thieme Archivbild)

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Lösen und Feststellen

c der Bremse

Fernbedienung elektronische Höhenverstellung mechanische Einstellung der Unterschenkellehne (Stufenbett)

5. Rad zur besseren Lenkbarkeit

17.5 Krankenbett waschbar ist, benutzt. Sie trägt dazu bei, eine freundliche Atmosphäre zu schaffen. Für Kinder mit besonders schweren Gesundheitsstörungen stehen Spezialbetten und Spezialmatratzen zur Verfügung (z. B. Wechseldruck- oder Rotationsbetten, Sandwich-Betten). Sie werden bei Verbrennungen, schweren Polytraumen und nach großen Operationen eingesetzt. Aufgrund ihrer ausgereiften Technologie ermöglichen sie es, den Auflagendruck maximal zu mindern und die Druckverteilung zu optimieren. Dies beugt der Entstehung eines Dekubitus vor. Wichtig ist, dass die angebotenen Materialien fachrichtig eingesetzt werden. Informationen hierzu finden sich im nationalen Dekubitusstandard, dessen Umsetzung inzwischen bundesweit verbindlich für alle Pflegeinrichtungen und alle Fachdisziplinen gilt.



Wäschewechsel beim liegenden Patienten

Das Kind wird informiert und im Rahmen seiner Möglichkeiten zur Mithilfe motiviert. Je nach Ursache der Gesundheitsstörung (z. B. Liegegips) wird das Kind beim Hochziehen am Haltegriff von einer Pflegefachkraft unterstützt. Nach chirurgischen Eingriffen wird beim Laken- oder Stecktuchwechsel das Kind von einer Pflegefachkraft gesichert und von einer zweiten auf die eine, anschließend auf die andere Seite gedreht. Der Wechsel des Lakens, Matratzenschutzes und des Stecklakens läuft folgendermaßen ab: ● Das eingeschlagene Laken, Matratzenschutz und Stecklaken werden an der einen Seite gelöst und bis zur Mitte des Bettes an den Körper des Kindes aufgerollt. ● Ein frisches Laken, Matratzenschutz und Stecklaken werden in dieser Reihenfolge seitlich wie gewohnt fixiert und ebenfalls zum Patienten aufgerollt. ● Das Kind wird entweder umgelagert oder aufgefordert, sich hochzuziehen. ● Auf der anderen Seite entfernt die zweite Pflegefachkraft die gebrauchte Wäsche, rollt die frische Wäsche aus und fixiert sie.

Bei sehr starker Verschmutzung und/oder einem sehr belasteten Kind empfiehlt es sich, ein frisches Bett aus der klinikeigenen Bettenzentrale zu nutzen und die Betten auszutauschen.

Merke

H ●

Der Wechsel der Bettwäsche orientiert sich am Zustand, am Bedarf und an den Bedürfnissen des Kindes sowie an hygienischen Richtlinien.

Vorbereitung Folgende Vorbereitungen müssen getroffen werden: ● desinfizierte Fläche für die Ablage der sauberen Wäsche ● Wäsche richten (Kopfkissenbezug, Bettlaken, Stecktuch, Matratzenschutz, Bettbezug) ● Wäschewagen für Schmutzwäsche, bei Bedarf für infizierte Wäsche genau gekennzeichnete Wäschesäcke bereithalten

● ●

Ablage für Bettdecke und Kopfkissen ggf. Schutzkittel Händedesinfektion

Folgende Prinzipien sind zu befolgen: Das Aufschütteln von Kissen und Decken sowie das Glattstreichen der Laken mit den Händen sind wegen Keimverschleppung zu unterlassen. ● Schmutzige Wäsche und frische Bettwäsche dürfen nicht miteinander in Berührung gebracht werden. ● Wäschestücke oder Bettdecken, die den Boden berührt haben, müssen gewechselt werden.



Schätzt die betreuende Pflegefachkraft den Wäschewechsel als zu belastend für das Kind ein, empfiehlt sich ein Transfer des Kindes in ein frisches Bett mithilfe einer zweiten Pflegefachkraft.



Die Vorbereitung und das allgemeine Vorgehen sind mit dem üblichen Wäschewechsel identisch.

Besonderheiten

Merke

H ●

17

Bei einem bettlägerigen Kind wird die Bettdecke nicht eingesteckt. Es besteht die Gefahr der Entstehung eines Spitzfußes durch den Druck der Decke auf den Fußrücken.

Abhängig vom Lebensalter des Kindes sollten beim Wäschewechsel folgende Sicherheitsmaßnahmen ergriffen werden: ● Kann ein Kind während des Wäschewechsels das Bett verlassen, muss seine Sicherheit gewährleistet sein (z. B. Sturzprophylaxe). ● Säuglinge werden vorübergehend in einen Kinderwagen gelegt oder in einer Wippe angeschnallt. Kinderwagen oder Wippe sind dabei in nächster Umgebung. Falls möglich, werden eine zweite Pflegefachkraft oder die anwesenden Eltern gebeten, das Kind auf dem Arm zu halten. ● Kleinkinder werden immer von einer zweiten Person auf dem Schoß gehalten bzw., wenn es das Befinden zulässt, in einen Sportwagen oder Laufstall gesetzt. ● Größere kreislaufstabile Kinder können sich auf einen Stuhl setzen. Während des gesamten Wäschewechsels beobachtet eine Pflegefachkraft das Kind, um ggf. Veränderungen des Befindens, z. B. Kreislaufprobleme, rechtzeitig zu erkennen und Unfälle zu vermeiden.

Merke

H ●

Die Schmutzwäsche wird in Wäschesäcken entsorgt. Sie darf nicht zwischengelagert werden (z. B. auf dem Fußboden).

9

Schlafen

17

430

Kapitel 18 Für eine sichere Umgebung sorgen

18.1

Bedeutung

432

18.2

Beeinflussende Faktoren

432

18.3

Beobachten und Beurteilen

433

18.4

Pflegemaßnahmen

433

Für eine sichere Umgebung sorgen

18 Für eine sichere Umgebung sorgen Simone Teubert

18.1 Bedeutung Definition

18

● L

Sicher, abgeleitet vom lateinischen securus (sorglos, unbekümmert), bedeutet: gewiss, ohne Zweifel, geschützt, in Fertigkeiten geübt, ruhig und überzeugend.

Die Sorge für eine sichere Umgebung begleitet einen Menschen zeitlebens. Anfangs, ausgestattet mit überlebenswichtigen Reflexen (z. B. schützende Seitwärtsdrehung des Kopfes), kann das gesunde Neugeborene nur wenig zu seiner eigenen Sicherheit beitragen. Den Hauptanteil für ein geborgenes Aufwachsen ermöglichen Eltern und Bezugspersonen. Sie schaffen gesicherte Lebensumstände und lehren das heranwachsende Kind, für sich selbst und die eigene Sicherheit verantwortlich zu sein. Im Laufe seines Lebens leistet der Mensch viel für die Sicherheit seiner Familie, Umwelt und Lebensbedingungen, bis er im Alter die Sorge um seine Sicherheit vielleicht wieder in die Verantwortung Dritter gibt. Die Sorge um die eigene Sicherheit und die anderer ist sehr umfassend und findet sich in allen Lebensaktivitäten wieder. Das Streben nach Sicherheit wird von Umständen beeinflusst, die Sicherheit, Wohlbefinden sowie seelische und körperliche Gesundheit gefährden: ● Krankheit ● soziale Situation ● Umweltverschmutzung ● Kriminalität ● Armut ● Hunger ● Naturkatastrophen ● Kriege und Rassenkonflikte

18.2 Beeinflussende Faktoren 18.2.1 Körperliche Faktoren Der menschliche Körper kann auf Einflüsse von außen aktiv und passiv reagieren und somit das Leben in einem sicheren Gleichgewicht halten. Es ist wichtig, die körperlichen Schutzvorrichtungen zu kennen und ihre Funktionen zu unterstützen und zu erhalten. Sind diese Mechanismen gestört, so kann der Körper störende Ein-

432

flüsse nicht mehr kompensieren und Schäden können eintreten; der Mensch ist auf Hilfe angewiesen.



● ●

▶ Fünf Sinne. Sehen, Hören, Tasten, Riechen und Schmecken dienen u. a. als Frühwarnsystem zur Erkennung von Gefahren. ▶ Körperliche Reserven. Der Mensch besitzt 2 Ohren, 2 Augen und 2 Nieren; zusätzlich hat er mehr Lungen- und Lebergewebe, als er eigentlich zum Leben bräuchte. Er ist außerdem in der Lage, Fettdepots anzulegen. Von diesen Reserven kann er zehren, um Notzeiten zu überstehen. ▶ Körperliche Schranken. Alle lebenswichtigen Organe und sensiblen Strukturen sind von einer Isolierungs- oder Schutzschicht umgeben. So schützt das Skelett die inneren Organe wie Gehirn, Lunge und Rückenmark. Die intakte Haut schützt vor dem Eindringen von körperfremden Stoffen. Das Abwehrsystem ist ständig verfügbar und kann Krankheitserreger erkennen und vernichten. ▶ Heilungsmechanismen. Der Körper verfügt nicht nur über ein gut ausgeklügeltes Schutzsystem, sondern auch über Möglichkeiten, sichernd und selbstheilend einzugreifen (z. B. bei Entzündungen und darauf folgenden Erneuerungsprozessen des Gewebes). ▶ Schmerzen. Sie haben Warnfunktion und unterstützen gleichzeitig die Regeneration des betroffenen Körperteils. Der Mensch wird entweder nach den Ursachen forschen oder aber die betroffene Stelle schonen, um Schmerzfreiheit zu erlangen.

18.2.2 Psychische Faktoren Aufgrund seiner intellektuellen Fähigkeiten ist der Mensch in der Lage, eine Situation richtig einzuschätzen und angemessen zu reagieren. Bei Kindern entwickelt sich die Fähigkeit, für die eigene Sicherheit zu sorgen, durch Lernprozesse, Erfahrungen und das Vorbild der Bezugspersonen. Dabei ist die aktuelle emotionale Verfassung zu berücksichtigen. Sie beeinflusst unser Handeln in entscheidender Weise. Wichtige emotionale Faktoren sind: ● Temperament ● Freude ● Furcht ● Wut



psychische Erkrankungen (z. B. Depression, Psychosen) Überforderung Trauer Stress

18.2.3 Soziokulturelle Faktoren Die Sorge für eine sichere Umgebung hat in den einzelnen Kulturen unterschiedliche Ausprägungsformen. Auch das Bildungsniveau und der Zugang zu Informationen, die die Sicherheit betreffen, haben einen deutlichen Einfluss auf die Wahrung persönlicher Sicherheit.

18.2.4 Umgebungsabhängige Faktoren Mit der Umgebung wird nicht nur die private oder häusliche Umgebung bezeichnet, sondern auch die globale oder geografische Umgebung. Menschen in Entwicklungsländern sind mit ganz anderen Faktoren konfrontiert, die ihre Sicherheit beeinflussen (▶ Abb. 18.1): ● z. T. extreme klimatische Bedingungen ● hygienische Mangelversorgung ● fehlende Gesundheitsversorgung ● oft kein Zugang zu Medikamenten ● geringe Infrastruktur Menschen in den Industrienationen kennen diese Probleme meist nicht. Hier führen die Abbauprodukte aus Konsumgüterund Industrieabfällen zur Belastung des Grundwassers und der Luft, was u. a. den CO2-Anstieg in der Atmosphäre dramatisch erhöht und zur Zerstörung der Ozonschicht führt. Es wird inzwischen weltweit über die daraus resultierenden Folgen für die Umwelt diskutiert. Es wird

Abb. 18.1 Wasserversorgung. In vielen Entwicklungsländern wird die Wasserversorgung durch Brunnen gewährleistet (Symbolbild). (Foto: Dennis – stock.adobe.com)

18.4 Pflegemaßnahmen heute davon ausgegangen, dass die globale Erderwärmung zu einem Klimawandel führt, der den gesamten Lebensraum der Menschheit nachhaltig verändern und gefährden wird.

18.2.5 Wirtschaftliche Faktoren Der Staat nimmt ebenfalls Einfluss auf die Lebensaktivität „Für eine sichere Umgebung sorgen“. Zum einen erlässt die Regierung Gesetze mit dem Ziel der Risikominderung und Unfallverhütung. Zum anderen versucht er z. B. durch die Sozialgesetzgebung die Kranken- und Rentenversicherung sowie den Schutz der Familie zu regeln. Die Sicherheit des Einzelnen wird dadurch gewährleistet und ein soziales Gleichgewicht hergestellt. Mithilfe von Öffentlichkeitsarbeit und Aufklärungskampagnen macht der Staat die wichtigsten Inhalte für die allgemeine Öffentlichkeit zugänglich.

18.3 Beobachten und Beurteilen Um die Fähigkeit eines Menschen hinsichtlich der persönlichen Sorge für seine eigene Sicherheit beurteilen zu können, braucht es eine Fülle von Informationen.

Merke

H ●

Unter Berücksichtigung des Alters, der körperlichen und geistigen Fähigkeiten und des individuellen Verhaltens des Kindes ist es die wichtige Aufgabe der Pflegefachkraft, die Informationen einzuordnen und während der gesamten pflegerischen Maßnahmen auf die Sicherheit des Kindes zu achten und es individuell zu unterstützen.

18.3.1 Individuelle Situationseinschätzung Um die Bedürfnisse eines Patienten zu ermitteln, müssen so viele Informationen wie möglich über seine Gewohnheiten, Fähigkeiten und Kenntnisse in der Lebensaktivität „Für eine sichere Umgebung sorgen“ zusammengetragen werden. Auch bei Kindern geschieht dies in Form einer ausführlichen Pflegeanamnese. Die sich daraus ergebenden Erkenntnisse müssen dann in die Pflege einfließen.

Merke

H ●

Kinder haben ein anderes Sicherheitsbewusstsein und -empfinden als Erwachsene.

Folgende Fragen können Auskunft über das Sicherheitsbewusstsein eines Kindes geben: ● Kommunizieren: ○ Kann das Kind Anweisungen verstehen und danach handeln? ○ Kann das Kind sich allgemein verständlich machen? ○ Hat das Kind besondere Worte für Angst oder Schmerzen? ○ Gibt das Kind Ängste zu? ● Atmen/Kreislauf regulieren: ○ Hat das Kind eine Allergie oder Asthma? ○ Kennt das Kind auslösende Faktoren und kann es diese vermeiden? ○ Hat es Notfallmedikamente und kann es dieses selbstständig einnehmen oder anwenden? ● Essen und trinken: ○ Kann das Kind feste Nahrung ausreichend kauen und problemlos schlucken? ○ Kann das Kind mit Besteck essen? Wenn ja, welches bevorzugt es? ○ Gibt es eine Nahrungsmittelunverträglichkeit? Weiß das Kind, welche Nahrungsmittel es ggf. meiden muss? ○ Wie nimmt das Kind ggf. Medikamente ein? ● Ausscheiden: ○ Kann das Kind selbstständig auf die Toilette gehen? ● Sich sauber halten und kleiden: ○ Kann das Kind alleine baden oder duschen? ● Sich bewegen: ○ Kann das Kind laufen, rennen, frei stehen? ○ Kann das Kind zugreifen, festhalten, feinmotorische Bewegungen ausüben? ○ Kann das Kind Gegenstände tragen, Türen öffnen? ● Sich beschäftigen, spielen und lernen: ○ Spielt das Kind konzentriert und vergisst die Welt um sich? ○ Ist es risikobereit oder eher zurückhaltend? ● Schlafen: ○ Ermüdet das Kind leicht? ○ Schläft das Kind mit einem Schutz vor dem Herausfallen (z. B. Bettgitter)? ○ Wie hoch ist das Bett? Bei einem Kind mit einer geistigen oder körperlichen Einschränkung wird v. a. Gewicht auf folgende Fragen gelegt:

18 Abb. 18.2 Einschränkungen. Infusionsständer und viele Kabel schränken in der Bewegung ein. (Foto: P. Blåfield, Thieme)





Was kann das Kind für seine eigene Sicherheit tun? In welchem Bereich braucht es Fürsorge?

Ein Kind erlebt aufgrund seiner Gesundheitsstörung, der veränderten Umgebung und der therapeutischen Maßnahmen Situationen, die seine normale Sicherheit beeinflussen: ● Ungewohnte räumliche Gegebenheiten, z. B. glatte Böden, schwere Türen, hohe Betten und medizinische Geräte, bergen ein erhöhtes Unfallrisiko für das Kind. ● Therapeutische Maßnahmen, z. B. Verbände, Infusionen und Gipse, behindern die normale Beweglichkeit. ● Kann das Kind z. B. problemlos mit einem Infusionsständer gehen (▶ Abb. 18.2)? Kann das Kind ggf. alleine mit seiner Gehhilfe gefahrenfrei gehen? ● Hat das Kind Heimweh oder Angst und kann deshalb seine Umgebung nicht mehr realistisch einschätzen? Die Pflegefachkraft muss erkennen, was das Kind in welcher Weise und in welchem Ausmaß einschränkt und verunsichert! Sie wird daraufhin individuell auf die Bedürfnisse des Kindes zugeschnittene Präventionsmaßnahmen ergreifen.

18.4 Pflegemaßnahmen Die Aufgabe einer Pflegefachkraft im Rahmen der Sicherheitsförderung beinhaltet 3 wichtige Aspekte: 1. Wahrung und Förderung der Sicherheit des ihr anvertrauten Kindes im Rahmen seines Klinikaufenthaltes unter Berücksichtigung und Einbeziehung seiner Ressourcen. 2. Aufklärung und Beratung des Kindes und der Eltern, die helfen sollen, den erlangten Gesundheitszustand zu erhalten und zu fördern.

3

Für eine sichere Umgebung sorgen 3. Erkennen potenzieller Probleme (z. B. Aspirationsgefahr, Dekubitusgefahr, Unfallgefahr) und Ergreifen geeigneter Präventivmaßnahmen.

● ●



18.4.1 Hygiene Definition

18

● L





Der Begriff Hygiene (griech. hygieinos) bedeutet heilsam, gesund, munter, wohlbehalten.

unzureichende Händedesinfektion unzureichende Hautdesinfektion bei invasiver Diagnostik und Therapiemethoden (z. B. Herzkatheteruntersuchung) mangelhafte Desinfektion und Sterilisation von Materialien (z. B. Pflegeutensilien) unsachgemäße Handhabung von Material bei Diagnostik und Therapie unsachgemäße hygienische Durchführung von pflegerischen und therapeutischen Maßnahmen

Infektionswege Hygienische Maßnahmen zielen auf die Gesunderhaltung des Menschen ab und haben vorbeugenden Charakter. In einem Krankenhaus wird besonderer Wert auf die Einhaltung der Hygienevorschriften gelegt. An diesem Ort, der eigentlich die Gesundung des Menschen zum Ziel hat, ist die Gefahr einer Infektion mit gefährlichen Mikroorganismen deutlich höher als in der gewohnten Umgebung.

Definition

L ●

Eine im Krankenhaus erworbene Infektion wird als nosokomiale Infektion (griech. nosokomeion = Krankenhaus) bezeichnet. Hierbei ist das Infektionsdatum (Tag mit dem Auftreten erster Symptome) relevant. Eine nosokomiale Infektion liegt vor, wenn das Infektionsdatum frühestens der 3.Tag des Krankenhausaufenthaltes ist.

Die Pflegefachkraft muss umfangreiche Kenntnisse über die besonderen krankenhaushygienischen Maßnahmen besitzen, um eigenverantwortlich Infektionsquellen und -wege zu erkennen und sie mit gezieltem und sinnvollem Einsatz von Schutz- und Desinfektionsmaßnahmen zu verhüten, s. a. Infektionsschutzgesetz und spezielle Hygienemaßnahmen (S. 403). Die Pflegefachkraft hat Kenntnisse über: ● Risikofaktoren ● Infektionswege, -träger und -quellen ● Desinfektion (z. B. Händedesinfektion, Flächendesinfektion) ● Sterilisation und Umgang mit Sterilgut Faktoren, die u. a. eine nosokomiale Infektion begünstigen, sind: ● Alter, körperlicher und seelischer Zustand eines Menschen (z. B. Frühgeborene, Patienten im Koma, psychische Erkrankungen) ● verminderte Immunabwehr (z. B. unter Antibiotika- oder Zytostatikatherapie) ● Grunderkrankung (z. B. Mukoviszidose)

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Es gibt verschiedene Infektionswege und Angriffsflächen für pathogene Mikroorganismen, die die Ausbreitung einer Infektion begünstigen. Es wird zwischen direktem und indirektem Kontakt unterschieden. ▶ Direkter Kontakt. Die Pflegefachkraft ist erkrankt oder überträgt die Keime durch unhygienisches Arbeiten, z. B. mangelnde Händedesinfektion. ▶ Indirekter Kontakt. Keime werden über kontaminierte Utensilien (z. B. Instrumente, Medikamente, Bettzeug, Bekleidung) übertragen. ▶ Spezielle Infektionswege. Hier werden unterschieden: ● Oraler Infektionsweg: Kontaminierte Lebensmittel, Medikamente und Hände können Keime über den Mund in den Körper einbringen. ● Fäkooraler Infektionsweg (sog. Schmierinfektion): Die mit Erregern aus Stuhl kontaminierte Hand wird zum Mund geführt (z. B. ein bettlägriger Patient erhält nach dem Ausscheiden keine Möglichkeit, seine Hände zu waschen). ● Aerogener Infektionsweg (Tröpfcheninfektion): Die Aufnahme erfolgt über die Atemwege (z. B. durch Anhusten, Sprechen). ● Haut, Schleimhaut, Wunden: Eine Infektion erfolgt über direkten Haut- oder Wundkontakt bzw. auf dem Luftweg (z. B. Sprechen beim Verbandwechsel, ▶ Abb. 18.3). ● Trans- bzw. perkutaner Infektionsweg: Über Verletzungen der Haut durch Stich- oder Bissverletzungen oder z. B. bei Injektionen und Infusionen gelangen Erreger in den Körper. Keime brauchen für ihre Ausbreitung: ein gewisses Milieu (z. B. Flüssigkeit, Wärme) ● ein Transportvehikel (z. B. Hände, Haare, Kleidung, Instrumente, Gebrauchsgegenstände, Staubpartikel) ●

Abb. 18.3 Infektionswege. Direkter Hautoder Wundkontakt kann Infektionen auslösen (z. B. beim Verbandwechsel). (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Folgende Maßnahmen sind zur Vermeidung der Verbreitung von Mikroorganismen angebracht: ● Es sollte immer eine sorgfältige Händedesinfektion durchgeführt werden. ● Unnötige Luftbewegungen sollten vermieden werden (z. B. Luftzug, Aufschütteln von Bettwäsche). ● Patientenwäsche nicht mit Berufskleidung in Kontakt bringen, immer direkt entsorgen (keine Zwischenlagerung auf Böden oder Stühlen). ● Gegenstände aus dem Bett nicht auf den Tisch oder Boden legen. ● Behandlungsmaterial, Patientenakten, Röntgenbilder nicht auf dem Bett ablegen. ● Drainageauffangbeutel, Urinflaschen u. a. nicht auf den Boden legen, sondern am Bett befestigen.

Praxistipp Pflege

Z ●

Lässt sich einer dieser Faktoren nicht vermeiden, z. B. beim Transport des Kindes, sind die kontaminierten Gegenstände zu desinfizieren bzw. die Wäsche anschließend zu wechseln!

Desinfektionsmaßnahmen Definition

L ●

Unter dem Begriff Desinfektion werden Maßnahmen verstanden, die durch Abtötung, Reduzierung, Inaktivierung bzw. Entfernung von pathogenen Mikroorganismen (Bakterien, Viren, Pilze, Protozoen) ein Material in einen nicht infektiösen Zustand versetzen.

▶ Hygieneplan. Auf der Grundlage der Richtlinien des Robert Koch-Instituts (www.rki.de) werden von Hygienefach-

18.4 Pflegemaßnahmen leuten Hygienemaßnahmenpläne erstellt, dem Krankenhauspersonal erläutert und die Umsetzung überprüft. ▶ Laufende Desinfektion. Sie beinhaltet die Desinfektion aller Gegenstände, die während pflegerischer, therapeutischer und diagnostischer Maßnahmen mit dem Patienten in Berührung kommen. Dies wird erreicht durch: ● Haut- und Händedesinfektion ● Instrumentendesinfektion ● Ausscheidungsdesinfektion ● Flächendesinfektion

Händehygiene Die Händehygiene umfasst Waschen, Desinfizieren, Pflegen und Schützen der Hände. Hände sind Hauptüberträger von pathogenen Mikroorganismen! Die korrekte Händedesinfektion ist die effektivste Maßnahme, um die Verbreitung pathogener Keime während der Pflege, Diagnostik und Behandlung eines Menschen zu vermeiden.

Merke

H ●

Eine fachgerechte, überlegt eingesetzte Händehygiene aller mit dem Patienten in direkten Kontakt tretenden Personen ist die wirksamste Prävention nosokomialer Infektionen.

▶ Zeitpunkt. Hände müssen generell zu folgenden Gegebenheiten desinfiziert werden: ● allgemein vor Arbeitsbeginn ● vor jeder Pflegemaßnahme und vor jedem Kontakt mit dem Kind ● nach jeder Pflegemaßnahme ● nach jedem Patientenkontakt ● vor dem Verlassen des Patientenzimmers ● vor dem Umgang mit Medikamenten, Infusionslösungen und der Essensverteilung ● bei Verlassen der Station ● am Arbeitsende ▶ Durchführung. Das Desinfektionsmittel wird mit einem Hub aus dem Spender, der mit dem Unterarm betätigt wird, in die hohle Hand gegeben. Dieser Hub ergibt die erforderliche Desinfektionsmittelmenge (i. d. R. 3 – 5 ml). Das Desinfektionsmittel wird mit Waschbewegungen unter Einbeziehung der Fingerzwischenräume und -spitzen in die Hände einmassiert, bis es völlig verdunstet ist. Die vorgeschrieben Einwirkzeit von 30 Sek. ist dabei streng zu beachten (▶ Abb. 18.4). ▶ Handschutz. Zum Schutz der Hände sollten folgende Maßnahmen zum Einsatz kommen: ● Händedesinfektion sinnvoll und überlegt einsetzen. ● Als zusätzlichen Schutz Einmalhandschuhe tragen (z. B. bei Kontakt mit



Wischdesinfektionslösungen, Kontakt mit Körperflüssigkeiten, Ausscheidungen). Hände regelmäßig eincremen.

Praxistipp Pflege

Z ●

Müssen über einen längeren Zeitraum Schutzhandschuhe getragen werden (z. B. bei der Pflege von MRSA-Patienten), so empfiehlt sich das Tragen von Baumwollhandschuhen unter den Schutzhandschuhen. Dies verhindert Staunässe durch Schwitzen und somit eine Belastung des gesunden Hautmilieus.

18

Hautdesinfektion vor medizinischen Eingriffen Bevor die Haut durch einen Eingriff, z. B. eine Injektion, verletzt wird, wird sie mit einem speziellen Hautdesinfektionsmittel mit einer kurzen Einwirkungszeit desinfiziert: ● Die gewählte Stelle wird mit dem Mittel befeuchtet. Bei Säuglingen und Kleinkindern wird nicht aufgesprüht, da es durch die meist alkoholischen Präparate zu einem Kältereiz kommen kann. Zusätzlich kommt es zu Aerosolbildungen, deshalb nicht im Inkubator sprühen und nicht in Gesichtsnähe.

Abb. 18.4 Händedesinfektion. (Foto: A. Fischer, Thieme) a Desinfektionsmittel zwischen den Handflächen verreiben. b Rechte Handfläche über linkem Handrücken und linke Handfläche über rechtem Handrücken. c Handfläche auf Handfläche mit verschränkten, gespreizten Fingern. d Außenseite der Finger auf gegenüberliegenden Handflächen mit verschränkten Fingern. e Kreisendes Reiben des rechten Daumens in der geschlossenen linken Handfläche und umgekehrt. f Kreisendes Reiben mit geschlossenen Fingerkuppen der linken Hand in der rechten Handfläche und umgekehrt.

5

Für eine sichere Umgebung sorgen ●

18

Mit sterilem Tupfer wird die Stelle kreisförmig von innen nach außen abgewischt.

Es ist wichtig, das Hautdesinfektionsmittel wie beschrieben zu verwischen, um Hautfette und Keime zu entfernen. Die desinfizierte Hautstelle darf nicht mehr mit der Hand berührt werden. Die Einwirkzeit muss unbedingt eingehalten werden, da es sonst zu einer reduzierten Keimvernichtung kommen kann und der Wirkstoff im Einstichkanal brennt.

Merke

H ●

Talgdrüsenreiche Haut (z. B. Kopf, hintere Schweißrinne entlang des Rückgrats) bedarf einer längeren Einwirkzeit des Hautdesinfektionsmittels. Während der empfohlenen Einwirkzeit von mindestens 10 Minuten muss die Haut ständig durch das Desinfektionsmittel feucht gehalten werden.

Praxistipp Pflege

Z ●

Hautdesinfektionsmittel riechen oft unangenehm. Die Pflegefachkraft sollte daher das Kind vor der Pflegemaßnahme auf den Geruch hinweisen.

Flächendesinfektion Kontaminierte glatte Oberflächen (z. B. Wickeltische, Behandlungsliegen) werden nach Gebrauch sorgfältig mit einer Desinfektionslösung nach der Feucht-WischMethode gereinigt. Allgemeine Grundregeln bei der Herstellung von Desinfektionslösungen sind: ● Tragen einer Schutzbrille, um sich vor Spritzern zu schützen. ● Herstellung der Desinfektionslösung gemäß der Dosierungsvorschrift und unter Beachtung der Desinfektionspläne. ● Kaltes Wasser benutzen, um aufsteigende Dämpfe zu vermeiden. ● Zuerst das Wasser einfüllen, dann das Desinfektionsmittel, um Schaumbildung zu verhindern; Schaum beeinträchtigt die Konzentration und damit die Wirkung der Lösung. ● Haltbarkeitszeitraum der Lösung genau einhalten (Herstellungsuhrzeit und -datum am Eimer vermerken). ● Lösung nur mit Schutzhandschuhen anwenden, um gesundheitliche Gefahren, wie Allergien und Belastungen mit Desinfektionsmitteln, zu verhüten.

436



Jeden Kontakt mit Seifenlösungen vermeiden, sie inaktiviert die Wirksamkeit von Desinfektionsmitteln.

Merke

H ●

Die Desinfektionseimer müssen vor Erneuerung der Desinfektionslösung gründlich gereinigt werden! Ansonsten kann es zu Toxinrückständen kommen, die sich am Eimerboden sammeln. Diese beinträchtigen bzw. inaktivieren die Wirksamkeit der neuen Desinfektionslösung.

Aus diesem Grund kommen heute bevorzugt Einmaldesinfektionslösungen oder Einmaldesinfektionstücher in einem Spender zum Einsatz. Bei Letzteren kann es aufgrund der Darreichungsform zu Verwechslungen mit Feuchttüchern für die Babypflege kommen.

Eltern

a ●

Aufgabe der Pflegefachkraft ist es, Eltern und auch Auszubildende in diesen allgemeingültigen Maßnahmen zu unterweisen und ihre sachgerechte Anwendung zu überprüfen!

Von der Desinfektion abzugrenzen ist die Desinsektion.

Definition

L ●

Unter Desinsektion werden Bekämpfung und Vernichtung von Ungeziefer und Parasiten verstanden.

Die Mittel und Verfahren sind durch das Infektionsschutzgesetz geregelt und werden von einem staatlich geprüften Desinsektor ausgeführt.

Sterilisationsverfahren Definition

L ●

Sterilisation bedeutet die komplette Abtötung bzw. irreversible Inaktivierung sämtlicher pathogener Keime.

Es werden unterschieden: physikalische Sterilisation (z. B. Wasserdampf, trockene Hitze, Beta- und Gammastrahlen) ● chemische Sterilisation (z. B. Gassterilisation) ●

Die Methode des Sterilisationsverfahrens richtet sich nach der Art des Materials und der Widerstandsfähigkeit der Keime.

Schlussdesinfektion Die Schlussdesinfektion beinhaltet alle desinfizierenden Maßnahmen nach der Entlassung oder Verlegung eines Kindes. Ziel ist es, alle pathogenen Keime, die sich im Patientenzimmer, in der Nasszelle und auf den Pflegeutensilien befinden, abzutöten. Das Patientenbett und der Nachttisch werden nach jeder Belegung ungeachtet der Gesundheitsstörung des Patienten in der klinikinternen Bettenzentrale desinfiziert, das Bett anschließend neu bezogen.

Merke

Desinsektion

H ●

Wichtige Maßnahmen zur Reduzierung von nosokomialen Infektionen sind die richtige Anwendung und korrekte Einhalten der Einwirkzeit von Desinfektionsmitteln aller Art!

Merke

H ●

Sterile Materialien werden bei allen pflegerischen, therapeutischen und diagnostischen Maßnahmen, die einen Kontakt zu Blutbahn, Gewebe und Organen zur Folge haben, eingesetzt.

Um die Sterilität der Artikel zu gewährleisten, müssen folgende Punkte beachtet werden: ● Die Lagerung muss staubfrei, trocken und geschlossen erfolgen. ● Das Haltbarkeitsdatum ist zu beachten (industriell hergestellte Einmalartikel haben meist eine Sterilitätsgarantie von bis zu 3 Jahren). ● Ist eine Packung geöffnet, ist das Material nicht länger steril. ● Die Handhabung der sterilen Materialien erfolgt mit ebenfalls sterilem „Werkzeug“ (z. B. Pinzette) oder mit einer mit einem sterilen Handschuh bekleideten Hand.

18.4 Pflegemaßnahmen Immer mehr Kliniken verzichten auf die Sterilisation vieler Instrumente und greifen auf industriell hergestelltes Einmalmaterial zurück. Dies geschieht aus Sicherheitsgründen, um ein Restrisiko eventueller Keimrückstände auszuschießen.

H ●

Merke

Sterilgut muss immer überlegt, sorgfältig und sinnvoll eingesetzt werden. Sterilisationsverfahren und notwendige Verpackungsmaterialien belasten die Umwelt (▶ Abb. 18.5).

Tragen von sterilen Handschuhen Beim Umgang mit sterilen Materialien müssen sterile Einmalhandschuhe getragen werden (▶ Abb. 18.6). Dabei ist zu beachten: ● Vor dem Anziehen steriler Handschuhe die Hände desinfizieren. ● Einmalhandschuhe immer in der richtigen Größe wählen.

Sterilisation Verpackung

Händedesinfektion

Desinfektion, Reinigung Entsorgung

Entnahme aus Sterilverpackung

Gebrauch am Patienten mit Einmalhandschuhen oder Instrumenten

Abb. 18.5 Sterilgut. Umgang mit sterilem Material (nach Möllenhoff, 2005).





Verpackungen vorher öffnen, damit die Handschuhe steril entnommen werden können. Sterile Handschuhe mit trockenen Händen anziehen, da sonst der Kunststoff haften kann und die Handschuhe sich nicht über die Hände ziehen lassen.

18.4.2 Persönliche Hygiene und Berufsbekleidung Die persönliche Hygiene und das Tragen besonderer Berufsbekleidung unterstützen die Maßnahmen zur Einhaltung der Krankenhaushygiene. ▶ Persönliche Hygiene. Folgende Richtlinien sind zu beachten: ● Lange Haare müssen zurückgebunden oder -gesteckt werden. ● Lange Ohrringe, lange Ketten, Armbänder, Uhren und Fingerringe dürfen nicht getragen werden. Sie stellen ein Verletzungsrisiko dar (z. B. wenn ein Kind an einem Schmuckstück zieht), außerdem sind sie Keimreservoire (z. B. unter einem Ring). ● Die Fingernägel müssen kurz geschnitten sein und dürfen nicht lackiert werden, da sich unter Fingernägeln und Nagellack Keime festsetzen können. ▶ Berufsbekleidung. Sie wird i. d. R. vom Arbeitgeber gestellt und muss folgende Kriterien erfüllen: ● Berufskleidung wird hygienisch gewaschen (z. B. in der Klinikwäscherei). ● Sie muss in ausreichender Anzahl zur Verfügung stehen, um ein tägliches Wechseln zu ermöglichen.

Merke

● H

Die Kleidung muss bei Verunreinigung bzw. eindeutiger Kontamination sofort gewechselt werden. Sie darf nicht privat oder auf dem Weg zur Arbeit getragen werden.

Berufsbekleidung hat zusätzlich eine Signalwirkung und erleichtert Kindern und Eltern, ihre Träger den einzelnen Berufsgruppen zuzuordnen. Die verschiedenen Abteilungen eines Krankenhauses tragen aus diesen Gründen unterschiedliche Farben (z. B. Intensivstationen, OP-Bereich). Namensschilder oder Dienstausweise vervollständigen die Berufsbekleidung. ▶ Umgang mit Schutzkitteln. Zum Schutz der Kleidung und zur Minderung der Keimübertragung stellt die Klinik zusätzlich Schutzkittel zur Verfügung. Sie sind für den Einsatz bei pflegerischen Maßnahmen (z. B. Umgang mit infektiösen Materialien oder Ausscheidungen) oder den direkten Patientenkontakt gedacht (z. B. Säuglinge, bettlägerige Patienten). Das Tragen dieser Schutzkittel wird von den verschiedenen Kliniken unterschiedlich gehandhabt und von Hygienefachleuten bezüglich seiner Bedeutung unterschiedlich bewertet. Das Tragen der Schutzkittel ist jedoch in den oben stehenden Beispielen zu empfehlen.

Merke

18

H ●

Bei Patienten, die Träger eines multiresistenten Keimes sind, oder bei dem Verdacht oder Nachweis einer Infektionserkrankung (z. B. Tuberkulose) sind umfangreiche Schutzmaßnahmen vorgeschrieben. Diese variieren je nach Erregerart und können detailliert dem klinikeigenen Hygieneplan entnommen werden.

▶ Berufsschuhe. Sie müssen diese Kriterien erfüllen: ● Sie müssen vorne und hinten geschlossen sein, um bei Unfällen ausreichenden Schutz zu bieten (z. B. beim Herunterfallen eines Gegenstandes auf den Fuß).

Abb. 18.6 Sterile Handschuhe. a Die rechte Hand schlüpft in den Handschuh, die linke Hand hält die umgeschlagene Manschette hoch. (Foto: K. Oborny, Thieme) b Die linke Hand zieht an der Innenseite des Umschlags den Handschuh nach oben. (Foto: K. Oborny, Thieme) c Die behandschuhte rechte Hand greift unter die umgeschlagene Manschette des linken Handschuhs. (Foto: K. Oborny, Thieme)

7

Für eine sichere Umgebung sorgen ●



18

Sie müssen eine leicht zu reinigende, glatte Oberfläche aufweisen und dürfen nicht aus Stoff gefertigt sein (z. B. keine Leinenturnschuhe, da diese Flüssigkeiten durchlassen). Die Schuhe dürfen beim Gehen keinen Lärm verursachen.

18.4.3 Umgang mit Arzneimitteln Die Arzneimittelverabreichung ist eine verantwortungsvolle Aufgabe! Daher ist es von besonderer Wichtigkeit, dass Pflegefachkräfte sich umfangreiches Wissen über den Umgang mit Arzneimitteln aneignen. Es ist Folgendes zu beachten: ● ordnungsgemäße schriftliche ärztliche Anordnung ● korrekte Dokumentation ● Transport unter Einhaltung notwendiger Haltbarkeitskriterien (z. B. Einhaltung der Kühlkette, Lichtschutz) ● geeigneter Aufbewahrungsort ● korrekte Dosierung und Applikationsart ● begrenzte Haltbarkeit (z. B. nach Anbruch einer Originalpackung) ● korrekte Vorbereitung von Arzneimitteln ● Unterstützung bei der Arzneimittelverabreichung ● kindersichere Aufbewahrung ● Kenntnisse über Beobachtung hinsichtlich der Wirkung und Nebenwirkung der Arzneimittel ● Bestellung und wirtschaftlicher Umgang mit Arzneimitteln ● fachgerechte Entsorgung

H ●

Merke

Der Arzneimittelschrank muss hygienischen Anforderungen genügen und immer verschlossen sein bzw. unter unmittelbarer Aufsicht stehen, um unkontrollierte Entnahmen von Unbefugten zu vermeiden.

Darreichungsform und Applikationsart Arzneimittel werden in unterschiedlichen Formen und Konsistenzen angeboten. Über den dafür vorgesehenen Applikationsweg soll eine optimale Wirkstoffentfaltung am gewünschten Resorptionsort erreicht werden (▶ Abb. 18.7). Die Resorptionsgeschwindigkeit hängt von Darreichungsform und Beschaffenheit des Trägerstoffes des Präparates ab.

Grundsätzlich gilt: Wirkstoffe in flüssigen Medien (z. B. Tropfen, Säfte) werden schneller vom Körper aufgenommen als Wirkstoffe, die in fester Form (z. B. Tabletten, Kapseln) appliziert werden.

Bei Medikamentenumstellungen oder bei der verordneten Dosisangabe bei Säuglingen stehen nicht immer handelsübliche Präparate zur Verfügung. Deshalb müssen z. B. Tabletten manchmal geteilt werden. Über die Teilbarkeit des Präparates sind bei der Klinikapotheke Informationen einzuholen, um eine ausreichende Verabreichung des Wirkstoffes zu gewährleisten. Gegebenenfalls muss eine auf den Patienten abgestimmte Darreichungsform hergestellt werden. Müssen Kapseln geöffnet werden, um ihren Inhalt z. B. via Ernährungssonde zu applizieren, muss ebenfalls

Darreichungsform

Applikationsart oral

H ●

Merke

Tabletten

Kapseln

Dragees

4 ml Säfte

Tropfen

inhalieren

Lösungen, Tropfen, Aerosole

rektal

Suppositorien, Klistiere

einreiben

Salben, Gele, Lotionen, Öle

intravenös spritzen

Ampullen mit getrocknetem oder bereits gelöstem Wirkstoff

subkutan oder intramuskulär spritzen

Ampullen mit getrocknetem oder bereits gelöstem Wirkstoff

Aufbewahrungsort Die Station wird regelmäßig von der Apotheke mit Arzneimitteln beliefert. Die Arzneimittel müssen sachgerecht gemäß ihren Lagerungsvorschriften aufbewahrt werden. Hierbei ist besonders zu beachten: ● Lagerungstemperatur ● ggf. Lichtschutz ● trockene und saubere Umgebung Die Einordnung in den Schränken orientiert sich an dem Verfallsdatum gemäß dem „First-in-first-out-Prinzip“, d. h., dass die zuletzt gelieferten Arzneimittel hinter den noch vorhandenen Arzneimitteln gelagert werden. Für Arzneimittel, die dem Betäubungsmittelgesetz unterliegen, steht ein besonderes abschließbares Fach zur Verfügung (S. 440).

Abb. 18.7 Applikationsarten. Verschiedene Darreichungsformen von Medikamenten.

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18.4 Pflegemaßnahmen Rücksprache mit der Apotheke gehalten werden, da bei einigen Retardprodukten die Wirkgeschwindigkeit erhöht sein kann und es zur Verstärkung der Wirkungsweise und/oder der Nebenwirkungen kommen kann. Diese speziellen Hinweise finden sich i. d. R. nicht auf der Packungsbeilage.

?

Richtiger Patient

Vorbereitung von Arzneimitteln Die Arzneimittel werden kurz vor der Verabreichung von der betreuenden Pflegefachkraft an einem übersichtlichen, sauberen und desinfizierten Arbeitsplatz vorbereitet. Um Verwechslungen auszuschließen, ist es empfehlenswert, nur für ein Kind die verordnete Arzneimittelgabe vorzubereiten. Die Person, die sie vorbereitet hat, verabreicht sie auch. Für den Transport in das Patientenzimmer steht ein dem Kind zugeordnetes Einzeldosissystem zur Verfügung. Das Vorbereiten von Arzneimitteln erfolgt nach schriftlicher ärztlicher Originalanordnung.

Merke

Die Verordnung der einzelnen Arzneimittel unter Angabe von genauer Dosierung, Darreichungsform, Zeitpunkt und Applikationsart ist ausschließlich ärztliche Tätigkeit! Diese Anordnung muss schriftlich erfolgen!

▶ 6-R-Regel. 6 Punkte sind vor und nach der Verabreichung von Arzneimitteln unbedingt zu beachten (▶ Abb. 18.8). 1. richtiges Arzneimittel: ● Präparate mit ähnlicher Bezeichnung nicht verwechseln ● Verfallsdatum beachten 2. richtiger Patient: ● Vor- und Zuname überprüfen 3. richtige Dosierung: ● richtige Konzentration des Medikaments (z. B. Säfte) ● korrekte Umrechnung von angeordneten Messeinheiten (z. B. von Gramm in Milligramm; bei Unsicherheiten von Kollegen überprüfen lassen) 4. richtige Applikationsart: ● prüfen, ob die Darreichungsform für die angeordnete Applikationsart geeignet ist (z. B. Ampullen für i. m.oder s. c.-Injektionen) 5. richtiger Zeitpunkt: ● wirkungsvollste Einnahmezeit dem Beipackzettel entnehmen (z. B. vor, während oder nach der Mahlzeit, Tageszeit, ärztlicher Anordnung)

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Richtiges Medikament

Richtige Dokumentation

6-RRegel

?

?

Richtige Applikationsform

H ●

? ? Richtige Dosierung

Richtiger Zeitpunkt Abb. 18.8 6-R-Regel. Diese 6 Faktoren sind vor der Verabreichung von Arzneimitteln zu beachten. (Abb. aus: I care – Pflege. Thieme; 2015)

angeordneten Verabreichungszeitpunkt einhalten (z. B. um den angestrebten Wirkstoffspiegel im Blut zu gewährleisten) 6. richtige Dokumentation: ● Überprüfung, ob schriftliche ärztlichen Anordnung vorliegt ● nach Verabreichung des Arzneimittels Dokumentation in der Patientenkurve ●

Arzneimittelverabreichung Die Pflegefachkraft muss den Patienten bei der Einnahme des Arzneimittels unterstützen, den Vorgang überwachen und dokumentieren. Bei Säuglingen und Kleinkindern sollten Tabletten, falls sie sich nicht in etwas Flüssigkeit lösen lassen, mithilfe eines Mörsers zerkleinert und in etwas Flüssigkeit gelöst, mit einem Plastiklöffel verabreicht werden – vorausgesetzt, die Resorption der Substanz wird durch das Zermörsern nicht verändert. Für die Teilung einzelner Tabletten sollten handelsübliche Tablettenzerkleinerer zum Einsatz kommen. Sie gewährleisten eine saubere Trennung.

Merke

H ●

Manche Kinder können keine Kapseln und Tabletten schlucken. Säuglingen und schwerbehinderten Kindern dürfen grundsätzlich keine Kapseln oder Tabletten verabreicht werden, da Aspirationsgefahr besteht!

Zur genauen Dosierung von Lösungen werden die Medikamente z. B. mit Einmalspritzen, die ausschließlich für die orale Applikation bestimmt sind, aufgezogen und dem Kind anschließend langsam und vorsichtig in den Mund geträufelt, danach wird erst die Flasche angeboten. Ausgenommen davon sind Arzneimittel, deren Einnahme vor oder nach der Mahlzeit empfohlen wird. Die Einnahme eines Arzneimittels vor der Mahlzeit sollte nach Herstellerangaben vor der Nahrungsaufnahme mit etwas Wasser oder Tee erfolgen. Bei größeren Kindern werden Messlöffel verwendet, um z. B. Säfte genau zu dosieren. Die hygienische Reinigung der Messlöffel muss nach dem Gebrauch ge-

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Für eine sichere Umgebung sorgen

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währleistet sein. Tropfpipetten, die vom Hersteller beigefügt werden, werden nur zur genauen Dosierung eingesetzt. Die Lösung wird auf einen Löffel gegeben und dem Kind gereicht bzw. bei einem Säugling oral appliziert. Die Tropfpipette darf nicht mit dem Kind in Berührung kommen, da sie sonst kontaminiert ist. Das Medikament darf auch nicht direkt in den Mund geträufelt werden, da dabei die Gefahr einer Fehl- oder Überdosierung gegeben ist.

Merke

H ●

Arzneimittel dürfen nicht in die Flasche gegeben werden! Dies verändert den Geschmack und das Kind könnte die Nahrung ablehnen oder es trinkt nicht die gesamte Menge und der angeordnete Wirkstoff wird dadurch nicht aufgenommen.

Eltern

Geht ein Kind mit einer Dauermedikation nach Hause, werden Eltern, Bezugsperson und ältere Kinder von der betreuenden Pflegefachkraft angeleitet. Unter Aufsicht führen sie das Vorbereiten und Verabreichen des Medikaments durch und werden auf Wirkung sowie mögliche Nebenwirkungen des Medikaments hingewiesen.

Bemerkt die betreuende Pflegefachkraft Vorbehalte bei Eltern gegenüber bestimmten Medikamenten bzw. Wirkstoffen, sollte sie den behandelnden Arzt informieren, um evtl. die Wichtigkeit der Therapie nochmals erklären zu lassen. Ziel ist es, die Compliance bei Kind und Eltern zu fördern.

Definition Erbricht ein Kind die Nahrung und somit auch die Arzneimittel kurze Zeit nach der Nahrungsaufnahme, muss der Arzt informiert werden. Er entscheidet über eine mögliche Zweitgabe. Größere Kinder, die kleine Kapseln schlucken können, werden ebenfalls bei der Einnahme unterstützt und motiviert. Sie bekommen anschließend viel zu trinken angeboten. Kapseln können auch, z. B. eingebettet in Obstpüree, mit dem Löffel aufgenommen werden. Bei Suspensionen und Säften sind die Angaben des Herstellers sehr genau zu beachten. Einige Präparate müssen z. B. vor der Applikation gut geschüttelt und nach Gebrauch sofort wieder verschlossen werden.

Merke

H ●

Kommt es zu einer fehlerhaften Arzneimittelverabreichung, muss diese umgehend dem Arzt mitgeteilt werden!

▶ Dauermedikation. Neben dem Erlernen der richtigen Einnahmetechnik ist auch die kontinuierliche Weiterführung der medikamentösen Therapie zu Hause wichtig. Eltern sollten unbedingt darauf hingewiesen werden, dass sie das Absetzen oder Pausieren in der Medikamentengabe immer mit dem behandelnden Arzt besprechen müssen, um einen Therapieerfolg nicht zu beeinträchtigen.

a ●

L ●

Unter Compliance (engl. = Befolgung, Einhaltung) wird die Kooperationsbereitschaft eines Patienten bzw. Kindes (oder auch der Angehörigen bzw. Eltern) im Rahmen einer Therapie verstanden.

Nebenwirkungen von Arzneimitteln Arzneimittel zeigen neben der beabsichtigten Hauptwirkung auch Nebenwirkungen. Der dem Arzneimittel beigefügte Beipackzettel weist auf die möglichen Begleiterscheinungen hin. Die Pflegefachkraft muss sich darüber informieren und das Kind hinsichtlich eventuell auftretender Symptome beobachten. Diese werden bei Auftreten dokumentiert und der Arzt informiert. In folgenden Bereichen muss durch die Pflegefachkraft auf Störungen geachtet werden: ● Bewusstsein (z. B. Müdigkeit, Schläfrigkeit, Schwindel) ● Haut und Schleimhaut (z. B. Exanthem, Jucken, Rötungen, trockene, gereizte Mundschleimhaut, Haarausfall) ● Verdauung (z. B. Obstipation, Übelkeit, Durchfälle) ● Vitalfunktionen (z. B. das Auftreten von Tachy-/Bradykardien, Blutdruckschwankungen)

Merke

H ●

Nicht auszuschließen ist bei Nebenwirkungen von Arzneimitteln ein lebensbedrohlicher anaphylaktischer Schock.

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Die Nebenwirkungen von Arzneimitteln beeinflussen auch andere Lebensaktivitäten und sind in der Pflege zu berücksichtigen.

Wirtschaftlicher Umgang mit Arzneimitteln Beim Vorbereiten von Medikamenten ist es wichtig, auf den wirtschaftlichen Umgang zu achten. Dies gilt z. B. für Präparate, die in flüssiger Darreichungsform zur Verfügung stehen (Säfte, Tropfen). Die verantwortliche Pflegefachkraft sollte sich in Absprache mit den Kollegen für eine Packungsgröße entscheiden, die einen gemeinsamen Verbrauch im angegebenen Verwendungszeitraum gewährleistet. Der mehrfache Anbruch von Medikamenten, die zeitgleich benötigt werden, ist zu vermeiden. Wichtig ist die hygienische Entnahme der angeordneten gelösten Wirkstoffmenge, um eine Kontamination des Medikaments zu vermeiden.

Entsorgung von Arzneimittelresten Arzneimittelreste werden i. d. R. von der Apotheke entsorgt. Sie stellt Behälter zur Verfügung, die genau deklariert sind und in denen die Reste verworfen werden (z. B. Zytostatika, Infusionslösungen). Die Behälter werden sorgfältig verschlossen und nach hausinternen Regelungen vom Entsorgungspersonal abtransportiert.

Umgang mit Betäubungsmitteln Einige Arzneimittel nehmen aufgrund eines hohen Suchtpotenzials einen besonderen Stellenwert ein (z. B. Morphium). Ihre Herstellung, Verordnung, Abgabeform und -menge sind gesetzlich durch das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) geregelt! Dies bedeutet für den Stationsalltag, dass die folgenden Punkte gewährleistet sein müssen. ▶ Gesicherter Aufbewahrungsort. Die Betäubungsmittel (BTM) sind stets unter Verschluss aufzubewahren. Den Schlüssel trägt die verantwortliche Stations- bzw. Schichtleitung immer bei sich. ▶ Genaueste Dokumentation. In einem speziell dafür vorgesehenen Betäubungsmittelbuch werden Entnahmedatum, Präparatbezeichnung, Chargennummer, Patientenname, Darreichungsform, Dosisangabe und Applikationsart dokumentiert. Die Entnahme wird von der applizierenden Person unterzeichnet.

18.4 Pflegemaßnahmen ▶ Organisation. Die Arzneimittelanforderung erfolgt mit einem ausschließlich dafür vorgesehenen BTM-Anforderungsschein, der nur vom Oberarzt oder vom Chefarzt der Abteilung ausgestellt werden darf. ▶ Kontrolle. Der Arzneimittelbestand muss immer mit der Buchführung übereinstimmen. Die Kontrolle erfolgt durch die Stationsleitung und den Stationsarzt, der 1-mal im Monat und bei Änderungen des Bestandes den aktuellen Arzneimittelbestand mit seiner Unterschrift gegenzeichnet. Die Unterlagen werden in klinikeigenen Räumen ab der letzten Eintragung für 3 Jahre aufbewahrt.

Merke

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Diese Maßnahmen sollen Unregelmäßigkeiten und Betäubungsmittelmissbrauch vorbeugen und verhindern. Bei Zuwiderhandlung gegen die Anordnungen und einem nicht erklärbaren Fehlbestand ist mit einer strafrechtlichen Verfolgung zu rechnen.

18.4.4 Transport eines Kindes Kinder werden aus unterschiedlichen Gründen innerhalb und außerhalb der Klinik transportiert. Sie werden zu Untersuchungen, in die Operationsabteilung oder bei Verlegungen begleitet. Das Kind wird von der betreuenden Pflegefachkraft und/oder (wenn möglich) den Eltern begleitet. Bei Verlegungen von Kindern mit instabiler Kreislaufsituation, Beatmung oder postoperativ nach schweren Eingriffen begleitet zusätzlich ein Arzt den Transport. Ein Transport mit einem Krankenwagen erfolgt nur nach ärztlicher Anordnung.

Transport von Neugeborenen und Säuglingen Es stehen je nach Stabilität und Allgemeinzustand des Kindes folgende Transportmöglichkeiten zur Verfügung: ● Kinderwagen ● Bett ● Transportinkubator

Transport von größeren Kindern Je nach Allgemeinbefinden und Mobilisationsfähigkeit werden sie wie folgt verlegt: ● im Rollstuhl ● im Bett ● auf einer Trage des Krankentransports Bei einem Transport mit einem Krankenwagen ist Folgendes zu beachten: ● Es sollten eine ausreichende Bedeckung und Wärmezufuhr erfolgen. ● Während des Transports muss eine sichere Lagerung gewährleistet sein, um einen Sturz zu vermeiden. ● Geräte (z. B. Infusionspumpen) und Zuund Ableitungssysteme (z. B. Infusionsleitungen), die für den Transport benötigt werden, müssen sicher fixiert werden. ● Der Zustand des Kindes wird während des Transports überwacht. ● Der Transport sollte immer in Blickrichtung des Kindes erfolgen.

Merke

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Es ist wichtig, während des gesamten Transports dem Kind Zuspruch und Körperkontakt zu vermitteln, um Ängste zu mindern.

18.4.5 Unfallprävention Pflegefachkräfte leisten einen wichtigen Beitrag zur Unfallprävention, indem sie Unfallrisiken identifizieren und präventive Maßnahmen einleiten. Dazu gehört das

Schaffen einer sicheren Umgebung im Krankenhaus. Zudem beraten sie die Eltern bezüglich unfallverhütender Präventionsmaßnahmen im häuslichen Bereich.

Unfälle im Kindesalter Unfälle sind die häufigste Todesursache im Kindesalter. Sie können Grund für Krankenhausaufenthalte und nicht mehr heilbare Behinderungen (z. B. Mobilitätsverlust oder -einschränkung, Verlust eines Sinnesorgans, Narben) sein (▶ Tab. 18.1). Alle Personen, die an der Erziehung eines Kindes mitwirken, müssen Raum und Möglichkeiten schaffen, um dem Kind ein sicheres Aufwachsen zu ermöglichen. Dem Kind muss dabei aber auch das Recht eingeräumt werden, seine Umwelt eigenständig zu entdecken. Die Pflegefachkraft kann im Gespräch mit Eltern und Kindern erkennen, wo Risiken oder fehlende Kenntnisse die Sicherheit des Kindes beeinträchtigen. Sie kann die Eltern darauf aufmerksam machen und beratend tätig werden. Situationen und Orte, die Gefahren in sich bergen können, müssen erkannt und sicherer gestaltet werden. Bei den folgenden Beispielen sind vor allem Vorbilder wichtig, die so früh wie möglich die Sicherheitserziehung der Kinder und die Wahrung der Aufsichtspflicht übernehmen. Dabei soll dem Kind keine Angst vor gefährlichen Situationen vermittelt werden; vielmehr soll es dazu motiviert werden, diesen überlegt und konzentriert zu begegnen.

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Unfallverhütende Maßnahmen Eltern neugeborener Kinder sind oft unsicher, welche Maßnahmen für ihre Kinder nützlich sind, daher sollte die Pflegefachkraft Kenntnisse besitzen, um die Eltern beraten zu können. Bei Kauf und Handhabung von Geräten, die bei Kindern eingesetzt werden, ist z. B. Folgendes zu beachten: ● Autositz und Kinderwagen müssen sicherheitsgeprüft und mit der dafür vorgesehenen Prüfplakette ausgestattet sein sowie eine genaue Produktbeschreibung beinhalten. Die Montage

Tab. 18.1 Unfallursachen im Kindesalter (nach Callabed, 1996). 0.– 1. Lebensjahr

1.– 2. Lebensjahr

2.– 5. Lebensjahr

5.– 9. Lebensjahr

10.– 16. Lebensjahr

Stürze Ertrinken Verbrühungen Ersticken Straßenverkehr

Stürze Vergiftungen Verbrennungen Verbrühungen Schnittwunden Ersticken durch Fremdkörper Ertrinken Straßenverkehr

Stürze auf dem Spielplatz (Schaukel, Rutsche) Vergiftungen Verbrühungen Ertrinken Quetschungen Straßenverkehr Verbrennungen

Stürze beim Spiel Verwundungen Straßenverkehr Unfälle in der Schule Sportverletzungen

Werkzeug Feuerwaffen gefährliches Spielzeug Elektrizität Sportverletzungen Erkundungen Intoxikationen Straßenverkehr

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Für eine sichere Umgebung sorgen







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sollte mit dem Fachmann eingeübt werden. Wickelauflagen und Badewanneneinsätze müssen rutschfest sein. Kinder dürfen nie ohne unmittelbare Aufsicht auf Wickeltischen oder im Kinderwagen alleine gelassen werden. Mit Rollen versehene Lauflernhilfen sind nicht empfehlenswert. Die Kinder erreichen ohne großen Kraftaufwand eine hohe Geschwindigkeit, können das Gerät aber nicht selbstständig steuern oder stoppen. Trifft das Kind auf ein Hindernis, kann das Kind umfallen oder herausgeschleudert werden.

Unfallursachen Sturz Im Haus bergen viele Gegenstände oder die Anordnung von Möbeln die Gefahr, bei einem Sturz den Aufprall und somit das Verletzungsrisiko zu erhöhen. Maßnahmen, die dem Kind eine gefahrenfreie Mobilität ermöglichen, sind, vgl. auch Sturzprophylaxe (S. 407): ● sämtliche spitzen Kanten und Ecken abpolstern ● rutschfeste Böden ● keine herabhängenden Kabel, Tischdecken und Pflanzen ● Sicherung von Treppenabsätzen mit speziellen Gittern, die der Sicherheitsnorm entsprechen ● Kinder nicht unbeaufsichtigt bei einem offenen Fenster lassen, Fenster mit Sicherheitsriegel verschließen

Verbrennen und Verbrühen Feuer, Kerzenschein und Streichholzlicht üben eine Faszination auf Kinder aus. Aber auch Wärmequellen, die nicht sichtbar sind (z. B. heißes Wasser, Heizkörper, eingeschaltete Herdplatten), bergen Gefahren. Deshalb sind die wichtigsten Maßnahmen: ● Aufbewahrung von Streichhölzern und Feuerzeugen außer Reichweite von Kindern ● immer unmittelbare Aufsicht bei offenem Feuer (z. B. Grill, Kerzen) ● Einsatz von Herdgittern, Töpfe vorzugsweise hinten abstellen ● keine heißen Speisen oder Getränke für das Kind erreichbar abstellen ● Überwachen des Duschens oder Badens, Wassertemperatur überprüfen

Schneiden, Quetschen und Stechen Neben Messer und Schere gibt es eine Vielzahl von Gegenständen, die weniger offensichtlich zu den in genannten Verletzungen führen können. Deshalb sollte Folgendes beachtet werden: ● scharfe und spitze Küchenutensilien in sicherer Höhe aufbewahren

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● ●





Werkzeuge vor Kindern sicher lagern Kleinkinder nur unter unmittelbarer Aufsicht mit Besteck und zerbrechlichem Geschirr umgehen lassen auf bruchsicheres, nicht spitzes Spielzeug achten Beaufsichtigung des Kindes im Türbereich, besonders bei Autotüren und automatischen Drehtüren von öffentlichen Einrichtungen

Ersticken und Ertrinken Vor allem bei Säuglingen bis zum 6. Lebensmonat ist das Ersticken die häufigste Todesursache, aber auch größere Kinder können in solche Gefahrensituationen geraten. Daher ist besonders zu beachten, vgl. auch Einhaltung der gesunden Schlafumgebung (S. 425): ● auf herabhängendes, an Schnüren befestigtes Spielzeug beim schlafenden, unbeaufsichtigten Kind verzichten ● Plastiktüten unter Verschluss halten ● Truhen, große Behälter, Waschmaschinen immer fest verschließen ● Kleinkinder nie unbeaufsichtigt in und am Wasser spielen lassen (schon Pfützen reichen bei einem Sturz zum Ertrinken aus) ● Kinder sollten früh schwimmen lernen

Unfälle mit elektrischem Strom Strom ist für das menschliche Auge nicht sichtbar und die Folgen von Stromkontakt sind dem Kind nicht demonstrierbar. Deshalb sind alle Gefahren, die von einer Stromquelle ausgehen können, zu unterbinden: ● Steckdosen mit Kindersicherungen versehen. ● Keine defekten Elektrogeräte benutzen. ● Elektrogeräte niemals in Reichweite eines Kindes und Wasser aufbewahren (z. B. im Badezimmer, in der Küche). ● Elektrische Geräte immer vom Netz nehmen (z. B. Fernseher).

Unfälle im Straßenverkehr und mit Sportgeräten Kinder sind durch ihre Spontaneität und Freude an Bewegung und Geschwindigkeit und einer von ihnen nicht einschätzbaren Risikofreude stark gefährdet, im öffentlichen Verkehr zu verunglücken. Daher müssen Eltern und Erziehungsberechtigte auf Folgendes achten: ● Im Auto immer Kindersitze verwenden, auch bei kurzen Wegstrecken anschnallen. ● Mit der Verkehrserziehung so früh wie möglich beginnen. ● Immer selbst Vorbild sein, als Fußgänger und auch als Auto- oder Fahrradfahrer. ● Sicherheitsgeprüfte Sportgeräte kaufen und die Handhabung erklären, einüben und überwachen.



Schutzausrüstung von Anfang an einsetzen (Fahrradschutzhelme, Knieschoner, Ellenbogenschoner) und auf das Einüben sicherer Techniken achten, ggf. einen Kurs in der jeweiligen Sportart besuchen lassen.

Gefährdung durch andere Personen Die Verletzung von Körper und Seele eines Kindes durch Missbrauch stellt eine potenzielle Gefahr dar. Eltern sollten von Anfang an eine Gesprächs- und Vertrauensbasis zu ihrem Kind schaffen und es für die Gefahren, die von anderen ausgehen, sensibilisieren. Verhaltensweisen, die Kinder schützen können, sind: ● Nicht mit fremden Menschen mitgehen. ● Von Fremden keine Geschenke annehmen und sich nicht einladen lassen. ● Nicht ohne Begleitung nach Einbruch der Dunkelheit im Freien aufhalten. ● Auch am Tage unbelebte Orte meiden. ● Nicht mit alkoholisierten Fahrern mitfahren. ● Nicht trampen. ● Über Drogenkonsum, Verbreitungswege und Folgen aufklären. ● Über einen sicheren Umgang mit Medien aufklären (z. B. Verhalten in sozialen Netzwerken, Internetnutzung reglementieren bzw. bestimmte Seiten sperren).

Erste-Hilfe-Maßnahmen Um die Verletzungen eines Kindes im Falle eines Unfalles sachgerecht versorgen zu können, sollten Eltern und an der Erziehung von Kindern beteiligte Personen: ● Ihre Erste-Hilfe-Kenntnisse ständig auffrischen (z. B. Erste-Hilfe-Kurse für Säuglinge und Kinder). ● Erste-Hilfe-Zubehör immer im Hause haben. ● Wichtige Notrufnummern immer griffbereit halten (z. B. Hausarzt, Rettungsdienst, Feuerwehr, Polizei, Giftzentrale). ● Im Falle einer Vergiftung das Produkt und die Verpackung zum Arzt oder in die Klinik mitnehmen (bei Pflanzenvergiftungen Teile der Pflanze mitnehmen).

Unfälle in der Klinik Auch im Krankenhaus lauern Gefahren, die zu Unfällen führen können. Die Pflegefachkräfte müssen daher die Eltern in der ungewohnten Umgebung auf diese besonderen Gefahrenquellen hinweisen und sie bitten, die Kinder hierbei besonders sorgfältig zu beaufsichtigen (z. B. Patientenbett, Pflegearbeitsraum, Behandlungszimmer, automatisch öffnende Türen, Geräte, Zu- und Ableitungen). Jede Pflegefachkraft muss die potenziellen Gefahren, die für das in seinen Lebensaktivi-

18.4 Pflegemaßnahmen täten eingeschränkte Kind auftreten können, erkennen. Der Umgang mit sicherheitsfördernden Maßnahmen und deren Umsetzung durch die Pflegefachkraft hat jederzeit Vorbildcharakter für Eltern, Kinder und Kollegen.

18.4.6 Sicherheit am Arbeitsplatz Der Angestellte eines Betriebs hat Anspruch auf einen sicheren Arbeitsplatz. Dieser Anspruch wird mit dem Arbeitsschutzrecht gesetzlich festgelegt. Ziel dieser Gesetze ist es, Gefahren abzuwehren und Leben und Gesundheit des Beschäftigten zu schützen.

Sicherheitsbestimmungen Alle Mitarbeiter genießen den Schutz besonderer Gesetze. Sie definieren genau den Verantwortungsbereich des Arbeitgebers, stellen aber auch klar die Pflicht des Arbeitnehmers zur Einhaltung der Schutzbestimmungen heraus. Gesetze, die Vorschriften zum Arbeitsrecht enthalten, sind u. a.: ● Arbeitszeitgesetz ● Mutterschutzgesetz ● Bundesurlaubsgesetz ● Betriebsverfassungsgesetz ● Personalvertretungsgesetz Die Hauptschutzmaßnahmen finden sich in 3 Punkten wieder: 1. technische und bauliche Maßnahmen, z. B.: ● sicherheitsgerechte Einrichtung ● Einhaltung von Schutzbestimmungen bei Arbeiten mit gesundheitsschädigenden Stoffen 2. organisatorische Maßnahmen, z. B.: ● Regelungen zur sicheren Arbeitsweise durch Betriebs- oder Dienstanweisungen 3. personelle Maßnahmen, z. B.: ● Einsatz geeigneter und ausgebildeter Mitarbeiter

Vorgesetzte, Personalrat und Beschäftigte tragen die Verantwortung, diese Schutzmaßnahmen einzuhalten, zu unterstützen und die Mängel zu erkennen und abzustellen.

Merke

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Verstöße gegen diese Gesetze ziehen rechtliche Konsequenzen nach sich.

Brandschutz Um Klinik, Patienten und Mitarbeiter vor Brandgefahren ausreichend zu schützen, müssen die einzelnen Mitarbeiter regelmäßig in Brandschutzmaßnahmen unterwiesen werden. Jeder Mitarbeiter sollte die Hauptaspekte brandschutztechnischer Maßnahmen kennen und einhalten: ● Die Flure sind von Gegenständen jeder Art freizuhalten (z. B. Betten, medizinische Geräte), damit diese im Fluchtfall keine Behinderung darstellen. ● Brandschutztüren schließen sich selbsttätig, dies darf nicht verhindert werden (keine Keile, nicht mit Binden offenhalten). ● Türen müssen in Fluchtrichtung zu öffnen sein. ● Notausgänge dürfen nicht verschlossen oder verstellt werden. ● Ein Merkblatt über das Verhalten im Brandfall muss gut sichtbar angebracht sein. ● Notrufnummern der Feuerwehr sind auf jedem Telefon vermerkt. Es liegt in der Verantwortung des Arbeitgebers, des Vorgesetzten und jedes einzelnen Mitarbeiters, dass das gesamte Personal Kenntnisse hat bezüglich: ● brandbegünstigender Faktoren ● Arten von Zündquellen ● Brandklassen ● Brandbekämpfung ● Aufstellungsort, Einsatz und Handhabung eines Feuerlöschers ● Evakuierungsmaßnahmen ● Katastrophenplänen

Medizinproduktegesetz und Medizinproduktebetreiberverordnung Im Rahmen ihrer Tätigkeit muss die Pflegefachkraft mit hoch entwickelten medizinisch-technischen Geräten arbeiten, die bei unsachgemäßem Gebrauch dem damit behandelten Kind Schaden zufügen können. Um potenzielle Schäden vom Patienten abzuwenden, treten beim Einsatz von medizinisch-technischen Geräten das Medizinproduktegesetz (MPG) und die Medizinproduktebetreiberverordnung in Kraft. Sie regeln u. a.: ● Anwendungsbereich ● Überprüfung der Bauartzulassung ● Einweisung des Personals ● sicherheitstechnische Kontrollen ● Aufbewahrung der Gebrauchsanweisungen und Gerätebücher (die die genauen Daten des Gerätes und die Kontrolltermine beinhalten) ● Unfall- und Schadensanzeigen bei Ausfall eines Gerätes

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Es liegt in der Verantwortung eines jeden Mitarbeiters und dessen Vorgesetzten, dass er in die Handhabung der Geräte, die er einsetzt, eingewiesen wird. Der Anwender muss durch den Hersteller oder die vom Betreiber beauftragte Person unter Berücksichtigung der Gebrauchsanweisung in die sachgerechte Handhabung eingewiesen worden sein. Die Pflegefachkraft muss die Handhabung des Gerätes einüben. Nur nach Anweisung und genauer Kenntnis dürfen die Geräte eigenverantwortlich vom Mitarbeiter bedient werden. Jede Pflegefachkraft und jede/r Auszubildende hat einen Gerätepass oder elektronischen Nachweis, in dem die Unterweisungen für die einzelnen Geräte dokumentiert werden. Auszubildende dürfen nur unter unmittelbarer Aufsicht mit medizinisch-technischen Geräten arbeiten.

3

Für eine sichere Umgebung sorgen

18

444

Kapitel 19 Sich beschäftigen, spielen und lernen

19.1

Bedeutung

446

19.2

Beeinflussende Faktoren

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19.3

Beobachten und Beurteilen

446

19.4

Pflegemaßnahmen

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Sich beschäftigen, spielen und lernen

19 Sich beschäftigen, spielen und lernen Eva-Maria Wagner

19.1 Bedeutung

19

Spielen ist für ein Kind ein Grundbedürfnis wie Essen und Trinken, Ruhen und Schlafen oder das Spüren der Nähe vertrauter Menschen. Das Spiel ermöglicht dem Kind, aktiv zu lernen und sich alltägliche Fähigkeiten anzueignen. Im Spiel wird das Kind mit sich selbst konfrontiert, mit seinen Wünschen, Konflikten, Freuden und Ängsten. Alles, was für ein Kind neu und somit erst zu verarbeiten ist, versucht es, spielend nachzuahmen und zu begreifen. In den ersten 6 Lebensjahren spielt ein Kind ca. 15 000 Stunden, d. h. 7 – 9 Stunden täglich. Dies entspricht dem Arbeitstag eines Erwachsenen. Für das Kind ist aber das Spiel nicht wie für den Erwachsenen ein angenehmer Zeitvertreib, sondern seine wichtigste Beschäftigung. „Wenn ein Kind einmal nicht isst, so ist das für die meisten Eltern ein Anlass zu großer Sorge. Wenn ein Kind aber nicht richtig spielt, dann wird das häufig gar nicht bemerkt. Dabei ist Letzteres meist ein viel ernsteres Alarmzeichen“ (Virginia M. Axline, amerikanische Kinderpsychologin).

19.1.1 Bedeutung für das kranke Kind Das Spiel im Krankenhaus lenkt das Kind von den ihm auferlegten Beschränkungen ab (z. B. Bettruhe, Isolation oder teilweise Bewegungsunfähigkeit aufgrund von Infusionen) und bringt ein Stück Normalität in den Klinikalltag. Probleme und Ängste kann das Kind spielend verarbeiten, indem es im Rollenspiel seine eigene Situation darstellt, z. B. den ersten Tag in der Kinderklinik, die Untersuchung durch den Arzt, die Medikamentenausgabe durch eine Pflegefachkraft.

Merke

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Das Kind erhält Selbstbestätigung, wenn ihm trotz seiner Erkrankung etwas gelingt, z. B. beim Malen, Basteln oder Musizieren.

Auch Lernen im Krankenhaus ist für Schulkinder wichtig, selbst wenn sie normalerweise nicht besonders gerne zur Schule gehen. Es bedeutet ein Stück Alltag im Klinikablauf, lenkt sie ab, ermöglicht ihnen, den Kontakt zu den Klassenkameraden aufrechtzuerhalten und nach dem

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Krankenhausaufenthalt Anschluss an die Unterrichtsthemen in der Schule zu finden. Der Unterricht für kranke Schulkinder kann als Krankenhausunterricht im Klassenzimmer oder am Krankenbett oder als Hausunterricht erfolgen. Die Form und Organisation des Unterrichts richten sich in der Bundesrepublik Deutschland nach den Regelungen der einzelnen Bundesländer (Empfehlungen der Kultusministerkonferenz 1998). Auch die Charta für Kinder im Krankenhaus (EACH-Charta) fordert das Recht des kranken Kindes im Krankenhaus auf Schulbildung (S. 183).

19.1.2 Bedeutung für Pflegefachkräfte Die Pflege kranker Kinder ist eine ernste Angelegenheit – je kranker das Kind, desto ernster. Darf die Pflegefachkraft beim Verbandwechsel ein Lied singen oder während der Blutentnahme mit dem Kind um die Wette Grimassen schneiden? Darf die Pflegefachkraft mit einem Kind spielen, wenn noch nicht alle Betten gemacht, Vorräte aufgefüllt oder Befunde abgeheftet sind? Was denken da die Kollegen, Ärzte, Eltern? Spiel ist nicht nur Kinderspiel. Es hat auch für die Pflegefachkräfte große Bedeutung: ● Die Pflegefachkräfte erfahren, wie sich das Kind fühlt, wie es das Krankenhaus erlebt, welche belastenden Erfahrungen es im Spiel verarbeitet. ● Die psychosoziale Entwicklung des Kindes zeigt sich, da bestimmte Spiele erst ab einem bestimmten Alter auftreten, wenn das Kind über entsprechende Fähigkeiten verfügt (Beispiel: Entwicklung des Malens und Zeichnens). ● Kontakt der Kinder untereinander kann hergestellt werden, sodass das einzelne Kind sich nicht mehr so langweilt oder ängstigt. ● Chronisch kranke Kinder können im Umgang mit ihrer Erkrankung spielerisch geschult werden (z. B. bei Asthma, Diabetes, Rheuma). ● Viele Berufsgruppen können im Spiel ihren therapeutischen Auftrag umsetzen, z. B. Kinderkrankenpflege, Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie.

19.2 Beeinflussende Faktoren Verschiedene Faktoren, die auch im Krankenhaus von Bedeutung sind, können das Spielverhalten von Kindern beeinflussen.

▶ Körperliche Faktoren. Alter und Entwicklungsstand des Kindes bringen spezifische Spielarten mit sich, typisch für Säuglinge sind z. B. das Ablecken und Abtasten jedes Spielzeugs mit dem Mund. Eine körperliche und/oder geistige Behinderung beeinträchtigt das Spielverhalten, z. B. greifen blinde Kinder selten nach Spielzeug, da sie nicht sehen können, dass es sich in ihrer Nähe befindet. Aufgrund einer Erkrankung kann sich das Kind nicht wohl genug fühlen, um zu spielen oder sich auf ein Spiel zu konzentrieren. Möglicherweise ist es in seiner Beweglichkeit so eingeschränkt, dass nur bestimmte Spiele infrage kommen. ▶ Psychische Faktoren. Das Kinderspiel wird durch Gefühle wie Angst, Unruhe, Langeweile und Einsamkeit beeinträchtigt, insbesondere während eines Krankenhausaufenthalts. ▶ Soziokulturelle Faktoren. Das Kind ahmt im Spiel das Sozialverhalten nach, das ihm in seiner Umgebung vorgelebt wird. Ab ca. 2 Jahren kann geschlechtsspezifisches Spiel beobachtet werden, d. h. Jungen spielen bevorzugt mit technischem Spielzeug, wie Autos, und Mädchen spielen bevorzugt mit Puppen, die sie umsorgen. Diese Unterschiede sind jedoch durch das Vorbild der Umwelt bedingt, nicht durch das biologische Geschlecht des Kindes. Auch das Angebot an Spielzeug ist abhängig von der Kultur und Gesellschaft, in der das Kind lebt. ▶ Umgebungsabhängige Faktoren. Es treten sehr unterschiedliche Spiele auf, je nachdem, ob das Kind alleine spielt (z. B. mit sich selbst oder einer Puppe Gespräche führt) oder mit einem anderen Kind bzw. einer Gruppe von Kindern oder mit einem Erwachsenen und je nachdem, welche Angebote es erhält.

19.3 Beobachten und Beurteilen Das Spielen von Kindern nimmt viele verschiedene Formen an. Im Folgenden werden die bevorzugten Spiele vorgestellt, sofern sie bei kranken Kindern relevant sind. Die Altersangaben sind Richtwerte. Die 4 Haupttypen kindlichen Spiels sind: ● Bewegungsspiel ● Funktions- oder Konstruktionsspiel ● Rollenspiel ● durch Spielregeln bestimmtes Gemeinschaftsspiel

19.3 Beobachten und Beurteilen

19.3.1 Spielverhalten Geburt bis 3 Monate ▶ Soziales Spiel. Darunter wird ein Wechselspiel der Interaktion zwischen dem Säugling und einer Bezugsperson verstanden. Es besteht aus: ● Blickkontakt aufnehmen ● den Kopf in Richtung des Erwachsenen wenden, aufmerksam zuhören ● Nachahmen der Mimik des Erwachsenen ● Erlernen des sozialen Lächelns ▶ Spiel mit den eigenen Händen (Bewegungsspiel). Dies ist das erste Spiel, das der Säugling mit sich selbst spielt. Dabei lernt er seine Hände kennen und bereitet sich auf das Erlernen des Greifens ab dem 4./5. Lebensmonat vor. Es besteht aus: ● Hände in den Mund nehmen (HandMund-Koordination) ● Hände betrachten (Hand-Augen-Koordination) ● Hände betasten (Hand-Hand-Koordination)

3 – 12 Monate ▶ Erkunden von Gegenständen durch Greifen. Dabei entwickelt das Kind mit fortschreitendem Alter verschiedene Arten des Greifens: ● Beidhändiges palmares Greifen (von lat. palmus manus: Handinnenfläche) ab dem 4. Lebensmonat. ● Einhändiges palmares Greifen ab dem 6./7. Lebensmonat, wobei der Säugling einen Gegenstand gezielt mit einer Hand ergreifen und von einer Hand in die andere nehmen kann. ● Pinzettengriff ab dem 9./10. Lebensmonat, bei dem der Säugling nicht mehr mit der Handinnenfläche, sondern mit den Fingerkuppen von Daumen und Zeigefinger greift und sich gern intensiv mit dem Aufpicken kleinster Dinge wie Brotkrümeln oder Fäden beschäftigt. ▶ Orales Erkunden („Mundeln“). Der Säugling nimmt Gegenstände in den Mund und untersucht sie mit Lippen und Zunge. Dies ist das dominierende Spiel bis zum 8. Monat, danach wird es allmählich unwichtiger und tritt nach dem 18. Lebensmonat kaum noch auf. ▶ Mittel zum Zweck. Ab dem 8. Monat begreift der Säugling die Auswirkung einfacher Handlungen, z. B. dass beim Schütteln einer Rassel ein Geräusch erklingt. Bevorzugtes Spielzeug sind jetzt oft Tiere auf Rollen, die an einer Schnur herangezogen werden können, sowie Rasseln und Glocken.

▶ Spiel mit der Merkfähigkeit. Ab dem 9. Monat entwickelt sich die Merkfähigkeit bzw. das Kurzzeitgedächtnis: Der Säugling beginnt sich zu erinnern. Auch wenn ein Gegenstand aus dem kindlichen Blickfeld verschwindet, behält das Baby eine Vorstellung davon und sucht danach. Das im Hochstuhl sitzende Baby lässt z. B. Gegenstände fallen und beobachtet interessiert, wohin sie rollen, oder es räumt Spielsachen in eine Schachtel, holt sie heraus und lässt sie erneut verschwinden. Im sozialen Spiel sind das Verschwinden und Wiederauftauchen von Personen ähnlich faszinierend für das Baby: Die Eltern verstecken ihr Gesicht hinter einem Tuch und tauchen kurze Zeit später wieder auf, was beim Kind freudige Erwartung auslöst.

Borstenpinsel mit kurzem Stiel oder eine Holzkugel mit Borsten angeboten werden. Die Auswahl an Farben wird begrenzt, anfangs genügt eine einzige Farbe.

1 – 3 Jahre

▶ Rollenspiel. Im Rollenspiel verarbeitet das Kind seine Erlebnisse und tut so, als ob es all die Dinge könnte, die sonst den Erwachsenen vorbehalten sind. Das gemeinsame Spiel mit anderen Kindern fördert soziales Verhalten, denn die Verteilung der Rollen muss abgesprochen werden. Rollenspiel macht erfinderisch, da nicht nur Spielzeug, sondern auch Alltagsmaterialien (z. B. Kleidung, Gebrauchsgegenstände) vom Kind dafür eingesetzt werden.

▶ Spiele mit Symbolcharakter. Das Kind ahmt Handlungen und Verhalten der Erwachsenen nach und übt dadurch motorische und soziale Fähigkeiten ein. Alles, was das Kind täglich erlebt, wird zum Spiel. Anfangs werden einfache Handlungen nachgespielt, wie die Haare der Puppe bürsten, den Teddy mit dem Löffel füttern oder telefonieren. Dieses Spiel wird zunehmend komplexer, das Kind spielt allmählich ganze Alltagsszenen, z. B. Mittagessen kochen, Tisch decken, Puppen an den Tisch setzen, essen und anschließend Tisch abräumen und Geschirr spülen. Symbolisches Spiel tritt ab ca. 18 Monaten auf, das Kind setzt z. B. den Teddy in einen Schuh und spielt, dass der Teddy mit dem Auto durch das Zimmer fährt. Später wird aus dem symbolischen Spiel das Rollenspiel. ▶ Funktions- und Konstruktionsspiele. Das Kind spielt, um herauszufinden, wie etwas funktioniert, was es damit alles tun kann. Das Kind versucht z. B. einen Gegenstand in einen anderen hineinzustecken. Oder es probiert aus, ob es beim Baden einen Ball unter die Wasseroberfläche drücken kann. Besonders interessant sind Haushaltsgeräte und alltägliche Gebrauchsgegenstände. Sobald das Kind Beschaffenheit und Funktion eines Gegenstandes oder Materials begriffen hat, setzt es ihn ein, um damit etwas Neues herzustellen, d. h. zu konstruieren, z. B. beim Spiel mit Bauklötzchen oder mit Sand. ▶ Malen. Kleine Kinder experimentieren gerne mit Farben. Geeignet sind Wachsmalbirnen und dicke Wachsmalstifte auf Bienenwachsbasis, extra dicke Kindermalstifte und Filzstifte auf Basis von Lebensmittelfarben sowie Fingerfarben. Malt ein Kind nicht gerne mit den Fingern, kann ihm ein kleiner Schwamm, ein dicker

3 – 6 Jahre ▶ Puppentheater. Ab 4 Jahren kann ein Kind mit einer einfachen Handspielpuppe im Puppentheater spielen und Gespräche führen. Die Handspielpuppen oder -tiere sollen aus möglichst leichtem Material sein, z. B. ganz aus Stoff oder mit Köpfen aus Pappmaschee oder Modelliermasse, die das Kind selbst herstellen kann. Außer klassischen Figuren, wie dem Kasper, sind für das Kind bekannte Personen bzw. Tiere bedeutsam, beim kranken Kind z. B. eine Arztpuppe.

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▶ Gesellschaftsspiele. In diesem Alter können die Kinder erstmals bei Gesellschaftsspielen mitmachen, wenn diese weder Taktik noch besondere Geschicklichkeit verlangen (z. B. Bilderlotto, Farben- und Bilderdomino, Memory, Angelspiel, Schwarzer Peter). Im Gesellschaftsspiel lernt das Kind, Regeln zu akzeptieren und einzuhalten. Meist ist jedoch der Verlauf des Spiels für das Kind spannender und bedeutsamer als das Endziel, d. h. zu gewinnen. ▶ Malen und Zeichnen. Ab 4 Jahren können die Kinder mit Wasserfarben (Deckfarben) und einem dicken Pinsel umgehen sowie mit Bleistiften und Buntstiften mit dicken Minen (▶ Abb. 19.1).

Abb. 19.1 Malen und Zeichnen. Im Vorschulalter beliebte Beschäftigung zum Ausdruck von Gefühlen (Symbolbild). (Foto: Henlisatho – stock.adobe.com)

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Sich beschäftigen, spielen und lernen ▶ Bauen und Konstruieren. Kindergartenkinder bauen gerne mit Bauklötzen aus Holz oder Steckbausystemen aus Kunststoff. Je jünger das Kind ist, desto großformatiger sollten die Steine sein und umso weniger verschiedene Formen und Farben besitzen.

6 – 10 Jahre

19

Viele Kinder sammeln irgendetwas, mit dem sie sich stundenlang beschäftigen können, z. B. Sammlungen von Spielzeug (z. B. Dinosaurier, Barbie-Puppen), die sie mit denen anderer Kinder vergleichen. ▶ Gesellschaftsspiele. Nun sind Spiele interessant, die Voraussicht, taktische Überlegungen oder besondere Geschicklichkeit verlangen („Mensch ärgere dich nicht“, Halma, Mikado, Wortlegespiele). Grundschulkinder müssen das Gewinnen und Verlieren im Gruppenspiel noch üben. Kooperationsspiele, bei denen alle Mitspieler gemeinsam einen Lösungsweg suchen müssen, lassen das einzelne Kind nicht als alleinigen Verlierer oder Gewinner dastehen. ▶ Rollenspiele. Sie werden immer mehr zum Schauspiel. Die Kinder übertreiben gerne die Darstellung bestimmter Merkmale oder spielen den Clown. Nun sind auch Theaterspiele mit festgelegter Handlung und vorgegebenen Rollen interessant. ▶ Malen und Zeichnen. Schulkinder haben das Bestreben, Dinge detailliert und wirklichkeitsgetreu darzustellen, und entwickeln ein Gefühl für räumliche Perspektiven. Jetzt zählt nicht mehr nur das Tun an sich, sondern auch das fertige Produkt, das möglichst gelungen sein soll. Kritik der Erwachsenen kann rasch zu Entmutigungen führen. ▶ Basteln, Werken, Handarbeiten. Gespielt wird mit einfachen Modellbaukästen mit Konstruktionsmaterial aus Holz, Kunststoff oder Metall, Ausschneidebogen für Anziehpuppen oder einfache Modellbaubogen, Stempelkasten sowie verschiedenen Materialien zum Basteln und Handarbeiten (z. B. Holz, Papier, Wolle, Stoff, Modelliermasse).

Ab 10 Jahren ▶ Gesellschaftsspiele. Je nach Erfahrung und Anregung sind 10-Jährige den Erwachsenen in allen Spielen ebenbürtige oder sogar überlegene Spielpartner. Dies betrifft auch anspruchsvolle Gesellschaftsspiele, wie Dame, Mühle oder Schach.

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▶ Malen und Zeichnen. Viele Kinder verlieren das Interesse am spontanen Malen oder Zeichnen und müssen erst motiviert werden, auch weil sie selbstkritisch sind. ▶ Weitere beliebte Beschäftigungen. Dazu gehören Computerspiele, Lesen, Musikhören (meist über Smartphone bzw. Tablet-PC), Modellbau, naturwissenschaftliche Experimentierkästen, Werken und textiles Gestalten. Viele Jugendliche unterhalten sich gerne ausführlich mit Freunden (Smartphone, PC). Computerund Videospiele faszinieren viele Kinder und Jugendliche, die intensivsten Spielphasen liegen zwischen 8 und 14 Jahren. Eltern und andere Erwachsene sollten sich über diese Medien informieren, mit den Kindern darüber sprechen und auch gemeinsame Spiele spielen.

19.3.2 Individuelle Situationseinschätzung Anhand der Pflegeanamnese und durch Beobachtung des Kindes können Vorlieben des Kindes berücksichtigt und seinem Alter und Entwicklungsstand sowie seiner Erkrankung entsprechende Beschäftigungsangebote ausgewählt werden: ● Hat das Kind eine Lieblingspuppe oder ein Schmusetier? ● Welche Lieblingsbeschäftigung oder Hobbys hat das Kind/der Jugendliche? ● Hat das Kind eigene Spiel- oder Bastelsachen von zu Hause mitgebracht? ● Wenn nicht, gibt es Spielzeug, Basteloder Zeichenmaterial, das ihm zur Verfügung gestellt werden kann? ● Kann das Kind mit den vorhandenen Spielsachen alleine spielen oder benötigt es dazu Anleitung bzw. einen Spielpartner? ● Wissen die Eltern, womit sie und ihr Kind spielen und sich beschäftigen können? ● Kann das Kind lesen? Gibt es in der Patientenbücherei geeignete Bilder- oder Kinderbücher? ● Welche diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen können dem Kind spielerisch nahegebracht werden? ● Ist das Spielverhalten des Kindes beeinträchtigt, sodass ergotherapeutische Unterstützung erforderlich ist? ● Wird das Kind/der Jugendliche voraussichtlich längere Zeit in der Klinik bleiben, sodass Unterricht am Krankenbett oder in der Schule im Krankenhaus erforderlich ist? ● Kann das Kind das Angebot des Spielzimmers nutzen?

19.4 Pflegemaßnahmen 19.4.1 Grundsätze Die Aufgabe des Erwachsenen ist es, dem Kind ein Spielpartner zu sein, ihm Spielsachen anzubieten und Vorbild zum Nachahmen zu sein. Bei jüngeren Kindern zeigt ein interessierter, freudiger Gesichtsausdruck, dass das Spiel sinnvoll ist. Ein lustloses, gleichgültiges Gesicht oder untätiges Herumsitzen des Kindes deutet darauf hin, dass es durch das Spiel wahrscheinlich unter- oder überfordert ist. Bei Unsicherheit, welches Spiel dem Kind gefällt, kann sein Tun beobachtet und dann sein Spiel nachgeahmt werden. Das Kind erlebt Nachspielen als Ausdruck von Sympathie. Möchte das Kind nicht alleine spielen, so fordert es den Erwachsenen zum Mitspielen auf.

Praxistipp Pflege

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Alltägliche Tätigkeiten machen dem Kind Spaß, wenn es dabei spielen darf. Das fröhliche Vorbild der Erwachsenen ist dabei entscheidend. Mit dem Kind zu spielen ist gut, dem Kind ein Vorbild geben, indem die Erwachsenen es in ihre Aktivitäten einbeziehen, ist besser.

Kinder brauchen Zeit und Gelegenheit zum Spielen. Ein Kind empfindet die Störung seines Spiels genauso unangenehm wie ein Erwachsener, der konzentriert arbeitet. Auch Angehörige anderer Berufsgruppen sollten darauf aufmerksam gemacht werden, dass sie das Spiel des Kindes nicht unnötig unterbrechen. Das Spiel sollte dem individuellen Entwicklungsstand des Kindes angepasst sein. Da das Kind auf sein anstrengendes, aufregendes und wichtiges Spiel stolz ist, sollten die Erwachsenen am Tun des Kindes ernsthaftes Interesse zeigen, d. h. es sich anschauen, erklären lassen, sich mit dem Kind darüber freuen und es dafür loben. Erwachsene sollten sich nicht zu einem Spiel zwingen, das ihnen keinen Spaß macht, sonst hat auch das Kind nichts davon.

19.4.2 Spielen im Krankenhaus Kranke Kinder dürfen in Bezug auf die Art und den Schwierigkeitsgrad eines Spiels nicht überfordert werden, um sie nicht zu frustrieren, wenn ihnen etwas nicht gelingt. In den Pflegealltag können einfache Spielideen eingebaut werden; fällt z. B. die Puppe aus dem Bett, so erhält sie ein Pflaster. Bunte, selbst gebastelte Namens-

19.4 Pflegemaßnahmen schilder für jede/s Schmusetier bzw. Puppe erleichtern es den Pflegefachkräften, diese in ihre Pflegetätigkeiten einzubeziehen und somit den Kontakt zum Kind zu verbessern. Während eines Krankenhausaufenthalts kommt es immer wieder zu Wartezeiten: Warten auf die Untersuchung durch den Arzt, die Behandlung durch die Physiotherapeutin, die Mahlzeiten, den Besuch u. a. Diese Wartezeiten lassen sich durch kleine Spiele (z. B. Fingerspiele, Fadenspiele, Ratespiele) überbrücken, die ggf. rasch beendet werden können, ohne dass es Tränen gibt.

Praxistipp Pflege

Z ●

Beeinträchtigungen aufgrund des Krankenhausaufenthalts, wie motorische Einschränkungen, Einhalten einer Diät, Langeweile oder Angst, können zur Entstehung von Aggressionen führen. Daher müssen dem Kind Möglichkeiten gegeben werden, Aggressionen abzubauen, z. B. durch Hammerspielzeug (sofern der Lärm die anderen Kinder nicht stört), Kneten, Papierballschlachten mit Pflegefachkräften oder Eltern.

Wenn die Behandlung und der Allgemeinzustand des Kindes es erlauben, kann das Kind das Spielzimmer der Klinik nutzen. Auch der Kontakt zu Geschwistern und Freunden des Kindes sollte unterstützt werden. Sofern möglich, werden Fachleute wie Ergotherapeuten, Heilpädagogen, Erzieher oder Krankenhauslehrer einbezogen und der Kontakt zur Kindergartengruppe bzw. Schulklasse hergestellt, die das Kind besucht. Können die Eltern nicht regelmäßig bei ihrem Kind sein, können nach Absprache mit den Eltern freiwillige Helfer einbezogen werden („Grüne Damen“, AKIKBetreuer).

Clowndoktoren „Lachen wirkt wie Aspirin, nur doppelt so schnell“ (Groucho Marx, amerikanischer Komiker). In vielen Kliniken für Kinder und Jugendliche gibt es sog. Klinikclowns oder Clowndoktoren, die regelmäßig die Stationen besuchen (▶ Abb. 19.2). Die punktuelle Ablenkung und Unterhaltung der Kinder durch Klinikclowns ersetzt nicht die qualifizierte Betreuung durch Fachpersonal, wie z. B. Erzieher oder Ergotherapeuten. Für seriöse Klinikclowns, wie sie z. B. im Dachverband Clowns für Kinder im Krankenhaus Deutschland e. V. organisiert sind, gibt es einen Regelkatalog:

Spielzimmer

Abb. 19.2 Clowndoktoren. Humor hilft bei der Krankheitsbewältigung. (Foto: P. Blåfield, Thieme)



● ●



Die Hygieneregeln müssen eingehalten werden. Die Schweigepflicht ist zu respektieren. Ein Clown darf ein Zimmer nur betreten, wenn er oder sie erwünscht ist. Kinder und Eltern legen die Grenzen fest, innerhalb derer das Spiel sich entwickeln darf.

Für die gelungene Integration der Clowndoktoren in den Arbeitsalltag der Pflegefachkräfte und des ärztlichen Dienstes hat es sich bewährt, feste Termine für die Clownvisite vorzusehen, sodass diese sich z. B. nicht mit der Stationsvisite überschneidet. Vor jeder „Spaß-Visite“ empfiehlt es sich, eine kurze Übergabe an die Klinikclowns zu machen, die folgende Informationen beinhaltet: ● Vorname, Alter, aktueller Zustand und Zimmernummer des kleinen Patienten, Grund des stationären Aufenthalts. ● Ist das Kind neu auf Station oder war es während der letzten ClowndoktorenVisite bereits in der Klinik? ● Möchte das Kind an diesem Tag besucht werden? ● Wie ist das Kind: schüchtern/ängstlich/ temperamentvoll? Wie wird er/sie mit dem Krankenhausaufenthalt fertig? Dürfen die Krankheit und ihre Begleitumstände angesprochen werden oder sind sie tabu? ● Besonderheiten: Wird das Kind heute oder morgen operiert/entlassen? Dürfen andere Kinder mit ins Zimmer oder lieber nicht?

Praxistipp Pflege

Z ●

Humor hilft bei der Krankheitsbewältigung: Es gilt als gesichert, dass Lachen den Kreislauf stärkt, das Immunsystem unterstützt, Schlaf und Entspannung fördert, die Muskulatur lockert und das Schmerzempfinden verringert. Diese Kräfte sollten Pflegefachkräfte, Ärzte, Clowns und Eltern gemeinsam für die kranken Kinder nutzen.

Eine Klinik für Kinder und Jugendliche verfügt i. d. R. über ein sog. Spielzimmer, in dem Erzieher die pädagogische Betreuung von Kindern übernehmen, die ihr Krankenzimmer verlassen dürfen. Ein Spielzimmer ist entweder eine zentrale Einrichtung innerhalb der Kinderklinik oder befindet sich vor Ort auf einer Krankenstation. Für die Kinder stellt das Spielzimmer einen Rückzugsraum dar, in dem sie durch Spielen, Basteln, Malen, Musikhören u. a. eine Auszeit von ihrer Erkrankung nehmen können. Für Jugendliche sollten altersentsprechende Angebote gemacht werden (CDs, Filme, Gesellschaftsspiele, Bastelmaterial). Um das Spielzimmer möglichst sinnvoll nutzen zu können, sollten einige allgemeingültige Spielregeln beachtet werden: ● Zur Eingewöhnung dürfen die Kinder von einem Elternteil oder einer anderen Bezugsperson in das Spielzimmer begleitet werden. ● Getränke, wie Wasser oder Tee, sind erlaubt, Essen ist grundsätzlich nicht erlaubt. ● Die Kinder sollen Hausschuhe oder Anti-Rutsch-Socken tragen. ● Das Spielzimmer stellt für die Kinder einen geschützten Raum dar. Hier finden keine Blutentnahmen, Medikamenteneinnahmen usw. statt.

19

19.4.3 Bedeutung des Spielens für kranke Kinder Im Folgenden wird über die Bedeutung des Spielens bei kranken Kindern verschiedener Altersstufen ein Überblick gegeben.

Geburt bis 3 Monate ▶ Soziales Spiel. Die Pflegefachkraft soll: ● Kontaktaufnahme mit dem Säugling stets mit liebevoller Ansprache verbinden ● während der Pflegemaßnahmen mit dem Baby sprechen, das Baby häufig mit seinem Namen ansprechen – schon ab dem Neugeborenenalter ist kein anderes Geräusch so interessant wie die menschliche Stimme ● Blickkontakt mit dem Säugling herstellen (▶ Abb. 19.3) ● auf Zeichen des Kindes achten, wann es erschöpft ist Die Aufmerksamkeitsspanne des jungen Säuglings ist noch kurz. Wenn das Baby vom sozialen Spiel ermüdet ist, zeigt es dies durch Wegschauen, Wegdrehen des Kopfes, Augenschließen, „glasigen“ Blick, Wegdrehen des ganzen Körpers, Schluck-

9

Sich beschäftigen, spielen und lernen ge Spielsachen, da sie an jeder Stelle gleich gut zu ergreifen sind.

3 – 12 Monate

19

Abb. 19.3 Blickkontakt. Jede Pflegemaßnahme bietet durch Kontaktaufnahme mit dem Säugling die Möglichkeit zur sozialen Interaktion. (Foto: K. Oborny, Thieme)

auf. Auf diese Zeichen muss geachtet werden – das Baby sollte dann nicht wiederholt zur Kontaktaufnahme stimuliert werden. Dies gilt selbstverständlich auch bei eindeutigen Zeichen wie Quengeln oder Schreien. ▶ Spiel mit den eigenen Händen. Handschuhe und Fixieren der Hände hindern den jungen Säugling daran, seine Hände kennenzulernen, sich auf das Greifenlernen vorzubereiten sowie sich selbst zu beruhigen und das Einschlafen durch Saugen an den Fingern bzw. der ganzen Hand zu erleichtern.

Merke

H ●

Handschuhe dürfen nur dann angezogen bzw. die Hände nur festgebunden werden, wenn es unbedingt erforderlich, d. h. weder eine Pflegefachkraft noch ein Elternteil am Bett des Kindes anwesend ist. Wenn möglich, soll wenigstens eine Hand frei bleiben.

Aus der Sicht des Säuglings ist jeder Gegenstand, der sich zum Erkunden anbietet, ein Spielzeug. Aus der Sicht der Erwachsenen ist ein gutes Spielzeug nur dann für den Säugling geeignet, wenn es ungefährlich für das Baby ist, d. h.: ● ohne scharfe oder spitze Teile, an denen das Baby sich verletzen kann ● unzerbrechlich ● mit ungiftiger Farbe bemalt bzw. aus ungiftigem Material hergestellt ● so groß, dass das Baby es nicht ganz in den Mund nehmen und verschlucken oder aspirieren kann Im Krankenhaus ist es darüber hinaus wichtig, dass das Spielzeug einfach zu reinigen bzw. nach kliniküblichem Vorgehen zu desinfizieren ist. ▶ Stofftier, -ball und Spieluhr. Weiche Stofftiere, die evtl. auch quietschen, Stoffbälle und Spieluhren, mit Stoff überzogen, sind für Babys gut geeignet. Eltern sollten stets waschbare Stofftiere kaufen. Tiere mit einer Brummstimme, z. B. Teddybären, können nicht gewaschen werden, da die Brummstimme beim Waschen zerstört wird. Spielsachen aus Textilien sollten vor der ersten Benutzung gewaschen werden, um den Großteil der Chemikalien zu entfernen, die bei der Herstellung verwendet werden und im Stoff haften. Nach dem Waschen muss das Spielzeug gut trocknen, sonst können Schimmelpilze darin wachsen, auch in synthetischen Füllungen.

Merke

450

H ●

Bei blinden Säuglingen wird durch das Ausbleiben der Hand-Augen-Koordination die Entwicklung des Greifens beeinträchtigt. Diese Babys sollten besonders zum Greifen angeregt werden, z. B. durch Spielzeug, das Geräusche macht (Rassel, Klapper, Glöckchen) und klare, prägnante Formen hat.

Bei Kindern mit Hausstauballergie kann das Milbenwachstum verhindert werden, indem das Stoffspielzeug in eine Plastiktüte eingehüllt alle 3 Monate für eine Nacht in die Tiefkühltruhe gelegt wird und anschließend Staub und Milben ausgeklopft werden.

▶ Spielzeug. Hängende Spielsachen (Mobile, Klangspiel, Luftballon, Spieluhr) werden so angebracht, dass der Säugling sie nicht ununterbrochen im Blickfeld hat, d. h. entweder seitlich oder nur für begrenzte Zeit im Gesichtsfeld. Das Baby kann sich sonst ihrem Anblick nur durch Augenschließen oder Wegdrehen des Kopfes entziehen. Greifspielzeug soll leicht und handlich sein, da der Säugling es im Liegen gegen die Schwerkraft halten muss. Am besten geeignet sind ringförmi-

Plüschtiere dürfen nicht in die Reinigung gegeben werden, da die Chemikalien sich in der Füllung und im Plüsch sehr lange halten. ▶ Rasseln, Klappern, Greif- und Badewannenspielzeug. Rasseln, Klappern und andere Gegenstände, die Geräusche machen, sowie Greifspielzeug und Badewannenspielzeug dürfen keine sich leicht lösenden Einzelteile haben, die der Säugling verschlucken oder aspirieren kann.

Merke

H ●

Die Spielzeugsicherheit wird durch eine europäische Norm gesetzlich geregelt. Bei Spielzeug mit verschluckbaren kleinen Teilen muss auf der Verpackung stehen: „Nicht geeignet für Kinder < 3 Jahren.“

Geeignete Spielwaren sind mit einem Aufkleber mit GS-Zeichen (geprüfte Sicherheit) gekennzeichnet. Organisationen, wie Öko-Test, Stiftung Warentest und der „Spiel gut“-Arbeitsausschuss für Kinderspiel und Spielzeug, geben regelmäßig Empfehlungen für sicheres, altersentsprechendes und pädagogisch sinnvolles Kinderspielzeug heraus. Gutes Spielzeug muss nicht unbedingt teuer sein. Vorsicht ist geboten bei Spielsachen aus Kunststoff, die sehr billig sind und auffällig riechen, hier finden sich bei manchen ausländischen Herstellern teilweise verbotene Chemikalien. Kleine Brücken, an denen Spielzeug befestigt ist, sog. Greif- und Spieltrainer oder „Babygyms“, die über das liegende Baby gestellt oder aufgehängt werden, sind für das Baby spannend zum Anschauen. Wenn das gesunde Baby zwischen dem 4. und 6. Monat gezielt zu greifen beginnt, ist es oft bereits mit anderen Tätigkeiten beschäftigt, z. B. dem Drehen. Für kranke Säuglinge ist der Spieltrainer möglicherweise weiterhin ein interessantes Spielzeug.

Merke

H ●

Sobald ein Säugling sich im Bett aufrichten kann, darf auf keinen Fall mehr eine Spielzeugkette oder ein Spielzeugstab in Reichweite des Kindes quer über das Bett aufgehängt werden. Der Säugling könnte sich in der aufgespannten Kette verfangen und sich nicht mehr allein aus dieser Lage befreien können. Dies gilt auch für Mobiles und um den Hals gehängte oder an der Kleidung befestigte Schnuller.

1 – 3 Jahre ▶ Spielerische Vorbereitung. Im Alter von 1 – 3 Jahren können diagnostische und therapeutische Maßnahmen dem Kind im Spiel mittels einer Puppe oder eines Kuscheltieres vermittelt werden (▶ Abb. 19.4). Dazu darf allerdings nicht die Lieblingspuppe oder das Kuscheltier des Kindes verwendet werden, da das Kleinkind evtl. glaubt, diese würden – wie

19.4 Pflegemaßnahmen

3 – 6 Jahre

Abb. 19.4 Verletzter Teddybär. Das Kuscheltier dient zur spielerischen Vorbereitung auf den Verbandwechsel beim Kind. (Foto: K. Oborny, Thieme)

das Kind selbst – echte Schmerzen oder Angst empfinden. Da das Aufnahmevermögen in diesem Alter begrenzt ist, sollte die Vorbereitung nicht länger als 5 – 10 Minuten dauern und möglichst kurz vor der entsprechenden Maßnahme stattfinden. Sofern möglich, darf das Kind unter Aufsicht mit dem Untersuchungszubehör hantieren, um die Angst davor abzulegen (z. B. Stethoskop, Spatel, Reflexhammer). Hilfreich ist die Verwendung von Spielzeug-Arztkoffern. Auch echtes Material kann dem Kind zur Verfügung gestellt werden, z. B. Reste vom Verbandmaterial, Einweg-Spatel aus Holz oder Plastik oder leere Spritzen (ohne Kanüle).

Merke

● H

Da das gesunde Kleinkind fast den ganzen Tag mit Spielen verbringt, sollen auch beim kranken Kleinkind die Hände nur fixiert werden, wenn es unbedingt erforderlich ist (rechtliche Aspekte beachten).

Oft löst die Fixierung mehr Angst oder Protest aus als der Grund der Fixierung (z. B. Infusion). Günstiger ist es, das Kind gemeinsam mit den Eltern durch Spielen, Singen, Vorlesen usw. abzulenken. Fäustlinge aus Baumwolle sind meist ausreichend, damit das Kind nicht nach verbotenen Dingen greifen kann. In den Augen des Kindes sind auch Maßnahmen wie eine Ohruntersuchung, die rektale Temperaturmessung oder die Gabe eines Zäpfchens bedrohlich. Sie können lebhafte Abwehr auslösen und sollten daher möglichst in ein Spiel „verpackt“ werden, z. B. indem das Zäpfchen erst brummend durch die Lüfte kreist, bevor es ganz rasch in den Po des Kindes schlüpft, um ihm zu helfen, sich weniger matt und heiß zu fühlen.

▶ Rollenspiele. Rollenspiele helfen dem Kind bei der Bewältigung des beängstigenden Krankenhausaufenthaltes. Das Kind darf im Spiel der Pflegefachkraft einen Verband anlegen oder dem Arzt eine Spritze geben. Die spielerische Vorbereitung kann in diesem Alter ca. 10 – 15 Minuten dauern. Kindergartenkinder sind meist sehr neugierig bezüglich des Materials und des Ablaufs bei Untersuchungen. Das Kind darf sich vorher mit dem Material beschäftigen und möglichst bei der Maßnahme helfen, z. B. indem es beim Blutdruckmessen das Stethoskop in der Ellenbeuge selbstständig festhält. Um zu überprüfen, wie viel das Kind verstanden hat, wird es dazu aufgefordert, dies nun der Puppe oder dem Schmusetier zu erklären. Auch um Ängste des Kindes auszudrücken, können Puppen helfen, indem eine Pflegefachkraft oder die Eltern sie für das Kind sprechen lassen. Manche Kinder haben Angst davor, im Krankenhaus zu sein, obwohl dort viele andere Kinder sind, die nach kurzer Zeit wieder gesund nach Hause gehen. Bei manchen Kindern ist die Furcht jedoch so ausgeprägt, dass sie sich erst nach ihrer Entlassung zu Hause darüber äußern. Daher sollen sie nicht wiederholt darauf angesprochen werden. Das Kindergartenkind glaubt möglicherweise, dass Pflaster, Verband oder Fäden seinen Körper zusammenhalten und dass ein Verbandwechsel oder Fädenentfernen bedrohlich ist, weil der Körper an dieser Stelle offen ist und nun Blut oder etwas anderes herauskommen könnte. Im Spiel kann das Kind z. B. an einem Teddybär erleben, dass nichts Schlimmes geschieht, wenn der alte Verband durch einen neuen ersetzt wird.

Die Vorbereitung auf geplante Maßnahmen kann nun etwa 20 Minuten dauern und evtl. in einer kleinen Gruppe von zwei oder drei gleichaltrigen Kindern erfolgen. In diesem Alter kann das Kind den Umriss seines Körpers zeichnen oder malen und dazu die Probleme, die es hat, z. B. eine Verletzung, Schmerzen oder eine geplante Operation. Zum einen zeigt dies den Pflegefachkräften, wie das Kind sich fühlt, zum anderen können falsche Vorstellungen des Kindes entdeckt und angesprochen werden.

Ab 10 Jahre

19

Größere Schulkinder und Jugendliche sollen im Krankenhaus ihre Hobbys und Interessen, soweit möglich, verfolgen dürfen, z. B. Musik hören mit Kopfhörern, um Mitpatienten nicht zu stören. Jugendliche, die längere Zeit Bettruhe einhalten müssen, sollte der Besuch durch Freunde und Schulkameraden ermöglicht werden. Eine Berücksichtigung der Privatsphäre durch das Klinikpersonal ist dabei wichtig. In Modellprojekten werden Kliniken für Kinder- und Jugendmedizin per Computer und Internet an die Klassenzimmer angeschlossen, sodass die Kinder bzw. Jugendlichen von dort aus am Unterricht teilnehmen können.

19.4.4 Spiele für bettlägerige Kinder Bei bettlägerigen Kindern muss gemeinsam mit den Eltern und dem Kind überlegt werden, ob außer der Bettruhe weitere Einschränkungen vorliegen und welche Spiele infrage kommen (▶ Abb. 19.5). Eine kurze Übersicht zur Auswahl eines geeigneten Spieles gibt ▶ Tab. 19.1.

▶ Malen. Malen und Zeichnen können dem Kind helfen, seine Erlebnisse zu verarbeiten. Hat das Kind ein Bild gemalt, sollte sich die Pflegefachkraft die Zeit nehmen, das Bild zu bewundern und sich das Dargestellte erklären zu lassen.

6 – 10 Jahre Ältere Schulkinder finden das Spiel mit Puppen möglicherweise zu kindisch, als dass es bei ihnen zur Vorbereitung auf diagnostische Maßnahmen eingesetzt werden könnte. In diesem Fall kann eine Maßnahme an einer anderen Person demonstriert werden, auch an den Eltern. Schulkinder dürfen mit dem Untersuchungsmaterial hantieren und sich so viel wie irgend möglich aktiv beteiligen, indem sie z. B. ein Pflaster selbst entfernen oder helfen, Verpackungen zu öffnen.

Abb. 19.5 Spiele für Kinder. Gemeinsam mit den Eltern wird eine geeignete Beschäftigung ausgewählt (Symbolbild). (Foto: Dron – stock.adobe.com)

1

Sich beschäftigen, spielen und lernen

Tab. 19.1 Spiele für bettlägerige Kinder. Alter

Spiel

Besonderheiten

alle Altersstufen

Luftballons

● ●

Malen und Zeichnen (▶ Abb. 19.6)

● ● ● ●

Bilderbücher, Bücher

● ●

ab dem Säuglingsalter

Fingerspiele

optischer Reiz für Neugeborene und junge Säuglinge kann als Ballersatz zum Werfen genutzt werden geeignete Unterlage bereitstellen (Bett-Tisch) beim Malen mit Wasserfarben Bett mit Folie abdecken anfangs genügen eine oder zwei Farben Ausmalbücher fördern wahrscheinlich nicht die Kreativität, sondern die Feinmotorik altersentsprechende Bücher auswählen Vorlieben des Kindes berücksichtigen

verschiedene Spielformen möglich: Fingerspiele mit Reimen („Das ist der Daumen“ [...]) ● Fingerspiele mit bemalten Fingern (wasserlösliche Deckfarben) ● Schattenspiele ●

19 ab 2 Jahre

Kneten

● ● ●

Puppenspiel



verschiedene Spielformen möglich: Stab-, Finger-, Hand(Kasperletheater), Babypuppen u. a.

Puzzle



Puzzles aus Holz mit Greifknöpfen sind für motorisch leicht behinderte Kinder gut geeignet für verschiedene Altersstufen gibt es Puzzles unterschiedlichen Schwierigkeitsgrades



ab 3 Jahre

ab 4 Jahre

möglichst weiches, dauerelastisches Material verwenden anfangs genügt eine Farbe Bett vorher mit Folie abdecken

Bilderlegespiel, Bildermix



kann alleine oder als Gesellschaftsspiel gespielt werden

Seifenblasen



Vorsicht: Erst Kinder ab ca. 3 Jahren können selbst pusten, jüngere Kinder dagegen saugen die Seifenlauge an

Fädelspielzeug



Fädelringe, Gardinenringe oder sehr große Perlen mit weiter Durchbohrung auf Schnürsenkel auffädeln

Fädelspielzeug



Fädeln von farbigen Schnürsenkeln durch vorgelochte Platten oder einfache Ausnähbilder

Bilderwürfel



ergeben 6 verschiedene Bilder

Kaleidoskop, Oktaskop



der Inhalt sollte auswechselbar sein (Konfetti, Papierschnitzel, Federn u. a.)

weben



Papierflechten mit Streifen festen Papiers oder Flechtblättern

ab 5 Jahre

weben



einfacher Webrahmen

ab 6 Jahre

Ausschneidebogen



beide Hände müssen mitarbeiten können

Denkspiele



erfordern Konzentration

Geschicklichkeitsspiele



erfordern Geduld und Konzentration (Mikado, Labyrinth u. a.)

ab 8 Jahre

weben



Perlwebrahmen

unterschiedliche Altersstufen

Gesellschaftsspiele



mehrere Mitspieler erforderlich, meist mindestens zwei können teilweise von Kindern unterschiedlichen Alters gemeinsam gespielt werden, z. B. Memory



19.4.5 Spiele ohne Spielzeug

Abb. 19.6 Kinderzeichnung. Kinder verarbeiten ihre Erlebnisse oft, indem sie das Geschehene zeichnen und malen. (Foto: K. Oborny, Thieme)

452

Im Alltag eines kranken Kindes ergeben sich immer wieder Situationen, die spielerisch leichter zu bewältigen sind, aber nicht jedes Mal ist auch ein Spielzeug griffbereit. Hier bieten sich Spiele ohne Spielzeug an, d. h. die Spiele, für die wir nichts benötigen außer unsere Stimme, Hände und Fantasie. Solche Spiele können zu zweit oder mit mehreren Kindern gespielt werden. Dazu gehören Fingerspiele (z. B. „Dies ist der Daumen Knuddeldick“, „Himpelchen und Pimpelchen“ für Säug-

linge und Kleinkinder; „Schere, Stein, Papier“ u. a. für ältere Kinder), Kniereiterspiele („Hoppe, hoppe, Reiter“, „Hopp, hopp, hopp, Pferdchen lauf Galopp“), Kinderlieder, Geschichten erzählen (ein Erwachsener gibt den Anfang der Geschichte vor, ein Kind darf weitererzählen), Zungenbrecher nachsprechen („Fischers Fritz fischt frische Fische [...]“) und Ratespiele („Teekesselchen“, „Ich sehe was, was du nicht siehst“, Scherzfragen). Es ist für jede Pflegefachkraft ratsam, einige solche Spiele ohne Spielzeug sowie einige bekannte Kinderlieder im Repertoire zu haben, hierzu gibt es eine Fülle an Literatur.

19.4 Pflegemaßnahmen

19.4.6 Umgang mit (Bilder-)Büchern Merke

● H

„Kinder brauchen Geschichten so nötig wie Vitamine oder Mineralstoffe“ (Paul Maar, Kinderbuchautor).

Säuglinge Sie interessieren sich sehr für das Erkunden eines Bilderbuches mit dicken Seiten aus Plastik oder Pappe durch In-denMund-Stecken und Ablecken. Für kranke Säuglinge, die nicht viel mit ihren Händen tun können, sind die interessantesten Bilder die Gesichter von Menschen. Auch Neugeborene betrachten, abgesehen von einfachen Schwarz-Weiß-Mustern, am liebsten menschliche Gesichter. Eltern können Bilder von sich und der restlichen Familie mitbringen und z. B. an der Seitenwand des Inkubators oder des Wärmebetts anbringen.

Märchen eignen sich ebenfalls zum Vorlesen, in diesem Alter werden einfache Tier- oder Zaubermärchen mit Handlungswiederholungen bevorzugt. ▶ Regeln zum Vorlesen. Wenn das Kind sich nicht selbst ein Buch aussuchen kann oder will, wählt die Pflegefachkraft ein Buch aus, das dem Alter des Kindes entspricht und das ihr auch gefällt, sodass sie sich beim Vorlesen ehrlich begeistern kann. Sie sollte sich so zum Kind setzen, dass es die Abbildungen gut sehen kann. Nach dem Vorlesen erhält das Kind das Buch, um es alleine nochmals durchzublättern und die Bilder in Ruhe zu betrachten. Für das Kind ist es wichtig, das Gelesene mit einem Erwachsenen zu besprechen. Gute (Bilder-)Bücher finden sich in den Buchempfehlungslisten der Stiftung Lesen. Bücher, die Themen wie Gesundheit, Krankheit, Behinderung und Tod kindgerecht für verschiedene Altersgruppen behandeln, werden jährlich vom Deutschen Ärztinnenbund mit der „Silbernen Feder“ ausgezeichnet.

Schulkinder Kleinkind Auch im Kleinkindalter müssen Bilderbücher stabile, unzerreißbare Kartonseiten besitzen, mit denen das Kind hantieren kann. Auf jeder Seite sollte ein einzelner Gegenstand oder ein einzelnes Tier mit klaren Farben bzw. Formen ohne bunten Hintergrund abgebildet sein. Das Kleinkind kann die Abbildung noch nicht von dem Gegenstand unterscheiden. Es versucht z. B., das Bild einer Katze zu streicheln oder am Bild einer Blume zu riechen.

Kindergartenkind Es ist so geschickt und behutsam, dass es Bilderbücher mit richtigen Papierseiten, die etwas fester sind als normales Buchpapier, zum Betrachten erhalten kann. Das Buch sollte anfangs 15 – 20 Seiten haben und über die direkte Lebenswelt des Kindes hinausgehende, einfache Handlungen erzählen, z. B. über die Jahreszeiten, das Leben in der Stadt bzw. auf dem Land, einen Besuch im Zirkus oder Zoo. Auch ein Krankenhausaufenthalt oder eine Operation kann dem Kind im Bilderbuch nahe gebracht werden. Das Kind erfährt etwas über Krankheiten und ihre Behandlung, das Krankenhaus und die Menschen, die darin arbeiten, sowie den Umgang mit kranken oder behinderten Menschen. Dabei ist es ausschlaggebend, dass eine erwachsene Person mit dem Kind gemeinsam das Buch betrachtet bzw. liest und danach mit ihm darüber spricht.

Auch Kinder im Grundschulalter, die bereits lesen können, lassen sich gerne von einem Erwachsenen vorlesen, besonders wenn sie krank sind. Gerade Leseanfänger, d. h. Kinder der 1. und 2. Klasse, interessieren sich für Geschichten, die wesentlich komplexer sind als die Geschichten, die sie bereits selbst lesen können. Mit dem Lesenlernen treten beim Schulkind anstelle des Bilderbuchs Bücher mit Text und einzelnen Illustrationen oder Comics. Das junge Schulkind hört oder liest selbst gerne Märchen. Gegen Ende der Grundschulzeit verliert das Kind seine Märchengläubigkeit, da sich das realistische Denken erweitert. Nun interessiert es sich für Tierbücher, Erzählungen, Reiseberichte, Abenteuergeschichten und Sachbücher.

19.4.7 Basales Spielen mit behinderten Kindern Wesentliche Elemente des Spiels sind Wahrnehmungen, Bewegung (Motorik) und Körperbewusstsein. Sie bilden die Basis für die ersten, einfachen Spiele (wie das soziale Spiel beim jungen Säugling) sowie sehr komplexe Spielformen. Einschränkungen dieser 3 Grundelemente führen auch zu Einschränkungen des kindlichen Spiels. Dies wird besonders deutlich bei behinderten Kindern.

Definition

L ●

Basales Spielen ist „ein einfaches, elementares Spiel, an dem jeder Mensch teilnehmen kann, auch wenn er körperlich und/oder geistig behindert ist“ (S. Knobloch, 1996).

Basales Spielen ist keine Spieltherapie, kein spezielles Förderprogramm, sondern Spiel um des Spieles willen. Das Kind muss für das Spiel keine Voraussetzungen mitbringen, es muss beispielsweise nicht sehen, hören, sprechen oder greifen können. Der Erwachsene richtet nicht ein Spiel an das Kind, sondern das Kind und der Erwachsene entwickeln gemeinsam ein Spiel, sofern das Kind es möchte, denn das Mitspielen des Erwachsenen ist durchaus nicht immer erwünscht. Mit dem Kind zu spielen, ohne etwas von ihm zu fordern, fällt Erwachsenen bei behinderten Kindern besonders schwer. Oft sind sie unsicher, ob das Kind sie aufgrund seiner Behinderung überhaupt wahrnimmt, ob es sie hört, ob es ihre Körpersprache richtig versteht und ob es „etwas davon hat“. Behinderte Kinder sollen in ihrer Entwicklung gefördert werden, aber kann denn zweckfreies Spiel förderlich sein?

Merke

19

H ●

Spielen muss nicht als Entwicklungsförderung legitimiert werden, es darf zweckfreies Handeln bleiben.

Im Spiel erlebt das Kind sich als kompetent und fähig, nicht als eingeschränkt oder behindert. Das Spiel in eine Richtung zu lenken, die wir Erwachsenen wünschen, ist unbedingt zu vermeiden.

Prinzipien des basalen Spielens Dem basalen Spielen liegen die Prinzipien der Basalen Stimulation (S. 163) zugrunde. Medien des Spiels sind: ● Haut (durch Berührung, Massage, Streicheln) ● Stimme (hören bzw. Vibration spüren) beim Singen, Erzählen, Spiel mit Geräuschen und Sprache ● Bewegung (vestibuläre Anregung), z. B. Wiegen des Kindes auf dem Arm oder Schoß des Erwachsenen, Kniereiterspiele wie „Hoppe, hoppe, Reiter“

3

Sich beschäftigen, spielen und lernen Für den Erwachsenen ist es wichtig zu wissen, welche Sinne des Kindes er ansprechen kann und möchte: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten, Gleichgewicht und Orientierung.

Geeignetes Spielmaterial

19

Alltagsmaterial ist für nicht behinderte Kinder zum Spielen hervorragend geeignet, für behinderte Kinder ist es oft gefährlich oder setzt zu viele Fähigkeiten voraus. Einfaches Babyspielzeug dagegen, wie Rasseln oder Greiflinge, ist für größere behinderte Kinder meist zu klein. Spielmaterial für behinderte Kinder muss prägnant und eindeutig sein, d. h. kontrastreiche Farben und klare Formen besitzen, Geräusche oder Klänge von sich geben (z. B. rascheln, knistern, klappern, klingeln) oder sich bewegen, aber nicht zu schnell, z. B. Mobile. Ein rundes Kuchengitter kann z. B. gut als Aufhängevorrichtung für eine Art Mobile dienen, an das bunte Bänder, Federn, Papierstreifen oder Blechdosen usw. gehängt werden. Ein Stück durchsichtiger Gartenschlauch aus dem Baumarkt mit fünf Zentimetern Durchmesser kann als Kugelbahn für große Murmeln oder Klangkugeln dienen. Es gibt auch geeignetes Spielzeug für Menschen mit Handicap.

Geeignete Positionierung zum Spielen Spielmaterial muss für das Kind mit einer geeigneten Position erreichbar gemacht werden, die ihm die Kopfkontrolle, die Bewegung der Hände und Arme sowie die Augen-Hand-Koordination erleichtern. Dazu sind Seiten- oder Bauchlage meist am besten geeignet. Generell sollte das Kind nicht länger als 20 Minuten in einer Stellung belassen werden. Verschiedene Positionen sollten ausprobiert werden; evtl. ist es sinnvoll, nicht jeden Tag die gleiche Körperposition einzunehmen. Die Positionierung in Seitenlage erleichtert dem Kind die Kopfkontrolle und das Zusammenführen seiner Hände vor dem Körper bzw. dem Mund. Eine Beugung der Hüften und Knie verhindert Streckspasmen. In Bauchlage muss das Kind so positioniert werden, dass es seine Hände benutzen kann, z. B. indem es mit dem Oberkörper auf einen speziellen Keil oder über eine Rolle gelegt wird. Aufgrund der Streckung der Hüften hat das Kind in Bauchlage die Möglichkeit, seinen Kopf anzuheben.

454

Merke

H ●

Bei Kindern mit Zerebralparese muss beurteilt werden, ob sie ihre Hände öffnen können oder sie ständig zur Faust ballen oder sie bereits nach kurzer Zeit unter der Brust einklemmen. In diesem Fall sollte die Lage gewechselt werden.

Die Rückenlage ist für Kinder mit Zerebralparese oft ungünstig, da die Kinder dabei weder Schultern noch Arme nach vorne bringen und die Hände nicht zusammenbringen können. Es muss zumindest versucht werden, eine Beugung des Kopfes mittels einer kleinen Unterlage zu erreichen, um ein Überstrecken zu vermeiden. Ab dem 2. Lebensjahr können die Kinder in eine halbsitzende Position gebracht werden, in der sie gut abgestützt werden müssen. Durch die Beugehaltung im Sitzen wird oft die Streckspannung bei Zerebralparese reduziert. Günstig ist hierfür ein Kinderautositz in der passenden Größe, in dem das Kind mit einem Gurt gesichert werden kann. Zusätzlich sollte eine Fußstütze angeboten werden, auf der das Kind den ganzen Fuß absetzen kann. Wichtig ist, dass die Beine leicht gegrätscht werden, denn dadurch werden Becken und Rumpf unterstützt und die Hüftgelenke stabilisiert. Werden die Beine des Kindes im Autositz nicht bereits automatisch leicht gegrätscht, so sollte ein Keil oder eine Sitzerhöhung eingesetzt werden.

19.4.8 Digitale Medien Nahezu alle Eltern, die meisten Jugendlichen und viele Kinder ab dem Schulalter haben stets ein Smartphone dabei. Dieses lässt sich – ebenso wie ein Tablet-PC – zur sinnvollen Beschäftigung, zum Spielen und Lernen nutzen. Empfehlenswerte Bilder- und Kinderbücher gibt es auch in Form von Apps, z. B. Wimmelbücher, Märchen oder E-Books für Kinder. Gute Apps zeichnen sich dadurch aus, dass sie interaktive Module beinhalten wie eine an- oder ausschaltbare Erzählstimme, eine Aufnahmefunktion sowie Bewegungs- und Spielelemente. Bei stimmigen interaktiven Elementen wird das Kind, das die App nutzt, ein Teil der Geschichte. Ab dem Alter von 3 Jahren können Kinder solche Apps nutzen, sollten dies allerdings unter Begleitung der Eltern tun.

Auch Hörbücher, Hörspiele, Geschichten und Reportagen für Kinder können abwechslungs- und lehrreich sein, insbesondere wenn Selbstlesen oder Betrachten keine Option ist, z. B. bei starker Seheinschränkung oder Blindheit. Computerspiele sind eine spannende Welt für sich. Die Grafiken werden stets realistischer, die Spielewelten immer größer. Kinder und Jugendliche können sie vielfältig nutzen: im Browser, in einem sozialen Netzwerk, an der Spielkonsole oder am PC. Sie schätzen die Herausforderung an ihre Auffassungsgabe, ihr Reaktions-, Koordinations- und Kombinationsvermögen. Für die Gesundheits- und Kinderkrankenpflege besonders interessant sind die Spiele mit Lerneffekt in Bezug auf Gesundheit und Krankheit, die sog. Serious Games for Health. Das bekannteste Beispiel ist das Videospiel „Re-Mission“, in dem die Spielenden als weibliche Figur (sog. Nanobot) durch die Blutbahn reisen, um den Kampf gegen Krebszellen aufzunehmen. Die eingesetzte Munition verdeutlicht die unterschiedliche Wirkung von Medikamenten auf gesunde und kranke Zellen. Auf anschauliche Weise begreifen onkologisch erkrankte Kinder und Jugendliche Wirkzusammenhänge. In einer Begleitstudie wurden positive Effekte auf die Compliance bei der Medikamenteneinnahme und die empfundene Selbstwirksamkeit der Kinder und Jugendlichen gefunden. Ein weiteres sehr wirksames Spiel ist „Snow World“, das bei Kindern und Jugendliche während des Spiels den Wundschmerz beim Verbandwechsel reduziert. Die App „Caterna“ hilft spielerisch Augenfehlstellungen (Schielen) bei Kindern zu korrigieren, ist im Vergleich effektiver als die Anwendung von Okklusionspflaster (anstatt zwei Jahre Behandlung nur noch wenige Monate) und wird von der gesetzlichen Krankenversicherung erstattet. Pflegefachkräfte sollten solche Entwicklungen im Bereich von Spiel-Software kennen und im klinischen Alltag nutzen.

Kapitel 20 Mädchen oder Junge sein

20.1

Bedeutung

456

20.2

Beeinflussende Faktoren

457

20.3

Beobachten und Beurteilen

457

20.4

Pflegemaßnahmen

459

Mädchen oder Junge sein

20 Mädchen oder Junge sein Eva-Maria Wagner

20.1 Bedeutung

20

„Es ist ein Mädchen“ bzw. „es ist ein Junge“ ist meist die erste Feststellung bei der Geburt eines Kindes. Vom ersten Lebenstag an nehmen Erwachsene die Kinder als Mädchen oder Jungen wahr und ordnen ihnen – meist unbewusst – geschlechtstypische Rollen zu. Das Geschlecht umfasst jedoch weitaus mehr als die Anatomie der Geschlechtsorgane. Das Geschlecht des Kindes wird in die Geburtsurkunde eingetragen, seit 2013 ist laut Personenstandsgesetz (PStG) neben den Eintragungen „männlich“ und „weiblich“ auch „unbestimmt“ möglich, wenn ein Baby mit intersexuellen Geschlechtsorganen geboren wird.

20.1.1 Allgemeines Geschlechtszugehörigkeit und Geschlechtsrolle Merke

H ●

Die Geschlechtszugehörigkeit wird durch die Chromosomen festgelegt, die dazugehörende Geschlechtsrolle durch gesellschaftliche Konventionen. Unabhängig davon ist die sexuelle Orientierung, d. h. das Muster emotionaler, romantischer und/oder sexueller Anziehung zu anderen Personen.

In jeder Gesellschaft bekommen Menschen aufgrund ihres biologischen Geschlechts (engl.: sex) bestimmte Aufgaben und Verhaltensweisen zugeordnet (soziales Geschlecht, engl.: gender). Es gibt wahrscheinlich keine völlig geschlechtsneutrale Erziehung, möglich ist jedoch eine geschlechtsgerechte Erziehung, die Mädchen und Jungen aufgrund der einseitigen Zuschreibung von Eigenschaften und Fähigkeiten nicht einschränkt. Das Geschlechtsrollenverhalten eines Menschen (Kleidung, Verhalten, Sprache u. a.) kann stark variieren. Unterschiedliche Ausdrucksformen werden in verschiedenen Kulturen unterschiedlich bewertet als maskulin oder feminin. Das geschlechtstypische Verhalten wird durch den Einfluss von Hormonen pränatal und in der Pubertät mitbestimmt.

Geschlechtsidentität Der Erwerb der Geschlechtsidentität ist eine Entwicklungsaufgabe, die mit der Geburt des Kindes beginnt und über die Pubertät bis ins Erwachsenenalter hinein

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dauert. Ein besonderer Einschnitt ist der Übergang vom Kindes- zum Erwachsenenalter. Dieser Übergang wird in vielen Kulturen, z. B. in Teilen Afrikas, mit sog. Initiationsriten oder Reifeweihen gefeiert, teilweise durch beängstigende und schmerzhafte Rituale, z. B. Hautritzungen, Beschneidung der Vorhaut beim Jungen bzw. der Klitoris und/oder der Schamlippen beim Mädchen. Die Beschneidung bei Mädchen wird auch als Verstümmelung des weiblichen Genitales bezeichnet und gilt in Deutschland wie in anderen europäischen Ländern als Straftat. In den Industriegesellschaften führen Konfirmation, Abschlussprüfungen in der Schule bzw. Lehre oder die Führerscheinprüfung die Jugendlichen Stück für Stück in das Erwachsenenleben ein. In dieser Zeit erproben die Jugendlichen, was es jeweils für sie heißt, ein Mann bzw. eine Frau zu sein. Geschlecht ist ein breites Spektrum, manche Menschen liegen außerhalb der konventionellen Kategorien. Es kann ein Unterschied bestehen zwischen dem biologischen Geschlecht auf der einen und der Geschlechtsidentität auf der anderen Seite (transident). Manche Menschen ordnen sich selbst keinem der beiden Geschlechter zu, sondern bezeichnen sich als androgyn (Kombination aus maskulinen und femininen Eigenschaften) oder genderfluid, d. h., die Geschlechtsidentität wird zwischen den beiden Polen männlich und weiblich nicht festgelegt, sondern stets neu verortet.

Merke

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„Kein anderes individuelles Merkmal ist für das Leben eines Menschen lebenslang von größerer Bedeutung als das Geschlecht“ (R. Huck).

Bei vielen Erkrankungen ist ein Geschlecht mehr oder anders betroffen, auch wenn diese Erkrankungen keinen Bezug zu den Geschlechtschromosomen aufweisen. Essstörungen, wie Anorexie oder Bulimie, betreffen wesentlich häufiger Mädchen als Jungen, vermutlich spielt das gesellschaftliche Idealbild von Weiblichkeit (je schlanker, desto attraktiver) eine große Rolle. Jungen sind bei der Enuresis, dem hyperkinetischen Syndrom sowie Autismus häufiger betroffen als Mädchen. Bei Suizidhandlungen (S. 731) zeigt sich ein geschlechtstypisches Verhalten. Die vom Robert Koch-Institut (RKI) durchgeführte „Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland“ (KiGGS) sowie die von der

WHO initiierte Studie „Health Behaviour in School-aged Children“ (HBSC) zeigen geschlechtsbezogene Unterschiede in der Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Solche Erkenntnisse können Einfluss haben auf die Entwicklung von Angeboten zur Prävention oder Behandlung von Erkrankungen.

Bedeutung für die Pflegefachkräfte Auch die in der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege tätigen Erwachsenen waren einmal Mädchen bzw. Jungen und sind zu Frauen bzw. Männern herangewachsen. Für die meisten Auszubildenden liegt diese Zeit des Umbruchs, die sog. Adoleszenz, entweder noch nicht lange zurück oder sie ist noch nicht abgeschlossen. Sie haben ihre eigenen Vorstellungen entwickelt, was männlich bzw. weiblich ist (z. B. haben sie sich für die Ausbildung in einem „typischen Frauenberuf“ entschieden). Diese Vorstellungen prägen oft unbewusst das Verhalten. Pflegefachkräfte werden damit in Situationen wie den folgenden konfrontiert: ● Die Pflegefachkraft kommt in ein Zimmer, in dem ein Kind weint. Macht sie einen Unterschied zwischen einem weinenden Jungen und einem weinenden Mädchen? Was denkt oder fühlt die Pflegefachkraft, wenn sie die Eltern sagen hört: „Aber ein Junge weint doch nicht!“? ● Bei der Ganzwaschung fragt ein Mädchen im Vorschulalter: „Hast du Haare auf deinem Pipi? Wenn ich groß bin, habe ich auch Haare auf meinem Pipi.“ ● Ein Junge im Vorschulalter erklärt bei der Ganzwaschung: „Guck mal, das ist mein Penis. Meine Mutti sagt immer Bändelchen, aber das ist doch kein Bändelchen, das ist doch ein Penis!“ ● Ein ausländischer Junge im Schulkindalter missachtet ständig die Anweisungen der weiblichen Pflegefachkraft. Im Gespräch mit den Eltern teilt der Vater mit, dass in ihrem Herkunftsland die Männer das Sagen haben und nicht die Frauen. ● Ein jugendlicher Patient äußert den Wunsch, dass die Pflegefachkräfte vor Betreten seines Zimmers anklopfen und auf sein „Herein“ warten sollen. ● Die Pflegefachkraft betritt ein Zimmer, in dem ein Kind masturbiert. ● Ein behinderter Jugendlicher versucht, die Pflegefachkraft bei jeder Pflegebehandlung zu umarmen und zu küssen. ● Bei der Ganzwaschung durch eine Pflegefachkraft hat ein Jugendlicher eine Erektion.

20.3 Beobachten und Beurteilen Es gibt keine allgemeingültigen Regeln für das richtige Verhalten in solchen Situationen. Wünschenswert ist es, die dabei entstehenden Gefühle (z. B. Scham, Hilflosigkeit) zu akzeptieren und sich im Pflegeteam gezielt, aber behutsam damit auseinanderzusetzen.

20.1.2 Sexuelle Belästigung Die große körperliche Nähe der verschiedenen Berufsgruppen bei der Arbeit am Patienten birgt die Gefahr der sexuellen Belästigung. Sexuelle Belästigung konfrontiert sowohl Frauen als auch Männer auf drastische und unerfreuliche Weise mit ihrer Geschlechtlichkeit. Die Betroffenen sind häufig verwirrt oder wütend, fühlen sich verletzt und beschämt und wissen nicht, wie sie sich klar, sachlich und angemessen gegen einen solchen Übergriff wehren können. In einem solchen Fall ist es erforderlich, sich Unterstützung zu sichern, z. B. beim Personalrat bzw. bei der Mitarbeitervertretung, der Gleichstellungsbeauftragten oder bei Kollegen oder Vorgesetzten, denen die Betroffenen vertrauen. Dies hilft auch herauszufinden, ob andere ebenfalls von derselben Person belästigt wurden.

Merke

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Niemand muss sich dafür schämen oder sich schuldig fühlen, sexuell belästigt worden zu sein – Schuld und Scham sollte eher die Person, die belästigt, empfinden.

Sexuelle Belästigung ist kein „Kavaliersdelikt“, das schweigend ertragen oder ignoriert werden sollte, sondern eine strafbare Handlung. Dies hat der Gesetzgeber im Beschäftigtenschutzgesetz (BSchG) geregelt. Jeder Beschäftigte hat das Recht, sich bei einem Dienstvorgesetzten zu beschweren. Jeder Arbeitgeber ist dafür verantwortlich, die in seinem Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer davor zu schützen und Fehlverhalten zu unterbinden.

20.2 Beeinflussende Faktoren ▶ Körperliche Faktoren. Der Beginn der sexuellen Reifung des Körpers ist abhängig vom individuellen Gesundheitszustand und von der Ernährung. Einfluss nehmen außerdem Krankheiten wie Essstörungen (S. 727) oder Chromosomenanomalien (z. B. verzögerte oder ausbleibende körperliche Geschlechtsentwicklung beim Ullrich-Turner-Syndrom). Darü-

ber hinaus machen Veränderungen des Körpers durch Störungen der Geschlechtsentwicklung (Intersexualität), Krankheit, Verletzung (z. B. Verbrennung) oder Amputation es einem Kind schwer, sich mit diesem veränderten Körper zu identifizieren und sich angenommen und geliebt zu fühlen. ▶ Psychische Faktoren. Die Einstellung der Eltern hat einen großen Einfluss, z. B. wenn sie sich einen Sohn gewünscht haben und stattdessen eine Tochter bekamen oder ihre Kinder je nach Geschlecht sehr unterschiedlich behandeln. Wichtig ist auch, ob das Kind einen gleichgeschlechtlichen Erwachsenen als Vorbild für die Entwicklung seiner Geschlechtsidentität findet (s. u.). ▶ Soziokulturelle Faktoren. Die Lebensaktivität „Mädchen oder Junge sein“ wird stark geprägt durch Kultur (in islamischen Ländern gilt es z. B. als schamlos, wenn Mann und Frau in der Öffentlichkeit Zärtlichkeiten austauschen), Gesellschaft, Religion sowie Vorstellungen der Eltern, die sie mit ihrer Erziehung verwirklichen wollen und die den gesellschaftlichen oder kulturellen Vorstellungen gerade entgegengesetzt sein können. ▶ Umgebungsabhängige Faktoren. Ein Krankenhausaufenthalt hat einen großen Einfluss auf die Lebensaktivität „Mädchen oder Junge sein“. Es mangelt an Intimsphäre bei der Unterbringung im Mehrbettzimmer und bei Untersuchungen, für die sich das Kind entkleiden muss, evtl. vor mehreren ihm fremden Erwachsenen. Ein Mangel an Nähe und Zuwendung kann beim kleinen Kind auftreten, wenn die Mitaufnahme eines Elternteils nicht möglich ist oder beim Jugendlichen durch fehlende Möglichkeiten des Rückzugs mit der Freundin bzw. dem Freund.

20.3 Beobachten und Beurteilen 20.3.1 Entwicklung der Geschlechtsidentität In der Psychologie existieren verschiedene Theorien über die Entwicklung der Geschlechtsidentität, auf die hier nicht näher eingegangen wird. Die folgende Auflistung gibt nur einen kurzen Überblick, welche Verhaltensweisen in einem bestimmten Lebensalter auftreten können, die darauf hinweisen, dass sich ein Kind mit seiner Geschlechtlichkeit auseinandersetzt. Die Altersangaben sind lediglich Richtwerte.

▶ Geburt bis 6 Monate. Das Baby erlebt das Saugen an der Brust oder Flasche, am Schnuller und an den eigenen Fingern als lustvoll und genießt den Hautkontakt beim Stillen und Schmusen. ▶ 6.–8. Monat. Viele Babys entdecken ihre Genitalien als Teil des Körpers und spielen damit. ▶ Ende des 1. Lebensjahres. Das Kind erkennt bestimmte Merkmale als männlich oder weiblich (z. B. Stimme, Frisur, Kleidung) und beginnt, sich dementsprechend zu verhalten. Die Reaktion der Erwachsenen bestärkt oder korrigiert sein Verhalten. ▶ 2.–3. Lebensjahr. Das Kind erlebt das Zurückhalten bzw. Ausscheiden von Urin oder Stuhl als lustvoll. Das Kind beobachtet andere beim Wasserlassen oder will die Eltern auf die Toilette begleiten. Es interessiert sich für die eigenen Genitalien und die anderer und stellt Unterschiede fest. Im Laufe des Spracherwerbs lernt es die im Elternhaus üblichen Bezeichnungen für die Genitalien kennen. Gerne flirtet, küsst und schmust das Kind mit anderen Kindern oder vertrauten Erwachsenen. Das Kind ist fest davon überzeugt, dass es sein Geschlecht ändern kann, wenn es will, z. B. durch einen Kleidungswechsel.

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▶ 3.–6. Lebensjahr. Das Kind fühlt sich zum andersgeschlechtlichen Elternteil besonders hingezogen und versucht, den gleichgeschlechtlichen Elternteil „auszustechen“, den es jedoch als Bezugsperson zum Aufbau seiner Geschlechtsidentität braucht. Es entwickelt den Wunsch nach Intimität, z. B. einem eigenen Zimmer, wo es unbeobachtet ist. Um das 3. Lebensjahr herum fragt das Kind, woher die Babys kommen. Jungen sind stolz auf ihren Penis und wollen wie der Vater im Stehen Wasser lassen. Sie entwickeln Ängste, als Bestrafung ihren Penis zu verlieren (sog. Kastrationsangst). Diese Angst kann im Krankenhaus aktiviert werden, z. B. beim Legen eines Blasenkatheters. Mädchen und Jungen masturbieren, wenn sie entdecken, dass die Reizung der Geschlechtsorgane Lust bewirkt. Sie begreifen, dass man bestimmte Dinge nicht vor anderen Menschen tut (z. B. sich ausziehen), und entwickeln ein Schamgefühl. Etwa ab dem 4. Lebensjahr treten sexuelle Fantasien auf. Bei „Doktorspielen“ ziehen die Kinder sich aus und untersuchen sich gegenseitig. Sie spielen gerne Vater/ Mutter/Kind. Die Identifikation mit der jeweiligen Rolle ist sehr intensiv, auch wenn die Eltern versuchen, ihr Kind nicht zu einem „typischen“ Mädchen bzw. Jungen

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Mädchen oder Junge sein zu erziehen. Das Kind sucht Freunde und Vorbilder fast ausschließlich beim eigenen Geschlecht, wählt geschlechtstypisches Spielzeug und Kleidung. Im 5. Lebensjahr will das Kind oft mehr wissen über das Kinderkriegen. „Schmutzige“ oder „verbotene“ Worte werden auf dem Spielplatz und im Kindergarten ausgetauscht, oft ist den Kindern die konkrete Bedeutung nicht bewusst, sie merken aber, dass sie damit provozieren können.

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▶ 6.–10. Lebensjahr. Das Kind kann zwischen der durch die Genitalien festgelegten Geschlechtszugehörigkeit und der gesellschaftlich bedingten Geschlechtsrolle unterscheiden. Bezugspersonen außerhalb der Familie werden zunehmend wichtig. Erotische Spiele finden auch zwischen Geschwistern oder gleichgeschlechtlichen Kindern statt. Im 9./10. Lebensjahr wird das Verhältnis zueinander zunehmend distanziert, andererseits kann es zum ersten Verliebtsein kommen. ▶ 10.–14. Lebensjahr. Jungen erleben den ersten Samenerguss und den Stimmbruch. Mädchen beobachten, wie ihre Brüste wachsen, und haben die erste Menstruation. Bei beiden Geschlechtern wachsen die Geschlechtsorgane, die Haut wird fettiger und sie schwitzen stärker, weil mehr Schweißdrüsen aktiv sind. Mädchen und Jungen sind durch rasche körperliche Veränderungen und seelische Stimmungsschwankungen verunsichert. Sie bezeichnen sich einerseits gegenseitig als doof, blöd, zickig usw., fühlen sich andererseits zueinander hingezogen. In ersten Freundschaften wird das Beziehungsverhalten erprobt und die Geschlechtsidentität weiter gefestigt. ▶ Ab dem 14. Lebensjahr. Jugendliche haben, meist im Rahmen einer festen Beziehung, das erste Mal Geschlechtsverkehr, sie müssen sich mit den Themen Verhütung und sexuell übertragbaren Krankheiten, z. B. AIDS, auseinandersetzen. Homosexuelle Jugendliche brauchen in der heterosexuell geprägten Gesellschaft oft länger, um eigene Gefühle und Bedürfnisse zu klären (sog. Coming-out). Auch bei der Berufswahl findet eine weitere Auseinandersetzung mit der Geschlechtsrolle statt. Mädchen wählen meist sog. „typische Frauenberufe“ (hierzu gehört u. a. die Gesundheits- und Kinderkrankenpflege) und Jungen wählen „typische Männerberufe“. Beide Geschlechter machen Pläne für die Zukunft in Bezug auf Partnerschaft, Ehe und Kinder.

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20.3.2 Besonderheiten Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung oder Intersexualität bezeichnen eine angeborene fehlende Übereinstimmung von Chromosomen, inneren und äußeren Geschlechtsorganen. Dabei handelt es sich um verschiedene Formen der Störung der Organanlage bzw. der Produktion oder der Wirkung von Sexualhormonen. Zu Störungen der Pubertätsentwicklung kann es aufgrund von pädiatrischen endokrinologischen Erkrankungen, bei Hirntumoren oder nach Bestrahlung des Schädels bei onkologischen Erkrankungen kommen. Eine weitere Besonderheit sind geschlechtsvariante oder transidente Kinder und Jugendliche. Diese beiden Begriffe bezeichnen Kinder und Jugendliche, deren körperliche Geschlechtsmerkmale nicht mit ihrer Geschlechtsidentität übereinstimmen. Zur näheren Information siehe weiterführende Literatur.

Behinderte Kinder und Jugendliche Im Jahr 2009 trat die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen in Deutschland in Kraft. Sie regelt u. a. die Gleichberechtigung behinderter Menschen in Bezug auf Ehe, Familie, Partnerschaft und Elternschaft und damit letztlich auch das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung.

Merke

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Sexuelle Bedürfnisse, der Beginn der Pubertät und das Einsetzen der Geschlechtsreife werden durch eine geistige und/oder körperliche Behinderung nicht beeinflusst.

Geistig Behinderte masturbieren genauso wie gesunde Kinder und Jugendliche; es ist jedoch oft schwierig, ihnen klarzumachen, dass Masturbation eine private und keine öffentliche Handlung ist. Geistig Behinderte drücken ihre Zuneigung zu anderen Menschen meist körperlich aus. Sie umarmen, streicheln, tätscheln, küssen die betreffenden Personen, denen körperlicher Kontakt in dieser Intensität vielleicht nicht angenehm ist. In einem solchen Fall sollte die Pflegefachkraft ruhig die Hand des behinderten Kindes oder Jugendlichen wegnehmen bzw. sich aus der Umarmung lösen, wenn es sie stört. Mit der Pubertät wird oft die Behinderung nach außen deutlicher. Dies führt zum einen dazu, dass der betroffene Jugendliche als anders zu erkennen ist.

Wenn er sich dessen bewusst wird, empfindet er evtl. Scham darüber und versucht, sich zurückzuziehen. Zum anderen kann es sein, dass er das hilflos-liebenswerte Aussehen verliert, das beim behinderten Kind zum spontanen Umarmen einlädt. Es kann dazu kommen, dass die Erwachsenen auf Distanz gehen, auch die Eltern und Betreuer, die mit dem Jugendlichen vertraut sind.

Merke

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Für die Eltern eines geistig behinderten Kindes stellt sich spätestens mit Beginn der Pubertät die Frage, wie sie mit der sexuellen Entwicklung ihres Kindes umgehen wollen.

Insbesondere bei Mädchen wollen die Eltern ihr Kind davor schützen, von anderen Menschen ausgenutzt oder ungewollt schwanger zu werden. Bei diesem sensiblen Thema benötigen die Eltern und das Kind fachlichen Rat durch einen Arzt und/ oder eine Beratungsstelle wie Pro Familia. Aber nicht nur die Verhütung, sondern auch der Wunsch nach einem eigenen Kind kann zum Thema werden und muss offen besprochen werden. Entsprechend der Behindertenrechtskonvention haben diese Jugendlichen ein Recht auf Erhalt ihrer Fruchtbarkeit und auf die Möglichkeit der Elternschaft.

Praxistipp Pflege

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Für körperlich schwerstmehrfachbehinderte Menschen, die keine sexuelle Beziehung eingehen können, bieten das Snoezelen (S. 721) und die Basale Stimulation (S. 163) Möglichkeiten der positiven Körpererfahrung.

Viele geistig und/oder körperlich behinderte Menschen sind für ihre Körperpflege und sonstige tägliche Verrichtungen auf die Hilfe anderer Personen angewiesen. Dadurch wird ihre Intimsphäre oft automatisch verletzt. Pflegefachkräfte und Ärzte müssen sich dessen bewusst sein und das Recht behinderter Menschen auf Stolz und Würde auch im Krankenhaus respektieren, s. Anregungen zur „Wahrung der Intimsphäre“ (S. 459).

20.3.3 Individuelle Situationseinschätzung Eine individuelle Situationseinschätzung ist sehr wichtig, um zu erfahren, wie sich Kinder und Jugendliche in der Lebensakti-

20.4 Pflegemaßnahmen vität „Mädchen oder Junge sein“ fühlen und verhalten. Durch eine gezielte Informationssammlung kann auch verhindert werden, dass die Intimsphäre eines Kindes in der Kinderklinik aufgrund von Pflegemaßnahmen, Diagnostik und Therapie auf ein Minimum reduziert wird. Bei Kindern aus außereuropäischen Kulturen oder nicht christlichen Religionen sind ggf. andere Tabus bzw. ein stärker ausgeprägtes Schamgefühl zu berücksichtigen. Persönliche Details müssen von den Pflegefachkräften vertraulich behandelt werden. Neben dem Gespräch mit den Eltern und dem Kind ist eine sensible Beobachtung von Bedeutung, da nicht alle wichtigen Informationen erfragt werden können. Sofern die Situation und das Schamgefühl von Kind und Eltern es zulassen, wird bei der Pflegeanamnese mit ihnen Folgendes besprochen: ● Gibt es ein Schmusetier, eine Kuscheldecke oder Ähnliches? ● Gibt es Berührungen, die das Kind überhaupt nicht mag? ● Welche Worte benutzt das Kind für seine Genitalien? ● Bei Mädchen: Hat bereits die Menstruation eingesetzt? Werden Binden und/ oder Tampons verwendet? In der fortlaufenden Einschätzung muss erfragt werden, ob das Kind, bzw. der Jugendliche bei folgenden Maßnahmen die Anwesenheit oder Unterstützung der Eltern wünscht: ● tägliche Körperpflege ● Hilfestellung zum Ausscheiden ● Untersuchungen oder Behandlungen, für die sich das Kind entkleiden muss

20.4 Pflegemaßnahmen 20.4.1 Wahrung der Intimsphäre Merke

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nese abgeleitet und in den Pflegeplan integriert. Grundsätzliche Überlegungen zur Wahrung der Intimsphäre sind: ● Das Bett des Kindes oder Jugendlichen ist die letzte verbleibende, sehr begrenzte Privatsphäre im Krankenhaus. Keine Pflegefachkraft und kein Arzt sollte sich ohne vorherige Nachfrage am Bett des Kindes zu schaffen machen. Dies gilt auch für den Nachtschrank. Bei behinderten Kindern sollte ebenfalls vorher um Erlaubnis gefragt oder zumindest das Vorgehen erklärt werden. ● Bei Schulkindern und Jugendlichen sollte an der Zimmertür angeklopft und ein Moment lang mit dem Eintreten gewartet werden. ● Jugendliche sollten nicht automatisch geduzt werden, sondern nur auf ihren Wunsch hin. ● Die Zimmertür wird, z. B. bei Untersuchungen oder der Ganzwaschung, geschlossen gehalten. ● Die Bettdecke wird erst nach Vorankündigung zurückgezogen. ● Kleidung wird nur nach Vorankündigung ausgezogen. ● Kinder werden nur so weit entkleidet (oder entkleiden sich selbstständig), wie unbedingt erforderlich (Ganzwaschung, Untersuchung, therapeutische Maßnahmen, ▶ Abb. 20.1). ● Es muss nachgefragt werden, ob die Anwesenheit eines Elternteils bei einer Untersuchung von Kind oder Jugendlichem gewünscht wird. ● Im Untersuchungszimmer sollte eine Trennwand aufgestellt werden, hinter der das Kind sich an- und ausziehen kann. Wenn möglich, sollte beim Anund Ausziehen nicht zugesehen werden. ● Vor einer Ganzwaschung werden im Mehrbettzimmer die gehfähigen/mobilen Mitpatienten aus dem Zimmer geschickt oder ein Sichtschutz (Trennwand) aufgestellt.



















Abb. 20.1 Wahren der Intimsphäre. Bei der körperlichen Untersuchung (Symbolbild). (Foto: Picture-Factory – stock.adobe.com)

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Das Tragen von Handschuhen schützt die Pflegefachkräfte nicht nur vor Infektion und Ekel, sondern signalisiert auch Distanz. Sie nehmen der Berührung des Genitalbereichs eines anderen Menschen die sexuelle Bedeutung.



„Kinder sollen mit Takt und Verständnis behandelt werden, und ihre Intimsphäre soll jederzeit respektiert werden“ (Charta für Kinder im Krankenhaus, 1988).

Es gibt keine allgemeingültige Vorstellung davon, welche Bereiche zur Intimsphäre gehören und von anderen zu respektieren sind. Jeder Mensch hat seine individuellen Tabuzonen, seinen Körper und seine Persönlichkeit betreffend. Einige Grundregeln lassen sich jedoch aufstellen, unabhängig von Alter, Geschlecht, Kultur oder Religion. Darüber hinausgehende, spezielle Maßnahmen werden aus der Pflegeanam-

Merke



Intimwäsche wird so weit wie möglich vom Kind selbstständig durchgeführt, dies gilt auch bei behinderten Kindern. Der Intimbereich eines Kindes wird erst nach Ankündigung gewaschen, dabei wird möglichst Blickkontakt gehalten. Während der Intimhygiene sollte das Gespräch nicht abgebrochen und geschwiegen oder plötzlich das Thema gewechselt werden. Dem Kind wird ruhig erklärt, was gerade getan wird. Dabei werden einfache Worte benutzt, die das Kind kennt. Bettlägerige Kinder werden, auch auf Intensivstationen, mit Unterwäsche und Schlafanzug oder anderen Kleidungsstücken bekleidet. Mobilisation oder Positionierung sollten nicht im Flügelhemd ohne Unterhose durchgeführt werden. Vor Benutzung des Toilettenstuhls im Mehrbettzimmer werden Mitpatienten aus dem Zimmer geschickt oder das Kind wird mit dem Toilettenstuhl in die Toilette oder das Badezimmer geschoben. Toilettentür bzw. Badezimmertür werden hinter dem Kind oder Jugendlichen geschlossen und kenntlich gemacht, dass die Toilette bzw. das Bad besetzt ist. Die Versorgung eines Stomas im Mehrbettzimmer wird nicht bei Anwesenheit anderer Patienten durchgeführt. Der Wechsel von Binden oder Vorlagen wird bei menstruierenden Mädchen im Mehrbettzimmer nicht in Anwesenheit der Mitpatientinnen vorgenommen. Rektale Temperaturkontrollen sollten bei Kindern (außer bei Säuglingen) weitgehend vermieden werden, stattdessen kann die Temperatur z. B. im Gehörgang gemessen werden. Bei muslimischen Jugendlichen muss beachtet werden, dass Mädchen ausschließlich durch weibliche Pflegefachkräfte, Jungen möglichst durch männliche Pflegefachkräfte beim Essen, bei der Körperpflege und den Ausscheidungen unterstützt werden. Bei der Aufnahme sollten Jugendliche gefragt werden, ob sie bevorzugt von gleichgeschlechtlichen Pflegefachkräften versorgt werden möchten, sofern dies möglich ist.

20

9

Mädchen oder Junge sein

20.4.2 Menstruationshygiene

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„Ich finde es sonderbar, was da mit mir passiert, und nicht nur das, was äußerlich an meinem Körper zu sehen ist, sondern das, was sich innen vollzieht. Gerade weil ich über mich und vor allem über so etwas nie mit anderen spreche, spreche ich mit mir selbst darüber. Immer, wenn ich meine Periode habe (das war erst dreimal), habe ich das Gefühl, dass ich trotz der Schmerzen, des Unangenehmen und Ekligen ein süßes Geheimnis in mir trage. Deshalb, auch wenn es mir nur Schwierigkeiten macht, freue ich mich in gewisser Hinsicht immer wieder auf diese Zeit, in der ich es wieder fühle“ (Anne Frank in ihrem Tagebuch am 6. Januar 1944). Von vielen Mädchen wird die erste Menstruation sehnlichst erwartet, denn sie ist ein Symbol für ihre sexuelle Identität, d. h. erwachsen zu werden, Frau zu sein und Kinder bekommen zu können. Das reale Erleben der Monatsblutung führt jedoch oft zu einer ganz anderen, negativen Einstellung: Die Menstruation kann mit unangenehmen Symptomen verbunden sein, z. B. Schmerzen, Übelkeit und Erbrechen oder Heißhungerattacken, Stimmungsschwankungen sowie eingeschränkter körperlicher Aktivität. Die Menstruation ist ein Tabuthema, über das Mädchen und Frauen nicht gerne sprechen. Oft werden Schwankungen im körperlichen oder seelischen Befinden mit dem Satz erklärt: „Sie hat wohl ihre Tage.“ Somit ist auch die Menstruationshygiene, trotz aller Offenheit in der Werbung, kein Aspekt, über den Mädchen und Frauen sich offen austauschen, manchmal nicht einmal Mütter mit ihren Töchtern.

Hilfestellung zur Menstruationshygiene Auch die Pflegefachkraft kann es als peinlich empfinden, bei der Hilfestellung zur Menstruationshygiene in eine körperliche Tabuzone einzudringen. Hilfreich ist ein ruhiger, sachlicher Umgang mit dem Mädchen, dem mit verständlichen Worten erklärt wird, was getan wird (z. B. „ich

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wechsle jetzt deine Binde gegen eine frische Binde aus.“). In der Pflegeanamnese werden die Gewohnheiten in Bezug auf die Menstruationshygiene erfragt sowie die Begriffe, mit denen das Mädchen oder die Eltern die Menstruation bezeichnen. Im Judentum und im Islam gilt die Frau während der Menstruation als unrein; muslimische Frauen müssen am Ende ihrer Menstruation eine sog. große Waschung vornehmen, um wieder rein zu werden. Dies muss bei muslimischen Mädchen berücksichtigt werden. Möglicherweise möchten die Mädchen nicht im Beisein ihrer Mutter über das Thema Menstruation sprechen, da sie es als ungehörig empfinden.

Praxistipp Pflege

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Im Rahmen der Gesundheitserziehung sollten Mädchen darauf hingewiesen werden, dass spezielle Waschlotionen oder Deos für den Intimbereich unnötig sind und die natürliche Scheidenflora schädigen, wodurch das Auftreten von Infektionen begünstigt wird. Sie können jedoch während der Menstruation ihren Genitalbereich mehrmals täglich mit Wasser und pH-neutraler Waschlotion waschen.

Zum Auffangen von Menstruationsblut dienen Vorlagen, Binden und Slipeinlagen sowie Tampons. Auf den Patiententoiletten müssen Entsorgungsmöglichkeiten für benutzte Tampons, Binden und Vorlagen vorhanden sein (ausreichend Toilettenpapier zum Einwickeln, spezielle Wegwerftüten aus Papier, Abfalleimer mit Deckel).

Vorlagen und Binden Sie bestehen aus Watte und/oder Zellstoff, der je nach Bindenstärke unterschiedlich saugfähig ist. Binden sollten luftdurchlässig sein. Binden mit einer dünnen Plastikfolie an der Unterseite können zur Entstehung einer feuchtwarmen Kammer im Scheidenbereich führen, wodurch Infek-

tionen, z. B. mit Hefepilzen, begünstigt werden. Allerdings müssen luftdurchlässige Binden rechtzeitig gewechselt werden, da sie keinen Schutz vor dem Durchsickern von Blut in die Unterwäsche und Kleidung bieten. An der Unterseite besitzen sie einen oder zwei Klebestreifen, mit denen sie in der Unterwäsche befestigt werden können. Bei Binden oder Vorlagen gilt es zu beachten: ● Sie müssen gewechselt werden, bevor sie ganz vollgesogen sind. ● Sie sollten keine deodorierenden Zusätze enthalten, da diese allergische Reaktionen hervorrufen können. ● Sie können bei schwacher Blutung durch eine Slipeinlage ersetzt werden. ● Sie haben den Nachteil, dass das Menstruationsblut außerhalb des Körpers an der Luft trocknet und dabei manchmal etwas unangenehm riecht (dies lässt sich durch häufiges Wechseln der Binde oder Vorlage vermeiden).

Tampons Sie bestehen aus zusammengepresster, saugfähiger Verbandwatte mit einem Rückholfaden in der Mitte und sind je nach Stärke der Blutung in verschiedenen Größen erhältlich. Tampons liegen richtig, wenn sie kaum zu spüren sind. Bei ihrer Verwendung ist zu beachten: ● Sie können von der ersten Menstruation an benutzt werden. ● Aufgrund der Gefahr aufsteigender Infektionen sollen sie alle 4 – 6 Stunden gewechselt und daher auch nicht nachts getragen werden. ● Sie können das Auftreten von Scheideninfektionen begünstigen und dürfen bei Erkrankungen, die mit Fieber verbunden sind, nicht angewendet werden. ● Sie sind auch mit Einführhilfen aus Pappe erhältlich, da ihre Anwendung eine gewisse Übung und Geschicklichkeit erfordert. ● Sie haben den Vorteil, dass das Menstruationsblut in der Scheide aufgenommen wird und es daher nicht zur Geruchsbildung kommt.

Kapitel 21 Sterben

21.1

Bedeutung

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21.2

Beeinflussende Faktoren

462

21.3

Beobachten und Beurteilen

463

21.4

Sterbebegleitung

465

Sterben

21 Sterben Mechthild Hoehl

21.1 Bedeutung

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Leben und Sterben sind untrennbar miteinander verknüpft. Jedes Leben endet unweigerlich einmal mit dem Tod. Trauererfahrungen sind jedoch nicht primär an die Begegnung mit dem Tod geknüpft: Auch im Kleinen müssen kleine „Tode“, Trennungserlebnisse und verlorene Hoffnungen hingenommen werden. Der Tod eines Menschen erschreckt als etwas Unberechenbares und Endgültiges. Was nach dem Tod mit dem verstorbenen Menschen geschieht, wird von den Religionen, Kulturen und Weltanschauungen unterschiedlich bewertet und erklärt, bleibt aber letztlich den zurückbleibenden lebenden Menschen unbekannt. Das Thema „Sterben“ scheint sich im Umgang mit Kindern völlig auszuschließen. Ein Kind hat i. d. R. sein Leben noch vor sich. Kinder gelten als Inbegriff der Zukunft, sie sind Hoffnungsträger ihrer Eltern und der Gesellschaft. Dass ein Kind vor oder während der Geburt, durch eine schwere Erkrankung, ein akutes Ereignis wie einen Unfall oder gar durch Selbstmord stirbt, macht betroffen. Fragen nach Sinn, Erklärungen oder Schuld bleiben meist unbeantwortet.

Merke

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Jeder Mensch hat ein natürliches Recht auf Leben; er hat aber gleichzeitig bei einem nicht zu heilenden Leiden, das in jedem Fall zum Tode führt, auch das Recht auf ein würdiges Sterben.

Kein Mensch darf als Eigentum eines anderen (auch nicht der Eltern) oder einer Institution oder des Staates angesehen werden, die ihm sein Recht auf ein menschenwürdiges Leben und Sterben verweigern könnten. Der Wert des menschlichen Lebens hängt weder von seiner Leistungsfähigkeit noch von seiner Lebenserwartung ab. „Ich richte meinen Blick auf das Leben. Leben, Sterben und Tod sind Prozesse auf einem Weg, den jede und jeder gemeinsam gehen muss, die und der einmal geboren wurde. Die Schönheit dieses Weges hängt nicht von seiner Länge ab“ (Renate Greinert). Pflegefachkräfte werden mit sterbenden oder trauernden Kindern und deren Familien konfrontiert. Auch wenn der Tod nicht in allen Bereichen der Kinderkrankenpflege alltäglich ist, gehört die Proble-

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matik „Sterben, Tod und Trauer“ zu ihrem Berufsalltag. Im Jahr 2010 starben lt. Statistischem Bundesamt insgesamt 3485 Kinder in Deutschland im Alter von 0–15 Jahren, davon entfielen 2322 Fälle auf Säuglinge, also auf Sterbefälle von Kindern, die das erste Lebensjahr noch nicht vollendet hatten. Das entspricht einem Anteil von 66,6 % an allen Kindersterbefällen. Sowohl die Gesamtsterblichkeit als auch die Säuglingssterblichkeit ist in den vergangenen Jahrzehnten deutlich zurückgegangen. Wie viele Kinder mit lebenslimitierenden Erkrankungen leben, ist statistisch schwer zu erfassen. Viele von ihnen erreichen heute zwar das Erwachsenenalter, die lebensverkürzende Prognose bestimmt jedoch auch das Krankheitsgeschehen in der Kindheit.

21.2 Beeinflussende Faktoren Der Vorgang des Sterbens als körperlicher Prozess und das persönliche Erleben von Tod und Trauer sowie der Umgang damit werden von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst, die hier nur ansatzweise behandelt werden können.

21.2.1 Körperliche Faktoren Die Ursache des lebensbedrohlichen Ereignisses, ob chronische Erkrankung oder akut einsetzendes Ereignis, beeinflusst sowohl den körperlichen Sterbevorgang als auch die Möglichkeit, bewusst und vorbereitet mit Tod und Trauer umzugehen. Die körperliche Konstitution des Sterbenden beeinflusst, wie lange sich ein Sterbeprozess ausdehnen kann. Massive körperliche Vorschädigungen, etwa bei vorausgegangenen langen Krankheitsprozessen oder chronischen Gesundheitsstörungen, sind bezüglich der Therapierbarkeit einer akut lebensbedrohlichen Situation prognostisch ungünstiger. Jedoch ist auch eine bislang absolute Gesundheit keine Garantie für eine Genesung in lebensbedrohlichen Situationen. Lang dauernde oder sich abzeichnende Sterbeprozesse geben einer betroffenen Familie die Möglichkeit, sich mit ihren Wünschen und Bedürfnissen in dieser Zeit intensiver auseinanderzusetzen. Die Möglichkeit des „aktiven Erlebens“ des eigenen Sterbeprozesses für das Kind ist abhängig von seinem Alter und seinem Bewusstseinszustand.

21.2.2 Psychologische Faktoren Der Umgang mit Sterben, Tod und Trauer ist von den Erfahrungen abhängig, die der Sterbende, seine Familie und seine Pflegenden bereits mit dem Tod gemacht haben, und wie damit umgegangen wurde. Je stärker diese Erfahrungen aufgearbeitet wurden, desto mehr haben sich die Beteiligten bereits mit ihren Bedürfnissen, Möglichkeiten und Grenzen auseinandergesetzt. Allerdings können in das Erleben der bedrohlichen Situation auch Lebenserfahrungen und Gefühle hineinspielen, die nicht oder nur unzureichend aufgearbeitet wurden. Solche Dinge können den Sterbeprozess (S. 464) in manchmal schwer nachvollziehbarer Weise beeinflussen. Allgemeine innerfamiliäre Strukturen und Konfliktlösungsansätze haben Einfluss darauf, wie stark eine Familie sich auf das akute Ereignis einlassen und es für sich verarbeiten kann.

21.2.3 Soziokulturelle Faktoren Die soziokulturelle Prägung der Familie beeinflusst ebenfalls das Erleben existenzieller Erfahrungen. Gerade angesichts des Todes greift der Mensch auf seine soziokulturellen, religiösen und weltanschaulichen Wurzeln zurück. Das Unbegreifbare wird dann entweder rationalwissenschaftlich betrachtet, religiöstranszendental gedeutet oder mit mystischen Vorstellungen in Verbindung gebracht. Die soziokulturellen Grundlagen der gesamten Familie und des Freundeskreises gewinnen an Bedeutung.

Merke

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Die Trauer selbst, die Tatsache, ob sie offen gelebt oder still verschwiegen erlitten wird, unterliegt der gesellschaftlichen Prägung.

21.2.4 Umgebungsabhängige Faktoren Die Umgebung beeinflusst ebenfalls das Erleben des Todes sowie das Trauern. In Deutschland sterben die meisten Menschen in Krankenhäusern. Dadurch wird das Sterben in deutschen Kliniken institu-

21.3 Beobachten und Beurteilen tionalisiert. Von der Grundhaltung der Klinikleitung und des dort arbeitenden Personals hängt das Erleben des Todes für die Betroffenen in entscheidendem Maße ab. Ob sie eine ausreichende Begleitung bekommen, genügend Raum und Zeit zur Verabschiedung haben, ob ihnen hilfreiche Unterstützung für ihr Sterben bzw. ihre Trauer geboten wird; dies alles ist von der Organisationsform und vom Personal des Krankenhauses abhängig, insbesondere dann, wenn die Betroffenen wenig eigene Vorstellungen und Bedürfnisse äußern können. Das Sterben im Krankenhaus entspricht nicht der Wunschvorstellung der meisten Sterbenden. Wenn es möglich ist, ist das Sterben in häuslicher Umgebung zu ermöglichen. Hierzu benötigen die Angehörigen je nach Bedarf jedoch größtmögliche Unterstützung über ambulante Kinderkrankenpflegedienste, Hospizdienste, Seelsorger, psychologisch geschulte Begleiter und soziale Netzwerke. Stationäre Hospize schaffen eine vertrauliche Umgebung, in der Familien mit einem multiprofessionellen Team in der Zeit der immer stärker werdenden körperlichen Einschränkungen und im Sterbeprozess selbst fachlich begleitet werden. Hier wird Raum für die Auseinandersetzung mit dem Sterben und den Trauerprozess geschaffen.

21.2.5 Wirtschaftliche Faktoren Sterben muss jeder, egal ob arm oder reich. Dennoch ist das Erleben des Todes durchaus auch abhängig von wirtschaftlichen Faktoren. Die Möglichkeiten, in der letzten Lebensphase Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen oder einer Trauerfeier einen würdevollen Rahmen zu geben, können dann eingeschränkt sein, wenn sie finanziell unerschwinglich sind. Das Ausmaß der medizinischen Absicherung hat einen entscheidenden Einfluss auf die Gesundheit und damit auf die Lebenserwartung. Unter wirtschaftlich verbesserten Möglichkeiten ist z. B. die Säuglingssterblichkeit in den vergangenen Jahrzehnten rapide gesunken. Andererseits ist der Einsatz von lebensverlängernden Maßnahmen, verbunden mit all seinen Konsequenzen und ethischen Fragestellungen, u. a. durch die Möglichkeiten der Intensivmedizin in den Industrienationen möglich geworden.

Tab. 21.1 Entwicklung des Todesverständnisses bei Kindern. Alter

Entwicklungsstand

2 Jahre

● ● ●

Unterscheidung von belebten und unbelebten Objekten Entwicklung von Verlustgefühlen bei Trennungen Reaktionen auf gespannte Stimmungen und Gefühle

2 – 3 Jahre



Tod wird als Nichtleben ansatzweise erfasst, jedoch nicht seine Endgültigkeit

3 – 4 Jahre



Beobachtungen zu Sterben und Tod in der Natur führt zur Auseinandersetzung mit der Thematik Endgültigkeit und Unvermeidlichkeit des Todes noch nicht erkannt, Rollenspiele („Du bist jetzt mal tot.“)



4 – 6 Jahre



● ●

6 – 8 Jahre

● ●



8 – 10 Jahre

ab 11 Jahre

Interesse an körperlichen und biologischen Aspekten des Todes wächst (begraben werden) Glaube, Tod durch bestimmte Verhaltensweisen vermeiden zu können Tod wird meist noch als vorübergehender Zustand angesehen (außer bei selbst erlebten massiven Verlusten) Tod wird als irreversibel und unvermeidbar empfunden Klar ist: Der Tod kann auch die engsten Bezugspersonen und das Kind selbst betreffen Biologische Ursachen und Auswirkungen werden zu ergründen versucht



Kind sucht nach Erklärungen und Verarbeitungsstrategien der Geheimnisse von Leben und Tod, nach spirituellen Umgangsformen Übernahme religiöser Vorstellungen aus dem gesellschaftlichen Umfeld



Tod bekommt die gleiche Bedeutung wie für Erwachsene



21.3 Beobachten und Beurteilen

21.3.2 Begriffsbestimmungen

21.3.1 Entwicklung des Todesverständnisses Die Vorstellung vom Tod ändert sich im Laufe der kindlichen Entwicklung. Es gibt inzwischen vielfältige Angaben und Übersichten in der Literatur, die sich mit der Thematik „Kinder und Tod“ befassen. Hierbei muss betont werden, dass es noch stärker als bei anderen Entwicklungsschritten große individuelle Schwankungen gibt, die sich daraus ergeben, wie die Kinder an die Thematik „Sterben und Tod“ herangeführt wurden und welche Erfahrungen sie damit verbinden. An dieser Stelle kann nur eine grobe Übersicht gegeben werden (▶ Tab. 21.1).

Merke

H ●

Zur Vorbeugung pathologischer Trauerprozesse ist es hilfreich, wenn Kinder von klein auf ein offenes Verhältnis zur Thematik Tod und Trauer in ihrem unmittelbaren Umfeld erleben.

Definition

21

L ●

Als Tod wird das Erlöschen aller Lebensfunktionen bezeichnet.

Es werden unterschieden: Natürlicher Tod: ein durch innere und krankheits- bzw. altersbedingte Ursachen eingetretener Tod. ● Unnatürlicher Tod: durch Fremdverschulden oder Gewalteinwirkung eingetretener Tod. Bei Verdacht auf eine unnatürliche Todesursache wird die Polizei eingeschaltet und eine Obduktion veranlasst. Zu unnatürlichen Todesursachen gehört auch der Suizid (auch Selbstmord, Selbsttötung, Freitod genannt). ● Klinischer Tod: ein augenblicklicher Herz-Atem-Stillstand, der bei rechtzeitigem Erkennen durch Reanimation (Wiederbelebung) rückgängig gemacht werden kann. ● Hirntod: der irreversible Ausfall aller Hirnfunktionen. Das Gehirn zeigt keinen Blutfluss und keine elektrische Aktivität mehr (Null-Linien-EEG). Der Patient kann sich aus diesem Zustand nicht mehr erholen. Obwohl unter Beatmung und Intensivtherapie andere Stoffwechselfunktionen noch intakt sein können, wird der Hirntod als Tod ●

3

Sterben



der Person anerkannt und berechtigt bei Einwilligung der Angehörigen (bzw. bei Vorliegen eines Organspenderausweises bei Erwachsenen) zur Organentnahme zwecks Transplantation. Absoluter biologischer Tod: Er beinhaltet den Stillstand des Stoffwechsels in allen Körperzellen. Es kommt zum Auftreten der Todeszeichen.

Todeszeichen Zeichen eines nahenden Todes

21

Bei jedem Kind verläuft der Sterbeprozess anders, manche können noch am Tage vor dem Tod sehr vital erscheinen, andere durchlaufen einen längeren körperlichen Sterbevorgang. Um bei final erkrankten Kindern die Situation einschätzen zu können, sollen an dieser Stelle mögliche Veränderungen des Sterbenden aufgezählt werden, die auf ein baldiges Lebensende hinweisen können. Verhaltensänderung: ● Energielosigkeit, evtl. auch kraftlosere Laut- oder Sprachäußerungen ● manchmal auch Unruhe oder Rastlosigkeit Körperliche Veränderungen: ● Schläfrigkeit, Bewusstseinsstörungen, Bewusstseinsverlust ● Kreislaufschwäche, Blutdruckabfall, schwacher, z. T. beschleunigter Puls, schlechte Mikrozirkulation ● veränderte Atmung, z. T. beschleunigt, aber flach, manchmal aber auch verlangsamt mit Pausen ● sekretverlegte Atemwege durch Schwäche beim Abhusten, hierdurch häufig rasselnde Atemgeräusche ● sinkende Körpertemperatur, manchmal aber starkes Schwitzen ● reduziertes Hunger- oder Durstempfinden, dadurch häufig ausgetrocknete Schleimhäute ● Stoffwechselveränderungen, eingeschränkte Nierenfunktion, bisweilen urämischer Körpergeruch (Körpergeruch nach Urin) Finale Zeichen: eingefallene Augen, reduzierte Pupillenreaktion ● schlaffe Gesichtsmuskeln, offen stehender Mund ● aschgraues Hautkolorit, blasse wächserne Haut ● Bradypnoe, Cheyne-Stokes-Atmung (S. 246) ● reduzierte Reflexe ●

Wenn Herzschlag und Atem aufhören, tritt der Tod ein. Auf den anscheinend allerletzten Atemzug können manchmal noch ein oder zwei weitere folgen.

464

Todesfeststellung Nach Eintritt des Todes muss eine ärztliche Leichenschau erfolgen. Hierbei werden zum Nachweis die sicheren Todeszeichen beachtet. ▶ Totenflecken. Sie (lat. Livores: Leichenflecken) entstehen meist ½– 1 Stunde nach Eintritt des Todes, in Ausnahmefällen auch schon vorher, z. B. bei sehr schlechtem Allgemeinzustand unmittelbar vor dem Tod. Sie sind blauschwarz und an tiefer liegenden Körperpartien gemäß der Schwerkraft sichtbar (liegt die Leiche auf dem Rücken, sind die Flecken auf dem Rücken erkennbar). ▶ Totenstarre. Sie entsteht ca. 4 Stunden nach Eintritt des Todes und bleibt bis zum Eintritt der Zerfallsprozesse bestehen. Ist dem Tod eine Muskelanstrengung vorausgegangen, so tritt die Muskelstarre schon eher ein. ▶ Fäulnis oder Zerstörungen. In einer Form, die mit dem Leben unvereinbar ist.

21.3.3 Sterbeprozess In aller Regel tritt der Tod nicht plötzlich ein, sondern ist das Ende eines langen Sterbeprozesses. Elisabeth Kübler-Ross hat sich in jahrelanger intensiver Arbeit mit den Erlebnissen, Wünschen und Erfahrungen Sterbender auseinandergesetzt und viel wertvolle Literatur zu dieser Thematik herausgegeben. Sie hat u. a. festgestellt, dass ein Sterbeprozess sehr häufig in 5 Phasen (▶ Abb. 21.1) verläuft (Kübler-Ross, 1969).

Ausgehend von der Diagnose einer möglicherweise tödlichen Krankheit bis hin zum Tod kann es zu den folgenden Reaktionen kommen: ▶ 1. Verleugnen/Nichtwahrhabenwollen. Der Kranke und seine Angehörigen können zunächst den Ernst der Lage noch nicht richtig an sich heranlassen: „Das kann nicht sein!“, „Die haben sich geirrt!“. Gleichzeitig kann es zur Isolierung oder abwehrender Überaktivität kommen, bis allmählich die schmerzliche Erkenntnis einsetzt. In dieser Phase werden die Versuche der Helfer oft nicht verstanden, die Familie oder den Patienten behutsam auf seine Lebensbedrohung hinzuweisen. Selbst klar formulierte Diagnosen werden ignoriert. Die betroffene Familie schafft sich somit selbst die notwendige Schutzzeit. ▶ 2. Zorn/Aggression. „Warum“-Fragen und die Suche nach möglichen Schuldigen begleiten die Erkenntnis der Unausweichlichkeit des Schicksals. Von Schuldzuweisungen oder aggressiven Ausbrüchen werden Pflegefachkräfte, Angehörige, ja z. T. der Patient selbst (Suizidgefahr) massiv betroffen. Kinder sind häufig allein deswegen von starken Schuldgefühlen betroffen, weil die Drohung vor Krankheiten häufig als Erziehungsmittel dient („Wenn du dich nicht warm genug anziehst, wirst du krank.“ oder „Wenn du auf die Straße läufst, passiert ein Unfall.“). Den Helfern fällt es häufig schwer, mit den Schuldzuweisungen und Aggressionen umzugehen. Wenn sie um die regelmäßig ablaufenden Reaktionen im Sterbeprozess wissen, fällt es ihnen leichter, sich nicht persönlich angegriffen zu fühlen

verleugnen, nicht wahrhaben wollen Zorn/ Aggression verhandeln

Depression

Zustimmung

Abb. 21.1 Sterbephasen. Nach Elisabeth Kübler-Ross.

21.4 Sterbebegleitung ▶ 3. Verhandeln. Jetzt, da allmählich das Schicksal akzeptiert wird, versuchen die Betroffenen und Familien, doch noch eine Lebensverlängerung oder bestimmte wichtige Erlebnisse zu erhandeln, fast zu erkaufen. Alternative Therapieformen werden gesucht, besondere Wünsche angestrebt (noch einmal gemeinsam Weihnachten feiern). Der Zusammenhalt zwischen Familie und therapeutischem Team wird jetzt wieder enger und i. d. R. unterstützt das Team die Erfüllung der Wünsche, wo es nur kann (z. B. kleine Ausflüge, besondere Essensangebote). ▶ 4. Depression. Nun steht der Tod unausweichlich bevor. Der nahende Verlust wird sowohl vom Betroffenen als auch von den Angehörigen und Helfern als sehr belastend erlebt und in tiefer Depression wird bereits ein Stück Trauerarbeit vorweggenommen. Jetzt ist es für alle Beteiligten gut und wichtig, dass sie ihre Gefühle und all ihren Schmerz zulassen und zeigen können, auch Tränen. Denn der Verlust wird schmerzlich sein und wird in dieser Phase auch schon als solcher erkannt. ▶ 5. Zustimmung. In der letzten Phase kann im Idealfall der nahende Tod angenommen werden. Der Kranke lässt mehr und mehr los (was auch schon bei kleinen Kindern erkennbar ist), die Angehörigen akzeptieren das Unausweichliche und der Helfer erkennt aufgrund seiner Erfahrung, dass er jetzt nur noch palliative (= lindernde) Maßnahmen zu ergreifen hat. Heute weiß man: Diese Phasen laufen selten so eindeutig nacheinander ab. Sie sind oft nicht vollständig erkennbar und werden auch in Teilbereichen häufiger wiederholt. In der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege sind diese Verarbeitungsmechanismen eher bei den Angehörigen als bei den Kindern deutlich zu erkennen und zu unterscheiden, je nach Alter des Kindes und Entwicklung seines Todesverständnisses.

Merke

H ●

Das Wissen über mögliche Verhaltensweisen im Zusammenhang mit Sterben, Tod und Trauer macht es den Helfern leichter, angemessen zu reagieren.

Lernaufgabe

M ●

Überlegen Sie, ob Sie in Ihrer beruflichen Laufbahn oder im privaten Bereich bereits Erfahrungen mit Sterben, Tod und Trauer gemacht haben. Welche Beobachtungen haben Sie gemacht? Können Sie einige Ihrer Beobachtungen den Erläuterungen des Sterbeprozesses von Elisabeth Kübler-Ross zuordnen?

21.4 Sterbebegleitung 21.4.1 Begriffsbestimmungen Sterbebegleitung und Sterbehilfe Merke

H ●

Sterbebegleitung ist von der Sterbehilfe abzugrenzen.

21.3.4 Individuelle Situationseinschätzung Um eine angemessene und hilfreiche Sterbebegleitung zu gewährleisten, ist es notwendig, die individuelle Situation des sterbenden Kindes, der Familie und des begleitenden Teams zu berücksichtigen: ● Ist das Kind über seine lebensbedrohliche Erkrankung aufgeklärt? ● Welche Erfahrungen hat das Kind bereits mit dem Tod gemacht? ● Welche Vorstellungen hat das Kind vom Tod? ● Wie drückt das Kind Angst, Schmerz und Trauer aus? ● Wer ist die engste Bezugsperson des Kindes, welche Kontakte, z. B. zu Freunden, können ihm helfen? ● Sind die Eltern in der Lage, mit ihrem Kind über seine Situation zu sprechen? ● Brauchen die Eltern, Geschwister oder weitere Angehörige/Bezugspersonen Aufklärung und Unterstützung? ● Bestehen möglicherweise nicht geäußerte Wünsche, Hoffnungen oder Bedürfnisse? ● Gibt es eine Patientenverfügung? ● Hat die Familie eine religiöse, weltanschauliche Prägung? ● Ist eine Nottaufe erwünscht, soll das lebensbedrohlich kranke Kind in der Klinik geplant feierlich getauft werden? ● Wünschen die Eltern die Begleitung durch ihren Heimatseelsorger? ● Brauchen die Eltern organisatorische Unterstützung? ● Wie sind die Geschwister des sterbenden Kindes eingebunden? ● Welche Möglichkeiten kann das Team zur Unterstützung der Familie anbieten, welche Fachkräfte, z. B. Therapeuten, Sozialarbeiter, Seelsorger, stehen zur Verfügung? ● Zu welcher Pflegefachkraft, welchem Arzt hat die Familie den engsten Kontakt?

Sterbebegleitung Dies bedeutet Pflege, Hilfestellung und menschliche Unterstützung eines schwer kranken Menschen bis zu seinem Tod. Hierzu gehören die pflegerische Unterstützung der Lebensaktivitäten im Rahmen der Wünsche und Bedürfnisse des Sterbenden sowie die Anwendung lindernder Maßnahmen, insbesondere der Einsatz und die Überwachung schmerzlindernder Medikamente.

21

Sterbehilfe ▶ Aktive Sterbehilfe oder Tötung auf Verlangen. Hierzu zählt der willentliche und wissentliche Einsatz von Maßnahmen, die das Sterben eines Menschen beschleunigen, z. B. durch die Gabe von Substanzen, welche zum Tod führen. Erfolgt die zum Tode führende Handlung auf ausdrücklichen, wiederholten Wunsch eines einwilligungsfähigen Menschen, handelt es sich um „Tötung auf Verlangen“.

Merke

H ●

Aktive Sterbehilfe ist in Deutschland verboten.

▶ Indirekte Sterbehilfe. Hiervon wird gesprochen, wenn eine Lebensverkürzung als unbeabsichtigte Nebenwirkung beim Einsatz lindernder Maßnahmen eintritt. ▶ Passive Sterbehilfe. Dies bedeutet das Unterlassen von lebensverlängernden Maßnahmen bei einem sterbenskranken Patienten (Sterbehilfe durch Sterbenlassen!). Die passive Sterbehilfe erfolgt in enger Absprache mit dem Patienten und seinen Angehörigen. Grundlage hierfür bildet der (mutmaßliche) Wille des Patienten. Für erwachsene Patienten gibt es hierfür eine vorformulierte Patientenverfügung, in dem der Patient Wünsche zu Maßnahmen wie Reanimation, künstlicher Ernährung, medikamentöser Therapie, sich aber z. B. auch zu Fragen der

5

Sterben Organspende äußern kann. Bei Kindern können im Falle einer prekären Prognose gemeinsam mit Eltern und allen an Behandlung und Pflege beteiligten Personen in einer Ethikkommission die Grenzen der Therapie überlegt und festgelegt werden. Der Nationale Ethikrat schlägt die Verwendung des Begriffs „Sterbenlassen“ anstelle der „passiven Sterbehilfe“ vor, da auch aktive Handlungen, z. B. das Ausschalten eines Beatmungsgerätes, zur „passiven Sterbehilfe“ gehören können (Nationaler Ethikrat 2006).

21

▶ Assistierter Suizid. Unter einem assistierten Suizid wird die „Beihilfe zur Selbsttötung“ verstanden. Ein assistierter Suizid liegt dann vor, wenn eine Person einem sterbewilligen Menschen eine zum Tode führende Substanz zur Verfügung stellt, die der Sterbewillige dann selbstständig anwendet. Hierbei handelt es sich um eine rechtliche Grauzone, vor allem bei Kindern. Es kann ggf. eine Strafbarkeit des Assistierenden aufgrund eines Unterlassungsdelikts infrage kommen. ▶ Therapiezieländerung und Therapiebegrenzung. In der Palliativpflege spielen heute auch die Begriffe der „Therapiezieländerung“ und der „Therapiebegrenzung“ eine große Rolle. Dies bedeutet die Änderung oder die Begrenzung einer Behandlungsmaßnahme, z. B. Beatmung, falls diese zu einer Verlängerung eines Sterbeprozesses führen würde. Hierbei wird bei der Zustimmungspflicht des Patienten bzw. seiner Sorgeberechtigten zu jedweder Therapie angesetzt. Der mutmaßliche Wille sollte bei nicht einwilligungsfähigen Patienten ausschlaggebend sein.

Palliativpflege Definition

L ●

Palliativpflege ist ein ganzheitlicher Pflegeansatz, der vor allem der Verbesserung der Lebensqualität unheilbar erkrankter und sterbender Menschen dient.

Für die Gesundheits- und Kinderkrankenpflege gibt es spezielle pädiatrische Palliativ-Care-Weiterbildungen, die das Personal in den unterschiedlichsten Arbeitsbereichen, von der Akutstation, über die ambulante Pflege bis zur Kinderhospizarbeit, darin schult, die höchstmögliche Lebensqualität der Kinder im Blick zu behalten und die Familie umfassend zu unterstützen.

466





● ●

● ● ● ● ●

Die Inhalte umfassen: professionelle Haltung, gesundheitsund berufspolitische Aspekte physische Grundlagen lebensbedrohender Erkrankung und Pflege Entwicklungspsychologie psychosoziale und interkulturelle Kompetenzen Palliativversorgung organisatorische Fragen interdisziplinäres Arbeiten Ethik rechtliche Aspekte

21.4.2 Umgang mit Sterben und Tod Dass Kinder sterben müssen, belastet sehr. Es erscheint einfach unnatürlich, dass die, die nach uns geboren wurden, schon vor uns wieder gehen müssen. So erlebt es die Gesellschaft und so erleben es die Eltern, die zudem noch einen Teil von sich selbst verlieren. Auch das Personal stößt an seine Grenzen, zumal es die Intention des Pflegeberufes ist, Kinder bei der Gesundung zu unterstützen. Doch ist es sicher der falsche Weg, die Problematik „Sterben und Tod“ zu leugnen. Gespräche im Team (z. B. bei einer Supervision), helfen, die belastenden Eindrücke und Begegnungen aufzuarbeiten. Nur so ist es möglich, auch anderen betroffenen Familien wieder hilfreich zur Seite zu stehen. Sterbebegleitung ist keine Aufgabe Einzelner. Voraussetzung ist immer eine gute Zusammenarbeit des Teams. Die Kollegen können die Pflegearbeit so organisieren, dass die begleitende Kinderkrankenpflegefachkraft das sterbende Kind nicht allein lassen muss. Wenn eine Pflegefachkraft sich in der Situation zu belastet fühlt, muss die Möglichkeit bestehen, sie abzulösen. Mit der Krankenhausleitung können adäquate räumliche Möglichkeiten für die sterbenden Kinder und Angehörigen überlegt und geschaffen werden.

21.4.3 Pflegemaßnahmen beim sterbenden Kind Pflegerisch sind bei einem sterbenden Kind lindernde und unterstützende Maßnahmen nach den Grundbedürfnissen zu leisten. Hierbei sind einzig und allein die aktuellen Bedürfnisse des Kindes zu berücksichtigen. Die Pflegemaßnahmen dürfen das sterbende Kind nicht zusätzlich belasten. Geplante Pflegemaßnahmen sind ggf. bei Belastung des Kindes zu unterbrechen oder ganz zu unterlassen. Die Pflegehandlungen können auch durch die Familie oder gemeinsam vorgenommen

werden, ohne dass die Familie hierdurch zu stark belastet wird. Pflegemaßnahmen und Beobachtungen bei einem sterbenden Kind können alle Lebensaktivitäten betreffen: ● Schmerzbeobachtung und schmerzlindernde Maßnahmen ● verbale und nonverbale Kommunikation ● Beobachtung und lindernde Unterstützung der Vitalfunktionen, z. B. Freihalten der Atemwege, temperaturregulierende Maßnahmen ● Körperpflege, Mundpflege, Augenpflege (je nach Bedarf und Belastbarkeit des Kindes) ● Wunschkost, ggf. Flüssigkeitszufuhr über PEG oder als Infusion ● Beobachtung und Unterstützung der Ausscheidung ● Lagewechsel und Prophylaxen ● Beschäftigungs- und Verarbeitungsmöglichkeiten anbieten ● Respektieren von Persönlichkeit, Wünschen und Vorlieben des Kindes Die zentralen Maßnahmen beinhalten jedoch, dass auf die Bedürfnisse des Kindes und seiner Familie in dieser Phase eingegangen wird. Hierbei kann die reine Anwesenheit wertvoller sein als ein pflegerischer Aktionismus. Mit den Bezugspersonen wird überlegt, ob und wie sie bei dem Kind bleiben können bzw. bei Bedarf schnell erreicht werden können.

Merke

H ●

Ist der Sterbeprozess absehbar, kann mit Angehörigen rechtzeitig über mögliche Erlebnisse und Ereignisse gesprochen werden, die zu erwarten sind, und ggf. Absprachen zum Umgang mit diesen Situationen getroffen werden (z. B. wer benachrichtigt werden soll).

21.4.4 Maßnahmen nach Eintritt des Todes Nach Eintritt des Todes wird die Uhrzeit des Todeszeitpunkts notiert und der Arzt informiert, damit er den Tod feststellt und den Totenschein ausstellt. Falls die Angehörigen nicht anwesend waren, sind diese zu benachrichtigen.

Eltern

a ●

Grundsätzlich sollte eine Anwesenheit der Angehörigen bei Sterbenden erwünscht sein und ermöglicht werden.

21.4 Sterbebegleitung Ein verstorbenes Kind erfährt noch einmal eine komplette Körperpflege. Diese kann auf Wunsch der Eltern auch mit diesen gemeinsam durchgeführt werden. Alle Zu- und Ableitungen werden entfernt und Wunden sorgfältig verklebt, damit kein Sekret mehr ausfließen kann. Die Augen werden geschlossen und bei Bedarf mit feuchten Kompressen beschwert. Der Mund wird geschlossen und der Unterkiefer z. B. mit einer Zellstoffrolle abgestützt. An Händen und Füßen des verstorbenen Kindes werden Identitätsschilder nach Klinikstandard angebracht.

Eltern

a ●

Den Eltern muss Raum und Zeit gegeben werden, sich nach eigenen Wünschen und Bedürfnissen von ihrem Kind zu verabschieden.

Es sollte die Möglichkeit bestehen, dem Kind Kleidungsstücke nach seinen Wünschen oder den Wünschen der Eltern anzuziehen und ihm sein Lieblingsspielzeug mitzugeben. Je nach Organisation der Klinik oder bei einer eventuellen Obduktion ist dies oft erst später durch den Bestatter möglich.

Lernaufgabe

M ●

Machen Sie sich Gedanken darüber, welche Bedingungen Ihnen wichtig wären, falls ein Angehöriger von Ihnen sterben würde. Befragen Sie auch Ihre engsten Angehörigen, welche Dinge für sie in dieser Situation von Bedeutung wären. Decken sich Ihre Vorstellungen?

21.4.5 Besonderheiten in der Begleitung Jeder Mensch, jeder Erwachsene, jedes Kind stirbt anders. Aus der großen Anzahl möglicher Situationen von Familien mit sterbenden Kindern, die in der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege begleitet werden, werden an dieser Stelle einige stellvertretend genannt.

Der plötzliche Tod Fallbeispiel

I ●

Ein Kind kommt mit dem Notarztwagen sterbend in die Kinderklinik (▶ Abb. 21.2). Die Reanimation scheitert. Die Angehörigen sind fassungslos.

Abb. 21.2 Notarzteinsatz. (Foto: K. Oborny, Thieme)

Eine Begleitung im herkömmlichen Sinne ist beim plötzlichen Tod kaum möglich. Dennoch kann den Eltern ein Gefühl von Angenommensein in ihrer speziellen Situation entgegengebracht werden: ● Es dürfen keine Schuldzuweisungen erfolgen, auch bei unklarer Todesursache oder dem subjektiven Gefühl, dass der Notarzt zu spät informiert wurde. Andersherum sollten spontan entstandene Gefühlsäußerungen aller Art bei den Eltern zunächst einmal zugelassen und hingenommen werden. ● Praktische Hinweise zu formalen Abläufen, z. B. Informieren des Bestatters, sind notwendig und sinnvoll. Die Pflegefachkräfte bieten den Eltern an, dass sie auch zu einem späteren Zeitpunkt noch mit Fragen auf die Klinik zukommen können. ● Im Idealfall steht Familien ein geschützter Raum, ein wenig abseits vom hektischen Krankenhausgeschehen, zur Verfügung. ● Es sollte sich möglichst eine feste Ansprechpartnerin um die Familie kümmern ● Diese fragt nach Hilfsmöglichkeiten durch Angehörige oder Freunde, um diese, soweit möglich, zu organisieren, z. B. um die Eltern nach Hause zu bringen und Geschwisterkinder zu beaufsichtigen. Die Bedürfnisse der Familie sollten bestmöglich berücksichtigt werden. ● Eine Unterstützung durch Notfallseelsorger oder Notfallpsychologen kann das Team entlasten. Bei zunächst geglückter Reanimation, aber kurzfristig schlechter Prognose, sollte auch der Wunsch der Eltern oberstes Handlungsgebot sein: Die Besucherregelung kann erweitert werden, auch Geschwister dürfen nicht vergessen werden, Verwandte, Bekannte oder Seelsorger werden auf Wunsch herbeigeholt. Falls bekannt, kann ein Bestatter des Vertrauens informiert werden; ansonsten gibt es regionale Unternehmen, die sich besonders auf trauernde Familien spezialisiert haben.

Abb. 21.3 Aufbahrungsraum. Ort der Verabschiedung. (Foto: F. Sitzmann)

Fragen nach einer möglichen Obduktion können evtl. erst am nächsten Tag behutsam durch den Arzt geklärt werden. Mit den Eltern können noch zusätzliche Gesprächstermine vereinbart werden. Das therapeutische und psychosoziale Team kann sie nach einigen Wochen noch einmal anschreiben, ob sie noch Fragen haben.

Praxistipp Pflege

21

Z ●

Informationen zu Trauerverlauf und bestehenden Selbsthilfegruppen sollten in jeder Kinderklinik vorhanden sein. Das Material kann an die Eltern weitergegeben werden.

Eine besondere Belastung für die Familie stellt der plötzliche Tod eines Kindes durch Suizid dar. Die Familien haben in diesem Fall nicht selten mit der Tabuisierung, eigenen und fremden Schuldzuweisungen zu kämpfen. Hier sind der Kontakt zu Selbsthilfegruppen und eine psychosoziale Begleitung der Familie besonders wichtig. Nach Eintritt des Todes wird den Eltern, Geschwistern und anderen Bezugspersonen – sowie den Bezugspflegefachkräften – die Zeit zugestanden, die sie brauchen. Hierfür müssen nach Möglichkeit geeignete Räumlichkeiten zur Verfügung stehen, in denen sich die Familien mit ihrem verstorbenen Kind zurückziehen können (▶ Abb. 21.3).

Sterben von Neugeborenen Ein Kind kann tot zur Welt kommen, ein Neugeborenes kann mit dem Leben unvereinbare Krankheitszeichen oder Fehlbildungen haben, ein extrem unreifes Frühgeborenes ist nicht lebensfähig: Verlieren die Eltern ein Kind vor, während oder direkt nach der Geburt, brauchen sie besonders liebevolle Begleitung. Das Kind ist für die Eltern bereits Teil ihres Lebens, entsprechend groß ist die Trauer. Sehr schmerzhaft ist oft das Unverständnis der

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Sterben Umgebung darüber. Kommentare wie „Es war vielleicht besser so.“, oder „Sie können ja noch ein Kind bekommen.“ kommen oft bei den Eltern sehr negativ an. Ein „neues“ Kind ist sicher kein Ersatz. Ist das Kind in der Kinderklinik und die Eltern sind bis zum Tod nicht anwesend, hilft ihnen manchmal ein Bericht über das Verhalten des Kindes in seinem kurzen Leben.

Praxistipp Pflege

21

Z ●

(Foto)

Ein Foto des Kindes sollte grundsätzlich immer angefertigt werden, damit die Eltern ein Erinnerungsstück haben. Ist es nicht mehr möglich, das lebende Kind zu fotografieren, so wird ein Foto des toten Kindes angefertigt. Die Bilder können den Eltern in verschlossenen Briefumschlägen mitgegeben oder in der Krankenakte aufgehoben werden, für den Fall, dass die Eltern erst später das Foto ihres Kindes zu sehen wünschen.

geboren:

gestorben:

Gewicht: Länge: Haarfarbe:

In einigen Abteilungen gibt es vorgefertigte Erinnerungsmappen für die Eltern (▶ Abb. 21.4). Darin ist Platz für ein Bild, einen Fußabdruck, eine Haarsträhne oder andere Erinnerungsstücke (je nach Wunsch der Eltern) verbunden mit einem Hinweis auf Kontaktadressen von Selbsthilfegruppen. Nach Möglichkeit sollen die Eltern zum Kontakt mit ihrem Kind ermutigt werden, damit sie später wissen, um wen sie trauern. Ein „normaler“ Umgang der Pflegefachkräfte mit dem Kind kann Berührungsängste abbauen. Es sollte danach gefragt werden, ob die Eltern eine Nottaufe wünschen. Ein intrauterin verstorbenes Kind sollte möglichst auf normale Weise zur Welt gebracht werden, weil dies die Ängste der Mutter vor einer möglichen neuen Schwangerschaft und Geburt mindert und die Mutter schneller das Krankenhaus verlassen kann. Das Kind sollte nach Absprache den Eltern in den Arm gelegt und ihnen genügend Zeit gegeben werden, um sich von ihm zu verabschieden. Eine kurzfristige Krankenhausentlassung der Frau oder eine Mitaufnahme des Mannes sollte möglich sein.

Merke

H ●

Auch ein sehr kleines Kind kann beerdigt werden! Das wissen viele Eltern nicht und der Hinweis kann ihnen eine große Hilfe sein.

468

Besonderheiten:

Inhalt: Fußabdruck, Haarsträhnchen, Namensbändchen, Sonstiges: Kontaktadressen

Abb. 21.4 Erinnerungsmappe. Vorgefertigte Mappen ermöglichen das Mitgeben von Erinnerungsstücken und hilfreichen Adressen.

In jedem Fall sollten auch hier Informationsmaterial, Kontaktadressen von Selbsthilfegruppen vorhanden sein, ebenso ein Gesprächsangebot, falls die Familien zu einem späteren Zeitpunkt noch Fragen haben.

Lernaufgabe

M ●

Informieren Sie sich im Internet über die Thematik Fehlgeburt und Tod eines Neugeborenen. Stellen Sie eine Informationsbroschüre für betroffene Eltern zusammen, falls diese in Ihrer Klinik noch nicht vorhanden ist.

Sterben von älteren Kindern Ein älteres Kind, besonders ab dem Kindergartenalter, erlebt je nach Erkrankung seinen Krankheits- und Sterbeprozess bewusst mit. Es stellt Fragen, offen oder ver-

deckt, malt tiefgründige Bilder oder erzählt beziehungsreiche Geschichten. Die schwierigste Frage lautet: „Wie kann und soll ich mit dem Kind über seine Erkrankung und seinen Tod reden?“ Oft bauen die Kinder dem Personal und Bezugspersonen Brücken, schneiden das Thema von sich aus an und erzählen von ihren Ängsten und Sorgen. In einem solchen Fall soll nicht ausgewichen werden. Das Kind ahnt oft schon viel eher, als es ihm gesagt wird, wie schlecht seine Prognose wirklich ist. Hier müssen Personal und Bezugspersonen in guter Zusammenarbeit die Fragen der Kinder abwarten und daran anknüpfen. Das Kind signalisiert, wann es was und wie viel wissen möchte. Häufig fehlen den Bezugspersonen der Mut, das Verständnis und die Erfahrung für den offenen Umgang mit dem Thema Tod mit ihrem Kind. Einfühlsame, klärende Gespräche mit einem multiprofessionellen Team können den Familien weiterhelfen.

21.4 Sterbebegleitung Auf keinen Fall sollten die Pflegefachkräfte das Kind „vertrösten“ („Das wird schon wieder.“), auch wenn sie dies selbst zu gern glauben würden. Die eigene Hilflosigkeit zuzugeben, stärkt hier viel mehr das Vertrauen des Kindes, z. B. „Ich weiß noch nicht, was wird, aber ich hoffe ...“. Ganz besonders wichtig ist es, dem Kind zu signalisieren, dass vom Team alles getan wird, um ggf. Schmerzen oder Leiden zu lindern, realisierbare Wünsche zu erfüllen und das Kind nicht allein zu lassen.

Sterben nach langer Krankheit In Kinderkliniken, der ambulanten Pflege und in Kinderhospizen lernen Gesundheits- und Kinderkrankenpflegefachkräfte Familien kennen, deren Kind längerfristig krank ist, krank bleibt und sterben muss. Solche Begleitungen können sich über Jahre erstrecken und sind sehr anspruchsvoll. Pflegefachkräfte und Eltern lernen sich in dieser Zeit sehr gut kennen. Das ist wichtig und erwünscht, aber nicht unproblematisch. Insbesondere, wenn das Weltbild oder die Verhaltensweisen der betroffenen Familie für die Pflegefachkräfte befremdlich erscheinen, ist ein professioneller Umgang unumgänglich und eine Supervision hilfreich, um eigenes Handeln kritisch zu hinterfragen. Im Rahmen der Bezugspflege wird eine tragfähige Beziehung erarbeitet, mehrere Bezugspersonen schaffen den Einzelnen die Möglichkeit, sich zwischendurch eine Auszeit zu gönnen. Häufig ergeben sich Gesprächsansätze in den ganz alltäglichen Situationen. In guten Zeiten können die Pflegefachkräfte und begleitenden Fachkräfte in lockeren Gesprächen wichtige Informationen über den „Ernstfall“ sammeln, z. B. Hilfsmöglichkeiten durch Verwandte und Freunde, besondere Wünsche, Weltanschauung und damit im Gespräch eine langsame Heranführung an einen möglichen Tod wagen. Das Hinzuziehen eines Psychologen und/oder Seelsorgers kann unterstützend für die Familie, aber auch die Pflegefachkräfte sein. Der multiprofessionelle Austausch sollte scheinbar geringer beteiligte Personen, wie Lehrer oder Physiotherapeuten, nicht außer Acht lassen. Auch sie machen ihre eigenen Erfahrungen im Umgang mit der Familie und sind dankbar für einen Informationsaustausch. Besonders wichtig und hilfreich ist der Kontakt betroffener Eltern untereinander. Er sollte ermöglicht und gefördert werden, etwa durch die gezielte Vernetzung von Selbsthilfegruppen, aber auch durch Elterncafés oder andere Elternrückzugsräume in der Klinik oder auf der Station. Bei einem langen Sterbeprozess kann vorsichtig nach Modellen für die Zeit da-

nach gesucht werden. Viele Familien halten auch nach dem Tod des Kindes Kontakt, da sie viel Zeit auf der Station verbracht haben und viele Erinnerungen für sie damit verbunden sind. Dies sollte in einem überschaubaren Rahmen ermöglicht werden. Werden sie später eher befremdet auf der Station begrüßt, verlieren sie Monate oder Jahre ihrer Erinnerung!

Merke

H ●

Ein Supervisionsangebot für Teams, die sterbende Kinder begleiten, ist unumgänglich.

Sterben in häuslicher Umgebung Wenn es möglich ist, sollte ein Kind, das einer palliativen Pflege bedarf, in die von ihm und seinen Eltern gewünschte Umgebung verlegt, bzw. entlassen werden. Viele Familien wünschen, dass Ihr Kind im gewohnten Umfeld sterben kann. Auch den Kindern kann die beste Betreuung im Krankenhaus das zu Hause nicht ersetzen. Die Entlassung eines sterbenden Kindes nach Hause sollte jedoch als Angebot und nicht als Abschieben verstanden werden. Daher muss sie gut vorbereitet und begleitet werden. Da das todkranke Kind auch zu Hause i. d. R. eine aufwendige Pflege benötigt, wird vom Team frühzeitig die Überleitungspflege organisiert (S. 111). Gerade angesichts einer bevorstehenden Sterbebegleitung muss die Übergabe an einen externen Pflegedienst ausführlich und einfühlsam gestaltet werden. Die Pflegefachkräfte der ambulanten Kinderkrankenpflegestation wird neben den rein krankheitsgebundenen pflegerischen Erfordernissen insbesondere mit der Gesamtsituation des Kindes und seiner Familie vertraut gemacht. Die häusliche Betreuung eines sterbenden Kindes erfordert ein hohes persönliches Engagement der ambulant tätigen Kinderkrankenpflegefachkräfte. Der enge und intensive Kontakt mit den Familien in ihrem Umfeld macht eine „Abgrenzung“ weitaus schwerer als in der Klinik, eine Ablösung in der Begleitungssituation ist häufig kaum möglich. Umso wichtiger ist es, dass auch die ambulant tätigen Kinderkrankenpflegefachkräfte ausreichend Möglichkeiten zu Teamgesprächen, Supervision und Aufarbeitung erhalten.

Sterben von Kindern in palliativen Einrichtungen oder im Kinderhospiz Ein Kompromiss aus stationärer Betreuung und vertrauter wohnlicher Umgebung wird in palliativen Einrichtungen oder in einem Kinderhospiz gefunden. Wenn nur noch lindernde (palliative) Maßnahmen bei einem Kind möglich sind, kann und sollte seine Umgebung nicht mehr einen vorwiegend hygienebewussten und funktionalen Charakter haben, sondern in erster Linie familiär, persönlich und wohnlich gestaltet sein. In einem Kinderhospiz besteht die Möglichkeit, die Eltern zeitlich befristet oder dauerhaft vom permanenten Druck der Pflege zu entlasten und ihnen mit allen Notwendigkeiten und Möglichkeiten der palliativen Pflege Erleichterung zu verschaffen. Die Eltern werden hierbei von besonders geschultem Personal gestützt und sind von gleichfalls betroffenen Familien umgeben. Hier, wo der Sterbeprozess zur „Normalität“ wird, fällt es leichter, den Gefühlen Raum zu geben.

21

21.4.6 Berücksichtigung religiöser Bedürfnisse Die Berücksichtigung religiöser, soziokultureller und weltanschaulicher Bedürfnisse und Besonderheiten gehört in jedem Fall zu einem ganzheitlichen Pflegeansatz. Hierfür sind der Allgemeinzustand des Kindes und das Befinden der Familie nicht primär ausschlaggebend. Daher kommt der Berücksichtigung religiöser Bedürfnisse nicht nur beim sterbenden Kind eine wichtige Bedeutung zu. Allerdings bedingen lebensbedrohliche Erkrankungen und die Konfrontation mit Sterben, Tod und Trauer die Frage nach Sinnzusammenhängen und Erklärungsversuchen, die über die medizinische Wissenschaft hinausgehen. Für das Erleben des existenziell bedrohenden Krankheitsgeschehens und die Akzeptanz unheilbarer Erkrankungen greifen das Kind, seine Familie und nicht zuletzt auch seine Helfer auf ihre religiösen, weltanschaulichen und kulturellen Wurzeln zurück. Um hierbei die Familien hilfreich begleiten zu können, ihre individuellen Bedürfnisse zu erkennen, zu verstehen und zu berücksichtigen, ist es notwendig, über mögliche religiöse Vorstellungen und Wünsche informiert zu sein. Die Berücksichtigung dieser Informationen im Pflegeprozess ist dann am ehesten gegeben, wenn auch die Pflegefachkräfte in der Auseinandersetzung mit transzendentalen und spirituellen Bedürfnissen sensibilisiert sind.

9

Sterben

Merke

H ●

Nur wer in der Lage ist, Bedürfnisse bei sich selbst und anderen zu erkennen, kann sie auch berücksichtigen.

Da die religiöse Verwurzelung und persönliche Einstellung zur persönlichen religiösen Prägung bei allen Familien variiert, ist es wichtig und sinnvoll, bei der Pflegeanamnese und der täglichen Pflege im Gespräch die individuellen Wünsche und spirituellen Bedürfnisse zu erfragen.

Eine Übersicht über Grundlagen verschiedener Auffassungen und Bedürfnisse im Zusammenhang mit dem Sterben in verschiedenen Konfessionen und Religionen sind in ▶ Tab. 21.2 dargestellt.

Lernaufgabe

M ●

Informieren Sie sich bei Menschen unterschiedlicher Nationalität und religiöser Prägung über deren Vorstellung von Tod, Sterben und Trauerarbeit. Welche Erfahrungen haben die Befragten in ihrem jeweiligen Kulturkreis mit der Thematik gemacht und welche Wünsche hätten sie an das medizinische Personal?

Tab. 21.2 Übersicht über die Berücksichtigung möglicher religiöser Bedürfnisse in der Pflege. Da diese im Einzelfall auch deutlich davon abweichen können, sollten die individuellen Bedürfnisse erfragt werden. Religion/Konfession

Aufnahmeriten/Taufe

Lebensführung

Sterbebegleitung

Umgang mit Verstorbenen

katholisch

Taufe/Nottaufe, Kindstaufe üblich

Nächstenliebe nach den Geboten der Bibel und der Kirche, ggf. Fleischverzicht freitags

durch Krankenhaus- oder Heimatseelsorger: Spendung der Sakramente (Taufe, Bußsakrament, Eucharistie, Krankensalbung)

evtl. Hände falten, ggf. Totengebet durch Freunde und Gemeinde

evangelisch

Taufe/Nottaufe, Kindstaufe üblich

Lebensführung nach den Geboten der Bibel, ggf. in der Karwoche Verzicht auf Fleisch und Alkohol

Begleitung durch Krankenhausseelsorger oder Heimatpfarrer

evtl. Hände falten

freievangelisch

häufig keine Kindstaufe, Segnung der Kinder

gemeindegebunden, bibelorientiert, manchmal Ernährungsvorschriften (vegetarisch)

durch Heimatgemeinde

häufig keine besonderen Riten

orthodox

Kindstaufe mit starren liturgischen Anteilen, daher wenn möglich durch Heimatpfarrer durchführen lassen

Stundengebete bei frommen orthodoxen Christen, Fastenzeiten vor allen großen Feiertagen des Jahres

durch Gemeindepfarrer, Krankenhausseelsorger möglich

Totengebet durch Priester oder Angehörige

Christengemeinschaft

Kindstaufe üblich

anthroposophische Lebensweise nach Rudolph Steiner

viel Ruhe, psychologische Auseinandersetzung mit Krankheit und Tod, Sterben zu Hause ermöglichen, Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen

Glaube an die Wiedergeburt, Aufbahrung des Toten möglichst zu Hause oder in angenehmer Atmosphäre

Zeugen Jehovas

keine Kindstaufe, Nottaufe hat für Zeugen Jehovas keine Bedeutung

nach den Vorschriften der Gemeinschaft, keine Feste, lehnen Bluttransfusionen ab

keine gesonderten Sterberiten

keine Zeremonie, kein Besuch fremder Seelsorger erwünscht

islamisch

Vorsingen von Koranabschnitten, Beschneidung der Knaben, christliche Nottaufe wird nicht anerkannt

nach dem Koran, Gebetszeiten, Hygiene- und Essensvorschriften, kein Schweinefleisch, starkes Schamgefühl

Vorsingen von Koransuren, Ausrichtung nach Mekka, Begleitung durch Angehörige ist religiöse Pflicht, Sterbender darf weder dursten noch hungern

Kopf des Verstorbenen Richtung Mekka, Hände seitlich am Körper, Leichnam wird rituellen Waschungen unterzogen

jüdisch

ins Judentum hineingeboren, Beschneidung der Knaben

Einhalten der Gebote aus den 5 Büchern Mose, Sabbatruhe, Achtung vor dem Leben, koscheres Essen

Begleitung durch Rabbi und Gemeinde, „positiver“ Umgang mit dem Leben bis zum Schluss, Ablehnung lebensverkürzender Maßnahmen

Totenwache, Waschung durch Rabbi, Totenruhe wichtig, Obduktion nur aus wichtigen Gründen erlaubt, ritualisierte Trauervorschriften

fernöstliche Religionsgemeinschaften

Aufnahmeriten bei heranwachsenden Jugendlichen unterschiedlich

geprägt von Glauben an Karma (Schicksal) und Reinkarnation, Meditation, Askese, Opfer, Eremitage, oft vegetarische Ernährung

keine seelsorgerische Begleitung, ruhige Umgebung, evtl. besondere Bedingungen für erfolgreiche Reinkarnation einhalten

Toten möglichst lange nicht bewegen

21

470

21.4 Sterbebegleitung

Nottaufe Eltern

a ●

Bei jedem schwer erkrankten Kind müssen die Eltern nach ihrem Wunsch zur Taufe des Kindes befragt werden. Häufig sind auch ältere Kinder noch nicht getauft, sodass die Nottaufe nicht nur für Neugeborene in Erwägung gezogen werden muss.

Vollzug der Nottaufe Die Nottaufe kann von jedem Menschen, jeder Pflegefachkraft, auch wenn sie selbst nicht christlich ist, aber die notwendige Einstellung dazu hat, gespendet werden. Der Kopf des Kindes wird hierbei mit etwas Wasser übergossen. Mit der Formel „[Name des Kindes], ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes“ wird das Kind in Anwesenheit von ein bis zwei Zeugen kirchenrechtlich gültig getauft. Falls bekannt und

erwünscht, kann die Pflegefachkraft noch ein „Vater unser“, das Glaubensbekenntnis, einen Bibelspruch oder ein frei formuliertes Gebet sprechen. Bleibt das Kind am Leben, wird die Taufe nicht mehr wiederholt. Es kann eine Aufnahmefeier in die Gemeinde als Familienfeier nachgeholt werden. Die Taufe wird im Dokumentationssystem festgehalten und das Vollzugsformular mit Unterschrift der Zeugen an die Krankenhausseelsorge weitergeleitet, die sich um die Eintragung in das Familienstammbuch und das kirchliche Taufregister kümmert. Die Nottaufe wird in unmittelbarer Lebensgefahr auf Wunsch der Eltern durchgeführt. Der Wille der Eltern sollte hierzu immer respektiert werden. Sind die Eltern nicht erreichbar, kann nach dem mutmaßlichen Wunsch der Eltern verfahren werden. Wenn es der Allgemeinzustand des Kindes zulässt, kann es auch geplant in der Klinik mit einer kleinen Feier durch den Seelsorger getauft werden.

Lernaufgabe

M ●

Informieren Sie sich, wo in Ihrer Klinik die Materialien für eine Nottaufe vorhanden sind. Wie können Sie eine Nottaufe in einer lebensbedrohlichen Situation ansprechend gestalten?

Die kirchliche Beerdigung eines nicht getauften Kindes sollte keine Schwierigkeiten mehr bereiten. Die Eltern sind über diese Tatsache zu informieren. Der Wunsch nach einer kirchlichen Beerdigung sollte nicht der einzige Grund sein, dem Kind eine Nottaufe zukommen zu lassen, wichtig ist die religiöse Grundeinstellung der Familie. Eine Nottaufe bei einem Kind nicht religiöser Eltern oder Eltern anderer Religionen, wird von diesen i. d. R. nicht anerkannt und bedeutet daher höchstwahrscheinlich kein Problem für die Familie. Dennoch sollte der Wunsch der Familie sofern irgendwie möglich erfragt und respektiert werden.

21

1

Teil III Unterstützung und Betreuung in speziellen Pflegesituationen

22 Das gesunde Neugeborene und seine Eltern

475

23 Pflege der Schwangeren und der Wöchnerin

490

24 Pflege von Frühgeborenen

510

25 Pflege von Kindern mit Störungen in der Neugeborenenperiode

526

26 Pflege von Kindern mit Störungen des Sinnessystems

534

27 Pflege von Kindern mit Störungen des Atemsystems

570

28 Pflege von Kindern mit Störungen des Herz-Kreislauf-Systems

586

29 Pflege von Kindern mit Störungen des Blutsystems

596

30 Pflege von Kindern mit onkologischen Erkrankungen

606

31 Pflege von Kindern mit Störungen des Verdauungssystems

622

III

22.2 Erstversorgung

22 Das gesunde Neugeborene und seine Eltern Heidrun Beyer

22.1 Bedeutung Die Geburt eines Kindes bedeutet für die Eltern i. d. R. ein großes, freudiges Ereignis. Sie präsentieren stolz ihr Neugeborenes und genießen die Beachtung, die sie von der Umwelt durch ihr neugeborenes Kind erfahren. Das Wohlergehen ihres Kindes bestimmt jetzt ihren Lebensrhythmus, denn es erfordert ihre ganze Liebe und Aufmerksamkeit. Für kleine Geschwister bedeutet der Neuankömmling häufig eine große Konkurrenz, da sie nicht mehr die uneingeschränkte Beachtung der Eltern erfahren. Aber auch für den Partner kann diese neue Situation mit der Zeit belastend werden, sofern er sich zweitrangig fühlt. Von allen Beteiligten wird deshalb viel Einfühlungsvermögen und diplomatisches Geschick gefordert, um den Anforderungen, die an sie gestellt werden, gerecht zu werden. Ein verständnisvoller Partner ist für die Frau eine große Hilfe, besonders dann, wenn er auch Pflegetätigkeiten bei seinem Kind übernimmt. Durch den kleinen Freiraum, den die Frau durch die Hilfe ihres Partners erhält, kann sie dann neue Kraft schöpfen.

Aber auch für das Neugeborene bedeutet die Geburt eine massive Umstellung. Die Organe müssen nach der Trennung vom mütterlichen Organismus eigene Funktionen übernehmen. Das Neugeborene benötigt daher neben Liebe und Zuwendung der Eltern eine aufmerksame Beobachtung vonseiten des Fachpersonals (Hebammen, Gesundheits- und Kinderkrankenpflegepersonal, Laktationsberaterinnen) sowie der gut angeleiteten Eltern, damit pathologische Veränderungen rechtzeitig erkannt und entsprechende Maßnahmen getroffen werden können. ▶ Reifezeichen. Ein reifes Neugeborenes wird zwischen der 38. und 42. Schwangerschaftswoche geboren. Es weist charakteristische Reifezeichen auf, die zusammen ein Bild über das Gestationsalter (Tragzeit) vermitteln (▶ Tab. 22.1). Übertragene Neugeborene werden nach der 42. Schwangerschaftswoche geboren. Sie gelten als Risikokinder, da die Plazenta ihre vielfältigen Aufgaben, insbesondere den Nährstoff- und Gasaustausch nicht mehr ausreichend erfüllen kann.

▶ Dauer der Neugeborenenperiode. Sie dauert vom Zeitpunkt des Abnabelns bis zum 28. Lebenstag und ist gekennzeichnet durch massive Umstellungs- und Anpassungsvorgänge der Organe an die veränderten Bedingungen außerhalb des schützenden Uterus und der Versorgung durch die Plazenta.

22.2 Erstversorgung 22.2.1 Maßnahmen im Kreißsaal Der Geburtsvorgang, insbesondere die Austreibungsphase, ist für das Neugeborene eine risikoreiche Zeit. Je länger sie dauert, desto mehr besteht die Gefahr von Hypoxien, d. h. eines Sauerstoffmangels infolge uteriner Durchblutungsstörungen während der Presswehen. Eine wichtige Aufgabe des Geburtshelfers ist es, sowohl die Gebärende als auch das ungeborene Kind kontinuierlich zu überwachen. Der erste Atemzug wird nach ca. 20 Sekunden durch mechanische und thermische Reize wie Berührung, Licht, Kälte sowie O2-Mangel und CO2-Anstieg aus-

22

Tab. 22.1 Reife- und Übertragungszeichen. Reifezeichen

reifes Neugeborenes

Kopfumfang

35 cm (33 – 37 cm)

übertragenes Neugeborenes

Gewicht

3400 g (3000 – 4000 g)

geringeres Gewicht (Missverhältnis zwischen Körpergewicht und -länge durch Plazentainsuffizienz)

Länge

51 cm (48 – 55 cm)

Kinder sind evtl. größer

Ohrmuschel- und Nasenknorpel

gut tastbar, (Rand des Ohrs) ist vollständig ausgebildet

Brustdrüsengewebe und Brustwarzenbildung

fühl- und messbar, ∅ 6 – 7 mm, Warzenvorhof über Hautniveau

Finger- und Fußnägel

überragen die Kuppen

plantare Hautfältelung

gesamte Sohle einschließlich der Ferse mit Hautfalten bedeckt

Hautfarbe und Hautbeschaffenheit, einschließlich des Vorhandenseins des Unterhautfettgewebes

rosig, weich, samtig und glatt, Unterhautfettgewebe gut ausgebildet, besonders am Gesäß und an den Armen

Kopfhaar

kräftig, seidig, jedes Haar erkennbar

Vernix caseosa (Käseschmiere)

noch vorhanden

nicht mehr vorhanden

Lanugobehaarung

nicht mehr vorhanden mit Ausnahme zwischen den Schulterblättern

nicht mehr vorhanden

Genitalbereich Mädchen

große Labien bedecken die kleinen

Genitalbereich Junge

Hoden sind im Skrotum tastbar

lange Finger- und Fußnägel, evtl. grünlich verfärbt durch mekoniumhaltiges Fruchtwasser

schmutzig weiß, evtl. grünliche Verfärbung durch mekoniumhaltiges Fruchtwasser, faltige, trockene Haut, Waschfrauenhände, da die Vernix caseosa aufgebraucht ist und die Haut nicht mehr schützt

5

Das gesunde Neugeborene und seine Eltern

Tab. 22.2 Apgar-Score. Punkte

0

1

2

Atmung

fehlt

schnappend, unregelmäßig

regelmäßig

Puls (Herzfrequenz)

fehlt

unter 100

über 100

Grundtonus (Muskeltonus)

schlaff

reduzierte bis träge Bewegungen

aktive, kräftige Bewegungen

Aussehen (Hautfarbe)

blass, zyanotisch

rosig, Extremitäten zyanotisch

rosig

Reflexe

fehlen

Grimassen schwach ausgeprägt

niesen und husten, schreit kräftig

Bewertung des Apgar-Scores: 10 – 9 Punkte = sehr guter bis guter Allgemeinzustand 8 – 6 Punkte = erfordert eine erhöhte Beobachtung unter 6 Punkte = Risikokind, es muss eine Überweisung in die Kinderklinik erfolgen



Tab. 22.3 Umbilikal-Aziditätsschema (angepasst an das Apgar-Schema). pH-Wert

Bewertung

Punkte

7,35 – 7,30

optimale Azidität

10 – 9

7,29 – 7,20

noch normale Azidität

8–7

7,19 – 7,10

leichte bis mäßige Azidose

6–5

7,09 – 7,00

mittelgradige bis fortgeschrittene Azidose

4–3

6,90 – 6,89

schwere Azidose

2–1

< 6,80

sehr schwere Azidose

0

22 gelöst und kann durch Streicheln der Fußsohlen oder des Rückens stimuliert werden. Bei einer vaginalen Entbindung werden durch den engen Geburtskanal ca. 15 ml Flüssigkeit aus den Atemwegen gepresst und infolge der passiven Ausdehnung des Thorax gelangt die gleiche Menge Luft in die Atemwege.

Absaugen Laut der AWMF-Leitlinie „Betreuung von gesunden reifen Neugeborenen in der Geburtsklinik“ soll ein vitales, spontan atmendes Neugeborenes ohne Verlegung der Atemwege nicht abgesaugt werden. Auch bei grünem Fruchtwasser bietet das Absaugen nach dem Durchtritt des Kopfes, vor dem ersten Schrei, keine Vorteile. Zum einen ist es als Atemstimulus nicht notwendig, zum anderen kann es bei dem Neugeborenen eine unangenehme Erinnerung wecken, die dann beim Anlegen an die Brust evtl. zu einer Abwehrhaltung führen kann. Weiterhin besteht durch das Absaugen die Gefahr einer Bradykardie durch Vagusreiz und Apnoe sowie von Schleimhautläsionen.

Asphyxie-Score Die Vitalitätskontrolle des Neugeborenen erfolgt mithilfe des Apgar-Scores, auch als Apgar-Index bezeichnet, der von der amerikanischen Ärztin Virginia Apgar (1909 – 1974) entwickelt wurde. Das Beurteilungsschema wird von der Hebamme oder dem Gynäkologen nach 1, 5 und 10 Minuten mithilfe eines Punkte-

476

schemas unter Berücksichtigung der Kriterien Herzschlag, Atmung, Muskeltonus, Reflexerregbarkeit und Hautfarbe durchgeführt (▶ Tab. 22.2). Die Apgar-Werte sind i. d. R. nach 5 und 10 Minuten höher, da sich die Organe des Neugeborenen bereits an die selbstständigen Funktionen adaptiert haben. Der Apgar-Score wird durch die Blutgas-pH-Analyse des Nabelschnurblutes ergänzt, das durch Punktion der Nabelschnurarterie entnommen wird. Das Umbilikal-Aziditätsschema dient bei allen Neugeborenen der Erkennung einer Asphyxie. Bei Frühgeborenen erhält die Blutgas-pH-Analyse eine besondere Bedeutung, da der Apgar-Wert infolge der Unreife keine verlässliche Aussage über den Vitalitätszustand zulässt. Die Skala von 10 – 0 umfasst den pH-Bereich von 7,35 bis < 6,80 und ist in der Bewertung dem Apgar-Schema angepasst (▶ Tab. 22.3). Normalwerte aus der Umbilikalarterie: pH 7,22–7,42. Eine Azidose besteht bei pH < 7,20. Eine schwere Maladaptation liegt bei einem pH < 7,10 vor.

Abnabeln Der Zeitpunkt des Abnabelns orientiert sich am Zustand des Kindes, da größere Blutmengen zwischen dem Neugeborenen und der Plazenta verschoben werden. ● Sofortabnabelung: bei Frühgeborenen, straffer Nabelschnurumschlingung, RhUnverträglichkeit und Neugeborenen mit niedrigen Apgar-Werten, damit sofort mit der Erstversorgung und Reanimation begonnen werden kann.



Frühabnabelung: nach ca. 1 – 11/2 Min. bei noch pulsierender Nabelschnur Spätabnabelung: nach Auspulsieren der Nabelschnur. Hierbei erhält das Kind bis zu 30 ml Blut. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt, mindestens 3 Min. mit der Durchtrennung zu warten.

Merke

H ●

Bei Kindern mit einer Rhesus-Unverträglichkeit verzichtet man auf die Blutverschiebung, um einen Icterus gravis (schweren Ikterus) nicht zu verstärken.

▶ Durchführung. Zur vorläufigen Abnabelung wird ca. 7 cm vom kindlichen Körper entfernt eine sterile Klemme und ca. 4 cm entfernt eine zweite Klemme gesetzt. Mithilfe einer sterilen stumpfen Schere wird dann die Nabelschnur zwischen beiden Klemmen durchgeschnitten, die Öffnung der Schere sollte dabei nicht zum Kind zeigen, um eine Verletzung zu vermeiden (▶ Abb. 22.1). ▶ Blutentnahme aus Nabelschnurblut. Nach dem Abnabeln wird Blut der Nabelschnur zur Bestimmung des Säure-BasenHaushaltes entnommen. Weitere Blutentnahmen können notwendig sein: ● Bestimmung von Blutgruppe und Rhesusfaktor bei Rh-negativer Mutter (Patentiell gefährlich: Mutter negativ, Baby positiv) ● Coombs-Test (Antiglobulintest) ● Bilirubinbestimmung ● Blutbild und Blutkultur bei Verdacht auf intrauterine Infektion ● Stammzellentnahme (Einlagerung in Stammzellendepots für zahlreiche Therapien z. B. Leukämie)

Eltern-Kind-Beziehung ▶ Bonding. Mit dem Begriff „Bonding“ wird der Aufbau einer innigen Beziehung zwischen dem Kind und seinen Eltern be-

22.2 Erstversorgung

Abb. 22.1 Durchschneiden der Nabelschnur. Das Durchschneiden der Nabelschnur erfolgt im Schutz der Hand mithilfe einer stumpfen Schere. (Abb. nach: Stiefel A, Geist C, Harder U. Hebammenkunde. Lehrbuch für Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett. Thieme; 2013)

zeichnet. Das Neugeborene wird nach dem Abnabeln abgetrocknet und der Mutter, je nach Zustand, auf den Bauch gelegt. Zum Wärmeerhalt wird es mit einem vorgewärmten Molton- oder Badetuch zugedeckt. Der erste Kontakt von Haut zu Haut fördert die enge Bindung von Mutter und Kind, auch hat das Neugeborene Gelegenheit, den Geruch und die Stimme der Mutter kennenzulernen. Das erste Bonding sollte idealerweise innerhalb der ersten 2 Lebensstunden erfolgen, da die Sensibilität bei Mutter und Kind in dieser Zeit am stärksten ist. Früher Erstkontakt und häufige, intensive und ungestörte Beobachtungs- und Interaktionsmöglichkeit in den ersten Lebenstagen erleichtern es sowohl den Eltern als auch dem Kind, einander kennenzulernen und eine herzliche und intensive Beziehung zueinander aufzubauen (Montada 2002). ▶ Erstes Stillen. Bei bestehendem Stillwunsch sollte das Neugeborene sofort an die Brust angelegt werden, da unmittelbar nach der Geburt der Saugreiz für ca. 20 – 50 Minuten am stärksten ausgeprägt ist. Der Suchreflex befähigt das Neugeborene, ohne Hilfe die Brustwarze zu finden. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, die weitere Versorgung des Neugeborenen auf später zu verschieben, soweit es der Allgemeinzustand zulässt. Durch den Saugreiz wird die Milchproduktion angeregt, außerdem erhält das Neugeborene die ersten Tropfen des wertvollen Kolostrums (S. 342). Die kontinuierliche Beobachtung des Neugeborenen und der Mutter durch die Hebamme muss dabei gewährleistet sein, auch darf die Erhebung des Apgar-Werts nach 5 und 10 Minuten nicht vergessen werden.

Abb. 22.2 Identifikationsband. Das Identifikationsband soll die Verwechslung eines Neugeborenen verhindern (Symbolbild). (Foto: K. Oborny, Thieme)

▶ Identifikationsband. Das Neugeborene erhält kurz nach der Geburt ein beschriftetes Namensbändchen mit Geburtsdatum und -nummer, das am Handgelenk befestigt wird (▶ Abb. 22.2). In manchen Klinken erhält auch die Mutter ein entsprechendes Bändchen. So soll ein Verwechseln des Neugeborenen verhindert werden. Nach einem Kaiserschnitt wird das Kind vor der Erstversorgung durch die Hebamme immer erst der Mutter gezeigt, um u. a. einem Misstrauen bezüglich einer Verwechslung des Kindes vorzubeugen.

Merke

H ●

Bereiche, in denen Neugeborene versorgt werden, sind vor dem Zutritt von Unbefugten zu schützen.

▶ Vater-Kind-Beziehung. Der Vater, der bei der Geburt anwesend war, hat jetzt die Gelegenheit, erste Kontakte mit seinem Kind aufzunehmen, sodass die Voraussetzungen zu einer intensiveren Vater-Kind-Beziehung gegeben sind.

Endgültige Nabelversorgung Die Nabelschnur wird anschließend unter aseptischen Bedingungen versorgt, indem eine sterile Nabelklemme ca. 2 – 3 cm vom Nabelring, d. h. vom Hautansatz entfernt, gesetzt wird (▶ Abb. 22.3). Die restliche Nabelschnur wird mithilfe einer sterilen stumpfen Schere abgeschnitten, mit einem Schleimhautdesinfektionsmittel, z. B. Octenisept, desinfiziert und anschließend mit einer sterilen Kompresse geschützt. Bei Risikokindern wird der Nabelschnurrest wenige Zentimeter länger belassen, damit ein Nabelvenen- oder ein Nabelarterienkatheter gelegt werden kann.

Abb. 22.3 Nabelversorgung. Der Nabelschnurrest wird mithilfe einer sterilen Nabelschnurklemme versorgt. (Foto: K. Oborny, Thieme)

Konakion-Gabe Konakion, ein Vitamin-K-Präparat, wird prophylaktisch zur Unterstützung der Blutgerinnung verabreicht. Vitamin K ist ein fettlösliches Vitamin, das von den Darmbakterien gebildet wird. Da der Darm beim Neugeborenen anfangs noch steril ist, setzt die Bildung des Vitamins K erst nach Verabreichung der Milchnahrung ein, wodurch die Produktion der Vitamin-K-abhängigen Gerinnungsfaktoren verzögert abläuft. Der industriell hergestellten Nahrung wird deshalb Vitamin K zugefügt. Muttermilch enthält zu wenig Vitamin K, weshalb gestillte Kinder hinsichtlich Blutungen stärker gefährdet sind.

22

Durchführung Bei den Vorsorgeuntersuchungen des Neugeborenen (U1, U2 und U3) werden je 2 Tropfen Konakion (entspricht 2 mg Vitamin K) oral verabreicht. Für die orale Verabreichung stehen spezielle Applikationshilfen zur korrekten Dosierung und Verabreichung zur Verfügung. In besonderen Situationen, z. B. bei extremer Unreife, kann die Gabe von Vitamin K auch subkutan oder evtl. intramuskulär erfolgen. Wird diese Prophylaxe nicht durchgeführt, kann es bei Neugeborenen zwischen dem 3. und 5. Lebenstag zu einer Melaena neonatorum vera, d. h. blutigen Stühlen, kommen. Wird die Darmblutung von Haut- und Schleimhautblutungen sowie evtl. von Blutungen in Bauchhöhle, Lunge, Leber und Gehirn begleitet, wird das lebensbedrohliche Krankheitsbild als Morbus haemorrhagicus neonatorum bezeichnet.

7

Das gesunde Neugeborene und seine Eltern

22.2.2 Einschätzen des Gesundheitszustandes Untersuchung des Neugeborenen Das Neugeborene wird nach der Geburt vom geburtshilflichen Personal (Arzt oder Hebamme) hinsichtlich ● Allgemeinzustand (U1), ● Reifezeichen (S. 475), ● Geburtsverletzungen und ● Fehlbildungen untersucht. Es werden Herz- und Atemfrequenz ermittelt und die Körpertemperatur rektal gemessen, sofern keine Analatresie vorliegt. Der Befund wird präzise dokumentiert.

22

▶ Körpermesswerte. Das Körpergewicht des Neugeborenen wird mithilfe der Säuglingswaage und die Körperlänge mittels eines Maßbandes ermittelt, das der Hüftund Kniebeugung folgend angelegt wird. Keinesfalls sollte das Neugeborene in einer Messmulde gestreckt werden, da es zu einer Kapselschädigung im Hüftgelenk kommen kann. Kopf- und Brustumfang werden mit dem Maßband und die Durchmesser von Kopf und Schultern mit dem Beckenzirkel festgestellt und notiert. Folgende Kopfmaße werden ermittelt: Hinterhauptumfang, Hutmaß und biparietaler Kopfumfang (▶ Abb. 22.4).

H ●

Merke

Gewicht, Länge und Kopfumfang sind dokumentationspflichtig und gelten als erhoben, wenn sie innerhalb der 1. Lebensstunde ermittelt wurden.

▶ Fehlbildungen. Der Gaumen des Neugeborenen wird mit dem Zeigefinger abgetastet, um Spaltbildungen auszuschließen. Bei Verdacht auf eine Fehlbildung

c a b

Abb. 22.4 Kopfmaße. Hinterhauptumfang (a), Hutmaß (b), biparietaler Kopfumfang (c).

478

kann durch das rektale Einführen eines Fieberthermometers eine Anal- und mithilfe eines oral eingeführten Absaugkatheters eine Ösophagusatresie festgestellt werden. ▶ Abstrich. Bei einem vorzeitigen Blasensprung (älter als 18 Stunden) wird von der Hebamme zum Ausschluss einer Neugeboreneninfektion beim Neugeborenen ein Abstrich beider Ohren kurz nach der Geburt abgenommen. ▶ Fontanellen. Dies sind Knochenlücken am kindlichen Schädel, die sich nach einer bestimmten Zeit schließen. Sie werden abgetastet, um eine verfrühte Verknöcherung festzustellen. Die Schädelknochen können, bedingt durch den engen Geburtskanal, leicht übereinandergeschoben werden, sodass auf dem Schädeldach eine leichte Wulst zu tasten ist. Diese Erscheinung ist bedeutungslos und gleicht sich von selbst wieder aus.

Definition

L ●

Die große Fontanelle ist eine rautenförmige Lücke, die sich zwischen dem 9. und maximal 26. Lebensmonat verschließt. Die kleine Fontanelle ist dreieckig und schließt sich im ersten Vierteljahr. Auffälligkeiten müssen dem Arzt mitgeteilt werden.

▶ Geburtsbedingte Weichteilverletzungen. Der Durchtritt des Kopfes durch den engen Geburtskanal führt häufig zum Auftreten von Verletzungen. Ursachen können Vakuum-, Zangengeburten oder Druckschwankungen durch einen zu schnellen Durchtritt des Kopfes sein. ▶ Caput succedaneum. Sie wird als Geburtsgeschwulst bezeichnet und ist als teigige, ödematöse Schwellung am Hinterkopf des Neugeborenen tastbar. Sie entsteht als Druckfolge beim Durchtreten des Kopfes durch den Beckenboden. Die Geburtsgeschwulst befindet sich zwischen behaarter Kopfhaut und Kopfschwarte (Sehnenhaube) und kann sich über den gesamten Hinterkopf erstrecken (▶ Abb. 22.5). Durch die Verwendung einer Zange oder Saugglocke (Unterdruck) können zusätzliche Hautabschürfungen entstehen, die zu einer erhöhten Infektionsgefahr beitragen. Normalerweise bildet sich die Geburtsgeschwulst in den ersten Lebenstagen problemlos zurück. ▶ Kopfschwartenhämatom. Die blutigödematöse Schwellung im Bereich des Kopfes entsteht ebenfalls infolge von Druck und ist zwischen Kopfschwarte

(Einheit von Haut, Unterhaut und Sehnenhaube) und Periost (Knochenhaut) lokalisiert (▶ Abb. 22.5). ▶ Kephalhämatom. Es handelt sich um eine Blutansammlung, die sich zwischen der Knochenhaut und den Knochen der Schädelkalotte befindet und daher durch die Schädelnähte des jeweiligen Knochens begrenzt wird (▶ Abb. 22.5 u. ▶ Abb. 22.6). Das Kephalhämatom entsteht ebenfalls während des Schädeldurchtritts, indem die Blutgefäße im Periost zerreißen. Das ausgetretene Blut hebt dann die Knochenhaut vom Knochen ab, sodass man sie als prallelastische Schwellung ein- oder doppelseitig tasten kann. Das Hämatom wird nicht punktiert, da Blut ein idealer Nähr-

Kephalhämatom Geburtsgeschwulst Kopfschwartenhämatom

Schädelkalotte Periost (Knochenhaut) Sehnenhaube behaarte Kopfhaut

Abb. 22.5 Geburtsbedingte Kopfverletzungen. Lokalisation von Geburtsgeschwulst, Kopfschwartenhämatom und Kephalhämatom.

Abb. 22.6 Kephalhämatom. Biparietales Kephalhämatom bei 4 Tage altem Neugeborenen. (Abb. aus: Jorch G, Costa S. Verletzungen des Schädels und der intrakraniellen Strukturen. In: Jorch G, Hübler A, Hrsg. Neonatologie. 1. Auflage. Stuttgart: 2015)

22.3 Verlegung des Neugeborenen

Tab. 22.4 Physiologische Neugeborenenreflexe. Neugeborenenreflexe

physiologisch

Erscheinungsbild

Suchreflex

bis Ende des 1. Lebensmonats nachweisbar

Auf Bestreichen der Wange wird der Mund verzogen und der Kopf zum Reiz hin gewendet.

Saugreflex

bis ca. 3. Lebensmonat nachweisbar

Das Kind führt saugende Bewegungen aus, sobald ein Gegenstand, z. B. Finger oder Sauger, in den Mund gesteckt wird.

Schreitphänomen (Marche automatique)

bis Ende des 1. Lebensmonats nachweisbar

In senkrechter Haltung werden durch Berühren einer Unterlage mit den Füßen Schreitbewegungen ausgeführt.

Moro- oder Umklammerungsreflex

bis 4.– 6. Lebensmonat nachweisbar

Bei Erschütterung der Unterlage oder plötzlichem Senken des Neugeborenen reagiert das Neugeborene mit Spreizen der Arme und Finger und anschließendem langsamen Zusammenführen der Arme über der Brust.

Rückgrat- oder Galantreflex

bis 4.– 6. Lebensmonat nachweisbar

Nach Bestreichen des Rückens längs der Wirbelsäule biegt diese sich galant zur gereizten Seite hin.

Hand- und Fußgreifreflex

bis 4.– 6. Lebensmonat nachweisbar

Nach Bestreichen der Handinnenfläche wird diese zur Faust geschlossen. Die Zehen führen bei Berühren der Fußsohle eine umgreifende Bewegung aus.

asymmetrisch tonischer Nackenreflex (ATNR) (Fechterstellung)

bis zum 6. Lebensmonat nachweisbar

Bei passivem Wenden des Kopfes zu einer Seite in Rückenlage werden Arm und Bein auf der „Gesichtshälfte“ gestreckt, auf der anderen Seite gebeugt.

Fluchtreflex

bis zum Ende des 2. Lebensjahres nachweisbar

Bei Bestreichen der Fußsohle erfolgt ein Zurückziehen des Beines (Fluchtreflex), Heben des äußeren Fußrandes und Dorsalflexion einer oder mehrerer Zehen.

Puppenaugenphänomen

bis zum 10. Lebenstag nachweisbar

Bei seitlicher Drehung des Kopfes bleiben die Augen stehen.

boden ist und eingedrungene Keime zu einer massiven Infektion führen können. Nach 3 – 6 Wochen ist es meist vollständig resorbiert. Eine periostale Knochenneubildung kann nach Resorption des Hämatoms als ringförmiger Wall getastet werden. ▶ Physiologische Neugeborenenreflexe. Bei der neurologischen Untersuchung werden sowohl der Zustand des Muskeltonus als auch der Reflexstatus des Neugeborenen kontrolliert (▶ Tab. 22.4). ▶ Pulsoxymetrie-Screening. Der Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zur „Einführung des Pulsoxymetrie-Screenings“ sieht vor, dass bei jedem in der Klinik geborenen Kind zwischen der 24. und 48. Lebensstunde ein Pulsoxymetrie-Screening erfolgt. Mithilfe eines am Fuß angebrachten Lichtsensors wird der Sauerstoffgehalt im Blut des Neugeborenen gemessen. Fällt dieser zur niedrig aus, kann ein Herzfehler die Ursache sein.

22.3 Verlegung des Neugeborenen Nach der Geburt werden Mutter und Kind für ca. 2–3 Stunden im Kreißsaal von der Hebamme betreut und beobachtet. Dies ist wichtig, da die erste Phase nach der Geburt sehr sensibel ist und z. B. das Risiko für Nachblutungen, Kreislaufinstabilität oder Adaptationsstörungen erhöht ist. Geht es Mutter und Kind nach der Geburt

gut, können sie gemeinsam auf die Wöchnerinnenstation verlegt werden. Eine mündliche und schriftliche Übergabe informiert über den Zeitpunkt des Blasensprungs, Farbe des Fruchtwassers, Stillwunsch, evtl. Komplikationen während der Geburt, Erkrankungen und Medikamente der Mutter, z. B. Diabetes mellitus, Epilepsie, Hepatitis.

22.3.1 Aufgaben der Neugeborenenpflege Das Pflegepersonal bzw. die Hebamme hat die Aufgabe, das Neugeborene sorgfältig zu beobachten, um Auffälligkeiten rechtzeitig zu erkennen. Diese müssen umgehend an den Arzt weitergeleitet und dokumentiert werden. Ist der Zustand des Neugeborenen schlecht, muss eine Verlegung in die Kinderklinik vorbereitet werden. Bei der Untersuchung (U2) ab dem 3. Lebenstag assistiert die Pflegefachkraft bei Bedarf dem Kinderarzt. Zwischen der 48. und 72. Lebensstunde führt die Pflegefachkraft die kapillare Blutentnahme für das Neugeborenen-Screening durch (S. 486). Liegt eine Indikation zur Fototherapie vor (S. 526), hat sie die Aufgabe, diese nach ärztlicher Anordnung auszuführen und die Eltern bei Bedarf zu informieren und zu beruhigen.

Eltern

a ●

22

Ein weiterer wichtiger Aufgabenbereich des Pflegepersonals ist die ausführliche und verständliche Information der Eltern zur gezielten Beobachtung und Versorgung ihres Kindes: ● Auffälligkeiten: Veränderungen (S. 482) der Hautfarbe (z. B. Ikterus), Hautbeschaffenheit, Stuhlkonsistenz und Verhalten des Kindes können von ihnen erkannt und unverzüglich an die betreuende Pflegefachkraft oder den Arzt weitergegeben werden. ● SIDS-Prävention (S. 426) (Sudden Infant Death Syndrome): Weiterhin werden den Eltern Maßnahmen zur SIDS-Prophylaxe, z. B. Rücken- und Seitenlage des Kindes, gezeigt und erklärt. ● Pflegerische Maßnahmen und hygienische Regeln: Die Eltern erhalten z. B. bei einer Brustdrüsenschwellung (S. 483) des Neugeborenen Informationen, um eine komplikationslose Rückbildung zu erreichen. Für unerfahrene Eltern ist z. B. die Anleitung zur Durchführung der Körperpflege oder der Versorgung des Nabels sehr hilfreich, da die Mütter i. d. R. am 3. Tag post partum entlassen werden. ● Ernährung: Auch die Beratung der Eltern bezüglich des Stillens und der weiteren Ernährung ihres Kindes ist eine maßgebliche Aufgabe des Pflegepersonals, da das Stillen (S. 500) einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung des Kindes hat.

9

22.3 Verlegung des Neugeborenen

Tab. 22.4 Physiologische Neugeborenenreflexe. Neugeborenenreflexe

physiologisch

Erscheinungsbild

Suchreflex

bis Ende des 1. Lebensmonats nachweisbar

Auf Bestreichen der Wange wird der Mund verzogen und der Kopf zum Reiz hin gewendet.

Saugreflex

bis ca. 3. Lebensmonat nachweisbar

Das Kind führt saugende Bewegungen aus, sobald ein Gegenstand, z. B. Finger oder Sauger, in den Mund gesteckt wird.

Schreitphänomen (Marche automatique)

bis Ende des 1. Lebensmonats nachweisbar

In senkrechter Haltung werden durch Berühren einer Unterlage mit den Füßen Schreitbewegungen ausgeführt.

Moro- oder Umklammerungsreflex

bis 4.– 6. Lebensmonat nachweisbar

Bei Erschütterung der Unterlage oder plötzlichem Senken des Neugeborenen reagiert das Neugeborene mit Spreizen der Arme und Finger und anschließendem langsamen Zusammenführen der Arme über der Brust.

Rückgrat- oder Galantreflex

bis 4.– 6. Lebensmonat nachweisbar

Nach Bestreichen des Rückens längs der Wirbelsäule biegt diese sich galant zur gereizten Seite hin.

Hand- und Fußgreifreflex

bis 4.– 6. Lebensmonat nachweisbar

Nach Bestreichen der Handinnenfläche wird diese zur Faust geschlossen. Die Zehen führen bei Berühren der Fußsohle eine umgreifende Bewegung aus.

asymmetrisch tonischer Nackenreflex (ATNR) (Fechterstellung)

bis zum 6. Lebensmonat nachweisbar

Bei passivem Wenden des Kopfes zu einer Seite in Rückenlage werden Arm und Bein auf der „Gesichtshälfte“ gestreckt, auf der anderen Seite gebeugt.

Fluchtreflex

bis zum Ende des 2. Lebensjahres nachweisbar

Bei Bestreichen der Fußsohle erfolgt ein Zurückziehen des Beines (Fluchtreflex), Heben des äußeren Fußrandes und Dorsalflexion einer oder mehrerer Zehen.

Puppenaugenphänomen

bis zum 10. Lebenstag nachweisbar

Bei seitlicher Drehung des Kopfes bleiben die Augen stehen.

boden ist und eingedrungene Keime zu einer massiven Infektion führen können. Nach 3 – 6 Wochen ist es meist vollständig resorbiert. Eine periostale Knochenneubildung kann nach Resorption des Hämatoms als ringförmiger Wall getastet werden. ▶ Physiologische Neugeborenenreflexe. Bei der neurologischen Untersuchung werden sowohl der Zustand des Muskeltonus als auch der Reflexstatus des Neugeborenen kontrolliert (▶ Tab. 22.4). ▶ Pulsoxymetrie-Screening. Der Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zur „Einführung des Pulsoxymetrie-Screenings“ sieht vor, dass bei jedem in der Klinik geborenen Kind zwischen der 24. und 48. Lebensstunde ein Pulsoxymetrie-Screening erfolgt. Mithilfe eines am Fuß angebrachten Lichtsensors wird der Sauerstoffgehalt im Blut des Neugeborenen gemessen. Fällt dieser zur niedrig aus, kann ein Herzfehler die Ursache sein.

22.3 Verlegung des Neugeborenen Nach der Geburt werden Mutter und Kind für ca. 2–3 Stunden im Kreißsaal von der Hebamme betreut und beobachtet. Dies ist wichtig, da die erste Phase nach der Geburt sehr sensibel ist und z. B. das Risiko für Nachblutungen, Kreislaufinstabilität oder Adaptationsstörungen erhöht ist. Geht es Mutter und Kind nach der Geburt

gut, können sie gemeinsam auf die Wöchnerinnenstation verlegt werden. Eine mündliche und schriftliche Übergabe informiert über den Zeitpunkt des Blasensprungs, Farbe des Fruchtwassers, Stillwunsch, evtl. Komplikationen während der Geburt, Erkrankungen und Medikamente der Mutter, z. B. Diabetes mellitus, Epilepsie, Hepatitis.

22.3.1 Aufgaben der Neugeborenenpflege Das Pflegepersonal bzw. die Hebamme hat die Aufgabe, das Neugeborene sorgfältig zu beobachten, um Auffälligkeiten rechtzeitig zu erkennen. Diese müssen umgehend an den Arzt weitergeleitet und dokumentiert werden. Ist der Zustand des Neugeborenen schlecht, muss eine Verlegung in die Kinderklinik vorbereitet werden. Bei der Untersuchung (U2) ab dem 3. Lebenstag assistiert die Pflegefachkraft bei Bedarf dem Kinderarzt. Zwischen der 48. und 72. Lebensstunde führt die Pflegefachkraft die kapillare Blutentnahme für das Neugeborenen-Screening durch (S. 486). Liegt eine Indikation zur Fototherapie vor (S. 526), hat sie die Aufgabe, diese nach ärztlicher Anordnung auszuführen und die Eltern bei Bedarf zu informieren und zu beruhigen.

Eltern

a ●

22

Ein weiterer wichtiger Aufgabenbereich des Pflegepersonals ist die ausführliche und verständliche Information der Eltern zur gezielten Beobachtung und Versorgung ihres Kindes: ● Auffälligkeiten: Veränderungen (S. 482) der Hautfarbe (z. B. Ikterus), Hautbeschaffenheit, Stuhlkonsistenz und Verhalten des Kindes können von ihnen erkannt und unverzüglich an die betreuende Pflegefachkraft oder den Arzt weitergegeben werden. ● SIDS-Prävention (S. 426) (Sudden Infant Death Syndrome): Weiterhin werden den Eltern Maßnahmen zur SIDS-Prophylaxe, z. B. Rücken- und Seitenlage des Kindes, gezeigt und erklärt. ● Pflegerische Maßnahmen und hygienische Regeln: Die Eltern erhalten z. B. bei einer Brustdrüsenschwellung (S. 483) des Neugeborenen Informationen, um eine komplikationslose Rückbildung zu erreichen. Für unerfahrene Eltern ist z. B. die Anleitung zur Durchführung der Körperpflege oder der Versorgung des Nabels sehr hilfreich, da die Mütter i. d. R. am 3. Tag post partum entlassen werden. ● Ernährung: Auch die Beratung der Eltern bezüglich des Stillens und der weiteren Ernährung ihres Kindes ist eine maßgebliche Aufgabe des Pflegepersonals, da das Stillen (S. 500) einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung des Kindes hat.

9

Das gesunde Neugeborene und seine Eltern

22.3.2 Physiologische Besonderheiten des Neugeborenen Körperproportionen Die Proportionen des Neugeborenen weisen im Vergleich zum Erwachsenen vielfältige Besonderheiten auf. Der Kopf ist im Verhältnis zur Körperlänge sehr groß, er beträgt beim Neugeborenen 1 : 4, beim Erwachsenen dagegen 1 : 8 (▶ Abb. 22.7). Dies bedeutet, dass über den Kopf viel Wärme abgegeben wird. Bei einem Transport muss daher der Kopf z. B. mit einer Mütze bedeckt werden.

Hauterscheinungen

22

▶ Fluor neonatorum und Vaginalblutung. Durch den Übertritt von Östrogen erfolgt eine Abstoßung von Vaginalepithel und grau-weißem Zervixschleim. Auch das Auftreten einer leichten Vaginalblutung ist bedeutungslos. ▶ Brustdrüsenschwellung und „Hexenmilch“. Die Brustdrüse ist die größte Hautdrüse des Menschen. Eine Schwellung der Brustdrüsen kann sowohl bei männlichen als auch bei weiblichen Neugeborenen auftreten und wird durch das plazentare Östrogen hervorgerufen (▶ Abb. 22.8). Eine geringe Absonderung von Flüssigkeit wird als „Hexenmilch“ bezeichnet, die durch das übergetretene Prolaktin hervorgerufen wird (S. 499).

Hormonabhängig

Hormonunabhängig

Bedingt durch die plazentaren Hormone Östrogen und Progesteron sowie die übergetretenen mütterlichen Hormone Androgen und Prolaktin werden verschiedene Reaktionen beim Neugeborenen ausgelöst.

Es treten weitere Hauterscheinungen auf, die nicht durch Schwangerschaftshormone hervorgerufen werden.

▶ Comedones neonatorum. Sie werden auch als Milien bezeichnet, was sich von lat. „milium“ (Hirse) ableitet. Es handelt sich um eine Talgstauung, die als weiße Pünktchen auf der Nase und den Wangen sichtbar wird. Sie entsteht durch Verhornung der obersten Epithelschicht, wahrscheinlich hervorgerufen durch die übergetretenen Östrogene. ▶ Acne neonatorum. Sie erinnert an die Pubertätsakne und tritt im Bereich von Nase, Stirn und Wangen auf. Sie wird vorwiegend durch die Produktion von Androgen hervorgerufen.

▶ Mongolenfleck. Es handelt sich um eine Pigmentanhäufung im Bereich von Gesäß, Oberschenkeln oder Rücken. Er kommt gehäuft bei dunkelhäutigen Neugeborenen vor und verschwindet meist im 4. Lebensjahr. ▶ Naevus flammeus. Diese Hauterscheinung wird im Volksmund auch als Storchenbiss bezeichnet und entsteht durch eine Gefäßerweiterung, die auch als Teleangiektasie bezeichnet wird. Die roten bis blauroten Flecken treten bevorzugt im Gesicht, an Stirn und Oberlid, aber auch im Bereich des Nackens auf und verschwinden i. d. R. innerhalb des 1.– 3. Lebensjahres (▶ Abb. 22.9). Eine Ausnahme bildet die Lokalisation im Nacken, da sie häufig ein Leben lang bestehen bleibt.

▶ Hämangiom. Es handelt sich um eine gutartige Gefäßgeschwulst durch kapillare Gefäßneubildungen und wird auch als Blutschwämmchen bezeichnet. Es tritt als erhabene, rote Stelle in Erscheinung, kann sehr dezent, aber auch ausgeprägt sein (S. 302) und bildet sich i. d. R. von selbst zurück. ▶ Erythema toxicum neonatorum. Die papulösen und urtikariellen Hautveränderungen, deren Ursache unbekannt ist, treten innerhalb der ersten 2 – 3 Tage im Bereich des Kopfes, Stammes und der Extremitäten auf. Eine Behandlung ist nicht notwendig. ▶ Lippenpolster oder Saugwälle. Sie entstehen vermehrt bei gestillten Kindern im Bereich der Lippen durch eine Verdickung der Epithelschicht. Durch dieses Polster wird ein luftdichter Abschluss der Mundhöhle während des Saugens erreicht. Keinesfalls darf es gewaltsam abgezogen werden, da Einrisse zu einer Infektion führen können. Das Lippenpolster bildet sich von selbst zurück.

Anpassung der Organe und Organsysteme Die Organe des Neugeborenen müssen sich nach der Geburt auf das selbstständige Funktionieren umstellen, was für das Neugeborene eine kritische Phase bedeutet.

Lunge Nach dem Abnabeln entfalten sich die Lungenbläschen (Alveolen) und gewährleisten den Gasaustausch von Sauerstoff und Kohlendioxid.

Abb. 22.8 Hormonabhängige Hauterscheinungen. Deutliche Brustdrüsenschwellung bei einem männlichen Neugeborenen mit Milchsekretion (sog. „Hexenmilch“). (Abb. aus: Speer C. Ausgewählte Untersuchungsbefunde einzelner Körperregionen. In: Rath W, Gembruch U, Schmidt S, Hrsg. Geburtshilfe und Perinatalmedizin. Thieme; 2010) Abb. 22.7 Körperproportionen. Neugeborenes im Vergleich zum Schulkind und Erwachsenen.

480

22.3 Verlegung des Neugeborenen

Leber

Abb. 22.9 Naevus flammeus. (Abb. aus: Ehrenfeld M, Prein J, Jundt G. Hämangiome. In: Schwenzer N, Ehrenfeld M, Hrsg. Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie. 4. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2010)

Infolge der funktionellen Unreife ist die Leber nicht in der Lage, das vermehrt anfallende Bilirubin zu bewältigen. Bilirubin entsteht durch den gesteigerten Abbau der fetalen Erythrozyten (Lebensdauer 70 Tage). In diesem Fall kommt es zum physiologischen Neugeborenenikterus, der ca. am 3. Lebenstag durch diskrete Gelbfärbung der Haut in Erscheinung tritt und i. d. R. innerhalb der 2. Woche ohne Therapie abklingt.

Magen-Darm-Trakt Voraussetzung für eine komplikationslose Atmung sind freie Atemwege, ein reifes Atemzentrum und ausreichend vorhandener Anti-Atelektase- oder Surfactant-Faktor, der ab der 35. Schwangerschaftswoche gebildet wird. Er kleidet als dünne Schicht tapetenartig die Lungenbläschen aus und bewirkt, dass sie sich genügend entfalten können. Dadurch wird deren Kollabieren verhindert, sodass der Austausch von Sauerstoff und Kohlendioxid problemlos erfolgen kann. Die Atemzüge bei einem reifen Neugeborenen sollten 35 – 45 pro Minute betragen.

In der ersten Zeit kann es durch unzureichenden Verschluss des Mageneinganges (Kardia) zu häufigem Spucken nach dem Trinken kommen. Im Darm befindet sich das anfangs sterile Mekonium, das sich durch Luftschlucken und orale Ernährung mit physiologischer Darmflora besiedelt. Bei Neugeborenen, die mit Muttermilch ernährt werden, siedelt sich das Bifidusbakterium an, das das Neugeborene vor einer Darminfektion schützt. Nach Verabreichung industriell hergestellter Nahrung entwickeln sich Kolibakterien.

Kreislauf

Nieren

Nach der Entfaltung der Lungen müssen sich die 3 während des fetalen Kreislaufes bestehenden Umgehungen (Shunts) durch den Anstieg des Sauerstoffpartialdruckes schließen. Kommt es unter der Geburt zu Sauerstoffmangel und Azidose, so bleibt der Verschluss der Umgehungen aus. Die postpartale Adaptation ist somit gestört, was sich durch Auffälligkeiten bezüglich Puls- und Atemfrequenz, Blutdruck, Hautfarbe sowie Sauerstoffsättigung zeigt. Die normale Herzfrequenz beträgt 120–140 Schläge pro Minute und der normale Blutdruck 60/35 (Deutsche Hochdruckliga e. V. DHL ® 2010; www. hochdruckliga.de), wobei dem systolischen Wert die größere Bedeutung zukommt.

Sie sind bei einem Neugeborenen in ihrer Funktion noch eingeschränkt, sodass das Konzentrations-, Filtrations- und Sekretionsvermögen noch gering ist. Es bestehen daher eine Ödemneigung und die Gefahr einer Kumulation, d. h. Anreicherung von Medikamenten im Körper. Aus diesem Grund sollten Medikamentengaben bei Neugeborenen unter sehr strenger Indikation erfolgen.

Merke

H ●

In den ersten Stunden können noch geringe Unregelmäßigkeiten der Herzfrequenz und labile Kreislaufverhältnisse bestehen, die sich durch leichte, marmorierte Verfärbung der Hände und Füße sowie ein livides Munddreieck äußern.

Wärmeregulation Diese ist bei einem Neugeborenen noch unzureichend, da das Temperaturregulationszentrum im Gehirn noch nicht genügend ausgereift ist und ein Temperaturverlust durch die relativ große Körperoberfläche im Verhältnis zum Körpergewicht gegeben ist. Hinzu kommt, dass Neugeborene noch nicht nennenswert schwitzen können, da zwar Schweißdrüsen angelegt, jedoch das Zusammenspiel zwischen ungenügend ausgereiftem Nervensystem und Schweißdrüsen noch nicht richtig funktioniert. Übermäßige Wärme kann somit nicht durch Schwitzen und entstehende Verdunstungskälte ausgeglichen werden. Das Neugeborene produziert fehlende Wärme nicht durch Muskelzittern, sondern durch oxidativen Umbau von braunem Fettgewebe, das sich beim Neugeborenen vorwiegend im Bereich des Rü-

ckens, Mediastinums sowie im Nacken befindet. Durch diesen Oxidationsvorgang entsteht Wärme und als unerwünschte Begleiterscheinung zusätzlich eine metabolische Azidose.

Immunsystem Das Immunsystem ist noch nicht genügend ausgereift, sodass das Neugeborene der Gefahr von Infektionen ausgesetzt ist. Bereits während des Geburtsverlaufs, wenn das Kind den engen Geburtskanal passiert, kann es mit unterschiedlichsten Erregern, z. B. Herpesviren, dem Soorpilz Candida albicans, Gonokokken, Chlamydien und Streptokokken in Kontakt kommen. Infektionspforten für pathogene Keime sind alle Körperöffnungen, insbesondere der noch nicht verheilte Nabelgrund, sowie alle Hautläsionen. Das Neugeborene besitzt jedoch einen Schutz vor bestimmten Infektionserkrankungen, z. B. Masern, Mumps, Röteln, die von der Mutter durchgemacht wurden, da die von ihr gebildeten Antikörper auf das Kind übergehen. Dies wird als Nestschutz bezeichnet und dauert für verschiedene Erkrankungen unterschiedlich lange.

22

▶ Haut. Die Epidermis ist beim Neugeborenen im Vergleich zum größeren Kind dünner, sodass die Barrierefunktion bezüglich Wasserverlust, Resorption von chemischen Substanzen, z. B. Hautpflegemittel sowie Reibung nur eingeschränkt vorhanden ist. ▶ Hydro-Lipid-Film. Der Hydro-LipidFilm der Haut baut sich ungefähr 2 Tage nach der Geburt auf und stabilisiert sich innerhalb des 1. Lebensmonats. Nach der Geburt ist die Säuglingshaut nahezu steril, da das Fruchtwasser sowie die Vernix caseosa antibakterielle Wirkstoffe enthalten. Das leicht saure Milieu des Hydrolipidfilms auf der Hautoberfläche, das durch Schweiß und spezielle Keime hervorgerufen wird, bewirkt einen physiologischen pH-Wert im Bereich von 5,4 – 6,7. Der Hydro-Lipid-Film hat die Aufgabe, die Haut vor pathogenen Mikroorganismen zu schützen. Eine Alkalisierung der Haut durch basische Pflege- und Reinigungsprodukte führt zur Störung der Abwehrlage, sodass durch Krankheitserreger, z. B. Staphylococcus aureus, bakterielle Hautinfektionen entstehen können. ▶ Nabel. Er trocknet bei fachgerechter Pflege normalerweise innerhalb des 5.– 10. Lebenstages ein und fällt anschließend ab. Bis zur Überhäutung ist der Nabel eine offene Wunde und stellt somit eine Eintrittspforte für pathogene Keime dar. Die Mumifikation verläuft bei feuchter Umge-

1

Das gesunde Neugeborene und seine Eltern bung und Vorhandensein eines langen Nabelschnurrestes verzögert.

Wahrnehmen von Veränderungen

▶ Nabelschnuranomalien. Nach dem Abfallen der Nabelschnur entsteht ein rundlicher Hautdefekt, der nach Granulation i. d. R. komplikationslos abheilt. Wächst die Bauchhaut auf die Nabelschnur, so spricht man von einem Hautnabel, der sich nach Monaten einzieht. Ein Amnionnabel liegt vor, wenn die Amnionhaut auf die Bauchdecke übergreift.

Durch die umfangreichen Umstellungsund Anpassungsvorgänge der Organe des Neugeborenen können massive Störungen auftreten. Eine aufmerksame Beobachtung des Neugeborenen ist daher sehr wichtig.

Merke

H ●

Abb. 22.10 Rooming-in. Es fördert die enge Mutter-Kind-Beziehung durch Berühren, Riechen, Hören und Sehen (Symbolbild). (Foto: oceandigital – stock.adobe.com)

Aus dem Nabelgrund kann es noch zu geringfügigen Blutungen kommen. Starke Blutungen können zu lebensbedrohlichen Zuständen führen.

▶ Herzfrequenz. Puls- und Herzfrequenz werden ebenfalls in bestimmten Abständen kontrolliert. Labile Kreislaufverhältnisse können z. B. durch unregelmäßige Herzfrequenz, Herzgeräusche, zyanotische Hände und Füße (Akrozyanose) sowie ein blass-livides Munddreieck erkannt werden.

22.3.3 Pflegebedarf einschätzen

22

Folgende Pflegeprobleme können beim Neugeborenen auftreten: ● veränderte Lebensbedingungen durch Geburtsstress und Verlust des schützenden Uterus ● Gefahr von Organstörungen durch Umstellung und Anpassung an die selbstständige Funktion ● Gefahr der Nabelheilungsstörung und Hautschädigung z. B. durch Infektion ● Gefahr einer erschwerten Eltern-KindBeziehung durch soziale Probleme

Abb. 22.11 Familienzimmer. Die Eltern versorgen ihr Kind selbstständig unter Anleitung des ausgebildeten Personals. Das Pflegepersonal oder die Hebamme werden jedoch nicht von der Verpflichtung einer gezielten Beobachtung des Neugeborenen entbunden (Symbolbild). (Foto: S. Kobold – stock.adobe.com)

22.3.4 Pflegeziele und -maßnahmen Ruhe und Geborgenheit Das Neugeborene benötigt ebenso wie die Mutter nach der Geburt Ruhe und Erholung. Mittlerweile gibt es in den meisten Kliniken die Möglichkeit zum sog. „Rooming-in“ (▶ Abb. 22.10). Das Neugeborene bleibt dabei Rund-um-die-Uhr bei der Mutter im Zimmer. Die Vorzüge des Rooming-in beinhalten die Förderung ● von Selbstvertrauen, ● einer engen Bindung und ● von Sicherheit im Umgang mit dem Kind. In den meisten Kliniken gibt es auch ein sog. Familienzimmer (▶ Abb. 22.11). In diesem können das Neugeborene, Mutter, Vater und ggf. auch ein Geschwisterkind Tag und Nacht zusammen sein (▶ Abb. 22.12).

482

▶ Atmung. Sie muss sorgfältig beobachtet werden. Die Häufigkeit der Beobachtung orientiert sich am Befinden des Neugeborenen. Zeichen einer erschwerten Atmung, die sich durch Nasenflügelatmung, Einziehungen am Brustkorb und Atemgeräusche zeigen, oder auftretende Atempausen (Apnoen) müssen sofort erkannt werden (S. 244).

Abb. 22.12 Enge Bindung. Durch das Rooming-in im Familienzimmer hat der Vater von Anfang an die Gelegenheit dabei zu sein. (Foto: K. Oborny, Thieme)

Merke

H ●

Diese ersten Stunden und Tage sollten dem ungestörten Zusammensein dienen, um Bindungen durch Berühren, Riechen, Hören und Sehen aufzubauen bzw. zu verstärken, was als „Bonding“ bezeichnet wird.

▶ Körpertemperatur. Durch regelmäßig durchgeführte Temperaturkontrollen können Veränderungen erkannt werden. ▶ Hautfarbe. Sie muss bezüglich des Zeitpunkts des Auftretens, Dauer sowie Intensität eines Ikterus gut beobachtet werden. Tritt eine Gelbfärbung bereits vor dem 3. Tag post partum auf, handelt es sich um eine Hyperbilirubinämie, die mithilfe einer Fototherapie nach ärztlicher Anordnung behandelt werden muss (S. 526). Bei einem Kephalhämatom (S. 478) kann es als Folge der Ansammlung von Blut zwischen Knochen und Periost des Kopfes zu einer Anämie kommen, die sich durch eine blasse Hautfarbe äußert. Eine Veränderung der Hautfarbe unter Belastung, z. B. Schreien, Trinken und Frieren, kann durch eine marmorierte Haut oder ein leicht livides Munddreieck in Erscheinung treten. Eine pathologische Bedeutung erhält sie im Ruhezustand und sollte deshalb abgeklärt werden. Außerdem müssen z. B. die Beschaffenheit der Haut sowie der Hautturgor (Hautspannung) beobachtet werden (S. 301). Die tägliche Beobachtung des Nabels einschließlich umliegender Haut ist sehr wichtig, da die Gefahr von Nabelheilungsstörungen und Infektionen gegeben ist. ▶ Trinkverhalten. Das Neugeborene sollte während und nach dem Stillen oder der Verabreichung der Flaschennahrung auf Würgen, Spucken oder Erbrechen beobachtet werden.

22.3 Verlegung des Neugeborenen ▶ Ausscheidungen. Sie müssen bezüglich des Zeitpunkts, der Menge und des Aussehens kontrolliert werden, s. Urinausscheidung (S. 365) und Stuhlausscheidung (S. 381). Der erste Stuhl, der als Mekonium bezeichnet wird, muss nach 24 bis spätestens 36 Stunden ausgeschieden werden, da bei einer verzögerten Ausscheidung die Gefahr eines Mekoniumileus besteht. Dieser kann ein Hinweis auf eine Darmatresie oder Mukoviszidose sein. Der erste Urin sollte innerhalb der ersten 12 – 24 Stunden post partum ausgeschieden werden. Ist das nicht der Fall, können Fehlbildungen im Bereich der Nieren oder ableitenden Harnwege vorliegen. Eine Besonderheit ist das Ziegelmehlsediment, das sich als orangefarbener Fleck in der Windel zeigt und von Eltern oft fälschlicherweise als Blut angesehen wird. Es handelt sich um eine physiologische Erscheinung, deren Ursache der Zerfall von Harnsäure ist (S. 365).

▶ Positionierung des Neugeborenen. Nach Empfehlungen der AWMF-Leitlinien sollten nicht monitorüberwachte Neugeborene zum Schlafen stets in Rückenlage positioniert werden. Die Rückenlage gilt heute als die sicherste Schlafposition zur Verhinderung des plötzlichen Kindstods (S. 426) (SIDS) innerhalb des 1. Lebensjahres.

▶ Verhalten des Neugeborenen. Es sollte aufmerksam bezüglich häufigen Weinens, Unruhe, Zuckungen und Schreckhaftigkeit beobachtet werden, um pathologische Ursachen wie z. B. Neugeborenenkrämpfe oder Schmerzen frühzeitig zu erkennen.

Unterkühlung kann beim Neugeborenen sehr schnell durch verminderte Temperaturregulation, zu geringe Energiezufuhr oder niedrige Umgebungstemperaturen entstehen. Überwärmung kann durch zu starkes Zudecken, Verwendung von Heizstrahlern und Flüssigkeitsverlust hervorgerufen werden. Folgende Maßnahmen helfen dem Neugeborenen, eine physiologische Körpertemperatur aufrechtzuerhalten: ● Die Körperwärme kann mithilfe eines vorgewärmten Neugeborenenbettes und weiterer wärmeerhaltender Maßnahmen, z. B. einer Wärmelampe beim Wickeln, konstant gehalten werden. Ist keine Wärmelampe vorhanden, werden die Pflegeverrichtungen zügig durchgeführt und unbekleidete Körperteile z. B. mit einer Mullwindel oder einem kleinen Handtuch bedeckt, um ein schnelles Auskühlen zu vermeiden. ● Die Raumtemperatur sollte tagsüber 20–22 °C betragen, auch müssen während des Waschens des Neugeborenen die Fenster geschlossen sein, um einen Wärmeverlust durch Luftbewegung zu verhindern. ● Dem Neugeborenen wird ausreichend Flüssigkeit angeboten, damit kein Durstfieber entsteht. Diese Maßnahme ist besonders wichtig, wenn die Kinder längere Zeit unter einer Wärmelampe versorgt werden, da über die dünne Haut vermehrt Flüssigkeit abgegeben wird.

Praxistipp Pflege

Z ●

Die Übergänge von einem physiologischen zu einem pathologischen Zustand sind oft fließend, daher müssen sorgfältige Beobachtung und Weitergabe aller beobachteten Auffälligkeiten durch das Pflegepersonal und die Eltern erfolgen, damit entsprechende diagnostische und therapeutische Maßnahmen erfolgen können.

Freie Atemwege Ein Absaugen von Nase und Mund kann bei großer Schleimsekretion notwendig werden. Bildet das Neugeborene schaumigen Speichel vor dem Mund oder hustet, wird der Pädiater informiert. Es kann versucht werden, eine Magensonde zu legen, um eine bislang unentdeckte Fehlbildung der Speiseröhre, eine sog. Ösophagusatresie, zu erkennen. Da eine Aspirationsgefahr, besonders bei vorliegender Fistelbildung besteht, darf keine Nahrung mehr verabreicht werden. Ein Erbrechen mit Gefahr einer Aspiration während der Verabreichung der Flasche wird vorgebeugt, indem die Kinder zwischendurch Gelegenheit erhalten aufzustoßen.

Merke

H ●

Eine Positionierung auf dem Bauch sollte nur erfolgen, wenn das Kind beaufsichtigt ist, da ein Zusammenhang zwischen der Bauchlage und dem plötzlichen Kindstod vermutet wird (S. 425).

Physiologische Körpertemperatur

Infektfreies Neugeborenes ▶ Hygiene. Die Pflegefachkraft informiert die Eltern bezüglich möglicher Infektionsherde für das Neugeborene. Um das Infek-

tionsrisiko so gering wie möglich zu halten, ist eine sorgfältige Händedesinfektion für alle Personen, die mit dem Neugeborenen in Kontakt kommen (Personal, Eltern, Besucher), wichtig. Besucher und Pflegepersonal mit Infektionen, z. B. Herpes labialis (Herpesbläschen immer mit Patch abdecken + Mundschutz + strikte Händehygiene!) oder Erkältungskrankheiten, sollten dem Neugeborenen fernbleiben oder einen Mundschutz tragen. Keinesfalls sollte ein zu enger Kontakt mit dem Neugeborenen erfolgen. Familie und Freunde werden diesbezüglich informiert. ▶ Kephalhämatom. Besondere Vorsicht ist bei einem Kephalhämatom (S. 478) geboten, da das ausgetretene Blut einen sehr guten Nährboden für Keime darstellt. Eine Berührung des Kopfes im Bereich des Kephalhämatoms muss daher vermieden werden, da häufig kleine Hautläsionen in diesem Bereich vorliegen, durch die pathogene Keime eindringen können. Das Kephalhämatom wird aus diesem Grund steril abgedeckt. Eine Positionierung auf dem Hämatom sowie eine Berührung mit Wasser müssen vermieden werden.

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▶ Brustdrüsenschwellung. Bei Vorliegen einer Brustdrüsenschwellung wird diese mit Watte abgepolstert. Jeglicher Druck sowie Manipulationen müssen unterbleiben, um einer Mastitis neonatorum oder einem evtl. folgenden Brustdrüsenabszess vorzubeugen. Wird „Hexenmilch“ abgesondert, deckt man die Brust mit einer sterilen Kompresse ab und vermeidet in diesem Bereich den Kontakt mit Wasser. In beiden Fällen werden die Eltern informiert, damit sie alle Vorsichtsmaßnahmen durchführen können und keine Unsicherheiten entstehen.

Intakte Körperhaut Merke

H ●

Die zarte Haut des Neugeborenen bedarf einer guten Pflege, um sie gesund zu erhalten.

▶ Reinigung. Das Neugeborene wird direkt nach der Geburt zügig abgetrocknet, um ein Auskühlen zu vermeiden. Lediglich starke Verunreinigungen sollten abgewaschen werden (meist werden bei der Erstversorgung auf der Wöchnerinnenstation Kopf und Haare gewaschen). Dabei werden zum Eigenschutz Handschuhe getragen. Die Vernix caseosa (sog. Käseschmiere) bleibt auf diese Weise erhalten und sollte einmassiert werden. Die von

3

Das gesunde Neugeborene und seine Eltern den Talgdrüsen gebildete fetthaltige Masse spendet der Haut Feuchtigkeit. Fast immer findet das erste Reinigungsbad zu Hause statt, wenn der Nabelstumpf abgefallen und verheilt ist. In manchen Kliniken wird aber auch bereits gebadet, wenn der Nabelstumpf noch nicht abgefallen ist. Der Säugling sollte 1–2-mal pro Woche gebadet werden (Angaben zur Häufigkeit variieren). Das Gesicht wird stets vor dem Eintauchen ins Badewasser gewaschen, um Augenkontakt mit pathogenen Keimen zu vermeiden.

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▶ Pflegeprodukte. Die Wahl der Pflegeprodukte sollte gezielt erfolgen, um den Hydro-Lipid-Film der Haut nicht zu zerstören und das Allergierisiko möglichst gering zu halten. Ausführliche Information und Beratung der Eltern ist diesbezüglich wichtig. Aufgrund der dünnen Epidermis und Kutis (S. 481) ist die Barrierefunktion der Haut verringert und erholt sich nur langsam, nachdem sie mit einer alkalischen Substanz wie z. B. Seife in Berührung gekommen ist. Aus diesem Grunde sollten nur warmes Wasser oder sehr milde und pH-hautneutrale Produkte ohne Konservierungs-, Farb- und Duftstoffe verwendet werden. Besonders gut eignen sich flüssige, synthetische Detergenzien (sog. Syndets). Diese sind frei von Seife und alkalischen Bestandteilen.



▶ Neugeborenenakne oder Säuglingsakne. Eine Neugeborenenakne, die häufig in der 3. Lebenswoche entsteht, ist harmlos und heilt i. d. R. ohne Therapie ab. Wichtig ist, dass die Pusteln nicht ausgedrückt werden und die Haut trocken bleibt. Vorsichtshalber sollten die Hauterscheinungen einem Pädiater gezeigt werden, um Hauterkrankungen auszuschließen. Eine Säuglingsakne hingegen entwickelt sich meist erst zwischen dem 3. und 6. Lebensmonat und muss behandelt werden (häufig auch mit Antibiotika).



▶ Fingernägel. Wegen der Verletzungsgefahr sollten die Fingernägel bei reifen Neugeborenen nicht geschnitten werden. Da bei übertragenen Neugeborenen die Fingernägel sehr lang sein können und die Gefahr der Selbstverletzung hoch ist, können diese bei Bedarf gekürzt werden. ▶ Bauchlage. Auch eine kurzzeitige Bauchlage unter Aufsicht kann bei sehr unruhigen Kindern zu einem Hautdefekt auf der Nase führen. Daher sollten sie rechtzeitig auf den Rücken gelegt werden.

Pflege des Nabelschnurrests

▶ Cremes und Körperlotionen. Ein regelmäßiges Eincremen der Säuglingshaut von Geburt an kann nachweislich die Hautbarriere stärken und die Entwicklung einer atopischen Dermatitis vorbeugen. Es wird empfohlen, den ganzen Körper mindestens 2-mal wöchentlich mit einer wirkstofffreien Feuchtigkeitslotion (z. B. nach dem Baden) einzucremen. Es sollte eine dünne Schicht aufgetragen werden, damit das Kind unter der Cremeschicht nicht schwitzt. Die Hautreinigung im Windelbereich kann mit warmem Wasser und einem (Einmal-)Waschlappen oder mit Feuchttüchern auf Ölbasis erfolgen. Die Windeln sollten regelmäßig gewechselt werden, um die Haut möglichst trocken zu halten. Nach der Reinigung soll die Haut kurz an der Luft trocknen oder vorsichtig mit einem Tuch trocken getupft werden.

Die Nabelpflege erfolgt bei unauffälligem Nabel mindestens 1-mal täglich oder öfter, wenn z. B. der Nabelschnurrest feucht ist. Die Windel sollte sich stets unterhalb des Nabels befinden. Ein unauffälliger Nabelschnurrest wird stets offen behandelt. Ziel ist die ungestörte Abheilung des Nabelschnurrestes mit Mumifizierung. Die Körperpflege des Neugeborenen erfolgt in den meisten Kliniken durch Waschen, in anderen Kliniken werden die Neugeborenen gebadet, auch wenn der Nabelgrund noch nicht verheilt ist. Eine einschlägige Studie zur Nabelversorgung bei Neugeborenen von Zupan, Garner und Omari aus dem Jahr 2009 hat gezeigt, dass die Mumifizierung des Nabels durch Baden nicht negativ beeinflusst wird.

▶ Abtrocknen. Ein sorgfältiges Abtrocknen, besonders in Hautfalten sowie zwischen den Zehen und Fingern ist wichtig, damit sich keine feuchte Kammer bilden kann, die das Entstehen von Hautmazerationen und Pilzwachstum begünstigt.

Ein feucht gewordener Nabelverband muss stets gewechselt werden, um eine feuchte Kammer zu vermeiden.

▶ Häufiges Spucken. Spucken oder speicheln Kinder häufig, so muss das Gesicht zwischendurch mit Wasser gereinigt werden, um der Entstehung einer Hautirrita-

484

tion vorzubeugen. Dies gilt besonders bei bestehender Säuglingsakne.

Praxistipp Pflege

Z ●

Vorbereitung Geöffnete Fenster werden geschlossen, die Arbeitsfläche desinfiziert und die Wärmelampe eingeschaltet:

● ●

Informationen einholen (Zustand des Nabelstumpfes und Zeitpunkt der letzten Nabelversorgung) Material richten Hände desinfizieren ggf. Schutzkittel anziehen

Es ist wichtig, den Windelbereich des Neugeborenen vor der Versorgung des Nabels zu reinigen und eine frische Windel unterzulegen. ▶ Material. Folgende Materialien werden zur Nabelversorgung benötigt: ● Händedesinfektionsmittel ● sterile Kochsalzlösung 0,9 % zur Reinigung oder Schleimhautdesinfektionsmittel, z. B. Octenisept bei einem infizierten Nabel ● sterile Tupfer oder evtl. sterile Kompressen ● evtl. Schutzhandschuhe (ggf. sterile, z. B. bei Frühgeborenen) ● Nabeltherapeutikum bei infiziertem Nabel nach ärztlicher Anordnung ● evtl. Netzschlauchverband zum Fixieren bei geschlossener Nabelversorgung ● Abwurfschale

Praxistipp Pflege

Z ●

Der Nabelschnurrest, die umgebende Haut sowie der Nabelgrund sind auf Veränderungen, wie Rötung, Nässen, schmierige Beläge und Geruch, zu beobachten.

Durchführung ▶ Unauffälliger Nabelschnurrest bzw. -grund. Es wird wie folgt vorgegangen: ● Händedesinfektion durchführen (Tragen von Schutzhandschuhen zum Entfernen der Kompresse wird empfohlen). ● Kompresse entfernen, in die Nierenschale abwerfen, evtl. getragene Schutzhandschuhe verwerfen. ● Händedesinfektion erneut durchführen. ● Verkrustungen mit Kochsalzlösung 0,9 % und Kompresse vorsichtig entfernen. ● Inspektion und Beurteilung des gesamten Nabelbereichs. Wird der Nabelschnurrest von den Eltern versorgt, müssen diese zur korrekten Nabelpflege angeleitet und auf mögliche pathologische Veränderungen, wie z. B. einen geröteten Nabelring, hingewiesen werden. Sollten die Eltern eine Veränderung am Nabel erkennen, müssen sie die Pflegefachkraft informieren. ● Nabelschurrest nach einem Säuglingsbad sorgfältig abtrocknen. ● Der Nabelschnurrest bleibt unbedeckt; die Nabelklemme wird zum Schutz mit

22.3 Verlegung des Neugeborenen



einer sterilen Kompresse umhüllt, um Druckstellen auf der Haut des Neugeborenen zu verhindern. Die Windel wird unterhalb des Nabels nach außen umgeschlagen, um eine feuchte Kammer und die Kontamination mit Urin zu vermeiden.

Ein feuchter Nabel liegt durchaus im Bereich des Normalen und bedeutet nicht unbedingt eine Infektion. Fängt der Nabel jedoch an, unangenehm zu riechen, sollte das Neugeborene beim Kinderarzt vorgestellt werden.

Merke

H ●

Die Nabelklemme sollte erst nach 48–72 Stunden entfernt werden, da es noch zu Nachblutungen kommen kann.

▶ Auffälliger Nabelschnurrest bzw. -grund. Bei der Versorgung eines schmierigen und infizierten Nabelschnurrestes oder Nabelgrundes ist Folgendes zu beachten: Die Versorgung erfolgt mehrfach täglich, um den Nabelschnurrest und die umliegende Haut zu beobachten und die Entstehung einer feuchten Kammer zu vermeiden. ● Händedesinfektion durchführen. ● Stets mit Schutzhandschuhen den Nabelverband entfernen und diese anschließend verwerfen. ● Nabelschnurrest oder Nabelgrund sorgfältig beobachten, Veränderungen evtl. dem Arzt zeigen. ● Nach ärztlicher Anordnung Abstrich abnehmen. ● Stets eine Hautdesinfektion des Nabelringes, des Nabelschnurrestes einschließlich der Nabelklemme bzw. des Nabelgrundes mit einem Schleimhautantiseptikum, z. B. Octenisept, durchführen, dabei Schutzhandschuhe tragen und diese anschließend verwerfen. ● Gegebenenfalls Nabeltherapeutikum nach ärztlicher Anordnung auftragen. ● Hände erneut desinfizieren, Nabelschnurrest oder Nabelgrund mit steriler Kompresse abdecken und anschließend mit einem Netzschlauchverband fixieren.

Merke

Nachsorge Das gebrauchte Einmalmaterial wird fachgerecht entsorgt und benutzte Utensilien und Arbeitsflächen desinfiziert. Anschließend werden der Nabelzustand und die Nabelversorgung dokumentiert.

Eltern

a ●

Merke

H ●

Wird die Verabreichung von industriell hergestellter Milchnahrung aus medizinischer Indikation notwendig, z. B. bei einer HIV-Infektion der Mutter, so sollte eine hypoallergene Nahrung verabreicht werden, um einer Kuhmilchallergie vorzubeugen (▶ Tab. 14.10).

Die Eltern sollten zur Nabelpflege angeleitet werden.

Stärkung der Mutter/ElternKind-Beziehung Gutes Gedeihen Das Neugeborene wird in der Klinik meist täglich gewogen, um die Gewichtsentwicklung zu beobachten (▶ Abb. 22.13). Zu Hause genügt ein wöchentliches Wiegen, da ein zufriedenes Kind der beste Beweis für gutes Gedeihen ist. Erfolgt das Wiegen mit Kleidung, sollte sie vor dem Anziehen gewogen und nach dem Wiegen des Kindes abgezogen werden, um exakte Werte zu erhalten. Eine physiologische Gewichtsabnahme beträgt in den ersten Lebenstagen bis zu einem Zehntel des Körpergewichtes. Danach sollte das Neugeborene wieder zunehmen und zwischen dem 8. und 10. Lebenstag sein Geburtsgewicht wieder erreicht haben (S. 330). Die Gewichtsentwicklung wird mithilfe von Somatogramm und Perzentilenkurven (S. 329) kontrolliert. ▶ Stillberatung. Eine wichtige Voraussetzung für erfolgreiches Stillen (S. 500) sind die fachgerechte Anleitung und Begleitung der Frau, um Misserfolge möglichst gar nicht erst entstehen zu lassen. Keinesfalls sollte ein gesundes Neugeborenes vor und nach dem Stillen gewogen werden, da es zu einer Verunsicherung der Mutter kommen kann, die sich u. U. negativ auf die Milchproduktion (S. 498) auswirkt.

Merke

H ●

Eine enge Mutter/Eltern-Kind-Beziehung ist eine wichtige Voraussetzung für eine stabile emotionale Entwicklung des Kindes. Sie kann durch engen Körperkontakt, z. B. durch das frühe Anlegen an die Brust (▶ Abb. 22.14) und die Versorgung im gemeinsamen Zimmer (Rooming-in oder Familienzimmer), gefördert werden.

22

Eine weitere Möglichkeit des engen Kontaktes zwischen Mutter und Kind bietet die Babymassage. Sie ist eine traditionelle Kunst, die ihren Ursprung in Indien hat. Auch bei uns hat diese Methode des engen Körperkontaktes zwischen Mutter und Kind Einzug gefunden, sodass inzwischen ausreichend Literatur, Filmmaterial und Kurse über Vorzüge und Technik der Babymassage zur Verfügung stehen. Mütter, die bereits Erfahrung mit der Babymassage (S. 167) gemacht haben, wissen, wie wohltuend die zarten und gleichmäßigen Bewegungen für ihre Kinder und auch für sie selbst sind, da während der Massage zwischen Mutter und Kind ein intensives Geben und Nehmen stattfindet (S. 169).

H ●

Es ist darauf zu achten, dass kein Zug auf den Nabelschnurrest entsteht, da es dadurch zu Einrissen und somit zu einer Eintrittspforte für pathogene Keime kommen kann.

Abb. 22.13 Gewichtsentwicklung. Zur Kontrolle der Gewichtsentwicklung werden die Kinder in der Klinik täglich gewogen. (Foto: K. Oborny, Thieme)

Abb. 22.14 Kontaktaufnahme. Der enge Körperkontakt beim Stillen fördert die Beziehung zwischen Mutter und Kind (Symbolbild). (Foto: Dron – stock.adobe.com)

5

Das gesunde Neugeborene und seine Eltern Damit die Eltern die Signale ihres Kindes auch richtig deuten und adäquat darauf eingehen können, ist es wichtig, dass sie diesbezüglich Informationen vom Pflegepersonal erhalten. Sie sollten wissen, dass ein Kind, das sich abwendet, gähnt, unruhig wird, die Hand vor das Gesicht legt oder sogar weint, in Ruhe gelassen werden will. Werden diese Zeichen respektiert, so wird das Kind nach einer gewissen Zeit den Kontakt mit den Eltern wiederaufnehmen, indem es z. B. aufmerksam das Gesicht der Mutter oder des Vaters anblickt.

Gestärktes Selbstvertrauen der Eltern

22

Die Eltern sollten vom Pflegepersonal für die Durchführung der Körperpflege sowie der Nabelversorgung gut angeleitet werden, damit sie Sicherheit bei der Versorgung ihres Kindes gewinnen (▶ Abb. 22.15). Beratung kann auch nach der Entlassung aus der Klinik durch Hebammen erfolgen, um Unsicherheiten in der Pflege des Kindes, z. B. bei verzögerter Nabelheilung oder Stillproblemen, zu vermeiden. Die Kosten werden bei unkompliziertem Verlauf bis zum 10. Tag post partum von den Kassen übernommen, da die Wöchnerinnen i. d. R. am 3. Tag post partum entlassen werden. Die Eltern sollten auch bezüglich der Verhütung von Unfällen im Haushalt ausführlich informiert werden. Kinder jeglichen Alters dürfen keinesfalls allein auf der Wickelkommode liegen gelassen werden, auch muss das Bettgitter sicher geschlossen sein, um Verletzungen zu vermeiden. Sie benötigen weiterhin Beratung bezüglich der Schlafumgebung (S. 425), um das Kind vor dem „plötzlichen Kindstod“ (S. 426) zu schützen. Auch über Bedürfnisse ihres Kindes hinsichtlich Beschäftigung, Spielen und Anregung (S. 446) durch äußere Reize in Form von Farben und Gegenständen sollten sie vom Pflegepersonal Anleitung erhalten.

Abb. 22.15 Vater-Kind-Kontakt. Durch die Einbeziehung des Vaters in die Pflege seines Kindes wird der Vater-Kind-Kontakt gestärkt. (Foto: K. Oborny, Thieme)

486

Die Bedeutung der vom Kinderarzt durchgeführten Vorsorgeuntersuchungen sowie die Durchführung des Neugeborenen-Screenings sollten den Eltern verständlich erklärt werden. Es ist hilfreich, wenn die Eltern bei der Untersuchung (U2) anwesend sind, damit sie über den Gesundheitszustand ihres Kindes informiert sind und dem Arzt bestehende Fragen stellen können. Bei der Entlassung wird den Eltern das gelbe Untersuchungsheft ausgehändigt und auf die Notwendigkeit der Vorsorgeuntersuchungen hingewiesen, damit diese termingerecht wahrgenommen werden. Nur so können Erkrankungen und Entwicklungsverzögerungen rechtzeitig erkannt und therapiert werden.

22.3.5 Diagnostische und prophylaktische Maßnahmen Neugeborenenscreening Das zu untersuchende Krankheitsspektrum für das Neugeborenenscreening ist in den sog. „Kinderrichtlinien“ des gemeinsamen Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen seit 2005 verbindlich festgelegt und umfasst 13 Erkrankungen, z. B. Phenylketonurie, Galaktosämie und Hypothyreose. Sie gelten sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich. Vor der Durchführung des Neugeborenenscreenings müssen die Eltern über das Screeningverfahren informiert werden und ihre schriftliche Zustimmung geben.

Zeitpunkt der Blutabnahme Sie sollte möglichst am 3. Lebenstag (49.– 72. Lebensstunde), jedoch nicht später als am 5. Lebenstag erfolgen. Bereits ab der 37. Lebensstunde gilt das NeugeborenenScreening als regelrecht durchgeführt und muss nicht wiederholt werden, wenn die Ergebnisse im Normbereich lagen. Eine zu frühe Blutabnahme kann bei der Phenylketonurie zu falsch negativen Befunden führen, da das Ergebnis von der zugeführten Milchnahrung, d. h. dem Eiweiß abhängig ist. Bei der Hypothyreose kann eine zu frühe Blutabnahme zu falsch positiven Ergebnissen führen, da am 1. Lebenstag die TSH-Konzentration im Blut als Folge des Geburtsvorgangs höher ist als an späteren Lebenstagen. Falsch positive Ergebnisse können auch nach Anwendung von jodhaltigem Desinfektionsmittel oder Thyreostatikaeinnahme der Mutter auftreten.

Merke

H ●

Bei einer ambulanten Geburt oder Entlassung innerhalb der ersten 36 Lebensstunden muss die Blutentnahme vor der Entlassung durchgeführt und die Eltern bezüglich eines termingerechten Zweitscreenings informiert werden.

Blutentnahme und Versand Für die Untersuchung soll Kapillarblut durch Fersenstich oder venöses Nativblut verwendet werden, da es durch gerinnungshemmende Zusätze, z. B. Zitrat, zu falsch positiven oder falsch negativen Ergebnissen kommen kann. Die vorgezeichneten Kreise auf der speziellen Filterkarte müssen vollständig mit jeweils einem Tropfen Blut durchtränkt sein. Dafür ist es notwendig, dass die Ferse des Kindes gut durchblutet ist, was mit einem vorgewärmten Tuch (40–42 °C) erfolgen kann. Die Testkarte soll ohne äußere Wärmezufuhr gut abtrocknen und ohne luftdichte Plastikverpackung am selben Tag an das Labor weitergeleitet werden.

Vorsorgeuntersuchungen Die Vorsorgeuntersuchung U2 erfolgt zwischen dem 3. und 10. Lebenstag des Neugeborenen durch den Pädiater (▶ Abb. 22.16). ▶ Sonografie der Hüfte. Um eine angeborene Fehlstellung der Hüfte (Hüftdysplasie) frühzeitig zu erkennen, erfolgt im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung U3 eine sonografische Kontrolle der kindlichen Hüfte. Studien belegen, dass eine frühzeitige Feststellung und Behandlung das Risiko für eine später ggf. notwendige Operation erheblich reduzieren.

Abb. 22.16 U2 beim Neugeborenen. Das Neugeborene wird bei der Vorsorgeuntersuchung körperlich untersucht und Vitalität und Motorik überprüft (Symbolbild). (Foto: Bernd Libbach – stock.adobe.com)

22.3 Verlegung des Neugeborenen ▶ Hörscreening. Das Hörscreening wird meist vor der Entlassung aus der Klinik durchgeführt, um eine mögliche Störung der Hörfähigkeit rechtzeitig erkennen und behandeln zu können. Insgesamt sind von der Geburt bis zum 13. Lebensjahr 11 Vorsorgeuntersuchungen vorgesehen, die im gelben Kinderuntersuchungsheft bzw. auf einem gesonderten Dokumentationsbogen (J1, 13 Jahre) eingetragen und von den Kassen übernommen werden. Von Kinder- und Jugendärzten werden zusätzlich die U10, U11 und J2 (18 Jahre) gefordert, die jedoch nicht von den Kassen übernommen werden. Dafür erhalten die Eltern ein grünes Checkheft.

Rachitisprophylaxe Zur Vorbeugung einer Rachitis werden ab der 2. Lebenswoche 1-mal täglich Vitamin-D-Präparate in einer Dosierung von 500 I.E. (Internationale Einheit) während des 1. Lebensjahres verabreicht. Vitamin D ist ein fettlösliches Vitamin, das unerlässlich für die Kalziumresorption aus dem Darm ist. Kalzium ist für die Stabilität der Knochen und für eine normale neuromuskuläre Erregung notwendig. Es kann jedoch weder in ausreichendem Maße gebildet noch mit der Nahrung allein zugeführt werden. Es liegt in der Haut als Vorstufe vor und benötigt zur Aktivierung UV-Strahlen. Die Verabreichung von Vitamin D in den Wintermonaten ist deshalb besonders wichtig, da Tageslicht und Spaziergänge für die Produktion von Vitamin D nicht ausreichen.

Kariesprophylaxe Zur Kariesprophylaxe wird von der Deutschen Akademie für Kinderheilkunde und Jugendmedizin empfohlen, innerhalb der ersten 3 Lebensjahre 0,25 mg Fluorid pro Tag in Form von Tabletten bzw. einer Kombination aus Vitamin D (500 I.E.) und Fluorid (0,25 mg) zu verabreichen. Der behandelnde Kinderarzt sollte sich durch eine Anamnese vergewissern, dass das Kind keine weiteren Fluoride aus anderen Quellen erhält, z. B. fluoridhaltige Zahnpasta oder fluoridhaltiges Trinkwasser, wie es in der Schweiz und Amerika üblich ist, um die altersentsprechenden Toleranzbereiche nicht zu überschreiten.

Merke

H ●

Bei Kindern unter 6 Jahren soll die tägliche Fluorid-Gesamtaufnahme 0,05 – 0,07 mgF/kg Körpergewicht nicht überschreiten. Bei älteren Kindern ab 6 Jahre können Zahnpasta für Erwachsene sowie fluoridiertes Speisesalz verwendet werden.

Eltern sollten vonseiten der Ärzte oder des Pflegepersonals diesbezüglich informiert werden, um eine Dentalfluorose durch Überdosierung zu vermeiden, die durch weiße Pünktchen im Zahnschmelz sichtbar wird.

Laut neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen wird vonseiten der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) propagiert, keine Fluoridierungsmaßnahmen vor dem 6. Lebensmonat, d. h. vor Durchbruch des ersten Milchzahnes, durchzuführen, da die Fluoride in erster Linie lokal durch direkten Kontakt mit dem Zahnschmelz karieshemmend wirken (S. 312).

22.3.6 Entlassungsgespräch Nach Möglichkeit sollten vor der Entlassung von Mutter und Kind beim Neugeborenen alle routinemäßig festgelegten Screenings erfolgen. Entbindet eine Frau ambulant oder wird sie frühzeitig innerhalb der ersten 48 Stunden auf eigenen Wunsch entlassen, muss der Pädiater sie ausführlich zu ● U2-Untersuchung, ● Stoffwechsel- und Hörscreening, ● Vorsorgemaßnahmen (Vitamin K und Vitamin D), ● SIDS-Prävention und ● Impfungen aufklären.

22

Weiterhin sollte die Wochenbettbetreuung durch eine Hebamme und einen Kinderarzt sichergestellt sein. Zudem sollte die Frau über eine ausreichende Kompetenz in der Versorgung des Kindes verfügen.

7

Das gesunde Neugeborene und seine Eltern

22

488

Kapitel 23 Pflege der Schwangeren und der Wöchnerin

23.1

Bedeutung

490

23.2

Laktation

498

23.3

Pflege der Wöchnerin mit Mastitis puerperalis

507

Pflege der Schwangeren und der Wöchnerin

23 Pflege der Schwangeren und der Wöchnerin Heidrun Beyer tensiv auf die neue Situation ein, indem sie z. B. Babysachen einkaufen. Darüber hinaus müssen sie auch berufliche und wirtschaftliche Angelegenheiten regeln, die es der Frau oder dem Partner ermöglichen, innerhalb der ersten Jahre für das Kind da zu sein. Treten Störungen im Verlauf der Schwangerschaft auf, bedeuten sie einen Schock für alle Betroffenen, ganz besonders, wenn die Gesundheit des Kindes oder der Mutter gefährdet ist. In diesen Situationen benötigt die Frau Verständnis und Unterstützung vonseiten des Partners, der Familie und des Pflegepersonals. Komplikationen innerhalb der Schwangerschaft, deren Beobachtungsmerkmale und geeignete Pflegemaßnahmen sind in ▶ Tab. 23.1 dargestellt.

23.1 Bedeutung Die Gewissheit über eine bestehende Schwangerschaft löst bei den betroffenen Frauen und Partnern unterschiedliche Emotionen aus. I.d.R. freuen sie sich über die Nachricht, auch wenn sie Nachwuchs noch nicht eingeplant haben. Es gibt aber auch Frauen, die bestürzt oder sogar verzweifelt sind, da ihre Lebensumstände nicht gefestigt sind, um einem Kind ein sicheres und geborgenes Aufwachsen zu ermöglichen. Andere wiederum sind überglücklich, denn häufig haben sie schon eine lange Zeit des Wartens mit evtl. belastenden Therapien hinter sich. Für sie ist ein großer Wunsch in Erfüllung gegangen, sie freuen sich auf das Kind und stellen sich während der Zeit der Schwangerschaft in-

23.1.1 Entbindungseinrichtungen Jede schwangere Frau muss sich entscheiden, wo sie entbinden möchte. Hilfreich sind dabei Informationsabende, die von den Kliniken angeboten werden. Sie ermöglichen es der Schwangeren und dem Partner, den Kreißsaal und die Hebammen kennenzulernen und Informationen über die praktizierten Geburtsmethoden zu erhalten. Weiterhin können Informationen z. B. in Elternkursen oder Stillgruppen eingeholt werden. ▶ Klinikgeburt. Viele Frauen, insbesondere Erstgebärende, entschließen sich, ihr Kind in einer Klinik zur Welt zu bringen, und wählen häufig ganz bewusst eine Entbindungsstätte mit einer angeschlos-

Tab. 23.1 Komplikationen innerhalb der Schwangerschaft. Ursachen

Beobachtungsmerkmale

Pflegemaßnahmen

Drohende Früh- oder Fehlgeburt (vorzeitige Wehen, Zervixinsuffizienz)

23

Mehrlingsschwangerschaft Fehlbildungen des Fetus oder Uterus ● Infektionen der Gebärmutterschleimhaut oder Harnwegsinfekte ● chronischer Stress und übermäßige körperliche Anstrengung ● Risikofaktoren: höheres Alter der Schwangeren, ungünstige sozioökonomische Lebensbedingungen, Rauchen, Alkohol oder Drogenkonsum Therapie: ● Stressvermeidung ● Überwachung bei bekanntem Drogenkonsum der Mutter ● Cerclage (operative Zervixumschlingung) bei Zervixinsuffizienz, wird in der 37. SSW wieder gelöst ●







● ●

vorzeitige Wehen werden häufig nicht bemerkt oder als Verhärtung des Bauches wahrgenommen leichte Blutungen bzw. bräunlicher Fluor verkürzte Zervix unspezifische Symptome, wie tief sitzende stechende Rückenschmerzen, Uteruskontraktionen im Abstand von 10 Min. oder weniger, menstruationsähnliche Krämpfe





● ●







490

Information hinsichtlich der Notwendigkeit einer Schonung, z. B. eingeschränkte oder strenge Bettruhe je nach individueller Situation für eine entspannte Atmosphäre sorgen, da Stress und Aufregung die Wehen fördert Beobachtung der Gemütslage Verabreichung der ärztlich angeordneten Medikamente zur Tokolyse (Hemmung der uterinen Kontraktilität), durch Gabe von z. B. Calciumantagonisten, Oxytocin-Rezeptorantagonisten, Betasympathomimetika, Magnesium u. a. zur Lungenreifung des Kindes kann eine Kortisongabe zwischen der 26. und 33. Schwangerschaftswoche erfolgen Überwachung der Nebenwirkungen der medikamentösen Therapie (z. B. Tachykardie, Extrasystolen, Unruhe, Hitzegefühl und Rötung des Gesichts und der Handinnenflächen, Blutzuckerschwankungen, Gefahr von Obstipation, Harnwegsinfekt infolge Einschränkung der Urinmenge, Lungenödem); folgende Kontrollen müssen erfolgen: ○ engmaschige Puls- und Blutdruckkontrollen nach ärztlicher Anordnung ○ Temperaturkontrollen nach Befinden ○ Beobachtung der Atemfrequenz, Atemqualität und Atemgeräusche (z. B. Rasseln) sowie Hautfarbe ○ Blutzuckerkontrolle nach Anordnung ○ Beobachtung der Stuhl- und Urinausscheidung (S. 364) Prophylaxen ○ Obstipationsprophylaxe (S. 386), da ein starkes Pressen vermieden werden muss ○ Thromboseprophylaxe (S. 405) (Gerinnung ist erhöht) ○ Pneumonieprophylaxe (S. 260) bei langer Liegezeit ○ bei vorzeitigem Blasensprung: Infektionsprophylaxe, z. B. gründliche Intimhygiene ○ Entlastung des Muttermundes kann durch Hochstellen des Fußendes erreicht werden

Pflege der Schwangeren und der Wöchnerin

23 Pflege der Schwangeren und der Wöchnerin Heidrun Beyer tensiv auf die neue Situation ein, indem sie z. B. Babysachen einkaufen. Darüber hinaus müssen sie auch berufliche und wirtschaftliche Angelegenheiten regeln, die es der Frau oder dem Partner ermöglichen, innerhalb der ersten Jahre für das Kind da zu sein. Treten Störungen im Verlauf der Schwangerschaft auf, bedeuten sie einen Schock für alle Betroffenen, ganz besonders, wenn die Gesundheit des Kindes oder der Mutter gefährdet ist. In diesen Situationen benötigt die Frau Verständnis und Unterstützung vonseiten des Partners, der Familie und des Pflegepersonals. Komplikationen innerhalb der Schwangerschaft, deren Beobachtungsmerkmale und geeignete Pflegemaßnahmen sind in ▶ Tab. 23.1 dargestellt.

23.1 Bedeutung Die Gewissheit über eine bestehende Schwangerschaft löst bei den betroffenen Frauen und Partnern unterschiedliche Emotionen aus. I.d.R. freuen sie sich über die Nachricht, auch wenn sie Nachwuchs noch nicht eingeplant haben. Es gibt aber auch Frauen, die bestürzt oder sogar verzweifelt sind, da ihre Lebensumstände nicht gefestigt sind, um einem Kind ein sicheres und geborgenes Aufwachsen zu ermöglichen. Andere wiederum sind überglücklich, denn häufig haben sie schon eine lange Zeit des Wartens mit evtl. belastenden Therapien hinter sich. Für sie ist ein großer Wunsch in Erfüllung gegangen, sie freuen sich auf das Kind und stellen sich während der Zeit der Schwangerschaft in-

23.1.1 Entbindungseinrichtungen Jede schwangere Frau muss sich entscheiden, wo sie entbinden möchte. Hilfreich sind dabei Informationsabende, die von den Kliniken angeboten werden. Sie ermöglichen es der Schwangeren und dem Partner, den Kreißsaal und die Hebammen kennenzulernen und Informationen über die praktizierten Geburtsmethoden zu erhalten. Weiterhin können Informationen z. B. in Elternkursen oder Stillgruppen eingeholt werden. ▶ Klinikgeburt. Viele Frauen, insbesondere Erstgebärende, entschließen sich, ihr Kind in einer Klinik zur Welt zu bringen, und wählen häufig ganz bewusst eine Entbindungsstätte mit einer angeschlos-

Tab. 23.1 Komplikationen innerhalb der Schwangerschaft. Ursachen

Beobachtungsmerkmale

Pflegemaßnahmen

Drohende Früh- oder Fehlgeburt (vorzeitige Wehen, Zervixinsuffizienz)

23

Mehrlingsschwangerschaft Fehlbildungen des Fetus oder Uterus ● Infektionen der Gebärmutterschleimhaut oder Harnwegsinfekte ● chronischer Stress und übermäßige körperliche Anstrengung ● Risikofaktoren: höheres Alter der Schwangeren, ungünstige sozioökonomische Lebensbedingungen, Rauchen, Alkohol oder Drogenkonsum Therapie: ● Stressvermeidung ● Überwachung bei bekanntem Drogenkonsum der Mutter ● Cerclage (operative Zervixumschlingung) bei Zervixinsuffizienz, wird in der 37. SSW wieder gelöst ●







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vorzeitige Wehen werden häufig nicht bemerkt oder als Verhärtung des Bauches wahrgenommen leichte Blutungen bzw. bräunlicher Fluor verkürzte Zervix unspezifische Symptome, wie tief sitzende stechende Rückenschmerzen, Uteruskontraktionen im Abstand von 10 Min. oder weniger, menstruationsähnliche Krämpfe





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Information hinsichtlich der Notwendigkeit einer Schonung, z. B. eingeschränkte oder strenge Bettruhe je nach individueller Situation für eine entspannte Atmosphäre sorgen, da Stress und Aufregung die Wehen fördert Beobachtung der Gemütslage Verabreichung der ärztlich angeordneten Medikamente zur Tokolyse (Hemmung der uterinen Kontraktilität), durch Gabe von z. B. Calciumantagonisten, Oxytocin-Rezeptorantagonisten, Betasympathomimetika, Magnesium u. a. zur Lungenreifung des Kindes kann eine Kortisongabe zwischen der 26. und 33. Schwangerschaftswoche erfolgen Überwachung der Nebenwirkungen der medikamentösen Therapie (z. B. Tachykardie, Extrasystolen, Unruhe, Hitzegefühl und Rötung des Gesichts und der Handinnenflächen, Blutzuckerschwankungen, Gefahr von Obstipation, Harnwegsinfekt infolge Einschränkung der Urinmenge, Lungenödem); folgende Kontrollen müssen erfolgen: ○ engmaschige Puls- und Blutdruckkontrollen nach ärztlicher Anordnung ○ Temperaturkontrollen nach Befinden ○ Beobachtung der Atemfrequenz, Atemqualität und Atemgeräusche (z. B. Rasseln) sowie Hautfarbe ○ Blutzuckerkontrolle nach Anordnung ○ Beobachtung der Stuhl- und Urinausscheidung (S. 364) Prophylaxen ○ Obstipationsprophylaxe (S. 386), da ein starkes Pressen vermieden werden muss ○ Thromboseprophylaxe (S. 405) (Gerinnung ist erhöht) ○ Pneumonieprophylaxe (S. 260) bei langer Liegezeit ○ bei vorzeitigem Blasensprung: Infektionsprophylaxe, z. B. gründliche Intimhygiene ○ Entlastung des Muttermundes kann durch Hochstellen des Fußendes erreicht werden

23.1 Bedeutung

Tab. 23.1 Fortsetzung Ursachen

Beobachtungsmerkmale

Pflegemaßnahmen

Hyperemesis gravidarum, Frühgestose (Erkrankung in der Frühschwangerschaft) Schwangerschaftsbedingte hormonelle (βhCG), metabolische und immunologische Umstellungen werden diskutiert. Auch psychische Faktoren haben eine wichtige Bedeutung.











übermäßiges Erbrechen mehr als 5-mal pro Tag Gewichtsverlust (5 % des Körpergewichts) Erbrechen kann nach 3 Monaten beendet sein, aber auch die gesamte Schwangerschaft andauern Dehydratation als Folge des Erbrechens, Störung des KohlenhydratStoffwechsels (mit Ketonurie); Zeichen der Exsikkose: welke Haut, trockene Zunge, stehende Hautfalte Alkalose durch Verlust von Salzsäure aus dem Magen, Tachykardie, evtl. Somnolenz, Koma, Fieber

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für Ruhe und eine angenehme Atmosphäre sorgen gute psychische Begleitung durch Pflegepersonal, Ärzte und Psychologen Beobachtung von Puls, Blutdruck, Haut und Körpertemperatur Gewichtskontrollen Beobachtung hinsichtlich der Häufigkeit des Erbrechens Verlaufskontrollen durch Nachweis von Ketonkörper im Blut und Urin ggf. Hilfestellung bei Erbrechen Nahrungskarenz Durchführung und Kontrolle der Infusionstherapie zum Ausgleich des Wasser- und Salzverlustes sowie Zuführen der Kalorien (durch Verlust von Chloridionen wird der Brechreiz gesteigert) Verabreichung der Antiemetika und Antihistaminika nach ärztlicher Anordnung, Multivitaminpräparate (besonders Vitamin B6) gleichen den Vitaminverlust aus und sollen Übelkeit lindern nach Normalisierung der Stoffwechsellage langsamer Nahrungsaufbau

Hypertensive Erkrankungen in der Schwangerschaft (HES) – Präeklampsie, Eklampsie leichter SIH: RR über 140/90 mmHg schwerer SIH: RR über 160/110 mmHg (SIH: schwangerschaftsinduzierte Hypertonie) Merke: Gesamtzustand der Frau beurteilen!

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ausführliche Information über blutdrucksenkende Maßnahmen, z. B. Stress vermeiden, geregelten Tag- und Nachtrhythmus ● Ängste abbauen durch Gespräche, jedoch auf Warnsignale, wie Sehstörungen, Kopfschmerzen Schwindel hinweisen ● regelmäßige Blutdruckkontrollen ● Verabreichung der verordneten antihypertensiven Therapie, die keine embryotoxische Wirkung haben darf ● sorgfältige Überwachung von Mutter und Kind Merke: Durch die antihypertensive Therapie besteht bei plötzlichem Blutdruckabfall die Gefahr der Minderdurchblutung des kindlichen Organismus. ●

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Spätgestosen (Erkrankungen in der Spätschwangerschaft) Präeklampsie Zusätzliches Auftreten einer Proteinurie zu einem SIH durch fehlende Anpassung des mütterlichen Organismus an die Schwangerschaft. HELLP-Syndrom Schwerste Form der Präeklampsie meist im letzten Schwangerschaftsdrittel. HELLP steht für Hemolysis, elevated Liver Enzymes, low Platelet Count (Hämolyse, erhöhte Leberenzyme, erniedrigte Thrombozyten). Ursache: Endothelschaden der Lebergefäße, die zu Minithromben führen. Folge: Zerstörung von Erythrozyten und Thrombozyten (massive Störung der Blutgerinnung) sowie Störung der Leberfunktion Gefahr: Ruptur der Leberkapsel mit Schocksymptomatik, gestörte Plazentadurchblutung und Unterversorgung des Kindes, vorzeitige Plazentalösung Eklampsie Auftreten von zerebralen Krampfanfällen. Frühere Bezeichnung: EPH-Gestose steht für Edema, Proteinurie, Hypertension (Ödeme, Eiweiß im Urin, Bluthochdruck). Es handelt sich um generalisierte klonisch-tonische Anfälle mit Atemstillstand, Zyanose, Bewusstlosigkeit und Urinabgang.

leichte Form: ● Bluthochdruck ● Proteinurie über 0,5 g/l in 24 h ● mit und ohne Ödeme ● bei subjektivem Wohlbefinden schwere Form (Störung einzelner Organsysteme): ● Kopfschmerzen ● Sehstörungen ● Ohrensausen ● Erbrechen Merke: Kopfschmerzen und Augenflimmern sind Vorboten (Prodromie) einer Eklampsie. ● Oligurie mit Ödembildung (Gesicht, Arme und Beine) ● Schmerzen im rechten Oberbauch (Leberkapselspannung) ● Ikterus ● erhöhte Leberwerte ● Thrombozytenzahl vermindert ● Fibrinogen vermindert Merke: Es müssen nicht alle Symptome auftreten. ● Kopfschmerzen und Augenflimmern können Vorboten einer Eklampsie sein









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abgedunkeltes, ruhiges Einzelzimmer, da grelles Licht und Lärm Auslöser einer Eklampsie sein können Verabreichung der ärztlich angeordneten Antihypertensiva sowie Magnesiumtherapie (Magnesium wirkt blutdrucksenkend und beugt Krampfanfällen vor) sorgfältige Überwachung hinsichtlich Symptomen und Nebenwirkungen der Medikamente, da z. B. Magnesium atemdrepressiv wirkt engmaschige Blutdruckkontrollen am selben Arm in entsprechenden Abständen nach ärztlicher Anordnung Gewichtskontrollen jeden 2. Tag Kontrolle der Ödeme und Flüssigkeitsbilanzierung, da es durch Hypoproteinämie zu Oligurie bis Anurie kommen kann Bestimmung des Eiweißgehaltes im 24-StundenSammelurin, um die Nierenfunktion zu beobachten, zur Orientierung können auch Urin-Stix erfolgen. Assistenz bei Blutentnahmen für Laborkontrollen, Augenkonsil sowie Ultraschall Empfehlung zur Linksseitenlage (bessere Durchblutung der Plazenta) zur Verringerung der Ödeme evtl. Fußende des Bettes hochstellen Thrombose- und Pneumonieprophylaxe (S. 260)

1

Pflege der Schwangeren und der Wöchnerin

Tab. 23.1 Fortsetzung Ursachen

Beobachtungsmerkmale

Pflegemaßnahmen Ernährung soll Kalorienbedarf decken, eiweißsowie ballaststoffreich sein und viele Vitamine und Spurenelemente enthalten. ● nach Durstgefühl trinken lassen ● CTG (Kardiotokografie) zur Diagnostik des Kindes ● Doppler-Sonografie zur Kontrolle der Durchblutung der Plazenta ● während eines Krampfanfalls: Antikonvulsiva i. v. ● Nach einem zerebralen Krampfanfall erfolgt die Entbindung meist durch einen Kaiserschnitt. ● Auch bei HELLP-Syndrom ist je nach Zustand eine Beendigung der Gravidität notwendig. Merke: Es dürfen keine Reis-Obst-Tage eingelegt oder entwässernder Tee getrunken werden. Auch sollte keine Salz- oder Flüssigkeitsreduktion erfolgen. Begründung: Ausschwemmen der Flüssigkeit durch Diät und Flüssigkeitsrestriktion führt zum Mangel an Flüssigkeit im Gefäßsystem, was wiederum zu einer kardiovaskulären Gefährdung führen kann, die offensichtlich auf Aktivierung des Renin-AngiotensinSystems beruht. Eine Senkung des Blutdruckes wird durch die Salzrestriktion kaum erreicht. ●

senen neonatologischen Einrichtung, die ihrem Kind im Notfall eine gute Versorgung ermöglicht.

23

Merke

H ●

Die Betreuung von Mutter und Kind übernimmt im Kreißsaal, in Geburtskliniken sowie im häuslichen Bereich die Hebamme.

▶ Hausgeburt. Mehrgebärende haben häufig den Wunsch, ihr Kind zu Hause in der gewohnten Umgebung zur Welt zu bringen, sofern keine Komplikationen zu befürchten sind. Bei einer geplanten Hausgeburt nehmen sie schon früh Kontakt zu frei praktizierenden Hebammen auf, damit sich ein Vertrauensverhältnis aufbauen kann. Nach der Entbindung bleibt die Hebamme noch für ca. 2 – 3 Stunden bei der frisch Entbundenen, um „Bonding“ zu gewährleisten, auftretende Komplikationen zu erkennen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Während der folgenden 10 Tage werden die Wöchnerin und ihr Neugeborenes von der Hebamme betreut. ▶ Ambulante Geburt. Einige Frauen entschließen sich zu einer ambulanten Entbindung in der Klinik. Geht es Mutter und Kind nach der Spontangeburt gut, können sie noch am selben Tag die Klinik verlassen. Der Aufenthalt der Wöchnerin in der eigenen Wohnung hat u. a. den Vorteil, dass Geschwisterkinder das Neugeborene gleich intensiv kennenlernen können.

492

Auch Väter haben bessere Möglichkeiten, von Anfang an einen engen Kontakt zu ihrem Kind aufzubauen. Eine weitere Möglichkeit zum Entbinden bieten Geburtshäuser, die eine private und angenehme Atmosphäre gewährleisten.

23.1.2 Dauer und Kennzeichen des Wochenbetts Definition

L ●

Das Wochenbett wird auch postpartale Periode oder Puerperium genannt und dauert von der Ausstoßung der Plazenta (Nachgeburt) bis ca. 8 Wochen nach der Geburt. Die Zeit vom 1.– 10. Tag post partum wird als Frühwochenbett und ab dem 11. Tag als Spätwochenbett bezeichnet.

Die postpartale Periode weist folgende Kennzeichen auf: ● Rückbildung des Uterus und der Weichteile des kleinen Beckens, was als Involution bezeichnet wird. ● Hormonale Umstellung, die sich z. B. durch eine empfindliche bis leicht depressive Stimmung zeigt und in manchen Fällen zu einer Wochenbettdepression-/psychose führen kann. ● Heilung der Geburtswunden, z. B. Plazentahaftstelle, Episiotomie (Dammschnitt) und Epithelisation des Endometriums (Wiederaufbau der Gebärmutterschleimhaut).



● ●

Produktion und Sekretion von Muttermilch, was als Laktation bezeichnet wird. Wiederaufnahme der Ovarialtätigkeit. Aufbau der Mutter-Kind-Beziehung.

Betreuung der Wöchnerin im Kreißsaal Die Rückbildungsvorgänge werden durch die Umstellung endokriner Vorgänge eingeleitet, da durch die Ausstoßung der Plazenta ein Östrogen- und Progesteronabfall erfolgt. Nach Ausstoßung der Plazenta bleibt die Wöchnerin aus Sicherheitsgründen zur Überwachung noch für 2 Stunden im Kreißsaal, da es während der Postplazentarperiode zu Komplikationen, z. B. starken Blutungen und Kreislaufproblemen, kommen kann. Die Hebamme kontrolliert viertelstündlich Puls, Blutdruck, Ausmaß der Blutung, Hautfarbe und Fundusstand. Außerdem wird die Körpertemperatur gemessen und die Möglichkeit zur Miktion gegeben, die innerhalb von 6 Stunden post partum erfolgt sein sollte. Erfolgt sie nicht innerhalb dieser Zeitspanne, muss katheterisiert werden. Die zeitnahe Entleerung der Blase ist wichtig, um eine Blasenüberdehnung oder Zystitis durch Rückfluss des Urins zu vermeiden. Hinzu kommt, dass bei voller Blase die Kontraktion der Gebärmutter reflektorisch gehemmt wird und es somit verstärkt zu Nachblutungen kommen kann. Nach der Geburt kann es sein, dass die Frau beginnt leicht bis stark zu zittern. Dies ist meist eine harmlose Reaktion auf die Geburt, bedingt durch Wärme- und

23.1 Bedeutung

Merke

H ●

Neben der schriftlichen Übergabe mittels eines ausgefüllten Übergabeprotokolls ist eine mündliche Berichterstattung bezüglich Geburtsverlauf, Medikamentengabe, Zustand des Kindes, Stillwunsch und bereits erfolgter Miktion notwendig. Abb. 23.1 Erstes Stillen. Das Neugeborene wird sofort nach dem Abtrocknen der Mutter an die Brust gelegt, um die erste Phase des Bondings zu ermöglichen (Symbolbild). (Foto: LoloStock – stock.adobe.com)

Blutverlust sowie Erschöpfung, und kann durch Wärmezufuhr behoben werden. ▶ Bonding. Die Hebamme legt im Kreißsaal, soweit es der Zustand erlaubt, das Neugeborene zugedeckt der Mutter nackt auf die Brust, um den Mutter-Kind-Kontakt zu stärken und dem Neugeborenen die Möglichkeit zu geben, Brustwarze und Warzenvorhof gut zu fassen (▶ Abb. 23.1). Innerhalb der ersten 20 bis ca. 50 Minuten ist der Saugreiz des Kindes am stärksten ausgeprägt, außerdem erhält das Neugeborene einige Tropfen des wertvollen Kolostrums. Der Vater, der häufig während der Geburt anwesend ist, kann jetzt erste Kontakte zu seinem Neugeborenen aufnehmen, die meist zu einer engen Vater-Kind-Beziehung beitragen.

Verlegung der Wöchnerin Sind in der ca. 2- bis 3-stündigen Beobachtungszeit keine Auffälligkeiten aufgetreten, wird die Wöchnerin, die in einer Klinik entbunden hat, von der Hebamme auf die Wochenstation verlegt. Das Neugeborene bleibt je nach Wunsch und Zustand bei der Mutter (Rooming-in) oder wird vorübergehend vom Pflegepersonal versorgt. In einigen Kliniken existieren auch Familienzimmer, in denen Väter während des Wochenbettaufenthaltes mit untergebracht sind. Auf vielen Wochenbettstationen wird mittlerweile die sog. integrierte Wochenpflege durch eine betreuende Pflegefachkraft oder Hebamme durchgeführt. Dies hat den Vorteil, dass der Wöchnerin eine feste Bezugsperson zur Seite steht, die alle Tätigkeiten an Mutter und Kind unter Einbeziehung der Familie durchführt.

Erkennen instabiler Kreislaufverhältnisse In den ersten 48 Stunden besteht eine verstärkte Kollapsneigung, da es durch den Abfall des Östrogens zu einem Wasserverlust durch Ausschwemmen der Ödeme kommt, weshalb der Begriff Harnflut verwendet wird.

Merke

23.1.3 Pflegebedarf einschätzen Folgende Pflegeprobleme können bei der Wöchnerin auftreten: ● Müdigkeit und beeinträchtigtes Allgemeinbefinden durch Geburtsstress ● Kreislauflabilität durch Blutverlust und Harnflut ● Thrombose durch verstärkte Blutgerinnung ● Harnwegsinfekt durch Harnstau ● Obstipationsneigung, selten kann durch die Ausdehnung des Darms auch ein Ileus entstehen ● Schmerzen im Bereich des Dammschnitts (Episiotomie) ● Infektion z. B. durch Episiotomie ● Stimmungsschwankungen der Mutter durch Hormonumstellung (Baby Blues) ● Unsicherheit durch fehlendes Wissen oder Schwierigkeiten beim Stillen ● allgemeine Unsicherheit und Ängstlichkeit bei der Versorgung des Kindes ● Überforderung durch die neue Lebenssituation ▶ Sectio. Bei der Sectio caesarea (Schnittentbindung, Kaiserschnitt) treten nahezu die gleichen Probleme wie bei einer Spontangeburt auf, jedoch sind die Schmerzen durch die Schnittentbindung meist stärker und die Gefahr von Komplikationen höher.

23.1.4 Pflegeziele und Pflegemaßnahmen Ruhe und Erholung Unmittelbar nach der Geburt sollte der Wöchnerin die Möglichkeit der Entspannung gegeben werden. Besuche sollten daher in der ersten Zeit möglichst selten erfolgen, damit sie, der Vater und ihr Kind Gelegenheit haben, sich in Ruhe aufeinander einzustellen, was besonders für das Stillen wichtig ist. Außerdem kann der unterbrochene Nachtschlaf tagsüber nachgeholt werden. Ist die Mutter sehr ruhebedürftig, kann es für sie hilfreich sein, wenn das Neugeborene zeitweise vom Pflegepersonal versorgt wird.

H ●

Die Gefahr von Kreislaufproblemen ist bei einer insuffizienten Plazenta verstärkt gegeben, da bereits vor der Geburt Flüssigkeit infolge verminderter Östrogenproduktion ausgeschwemmt wurde, wodurch es nach der Geburt zu einer Minderdurchblutung des Herzens kommen kann.

Bei normalem Wochenbettverlauf und Spontangeburt werden Puls und Blutdruck 1–2-mal täglich überwacht. Nach einer Sectio caesarea dagegen müssen die Vitalzeichen entsprechend den klinikinternen Überwachungsrichtlinien häufiger ermittelt werden. Außerdem sollte die Hautfarbe beobachtet und Äußerungen zu Kreislaufproblemen beachtet werden. Eine frühe Mobilisation fördert die Normalisierung der Kreislaufverhältnisse, sollte aber langsam und stets in Begleitung einer Pflegefachkraft erfolgen, nachdem unauffällige Blutdruck- und Pulswerte ermittelt wurden. Dies gilt auch für den ersten Toilettengang, den die Wöchnerin nie alleine vornehmen sollte. Diesbezüglich ist eine ausführliche Information notwendig.

23

Physiologische Blutzirkulation Während der Schwangerschaft und der Wochenbettperiode bestehen eine verstärkte Blutgerinnung und ein verlangsamter Rückfluss des Blutes durch Weitstellung der Gefäße, sodass die Gefahr einer Thrombose gegeben ist. Durch eine Sectio caesarea wird die Gefahr noch erhöht, die durch zusätzlich verstärkte Blutgerinnung und weniger Bewegung infolge von Schmerzen zu erklären ist. Um die Entstehung einer Thrombose zu vermeiden, sollten folgende Maßnahmen geplant werden: ● Medizinische Thromboseprophylaxestrümpfe (MTS) (S. 407): Sie sollten entsprechend den klinikinternen Richtlinien bereits vor der Geburt angezogen und während des Klinikaufenthaltes kontinuierlich, d. h. Tag und Nacht getragen werden. ● Frühmobilisation: Sie sollte nach 2–4 Stunden, spätestens jedoch nach 8

3

Pflege der Schwangeren und der Wöchnerin





Stunden erfolgen. Nach einer am Morgen durchgeführten Sectio caesarea sollte die Wöchnerin möglichst am selben Tag mobilisiert werden und der liegende Dauerkatheter abhängig vom Allgemeinzustand der Frau frühzeitig gezogen werden. Wochenbettgymnastik: Sie dient einem guten Rückstrom des Blutes und der Rückbildung. Mit kleinen, nicht anstrengenden Übungen kann bereits in den ersten Wochenbetttagen begonnen werden. Niedermolekulares Heparin (Clexane): Zusätzlich wird nach einer Sectio caesarea Heparin subkutan gespritzt, da infolge der Gefäßverletzungen eine verstärkte Blutgerinnung gegeben ist.

derung der Darmperistaltik. Um dem entgegenzuwirken, werden folgende Maßnahmen empfohlen: ● Durch Frühmobilisation wird die Darmperistaltik angeregt. ● Ab dem 2.– 3. Tag post partum sollte auf eine regelmäßige und weiche Stuhlentleerung geachtet werden. Ausreichende Flüssigkeitszufuhr, ballaststoffreiche Ernährung und Bewegung wirken sich günstig auf die Darmtätigkeit aus. Bei Bedarf werden auf ärztliche Anordnung orale Laxanzien oder ein Klysma verabreicht (S. 388).

Merke

Zurückhaltung hinsichtlich der Einnahme von Laxanzien ist bei stillenden Frauen notwendig, da über die Muttermilch auch beim Neugeborenen entsprechende Reaktionen auftreten können. Eine Information der Frau sollte unbedingt erfolgen.

Infektfreie Nieren und Harnwege

23

Nach der Geburt besteht eine verstärkte Neigung zu Harnwegsinfektionen. Post partum kommt es durch den Östrogenabfall zum verstärkten Ausschwemmen von Ödemen (Harnflut), die stündlich bis zu 300 ml betragen kann. Die Blasenkapazität ist erhöht und der Miktionsdrang vermindert. Zusätzlich kann der Harnabfluss durch ein Sphinkterödem gestört sein. Die Folge ist eine Überdehnung der Blase, die zu einem Reflux führen kann, der durch erweiterte Ureteren noch begünstigt wird. Der Zeitpunkt der Miktion muss sorgfältig kontrolliert werden und darf 6 Stunden post partum nicht überschreiten. Zur Unterstützung der Miktion kann der Wasserhahn angestellt, die Wöchnerin zum Aufsetzen aufgefordert oder zur Toilette begleitet werden. Eine Frühmobilisation erleichtert zusätzlich den Miktionsvorgang. Ein Katheterisieren der Blase (S. 371) wird unumgänglich, wenn die Maßnahmen erfolglos bleiben.

Merke

● H

Die Wöchnerin wird hinsichtlich Harnflut, verminderten Harndrangs und der Notwendigkeit einer regelmäßigen Blasenentleerung vom Pflegepersonal informiert. Eine Miktion sollte deshalb innerhalb der ersten 3 Tage etwa alle 3 Stunden erfolgen.

Physiologische Darmperistaltik und Stuhlentleerung Post partum besteht eine verstärkte Neigung zur Obstipation infolge der größeren Ausdehnung des Darmes und der Vermin-

494

● H





● ●



Durch Überdehnung des Sphincter ani kann es vorübergehend innerhalb der ersten Tage zu einer Stuhlinkontinenz kommen. Die Wöchnerin muss wissen, dass dieser Zustand i. d. R. nach wenigen Tagen wieder abklingt. Durch Hämorroiden oder Analfissuren treten in seltenen Fällen Schmerzen auf, die durch Kälteapplikationen (S. 291) gemildert werden können.

Schmerzlinderung und schnelle Wundheilung Durch einen Dammschnitt (Episiotomie), ein Vulvahämatom oder eine Schnittentbindung können Schmerzen und verstärkte Infektionsgefahr bestehen. Folgende Maßnahmen können zur Schmerzlinderung und Wundheilung beitragen: ● Regelmäßige Temperaturkontrollen helfen, eine Infektion rechtzeitig zu erkennen. ● Intimhygiene (S. 495), d. h. Abspülen nach jedem Toilettengang mit lauwarmem Wasser, durchführen. ● Das äußere Genitale sollte täglich auf Rötung und Schwellung kontrolliert werden. ● Druckentlastung sollte für ca. 3 Tage erfolgen. Sitzringe werden kaum noch empfohlen, da z. B. eine vorhandene Dammnaht leicht auseinandergezogen werden kann. Sollten sie dennoch zur Anwendung kommen, so muss der Kontakt mit der Unterlage gegeben sein, d. h., sie dürfen nur leicht aufgeblasen werden. ● Kühlende Auflagen können mithilfe von präparierten, d. h. mit Olivenöl getränk-





ten und tiefgefrorenen Vorlagen, Coolpacks (an Schutzhülle denken!) oder mit Wasser gefüllten und gefrorenen Fingerlingen schnell Linderung verschaffen (Eisauflagen (S. 291)). Eisauflagen dürfen nur mit einer Schutzhülle angewendet werden. Im Idealfall beginnt man möglichst bald nach der Geburt mit dem Kühlen und kühlt alle 4 Stunden für 5–10 Min. Eine zu lange Kühlung an derselben Stelle kann sich negativ auf die Durchblutung des Gewebes und damit auch auf die Heilung der Dammnaht auswirken. Zur Schmerzlinderung können bei Bedarf verordnete Analgetika verabreicht werden. Sitzbad 1–2-mal täglich für 5 Minuten mit Kochsalz oder Totes-Meer-Salz (desinfizierend). Sitzbäder mit Arnika, Calendula, Eichenrinde (entzündungshemmend) sollten aufgrund der Infektionsgefahr erst ab Ende der ersten Woche erfolgen. Achtung: Dauer des Sitzbades nicht überschreiten, da die Nähte sonst aufweichen können. Vorlagen häufig wechseln, um den Nahtbereich möglichst trocken zu halten. Wöchnerinnen werden über das Auftreten möglicher Nachwehen informiert, da sie schmerzhaft sind und die Frau verunsichern können. Dies gilt besonders nach Sectio caesarea, da die Frauen die Wehen u. U. nicht erlebt haben. Nachwehen treten besonders häufig während des Stillens, ausgelöst durch die Oxytocin-Ausschüttung, auf. Nach einer Sectio caesarea wird die Sectionaht auf mögliche Nachblutungen kontrolliert. Gegebenenfalls kann bei einer verstärkten Blutung aus der Naht ein Sandsack auf die betroffene Stelle gelegt werden, um so die Blutung zu stoppen.

Erkennen von veränderten Rückbildungsvorgängen Der Wochenfluss (Lochien) entsteht als Folge des Heilungsprozesses im Uterus, nachdem sich Plazenta und Deziduareste gelöst haben. Am Ausmaß und an der Beschaffenheit der Lochien können Rückschlüsse bezüglich Heilungsverlauf sowie Rückbildung des Uterus gezogen werden. Die Rückbildungsvorgänge beginnen nach Ausstoßung der Plazenta und werden durch die Uteruskontraktionen gefördert, die zur Verkleinerung des Uterus und Verringerung der Blutung führen. Günstig wirkt sich frühzeitiges und häufiges Anlegen des Neugeborenen an die Brust aus, da durch den Saugreiz die Oxytocin-Ausschüttung gefördert wird, die zu Kontraktionen des Uterus führen und als Stillwehen bezeichnet werden.

23.1 Bedeutung

Tab. 23.2 Wochenfluss in den ersten 4 Wochen post partum. Woche (post partum)

Menge

Farbe

Zusammensetzung

1. Woche

starker Wochenfluss

rot (blutig), Lochia rubra

Blut, Deziduareste, Zervixschleim, Vaginalepithel, reichlich Bakterien

2. Woche

geringer werdend

braun-schwarz, Lochia fusca

wie 1. Woche

3. Woche

schwach

gelblich, Lochia flava

Zunahme der Leukozyten

4. Woche

geringfügig

grau-gelb, weißlich bis klar

evtl. noch geringe Blutbeimengungen

Beim Wochenfluss ist auf Folgendes zu achten: ● Die Wöchnerin erhält vom Pflegepersonal Informationen über Stärke und Veränderungen des Wochenflusses, damit sie Abweichungen selbst frühzeitig erkennen und diese weitergeben kann (▶ Tab. 23.2). ● Normale Lochialmenge: Maximal 2 Vorlagen sollten während der 1. Stunde post partum durchtränkt sein (ca. 30 ml werden für eine Vorlage gerechnet). Danach soll eine Vorlage für 1 – 2 Stunden reichen, später können die Abstände immer größer werden. Der normale Geruch der Lochien ist fade. Ein veränderter, unangenehmer Geruch weist auf eine Infektion hin. ● Die Wöchnerin sollte täglich zu Farbe, Menge und Geruch der Lochien befragt, und der aktuelle Zustand dokumentiert werden.

Merke

H ●

Nach einer Sectio caesarea kann der Wochenfluss verändert, evtl. reduziert oder verkürzt sein.









Die Kontrollen des Fundusstandes bei entleerter Harnblase erfolgen nach Spontangeburt mindestens 1-mal täglich. Auffälligkeiten müssen umgehend dem Arzt mitgeteilt werden. Das Auseinanderweichen der geraden Bauchmuskeln (Rektusdiastase) wird ebenfalls regelmäßig kontrolliert. Ist die Rektusdiastase schmal, bildet sich diese meist langsam zurück. Klafft sie über 2 Querfinger oder mehr auseinander, können Übungen zur Rückbildung helfen. Die Wöchnerin sollte wissen, dass sich eine Blasenentleerung in 3- bis 4stündlichen Abständen positiv auf die Rückbildung des Uterus durch die benachbarte Lage auswirkt. Frühmobilisation bewirkt eine Beschleunigung der Uteruskontraktionen und beugt einer Lochialstauung vor. Regelmäßige Blasen- und Darmentleerungen wirken sich auch unterstützend auf die Uteruskontraktionen aus.









Eine Massage des Fundus uteri fördert ebenfalls die Rückbildung des Uterus. Bei verzögerter oder ausbleibender Uterusrückbildung werden nach Anordnung Oxytocin-Nasenspray oder Sekalepräparate, z. B. Methergin, verabreicht. Letztgenannte haben jedoch eine negative Wirkung auf die Laktation. Einem Abknicken des Gebärmutterkörpers wird vorgebeugt, indem die Wöchnerin 2-mal täglich für 10 Minuten eine Bauchlage einnimmt. Um einen Gegendruck zu erzeugen, sollte ein Kissen unter den Bauch gelegt werden. Durch gezielte Wochenbettgymnastik werden alle Rückbildungsvorgänge beschleunigt.

Merke

spült werden. Das Abspülen sollte nach jeder Miktion oder Stuhlentleerung, mindestens jedoch 3-mal täglich erfolgen. Ein Brennen infolge von Schürfwunden an den Labien kann durch Abspülen während der Miktion verringert werden. Die Frau sollte dazu angehalten werden, viel zu trinken. Der Urin wird so verdünnt, wodurch das Brennen bei der Miktion nachlässt. Zum Abtrocknen/Abtupfen wird Einmalmaterial benutzt.

Merke

H ●

Wird die Reihenfolge geändert, um das schlafende Neugeborene nicht zu stören, so muss vor der Versorgung des Kindes eine sorgfältige Händedesinfektion bzw. ein Händewaschen erfolgen.

H ●

23

Nach einer Sectio caesarea verläuft die Rückbildung des Uterus verzögert.



Hygienische Maßnahmen Das aus dem Cavum uteri kommende Sekret enthält p. p. keine pathogenen Keime. Es gilt jedoch als potenziell infektiös, da durch den erweiterten Geburtskanal pathogene Keime, z. B. Staphylokokken, Streptokokken und Escherichia-coli-Stämme, aufsteigen können. Blut ist ein hervorragender Nährboden, sodass das Cavum uteri spätestens nach 24 Stunden eine Keimbesiedlung aufweist. Der Wochenfluss gilt dementsprechend nicht als keimfrei, enthält aber keine hochpathogenen Keime. Diesbezüglich ist es wichtig, alle hygienischen Regeln zu beachten: ● Bevor das Neugeborene versorgt wird, sollte die Mutter immer die Hände waschen (häusliches Umfeld) oder desinfizieren (Klinik). ● Nach der Versorgung des Neugeborenen erfolgt bei der Wöchnerin zuerst die Pflege der Brust und anschließend die des Körpers. ● Zum Schluss wird die Intimpflege durchgeführt, indem die äußeren Genitalien je nach Allgemeinbefinden von der Wöchnerin selbst oder vom Pflegepersonal mit warmem Wasser abge-





Die Wöchnerin kann sofort nach der Geburt duschen, sofern es ihre Kreislaufsituation erlaubt. Um einer Mastitis vorzubeugen, muss auf eine strenge Trennung von Handtüchern geachtet und Einmalwaschlappen benutzt werden. Das Wasser darf bei einem verordneten Sitzbad nicht die Brust berühren, auch dürfen Wannenbäder erst nach Beendigung des Wochenflusses erfolgen. Nachthemden sollten nicht über den Kopf ausgezogen werden, um eine Kontamination durch den Wochenfluss zu verhindern. Entsorgt das Pflegepersonal die Vorlagen für die Wöchnerin, müssen Schutzhandschuhe getragen werden. Die Vorlagen werden im Müllabwurf verworfen. Anschließend erfolgt eine sorgfältige Händedesinfektion.

Praxistipp Pflege

Z ●

Im Bereich der Vulva sollte auf Seife und Intimwaschmittel verzichtet werden, um eine Reizung und Veränderung des pH-Wertes zum alkalischen Bereich zu vermeiden.

5

Pflege der Schwangeren und der Wöchnerin

Ausgeglichene psychische Verfassung

23

Merke

H ●

auftreten. Während des Stillens erfolgt aufgrund des hohen Prolaktinspiegels i. d. R. keine Menstruation. Dieser Zeitraum wird als Stillamenorrhö bezeichnet. Die Menstruation setzt dann meist ca. 4 Wochen nach dem Abstillen wieder ein. Für die Wiederaufnahme des Geschlechtsverkehrs gibt es keine feste Vorgabe bzw. Einschränkung, sofern man beachtet, dass Rissverletzungen, Episiotomien oder eine Sectionaht erst abgeheilt sein sollten. Solange der Wochenfluss noch besteht, wird aufgrund der potenziellen Infektionsgefahr das Tragen eines Kondoms empfohlen.

Da bei einer postpartalen Psychose die Suizidgefahr bzw. die Gefahr eines erweiterten Suizids erhöht ist, muss die Wöchnerin bei Auftreten massiver psychischer Veränderungen sofort in eine psychiatrische Klinik verlegt werden.

Der sog. „Babyblues“ tritt bei ca. 50–60 % der Wöchnerinnen auf, meist um den 3.– 5. Tag post partum (p. p.). Er kann wenige Stunden bis Tage andauern und ist gekennzeichnet durch eine erhöhte emotionale Empfindsamkeit und Stimmungsschwankungen der Frau. Häufig fühlen sich v. a. Erstgebärende in dieser Zeit mit der Gesamtsituation überfordert – ihre Stimmungslage schwankt zwischen übermäßiger Freude bis hin zu tiefer Betrübtheit. Viele Frauen weinen in dieser Zeit häufig. Deshalb ist es besonders wichtig, dass das betreuende Personal der Wöchnerin entlastend zur Seite steht und sie in dieser Phase mit Geduld und Verständnis unterstützt. Der Babyblues besitzt keinen direkten Krankheitswert. Ursächlich ist die hormonelle Umstellung nach der Entbindung zu nennen. Überdauert die betrübte Stimmungslage den Zeitraum von 1–2 Wochen p. p., kann sich eine behandlungsbedürftige postpartale Depression entwickeln. Eine frühzeitige Diagnose und Behandlung sind hier entscheidend. Der Übergang von einer postpartalen Depression zu einer postpartalen Psychose kann z. T. fließend sein. Dementsprechend muss die Wöchnerin auf mögliche Stimmungslagen, die über das übliche Maß hinausgehen, beobachtet werden. Treten massive Erregungs- oder Verwirrtheitszustände, Wahnvorstellungen, Bewusstseinsstörungen, Schuldideen oder Minderwertigkeitsgefühle auf, muss dies umgehend dem Arzt mitgeteilt werden.

Sicherheit und Gesundheit Eltern

a ●

Die Mütter sollten Informationen bezüglich Stillgruppen, Mütterberatungsstellen und Häufigkeit der Früherkennungsuntersuchungen (U1–U9) erhalten (S. 486).

Merke

H ●

Trotz des Stillens besteht kein sicherer Empfängnisschutz, da es zu einem Eisprung ohne vorherige Menstruation kommen kann.

▶ Anti-D-Prophylaxe. Bei Vorhandensein einer Rhesus-Unverträglichkeit, d. h. die Mutter ist Rh-negativ und das Kind Rhpositiv, muss bei der Mutter innerhalb von 2 bis max. 72 Std. nach Geburt eine Rh-Sensibilitätsprophylaxe in Form einer Immunglobulin-Injektion mit Anti-D (Rh) durchgeführt werden. Gebildete Rh-positive Antikörper im mütterlichen Kreislauf werden mittels dieser Immunglobulin-Injektion vernichtet, damit bei einer erneuten Schwangerschaft die roten Blutkörperchen (Erythrozyten) des Ungeborenen nicht zerstört werden. ▶ Menstruation und Empfängnisschutz. Auch sind bei Bedarf Informationen über das Einsetzen der Menstruation und den Empfängnisschutz zu erteilen. Die erste Menstruation kann ca. 5 bis max. 10 Wochen post partum einsetzen und verstärkt

▶ Hautirritationen. Die Wöchnerin sollte auch dahin gehend beruhigt werden, dass unschöne Hauterscheinungen, wie Pigmentflecken und Akne, wieder abklingen, rote Striae abblassen und Haarausfall sich wieder normalisiert. Pigmentflecken gehen häufig nach 6 – 8 Wochen zurück. ▶ Gynäkologische Nachsorge. Eine letzte gynäkologische Nachuntersuchung erfolgt 6 Wochen post partum.

Abweichungen im Wochenbett Beobachtungsmerkmale und geeignete Pflegemaßnahmen bei Abweichungen im Wochenbett sind in ▶ Tab. 23.3 dargestellt.

Tab. 23.3 Abweichungen im Wochenbett. Ursachen

Beobachtungsmerkmale

Pflegemaßnahmen

Rückbildungsstörung des Uterus (Subinvolutio uteri) Überdehnung der Muskelfasern während der Schwangerschaft, z. B. bei Mehrlingsgeburten und Polyhydramnion (zu viel Fruchtwasser); fehlende Oxytocinausschüttung, wenn nicht gestillt wird.



● ●



höherer Fundusstand als der Zeit entsprechend Uterus fühlt sich weich und teigig an vermehrter und blutiger Wochenfluss über den 4. Tag post partum häufig Druckschmerz an den Uteruskanten, sog. Kantenschmerz

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496

engmaschige Kontrolle von Puls und Blutdruck tägliche Kontrolle des Uterusstandes Beobachtung des Wochenflusses Maßnahmen zur Steigerung des Uterustonus: ○ wehenfördernde Mittel (Oxytocin i. m. oder i. v.) ○ Spasmolytikumgabe nach ärztl. Anordnung, um Verschluss des Zervikalkanals zu vermeiden ○ Anregung zur Miktion ○ geregelte Stuhlentleerung ○ für ca. 10 Minuten Bauchlage einnehmen lassen (evtl. Kissen unter den Bauch, um einen Gegendruck zu erzeugen) ○ Mobilisation und Rückbildungsgymnastik, Bauchmassage (regt die Kontraktion des Uterus an) ○ häufiges Anlegen fördert die Rückbildungsvorgänge Kontrolle der Infusion und evtl. Transfusion Assistenz bei Ultraschalluntersuchung

23.1 Bedeutung

Tab. 23.3 Fortsetzung Ursachen

Beobachtungsmerkmale

Pflegemaßnahmen

Lochialstauung Verminderung oder völliges Sistieren (Aufhören) des Wochenflusses innerhalb der ersten Tage post partum. Die Ursache liegt im Verschluss des Gebärmutterhalses durch Eihautreste oder Blutkoagel, Retroflexion des erschlafften Uterus oder Muttermundspasmus. Gefahr: Endometritis, später Parametritis und Sepsis

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● ● ●

Wochenfluss fließt wenig oder gar nicht Fieberanstieg am 2.– 4. Wochenbetttag unangenehm riechender Wochenfluss (gilt als infektiös) Stirnkopfschmerz leicht gestörter Allgemeinzustand wenig kontrahierter und schlecht zu tastender Uterus, der druckempfindlich ist



Schmerzen Rötung Fieber Schwellung schmierige Beläge Eiterabsonderung Nahtdehiszenz







engmaschige Temperatur- und Pulskontrollen Beobachtung von Fundusstand und Wochenfluss (Farbe, Menge, Geruch) Maßnahmen zur Steigerung des Uterustonus durchführen (s. o.)

Wundheilungsstörung kommen häufig vor im Bereich von Vulva, Episiotomie, Sectionaht u. a.

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● ● ●

Beobachtung der äußeren Genitalorgane, Sectionaht Beobachtung der Körpertemperatur Urin-Stix bei Verdacht auf HWI Vorlagen z. B. mit Chinosol befeuchten regelmäßige Spülungen Sitzbäder z. B. mit Tannolact oder Eichenrinde (Wirkung: zusammenziehend und entzündungshemmend) Salben zur Wundheilung nach AVO für geregelte Stuhlentleerung sorgen Assistenz bei Nahtentfernung

Harnwegsinfektionen (HWI) Harnwegsinfekte werden durch die weit geöffneten Harnabflusswege begünstigt.

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Schmerzen beim Wasserlassen trüber, übel riechender Urin subfebrile Temperatur evtl. Fieber



Urin-Stix bei Verdacht auf HWI Antibiose nach ä. A. Flüssigkeitszufuhr Schmerztherapie (lokale Wärme)

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23

Fieber im Wochenbett Fieber im Wochenbett kann unterschiedliche Ursachen haben: Lochialstau, Endometritis, Milchstau, Mastitis, Thrombose, Thrombophlebitis, Harnwegsinfekte u. a.



(s. u.)



(s. u.)



beeinträchtigtes Allgemeinbefinden bis schweres Krankheitsgefühl Kopfschmerz subfebrile Temperaturen im Wochenbett: 37 °C–37,9 °C Fieber im Wochenbett: über 38 °C evtl. Schüttelfrost Kantenschmerz im Bereich des Uterus



Bettruhe Beobachtung der Vitalzeichen (Temperatur, Puls, RR, Atmung) Kontrolle von Körpertemperatur, Wochenfluss, Fundusstand, Episiotomie, Sectionaht u. a. Maßnahmen bei Schüttelfrost und zur Senkung der erhöhten Körpertemperatur Gabe von Antibiotika nach AVO

subfebrile Temperaturen über mehrere Tage oder plötzlich Fieber Stirnkopfschmerz reduziertes Allgemeinbefinden Uterus ist weich Kantenschmerz beim Eindrücken des Uterus Lochien riechen übel (Lochialstau) mäßige Leukozytose und CRP-Anstieg



Puerperal- oder Wochenbettfieber Die Infektion geht immer von Geburtswunden aus, z. B. Endometrium, Dammnaht u. a. Die Ausbreitung der pathogenen Keime kann über die Schleimhaut, die Lymphbahn oder den Blutweg erfolgen. Gelangen die Keime hämatogen in andere Organe, so kann sich ein septisches Fieber, „Kindbettfieber“, entwickeln. Der Übergang zum septischen Schock ist fließend!

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Endometritis puerperalis/Endomyometritis Infektion der Gebärmutterschleimhaut. Pathogene Keime breiten sich über, z. B. den Zervikalkanal aus und führen zur Infektion. Wandern pathogene Keime in die Muskelschicht des Uterus, entsteht eine Endomyometritis. Begünstigende Faktoren: Abwehrschwäche, Lochialstau, vorzeitiger Blasensprung u. a.



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Verabreichen der hoch dosierten Antibiotikatherapie nach AVO Gabe von Kontraktionsmitteln und Spasmolytika, um eine Uteruskontraktion und ein besseres Abfließen der Lochien zu fördern Kontrolle von Wochenfluss, Fundusstand, Temperatur und Assistenz bei Bestimmung der Laborparameter

7

Pflege der Schwangeren und der Wöchnerin

Tab. 23.3 Fortsetzung Ursachen

Beobachtungsmerkmale

Pflegemaßnahmen

Thrombophlebitis Entzündung einer oberflächlichen Vene, deren Lumen durch einen Thrombus verlegt ist (häufig im Bereich einer Krampfader) Merke: Eine oberflächliche Thrombophlebitis kann in eine tiefe Phlebothrombose übergehen. Gefahr: Post partum besteht innerhalb der ersten 6 Wochen das Risiko der Verlegung einer Vene durch einen Thrombus infolge der Weitstellung der Venen sowie Aktivierung der Gerinnung. Maßnahmen zur Thromboseprophylaxe (S. 405).





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Rötung, Schwellung über der betroffenen Vene schmerzhaft verhärteter und tastbarer blau-roter Venenstrang Schmerzen, die beim Betasten zunehmen evtl. subfebrile Temperatur Begleitsymptome wie Fieber und Tachykardie sind selten



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sorgfältige Beobachtung der Extremitäten und Registrierung von Schmerzäußerungen Beobachtung von Puls und Blutdruck Kompressionsstrümpfe nach Abklingen der Entzündung empfohlen Fußgymnastik und Mobilisation entstauende Positionierung in Hochlage der Extremität ausreichend trinken Kühlung zur Schmerzlinderung und Entzündungshemmung: ○ Quarkauflagen ○ kühlende Umschläge, z. B. essigsaure Tonerde oder Alkoholumschläge (2 Teile kaltes Wasser und 1 Teil Alkohol 70 %) ○ Heparin: Auftragen von Hirudoidsalbe 2–3-mal täglich Low-Dose-Heparin-Therapie und Antiphlogistika nach AVO

Phlebothrombose (tiefe Bein- und Beckenvenenthrombose) Entzündung einer tiefer liegenden Vene mit Abflussbehinderung durch einen Thrombus, oft durch hormonelle Veränderungen bzw. (z. B. tiefe Bein- und Beckenvenenthrombose) Veränderungen der Blutgerinnung. Thrombus wird evtl. operativ entfernt. Gefahr: Lungenembolie mit Todesfolge.

23

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23.2 Laktation Heidrun Beyer und Isolde Reitter

Definition

L ●

Mit Laktation werden Milchbildung sowie Milchabgabe an das Neugeborene bezeichnet.

23.2.1 Physiologie der Milchbildung Mammogenese Voraussetzung für eine erfolgreiche Laktation ist die Entwicklung der Brustdrüse (Mammogenese), die während der Pubertät infolge hormonaler Steuerung entsteht. Die Brustdrüsen bilden sich durch die Hormone Östrogen und Progesteron

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Symptome können anfangs fehlen Spannungs- und Schweregefühl in den Beinen, Zunahme der Beschwerden beim Stehen und Gehen Waden- und Fußsohlenschmerz (wie Muskelkater) Schmerzen in der Leistengegend (Beckenvenenthrombose) charakteristische Druckschmerzen an speziellen Punkten der Beine Schwellung und Blaufärbung des gesamten Beines Temperaturdifferenz zwischen betroffenem und gesundem Bein evtl. subfebrile Temperaturen „Kletterpuls“ (langsamer Anstieg der Pulsfrequenz)

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weiter aus, die nach Stimulation durch die beiden Hypophysenvorderlappen-Hormone FSH und LH gebildet werden. Follikelstimulierendes Hormon (FSH) bewirkt die Reifung des Follikels, das Östrogen produziert. Luteinisierendes Hormon (LH) löst den Eisprung aus, sodass sich anschließend aus den Follikelresten der Gelbkörper (Corpus luteum) entwickelt und Progesteron bildet. Die weibliche Brust (lat. mamma) hat 15 – 20-strahlig angeordnete Drüsenlappen, aus denen je 1 Milchgang zur Brustwarze führt (▶ Abb. 23.2). Jeder Drüsenlappen besteht aus verschiedenen Drüsenläppchen, deren kleinste Untereinheit die Acini sind, die während der Schwangerschaft und Laktation als Alveolen bezeichnet werden. In ihnen wird die Milch gebildet, die mithilfe der Myoepithelzellen, die wie ein Korbgeflecht um Alveolen und Milchgänge liegen, durch Kontraktion ausgepresst wird.

Bettruhe bei Schmerzen und Fieber nach AVO Kompressionstherapie und Mobilisation nach AVO Hochlagern des betroffenen Beines Kühlen des geschwollenen Beines Überwachung von Puls, Blutdruck, Atmung und Temperatur, Kontrolle auf Haut- und Schleimhautblutungen Umfangmessung des betroffenen Beines an der gleichen Stelle (Markierung) Obstipationsprophylaxe (S. 386) zur Stuhlregulierung Heparingabe i. v. als Dauerinfusion nach ärztlicher Anordnung Assistenz bei der Gerinnungsanalyse (Labor) sowie bei der Thrombolysetherapie

Merke

H ●

Laut Forschungsergebnissen zur „Anatomie der laktierenden Brust“ existieren keine Milchseen (Donna Geddes, University of Western Australia).

Während der Schwangerschaft wird die Brust infolge der plazentaren Hormone weiterentwickelt. Das Hormon Prolaktin aus dem Hypophysenvorderlappen veranlasst bereits während der Schwangerschaft die Produktion von geringen Mengen Kolostrum. Montgomery-Drüsen, die sich im Bereich des Warzenvorhofes befinden, geben ihr pflegendes Sekret über winzige Öffnungen ab. Es enthält eine Duftnote, die es dem Kind ermöglicht, innerhalb weniger Tage die Mutter am Geruch zu erkennen, sofern sie kein Parfüm benutzt.

Pflege der Schwangeren und der Wöchnerin

Tab. 23.3 Fortsetzung Ursachen

Beobachtungsmerkmale

Pflegemaßnahmen

Thrombophlebitis Entzündung einer oberflächlichen Vene, deren Lumen durch einen Thrombus verlegt ist (häufig im Bereich einer Krampfader) Merke: Eine oberflächliche Thrombophlebitis kann in eine tiefe Phlebothrombose übergehen. Gefahr: Post partum besteht innerhalb der ersten 6 Wochen das Risiko der Verlegung einer Vene durch einen Thrombus infolge der Weitstellung der Venen sowie Aktivierung der Gerinnung. Maßnahmen zur Thromboseprophylaxe (S. 405).





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Rötung, Schwellung über der betroffenen Vene schmerzhaft verhärteter und tastbarer blau-roter Venenstrang Schmerzen, die beim Betasten zunehmen evtl. subfebrile Temperatur Begleitsymptome wie Fieber und Tachykardie sind selten



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sorgfältige Beobachtung der Extremitäten und Registrierung von Schmerzäußerungen Beobachtung von Puls und Blutdruck Kompressionsstrümpfe nach Abklingen der Entzündung empfohlen Fußgymnastik und Mobilisation entstauende Positionierung in Hochlage der Extremität ausreichend trinken Kühlung zur Schmerzlinderung und Entzündungshemmung: ○ Quarkauflagen ○ kühlende Umschläge, z. B. essigsaure Tonerde oder Alkoholumschläge (2 Teile kaltes Wasser und 1 Teil Alkohol 70 %) ○ Heparin: Auftragen von Hirudoidsalbe 2–3-mal täglich Low-Dose-Heparin-Therapie und Antiphlogistika nach AVO

Phlebothrombose (tiefe Bein- und Beckenvenenthrombose) Entzündung einer tiefer liegenden Vene mit Abflussbehinderung durch einen Thrombus, oft durch hormonelle Veränderungen bzw. (z. B. tiefe Bein- und Beckenvenenthrombose) Veränderungen der Blutgerinnung. Thrombus wird evtl. operativ entfernt. Gefahr: Lungenembolie mit Todesfolge.

23

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23.2 Laktation Heidrun Beyer und Isolde Reitter

Definition

L ●

Mit Laktation werden Milchbildung sowie Milchabgabe an das Neugeborene bezeichnet.

23.2.1 Physiologie der Milchbildung Mammogenese Voraussetzung für eine erfolgreiche Laktation ist die Entwicklung der Brustdrüse (Mammogenese), die während der Pubertät infolge hormonaler Steuerung entsteht. Die Brustdrüsen bilden sich durch die Hormone Östrogen und Progesteron

498

Symptome können anfangs fehlen Spannungs- und Schweregefühl in den Beinen, Zunahme der Beschwerden beim Stehen und Gehen Waden- und Fußsohlenschmerz (wie Muskelkater) Schmerzen in der Leistengegend (Beckenvenenthrombose) charakteristische Druckschmerzen an speziellen Punkten der Beine Schwellung und Blaufärbung des gesamten Beines Temperaturdifferenz zwischen betroffenem und gesundem Bein evtl. subfebrile Temperaturen „Kletterpuls“ (langsamer Anstieg der Pulsfrequenz)

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weiter aus, die nach Stimulation durch die beiden Hypophysenvorderlappen-Hormone FSH und LH gebildet werden. Follikelstimulierendes Hormon (FSH) bewirkt die Reifung des Follikels, das Östrogen produziert. Luteinisierendes Hormon (LH) löst den Eisprung aus, sodass sich anschließend aus den Follikelresten der Gelbkörper (Corpus luteum) entwickelt und Progesteron bildet. Die weibliche Brust (lat. mamma) hat 15 – 20-strahlig angeordnete Drüsenlappen, aus denen je 1 Milchgang zur Brustwarze führt (▶ Abb. 23.2). Jeder Drüsenlappen besteht aus verschiedenen Drüsenläppchen, deren kleinste Untereinheit die Acini sind, die während der Schwangerschaft und Laktation als Alveolen bezeichnet werden. In ihnen wird die Milch gebildet, die mithilfe der Myoepithelzellen, die wie ein Korbgeflecht um Alveolen und Milchgänge liegen, durch Kontraktion ausgepresst wird.

Bettruhe bei Schmerzen und Fieber nach AVO Kompressionstherapie und Mobilisation nach AVO Hochlagern des betroffenen Beines Kühlen des geschwollenen Beines Überwachung von Puls, Blutdruck, Atmung und Temperatur, Kontrolle auf Haut- und Schleimhautblutungen Umfangmessung des betroffenen Beines an der gleichen Stelle (Markierung) Obstipationsprophylaxe (S. 386) zur Stuhlregulierung Heparingabe i. v. als Dauerinfusion nach ärztlicher Anordnung Assistenz bei der Gerinnungsanalyse (Labor) sowie bei der Thrombolysetherapie

Merke

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Laut Forschungsergebnissen zur „Anatomie der laktierenden Brust“ existieren keine Milchseen (Donna Geddes, University of Western Australia).

Während der Schwangerschaft wird die Brust infolge der plazentaren Hormone weiterentwickelt. Das Hormon Prolaktin aus dem Hypophysenvorderlappen veranlasst bereits während der Schwangerschaft die Produktion von geringen Mengen Kolostrum. Montgomery-Drüsen, die sich im Bereich des Warzenvorhofes befinden, geben ihr pflegendes Sekret über winzige Öffnungen ab. Es enthält eine Duftnote, die es dem Kind ermöglicht, innerhalb weniger Tage die Mutter am Geruch zu erkennen, sofern sie kein Parfüm benutzt.

23.2 Laktation

oberflächliche Brustfaszie großer Brustmuskel Bindegewebsstränge („Cooper-Bänder“)

kleiner Brustmuskel

Drüsenlappen

Interkostalmuskulatur

Brustwarze (Papilla mammaria) Myoepithelzelle

Interkostalgefäße Milchgang oberflächliche Körperfaszie

Bindegewebe

Milchgang Alveolarzelle

Abb. 23.2 Anatomie der Brustdrüse. Aus 15–20-strahlig angeordneten Drüsenlappen führt je 1 Milchgang zur Brustwarze.

Galaktogenese Das Einschießen der Milch (Galaktogenese) erfolgt am 2.–3. Tag post partum, nachdem der Hormonspiegel der plazentaren Hormone Östrogen und Progesteron abgesunken ist. Dadurch kommt das für die Milchbildung verantwortliche Prolaktin zur vollen Wirkung, das durch den Saugreiz zusätzlich gefördert wird (▶ Abb. 23.3). Während des Milcheinschusses spürt die Wöchnerin starkes Spannen und eine Erwärmung der Brust. Die Venenzeichnung ist durch die vermehrte Durchblutung der Brust deutlich sichtbar und die axillare Körpertemperatur kann auf 37,5 °C ansteigen.

Merke

Hypothalamus

23 Nervenreiz (Saugreiz)

Hypophyse

H ●

Prolaktin Oxytocin

Der Milcheinschuss erfolgt sanfter, wenn in den ersten Tagen öfter angelegt wird. Der Saugreiz des Kindes und die häufige und effektvolle Entleerung der Brust beschleunigen die hormonelle Steuerung der Laktation.

Ovarium

Durch den Saugreiz werden auch Impulse zum Hypophysenhinterlappen geleitet, wodurch das Hormon Oxytocin ausgeschüttet wird, das den Milchfluss (ausgelöst durch die Kontraktionen der Myoepithelzellen) und die Uteruskontraktionen fördert. Oxytocin kann auch durch einen konditionierten Reflex ausgeschüttet werden, der als Reaktion auf das Anschauen des Neugeborenen oder durch intensive Gedanken an das Kind erfolgt. Stress, Hektik, Ärger oder Schmerzen können dagegen den Milchfluss zum Versiegen bringen.

Uterus Abb. 23.3 Galaktogenese. Der Saugreiz des Kindes regt die Hormonproduktion an.

9

Pflege der Schwangeren und der Wöchnerin Die Reaktion auf die Oxytocinausschüttung, die als Milchloslass- oder Milchspendereflex bezeichnet wird, ist sehr unterschiedlich, sodass bei einigen Frauen lediglich ein prickelndes Gefühl, bei anderen evtl. stechende Schmerzen auftreten und die Milch entweder herausspritzt oder nur leicht tropft.

Merke

H ●

Die Milchproduktion kann erschwert sein, wenn die Milchentleerung aufgrund von stark geschwollenen Brüsten behindert wird.

Muttermilch

23

Muttermilch ist die optimale Ernährung für das Kind. Es bekommt die Milch, die es gerade benötigt, da sich die Muttermilch in ihrer Zusammensetzung in den ersten Wochen verändert. Man unterscheidet: ● Kolostrum (Anfangsmilch, Vormilch): ca. vom 1.–3. (5.) Tag p. p. Es wird bereits ab der 20. Schwangerschaftswoche (SSW) gebildet und kann vor der Geburt austreten. ● Transitorische Milch (Übergangsmilch): ca. vom 4.–14. Tag p. p. ● Reife Frauenmilch: ab dem 15. Tag p. p. (Menge: ca. 800 ml täglich) Die Milchmenge für die ersten Tage kann mithilfe der folgenden Formel errechnet werden (Herfurth u. Lenze 2014): Milchmenge in ml = (Lebenstage – 1) x Anzahl der Mahlzeiten x 10

23.2.2 Stillen Bedeutung des Stillens Die werdende Mutter sollte wissen, dass das Stillen nicht nur Vorzüge hinsichtlich einer optimalen Ernährung des Kindes (S. 341) hat, sondern durch den intensiven Hautkontakt eine enge Beziehung zwischen ihr und dem Kind entsteht. Durch das Gefühl der Geborgenheit werden beim Neugeborenen Sicherheit und Urvertrauen gestärkt, die für die weitere seelische und körperliche Entwicklung des Kindes von entscheidender Bedeutung sind. Weiterhin gilt, dass bei gestillten Säuglingen ein 4- bis 6-fach geringeres Risiko von Harnwegsinfektionen, Magen-DarmErkrankungen, respiratorischen Erkrankungen, Otitis media sowie Meningitis durch Haemophilus influenzae besteht. Ebenso ist das Risiko bei familiär belasteten Kindern für Diabetes mellitus, maligne

500

Lymphome sowie Morbus Crohn geringer. Stillen ist auch eine Allergieprophylaxe, da die Darmreifung gefördert wird und somit Allergene die Darmwand nicht mehr so leicht durchwandern können. Omega-3-Fettsäuren sind wichtig für die Entwicklung des Gehirns. Fettsäuren wie die Linolsäure und Kohlenhydrate begünstigen den Aufbau der Darmflora. Gestillte Kinder sind später seltener übergewichtig (Braid et al. 2008). Stillhormone üben eine beruhigende Wirkung auf die Mutter aus, sodass sie auch in schwierigen und anstrengenden Situationen, z. B. häufiges nächtliches Weinen des Kindes, kindgerechte Reaktionen zeigt. Ein weiterer wichtiger Aspekt für das Stillen ist eine optimale Ausbildung des Kiefers und der Mundmuskulatur. Dadurch wird die Sprachentwicklung gefördert, auch treten Zahnfehlstellungen seltener auf. Außerdem wird der Entstehung eines Neugeborenenikterus vorgebeugt, da durch das in der Muttermilch vorhandene Albumin das Bilirubin zur Leber transportiert und dort an Glukuronsäure gekoppelt werden kann. Für die Wöchnerin bedeutet das Stillen eine zügige Rückbildung des Uterus infolge der Oxytocinausschüttung. Die Mütter sollten deshalb von Hebammen, Ärzten, Pflegepersonal, Laktationsberaterinnen und besonders von ihrem Partner sowie Angehörigen zum Stillen ihres Kindes bestärkt werden. Sie benötigen Unterstützung, ausführliche Beratung und viel Einfühlungsvermögen von allen Beteiligten, damit das Stillen erfolgreich verläuft.

Merke

H ●

Eine einheitliche Stillberatung ist nach den für die Station geltenden Stillrichtlinien notwendig, um eine Verunsicherung der jungen Mutter durch unterschiedliche Meinungen zu vermeiden.

Treten unüberwindbare Schwierigkeiten auf, so sind Informationen und Trost von geschultem Fachpersonal notwendig, damit sie wissen, dass ihr Kind sich auch mithilfe industriell hergestellter Nahrung gut entwickeln und eine enge MutterKind-Beziehung entstehen kann. Es ist wichtig, jede Entscheidung der Mutter zu akzeptieren und sie in ihrem weiteren Vorgehen zu unterstützen.

WHO/UNICEF-Initiative BABYFREUNDLICH Mit der Baby-Friendly Hospital Initiative setzten WHO (World Health Organisation) und UNICEF (United Nations International Children’s Emergency Fund) vor rund 30 Jahren ein weltweites Programm auf, um die Betreuungsqualität in Geburtsund Kinderkliniken zu verbessern und entscheidende Bereiche von Stillen und Bindung aktiv zu unterstützen. In Deutschland sichert diese Initiative mit ihrer international anerkannten Zertifizierung BABYFREUNDLICH die Förderung von Bindung, Entwicklung und Stillen in mittlerweile rund 100 Geburts- und Kinderkliniken (▶ Abb. 23.4). Die B.E.St.®-Kriterien (Bindung, Entwicklung, Stillen) basieren auf dem aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand und auf internationalen Vorgaben von WHO und UNICEF. Sie ermöglichen in ihrer Gesamtheit eine effektive Bindungs-, Entwicklungs- und Stillförderung und sind die inhaltliche Grundlage der Zertifizierung einer Geburts- oder Kinderklinik als babyfreundlich. 1. Schriftliche B.E.St.®-Richtlinien auf der Grundlage der „Zehn Schritte für eine babyfreundliche Geburtsklinik zur Umsetzung der B.E.St.®-Kriterien“ haben, die mit allen Mitarbeiterinnen regelmäßig besprochen werden. 2. Alle Mitarbeiterinnen so schulen, dass sie über die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten für die Umsetzung der B.E.St.®-Richtlinien verfügen.

Abb. 23.4 WHO/UNICEF-Initiative BABYFREUNDLICH. Auszeichnung und Erkennung eines babyfreundlichen Krankenhauses. (Abb. von: WHO/UNICEF-Initiative BABYFREUNDLICH)

23.2 Laktation 3. Alle schwangeren Frauen über die Bedeutung und die Praxis der Bindungsund Entwicklungsförderung unter Einbeziehung des Stillens informieren. 4. Den Müttern ermöglichen, unmittelbar ab Geburt ununterbrochen Hautkontakt mit ihrem Baby zu haben, mindestens eine Stunde lang oder bis das Baby das erste Mal gestillt wurde. 5. Den Müttern korrektes Anlegen zeigen und ihnen erklären, wie sie ihre Milchproduktion aufrechterhalten können, auch im Falle einer Trennung von Ihrem Kind. 6. Neugeborenen weder Flüssigkeiten noch sonstige Nahrung zusätzlich zur Muttermilch geben, außer bei medizinischer Indikation. 7. 24-Stunden-Rooming-in praktizieren – Mutter und Kind bleiben Tag und Nacht zusammen. 8. Zum Stillen/Füttern nach Bedarf ermuntern. 9. Gestillten Kindern keine künstlichen Sauger geben. 10. Die Mütter auf Stillgruppen und andere Mutter-Kind-Gruppen hinweisen und die Entstehung von Stillgruppen fördern. In babyfreundlichen Einrichtungen wird der WHO-Kodex zur Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten beachtet und gelebt.

Merke

H ●

WHO und UNICEF empfehlen, Säuglinge in den ersten 6 Monaten ausschließlich zu stillen, das heißt, ihnen keine andere Nahrung oder Flüssigkeit außer Muttermilch zu geben. Sie empfehlen weiterhin, danach neben geeigneter Bei- und Familienkost bis zum Alter von 2 Jahren oder darüber hinaus weiter zu stillen – so lange, wie Mutter und Kind das wünschen (WHO 2018).

Diese Vorgehensweise fördert nicht nur die Gesundheit des Kindes, sondern auch die der Mutter (Victora 2016). Viele internationale Fachgesellschaften, auch in Industrieländern, haben sich der Empfehlung zum Beikostbeginn mit etwa einem halben Jahr angeschlossen (AAP 2012, ABM 2015, SACN 2018). Die Annahme, ein früherer Beginn von Beikost sei zur Allergievorbeugung empfehlenswert, hat sich nicht bestätigt (Smith 2016, SACN 2017).

Stillvorbereitung Die Schwangere erhält bereits in den Vorbereitungskursen eine ausführliche Information über Physiologie und Vorteile des Stillens, damit sie sich gedanklich damit auseinandersetzen und Maßnahmen zur Realisierung, z. B. Beantragung von Erziehungsurlaub und Absprachen mit dem Arbeitgeber, treffen kann. Die Mutter ist gesetzlich verpflichtet, die 8-WochenSchutzfrist laut Mutterschutzgesetz nach der Geburt ihres Kindes in Anspruch zu nehmen. Zusätzlich müssen vonseiten des Arbeitgebers Pausen zum Stillen oder Abpumpen eingeräumt werden. Nach dem neuen Mutterschutzgesetz von 2017 wird bei einem behinderten Kind die Schutzfrist auf 12 Wochen verlängert. Auch für Schülerinnen und Studentinnen gilt jetzt diese Schutzfrist. Sie wird aber flexibler gehandhabt.

Merke

H ●

Die Brust kann zur Anregung der Durchblutung durch kurze Sonnenbäder und Wechselduschen vorbereitet werden.

Die Unterstützung der Familie, besonders des Vaters, hat eine maßgebliche Wirkung auf den Stillerfolg. Deswegen sollten bereits während der Schwangerschaft und nach der Geburt in der Klinik eine umfangreiche Betreuung und Beratung der Eltern erfolgen. Untersuchungen haben gezeigt: Je intensiver die Information und die Anleitung zum Stillen waren, desto länger haben die Frauen ihre Kinder gestillt.

Merke

H ●

Das erste Anlegen des Neugeborenen im Kreißsaal unmittelbar nach der Geburt wirkt sich ebenfalls positiv auf ein erfolgreiches Stillen aus, da der Suchund Saugreflex in den ersten 20 – 50 Minuten stark ausgeprägt ist (s. ▶ Tab. 22.4). Eine Unterbrechung zu Gewichtsbestimmung, Untersuchung und Anziehen des Neugeborenen sollte zugunsten einer störungsfreien Laktation vermieden werden (WHO 1996).

Ist eine sofortige medizinische Betreuung des Kindes und/oder der Mutter erforderlich, sollte der erste Haut-zu-Haut-Kontakt (Bonding) so bald wie möglich nachgeholt werden. Dies kann auch vom Vater übernommen werden.

Die Wöchnerin wird während der Stillperiode bezüglich ausgewogener Ernährung und ausreichender Flüssigkeitszufuhr eingehend beraten (S. 341). Sie wird auch darauf aufmerksam gemacht, bei eigener Erkrankung den Arzt über das Stillen zu informieren, damit er Medikamente auswählen kann, die dem Kind nicht schaden. Außerdem kann der Zeitpunkt der Medikamenteneinnahme so geplant werden, dass der höchste Punkt des Wirkstoffspiegels nicht mit der Stillmahlzeit zusammenfällt.

Praxistipp Pflege

Z ●

Eine junge Mutter benötigt fachliche Hilfestellung beim Anlegen des Kindes, damit das Stillen gelingt und die Brustwarzen geschont werden. Dafür sollte sie bequem sitzen oder liegen. Das Kind muss sich in einer günstigen Position befinden, indem es die Brust der Mutter anschauen kann, ohne den Kopf zu drehen oder abzuwinkeln. Der Mund des Kindes sollte sich in Brustwarzenhöhe befinden.

Stillpositionen

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Die folgenden 3 Positionen werden am häufigsten praktiziert. ▶ Stillen im Liegen. Die Frau liegt ebenso wie das Neugeborene auf der Seite, wobei das Kind flach auf der Matratze liegt und der Mund des Kindes sich in Höhe der Brustwarzen befindet. Nur der Kopf der Mutter wird mit einem Kissen unterstützt und der Rücken des Kindes kann mit einer Rolle gehalten werden (▶ Abb. 23.5). Vorteile dieser Stillposition sind Entlastung des Genitalbereiches und Entspannung der Mutter.

Abb. 23.5 Stillen im Liegen. Diese Stillposition dient der Entlastung und Entspannung der Wöchnerin. (Foto: T. Möller, Thieme)

1

Pflege der Schwangeren und der Wöchnerin

Abb. 23.6 Wiegenhaltung. Es ist die am häufigsten angewandte Stillposition, die ohne Hilfsmittel angewendet werden kann. (Foto: T. Möller, Thieme)

23

▶ Wiegenhaltung. Hierbei befindet sich die Mutter in einem bequemen Sessel mit Armlehnen und der Möglichkeit, die Füße hochzustellen. Auf jeden Fall muss dafür Sorge getragen werden, dass die Frau den Arm bequem aufstützen kann, was evtl. mit einem Kissen erfolgt. Das Kind liegt Bauch an Bauch mit der Mutter, der Kopf ruht im Unterarm und der Mund befindet sich in Höhe der mütterlichen Brustwarze (▶ Abb. 23.6). Die Mutter hält die Brust im C-Griff (▶ Abb. 23.8). In der ersten Zeit kann es notwendig sein, die Brust während der gesamten Stillmahlzeit zu unterstützen. ▶ Rückenhaltung („Fußballhaltung“). Die Mutter sitzt ebenfalls im Sessel und hält das Kind seitlich, sodass sich der Kopf vorn an der Brust und die Beine in Richtung des mütterlichen Rückens befinden (▶ Abb. 23.7). Der Kopf und der Körper des Kindes werden von der Hand und dem Unterarm der Mutter geführt und gehalten. Die andere Hand der Mutter unterstützt die Brust im C-Griff. Vorteile dieser Position sind die effektive Entleerung der Brust bei Milchstau im äußeren Bereich, Nahtentlastung bei Kaiserschnitt, gute und sichere Anwendung bei Frühgeborenen und gute Sicht der Mutter bei großer Brust.

Eltern

a ●

Ohr, Schulter und Hüfte des Kindes sollen stets eine Linie bilden, damit es den Kopf nicht verdreht und somit ein Zerren der Brustwarze vermieden wird. Die Stillpositionen sollten möglichst häufig gewechselt werden, damit die Brust gleichmäßig entleert und das empfindliche Brustgewebe entlastet wird.

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Abb. 23.7 Rückenhaltung oder „Fußballhaltung“. Der Kopf des Kindes wird von der Mutter gehalten. Der Mund befindet sich in der Höhe der mütterlichen Brustwarze. Der weit geöffnete Mund umfasst die Brustwarze und einen Teil des Brustwarzenvorhofes. (Foto: T. Möller, Thieme)

Abb. 23.8 Halten der Brust im C-Griff. Die ganze Brust muss in der Hand der Stillenden liegen. (Foto: T. Möller, Thieme)

Saugpunkt

Zunge

a

Rand des Warzenhofs

Übergang BrustwarzeWarzenhof

b

Rand des Warzenhofs

Übergang Brustwarze Warzenhof

Abb. 23.9 Erfassen der Brust. a Das Kind erfasst die Brustwarze und einen Teil des Warzenvorhofes. b Falsche Anlegetechnik, da das Kind nur die Brustwarze fasst.

Stillanleitung Während der ersten Stillmahlzeit sollte geschultes Fachpersonal anwesend sein, um die gesamte Stillmahlzeit beobachten zu können. Die Anleitung sollte in Ruhe und ohne Zeitdruck in angenehmer Atmosphäre stattfinden. Das Stillzimmer sollte mit bequemen Sitzmöbeln, einer Fußbank sowie Stillkissen ausgestattet sein und ausreichend Intimsphäre gewährleisten. In erreichbarer Nähe wird ein Getränk platziert, da bei der Mutter durch das Auslösen des Milchspendereflexes oft ein Durstgefühl entsteht.

Korrektes Anlegen Das korrekte Anlegen des Kindes stellt eine wichtige Maßnahme zum Stillerfolg sowie zur Verhütung wunder Brustwarzen dar. Um die Sicherheit der Mutter zu stärken, ist es wichtig, ihr mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, doch nur so viel Hilfestellung zu geben, wie es notwendig ist, auch wenn dies mehr Zeit in Anspruch nimmt. Die Mutter nimmt mit der ganzen

Hand im C-Griff ihre Brust, dabei sollten sich ihre Finger mindestens 3 cm hinter der Brustwarze befinden (▶ Abb. 23.8). Anschließend berührt sie mit der Brustwarze die Unterlippe des Kindes. Wenn sich der Mund des Kindes weit öffnet und sich die Zunge auf der Zahnleiste befindet, zieht die Mutter das Kind fest an ihre Brust, damit es auch einen Teil des Warzenvorhofs fassen kann (▶ Abb. 23.9).

Merke

H ●

Das korrekte Fassen der Brustwarze ist am weit geöffneten Mund und an den nach außen gestülpten Lippen sowie der Berührung der Brust mit Nase und Kinn erkennbar (▶ Abb. 23.10).

Auch wenn die Nase des Neugeborenen die Brust der Mutter berührt, kann das Kind aufgrund seiner kleinen Stupsnase noch atmen. Sollte dies nicht der Fall sein, kann das Gesäß des Kindes noch näher

23.2 Laktation

Merke

H ●

Je häufiger und wirkungsvoller die Brust entleert wird, desto mehr Milch wird gebildet.

Clusterfeeding Abb. 23.10 Korrektes Fassen der Brustwarze. Der Mund ist weit geöffnet und die ausgestülpten Lippen umschließen viel Brustgewebe. (Foto: T. Möller, Thieme)

zur Mutter gezogen werden, um dem Gesicht mehr Platz zu geben.

● H

Zu bestimmten Tageszeiten, meist nachmittags oder abends, meldet sich der Säugling häufig in kurzen Abständen hintereinander und möchte erneut gestillt werden. Danach schlafen die Kinder meist etwas länger. Dies ist für die Mutter sehr anstrengend, aber eine völlig normale Phase.

Sauger und Schnuller

Um die Brust nicht zu zerren, gilt der Grundsatz, dass stets das Kind zur Brust gebracht wird und nicht die Brust zum Kind. Keinesfalls sollte die Brust mit der Hand zurückgedrückt werden.

Ein Sauger oder Schnuller kann beim Neugeborenen z. B. zu ● Brustverweigerung, ● mangelnder Gewichtszunahme, ● wunden Brustwarzen bei der Mutter und ● vorzeitigem Abstillen führen.

Hat das Kind die Brustwarze nicht korrekt gefasst, kann die Mutter mit ihrem kleinen Finger den Mundwinkel des Kindes und evtl. die Zunge leicht berühren, sodass das bestehende Vakuum gelöst wird und das Kind die Brustwarze loslässt. Anschließend kann es erneut angelegt werden.

Das Neugeborene saugt am Schnuller mit einem anderen Bewegungsmuster als an der Brust. Innerhalb der ersten 4–6 Wochen soll deshalb auf einen Schnuller verzichtet werden. Danach sollte der Einsatz eines Bisphenol-A-frei gekennzeichneten Schnullers gut überlegt sein. Man sollte versuchen das Kind anderweitig zu beruhigen.

Stilldauer und -rhythmus

Gewichtskontrolle

Beides richtet sich nach dem Bedarf des Neugeborenen. Es wird angelegt, wenn es Hungerzeichen (z. B. Schmatzen, Hand zum Mund führen) zeigt, was als Stillen ad libitum bezeichnet wird. Eine sanfte Brustmassage und feuchte Wärme vor dem Anlegen erleichtern den Milchspendereflex. Für das Neugeborene ist eine ausreichende Flüssigkeits- und Nährstoffzufuhr gewährleistet, wenn es in 24 Stunden mindestens 8- bis 12-mal für ca. 15 – 20 Minuten angelegt wird. Ein Wechsel der Brust sollte erst erfolgen, wenn das Kind aufhört, an der Brust zu trinken. Längeres Anlegen bewirkt, dass mehr Fett in die Muttermilch gelangt. Ein schläfriges Kind sollte in den ersten Tagen geweckt und gestillt werden, wenn es sich nicht von selbst alle 3 Stunden meldet.

Wiegen vor und nach dem Stillen sollte bei gesunden Neugeborenen nicht erfolgen, da sich die Mutter unter Druck gesetzt fühlen kann, was ungünstig für die Milchproduktion ist. Ein ruhiges und zufriedenes Kind mit gutem Hautturgor, d. h. einer guten Hautspannung und normaler Gewichtsentwicklung sowie regelmäßig nassen Windeln und Stuhlentleerung ist ein sicherer Beweis für eine ausreichende Milchmenge.

Merke

Beobachtung während einer Stillmahlzeit Der Beobachtungsvorgang beginnt mit dem Erkennen von Hungerzeichen beim Neugeborenen, d. h. leichter Unruhe, Schmatzen, Saugbewegungen u. a.

Praxistipp Pflege

Z ●

Es wird empfohlen, das Kind anzulegen, bevor es schreit, da ein schreiendes Kind die Brustwarze mit dem Brustwarzenvorhof schlechter fassen kann.

Der Suchreflex wird durch Berühren im Bereich des Mundwinkels oder der Wange ausgelöst. Es sollte ein langer Saugrhythmus mit kurzen Pausen und regelmäßigen Saugzügen erfolgen. Ob und in welcher Intensität sich der Kiefer beim Saugen bewegt, kann an leichten Bewegungen unterhalb des Ohres sowie Bewegungen im Bereich der Schläfen beobachtet werden. Die Milchübertragung funktioniert, wenn aus der anderen Brust Milch tropft, was nur bei nacktem Oberkörper beobachtet werden kann. Nach dem Stillen kann bei dem Kind etwas Milch im Mundwinkel beobachtet werden. Die Brust ist nach dem Stillen weich und entspannt. Durch die Ausschüttung der Stillhormone (S. 500) kann es bei der Frau zu Glücksgefühlen, Müdigkeit, Durstgefühl und Nachwehen kommen, was auch Zeichen für einen funktionierenden Milchspendereflex sind.

Merke

H ●

23

Die Stillende sollte wissen, dass der normale Stillvorgang keine Schmerzen bereiten darf. Ist dies dennoch der Fall, muss nach der Ursache geforscht werden.

Zufütterung Die Zufütterung sollte nur bei medizinischer Indikation, z. B. eingesunkener Fontanelle, geringe Urinmenge und Gewichtsverlust über 10 % erfolgen. Neugeborene haben eine Nährstoff- und Flüssigkeitsreserve, die innerhalb der ersten 2 – 3 Lebenstage abgebaut wird. Erst danach reagieren die Neugeborenen empfindlich auf extreme Hydratationsstörungen (ILCA, Standard 7, 2005). Durchführung der Zufütterung: ● Sie sollte nach dem Stillen erfolgen. ● Vor und nach dem Stillen werden Wiegeproben durchgeführt. ● Die Nahrung wird mit alternativen Methoden, z. B. Spritze, Becher, Löffel, verabreicht. ● Die Mutter muss die Milch ausstreichen oder abpumpen.

3

Pflege der Schwangeren und der Wöchnerin

Brusternährungsset Mit dieser Methode wird das Stillen imitiert. Ein dünner Schlauch, der mit einem Milchgefäß verbunden ist, wird an der Brustwarze befestigt. Das Baby trinkt dann aus 2 Nahrungsquellen gleichzeitig. Dadurch bleibt die Stillsituation erhalten und die Milchproduktion wird angeregt (▶ Abb. 23.11).

23.2.3 Brustpflege Die Brustpflege dient dem beschwerdefreien Milchfluss sowie der Verhütung einer Mastitis. Oberstes Gebot ist die Einhaltung aller hygienischen Regeln bei der gesamten Körperpflege. Bevor die Brust berührt wird, muss eine sorgfältige Händedesinfektion in der Klinik erfolgen. Zu Hause genügt ein normales Händewaschen.

Übertragungsweg Abb. 23.11 Brusternährungsset. Stillsituation bleibt erhalten. (© Medela AG, Switzerland)

23

Der Hauptweg der Staphylokokken-Übertragung verläuft über den Nasen-RachenRaum und die Hände der Pflegenden sowie der Mutter. Vom Nasen-Rachen-Raum des Kindes können die Erreger direkt auf die mütterliche Brustwarze übertragen werden und gelangen dann über kleine Verletzungen (Rhagaden), die beim Sau-

gen entstehen, in die Brust. Streptokokken sind Krankenhauskeime, die überall vorhanden sind. Eine Infektion durch die Lochien als Schmierinfektion spielt bei der Mastitis eine untergeordnete Rolle. Die Wäsche sollte kochfest sein. Trockene, luftdurchlässige Stilleinlagen verhindern eine feuchte Kammer, die zum Aufweichen der Haut im Bereich der Brustwarzen führt. Um einer Stauungsmastitis vorzubeugen und die Milchbildung anzuregen, muss auf die regelmäßige und häufige Entleerung der Brust geachtet werden.

Unauffällige Brustwarzen Wunde Brustwarzen werden durch korrektes Anlegen des Kindes und eine gute Brustpflege vermieden. Es ist erwiesen, dass Muttermilch selbst pflegende und heilende Eigenschaften hat, sodass es empfohlen wird, nach dem Stillen etwas Muttermilch an der Brustwarze antrocknen zu lassen. Die Stillende wird dazu angeleitet, ihre Brust gut zu beobachten. Auch ist es Aufgabe des Pflegepersonals, sich die Brust regelmäßig anzusehen, Auffälligkeiten an den Arzt weiterzugeben und diese zu dokumentieren (▶ Tab. 23.4).

Tab. 23.4 Stillschwierigkeiten im Überblick. Ursachen

Beobachtungsmerkmale

Ikterus neonatorum

● ● ●

Hypo- und Agalaktie









Pflegemaßnahmen

Gelbfärbung der Haut Trinkunlust Schläfrigkeit

Neugeborene sollten mind. 8- bis 12-mal in 24 h angelegt werden. Das im Mekonium befindliche Bilirubin wird durch die verstärkte Darmperistaltik schneller ausgeschieden und nicht mehr rückresorbiert. Zusätzlich trägt das in der Muttermilch befindliche Albumin zum Abbau des indirekten Bilirubins bei. Empfehlungen von der La-Leche-Liga Deutschland e. V. bei Bilirubinwerten über 18 – 20 mg/dl (aufeinander aufbauende Maßnahmen): ● Entwicklung des Bilirubinwertes beobachten und zum Stillen anregen ● Stillen und Fototherapie nach ärztlicher Anordnung ● Ergänzung des Stillens durch Formulanahrung mit oder ohne Fototherapie ● Formulanahrung und Unterbrechung des Stillens ● Formulanahrung und Fototherapie nach ärztlicher Anordnung

geringe oder keine Milchbildung, evtl. kein Brustwachstum während der Schwangerschaft spätes Auftreten von Übergangs- und Muttermilchstuhl Gewichtsabnahme über 7 % und später keine Gewichtszunahme führt häufig zu Niedergeschlagenheit und Minderwertigkeitskomplexen

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504

ruhige und spannungsfreie Umgebung fachrichtige Anleitung zum Stillen evtl. vorhandene seelische Ursachen herausfinden, z. B. geringe Unterstützung von der Familie und dem Partner Geduld und Ermutigung Kind ausreichend lange anlegen um die Milchproduktion anzuregen, Brust 1- bis 2-mal wechseln, wenn das Kind nicht mehr richtig trinkt regelmäßige Gewichtskontrolle Brust ausstreichen und abpumpen, wenn das Kind nicht genügend saugt der Mutter Verständnis entgegenbringen und Selbstbewusstsein aufbauen

23.2 Laktation

Tab. 23.4 Fortsetzung Ursachen

Beobachtungsmerkmale

Flach- und Hohlwarzen (es kommt selten zu Problemen, sofern die Frau fachkundige Hilfe erfährt)





echte Flach- und Hohlwarzen treten nicht durch Stimulation hervor die Brust in der Nähe der Mamille muss weich genug sein, damit das Kind viel Brustgewebe fassen kann

Pflegemaßnahmen ●

● ●





Wunde Brustwarzen, Rhagaden (korrektes Anlegen ist die beste Prophylaxe)

● ●



offene, entzündete Hautstellen kleine Einrisse im Bereich von Brustwarze und Warzenvorhof Schmerzen beim Stillen, daher seltene Stillmahlzeiten

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Soorinfektion im Bereich der Brustwarze







wunde Hautstellen, rosa bis rot verfärbt, glänzend mit oder ohne weiße Beläge über Wochen andauernde brennende Schmerzen im Bereich der Brustwarze oder der gesamten Brust beim Stillen oder danach Juckreiz auf der Mamille



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Milchstau (entsteht durch ungenügende Entleerung eines einzelnen oder mehrerer Milchgänge) Merke: Schmerzen beim Stillen führen zu einem erhöhten Stresshormonspiegel, der eine Drosselung der Oxytocinproduktion mit Milchstau zur Folge haben kann.





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sichtbare und tastbare, häufig schmerzhafte Knoten, die meist einseitig auftreten einzelne Brustbezirke sind gerötet, gespannt und überwärmt evtl. tritt leichtes Fieber auf Müdigkeit, Kopfschmerzen nach 1 – 2 Tagen sind die Erscheinungen abgeklungen





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die Stimulation der Brustwarze kann durch Abpumpen vor dem Stillen unterstützt werden Brustwarzenformer tragen (▶ Abb. 23.12) evtl. Stillhütchen verwenden, angepasst an den Durchmesser der Brustwarze (S, M, L) keine Sauger verwenden, die zur Saugverwirrung führen können die evtl. abgepumpte Milch sollte mithilfe z. B. eines Löffels oder eines Bechers verabreicht werden auf korrekte Anlegetechnik und Stillposition achten vor dem Stillen Milchspendereflex durch Brustmassage (S. 504), feuchte Wärme und Entspannung auslösen Stillpositionen öfter wechseln Stillen nach Bedarf bei jeder Mahlzeit ca. 10 bis maximal 20 Minuten stillen Muttermilch vordrücken und auf der Haut antrocknen lassen bewährt hat sich das Auftragen von gereinigtem Wollfett evtl. Stillhütchen bei starken Schmerzen anwenden evtl. Stillpause von 1–2 Tagen bei starken Schmerzen und blutigen Brustwarzen luftdurchlässige Stilleinlagen benutzen, Brustwarze trocken halten Reibung an den Brustwarzen durch die Kleidung vermeiden, evtl. Brustwarzenschutz tragen Ursachenforschung bezüglich der wunden Brustwarzen! Low-dose-Laser-Therapie zur Förderung der Selbstheilung durch Aktivierung des Zellstoffwechsels Mutter und Kind mit Antimykotikum nach ärztlicher Anordnung behandeln Stillhütchen können u. U. verwendet werden saures Milieu beeinträchtigt das Soorwachstum; Heilung kann durch Waschungen mit angesäuertem Wasser begünstigt werden (auf 1 Tasse Wasser kommt 1 Esslöffel Essig) Handhygiene beachten und Stillhütchen 20 Minuten auskochen Einmalstilleinlagen verwenden abgepumpte Milch sollte wegen evtl. Re-Infektion verworfen werden

23

Ursache muss gefunden und beseitigt werden, z. B. zu seltenes Anlegen (dadurch Verringerung der Milchmenge), zu enger Büstenhalter, Störung des Milchspendereflexes durch Stress, Überlastung und Schmerzen das Neugeborene sollte alle 2–3 Stunden angelegt werden für Ruhe und Entspannung sorgen ausreichend trinken vor dem Stillen Brustmassage oder warme Wickel nach dem Stillen bewirken kühlende Quarkwickel oder Weißkohlumschläge eine Linderung Stillpositionen sollten so ausgewählt werden, dass der Unterkiefer des Kindes in Richtung Milchstau liegt, da dort die größte Saugwirkung besteht eine entsprechende Positionierung, bei der die Schwerkraft zur Anwendung kommt, trägt zur Förderung des Milchflusses bei ggf. muss die Brust mit der Milchpumpe entleert werden

5

Pflege der Schwangeren und der Wöchnerin 3. Die Brust wird vom Ansatz bis über die Brustwarzen hinweg mit einem Finger gestreichelt (▶ Abb. 23.13c). 4. Das leichte Schütteln der Brust bei vorgebeugtem Oberkörper unterstützt den Milchfluss (▶ Abb. 23.13d).

H ●

Merke

Abb. 23.12 Brustwarzenformer. Der Brustwarzenformer sollte ca. 1 Stunde vor dem Stillen in den Büstenhalter eingesetzt werden. (© Medela AG, Switzerland)

Das Massieren darf nicht Schmerzen und nur auf nicht geröteten Hautbezirken erfolgen.

Ausstreichen der Milch Brustmassage Sie dient der Anregung des Milchflusses nach der Geburt, da durch den Hautkontakt die Ausschüttung von Oxytocin gefördert wird.

Durchführung

Durchführung

23

Die Brustmassage erfolgt in 4 Schritten. Vorher sollten die Hände mit warmem Wasser und Seife sorgfältig gewaschen werden. 1. Die Brust wird zwischen die waagrechten flachen Hände gelegt und das Brustgewebe hin und her verschoben. Die gleiche Methode kann auch mit senkrecht liegenden Händen angewendet werden (▶ Abb. 23.13a). 2. Die eine Hand unterstützt die Brust, mit 2 – 3 Fingerkuppen der anderen Hand wird in punktuellen, kreisförmigen Bewegungen die Brust massiert. Danach setzen die Finger leicht versetzt wieder an und wiederholen den Vorgang spiralförmig rund um die Brust in Richtung Brustwarze (▶ Abb. 23.13b).

a

Das Ausstreichen der Milch mit der Hand ist eine wichtige Möglichkeit der Milchgewinnung und dient der Entlastung der Brust. Die Maßnahmen zur Vorbereitung und Aufbewahrung der Milch sind die gleichen wie beim Abpumpen.

b

Die Brust wird mit Daumen und Zeigefinger im C-Griff genommen. Anschließend wird der Daumen ca. 2–3 cm oberhalb und der Zeigefinger ca. 2–3 cm unterhalb der Brustwarze aufgesetzt und waagerecht in Richtung Brustkorb gedrückt. Das Gewebe um den Warzenvorhof wird dabei leicht gedehnt, ohne die Position der Finger zu verändern. Danach werden Daumen und Zeigefinger mit leichtem Druck in Richtung der Brustwarzen geführt, ohne auf der Haut zu verrutschen oder das Gewebe zu quetschen. Die rollenden Bewegungen sollen so lange, ohne den Druck zu erhöhen, fortgeführt werden, bis Milch fließt. Die Fingerkuppen werden in gleicher Weise rund um die Brustwarze gelegt, um alle Bereiche der Milchgänge zu entleeren. Da-

c

bei können beide Hände für jede Brust benutzt werden.

Abpumpen der Milch Für die Mutter kann es notwendig werden, für einen kürzeren oder längeren Zeitraum die Milch abzupumpen. Bei Trennung von Mutter und Kind sollte das erste Abpumpen möglichst sofort erfolgen, bzw. sobald es der Zustand der Mutter zulässt, spätestens nach 6 Stunden post partum, um die Milchbildung anzuregen. Folgende Gründe können vorliegen: ● Erkrankung des Kindes oder der Mutter ● Milchbildung soll angeregt werden ● Kind kann die Brustwarze und den Warzenvorhof nicht fassen, da Brust zu hart und zu prall ● Flach- oder Hohlwarzen können stimuliert werden ● das Ausstreichen der vollen Brüste ist zu anstrengend ● Berufstätigkeit der Mutter und Freizeitgestaltung Für das Abpumpen stehen von verschiedenen Firmen unterschiedliche Milchpumpen zur Verfügung. Die Frau sollte während einer Stillberatung das für sie geeignete Modell finden. An dieser Stelle werden 2 Möglichkeiten genannt. ▶ Handpumpe. Sie eignet sich i. d. R. nur für kurzzeitiges Abpumpen. ▶ Elektrische Pumpe mit 2-Phasen-Expression. Das natürliche Saugverhalten von Babys wird durch die Pumpe imitiert (▶ Abb. 23.14). Anfangs saugen die Babys schnell und sanft, sobald der Milchfluss angeregt ist, trinken sie langsamer und intensiver. Die Pumpe ist für längeres Abpumpen geeignet, da sie das Brustgewebe schont. Mithilfe eines Doppelpumpsets

d

Abb. 23.13 Massieren der Brust. a Das Drüsengewebe wird zwischen beiden flachen Händen hin und her geschoben. b Mit 2–3 Fingerkuppen werden kleine, kreisende punktuelle Bewegungen rund um die Brust spiralförmig in Richtung Brustwarze durchgeführt. c Mit dem Zeigefinger erfolgen streichelnde Bewegungen vom Brustansatz zur Brustwarze. d Das Schütteln der Brust bei vorgebeugtem Oberkörper hilft, den Milchfluss zu unterstützen.

506

23.3 Pflege der Wöchnerin mit Mastitis puerperalis

Durchführung

Abb. 23.14 Milchpumpe. Elektrische Milchpumpe (Modell: Symphony). (© Medela AG, Switzerland)

Das Abpumpen der Muttermilch wird folgendermaßen durchgeführt: ● Korrekt sitzende Brusthaube auswählen (Bewegt sich die Brustwarze frei im Tunnel? Wird nur wenig oder kein Gewebe des Brustwarzenvorhofs in den Tunnel gezogen? Sind rhythmische Bewegungen sichtbar und spürbar? Schmerzfreiheit beim Pumpen?). ● Bequeme, leicht nach vorne gebeugte Sitzposition einnehmen. Die Brust kann zum Lösen des Milchspendereflexes auch vor dem Abpumpen kurz anmassiert werden. ● Der Trichter wird anschließend sanft an die Brust gedrückt.

können beide Brüste gleichzeitig abgepumpt werden. Es können auch kleinere, gut funktionierende Modelle zu günstigen Preisen angeschafft oder aufwendigere Milchpumpen gegen Gebühr in der Apotheke ausgeliehen werden.

Merke

Durch zu große oder zu kleine Brusthauben können die Milchgänge abgedrückt und das Entleeren der Brust gehemmt werden. Dies führt zu einer Reduktion der Milchmenge. Zusätzlich können Schmerzen auftreten, die Hauptgründe für frühzeitiges Abstillen sind.

Vorbereitung Folgende Maßnahmen dienen der Vorbereitung zum Abpumpen der Muttermilch: ● Die Hände werden vorher gründlich gewaschen. ● Vor jedem Abpumpen sollte die Brust unter fließendem Wasser und ohne Seife gewaschen werden. ● Das Abtrocknen der Brust erfolgt mithilfe eines sauberen Einmalhandtuchs, wobei Brustwarze und Warzenhof ausgespart bleiben. ● Die gewaschene Brust sollte nicht mehr mit der Kleidung in Berührung kommen. ● Ein vorheriges Erwärmen der Brust mit warmen Umschlägen und/oder eine Brustmassage können zur besseren Wirkung beitragen. ● Stellen Sie der Frau ein Getränk in erreichbare Nähe, da durch das Auslösen des Milchspendereflexes evtl. ein Durstgefühl entsteht. ● Da beim Abpumpen das Lösen des Milchspendereflexes genauso wichtig ist wie beim Stillen, sollte für eine ruhige und entspannte Atmosphäre gesorgt werden. Hilfreich ist auch hier das Betrachten ihres Kindes. ● Für jedes Abpumpen müssen ein steriles Pumpset und ein Auffanggefäß bereitstehen. In vielen Kliniken gibt es mittlerweile auch Einweg- oder Eintages-Pumpsets, die nach dem vorgeschriebenen Gebrauch entsorgt werden.

H ●













Es sollte stets der Trichter und nicht die Flasche gehalten werden. Abgepumpt wird 6–8-mal in 24 Stunden auch evtl. einmal nachts, je nach Befinden der Mutter. Bereits am 1. Tag post partum kann mit dem Doppelpumpen begonnen werden, was ca. 15–20 Minuten dauert. Ist die Frau dazu noch nicht in der Lage, wird jede Brust einzeln abgepumpt und die Brust mehrmals gewechselt, um die Milchproduktion zu fördern. Die abgepumpte Milch wird anschließend in sterile Flaschen gefüllt, wobei sie nicht über den Trichter gegossen werden darf. Die abgepumpte Muttermilch kann im Kühlschrank bei 4–6 °C bis zu 72 Stunden aufbewahrt werden, vorausgesetzt, sie wird im hinteren Bereich des Kühlschranks platziert. In der Tiefkühltruhe kann sie 3–6 Monate bei 18 °C aufbewahrt werden. Der Transport von Muttermilch muss ohne Unterbrechung der Kühlkette stattfinden. Anschließend wird das Pumpset unter Beachtung der Hygienerichtlinien aufbereitet.

Merke

H ●

Das gleichzeitige Abpumpen beider Brüste fördert die Laktation und spart der Mutter Zeit, wodurch die Motivation erhöht wird.

23.3 Pflege der Wöchnerin mit Mastitis puerperalis 23.3.1 Ursache und Auswirkung Eine Mastitis puerperalis ist eine Entzündung der Brustdrüse während der Stillzeit, die i. d. R. nur einseitig auftritt. Es wird zwischen einer nicht infektionsbedingten Mastitis, die sich meist aus einem Milchstau entwickelt, und einer infektionsbedingten Mastitis unterschieden. Bei einer interstitiellen Mastitis gelangen die Keime über Rhagaden (feine Einrisse der Haut) und bei einer parenchymatösen Mastitis über die geweiteten Milchgänge nach einem Milchstau in das Gewebe und führen jeweils zu einer Infektion. Zu ca. 95 % der Fälle wird die Mastitis durch Staphylococcus aureus hervorgerufen. Seltener werden Streptokokken, Klebsiellen, Pneumokokken u. a. Keime gefunden. Durch Einschmelzen des Entzündungsherdes kann ein mastitischer Abszess entstehen, der nach Einschmelzung punktiert oder gespalten werden muss. Wichtig ist deshalb ein früher Behandlungsbeginn.

23

Symptome Zu den Symptomen einer Brustdrüsenentzündung zählen: ● starke Schmerzen, Hitze, Rötung und Schwellung der betroffenen Brust, die sich hart anfühlt und vergrößert ist ● Lymphknotenschwellungen im Bereich der Achselhöhlen ● Fieber über 38,5 °C, das mit Schüttelfrost beginnen kann

23.3.2 Pflegebedarf einschätzen Folgende Pflegeprobleme können auftreten: ● stark beeinträchtigtes Allgemeinbefinden durch Fieber und Schmerzen ● Gefahr der Ausweitung der Infektion ● Gefahr der Infektion des Neugeborenen durch die infizierte Milch, sofern keine wirksame Antibiotikatherapie erfolgt ● Enttäuschung der Mutter durch eine evtl. notwendige Stillunterbrechung

23.3.3 Pflegeziele und -maßnahmen Nach neuesten Erkenntnissen ist ein Abstillen bei einer infektiösen Mastitis puerperalis nicht mehr notwendig. Es wird empfohlen, die Kinder weiter zu stillen, da der Heilungsprozess dadurch gefördert und die Gefahr einer Abszessbildung ver-

7

Pflege der Schwangeren und der Wöchnerin ringert wird. In vielen Geburtskliniken wird bereits nach dieser neuen Behandlungsmethode mit gutem Erfolg verfahren.

● ●



Förderung des Heilungsprozesses Bei einer Mastitis sollte mindestens alle 2 Stunden angelegt werden. Nach Anordnung des Arztes werden stillverträgliche Antibiotika verabreicht. Ein rechtzeitiger Beginn verhindert die Ausbreitung der Mastitis und die Entstehung eines Abszesses. Die antibiotische Therapie muss ausreichend lange verabreicht werden, um eine erneute Infektion und Resistenzentwicklung zu vermeiden. Weiter sind folgende Maßnahmen wichtig: ● Schonung und möglichst Bettruhe ● viel Flüssigkeit trinken (v. a. bei Fieber) ● regelmäßig abpumpen, wenn die Brust beim Stillen nicht ausreichend entleert wird ● Brust vor dem Stillen anwärmen (warme Umschläge oder Rotlicht) und nach dem Stillen kühlen, z. B. mit Quark oder Weißkohl

Schmerzlinderung

23

508

Kühlende Quarkwickel oder Weißkohlumschläge haben eine schmerzlindernde Wirkung und tragen zum Wohlbefinden bei (▶ Abb. 23.15). Es ist jedoch eine gewisse Vorsicht geboten, da kühlende Auflagen zu einer verminderten Durchblutung und damit zu einer geringeren Menge des Antibiotikums am Entzündungsherd führen können. Ein stillverträgliches Schmerzmittel kann nach ärztlicher Anordnung verabreicht werden. Im fortgeschrittenen Stadium können zum Einschmelzen des Abszesses Wärmeanwendungen in Form von Kataplasmen verordnet werden (S. 295). Anfangs erfolgt eine Punktion des Abszesses nach Ultraschallkontrolle. Diese kann ggf. nach 2 – 4 Tagen wiederholt werden. Eine Inzision wird erst bei Verschlechterung oder fehlender Besserung durchgeführt. Nach Inzision muss eine fachrichtige Wundversorgung mit Drainage erfolgen (S. 844). Ein eröffneter Abszess muss täglich mit z. B. NaCl 0,9 % gespült werden.

Abb. 23.15 Quarkwickel. Kühler Quark wird für jede Brust zwischen einer aufgefalteten Mullkompresse (10 × 10 cm) oder 2 Blätter einer Haushaltsrolle gestrichen und ca. 20 Minuten auf der Brust belassen. Die Brustwarze bleibt ausgespart. (Abb. aus: Harder U. Wochenbettbetreuung in der Klinik und zu Hause. Hippokrates; 2015)







Das Kind wird nicht mehr angelegt. Regelmäßiges Kühlen der Brust durch Kühlelemente oder Quarkwickel. Gelegentlich muss die Brust mit der Pumpe oder der Hand entleert werden, bis der Spannungsdruck nachlässt, danach erfolgt wieder die Kälteanwendung (Brust nicht leer pumpen). Die stark verminderte Stimulierung und die geringe Entleerung der Brust bewirken, dass die Milchbildung nach und nach zurückgeht. Gabe von Prolaktinhemmstoffen (Cabergolin, z. B. Dostinex als einmalige Gabe) Salbei- oder Pfefferminztee trinken (2– 4 Tassen tägl.) engen BH anziehen und Träger kurz einstellen

Sekundäres Abstillen Beendigung der Milchproduktion Gründe für ein Abstillen können z. B. der Wunsch der Mutter zur Beendigung des Stillens, eine maligne Tumorerkrankung der Mutter oder der Tod des Neugeborenen (S. 462) sein. Entsprechend den vorliegenden Ursachen kann das Abstillen über einen längeren Zeitraum durchgeführt werden oder muss abrupt erfolgen.

Primäres Abstillen Die Laktation wird von Anfang an unterdrückt, wenn die Mutter nicht stillen will oder nicht stillen kann. Vor der Geburt sollte mit der Mutter abgesprochen werden, ob sie die Gabe von Kolostrum für die ersten 12–24 Stunden wünscht. Die Brust kann dafür von Hand entleert werden, alternativ kann das Kind für diese Zeit auch angelegt werden. Möchte/Muss die Frau anschließend weiterhin abstillen, sollten folgende Maßnahmen ergriffen werden:

Die Beendigung der bestehenden Laktation erfolgt aus medizinischen oder individuellen Gründen, z. B. bei rezidivierenden Mastitiden. Die Milchbildung kann allmählich oder plötzlich beendet werden. Das Kind wird noch für kurze Mahlzeiten angelegt, anschließend wird auf die Brust ein eisgekühltes Gel-Pack aufgelegt. Die Stillabstände werden verlängert oder die Stillmahlzeiten verkürzt, sodass die Milchproduktion immer mehr zurückgeht. Konservative Abstillmethoden kommen auch hier zum Einsatz.

Akzeptanz des Abstillens Eine gute Information der Wöchnerin kann dazu beitragen, dass ihr über die Enttäuschung, nicht mehr stillen zu dürfen, hinweggeholfen wird. Sie muss wissen, dass ihr Kind auch mit Fertignahrung gut gedeihen wird und sie trotzdem eine gute Beziehung zu ihrem Kind herstellen kann. Trost und Unterstützung vonseiten der Angehörigen, besonders des Partners, werden ihr helfen, das Selbstvertrauen wiederzuerlangen.

Kapitel 24 Pflege von Frühgeborenen

24.1

Bedeutung

510

24.2

Pflege eines zu früh geborenen Kindes

510

Pflege von Frühgeborenen

24 Pflege von Frühgeborenen Eva-Maria Wagner

24.1 Bedeutung 24.1.1 Bedeutung für das Baby

24

Neugeborene, die vor Vollendung der 37. Schwangerschaftswoche (260 Tage) zur Welt kommen, werden als Frühgeborene bezeichnet. Die genaue Ursache der Frühgeburtlichkeit ist unbekannt. Durch die vorzeitige Geburt wird die physiologische Entwicklung unterbrochen. Das Frühgeborene kommt zu einem Zeitpunkt zur Welt, an dem seine Organe noch nicht reif sind. Ein frühgeborenes Kind ist ein sehr kleiner, unreifer und hilfsbedürftiger Mensch. Trotzdem hat ein frühgeborenes Kind nicht nur Probleme, sondern auch Ressourcen in allen Lebensaktivitäten. Aufgrund der Besonderheiten der Physiologie des Frühgeborenen benötigt das Kind kein standardisiertes, sondern ein ihm individuell angepasstes Vorgehen. Ein behutsamer Umgang mit Frühgeborenen bedeutet genaues Beobachten und Wählen der geeigneten Pflege und Therapie: ● Welche Lebensaktivitäten kann das Kind selbstständig ausüben (z. B. Atmen)? ● Welche Lebensaktivitäten müssen unterstützt werden (z. B. Essen und Trinken: bei schwachem Saug- und Schluckreflex Ernährung über Magensonde)?

24.1.2 Bedeutung für die Eltern Befindet sich eine Frau aufgrund einer Risikoschwangerschaft, vorzeitiger Wehen oder eines im Mutterleib erkrankten Kindes bereits vor der Entbindung in stationärer Behandlung, ist die psychische Belastung für die werdenden Eltern oft sehr hoch. Neben Gesprächen mit Gynäkologen, Neonatologen und Hebammen, kann ein Gespräch mit dem Pflegepersonal der neonatologischen Intensivstation ein wichtiges Angebot für die Eltern sein. Im Rahmen einer präpartalen Elternsprechstunde können sich die Eltern auf den zu erwartenden Aufenthalt auf der neonatologischen Intensivstation vorbereiten und Fragen stellen. Themen können u. a. sein: ● Stillen ● Ernährung mit Muttermilch ● Kängurumethode ● Einbezug von Geschwisterkindern und anderen Familienmitgliedern

510

Oft wird auch eine Besichtigung der neonatologischen Intensivstation angeboten. Die präpartale Elternsprechstunde kann helfen, die Ressourcen der Familie zu stärken und die Eltern-Kind-Bindung anzubahnen (Werner u. Helmes 2014). Durch die vorzeitige Geburt wird auch die Entwicklung der werdenden Eltern unterbrochen. Befanden sie sich eben noch in einer Phase des „Nestbaus“ und der Vorfreude auf das Baby, so sind sie plötzlich in eine ganz andere, unerwartete und beängstigende Situation geraten: vorzeitige Wehen, Klinikeinweisung der werdenden Mutter, evtl. Notkaiserschnitt und anschließend Intensivbehandlung des Babys, möglicherweise in einer anderen Klinik. Diese Situation wird von der Mutter und dem Vater sehr unterschiedlich erlebt. Bei der Mutter stehen oft Schuld-, Versagens- und Verlustgefühle im Vordergrund, beim Vater Unsicherheit im Umgang mit dem frühgeborenen Baby, Angst bezüglich der Prognose sowie Sorge um die Partnerin und evtl. um die Geschwisterkinder. Im Verlauf der Behandlung des zu früh geborenen Kindes nehmen beide Eltern die Intensivstation meist ähnlich wahr – einerseits als eine hochtechnisierte, verwirrende und anstrengende Umgebung, die auf der anderen Seite auch viel Sicherheit bietet. Je mehr die Eltern in die Pflege ihres Kindes einbezogen werden, desto besser können sie ihre Elternrolle erfüllen und die Bindung zu ihrem Kind vertiefen (Bukowski 2014).

24.2 Pflege eines zu früh geborenen Kindes 24.2.1 Auswirkungen Der Aufenthalt auf der Intensivstation stellt eine enorme Belastung für das zu früh geborene Kind dar. Es ist im Krankenhaus intensiveren und wesentlich mehr Reizen ausgesetzt als ein gesundes, reifes Neugeborenes zu Hause. Das Frühgeborene befindet sich in einer unbewegten Umgebung (im Gegensatz zur ständigen Bewegung im Fruchtwasser), in der es meist sehr hell und laut ist und unangenehm nach Händedesinfektionsmittel riecht. Das Kind erlebt häufige Berührungen von ständig wechselnden Personen, diese Berührungen sind oft unangenehm oder schmerzhaft (z. B. Absaugen, Blutentnahme).

Abb. 24.1 Ampelsystem. Ein Ampelsystem auf der Intensivstation zeigt, wenn der Geräuschpegel für die kleinen Patienten zu hoch ist. (Foto: K. Oborny, Thieme)

Aufgrund des hohen Geräuschpegels dringen menschliche Stimmen nur gedämpft und meist verändert in den Inkubator, während mechanische Geräusche (Türenschlagen, Stühlerücken, Klappern der Abfalleimerdeckel, Telefonläuten, Monitoralarme, Zuschnappen der Inkubatorklappen u. a.) durch den Inkubator noch verstärkt werden (▶ Abb. 24.1). Das Frühgeborene muss folgende Aufgaben bewältigen: ● Aufrechterhaltung der physiologischen Stabilität (z. B. Atmen, Kreislauf und Körpertemperatur regulieren) ● Entwicklung deutlich voneinander abgegrenzter Verhaltenszustände (Schlafen, ruhige Wachphasen, unruhige Wachphasen, Schreien), dies beginnt normalerweise zwischen der 30. und 34. SSW ● Aufnahme sozialer Kontakte während der ruhigen Wachphasen sowie Verarbeiten von äußeren Anregungen und entsprechende Reaktion darauf (z. B. Augenöffnen des Frühgeborenen bei sanfter Berührung)

Merke

H ●

Um das Frühgeborene bei diesen Entwicklungsaufgaben kompetent zu unterstützen, bedarf es einer sorgfältigen Erfassung seines individuellen Pflegebedarfs.

24.2 Pflege eines zu früh geborenen Kindes

24.2.2 Pflegebedarf einschätzen Folgende Pflegeprobleme können auftreten: ● Gefahr der Kreislaufinstabilität ● Temperaturinstabilität aufgrund ungenügender Wärmeregulation ● Gefahr des Sauerstoffmangels durch ungenügende Spontanatmung und Neigung zu Apnoen ● Gefahr von Komplikationen, wie Aspiration, Hirnblutung, nekrotisierende Enterokolitis (NEC) ● beeinträchtigte Ernährung aufgrund der Unreife des Verdauungstrakts und des schwach entwickelten Saug- und Schluckreflexes ● fehlender Schlaf-Wach-Rhythmus ● Infektionsgefahr aufgrund der Unreife des Immunsystems ● veränderte Eltern-Kind-Beziehung aufgrund zu früher Geburt und Intensivbehandlung des Babys

24.2.3 Pflegeziele und -maßnahmen Optimale Erstversorgung im Kreißsaal Allgemeines zur Erstversorgung im Kreißsaal (S. 475). ▶ Wärmeerhalt. Idealerweise sollte in dem Raum, in dem die Erstversorgung durchgeführt wird, eine Temperatur von 26 °C herrschen. Besonders wichtig sind alle Maßnahmen zum Wärmeerhalt, wie die Erstversorgung auf einer Reanimationseinheit mit Wärmestrahler und möglichst beheizter Matte, sofortiges Abtrocknen des Kindes und anschließendes Entfernen der feuchten Tücher, Vermeiden von Zugluft, Befeuchten und möglichst auch Erwärmen von Sauerstoff sowie Vorwärmen des Transportinkubators. ▶ Prävention einer Hirnblutung. Zur Prävention einer Hirnblutung wird das Frühgeborene zunächst in Mittelstellung auf den Rücken gelegt. Das bedeutet, dass der Kopf nicht zu einer Seite rollen soll, damit die Halsvenen nicht abknicken und der ungehinderte venöse Rückfluss möglich ist. Eine kleine Rolle, z. B. aus einer Stoffwindel, wird seitlich des Kopfes gelegt, damit der Kopf in dieser Lage bleibt. Das Frühgeborene sollte nicht mit allen 4 Extremitäten ausgestreckt liegen, sondern, sofern möglich, in Rückenlage die Arme seitlich am Körper liegen haben, z. B. beim Legen eines periphervenösen Zugangs. Diese Lage gibt dem Kind Stabilität und Sicherheit.

Tab. 24.1 Maskengröße in Abhängigkeit vom Gewicht (Genzel-Boroviczény u. Roos 2015) Gewicht des Kindes (in g)

Maskengröße

500

00

750

0

1000

1–2

1250–1750

2

2000–4000

3

▶ Beatmung. Wird eine Maskenbeatmung oder eine Intubation erforderlich, darf der Kopf des Kindes nicht fest gegen die Unterlage gepresst werden. Dies erhöht die Gefahr einer Hirnblutung. Eine Maske der korrekten Größe (▶ Tab. 24.1) muss benutzt werden, runde Masken mit wulstigem Rand schließen am sichersten dicht ab. Je nach Ausmaß der Ateminsuffizienz wird das Frühgeborene unterstützt durch eine oder mehrere der folgenden Maßnahmen: ● Gabe von Sauerstoff ● Maskenbeatmung mittels Handbeatmungsbeutel oder mittels Beatmungsgerät ● positiven Atemwegsdruck mittels Nasen-CPAP oder ● maschinelle Beatmung nach Intubation (S. 760) Bei sehr unreifen Frühgeborenen mit Surfactantmangel wird ggf. bereits im Kreißsaal Surfactant über den Endotrachealtubus verabreicht. Nach Maskenbeatmung und Intubation oder nach Anlegen eines Nasen-CPAP wird eine orale Magensonde zur Aspirationsprophylaxe und zur Entlüftung des Magens auf Ablauf gelegt.

Kontaktaufnahme Meist erklärt der Pädiater direkt im Anschluss an die Erstversorgung den Eltern den Grund für die Verlegung. Ist die Mutter aufgrund einer Sectio caesarea noch im OP, kann der Vater bereits den ersten Kontakt zu seinem Kind aufnehmen. Dabei sollte auch der Name des Kindes erfragt werden. Die Mutter sollte so zeitnah wie möglich zu ihrem Kind gebracht werden, es streicheln und ganz betrachten. Vielen Müttern hilft es in dieser Situation, dass sie etwas für ihr Kind tun können. Erfragen Sie, ob die Mutter stillen möchte, und ermutigen Sie sie zum Stillen. Auch das Abpumpen von Muttermilch ist möglich.

Eltern

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Die Eltern erhalten die Telefonnummer der Station sowie eine Wegbeschreibung und werden informiert, dass die Station für Eltern rund um die Uhr geöffnet ist.

Schonender Transport Frühgeborene sollten je nach Ausmaß ihrer Unreife möglichst geplant in einem Perinatalzentrum des entsprechenden Versorgungsniveaus (Level 1 oder 2) zur Welt kommen, in dem Kreißsaal und neonatologische Intensivstation nahe beieinanderliegen, sodass ein Transport im Notarztwagen nur in Ausnahmefällen erforderlich wird. Üblicherweise werden Neugeborenen-Risikotransporte sowohl von einem Arzt als auch einer Pflegefachkraft begleitet, die Erfahrung in der Betreuung vital gefährdeter Früh- und Neugeborener haben (▶ Abb. 24.2). Der Zustand des Frühgeborenen sollte so stabil sein, dass die Verlegung mit dem geringstmöglichen Risiko erfolgen kann. Die aufnehmende Station wird telefonisch über die Probleme des Kindes verständigt, damit entsprechende Vorbereitungen getroffen werden können.

Merke

24

H ●

Hypothermie. Zum Schutz vor Wärmeverlust durch Konvektion können Kopf und Rumpf des Babys mit Klarsichtfolie abgedeckt werden, sodass Atmung und Hautkolorit weiterhin ungehindert beobachtet werden können.

▶ Innerklinischer Transport. Um die Erstversorgung, den Transport und die Aufnahme auf die neonatologische Intensivstation so schonend wie möglich für das Frühgeborene zu gestalten, hat es sich bewährt, eine moderne Versorgungseinheit wie die „Giraffe OmniBed Carestation“ zu nutzen. Dieses Gerät kombiniert

1

Pflege von Frühgeborenen

Abb. 24.2 Schonender Transport im Inkubator. Der Transportinkubator sollte vorsichtig über Schwellen geschoben werden, damit es nicht zu Erschütterungen kommt. (Foto: K. Gampper, Thieme)

Abb. 24.3 Aufnahme eines Frühgeborenen. Das Vorgehen sollte so behutsam wie möglich erfolgen, z. B. werden nicht lebensnotwendige Routinemaßnahmen, wie die Bestimmung der Körpermaße, verschoben, bis das Baby sich stabilisiert hat. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

24 Inkubator und offene Wärmeeinheit. Das Frühgeborene lässt sich darauf postnatal im offenen Modus versorgen, wiegen, schonend transportieren und auf der Intensivstation im geschlossenen Modus im Inkubator pflegen und behandeln, ohne dass es neu umgelagert werden muss. ▶ Schonende Aufnahme auf der Intensivstation. Die Aufnahme erfolgt möglichst durch 2 Pflegefachkräfte, um einen zügigen Ablauf zu gewährleisten (▶ Abb. 24.3).

Effektive Spontanatmung, ausreichende Sauerstoffversorgung Allgemeines zur Beobachtung und Unterstützung der Atmung können Sie dem Kapitel „Atmen und Kreislauf regulieren“ entnehmen. Nach ärztlicher Anordnung werden Sauerstoff- und Kohlendioxidgehalt im Blut mittels transkutaner Sonden und Pulsoximeter überwacht. Aufgrund ihrer Hautunreife kann es bei Frühgeborenen durch die Erhitzung der transkutanen Sonde rasch zu Hautverbrennun-

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gen kommen, daher muss die Sonde häufiger an eine andere Hautstelle geklebt und die Heiztemperatur um 0,5 –1 °C reduziert werden. Zusätzlich zur klinischen Beobachtung hilft eine Monitorüberwachung, zwischen periodischer Atmung und Apnoen zu unterscheiden. Apnoen treten selten am ersten Lebenstag auf. Sie können häufig durch kutane Reize („Anstupsen“, Streichen der Fußsohlen, leichtes Reiben von Rücken oder Thorax) behoben werden. Da Frühgeborene unter der 34. SSW oft noch keinen gut entwickelten Schluckreflex haben, schlucken sie den eigenen Speichel nicht und müssen daher evtl. oral abgesaugt werden. Atemstimulierende Medikamente (sog. Atemanaleptika), wie Theophyllin oder Koffeinzitrat, werden nach ärztlicher Anordnung verabreicht. Sie können über die Magensonde gegeben werden oder, da sie sehr bitter schmecken, mit Glukose 5 % verdünnt bukkal (in die Wangentasche), wo sie über die Schleimhaut resorbiert werden. Das Frühgeborene muss auf Wirkung (weniger Apnoen, gleichmäßigere, tiefere Atmung) und Nebenwirkungen (Tachykardie, Unruhe, Zittrigkeit) beobachtet werden. Benötigt das Frühgeborene Sauerstoff, kann die Inkubatorluft mit Sauerstoff angereichert werden. Alternativ sind auch die Verabreichung mittels einer speziellen Sauerstoffbrille für Frühgeborene oder einer Hochfluss-Nasenkanüle (High Flow Nasal Cannula = HFNC) möglich. Aufgrund der Lungenunreife können Intubation und anschließende künstliche Beatmung erforderlich werden (S. 760). Besteht ein Mangel an Surfactant, kann es als Medikament über den Endotrachealtubus verabreicht werden.

Stabiler Kreislauf In den ersten Lebensstunden sind Blutdruckschwankungen aufgrund von Verschiebungen von Flüssigkeit in und aus den Blutgefäßen häufig. Daher ist eine intermittierende oszillometrische, bei schwer kranken, instabilen Frühgeborenen evtl. auch eine kontinuierliche arterielle Blutdruckmessung erforderlich. Die Messintervalle werden vom Arzt angeordnet, ebenso wie möglicherweise blutdruckunterstützende Maßnahmen (S. 266). Pflegefachkräfte achten auf die klinische Symptomatik: Ein Frühgeborenes mit reger Motorik hat meist einen ausreichenden Blutdruck.

Stabile Körpertemperatur im Bereich der Thermoneutralzone Das Frühgeborene ist temperaturinstabil, es kann seine Körpertemperatur nicht selbstständig regulieren. Der Verlust von Körperwärme bringt einen Verlust von Flüssigkeit und Energie mit sich, den das Frühgeborene aufgrund geringer Energiereserven nicht ausgleichen kann.

Definition

L ●

Als Thermoneutralzone bezeichnet man jenen Bereich der Umgebungstemperatur, in dem ein Frühgeborenes den kleinsten Energieumsatz und damit den geringsten Sauerstoffverbrauch hat. Als thermischen Komfort oder „Behaglichkeitstemperatur“ bezeichnet man die Temperatur, bei der ein Kind eine Körpertemperatur von 36,7–37,3 °C aufrechterhält.

Um dem Verlust von Körperwärme entgegenzuwirken, wird das Frühgeborene in einen Inkubator gelegt, bei dem sich Temperatur und Luftfeuchtigkeit regulieren lassen. Zudem werden weitere wärmeerhaltende Maßnahmen veranlasst (▶ Abb. 24.4).

Vorbereitung des Inkubators Auf der neonatologischen Intensivstation sollten stets mehrere vorgewärmte Inkubatoren einsatzbereit sein. ▶ Voreinstellung der Inkubatortemperatur. Die Thermoneutraltemperatur ist in der 1. Lebenswoche abhängig vom Gestationsalter und vom Lebensalter in Tagen. In der 2. Lebenswoche ist sie abhängig vom Körpergewicht und vom postnatalen Lebensalter in Tagen. Für die Einstellung der Inkubatortemperatur gibt es Tabellen, nach Gestationsalter und Lebensalter gestaffelt, an denen man sich orientieren kann (▶ Tab. 24.2). Um die Einstellung der Inkubatortemperatur so einfach wie möglich zu gestalten, wurde von unterschiedlichen Medizinprodukteherstellern ein spezielles Software-Programm entwickelt, das bei der Temperatureinstellung unterstützt. Ein Beispiel ist das Programm „Komfortzone“ der „Giraffe OmniBed Carestation“. Wichtig ist, dass trotz der unterstützenden Software die Temperatur im Inkubator je nach Körpertemperatur des Frühgeborenen individuell vom Pflegepersonal angepasst wird (Lutsch 2014).

24.2 Pflege eines zu früh geborenen Kindes

Tab. 24.2 Thermoneutrale Inkubatortemperatur für unbekleidete Frühgeborene (nach Maier u. Obladen 2017). Gewicht (in g)

1. Tag

2.– 3. Tag

4.– 7. Tag

8. Tag

≤ 1000

36 °C

35 °C

34 °C

33 °C

1001 – 1500

35 °C

34 °C

33 °C

32 – 33 °C

1501 – 2000

34 °C

33 °C

32 – 33 °C

32 °C

2001 – 2500

33 °C

32 – 33 °C

32 °C

31 °C

2501 – 3000

32 – 33 °C

32 °C

31 °C

30 °C

> 3000

32 °C

31 °C

30 °C

29 °C

Die angegebenen Richtwerte gelten für unbekleidete Neugeborene verschiedenen Alters bei der Pflege in Einzelwandinkubatoren und 80 % Luftfeuchte. Das Schema bedarf der ständigen individuellen Überprüfung. Beim Frühgeborenen spielen außer Gewicht und Alter in Lebenstagen auch Gestationsalter und Hautreife eine Rolle. Äußere Faktoren müssen ebenfalls berücksichtigt werden (Einzel- oder Doppelwandinkubator, Fototherapie, Raumtemperatur).

Erfassen der Körpertemperatur

Abb. 24.4 Frühgeborenes im Inkubator. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

▶ Einstellung der Inkubatorfeuchte. Die Luftfeuchtigkeit im Inkubator richtet sich zunächst nach dem Gewicht des Frühgeborenen, ist jedoch auch abhängig vom Gestationsalter, vom Lebensalter in Tagen sowie von der Hautreife: ● Frühgeborene < 1500 g: 60 – 70 % relative Feuchte ● Frühgeborene < 1200 g: 70 – 80 % relative Feuchte ● Frühgeborene < 1000 g: 80 – 90 % relative Feuchte Die Inkubatortemperatur und -feuchte werden stündlich kontrolliert und dokumentiert.

Merke

● H

Je höher die Feuchte eingestellt wird, desto niedriger kann die Inkubatortemperatur sein – vorausgesetzt, es kommt nicht zur Kondensation von Feuchtigkeit an der Inkubatorwand.

Sobald ein Frühgeborenes bei einer Inkubatorfeuchte von 50 % temperaturstabil ist, kann es angezogen werden. Bleibt es weiterhin temperaturstabil, ist es bereit für die Pflege in einem Wärmebett (Lutsch 2014).

Manche Kliniken wenden die routinemäßige rektale Temperaturmessung aufgrund der Verletzungsgefahr nicht an. Da es bei normothermen Frühgeborenen keine großen Temperaturunterschiede zwischen axillarer und rektaler Temperatur gibt, werden nur auffällige axillare Temperaturen (unter 36,5 °C bzw. über 37,3 °C) rektal kontrolliert. Bei instabilen, schwer kranken Frühgeborenen kann eine kontinuierliche Messung mittels rektaler Temperatursonde angebracht sein. Meist wird jedoch eine zentrale Körpertemperatur erhoben, indem ein Temperatursensor entweder in Rückenlage des Frühgeborenen zwischen die Schulterblätter und die Matratze oder in Bauchlage zwischen den Bauch des Babys und die Matratze geschoben wird. Bei Frühgeborenen mit stabilem Allgemeinzustand kann die Temperaturmessung intermittierend alle 2 bis 6, evtl. auch alle 8 Stunden durchgeführt werden (klinikinterne Richtlinie beachten). Die Erfassung der peripheren Temperatur mittels einer peripheren Temperatursonde am Fußrücken oder an der Fußsohle des Kindes dient dem raschen Erkennen von Veränderungen, insbesondere im Zusammenhang mit der zentralen Körpertemperatur; 1 bis maximal 2 Grad unter der Körperkerntemperatur sind erwünscht. Die periphere Temperatur ist bei Zentralisation niedrig, mögliche Ursachen hierfür sind: ausgiebige Pflegetätigkeiten, bei denen das Frühgeborene auskühlt, Kreislaufinstabilität mit schlechter peripherer Durchblutung, beginnende Infektion oder Sepsis, insbesondere bei normaler oder erhöhter Körperkerntemperatur. Bei Inkubatoren mit Servocontrol-Modus kann ein Temperaturfühler an der Bauchhaut des Kindes befestigt und an den Inkubator angeschlossen werden. Der Inkubator regelt seine Temperatur dann so, dass die Hauttemperatur des Kindes automatisch zwischen 36 und 36,5 °C ge-

halten wird. Unter Fototherapie hat diese Steuerung den Vorteil, dass die Inkubatortemperatur bei einer Temperaturerhöhung des Kindes infolge der Fototherapie automatisch angepasst wird.

Merke

H ●

Der Servocontrol-Modus birgt bei losem Sitz des Sensors die Gefahr der Überwärmung des Kindes! Außerdem steuert der Inkubator bei Temperaturschwankungen des Kindes automatisch gegen, sodass Fieber evtl. nicht rechtzeitig erkannt wird.

Bei sehr unreifen oder sehr kranken Frühgeborenen ist die Thermostatsteuerung (manuelles Nachregeln durch die Pflegefachkraft) besser geeignet.

Maßnahmen zur Aufrechterhaltung und Regulation der Körpertemperatur Merke

H ●

Der Wärmeerhalt hat Vorrang vor dem Aufwärmen eines ausgekühlten Frühgeborenen!

▶ Raumtemperatur. Sie sollte im Patientenzimmer bei 26 –28 °C liegen.

24

▶ Nach der Aufnahme. Über die nackte Kopfhaut kann viel Wärme verloren gehen, daher wird dem Frühgeborenen eine kleine Mütze aufgesetzt, z. B. aus Baumwollschlauchverband, gefüttert mit Watte zur Wärmeisolierung. Sehr kleine Frühgeborene unter 1000 g Geburtsgewicht können zusätzlich mit einer Klarsichtfolie abgedeckt werden, die täglich erneuert wird. Diese Folie dient dem Wärmeerhalt, nicht dem Aufwärmen des Kindes. ▶ Während der Pflegemaßnahmen. Sofern es möglich ist, wird das Frühgeborene auch während der Durchführung von Pflegemaßnahmen zugedeckt und die Funktion des Warmluftvorhangs im Inkubator aktiviert. Die Inkubatorklappen sollten nur kurze Zeit offen stehen, damit das Kind nicht der Zugluft ausgesetzt wird. Moderne Inkubatoren regulieren automatisch auf die eingestellte Temperatur nach, sobald eine Klappe geöffnet wird. Alle Materialien, die mit dem Frühgeborenen in Hautkontakt kommen, sollten vorher angewärmt werden (Hautpflegelotion, Hautdesinfektionsmittel vor großflächiger Desinfektion, Bettwäsche, Kleidung). Vor Röntgenaufnahmen sollten die Röntgenkassetten eine Weile zum Anwär-

3

Pflege von Frühgeborenen men in den Inkubator gelegt werden. Bei Pflegemaßnahmen wird das Kind so weit wie möglich zugedeckt, z. B. der Unterkörper beim endotrachealen Absaugen. Muss das Baby außerhalb des Inkubators gewogen werden, weil keine Inkubatorwaage vorhanden ist, sollte die Waage vorgewärmt werden. ▶ Feuchte Unterlagen. Möglichst zeitnah sollten feucht gewordene Unterlagen, z. B. nasse Windeln, durch trockene ersetzt werden. ▶ Gabe von Sauerstoff. Erhält das Frühgeborene Sauerstoff über eine Sauerstoffbrille, sollte dieser ebenso, wie es z. B. bei der künstlichen Beatmung mit Inspirationsgas der Fall ist, vor der Gabe befeuchtet und erwärmt werden (i. d. R. auf 36– 37 °C). So soll der respiratorische Wärmeverlust verringert werden. ▶ Externe Wärmezufuhr. Zu Beginn der Fototherapie sollte die Inkubatortemperatur reduziert werden (in Schritten von 0,5 °C), um eine Überwärmung des Kindes zu verhindern. Hinweise der Hersteller von Fototherapielampen bzw. Inkubatoren müssen beachtet werden. Die Feuchte im Inkubator muss reduziert werden.

24

▶ Hypothermie. Bei zu niedriger Körpertemperatur des Kindes wird ein Aufwärmen um 1 Grad Körpertemperatur pro Stunde angestrebt. Ein rascheres Aufwärmen steigert den Sauerstoffverbrauch erheblich und führt zur Kreislaufbelastung. Bei Inkubatoren, mit denen sowohl Feuchte als auch Temperatur reguliert werden können, besteht eine größere Gefahr der Überwärmung des Kindes als bei Inkubatoren, bei denen nur die Temperatur eingestellt und steriles Wasser in ein Reservoir eingefüllt wird. Steigt die Körpertemperatur des Kindes, wird zuerst die Feuchte etwas reduziert, dann die Temperatur des Inkubators, denn bei hoher Feuchte und niedriger Temperatur bildet sich Kondenswasser an den Inkubatorwänden, was die Sicht auf das Kind erschwert und unhygienisch ist. ▶ Hyperthermie. Ist die Körpertemperatur des Kindes zu hoch, wird die Inkubatortemperatur alle 30 Minuten um 0,5 °C gesenkt, bis das Kind die gewünschte Körpertemperatur erreicht hat.

Praxistipp Pflege

Z ●

Falls sehr kleine Frühgeborene nicht im Inkubator, sondern in einer offenen Wärmeeinheit versorgt werden, z. B. zwecks Ductusligatur, sind häufigere Temperaturkontrollen erforderlich.

514

Merke

H ●

Aufgrund der zu frühen Geburt reift die Haut vorzeitig und erreicht unabhängig vom Gestationsalter innerhalb von 2–3 Wochen postpartal den Zustand der Haut eines reifen Neugeborenen. Dadurch sinkt die Gefahr eines großen Wasser- und Wärmeverlusts durch die Haut (Evaporation). Das Frühgeborene bleibt aber aufgrund des fehlenden subkutanen Fettgewebes weiterhin temperaturinstabil.

Stabile Körpertemperatur im Wärmebett Hält ein bekleidetes Kind seine Körpertemperatur bei niedriger Inkubatortemperatur und 50 % Inkubatorfeuchte stabil, kann es in ein Wärmebett gelegt werden. Voraussetzungen hierfür sind: ● Körpergewicht über 1500 g ● stabile Körpertemperatur bei einer Inkubatortemperatur von 27–29 °C ● kontinuierliche Gewichtszunahme von 15–20 g pro Tag seit 3–5 Tagen

Durchführung Folgende Punkte müssen beachtet werden: ● Ein vorgewärmtes Wärmebett wird bereitgestellt. ● Das Kind wird mit Mütze, Hemd, Jäckchen und Strampelanzug bekleidet und im Wärmebett zugedeckt. Zugluft im Patientenzimmer wird vermieden. ● Puls und Atmung werden stündlich, ggf. mittels Monitor kontinuierlich überwacht. Die Temperatur wird anfangs 2stündlich kontrolliert; falls sie stabil bleibt, in längeren Intervallen. Die Einstellung des Wärmebetts wird, sofern erforderlich, verändert. ● Auf Zeichen von Hypo- und Hyperthermie muss geachtet werden (S. 279). ● Das Körpergewicht des Kindes wird täglich kontrolliert, da das Kind nur schlecht oder gar nicht zunehmen wird, wenn es seine Energie zur Aufrechterhaltung der Körpertemperatur verbraucht. ● Bei Auffälligkeiten wird einige Stunden nach dem Ausschleusen eine kapilläre Blutentnahme zur Blutzuckerbestimmung und Blutgasanalyse vorgenommen. Infolge des gesteigerten Energieverbrauchs bei nicht thermoneutraler Umgebungstemperatur können metabolische Azidose und Hypoglykämie auftreten.

Die Verlegung des Frühgeborenen aus dem Inkubator in ein Wärmebett ist für die Eltern meist ein freudiges Ereignis, da ihr ehemals so kleines „Frühchen“ nun wirklich „groß“ wird.

Frühgeborenengerechte Umgebung und Tagesablauf Pflegepersonal, Ärzte und Eltern sollten äußere Reize regulieren, das Frühgeborene genau beobachten und ihm Hilfen anbieten, um Reize zu integrieren. Bei Anzeichen von Belastung sollte dem Frühgeborenen eine Pause gegönnt werden. Es wird genau beobachtet und dokumentiert, auf welche Art von Berührung das Baby mit Stress bzw. Wohlbefinden reagiert (Veränderungen z. B. von Hautfarbe, Muskeltonus, Atmung, Herzfrequenz, Sauerstoffsättigung).

Merke

H ●

Eine individualisierte, entwicklungsfördernde Pflege von Frühgeborenen nach dem NIDCAP-Konzept (Newborn Individualized Developmental Care and Assessment Program) führt nachweislich ● zu einer ausgeprägteren Fähigkeit zur Selbstregulation, ● verbessert die Langzeitprognose, ● stärkt die elterliche Kompetenz im Umgang mit dem Frühgeborenen und ● erhöht die Zufriedenheit des Pflegepersonals (Traxl 2015). Dies erfordert eine Anpassung der Umgebung an die Bedürfnisse der Frühgeborenen, d. h. eine Umstellung der Organisation der Arbeitsabläufe auf der neonatologischen Intensivstation. NIDCAP-Training für Anwender wird z. B. in den Kliniken in Tübingen, Salzburg und Rotterdam angeboten.

Pflegepersonal, Eltern und Ärzte sollen das Frühgeborene nur mit warmen Händen berühren. Den Eltern muss gezeigt werden, wie und wo sie ihr Kind streicheln können, z. B. Auflegen der flachen Hand an Kopf und Füße des Frühgeborenen zur Begrüßung.

Eltern

a ●

Die Berührung durch die Eltern stellt keine belastende Maßnahme dar! Dies muss den Eltern auch so gesagt werden.

24.2 Pflege eines zu früh geborenen Kindes

Minimal Handling/Optimal Handling Eine Maßnahme zur Reduzierung unnötiger, belastender Berührungen ist das Minimal Handling, das auch als Optimal Handling bezeichnet wird. Es hat zum Ziel, Stress beim Frühgeborenen, d. h. Abfallen von Sauerstoffsättigung, transkutanem Sauerstoffpartialdruck und Blutdruck, Auftreten von Bradykardien und/ oder Apnoen, zu vermeiden. ▶ Schutz vor Routinemaßnahmen. Nicht unbedingt erforderliche Maßnahmen werden unterlassen und Routinemaßnahmen hinterfragt, z. B. das tägliche Waschen und Wiegen. Besonders wichtig ist die Absprache zwischen allen Berufsgruppen. Diagnostische und pflegerische Maßnahmen werden vorausschauend aufeinander abgestimmt. Wird das Kind hochgehoben, um es auf eine Röntgenplatte zu legen, kann es im gleichen Arbeitsgang auf eine frische Unterlage gebettet werden. Belastende Maßnahmen werden zeitlich begrenzt. Gelingt es dem Arzt nicht auf Anhieb, Blut abzunehmen oder einen periphervenösen Zugang zu legen, wird dem Kind eine Erholungsphase gewährt. ▶ Schutz vor Lärm. Auf akustische Alarmmeldungen der Überwachungsgeräte wird umgehend reagiert und die Lautstärke der Alarme möglichst reduziert. Türen, Klappen und Deckel werden leise geschlossen, Arbeitsgeräte (z. B. Spritzenpumpen) oder Arbeitsutensilien werden nicht auf dem Inkubator abgelegt und weitere Geräuschquellen möglichst reduziert (keine Telefonate in Nähe der Inkubatoren, nur unbedingt erforderliche Gespräche am Bett führen, Radio in den Aufenthaltsraum stellen).

Merke

H ●

Hauptlärmfaktor neben den akustischen Alarmen der Überwachungs- und Therapiegeräte ist das auf der Station arbeitende Personal! Spieluhren können sehr unterschiedliche Lautstärken haben. Eine Spieluhr sollte i. d. R. nicht unmittelbar neben dem Kopf des Babys abgespielt werden. Zur Schalldämpfung kann man sie in eine Stoffwindel wickeln.

▶ Schutz vor Unruhe und Schmerzen. Das Frühgeborene wird auf Zeichen von Unruhe und Schmerzen beobachtet, hierbei ist ein evaluiertes Schmerzerfassungsinstrument wie z. B. der Berner Schmerzscore hilfreich, um die beiden

Verhaltenszustände voneinander zu unterscheiden (Dietrich 2014). Je nach erreichtem Punktwert erhält das Frühgeborene auf ärztliche Anordnung analgetisch wirkende Medikamente (S. 242). Um dem Baby Möglichkeiten zur Selbstregulation anzubieten, wird es begrenzend positioniert („Nestlage“) und zugedeckt oder eingewickelt, sofern die Behandlung es zulässt. Eine Möglichkeit zum Greifen und Saugen wirkt ebenfalls beruhigend.

Regelmäßiger Schlaf-WachRhythmus Das frühgeborene Kind muss durch bewusste Gestaltung des Tagesablaufs bei der Entwicklung eines regelmäßigen Schlaf-Wach-Rhythmus unterstützt werden. Soweit der Zustand des Babys es erlaubt, werden Pflegemaßnahmen gebündelt, um längere Ruhepausen zwischen 2 Pflegerunden und insgesamt in 24 Stunden eine längere Ruhezeit zu ermöglichen. Im Schlaf wird das Wachstumshormon STH ausgeschüttet, daher dürfen schlafende Frühgeborene nur im Notfall gestört werden. Auf manchen neonatologischen Intensivstationen hat sich eine „Ruhestunde“ im Laufe des Nachmittags bewährt, in der keine planbaren diagnostischen oder Pflegemaßnahmen durchgeführt werden. Ruhephasen werden von Phasen der Aktivität deutlich abgegrenzt, indem ein dunkles Tuch über den Inkubator gelegt und die Beleuchtung gedämpft wird. Muss ein zu früh geborenes Baby kontinuierlich beobachtet werden, kann man es von der künstlichen Beleuchtung abschirmen, indem man ihm z. B. eine Fototherapieschutzbrille aufsetzt (S. 527).

Erhalt der oralen Empfindsamkeit, Förderung des Saug- und Schluckreflexes Um die oralen Bedürfnisse des Frühgeborenen zu befriedigen, wird dem Kind ein Schnuller oder der eigene Daumen bzw. die eigene Hand zum Saugen angeboten. Die Mundpflege soll für das Baby ein angenehmes orales Erlebnis sein und die Mundmotorik fördern. Sie wird vorzugsweise mit Muttermilch oder Frühgeborenen-Nahrung durchgeführt. Die Eltern werden in diese Pflegemaßnahmen einbezogen. Während des Sondierens dürfen wache Frühgeborene saugen (an der eigenen Hand oder am Schnuller), damit der Speichelfluss und die Sekretion von Insulin und Gastrin gefördert werden und das Kind lernt, das Saugen mit dem angenehmen Gefühl der Sättigung zu verbinden.

Beim wachen Frühgeborenen werden bei jeder Mahlzeit einige Tropfen Milch in den Mund gegeben, um das Kind an den Geschmack zu gewöhnen, das Schlucken zu trainieren und den Speichelfluss anzuregen.

Merke

H ●

Da bei diesem Vorgehen das Saugen entfällt, kann aus erfolgreichem Schlucken nicht geschlossen werden, dass das Baby Saugen, Schlucken und Atmung bereits gut koordinieren kann!

Ausreichendes Wachstum Eine frühzeitige enterale Ernährung (möglichst vom ersten Lebenstag an) wird auch bei sehr unreifen Frühgeborenen angestrebt. Die optimale Nahrung für Frühgeborene ist Muttermilch. Sie kann bei Bedarf angereichert werden, um die Zufuhr von Protein, Kalzium, Phosphat und Vitaminen zu erhöhen (Ernährung), s. Essen und Trinken (S. 324) und Stillen (S. 500).

Magensonde Bei Frühgeborenen < 32. SSW ist die Koordination von Saugen, Schlucken und Atmung häufig nicht möglich, sie benötigen daher eine Magensonde. Eine möglichst dünne Magensonde wird in das engere Nasenloch oder oral gelegt, um die Atmung des Frühgeborenen nicht unnötig einzuschränken. Das Legen der Magensonde erfolgt mit sterilen Handschuhen, damit von der Hand des Pflegepersonals keine Keime verschleppt werden. Erleichtert wird das Legen der Sonde durch die Verwendung längenmarkierter Magensonden und die Orientierung am Verhältnis zwischen der korrekten Einführtiefe und dem Körpergewicht (▶ Tab. 24.3). Eine oral liegende Magensonde kann genauso sicher fixiert werden wie eine nasal liegende Sonde, wenn die korrekte Technik beachtet wird. Die Sonde wird in dem Mundwinkel fixiert, in dem sie spontan anliegt. Ein mittig geschlitzter Pflasterstreifen wird von diesem Mundwinkel in Richtung Ohrmuschel geklebt, die beiden Pflasterzügel werden um die Sonde geklebt. Nun führt man die Sonde unterhalb der Unterlippe am Kinn entlang zur gegenüberliegenden Wange, wo sie ein zweites Mal mit einem Klebevlies fixiert wird (▶ Abb. 24.5). Die orogastrale Sonde erleichtert die Nasenatmung, führt aber möglicherweise zu einer Beeinträchtigung der Mundmotorik. Daher sollte sie nicht länger als unbedingt erforderlich belassen werden (Biber 2014).

24

5

Pflege von Frühgeborenen

Tab. 24.3 Verhältnis zwischen Körpergewicht und korrekter Einführlänge einer orogastralen Magensonde (Genzel-Boroviczény u. Roos 2015). Gewicht in g

Einführlänge in cm

< 750

13

750 – 999

15

1000 – 1249

16

1250 – 1500

17

Sicheres Trinken

Abb. 24.5 Oral liegende Magensonde. Korrekte Fixierung.

24

Bei parenteral ernährten Frühgeborenen liegt die Magensonde i. d. R. auf Ablauf, d. h. unter Patientenniveau, und ist geöffnet, sodass Magensekret in einen Ablaufbeutel laufen kann. Vor Beginn der enteralen Ernährung wird die Magensonde mit einem Auffanggefäß versehen (z. B. Spritze ohne Kolben) und aufgehängt (z. B. an der Decke des Inkubators befestigt), damit der Magensaft nicht mehr nach außen, sondern in den Dünndarm des Kindes abläuft. Die Sonde bleibt dabei geöffnet, damit Luft und überschüssiges Magensekret entweichen können. Das Frühgeborene muss sicher positioniert werden, damit die Magensonde nicht disloziert und das Baby keinen Mageninhalt aspiriert. Zu Beginn der enteralen Ernährung erhält das Kind nach ärztlicher Anordnung 8–12 Mahlzeiten mit wenigen Millilitern Nahrung pro Mahlzeit. Die Gabe von 2–3 ml/kgKG Muttermilch oder hydrolysierter Frühgeborenen-Nahrung erfolgt bei Frühgeborenen < 1500 g i. d. R. alle 2 Stunden und bei Frühgeborenen > 1500 g alle 3 Stunden. Wird die Nahrung gut toleriert (d. h. nicht mehr als 3 ml/kgKG Magenrest), kann die Menge pro Mahlzeit nach ärztlicher Anordnung jeden Tag gesteigert werden (i. d. R. bis zu 2 ml/Mahlzeit).

Merke

H ●

Zum Sondieren von Nahrung dürfen ausschließlich enterale Sicherheitssysteme verwendet werden, damit Verwechslungen mit intravenös zu verabreichenden Medikamenten und Lösungen nicht möglich sind.

516

Bei den ersten Trinkversuchen wird dem Kind ein Sauger in den Mund gegeben, in den man eine kleine Menge Nahrung träufelt (0,5 –1 ml), damit es sich nicht so leicht verschlucken kann. Der Sauger sollte nur eine kleine Öffnung haben, damit die Milch nicht schnell herausfließt. Die gleichzeitige Koordination von Saugen, Schlucken und Atmen kann ein frühgeborenes Kind anfänglich belasten bzw. überfordern: Es kann zu einem Absinken der Herzfrequenz oder der Sauerstoffsättigung sowie zu Atempausen kommen. Daher sollte ein Frühgeborenes mit einem EKG-Monitor und einem Pulsoximeter überwacht werden, bis es sicher trinken kann. Die Pflegefachkraft sollte bei den ersten Anzeichen einer solchen Belastung (Veränderungen von Hautkolorit, Muskeltonus und Atmung) den Trinkversuch unterbrechen. Nach ca. 5 Minuten kann ein erneuter Trinkversuch unternommen werden. Treten hierbei wiederum Belastungszeichen auf, muss die Nahrungsgabe mit der Flasche abgebrochen und die restliche Mahlzeit sondiert werden.

Funktionales Trinken Definition

L ●

Funktionales Trinken bedeutet, dass das Kind in einem angemessenen Zeitraum (bis zu 30 Minuten pro Mahlzeit) die erforderliche Menge Milch trinken kann.

Viele Frühgeborene saugen an der Flasche nur schwach und unrhythmisch, ermüden rasch oder schlafen ein. Eine ungünstige Körperhaltung wirkt sich belastend auf das Trinken aus, daher benötigt das frühgeborene Baby eine Positionsunterstützung. Das Frühgeborene wird auf eine zum Dreieck gefaltete Mullwindel gelegt, sodass die seitlichen Zipfel nach vorne überkreuzt werden können. Dabei sollen die Hände des Babys frei bleiben. Auf diese Weise kommen die Arme des Babys nach vorne, die Aufrichtung des Thorax wird erleichtert, sodass das Kind besser saugen, schlucken und atmen kann. Die Oberschenkel und Füße sollen sich abstützen können, damit das Baby seine Bauchmuskeln entspannen kann. Die Pflege-

fachkraft sollte darauf achten, dass der Kopf des Kindes sich in Mittelstellung zum Körper befindet. Dies entspricht der physiologischen Haltung bei der Nahrungsaufnahme. Das Baby wird am Hinterkopf gehalten, nicht am Nacken, um die Mundmotorik nicht zu beeinträchtigen. Eine andere für die Nahrungsgabe geeignete Haltung ist die Positionierung auf den erhöhten Oberschenkeln der Pflegefachkraft (Allgemeines zur Nahrungsgabe beim Säugling s. Stillen [S. 500]). Dabei muss das Frühgeborene mit einer gerollten Stoffwindel oder einem FrühchenNest unterstützt werden, damit Schultern und Hüften symmetrisch nach vorne kommen (Biber 2014). Bei Frühgeborenen mit Problemen bei der Koordination von Saugen, Schlucken und Atmen zeigt sich in Studien eine positive Auswirkung der Nahrungsgabe in erhöhter Seitenlage. Diese entspricht der natürlichen Trinkhaltung des Babys beim Stillen. Die erhöhte Seitenlage wird auf den erhöhten Oberschenkeln der Pflegefachkraft durchgeführt. Das Frühgeborene wird dort seitlich positioniert im rechten Winkel zur Pflegefachkraft, d. h., die Füße des Babys liegen beim Bauch des Erwachsenen. Das Baby wird durch ein FrühchenNest in seiner Position unterstützt (Biber 2014). ▶ Auswahl des Saugers. Die Auswahl des Saugers muss individuell an das Frühgeborene angepasst werden. Es gibt sehr kleine und weiche Sauger speziell für Frühgeborene. Der Sauger muss kurz genug sein, damit er nicht an die Rachenhinterwand stößt und dort den Würgereflex auslöst. Das Loch im Sauger sollte möglichst klein sein. Um einem saugschwachen Frühgeborenen das Trinken zu erleichtern, wird manchmal ein Sauger mit größerem Loch gewählt, das einen schnellen Milchfluss zulässt. Die rasch fließende Milch überfordert jedoch häufig die Schluckfähigkeit des Frühgeborenen und erhöht die Aspirationsgefahr (Biber 2014). Rechtzeitig vor der Entlassung aus der Klinik sollte das Saugen an im Einzelhandel käuflichen Saugern geübt werden, die – im Gegensatz zu den Einmalsaugern in der Klinik – aus etwas festerem Material sind, damit das Baby auch zu Hause mit dem Trinken aus der Flasche zurechtkommt, falls es nicht voll gestillt wird. ▶ Schlechter Lippenschluss und schwaches Saugen. Die Pflegefachkraft kann während des Fütterns leichten Druck auf den Musculus orbicularis oris (Ringmuskel des Mundes) ausüben, der für Mundschluss sowie Tonus und Stellung der Lippen zuständig ist. Manchmal hilft auch ein leichter Druck mit einem Finger unter dem Kinn des Kindes.

24.2 Pflege eines zu früh geborenen Kindes ▶ Ungenügende Koordination von Saugen und Schlucken. Die Pflegefachkraft legt einen Finger leicht auf das Hyoid (Zungenbein), um zu tasten, ob das Kind schluckt. Leichtes Streichen über die Zungenbeinmuskulatur in Richtung des Sternums kann das Schlucken unterstützen. Frühgeborene haben ein unreifes Saugmuster, d. h., sie können noch nicht gleichzeitig saugen und schlucken, sondern sie schlucken vor oder nach dem Saugen. Daher sollte die Flasche häufiger aus dem Mund des Kindes genommen werden, damit es Gelegenheit zum Schlucken hat. Während des Schluckvorganges atmet das Frühgeborene nicht (Schluck-Apnoe), dies kann zum Abfall der Sauerstoffsättigung führen. ▶ Oral hyposensitive Kinder. Um das Kind auf das Nahrungsangebot aufmerksam zu machen, helfen leichte Berührungen um den Mund herum und an der Zunge, z. B. leichtes Streichen mit dem Sauger vor- und rückwärts auf der Zunge. ▶ Oral hypersensitive Kinder. Frühgeborenen sollte möglichst oft die eigene Faust zum Saugen angeboten werden, v. a. dann, wenn sie in der Vergangenheit häufig abgesaugt wurden. Anatomisch geformte Schnuller ermöglichen gleichzeitig eine angenehme intraorale und periorale Stimulation. ▶ Ungenügende oder zu langsame Nahrungsaufnahme. Wenn ein Frühgeborenes 2-mal nacheinander seine Mahlzeit nicht trinkt oder mehr als 30 Minuten für eine Mahlzeit benötigt, sollte die nächste Mahlzeit sondiert werden. Das Kind verbraucht sonst möglicherweise beim Trinken mehr Kalorien, als es durch die Nahrung erhält. Bei besonderen Schwierigkeiten beim Trinken sollten z. B. Physiotherapeuten oder Ergotherapeuten, hinzugezogen werden.

Merke

H ●

Andere Ursachen eines beeinträchtigten Trinkverhaltens müssen berücksichtigt werden, z. B. bewirkt der Zusatz mancher Präparate zur Kalzium- und Phosphatsubstitution zu abgepumpter Muttermilch einen schlechten Geschmack. Das Frühgeborene trinkt die Milch aus der Flasche nicht, weil sie ihm einfach nicht schmeckt.

Nahrungsaufnahme ad libitum Voraussetzungen für die Ernährung ad libitum (lateinisch = nach Belieben, d. h., das Kind bestimmt selbst Zeit und Menge der Mahlzeit) sind: ● Körpergewicht von mindestens 1500 g ● rein enterale Ernährung ● stabile Blutzuckerwerte ● koordiniertes Saugen, Schlucken und Atmen

Merke

H ●

Kontraindikationen für die Nahrungsaufnahme ad libitum sind akute Erkrankungen sowie eine schwere neurologische Beeinträchtigung.

Mit dem Arzt wird besprochen, wie lange der zeitliche Abstand zwischen 2 Mahlzeiten maximal sein darf, bis das Kind zum Trinken geweckt werden muss aufgrund der Gefahr der Hypoglykämie bei noch ungenügenden körpereigenen Reserven. Meist werden bis zu 5 Stunden Pause toleriert. Wenn eine Mindestmenge an Nahrung festgelegt wird, die das Kind in 24 Stunden zu sich nehmen soll, benötigt das Frühgeborene ggf. eine Magensonde, damit zu den Mahlzeiten die entsprechende Menge nachsondiert werden kann. Gewichtskontrollen werden regelmäßig durchgeführt, z. B. alle 2 Tage, um eine ausreichende Gewichtszunahme zu überprüfen. Muss das Baby regelmäßig nachsondiert werden, ist es wahrscheinlich noch zu früh für eine Ernährung ad libitum.

Merke

H ●

Ein sich erneut verschlechterndes Trinkverhalten kann ein Hinweis auf eine Erkrankung sein, z. B. auf eine beginnende Infektion.

Nahrungsaufnahme an der Brust Allgemeines zu den Themen Stillen und Abpumpen von Muttermilch finden Sie im Unterkapitel „Stillen“. Frühgeborene mit 1000 –1500 g Körpergewicht, die kreislaufstabil sind und Saugen, Schlucken und Atmen koordinieren können (meist ab der 32. SSW möglich, evtl. auch früher), dürfen zum Stillen angelegt werden (▶ Abb. 24.6). Aufgrund eines anderen Saugmusters an der Brust haben sie i. d. R. beim Stillen weniger Bradykardien und bessere Sauerstoffsätti-

Abb. 24.6 Stillen eines Frühgeborenen. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

gungswerte als beim Trinken aus der Flasche. Trinken an der Brust braucht meist mehr Zeit als Trinken aus der Flasche. Das Pflegepersonal sollte auf Zeichen von Erschöpfung achten, das Baby aber nicht von der Brust nehmen, wenn es gut saugt und sein Zustand stabil ist (Atmung, Herzfrequenz, Sauerstoffsättigung, Körpertemperatur). Kann das Frühgeborene an der Brust nicht die erforderliche Menge trinken, sollte die fehlende Menge sondiert werden, während das Baby sich im Arm der Mutter ausruht. Es ist nicht sinnvoll, einem vom Stillen bzw. Stillversuch ermüdeten Frühgeborenen im Anschluss mit der Flasche Nahrung zuführen zu wollen. Dies erhöht die Aspirationsgefahr beim Trinken. Bei Frühgeborenen unter 1000 g Körpergewicht ist das Stillen aufgrund des noch schwachen Saug- und Schluckreflexes und der mangelnden Koordination mit der Atmung nur ausnahmsweise möglich und bedarf einer sorgfältigen Einschätzung und Überwachung durch die Pflegefachkraft. Es muss berücksichtigt werden, dass das Kind nicht mehr Energie in das Saugen steckt, als es durch die Muttermilch zugeführt bekommt. Dies sollte der Mutter erklärt werden, damit sie sich nicht in ihrem Stillwunsch abgelehnt fühlt.

24

Ausreichende Ausscheidung Allgemeines zur Beobachtung und zur Unterstützung bei der Ausscheidung finden Sie im Kapitel „Ausscheiden“ (S. 364).

7

Pflege von Frühgeborenen Die Organunreife kann Probleme bei der Ausscheidung von Urin und/oder Stuhl verursachen. Eine Flüssigkeitsbilanzierung in den ersten Lebenstagen ist nicht generell notwendig, dafür aber die Beobachtung der Urinausscheidung. ▶ Unterstützung der Urinausscheidung. Bei einem sehr kleinen Frühgeborenen können auch die handelsüblichen kleinsten Ballonkatheter zum Katheterisieren der Blase zu groß sein. Ersatzweise kann ein Nabelvenenkatheter (NVK) Charr. 5 verwendet werden (Teising u. Jipp 2016). Da dieser sich nicht blocken lässt, muss er sicher fixiert werden.

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▶ Bauchmassage. Da Frühgeborene aufgrund ihrer schwach entwickelten Bauchmuskulatur keine Bauchpresse ausüben können und durch den Zusatz von Kalzium und Phosphat zur Milch evtl. sehr festen Stuhlgang absetzen, haben sie oft Schwierigkeiten beim Abführen. Das regelmäßige Absetzen von Stuhlgang spätestens ab dem 3. Lebenstag ist Grundvoraussetzung für einen erfolgreichen Nahrungsaufbau, d. h. die schrittweise Steigerung der Nahrungsmenge bis zur vollständigen enteralen Ernährung. Eine bei jedem Wickeln durchgeführte Bauchmassage im Uhrzeigersinn, dem physiologischen Verlauf des Kolons folgend, kann sehr hilfreich sein. Beim Wickeln, Waschen oder Positionieren können drehende Bewegungen des Beckens die Darmperistaltik mobilisieren.

Merke

H ●

Die Bauchmassage darf nur bei unauffälligem Abdomen durchgeführt werden, d. h., wenn kein Verdacht auf Vorliegen einer Darminfektion besteht.

▶ Einlauf. Er erfolgt auf ärztliche Anordnung mit körperwarmer Lösung (z. B. physiologische Kochsalzlösung, evtl. Zusatz wie Glyzerin oder Mazola-Öl 1:1 gemischt mit NaCl 0,9 %, Menge des Einlaufs 2 – 3 ml/kgKG). Zur Durchführung sollte ein kleiner Rektalapplikator verwendet werden. Auffällige Veränderungen, wie geblähtes, gespanntes Abdomen, vermehrte Venenzeichnung sowie Rötung oder livide Verfärbung der Bauchdecke, werden umgehend dem Arzt mitgeteilt und dokumentiert. Sie können auf eine nekrotisierende Enterokolitis (NEC) hinweisen, eine Erkrankung, die sehr häufig Frühgeborene betrifft.

518

Prävention einer Hirnblutung Blutdruckschwankungen können bei Frühgeborenen zu Hirnblutungen führen und müssen daher möglichst vermieden werden. Direkt nach der Geburt wird das Frühgeborene mit um 30° erhöhtem Oberkörper und dem Kopf in Mittelstellung entweder auf dem Rücken oder auf einer Seite positioniert, da in dieser Lage der Hirndruck am niedrigsten ist. Der Hinterkopf muss in Rückenlage zusätzlich weich gelagert werden. Positionierung in Flachlage und Kopftieflage müssen vermieden werden, da sie den Hirndruck erhöhen.

Merke

H ●

Bauchlage sollte in den ersten 48–72 Lebensstunden unterlassen werden, da die Seitwärtsdrehung des Kopfes in Bauchlage den venösen Rückfluss behindert und in diesem Zeitraum die Gefahr einer Hirnblutung am größten ist.

Durch zirkuläre Befestigung von Fototherapieschutzbrillen am Kopf des Kindes kann es zur Behinderung des venösen Blutflusses und damit zu erhöhtem Hirndruck kommen. Daher sollten Fototherapieschutzbrillen bei Frühgeborenen (S. 527) keinesfalls zirkulär befestigt werden. Auch die Aufrechterhaltung einer normalen Körpertemperatur dient der Vermeidung von Hirnblutungen, da zwischen Hypothermie (Kältestress) und dem Auftreten von Hirnblutungen ein Zusammenhang besteht. Alle Maßnahmen, die zu Unruhe und Schreien des Kindes führen, sollten möglichst reduziert werden, da Schreien den venösen Blutfluss im Gehirn behindern und zu einem Anstieg des Hirndrucks führen kann.

Entwicklung physiologischer Bewegungsmuster Frühgeborenen unter der 34. SSW fehlt ein Teil der physiologischen intrauterinen Entwicklung: die starke intrauterine Flexion (Beugung) von Kopf, Armen, Beinen und Rumpf. Aufgrund des fehlenden Beugetonus ist die postnatale Extension (Streckung) durch Einwirkung der Schwerkraft sehr stark ausgeprägt (typische „Froschhaltung“ der Extremitäten). Die muskuläre Unreife kann die Entwicklung pathologischer Bewegungsmuster und asymmetrischer Körperhaltungen begünstigen. Das Baby wird gezielt positioniert, um die Entwicklung physiologischer Bewegungs-

muster zu unterstützen und um Halt und Geborgenheit zu vermitteln. Das Frühgeborene wird regelmäßig in unterschiedliche Körperpositionen gebracht, soweit sein Zustand es erlaubt. In Zusammenarbeit mit den Physiotherapeuten wird hierfür ggf. ein Plan erstellt. Da der Positionswechsel eine Belastung für instabile Frühgeborene darstellt, sollte er möglichst schonend, d. h. durch 2 Personen erfolgen. Nicht dringend erforderliche Positionswechsel sollten vermieden werden, z. B. ist in Absprache mit dem Arzt eine Röntgenaufnahme auch in Bauchlage möglich.

Merke

H ●

Zum Positionieren, Wickeln und Herausnehmen aus dem Inkubator sollte das Frühgeborene nach den Prinzipien des Säuglingshandlings nach Bobath (S. 162) oder des Kinaesthetics Infant Handling bewegt werden.

Oberkörperhochlage Bei Inkubatoren und Wärmebetten ist eine Schrägstellung der Liegefläche möglich, die meist genutzt wird, um eine Oberkörperhochlage umzusetzen. Allerdings hat sie den Nachteil, dass die Schwerkraft das Baby nach unten rutschen lässt. Empfehlenswert ist eine Oberkörperhochlage bei waagrechter Liegefläche mithilfe der 3-Stufen-Lage (▶ Abb. 24.7). Je nach Größe des Babys wird entweder eine Baumwollwindel oder ein kleines Badehandtuch so zusammengefaltet, dass 3 Stufen entstehen. Dabei muss die mittlere Stufe so lang sein wie der Thorax des Babys von der Schulter bis zum Ende der Rippen. Die gefaltete Windel wird umgedreht auf die Liegefläche gelegt und das Baby so darauf gebettet, dass die Stufen jeweils mit dem Beginn der Zwischenräume (Hals, Ende der Rippenbögen, Becken) übereinstimmen. Auf diese Weise liegt der Kopf höher als der Brustkorb und der Brustkorb höher als das Becken. Diese 3-Stufen-Lage kann mit allen Positionen kombiniert werden. Zum Abschluss eines Positionswechsels sollte das Frühgeborene durch eine Stoffwindel so gesichert werden, dass es bei allen Bewegungen eine uterusähnliche Begrenzung spürt.

Rückenlage In Rückenlage werden die Arme und Beine unterlagert, sodass sie nicht durch Muskelanspannung gehalten werden müssen und das Baby mit den Füßen einen Halt findet (▶ Abb. 24.8a). Hierzu

24.2 Pflege eines zu früh geborenen Kindes werden z. B. mit Styropor gefüllte Kissen („Frühchen-Nest“) verwendet (besonders feine Kügelchen bietet z. B. die Firma Theraline) oder eine gerollte Stoffwindel bzw. ein kleines Handtuch. Es ist günstig, den Kopf in das Nestchen mit einzubeziehen, um größere Begrenzung und Stabilität zu erreichen.

Merke

● H

Sowohl ein starkes Überstrecken des Kopfes im Nacken als auch eine starke Beugung zur Brust können bei Frühgeborenen Apnoen begünstigen.

Wird ein Frühgeborenes auf dem Rücken in eine Hängematte gelegt, so darf der Kopf des Babys nicht abgeknickt werden. Der Einsatz einer Hängematte empfiehlt sich nicht innerhalb der ersten 3 Lebenstage und nicht bei instabilen Babys, die häufiger Bradykardien und/oder Apnoen zeigen. ●

Seitenlage In Seitenlage kommen beide Arme nach vorne in das Gesichtsfeld des Kindes, dies fördert die Hand-Mund-Koordination. Eine symmetrische Körperhaltung ist leicht zu erreichen, da der Kopf automatisch in Mittelstellung zum Körper kommt. Die Seitenlage entspricht am ehesten der physiologischen fetalen Stellung und bringt das Baby in Flexion. Eine gefaltete Stoffwindel zwischen den Knien des Kindes verhindert die vollständige Adduktion des oben liegenden Beines. Die Beine werden in Flexion gebracht, Unterschenkel und Fuß des oben liegenden Beines müssen mit unterlagert werden. Eine zusammengerollte Stoffwindel in Form eines Nestchens verhindert ein Zurückrollen des Babys in die Rückenlage (▶ Abb. 24.8b).

Bauchlage

Abb. 24.7 Drei-Stufen-Lage. a Das Tuch wird so gefaltet (Foto: Thieme Archivbild) b dass 3 Stufen entstehen (Foto: Thieme Archivbild) c Um das Baby auf die Windel zu betten, wird das Tuch nach dem Falten umgedreht. (Foto: Thieme Archivbild)

Die Bauchlage ist die stabilste Position für Frühgeborene, sie verhindert Überstreckung und wirkt oft förderlich für den Schlaf. Allerdings können in Bauchlage obstruktive Apnoen auftreten, dann sollte die Bauchlage vermieden werden. Es gibt 2 Möglichkeiten der Unterstützung: ● Eine zusammengefaltete Stoffwindel wird vom Kopf bis zur Hüfte längs unter das Kind gelegt. Arme und Beine liegen dann beiderseits des Körpers etwas tiefer und können gebeugt gehalten werden. Die Arme sollten auf beiden Seiten nahe am Körper liegen und die Hände symmetrisch nach oben zeigen, sodass Hand-Mund-Kontakt möglich ist. Das untere Ende der gefalteten Stoffwindel wird umgeschlagen, damit die Füße des

Babys zueinander zeigen und eine zu starke Außenrotation der Unterschenkel vermieden wird. Diese Position wird durch eine gerollte Stoffwindel in Form eines Nestchens gesichert. Zur besseren Wirbelsäulenaufrichtung können die Schultern mit unterlagert werden (▶ Abb. 24.8c). Dreiviertel-Bauchlage: Eine gerollte Stoffwindel wird durch die Beine des Babys geführt, sodass das Kind mit dem Bauch auf der Windel liegt. Das obere Bein befindet sich in Flexion, das untere Bein in Extension. Der Kopf wird in Verlängerung der Wirbelsäule mit unterlagert. Der Hinterhauptsarm liegt gestreckt neben dem Körper, die Handinnenfläche zeigt nach oben. Zur weiteren Begrenzung des unten liegenden Beines kann eine zweite, gerollte Stoffwindel verwendet werden.

Eltern ●



a ●

Kinder, die aus Beckenendlage entbunden wurden, sollten bevorzugt auf den Bauch gelegt werden, da die Bauchlage die Hüftextension fördert. Aufgrund der erhöhten Gefahr des plötzlichen Kindstodes in Bauchlage ist eine kontinuierliche Monitorüberwachung in der Klinik erstrebenswert. Eltern müssen vor der Entlassung des Kindes darauf hingewiesen werden, dass sie ihr Baby zu Hause nicht unbeaufsichtigt zum Schlafen auf den Bauch legen sollen.

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Wird das Baby mit einem Heimmonitor entlassen, kann die Gefährdung durch die Bauchlage gegen ihre positiven Aspekte abgewogen werden. Insbesondere Frühgeborene mit bronchopulmonaler Dysplasie haben in Bauchlage oft bessere Sauerstoffsättigungswerte als in Rückenlage.

Abb. 24.8 Günstige Positionen für Frühgeborene. a Rückenlage, (Foto: P. Blåfield, Thieme) b Seitenlage, (Foto: P. Blåfield, Thieme) c Bauchlage auf einer gefalteten Stoffwindel. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

9

Pflege von Frühgeborenen

Prävention von Kopf- oder Skelettdeformationen Da der Schädelknochen beim Frühgeborenen weicher ist als beim reifen Neugeborenen, kann eine einseitige Positionierung zur Verformung des Kopfes führen (typischer „Frühgeborenenschädel“ mit beiderseits seitlicher Abflachung und ausladendem Hinterkopf). Harte Matratzen in Inkubatoren und Wärmebetten können die Entstehung von Kopf- und Skelettdeformitäten fördern. Daher sollten Frühgeborene im Wechsel auf verschiedene, weichere Unterlagen gebettet werden, z. B. Schaumstoffmatratzen oder Wasserkissen. Regelmäßiges Wechseln der Position und eine begrenzende Positionierung (Nestlage) unterstützen die Körperwahrnehmung, die durch Weichlagerung z. T. beeinträchtigt wird. Wird zur Vorbeugung einer Schädelasymmetrie ein Kopfring verwendet, der den Kopf in Mittelstellung hält, muss darauf geachtet werden, dass dem Baby eine aktive Kopfdrehung noch möglich ist.

Schutz vor Infektionen

24

Die Fähigkeit zur Immunabwehr ist beim Frühgeborenen stark eingeschränkt, da das Immunsystem erst nach der Geburt ausreift und meist der „Nestschutz“ durch die Übertragung mütterlicher Antikörper im letzten Schwangerschaftsdrittel fehlt. Daher ist die strikte Einhaltung aller hygienischen Regeln (S. 434) das oberste Gebot, um eine nosokomiale Infektion zu vermeiden. Die kliniküblichen Richtlinien müssen neben den Eltern auch allen anderen an der Behandlung beteiligten Berufsgruppen erläutert werden. Um sich anbahnende Infektionen frühzeitig zu erkennen, wird das Frühgeborene auf Infektionszeichen beobachtet (S. 528).

Intakte Haut Allgemeines zur Körperpflege finden Sie im Kapitel „Sich sauber halten und kleiden (S. 298)“. Einmal täglich sollte jedes Frühgeborene von Kopf bis Fuß auf seinen Hautzustand hin beobachtet werden. Meist wird bei Frühgeborenen zum Waschen und Baden ausschließlich Aqua destillata verwendet, da Trinkwasser i. d. R. nicht völlig keimfrei ist (klinikinterne Richtlinien beachten). In Absprache mit der Hygieneabteilung der Klinik dürfen evtl. Wasserfilter an den Wasserhähnen angebracht werden, die Bakterien filtern, sodass das Trinkwasser auch zur Körperpflege von Patienten auf Intensivstationen verwendet werden darf. Diese Wasserfilter müssen nach Herstellerangaben regelmäßig gewechselt werden.

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Bei Frühgeborenen ist die Epidermis besonders dünn und leicht verletzlich. Viele therapeutische und pflegerische Maßnahmen können zu Hautdefekten führen, z. B. Pflaster zum Fixieren, Klebeelektroden, transkutane Sonden. Daher sollten Klebeelektroden nicht röntgenkontrastgebend sein und nur bei Bedarf entfernt und neu platziert werden. Die Elektroden werden so fixiert, dass sie auch bei Untersuchungen, wie Herzultraschall, belassen werden können. Hautstellen, die mit Pflaster beklebt werden, können vorher mit einem dünnen Hydrokolloidverband abgedeckt werden. Pflasterreste sollten mithilfe von Aqua destillata entfernt werden, da bei alkoholhaltigen Mitteln die Haut stark austrocknet und der Alkohol über die Haut des Frühgeborenen resorbiert werden kann. Geeignete Hautpflegemittel werden in Absprache mit der Klinikapotheke eingesetzt. Empfehlenswert sind der Einsatz eines Hautscores zur Beurteilung des Hautzustandes und ein Standard für Hautschutz und Hautpflege. Jedes sehr unreife oder kritisch kranke Frühgeborene benötigt eine standardisierte und regelmäßige Kontrolle bezüglich seines Dekubitusrisikos (Schlüer 2013). Für Frühgeborene besonders geeignet ist entweder das Baden im Badeeimer (S. 306) oder das sog. Wickelbad, bei dem das Baby beim Baden in ein Tuch gewickelt wird, um ihm Geborgenheit und räumliche Begrenzung wie im Mutterleib zu bieten. ▶ Nabelpflege. Das Eintrocknen des Nabelschnurrestes kann aufgrund sehr hoher Luftfeuchtigkeit im Inkubator oder durch einen liegenden Nabelgefäßkatheter verzögert werden. Allgemeines zur Nabelpflege finden Sie im Unterkapitel „Pflege des Nabelschnurrests“ (S. 484). Eine routinemäßige Desinfektion ist i. d. R. nicht erforderlich und wird bei Bedarf 1-mal täglich mit einem alkoholfreien Hautantiseptikum (z. B. Octenidin) durchgeführt. Die Reinigung kann auch mit NaCl 0,9 % und einem sterilen (Stiel-)Tupfer erfolgen. Wird die Nabelpflege in Non-Touch-Technik mittels Stieltupfer durchgeführt, kann auf den Einsatz von sterilen Handschuhen verzichtet werden. Zum Eigenschutz werden unsterile Handschuhe getragen. Solange der Nabelgrund noch feucht ist, wird dieser nach der Desinfektion bzw. Reinigung mit einem sterilen Tupfer „umwickelt“, um Sekret aufzunehmen (KRINKO 2012).

24.2.4 Familienorientierte Pflege Pflegepersonal und Ärzte können die Familie des frühgeborenen Babys unterstützen: ● Den Tagesablauf der Station und die Medizingeräte mit einfachen Worten erklären, auch mehrmals, wenn nötig. ● Die Eltern zum Streicheln ihres Kindes anregen, sie anleiten und schrittweise in die Pflege einbeziehen (z. B. Lippen eincremen, Windeln wechseln, Temperatur messen, Stillen bzw. Flasche anbieten). ● Die Eltern persönliche Dinge für ihr Kind mitbringen lassen (z. B. Spieluhr, Kleidung); darauf hinweisen, dass sie ihr Baby gerne fotografieren können, einen Fußabdruck des Babys mitgeben. ● Das Baby stets mit Namen ansprechen. ● Das Baby möglichst anziehen, was für Eltern oft ein Zeichen ist, dass es ihrem Kind besser geht. ● Das Kind auf den Arm geben bzw. die Kängurumethode anbieten. ● Den Eltern über alltägliche Dinge berichten (z. B. ob das Baby lieber auf dem Bauch oder auf der Seite schläft, ob es die Nahrung gut verträgt, ob es an Gewicht zugenommen hat). ● Für Perinatalzentren fordert die Qualitätsrichtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) seit 2013 eine professionelle psychosoziale Betreuung der Eltern von montags bis freitags. Diese psychosoziale Betreuung kann auch von dafür qualifiziertem Pflegepersonal angeboten werden. ● Bei Bedarf erfolgt die Vermittlung zum Sozialdienst der Klinik, der Klinikseelsorge oder dem psychologischen Dienst. ● Die Teilnahme an einer Elternselbsthilfegruppe bereits während des Klinikaufenthalts verringert die Stressbelastung der Eltern deutlich (Reichert u. Rüdiger 2012). ● Den Eltern verdeutlichen, dass ihre Anwesenheit für das Kind wichtig ist, diese Anwesenheit aber nicht einfordern. ● Geschwisterkinder, die frei von Infekten sind, zum Baby lassen. ● Die App „Hallo Frühchen“ für Kinder im Vorschulalter hilft Geschwisterkindern sowie ehemals zu früh geborenen Kindern zu verstehen, wie es zu einer Frühgeburt kommt und was ein frühgeborenes Baby braucht (abrufbar über die Homepage des Bundesverbandes „Das frühgeborene Kind“ www.fruehgeborene.de). ● Die internetbasierte Übertragung eines Livestreams vom Baby auf der Intensivstation nach Hause zu den Eltern („virtuelle Besuche“) erhöht die Zufriedenheit der Eltern mit der Behandlung ih-

24.2 Pflege eines zu früh geborenen Kindes









res Kindes und führt dazu, dass die Eltern häufiger bei ihrem Kind sind, länger bei ihm verweilen und sich in dieser Zeit intensiver mit ihm beschäftigen (Reichert u. Rüdiger 2012). Der gezielte Einsatz elektronischer Medien kann für Eltern hilfreich sein, um die Entwicklung ihres Kindes zu dokumentieren. Spezielle Apps, wie z. B. die „neoApp“, unterstützen dabei. Eltern können u. a. Notizen anfertigen, wichtige Telefonnummern oder Stationsübersichten des behandelnden Perinatalzentrums abrufen und ein digitales Tagebuch führen. Die Daten können sie nach der Entlassung an weiterbehandelnde Ärzte weitergeben (www.neo-app.de). Das Führen eines Intensivtagebuches für das Frühgeborene kann den Eltern helfen, das Erlebnis der Intensivbehandlung ihres Babys besser zu verstehen und zu verarbeiten. Im Tagebuch formuliert das Pflegepersonal einfache, einfühlsame Texte aus der Perspektive des Babys. Die Eltern schreiben Gefühle, Ängste und Beobachtungen aus ihrer Sicht nieder. Wird das Baby verlegt bzw. entlassen, wird das Intensivtagebuch der Familie mitgegeben (Ansorge 2011). Die Verlegung des Frühgeborenen von der neonatologischen Intensivstation auf eine nachbehandelnde Station (Prozess der Transition) kann für die Eltern stressfreier sein, wenn sie vorab die neue Station besichtigen dürfen und bereits erste Kontakte zum Personal knüpfen können (Held 2014). Im Verlegungsbericht für die aufnehmende Station sollten die erworbenen Kompetenzen der Eltern in der Versorgung ihres Babys exakt dokumentiert sein. An manchen Kliniken legen die Eltern zusätzlich einen eigenen Pflegeverlegungsbericht an (Braches u. Völker 2017). Wie Sie die Eltern bestmöglich begleiten können, wenn das Baby stirbt, können Sie dem Kapitel „Sterben“ (S. 462) entnehmen. Der Bundesverband „Das frühgeborene Kind“ hat 2017 Leitsätze zur Palliativversorgung und Trauerbegleitung in der Peri- und Neonatologie veröffentlicht.

Struktur der Pflege Die Struktur der neonatologischen Station sollte eine Atmosphäre vermitteln, die das Zusammenwachsen der Familie fördert. Die Eltern sind die wichtigsten kontinuierlich verfügbaren Bezugspersonen des Frühgeborenen und sollten sich mit der Unterstützung des Pflegepersonals zu Experten der Pflege ihres Kindes entwickeln können.

▶ Dresdner Modell. Ein Modell zur Versorgung der Familien ist das Dresdner Modell der strukturierten Elternanleitung. Das spezielle Schulungsprogramm besteht aus einem Elternkurs (theoretische Inhalte) und der strukturierten Anleitung zur Pflege und Versorgung ihres Babys (praktische Übungen). Bei dieser Anleitung versorgen die Eltern ihr Kind selbst, die Pflegefachkraft unterstützt bei Bedarf durch die zeitgleiche Demonstration der Versorgung an einer Modellpuppe. Die Anleitung zu einem Thema wie z. B. dem Baden erfolgt bei Bedarf bis zu 3-mal (Sommerfeld 2017).



▶ NeoPAss. Der klinische Behandlungspfad NeoPAss (www.neopass.de) der Kinderklinik Passau stellt einen umfassenden Versorgungsansatz dar, der sich an den Leitlinien zur familienintegrierenden Versorgung des Bundesverbands „Das Frühgeborene Kind“ (2006) orientiert. Er strukturiert die neonatologische Versorgung bereits vorgeburtlich durch eine pränatale Elternbegleitung und Stationsbesichtigung, integriert die Familien umfassend während des Klinikaufenthaltes ihres zu früh geborenen Kindes (frühzeitiger Eltern-Kind-Kontakt, Elternanleitung, Stillberatung, Tagebuch für „Frühchen-Eltern“) und sichert die Nachbetreuung (Entlassungsplanung ab der 33. SSW, sozialmedizinische Nachsorge, bei Bedarf Einbeziehen der „Frühen Hilfen“) nach der Entlassung (Zeller u. Blöchl 2016).



Eltern verstehen die Körpersprache ihres Kindes Eltern müssen in der Verhaltensbeobachtung und Körpersprache ihres Kindes angeleitet werden, damit sie auf das Baby eingehen können: je nachdem, ob das Baby stabil ist und Anregung gebrauchen kann oder ob es gestresst ist und Ruhe benötigt. ▶ Stabiler Zustand und Aufmerksamkeit. Die Zeichen dafür sind: ● eindeutige Schlafphasen ● rhythmisches, kräftiges Schreien ● Kind lässt sich zuverlässig beruhigen ● konzentrierte Aufmerksamkeit mit glänzenden Augen ● Blickkontakt zum Kind kann hergestellt werden ● ruhiger, zufriedener Gesichtsausdruck ● Runzeln der Augenbrauen: Das Kind versucht, die Mimik des Erwachsenen nachzuahmen ▶ Stress- und Abwehrverhalten. Dies zeigt sich durch: ● Atempausen, unregelmäßige Atmung (wenn die Atmung vorher ruhig und gleichmäßig war)



● ● ●













Veränderung der Hautfarbe zu grauer/ marmorierter/zyanotischer Farbe Veränderung der Herzfrequenz, insbesondere Bradykardie Würgen oder Spucken Husten, Niesen, Gähnen, Seufzen Zittern, Auftreten des Moro-Reflexes, häufiges Zucken Spreizen der Finger, Grimassieren oder angestrengter Gesichtsausdruck, Herausstrecken der Zunge Schlaffheit der Muskulatur von Rumpf, Extremitäten und Gesicht Hypertonus der Muskulatur (Frühgeborenes überstreckt sich im Rücken, Opisthotonus) Fäuste machen, Wegziehen eines Fußes, Wegdrehen des Kopfes Schlaflosigkeit, Unruhe, sich krümmen und winden, quengeln Erregung mit Weinen, das Kind lässt sich kaum trösten umherschweifende Augenbewegungen oder starrer bzw. glasiger Blick

Eltern können ihr Kind beruhigen Folgende Hilfsangebote können die Eltern ihrem Baby machen: ● flache Hand auf Brustkorb oder Rücken des Kindes legen (▶ Abb. 24.10) ● Kind in Beugehaltung bringen (das geht am einfachsten, indem man es auf den Arm nimmt) ● motorische Aktivitäten begrenzen (z. B. durch Legen einer zusammengerollten Stoffwindel an die Füße des Babys) ● gegen Reize abschirmen (d. h. Licht abdunkeln, Geräusche möglichst dämpfen, das kann auch heißen, die Spieluhr nicht mehrmals nacheinander aufzuziehen) ● Schnuller zur Beruhigung anbieten ● Selbsterfahrung des Körpers ermöglichen (z. B. durch Saugen des Kindes an seiner eigenen Hand oder Anlegen der Arme des Kindes seitlich an den Körper) ● Halten der Hände des Babys ● langsames, sanftes Streicheln, ggf. die Eltern in Babymassage (S. 167) unterweisen ● sanftes Ansprechen ● Pucken des Babys, d. h. Einwickeln des Babys in ein Stofftuch, sodass seine Arme und Beine dicht am Körper anliegen

Merke

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H ●

Das Kind sollte nicht mit einer Menge von Worten und Berührungen überhäuft werden, sondern jedes einzelne Hilfsangebot durch genaue Beobachtung auf seine Wirkung hin überprüft werden.

1

Pflege von Frühgeborenen und Arme waschen, da Frühgeborene nur gegen die Hautkeime der Mutter eine gewisse Immunität besitzen.

24.2.5 Spezielle Pflegemethoden Kängurumethode Definition

● L

Wird ein frühgeborenes Kind unbekleidet in Bauchlage auf die nackte Brust einer Betreuungsperson gelegt, spricht man von der Känguru- oder Hautkontaktmethode.

Ziele der Kängurumethode sind: Reduktion von periodischer Atmung, Apnoen und Bradykardien ● längere Zeiten ruhiger Aufmerksamkeit oder tiefen Schlafes ● weniger Unruhe und Schreien ● Anregung der Milchbildung bei der Mutter, leichteres Anlegen an die Brust, höhere Motivation der Mutter beim Abpumpen, bis das Stillen möglich wird ● bessere Eltern-Kind-Bindung, mehr Selbstvertrauen in die elterlichen Fähigkeiten ●

Voraussetzungen Um die Kängurumethode anwenden zu können, müssen die folgenden Bedingungen gegeben sein:

24

▶ Beim Baby. Stabiler Kreislauf, stabiler Sauerstoffbedarf und stabile Beatmungsparameter sind Grundvoraussetzungen. Nabelgefäßkatheter oder Pleuradrainagen sind nicht vorhanden, alle venösen Zugänge sind sicher fixiert. In der für die Kängurumethode vorgesehenen Zeit sind keine Untersuchungen geplant (z. B. Röntgen, Ultraschall). Das Baby wird nur mit einer kleinen Windel bekleidet, um möglichst viel Hautkontakt zu ermöglichen. Frühgeborene, die bereits angekleidet im Inkubator oder im Wärmebett liegen, sollten einmal am Tag für den Hautkontakt bei der Durchführung der Kängurumethode ausgezogen werden. ▶ Bei den Eltern. Sie sollten mindestens eine Stunde Zeit und Ruhe für die Kängurumethode und keine Erkältung, Grippe, Fieber oder gastrointestinale Beschwerden haben (Infektionsgefahr für das Kind). Vor Beginn der Anwendung der Kängurumethode sollten sie auf die Toilette gehen, etwas essen und evtl. Mineralwasser zum Trinken mitbringen. Mütter nach Kaiserschnitt müssen selbst kreislaufstabil sein. Stillende Mütter sollten vorher abpumpen und zusätzliche Stilleinlagen mitbringen, falls durch den engen Körperkontakt mit ihrem Kind der Milchfluss angeregt wird. Väter sollten duschen oder Oberkörper

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Vorbereitung Folgende Materialien sind bei der Kängurumethode sinnvoll: ● in seiner Position verstellbarer Liegestuhl, mit breiter Sitzfläche und breiten, nicht zu tiefen Armlehnen ● Polster für Rücken und Gesäß, evtl. zusätzliche Kissen oder Nackenrolle ● Fußbank, insbesondere Mütter im Wochenbett sollten ihre Beine etwas erhöht ablegen, etwa auf halber Höhe der Sitzfläche des Liegestuhls, da im Wochenbett ein höheres Risiko des verringerten venösen Rückflusses besteht, was einen niedrigen Blutdruck zur Folge haben kann sowie das Thromboserisiko erhöht ● großes, gefaltetes Handtuch oder Fell zum Zudecken des Kindes ● kleine Wollmütze für Frühgeborene unter 1500 g Körpergewicht, damit das Kind seine Körpertemperatur besser halten kann ● spezielles Frühgeborenen-Tragetuch für die Durchführung der Hautkontaktmethode, das dem Baby Begrenzung vermittelt, sein Verrutschen auf der Brust des Elternteils verhindert und den Eltern die Hände frei lässt

Durchführung Der Liegestuhl wird in der Nähe der Monitore und Spritzenpumpen aufgestellt. Mutter oder Vater setzen sich mit nacktem Oberkörper bequem in den Liegestuhl. Das Frühgeborenen-Tragetuch hat eine Kennzeichnung, welche Seite zum Brustbein (Sternum) des Elternteils zeigen soll: Entsprechend wird das Tuch angelegt. Eine Pflegefachkraft ordnet alle Kabel und Infusionsleitungen auf einer Seite des Babys an, nimmt dann das Kind aus dem Inkubator und platziert es in Bauchlage auf der Brust des Elternteils. Danach wird das Frühgeborenen-Tragetuch korrekt über dem Kind platziert und bei Bedarf das Kind zusätzlich mit einem gefalteten Handtuch zugedeckt. ▶ Positionierung. Frühgeborene unter 1500 g Körpergewicht bzw. jünger als 32. SSW oder noch sehr schwache Kinder werden in einer möglichst liegenden Position gehalten, sodass sie ihren Hals und ihr Kinn nicht selbst gestreckt halten müssen. Dazu sind sie meist noch nicht in der Lage und daher gefährdet, obstruktive Apnoen zu erleiden. Arme und Beine des Kindes sollten gebeugt und an den Körper herangezogen sein (fetale Haltung), um

die Körperoberfläche und damit die Wärmeabstrahlung des Kindes zu verringern. Wird das Frühgeborene mittig zwischen den Brüsten der Mutter platziert, so kann dies zu einer für das Baby ungünstigen Körperhaltung führen mit Überstreckung im Nacken, Außenrotation (Abspreizen) der Arme und Beine („Froschhaltung“). Darüber hinaus kann die Mutter keinen Blickkontakt mit ihrem Baby aufnehmen. In manchen Stationen bekommt die Mutter einen Handspiegel, mit dessen Hilfe sie das Gesicht ihres Babys beobachten kann. Nachteil ist, dass eine Hand nicht mehr frei ist für den Körperkontakt mit dem Baby und dass auf diese Weise kein echter Blickkontakt zustande kommt. Günstiger ist eine Position in Flexion (Beugung) in diagonaler Haltung auf dem Oberkörper der Mutter, bei der der Kopf des Frühgeborenen zwischen der Brust und dem Schlüsselbein der Mutter liegt (▶ Abb. 24.9) (Buil 2017). In dieser Position ist es für die Mutter möglich, Blickkontakt mit ihrem Baby aufzunehmen, eine wichtige Bedingung zur Entwicklung der gegenseitigen Bindung. ▶ Bei beatmeten Frühgeborenen. Hier sichert eine Pflegefachkraft Tubus, Beatmungsschläuche und alle anderen Kabel und Leitungen auf einer Körperseite des Kindes, während eine zweite Pflegefachkraft das Kind aus dem Inkubator nimmt und auf der Brust der Eltern lagert. Der Kopf des Kindes wird auf die Seite gedreht positioniert, damit die Beatmungsschläuche über eine Schulter von Mutter bzw. Vater hinweg zum Beatmungsgerät geführt werden können. Die Beatmungsschläuche müssen sicher fixiert werden. Die Eltern müssen darauf achten, dass ihr

Abb. 24.9 Positionierung des Frühgeborenen in Flexion. Das Kind liegt entspannt zwischen Brust und Schlüsselbein der Mutter.

24.2 Pflege eines zu früh geborenen Kindes Baby den Kopf nicht allein auf die andere Seite dreht, da sonst die sichere Platzierung des Tubus gefährdet wird. ▶ Überwachung. Herzfrequenz und Atmung werden mittels EKG-Elektroden überwacht. Ein peripher angebrachter Temperaturfühler ermöglicht eine Überwachung der Körpertemperatur des Kindes, außerdem sollten die Eltern beobachten, ob ihr Baby sich warm anfühlt. Manche Kliniken messen nur vor und nach dem Känguruen die Körpertemperatur des Frühgeborenen. Ein Pulsoximeter und ggf. eine transkutane Sonde ermöglichen die kontinuierliche Überwachung der Sauerstoffsättigung.

Das Geschwisterbett Definition

L ●

Das gemeinsame Unterbringen von Zwillingen oder Mehrlingen in einem Inkubator oder Wärmebett wird als Geschwisterbett bezeichnet.

Ziele dieser Methode sind: gegenseitige Stimulation zur Vermeidung von Apnoen und Bradykardien, erleichterte Temperaturregulation durch gegenseitiges Warmhalten ● Entwicklung synchroner Schlaf- und Wachphasen, gegenseitige Beruhigung ●

Durchführung Folgende Pflegemaßnahmen sind erforderlich: ● Die mittels Namensbändchen gekennzeichneten Babys werden möglichst von Anfang an in ein gemeinsames Bett (Wärmebett oder Inkubator) gelegt. ● Alle Überwachungsgeräte, Spritzenpumpen usw. müssen mit dem Namen des Babys gekennzeichnet werden, an das sie angeschlossen sind. Am einfachsten ist es, jeweils an eine Seite des Bettes die zum betreffenden Kind gehörenden Geräte zu platzieren.

Abb. 24.10 Berührung. Die Mutter bietet Begrenzung durch eine Hand am Hinterkopf des Frühgeborenen und Auflegen ihrer anderen Hand. (Foto: P. Blåfield, Thieme)



Mehrlinge im Geschwisterbett sollten in jeder Schicht von einer Pflegefachkraft betreut werden. Dies ermöglicht eine Abstimmung pflegerischer und ärztlicher Tätigkeiten, sodass nicht jedes Baby doppelt so häufig gestört wird wie bei der Unterbringung in getrennten Betten.

Merke

H ●

Unerlässlich ist die hygienische Händedesinfektion, bevor von einem Baby zum anderen gewechselt wird.

Pflegemaßnahmen und Medikamentengabe müssen eindeutig zugeordnet werden. Die Gefahr von Verwechslungen ist groß! Ein zweites Wärmebett oder ein zweiter Inkubator wird im selben Zimmer bereitgehalten, um die Geschwister bei Bedarf ohne Zeitverlust trennen zu können. Hilfsmittel zur Positionierung werden so eingesetzt, dass ein möglichst enger Körperkontakt entsteht. Möglich sind die Positionen Rücken an Rücken, Gesicht an Rücken oder einander zugewandt (Enface-Position). Pflegepersonal und Ärzte entscheiden gemeinsam, ob eine Unterbringung in getrennten Betten (evtl. vorübergehend) sinnvoll ist, z. B. bei: ● Fototherapie ● Beatmung ● Infektion ● stark unterschiedlichen Bedürfnissen an die Umgebungstemperatur ● liegenden Drainagen oder Kathetern ● großer Unruhe aufgrund gegenseitiger Störung

Richtlinien für die Pflege im Inkubator Der Inkubator (S. 512) besitzt Wände aus Plexiglas zur ungehinderten Beobachtung und durch Klappen oder Irisblenden verschließbare Öffnungen zur Versorgung des Kindes. Viele verschiedene Modelle sind auf dem Markt. Eine Besonderheit stellt die „Giraffe OmniBed Carestation“ dar, die die Funktionen von Wärmebett und Inkubator in sich vereint und wahlweise in einer der beiden Betriebsmöglichkeiten angewendet werden kann, ohne dass das Frühgeborene in ein anderes Bett gelegt werden muss.

Merke

H ●

Jede Pflegefachkraft, die Frühgeborene im Inkubator pflegt, muss in den Gebrauch des Inkubators eingewiesen sein und entsprechende Hinweise des Herstellers beachten.

Der Inkubator ermöglicht: ununterbrochene Beobachtung des Kindes von allen Seiten (z. B. Hautkolorit, Atmung, Verhalten) ● exakte Klimatisierung durch Einstellung von Temperatur und Luftfeuchtigkeit, die durch Alarmfunktionen überwacht werden ● Sauerstofftherapie durch Einleiten von Sauerstoff in den Inkubator (je nach Modell wird die Sauerstoffkonzentration durch Alarmfunktion überwacht) ● Schutz vor Eindringen von Bakterien durch kontinuierliche Luftumwälzung; die von außen angesaugte Luft wird durch einen Filter gereinigt, bevor sie in das Innere des Inkubators gelangt ● verschiedene Möglichkeiten der Positionierung durch verstellbare Liegefläche ● Wiegen des Kindes mittels Inkubatorwaage, sofern vorhanden ●

Eltern

a ●

Die Eltern werden bezüglich hygienischer Regeln und geräuscharmen Öffnens und Schließens der Klappen angeleitet. Hemmungen vor dem Inkubator als einer Barriere zwischen Eltern und Kind sollten vom Pflegepersonal angesprochen und die Eltern zum Berühren ihres Babys im Inkubator herangeführt werden. Wenn die Eltern mit ihrem Kind sprechen, sollten sie zu einer der Klappen hineinsprechen, damit ihre Stimme von ihrem Kind gehört werden kann.

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Hygienisches Arbeiten Für das Arbeiten im Inkubator ist eine gute Vorbereitung aller Pflegemaßnahmen erforderlich. Das benötigte Material (z. B. Waschutensilien, Bettwäsche, Zubehör zum Wickeln) muss griffbereit liegen, ein Abwurf für Abfall und Schmutzwäsche sollte in unmittelbarer Nähe sein, ebenso Händedesinfektionsmittel. Die Desinfektion von Händen und Unterarmen bis zum Ellenbogen erfolgt immer, bevor man in den Inkubator greift. Die Inkubatorklappen werden durch Druck mit dem Ellenbogen auf die Verriegelung geöffnet, damit die desinfizierten Hände nicht mehr mit dieser Verriegelung

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Pflege von Frühgeborenen in Berührung kommen. Zwischen den einzelnen Verrichtungen innerhalb und außerhalb des Inkubators wird die Desinfektion von Händen und Unterarmen wiederholt. Saubere Gegenstände werden am Kopfende des Inkubators eingegeben, schmutzige Gegenstände am Fußende des Inkubators ausgeschleust. Schmutzige Windeln, das benutzte Fieberthermometer sowie verschmutzte Bettwäsche werden sofort ausgeschleust. Die Ganzwaschung erfolgt, wie bei anderen Neugeborenen und Säuglingen auch, unter Berücksichtigung der hygienischen Regeln. Muss das Kind während des Trinkens aus der Flasche aufstoßen, wird die Milchflasche am Kopfende abgestellt; dort wird auch der Schnuller abgelegt. Um eine Ablagerung von Staub zu vermeiden, wird der Innenraum des Inkubators täglich mit sterilem Wasser gereinigt. Bei Befeuchtung der Inkubatorluft durch Einfüllen von sterilem Wasser in die Wasserkammer muss das Wasser täglich gewechselt werden. Proben des Inkubatorwassers werden ggf. für mikrobiologische Unter-

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suchungen entnommen. Zwecks gründlicher Reinigung sollte der Inkubator möglichst alle 7 Tage gewechselt werden. Die Schlussdesinfektion des Inkubators bei Patientenwechsel wird nach den Angaben des Herstellers sowie kliniküblichem Vorgehen durchgeführt.

24.2.6 Nachsorge Nicht alle Frühgeborenen können völlig gesund nach Hause entlassen werden, sondern benötigen häusliche Kinderkrankenpflege und weitere therapeutische Maßnahmen, wie Physiotherapie oder Frühförderung. Das Entlassungsmanagement hilft, das Frühgeborene mit komplexen Pflegebedürfnissen rasch in seine gut geschulte und adäquat unterstützte Familie zu entlassen. Zur ambulanten Nachsorge gehören neben der Betreuung durch den niedergelassenen Kinderarzt regelmäßige Kontrollen der Entwicklung des ehemaligen Frühgeborenen, z. B. in einem sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ).

Ein gezieltes System der sozialmedizinischen Nachsorge bietet z. B. das familienorientierte Case Management des Bunten Kreises (www.bunter-kreis-deutschland.de). Ein weiteres bewährtes Modell ist die Harl.e.kin-Nachsorge für Frühgeborene im Übergang von der Klinik nach Hause (https://harlekin-nachsorge.de). Hebammenhilfe darf bis zur 12. Lebenswoche des Babys in Anspruch genommen werden, bei Fragen zum Stillen oder zur Einführung von Beikost auch darüber hinaus sowie auf ärztliche Anordnung. Bei psychosozialer Belastung besteht in den ersten 3 Lebensjahren des Kindes die Möglichkeit der Unterstützung durch eine Familien-Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin im Rahmen der Frühen Hilfen (www.fruehehilfen.de).

Kapitel 25 Pflege von Kindern mit Störungen in der Neugeborenenperiode

25.1

Bedeutung

526

25.2

Pflege eines Neugeborenen mit Hyperbilirubinämie

526

Pflege eines Neugeborenen mit Infektion

528

Pflege eines Neugeborenen mit Hypoglykämie

529

Pflege eines Neugeborenen mit drogenabhängiger Mutter

531

25.3 25.4 25.5

Pflege von Kindern

25 Pflege von Kindern mit Störungen in der Neugeborenenperiode Simone Teubert

25.1 Bedeutung Kinder mit Störungen in der Neugeborenenperiode beginnen ihr Leben mit einer unerwarteten Einschränkung ihres Gesundheitszustandes. Diese Situation wird verschärft, da die Eltern i. d. R. darauf nicht vorbereitet sind und ebenfalls der Betreuung und Unterstützung bedürfen. Das Kind, das gerade den Mutterleib verlassen hat, muss eine räumliche Trennung von der Mutter und unbekannte und z. T. schmerzhafte Einflüsse erfahren. Die Eltern bleiben alleine zurück und müssen die Verantwortung und Betreuung in fremde Hände legen. Sie haben Angst um ihr Kind und entwickeln z. T. Schuldgefühle. Die Förderung der MutterKind-Bindung, Beratung und Begleitung bei der Versorgung des neugeborenen Kindes nehmen daher einen besonderen Stellenwert ein.

25.2 Pflege eines Neugeborenen mit Hyperbilirubinämie Fallbeispiel

25

526

I ●

Frau M. war am 3. Lebenstag ihres ersten Kindes aus der Geburtsklinik entlassen worden. Sohn Oscar war mit 3700 g Geburtsgewicht nach einer Spontanentbindung in der 41. Woche gesund und komplikationslos zur Welt gekommen. Zu Hause nahm Frau M. die Unterstützung durch ihre Hebamme wahr. Dieser schilderte sie am 5. Lebenstag ihre Beobachtungen und zeigte sich besorgt. Oscars Hautfarbe wurde zunehmend gelb und sein Trinkverhalten hatte sich stark verändert. Wollte er anfangs alle 2–3 Stunden trinken, versuchte Frau M. ihn nun alle 4 Stunden zu wecken und anzulegen. Sie hatte aber den Eindruck, dass er kaum etwas trank und stattdessen sofort wieder einschlief. Eine Gewichtskontrolle bestätigte die unzureichende Nahrungsaufnahme und das Kind wirkte sehr schläfrig. Die Hebamme empfahl eine Vorstellung beim Kinderarzt, der nach einer Laborkontrolle einen deutlich erhöhten Bilirubinspiegel im Blut feststellte und Oscar zur Fototherapie in die Kinderklinik einwies.

25.2.1 Allgemeine Grundlagen



Bei einer Hyperbilirubinämie kommt es durch den vermehrten Abbau von überschüssigem Hämoglobin bei gleichzeitiger Unreife der Leberzellen zu einer Erhöhung des indirekten (unkonjugierten) Bilirubins im Blut. Die Erhöhung des Bilirubins ist innerhalb bestimmter Grenzwerte physiologisch. Sie tritt bei reifen, gesunden Neugeborenen zwischen dem 2. und 6. Lebenstag auf und ist nicht behandlungspflichtig. Davon zu unterscheiden ist die pathologische Hyperbilirubinämie (Icterus gravis), die Symptom für eine ernsthafte Gesundheitsstörung sein kann. Die Indikation einer Therapie ergibt sich aus dem Lebensalter und der Konzentration des indirekten Bilirubins im Blut. Anhand festgelegter Grenzwerte stellt der Arzt die Indikation zur Therapie. Bei Frühgeborenen und Kindern mit Hämolyse werden die Grenzen enger gesetzt. Eine leichte Hyperbilirubinämie wird durch Fototherapie behandelt. Schwerere Formen, d. h. hohe Bilirubinkonzentrationen, die nicht nach 4 – 6 Stunden auf eine intensive Fototherapie mit einem Bilirubinabfall reagieren, können eine Blutaustauschtransfusion notwendig machen (S. 818).



Merke

H ●

Bei Nichtbehandlung einer Hyperbilirubinämie mit hohen Bilirubinkonzentrationen kann es zu einer Bilirubinenzephalopathie (Kernikterus) kommen!

Allgemeine Symptome sind: Ikterus von Haut, Skleren und Schleimhäuten ● Trinkschwäche, Apathie ● ggf. Apnoen ● Bradykardien





● ●

potenzielle Gefahr von Netzhautschädigungen unter Einfluss der Lichtbestrahlung Gefahr von Körpertemperaturschwankungen (erhöhter Kalorienverbrauch und dadurch mangelnde Gewichtszunahme) Apnoe- und Bradykardieneigung bei untergewichtigen Neugeborenen trockene, rissige Haut, Erytheme und Exantheme, Lichtexposition gesteigerte Unruhe des Kindes erschwerter Eltern-Kind-Kontakt bei therapiebedingter räumlicher Trennung

25.2.3 Pflegeziele und -maßnahmen Abbau des Bilirubins durch Fototherapie Bei der Fototherapie werden spezielle Fototherapiegeräte (z. B. Röhrenlampen, LED-Fototherapiesysteme oder fiberoptische Matten) eingesetzt, die über einen Wellenlängenbereich zwischen 450 und 470 nm verfügen. Unter Lichteinfluss verwandelt sich das wasserunlösliche Bilirubin in wasserlösliches Bilirubin und kann somit über Niere und Darm ausgeschieden werden.

Merke

H ●

Fiberoptische Matten haben durch die kleinere lichtexponierte Körperoberfläche des Kindes eine geringere Effektivität als z. B. Röhrenlampen. Sie eignen sich jedoch gut als zusätzliche Bestrahlungsquelle bei sehr hohen Bilirubinwerten.



25.2.2 Pflegebedarf einschätzen Bei einem Kind mit einer Hyperbilirubinämie, das mit Fototherapie behandelt wird, können folgende Pflegeprobleme auftreten: ● mangelnde Nahrungszufuhr durch Trinkschwäche ● erhöhter Flüssigkeitsverlust durch verstärkte Perspiratio insensibilis und häufige wässrige Stühle

Effektive und sichere Fototherapie Fachrichtiger Einsatz und Handhabung von Fototherapielampen: ● vor dem Einsatz immer überprüfen, ob das Gerät noch einen ausreichenden Wartungsschutz hat ● Überprüfung der Funktionalität der einzelnen Leuchtmittel, bei Kombinationslampen immer überprüfen, ob der gewünschte Lampentyp eingestellt ist bzw. ob beide Lampentypen funktionieren (weißes und blaues Licht) ● den vom Hersteller empfohlenen Abstand der Lampe zum Kind bei verstellbaren Lampen unbedingt einhalten, um

Pflege von Kindern

25 Pflege von Kindern mit Störungen in der Neugeborenenperiode Simone Teubert

25.1 Bedeutung Kinder mit Störungen in der Neugeborenenperiode beginnen ihr Leben mit einer unerwarteten Einschränkung ihres Gesundheitszustandes. Diese Situation wird verschärft, da die Eltern i. d. R. darauf nicht vorbereitet sind und ebenfalls der Betreuung und Unterstützung bedürfen. Das Kind, das gerade den Mutterleib verlassen hat, muss eine räumliche Trennung von der Mutter und unbekannte und z. T. schmerzhafte Einflüsse erfahren. Die Eltern bleiben alleine zurück und müssen die Verantwortung und Betreuung in fremde Hände legen. Sie haben Angst um ihr Kind und entwickeln z. T. Schuldgefühle. Die Förderung der MutterKind-Bindung, Beratung und Begleitung bei der Versorgung des neugeborenen Kindes nehmen daher einen besonderen Stellenwert ein.

25.2 Pflege eines Neugeborenen mit Hyperbilirubinämie Fallbeispiel

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I ●

Frau M. war am 3. Lebenstag ihres ersten Kindes aus der Geburtsklinik entlassen worden. Sohn Oscar war mit 3700 g Geburtsgewicht nach einer Spontanentbindung in der 41. Woche gesund und komplikationslos zur Welt gekommen. Zu Hause nahm Frau M. die Unterstützung durch ihre Hebamme wahr. Dieser schilderte sie am 5. Lebenstag ihre Beobachtungen und zeigte sich besorgt. Oscars Hautfarbe wurde zunehmend gelb und sein Trinkverhalten hatte sich stark verändert. Wollte er anfangs alle 2–3 Stunden trinken, versuchte Frau M. ihn nun alle 4 Stunden zu wecken und anzulegen. Sie hatte aber den Eindruck, dass er kaum etwas trank und stattdessen sofort wieder einschlief. Eine Gewichtskontrolle bestätigte die unzureichende Nahrungsaufnahme und das Kind wirkte sehr schläfrig. Die Hebamme empfahl eine Vorstellung beim Kinderarzt, der nach einer Laborkontrolle einen deutlich erhöhten Bilirubinspiegel im Blut feststellte und Oscar zur Fototherapie in die Kinderklinik einwies.

25.2.1 Allgemeine Grundlagen



Bei einer Hyperbilirubinämie kommt es durch den vermehrten Abbau von überschüssigem Hämoglobin bei gleichzeitiger Unreife der Leberzellen zu einer Erhöhung des indirekten (unkonjugierten) Bilirubins im Blut. Die Erhöhung des Bilirubins ist innerhalb bestimmter Grenzwerte physiologisch. Sie tritt bei reifen, gesunden Neugeborenen zwischen dem 2. und 6. Lebenstag auf und ist nicht behandlungspflichtig. Davon zu unterscheiden ist die pathologische Hyperbilirubinämie (Icterus gravis), die Symptom für eine ernsthafte Gesundheitsstörung sein kann. Die Indikation einer Therapie ergibt sich aus dem Lebensalter und der Konzentration des indirekten Bilirubins im Blut. Anhand festgelegter Grenzwerte stellt der Arzt die Indikation zur Therapie. Bei Frühgeborenen und Kindern mit Hämolyse werden die Grenzen enger gesetzt. Eine leichte Hyperbilirubinämie wird durch Fototherapie behandelt. Schwerere Formen, d. h. hohe Bilirubinkonzentrationen, die nicht nach 4 – 6 Stunden auf eine intensive Fototherapie mit einem Bilirubinabfall reagieren, können eine Blutaustauschtransfusion notwendig machen (S. 818).



Merke

H ●

Bei Nichtbehandlung einer Hyperbilirubinämie mit hohen Bilirubinkonzentrationen kann es zu einer Bilirubinenzephalopathie (Kernikterus) kommen!

Allgemeine Symptome sind: Ikterus von Haut, Skleren und Schleimhäuten ● Trinkschwäche, Apathie ● ggf. Apnoen ● Bradykardien





● ●

potenzielle Gefahr von Netzhautschädigungen unter Einfluss der Lichtbestrahlung Gefahr von Körpertemperaturschwankungen (erhöhter Kalorienverbrauch und dadurch mangelnde Gewichtszunahme) Apnoe- und Bradykardieneigung bei untergewichtigen Neugeborenen trockene, rissige Haut, Erytheme und Exantheme, Lichtexposition gesteigerte Unruhe des Kindes erschwerter Eltern-Kind-Kontakt bei therapiebedingter räumlicher Trennung

25.2.3 Pflegeziele und -maßnahmen Abbau des Bilirubins durch Fototherapie Bei der Fototherapie werden spezielle Fototherapiegeräte (z. B. Röhrenlampen, LED-Fototherapiesysteme oder fiberoptische Matten) eingesetzt, die über einen Wellenlängenbereich zwischen 450 und 470 nm verfügen. Unter Lichteinfluss verwandelt sich das wasserunlösliche Bilirubin in wasserlösliches Bilirubin und kann somit über Niere und Darm ausgeschieden werden.

Merke

H ●

Fiberoptische Matten haben durch die kleinere lichtexponierte Körperoberfläche des Kindes eine geringere Effektivität als z. B. Röhrenlampen. Sie eignen sich jedoch gut als zusätzliche Bestrahlungsquelle bei sehr hohen Bilirubinwerten.



25.2.2 Pflegebedarf einschätzen Bei einem Kind mit einer Hyperbilirubinämie, das mit Fototherapie behandelt wird, können folgende Pflegeprobleme auftreten: ● mangelnde Nahrungszufuhr durch Trinkschwäche ● erhöhter Flüssigkeitsverlust durch verstärkte Perspiratio insensibilis und häufige wässrige Stühle

Effektive und sichere Fototherapie Fachrichtiger Einsatz und Handhabung von Fototherapielampen: ● vor dem Einsatz immer überprüfen, ob das Gerät noch einen ausreichenden Wartungsschutz hat ● Überprüfung der Funktionalität der einzelnen Leuchtmittel, bei Kombinationslampen immer überprüfen, ob der gewünschte Lampentyp eingestellt ist bzw. ob beide Lampentypen funktionieren (weißes und blaues Licht) ● den vom Hersteller empfohlenen Abstand der Lampe zum Kind bei verstellbaren Lampen unbedingt einhalten, um

25.2 Pflege eines Neugeborenen mit Hyperbilirubinämie







ein optimales Bestrahlungsergebnis zu erzielen beim Einsatz von 1 bzw. 2 Geräten immer den schnellen problemlosen Zugang zum Kind gewährleisten Standort der Therapieeinheit so wählen, dass umliegende Patienten nicht dem abstrahlenden Licht ausgesetzt sind wegen Brandgefahr nie die Lampen zum Lichtabschirmen behängen (z. B. mit Tüchern)

Merke

H ●

Um eine effektive Fototherapie zu gewährleisten, ist es wichtig, dass das Licht auf so viel unbedeckte Haut wie möglich auftreffen kann (▶ Abb. 25.1).

Je nach Gewicht und Reife des Kindes legt die Pflegefachkraft gemeinsam mit dem Arzt fest, ob die Fototherapie im Wärmebett oder im Inkubator erfolgen soll. Das Kind sollte bei jeder Versorgungsrunde einen Positionswechsel erfahren, z. B. von der Rückenlage in die Bauchlage, damit die gesamte Hautoberfläche abwechselnd bestrahlt wird. Während der Fototherapie sollte das Kind nur eine kleine Windel und einen speziellen Augenschutz tragen. Auch die Eltern sollten darüber informiert werden, nicht zu lange in das blaue Licht zu sehen. Bestehen Gefäßzugänge, werden diese nach Möglichkeit nicht umwickelt. Da das Hautkolorit des Kindes unter der Fototherapie nicht adäquat zu beurteilen ist, muss die Pflegefachkraft während der pflegerischen Maßnahmen die Lampe kurzfristig ausschalten, um Veränderungen feststellen zu können. Unter Blaulicht kann eine Zyanose sonst leicht übersehen werden! Auch die Skleren (Rückgang bzw. Verstärkung des Ikterus) sowie der Allgemeinzustand des Kindes (z. B. Vitalzeichen, Aktivität, Trinkverhalten) sollten regelmäßig überprüft werden.

Praxistipp Pflege

Die Kinder können unter Fototherapie Apnoen und Bradykardien entwickeln, daher ist ein Monitoring während der Therapie notwendig.

Bestimmung des Bilirubinwertes Es stehen mehrere Möglichkeiten zur Feststellung des Bilirubinwertes zur Verfügung: ● kapilläre Blutentnahme ● venöse Blutentnahme ● Transkutan-Bilimeter (tcb) Bei allen Methoden muss vor Beginn der Durchführung die Fototherapielampe ausgestellt werden, um keine falschen Werte durch Lichteinfall (z. B. auf das Serumröhrchen) zu erzielen. Zur schonenden Bestimmung der Entwicklung des Bilirubinspiegels im Blut empfiehlt sich der Einsatz eines Transkutan-Bilimeters. Er dient der nichtinvasiven Vorabklärung und Verlaufsentwicklung der Hyperbilirubinämie. Die Fototherapie reduziert v. a. das Ausmaß des sichtbaren Hautikterus. Deshalb ist ein Rückschluss auf die Bilirubinkonzentration im Serum durch virtuelle Beurteilung und transkutane Messung nicht möglich.

Merke

● H

Die erhobenen tcb-Werte sind bei Frühgeborenen, Kindern mit dunklem Hautkolorit und nach einer Fototherapie nur eingeschränkt aussagekräftig. Die Indikation zur Fototherapie wird immer nach der Ermittlung des Gesamtserumbilirubins im Blut gestellt.

Sind die Bilirubinwerte schon kurz nach der Geburt sehr hoch und kommen zusätzlich Risikofaktoren hinzu, bedarf es ggf. einer Blutaustauschtransfusion (S. 818) über einen Nabelvenenkatheter (S. 818).

Praxistipp Pflege

Abb. 25.1 Neugeborenes unter Fototherapie (Symbolbild). (Foto: Petr Bonek – stock.adobe.com)

Z ●

Z ●

Um das Legen eines Nabelvenenkatheters bei Risikokindern noch zu ermöglichen, muss der Nabelschnurrest ständig feucht gehalten werden. Die Pflegefachkraft umhüllt den Nabelschnurrest mit sterilen Kompressen, die mit steriler isotonischer Kochsalzlösung durchfeuchtet sind. Dieser Vorgang wird alle 1–2 Stunden oder bei Bedarf häufiger wiederholt.

Physiologische Körpertemperatur Ziel ist es, das Kind im thermoneutralen Bereich zu versorgen. Eine Auskühlung oder Körpertemperaturerhöhung ist zu vermeiden. Dazu überprüft die Pflegefachkraft die Kerntemperatur des Kindes 2–4-stündlich und reguliert bei Bedarf die Wärmebett- oder Inkubatortemperatur. Wird die Fototherapie z. B. zum Stillen kurzfristig unterbrochen, muss das Kind während dieser Zeit ausreichend bekleidet bzw. bedeckt werden, um einen Wärmeverlust zu vermeiden. Ist das Kind mit der Mahlzeit fertig, muss es wieder unbekleidet unter die eingeschaltete Lampe gelegt werden.

Ausreichende Flüssigkeitszufuhr Ziel der Maßnahme ist es, einen evtl. auftretenden Flüssigkeitsmangel rechtzeitig zu erkennen und zu beseitigen. Die Pflegefachkraft beobachtet die Urin- und Stuhlausscheidung hinsichtlich Konsistenz, Menge und Frequenz des Stuhls, außerdem beurteilt sie den Hautturgor auf Anzeichen einer Dehydratation. Infolge des Abbaus des Bilirubins, das durch Darm und Niere ausgeschieden wird, färbt sich der Urin dunkelgelb bis bräunlich.

Merke

H ●

Aufgrund des therapiebedingten, erhöhten Flüssigkeitsbedarfs (wässrige, grünliche Stühle, erhöhte Perspiratio insensibilis) ist auf eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr streng zu achten.

25

Einige Kinder weisen unter der Therapie eine vorübergehende Trinkschwäche auf, sodass der Einsatz einer Magensonde zur Sondierung der Nahrung erforderlich werden kann. Sind die Eltern nicht zur Versorgung anwesend, bietet die Pflegefachkraft dem Kind zu festen Zeiten Nahrung an und sondiert bei Bedarf die Restmenge nach. Wenn möglich, wird dem Kind von den Eltern oder der betreuenden Pflegefachkraft auf dem Arm außerhalb des Inkubators oder Wärmebetts die Nahrung gereicht.

Sicherer Augenschutz Vor dem ständig einfallenden Licht muss ein sicherer Schutz gewährleistet sein. Dazu ist eine konsequente und komplette Bedeckung der Augen notwendig. Die handelsüblichen Fototherapiebrillen gibt es in verschiedenen Größen für Neugeborene und kleinere Frühgeborene. Einige sind so konzipiert, dass mittels 2 selbsthaftender Schaumstoffpunkte, die rechts und links in Augenhöhe an der Schläfe des

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Pflege von Kindern Kindes platziert werden, eine lichtundurchlässige, weiche Schutzbrille fixiert werden kann (▶ Abb. 25.2). Dabei ist darauf zu achten, dass die Nasenöffnung nicht verlegt wird. Die Brille kann leicht und schonend wieder abgenommen werden.

Intakte Haut

Die Fototherapie ist eine Behandlungsform, die den Eltern den Kontakt zu ihrem Kind vorübergehend erschwert. Der Arzt erklärt den Eltern das Vorgehen bei der Therapie und motiviert sie dazu, sich aktiv in die Pflege des Kindes einzubringen. So haben sie die Möglichkeit zum direkten Kontakt mit dem Kind. Das bedeutet, dass die Eltern nach Anleitung und Beratung durch die Pflegefachkraft z. B. wickeln und stillen bzw. die Flasche geben. Das Stillen kann durch die Unlust des Kindes erschwert bis unmöglich sein. Falls das Kind nicht an der Brust trinkt, motiviert die Pflegefachkraft die Mutter, den Milchfluss durch regelmäßiges Abpumpen in Gang zu halten. Sobald das Kind trinkt, werden die Stillversuche, unterstützt von der Pflegefachkraft, wiederaufgenommen.

Neben ikterischem Hautkolorit neigen die Kinder aufgrund der ständigen Bestrahlung zu trockener und rissiger Haut. Bereits bestehende Hauterscheinungen (z. B. das Neugeborenenexanthem) können sich noch verstärken.

25.3 Pflege eines Neugeborenen mit Infektion

Praxistipp Pflege

Z ●

Für den Zeitraum der Nahrungsgabe und bei den Eltern auf dem Arm wird die Schutzbrille abgenommen, um dem Kind optische Reize zu ermöglichen und den Eltern-Kind-Kontakt zu fördern.

Merke

H ●

Durch die Lichtexposition ist die Pflege mit einem ölhaltigen Produkt ,das die Poren verschließt und einen Wärmestau verursachen kann, kontraindiziert.

25

Eltern-Kind-Kontakt

Nach Rücksprache mit Arzt und Klinikapotheke sollten während der Fototherapie nur geeignete Produkte zur Körperpflege eingesetzt werden. Im Anogenitalbereich kommt es durch häufige, spritzige Stühle oft zu einer Hautirritation. Deshalb ist ein 2–4-stündliches Wechseln der Windel besonders wichtig. Die Reinigung des Anogenitalbereichs sollte ausschließlich mit Wasser erfolgen. Nach dem Trockentupfen des Windelbereichs kann die ärztlich angeordnete Schutzcreme dünn aufgetragen werden.

25.3.1 Ursache und Auswirkung Die erhöhte Anfälligkeit Früh- und Neugeborener, an einer bakteriellen oder viralen Infektion zu erkranken, liegt an ihrer noch nicht ausreichend entwickelten Immunabwehr. Dabei sind besonders unreife und hypotrophe Kinder gefährdet. Eine beim Neugeborenen manifeste Infektion kann prä-, peri- und postnatal erworben werden. Es werden verschiedene Verläufe der Infektion unterschieden: ● Frühform (early onset): Auftreten während der ersten Lebensstunden und -tage ● Spätform (late onset): Auftreten nach der ersten Lebenswoche ● nosokomiale Infektion: Sie betrifft meist intensivmedizinisch behandelte Früh- und Neugeborene (Übertragungswege können Hände, Instrumente, Katheter und Nahrung sein)

Abb. 25.2 Anpassen und Anlegen einer Fototherapiebrille (RTM Eye-shields). a Selbsthaftender Schaumstoffpunkt wird nach der Reinigung der Schläfe angebracht. (Foto: P. Blåfield, Thieme) b Die weiche Schutzbrille wird an den Schaumstoffpunkten befestigt. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

528

Die neonatale Infektion kann zusätzlich zu einer Meningitis, Sepsis oder Pneumonie führen. Deshalb wird bereits bei Verdacht einer Neugeboreneninfektion der Erregernachweis erhoben. Die Pflegefachkraft führt die Abnahme der angeordneten Proben für die mikrobiologische Untersuchung (z. B. Hautabstriche, Magensaftsekret) durch. Sie assistiert bei der Blutentnahme, z. B. der sterilen Entnahme einer Blutkultur, und ggf. bei einer Lumbalpunktion zur Gewinnung von Liquor. Das Labormaterial wird beschriftet und an die zuständigen Labors weitergeleitet. Auch heute noch sterben Früh- und Neugeborene an den Folgen einer Infektion. Deshalb ist eine gute und aufmerksame Beobachtung Neugeborener ausgesprochen wichtig. Die Frühsymptome sind oft unspezifisch und variabel, wodurch eine Einordnung erschwert wird (▶ Tab. 25.1). Der Allgemeinzustand des Kindes kann sich innerhalb von Stunden extrem verschlechtern und erhebliche Organstörungen zur Folge haben.

Praxistipp Pflege

Z ●

Wenn Ihnen ein Kind „komisch“ erscheint, d. h. sich das Verhalten des Kindes verändert (z. B. auffallende Schläfrigkeit, Trinkunlust) oder Sie Hautfarbe und Aussehen als „schmutzig“, graugelb empfinden, informieren Sie sofort den Arzt! Es können erste uncharakteristische Zeichen einer beginnenden Infektion sein!

Lokale Infektionen, z. B. Eiterpickelchen, müssen ernst genommen und sorgfältig beobachtet werden, da sie zu einer Allgemeininfektion führen können. Sprechen die klinischen Zeichen für eine Infektion, wird das Kind auch ohne vorliegenden Erregernachweis und bei noch negativen Infektparametern, nach Entnahme einer Blutkultur, sofort auf Anordnung des Arztes durch eine intravenöse antibiotische Therapie behandelt. Der Krankheitsverlauf wird maßgeblich vom Zeitpunkt der Diagnose bzw. vom Einsetzen der Behandlung bestimmt. Deswegen ist die Früherkennung für den weiteren Krankheitsverlauf entscheidend. Bei einer auftretenden Sepsis benötigt das Kind eventuell intensivpflegerische Betreuung.

25.4 Pflege eines Neugeborenen mit Hypoglykämie

Tab. 25.1 Risikofaktoren, Infektionsweg und Erreger einer Neugeboreneninfektion. Risikofaktoren ● ● ● ●

vorzeitiger Blasensprung > 24 Stunden Amnioninfektionssyndrom mütterliche Infektion Frühgeburtlichkeit

Infektionsweg ● ●



25.3.2 Pflegebedarf einschätzen Bei Manifestation einer Neugeboreneninfektion können folgende Pflegeprobleme auftreten: ● Gefahr des Absinkens der Sauerstoffsättigung durch Apnoen und Bradykardien ● Temperaturregulationsstörungen ● mangelnde Nahrungsaufnahme durch Trinkschwäche, Erbrechen, Verdauungsstörungen ● Gefahr von Haut- und Schleimhautirritationen, Soorbefall durch die Antibiotikatherapie ● Venenreizung durch intravenöse Antibiotikatherapie ● erschwerter Eltern-Kind-Kontakt

25.3.3 Pflegeziele und -maßnahmen Stabile Vitalfunktionen und rechtzeitiges Erkennen von Veränderungen Eine Neugeboreneninfektion kann eine starke Verschlechterung des Allgemeinzustandes (AZ) hervorrufen. Das Kind muss regelmäßig auf Veränderungen hin beobachtet, und kontinuierlich am Monitor überwacht werden. Um den AZ des Kindes genauer einschätzen zu können, überwacht die Pflegende ● die Vitalfunktionen (Puls, Atmung, Sauerstoffsättigung und ggf. Blutdruck), ● das Hautkolorit (Blässe als Warnzeichen für eine Zentralisierung), ● das Verhalten und v. a. Veränderungen im Verhalten (z. B. Erbrechen, gespannte Fontanelle, erhöhte Berührungsempfindlichkeit), ● das Abdomen (geblähter, gespannter Bauch ggf. mit Venenzeichnung, als Hinweis auf Nahrungsunverträglichkeiten und Darmpassagestörungen), ● die Ausscheidung (Blutbeimengungen bei der Stuhlausscheidung, als Hinweis auf eine nekrotisierende Enterokolitis). Ist der AZ des Kindes schlecht, ist es sinnvoll, das Kind im Wärmebett oder Inkubator weiter zu versorgen. Hier kann schneller auf Veränderungen reagiert werden.

Erreger

hämatogen und diaplazentar Aspiration und Schlucken von infiziertem Fruchtwasser während des Geburtsvorganges bei Besiedelung der Vagina Eintrittspforten sind Schleimhäute, Haut, Nabel

Merke

H ●

Bei allen Veränderungen des Allgemeinzustandes des Kindes ist der Arzt zu informieren!

Besteht ein Hinweis auf eine Nahrungsunverträglichkeit, wird eine Nahrungspause eingelegt und eine Infusionstherapie nach ärztlicher Anordnung durchgeführt. Je nach Ausprägung der gesundheitlichen Störung und Beginn der Behandlung verbessert sich der Zustand des Kindes meist innerhalb weniger Stunden deutlich. Die Pflegefachkraft überwacht und beobachtet das Kind bis über das Absetzen der Antibiotikatherapie hinaus, um ein erneutes Auftreten einer Infektion rechtzeitig zu erkennen.

Intakte Haut und Schleimhaut Im Rahmen der Antibiotikatherapie kann es zum Abgang häufiger, dünner Stühle kommen. Dies kann zu Hautirritationen im Windelbereich und, durch die zusätzlich herabgesetzte Immunabwehr, ggf. auch zu einem Soorbefall führen. Bei der Pflege des Kindes ist es deshalb wichtig, dass das Kind so zeitnah wie möglich nach der Ausscheidung gewickelt wird, da es sonst zu Schmerzen und Entzündungen im betroffenen Bereich kommen kann. Anschließend führt die Pflegefachkraft eine sorgfältige und schonende Hautpflege durch, um die Wiederherstellung der Haut zu unterstützen. Mundhöhle und Zunge werden mehrmals täglich vor den Mahlzeiten inspiziert, um einen beginnenden Mundsoor rechtzeitig zu erkennen. Nach Anordnung des Arztes wird bei einem Soorbefall der Mundschleimhaut nach jeder Mahlzeit die Mundpflege mit einem Antimykotikum durchgeführt.

Eltern-Kind-Kontakt Eine Neugeboreneninfektion kann unterschiedlich schwer verlaufen. Bei ernster klinischer Manifestation und anfangs schlechtem Allgemeinzustand des Kindes kann der Kontakt der Eltern zu dem Neu-

● ● ●

● ●

Streptokokken, besonders der Gruppe B Escherichia-coli-Bakterien Hospitalkeime, z. B. Klebsiella, Enterobacter, Staphylococcus aureus Viren, z. B. Herpes simplex, Rotaviren Pilze, z. B. Candida albicans

geborenen erschwert sein. Die Pflegefachkraft erklärt die pflegerischen Maßnahmen und bezieht die Eltern so früh wie möglich in die Pflege ein. Sobald es der Zustand des Kindes zulässt, können Stillversuche oder die Verabreichung der Flaschennahrung mit Unterstützung der Pflegefachkraft erfolgen. Bei einer milden Verlaufsform der Infektion stabilisieren sich die Kinder unter der Therapie innerhalb weniger Tage. Die therapeutischen Maßnahmen reduzieren sich bei einer Besserung des Allgemeinzustands auf die Durchführung der regelmäßigen Antibiotikatherapie und die engmaschige Überwachung der Vitalfunktionen. Die Eltern erleben ihr Kind nicht mehr als „krank“ und haben manchmal Schwierigkeiten mit der Akzeptanz der Weiterführung der Therapie und dem angestrebten Zeitraum des Krankenhausaufenthaltes. Der behandelnde Arzt wird dann die Notwendigkeit der Therapie nochmals erklären. Die betreuenden Pflegefachkräfte können den guten Allgemeinzustand des Kindes nutzen, um die Eltern umfassend zu beraten und sie auf die Entlassung mit einem gesunden Kind vorzubereiten.

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25.4 Pflege eines Neugeborenen mit Hypoglykämie 25.4.1 Ursache und Auswirkung Hierbei handelt es sich um eine häufig in der Postnatalperiode, zumeist passager auftretende, unter der Norm liegende Blutglukosekonzentration. Tritt trotz Behandlung keine Stabilisierung ein, müssen ernsthafte Störungen des Glukosestoffwechsels in Betracht gezogen werden und mit weiterführenden Diagnosemaßnahmen gesichert werden. Die Symptome (▶ Tab. 25.2) sind meist sehr unspezifisch und können auch ein Hinweis auf eine andere Gesundheitsstörung (z. B. Sepsis) sein. Zeigt ein Neugeborenes die beschriebenen Symptome, ist unverzüglich der Arzt zu informieren, da nach erfolgter Diagnosestellung eine Substitutionstherapie zu

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25.4 Pflege eines Neugeborenen mit Hypoglykämie

Tab. 25.1 Risikofaktoren, Infektionsweg und Erreger einer Neugeboreneninfektion. Risikofaktoren ● ● ● ●

vorzeitiger Blasensprung > 24 Stunden Amnioninfektionssyndrom mütterliche Infektion Frühgeburtlichkeit

Infektionsweg ● ●



25.3.2 Pflegebedarf einschätzen Bei Manifestation einer Neugeboreneninfektion können folgende Pflegeprobleme auftreten: ● Gefahr des Absinkens der Sauerstoffsättigung durch Apnoen und Bradykardien ● Temperaturregulationsstörungen ● mangelnde Nahrungsaufnahme durch Trinkschwäche, Erbrechen, Verdauungsstörungen ● Gefahr von Haut- und Schleimhautirritationen, Soorbefall durch die Antibiotikatherapie ● Venenreizung durch intravenöse Antibiotikatherapie ● erschwerter Eltern-Kind-Kontakt

25.3.3 Pflegeziele und -maßnahmen Stabile Vitalfunktionen und rechtzeitiges Erkennen von Veränderungen Eine Neugeboreneninfektion kann eine starke Verschlechterung des Allgemeinzustandes (AZ) hervorrufen. Das Kind muss regelmäßig auf Veränderungen hin beobachtet, und kontinuierlich am Monitor überwacht werden. Um den AZ des Kindes genauer einschätzen zu können, überwacht die Pflegende ● die Vitalfunktionen (Puls, Atmung, Sauerstoffsättigung und ggf. Blutdruck), ● das Hautkolorit (Blässe als Warnzeichen für eine Zentralisierung), ● das Verhalten und v. a. Veränderungen im Verhalten (z. B. Erbrechen, gespannte Fontanelle, erhöhte Berührungsempfindlichkeit), ● das Abdomen (geblähter, gespannter Bauch ggf. mit Venenzeichnung, als Hinweis auf Nahrungsunverträglichkeiten und Darmpassagestörungen), ● die Ausscheidung (Blutbeimengungen bei der Stuhlausscheidung, als Hinweis auf eine nekrotisierende Enterokolitis). Ist der AZ des Kindes schlecht, ist es sinnvoll, das Kind im Wärmebett oder Inkubator weiter zu versorgen. Hier kann schneller auf Veränderungen reagiert werden.

Erreger

hämatogen und diaplazentar Aspiration und Schlucken von infiziertem Fruchtwasser während des Geburtsvorganges bei Besiedelung der Vagina Eintrittspforten sind Schleimhäute, Haut, Nabel

Merke

H ●

Bei allen Veränderungen des Allgemeinzustandes des Kindes ist der Arzt zu informieren!

Besteht ein Hinweis auf eine Nahrungsunverträglichkeit, wird eine Nahrungspause eingelegt und eine Infusionstherapie nach ärztlicher Anordnung durchgeführt. Je nach Ausprägung der gesundheitlichen Störung und Beginn der Behandlung verbessert sich der Zustand des Kindes meist innerhalb weniger Stunden deutlich. Die Pflegefachkraft überwacht und beobachtet das Kind bis über das Absetzen der Antibiotikatherapie hinaus, um ein erneutes Auftreten einer Infektion rechtzeitig zu erkennen.

Intakte Haut und Schleimhaut Im Rahmen der Antibiotikatherapie kann es zum Abgang häufiger, dünner Stühle kommen. Dies kann zu Hautirritationen im Windelbereich und, durch die zusätzlich herabgesetzte Immunabwehr, ggf. auch zu einem Soorbefall führen. Bei der Pflege des Kindes ist es deshalb wichtig, dass das Kind so zeitnah wie möglich nach der Ausscheidung gewickelt wird, da es sonst zu Schmerzen und Entzündungen im betroffenen Bereich kommen kann. Anschließend führt die Pflegefachkraft eine sorgfältige und schonende Hautpflege durch, um die Wiederherstellung der Haut zu unterstützen. Mundhöhle und Zunge werden mehrmals täglich vor den Mahlzeiten inspiziert, um einen beginnenden Mundsoor rechtzeitig zu erkennen. Nach Anordnung des Arztes wird bei einem Soorbefall der Mundschleimhaut nach jeder Mahlzeit die Mundpflege mit einem Antimykotikum durchgeführt.

Eltern-Kind-Kontakt Eine Neugeboreneninfektion kann unterschiedlich schwer verlaufen. Bei ernster klinischer Manifestation und anfangs schlechtem Allgemeinzustand des Kindes kann der Kontakt der Eltern zu dem Neu-

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Streptokokken, besonders der Gruppe B Escherichia-coli-Bakterien Hospitalkeime, z. B. Klebsiella, Enterobacter, Staphylococcus aureus Viren, z. B. Herpes simplex, Rotaviren Pilze, z. B. Candida albicans

geborenen erschwert sein. Die Pflegefachkraft erklärt die pflegerischen Maßnahmen und bezieht die Eltern so früh wie möglich in die Pflege ein. Sobald es der Zustand des Kindes zulässt, können Stillversuche oder die Verabreichung der Flaschennahrung mit Unterstützung der Pflegefachkraft erfolgen. Bei einer milden Verlaufsform der Infektion stabilisieren sich die Kinder unter der Therapie innerhalb weniger Tage. Die therapeutischen Maßnahmen reduzieren sich bei einer Besserung des Allgemeinzustands auf die Durchführung der regelmäßigen Antibiotikatherapie und die engmaschige Überwachung der Vitalfunktionen. Die Eltern erleben ihr Kind nicht mehr als „krank“ und haben manchmal Schwierigkeiten mit der Akzeptanz der Weiterführung der Therapie und dem angestrebten Zeitraum des Krankenhausaufenthaltes. Der behandelnde Arzt wird dann die Notwendigkeit der Therapie nochmals erklären. Die betreuenden Pflegefachkräfte können den guten Allgemeinzustand des Kindes nutzen, um die Eltern umfassend zu beraten und sie auf die Entlassung mit einem gesunden Kind vorzubereiten.

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25.4 Pflege eines Neugeborenen mit Hypoglykämie 25.4.1 Ursache und Auswirkung Hierbei handelt es sich um eine häufig in der Postnatalperiode, zumeist passager auftretende, unter der Norm liegende Blutglukosekonzentration. Tritt trotz Behandlung keine Stabilisierung ein, müssen ernsthafte Störungen des Glukosestoffwechsels in Betracht gezogen werden und mit weiterführenden Diagnosemaßnahmen gesichert werden. Die Symptome (▶ Tab. 25.2) sind meist sehr unspezifisch und können auch ein Hinweis auf eine andere Gesundheitsstörung (z. B. Sepsis) sein. Zeigt ein Neugeborenes die beschriebenen Symptome, ist unverzüglich der Arzt zu informieren, da nach erfolgter Diagnosestellung eine Substitutionstherapie zu

9

Pflege von Kindern

Tab. 25.2 Risikofaktoren, Symptome und Therapie von Hypoglykämie. Risikofaktoren

Symptome

Therapie

Hypoglykämie: Glukosekonzentration im Blut: bei Neugeborenen < 45 mg/dl ● ● ● ● ● ● ●

Neugeborene diabetischer Mütter Frühgeborene, dystrophe Neugeborene Sepsis Asphyxie Hypothermie Stress Stoffwechselstörungen

einem spontanen Abklingen der Symptomatik führt. Dadurch können Folgeerscheinungen (z. B. Krampfanfälle) vermieden werden. Die Diagnose erfolgt durch die Laboranalyse. Die Therapie orientiert sich an den gemessenen Blutzuckerwerten. Bei Risikoneugeborenen (z. B. Diabetes der Mutter, hyper- oder hypotrophen Kindern) erfolgen bereits in den Geburtskliniken Kontrollen nach einem Schema. Im Alter von 1, 3, 6, 12, 24 und 48 Stunden werden Blutzuckerkontrollen nach Anordnung durchgeführt. Prophylaktisch wird den Kindern 2 Stunden nach der Geburt und dem ersten Anlegen Nahrung angeboten. Beim ersten Anlegen bekommt das Kind meistens nur ein paar Tropfen Kolostrum. Diese Menge ist oft nicht ausreichend, um den Energiebedarf des Kindes zu gewährleisten, daher wird auf regelmäßiges Anlegen bzw. die Verabreichung von Formelnahrung geachtet.

25

25.4.2 Pflegebedarf einschätzen Diese Pflegeprobleme können bei Hypoglykämie auftreten: ● Beeinträchtigung des Allgemeinzustandes ● Gefahr von Apnoen, zyanotischen Anfällen oder Krämpfen durch instabile Stoffwechsellage ● Hautirritationen im Punktionsbereich des venösen Zuganges durch Glukoseapplikation ● potenzielle Gefahr von Nekrosen bei Paravasat von höherprozentigen Glukosegaben

25.4.3 Pflegeziele und -maßnahmen

● ● ● ● ● ●

Trinkschwäche schrilles Schreien Tremor zyanotische Anfälle Krämpfe Apnoen

keiten (z. B. beim Wickeln) kann Aufschluss über sein Befinden und den Therapieerfolg geben. Die Pflegefachkraft führt in der Akutphase einer Hypoglykämie regelmäßig Blutzuckerkontrollen durch und passt nach ärztlicher Anordnung die Infusionstherapie an den Bedarf des Kindes an. Der intravenöse Zugang muss wie bei jeder Infusionstherapie regelmäßig auf Verhärtung des umliegenden Gewebes, Rötung, Schwellung oder weißliche Verfärbung der Haut geprüft werden.

Merke

H ●

Im Falle einer intravenösen höherprozentigen Glukosegabe ist bei paravenös laufender Infusion die Gefahr der Entstehung von Gewebenekrosen deutlich erhöht! Deshalb ist die Infusion engmaschig zu überwachen und bei ersten Anzeichen von Hautveränderungen umgehend zu unterbrechen! Der Arzt muss sofort informiert werden.

Das Kind sollte viele kleine Mahlzeiten erhalten (3-stündlich), bei Bedarf unterstützt die Pflegende die Mutter beim Stillen. Auch Stressoren sollten weitgehend beseitigt werden; so sollte z. B. Kälte unbedingt vermieden werden, da diese die Hypoglykämie begünstigt.

Praxistipp Pflege

Z ●

Bei Kindern mit instabilen Blutzuckerwerten empfiehlt sich immer das Legen von 2 intravenösen Zugängen. Bei einem Paravasat kann so jederzeit ohne Unterbrechung die angeordnete Infusionstherapie über den zweiten Zugang fortgesetzt werden.

Stabile Stoffwechsellage Um die aktuelle Stoffwechsellage eines Neugeborenen beurteilen zu können, muss die betreuende Pflegefachkraft das Kind genau beobachten. Das Verhalten des Kindes während pflegerischer Tätig-

530

Nach Abklingen der Symptomatik erfolgen die Blutzuckerkontrollen, zumeist vor den Mahlzeiten (präbrandial), in größeren Abständen. Wird bei stabilen Blutzuckerwerten die intravenöse Glukosezufuhr abge-

● ●

frühzeitige Nahrungszufuhr intravenöse Glukoseinfusion

setzt, muss wieder engmaschig auf das Auftreten von Hypoglykämiezeichen geachtet werden, bis bei kompletter enteraler Ernährung ein ausreichender Glukosespiegel im Blut gewährleistet ist. Die Überwachung der Vitalparameter erfolgt bei instabiler Stoffwechsellage 1bis 2-stündlich nach Befinden des Kindes und auf Anordnung des Arztes.

Merke

H ●

Klinische Symptome können selbst bei sehr niedrigen Blutzuckerwerten fehlen.

Intakte Haut im Punktionsbereich Die häufigen Blutentnahmen führen zu einer starken Beanspruchung der Haut. Es ist daher unbedingt auf fachgerechte und sterile Durchführung der kapillären Blutentnahme (S. 780) (an der Ferse) zu achten. Hilfreich ist der Einsatz eines Blutzuckermessgerätes, das nur einen Bluttropfen für die genaue Bestimmung benötigt. Auf den Wechsel der Punktionsstelle ist zu achten und das Entstehen von Hämatomen durch fachgerechte Blutentnahme zu vermeiden. Um eine gute Durchblutung der unteren Extremitäten vor der Punktion zu gewährleisten, empfiehlt es sich, den Fuß/ die Ferse des Kindes vor der Blutentnahme anzuwärmen. Dies kann z. B. durch das Umwickeln des Fußes/der Ferse mit einem warmen Waschlappen geschehen.

25.5 Pflege eines Neugeborenen

25.5 Pflege eines Neugeborenen mit drogenabhängiger Mutter 25.5.1 Ursache und Auswirkung Die Wirkung von Drogen auf Embryo oder Fetus sind bis zum heutigen Tag nicht eindeutig und zuverlässig geklärt. Das liegt v. a. an der Erfassung der Daten bei Konsumentinnen im Rahmen ihrer Schwangerschaft, die nicht immer vollständig sind, und der Tatsache, dass viele z. B. heroinabhängige Frauen noch zusätzliche

Genussmittel (z. B. Alkohol und Zigaretten) konsumieren. In ▶ Tab. 25.3 sind anhand einiger Beispiele im Zusammenhang von Schwangerschaft und Drogenkonsum die vermutlich für das Kind zu erwartenden Folgen aufgeführt. Das neugeborene Kind einer drogenabhängigen Mutter leidet nach der Geburt an einem sog. neonatalen Abstinenzsyndrom (NAS). Das bedeutet, dass das Kind einen Entzug von der bis dahin zugeführten Droge durchmacht. Die zu beobachtenden Symptome sind bei allen Abususformen ähnlich und treten sofort nach der Geburt bis 6 Wochen nach der Geburt erstmals auf. Wie schwer die Folgen des Entzuges sind, kann mithilfe des Finne-

Tab. 25.3 Wirkung von Suchtmitteln. Suchtmittel

Auswirkungen auf das Kind

Heroin

● ●

niedriges Geburtsgewicht erhöhtes Risiko der Frühgeburt

Cannabis



keine signifikanten Ergebnisse

Benzodiazepine (Valium, Librium)



vermehrtes Auftreten von Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten

Barbiturate



Fehlbildungen im Gesicht und an den Händen

Amphetamine und Kokain





erhöhte Abortrate Plazentaablösung vor der Geburt Wachstumsretardierung Hirninfarkte erhöhtes Risiko für nekrotisierende Enterokolitis



keine Auswirkungen bekannt

● ● ●

LSD

gan-Scores ermittelt werden (Obladen 2006). Symptome des Neugeborenen sind: ● Untergewicht, Hyperexzitabilität (Übererregbarkeit) ● hohes, schrilles Schreien, Zittern ● Atemstörungen ● Durchfall, Erbrechen ● Krampfanfälle ● gesteigerte Trinklust oder Trinkschwäche Ziel der Behandlung und Pflege ist es, die Entzugssymptomatik zu mildern. Die Therapie hängt von der Schwere der Begleiterscheinungen des Entzugs ab. Die Indikation für den Einsatz einer Therapie zur Erleichterung der Entzugssymptomatik beim Neugeborenen (z. B. mit Morphinlösung, Tinctura Opii oder LPolamidon) wird durch die erreichte Punktzahl bei der Anwendung des Finnegan-Scores und der zuvor durch die Mutter konsumierten Droge gestellt und angepasst (▶ Tab. 25.4). Der Score wird 1-mal pro Schicht zwischen den Mahlzeiten des Kindes erhoben. Soweit möglich sollte das betroffene Kind immer von denselben Pflegefachkräften betreut werden, um eine kontinuierliche Einschätzung zu erhalten. Der Therapieverlauf und eine Dosisveränderung richten sich nach dem klinischen Verlauf. Die o. g. Medikamente unterliegen dem BTM-Gesetz (Betäubungsmittelgesetz).

Tab. 25.4 Neonataler Drogenentzug-Score (nach Finnegan). Punkte

1

Schreien Schlafphase postprandial

< 3 Std.

2

3

häufig, schrill

ständig, schrill

< 2 Std.

Tremor in Ruhe

4

mäßig

Muskeltonus erhöht

leicht

deutlich

Myoklonie

ja

leicht

Moro-Reflex

mäßig

stark

extrem

Krampfanfälle

ja

Schwitzen

ja

Fieber in °C

37,2 – 38,2

häufiges Gähnen

ja

Atemfrequenz

> 60/Min.

marmorierte Haut

ja

Niesen

ja

verstopfte Nase Hautabschürfungen

> 38,3 Dyspnoe, Einziehungen

ja ja

Trinkschwäche übermäßiges Saugen

25

< 1 Std. leicht

Tremor nach Störung

5

ja ja

Erbrechen

Regurgitation

im Schwall

Stühle

dünn

wässrig

Einleitung oder Erhöhung der Pharmakotherapie > 11 Gesamtpunkte, Dosisreduktion < 9 Gesamtpunkte

1

Pflege von Kindern

Eltern-Kind-Beziehung

25.5.2 Pflegebedarf einschätzen Die Betreuung von Kindern und Müttern mit Drogenproblematik erfordert sehr viel Sensibilität und Geduld. Folgende Pflegeprobleme können auftreten: ● gestörter Schlaf-Wach-Rhythmus durch gesteigerte Unruhe des Kindes ● gestörte physiologische Nahrungsaufnahme, hervorgerufen durch gesteigerte Trinklust oder Trinkschwäche bei unkoordiniertem Saugen, Erbrechen ● Hautirritationen im Gesäßbereich, hervorgerufen durch dünne oder wässrige Stühle ● Atembehinderung durch verstopfte Nase ● Gefahr von Apnoe durch Atemregulationsstörung ● soziale Probleme und große Unsicherheit der Mutter im Umgang mit ihrem Kind

25.5.3 Pflegeziele und -maßnahmen Milderung der Unruhezustände

25

Kinder mit einer Entzugsproblematik sind ausgesprochen unruhig, schlafen schlecht ein und sind bei der kleinsten Störung sofort wieder wach. Ziel ist es, dem Kind einen physiologischen Schlaf-Wach-Rhythmus zu ermöglichen. Es ist wichtig, eine ruhige und stressarme Umgebung zu schaffen, die störende Geräusche und grelles Licht ausschließt. Zur Minderung der motorischen Unruhe hat sich das „Pucken“ bewährt. Dabei handelt es sich um eine Wickeltechnik, die den Kindern durch äußere Begrenzung Halt und Geborgenheit vermittelt. Eine ergotherapeutische Behandlung erweist sich in den meisten Fällen als sehr sinnvoll und hilfreich.

Praxistipp Pflege

Z ●

Die Vermittlung von Körperkontakt hat sich als erfolgreiche Maßnahme zur Minderung der Unruhezustände des Kindes erwiesen.

532

Der Kontakt zwischen Eltern, in diesem besonderen Fall der Mutter, und der betreuenden Pflegefachkraft ist anfangs oft problematisch. Auf beiden Seiten können Vorurteile bestehen, die meist nicht offen ausgesprochen werden und eine konstruktive Kommunikation erschweren. Die Mütter werden von Schuldgefühlen geplagt und haben große Angst, ihr Kind langfristig geschädigt zu haben. Sie vermuten und empfinden viele Äußerungen der betreuenden Pflegefachkraft als Diskriminierung und berichten auch von unausgesprochenen Vorwürfen. Ziel der Anleitung und Unterstützung der Mutter müssen in erster Linie die Vermittlung von Sicherheit und die Bestärkung im täglichen Umgang mit ihrem Kind sein. Zum Aufbau einer Vertrauensbasis und einer kontinuierlichen Anleitung ist die Betreuung durch eine Bezugspflegefachkraft hilfreich. Mitarbeiter von Drogenberatungsstellen berichten, dass viele Frauen die Schwangerschaft und das Kind als Chance sehen, ihr Leben zu verändern und ihm einen neuen Inhalt zu geben. Nach der Geburt sind sie genauso verunsichert wie alle Mütter und sehen sich oft nicht in der Lage, dieser schwierigen Aufgabe gerecht zu werden. Es ist wichtig, ihnen zu erklären, dass dies normal ist. Sie werden bestärkt, die Versorgung und Mitbetreuung ihres Kindes unter Anleitung so früh wie möglich zu beginnen. Die Förderung der Mutter-Kind-Bindung kann durch eine Mitaufnahme der Mutter bei ihrem Kind erleichtert werden.

Eltern

a ●

Die Mütter werden in die Pflegemaßnahmen mit einbezogen und es wird ihnen erklärt, dass es wichtig ist, ihr Kind so viel wie möglich auf dem Arm zu halten. Nimmt die Mutter an einem Methadonprogramm teil und sind andere Risikofaktoren wie z. B. eine HIV-Infektion oder der Beikonsum ausgeschlossen, wird Stillen zur Förderung der MutterKind-Bindung empfohlen und von der Pflegefachkraft unterstützt.

Den Müttern darf nicht das Gefühl der Bevormundung vermittelt werden, sondern es sollte ihnen Akzeptanz entgegengebracht werden. Nur in offenen Gesprächen kann die Pflegefachkraft einen Einblick in die Situation der Frau gewinnen und ihr so Hilfestellung bieten. Es ist grundsätzlich nicht richtig, dass drogenabhängige Frauen nicht in der Lage sind, ihre Kinder zu versorgen. Es sind vielmehr die weiteren sozialen Umstände, die der Frau die Betreuung ihrer Kinder erschweren (z. B. Wohnungslosigkeit, Krankheit, Partnerschaftsprobleme, Arbeitslosigkeit, soziale Diskriminierung). Drogenabhängige Frauen haben oft zu Recht Angst, dass ihnen das Sorgerecht für ihr Kind entzogen wird. Es ist daher von Bedeutung, sie darin zu bestärken, alle möglichen Hilfsprogramme in Anspruch zu nehmen. Sozialarbeiter oder Drogenberatungsstellen sind kompetente Ansprechpartner. Sie unterliegen der Schweigepflicht und können den Frauen Möglichkeiten aufzeigen (z. B. Therapieprogramme oder spezielle Betreuungsangebote mit Kind) und Unterstützung beim Umgang mit Behörden und Institutionen geben. Je nach Schwere der Suchterkrankung kann eine Kindeswohlgefährdung im häuslichen Umfeld nicht ausgeschlossen werden. Aus diesem Grund wird in den meisten Fällen das Jugendamt zur Einschätzung des Unterstützungsbedarfs der Mutter hinzugezogen. Unterstützungsangebote können der Einsatz einer Familienhebamme oder Familiengesundheits- und Kinderkrankenpflegerin, eines ambulanten Pflegedienstes oder Hilfen zur Erziehung sein.

Kapitel 26 Pflege von Kindern mit Störungen des Sinnessystems

26.1

Bedeutung

534

26.2

Allgemeine Maßnahmen bei Erkrankungen des Auges

534

26.3

Pflege eines Kindes mit Strabismus

537

26.4

Pflege eines Kindes mit Verletzungen des Auges und der Lider

538

Pflege eines Kindes mit Glaukom (grüner Star)

538

Pflege eines Kindes nach Augenoperation

539

26.7

Bedeutung

539

26.8

Allgemeine Maßnahmen bei Erkrankungen des HNO-Systems

540

Pflege eines Kindes mit einer akuten Otitis media

541

26.5 26.6

26.9

26.10 Pflege eines Kindes bei Tonsillitis, nach Tonsillektomie (TE) und Adenotomie (AT)

543

26.11 Pflege eines Kindes mit Lippen-KieferGaumen-Spalte

544

26.12 Bedeutung

549

26.13 Pflege eines Kindes mit Soor

549

26.14 Pflege eines Kindes mit Neurodermitis

552

26.15 Pflege eines Kindes mit thermischen Verletzungen

559

Pflege von Kindern mit Störungen des Sinnessystems

26 Pflege von Kindern mit Störungen des Sinnessystems Gabi Kempf*, Tina Wilhelm von Augenärzten behandelt, die aber eng mit der Kinderklinik zusammenarbeiten. So können z. B. auch kleinste Frühgeborene von einem Augenarzt konsiliarisch mitbetreut werden, wobei eine gute Zusammenarbeit zwischen Augen- und Kinderklinik unbedingt notwendig ist. Auch auf der Kinderstation der Augenklinik sind qualifizierte Pflegefachkräfte wünschenswert. In ▶ Tab. 26.1 ist eine Übersicht über häufige Störungen der Augen bei Kindern zusammengefasst.

26.1 Bedeutung Auge und Sehnerv sind bei der Geburt zwar angelegt, die notwendige Reifung muss aber erst noch stattfinden. Erst diese führt zum vollwertigen Sehen beider Augen. In den ersten 4–6 Lebensjahren eines Kindes werden die wichtigsten Nervenfasern sowohl für das einäugige als auch beidäugige Sehen vom Auge zum Gehirn ausgebildet (sensitive Phase). Gerade die ersten 12 Lebensmonate sind für eine regelgerechte visuelle Entwicklung bedeutend. So verläuft der Reifungsprozess im ersten Lebensjahr recht rasant. Die Reifung findet auch in den folgenden Jahren statt, verliert aber an Intensität und Geschwindigkeit (Gortner 2012). Stört eine Erkrankung diesen Reifungsprozess, kommt es zur Schwachsichtigkeit (Amblyopie). Diese kann bis zur funktionellen Erblindung des Auges führen, d. h., der Organbefund ist regelrecht, die Sehreize werden im Gehirn aber falsch oder gar nicht verarbeitet. Je jünger das Kind bei der Erkrankung ist, umso stärker wird die Sehentwicklung beeinträchtigt. Dies bedeutet nicht nur einen dramatischen Einschnitt, sondern auch eine mögliche Beeinträchtigung der gesamten Entwicklung des Kindes. Sehfehler müssen deshalb so früh wie möglich erkannt und entsprechend therapiert werden, um dem Kind eine normale Sehentwicklung zu ermöglichen (▶ Abb. 26.1).

Abb. 26.1 Okklusionsbehandlung. Das nicht schielende Auge wird abgedeckt, um das schielende Auge zur Fixierung zu zwingen. So wird die Sehschärfe verbessert (Symbolbild). (Foto: T. Möller, Thieme)

Merke

26.2 Allgemeine Maßnahmen bei Erkrankungen des Auges

H ●

Bei jeder Manipulation vonseiten des Pflegepersonals am Auge des Kindes ist das Kind altersentsprechend aufzuklären. Für gute Kooperation wird das Kind entsprechend gelobt.

Die frühzeitige Therapie von Sehfehlern ist für eine möglichst ungestörte Sehentwicklung entscheidend!

Merke Oft erkennen schon die Eltern in den ersten Lebensmonaten, ob eine Sehstörung vorliegt. Auch der Kinderarzt prüft im Rahmen der U-Untersuchungen, insbesondere bei der U7 und der U7a das Kind auf Störungen der Augen. Augenerkrankungen lassen sich meist gut mit konservativer oder operativer Therapie heilen oder zumindest zum Stillstand bringen. Da Kinderkliniken i. d. R. nicht auf Augenheilkunde spezialisiert sind, werden die Kinder normalerweise

H ●

Anzustreben ist es, ältere Kinder bzw. die Eltern frühzeitig in die Maßnahmen zu integrieren, wobei die Kontrolle weiterhin beim Pflegepersonal liegt.

Aseptisches Arbeiten und hygienische Händedesinfektion sollten bei jedem Kontakt mit dem Auge selbstverständlich sein. Alle Maßnahmen werden im Pflegebericht dokumentiert.

26 Tab. 26.1 Häufige Störungen der Augen bei Kindern. Erkrankung

Symptome

Katarakt (grauer Star) Eintrübung der Linse, bei Kindern meist angeboren durch Stoffwechselstörung, pränatale Schädigungen durch Infektion, Toxikation

● ● ●

Trübung der Linse beeinträchtigtes Sehvermögen ggf. Entstehung eines Nystagmus bei verspäteter operativer Versorgung

Pflegeprobleme ● ● ●





Ptosis Störung des Hirnnervs, der den Lidheber innerviert; der Lidheber ist unterentwickelt

● ●



Retinoblastom Im Kindesalter häufig auftretende maligne Erkrankung, die meist vor dem 4. Lebensjahr auftritt. Ist die Krankheit bereits fortgeschritten muss das betroffene Auge i. d. R. entfernt werden; selten ist auch ein beidseitiger Befall möglich. Eine gleichzeitige onkologische Behandlung (S. 608) ist notwendig

534

● ●

● ●

mangelndes Sehvermögen Störung der Gesamtentwicklung Unruhe des Kindes und Bohren der Fäuste in die Augen ästhetische Probleme bei einseitig veränderter Pupille Verlust der Akkomodationsfähigkeit nach operativer Entfernung der Augenlinse

Herabhängen des Oberlides unzureichende Fähigkeit, das Oberlid anzuheben Kopfzwangshaltung



Gefahr der Schwachsichtigkeit durch das Herabhängen des Oberlides über den Pupillenrand

weiße Pupille („Katzenauge“) rotes Auge durch den erhöhten Augeninnendruck Verschlechterung des Sehvermögens Strabismus (Schielen)



verminderte oder keine Sehkraft beeinträchtigtes Wohlbefinden durch den erhöhten Augeninnendruck psychische Belastung der Eltern optische und psychische Probleme bei Enukleation (operative Entfernung des Augapfels)



● ●

Pflege von Kindern mit Störungen des Sinnessystems

26 Pflege von Kindern mit Störungen des Sinnessystems Gabi Kempf*, Tina Wilhelm von Augenärzten behandelt, die aber eng mit der Kinderklinik zusammenarbeiten. So können z. B. auch kleinste Frühgeborene von einem Augenarzt konsiliarisch mitbetreut werden, wobei eine gute Zusammenarbeit zwischen Augen- und Kinderklinik unbedingt notwendig ist. Auch auf der Kinderstation der Augenklinik sind qualifizierte Pflegefachkräfte wünschenswert. In ▶ Tab. 26.1 ist eine Übersicht über häufige Störungen der Augen bei Kindern zusammengefasst.

26.1 Bedeutung Auge und Sehnerv sind bei der Geburt zwar angelegt, die notwendige Reifung muss aber erst noch stattfinden. Erst diese führt zum vollwertigen Sehen beider Augen. In den ersten 4–6 Lebensjahren eines Kindes werden die wichtigsten Nervenfasern sowohl für das einäugige als auch beidäugige Sehen vom Auge zum Gehirn ausgebildet (sensitive Phase). Gerade die ersten 12 Lebensmonate sind für eine regelgerechte visuelle Entwicklung bedeutend. So verläuft der Reifungsprozess im ersten Lebensjahr recht rasant. Die Reifung findet auch in den folgenden Jahren statt, verliert aber an Intensität und Geschwindigkeit (Gortner 2012). Stört eine Erkrankung diesen Reifungsprozess, kommt es zur Schwachsichtigkeit (Amblyopie). Diese kann bis zur funktionellen Erblindung des Auges führen, d. h., der Organbefund ist regelrecht, die Sehreize werden im Gehirn aber falsch oder gar nicht verarbeitet. Je jünger das Kind bei der Erkrankung ist, umso stärker wird die Sehentwicklung beeinträchtigt. Dies bedeutet nicht nur einen dramatischen Einschnitt, sondern auch eine mögliche Beeinträchtigung der gesamten Entwicklung des Kindes. Sehfehler müssen deshalb so früh wie möglich erkannt und entsprechend therapiert werden, um dem Kind eine normale Sehentwicklung zu ermöglichen (▶ Abb. 26.1).

Abb. 26.1 Okklusionsbehandlung. Das nicht schielende Auge wird abgedeckt, um das schielende Auge zur Fixierung zu zwingen. So wird die Sehschärfe verbessert (Symbolbild). (Foto: T. Möller, Thieme)

Merke

26.2 Allgemeine Maßnahmen bei Erkrankungen des Auges

H ●

Bei jeder Manipulation vonseiten des Pflegepersonals am Auge des Kindes ist das Kind altersentsprechend aufzuklären. Für gute Kooperation wird das Kind entsprechend gelobt.

Die frühzeitige Therapie von Sehfehlern ist für eine möglichst ungestörte Sehentwicklung entscheidend!

Merke Oft erkennen schon die Eltern in den ersten Lebensmonaten, ob eine Sehstörung vorliegt. Auch der Kinderarzt prüft im Rahmen der U-Untersuchungen, insbesondere bei der U7 und der U7a das Kind auf Störungen der Augen. Augenerkrankungen lassen sich meist gut mit konservativer oder operativer Therapie heilen oder zumindest zum Stillstand bringen. Da Kinderkliniken i. d. R. nicht auf Augenheilkunde spezialisiert sind, werden die Kinder normalerweise

H ●

Anzustreben ist es, ältere Kinder bzw. die Eltern frühzeitig in die Maßnahmen zu integrieren, wobei die Kontrolle weiterhin beim Pflegepersonal liegt.

Aseptisches Arbeiten und hygienische Händedesinfektion sollten bei jedem Kontakt mit dem Auge selbstverständlich sein. Alle Maßnahmen werden im Pflegebericht dokumentiert.

26 Tab. 26.1 Häufige Störungen der Augen bei Kindern. Erkrankung

Symptome

Katarakt (grauer Star) Eintrübung der Linse, bei Kindern meist angeboren durch Stoffwechselstörung, pränatale Schädigungen durch Infektion, Toxikation

● ● ●

Trübung der Linse beeinträchtigtes Sehvermögen ggf. Entstehung eines Nystagmus bei verspäteter operativer Versorgung

Pflegeprobleme ● ● ●





Ptosis Störung des Hirnnervs, der den Lidheber innerviert; der Lidheber ist unterentwickelt

● ●



Retinoblastom Im Kindesalter häufig auftretende maligne Erkrankung, die meist vor dem 4. Lebensjahr auftritt. Ist die Krankheit bereits fortgeschritten muss das betroffene Auge i. d. R. entfernt werden; selten ist auch ein beidseitiger Befall möglich. Eine gleichzeitige onkologische Behandlung (S. 608) ist notwendig

534

● ●

● ●

mangelndes Sehvermögen Störung der Gesamtentwicklung Unruhe des Kindes und Bohren der Fäuste in die Augen ästhetische Probleme bei einseitig veränderter Pupille Verlust der Akkomodationsfähigkeit nach operativer Entfernung der Augenlinse

Herabhängen des Oberlides unzureichende Fähigkeit, das Oberlid anzuheben Kopfzwangshaltung



Gefahr der Schwachsichtigkeit durch das Herabhängen des Oberlides über den Pupillenrand

weiße Pupille („Katzenauge“) rotes Auge durch den erhöhten Augeninnendruck Verschlechterung des Sehvermögens Strabismus (Schielen)



verminderte oder keine Sehkraft beeinträchtigtes Wohlbefinden durch den erhöhten Augeninnendruck psychische Belastung der Eltern optische und psychische Probleme bei Enukleation (operative Entfernung des Augapfels)



● ●

26.2 Allgemeine Maßnahmen bei Erkrankungen des Auges

Tab. 26.1 Fortsetzung Erkrankung

Symptome

Aniridie beidseitiges Fehlen der Iris bis auf einen schmalen Saum (Pupillengröße = Hornhautoberfläche); Vorkommen evtl. in Kombination mit einem Nierentumor (Wilms-Tumor)

● ● ● ●

Pflegeprobleme

Licht- und Blendungsempfindlichkeit verminderte Sehkraft hoher Augeninnendruck im Verlauf oft Katarakt und Hornhauttrübung





● ●

Tränenwegstenose angeborener Verschluss des Tränennasengangs, der den normalen Abfluss der Tränenflüssigkeit verhindert.

● ●

Tränenträufeln eitrige Absonderungen und gerötete Bindehaut bei bakterieller Superinfektion







Chalazion (Hagelkorn) Granulom der Augenlider

psychische Belastung durch ständiges Tragen einer Sonnenbrille Wohlbefinden beeinträchtigt durch erhöhten Augeninnendruck Sehbehinderung Nystagmus, dadurch schwieriges optisches Fixieren Irritation durch Absonderungen in den unteren Bindehautsack beeinträchtigtes Wohlbefinden bei entzündlichen Prozessen Ablehnung der therapeutischen Maßnahmen



chronische Entzündung der Meibom-Drüse (Talgdrüse des Auges) i. d. R. schmerzlos

Hordeolum (Gerstenkorn) Abszess der Liddrüsen



schmerzhafte Schwellung des Lides



stark beeinträchtigtes Wohlbefinden durch die Lidschwellung und Schmerzen

Verätzung Augenverletzung durch Lauge/Hitze/Säure



Schmerzen Lichtempfindlichkeit verminderte Sehkraft Rötung von Lidern und Bindehaut evtl. Hornhauttrübung



beeinträchtigtes Wohlbefinden mangelnde Akzeptanz der Augenspülung psychische Belastung von Eltern und Kind (Schuldzuweisung) Gefahr der dauerhaften Schädigung bis hin zur Schwachsichtigkeit

Visusminderung Lid- und Bindehautschwellung Blutansammlung in der Augenvorderkammer evtl. hoher Augeninnendruck Netzhautödem Netzhautblutung





● ● ● ●

Contusio bulbi Augapfelprellung durch Einwirkung von stumpfer Gewalt im Augen- und Orbitabereich (klassische Verletzung mit Pfeil und Bogen oder Tennisball)

● ● ●

● ● ●



beeinträchtigtes Wohlbefinden durch die Entzündung

● ●



● ●



beeinträchtigtes Wohlbefinden durch den erhöhten Augeninnendruck verminderte Sehkraft mangelnde Akzeptanz der notwendigen Bettruhe Gefahr von Netzhautablösung und dauerhaftem Glaukom

Strabismus (S. 537), Verletzungen (S. 538), Glaukom (S. 538).

26.2.1 Augentropfen und -salben Eva-Maria Wagner

Regeln zur Applikation Die Gabe von Salben oder Tropfen erfolgt ausschließlich nach ärztlicher Anordnung. Jedes Kind erhält eine eigene Flasche mit Tropfen, die mit seinem Namen und dem Datum des Anbruchs beschriftet wird. Art der Lagerung (z. B. im Kühlschrank) und maximale Haltbarkeit nach Anbruch der Flasche laut Medikamentenbeipackzettel müssen beachtet werden, um eine Sekundärinfektion aufgrund eines kontaminierten Medikaments zu vermeiden. Dies gilt auch für Salbentuben. ▶ Information. Das Kind wird seinem Alter entsprechend darüber informiert, dass es eine Salbe bzw. Tropfen erhalten soll und dazu in einer bestimmten Weise positioniert werden muss. Soweit möglich, werden die Eltern einbezogen. Dem Kind und den Eltern muss mitgeteilt werden, dass Augentropfen oder -salbe das Sehen vorübergehend beeinträchtigen können.

Praxistipp Pflege

Z ●

Beim Abschrauben der Pipette von der Flasche muss darauf geachtet werden, dass die Pipette nur mit der Flascheninnenseite in Berührung kommt und genügend Flüssigkeit in der Pipette ist (▶ Abb. 26.2).

Müssen angebrochene Pipetten mit Tropfen im Kühlschrank gelagert werden, sollen sie vor der Applikation auf Raumtemperatur erwärmt werden. Die Uhrzeit der Verabreichung wird dokumentiert, um den korrekten zeitlichen Abstand zwischen 2 Gaben einhalten zu können. Bei Einzeldosis-Augentropfen wird die Verschlusskappe wegen der hohen Wirkstoffkonzentration mithilfe einer Kompresse abgedreht und sofort entsorgt, um eine Kontamination der Umgebung zu vermeiden. Wenn der Kontakt zwischen den Augentropfen und den Händen der Pflegefachkraft nicht sicher ausgeschlossen werden kann, ist aus Gründen des Selbstschutzes das Tragen von unsterilen Schutzhandschuhen empfehlenswert.

26

Abb. 26.2 Applikation von Augentropfen. Befüllen der Pipette mit einer ausreichenden Menge Flüssigkeit. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Gabe von Augentropfen Positionierung Das Kind wird mit leicht rekliniertem (nach hinten gestrecktem) Kopf auf den Rücken gelegt. Der Kopf soll etwas auf die Seite des zu behandelnden Auges gedreht werden, d. h. zur rechten Seite, um die Tropfen auf dem rechten Auge zu ver-

5

Pflege von Kindern mit Störungen des Sinnessystems ●





Abb. 26.3 Applikation von Augentropfen. Augentropfen werden in den Bindehautsack geträufelt. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

abreichen, damit diese nicht in Richtung Nase/Tränenkanal fließen. Eine zweite Person wird ggf. zur Unterstützung hinzugezogen.

Durchführung ●









26 ●





Sofern möglich, soll das Kind nach oben und außen blicken. Das Unterlid wird behutsam mit einem Finger nach unten gezogen. Die Pipette wird so gehalten, dass die Augentropfen in den Bindehautsack tropfen, keinesfalls auf die Kornea. Da diese sehr empfindlich ist, können Schmerzen bei der Verabreichung der Augentropfen die zukünftige Kooperation des Kindes negativ beeinflussen (▶ Abb. 26.3). Wenn möglich, soll das Kind danach das Auge langsam schließen und blinzeln, um die Verteilung der Augentropfen im Auge zu unterstützen. Ist dies nicht möglich, wird das Unterlid noch eine Weile gehalten, um zu verhindern, dass die verabreichten Augentropfen sofort aus dem Auge gepresst werden. Überschüssige Augentropfen werden mit einem Tupfer entfernt. Behutsamer Druck mit dem Finger gegen den inneren Augenwinkel für 1 Minute verhindert, dass Augentropfen über den Tränenkanal bis in den Rachenraum laufen und dort einen unangenehmen Geschmack hervorrufen. Das Kind wird für seine Mitarbeit gelobt.



Ist täglich nur eine Gabe von Augensalbe angeordnet, wird diese vor dem Schlafengehen appliziert, da Augensalbe das Sehen beeinträchtigt. Je nach Präparat wird ein Salbenstrang von unterschiedlicher Länge auf die Innenseite des herabgezogenen Unterlids aufgetragen: von der Nase aus in Richtung äußerer Augenwinkel. Durch eine halbe Drehung der Salbentube lässt sich der Salbenstrang „abschneiden“. Sofern es dazu in der Lage ist, soll das Kind anschließend bei geschlossenen Lidern mit den Augen rollen, damit sich die Salbe gut verteilt.

26.2.2 Augenspülung Gabi Kempf*, Tina Wilhelm Die Augenspülung wird meist bei Verätzungen am Auge bzw. zum Ausspülen von Fremdkörpern durchgeführt.

Durchführung Die handwarme Spülflüssigkeit (NaCl 0,9 %, Ringerlösung) wird aseptisch in einer Spritze aufgezogen oder mit einem Infusionssystem angestochen. Das Unterlid des betroffenen Auges wird heruntergezogen, der Kopf etwas zur betroffenen Seite geneigt und ein Auffangbehälter (z. B. Nierenschale) unter das Kinn gehalten. Kleinere Kinder müssen festgehalten werden, größere Kinder machen nach altersentsprechender Aufklärung meistens gut mit. Die Dauer der Augenspülung sowie die Menge der Spülflüssigkeit richten sich nach ärztlicher Anordnung in Abhängigkeit vom Schweregrad der Verletzung. Die Spülung erfolgt von der Nasenwurzel zur Seite. Es sollte immer ein kontinuierlicher Fluss der Spülflüssigkeit gegeben sein. Bei größeren Kindern kann (nach ärztlicher Anordnung) eine Spülschale eingelegt werden. Hierzu wird ein Lokalanästhetikum getropft und danach eine Kontaktlinse mit Ableitung, die an ein Infusionssystem angeschlossen ist, eingesetzt. Bei der Spülschale ist darauf zu achten, dass das Auge nie trocken wird. Es muss ununterbrochen gespült werden, daher ist für einen genügend großen Vorrat an Spülflüssigkeit zu sorgen.

Gabe von Augensalbe Durchführung Bei der Durchführung ist Folgendes zu beachten: ● Bei gleichzeitiger Verabreichung von Augentropfen und Augensalbe werden zuerst die Augentropfen appliziert, dann – nach 3 Minuten Einwirkzeit – die Augensalbe.

536

26.2.3 Augenverbände Je nach Art der Augenerkrankung werden nach ärztlicher Anordnung verschiedene Augenverbände angelegt. ▶ Lochkapselverband. Zum Beispiel nach Kataraktoperation. Eine Lochkapsel ist eine mit Löchern versehene, gewölbte

Plastikkapsel, die auf ein Lochpolster aufgelegt und mit Pflaster über dem Auge fixiert wird. Die Lochkapsel dient v. a. als Schutz vor Verletzungen, Fremdkörpern und Manipulation am Auge. ▶ Geschlossener Augenverband. Zum Beispiel nach Verletzungen zur sterilen Abdeckung. Beim geschlossenen Augenverband wird eine sterile, ovale Kompresse schräg über dem Auge fixiert. Das Kind muss vor dem Anlegen des Verbandes das Auge schließen. Der Verband sitzt dann richtig, wenn das Auge unter dem Verband geschlossen gehalten, die Gesichtsmuskulatur aber nicht beeinträchtigt wird. ▶ Lochbrille. Zum Beispiel bei Contusio bulbi. Unter einer Lochbrille versteht man ein Brillengestell, das mit schwarzem undurchsichtigem Plastik versehen ist und auch einen ebenso undurchsichtigen Seitenschutz hat. In der Mitte der Plastikscheiben, die vergleichbar mit Brillengläsern sind, befindet sich eine kleine runde Aussparung von ca. 2 – 3 mm. Will das Kind mit dieser Brille fixieren, müssen die Augen eine geradeaus gerichtete Stellung einnehmen. Das Auge wird hiermit ruhiggestellt, ohne das Sehen vollständig einzuschränken. Die Lochbrille wird wie eine „normale“ Brille aufgesetzt: Sie muss auf der Nasenwurzel und hinter den Ohren gut sitzen. Da die Kinder diese Brille meistens nicht gut tolerieren, ist natürlich eine ständige Kontrolle notwendig, die Kinder müssen sehr gut aufgeklärt und beschäftigt werden.

26.2.4 Augenprothesen und Kontaktlinsen Augenprothesen Die Augenprothese wird nach Enukleation (operative Ausschälung) als Platzhalter anstelle des Augapfels in die Augenhöhle eingesetzt und individuell angepasst. Die Prothese wird täglich unter fließendem lauwarmem Wasser gereinigt.

Durchführung Beim Herausnehmen der Prothese ist das Kind altersentsprechend aufzuklären. Die Pflegefachkraft breitet vor dem Herausnehmen eine weiche Unterlage aus, damit das künstliche Auge beim evtl. Herunterfallen nicht beschädigt wird. Das Kind wird angehalten, nach oben zu sehen. Das Unterlid wird heruntergezogen, bis der untere Rand der Prothese freiliegt. Die Spitze des Zeigefingers wird unter die Prothese geschoben. Dann fasst man mit dem Mittelfinger auf das künstliche Auge, um es nach unten aus der Augenhöhle

26.3 Pflege eines Kindes mit Strabismus herauszuziehen. Um das Wiedereinsetzen der Prothese zu erleichtern, sollte diese vorher etwas angefeuchtet werden. Das Einsetzen erfolgt, indem die Prothese zunächst unter das angehobene Oberlid geschoben wird. Ein minimales Herunterziehen des Unterlids lässt die Prothese in ihre endgültige Lage hinter das Unterlid gleiten.

Kontaktlinsen Bei Kontaktlinsen handelt es sich um kleine Kunststoffschalen, die auf der Tränenflüssigkeit der Hornhaut schwimmen. Sie gleichen eine bestehende Fehlsichtigkeit ähnlich wie Brillengläser aus. Kontaktlinsen werden v. a. bei Säuglingen und Kleinkindern eingesetzt, bei denen die eigene Augenlinse entfernt wurde, die aber wegen des Augenwachstums noch nicht mit einer intraokularen Kunststofflinse versorgt werden können. Das Anpassen und erste Einsetzen der Kontaktlinse erfolgen je nach Alter und Mitarbeit des Kindes oft in Narkose. Sofern vom Arzt nicht anders verordnet, werden die Kontaktlinsen täglich nach einer festgelegten Tragezeit entfernt, gereinigt und in ein Lösungsmittel eingebracht. Es ist zu überprüfen, ob es sich um harte oder weiche Kontaktlinsen handelt. Zur Vermeidung von allergischen Reaktionen sollten in der Klinik dieselben Pflegemittel wie zu Hause verwendet werden.

Durchführung Entnommen werden die Linsen, indem man mit der linken Hand das Auge des Kindes offen hält und mit dem rechten Zeigefinger leichten Druck auf die Kontaktlinse ausübt. Die Linse bleibt am Finger haften und kann nun gereinigt werden. Alternativ kann zum Entfernen auch ein kleiner „Saugnapf“ genutzt werden. Beim Wiedereinsetzen der Kontaktlinse wird die Linse wieder auf den Zeigefinger gelegt und auf das Auge aufgesetzt.

Merke

H ●

26.3 Pflege eines Kindes mit Strabismus 26.3.1 Ursache und Auswirkung Definition

L ●

Unter Strabismus (Schielen) versteht man einen Stellungsfehler der Augen, wobei nur ein Auge auf das fixierte Objekt ausgerichtet ist, während das andere Auge abweicht.

Etwa 4–5 % der Bevölkerung leiden unter Strabismus, der unbehandelt in den allermeisten Fällen zur Schwachsichtigkeit des betroffenen Auges führt (Gortner 2012). Je früher eine Schielkrankheit festgestellt wird, desto günstiger sind die Aussichten, dass das Sehvermögen des erkrankten Auges wieder verbessert werden kann. Kinder mit auffälligem Schielen haben die besten Chancen, weil sie von ihren Eltern aufgrund des „Schönheitsfehlers“ frühzeitig einem Augenarzt vorgestellt werden. Leider sind die nicht sichtbaren Abweichungen, sog. Mikrostrabismus (kleinwinkliges Schielen), häufiger. Sie fallen oft erst dann auf, wenn ein Auge bereits amblyop (schwachsichtig) ist. Je nachdem, in welche Richtung das schielende Auge abweicht, spricht man von „Innenschielen“ (▶ Abb. 26.4), „Außenschielen“ oder „Höhenschielen“. Diese Schielformen können einzeln oder in Kombination vorkommen und die Symptome des Strabismus bestimmen. Man geht von einer familiären Häufung des Schielens aus, wobei der Erbmodus ungeklärt ist. Die meisten Schielformen sind angeboren oder entstehen in den ersten Lebensjahren, sie werden oft vom sog. Nystagmus latens (Augenzittern des offenen Auges bei Abdeckung des anderen Auges) begleitet.

Aseptisches Arbeiten und hygienische Händedesinfektion sind hier unerlässlich.

Abb. 26.4 Strabismus. Ausgeprägtes Innenschielen des rechten Auges. (Abb. aus: Klaeger-Manzanell C. 0–3 Monate. In: Baumann T, Hrsg. Atlas der Entwicklungsdiagnostik. 4., unveränderte Auflage. Thieme; 2015)

Erworbene Fehlstellungen sind z. B. bei Schädel-Hirn-Traumen, nach Unfällen (durch Parese eines der 3 okulomotorischen Hirnnerven), Linsentrübungen oder Netzhautablösungen (sekundäres Schielen durch Funktionsverlust eines Auges) möglich.

Symptome Beim Strabismus sind folgende Symptome zu beobachten: ● Abweichung eines Auges von der Parallelstellung ● Doppelbilder (öfter bei erworbenem Schielen) ● Amblyopie (Schwachsichtigkeit) ● fehlendes räumliches Sehen ● Kopfschiefhaltung ● ungeschickte Bewegungen/Stolpern

26.3.2 Pflegebedarf einschätzen Folgende Pflegeprobleme können bei einem Kind mit Strabismus auftreten: ● Verminderung der Sehkraft ● fehlende Toleranz notwendiger Okklusionsbehandlung bzw. Brille oder der orthoptischen Schulung ● Beeinträchtigung im täglichen Leben durch Kopfschmerzen ● psychische Beeinträchtigung aufgrund von möglichen Hänseleien in Kindergarten/Schule (gehänselt wegen der Okklusion bzw. Brille) ● Gefahr von schulischen Problemen durch Leseunlust

26.3.3 Pflegeziele und -maßnahmen Erhalt der Sehkraft

26

Neben regelmäßigen Kontrollen beim Augenarzt sind orthoptische Untersuchungen notwendig. Der Orthoptist entscheidet in Zusammenarbeit mit dem Augenarzt die Art und Häufigkeit der Okklusionstherapie, die streng eingehalten werden muss. Hilfreich ist ein gutes Zusammenspiel von Kind, Eltern und Orthoptist. Bei einem Großteil der Fälle muss das Schielen operativ behoben werden (S. 539). Nach erfolgter Operation ist es möglich, dass eine weitere Okklusion notwendig ist. Die Operation dient nur der Stellungskorrektur, ändert aber an der fehlenden beidäugigen Zusammenarbeit bei angeborenem Schielen nichts. Auch die Sehschärfe wird durch eine Schieloperation nicht verbessert. Bei erworbenem Schielen nimmt die Operation die Doppelbilder.

7

Pflege von Kindern mit Störungen des Sinnessystems

Akzeptanz der Okklusionstherapie

26.4.2 Pflegebedarf einschätzen

Bei der Okklusionstherapie wird das gesunde Auge mit einem speziellen Okklusionspflaster stunden- oder tageweise zugeklebt, um eine Verbesserung des amblyopen Auges zu erreichen. Das Kind muss verstehen lernen, dass die Brille bzw. Okklusion unbedingt notwendig ist. Es sollte seine Brille selbst aussuchen dürfen bzw. ein Mitspracherecht haben. Die Brille muss optimal sitzen, Okklusionsverbände können mit bunten Bildchen verschönert werden. Nur richtig aufgeklärte Eltern werden ihr Kind entsprechend unterstützen.

Im Rahmen der Verletzung kann es zu folgenden Pflegeproblemen kommen: ● gestörtes Wohlbefinden und Unruhe durch die Schmerzen, Schwellung des Auges bzw. des Lides ● Infektionsgefahr insbesondere bei Bisswunden (v. a. bei tierischen Bissen) ● mangelnde Akzeptanz der notwendigen Augentropfen

26.4.3 Pflegeziele und -maßnahmen Wohlbefinden des Kindes

26.4 Pflege eines Kindes mit Verletzungen des Auges und der Lider 26.4.1 Ursache und Auswirkung Verletzungen der Lider und Tränenwege können Schnittwunden, Einrisse, Fremdkörper oder Hämatome sein. Sie werden durch Prellungen, Bisswunden oder Frakturen der Augenhöhlenknochen hervorgerufen. Hornhautfremdkörper können zwischen Limbus corneae (Übergang zwischen Horn- und Lederhaut) und Hornhautmitte aufliegen, in ihr stecken oder bereits teilweise in die Vorderkammer und das übrige Augeninnere ragen. Als Fremdkörper finden sich häufig Metall, Holz oder Tierhaare. Oft ist eine operative Versorgung notwendig.

26

Merke

H ●

Traumatische Augenveränderungen stellen bei Kindern absolute Notfälle dar und müssen schnell und gezielt behandelt werden!

Eine adäquate Schmerzlinderung nach ärztlicher Anordnung, Aufklärung des Kindes und der Eltern über alle Maßnahmen, ggf. Mitaufnahme einer Bezugsperson, um das Wohlbefinden des Kindes zu verbessern, sind notwendig. Ist Bettruhe verordnet, müssen die Kinder altersentsprechend im Bett beschäftigt werden. Bei Augenverletzungen herrscht i. d. R. Leseverbot, da sich das Lesen durch die unruhigen Augenbewegungen ungünstig auf den Heilungsverlauf auswirken kann.

Optimaler Heilungsverlauf Das Auge wird nach ärztlicher Anordnung mit antibiotischen Augentropfen versorgt und die Wunde steril abgedeckt, um eine Sekundärinfektion zu vermeiden. Des Weiteren wird nach ärztlicher Anordnung ein systemisches Antibiotikum verabreicht. Es erfolgt eine tägliche (bei Bedarf auch häufigere) Reinigung des betroffenen Auges mit steriler Kochsalzlösung. Es soll sichergestellt werden, dass die Kinder nicht am Auge manipulieren. In Ausnahmefällen ist auch eine Fixierung der Hände notwendig, z. B. wenn keine kontinuierliche Anwesenheit einer Bezugsperson zur Beobachtung möglich ist.

Erhalt der Sehschärfe Symptome Folgende Symptome gehen mit einer Verletzung des Auges und der Lider einher: ● Schmerzen, evtl. Einblutungen ● Blinzeln, Blendungsempfindlichkeit ● Visuseinschränkung bis Visusverlust

Merke

26.5.1 Ursache und Auswirkung Definition

L ●

Das Glaukom ist eine Augenerkrankung aufgrund einer angeborenen ungenügenden Differenzierung im Kammerwinkelbereich, die den Kammerwasserabfluss hemmt und einen chronisch erhöhten Augeninnendruck bedingt.

Die Erkrankung tritt oft beidseitig auf, der Augapfel vergrößert sich stark durch die noch elastischen Sklerahüllen, die Hornhaut kann sich eintrüben und es tritt vermehrtes Augentränen auf (▶ Abb. 26.5). Säuglinge und Kleinkinder mit getrübter Hornhaut und Lichtempfindlichkeit, sowie „großen Augen“ (Buphthalmus) sollten unbedingt einem Augenarzt zum Glaukomausschluss vorgestellt werden. Ein beidseitiges Glaukom wird oft erst recht spät erkannt. Da beide Augen in gleichem Maße vergrößert sind, fällt es weder Eltern noch Kinderärzten auf.

Merke

H ●

Aufgrund der Symmetrie der Augen wird das beidseitige kindliche Glaukom oft viel später als das einseitige entdeckt. Wird ein Glaukom nicht erkannt, führt es unweigerlich zur Erblindung des Kindes.

H ●

Augenverbände dürfen bei Kindern nur über einen kurzen Zeitraum angelegt werden, da ansonsten immer die Gefahr der Amblyopie besteht.

Falls ein Verband über längere Zeit notwendig ist, kann später das Gegenauge zur Verbesserung der Sehschärfe am verletzten Auge okkludiert werden.

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26.5 Pflege eines Kindes mit Glaukom (grüner Star)

Abb. 26.5 Kongenitales Glaukom. Links druckbedingte Hornhautdekompensation und Irisstrukturauffälligkeiten rechts durch Dehnungseffekte. (Abb. aus: KäsmannKellner B, Seitz B. Klinik. In: Gortner L, Meyer S, Sitzmann F, Hrsg. Duale Reihe Pädiatrie. 4. Auflage. Thieme; 2012)

26.7 Bedeutung Eine medikamentöse Behandlung allein durch drucksenkende Augentropfen ist oft nicht ausreichend. Eine Behandlung durch eine möglichst frühzeitige Operation bietet die einzig realistische Aussicht auf Erhalt des Sehvermögens.

26.5.2 Pflegebedarf einschätzen Folgende Probleme können bei einem Kind mit Glaukom auftreten: ● Lichtempfindlichkeit, verschwommenes Sehen durch ständiges Augentränen ● Verletzungsgefahr durch die dünnen Augenwände bei großen Augen ● starke Kurzsichtigkeit durch die Augapfelvergrößerung ● Unruhe durch Schmerzen (hoher Augeninnendruck) ● mangelnde Akzeptanz der notwendigen Therapie ● psychische Belastung von Eltern und Kind durch Sorge um die Sehkraft ● Entwicklungsverzögerung durch die eingeschränkte Sehfähigkeit

26.5.3 Pflegeziele und -maßnahmen Schmerzlinderung Eine schmerzhafte Erhöhung des Augeninnendrucks wird bis zur Operation lokal mit drucksenkenden Augentropfen behandelt. Dies geschieht ausschließlich auf ärztliche Anordnung. Eventuell ist die Gabe von systemischen Medikamenten (Carboanhydrasehemmern, z. B. Diamox) zur Drucksenkung notwendig. Wie bei allen Medikamenten sollte auch hier auf mögliche Nebenwirkungen bzw. Wechselwirkungen geachtet werden: Insbesondere Hautausschläge oder Kribbeln der Extremitäten treten auf.

Wohlbefinden des Kindes sichern Die Kinder sollten schon im Säuglingsalter wegen der Kurzsichtigkeit mit einer Brille ausgestattet werden. Das Tragen einer Sonnenbrille wird oft schon bei normalen Lichtverhältnissen notwendig (Blendungsempfindlichkeit). Postoperativ kann die Lichtempfindlichkeit durch die wieder aufklarende Hornhaut deutlich gebessert sein. Bei der Auswahl des Spielzeugs sollte man auf die eingeschränkte Sehschärfe Rücksicht nehmen und lieber etwas größeres Spielzeug mit vielen Kontrasten wählen.

Bestmögliche Sehschärfe Eine Sehschwäche ist bei Kindern mit Glaukom fast nicht zu vermeiden, umso mehr muss man sich bemühen, den Restvisus (verbleibende Sehschärfe) zu erhalten und zu fördern. Es ist Aufgabe der Pflegenden, jede Auffälligkeit (z. B. einseitige Augapfelvergrößerung) zu erkennen und dem Arzt mitzuteilen. Nur so wird die unumgängliche Operation auch frühzeitig durchgeführt.

Normale Entwicklung des Kindes Da die Kinder oft sehr in ihrem Sehvermögen eingeschränkt sind, neigt man evtl. dazu, sie „in Watte zu packen“. Das geringe Sehvermögen hat aber nichts mit mangelnder Intelligenz zu tun, die Kinder sollten frühzeitig zur Selbstständigkeit erzogen werden bzw. eine ganz normale Erziehung genießen. Eine Frühfördermaßnahme ist oft sehr hilfreich. Langfristig sind regelmäßige Augendruckkontrollen nötig (bei fehlender Kooperation auch in Kurznarkose), da es bei ca. der Hälfte der Kinder wieder zum Druckanstieg kommt. Oft folgen weitere therapeutische bzw. operative Maßnahmen, z. B. eine erneute Gabe von drucksenkenden Augentropfen oder eine erneute drucksenkende Operation.

26.6.3 Pflegeziele und -maßnahmen Schmerzlinderung Kinder nach Augenoperationen klagen nach Abklingen der Narkose oft über Schmerzen, die je nach Alter des Kindes nicht näher definiert werden können (z. B. werden Kopf- und Bauchschmerzen angegeben), eine adäquate Schmerzstillung nach ärztlicher Anordnung ist notwendig.

Akzeptanz des Verbandes Als unangenehm wird der Augenverband nach der Operation empfunden. Die Kinder sollten altersentsprechend aufgeklärt und kleinere Kinder zur Ablenkung beschäftigt werden (z. B. Vorlesen, ruhige Spiele).

Kind öffnet die Augen Durch das Fremdkörpergefühl, das die Fäden verursachen, fällt es den Kindern schwer, die Augen zu öffnen. Das Pflegepersonal sollte die Kinder regelmäßig dazu anhalten, die Augen zu öffnen, und visuelle Anreize geben (z. B. Ausmalbilder anbieten). Die Kinder sollten stets versuchen beide Augen zu öffnen, da das Zukneifen die Bindehautschwellung fördert.

Optimaler Heilungsverlauf

26.6 Pflege eines Kindes nach Augenoperation 26.6.1 Ursache und Auswirkung Eine Augenoperation ist oft eine notwendige Maßnahme zum Erhalt der Sehkraft. Obwohl die schon eingetretene Schädigung oft nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, ist die Operation notwendig, um ein Fortschreiten der Erkrankung zu vermeiden.

Das tägliche Reinigen des Auges erfolgt mit steriler Kochsalzlösung. Wichtig ist auch die regelmäßige Applikation der verordneten Augentropfen. Es muss sichergestellt werden, dass die Kinder nicht mit den Fingern oder Gegenständen am Auge manipulieren. Sie müssen deshalb altersentsprechend aufgeklärt und beschäftigt werden. Außerdem ist darauf zu achten, dass die Brille weiterhin getragen wird.

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26.7 Bedeutung Mechthild Hoehl

26.6.2 Pflegebedarf einschätzen Folgende Pflegeprobleme können bei Kindern nach Augenoperationen auftreten: ● gestörtes Wohlbefinden durch Schmerzen ● mangelnde Akzeptanz des Verbandes ● Kind öffnet die Augen nicht (aus Angst vor Schmerzen) ● Wundheilungsstörungen

Von Störungen des Hals-Nasen-OhrenSystems sind Kinder wesentlich häufiger betroffen als Erwachsene. Aufgrund der kindlichen Anatomie, der noch nicht erworbenen Antikörper gegen Infektionserreger und der exponierten Stelle des HNO-Systems als Eintrittspforte von Krankheitserregern erleiden Kinder relativ häufig akute Infektionen des HNO-Systems, wobei die individuelle Empfänglichkeit für eine Erkrankung sehr unterschiedlich sein kann. Akute infektiöse Erkrankungen des HNO-Systems bedeuten für die Kinder zunächst die Auseinandersetzung mit den Symptomen der Infektion, also der Stö-

9

Pflege von Kindern mit Störungen des Sinnessystems rung des Allgemeinbefindens durch Fieber, Schmerzen und Funktionseinschränkungen des betroffenen Bereichs. Heilt die akute Infektion nicht spontan aus; wird sie nicht oder nur unzureichend behandelt, drohen Komplikationen durch eine Ausbreitung der Infektion, Chronifizierung des Krankheitsgeschehens und dauerhafte Schädigung des betroffenen Bereichs. Da hierbei auch zentrale Sinnesorgane betroffen sind, kann dies schwerwiegende Auswirkungen auf die Gesamtentwicklung des Kindes haben. Viele Gesundheitsstörungen des HalsNasen-Ohren-Systems erfordern weitere therapeutische Maßnahmen, z. B. einen operativen Eingriff, um eine dauerhafte Sanierung des Infektionsgebietes zu erreichen. Hierbei handelt es sich häufig um planbare Eingriffe, die mit dem betroffenen Kind altersgemäß gut vor- und nachbereitet werden können, um Ängste abzubauen und die Kooperation des Kindes und seiner Familie mit dem therapeutischen Team zu erhöhen. Kleinere Eingriffe werden häufig ambulant vorgenommen. Exemplarisch wird in diesem Kapitel die Pflege eines Kindes mit einer akuten Otitis media (Mittelohrentzündung) sowie nach einer Tonsillektomie (vollständige Entfernung der Gaumenmandel) vorgestellt. Angeborene Störungen des HNO-Bereichs sind zumeist Fehlbildungen aufgrund von Störungen der Embryonalentwicklung oder aus unbekannter Ursache. Als häufigste und wohl bekannteste angeborene Störung des HNO-Systems wird in diesem Kapitel die Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte mit den Konsequenzen für das betroffene Kind und dessen Pflege vorgestellt.

26

26.8 Allgemeine Maßnahmen bei Erkrankungen des HNO-Systems







Abb. 26.6 Applikation von Nasentropfen. Die verordnete Anzahl Tropfen wird in jedes Nasenloch geträufelt. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

fen auch im Sitzen appliziert werden. Der Kopf des Kindes wird rekliniert (rückwärts gebeugt), damit die Tropfen nicht sofort in den Rachenraum laufen und verschluckt werden. Vor der Applikation der Nasentropfen wird evtl. vorhandener Schleim mit einem Papiertaschentuch weggewischt oder das Kind aufgefordert, die Nase zu schnäuzen.

Durchführung Bei der Durchführung ist Folgendes zu beachten: ● Die verordnete Anzahl Tropfen wird in jedes Nasenloch geträufelt (▶ Abb. 26.6). ● Sofern möglich, kann das Kind die Tropfen in die Nase hochziehen, damit sie nicht in den Rachen laufen. ● Kann es das nicht, muss es mindestens eine Minute lang liegen bleiben, um ein Verschlucken (schlechter Geschmack, Aspirationsgefahr) der Tropfen zu vermeiden. Sammeln sich die Nasentropfen doch im Rachenraum, können Kinder ab dem Kindergartenalter diese auch ausspucken, zu diesem Zweck werden Papiertaschentücher oder Ähnliches bereitgehalten. ● Das Kind wird für seine Mitarbeit gelobt. Die Applikation wird mit Uhrzeit dokumentiert.

Eva-Maria Wagner

Gabe von Nasensalbe

26.8.1 Nasentropfen und Nasensalben Die Gabe von Nasentropfen bzw. -salbe erfolgt ausschließlich auf ärztliche Anordnung.

Positionierung Das Kind wird auf dem Rücken gelegt und, wenn nötig, durch eine zweite Person festgehalten.

Durchführung Gabe von Nasentropfen Positionierung Je nach Alter des Kindes wird das Kind auf dem Rücken gelagert und, wenn nötig, durch eine zweite Person festgehalten. Bei größeren Kindern können die Nasentrop-

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Bei der Durchführung ist Folgendes zu beachten: ● Je nach Präparat bzw. ärztlicher Anordnung wird ein Salbenstrang von entsprechender Länge in jeden der beiden Nasengänge eingebracht.

Durch eine halbe Drehung der Salbentube lässt sich der Salbenstrang „abschneiden“. Wenn möglich, soll das Kind nicht gleich die Nase schnäuzen. Das Kind wird für seine Mitarbeit gelobt. Die Applikation wird mit Uhrzeit dokumentiert.

26.8.2 Ohrentropfen Die Gabe von Ohrentropfen erfolgt ausschließlich nach ärztlicher Anordnung. Ohrentropfen sollten Raumtemperatur haben, da die Gabe einer kalten Flüssigkeit in den Gehörgang als sehr unangenehm empfunden wird. Vor der Gabe von Ohrentropfen wird evtl. vorhandenes Sekret mit einem Papiertaschentuch oder einer Kompresse entfernt.

Positionierung Das Kind wird auf die rechte Seite gelegt, um Ohrentropfen in das linke Ohr zu tropfen, und umgekehrt. Wenn nötig, wird eine zweite Pflegefachkraft hinzugezogen, die das Kind festhält.

Durchführung Bei der Durchführung ist Folgendes zu beachten: ● Damit die Ohrentropfen nicht im sichtbaren Teil des äußeren Gehörganges verbleiben, muss man den Gehörgang etwas strecken, indem man einen Finger vor dem Ohr am Tragus (Ohrdeckel) auflegt und leicht Richtung Nase schiebt (▶ Abb. 26.7) oder bei Kindern unter 3 Jahren das Ohr am Ohrläppchen fasst und leicht nach unten und hinten (Richtung Hinterkopf) zieht. ● Die Pipette wird so gehalten, dass die Tropfen seitlich auf den Gehörgang tropfen. ● Der Gummiteil der Pipette wird gedrückt, bis die verordnete Anzahl an Tropfen ausgetreten ist. ● Das Kind soll 1 Minute in dieser Position liegen bleiben, bevor es auf die entgegengesetzte Seite gedreht wird, um an das andere Ohr zu gelangen. ● Vorsichtiges Reiben der Haut vor dem Ohr am Tragus unterstützt die Verteilung der Tropfen im Gehörgang in Richtung Mittelohr. ● In der Ohrmuschel zurückgebliebene Tropfen werden mit einem trockenen Tupfer abgewischt. ● Das Kind wird für seine Mitarbeit gelobt. Die Applikation wird mit Uhrzeit dokumentiert, um den korrekten Zeitabstand zwischen zwei Gaben einhalten zu können.

26.9 Pflege eines Kindes mit einer akuten Otitis media

Abb. 26.7 Applikation von Ohrentropfen. Der äußere Gehörgang wird etwas gestreckt. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Praxistipp Pflege

Z ●

Ist nur ein Ohr betroffen, wird das Kind nach der Gabe der Ohrentropfen auf das betroffene Ohr gelegt, damit Flüssigkeit oder Eiter aus dem Ohr laufen kann. Um den Sekretabfluss zu gewährleisten, sollte keinesfalls Watte in den Gehörgang eingebracht werden.

26.9 Pflege eines Kindes mit einer akuten Otitis media Mechthild Hoehl

26.9.1 Ursache und Auswirkung Definition

L ●

Die akute Otitis media ist eine Entzündung des Mittelohres durch Bakterien (z. B. Streptokokken, Staphylokokken, Hämophilus, Pneumokokken) oder Viren.

Zumeist entsteht diese durch Infektionserreger, die im Rahmen eines Infektes der oberen Luftwege (Schnupfen) über die Eustachische Röhre (Verbindung des Nasen-Rachen-Raumes zum Mittelohr) aufsteigen. Durch die häufig begleitende Schleimhautschwellung verschließt sich die Röhre, die Belüftung des Mittelohres wird unterbunden und die Krankheitserreger können sich festsetzen. Seltener ist das direkte Eindringen von Keimen durch einen bestehenden Trommelfelldefekt oder die hämatogene Infektion im Rahmen einer Allgemeinerkrankung (z. B. Scharlach, Masern).

▶ Symptome. der akuten Mittelohrentzündung sind: ● meist plötzlicher Beginn mit stechenden oder klopfenden ein- oder beidseitigen Ohrenschmerzen, Berührungsempfindlichkeit im Bereich des betroffenen Ohres ● Fieber ● allgemeines Krankheitsgefühl ● bei Säuglingen und Kleinkindern häufig starke Unruhe, Nahrungsverweigerung und Greifen nach dem erkrankten Ohr ● Hörminderung durch Eiter oder Flüssigkeitsansammlung hinter dem Trommelfell ● bei Perforation des Trommelfells Sekretoder Eiteraustritt aus dem Ohr ● Infektbegleiterscheinungen, wie Schnupfen oder Husten

▶ Prävention. Faktoren, wie die genetische Disposition, Gesichtsmorphologie, Frühgeburtlichkeit oder ein früher Kitaeinstieg, können die Neigung zu Mittelohrentzündungen verstärken. Ebenso kommt es gehäuft bei Passivrauchbelastung zu Mittelohrentzündungen. Um eine Mittelohrentzündung möglichst zu verhindern, wird empfohlen, mehrere Monate zu stillen, da die Mundmotorik die Ohrbelüftung positiv beeinflusst und die Immunglobuline infektionsvorbeugend wirken. Die Verwendung eines Schnullers kann jedoch das Risiko erhöhen, da durch das Nuckeln am Schnuller das Aufsteigen von Keimen über die Eustachische Röhre (Verbindung zwischen Mittelohr und Nasen-RachenRaum) begünstigt wird.

Die Diagnose wird anhand der Symptomatik gestellt und mittels Otoskopie bei einem entzündlich veränderten Trommelfell gesichert. Die Behandlung der Otitis beinhaltet konservative und/oder medikamentöse Schmerzlinderung, die Gabe von abschwellenden Nasentropfen zur Wiederherstellung des Sekretabflusses, unterstützt durch die Anlage von Zwiebelwickeln. Sollte sich die Symptomatik innerhalb weniger Tage nicht bessern bzw. sogar verschlechtern, wird bei vermuteter oder nachgewiesener bakterieller Infektion auf ärztliche Anordnung eine antibiotische Therapie durchgeführt. Laut der evidenzbasierten AWMF-Leitlinie „akute Otitis media“ (2014) ist eine frühzeitige antibiotische Behandlung bei größeren Kindern ab 2 Jahren nur in Ausnahmefällen, z. B. bei ● nicht suffizienter Analgesie, ● hohem Fieber, ● Eiterausfluss aus dem Ohr, ● schwerem Krankheitsgefühl oder ● einer Grunderkrankung mit höherem Risiko, wie z. B. bei Cochleaimplantatträgern, angezeigt.

26.9.2 Pflegebedarf einschätzen

Den Ergebnissen mehrerer internationaler Studien zufolge hat die Antibiotikagabe gegenüber dem abwartenden und beobachtenden Verhalten („Watchful Waiting“) wenig Einfluss auf die Komplikationshäufigkeit. ▶ Komplikationen. Bei einer akuten Mittelohrentzündung können auftreten: ● Ausbreitung der Infektion: Mastoiditis, Meningitis, Labyrinthitis (Innenohrentzündung), Nervenentzündung mit nachfolgender Fazialisparese. ● Chronische Mittelohrentzündung mit Hörminderung, Ohrgeräuschen und/ oder anhaltender Paukenerguss.

Folgende Pflegeprobleme stehen bei einem Kind mit einer akuten Otitis media im Vordergrund: ● beeinträchtigtes Wohlbefinden durch starke Schmerzen, Fieber und allgemeines Krankheitsgefühl ● beeinträchtigte Kommunikation bei Hörminderung, ggf. dauerhafte Hörminderung durch Paukenerguss ● Gefahr von Schäden am Hörorgan durch Trommelfellperforation und weitere Komplikationen ● gestörter Schlaf durch starke Unruhe und Schmerzen bei Kleinkindern ● gestörte Nahrungsaufnahme durch Inappetenz oder Nahrungsverweigerung infolge von Schmerzen ● Gefahr von Durchfällen als Folge einer antibiotischen Therapie

26.9.3 Pflegeziele und -maßnahmen

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Schmerzlinderung Die Schmerzen einer Mittelohrentzündung sind für Kinder sehr unangenehm. Die Schmerzlinderung erfolgt mittels Analgetika auf ärztliche Anordnung (S. 242). Hilfreich ist die Anwendung eines Zwiebelwickels (▶ Abb. 26.8): Hierfür wird eine Zwiebel zerkleinert, erwärmt und in einem dünnen Baumwolltuch, Baumwollsäckchen oder einem Strumpf auf das Ohr gelegt, nachdem die korrekte Temperatur am Unterarm überprüft wurde. Die Temperatur des Wickels sollte 37 °C nicht überschreiten. Das Kind wird bei der Wickelauflage gefragt, ob die Temperatur angenehm ist, kleinere Kinder werden auf Unmutsäußerungen hin beobachtet. Mit einer Wollauflage wird das Ohr gegen Verdunstungskälte geschützt und Wickel

1

Pflege von Kindern mit Störungen des Sinnessystems

Abb. 26.8 Zwiebelwickel. Er hat eine schmerzlindernde, lösende und befreiende Wirkung. a Einzelne Schichten einer geschälten und geviertelten Zwiebel werden mit der Wölbung nach oben (also mit dem Silberhäutchen nach unten) auf einem Baumwolltuch auf ca. 8 × 10 cm ausgelegt und zu einem Päckchen gefaltet, auf dessen Unterseite nur eine Stoffschicht die Zwiebeln bedeckt. (Foto: T. Möller, Thieme) b Die erwärmte Zwiebelauflage wird nun mit der nur von einer Stoffschicht bedeckten Seite auf das schmerzende Ohr gelegt. Dabei muss das Ohr hinten 2 Fingerbreit überragt werden. (Foto: T. Möller, Thieme) c Wird die Wärme des Zwiebelwickels gut toleriert, wird die Wollauflage daraufgelegt und alles mit Mütze, Schal oder Stirnband befestigt. (Foto: T. Möller, Thieme)

und Auflage mit einem Netzverband, Mützchen oder Schal befestigt. Die ätherischen Öle der Zwiebel wirken schmerzlindernd und förderlich auf den Sekretfluss. Zusätzlich wird die Wärme des Wickels von den meisten Kindern als angenehm empfunden. Sollte der Wickel von den Kindern abgelehnt werden, wird die Maßnahme abgebrochen, weil bereits ein zu starkes Druckgefühl hinter dem Trommelfell vorliegen könnte.

Merke

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● H

Die Gabe von analgetischen Ohrentropfen wird nur bei einer Otitis externa (Außenohrentzündung) empfohlen, bei einer Mittelohrentzündung werden sie nicht angewendet, da sie das Schmerzzentrum gar nicht erreichen und die Beobachtung eines möglichen Sekretaustritts und die Beurteilung des Trommelfells bei der Otoskopie beeinträchtigen kann.

Ungestörter Sekretabfluss Abschwellende Nasentropfen unterstützen den Sekretabfluss über die Eustachische Röhre in die Nase. Sie werden auf ärztliche Anordnung so lange gegeben, wie die Schwellung der Nasenschleimhaut vorliegt, jedoch nicht häufiger als 3-mal täglich und nicht länger als 7 Tage. Die Eltern, die die Behandlung fortführen, werden über die Gefahren eines zu ausgiebigen Gebrauchs von abschwellenden Nasentropfen aufgeklärt. Hilfreich sind ein angenehmes, nicht zu trockenes Raumklima und ausreichende Flüssigkeitszufuhr, um Funktion und

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Feuchtigkeit der Schleimhäute aufrechtzuerhalten. Ist die Nasenatmung durch Polypenwachstum dauerhaft beeinträchtigt, wird bei rezidivierenden Mittelohrentzündungen eine Adenotomie empfohlen (S. 543).

Ohrbelüftung Die intensiven Melkbewegungen des kindlichen Kiefers beim Stillen unterstützten die Ohrbelüftung. Bei größeren Kindern oder Erwachsenen werden xylithaltige Kaugummis empfohlen. Das Abfließen eines bereits vorhandenen Ergusses kann mit einem Nasenballon (z. B. Otobar, Otovent) unterstützt werden. Dazu wird ein Nasenloch mit einem Finger zugehalten und an das andere Nasenloch der Nasenballon gehalten. Ziel ist es, den Ballon bei geschlossenem Mund durch die Nase aufzublasen. Hat der Ballon einen Durchmesser von ca. 10 cm erreicht, kann die Luft wieder durch die Nase abgelassen werden. Derselbe Vorgang wird anschließend mit dem anderen Nasenloch durchgeführt. Durch den so erzeugten Überdruck in der Nase kommt es zur Öffnung der Eustachischen Röhre, ein Druckausgleich sollte spürbar sein.

Physiologische Körpertemperatur Die antipyretische Therapie erfolgt über konservative Maßnahmen oder die Gabe von Antipyretika auf ärztliche Anordnung (S. 286). Hierbei werden Medikamente bevorzugt, die sowohl Antipyrese als auch Analgesierung gewährleisten (z. B. Ibuprofen oder Paracetamol). Wenn sich die Symptomatik nicht innerhalb von 48 Std. deutlich bessert oder sogar verschlechtert, erfolgt bei nachgewiesener oder ver-

muteter bakterieller Infektion eine antibiotische Behandlung. Gegebenenfalls ist es möglich, mit einem neuartigen Hydrogel, das auf ärztliche Anordnung direkt in das Ohr gegeben wird und durch das Trommelfell diffundiert, die systemischen Nebenwirkungen der oralen Antibiotika zu reduzieren.

Physiologische Nahrungsaufnahme Kleinkinder, die während einer Otitis die Nahrung verweigern, bekommen Wunschkost. Hierbei kann es hilfreich sein, Nahrungsmittel zu zerkleinern, breiige Kost oder z. B. Joghurt anzubieten, sowie viel Flüssigkeit oder flüssige Kost zu reichen, da das Kauen manchmal Probleme bereitet. Da Kaubewegungen die Ohrbelüftung unterstützen, sollte nicht grundsätzlich pürierte Kost angeboten werden.

Rechtzeitiges Erkennen von Komplikationen Bei einem auffallend quengeligen Säugling oder Kleinkind muss immer an die Möglichkeit einer akuten Otitis media gedacht werden. Sekretaustritt wird bei der Körperpflege erkannt, bei unklaren eitrigen oder blutigen Flecken auf Bettwäsche oder Kleidung werden die Ohren inspiziert. Hierbei dürfen jedoch keinesfalls Wattestäbchen benutzt werden. Klingen die Beschwerden einer akuten Otitis trotz Behandlung nicht innerhalb weniger Tage ab, wird der Arzt informiert. Eine Ausbreitung der Infektion oder Nichtansprechen der Erreger auf das gewählte Antibiotikum könnten die Ursache sein.

26.10 Pflege eines Kindes bei Tonsillitis

Praxistipp Pflege

Z ●

Beachten Sie die Anzeichen einer Hörminderung: Reagiert das Kind seitengleich auf Ansprache? Muss man Fragen wiederholen? Fragt es bei Aufforderungen mehrmals nach?

Bei möglicher Hörminderung sowie unklaren Verzögerungen der Sprachentwicklung wird ein Hörtest durch den Kinderarzt oder HNO-Arzt vorgenommen. Bei einem chronischen Erguss werden Parazentese (operative Eröffnung des Trommelfells) und Paukendrainage (Ableitung des Ergusses über Röhrchen) empfohlen.

26.10 Pflege eines Kindes bei Tonsillitis, nach Tonsillektomie (TE) und Adenotomie (AT) 26.10.1 Ursache und Auswirkung Definition

L ●

Die akute Tonsillitis oder Angina tonsillaris ist eine meist bakterielle Entzündung der Gaumenmandeln.

Besonders gefürchtet ist die Streptokokkenangina wegen der Gefahr von Folgekrankheiten, wie rheumatischem Fieber, Nephritis oder Endokarditis. Symptome der akuten Tonsillitis sind: ● Halsschmerzen, Schluckbeschwerden ● Fieber ● Rötung und Schwellung der Tonsillen, z. T. mit Belägen (je nach Ursache z. B.: eitrig, milchig, stippchenartig, weißgelb, ulzerös) ● beeinträchtigtes Allgemeinbefinden, Appetitmangel, Nahrungsverweigerung ▶ Chronische Tonsillitis. Sie entsteht infolge einer akuten Erkrankung durch Bakterienprodukte und abgestorbene Zellteile, die ihrerseits zu einer Entzündungsreaktion führen. Hierdurch entstehende Narbenbildungen und Zerklüftungen an der Tonsillenoberfläche machen sie wiederum anfälliger für neue Infektionen. ▶ Pflegerische Aspekte einer Tonsillitis. Die Schmerzlinderung steht bei der Tonsillitis im Vordergrund. Sie wird durch Halswickel (im Akutstadium eher kühl, bei chronischen Verläufen wird häufig ein warmer Wickel als angenehmer empfun-

den), Gurgeln mit Salbeitee, desinfizierenden oder anästhesierenden lokalen Präparaten auf ärztliche Anordnung, ggf. der Gabe von angeordneten analgetischen und antipyretischen Medikamenten erreicht. Die antibiotische Therapie wird auf ihre Wirksamkeit (Nachlassen der Beschwerden) und ggf. auf möglicherweise auftretende Nebenwirkungen (z. B. gastrointestinale Beschwerden, Hautreaktionen) beobachtet. Eine adäquate Nährstoffzufuhr erfolgt über absolute Wunschkost, wobei weiche, säurearme, nicht zu heiße und wenig gewürzte Speisen bevorzugt werden. ▶ Indikation zur Tonsillektomie. Diese ist bei häufig rezidivierenden akuten Tonsillitiden, chronischen Verläufen, Abszessbildung oder Atemwegsbehinderungen durch massiv vergrößerte Tonsillen gegeben. Die Tonsillektomie zählt zu den häufigsten, geplanten Operationen. ▶ Indikation zur Adenotomie. Sie ergibt sich aus einer Vergrößerung der Rachenmandeln oder adenoiden Vegetationen, im Volksmund als Polypen bezeichnet, wenn hierdurch die Nasenatmung massiv beeinträchtigt ist und/oder zu Verlegungen von Nasennebenhöhlen oder der Eustachischen Röhre mit nachfolgenden gehäuften Entzündungen führt. Eine weitere Indikation ist die obstruktive Schlafapnoe. ▶ Operation. Beide Eingriffe erfolgen geplant in Vollnarkose. Operiert wird, wenn das Kind aktuell beschwerdefrei, infektund fieberfrei sowie je nach Alter psychisch gut vorbereitet ist. Aufgrund der hohen Komplikationsrate wird bei Kindern unter 4 Jahren eher eine Tonsillotomie (Teilentfernung) der Rachenmandeln vorgenommen. Die Indikation für eine Tonsillektomie wird heutzutage relativ eng gestellt, da die Tonsillen wichtiger Bestandteil des Immunsystems sind. So werden alternativ auch Teilentfernungen, eine Radiofrequenz-Ablation oder eine Lasertherapie zur Verkleinerung in Betracht gezogen.

26.10.2 Pflegebedarf einschätzen Im Zusammenhang mit der TE oder AT kann es zu folgenden Pflegeproblemen kommen: ● Ängste und Unsicherheiten bei Kindern und Eltern in Bezug auf den Eingriff, mögliche Komplikationen oder den Krankenhausaufenthalt. ● Gefahr von Nachblutungen, Aspiration (z. B. durch Erbrechen von verschlucktem Blut) und Kreislaufinstabilität.





Gestörtes Wohlbefinden durch postoperative Schmerzen und Schluckbeschwerden. Eingeschränkte Nährstoff- und Flüssigkeitszufuhr durch Nahrungsverweigerung.

26.10.3 Pflegeziele und -maßnahmen Rechtzeitiges Erkennen von Nachblutungen Die allgemeinen Empfehlungen zur präund postoperativen Pflege (S. 830) sind zu beachten. Die postoperativen Kontrollen erfolgen nach Anordnung des Operateurs sowie nach klinikinternen Richtlinien. Überprüft werden die Vitalzeichen Puls und Blutdruck, Aussehen, Hautfarbe und Bewusstseinslage, um Zeichen einer Kreislaufinstabilität zu erkennen, sowie die Körpertemperatur als Anzeichen beginnender Infektionen. Leichtes Resorptionsfieber am Operationstag ist jedoch normal. Besonders wichtig ist es, auf Zeichen einer Nachblutung zu achten. Die größte Gefahr von Nachblutungen besteht am Operationstag sowie bei der TE am 4.– 6. postoperativen Tag, wenn sich die Wundbeläge auf den Wundflächen der Rachenhinterwand lösen.

Praxistipp Pflege

Z ●

Anzeichen einer Nachblutung, wie auffallende Kreislaufinstabilität, Blutspucken, auffallend häufiges Schlucken, Übelkeit und Erbrechen durch verschlucktes Blut (Hämatemesis), sind sofort dem behandelnden Arzt mitzuteilen.

26

Falls eine Nachblutung auftritt, wird sofort der Arzt gerufen. Das Kind darf dann nicht mehr allein gelassen werden. Es wird in Seitenlage oder eine aufrechte Position gebracht, sodass das Blut besser entleert werden kann. Das Kind wird beruhigt und darüber aufgeklärt, dass es das Blut nicht schlucken soll, da ansonsten das Ausmaß der Blutung nur schwerer einzuschätzen ist und der unangenehme Geschmack einen Brechreiz auslösen kann. Notfalls wird das Blut mittels vorsichtiger Absaugung aus dem Mund entfernt, um einer Aspiration vorzubeugen. Hierbei muss eine zusätzliche Verletzung des Wundgebietes unbedingt vermieden werden. Die lokale Kälteanwendung (Eiskrawatte am Hals unter strenger Einhaltung einer kontinuierlichen Kühlung) ver-

3

Pflege von Kindern mit Störungen des Sinnessystems ringert über eine Engstellung der Gefäße die Blutzufuhr. Bis zum Eintreffen des Arztes werden Allgemeinbefinden und Vitalzeichen je nach Befinden engmaschig bis kontinuierlich überprüft sowie Materialien zum Legen eines venösen Zugangs und einer Blutbildkontrolle vorbereitet.

Minderung des Blutungsrisikos

26

544

Das Kind und seine Eltern werden über geeignete Maßnahmen aufgeklärt, um einen komplikationslosen Heilungsverlauf zu unterstützen: ● In den ersten postoperativen Tagen sollte das Kind ruhige Aktivitäten bevorzugen, da beim Toben die Blutungsgefahr erhöht wird. Die anwesende Bezugsperson sollte das Kind altersgemäß im Liegen oder Sitzen beschäftigen. ● Das Kind kann aufgrund von Missempfindungen am Operationsgebiet den Drang verspüren, sich ständig zu räuspern, die Nase zu putzen oder gar mit Fingern oder Gegenständen daran zu manipulieren. Dies sollte unbedingt durch Aufklärung des Kindes und Ablenkung unterbunden werden. ● Flüssigkeit, die sich im Mund sammelt, sollte nicht hinuntergeschluckt werden, sondern zur besseren Beurteilung in bereitgestellte Abwurfschalen entleert werden. Die Schalen werden bei Bedarf regelmäßig ausgetauscht. Außerdem wird ausreichend Zellstoff zum Abwischen des Mundes bereitgestellt. ● Lokale Kälteanwendungen (z. B. Eiskrawatten) können zur Minderung der Blutungsneigung und Schmerzlinderung eingesetzt werden. Ihre Wirksamkeit ist nur dann gegeben, wenn sie bei Anwendung regelmäßig erneuert werden, da eine zu kurzfristige Anwendung zur reaktiven Hyperämie führen kann und diese dann sogar die Blutungsneigung verstärken könnte. ● Bei der Körperpflege wird in der ersten postoperativen Woche auf die Anwendung von heißen Bädern oder Duschen sowie Haarewaschen verzichtet. ● Die Mundpflege erfolgt in den ersten Tagen mit Kamillen- oder Salbeitee oder Panthenollösung, mit denen nur gespült, jedoch nicht gegurgelt werden sollte. Sobald es dem Kind kein Unbehagen mehr bereitet, kann es wieder wie gewohnt die Zähne putzen. Aus hygienischen Gründen sollte hierfür jedoch eine neue Zahnbürste verwendet werden. ● Jugendliche werden darüber aufgeklärt, dass Rauchen die Heilung verzögert und das Blutungsrisiko erhöht. ● Im weiteren Heilungsverlauf sollte auf starke körperliche Anstrengungen,

Sport und Sonnenbäder verzichtet werden. Etwa 1 Woche nach Klinikaufenthalt sollte das Kind nicht in die Schule oder den Kindergarten, ca. 3 Wochen lang sollte es auf Sport verzichten.

Schmerzlinderung Die kontinuierliche Anlage der Kühlkrawatte kann auch zur Schmerzlinderung beitragen. Eine halbsitzende Körperposition erleichtert die Atmung und reduziert die Schmerzen. Eine ausreichende Analgesie wird vom Arzt verordnet, die Pflegefachkraft unterstützt das Kind und seine Familie bei der Medikamentengabe und beobachtet die Wirksamkeit.

Physiologische Nährstoff- und Flüssigkeitszufuhr Nach der postoperativen Nahrungskarenz wird zunächst mit schluckweisem Flüssigkeitsangebot begonnen. Geeignet sind Tee, abgekochtes Leitungswasser oder stilles Mineralwasser. Im weiteren Verlauf wird eine gelenkte Wunschkost mit dem Kind vereinbart, bei der folgende Regeln beachtet werden sollten: ● Speisen und Getränke sollten nie heiß, sondern lieber lauwarm oder kalt genossen werden. ● Ein dosierter Genuss von geeignetem Milchspeiseeis (z. B. Vanilleeis) kann schmerzlindernd wirken. Auf Schokoladeneis sollte jedoch verzichtet werden, da durch die Braunfärbung die Beurteilung der Wundverhältnisse erschwert sein kann. Auch Fruchteis sollte aufgrund der Säure eher wegen der enthaltenen Säure verzichtet werden. ● Weiche, ggf. breiige Kost mit hohem Flüssigkeitsanteil ist nach Möglichkeit zu bevorzugen. ● Scharf gewürzte und sehr säurehaltige Speisen (Obst, Fruchtsäfte) sind zu vermeiden. Gemüse ist in gegarter Form zu verzehren. ● Ebenso zu meiden sind sehr harte Speisen, wie harte Brotkrusten, Knäckebrot, Kekse, Chips, Popcorn. Zu bevorzugen sind Brotsorten mit nicht zu harter Kruste, um die Wundheilung nicht zu stören. ● Getränke ohne Kohlensäure sind zu bevorzugen. ● Speisen, die eine Verschleimung im Rachenraum bewirken könnten (wie Milch oder Pudding), sollten vorsichtig genossen werden und nur, wenn sie dem Kind kein zusätzliches Problem bereiten. ● Einer Obstipationsneigung aufgrund der relativ ballaststoffarmen Ernährung in der Heilungsphase sollte mit ausreichender Flüssigkeitszufuhr, ggf. der Gabe von Laxanzien auf ärztliche An-



ordnung entgegengewirkt werden, da das übermäßige Pressen beim Stuhlgang vermieden werden sollte. Sollte das Kind die Krankenhauskost ablehnen, können die Eltern die Verpflegung des Kindes selbst organisieren. Die Auswahl der Speisen sollte jedoch mit dem Personal abgestimmt werden.

Praxistipp Pflege

Z ●

Es wird ein Ernährungsprotokoll angelegt, um die Aufnahme von Speisen und Getränken zu kontrollieren und ggf. entstehende Mangelzustände rechtzeitig zu erkennen. Besonders die Flüssigkeitsaufnahme muss gewährleistet sein. Bei anhaltender Verweigerung wird der Arzt informiert.

26.11 Pflege eines Kindes mit Lippen-KieferGaumen-Spalte 26.11.1 Ursache und Auswirkung Fallbeispiel

I ●

Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte – gut vorbereitet ins Leben

Familie Müller hat in der 21. SSW erfahren, dass ihr Baby mit einer Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte zur Welt kommen wird. Sofort wurden sie vom Gynäkologen mit Informationsmaterial versorgt und an ein Spezialzentrum in der nahen Universitätsstadt verwiesen. Hier erfolgten schon vorgeburtlich persönliche Gespräche mit den Kieferchirurgen und Spezialisten sowie eine Aufklärung durch die Stillberaterin über die Ernährung des zu erwartenden Babys. So begeben sich die werdenden Eltern mit Beginn der Geburt gut informiert, vertrauensvoll, aber trotzdem ein wenig besorgt in die geburtshilfliche Abteilung der Spezialklinik. Das Pflegepersonal unterstützt die Familie in den ersten Lebenstagen einfühlsam und professionell beim Start ins Familienleben und allen auftretenden Fragen.

Lernaufgabe

M ●

Überlegen Sie: Welche Art von Hilfestellung benötigt die Familie in den ersten Lebenstagen am meisten?

26.11 Pflege bei Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten sind relativ häufige Fehlbildungen des Mund-Nasen-Bereichs (▶ Abb. 26.9). Es ist in Europa etwa mit 1 Spaltbildung auf 500 Geburten zu rechnen. Es gibt geografische und ethnische Unterschiede im Auftreten, beispielsweise treten die Spalten bei den Ureinwohnern Australiens, Amerikas, in der Bevölkerung asiatischer Abstammung und in Indien häufiger auf. Hierbei sind die ein- oder doppelseitigen durchgehenden Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten (▶ Abb. 26.10) die häufigste Erscheinungsform, isolierte Gaumen- oder Lippenspalten oder Lippen-Kiefer-Spalten kommen vergleichsweise seltener vor. ▶ Ursache der Spaltbildungen. Es liegt eine meist unbekannte Störung der embryonalen Entwicklung in der Frühschwangerschaft vor. In manchen Fällen

Abb. 26.9 Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte. (Abb. mit freundlicher Unterstützung von: U. Giebel)

wird eine familiäre Häufung beobachtet. Eine genetische Veränderung am 8. Chromosom wird in manchen Fällen diskutiert. Eine Kombination mit anderen Fehlbildungen ist möglich. Die komplette Spaltbildung wird häufig bereits im Ultraschall während der Schwangerschaft entdeckt. In diesem Fall sollte eine Entbindungsklinik gewählt werden, die der betroffenen Familie mit einem interdisziplinären Behandlungskonzept zur Seite stehen kann. ▶ Auswirkungen der Spaltbildungen. Dies sind je nach Ausprägung neben der ästhetischen Beeinträchtigung v. a. funktionale Probleme, die Atmung, Ernährung, Sprache und Gehör erschweren können. Ziel der Behandlung ist daher eine möglichst vollständige ästhetische und funktionelle Rehabilitation. Hierbei gibt es sehr unterschiedliche Konzepte bezüglich der Zeitpunkte und Reihenfolge des operativen Verschlusses einzelner Spaltabschnitte. Die Konzepte differieren von einer möglichst frühzeitigen operativen Korrektur aller Spaltabschnitte innerhalb einer Sitzung und innerhalb der ersten Lebenswochen bis hin zu einem fraktionierten Vorgehen, das sich über die ersten Lebensjahre erstreckt. Bei einem frühzeitigen kompletten Verschluss ist die ästhetische und funktionale Einschränkung schneller behoben, jedoch bedeutet der große Eingriff eine starke Belastung für das kleine Kind. Beim fraktionierten Vorgehen sind die einzelnen Eingriffe scho-

nender, bedeuten aber jeweils immer wiederkehrende Krankenhausaufenthalte. Da die Gesichtsentwicklung bei späteren Operationszeitpunkten weiter fortgeschritten ist, sind häufig die Spätergebnisse befriedigender.

26.11.2 Pflegebedarf einschätzen Die Pflegeprobleme bei einem Kind mit einer Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte können je nach Ausprägung sehr stark differieren. Pflegeprobleme können sein: ● Akzeptanz- und Bindungsprobleme der Eltern aufgrund der ästhetischen Beeinträchtigung sowie infolge belastender, unsensibler Reaktionen der Umwelt ● Schwierigkeiten bei der Ernährung des Kindes (z. B. durch mühsame und zeitaufwendige Still- oder Flaschenmahlzeiten, Luftschlucken) ● Aspirationsgefahr beim Eindringen von Nahrung in Nase und Rachen ● behinderte Atmung aufgrund zurückfallender Zunge kann bei der Spaltbildung mit gleichzeitig unterentwickeltem Unterkiefer (Pierre-Robin-Sequenz) vorkommen ● gesteigerte Anfälligkeit für Infekte des Hals-Nasen-Ohren-Bereiches, besonders für Mittelohrentzündungen mit nachfolgender möglicher Beeinträchtigung des Hörvermögens ● gestörte Kommunikation durch Schwierigkeiten bei der Lautbildung

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a

–––S–––

b

– – HSH – –

c

LA –––––

d

LAHS –––

e

LAHSHAL

Abb. 26.10 Klassifikation der Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte. (Abb. aus: Daratsianos N, Mangold E, Martini M. Orofaziale Spalten. Das interdisziplinäre Behandlungskonzept am Universitätsklinikum Bonn. Zahnmed up2date 2014; 391–424, DOI: 10.1055/s-0033-1357927) a Spalte des weichen Gaumens. b Spalte des harten und weichen Gaumens. c Rechtsseitige Lippen-Kiefer-Spalte. d Rechtsseitige Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte. e Doppelseitige Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte.

5

Pflege von Kindern mit Störungen des Sinnessystems ●



Einschränkungen im Leben durch die Notwendigkeit häufiger Krankenhausaufenthalte, Kontrolluntersuchungen und/oder Therapien Gefahr eines beeinträchtigten Selbstbewusstseins durch ästhetische Veränderung und/oder Sprachschwierigkeiten, Traumatisierung oder negative Erfahrungen durch Krankenhausaufenthalte

26.11.3 Pflegeziele und -maßnahmen Ungestörtes Bonding zwischen Eltern und Kind

26

In den seltensten Fällen ist die Beeinträchtigung durch die Spaltbildung eine Indikation für die sofortige Trennung von Eltern und Kind zum Zweck der Diagnostik und Therapie des Kindes in der Kinderklinik. Wichtiger ist es, die Eltern mit ihrem Kind „ganz normal“ in Kontakt zu bringen, dazu gehören ausgiebiger Körperkontakt im Kreissaal, ggf. erstes Anlegen (ohne Erfolgsdruck!) und ausreichend Zeit zum gegenseitigen Kennenlernen. Das betreuende Personal beobachtet in dieser Zeit (S. 482) stärker als bei Neugeborenen ohne sichtbare Fehlbildung das Allgemeinbefinden, besonders die Atmung des Kindes, da es durch Zurückfallen der Zunge, v. a. bei Pierre-Robin-Sequenz in die Gaumenspalte zu Atemproblemen kommen kann. Bei Bedarf wird das Kind abgesaugt und vorzugsweise in Bauch- oder Seitenlage gebracht, da dann die Zunge nicht in die Spalte zurückfallen kann. Zudem wird die Interaktion der Eltern mit dem Kind beobachtet und unterstützt. Wichtig ist ein liebevoller und ungezwungener Umgang des Personals mit dem Kind, der auch den Eltern die Annäherung an das Kind erleichtert.

Merke

H ●

Unsensible Bemerkungen oder eine unangemessene Wortwahl durch die Verwendung von abwertenden Bezeichnungen wie „Wolfsrachen“ oder „Hasenscharte“ sind unangebracht.

Falls nach dem Kennenlernen eine Verlegung des Kindes in eine Spezialabteilung zur weiteren Diagnostik und Therapie notwendig ist, ist eine Mitverlegung der Mutter anzustreben, um einen Stillwunsch zu unterstützen und die Eltern frühzeitig in notwendigen Pflege- und Beobachtungsmaßnahmen anzuleiten. Bei unproblematischem Start kann die weitere Diagnostik auch ambulant erfolgen

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und das Kind mit seiner Mutter in der Geburtsklinik bleiben.



Physiologische Ernährung Das Stillen und die Muttermilchernährung eines Kindes mit Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte sind anzustreben, da diese nicht nur die Beziehung zwischen Mutter und Kind positiv beeinflussen können, sondern auch geeignete Präventionsmaßnahmen gegen Infektionen, besonders Mittelohrentzündungen, darstellen, die für Kinder mit Spaltbildung ein häufiges Problem sind. ▶ Stillen. Zur Ermöglichung des Stillens (▶ Abb. 26.11) sind folgende Maßnahmen zu beachten: ● Eine hohe Motivation der Mutter und eine fachkompetente und einfühlsame Unterstützung vonseiten des Personals sind notwendig, um auftretenden Problemen mit der nötigen Geduld entgegenzutreten. Ein Erfolgsdruck sollte in jedem Fall vermieden werden. ● Eine Gaumenplatte ist zum Verschluss einer Gaumenspalte empfehlenswert, um die anatomische Trennung von Mund und Nasenhöhlen zu erreichen. ● Die Gaumenplatte allein ermöglicht es dem Kind meist nicht, ein ausreichendes Vakuum aufzubauen, sodass den melkenden Kieferbewegungen des Kindes eine noch größere Rolle zukommt. Da ohne Vakuum aber keine Milch fließt, kann es sein, dass der Milchfluss während des Stillens durch zusätzliche manuelle Stimulation unterstützt werden muss. ● Auch die Verwendung eines Brusternährungssets kann die Stillsituation erleichtern und die Gewöhnung an die Brust vor den korrigierenden Operationen ermöglichen. ● Bei Aspirationstendenz kann eine halbsitzende bis aufrechte Position (sog. „Hoppe-Reiter-Stellung“) des Kindes beim Stillen das Aspirationsrisiko vermindert und die Arbeit des Unterkiefers beim Trinken unterstützen.





Das Abdecken der Lippenspalte mit einem Finger kann einem vermehrten Luftschlucken vorbeugen. Die Atmung des Kindes darf hierdurch nicht behindert werden. Damit vermehrt geschluckte Luft wieder entweichen kann, muss das Kind ausreichend Gelegenheit zum Aufstoßen bekommen. Statt des Schnullers sollte bei zwischenzeitlichem Saugbedürfnis in den ersten Lebenstagen der Finger der Mutter angeboten werden, da das Kind hierdurch besser lernt, die Zunge in die richtige Position zu bringen. Später sollte dem Kind jedoch bei Saugbedürfnis ein kiefergerechter Schnuller angeboten werden, um einer zusätzlichen Kiefer- und Gaumenverformung durch Daumenlutschen vorzubeugen. Die Gaumenplatte verhindert das Auseinanderdriften der Spalthälften, falls das Kind mit der Zunge oder dem Finger am Gaumen spielt. Wichtig zu wissen ist, dass die Nahrungsaufnahme von Kindern mit Spalten i. d. R. deutlich länger dauert als bei Kindern ohne Spaltbildung, unabhängig davon, ob gestillt wird oder ob die Ernährung mittels Flasche erfolgt. Daher kann die Familie eine Pflegestufe beantragen.

▶ Teilweise Brusternährung. Führen die Stillbemühungen dauerhaft nicht zu einer ausreichenden Nahrungsaufnahme durch das Kind (erkennbar an einer physiologischen Gewichtskurve) oder entstehen durch Probleme bei den Stillversuchen Spannungen in der Mutter-Kind-Beziehung, wird empfohlen, abgepumpte Muttermilch jeweils nach einem Stillversuch mit der Flasche oder einer Trinkhilfe nachzufüttern. Durch das Abpumpen der Muttermilch wird das Stillen des Kindes häufig noch nach der operativen Korrektur ermöglicht. ▶ Flaschenernährung. Die Flaschenernährung gelingt mit viel Geduld oft ohne zusätzliche Hilfsmittel. Sollte das Kind zur Aspiration neigen, wird die Flasche in halbsitzender bis aufrechter Position gereicht. Für die Ernährung von Kindern mit deutlichen Schwierigkeiten stehen im Fachhandel spezielle Sauger bereit (▶ Abb. 26.12).

Eltern

Abb. 26.11 Stillen bei Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte. (Abb. mit freundlicher Unterstützung von: U. Giebel)

a ●

Da die Kinder mit Gaumenspalten – auch bei Gebrauch der Gaumenplatte – im Mund keinen Sog aufbauen können, entleeren sie die Milch mit melkenden Mundbewegungen aus dem Sauger. Diese Bewegungen ähneln den Mundbewegungen beim gestillten Kind.

26.11 Pflege bei Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte

Praxistipp Pflege

Z ●

Bei jeder Ernährungsform eines Kindes mit Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte kann es durch die fehlende Trennung zwischen Mund- und Nasenhöhle zum Milchaustritt aus der Nase kommen. Dies ist i. d. R. jedoch ungefährlich. Eine Irritation des Kindes und seiner Schleimhäute durch Absaugen ist bei unauffälliger Atmung unbegründet. Nach den Mahlzeiten sollten die Naseneingänge vorsichtig gereinigt werden.

Korrekter Gebrauch der Gaumenplatte

Abb. 26.12 SpecialNeeds Sauger. Der SpecialNeeds Sauger wurde speziell für Babys entwickelt, die aufgrund einer Erkrankung oder eines Syndroms kein Vakuum erzeugen können. (Abb. von: © Medela AG, Switzerland)

▶ Sondenernährung. Die Sondenernährung ist die einfachste, aber am wenigsten geeignete Form, ein Kind mit LippenKiefer-Gaumen-Spalte zu ernähren. Das Saugbedürfnis des Kindes und das dringend notwendige Training der Mundmuskulatur werden bei dieser Ernährungsform vernachlässigt.

Merke

H ●

Eine Spaltbildung verursacht keine Schluckstörung. Daher ist das routinemäßige Legen einer Magensonde bei Kindern mit Spaltbildung kritisch zu hinterfragen, bevor nicht alle Alternativen ausgeschöpft wurden.

Sollten sich aus dem Ernährungsverhalten des Kindes Hinweise auf eine mögliche Schluckstörung abzeichnen, so ist eine ursächliche zentrale Fehlbildung als Ursache anzunehmen und eine entsprechende Diagnostik einzuleiten. Die Nahrungsgabe wird entsprechend angepasst.

Die Gaumenplatte dient als Mund-NasenTrennplatte bei einer Gaumenspalte (▶ Abb. 26.13). Bei Spaltbildungen ohne Gaumenspalte ist sie nicht notwendig. Die individuell angepasste Kunststoffplatte bietet eine anatomische Trennung von Mund- und Nasenhöhle und erleichtert die Nahrungsaufnahme. Zudem verhindert sie das Spiel der Zunge in der Spalte, die diese sogar noch verbreitern könnte. Das Risiko des Zurückfallens der Zunge bei der Pierre-Robin-Sequenz wird reduziert. Das Kind kann beim Stillen mit der Zunge die Brustwarze gegen die Gaumenplatte pressen. Ein Vakuum in der Mundhöhle beim Saugen ist jedoch auch mit der Gaumenplatte nicht zu erreichen. In manchen Behandlungszentren wird auf den Gebrauch der Gaumenplatte verzichtet und die Kinder werden trotzdem nach den oben beschriebenen Ernährungsrichtlinien ernährt. Häufig werden an der vorderen Fläche der Gaumenplatte Rillen angebracht, die das Training der Zunge unterstützen. Wird der Verschluss der Kiefer- und Gaumenspalte erst zu einem späteren Zeitpunkt vorgenommen, lenkt die Gaumenplatte das Wachstum der Kieferknochen und unterstützt die Sprachentwicklung. Eine in den ersten Lebenstagen eingesetzte Platte wird i. d. R. von den Kindern gut toleriert. Nach den ersten Tagen wird eine Kontrolle vom behandelnden Kieferchirurgen vorgenommen und die Platte nochmals passgenau zurechtgeschliffen. Nach der Eingewöhnungsphase kann eine leichte Fixierung mit sparsam eingesetzter Haftcreme, Haftpulver oder Haftgel sinnvoll sein. Die Platte wird 2-mal täglich mit einer weichen Zahnbürste unter fließendem Wasser gereinigt. In der Klinik kann ggf. der Einsatz von speziellen Wasserfiltern bzw. die Reinigung der Platte mit Aqua dest. empfohlen werden.

Abb. 26.13 Mund-Nasen-Trennplatte. (Abb. mit freundlicher Unterstützung von: U. Giebel)

Praxistipp Pflege

Z ●

Vor dem Wiedereinsetzen der Platte wird die Mundschleimhaut gewissenhaft, aber vorsichtig auf mögliche Druckstellen, entzündliche Veränderungen, Blutungen oder Beläge inspiziert. Auffälligkeiten sind dem behandelnden Arzt mitzuteilen.

Wenn Kinder nach einer Eingewöhnungsphase die Platte verschmähen und dieses Hilfsmittel plötzlich ablehnen, liegt möglicherweise ein Problem mit der Mundschleimhaut oder der Passform der Platte vor. Bis zur operativen Korrektur muss die Platte regelmäßig dem Kieferwachstum des Kindes angepasst werden. Die Kontrollen erfolgen einmal monatlich, bei Auffälligkeiten auch häufiger.

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Intakte Mund- und Nasenschleimhaut Neben dem korrekten Umgang mit der Gaumenplatte ist eine sorgfältige Mund-, Lippen- und Nasenpflege (S. 313) bei Kindern mit Spaltbildung besonders wichtig, da aufgrund der Fehlbildung ein erhöhtes Risiko zur Austrocknung der Schleimhäute mit nachfolgenden Erosionen besteht. Ein angenehmes, nicht zu trockenes Raumklima, ausreichende Flüssigkeitszufuhr, Befeuchten der Mundschleimhaut mit Muttermilch und der Nasenschleimhaut mit Meersalz- oder Kochsalznasentropfen bei Bedarf sowie der Verzicht auf Manipulationen, wie unnötiges Absaugen,

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Pflege von Kindern mit Störungen des Sinnessystems unterstützen die normale Funktion der Schleimhäute. Die Lippen sowie die perioro-nasale Haut werden regelmäßig sorgfältig gereinigt und bei Bedarf mit einer Fett- oder Panthenolcreme gepflegt, da sie auch unter Austrocknung oder Mazerationen durch verstärkten Speichelaustritt leiden. Die Lippenpflege dient auch dazu, das Gewebe vor dem Verschluss der Lippenspalte geschmeidig zu halten, um optimale Bedingungen für die Operation zu schaffen.

Sicherstellen eines guten Operationsergebnisses Ergänzend zu den im Kap. Perioperative Pflege (S. 830) genannten allgemeinen prä- und postoperativen Pflegeprinzipien gelten nach der operativen Korrektur von Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten je nach Operationsmodus der einzelnen Behandlungszentren unterschiedliche Empfehlungen. Die Anordnungen der Operateure und die klinikinternen Richtlinien sind hierbei zu beachten.

26

▶ Atmung. Durch die veränderten anatomischen Verhältnisse kann das Kind postoperativ Atemschwierigkeiten bekommen. Daher ist die Atmung intensiv zu beobachten und bei Auffälligkeiten der Arzt zu informieren. Leichte Auffälligkeiten lassen sich durch Kontaktatmung und bei größeren Kindern durch kindgemäße Atemübungen beheben (S. 251). Eine Positionierung in Seitenlage gewährleistet, dass das Kind vermehrt gebildetes Sekret leichter entleeren kann. Das Absaugen des ggf. vermehrt gebildeten Sekretes sollte nach Möglichkeit vermieden werden, da die Verletzungsgefahr des Operationsgebietes hoch ist. ▶ Wundheilung. Das Operationsgebiet ist auf Komplikationen, wie Wunddehiszenz, Infektionen, Blutungen, Gewebsnekrosen, Fistelbildungen oder überschießendes Granulationsgewebe, zu beobachten, da der Operationserfolg nicht nur an funktionalen, sondern auch an ästhetischen Gesichtspunkten orientiert ist.

Merke

H ●

Zu den Zielen der postoperativen Pflege gehört die Gewährleistung eines bestmöglichen optischen Operationsergebnisses.

Um die Beobachtung zu gewährleisten, wird auf das Anbringen z. B. von Pflastern nach dem Lippenverschluss häufig verzichtet. Veränderungen und Auffälligkei-

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ten werden sofort dem behandelnden Arzt mitgeteilt. In manchen Zentren wird die Wundheilung durch vorsichtiges Auftragen von Panthenol- oder anderen Pflegecremes auf ärztliche Anordnung beim Lippenverschluss sowie Mundpflege mit Muttermilch oder pflegenden Substanzen unterstützt, insbesondere in der Phase vor und unmittelbar nach dem Ziehen der Fäden. Andere Zentren verzichten auf jegliche Pflege und Manipulationen an den Wunden vor dem Ziehen der Fäden. Um die Wundheilung nicht zu gefährden, ist sicherzustellen, dass das Kind nicht selbstständig mit den Fingern oder Gegenständen an den Wunden manipuliert. Eine ausreichende Ablenkung und Beobachtung der Kinder durch die anwesenden Bezugspersonen ist daher sehr wichtig. Ist eine kontinuierliche Beobachtung nicht zu gewährleisten, können spezielle Armschienen verhindern, dass das Kind an den Wunden manipuliert, sich aber ansonsten frei bewegen kann. ▶ Ernährung. Die Ernährung des Kindes erfolgt vorsichtig, um das Wundgebiet nicht zu irritieren. Werden operative Korrekturen bei größeren Kindern vorgenommen, wird beim Nahrungsaufbau auf krümelige, scharfkantige, scharfe, säurehaltige und zu heiße Speisen verzichtet. Getränke dürfen nicht aus Strohhalmen getrunken werden. Nach den Mahlzeiten kann der Mund mit Wasser, Kamillenoder Salbeitee gespült werden, um zu verhindern, dass sich Nahrungsreste an den Fäden festsetzen. Eine notwendige Magensonde wird intraoperativ gelegt. Fabrikat und Material werden so gewählt, dass eine Liegedauer während der gesamten Heilungszeit möglich ist und kein Sondenwechsel durchgeführt werden muss. Die Fixierung der Magensonde erfolgt so, dass eine Beeinträchtigung der Wundgebiete ausgeschlossen ist. Bei einer versehentlichen Dislokation muss der Operateur gerufen werden, da das Legen der Magensonde eine erhebliche Verletzungsgefahr am Operationsgebiet bedeutet. ▶ Schlafen. Es wird empfohlen, das Kind in der postoperativen Phase insbesondere bei Lippenkorrekturen nicht in Bauchlage zu bringen und keinen Schnuller zu verwenden, um eine mechanische Reizung des Wundgebietes auszuschließen. Es ist sinnvoll, die veränderten Schlafbedingungen rechtzeitig vor der Operation einzuüben. Aus hygienischen Gründen sollten Schmusedecken und Schmusetiere, die unmittelbar mit dem Gesicht des Kindes in Kontakt kommen, vor der Operation gründlich gereinigt werden. ▶ Sich beschäftigen. Zu starke Aktivität und Unruhe des Kindes sollten durch ru-

hige, altersgemäße Beschäftigung durch die Bezugspersonen unterbunden werden. Bei Säuglingen sollten längere Schreiphasen vermieden werden. In Ausnahmefällen wird eine leichte Sedierung ärztlich angeordnet. ▶ Tragen der Trennplatte. Je nach erfolgter Operation kann es notwendig sein, dass auch nach den ersten Korrekturen eine Trennplatte weiterhin getragen werden muss. Diese muss dann jedoch neu angepasst werden, da die anatomischen Verhältnisse komplett verändert sind.

Ungestörte Lautbildung, Sprachentwicklung und Hörvermögen Bei allen Spaltbildungen des Gaumens kommt es zu Abweichungen des Stimmklangs („Näseln“) sowie zu Lautbildungsschwierigkeiten besonders der sog. Gutturale („g“, „k“). Die Auswirkungen der Lippenspalten können die Bildung der vorderen Verschlusslaute („b“, „p“) beeinträchtigen und die Kieferspalte wirkt sich insbesondere auf die Lautbildung der Zischlaute („f“, „ß“, „sch“ aus). Eine logopädische Behandlung spätestens im 2. Lebensjahr sowie frühzeitiger funktioneller Verschluss des Gaumens mit der Bildung eines ausreichend langen Velums sind für die ungehinderte Sprachentwicklung eine notwendige Voraussetzung. Eine gute Zusammenarbeit des multiprofessionellen Teams im Behandlungszentrum ist wichtig, um mögliche Störungen frühzeitig zu erkennen.

Merke

H ●

Sollte neben der Lautbildung auch die allgemeine Sprachentwicklung, wie Wortschatz und Satzbau, beeinträchtigt sein, ist eine zusätzliche Hörbehinderung wahrscheinlich.

Die Hörstörungen sind die Folge eines Fehlansatzes der Muskulatur im MundNasen-Rachen-Raum, wodurch die Belüftung des Mittelohres beeinträchtigt werden kann. Es entsteht eine Anfälligkeit für Mittelohrentzündungen und -ergüsse mit der Folge von Schallleitungsdämpfung und Hörbahnreifungsstörung. Daher ist das Hörvermögen von Kindern mit Gaumenspalten ab dem 1. Lebensjahr regelmäßig zu überprüfen. Die Eltern werden dahin gehend angeleitet, wie sie Hörvermögen und Sprachentwicklung beobachten und beurteilen können. Die operative Einlage von Paukendrainagen wird bei der Bildung von Ergüssen

26.13 Pflege eines Kindes mit Soor notwendig, um den Hörstörungen vorzubeugen. In vielen Zentren erfolgt die Einlage der Paukendrainagen bereits prophylaktisch bei den ersten Korrekturoperationen.

Soziale Integration und Rehabilitation Merke

H ●

Die Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte muss keine lebenslange Behinderung für das betroffene Kind bedeuten. Ein gutes Zusammenspiel aller beteiligten Therapeuten und Berufsgruppen ist eine wichtige Voraussetzung für eine intakte ElternKind-Beziehung, ein optimales Operationsergebnis, eine ungestörte Hör- und Sprachentwicklung und damit für ein normales Leben des betroffenen Kindes.

Zu den multiprofessionellen Teams, die die Familien über die ersten Lebensjahre begleiten, gehören folgende Berufsgruppen: Hebammen und Geburtshelfer unterstützen den positiven Erstkontakt der Familien mit ihrem Kind. Gesundheitsund Kinderkrankenpfleger/-innen unterstützen die Eltern-Kind-Beziehung in den ersten Lebenstagen, leiten die Familie bzgl. Pflege und Ernährung ihres Kindes an und übernehmen die prä- und postoperative Pflege und Beobachtung. Bei Stillwunsch kann der Einsatz einer Laktationsberaterin sinnvoll sein. Pädiater der erstversorgenden Klinik übernehmen die erste Aufklärung der Familien und veranlassen die Überweisung in Spezialzentren. Mund-Kiefer-GesichtsChirurgen, HNO-Ärzte und/oder plastische Chirurgen übernehmen operative Korrekturen. Kieferorthopäden oder Zahnärzte passen die Gaumenplatten an und überwachen die Zahnentwicklung, die häufig nicht regelrecht erfolgt. Nach Ausbildung des bleibenden Gebisses werden hier noch abschließende Korrekturen über Zahnspangen oder Operationen notwendig. Eine individuelle Anleitung zur sorgfältigen Zahnpflege schützt vor Karies und Parodontose. Logopäden überwachen und unterstützen Lautbildung und Sprachentwicklung. Sozialarbeiter kümmern sich bei Bedarf um notwendige finanzielle Unterstützungen, einen Behindertenausweis, die Beantragung auf Verlängerung des Mutterschutzes von 8 auf 12 Wochen, den Antrag auf Eingruppierung in einen Pflegegrad, oder anderer Hilfen für die Familien. Sollte es aus ästhetischen oder persönlichen Gründen zu Akzeptanzproblemen aufgrund der Fehlbildung kommen, kann

eine fachliche Unterstützung durch einen Psychologen angezeigt sein. Alle Fachkräfte des behandelnden Spezialzentrums arbeiten idealerweise eng mit den wohnortnahen Therapeuten zusammen, die die Familien begleiten. Ebenso ist ein intensiver Kontakt des „Hauskinderarztes“ zu den Therapeuten sehr wichtig, um bei den üblichen Vorsorgemaßnahmen, Impfungen und Behandlungen von akuten Infektionen die Behandlungspläne der Therapeuten zu berücksichtigen. Die Therapien und häufigen Kontrolluntersuchungen bedeuten natürlich eine starke Beeinträchtigung im Leben der betroffenen Familien. Der Kontakt zu gleichfalls Betroffenen über Selbsthilfegruppen hilft ihnen, mit der Fehlbildung und ihren Folgen besser umgehen zu können. Das Klinikpersonal sollte den Familien mit ausführlichem Informationsmaterial und Kontaktadressen zur Seite stehen.

werden. Viele Sinneserfahrungen über die Haut können sie nur in eingeschränktem Umfang erleben. Oftmals werden diese von Schmerzen, Juckreiz und Spannungsgefühl geprägt. Dieser Aspekt sollte in besonderem Maße bei der Pflege eines Kindes mit einer chronisch verlaufenden Störung der Haut berücksichtigt werden. Die Pflege von Kindern mit Soor, Neurodermitis und Verbrennungen bzw. Verbrühungen wird in diesem Kapitel exemplarisch vorgestellt, da Kinder mit diesen Störungen eine hohe Pflegeintensität und weitergehende Pflegemaßnahmen erfordern, s. Grundlagen der Hautpflege (S. 303).

26.12 Bedeutung

Soor wird durch den Hefepilz Candida albicans (wörtlich übersetzt: „weiße Hefe“) ausgelöst. Dieser Erreger gehört zur normalen Hautflora jedes Menschen. Auf einer intakten Haut findet er nicht die Lebensbedingungen, um sich stark zu vermehren. Bei örtlicher Vorschädigung der Haut oder allgemeiner Abwehrschwäche jedoch kann der Erreger zur Candidose (Soor) führen. Bevorzugt manifestiert er sich im Bereich von Mundhöhle, Speiseröhre, Darmtrakt, Gesäß und Genitalien, jedoch können auch Ösophagus, Kehlkopf, Trachea, Bronchien, Lungengewebe, Augen und Darm betroffen sein.

Jenny Krämer-Eder Die Haut ist das erste Sinnesorgan, das von Geburt an nahezu voll funktionsfähig ist. Für das Neugeborene sind Haut- und Körperkontakt zunächst die wichtigste Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit seinen Eltern und Mitmenschen. Auch in den folgenden Jahren entwickelt sich die Beziehung zwischen dem Kind und seinen Eltern besonders über einen intensiven Körper- und Hautkontakt. Kinder mit Störungen der Haut können an einer Beeinträchtigung dieser Art der Kommunikation leiden. Es besteht die Gefahr, dass das Kind und seine Eltern in den Möglichkeiten des körperlichen Austausches über die Haut Einschränkungen erleben, was sich negativ auf die Eltern-Kind-Bindung auswirken kann. In besonderem Maße trifft dies auf Neugeborene und Säuglinge zu, da hier die Eltern-Kind-Bindung noch im Aufbau ist. Kinder mit intakter Haut lernen, über ihre Sinnes- und Körpererfahrung ihre Umwelt zu erfassen und zu begreifen. Sie erproben ihre eigenen Stärken und Grenzen. Aus diesen Erfahrungen entwickelt sich das eigene Körperbild, das wie ein Landkartenverzeichnis im Gedächtnis gespeichert wird. Darauf aufbauend nehmen die Körper- und Hauterfahrungen Einfluss auf die gesamte Entwicklung des Kindes. Die Körperoberfläche eines Kindes ist im Verhältnis zur Körpermasse um ein Vielfaches größer als die eines Erwachsenen. Kinder mit Störungen der Haut sind besonders gefährdet, in ihrer körperlichen und psychischen Entwicklung sowie ihrer Körperwahrnehmung beeinträchtigt zu

26.13 Pflege eines Kindes mit Soor 26.13.1 Ursache und Auswirkung

Begünstigende Faktoren Folgende Faktoren können eine pathologische Vermehrung von Candida albicans begünstigen: ● Feuchtigkeit (z. B. Urin, Nässe oder Schweiß) ● Wärme ● mechanische Reizungen ● bereits bestehende Infektionen mit einem anderen Erreger ● antibiotische, kortikoide oder zytostatische Therapien ● unzureichende hygienische Maßnahmen (z. B. mit Candida albicans verunreinigte Schnuller oder Milchflaschen) ● herabgesetzte Immunabwehr (z. B. AIDS, Chemotherapie) ● Einnahme von östrogenhaltigen Hormonen ● diabetische Stoffwechsellage ● Schmierinfektion von Mensch zu Mensch

26

9

Pflege von Kindern mit Störungen des Sinnessystems

Praxistipp Pflege

Z ●

Diese Maßnahmen können einer Soorinfektion vorbeugen: ● Stärkung des Immunsystems des Kindes durch eine ausgewogene, vitamin- und mineralstoffreiche Ernährung ● Unterstützung der physiologischen Darmflora durch probiotische Milchprodukte und Einnahme von Milchzucker ● Erhaltung einer intakten geschmeidigen Hautoberfläche durch eine regelmäßige Hautpflege mit feuchtigkeitsspendenden Produkten nach der Hautreinigung ● Schutz vor länger einwirkender Feuchtigkeit auf der Haut (z. B. durch Urin, Schweiß) ● besonders sorgfältiges Abtrocknen von Hautfalten (z. B. Leiste, Achselhöhlen, Gesäß, zwischen den Zehen) ● Tragen von atmungsaktiver und luftdurchlässiger Kleidung (z. B. Baumwolle) ● Asthmatiker, die regelmäßig ein kortikoides Medikament inhalieren, sollten nach jeder Inhalation eine gründliche Mundspülung mit Wasser vornehmen

▶ Befall des Darms. Ist der Darm mit Candida albicans befallen, führt dies meist zu einem geblähten Bauch, Bauchschmerzen und es gehen vermehrt Winde ab. Die Stuhlfrequenz und auch die Konsistenz können gestört sein. So kann es zu dünnen oder schaumigen, sauer riechenden Stühlen kommen, ebenso ist eine Verstopfung möglich. ▶ Soordermatitis. Sie betrifft bevorzugt die Haut im Anogenitalbereich, aber auch andere Bereiche der Haut wie Hautfalten in der Achsel- und Leistenregion können betroffen sein. Ständig feuchte Hautareale, Wärme und mechanische Reize können zu Hautdefekten führen, auf welchen der Sprosspilz sein bevorzugtes Milieu zur Vermehrung findet. Auch eine trockene, rissige Hautoberfläche begünstigt seine Verbreitung. Auf rotem Grund sieht man große, entzündlich gerötete, scharf begrenzte flächenhafte Erosionen, die an ihrer Randzone oft eine Schuppenkrause tragen. Sie können mit roten oder weißen Stippchen belegt sein.

Merke

H ●

Eine seltene Komplikation der Soorinfektion ist die Soorsepsis, eine generalisierte Candidiasis mit Fieber, Endokarditis und Meningitis.

Symptome

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▶ Mundsoor. Man sieht v. a. auf Zunge, Gaumen und Wangenschleimhaut weißliche Stippchen, die fleckförmig verstreut sind. Die Mundhöhle sieht wie mit Mehl bestreut aus. Die Soorbeläge haften gut und lassen sich im Gegensatz zu Milchresten nicht abwischen. Streift man sie ab, kommt es auf der Schleimhaut zu punktförmigen Blutungen. Unterhalb und seitlich der Beläge ist die Schleimhaut entzündlich gerötet (▶ Abb. 26.14).

Abb. 26.14 Mundsoor. Zunge mit kalkspritzerartigen, weißen, kaum abstreifbaren „Stippchen“ und Plaques. (Abb. aus: Baumann T. Mund und Mundhöhle. In: Baumann T, Hrsg. Atlas der Entwicklungsdiagnostik. 4., unveränderte Auflage. Thieme; 2015)

550

26.13.2 Pflegebedarf einschätzen Folgende Pflegeprobleme können bei einem Kind mit Soor auftreten: ● Schmerzen im betroffenen Haut- und Schleimhautbereich ● gestörtes Wohlbefinden durch wunden und juckenden Hautzustand ● Schmerzen bei der Nahrungsaufnahme und dadurch bedingte Gefahr von Gewichtsabnahme und Vitalstoffmangel ● Unbehagen oder gar Bauchschmerzen bei Soorenteritis infolge von Völlegefühl, Blähungen und Obstipationsneigung ● Gefahr der Übertragung auf Kontaktpersonen ● Gefahr der Ausbreitung auf weitere Körperbereiche ● Gefahr der Superinfektion betroffener Körperregionen

26.13.3 Pflegeziele und -maßnahmen Intakte Mundschleimhaut und Schmerzlinderung Die Wiederherstellung einer reizlosen Mundschleimhaut ist Voraussetzung dafür, dass das betroffene Kind seine Nahrung schmerzfrei und mit Genuss zu sich nehmen kann. Nach den Mahlzeiten wird die Mundschleimhaut nach ärztlicher Anordnung mit einem Antimykotikum (z. B. Nystatin) behandelt. Diese Behandlung muss unbedingt über die Zeit der sichtbaren Symptome hinaus erfolgen, um eine mögliche Reinfektion zu vermeiden. Auch die Eltern sollten diesbezüglich beraten werden. Bei gestillten Säuglingen ist darauf zu achten, dass die Mutter die Brustwarze vor und nach der Stillmahlzeit mit dem Antimykotikum einreibt. Im akuten schmerzenden Stadium kann dem Kind ein lokales Anästhetikum, das vom Arzt verordnet wird, etwa 20 Minuten vor der Mahlzeit auf die entzündeten Schleimhautareale aufgetragen werden und zu einer kurzzeitigen Schmerzfreiheit verhelfen. Dies erleichtert ebenso die altersgemäße Mundhygiene. Für Säuglinge und Kleinkinder, die aus der Flasche trinken, sollte zu jeder Mahlzeit ein frisch ausgekochter Sauger oder steriler Einwegsauger verwendet werden. Bei sehr ausgeprägten Verläufen haben sich Pinselungen der weißlichen Beläge mit einer gerbenden und desinfizierenden Lösung, nach ärztlicher Anordnung, bewährt.

Merke

H ●

Um eine mögliche Reinfektion zu vermeiden, sollte die Zahnbürste jeweils zu Beginn und Ende der Therapie ausgetauscht werden.

Gewährleistung des Energieund Nährstoffbedarfs Kinder mit Schmerzen im Mund verweigern häufig ihre Mahlzeiten. Ein ausgeprägter Mundsoor erschwert in jedem Alter die Nahrungsaufnahme. Um den Energie- und Nährstoffbedarf des sich im Wachstum befindlichen Kindes dennoch zu decken, empfiehlt es sich, ihm seine altersgemäße Wunschkost in vielen kleinen Mahlzeiten anzubieten. Häufig werden gekühlte breiige, passierte oder flüssige Nahrungsmittel (z. B. Joghurt, Kartoffelbrei, Pudding) von den Kindern bevorzugt.

26.13 Pflege eines Kindes mit Soor Der Durst sollte mit stillem oder kohlensäurearmem Wasser sowie ungesüßten Tees gelöscht werden. Säfte sind nicht empfehlenswert, da sie aufgrund ihres Säuregehalts weitere Schmerzen hervorrufen können. Ebenso ist eine Reizung des Anogenitalbereichs möglich. Vorsicht ist aus demselben Grund bei sehr säurehaltigen Früchten (z. B. Ananas, Orangen, Zitronen) geboten.

Praxistipp Pflege

Z ●

Auf zuckerhaltige Lebensmittel sollte weitestgehend verzichtet werden, da diese das Wachstum der Hefepilze fördern. Dies gilt auch für alternative Süßungsmittel wie Honig, Rübensirup oder Rohrzucker und Fruktose.

rien wie Laktobazillen. Diese sind natürliche Gegenspieler der Hefepilze und wirken so der Ausweitung von Candida albicans entgegen. Bei einer bestehenden Laktoseintoleranz ist von einer Einnahme abzusehen. ▶ Ballaststoffreiche Kost. Sie regt die Durchblutung des Darmes an und unterstützt somit die Immunzellen in der Darmschleimhaut. Ballaststoffe reinigen die Darmschleimhaut mechanisch und binden die freiwerdenden Toxine der absterbenden Hefepilze und verbessern deren Ausscheidung mit dem Stuhl. Reichlich enthalten sind sie z. B. in allen Vollkorngetreiden, Hülsenfrüchten, Wurzelgemüse (z. B. Karotten), Äpfel, Beerenobst und Kartoffeln.

Intakte Haut Physiologische Verdauung Ziele bei der Pflege eines Kindes mit Hefepilzbefall des Darmes sind Vermeidung bzw. Linderung von Blähungen und Bauchschmerzen sowie das Erreichen einer physiologischen Darmtätigkeit mit geregelter Stuhlentleerung. Bauchmassagen mit leicht angewärmtem Basisöl (z. B. Mandelöl) fördern den Abgang der Winde und das Wohlbefinden des Kindes. Ebenso lindernd wirkt sich die Anwendung von warmen Bauchwickeln aus. Der Arzt verordnet eine antimykotische Therapie. Auf regelmäßige Einnahme der Medikamente nach der Mahlzeit ist zu achten. Säuglinge erhalten Muttermilch oder, falls sie nicht gestillt werden, ihre gewohnte Säuglingsnahrung. Seit einiger Zeit bieten die Hersteller von Säuglingsmilch auch probiotische Spezialprodukte zur Stabilisierung der Darmflora an. Die Umstellung eines Säuglings mit Verdauungsproblemen auf ein solches Produkt sollte zuvor mit dem behandelnden Kinderarzt abgesprochen werden. ▶ Wiederaufbau einer physiologischen Darmflora. Die Darmflora kann ab dem Kleinkindalter durch den Verzehr folgender Lebensmittel günstig beeinflusst werden: sämtliche ungezuckerte Milchprodukte mit lebenden probiotischen Kulturen, frisches Gemüse, milchsaures Gemüse (Sauerkraut), Ballaststoffflocken, alle Getreide und Produkte aus dem ganzen Korn (Vollkorn), Brote aus Sauerteig, Sojaprodukte, Kartoffeln, klare Suppen, Nüsse und Samen, Fleisch von Lamm, Rind und Schwein sowie Geflügel, kalt gepresste Pflanzenöle, Butter, alle Meeres- und Süßwasserfische. Die zusätzliche Einnahme von Laktose (Milchzucker) fördert das Wachstum physiologischer Darmbakte-

Häufig tritt eine Soordermatitis bei Säuglingen auf, die zugleich Mundsoor haben. Aus diesem Grund sollte neben der Mundhöhle auch der Anogenitalbereich regelmäßig inspiziert werden. Auch eine Windeldermatitis oder eine antibiotische Behandlung können einen Soorbefall der Haut begünstigen. Das „Austrocknen“ des feuchtwarmen Hautmilieus trägt entscheidend zu einer erfolgreichen Behandlung bei. Zu empfehlen ist die Verwendung von Einmalwindeln mit Superabsorbern. Ein häufiges Wechseln der Windeln, v. a. direkt nach dem Stuhlgang, verhindert zusätzliche Hautreizungen. Die Reinigung des Anogenitalbereichs erfolgt behutsam tupfend mit lauwarmem Wasser. Bestehende Cremereste an der Haut sollten belassen werden. Anschließend wird die Haut vorsichtig mit einem weichen Tuch oder Kompressen trocken getupft. Wichtig ist es, eine mechanische Reizung der Haut durch Rubbeln oder Wischen zu vermeiden. Die Reinigung mit Ölen empfiehlt sich bei Soorbefall nicht. Bei nässenden oder gar blutigen Hautläsionen (▶ Abb. 26.15) wirken ärztlich angeordnete Bäder, Umschläge oder lokale Pinselungen mit einem gerbenden Wirkstoff (z. B. Eichenrinde) desinfizierend und austrocknend. Die Einwirkdauer beträgt etwa 10 Min. Anschließend trägt die „offene“ Pflege des Anogenitalbereichs dazu bei, dass Luft an die Haut gelangt. Hierunter versteht man, das Kind mit nacktem Gesäß strampeln zu lassen, um ein Abtrocknen der nässenden Hautareale zu ermöglichen. Zu beachten ist hierbei, dass die Umgebungstemperatur ausreichend warm (evtl. Wärmestrahler benutzen) und die Unterlage wasserunempfindlich und -abweisend ist. Die Trocknungsphase beträgt etwa 30 Min. Die Kleidung sollte leicht und atmungsaktiv sein (z. B. Baumwolle, Viskose). Zur Hautpflege kommt eine ärztlich

Abb. 26.15 Windeldermatitis. Schwere Windeldermatitis Grad 3. (Abb. aus: Huber I, Kozon V, Haiden N. Windeldermatitis/ Inkontinenz-assoziierte Dermatitis – Versorgung. UKKJ-SOP, AKH Wien; 2015. Foto: I. Huber)

angeordnete Creme mit antimykotischer Wirkung (z. B. Nystatin) zur Anwendung. Diese sollte nur dünn und einige Tage über das Bestehen der sichtbaren Hautläsionen hinaus aufgetragen werden.

Merke

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Dick aufgetragene Cremes/Salben vermindern die Saugkapazität der Windel!

Im Wechsel mit einem Antimykotikum verhilft eine zink- oder panthenolhaltige Creme/Salbe zu einem beschleunigten Heilungsverlauf. Intakte Hautbrücken zwischen den Hautläsionen benötigen ebenso die Pflege mit einer Hautschutzcreme. Umschläge mit Calendula-Tinktur können den Hautzustand bei bereits abklingender Hefepilzinfektion stabilisieren.

Schutz vor Infektionen

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Hygienegrundsätze entnehmen Sie bitte dem Kapitel Pflegemaßnahmen (S. 433). Das Tragen von Schutzkitteln und hygienische Händedesinfektionen minimieren eine weitere Übertragung von Candida albicans auf andere Körperregionen oder Menschen. Ebenso ist das Tragen von Einmalhandschuhen während der Pflege der betroffenen Haut- und Schleimhautregionen ratsam. Eine Aufklärung von Eltern und Kindern hierüber ist notwendig. Gegenstände wie Sauger, Schnuller, Tassen, Gläser, Teller, Besteck oder Spielsachen, mit denen das Kind mit dem Mund in Berührung gekommen ist, müssen nach Gebrauch gereinigt und desinfiziert werden, um Reinfektionen zu vermeiden. Die infizierte Person sollte ihre eigenen Handtücher oder Textilien benutzen. Diese sollten nach Gebrauch bei mind. 60 °C gewaschen werden.

1

Pflege von Kindern mit Störungen des Sinnessystems

Auslösende Faktoren

26.14 Pflege eines Kindes mit Neurodermitis 26.14.1 Ursache und Auswirkung Definition

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Neurodermitis ist eine chronisch-rezidivierende, nicht ansteckende Entzündung der Haut.

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Die Neurodermitis zählt zum atopischen Formenkreis wie auch Heuschnupfen oder allergisches Asthma. Atopisch bedeutet hier „am falschen Ort“ und beschreibt die überschießende, fehlgeleitete Reaktion des eigenen Immunsystems auf einen Reiz. Das Immunsystem schüttet Überträgersubstanzen aus, die die entzündlichen Reaktionen an der Haut hervorrufen. Außerdem besteht eine Beeinträchtigung des Wasserbindungsvermögens der Haut. Die Erkrankung ist v. a. durch genetische Veranlagung („Disposition“) festgelegt. Sie ist nicht heilbar und verläuft in Schüben von unterschiedlicher Dauer und Schwere. Der Krankheitsverlauf lässt sich jedoch durch pflegerische und therapeutische Maßnahmen positiv beeinflussen, sodass bei vielen Kindern häufig eine langfristige Beschwerdefreiheit erreicht werden kann. In Deutschland ist die Neurodermitis die häufigste chronische Erkrankung im Kindesalter. 13 % aller Kinder leiden zumindest zeitweilig darunter. 23 % der Säuglinge und Kleinkinder sowie 8 % der Schulkinder sind von atopischen Ekzemen betroffen. Im Erwachsenenalter leiden 2–4 % der Betroffenen an akuten Symptomen. Die genetische Veranlagung zur Neurodermitis bleibt jedoch ein Leben lang bestehen.

aktive und passive Exposition gegenüber Tabakrauch

Neurodermitis ist eine multifaktorielle Erkrankung. Zu der genetischen Veranlagung kommen meist mehrere Einflussfaktoren hinzu, die eine Neurodermitis auslösen. Es gibt nicht „das“ Nahrungsmittel oder „das“ Umweltallergen, das die Symptome hervorruft. Die Auslöser sind je nach Patient ganz individuell (▶ Abb. 26.16). Anhand dieses breiten Spektrums an potenziellen Auslösern wird deutlich, dass es schwierig und mitunter langwierig ist, die genauen Ursachen herauszufinden.

Praxistipp Pflege

Z ●

Hilfreich ist die tägliche Dokumentation der Lebensgewohnheiten und des Hautzustandes in einem „Neurodermitikertagebuch“, um den möglichen Auslösern („Triggerfaktoren“) auf die Schliche zu kommen. Vordrucke erhält man bei den Krankenkassen und beim Deutschen Allergie- und Asthmabund e. V.

Untersuchungen konnte kein Zusammenhang zwischen einer Impfung und einem Neurodermitisschub festgestellt werden. Die Ständige Impfkommission (STIKO) am Robert Koch-Institut rät, alle empfohlenen Impfungen auch bei Kindern mit Neurodermitis durchzuführen. Die Impfstoffe sind inzwischen alle konservierungsmittelfrei. Aufgrund der erhöhten Infektionsgefahr bei Kratzwunden, muss besonders sorgfältig auf einen bestehenden Impfschutz gegen Tetanus und Hepatitis B geachtet werden. Empfehlenswert ist zusätzlich die Impfung gegen Varizellen, da diese Infektionen bei Neurodermitikern extrem schwer und komplikationsreich verlaufen können. Ein Verschieben der Impfungen kann aber nötig werden, wenn sich das Kind gerade in einem akuten, schweren Schub befindet. Hier gilt jedoch: Verschoben ist nicht aufgehoben! Die Impfungen sollten in diesem Fall zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden.

Symptome Das Vermeiden des Kontaktes mit den „Verursachern“ ist eine grundlegende Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie. Neben der genauen Beobachtung des Kindes durch Eltern, Pflegefachkräfte und Ärzte sind für eine gründliche Diagnostik sehr viel Zeit und Geduld notwendig. Die Behandlung der Neurodermitis setzt sich wie ein Puzzle aus vielen Teilen zusammen. Häufig dauert sie sehr lange, manchmal begleitet sie ein Kind ein ganzes Leben. Für das Kind und seine Familie bringt dies besondere Belastungen, Einschränkungen und Herausforderungen im Alltag mit sich. ▶ Impfen bei Neurodermitis. Auf einen ausreichenden, lückenlosen Impfschutz sollte auch bei Kindern mit Neurodermitis geachtet werden. In wissenschaftlichen

Hautkontaktstoffe, z. B. kratzende Kleidung, Duftstoffe, ungeeignete Hautpflegemilch

Folgende Symptome können beobachtet werden: ● quälender Juckreiz (insbesondere beim Schwitzen, bei Stress und nachts) ● verminderte Hautfettbildung und Feuchtigkeitsbindung, überempfindlich reagierende Haut ● Neigung zu trockener Haut, die zu Schuppung, Verdickung und Vergröberung neigt; bei akutem Schub: Verschlechterung des Hautzustandes hinsichtlich Rötung, Schwellung und möglicherweise nässenden Hautarealen ● chronisch-rezidivierender Verlauf der Erkrankung in Schüben ● Neigung zu Hautentzündungen (besonders häufig sind Superinfektionen mit Staphylokokken und Candida albicans) ● Kratzspuren auf der Haut ● verminderte Schweißbildung der Haut

Exposition gegenüber Umweltbelastungen wie Autoabgase, Innenraumschadstoffe, Schimmelpilze

Provokationsfaktoren

Klima- und Wettereinflüsse

physische Faktoren

Abb. 26.16 Provokationsfaktoren. Mögliche Faktoren, die eine Neurodermitis auslösen können.

552

Ernährung: z. B. frühzeitiges Abstillen, Allergie gegen Nahrungsmittel, künstliche Nahrungszusätze

26.14 Pflege eines Kindes mit Neurodermitis ●

● ● ●





Milchschorf als Säugling: gelbliche Krusten auf dem behaarten Kopf (Milchschorf hat nichts mit einer Milchallergie zu tun; der Name entstand, weil die Krusten an Milch erinnern, die beim Überkochen angetrocknet ist) doppelte Unterlidfalte eher blass-fahles Hautkolorit Blasswerden der Haut bei mechanischer Reizung: „weißer Dermographismus“, auch paradoxe Hautreaktion genannt, sowie geringere Bräunung der betroffenen Hautstellen Leckekzem in den Mundwinkeln bei Nahrungsmittelunverträglichkeiten Ohrläppcheneinrisse

Merke

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Die Gefahr einer Superinfektion der Haut mit Erregern wie Staphylococcus aureus, Herpes-simplex-Virus und den Hefepizen Malassezia und Candida albicans ist bei Kindern mit atopischen Ekzem aufgrund der herabgesetzten Hautschutzbarriere und Kratzwunden stark erhöht.

▶ Lokalisation der Hautsymptome. Sie unterliegt altersgemäßen Veränderungen: Beim Säugling beginnt die Neurodermitis häufig mit dem sog. „Milchschorf“ (S. 317) auf der Kopfhaut und/oder den Wangen, hinter den Ohren, an der Stirn oder auch am Hals (▶ Abb. 26.17). Danach breitet sie sich auf der Streckseite von Armen und Beinen aus. Ab dem späteren Kleinkindalter finden wir die Ekzeme bevorzugt in der typischen Beugelokalisation wie Kniekehlen, Ellenbeugen, Handgelenken, Fußgelenken (▶ Abb. 26.18). Sie können aber prinzipiell auch an jeder anderen Stelle der Hautoberfläche lokalisiert sein (z. B. Schulter, Lid, Nacken). Im Schulalter bessert sich die Symptomatik bei vielen Kindern spontan. Rückfälle sind jedoch in jedem Alter möglich. Die Neigung zu einer empfindlichen, feuchtigkeitsarmen Haut bleibt ein Leben lang bestehen. ▶ Juckreiz. Das zentrale Symptom ist der Juckreiz, der auch ohne äußerlich erkennbare Veränderungen der Haut spürbar sein kann. Er ist ein Alarmsignal der Haut auf eine veränderte äußere oder innere Situation und kennzeichnet meist den Beginn eines Neurodermitisschubes. Der Juckreiz kann lokalisiert oder generalisiert auftreten und löst einen Kratzimpuls aus. Dies ist die natürliche Reaktion des Körpers auf diesen Reiz. Der Kreislauf von Jucken und Kratzen wird auch „Juck-KratzZirkel“ genannt (▶ Abb. 26.19). Infolge der Hauttrockenheit werden durch chemische

oder mechanische Reize juckreizvermittelnde Nervenfasern erregt. Reagiert das Kind mit Kratzen, werden schmerzvermittelnde Nervenfasern innerviert. Dadurch wird die Übertragung des Juckreizes im ZNS gehemmt, gleichzeitig jedoch entzündliche Reaktionen der Haut in Gang gebracht. Histamin und andere Entzündungsmediatoren werden ausgeschüttet. Diese reizen ihrerseits die juckreizvermittelnden Nervenendigungen.

Merke

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Kratzen lindert zwar im ersten Moment den Juckreiz, führt aber gleichzeitig zur Schädigung der Haut und kann sogar erneuten Juckreiz bewirken.

Viele Menschen, die an Neurodermitis leiden, wissen, dass der Juckreiz eine quälende Empfindung unterschiedlicher Stärke ist. Die Art des Kratzens kann massierend, scheuernd oder unkontrolliert und zerstörerisch sein und in regelrechte Juckreizkrisen münden. In dieser Situation geht es dem Betroffenen nur noch darum, dem Juckreiz nachzugeben. Durch häufiges Kratzen sinkt die Juckreizschwelle, d. h., die Haut wird empfindlicher und nimmt den Juckreiz schneller wahr. Bei Neurodermitikern kann das juckreizauslösende Histamin bereits durch Kratzen der Haut ausgeschüttet werden. Heilen die Kratzwunden ab, kann der Heilungsprozess erneut Juckreiz auslösen, der dann wieder eine Kratzattacke einleitet. So kann ein Teufelskreis entstehen, der durch äußere Einflüsse oder auch das Verhalten der Bezugspersonen verstärkt werden kann.

Abb. 26.17 Milchschorf. Atopisches Ekzem im Säuglingsalter. (Abb. aus: Sparla C, Strölin A, Biedermann T. Fall 11 Atopisches Ekzem. In: Kötter I, Sökler M, Strölin A, Hrsg. Hämatologie, Rheumatologie, Dermatologie. 1. Auflage. Stuttgart: 2013)

Abb. 26.18 Neurodermitis. Für Neurodermitis typisches Ekzem an den Armen mit Rötung der Haut, Papeln, Exkoriationen und geringer Lichenifikation an den Handgelenken. (Abb. aus: Stachow R, Küppers-Chinnow M, Scheewe S. Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen mit chronischen Hauterkrankungen. Aktuelle Dermatologie 2017; 43(08/09): 366–379)

26 Provokationsfaktoren (z.B. Allergene, Stress)

Juckreiz Kratzimpuls Kratzschwelle wird herabgesetzt

Verhinderung des Kratzens, Erhöhung der Kratzschwelle

Empfindlichkeit der Haut wird erhöht Kratzen Schädigung der Haut

Abb. 26.19 Juck-Kratz-Zirkel. Der Verlauf der Erkrankung wird in hohem Maße vom Kratzen beeinflusst.

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Pflege von Kindern mit Störungen des Sinnessystems

26.14.3 Pflegeziele und -maßnahmen Mögliche Interventionen

Es gibt jedoch kein allgemeingültiges Patentrezept zur Linderung oder gar Beseitigung des Juckreizes. Die Wirkung der folgenden Vorschläge hängt auch von der Akzeptanz durch das betroffene Kind ab.

Präventionsmaßnahmen

Abb. 26.20 Kratzklötzchen. Ein Kratzklötzchen kann helfen den Juckreiz auszutricksen. Anstatt sich selbst zu kratzen, wird die glatte Oberfläche des Kratzklötzchens gekratzt. (Foto: K. Oborny, Thieme)

Merke

H ●

Die Unterstützung bei der Unterbrechung des Juck-Kratz-Zirkels ist eine zentrale Aufgabe der Pflege!

26.14.2 Pflegebedarf einschätzen

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Bei Kindern mit Neurodermitis können sich folgende Pflegeprobleme ergeben: ● quälender Juckreiz, der das Wohlbefinden stark beeinträchtigt und den Schlaf nachhaltig stört; dadurch können Unkonzentriertheit und Müdigkeit am Tag auftreten ● Spannungsgefühle und Schmerzen der Haut, Beeinträchtigung des Wohlbefindens durch Hauttrockenheit ● erhöhte Infektionsgefahr der Haut bei blutig-nässenden Hautläsionen und durch Kratzen ● Konfrontation des Kindes und seiner Familie mit einer Krankheit, die in Schüben verläuft, häufig chronisch wird und eine Umstellung vieler Lebensgewohnheiten erforderlich macht ● Beeinträchtigung bei der Ausübung der Lebensaktivitäten aufgrund von Diätmaßnahmen und eingeschränkter Lebensführung zur Allergenvermeidung ● mangelndes Verständnis für die Maßnahmen ● Erkrankung wird nicht akzeptiert ● Gefahr eines gestörten Körperbewusstseins bedingt durch die eingeschränkten oder unangenehmen Erfahrungen über die Haut ● Ängste und Unsicherheiten im Umgang mit anderen Menschen aufgrund von Minderwertigkeitsgefühlen in Bezug auf das äußere Erscheinungsbild ● Informationsdefizit der Eltern bzw. des Kindes bezüglich der Gesundheitsstörung

Folgende präventiven Maßnahmen werden bei Risikokindern von Kinder- und Hautärzten nach den neuesten Auswertungen von Studien und Untersuchungen zur Allergieprävention empfohlen (AWMF 2015): ● Empfehlenswert ist das ausschließliche Stillen des Säuglings in den ersten 4 Lebensmonaten. ● Wenn Stillen nicht oder nicht ausreichend möglich ist, ist die Gabe von hydrolysierter Säuglingsnahrung bei Risikokindern bis zum vollendeten 4. Lebensmonat zu empfehlen. ● Eine ausgewogene und nährstoffdeckende Ernährung in der Schwangerschaft und Stillzeit wird empfohlen. Für eine Empfehlung zur Meidung potenter Nahrungsmittelallergene während der Schwangerschaft und Stillzeit gibt es keine gesicherten medizinischen Belege. ● Beikost sollte dem Säugling nicht vor dem vollendeten 4. Lebensmonat angeboten werden. ● Bei der Haustierhaltung gilt es, eher Tiere (ohne Haare) auszuwählen. Von der Haltung von Katzen sollte eher abgesehen werden. ● Aktive und passive Exposition gegenüber Tabakrauch ist zu vermeiden. Dies gilt insbesondere auch in der Schwangerschaft und Stillzeit. ● Es wird empfohlen, die Exposition gegenüber Innenraumluftschadstoffen (z. B. durch flüchtige organische Verbindungen, wie Formaldehyd, wie sie in neuen Möbeln vorkommen können) sowie gegen Autoabgase gering zu halten. ● Ein Innenraumklima, welches Schimmelpilzwachstum begünstigt (hohe Luftfeuchtigkeit, mangelnde Ventilation), sollte vermieden werden. ● Es wird empfohlen, auch Risikokinder nach den STIKO-Empfehlungen zu impfen.

Juckreizlinderung Möglichst frühzeitige Unterbrechung des Kratzens der juckenden Haut ist der erste Schritt, um den Teufelskreis innerhalb des Juckreiz-Kratz-Zirkels zu unterbrechen.

Merke

H ●

Herausfinden, Vermeiden oder Ausschalten der individuellen juckreizauslösenden Faktoren sind unbedingt notwendig.

Ablenkung durch Beschäftigung und Entspannung Durch spielerische Ablenkung können die juckreizauslösenden Signale, die an das Gehirn weitergeleitet werden, verdrängt werden. Juckreiz erzeugt einen starken Bewegungsdrang und motorische Aktivität. Das Kind sollte tagsüber ausreichend Möglichkeiten erhalten, diese auszuleben. Bewegung an der frischen Luft mindert den Juckreiz. Eine regelmäßige Abwechslung zwischen Anspannung (belebende Aktivitäten, Beschäftigung) und Entspannung sorgt im Tagesablauf für den nötigen Ausgleich. Immer wiederkehrende Rituale geben dem Kind Sicherheit und Ruhe, Stress kann vermieden werden. Weitere Tipps zum Thema „Beschäftigung“ siehe unter „Förderung eines positiven Körperbewusstseins“ (S. 558).

Kratzumleitung Eine weitere Strategie zur Juckreizverarbeitung stellt die Umlenkung von Kratzund Bewegungsimpulsen dar. Hierbei können alternative Stimulationen einen wirksamen Gegenreiz setzen.

Praxistipp Pflege

Z ●

Positive Erfahrungen wurden mit „Kratzklötzchen“ gemacht, die aus Holz und Waschleder gebastelt werden können. Verspürt das Kind Juckreiz, kann es darauf hingewiesen werden, sein Kratzklötzchen zu benutzen (▶ Abb. 26.20).

Der Kratzimpuls wird dadurch umgeleitet und der Juckreiz lässt nach. Das bekannte Bewegungsmuster reicht oft aus, um dem Gehirn zu signalisieren, dass etwas gegen das Jucken unternommen wird. Auf diese Weise kann es seinem Impuls zu kratzen nachgehen, ohne seine Haut nachhaltiger zu schädigen oder ermahnt zu werden. Ab dem Kleinkindalter können die Kinder auch angeleitet werden, über die juckenden Hautpartien mit der flachen Hand zu massieren oder zu streicheln. Die Fingernägel sollten stets kurz gehalten und rund gefeilt werden.

Medikamentöse und physikalische Maßnahmen Kälte bremst Entzündungsvorgänge und überdeckt die Empfindung des Juckreizes. Ein direkt juckreizlindernder Faktor ist

26.14 Pflege eines Kindes mit Neurodermitis örtliches Kühlen. Es kann trockene Kälte (z. B. Kühlpack, kalter Fön, Ventilator, kühle Außentemperatur) oder feuchte Kälte (z. B. Kühlsprays mit Thermalwasser, Kompressen mit Schwarztee oder NaCl 0,9 % getränkt, Spülungen/Dusche/Bad mit kühlem Wasser) zur Anwendung kommen. Um eine Auskühlung bei Säuglingen zu vermeiden, ist es ratsam, die örtlich kühlenden Maßnahmen auf kleine Körperregionen zu beschränken und die Dauer der Anwendung auf maximal 5 Min. zu begrenzen. Anschließend sollte eine Temperaturkontrolle erfolgen. Medizinische Kühlsalben und Schüttelmixturen wirken dem Juckreiz entgegen. Polidocanol 3–5 % führt als Lokalanästhetikum der Haut zu einer Reduzierung des Juckreizes bei allen Schweregraden des atopischen Ekzems und kann nach ärztlicher Anordnung intermittierend angewandt werden. Die Raumtemperatur sollte 20 °C nicht überschreiten. In schweren Juckreizkrisen kann die Einnahme von Antihistaminika nach ärztlicher Anordnung hilfreich sein. Da diese Medikamente müde machen können, empfiehlt es sich, sie abends zu verabreichen.

Praxistipp Pflege

Z ●

Die Aufbewahrung der Basistherapeutika an einem kühlen Ort (z. B. dem Kühlschrank) und das Auftragen der gekühlten Pflegepräparate auf die Haut haben einen juckreizlindernden Effekt. Bewährt haben sich zudem fett-feuchte Verbände, welche gleichzeitig kühlend und fettspendend wirken. Diese können über mehrere Stunden auf der Haut verbleiben.

unbedingt gewaschen werden. Nach dem Waschen empfiehlt es sich, die Wäsche gründlich zu spülen, evtl. mit einem Schuss Essig ins letzte Spülwasser zur Neutralisierung des basischen Waschmittels (außerdem wird die Wäsche so auch ohne Weichspüler weicher). Das Waschmittel (z. B. „Öko-Baukasten-System“) sollte auf seine Verträglichkeit hin getestet werden und möglichst arm an Zusatzstoffen (z. B. Duftstoffen) sein. Weichspüler sollten auf ihre Verträglichkeit hin vorsichtig getestet werden. Für Säuglinge und Kleinkinder wird im Handel ein spezieller Neurodermitisoverall mit integrierten Fäustlingen angeboten. Eine Studie belegt die Wirksamkeit von silberbeschichteten Textilien bei entzündlicher Haut. Diese reduzieren nachweislich Erreger, wie Staphylococcus aureus und Candida albicans.

Naturbelassene Ernährung Das Zubereiten selbst gekochter Mahlzeiten aus möglichst naturbelassenen Nahrungsmitteln ohne Zusatzstoffe wirkt sich günstig auf das Wohlbefinden aus. Fertigprodukte enthalten meist viele unnötige Zusatzstoffe. Farb- und Konservierungsstoffe sowie Geschmacksverstärker wie Glutamat erhöhen den Juckreiz. Zu stark oder scharf gewürzte Mahlzeiten kurbeln die Hautdurchblutung an und können empfindliche Haut reizen. Zuckerhaltige Lebens- und Genussmittel sollten nur in geringen Mengen angeboten werden. Stark säurehaltige Zitrusfrüchte können über den Schweiß ebenso eine Hautreizung verursachen. Reichlich Wasser zu trinken verbessert den Feuchtigkeitsgehalt der Haut und wirkt dem Juckreiz entgegen.

Verhalten beim Kratzen Atmungsaktive und reizarme Kleidung Wärmestau lässt sich mit luftiger, leichter und schadstoffarmer Baumwollkleidung vermeiden. Seide, Leinen und Viskose sind ebenso empfehlenswert und fördern ein angenehmes Hautgefühl. Es sind Kleidungsstücke zu bevorzugen, die schadstoffgeprüft, weich und atmungsaktiv sind sowie eine glatte Oberfläche haben. Dies gilt in gleichem Maße für die Kleidung der Bezugspersonen des betroffenen Kindes. Etiketten und reibende Nähte sollten gemieden oder entfernt werden. Viele Neurodermitiker profitieren davon, die Kleidung (z. B. den Schlafanzug) auf „links“ zu tragen, sodass die Nähte außen liegen und die Haut weniger irritiert wird. Die Kleidung sollte vor dem ersten Tragen

Die Bezugsperson sollte stets mit Ruhe und Geduld auf das Kratzen reagieren und das Kind dafür nicht maßregeln oder es ihm verbieten. Da der Kratzeffekt meist unbewusst („automatisch“) abläuft, würde man das Kind unter einen Druck und eine Erwartung setzen, die es nur schwer oder gar nicht erfüllen kann. Dies würde ihm auch noch Schuldgefühle bereiten, die sich auf die ohnehin „aufgekratzte“ Psyche des Kindes niederschlagen würden. Wenn das Kratzen häufig die Aufmerksamkeit der Eltern hervorruft, lernt das Kind über diesen Weg, Zuwendung auf sich zu ziehen. Aus diesem Grund ist es wichtig, das Kratzen zu ignorieren. Kratzfreie Situationen bieten sich an, um dem Kind Aufmerksamkeit und Hautkontakt zu geben und es zu loben.

Intakter Hautzustand Grundlage der Hautbehandlung ist eine konsequente, sorgfältige Basispflege, um die Barrierefunktion der Haut zu stabilisieren und die Empfindlichkeit gegenüber Irritationen abzuschwächen. Generell ist zu beachten, dass die verwendeten Produkte individuell ausgesucht werden müssen, da jeder Mensch andere Reaktionen zeigen kann.

Merke

H ●

Auch in beschwerdefreien Zeiten ist es notwendig, die Haut entsprechend ihrem Zustand kontinuierlich mit Basistherapeutika zu pflegen. Durch das regelmäßige Auftragen rückfettender und feuchtigkeitsspendender Wirkstoffe wird die eigene Hautbarriere wiederhergestellt und gestärkt. Dies spielt eine wichtige Rolle im Krankheitsmanagement, um Ekzemen vorzubeugen.

Die Hautpflegemittel sollten möglichst ohne Konservierungs- und Farbstoffe, Wollwachsalkohole und Duftstoffe hergestellt sein. Vorsicht ist geboten bei Produkten mit Parfümölen, Nussölen, pollenbelastetem Bienenwachs und Kräutermischungen. Diese können bei empfindlicher Haut allergische Reaktionen und Juckreiz auslösen.

Praxistipp Pflege

Z ●

Es empfiehlt sich, sämtliche Hautpflegeprodukte vor der Anwendung an einer kleinen Hautstelle, z. B. hinter dem Ohr oder an der Arminnenseite, einzureiben. Die Stelle sollte natürlich in intaktem Zustand sein. Tritt nach einigen Stunden keine Hautveränderung auf, wird das Produkt i. d. R. vertragen.

26

Von der Akzeptanz des Pflegemittels durch das Kind hängt die regelmäßige Anwendung ab. Es darf daher nicht brennen, jucken, unangenehm riechen oder kleben. Je nach aktuellem Hautbild kann ein Wechsel des Hautpflegeproduktes notwendig werden. Es kann auch vorkommen, dass das Kind nach vielen Wochen auf ein Produkt reagiert, welches zuvor gut vertragen wurde. Auch dann ist ein Wechsel des gewohnten Pflegeprodukts unumgänglich. Es empfiehlt sich, die Haut 2-mal täglich einzucremen und zuvor die Hände gründlich zu waschen. Das Pflegemittel sollte dünn aufgetragen werden.

5

Pflege von Kindern mit Störungen des Sinnessystems

Hautfettung Die Hautfettung erfolgt abhängig vom aktuellen Zustand der Haut. Dabei kann es vorkommen, dass auf verschiedene Hautbezirke auch unterschiedliche Pflegeprodukte eingesetzt werden müssen (▶ Tab. 26.2). Der Hautzustand kann sich auch je nach Jahreszeit verändern. Meist neigt die Haut in den Wintermonaten zu mehr Trockenheit. Je trockener die Haut

ist, desto höher empfiehlt sich der Fettanteil und desto niedriger der Wassergehalt der Creme. Je akuter die Entzündung der Ekzeme, desto höher sollte der Wasseranteil und desto niedriger der Fettanteil des Pflegemittels sein. Akut nässende Ekzeme sollten primär feucht behandelt werden gemäß dem Prinzip: „Feucht auf feucht und trocken auf trocken.“ Hierfür eignen sich Umschläge (z. B. mit Zinnkraut) und fett-feuchte Verbände.

Merke

H ●

Kortison darf nur kurzzeitig bei akuter starker Entzündung der Haut und erheblichem Juckreiz angewendet werden. Bei sehr stark ausgeprägter Neurodermitis kann der fehlende Einsatz die Haut ebenso schädigen wie der unkritische Einsatz über längere Zeit. Kortison sollte so viel wie nötig, jedoch so wenig wie möglich zur Anwendung kommen.

Tab. 26.2 Hautpflege bei Neurodermitis. Hautzustand

Präparat

Wirkungsweise

Anmerkung

leicht bis mäßig trockene Haut

Öl-in-Wasser-Emulsion (Creme/Lotion)

feuchtigkeitsspendend, Erhaltung einer intakten Hautflora

stetige Anwendung auch in beschwerdefreien Phasen 2-mal täglich

trockene bis sehr trockene Haut

Wasser-in-Öl-Emulsion (Salben)

fettend

Präparate, die reine Pflanzenöle wie z. B. Jojobaöl oder Mandelöl enthalten, werden besonders gut von der Haut aufgenommen, da diese Öle dem Hautfett ähnlich sind

mögliche Zusätze: z. B. Nachtkerzenöl, Dexpanthenol, Sole

heilend

harnstoffhaltige Salben

feuchtigkeitsbindend

kann zu Hautreizungen führen, nicht zur Anwendung bei Säuglingen und Kleinkindern empfohlen

glycerinhaltige Salben

feuchtigkeitsbindend

auch bei empfindlicher Haut gut verträglich

entzündet

Schüttelmixturen mit antientzündlichen Zusätzen, z. B. Zink, Bufexamac, Eichenrinde

entzündungs- und juckreizhemmend

Bufexamac kann zu Hautreizungen führen

infiziert, z. B. mit Staphylococcus aureus

antibiotische Salben

infektionshemmend

Applikation nach ärztlicher Anordnung

schuppend

harnstoffhaltige Salbe

schuppenlösend

kann zu Hautreizungen führen

Salizylsäure

löst Schuppen auf der Kopfhaut

kann zu Hautreizungen führen

aufgekratzt, wund, nässend

feuchte Umschläge mit wässrigen Lösungen, z. B. Schwarztee, Zinnkrauttee, isotonische Kochsalzlösung, Calendula

Poren verschließen sich wieder, hemmt Juckreiz, heilungsfördernd

Umschläge möglichst kühl applizieren

nässend, blutig

gerbende Stoffe: Farbstofflösungen (Kaliumpermanganat), Eichen- oder Buchenrinde

desinfizierend, austrocknend

nach ärztlicher Rücksprache und Anordnung

chronische Ekzeme, stark entzündet

Kortison

antientzündlich, Kinder nehmen Kortison über die Haut gut auf

nur nach ärztlicher Anordnung; beim Auftragen Schutzhandschuhe verwenden; mögliche Nebenwirkungen: u. a. Atrophie der Haut, verzögerte Wundheilung, Erhöhung der Infektneigung

Tacrolimus 0,03 %, Pimecrolimus 1 % (Immunsuppressiva, stammen aus der Transplantationsmedizin)

antientzündlich, verhindern die Freisetzung von Entzündungssubstanzen, wie Histamin

Nur nach ärztlicher Anordnung; für Kinder ab dem 2. Lebensjahr zugelassen; beim Auftragen Schutzhandschuhe verwenden, Präparat ist auch für die Anwendung im Gesicht geeignet; mögliche Nebenwirkungen: u. a. Hautbrennen, Juckreiz, Hautrötungen, gehäufte Infektionen der Haut (es liegen keine Langzeiterfahrungen vor), Sonnenbestrahlung der Haut während der Behandlung sollte vermieden werden

26

556

26.14 Pflege eines Kindes mit Neurodermitis

Hautreinigung Zur Hautreinigung empfiehlt sich eine eher lauwarme Wassertemperatur. Unparfümierte, pH-neutrale Seifen oder Syndets mit leicht saurem pH-Wert wirken einem zu starken Entfetten der Haut entgegen. Die Haut wird beim Abtrocknen nur abgetupft. Kurzes Duschen mit einem medizinischen ölhaltigen Präparat entfettet die Haut weniger als ein Bad. Danach können bei Schulkindern die Kapillaren der Haut durch eine warm-kalte Wechseldusche trainiert werden. Dies dient zudem der Anregung der Talgdrüsen, dem Aufbau des natürlichen Säureschutzmantels und beugt Infekten vor. Das Eincremen nach der Reinigung führt der Haut Feuchtigkeit und Lipide zurück.

Z ●

Wird die tägliche Hautpflege fest in den Alltag des Kindes integriert, verbessert dies die schützende Hautbarrierefunktion langfristig. Die Förderung einer entspannten und spielerischen Atmosphäre, erhöht die Motivation des Kindes, die regelmäßige Hautpflege möglichst selbstständig durchzuführen. Die Behältnisse der Pflegemittel können bunt und kindgerecht gestaltet werden (z. B. mittels Aufklebern, farbiger Stifte). Für das Hautpflegeritual sollte ausreichend Zeit eingeplant werden.

Eutropher Ernährungszustand

Baden 1- bis 2-mal in der Woche kann gebadet werden. Die Badetemperatur sollte max. 36 Grad betragen, da warme Wassertemperaturen den Juckreiz verstärken können. Bei akutem Juckreiz ist es deshalb ratsam, die Badetemperatur so niedrig wie möglich zu wählen. Als rückfettende Badezusätze kommen spreitende (sich ausbreitende) Ölbäder mit Pflanzenölen infrage. Paraffinhaltige Badezusätze sind zu meiden, da diese einen Wärmestau auf der Haut begünstigen können. Die Anwendung kräuterhaltiger Ölbäder kann wiederum Unverträglichkeitsreaktionen hervorrufen. Nach dem Baden in spreitenden Pflanzenölen legt sich das Öl wie ein Schutzmantel um die Haut des Kindes. Danach verbleibt der Ölfilm auf der Haut; wenn dieser mit einem weichen Tuch nur sanft abgetupft wird, verhilft er zu einem geschmeidigeren Hautgefühl. Die Badezeit sollte 20 Min. nicht überschreiten, um ein Aufweichen der Haut zu vermeiden.

Praxistipp Pflege

Praxistipp Pflege

Z ●

Ölbäder nicht mit Seifen, Waschlotionen, Duschgel oder Shampoo kombinieren, da diese die rückfettende Wirkung aufheben.

Haarpflege Zur Schonung der Kopfhaut bei der Haarpflege können pH-neutrale, unparfümierte Shampoos ohne Zusätze, wie Milch, Ei oder Kräuter, Verwendung finden. Das Trocknen der Haare an der Luft bzw. das kurze lauwarme Föhnen verhindert weitere Hautreizungen und Juckreiz.

Der Ernährung wird bei der Behandlung der Neurodermitis ein hoher Stellenwert eingeräumt. Etwa jedes 3. Kind, das von einer Neurodermitis betroffen ist, leidet unter Nahrungsmittelallergien. Durch gezielte Provokationstests sowie Beobachtung des Kindes und Dokumentation in einem Ernährungstagebuch lassen sich Allergien und Unverträglichkeiten in Bezug auf Nahrungsmittel ausfindig machen.

Merke

H ●

Kein Kind sollte ohne sorgfältige Diagnostik eine pauschale Diätempfehlung erhalten. Es gibt keine allgemeingültige Diätempfehlung bei Neurodermitis. Nicht gerechtfertigte Diäten können für den wachsenden Organismus des Kindes erhebliche Einschränkungen oder Mängel bedeuten.

Die Ernährung bei Neurodermitis ist ein Mittelweg zwischen einer optimierten Mischkost und der Notwendigkeit, nachgewiesene Allergene zu vermeiden. Am häufigsten verursachen Kuhmilch, Hühnereier, Nüsse, Soja, Weizen, Fisch und Zitrusfrüchte Nahrungsmittelallergien bei Kindern. Auch größere Mengen an Reizstoffen (Süßigkeiten, künstliche Farbstoffe, Konservierungsmittel, exotische und unreife Früchte und scharfe Gewürze) werden oftmals nicht vertragen und sollten daher vermieden werden. Anzeichen einer Nahrungsmittelallergie können neben Hautveränderungen auch Rötungen und Kribbeln im Bereich des Mundes („pelziges Gefühl“), Durchfall und Bauchschmerzen sein. Nur bei einer nachgewiesenen Nahrungsmittelallergie müssen die betroffenen Nahrungsmittel und daraus hergestellte Produkte aus dem Kostplan ge-

strichen werden (Eliminationsdiät). Eine Ernährungsberatung durch einen Arzt oder eine Ökotrophologin sollte in jedem Fall in Anspruch genommen werden. Nach 1 Jahr kann eine erneute Provokation mit den ausgelassenen Nahrungsmitteln erfolgen, am besten unter ärztlicher Aufsicht. Rotation im Speiseplan ist wichtig, um weiteren Unverträglichkeiten vorzubeugen. Die verzehrten Nahrungsmittel sollten nach Möglichkeit den täglichen Bedarf des Kindes an Eiweiß, Vitamin B und E sowie Zink decken, da diese Stoffe eine intakte Haut fördern. Für Säuglinge mit Unverträglichkeit gegen Kuhmilch sind hypoallergene Nahrungsmittel nicht geeignet, da sie noch Kuhmilchproteine enthalten (Restproteingehalt ca. 20 %). In diesem Fall muss der Säugling mit kuhmilchfreien Produkten ernährt werden. Extensiv hydrolysierte Produkte (z. B. Alfare, Nutramigen, Pregomin) enthalten lediglich einen Restproteingehalt unter 1 %. Im Labor haben sich diese Produkte als allergenarm erwiesen. Da die Hydrolysatmilch einen leicht bitteren Geschmack aufweist, kann es zu Akzeptanzproblemen beim Säugling kommen.

Erholsame, ungestörte Nachtruhe Die Nachtruhe des Kindes und so auch die seiner Eltern wird durch den nächtlichen Juckreiz häufig nachhaltig gestört. Der Juckreizimpuls ist in der Nacht noch ausgeprägter als am Tag, da die körpereigene Kortisonproduktion sinkt und durch die Bettwäsche bedingt die Umgebungstemperatur steigt. Ebenso trägt die Wirkung des Parasympathikus hierzu bei. Ziel ist eine erholsame Nachtruhe, die dem Kind und seinen Eltern die Ausgeglichenheit, Konzentrationsfähigkeit und Leistungsfähigkeit erhält, die sie im Alltag brauchen. Hilfreich sind Maßnahmen zur Juckreizlinderung und Förderung eines intakten Hautzustandes. Außerdem gilt es folgende Punkte zu beachten: ● Reizüberflutung durch zu häufiges abendliches Fernsehen, Computerspiele oder Ähnliches sollte vermieden werden. Beruhigender wirkt ein Ausklang des Abends mit Gesprächen über wichtige Ereignisse des Tages und das Vorlesen von Büchern. ● Geregelte Zeiten zum Schlafengehen und Einschlafrituale geben dem Kind Kontinuität und Sicherheit. ● Die Eltern können Schlafstörungen vorbeugen, indem sie ihr Kind in seinem eigenen Bett schlafen lassen. ● Latexmatratzen sind empfehlenswert, ebenso ein hausstaubmilbendichter Matratzenbezug (Encasing).

26

7

Pflege von Kindern mit Störungen des Sinnessystems ●





● ●



Das Oberbett sollte bei 60 °C waschbar und allergikergerecht ausgestattet sein. Empfehlenswert ist tägliches Auslüften des Bettzeugs. Pflegeleichte Böden, z. B. Kork, Laminat, sind anstelle von Teppichboden zu bevorzugen. Tierfelle und Materialien wie Daunen, Schafwolle, Rosshaar und Kamelhaar gilt es zu meiden! Gleiches gilt für Pflanzen und Luftbefeuchter im Schlafbereich, da diese Schimmelpilzwachstum begünstigen können. Kuscheltiere sollten waschbar sein. Die Zimmertemperatur des Schlafbereichs sollte eher kühl (18 °C) gehalten werden. Regelmäßiges Lüften unterstützt ein angenehmes Schlafklima. Eine relative Luftfeuchtigkeit von 45–60 % wirkt sich günstig auf die Hautfeuchtigkeit aus.

Förderung eines positiven Körperbewusstseins

26

558

Der natürliche Umgang mit dem eigenen Körper kann durch Neurodermitis erschwert werden. Manche Kinder wehren sich bei körperlicher Nähe (z. B. beim Pflegen) oder vermeiden aktive Spiele. Meist möchte das Kind damit unangenehme Erfahrungen umgehen. Kinder mit ausgeprägter Neurodermitis haben häufig aus Besorgnis und Schutz viele wichtige Körper- und Hauterfahrungen nicht machen können oder diese aus Vorsicht und Angst vermieden. Sie zeigen oft eine große Hemmschwelle und verweigern anfangs neue oder unbekannte Erfahrungsmöglichkeiten. Eine Unterstützung und Förderung von Stärken und Fähigkeiten kann ein guter Ausgleich zur erlebten Beeinträchtigung durch die Erkrankung sein. Vor allem körperliche Aktivität wie Herumtoben und Sport wirken ablenkend vom Juckreiz und stressmindernd. Dem Kind sollte täglich die Möglichkeit eingeräumt werden, seinen Körper bewusst zu erfahren und die eigenen Kräfte und Fähigkeiten auszuloten. Dazu beitragen können z. B.: ● möglichst viel Bewegung an der frischen Luft ● regelmäßig Sport treiben, Bewegungsspiele im Raum ● Spiel mit Fühl- oder Riechkisten ● Entspannungsübungen, autogenes Training ● Progressive Muskelentspannung nach Jacobsen ● Fantasiereisen, Yoga, meditative Übungen ● Ganz- oder Teilkörpermassagen ● Umgang mit Matschmaterialien (z. B. Sand, Wasser, Kleister, Ton) ● Kneten, Töpfern, Malen ● Tanzen, Musizieren

Merke

H ●

Ein möglichst natürlicher und ungezwungener Umgang mit der Erkrankung sowie Geduld und Akzeptanz helfen dem betroffenen Kind, Hemmschwellen abzubauen und Freude an Körper- und Hauterfahrungen zu entwickeln.

Förderung des Selbstbewusstseins Das Selbstwertgefühl kann bei Kindern mit Störungen der Haut stark beeinträchtigt werden, da wir täglich über die Medien suggeriert bekommen, wie wichtig eine „schöne“ Haut ist. Dabei wird uns genau vorgegeben, was wir tun müssen, um diesen Ansprüchen zu genügen. Für Kinder und besonders für Jugendliche mit Neurodermitis ist es schwer, mit diesen „Werten“ der Gesellschaft zu leben, ohne sich verunsichern zu lassen. Aufklärung und Offenheit in der Gruppe oder Klasse können unterstützen und mangelndem Verständnis sowie verletzenden Reaktionen, die meist auf Unkenntnis beruhen, vorbeugen. Hilfreich sind Märchen für Kinder oder auch selbst erfundene Geschichten, mit einem Helden im Mittelpunkt, der dem Kind ähnelt und mit dem sich das Kind identifizieren kann. Kinder lernen soziales Verhalten auch am Vorbild der Erwachsenen. Stehen belastende Situationen bevor, können vorheriges Durchsprechen und Durchspielen Sicherheit vermitteln. Die Förderung von Fähigkeiten, Begabungen, Hobbys, Freundschaften und sozialem Engagement stärken das Selbstbewusstsein eines Kindes. Durch Kontaktaufnahme mit einer Selbsthilfegruppe (S. 131) wird dem Kind und seinen Eltern die Möglichkeit gegeben, andere betroffene Kinder kennenzulernen, Erfahrungen auszutauschen und neuen Mut und Kraft zu tanken.

Merke

H ●

Die Gesundheitsstörung sollte ernst genommen, jedoch nicht zum Mittelpunkt des Lebens werden.

Förderung der Selbstständigkeit Da regelmäßig durchgeführte Hautpflege zur Behandlung von Neurodermitis unverzichtbar ist, sollte man das Kind ab dem Kindergartenalter anleiten, seine

Haut möglichst selbstständig zu pflegen. Hierbei haben Eltern und Pflegefachkräfte eine Vorbild- und Modellfunktion. Sie können vormachen, wie man sich mit Spaß eincremt. Auch an einer Puppe oder am Körper einer vertrauten Person kann das Kind das Eincremen spielerisch erproben. Aufgrund der selbstständig durchgeführten Hautpflege sollte das Kind stets positive Aufmerksamkeit und Lob erfahren. Die Einbeziehung des Kindes in die Auswahl der Pflegeprodukte fördert seine Akzeptanz und Motivation. Kinder wissen häufig gut Bescheid über ihre Erkrankung. Deshalb sollten sie Fragen auch selbst beantworten. Das stärkt ihre Selbstständigkeit und den Kontakt zu den anderen Kindern. Für Jugendliche ist der Beginn der eigenen Berufstätigkeit ein wichtiger Schritt zur Selbstständigkeit. Bei fortbestehender Neurodermitis oder einer weiteren atopischen Erkrankung sollten Berufe mit einem hohen Risiko für Allergien (z. B. Bäcker, Friseur, Koch) nicht ergriffen werden, um unnötige Enttäuschungen zu vermeiden.

Rehabilitation und Patientenschulungen Um die körperliche und seelische Stabilität eines an Neurodermitis erkrankten Kindes zu fördern, kann eine Rehabilitation (S. 124) sehr empfohlen werden. Diese kann beispielsweise mit einer Klimatherapie (z. B. ein Aufenthalt an der Nordsee oder im Hochgebirge in einer Kurklinik) kombiniert werden, da sich ein Aufenthalt in diesem sog. Reizklima äußerst positiv auf das körperliche und seelische Befinden von Neurodermitikern auswirkt. Der Aufenthalt sollte mindestens 4–6 Wochen betragen, damit sich der Organismus an die veränderten Bedingungen anpassen kann. Der Klimawechsel stärkt den Kreislauf, verbessert die Zirkulation in den Hautkapillaren und sorgt für eine Umstimmung der körpereigenen Hormonregulation. Dieser Effekt hält häufig 6–7 Wochen oder auch länger an. Er bewirkt eine Verbesserung der Körpertemperaturregulation, verstärkt die körpereigene Kortisonbildung und fördert die psychische Stabilisierung. Die Kinder und ihre Eltern werden dem Alter gemäß über Themengebiete wie z. B. medizinische Wissensvermittlung, Hautpflege, Ernährung, Umgang mit dem Juckreiz, Einübung von Kratzalternativen, Umgang mit Stress, Entspannungsübungen, Vermeidung allergischer Faktoren u. v. m. beraten und angeleitet. Außerdem wird ein reger Austausch mit anderen Betroffenen angeboten. Die Durchführung von Patientenschulungen setzt ein interdisziplinäres Team von Hautarzt, Pädiater, Pflege-

26.15 Pflege eines Kindes mit thermischen Verletzungen personal, Diätassistenten, Ökotrophologen sowie Psychologen voraus. In diesem Kontext hat die Arbeitsgemeinschaft Neurodermitisschulung (AGNES) ein Programm entwickelt. Während interdisziplinärer Seminare, die auf das Alter des Kindes abgestimmt sind, werden Kinder und Eltern im selbstständigen Umgang mit der chronischen Erkrankung geschult. Ziel sind eine verbesserte Lebensqualität der gesamten Familie und die Stärkung der Selbst(pflege)kompetenz der Betroffenen.

26.15 Pflege eines Kindes mit thermischen Verletzungen

1%

5%

Abb. 26.23 Flächenabschätzung. „1-Prozent-Regel“ zur Abschätzung der verbrannten Körperoberfläche.

Abb. 26.21 Thermische Verletzungen. Offenes Feuer ist immer eine Quelle der Gefahr. (Foto: Hanker – stock.adobe.com)

Heidrun Beyer

Definition

L ●

Thermische Verletzungen sind Gewebeschäden, die durch Verbrühungen mit heißen Flüssigkeiten, z. B. Wasser, Milch, Öl, Wasserdampf, oder Verbrennungen infolge von Flammeneinwirkung entstehen. Nicht thermische Verbrennungen werden durch Strahlen, Stromschlag oder chemische Substanzen (Laugen oder Säuren) hervorgerufen. (▶ Abb. 26.21).

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26.15.1 Ursache und Auswirkung Im Kindesalter sind thermische Verletzungen vermehrt zu beobachten, wobei Kinder von 2 – 6 Jahren besonders häufig betroffen sind. Die Ursachen für diese Unfälle sind je nach Altersstufe sehr unterschiedlich. Junge Säuglinge ziehen sich Verbrühungen durch zu heiße Flaschennahrung oder Verbrennungen durch Wärmflaschen zu. Kleinkinder reißen oftmals Gegenstände mit heißen Flüssigkeiten vom Tisch oder von der Kochplatte herunter, wodurch Wunden vorwiegend im Bereich von Gesicht, Thorax, Händen und Armen entstehen. Bei Verbrennungen der Handflächen oder solchen, die die Form eines Bügeleisens u. a. aufweisen, muss evtl. auch an eine Kindesmisshandlung gedacht werden. Bei Schulkindern und Jugendlichen stehen Verbrennungen durch offenes Feuer und Feuerwerkskörper im Vordergrund. Durch Hitzeeinwirkung von über 52 °C kommt es zur Denaturierung des Eiweißes und infolgedessen zur Schädigung des Gewebes. Das Ausmaß der Schädigung ist von dem Hitzegrad und der Einwirkungsdauer abhängig. Prognostische Faktoren

18 %

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Erwachsene und Kinder über 9 Jahre

Kleinkind (2 Jahre)

Säugling (bis 1 Jahr)

Abb. 26.22 Neuner-Regel (nach Wallace). Für Kinder modifizierte ungefähre Ausdehnung von Verbrennungen. a Erwachsene und Kinder über 9 Jahre, b Kleinkind (2. u. 3. Lebensjahr), c Säugling (bis 1 Jahr).

für die Überlebens- und Heilungschancen sind neben Allgemeinzustand und Vorerkrankung das Alter des verletzten Kindes sowie Flächen- und Tiefenausdehnung der thermischen Verletzung. ▶ Berechnung der Flächenausdehnung. Die Berechnung erfolgt ab Pubertät nach der Neuner-Regel nach Wallace, die für Kinder modifiziert wurde (▶ Abb. 26.22). Aufgrund der unterschiedlichen Körperproportionen bei Kindern werden spezielle Tabellen für die prozentuale Berechnung der entsprechenden Altersstufen verwendet, z. B. der Ergänzungsbogen „schwere Verbrennung“ der Berufsgenossenschaften. Als grobe Faustregel gilt: Die

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Größe der Handfläche (einschließlich Finger) der betroffenen Person entspricht 1 % der Körperoberfläche (▶ Abb. 26.23). ▶ Beurteilung der Tiefenausdehnung. Dazu siehe ▶ Tab. 26.3 Gradeinteilung der Hautdefekte und (▶ Abb. 26.24). Das Ausmaß der Tiefenausdehnung ist anfangs auch für einen erfahrenen Arzt nicht sicher zu beurteilen. Bei Kindern v. a. bei Verbrühung stellt sich die endgültige Tiefe erst nach 3 – 5 Tagen heraus. Entsprechend der Tiefenausdehnung kommt es zu einer Schädigung der Blutgefäße, die in dieser Zeitspanne zu Ischämie oder evtl. zu Ödemen führt (▶ Abb. 26.26).

9

26.15 Pflege eines Kindes mit thermischen Verletzungen personal, Diätassistenten, Ökotrophologen sowie Psychologen voraus. In diesem Kontext hat die Arbeitsgemeinschaft Neurodermitisschulung (AGNES) ein Programm entwickelt. Während interdisziplinärer Seminare, die auf das Alter des Kindes abgestimmt sind, werden Kinder und Eltern im selbstständigen Umgang mit der chronischen Erkrankung geschult. Ziel sind eine verbesserte Lebensqualität der gesamten Familie und die Stärkung der Selbst(pflege)kompetenz der Betroffenen.

26.15 Pflege eines Kindes mit thermischen Verletzungen

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Abb. 26.23 Flächenabschätzung. „1-Prozent-Regel“ zur Abschätzung der verbrannten Körperoberfläche.

Abb. 26.21 Thermische Verletzungen. Offenes Feuer ist immer eine Quelle der Gefahr. (Foto: Hanker – stock.adobe.com)

Heidrun Beyer

Definition

L ●

Thermische Verletzungen sind Gewebeschäden, die durch Verbrühungen mit heißen Flüssigkeiten, z. B. Wasser, Milch, Öl, Wasserdampf, oder Verbrennungen infolge von Flammeneinwirkung entstehen. Nicht thermische Verbrennungen werden durch Strahlen, Stromschlag oder chemische Substanzen (Laugen oder Säuren) hervorgerufen. (▶ Abb. 26.21).

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vorn 18 % hinten 18 %

1%

26.15.1 Ursache und Auswirkung Im Kindesalter sind thermische Verletzungen vermehrt zu beobachten, wobei Kinder von 2 – 6 Jahren besonders häufig betroffen sind. Die Ursachen für diese Unfälle sind je nach Altersstufe sehr unterschiedlich. Junge Säuglinge ziehen sich Verbrühungen durch zu heiße Flaschennahrung oder Verbrennungen durch Wärmflaschen zu. Kleinkinder reißen oftmals Gegenstände mit heißen Flüssigkeiten vom Tisch oder von der Kochplatte herunter, wodurch Wunden vorwiegend im Bereich von Gesicht, Thorax, Händen und Armen entstehen. Bei Verbrennungen der Handflächen oder solchen, die die Form eines Bügeleisens u. a. aufweisen, muss evtl. auch an eine Kindesmisshandlung gedacht werden. Bei Schulkindern und Jugendlichen stehen Verbrennungen durch offenes Feuer und Feuerwerkskörper im Vordergrund. Durch Hitzeeinwirkung von über 52 °C kommt es zur Denaturierung des Eiweißes und infolgedessen zur Schädigung des Gewebes. Das Ausmaß der Schädigung ist von dem Hitzegrad und der Einwirkungsdauer abhängig. Prognostische Faktoren

18 %

18 %

14,5 %

14,5 %

13,5 %

13,5 % 1%

Erwachsene und Kinder über 9 Jahre

Kleinkind (2 Jahre)

Säugling (bis 1 Jahr)

Abb. 26.22 Neuner-Regel (nach Wallace). Für Kinder modifizierte ungefähre Ausdehnung von Verbrennungen. a Erwachsene und Kinder über 9 Jahre, b Kleinkind (2. u. 3. Lebensjahr), c Säugling (bis 1 Jahr).

für die Überlebens- und Heilungschancen sind neben Allgemeinzustand und Vorerkrankung das Alter des verletzten Kindes sowie Flächen- und Tiefenausdehnung der thermischen Verletzung. ▶ Berechnung der Flächenausdehnung. Die Berechnung erfolgt ab Pubertät nach der Neuner-Regel nach Wallace, die für Kinder modifiziert wurde (▶ Abb. 26.22). Aufgrund der unterschiedlichen Körperproportionen bei Kindern werden spezielle Tabellen für die prozentuale Berechnung der entsprechenden Altersstufen verwendet, z. B. der Ergänzungsbogen „schwere Verbrennung“ der Berufsgenossenschaften. Als grobe Faustregel gilt: Die

26

Größe der Handfläche (einschließlich Finger) der betroffenen Person entspricht 1 % der Körperoberfläche (▶ Abb. 26.23). ▶ Beurteilung der Tiefenausdehnung. Dazu siehe ▶ Tab. 26.3 Gradeinteilung der Hautdefekte und (▶ Abb. 26.24). Das Ausmaß der Tiefenausdehnung ist anfangs auch für einen erfahrenen Arzt nicht sicher zu beurteilen. Bei Kindern v. a. bei Verbrühung stellt sich die endgültige Tiefe erst nach 3 – 5 Tagen heraus. Entsprechend der Tiefenausdehnung kommt es zu einer Schädigung der Blutgefäße, die in dieser Zeitspanne zu Ischämie oder evtl. zu Ödemen führt (▶ Abb. 26.26).

9

Pflege von Kindern mit Störungen des Sinnessystems

Tab. 26.3 Gradeinteilung der Hautdefekte. Gradeinteilung

Lokalisation

Symptome

I. Grad

Epidermis (epidermale Barriere ist intakt)

● ● ●

II. Grad A. oberflächlich dermal

● ●

Schädigung der Epidermis tiefe Schichten des Koriums sind erhalten

● ● ● ●

B. tief dermal

III. Grad

sehr tiefe Anteile des Koriums sind erhalten, ebenso die Hautanhangsgebilde



Epidermis, Korium und Subkutis, einschließlich der Hautanhangsgebilde, sind betroffen



● ●

● ●



IV. Grad

weitere Tiefenausdehnung bis zur Verkohlung subkutan gelegener Strukturen

Heilung

Hautrötung intensive Schmerzen evtl. Schwellung

spontan innerhalb von 5 – 10 Tagen ohne Narbenbildung

Hautrötung Blasenbildung (▶ Abb. 26.25) Schwellung intensive Schmerzen

innerhalb von 10 – 14 Tagen durch Spontanepithelisierung

perlweißer Wundgrund geringe Schmerzhaftigkeit bei mechanischer Irritation blutender Wundgrund

Spontanheilung ist möglich, häufig erfolgt eine narbige Defektheilung

grau-weißer, nekrotischer Wundgrund keine Schmerzen (Analgesie) Haare fallen aus, bzw. lassen sich leicht herausziehen thrombosierende Gefäße (Nadelstiche bluten nicht oder evtl. stark verzögert)

Epithelisierung vom Wundgrund nicht möglich; nach Nekrektomie muss Hauttransplantation erfolgen, sonst kommt es zur Narbenbildung und Schrumpfung

wie III. Grad

wie III. Grad

Grad I Grad IIa

Grad IIb

26 Grad III

Abb. 26.24 Verbrennungsgrade. Klassifikation thermischer Verletzungen nach der Verbrennungstiefe (rechts). Aufbau der gesunden Haut zum Vergleich (links). (Abb. aus: Wagemann W. Pathogenese und Therapie der Verbrennung. In: Lippert H, Hrsg. Wundatlas. Thieme; 2012)

560

26.15 Pflege eines Kindes mit thermischen Verletzungen

Nadelstichtest

schmerzhaft

schmerzhaft

schmerzlos

Nervenendigung

Grad I Grad II (oberflächl.)

Abb. 26.25 Verbrennungen II. Grades (Abb. aus: Hadshiew I. Verbrennungen. In: Sterry W, Hrsg. Kurzlehrbuch Dermatologie. 1. Auflage. Thieme; 2011)

Sind nur sehr kleine und oberflächliche Hautareale betroffen, heilen diese i. d. R. ohne gravierende Beeinträchtigung des Allgemeinzustandes aus. Bei ausgedehnten thermischen Verletzungen kann es zusätzlich zur bestehenden Hautschädigung zu einem Multiorganversagen kommen, sodass von einer Verbrennungskrankheit gesprochen wird. Dieses Krankheitsbild, das in 3 Phasen eingeteilt wird, kann so schwerwiegend verlaufen, dass in höchstem Maße Lebensgefahr besteht.

Pathophysiologie der Verbrennungskrankheit I. Phase (36 – 48 Stunden nach dem Hitzetrauma) Die Akut- oder Schockphase bei einer großflächigen thermischen Verletzung besteht innerhalb der ersten 36 – 48 Stunden. Sie ist durch starke Schmerzen gekennzeichnet, die zu einem reflektorischvegetativen Schock führen können. Durch die Schädigung der Kapillaren kommt es zu einer erhöhten Permeabilität der Gefäßwände, die wiederum zu Ödemen und Blasenbildungen führt. Über die defekte Hautoberfläche gehen große Flüssigkeitsmengen und Elektrolyte verloren, was zu einem Volumenmangelschock führen kann. Der Verlust an Plasmaeiweiß, z. B. Immunglobuline, führt zu einer verminderten Abwehr. Durch einen niedrigen Albumingehalt sinkt der kolloidosmotische Druck, was generalisierte Ödeme, z. B. Hirnödeme, zur Folge haben kann. Durch die Viskositätssteigerung des Blutes, erkennbar am Anstieg des Hämatokrits, kommt es zur Aggregation (Anhäufung) von Thrombozyten, die den Gasaustausch beeinträchtigt und Thrombosen entstehen lässt.

Grad II (tief) Grad III

Abb. 26.26 Nadelstichtest. Nadelstichtest zur Einschätzung des Grades der thermischen Hautschädigung. (Abb. aus: Wagemann W. Die Verbrennungswunde. In: Lippert H, Hrsg. Wundatlas. Thieme; 2012)

Der Mangel an Fibrinogen verschlechtert die Gerinnungsfähigkeit des Blutes, sodass es bei evtl. notwendigen chirurgischen Maßnahmen, z. B. Escharotomien (Entlastungsschnitten) (S. 563) zu größeren Blutverlusten kommen kann. Weiterhin führt die defekte Haut zu massivem Wärmeverlust, der durch Abbau von körpereigenen Proteinen (Katabolismus) kompensiert wird, sofern nicht genügend Energie zur Verfügung steht. Durch den Anstieg von Stresshormonen (Adrenalin, Noradrenalin) bei beginnendem Schock, erkennbar an Tachykardie und Temperaturerhöhung bis 39 °C, besteht die Gefahr von Herz- und Kreislaufversagen sowie Stressulkus.

III. Phase (ca. 5. Tag)

II. Phase (ab 3./4. Tag)

IV. Phase (Ausheilung)

Die Schäden, die an den Organen ab dem 3./4. Tag nach der thermischen Verletzung hervorgerufen werden, entstehen durch Verbrennungstoxine (Eiweißzerfallprodukte) infolge der Hitzeeinwirkung. Diese gelangen über den Blutweg zu den Organen und schädigen die Nieren, wodurch es zu einer Niereninsuffizienz kommen kann. Aber auch Leber und Knochenmark können betroffen sein, sodass ein Zusammenbruch des Stoffwechsels und eine Anämie die Folge sein können. Um eine Schädigung durch Verbrennungstoxine zu verhindern, muss nekrotisches Gewebe so früh wie möglich abgetragen werden. Etwa am 4. Tag nach der Verletzung erfolgt ein Flüssigkeitsrückstrom ins Gefäßsystem, der zu einer Überlastung des Kreislaufsystems führen kann.

Treten keine Komplikationen in Form einer Infektion oder Sepsis ein, heilt die Wunde allmählich aus. Gefürchtet sind dann hypertrophe Narbenstränge, die auf das betroffene Gewebe begrenzt bleiben, oder Keloide (S. 841), die sich auch auf das gesunde Gewebe ausbreiten. Diese führen dann zu Kontraktionen, sofern die Narbenstränge über Gelenke verlaufen.

Ungefähr am 5. Tag nach der Verletzung ist die Wunde mit Keimen besiedelt. Die Besiedelung mit pathogenen Keimen erfolgt hauptsächlich durch Staphylococcus aureus, Staphylococcus epidermis, hämolysierende Streptokokken und Pseudomonas aeruginosa. Je nach Abwehrlage können sie zu einer Wundinfektion mit der Gefahr eines septischen Schocks mit Todesfolge führen. Neben der Verbrennungswunde sind der Respirationstrakt, der Gastrointestinaltrakt, das Urogenitalsystem des Betroffenen und das Legen von Gefäßkathetern Eintrittspforten für pathogene Keime.

26

26.15.2 Pflegebedarf einschätzen Neben der vitalen Bedrohung ist dieses Trauma für alle Kinder mit großen Schmerzen, Trennung von Familie und Freundeskreis, Verlust der Mobilität und Isolation für einen längeren Zeitraum verbunden. Für kleinere Kinder, die infolge

1

Pflege von Kindern mit Störungen des Sinnessystems

26

562

ihrer gerade erlangten Mobilität einen gewissen Grad an Selbstständigkeit erworben haben, führt dieses Trauma i. d. R. zu einem Rückschritt in der Entwicklung. Bei Schulkindern und Jugendlichen stehen Ängste hinsichtlich eines veränderten Körperbildes durch Narben im Vordergrund. Für die Familie bedeutet eine thermische Verletzung eine große Belastung, da sie nicht nur um das Leben ihres Kindes und die Wiederherstellung der defekten Haut bangen, sondern sich häufig noch zusätzlich große Vorwürfe machen, nicht genügend aufgepasst zu haben. Durch Schuldzuweisungen kann es dann innerhalb der Partnerschaft zu massiven Problemen kommen, die sich zusätzlich für alle Beteiligten negativ auswirken. Im Rahmen einer Verbrennung oder Verbrühung können folgende Pflegeprobleme entstehen: ● starke Schmerzen im Bereich der Wundflächen, besonders beim täglichen Verbandwechsel und bei den notwendigen Bewegungsübungen durch die Physiotherapeuten ● Schockgefahr durch vegetative Reaktionen infolge von Schmerzen und Volumenmangel ● Gefahr der Niereninsuffizienz infolge Volumenmangel und Schädigung durch Verbrennungstoxine ● Infektionsgefahr und Gefahr eines septischen Schocks infolge Keimbesiedelung der Wunde und Mangel an Immunglobulinen ● Gefahr einer Sauerstoffunterversorgung z. B. infolge eines Inhalationstraumas oder einer Pneumonie ● Gefahr von Ödemen/Hirnödem ● Thrombosegefahr durch Viskositätssteigerung des Blutes ● Dekubitusgefahr durch eingeschränkte Mobilität ● Gefahr von Kontrakturen z. B. durch Schonhaltung oder Narbenstränge, soweit Gelenke betroffen sind ● hoher Energiebedarf und evtl. Abbau von körpereigenem Eiweiß (Katabolismus) durch Kompensation des Wärmeverlustes infolge defekter Haut ● Langeweile und Verlassenheitsgefühle durch Isolation und fremde Umgebung ● Ängste hinsichtlich eines veränderten Körperbildes durch Narben ● Schlafstörungen u. a. durch Nichtbewältigung des Unfallgeschehens ● starker Juckreiz infolge Wundheilung ● depressive Stimmung der Eltern durch Schuldgefühle und Ängste vor der Zukunft ihres Kindes

26.15.3 Pflegeziele und -maßnahmen



Präventionsmaßnahmen Um Kindern und Eltern dieses schwerwiegende Trauma zu ersparen, ist das vorrangige Ziel, Verletzungen dieser Art zu vermeiden. Eltern sollten über Ursachen, die zu thermischen Verletzungen führen können, informiert werden, um sie für mögliche Gefahren zu sensibilisieren. Diese Informationen können z. B. in Elternkursen, Kinderarztpraxen, Kindergärten, Schulen stattfinden. Auch vonseiten des Pflegepersonals ist es eine wichtige Aufgabe die Eltern diesbezüglich zu beraten. Die Effektivität dieser Präventionen kann durch die 1985 – 1987 in Norwegen durchgeführte „Harstad injury prevention study“ belegt werden. Diese untersuchte die thermischen Unfälle bei Kindern unter 5 Jahren in 2 vergleichbaren Gemeinden. Nach einem landesweiten Präventionsprogramm gingen die thermischen Unfälle in diesen Jahren zurück. Danach erfolgte nur noch in Harstad eine Fortsetzung der Präventionen, die einen dauerhaften Rückgang um 51 % verzeichnen konnten. In der Nachbargemeinde dagegen stiegen die Unfälle ohne weitere präventive Maßnahmen wieder an. Einige Beispiele für Maßnahmen zur Prävention sollen aus diesem Grund hier genannt werden: ● Die Temperatur der Flaschennahrung muss unbedingt vor der Verabreichung kontrolliert werden. Dies hat besondere Bedeutung bei der Erwärmung von Flüssigkeiten mithilfe der Mikrowelle, da sich die Flasche kühler anfühlt, die Milch im Inneren der Flasche jedoch heiß sein kann. Durch Kippen der Flasche kann ein Mischen der kühleren und wärmeren Milch erreicht werden. Es wird jedoch empfohlen, auf das Erwärmen von Säuglingsnahrung mithilfe der Mikrowelle zu verzichten, um diese Gefahr zu vermeiden. ● Bei Anwesenheit von Kleinkindern sollte auf Tischdecken verzichtet werden, damit sie sich nicht durch heiße Getränke, die heruntergezogen werden können, verbrühen. ● Töpfe sollten auf dem Herd stets hinten stehen, v. a. müssen die Stiele nach hinten zeigen, damit die Kinder auch hier nichts herunterreißen können. Auch sollten Töpfe mit einem geschlossenen Deckel verwendet werden. Eine weitere Möglichkeit ist das Anbringen eines Herdschutzes in Form eines Gitters. ● Töpfe mit heißen Flüssigkeiten dürfen nicht auf dem Fußboden abgestellt werden, damit spielende Kinder nicht hineinfallen können.















In die Badewanne sollte stets zuerst kaltes Wasser einlaufen, um die Gefahr von zu heißem Badewasser zu vermeiden. Mischbatterien mit feststellbarem Begrenzer verhindern zu heiß einlaufendes Wasser. Anzünden von Holzkohle zum Grillen darf niemals mit Flüssigbrennstoff, z. B. Spiritus oder Benzin, sondern sollte mithilfe von speziellen Grillanzündern erfolgen. Auch Fondueessen sollte möglichst nicht in Anwesenheit kleiner Kinder stattfinden. Streichhölzer und Feuerzeuge müssen stets kindersicher aufbewahrt werden. Toaster und Bügeleisen sollten unerreichbar für Kinder auf- bzw. abgestellt werden. Kindergesicherte Steckdosen gehören auch in fremde Haushalte, in denen sich die Kleinkinder zeitweise aufhalten. Ältere Kinder müssen auf die Gefahren z. B. im Umgang mit Feuerwerkskörpern hingewiesen werden. Defekte elektrische Geräte dürfen nicht benutzt werden und bei nicht frei stehenden Fernsehgeräten muss auf ausreichende Luftzirkulation geachtet werden, da es durch Wärmestau zu einer Schädigung der Kabel kommen kann.

Erste-Hilfe-Maßnahmen am Unfallort Ist es trotz Vorsichtsmaßnahmen zu einer Verbrühung oder Verbrennung gekommen, wird von der deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde, Kommission „Unfälle im Kindesalter“ sowie den Kinderchirurgen folgendes Vorgehen propagiert: ● Das Kind wird aus der Gefahrenzone gebracht. Bei Stromschlag muss, um eine Eigengefährdung zu vermeiden, der Strom vorher abgeschaltet sein. Flammen mit Decken oder Wasser löschen und die Kleidung entfernen, sofern sie nicht mit der Haut verschmolzen ist. ● Eine sofortige Kühlung bei kleinen Verletzungen im Bereich der Extremitäten mit lauwarmem Wasser ca. 20°–25°C für ca. 10 Minuten dient der Schmerzreduktion. Nach neuesten Erkenntnissen ist eine Kühlung nur innerhalb der ersten Minuten nach dem Unfall effektiv. Deshalb sollte sie nur für kurze Zeit erfolgen, da sie sonst zu einer Vasokonstriktion führt. Im Bereich des Kopfes und des Rumpfes wird auf eine Kühlung verzichtet, da sie nicht auf das verbrannte Areal begrenzt werden kann. Bei großflächigen Verletzungen über 15 % Körperoberfläche, Säuglingen, Kleinkindern sowie bei intubierten und beatmeten Patienten wird keine Kühlung durchgeführt, da die Gefahr einer Hypothermie mit Verringerung der

26.15 Pflege eines Kindes mit thermischen Verletzungen Überlebenschance besteht. Ebenso wird bei Bewusstlosen auf eine Kühlung verzichtet, da sie keine Schmerzen spüren.

Merke

● H

Jegliches Auftragen von Puder, Salben o. Ä. muss unterbleiben, um weitere therapeutische Maßnahmen nicht zu erschweren.











Danach kann dem Kind ein sauberes Baumwolltuch, z. B. frisches Laken, oder eine sterile Folie für Brandverletzte umgelegt werden. Auch die nicht betroffenen Hautareale müssen bedeckt werden, um ein Auskühlen zu vermeiden. Bei schwerwiegenden Verletzungen wird bereits am Unfallort mit einer Flüssigkeitssubstitution und Schmerztherapie begonnen. Das Kind muss ggf. intubiert und eine Magenablaufsonde zur Entlastung (Schutz vor Aspiration) gelegt werden. Indikationen für eine Behandlung in einem Brandverletztenzentrum erfolgt entsprechend der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Verbrennungsmedizin. Diese richten sich nach dem Alter, dem Ausmaß und der Tiefe der verbrannten Körperoberfläche, sowie der Lokalisation, z. B. Beteiligung von Gesicht, Händen, Fußsohlen, Genitalregion. Auch ein Inhalations- und Elektrotrauma sowie Verletzungen durch chemische Noxen sind Gründe für eine Aufnahme. Die Vermittlung schwerstbrandverletzter Kinder erfolgt über den zentralen Bettennachweis für Brandverletzte, der stets über die zur Verfügung stehenden Betten informiert.

Merke

● H

Bei ausgedehnten thermischen Verletzungen ist der zügige Transport in die Klinik sehr wichtig, um eine vitale Gefährdung des Kindes so gering wie möglich zu halten.

Erstversorgung in der Klinik Bei der telefonischen Anmeldung eines Kindes mit einer thermischen Verletzung wird nach Unfallursache, Ausmaß sowie Lokalisation der Verletzung, Unfallhergang, Alter und Geschlecht des Kindes gefragt. In speziell ausgestatteten Zentren für Kinder- und Jugendmedizin stehen keimarme, klimatisierte Schleusenzimmer zur

Verfügung, in denen eine Temperatur von ca. 30–35 °C und eine Luftfeuchtigkeit von ca. 45 % bestehen, um ein Auskühlen des verletzten Kindes zu verhindern. Zur Überwachung von Vitalzeichen und Sauerstoffsättigung stehen Monitore zur Verfügung. Außerdem sind Beatmungs- und Absauggeräte für intubierte Kinder vorhanden. Es werden alle notwendigen Materialien gerichtet, soweit sie noch nicht vorhanden sind: evtl. Spezialbett, Wäsche für die Körperpflege und das Beziehen des Bettes, Instrumente für die Wundversorgung, Materialien für das Legen eines venösen Zuganges und eines Blasendauerkatheters, Notfallwagen mit Intubationszubehör etc. Je vollständiger und griffbereiter die benötigten Materialien vorhanden sind, desto zügiger und für die Kinder weniger belastend können die pflegerischen und therapeutischen Maßnahmen durchgeführt werden.

Merke

H ●

An erster Stelle der Versorgung stehen Schmerzbekämpfung und Wärmezufuhr zur Vermeidung eines reflektorisch-vegetativen Schocks. Die Pflegefachkraft assistiert bei der Durchführung der Schmerztherapie und sorgt für entsprechende Wärmequellen.

Des Weiteren kommt es zu folgenden Maßnahmen: ● Das Körpergewicht wird zur genauen Berechnung der Medikamente ermittelt. ● Die korrekte Einhaltung der berechneten Infusionsmenge dient der Vermeidung eines hypovolämischen Schocks. Die Berechnung der Infusionsmenge erfolgt nach Feststellung der Ausdehnung des Hautdefektes. ● Die Vitalzeichen werden in kurzen Abständen oder mithilfe eines Monitors überwacht. ● Abstriche zur Untersuchung auf pathogene Keime erfolgen im Bereich der Wunden und evtl. des Nasen-RachenRaumes sowie der Leiste. Zusätzlich werden Urin und Stuhl auf pathogene Keime kontrolliert. Die Pflegefachkraft assistiert dem Arzt bei diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen: ● Ein transurethraler Blasenkatheter oder eine suprapubische Ableitung wird zwecks genauer Flüssigkeitsbilanz gelegt, um Störungen der Nierenfunktion frühzeitig zu erkennen. ● Blut wird für das Routinelabor abgenommen: kleines Blutbild, Hämoglobin,







Hämatokrit, Elektrolyte, Blutgasanalyse, Gerinnung, CRP (C-reaktives Protein), Kreatinin und Harnstoff. Auch bei kleinsten Verletzungen muss der Tetanusschutz ausreichend sein, bzw. aufgefrischt werden. Eine Indikation zur Beatmung ist gegeben, wenn Inhalationstrauma, Schock oder ausgedehnte thermische Verletzungen vorliegen sowie Gesicht, Hals und Thoraxbereich betroffen sind. Ist das Kind vital stabilisiert, kann die chirurgische Wundversorgung durchgeführt werden.

Assistenz bei der primären Wundversorgung Die Versorgung der Wunden wird von Klinik zu Klinik sehr unterschiedlich vorgenommen. Es können in diesem Rahmen nur häufig praktizierte Vorgehensweisen aufgezeigt werden, bei denen das Pflegepersonal assistiert. Kleine Wunden werden in der Notfallambulanz behandelt, größere Wunden im Operationssaal versorgt. Die Wunde wird nach erfolgter Schmerzmedikation mit einem Wundantiseptikum, z. B. Lavasept 0,2 % oder Octenisept gereinigt und Haare werden, soweit notwendig, entfernt. Eine Ausnahme bilden stets die Augenbrauen und die Wimpern. Das Eingangs-Débridement besteht im Abtragen der Blasen, das bei größerer Ausdehnung in Narkose erfolgt. Der Schweregrad der Verbrennung wird beurteilt und das Ausmaß festgelegt. Danach werden z. B. Polihexanid-Gel 0,04 % und ein Wundverband mit Verbandmaterialien für ca. 24 Std. aufgelegt und danach, je nach Wunde, ein resorbierbarer Epithelschutz mit z. B. Suprathel (S. 846) angelegt. Suprathel führt zu einer pH-Verschiebung in den sauren Bereich, beschleunigt die Wundheilung und löst sich nach der Epithelisierung ab. Suprathel wird meist mit einer Fettgaze kombiniert, um ein Anhaften des darüberliegenden Verbandes zu vermeiden. Danach erfolgt die Dokumentation in einem Verbrennungsbogen (+ Fotodokumentation).

26

▶ Escharotomien. Dies sind Entlastungsschnitte der verbrannten Haut bis zur Faszie (▶ Abb. 26.27). Sie werden notwendig, wenn bei zirkulären Verletzungen die Durchblutung infolge massiver Schwellung durch Ödeme nicht mehr gewährleistet ist. Sie sollten innerhalb der ersten 24 Std. erfolgen, um Schäden infolge von Durchblutungsstörungen zu vermeiden.

3

Pflege von Kindern mit Störungen des Sinnessystems folgen die Gewichtskontrollen dem Zustand des Kindes entsprechend.

Schmerzlinderung

Abb. 26.27 Escharotomie. Escharotomie rechter Unterarm bei zirkulären Verbrennungen Grad III nach Explosionstrauma. (Abb. aus: Lippert H. Wundatlas. Kompendium der komplexen Wundbehandlung. Thieme; 2012)

Stabile Kreislaufverhältnisse und funktionstüchtige Nieren ▶ Volumensubstitution. Zur Vorbeugung eines hypovolämischen Schocks erfolgt eine Volumensubstitution durch eine Elektrolytlösung, deren Berechnung nach verbrannter Körperoberfläche und Alter erfolgt. In Anlehnung an die Parkland-Formel nach Baxter gilt die modifizierte Formel für Kinder für den 1. Tag: Zusätzlich zum Erhaltungsbedarf werden 4 ml Ringer-Acetat-Lösung pro kg Körpergewicht x % verbrannter Körperoberfläche (VKO) in 24 Std. infundiert. Die Hälfte des errechneten Volumens soll in den ersten 8 Std., die andere Hälfte in den nachfolgenden 16 Std. gegeben werden. Danach wird die Infusionsmenge am 2. Tag auf 3 ml/kgKG × VKO und am 3. Tag auf 1 ml/kgKG × VKO reduziert (AWMF, S 2k-Leitlinie 006–128; Stand: 04/ 2015).

26

564

▶ Flüssigkeitsbilanz. Sie wird nach ärztlicher Anordnung durchgeführt. Die stündlich ausgeschiedene Urinmenge sollte bei Säuglingen 1,0 – 2,0 ml und bei Schulkindern 0,5 – 1 ml pro kg Körpergewichtbetragen. Die Kontrolle des spezifischen Gewichts, das nicht unter 1020 liegen sollte, gibt Auskunft über den Flüssigkeitshaushalt im Organismus. Weitere Maßnahmen der Überwachung: ● Die Vitalzeichen werden in kurzen Abständen, evtl. zusätzlich mittels Monitor, kontrolliert. ● Eine ZVD-Messung sollte bei schweren Verbrennungen erfolgen, um die Kreislaufsituation zu bewerten und den Flüssigkeitsbedarf besser erfassen zu können. ● Beurteilung von Bewusstseinslage und Beobachtung auf evtl. Hirndruckzeichen (S. 684) müssen erfolgen, um ein Hirnödem frühzeitig zu erkennen. ● Gewichtskontrollen können täglich mithilfe einer Bettenwaage ermittelt werden. Steht diese nicht zur Verfügung, er-

Schmerzen infolge thermischer Verletzungen gehören zu den qualvollsten Erfahrungen, die jedes betroffene Kind machen muss. Die Schmerzbekämpfung hat oberste Priorität, da die Schmerzen nach thermischen Verletzungen die schwerwiegendsten in der Traumatologie sind. ▶ Schmerzbeobachtung. Eine wichtige und verantwortungsvolle Pflegetätigkeit sind die sorgfältige und gezielte Schmerzbeobachtung und Befragung der Kinder. Mithilfe von Schmerzskalen kann die jeweilige Schmerzintensität gemeinsam mit dem Kind ermittelt werden (S. 238). ▶ Schmerzmittelgabe. Die Pflegefachkraft assistiert bei der venösen Verabreichung der Schmerzmittel bzw. verabreicht sie dem Kind oral entsprechend der ärztlichen Verordnung. Auf i. m. Injektionen sollte verzichtet werden, da sie den Kindern zusätzlich Schmerzen verursachen. Generell sollte die Gabe von Schmerzmitteln, z. B. Fentanyldauertropf, Dormicum oder Paracetamol in Verbindung mit einem Opiat, sehr großzügig erfolgen. Die Anwendung einer PCA (patientenkontrollierten Analgesie) ist bei älteren Kindern und Jugendlichen in den ersten Tagen möglich. Der eigenverantwortliche Umgang mit den PCA-Pumpen setzt Verständnis für die Wirkungsweise dieser Methode voraus.

Komplikationslose Wundheilung Die Versorgung der Wunde richtet sich nach der Tiefenausdehnung der Wunde. Der Wundbereich bei Verbrennungsgrad I kann mit Dexpanthenolsalbe oder einer granulationsfördernden Gaze versorgt werden. Bei oberflächlichen Verbrennungen Grad IIa und sauberen Wundverhältnissen kann ein Hydrokolloidverband oder ein ADAPTIC-Wundverband aufgelegt werden, der nicht täglich gewechselt werden muss. Wird ein resorbierbarer Epithelersatz aufgelegt, so entfällt der Verbandwechsel. Es wird lediglich der abschließende Verband erneuert. Wunden, die Grad IIb und III zugeteilt sind, werden nach ärztlicher Anordnung mit antimikrobiellen Salben, z. B. Lavasept Gel, Polihexanid Gel 0,04 %, behandelt und anschließend mit einem Verband versorgt, sofern kein resorbierbarer Hautersatz (z. B. Suprathel) verwendet wird. Mit den Salbenbehandlungen sollen Infektionen verhindert und eine Reepithelisierung des Gewebes erreicht werden. Um

Abb. 26.28 Verbandwechsel. Salbenreste werden mithilfe von sterilen Kompressen und 0,9 %iger Kochsalzlösung entfernt. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

ein Verkleben des Verbandes mit der Wunde zu vermeiden, können Salbengitter oder Silikongitter in Kombination angewendet werden. Frühzeitig und im Verlauf muss dann eine Nekrektomie durchgeführt werden, um die Infektionsgefahr gering zu halten. ▶ Verbandwechsel. Beim Wechsel des Verbandes sind alle hygienischen Vorschriften zu beachten und die Pflegemaßnahmen koordiniert durchzuführen, damit die Belastung für das Kind so gering wie möglich ist. Ein Verbandwechsel bei thermischen Wunden, sofern keine speziellen Verbandmaterialen verwendet werden, ist sehr schmerzhaft. Eine rechtzeitige Verabreichung eines Schmerzmittels, zwecks effektiver Wirkung, ist deshalb sehr wichtig. Es muss auch für eine Wärmequelle gesorgt werden, damit ein Auskühlen des Kindes vermieden wird. Die Häufigkeit der Verbandwechsel, z. B. alle 2–3 Tage, richtet sich nach der Art des Verbandmaterials. Salbenreste können abgeduscht oder mithilfe von sterilen Kompressen und 0,9 %iger Kochsalzlösung entfernt werden, bevor die Salbe erneut aufgetragen wird (▶ Abb. 26.28). Wurde im Operationssaal ein resorbierbarer Epithelersatz (z. B. Suprathel) aufgelegt, so entfällt der schmerzhafte Verbandwechsel, da sich der synthetische Hautersatz von selbst auflöst. Nach Applikation wird die Membran transparent und ermöglicht daher die Beurteilung des Heilungsverlaufes. Es wird lediglich der abschließende Sekundärverband gewechselt. Es ist dabei zu beachten, dass die Verbände nicht zu straff angelegt werden, um die Blutzirkulation nicht zu unterbinden. Verheilte Hautareale werden mit einer Fettcreme, z. B. Vaseline oder Dexpanthenol, versorgt, um die neu gebildete Haut geschmeidig zu halten. Die Beobachtung der Wundflächen sowie präzise Doku-

26.15 Pflege eines Kindes mit thermischen Verletzungen mentation des Heilungsverlaufes sind wichtige Maßnahmen (S. 842), um Veränderungen rechtzeitig erkennen zu können. Um das Kind von den Schmerzen während eines Verbandwechsels bestmöglich abzulenken, gibt es verschiedene Möglichkeiten: ● Hören von Entspannungsmusik ● Vorlesen von spannenden Geschichten ● Entspannungs- oder Atemübungen ● sanftes Streicheln der intakten Haut ● Händehalten

Assistenz beim chirurgischen Wundverschluss

Abb. 26.29 Anwendung von Suprathel. (Abb. aus: Pallua N, Markowicz M. Alloplastischer Hautersatz. In: Wappler F, Spilker G, Hrsg. Verbrennungsmedizin. 1. Auflage. Thieme; 2008)

Nekrektomien und Transplantationen erfolgen in entsprechenden Abständen. ▶ Nekrektomie. Das Entfernen des nekrotischen Gewebes erfolgt meist zwischen dem 3. und 5. Tag, um die Gefahr einer Superinfektion und die Produktion von Verbrennungstoxinen zu minimieren. Die Nekrosen werden unter Narkose mithilfe eines Dermatoms schonend abgetragen. Die nekrektomierten Hautareale werden anschließend mit Eigenspalthaut gedeckt. Steht nicht genügend Spalthaut zur Verfügung, kann temporär eine Deckung mit synthetischen Hautersatzmaterialien, z. B. Suprathel oder Epigard, erfolgen (▶ Abb. 26.29). ▶ Spalthautlappen. Die Spalthaut wird vorzugsweise am Kopf, an der Innenseite der Oberschenkel oder im Bereich des Rückens mithilfe eines Dermatoms entnommen (▶ Abb. 26.30). Die Entnahmestelle entspricht einer Schürfwunde mit 0,1– 0,2 mm Tiefe, die spontan und komplett abheilt. Die Einheilung des Transplantates ist meist innerhalb von 14 Tagen abgeschlossen. Die Wundversorgung mit geschlossener Spalthaut erzielt die besten ästhetischen Ergebnisse (Deutsch u. Schnekenburger 2009.) Müssen jedoch größere Flächen gedeckt werden, so ist die Expansion der Spalthaut (Vergrößerung) notwendig, wofür 2 Methoden zur Verfügung stehen. ▶ Meshgraft. Es handelt sich hierbei um einen Spalthautlappen, der netzartig um das 1,5- bis 6-Fache mithilfe einer Schneidewalze vergrößert werden kann (▶ Abb. 26.31). ▶ Micrografting-Technik nach MEEK. Die Spalthaut wird in viele kleine Inseln zerteilt, die dann auf die Wunde aufgebracht werden. Bei beiden Methoden erfolgt die Epithelisierung durch die vielen Hautränder. Nachteil ist die bleibende Gitter- bzw. Punktstruktur, sodass sie möglichst nur

an Körperstellen angewendet werden sollte, die i. d. R. bedeckt sind. ▶ Autologe Keratinozytenkulturen. Steht nur wenig unverbrannte Haut zur Verfügung, kann dieses aufwendige und kostspielige Verfahren angewendet werden. Es genügen wenige Quadratzentimeter große Vollhautlappen, aus denen im Labor Keratinozytenkulturen angezüchtet werden. Innerhalb von 2 – 3 Wochen können auf diese Weise nahezu beliebige Mengen Transplantate geschaffen werden.

Abb. 26.30 Spalthaut. Spalthautentnahme mithilfe eines Dermatoms. (Abb. aus: Sorg H, Vogt P, Spies M. Deckung des Defekts. In: Henne-Bruns D, Hrsg. Duale Reihe Chirurgie. 4., aktualisierte Auflage. Thieme; 2012)

▶ Vollhautlappen. Hierbei handelt es sich um die gesamte Dicke der Kutis ohne Unterhautfettgewebe. Soweit genügend Entnahmestellen zur Verfügung stehen, sollten bei Verletzungen im Bereich des Gesichtes und der Finger Vollhautlappen transplantiert werden, da die kosmetischen Ergebnisse hinsichtlich Farbunterschieden besser sind. Auch bei einer sekundären Transplantation werden Vollhautlappen verwendet, da die Gefahr der Narbenbildung geringer ist. Nachteil ist jedoch die Notwendigkeit der chirurgischen Versorgung der Entnahmestellen. ▶ Versorgung nach Hauttransplantation. Folgendes ist dabei zu beachten: ● Wichtig ist die absolute Ruhigstellung der Kinder nach großflächigen Eigenhauttransplantationen, damit die Einheilung des Transplantates durch Verschieben auf keinen Fall gefährdet wird. Eventuell müssen die Kinder zeitweise sediert werden, um abrupte Bewegungen zu vermeiden. Da die Kinder in den ersten 4 – 7 Tagen nicht mobilisiert werden dürfen, ist eine umfassende Dekubitusprophylaxe notwendig. Transplantierte Extremitäten können zur Ruhigstellung in Gipsschalen positioniert werden. Eine Kontrolle hinsichtlich der

Abb. 26.31 Meshgraft. Mit MeshgraftTransplantaten verschlossene nekrektomierte Brandwunde. (Abb. aus: Wagemann W. Chirurgische Maßnahmen. In: Lippert H, Hrsg. Wundatlas. 3. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Thieme; 2012)





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Durchblutung (Hautfarbe, Sensibilität) sollte regelmäßig erfolgen. Verbände bei einem Meshgraft-Transplantat werden i. d. R. am 5. Tag durch den Chirurgen gewechselt. Die Entnahmestellen werden meistens mit hydrokolloiden Verbänden oder Suprathel versorgt.

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Pflege von Kindern mit Störungen des Sinnessystems

Vermindertes Infektionsrisiko Um das Risiko einer Infektion nach einer ausgedehnten Verbrennung oder Verbrühung zu reduzieren, erfolgt die Unterbringung in einem speziellen keimarmen Verbrennungszimmer, das über eine Schleuse und eine Klimaanlage verfügen sollte. Täglich wird eine sorgfältige Flächendesinfektion vorgenommen. Die Kinder liegen isoliert, da sie infolge der defekten Haut, die keinen Schutz vor pathogenen Keimen bietet, sowie der verminderten Immunabwehr extrem infektionsgefährdet sind. Das Personal betritt das Zimmer mit Schutzkittel. Der Zutritt sollte sich nur auf Pflegefachkräfte, Ärzte und Eltern begrenzen. In Kliniken wird bereits auf sterile Schutzkleidung verzichtet. Eltern, die bei ihrem Kind bleiben, müssen sehr gut über die Gefahren und die einzuhaltenden hygienischen Regeln informiert und motiviert werden, diese auch einzuhalten. Die Pflege des Blasendauerkatheters (S. 376) wird mindestens 2-mal täglich durchgeführt. Wundabstriche erfolgen in regelmäßigen Abständen nach ärztlicher Anordnung, um einen Nachweis über die Keimbesiedelung zu erhalten. Zur Unterstützung des Immunsystems können Gammaglobuline nach ärztlicher Anordnung verabreicht werden. Vonseiten des Kindes müssen Manipulationen im Bereich der Wunde verhindert werden. Größere Kinder und Eltern werden ausführlich informiert und kleinere Kinder diesbezüglich sorgfältig beobachtet.

Merke

26

● H

Eine regelmäßige Temperaturkontrolle wird durchgeführt. Das frühe Erkennen einer Infektion wird jedoch erschwert, da die Temperatur infolge der Stresshormone erhöht ist. Es muss daher auch auf Veränderungen wie z. B. Untertemperatur, Unruhe, weinerliches Verhalten oder Wundgeruch geachtet werden.

Die Pflegefachkraft assistiert bei Blutentnahmen zur Bestimmung des CRP sowie für das Anlegen einer Blutkultur bei Verdacht auf eine Infektion. Nach ärztlicher Anordnung verabreicht sie ein Antibiotikum entsprechend dem Keimnachweis.

Gute Lungenbelüftung und vermindertes Thromboserisiko Die Durchführung der Pneumonieprophylaxe (S. 260) ist wichtig, da betroffene Kinder infolge der Schmerzen oft eher ober-

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flächlich und nicht tief genug atmen. Zur besseren Belüftung der Lungen sollte eine Positionierung in Oberkörperhochlage erfolgen, die gleichzeitig der Entstehung eines Hirnödems entgegenwirkt. Wird eine Beatmung infolge von Atemproblemen notwendig, werden alle diesbezüglichen pflegerischen Maßnahmen durchgeführt (S. 763). Zur Vermeidung von Thrombosen und der Gefahr von Embolien wird Heparin subkutan nach ärztlicher Anordnung verabreicht.

Bewegliche Gelenke und Vorbeugen von Dekubiti Zur Vorbeugung von Kontrakturen (S. 402) und Fehlhaltungen erhält das Kind regelmäßig Physiotherapie. Nach Einheilung der Spalthaut-Transplantate sollte die Physiotherapie erst nach ca. 8 – 10 Tagen begonnen werden, um Blasenbildung durch Scherkräfte zu vermeiden. Das frühe, passive Bewegen der betroffenen Extremität ist besonders wichtig, um Kontrakturen vorzubeugen. Sobald die Wunden vollständig abgeheilt sind, kann eine bessere Beweglichkeit in einer Schmetterlingswanne erreicht werden. Ebenso muss die Entstehung von Dekubiti vermieden werden (S. 403). Regelmäßige Positionswechsel sind bei Kindern mit großflächigen Wunden häufig nicht möglich, da die Kinder nur auf der intakten Haut liegen sollten. Hier bietet sich die Positionierung auf Schaumstoff an, der zur Hohllagerung ausgeschnitten werden kann. Eine weitere Möglichkeit besteht in der vorübergehenden Anwendung von Spezialbetten, z. B. Luftkissen- oder Glaskugelbetten.

Stabiles Körpergewicht und geregelte Magen-Darm-Tätigkeit Infolge des hohen Energiestoffwechsels müssen die Kinder hochkalorisch ernährt werden. Die Ernährung für 24 Std. bei schwer brandverletzten Kindern wird nach der Hildreth-und-Galveston-Formel berechnet: ● Galveston II 1–11 Jahre: 1800 kcal/m2 KOF + 1300 kcal/m2 Verbrennung III°/II b° ● Galveston Adolescent > 12 Jahre: 1500 kcal/m2 KOF + 1500 kcal/m2 Verbrennung III°/II b° Dabei sollte beachtet werden, dass die Ernährung zur guten Wundheilung eiweißund vitaminreich sein sollte. Wegen der Gefahr eines Stressulkus sollte die Verabreichung von säurehaltigen Nahrungsmitteln jedoch zurückhaltend erfolgen. Da die Kinder häufig appetitlos sind, ist es

notwendig, Speisen und Getränke auf die Wünsche abzustimmen. Um Darmatonie und Stressulkus zu vermeiden, wird neben der parenteralen Ernährung so früh wie möglich mit der Verabreichung von Sondennahrung begonnen. Es kann nach ärztlicher Anordnung auch ein Antazidum (z. B. Ulcogant, Maaloxan) verabreicht werden. Eine Gewichtskontrolle erfolgt in regelmäßigen Abständen. Auch auf eine geregelte Stuhlentleerung muss geachtet werden, da die Gefahr eines Ileus gegeben ist. Bei bestehender Obstipation werden entsprechende Maßnahmen durchgeführt (S. 386).

Zufriedenstellende kosmetische Ergebnisse ▶ Narbenkompressionskleidung. Wuchern und Verhärten der Narben sowie quälender Juckreiz können durch konsequentes Tragen von Narbenkompressionsbandagen weitgehend verhindert werden. Sie werden nach vorherigem Abmessen individuell gefertigt und stehen als Strümpfe, Hosen, Handschuhe, Anzüge oder Gesichtsmasken zur Verfügung. Das Material besteht je nach Hersteller aus dünnen, luftdurchlässigen und dehnbaren Gummifasern, sodass die Kompressionskleidung u. U. auch bei Wärme und während des Schwimmens getragen werden kann (▶ Abb. 26.32).

Merke

H ●

Da dies nicht für alle Materialien gilt, muss beim Anbieter abgeklärt werden, ob die Kompressionsbekleidung auch bei Temperaturen über 25 °C getragen werden darf, da evtl. die Gefahr von Juckreiz und Hitzestau besteht.

Für das Gesicht können auch Silikonmasken angefertigt werden, die aber von den Kindern i. d. R. schlecht toleriert werden.

Abb. 26.32 Kompression. Anziehen eines Kompressionsanzuges. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

26.15 Pflege eines Kindes mit thermischen Verletzungen Die Kinder und Eltern müssen über Sinn und Zweck der Narbenkompressionskleidung eingehend informiert werden, damit sie auch motiviert sind, diese 24 Std. täglich über einen Zeitraum von ca. 18–24 Monaten zu tragen. Für die Kinder sowie die Eltern stellt das konsequente Tragen dieser Spezialkleidung eine große Belastung dar, sodass sie immer wieder Zuspruch für ein Durchhalten dieser Maßnahme benötigen. Dem Kind und den Eltern muss auch die Technik des Anziehens gezeigt werden, da die Kompressionskleidung für die Durchführung der Körperpflege ausgezogen wird. Für den Wechsel müssen 2 Kompressionsbandagen zur Verfügung stehen, deren Bezahlung von den Kassen übernommen wird. Außerdem sollten die Eltern wissen, dass die Passform dem Wachstum des Kindes immer wieder neu angepasst werden muss. Regelmäßige Kontrollen sollten ca. alle 6 Monate erfolgen.

(▶ Abb. 26.33). Da die Kompressionsanzüge keinen vollständigen Schutz vor UVStrahlen bieten, sollte im Bereich der Narbe ein Stück Stoff unter der Kompressionsbandage getragen werden. Zum Schwimmen bieten sich zum Schutz vor UV-Strahlen bestimmte Schwimmanzüge an, die für Schwimmer in Australien entwickelt worden sind. Auskünfte hierüber können die Eltern bei der Paulinchen-Initiative für brandverletzte Kinder e. V. einholen (Paulinchen, kostenlose Hotline 0800 0 112 123).

▶ Silikonprodukte. Zusätzlich ist die Anwendung von Silikon zur temporären Versorgung von hypertrophen Narben und Keloiden (S. 840) gut geeignet. Silikon steht als Salbe (z. B. Kelo-cote), Verband (z. B. Mepiform) oder silikongebundenes Textilgewebe (z. B. Silon-TEX), zur Verfügung. Textilbeschichtetes Silikon kann in die Kompressionskleidung eingelegt oder eingenäht werden. Dabei ist zu beachten, dass die Silikonseite auf der Narbe liegt. Die Tragedauer wird anfangs für 12 Std. empfohlen, später kann diese auf max. 23,5 Std. gesteigert werden. Silikonsalbe wird vor jedem erneuten Anziehen der Kompressionskleidung direkt auf die Narbe aufgetragen. Der Silikonverband „Mepiform“ wird auf den trockenen Narbenbereich aufgelegt und sollte die Narbe etwa 1 cm überragen. Der Verband kann zur Körperpflege abgenommen und anschließend wieder aufgelegt werden. Nach einer Woche oder wenn der Verband nicht mehr haftet, sollte er gewechselt werden. Da der Verband wasserfest ist, ist er zum Baden und Duschen geeignet.

Ausgeglichene seelische Verfassung

▶ Narbenschutz. 2-mal täglich müssen die Narbenareale für ca. 5 Minuten unter leichtem Druck und unter Verwendung von Fettcreme, z. B. Linola, massiert werden, um die Narben geschmeidig zu halten. Sollte nach dem Einziehen der Fettsalbe noch ein Überschuss vorhanden sein, wird er vor dem Anziehen der Kompressionsbandage entfernt. Das Narbengewebe muss vor UV-Strahlung geschützt werden, um Pigmentstörungen zu vermeiden. Der Schutz der Narben kann durch Kleidung oder durch die Anwendung eines Sonnenschutzmittels mit sehr hohem Lichtschutzfaktor erfolgen

Merke

H ●

Eine Narbenkorrektur sollte nicht zu früh, d. h. nach abgeschlossener Narbenbildung erfolgen, da es sonst zu erneuter Narbenbildung kommen kann.

Die Kinder benötigen viel Zuwendung, Verständnis und Geduld, da sie aufgrund starker Schmerzen, Isolation und Einschränkung der Mobilität übermäßig belastet sind und mit Weinen, Rückzugsverhalten und evtl. erneutem Einnässen reagieren. Älteren Kindern werden Gespräche angeboten, in denen sie ermutigt werden, über ihre Gefühle, besonders ihre Ängste, zu sprechen. Die Anwesenheit der Eltern im Verbrennungszimmer ist besonders für die kleineren Kinder eine große Hilfe, um mit dieser traumatischen Situation fertigzuwerden. Eltern wechseln sich dabei i. d. R. ab, um ihr Kind nicht allein zu lassen. Ist dies den Eltern aus unterschiedlichen Gründen nicht möglich, sollte das Pflegepersonal bestrebt sein, das Kind so wenig wie möglich allein zu lassen, damit Gefühle der Verlassenheit und Ängste möglichst nicht aufkommen. Die Kinder werden der Situation und dem Alter entsprechend beschäftigt, was nicht allein dazu dient, Langeweile zu vermeiden, sondern auch zeitweise die Schmerzen und die Isolation zu vergessen (S. 448). Haben Kinder Probleme, das Unfallgeschehen zu verarbeiten oder die Veränderung ihres Körperbildes zu akzeptieren, so empfiehlt sich professionelle Hilfe durch Psychologen. Den Eltern gegenüber zeigt das Personal ein freundliches und einfühlsames Verhalten, auch wenn diese sich zeitweise aufgrund der extremen Belastung evtl. wenig kooperativ verhalten. Die Eltern erhalten von ärztlicher Seite aus ausführliche Informationen und werden darauf vorbereitet, dass sich der Zustand ihres

Abb. 26.33 Sonnenschutz. Spezielle UVSchutzkleidung und ein sehr hoher Lichtschutzfaktor sind wichtig, um Pigmentstörungen zu vermeiden (Symbolbild). (Foto: mayakova – stock.adobe.com)

Kindes innerhalb der nächsten Tage verschlechtern kann. Es sollte auch nicht vergessen werden, den Eltern Gesprächsbereitschaft oder eine mitfühlende Geste zukommen zu lassen, auch wenn sich nach dem Unfall alle therapeutischen und pflegerischen Maßnahmen auf das verletzte Kind konzentrieren. Für Eltern ist es hilfreich, wenn sie so weit wie möglich in die Pflegemaßnahmen einbezogen werden, um das Gefühl zu haben, für ihr Kind, das so leiden muss, etwas tun zu können. Keinesfalls darf den Eltern das Gefühl gegeben werden, den Unfall verschuldet zu haben, denn sie machen sich i. d. R. ohnehin die größten Vorwürfe. Eltern sollten auch ermutigt werden, sich Ruhepausen außerhalb des Krankenhauses zu gönnen, damit sie Kraft schöpfen und ihrem Kind eine Hilfe sein können. Bei schweren Verbrennungen wird häufig eine Rehabilitation mit weiteren Krankenhausaufenthalten notwendig, da Narbenkorrekturen oder kosmetische Operationen durchgeführt werden müssen. Für diese schwere Zeit benötigen die Kinder und deren Eltern umfangreiche Unterstützung z. B. vonseiten des Pflegepersonals, der Chirurgen, der Psychologen und der Physiotherapeuten.

26

7

Pflege von Kindern mit Störungen des Sinnessystems

26

568

Kapitel 27 Pflege von Kindern mit Störungen des Atemsystems

27.1

Bedeutung

570

27.2

Pflege eines Kindes mit Pneumonie

571

27.3

Pflege eines Kindes mit Asthma bronchiale

573

Pflege eines Kindes mit Mukoviszidose

579

27.4

Pflege von Kindern mit Störungen des Atemsystems

27 Pflege von Kindern mit Störungen des Atemsystems Mechthild Hoehl

27.1 Bedeutung Störungen des Atemsystems betreffen eine Großzahl der in der Kinderklinik aufgenommenen Kinder. Art und Ausmaß dieser Störungen können sehr unterschiedlich sein: von einer akuten Atemnot – etwa durch Verschlucken eines Fremdkörpers – über infektiöse Erkrankungen der Lunge oder Infektionen der Atemwege, die sowohl verhältnismäßig harmlos als auch sehr bedrohlich für das Kind verlaufen können, bis hin zu chronischen, immer wiederkehrenden Störungen des Atemsystems. Akute, meist infektiös bedingte Störungen des Atemsystems sind in ▶ Tab. 27.1 zusammengefasst. Virale oder bakterielle

Infektionen der Luftwege führen zum Bild einer akuten Atemwegsstörung. Sie betreffen Nasopharyngealbereich, Kehlkopf und Trachea sowie Bronchien und Lungengewebe. Je nach Ausmaß der Störung können sie nicht nur die in der Tabelle angegebenen Symptome und Pflegeprobleme verursachen, sondern auch extremes Unbehagen und massive Ängste. Exemplarisch wird in diesem Kapitel die Pflege eines Kindes mit Pneumonie besprochen. Die im Verlauf beschriebenen Maßnahmen lassen sich auch auf schwere Formen einer Bronchitis oder Bronchiolitis übertragen, da die Übergänge zwischen den beiden Krankheitsbildern oft fließend sind und sie sich in ihren Auswirkungen ähneln.

Grundlagen der pflegerischen Beobachtung im Zusammenhang mit Störungen des Atemsystems und die dazugehörigen Maßnahmen sowie die Durchführung der Sauerstofftherapie werden im Kapitel „Atmen und Kreislauf regulieren“ (S. 244) beschrieben. Grundlagen einer antipyretischen Therapie werden im Kapitel „Körpertemperatur regulieren“ (S. 272) ausgeführt. Bei den chronischen Atemwegsstörungen werden ● die Pflege von Kindern mit Asthma (der derzeit häufigsten chronischen Gesundheitsstörung im Kindesalter) und ● die Pflege von Kindern mit zystischer Fibrose (Mukoviszidose) exemplarisch vorgestellt.

Tab. 27.1 Akute Störungen der Atemwege, Symptome und Pflegeprobleme. Erkrankung

Symptome

Laryngitis (Kehlkopfentzündung)

● ●

Heiserkeit rauer bellender Husten

Pflegeprobleme ●



beeinträchtigte Kommunikation durch Heiserkeit gestörtes Allgemeinbefinden durch Husten, Halsschmerzen

Pflegeschwerpunkte ●



● ●



Pseudokrupp (akute stenosierende Laryngitis)

● ● ●



akuter Beginn bellender Husten vorwiegend nachts inspiratorischer Stridor Zyanose, Erstickungsanfälle (S. 867)

● ●



Angst durch Atemnot gestörte Nachtruhe und gestörtes Allgemeinbefinden durch Husten Gefahr der Hypoxie bei schweren Verlaufsformen

● ● ●







27 Epiglottitis (bakterielle Kehldeckelentzündung mit Schwellung des Kehldeckels) Prophylaxe: Hib-Impfung (Haemophilus influenzae Typ b)

● ● ●



● ●

Tracheitis (Luftröhrenentzündung)

● ● ●

schwerstes Krankheitsbild Fieber kloßige Sprache, Stridor, speicheln starke Atemnot, Schluckbeschwerden Infektionsparameter Lebensgefahr durch drohendes Ersticken (S. 867)



trockener Husten poststernale Schmerzen Fieber











570

Gefahr der Hypoxie Angst durch vitale Bedrohung beeinträchtigte orale Nahrungsaufnahme durch Schluckbeschwerden eingeschränkte Kommunikation durch kloßige Sprache und Sprechangst



gestörtes Wohlbefinden durch tracheale Schmerzen, Husten und Fieber beeinträchtigtes Allgemeinbefinden durch allgemeines Krankheitsgefühl









● ● ● ●

Reden und Räuspern vermeiden, Fragen stellen, die man nur mit Kopfnicken oder Kopfschütteln beantworten kann Kommunikationshilfsmittel (z. B. Schreibtafel anbieten) Wunschkost mit viel Flüssigkeit rachenberuhigende Lutschbonbons bei größeren Kindern Inhalation mit Kochsalzlösung, ggf. Luftbefeuchtung Zuwendung und Beruhigung Zufuhr von Frischluft auf ein angenehmes Raumklima mit ausreichender Luftfeuchtigkeit von 40–60 % achten Gabe von kortisonhaltigen Zäpfchen oder medikamentöse Inhalation auf ärztliche Anordnung bei sehr schwerem Verlauf mit Sauerstoffmangel: Sauerstoffgabe auf ärztliche Anordnung Beratung der Eltern bzgl. der Maßnahmen, da Pseudokrupp wiederholt auftreten kann sofortige Information des Notfallteams Vorbereitung zum Legen eines venösen Zugangs und zur Intubation Intubation ggf. im HNO-OP unter Tracheotomiebereitschaft planen, OP-vorbereitende Maßnahmen nach Klinikstandard Pflege des intubierten Kindes (S. 760), ggf. des tracheotomierten Kindes (S. 767) hustenlindernde Maßnahmen Luftbefeuchtung Wunschkost mit viel Flüssigkeit Kochsalzinhalationen Schmerzmittel und medikamentöse Therapie auf ärztliche Anordnung

Pflege von Kindern mit Störungen des Atemsystems

27 Pflege von Kindern mit Störungen des Atemsystems Mechthild Hoehl

27.1 Bedeutung Störungen des Atemsystems betreffen eine Großzahl der in der Kinderklinik aufgenommenen Kinder. Art und Ausmaß dieser Störungen können sehr unterschiedlich sein: von einer akuten Atemnot – etwa durch Verschlucken eines Fremdkörpers – über infektiöse Erkrankungen der Lunge oder Infektionen der Atemwege, die sowohl verhältnismäßig harmlos als auch sehr bedrohlich für das Kind verlaufen können, bis hin zu chronischen, immer wiederkehrenden Störungen des Atemsystems. Akute, meist infektiös bedingte Störungen des Atemsystems sind in ▶ Tab. 27.1 zusammengefasst. Virale oder bakterielle

Infektionen der Luftwege führen zum Bild einer akuten Atemwegsstörung. Sie betreffen Nasopharyngealbereich, Kehlkopf und Trachea sowie Bronchien und Lungengewebe. Je nach Ausmaß der Störung können sie nicht nur die in der Tabelle angegebenen Symptome und Pflegeprobleme verursachen, sondern auch extremes Unbehagen und massive Ängste. Exemplarisch wird in diesem Kapitel die Pflege eines Kindes mit Pneumonie besprochen. Die im Verlauf beschriebenen Maßnahmen lassen sich auch auf schwere Formen einer Bronchitis oder Bronchiolitis übertragen, da die Übergänge zwischen den beiden Krankheitsbildern oft fließend sind und sie sich in ihren Auswirkungen ähneln.

Grundlagen der pflegerischen Beobachtung im Zusammenhang mit Störungen des Atemsystems und die dazugehörigen Maßnahmen sowie die Durchführung der Sauerstofftherapie werden im Kapitel „Atmen und Kreislauf regulieren“ (S. 244) beschrieben. Grundlagen einer antipyretischen Therapie werden im Kapitel „Körpertemperatur regulieren“ (S. 272) ausgeführt. Bei den chronischen Atemwegsstörungen werden ● die Pflege von Kindern mit Asthma (der derzeit häufigsten chronischen Gesundheitsstörung im Kindesalter) und ● die Pflege von Kindern mit zystischer Fibrose (Mukoviszidose) exemplarisch vorgestellt.

Tab. 27.1 Akute Störungen der Atemwege, Symptome und Pflegeprobleme. Erkrankung

Symptome

Laryngitis (Kehlkopfentzündung)

● ●

Heiserkeit rauer bellender Husten

Pflegeprobleme ●



beeinträchtigte Kommunikation durch Heiserkeit gestörtes Allgemeinbefinden durch Husten, Halsschmerzen

Pflegeschwerpunkte ●



● ●



Pseudokrupp (akute stenosierende Laryngitis)

● ● ●



akuter Beginn bellender Husten vorwiegend nachts inspiratorischer Stridor Zyanose, Erstickungsanfälle (S. 867)

● ●



Angst durch Atemnot gestörte Nachtruhe und gestörtes Allgemeinbefinden durch Husten Gefahr der Hypoxie bei schweren Verlaufsformen

● ● ●







27 Epiglottitis (bakterielle Kehldeckelentzündung mit Schwellung des Kehldeckels) Prophylaxe: Hib-Impfung (Haemophilus influenzae Typ b)

● ● ●



● ●

Tracheitis (Luftröhrenentzündung)

● ● ●

schwerstes Krankheitsbild Fieber kloßige Sprache, Stridor, speicheln starke Atemnot, Schluckbeschwerden Infektionsparameter Lebensgefahr durch drohendes Ersticken (S. 867)



trockener Husten poststernale Schmerzen Fieber











570

Gefahr der Hypoxie Angst durch vitale Bedrohung beeinträchtigte orale Nahrungsaufnahme durch Schluckbeschwerden eingeschränkte Kommunikation durch kloßige Sprache und Sprechangst



gestörtes Wohlbefinden durch tracheale Schmerzen, Husten und Fieber beeinträchtigtes Allgemeinbefinden durch allgemeines Krankheitsgefühl









● ● ● ●

Reden und Räuspern vermeiden, Fragen stellen, die man nur mit Kopfnicken oder Kopfschütteln beantworten kann Kommunikationshilfsmittel (z. B. Schreibtafel anbieten) Wunschkost mit viel Flüssigkeit rachenberuhigende Lutschbonbons bei größeren Kindern Inhalation mit Kochsalzlösung, ggf. Luftbefeuchtung Zuwendung und Beruhigung Zufuhr von Frischluft auf ein angenehmes Raumklima mit ausreichender Luftfeuchtigkeit von 40–60 % achten Gabe von kortisonhaltigen Zäpfchen oder medikamentöse Inhalation auf ärztliche Anordnung bei sehr schwerem Verlauf mit Sauerstoffmangel: Sauerstoffgabe auf ärztliche Anordnung Beratung der Eltern bzgl. der Maßnahmen, da Pseudokrupp wiederholt auftreten kann sofortige Information des Notfallteams Vorbereitung zum Legen eines venösen Zugangs und zur Intubation Intubation ggf. im HNO-OP unter Tracheotomiebereitschaft planen, OP-vorbereitende Maßnahmen nach Klinikstandard Pflege des intubierten Kindes (S. 760), ggf. des tracheotomierten Kindes (S. 767) hustenlindernde Maßnahmen Luftbefeuchtung Wunschkost mit viel Flüssigkeit Kochsalzinhalationen Schmerzmittel und medikamentöse Therapie auf ärztliche Anordnung

27.2 Pflege eines Kindes mit Pneumonie

Tab. 27.1 Fortsetzung Erkrankung

Symptome

Bronchitis (virale oder bakterielle Infektion der Bronchien) Verschiedene Ursachen und Verlaufsformen: ● akut ● chronisch ● obstruktiv Prävention der chronischen Bronchitiden: Zigarettenrauch-Exposition vermeiden



Bronchiolitis (virale Entzündung der Bronchiolen meist im Säuglingsalter)







Pflegeprobleme

Dyspnoe Husten, zunächst trocken, dann mit Auswurf subfebrile Temperaturen









● ● ●

Tachy-/Dyspnoe Atemgeräusche schweres Krankheitsbild Zyanose





Pflegeschwerpunkte

beeinträchtigte Atemfunktion durch Sekretbildung Krankheitsgefühl durch erhöhte Körpertemperatur gestörter Schlaf und beeinträchtigtes Allgemeinbefinden durch Husten Gefahr von Erbrechen bei Hustenattacken



Luftbefeuchtung Wunschkost mit viel Flüssigkeit ● Hilfestellung beim Abhusten ● ggf. temperierte Quarkauflage (S. 256) ● Kochsalzinhalationen Auf ärztliche Anordnung erfolgen je nach Schwere des Verlaufs: ● Gabe von sekretlösenden und/oder bronchialerweiternden Medikamenten (bei Obstruktion) ● antipyretische Therapie ● antibiotische Therapie ● Beobachtung der Therapie auf Wirksamkeit und mögliche Nebenwirkungen

schwere Beeinträchtigung des Allgemeinbefindens und der Atemfunktion Gefahr der Hypoxie









● ● ●

Pleuritis (entzündliche Affektion des Lungenfells)

● ●



seitenungleiche Atmung starke atemabhängige Schmerzen auskultatorische Atemgeräusche





beeinträchtigtes Allgemeinbefinden durch Schmerzen und Beeinträchtigung der Atemfunktion Gefahr weiterer pulmonaler Beeinträchtigungen durch Schonatmung



● ●

Gabe und Überwachung der medikamentösen Therapie auf ärztliche Anordnung engmaschige Vitalzeichenkontrolle, besonders Atmung auf Frequenz und Qualität, ggf. Monitoring mit Überwachung der Sauerstoffsättigung bei Hypoxie Sauerstoffgabe nach ärztlicher Anordnung atemerleichternde Körperpositionierung schonende Körperpflege Assistenz beim Legen eines venösen Zugangs, Durchführung und Überwachung der parenteralen Ernährung im Akutstadium atemerleichternde Körperpositionen Pneumonieprophylaxe Schmerzmittel und medikamentöse Therapie auf ärztliche Anordnung

Pneumonie (S. 571), Asthma (S. 573)

Gerade bei den chronischen Störungen können mehrere, wenn nicht sogar alle Lebensaktivitäten der Kinder beeinflusst und beeinträchtigt sein. Viele für gesunde Kinder normale Dinge sind für die betroffenen Kinder keinesfalls selbstverständlich. Dennoch muss es Ziel der pflegerischen Betreuung der Kinder sein, nicht nur ein größtmögliches Maß an Symptomfreiheit zu erreichen, sondern v. a. die Lebensqualität und gesunde kindliche Entwicklungsmöglichkeit bestmöglich zu erhalten oder zu fördern. Hierzu ist eine intensive Zusammenarbeit mit der Familie unerlässlich.

Lernaufgabe

M ●

Um die Auswirkungen einer Atemwegsstörung einschätzen zu können, versuchen Sie eine Zeit lang durch einen Strohhalm zu atmen. Welche Gefühle löst dieses Experiment bei Ihnen aus?

27.2 Pflege eines Kindes mit Pneumonie 27.2.1 Ursache und Auswirkung Definition

● L

Eine Pneumonie ist eine Entzündung des Lungengewebes.

Die Ursache ist eine durch Bakterien, Viren oder Pilze (atypische Pneumonie) hervorgerufene Infektion, die primär das Lungengewebe, die Lungenbläschen oder das Lungengerüst erfasst oder sekundär von einem entfernten Infektionsherd hämatogen in die Lunge gelangt. Eine chemische Lungenentzündung durch die Inhalation giftiger Dämpfe ist eher selten. Man unterscheidet je nach Lokalisation Lobär-, Segment-, Broncho-, Pleuro- und

interstitielle Pneumonien. Symptome der Pneumonie sind: ● allgemeines Krankheitsgefühl ● Atembeeinträchtigungen, Dyspnoe, Tachypnoe, Gebrauch der Atemhilfsmuskulatur, „Nasenflügeln“ ● bei bakteriellen Infektionen meist hohes Fieber, Schüttelfrost ● Tachykardie ● Husten, ggf. Rasselgeräusche ● Bauch- und Brustschmerzen ● Appetitlosigkeit, Erbrechen ● Bei Neugeborenen und jungen Säuglingen häufig uncharakteristischer Verlauf mit blass-grauem Hautkolorit, Tachypnoe, Apathie, Trinkschwäche, Temperaturinstabilität, Apnoen, ggf. Sauerstoffmangel mit Zyanose bei fortgeschrittener Symptomatik.

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Die Diagnose wird mittels Röntgen-Thorax gesichert, Labordiagnostik dient zur Einschätzung der Schwere der Erkrankung und zum Nachweis des Erregers. Bei bakteriellen Pneumonien erfolgt eine

1

Pflege von Kindern mit Störungen des Atemsystems antibiotische Therapie, je nach Schwere der Symptomatik als orale oder intravenöse Therapie.

27.2.2 Pflegebedarf einschätzen Eine Pneumonie beeinträchtigt neben der Lebensaktivität „Atmen/Kreislauf regulieren“ auch noch weitere Lebensaktivitäten. Mögliche Pflegeprobleme sind: ● Beeinträchtigung der Atemfunktion durch die Erkrankung ● Angst durch Atemnot ● existenzielle Bedrohung durch Komplikationen wie Hypoxie, respiratorische Insuffizienz, Pleuraergüsse, Pleuritis ● Beeinträchtigung des Allgemeinbefindens durch Husten, Tachydyspnoe und Fieber ● gestörtes Wohlbefinden durch Schmerzen beim Atmen ● beeinträchtigte Nährstoffzufuhr durch Appetitmangel und Erbrechen ● beeinträchtige Mobilität durch schweres Krankheitsbild und Infusionstherapie ● Gefahr von Nebenwirkungen der antibiotischen Therapie wie Durchfall oder Pilzinfektionen

27.2.3 Pflegeziele und -maßnahmen Pflegerische Maßnahmen dienen zu Vorbeugung, rechtzeitigem Erkennen und Linderung der akuten Beschwerden.

Rechtzeitiges Erkennen von Zustandsveränderungen Anzeichen einer Pneumonie müssen rechtzeitig erkannt werden: Mithilfe der im Kapitel „Atmen und Kreislauf regulieren“ aufgeführten Kriterien (S. 244) wird die Atmung beobachtet und beurteilt. Insbesondere die Beobachtung von Atemfrequenz, Atemtiefe, Atemqualität, Dyspnoezeichen, Einziehungen und Nasenflügeln, atemabhängigen Schmerzen sowie rasselnden oder stöhnenden Atemgeräuschen geben Aufschluss über die Schwere und den Verlauf der Lungenentzündung. Das Gesundheits- und Kinderkrankenpflegepersonal bereitet alle notwendigen Maßnahmen zur Unterstützung der Diagnostik und Therapie vor. Dazu gehören Vorbereitung, Assistenz, alters- und situationsgerechte Aufklärung, Betreuung und Beobachtung des Kindes bei der bildgebenden Diagnostik, einer notwendigen Infusionstherapie und einer angeordneten Blutentnahme. Je nach Schwere des Krankheitsbildes erfolgt ein Monitoring oder eine Überwachung der Sauerstoffsättigung auf ärztliche Anordnung. Die Häufigkeit der Vitalzeichenkontrollen erfolgt nach klinikinternen Richtlinien, in Abhängigkeit von der Schwere der Atemstörung, sowie nach ärztlicher Anordnung. Abweichungen und Auffälligkeiten der Vitalzeichen werden dokumentiert und an den Arzt weitergeleitet. Begleitende Eltern werden darüber aufgeklärt, bei welchen Veränderungen des Allgemeinzustandes unverzüglich das Krankenhauspersonal zu informieren ist.

Prävention

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Besonders pneumoniegefährdet sind Kinder mit Immunsuppression, unzureichender Atemtiefe, gestörter Sekretentleerung, Schluckstörungen, Immobilität und akuten lungenschädigenden Ereignissen. Zur Pneumonieprophylaxe werden die genannten Maßnahmen durchgeführt (S. 260).

Praxistipp Pflege

Z ●

Durch konsequente Hygienemaßnahmen können nosokomiale Infektionen verhindert werden.

Die Anleitung der Eltern zur Einhaltung notwendiger hygienischer Maßnahmen, z. B. hygienischer Umgang mit expektoriertem Sekret, Händehygiene und Umgang mit häuslichen Inhaliergeräten, ist notwendig, um Reinfektionen und die Weiterverbreitung der Infektion zu verhindern.

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Praxistipp Pflege

Z ●

Bei bedrohlichen Veränderungen der Atmung sorgt die Pflegefachkraft dafür, dass sich Notfallzubehör, wie eine einsatzbereite Absauganlage mit notwendigem Zubehör, Material zur Sauerstoffapplikation, Notfallmedikamente und ein Beatmungsbeutel mit passender Maske in der Nähe des Kindes befinden.

Ausreichende Sauerstoffversorgung Im Rahmen einer Pneumonie kann es zu Beeinträchtigungen des Gasaustausches kommen. Kommt es zum Sauerstoffmangel, wird das Kind weniger belastbar und blassgrau-zyanotisch. Die gemessenen Blutgaswerte verschlechtern sich. Die Sauerstoffsättigungswerte sinken. Gleichzeitig kann die Kohlendioxidspannung steigen. In diesem Fall werden gemeinsam mit dem Arzt geeignete Maßnahmen zur Verbesserung der Atemsituation besprochen und umgesetzt. Hierzu gehören u. a.:







geeignete Maßnahmen zur Sekretverflüssigung und Sekretmobilisation eine medikamentöse, ggf. inhalativ-medikamentöse Therapie zur Verbesserung der Atemsituation eine Sauerstofftherapie

Sauerstoffgabe und intensive Atemtherapie sind notwendig, um Atmung und Gasaustausch zu verbessern. Die Sauerstoffapplikation beim Kind (S. 257) unterliegt strenger Überwachung und Dokumentation. Ist der Zustand des Kindes durch Atemtherapie und Sauerstoffgabe sowie medikamentöse Therapie nicht zu verbessern, wird eine Beatmung notwendig (S. 764).

Atemerleichterung Leidet das Kind unter erschwerter Atmung, muss ihm das Atmen erleichtert werden. Atemstimulierende Einreibungen (S. 253) und atemerleichternde Pflegemaßnahmen müssen dem Zustand des Kindes angepasst werden. ▶ Atemerleichternde Körperpositionen (S. 249). Sie bewirken, dass der Thorax gedehnt wird. In alle Lungenanteile kann die Luft leichter ein- und ausströmen, was dem Kind Erleichterung bringt. Als besonders geeignet bei Lungenentzündung gilt die sog. Pneumonielage (S. 250). Regelmäßige Positionsveränderungen und unterschiedliche Dehnlagen (S. 251) unterstützen die Belüftung aller Lungenbezirke. Gemeinsam mit der physiotherapeutischen Abteilung kann ein Bewegungsplan mit geeigneten Körperpositionen für das Kind erstellt werden. Die Einhaltung dieses Plans wird im Dokumentationssystem vermerkt. ▶ Schmerzlinderung. Sind für das Kind Atemstörungen mit Schmerzen verbunden, ist es wichtig, die Schmerzen zu mindern, damit nicht durch eine Schonatmung zusätzliche pulmonale Probleme entstehen. Pleurale Schmerzen zeigen eine Beteiligung des Rippenfells an. Hierbei ist es sinnvoll, die betroffene Seite von den Atembewegungen zu entlasten, indem das Kind vorwiegend auf die erkrankte Seite gelegt wird. Auf ärztliche Anordnung erfolgt eine rechtzeitige und gezielte medikamentöse Schmerztherapie.

Merke

H ●

Akute, starke thorakale Schmerzen verbunden mit einer Beeinträchtigung des Allgemeinbefindens können Zeichen einer Komplikation sein und sind sofort dem Arzt mitzuteilen.

27.3 Pflege eines Kindes mit Asthma bronchiale

Sichere medikamentöse Therapie ▶ Medikamente. Medikamentöse Behandlungen der Atemwegserkrankung werden auf ärztliche Anordnung durchgeführt. Die Pflegefachkräfte überwachen Wirkung und mögliche Nebenwirkungen der Medikamente, dazu gehört: ● die Durchführung und Beobachtung der angeordneten Infusionstherapie (S. 816) ● ggf. Gabe von oralen Antibiotika und antibiotischen Kurzinfusionen ● Gabe von sekretverflüssigenden Medikamenten ● Durchführung von angeordneten Inhalationen ● Atemluftanfeuchtungen ● ggf. Durchführung einer notwendigen Sauerstofftherapie (S. 257) Zur Prävention von Pilzbefall im Mund oder Windelbereich aufgrund der Antibiotikatherapie sind strenge hygienische Maßnahmen erforderlich. Erste Anzeichen, wie weiße Stippchen an der Mundschleimhaut oder eine Windeldermatitis, sind umgehend dem Arzt mitzuteilen, der eine fungizide Therapie veranlasst. Da die antibiotische Therapie die gesunde Darmflora der Kinder beeinträchtigen kann, kann es im Rahmen der antibiotischen Therapie zu Durchfällen kommen. Auf ärztliche Anordnung kann die normale Darmflora durch Probiotika vorbeugend unterstützt werden.

Praxistipp Pflege

Z ●

Bei auftretenden Durchfällen wird das Kind mit entsprechender Hilfestellung bei den Ausscheidungen, häufigem Windelwechsel bei Säuglingen und gewissenhafter Gesäßpflege unterstützt.

▶ Flüssigkeitsgabe. Auf eine ausreichende Flüssigkeits- und Mineralstoffzufuhr ist zur Sekretverflüssigung sowie zum Ausgleich von Verlusten durch Schwitzen und Sekrete zu achten. Dem Kind werden regelmäßig seine Lieblingsgetränke angeboten, ggf. muss die Flüssigkeitsaufnahme wegen der Inappetenz des Kindes durch die Infusionstherapie (Kap. 43) unterstützt werden. ▶ Inhalation. Die beeinträchtigte Atemfunktion kann auf ärztliche Anordnung durch inhalative Sekretverflüssigung, z. B. mit physiologischer Kochsalzlösung (S. 255), oder einer medikamentösen Inhalation unterstützt werden (▶ Abb. 27.1). Das Integrieren der Bezugspersonen in diese Maßnahme unterstützt die Atemerleichterung, da das Kind sie dann i. d. R. besser akzeptiert.

Abb. 27.1 Inhalation bei Pneumonie (Symbolbild). (Foto: sushytska – stock.adobe.com)

Akzeptanz der Maßnahmen Merke

H ●

Jede Störung der Atmung erzeugt Angst und psychischen Stress. Angst verstärkt jedoch zusätzlich die Beeinträchtigung der Atmung.

Die Eltern werden – wo sinnvoll und möglich – in die Pflege ihres Kindes eingebunden und zur Durchführung bestimmter Pflegemaßnahmen angeleitet, so können Ängste leichter abgebaut werden. Alle Pflegemaßnahmen, z. B. Inhalieren, werden dem Kind in einer verständlichen Sprache erklärt und evtl. an einer Puppe demonstriert. Bei der Durchführung wird das Kind für seine Mitarbeit gelobt. Die Pflegefachkräfte achten darauf, wie das Kind auf die Pflegemaßnahmen reagiert, und setzen verstärkt atemunterstützende, atemerleichternde, sekretlösende, sekretentleerende und entspannende Maßnahmen ein, die vom Kind toleriert werden und ihm guttun. Gerade bei einem Kind mit einer akuten Störung des Atemsystems können gut gemeinte, aber vom Kind massiv abgelehnte Maßnahmen den Allgemeinzustand eher verschlechtern.

Verbesserung des Allgemeinzustandes Bei einem Kind, das wegen einer Pneumonie zur stationären Aufnahme in die Klinik kommt, steht zwar die Atemwegsproblematik im Vordergrund, häufig kommt es jedoch auch zu weiteren Beeinträchtigungen des Allgemeinzustandes durch Fieber, Appetitlosigkeit, Erbrechen während der Hustenanfälle und Durchfälle als Folge einer antibiotischen Behandlung. Diese Störungen werden symptomatisch behandelt und pflegerisch beeinflusst. Fieber kann z. B. durch physikalische Pflegemaßnahmen und/oder eine angeordnete medikamentöse, antipyretische Therapie (S. 286) gesenkt werden. Bei Kindern mit erschwerter Atmung kann die Verdauung beeinträchtigt sein. Ein gefüllter Magen kann zu Zwerchfellhochstand und

Beeinträchtigung der Atmung führen. Bei der Ernährung des Kindes wird auf kleine Mahlzeiten mit leicht verdaulichen Nahrungsmitteln Wert gelegt. Bei schwerem Krankheitsbild kann durch eine vorübergehende parenterale Ernährung für Entlastung gesorgt werden. Aufgabe des Pflegepersonals sind Durchführung und Überwachung der angeordneten Therapie sowie die Beobachtung des Allgemeinzustandes, um einschätzen zu können, wann wieder mit dem oralen Nahrungsaufbau begonnen werden kann.

27.3 Pflege eines Kindes mit Asthma bronchiale 27.3.1 Ursache und Auswirkung Definition

L ●

Asthma bronchiale ist eine dauerhafte Entzündung der Bronchialschleimhaut, bei der das Bronchialsystem verstärkt auf äußere oder innere Reize reagiert. Hierdurch kommt es zum Anschwellen der Schleimhaut und einer übermäßigen Schleimproduktion. Es kommt zu anfallsartig auftretender Verengung der Bronchien und Erhöhung des Atemwegswiderstandes.

Asthma gehört zu den häufigsten chronischen Gesundheitsstörungen im Kindesund Jugendalter. In Deutschland sind etwa 10 % aller Kinder unter 15 Jahren betroffen. In mindestens 70 % der Fälle bricht die Krankheit vor dem 5. Lebensjahr aus. Auslösende Faktoren können allergische Reaktionen, Entzündungen der Atemwege, körperliche Anstrengung, physikalisch-chemische Reize sowie eine Kombination dieser Faktoren sein. Die psychische Konstitution des Kindes kann zur Verbesserung oder Verschlechterung der bestehenden Störung beitragen. Im Kleinkindalter sind die Übergänge von der chronisch obstruktiven Bronchitis zum Asthma fließend, was die Diagnosestellung in dieser Altersstufe erschweren kann. Asthma verläuft i. d. R. in über Tage und Wochen anhaltenden Schüben von gehäuften Anfällen. Wie häufig ein Asthmaanfall auftritt und wie schwer er verläuft, kann individuell sehr unterschiedlich sein. Symptome eines Asthmaanfalls sind: ● Husten, Tachypnoe, Dyspnoe ● juguläre, interkostale und epigastrische Einziehungen ● verlängerte, erschwerte Ausatemphase ● pfeifende, giemende exspiratorische Atemgeräusche

27

3

Pflege von Kindern mit Störungen des Atemsystems

Tab. 27.2 Einteilung asthmatischer Beschwerden in Schweregrade.

● ● ●

Schweregrad

Beschwerden und Therapieempfehlung

I zeitweise auftretendes intermittierendes Asthma (intermittierende, rezidivierende, bronchiale Obstruktion)



II geringgradig häufig auftretendes (persistierendes) Asthma (episodisch symptomatisches Asthma)



III mittelgradig anhaltend (persistierend) auftretendes Asthma



IV schwergradig persistierendes Asthma



blasses Hautkolorit, ggf. Zyanose Nahrungsverweigerung, Erbrechen Einsatz der Atemhilfsmuskulatur: Das Kind setzt sich mit hochgezogenen Schultern auf, um sich die Atmung zu erleichtern, wirkt angestrengt und hat einen ängstlichen Gesichtsausdruck

Merke

H ●

Notfall: Ein Status asthmaticus ist ein Anfall, der über 24 Stunden anhält und nicht oder nur schlecht auf therapeutische Maßnahmen anspricht. Ein nicht behandelter Status asthmaticus kann zum Tod des Kindes führen!

27

574

Langfristig kommt es zur Überblähung des Thorax (sog. Fassthorax). Durch die erschwerte Atmung ist das Kind auch in anderen Lebensaktivitäten stark eingeschränkt. So ist etwa seine körperliche Belastbarkeit im akuten Schub deutlich vermindert. Man mache sich bewusst, dass die erschwerte Atmung durch den erhöhten Atemwegswiderstand bei einem schweren Asthmaanfall so anstrengend ist wie das ständige Aufblasen von Luftballons für gesunde Menschen. Das kann schon nach kürzester Zeit zu starker Erschöpfung und Ateminsuffizienz führen. Die Asthmatherapie beinhaltet ● die Vermeidung von Allergenexposition bei nachgewiesenen Allergien, ● die medikamentöse Therapie (inhalativ oder systemisch) mit entzündungshemmenden, antiallergisch wirkenden sowie bronchialerweiternden Substanzen (▶ Tab. 27.2),

gelegentliche Beschwerden, weniger als 1-mal pro Woche, kurze Beschwerdezunahme nächtliche Beschwerden bis zu 2-mal im Monat ● beschwerdefreie Intervalle über 2 Monate nur Bedarfsmedikation ●

zeitweise auftretender Husten (bei Kindern mit beschwerdefreien Intervallen unter 2 Monaten) Beschwerden bis 1-mal am Tag und/oder 2-mal in Monat nachts, leichte Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit durch die Symptome ● Lungenfunktion nur bei Beschwerden beeinträchtigt, im beschwerdefreien Intervall unauffällig Dauertherapie + Bedarfsmedikation ●

tägliche und nächtliche Beschwerden mehr als 1-mal in der Woche (bei Kindern auch beschwerdefreie Intervalle unter 2 Monaten) ● Beeinträchtigung der körperlichen Aktivität und des Schlafes ● dauerhaft beeinträchtigte Lungenfunktion inhalative Dauertherapie + tägliche Bedarfsmedikation anhaltende tägliche Beschwerden (bei Kindern an mehreren Tagen in der Woche) häufige nächtliche Beschwerden, häufige Beschwerdezunahmen ● schwer beeinträchtigte Lungenfunktion intensive, ggf. systemische Dauertherapie + Bedarfsmedikation ●





physiotherapeutische Atemtherapie und je nach Alter den gezielten Einsatz von Entspannungstechniken.

Das Pflegepersonal ist hier anleitend und beratend tätig. Besonders geeignet ist die Wissensvermittlung in Asthmaschulungen.

27.3.2 Pflegebedarf einschätzen Bei einem Kind mit Asthma können folgende Pflegeprobleme entstehen: ● vitale Bedrohung durch Atemnot ● Angst vor Erstickung während des Asthmaanfalls ● Beeinträchtigung verschiedener Lebensaktivitäten und ggf. vermindertes Selbstwertgefühl durch verminderte körperliche Leistungsfähigkeit als Folge der Atemnot ● Angst vor wiederkehrenden Asthmaanfällen ● Gefahr der Symptomverschlimmerung bei Allergenexposition und Infektionen ● ggf. mangelnde Akzeptanz einer konsequenten Langzeittherapie ● Veränderungen im Familiensystem aufgrund der chronischen Erkrankung und Therapien ● Beeinträchtigung der Sozialkontakte durch chronischen Verlauf der Erkrankung und Krankenhausaufenthalte ● Einschränkungen bei der Berufswahl sowie Wahl z. B. von Haustieren, Wohnungseinrichtung, Freizeitvergnügen, Urlaubsort bei Allergien

27.3.3 Pflegeziele und -maßnahmen Stabile Vitalfunktionen Ein Asthmaanfall kann sowohl für das Kind als auch für Beobachter bedrohliche Formen annehmen. Dennoch ist es oberstes Gebot, bei allen Pflegemaßnahmen Ruhe zu bewahren, da Aufregung die Symptomatik weiter verschlechtert.

Merke

H ●

Ein Kind wird während eines Asthmaanfalls nicht allein gelassen. Die Anwesenheit einer Pflege- oder Bezugsperson wirkt beruhigend auf das ängstliche Kind.

Das Kind wird aufgesetzt, falls es dies nicht bereits selbst getan hat. Der Rücken wird im Sitzen mit einem Kissen gestützt, da das Kind sehr geschwächt ist. Während des Asthmaanfalls kann sich das Kind mit dem sog. Kutschersitz auf den Oberschenkeln mit den Unterarmen abstützen, um die Arbeit der Atemhilfsmuskulatur zu erleichtern. Ein Säugling oder Kleinkind wird aufrecht auf den Schoß eines Elternteils genommen. Beengende Kleidungsstücke werden geöffnet bzw. ausgezogen. Sind die Kinder bereits in erleichternden Atemtechniken geschult, werden sie aufgefordert, diese anzuwenden. Das Pflegepersonal und die Bezugspersonen des Kindes geben ihm dazu Hilfestellung: Besonders bewährt hat sich die Anwendung der Lippenbremse (▶ Abb. 27.2). Hierbei atmet das Kind normal ein und durch die

27.3 Pflege eines Kindes mit Asthma bronchiale

Abb. 27.2 Lippenbremse. Das Kind atmet gegen die geschlossenen Lippen aus.

geschlossenen Lippen aus. Der hierdurch erzeugte Druckanstieg entbläht die Bronchien und verbessert dadurch die Ausatemfunktion. Gleichzeitig wird der Sekretabtransport unterstützt. ▶ Atemerleichternde Ausgangsstellungen. Die Möglichkeit zur bewussten und tiefen Einatmung kann durch das Einnehmen der atemerleichternden Ausgangsstellungen erleichtert werden. Diese Stellungen werden bei den ersten Anzeichen einer drohenden Atemnot eingesetzt, um die Atmung zu beruhigen, zu vertiefen und zu erleichtern. Mögliche atemerleichternde Ausgangsstellungen sind: ● Reitsitz: Das Kind sitzt umgekehrt auf einem Stuhl und stützt die Unterarme auf der Stuhllehne auf. ● Kutschersitz: Das Kind sitzt breitbeinig auf einem Stuhl, die Unterarme auf die Oberschenkel aufgelehnt (▶ Abb. 27.3a). ● Auflehnen, Abstützen: Das Kind sitzt am Tisch, legt die Unterarme darauf und den Kopf wiederum auf die Unterarme (▶ Abb. 27.3b). Oder: Das Kind steht und stützt sich z. B. an der Wand, geeigneten hohen und stabilen Gegenständen (Baum/Auto) ab (▶ Abb. 27.3c). ● Torwartstellung: Das Kind steht mit leicht gebeugten Knien und stützt sich mit den Händen an den Knien ab (▶ Abb. 27.3d). ● Schneidersitz: Das Kind sitzt entspannt im Schneidersitz und stützt sich mit den Armen seitlich oder nach hinten ab. ● Päckchen: Das Kind ist im Vierfüßlerstand auf Unterschenkel und Unterarme abgestützt (▶ Abb. 27.3e).

27

Abb. 27.3 Atemerleichternde Ausgangsstellungen. a Kutschersitz, (Foto: P. Blåfield, Thieme) b Auflehnen, Abstützen an einer Stuhllehne, (Foto: P. Blåfield, Thieme) c Anlehnen an die Wand, (Foto: P. Blåfield, Thieme) d Torwart, (Foto: P. Blåfield, Thieme) e Päckchen. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

5

Pflege von Kindern mit Störungen des Atemsystems

Tab. 27.3 Wirkungsweise der gebräuchlichen Medikamente in der Asthmatherapie, Beobachtungen und pflegerische Besonderheiten. Medikament

Wirkungsweise/Applikation

β2-Sympathomimetikum

● ●

spasmolytisch (bronchial erweiternd) i. d. R. inhalativ eingesetzt (Dosieraerosol, Kompressorinhalation)

Beobachtung und pflegerische Besonderheiten ●





DNCG (Dinatriumcromoglicium)

● ●

Kortison

● ●

entzündungshemmend zur Inhalation



entzündungshemmend bei leichten Verläufen zur Inhalation, bei schweren Verläufen systemisch (oral)









● ●

Theophyllin

● ●

Leukotrien-Antagonisten

● ●

wenig Nebenwirkungen zur Dauertherapie auch im beschwerdefreien Intervall geeignet nach Inhalation Mund ausspülen Inspektion der Mundschleimhaut, da Gefahr der oralen Pilzinfektion bei systemischer Anwendung Gefahr von Immunsuppression und Cushing-Syndrom Ernährungsberatung bei Stammfettsucht ggf. besonders strenge Hygienerichtlinien bei Immunsuppression

bronchialerweiternd oral oder als i. v. Dauerinfusion im Asthmastatus



Beobachtung auf mögliche Nebenwirkungen: Tachykardie, Unruhe, Magen-Darm-Beschwerden

entzündungshemmend Kautablette



Tablette wird abends gekaut, dann hinuntergeschluckt bisher keine nennenswerten Nebenwirkungen beobachtet wirkt nicht bei allen Kindern gleich gut





Es ist wichtig, in der Pflegeanamnese zu erfragen, welche Atemtechniken das Kind beherrscht, wie es sie selbst beschreibt und bezeichnet und welche ihm üblicherweise am besten helfen.

27

Gefahr von Tachykardie und Unruhe, deshalb Herzfrequenzkontrollen, Beruhigung wird auch als Bedarfsmedikament bei akuten Beschwerden eingesetzt Anleitung zur Selbstmedikation, diese ggf. überwachen und Missbrauch vermeiden

▶ Medikamentöse Asthmatherapie. Sie erfolgt nach den Anweisungen des Arztes: Üblich ist die Inhalationstherapie mit bronchospasmolytischen (atemwegserweiternden) und antiallergisch wirkenden Substanzen. Inhaliert wird mit einem Druckluftinhalationsgerät, Dosieraerosol oder Pulverinhalator. Die orale oder intravenöse medikamentöse Therapie mit atemwegserweiternden und antiallergisch wirkenden Substanzen richtet sich nach dem Allgemeinzustand des Kindes. Ein schwer beeinträchtigtes Kind benötigt in jedem Fall einen intravenösen Zugang, damit die medikamentöse Therapie parenteral, ggf. als Dauerinfusion, durchgeführt werden kann. Das Pflegepersonal beobachtet Wirkungen und evtl. Nebenwirkungen der Medikamente beim Kind (▶ Tab. 27.3).

Merke

H ●

Während eines Asthmaanfalls werden die Vitalzeichen regelmäßig und engmaschig kontrolliert. Hierbei wird besonders die Atmung (Qualität, Geräusche und Frequenz) beobachtet. Weiterhin werden Puls, Blutdruck und Körpertemperatur überwacht. In schweren Fällen werden EKG-Monitor und Sauerstoffsättigungskontrolle mittels Pulsoxymetrie eingesetzt. Falls Sekret abgehustet wird, werden dessen Konsistenz, Beimengungen und Farbe beobachtet und dokumentiert.

Bei schweren Asthmaanfällen ist eine Sauerstofftherapie (S. 257) mit angefeuchtetem Sauerstoff notwendig. Das dafür benötigte Zubehör sollte in der Nähe eines gefährdeten Kindes bereitgehalten werden. Die Pflegefachkraft erinnert das Kind immer wieder an seine Atemübungen und lobt es für kleine Erfolge.

Eltern

a ●

Das Kind und seine Familie werden über das richtige Verhalten während eines Asthmaanfalls geschult. Die Maßnahmen werden eingeübt, damit sie im Notfall auch in Ruhe zu Hause durchgeführt werden können. Die Familie wird darüber informiert, wann bei einem Anfall der Arzt gerufen werden muss. Ein genauer schriftlicher Notfallplan legt die einzelnen Maßnahmen fest.

Verbesserte Lungenfunktion Um die chronische Atemwegsproblematik langfristig zu verbessern, ist es wichtig, dass das Kind mithilfe seiner Eltern atemverbessernde Maßnahmen und die angeordnete medikamentöse Therapie auch im beschwerdefreien Intervall konsequent durchführt.

Korrekter Gebrauch des Dosieraerosols Das Kind wird im Gebrauch des Dosieraerosols folgendermaßen angeleitet (▶ Abb. 27.4): ● Das Kind nimmt eine aufrechte Körperhaltung ein.

576

27.3 Pflege eines Kindes mit Asthma bronchiale

Abb. 27.5 RC-Chamber®. Inhalierhilfe für Kinder. (Abb. von: R. Cegla GmbH & Co. KG)

Abb. 27.4 Gebrauch des Dosieraerosols. a Die Pflegefachkraft erklärt den Gebrauch. (Foto: P. Blåfield, Thieme) b Das Dosieraerosol wird geschüttelt. (Foto: P. Blåfield, Thieme) c Nach dem Ausatmen wird das Mundstück mit den Lippen umschlossen und eingeatmet. Beim Einatmen wird der Wirkstoff freigesetzt und die Luft angehalten, damit sich der Wirkstoff in den Atemwegen verteilt. (Foto: P. Blåfield, Thieme) d Der Behälter wird anschließend wieder geschlossen. Bei der Inhalation von z. B. Kortikoiden sollte der Mund nach der Inhalation ausgespült werden (Soor vermeiden). (Foto: P. Blåfield, Thieme)





● ● ●





● ●



Das Dosieraerosol wird gemäß den Herstellerangaben verwendet. Vor Gebrauch wird es kräftig geschüttelt, damit sich der Wirkstoff gleichmäßig verteilt. Die Schutzkappe wird abgenommen. Zuerst wird ausgeatmet. Das Mundstück wird mit dem Mund fest umschlossen. Während der Einatmung wird ein Hub freigesetzt. Anschließend wird die Luft für 5–10 Sekunden angehalten, damit sich der Wirkstoff verteilen kann. Dann wird durch die Nase ausgeatmet. Wenn das Kind mehr als einen Hub angeordnet bekommen hat, wird der Vorgang nach 1 Minute wiederholt. Nach der Inhalation mit dem Dosieraerosol soll der Mund gespült, gereinigt oder etwas getrunken werden, damit sich keine Wirkstoffreste in der Mundhöhle sammeln. Dies gilt besonders für die Inhalation von Kortikoiden, die die Gefahr einer oralen Pilzinfektion erhöhen.

Die Verteilung des Dosieraerosols kann mittels einer Inhalationshilfe verbessert werden (▶ Abb. 27.5). Insbesondere sollten kortisonhaltige Dosieraerosole nur

mit Inhalierhilfe eingesetzt werden, um die Nebenwirkungen zu verringern. Mittlerweile sind viele unterschiedliche Inhalierhilfen auf dem Markt. Eine gute Inhalierhilfe hat einen flexiblen Adapter, eine Ausatemventilöffnung und kann zum Reinigen auseinandergenommen werden. Bei der Anwendung bei Säuglingen und Kleinkindern wird eine Inhalierhilfe mit Maske eingesetzt. Die Herstellerangaben sind zu beachten. Eine andere Anwendungsform ist der Pulverinhalator (▶ Abb. 27.6), bei dem die Auslösung des Sprühstoßes durch die Einatmung getriggert wird. Bei der Asthmaschulung wird die Anwendungsform ausgewählt, die vom Kind am besten beherrscht wird.

Akzeptanz der Therapie Die individuelle Gestaltung eines Therapieplans berücksichtigt weitestgehend Eigenheiten und Bedürfnisse des Kindes. Er enthält: atemgymnastische Übungen, Entspannungstechniken und die korrekte Anwendung der Medikamente. Wirkungen und Nebenwirkungen der Medikamente müssen vom therapeutischen Team und von der Familie registriert werden, um die für das Kind am

Abb. 27.6 Pulverinhalator (links) und Dosieraerosol (rechts). Der Sprühstoß wird durch die Einatmung ausgelöst. (Foto: K. Oborny, Thieme)

besten geeignete Medikation und Inhalationsform herauszufinden.

Praxistipp Pflege

Z ●

Ein Tagebuch, in dem das Kind seine tägliche Medikation, mögliche Anfälle sowie deren Begleitumstände einträgt, hilft, den Verlauf der Krankheit zu dokumentieren und beeinflussende Faktoren festzustellen.

27 ▶ Peak-Flow-Messung. In das Tagebuch werden auch die aktuellen Peak-FlowMesswerte eingetragen. In besonders schweren Krankheitsphasen wird der Peak-Flow-Wert mehrmals täglich vor und nach der Inhalation ermittelt. So kann der Erfolg der Therapie direkt abgelesen werden. Das steigert die Akzeptanz der Therapie und motiviert das Kind zu einer verstärkt gesundheitsfördernden Lebensweise. Den Kindern wird frühzeitig vermittelt, dass mögliche Manipulationen der Tagebucheintragungen nur ihnen selbst schaden. ▶ Schulungen und Rehabilitationsmaßnahmen. In mehrwöchigen Asthma-

7

Pflege von Kindern mit Störungen des Atemsystems Schulungen werden asthmakranke Kinder und Jugendliche gleicher Altersstufen gezielt geschult. Das Zusammentreffen mit gleichfalls Betroffenen erleichtert häufig den Umgang mit der Erkrankung. Der Kontakt zu Selbsthilfegruppen für junge Asthmatiker ist eine sinnvolle Unterstützung bei der Krankheitsbewältigung und dem Selbstmanagement. Computerspiele und Apps für das Smartphone sind eine bei Jugendlichen beliebte Form des individuellen Trainings im Umgang mit der chronischen Gesundheitsstörung. Klimakuren für asthmakranke Kinder haben nicht nur einen gesundheitsfördernden und rehabilitativen Aspekt durch das allergenarme Reizklima, sondern fördern ebenfalls den Austausch der Betroffenen untereinander.

Gesundheitsfördernde Lebensweise ▶ Allergenvermeidung. Wurde bei einem Kind mit Asthma eine allergische Ursache gefunden, müssen die Allergene gemieden werden. Haustiere, Kontakt mit bestimmten Pflanzen, allergieauslösende Nahrungsmittel (z. B. Hühnereiweiß) oder Hausstaubmilben (Atemnot tritt z. B. beim Staubsaugen auf) sind häufige Auslöser des allergischen Asthmas. Kinder mit Asthma sollten milbendichtes Bettzeug benutzen. Atemnotauslösende Faktoren werden erfragt und vermieden. Das Kind bekommt einen Allergiepass, in dem seine Unverträglichkeiten aufgelistet sind. Die Familie wird beraten, wie sie zu Hause, aber auch bei Besuchen oder Urlauben, eine allergenarme Umgebung schaffen kann. Bedeutet dieses einen massiven finanziellen Mehraufwand, so werden soziale Dienste eingeschaltet, um über Krankenkassen und andere Institutionen Unterstützung zu erhalten.

27

▶ Umweltfaktoren. Auch nicht allergisches Asthma kann durch äußere Faktoren, z. B. kalte Luft, Lackdämpfe und ähnliche chemische oder physikalische Reize verstärkt werden. Die Familien werden dahin gehend beraten, dass sie ihr Kind diesen Reizen so wenig wie möglich aussetzen: Im Winter den Schal bis über Mund und Nase zu schlingen und der Gebrauch unschädlicher Innenraumfarben oder -materialien beugen Problemen vor. ▶ Rauchfreie Umgebung. Ein großes Problem für Asthmatiker stellt Zigarettenrauch dar. Im Elternhaus eines an Asthma erkrankten Kindes sollte mit Rücksicht auf das Kind nicht geraucht werden. Ebenso wird der asthmakranke Jugendliche dahin gehend beraten, dass Rauchen für ihn weitaus schädlicher ist als für Menschen ohne eine chronische Störung der Atemwege.

578

Merke

H ●

Rauchen erhöht die Erkrankungswahrscheinlichkeit für viele Krankheiten, so auch für das Asthma, und zwar nicht nur bei den Rauchern selbst, sondern auch bei ihren Angehörigen und anderen Passivrauchern.

▶ Sport. Körperliche Betätigung kann bei einigen Kindern zu einem Asthmaanfall führen. Sie müssen von einem Sporttherapeuten bei der Wahl einer geeigneten Sportart sowie unterstützenden Maßnahmen wie z. B. Atemgymnastik oder Intervalltraining beraten werden. Ein schwer beeinträchtigtes Kind muss nach ärztlicher Anordnung vor dem Sport noch einmal eine bronchialerweiternde Substanz inhalieren. Ausdauersportarten, bei denen sich das Kind nicht überfordert, können die Gesamtsituation des Kindes verbessern und zur sozialen Integration beitragen. Empfehlenswert sind Wandern, Radfahren oder Schwimmen. ▶ Infektvermeidung. Jeder Atemwegsinfekt kann die Gesamtsituation des Kindes verschlechtern. Daher sollte sich das asthmakranke Kind vor Erkältungskrankheiten schützen. Die von der STIKO (Ständige Impfkommission) empfohlenen Impfungen und alle üblichen Maßnahmen der persönlichen und häuslichen Hygiene dienen außerdem der Infektionsprophylaxe. Gegebenenfalls kann über den üblichen Kinderimpfplan hinaus eine Grippeschutzimpfung sinnvoll sein, wenn das Kind regelmäßig Gemeinschaftseinrichtungen (z. B. Kindergarten) aufsucht. In Gemeinschaftseinrichtungen gelten die üblichen Hygienestandards. Im häuslichen Umfeld ist eine normale Basishygiene empfohlen, zusätzliche Desinfektionsmittel sind üblicherweise nicht notwendig. ▶ Entlassungsmanagement. Vor der Entlassung aus der Klinik muss die Familie des asthmakranken Kindes darin geschult werden, ● wie Asthmaanfällen vorgebeugt werden kann (z. B. durch Umgebungsgestaltung), ● wie die Therapie aufgebaut ist, was beachtet werden muss und wie diese kontrolliert wird, ● wie die Familie sich in akuten Anfällen und Notfallsituationen verhalten muss.

Bestmögliche Lebensqualität Ein asthmakrankes Kind muss in seiner Lebensführung nicht übermäßig eingeschränkt sein. Die Kinder tragen immer ihre Medikamente bei sich und bekommen einen Not-

fallausweis, in dem Informationen über ihre Erkrankung und ihre Therapie aufgenommen sind. Mitschüler, Freunde, Erzieher und Lehrer werden über die Gesundheitsstörung des Kindes aufgeklärt, um ihm im Bedarfsfall unterstützend zur Seite zu stehen. Bei älteren Kindern wird dies nur mit ihrem Einverständnis durchgeführt. ▶ Urlaub. Auf Urlaubsreisen nimmt das Kind seine Medikamente mit. Besonders geeignete Urlaubsorte sind das Meer oder das Hochgebirge, wo die Luft sauber und allergenarm ist. ▶ Berufswahl. Jugendliche Asthmatiker werden bei der Berufswahl beraten, Berufe zu meiden, in denen sie mit Stäuben oder Reizstoffen in Kontakt kommen. Ungeeignet sind z. B. der Beruf des Bäckers, Schreiners oder Lackierers. Besser geeignet sind z. B. Arbeitsplätze im sozialen oder pädagogischen Bereich oder im Büro.

Psychisches Gleichgewicht Für ein Kind mit Asthma ist ein psychisches Gleichgewicht sehr wichtig. Unbearbeitete Konflikte, versteckte Spannungen oder Überforderungszustände verstärken die Atemwegsproblematik. Das Kind erlernt Entspannungstechniken, die es gezielt bei Belastungssituationen, aber auch bei leichten Atembeschwerden einsetzen kann. Bei sehr starker Atemwegsproblematik und großer psychischer Belastung durch die chronische Erkrankung muss eine unterstützende Psychotherapie in Erwägung gezogen werden. Die chronische Atemstörung belastet die ganze Familie. Die Eltern sind in der Bewältigung der Lebenssituation stark gefordert. Die Angst vor den schweren Asthmaanfällen kann sich auf das Kind übertragen und zur Überbehütung führen. Daher benötigen auch die Eltern Hilfe, ihr psychisches Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Diese erhalten sie bei Asthmaschulungen, Selbsthilfegruppen und dem psychologischen Dienst der Klinik.

Lernaufgabe

M ●

Informieren Sie sich über Asthmaschulungsprogramme für Schulkinder mit Asthma und gestalten Sie in Rollenspielen verschiedene Beratungssituationen.

27.4 Pflege eines Kindes mit Mukoviszidose

27.4 Pflege eines Kindes mit Mukoviszidose 27.4.1 Ursache und Auswirkung Definition

L ●

Die Mukoviszidose, auch zystische Fibrose genannt, ist eine autosomal-rezessiv vererbte Stoffwechselerkrankung, die zu einer fehlerhaften Funktion der schleimproduzierenden Zellen führt.

Es handelt sich um eine generalisierte Exokrinopathie, also eine Veränderung aller Körpersekrete. Durch eine Störung des Wasser- und Salzhaushaltes werden die Körpersekrete zähflüssig und weniger transportabel. Die stärksten Auswirkungen hat dies auf die Bronchialdrüsen und die Bauchspeicheldrüse. Es kommt zu einer deutlichen Beeinträchtigung der Lungenfunktion mit der Neigung zu gehäuften Infektionen sowie einer exokrinen Pankreasinsuffizienz mit starker Gedeihstörung. Symptome der Mukoviszidose sind: ● häufige und schwere Infektionen der Atemwege mit quälendem Husten ● Bronchiektasen, Lungenüberblähung, Fassthorax ● Verdauungsstörungen, fettige Stühle, Durchfälle und Untergewicht durch die Funktionsstörung der Bauchspeicheldrüse ● evtl. Mekoniumileus bei Neugeborenen Langfristig können weitere Störungen auftreten: Das Kind kann z. B. einen Diabetes mellitus und Leberfunktionsstörungen entwickeln. Die chronische Atemwegsproblematik führt zu einer Rechtsherzbelastung. Seit September 2016 kann über das erweiterte Neugeborenen-Screening frühzeitig festgestellt werden, ob beim Neugeborenen ggf. eine Stoffwechselerkrankung wie eine Mukoviszidose vorliegt. Eine frühe Diagnose und Therapie wirken sich positiv auf den Krankheitsverlauf aus – wie klinische Langzeitstudien aus den USA und Australien zeigen. Die Diagnosesicherung erfolgt über den Schweißtest, die Iontophorese. Die Erkrankung verläuft chronisch und fortschreitend, wobei der Verlauf individuell sehr unterschiedlich sein kann. Die Lebenserwartung ist deutlich verkürzt. Etwa 60 – 80 % der Patienten erreichen heute dank verbesserter Therapie das Erwachsenenalter. Die symptomatische Therapie der Mukoviszidose beinhaltet Maßnahmen zur

Aufrechterhaltung der Lungenfunktion durch Inhalationen und krankengymnastische Unterstützung der Atemfunktion sowie antibiotische Therapien bakterieller Infektionen. Zur Nährstoffversorgung erfolgen die Substitution von Pankreasenzymen, der Ausgleich von Salzverlusten, eine Vitaminsubstitution und eine verstärkte Kalorienzufuhr. Im fortgeschrittenen Krankheitsverlauf kann eine Sauerstofftherapie notwendig und eine Lungentransplantation erwogen werden. Für einige wenige Genvarianten der Erkrankung ist eine ursächliche Therapie des Salz-Wasser-Haushaltes mit einer Dauermedikation möglich. Das Medikament ist ab 6 Jahren zugelassen.



Schweißtest



Die Entdeckung, dass der Schweiß von Mukoviszidose-Patienten einen erhöhten Salzgehalt aufweist, führte 1959 zur Einführung des Schweißtests als Diagnoseverfahren. Dieser Test dient der Bestimmung der Schweißelektrolyte zum Nachweis bzw. Ausschluss einer Mukoviszidose. Dabei wird ein mit Pilocarpin getränktes Mullläppchen auf eine unbehaarte, gewaschene und getrocknete Hautregion aufgebracht. Mit dem Fluss einer minimalen Menge Gleichstroms wandern die Pilocarpinmoleküle in die Haut und können nun gezielt den Schweißfluss anregen. Nach 5 Minuten werden die Elektroden und die Läppchen entfernt und der Schweiß über 30 Minuten gesammelt. Anschließend muss sofort die Konzentration der Salz-Ionen bestimmt werden: Die Ionenkonzentration bei gesunden Kindern liegt zwischen 20 und 40 mmol/l, bei Erwachsenen bis 60 mmol/l, Kinder mit Mukoviszidose erreichen Werte über 60 mmol/l. Der Test sollte mindestens 2-mal unabhängig voneinander durchgeführt werden, um falsch positive Ergebnisse auszuschließen.

Praxistipp Pflege

Z ●

Nach dem Test werden die PilocarpinRückstände abgewaschen und die Haut je nach Hautzustand eingecremt.

27.4.2 Pflegebedarf einschätzen Durch die chronisch fortschreitende Erkrankung sind alle Lebensaktivitäten beeinträchtigt. Zentrale Pflegeprobleme können sein: ● eingeschränkte Leistungsfähigkeit durch beeinträchtigte Lungenfunktion

















Beeinträchtigung der Lebensaktivitäten durch ständigen quälenden Husten erschwerte Atmung durch Sekretansammlung, hierdurch erhöhtes Risiko von Infektionen und Pneumonien Gedeihstörung durch Malabsorption und Maldigestion aufgrund der beeinträchtigten Bauchspeicheldrüsen- und Gallenfunktion beeinträchtigtes Wohlbefinden durch Bauchschmerzen, Völlegefühl, Übelkeit und Durchfälle erhöhter Energiebedarf durch verstärkte Atemarbeit Einschränkungen in der Lebensführung und der sozialen Kontakte durch zeitaufwendige Therapien und häufige Krankenhausaufenthalte mögliche Isolation durch geringe Akzeptanz der Hustenattacken in der Bevölkerung bei Jugendlichen Probleme mit der Sexualität aufgrund von Unfruchtbarkeit und Scheu, Beziehungen einzugehen psychische Belastung durch allmähliche Verschlechterung des Allgemeinzustandes psychische Belastungssituation durch Auseinandersetzung mit der verkürzten Lebenserwartung oder ethischen Fragen zum Thema Organtransplantation

27.4.3 Pflegeziele und -maßnahmen Bestmögliche Atemfunktion Da die Atemfunktion durch die Ansammlung des zähen Sekrets beeinträchtigt werden kann und pulmonale Infektionen drohen, müssen Veränderungen der Atemqualität frühzeitig wahrgenommen werden. Das Kind wird daher auf sein Allgemeinbefinden, seine Belastbarkeit und Veränderungen der Atemqualität, ggf. Zunahme des Hustens sowie Veränderungen des Sekrets beobachtet. Die Lunge eines Kindes mit Mukoviszidose muss regelmäßig vom zähen Schleim befreit werden. Das tägliche Therapieprogramm für die Kinder ist sehr umfangreich: ● Inhalationen mit sekretlösenden Substanzen, mindestens morgens und abends, bei Bedarf mehrmals täglich ● Durchführung der Atemübungen für mindestens 15 – 30 Minuten morgens und abends, bei Bedarf ebenfalls häufiger; Ausführung verschiedener Dehnlagen und Übungen an der Sprossenwand erhöht und erhält die Thoraxbeweglichkeit ● Entspannungsübungen abends und bei Bedarf

27

9

Pflege von Kindern mit Störungen des Atemsystems

Tab. 27.4 Grundprinzip der autogenen Drainage (s. auch ▶ Abb. 27.7). Atemphase

aktiv/passiv

Atmung

Einatmung

aktiv

tief und langsam durch die Nase, kombinierte Bauch- und Brustatmung

Atempause

3 – 5 Sekunden



Ausatmung

passiv

entspanntes Ausatmen, Rachenraum offen, Luft strömt ohne Widerstand aus, um Sekret nach oben zu befördern

Ausatmung

aktiv

langsames, möglichst langes Ausatmen, zur Entblähung

1

Phase

2

3

Lösen

Sammeln

Expektoration

niedriges Lungenvolumen

mittleres Lungenvolumen

hohes Lungenvolumen

Mobilisation peripheren Sekrets

sammeln in den mittleren Luftwegen

IRV

VT

ERV

RV

Es folgt eine 2-Phasen-Atmung: 1. Der erste Teil der Ausatmung ist passiv, d. h. entspannt und ohne den Einsatz der Atemhilfsmuskulatur. 2. Im zweiten Teil erfolgt die Ausatmung aktiv. Hierbei wird mithilfe des Zwerchfells Schleim gezielt weiter nach oben transportiert. Dies kann mit dem Einsatz von Atemtrainern (z. B. Flutter) unterstützt werden. Je weniger Schleim in den Atemwegen ist, desto langsamer und kräftiger verläuft der aktive Teil der Ausatmung. Diese Atemzyklen werden wiederholt, bis das Sekret bis zur Trachea transportiert ist, wo es mit einem gezielten Hustenstoß expektoriert (ausgeworfen) wird. Zum Auffangen des Sekrets sollte ein Sammelbecher, eine Nierenschale oder in häuslicher Umgebung ausreichend Papiertaschentücher bereitstehen.

Abb. 27.7 Schema der autogenen Drainage.

Praxistipp Pflege ●



27

580

unterstützende Sportarten, z. B. Schwimmen und Reiten, mehrmals wöchentlich bei kleinen Kindern wird die Lungenfunktion durch Physiotherapeuten unterstützt; die Eltern werden hierzu angeleitet, z. B. das Vibrieren in Drainagelagerungen (▶ Abb. 11.7)

Infektionen der Atemwege müssen von Anfang an konsequent behandelt werden. Zur Behandlung von bakteriellen Infektionen benötigen die Kinder eine gezielte intravenöse Therapie auf ärztliche Anordnung, die meist langfristig durchgeführt werden muss. Aufgaben des Pflegepersonals sind Beobachtung und Einschätzung der Atemsituation, Beratung und Unterstützung sowie Anleitung der Kinder und ihrer Eltern bezüglich der genannten Maßnahmen, Beobachtung des Therapieerfolges und Berücksichtigung der individuellen Situation des Kindes. Physiotherapeuten helfen bei der Anleitung zur Atemtherapie und bieten spezielle Sportgruppen für die Kinder an.

Ab einem Alter von 2 – 3 Jahren ist ein Kind in der Lage, aktive Ausatemübungen durchzuführen. Es kann frühzeitig Anteile der autogenen Drainage erlernen.

Autogene Drainage Die autogene Drainage ist die häufigste angewandte Atemtechnik zur Atemtherapie. Die Technik wird im Sitzen oder Liegen durchgeführt und kann mit verschiedenen Dreh- und Dehnlagen kombiniert werden. Die Dauer der autogenen Drainage beträgt i. d. R. ca. 30 Minuten und ist abhängig von der Sekretmenge und -viskosität. Das Grundprinzip der autogenen Drainage ist in ▶ Tab. 27.4 aufgeführt. Die autogene Drainage beginnt mit dem Erspüren von vorhandenem Sekret. Hierfür atmet das Kind mehrfach tief ein und aus. Es wird auf Atemgeräusche wie Giemen oder Brodeln geachtet. Nach einer tiefen Einatmung wird dann eine Pause von 2–5 Sekunden eingehalten, damit die Luft hinter den Schleim gelangt.

Z ●

Spielerische Hinweise zur Handlung und Fantasiegeschichten, was sich gerade wie in der Lunge bewegt, gehören dazu, um die Aufmerksamkeit zu schulen.

Dem Kind können dabei Vorstellungen von einem Schaufelbagger oder einer Lokomotive, die etwas vor sich herschieben, die Konzentration auf die Bewegung des Sekrets erleichtern. Gerade bei kleinen Kindern müssen hierfür immer neue Bilder und Spiele gefunden werden, um die Drainageatmung attraktiv zu machen.

Praxistipp Pflege

Z ●

Größeren Kindern helfen Vorstellungen vom Kehren einer Treppe, bei dem Stufe für Stufe (von den peripheren bis zu den großen Atemwegen) gefegt wird. Den schon gesammelten Schmutz nimmt man mit und fegt ihn weiter, bis ein großer Haufen zustande gekommen ist.

27.4 Pflege eines Kindes mit Mukoviszidose

Verminderung des Infektionsrisikos

volle Hinweise zur Lebensgestaltung zu erhalten.

tel „Essen und Trinken“ (S. 324), gelten nachfolgende Empfehlungen.

Alle von der Ständigen Impfkommission (STIKO, Robert Koch-Institut) empfohlenen Impfungen sollten zur Infektionsprophylaxe erfolgen. Eine zusätzliche Grippeschutzimpfung kann für Kinder, die Gemeinschaftseinrichtungen (z. B. Kindergarten, Schule) besuchen, sinnvoll sein. Ein Kind mit Mukoviszidose muss sich gewissenhaft vor Infektionen der Atemwege schützen. Das zähe Sekret bildet einen idealen Nährboden für Krankheitserreger aller Art. Typisch ist die Besiedlung mit Pseudomonas aeruginosa, die sehr hartnäckig sein kann. Kinder mit Mukoviszidose sollten nicht gemeinsam mit Patienten in einem Zimmer untergebracht werden, die mit Pseudomonaserregern infiziert sind. Falls sie selbst eine nachgewiesene Infektion mit Pseudomonas haben, dürfen sie nur mit Kindern das Zimmer teilen, die mit dem gleichen Erregerstamm infiziert sind. Infektionen der Lunge verschlechtern die Allgemeinsituation des Kindes erheblich, da sie nur sehr langsam ausheilen und das Kind in dieser Zeit in all seinen Lebensaktivitäten stark eingeschränkt ist. Die folgenden Maßnahmen tragen zu einer Verminderung des Infektionsrisikos bei.

▶ Ernährung. Der besonders hohe Bedarf an Kalorien und Vitaminen muss berücksichtigt werden. Der Verzehr von ● bioaktiven Nahrungsbestandteilen (mehrfach ungesättigte Fettsäuren), ● Probiotika (v. a. Laktobazillen), ● Vitaminen und Antioxidanzien

▶ Muttermilch. Bei Neugeborenen ist Muttermilch die beste Ernährungsform, da sie nicht nur eine ausgewogene Zusammensetzung hat und besser verdaulich ist, sondern weil sie auch wertvolle Immunglobuline enthält. Verdauung und Resorption der Muttermilch erfolgen auch bei nicht ausgereifter Funktion der Bauchspeicheldrüse fast vollständig. Die Gabe von Pankreasenzymen kann beim gestillten Kind die Muttermilchverdauung optimieren. Ist dies nicht der Fall, sollte eine altersgemäße Ersatznahrung oder, je nach Gedeihen, eine hochkalorische Säuglingstrinknahrung in Betracht gezogen werden.

▶ Leitungswasser. Bakterienfilter vor Wasserhähnen sind empfehlenswert. Wo dies nicht möglich oder vorhanden ist, wird erst etwas Wasser aus der Endverbraucherleitung abgelassen. Das Kind kann im häuslichen Umfeld z. B. als letztes der Familienmitglieder duschen, damit die Wasserleitungen gut durchgespült sind. ▶ Hygiene. Das Kind wird frühzeitig zu verstärkter persönlicher und häuslicher Hygiene angeleitet. Es lernt, dass es grundsätzlich nicht aus Behältnissen trinken darf, die vorher ein anderer benutzt hat, oder dass es nicht den Schokoriegel des Schulfreundes probieren darf, wenn dieser bereits davon abgebissen hat. ▶ Aufenthalt im Freien. Die Eltern werden dahin gehend beraten, dass das Kind bei schlechtem Wetter meist im Haus bleiben muss. Dagegen soll es sich bei klarem und gutem Wetter häufig im Freien aufhalten, um die Abwehrkräfte zu stärken. ▶ Rehabilitationsmaßnahmen. Klimakuren oder ähnliche Rehabilitationsmaßnahmen wirken nicht nur unterstützend auf die Abwehrlage des Kindes, sondern bieten ihm die Möglichkeit, in einer Gruppe von Kindern mit Mukoviszidose oder anderen Atemwegserkrankungen seine Atemtechniken zu trainieren oder wert-

kann antientzündlich wirken und zu einem Rückgang der Lungenprobleme führen. ▶ Inhalation. Das private Inhaliergerät des Kindes muss hygienisch korrekt benutzt werden, da die inhalierten Substanzen tief in die Atemwege gelangen. Das Gerät wird nur mit gründlich gereinigten Händen bedient, nach dem Gebrauch wird es gemäß den Herstellerangaben gereinigt und in einem Vaporisator sterilisiert. Verwendet das Kind im Krankenhaus die klinikeigenen Geräte, so werden diese nach dem Desinfektionsplan der Klinik aufbereitet oder mit hygienischen Einmalaufsätzen versorgt. Der Umgang des Kindes mit dem Heiminhalationsgerät wird in der Klinik geschult. ▶ Antibiotika. Bei den ersten Anzeichen einer Infektion ist eine antibiotische Therapie auf ärztliche Anordnung auch als Inhalation möglich. Eine nachgewiesene Infektion wird auf ärztliche Anordnung 2 Wochen mit intravenösen Antibiotika behandelt. Um die normalen Lebensaktivitäten aufrechtzuerhalten, kann diese Therapie bei ausreichend gutem Allgemeinzustand des Kindes auch zu Hause durchgeführt werden. Hierzu sind die Eltern im aseptischen Umgang mit dem Material und in der Beobachtung der Maßnahme anzuleiten. Die Betreuung durch den Hausarzt und eine ambulant tätige Gesundheits- und Kinderkrankenpflegefachkraft ist sinnvoll.

Ausreichende Nährstoffzufuhr Bei der Mukoviszidose kommt es zu mangelhaftem Aufschluss und verminderter Aufnahme von Nähr- und Wirkstoffen. Die Maldigestion und Malabsorption sind mitverantwortlich für das schlechte Gedeihen der Kinder. Fast alle Kinder mit zystischer Fibrose sind untergewichtig. Der Ernährungszustand hat auch Auswirkungen auf die Lungenfunktion und Infektanfälligkeit. Daher gilt es, den erhöhten Energie- und Nährstoffbedarf des Kindes zu decken (▶ Abb. 27.8). Die Pflegefachkräfte arbeiten bei der Beratung der Familien eng mit den Ernährungsberatern der Klinik zusammen. Zusätzlich zu den Grundlagen, zur Einschätzung von Wachstum und Gedeihen und allgemeinen Ernährungsempfehlungen, s. a. Kapi-

▶ Beikost. Sie wird nach den Empfehlungen für gesunde Säuglinge eingeführt, bei Gedeihstörung schon ab dem 4. Lebensmonat. Der Brei kann mit Butter, Sahne oder Mandelmus energetisch verdichtet werden. Das Kind sollte mindestens 5 Mahlzeiten am Tag bekommen. Vor allem bei Infekten muss auf eine ausreichende Nährstoffzufuhr geachtet werden. ▶ Individuelle Vorlieben im Kleinkindund Schulalter. Grundsätzlich darf ein Kind mit zystischer Fibrose alle Nahrungsmittel zu sich nehmen. Die individuellen Bedürfnisse und geschmacklichen Vorlieben des Kindes dürfen und müssen berücksichtigt werden. Ausreichendes Kauen erleichtert die Nährstoffaufnahme des Körpers. Die Lieblingsspeisen des Kindes können durch Zugabe von Butter, Sahne, Mandelmus oder Maltodextrin mit Kalorien angereichert werden. Das Kind sollte während der Mahlzeiten zuerst die Nahrungsmittel mit hohem Energiegehalt zu sich nehmen und anschließend die Nahrungsmittel mit weniger Kalorien. Die Eltern sollten darauf hingewiesen werden, dass hochkalorisch nicht automatisch süß oder kohlenhydratreich bedeutet. Vielmehr sollten fett- und proteinhaltige Nahrungsmittel und Trinknahrungen gewählt werden. Mehrbedarfe aufgrund von körperlichen Aktivitäten müssen berücksichtigt werden. Auf eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr ist besonders zu achten, da der Wasserverlust über vermehrtes Schwitzen, dünne Stühle und die Atmung höher ist als bei stoffwechselgesunden Kindern. Die Trinkmenge pro Tag sollte 2–3 Liter betragen. Bei einer Krankenhausaufnahme werden die Ernährungsbedürfnisse des Kindes im Rahmen der Pflegeanamnese erfasst und berücksichtigt.

27

▶ Fettzufuhr. Eine Steigerung der Energiezufuhr kann durch eine Erhöhung der Fettzufuhr (hohe Energiedichte) erreicht werden. Milchprodukte mit höheren Fettgehalten sind zu bevorzugen.

1

Pflege von Kindern mit Störungen des Atemsystems

Abb. 27.8 Ernährungswürfel. Mukoviszidose-Patienten mit Untergewicht sollten ihr Essen zusätzlich z. B. mit Fett und/oder Maltodextrin anreichern. Der Ernährungswürfel dient der Mengenorientierung bei Mukoviszidose. (Abb. von: Arbeitskreis Ernährung Mukoviszidose e.V.)

27 Merke

H ●

Etwa 40 % der Nahrungsenergie sollten einem Kind mit Mukoviszidose als Fett zugeführt werden. Dabei sollen qualitativ hochwertige Öle und Fette mit einem hohen Gehalt an Omega-3-Fettsäuren bevorzugt werden, da diese auch entzündungshemmende Eigenschaften haben.

▶ Enzymsubstitution. Bei nachgewiesener Funktionsschwäche der Bauchspeicheldrüse müssen zu den Mahlzeiten En-

582

zympräparate eingenommen werden. Die Enzymdosierung richtet sich nach dem Fettgehalt der Nahrung und wird je nach Verdauungssituation angepasst – je fettreicher eine Mahlzeit ist, desto mehr Enzyme werden benötigt (pro Gramm Nahrungsfett rund 1000–3000 IE Lipase [fettspaltendes Enzym]). Das Kind sollte die Enzyme im ersten Viertel der Mahlzeit einnehmen. Bei großen Mahlzeiten ist eine Verteilung der Enzyme über den Verlauf der Nahrungsaufnahme sinnvoll. Das Kind sollte die Enzyme nicht kauen oder lutschen – Enzympräparate sind mit einer speziellen Beschichtung versehen – wird

diese im Mund bereits aufgelöst, kann die Mundschleimhaut geschädigt werden.

Praxistipp Pflege

Z ●

Bei kleinen Kindern empfiehlt es sich, einen Teil vor und einen Teil während des Essens einzunehmen, da es bei ihnen häufig schwer ist einzuschätzen, wie viel es tatsächlich essen wird. Ihnen kann man den Inhalt der geöffneten Kapseln mit dem Essen verabreichen.

27.4 Pflege eines Kindes mit Mukoviszidose ▶ Vitaminzufuhr. Ballaststoffreiche, vitamin- und mineralstoffhaltige kohlenhydrathaltige Lebensmittel, wie Kartoffeln und Gemüse, sollen gegenüber reinen Zucker- und Stärkeerzeugnissen, die weniger oder gar keine Vitamine enthalten, bevorzugt werden. Die Vitaminzufuhr sollte durch ausreichend frisches Obst und Gemüse verbessert werden. Versorgungsprobleme bei wasserlöslichen Vitaminen brauchen bei gesundheitsfördernder Ernährung nicht aufzutreten. Aufgrund der beeinträchtigten Fettresorption kann es zur Minderversorgung mit fettlöslichen Vitaminen – besonders Vitamin E und D – kommen. Die Anreicherung von Gemüse mit zerlassener Butter, Sahnesoße oder pflanzlichen Fettquellen ist sinnvoll. Eine Substitution durch zusätzliche Gaben von entsprechenden Präparaten mit fettlöslichen Vitaminen ist möglich. Die Gabe eines Multivitaminpräparates soll den Verzehr vitaminhaltiger Nahrungsmittel nicht ersetzen. ▶ Elektrolytzufuhr. Kinder mit Mukoviszidose verlieren große Mengen Natriumund Chloridionen im Schweiß. An warmen Sommertagen, bei körperlicher Anstrengung und Fieber sollte an Kochsalzzulagen in der Ernährung gedacht werden. Entgegen sonstigen Empfehlungen kann handelsübliche Kleinkindernahrung nachgesalzen werden. Kleinkindern ab dem 2. Lebensjahr kann salzhaltiges Knabbergebäck angeboten werden. Auf den Verzehr zinkreicher Lebensmittel, z. B. Fisch, Milchprodukte, Haferflocken, soll geachtet werden. Zink ist ein wichtiges Element für die Wachstumsentwicklung, Infektabwehr und Wundheilung. Bei Kindern mit Mukoviszidose gehen bei ausgeprägten Durchfällen große Mengen an Zink über den Stuhl verloren. ▶ Gewichtsentwicklung. Ernährungsverhalten und Gewichtsentwicklung des Kindes werden kontrolliert. Bei unzureichender Gewichtsentwicklung wird ein Ernährungstagebuch geführt, um mögliche Probleme und Ressourcen der Ernährung des Kindes zu erkennen. Mit viel Geduld wird stufenweise die Kalorienzufuhr des Kindes erhöht. In diese Maßnahme müssen die Eltern einbezogen werden, um das Kind zum Essen zu motivieren und die Kalorienanreicherung zu Hause weiter durchzuführen. Bei schwerer Mangelernährung kann eine hochkalorische Supplementtrinknahrung angeboten werden. ▶ Sondenernährung. Bei akuten Infektionen kann eine Sondenernährung notwendig sein, um die Gewichtsverluste auszugleichen. In extrem schweren Fällen ist eine langfristige nächtliche Sondenernährung möglich. Eine längerfristige Sonden-

ernährung erfolgt über eine perkutane endoskopische Gastrostomie (PEG), um die Atemwege nicht durch die Magensonde zusätzlich zu verlegen oder die Nasenschleimhaut zu reizen.

Bestmögliche Lebensqualität Merke

H ●

Die Mukoviszidose ist eine Erkrankung, die sehr stark in alle Lebensbereiche des Betroffenen und seiner Familie hineinreicht.

▶ Teilnahme am sozialen Leben. Die Notwendigkeit langer Krankenhausaufenthalte und Rehabilitationsmaßnahmen bedingt immer wieder Fehlzeiten in der Schule und Fernbleiben von den Freunden. Das Pflegepersonal berät und unterstützt bei Fragen der Organisation des Alltags, erstellt Pläne für Lern-, Therapieund Freizeiten und kümmert sich ggf. um unterstützende Angebote innerhalb des Krankenhauses. Gezielter Klinikunterricht hilft, Schulversäumnisse nachzuarbeiten. Das Kind wird dazu angeregt, den Kontakt zu seinen Freunden und Schulkameraden aufrechtzuerhalten und diese in der Klinik zu Besuch zu empfangen. So weit wie möglich sollten notwendige Therapien ambulant oder im häuslichen Umfeld der Kinder vorgenommen werden. Alle Pflege- und Therapiemaßnahmen dürfen das Kind in seinen altersgemäßen Bedürfnissen und Wünschen nicht zusätzlich einschränken. Therapieziele müssen ggf. zugunsten der Lebensqualität des Kindes und Jugendlichen im Gespräch mit dem Kind, seiner Familie und allen an der Pflege und der Therapie beteiligten Personen relativiert werden. Den Pflegefachkräften kommt durch den intensiven Kontakt mit dem Kind und den Eltern eine wichtige Rolle im Erkennen psychosozialer Probleme, wie depressives Verhalten, Non-Compliance zur Therapie und Ängste, z. B. der Angst vor dem Tod, zu. ▶ Häusliche Pflege. Die Familien werden über die Möglichkeit einer sozialmedizinischen Nachsorge und Unterstützung bei schwereren Krankheitsphasen durch ● die häusliche Kinderkrankenpflege oder ggf. ● die ambulante Palliativpflege informiert. Dem Pflegepersonal kommt eine große Aufgabe bei der Beobachtung familiärer Ressourcen und Belastungsfaktoren zu.

▶ Selbsthilfegruppen. Der Anschluss der Familien an Selbsthilfegruppen versorgt sie nicht nur mit den neuesten Erkenntnissen zur Erkrankung, sondern stärkt ihnen im Austausch mit Gleichgesinnten und Gleichbetroffenen den Rücken. Das Pflegepersonal unterstützt die Familien mit Informationsmaterialien und Kontaktdressen. ▶ Lebenserwartung. Die Mukoviszidose verkürzt die Lebenserwartung des betroffenen Kindes erheblich. Aufgrund der verbesserten Therapiemöglichkeiten können die Familien hoffen, dass ihre Kinder das Erwachsenenalter erreichen. Etwa zwei Drittel der Patienten werden älter als 18 Jahre, immer mehr Patienten werden deutlich älter. Damit entwachsen auch immer mehr Patienten der Kinderklinik. Mittlerweile entstehen neue Zentren zur Behandlung betroffener Erwachsener. Der Übergang in die Erwachsenenklinik muss gut vorbereitet werden. ▶ Aufklärung. Die Familien werden frühzeitig vom behandelnden Arzt über den Verlauf der Erkrankung aufgeklärt. Allerdings sind die Verläufe individuell sehr unterschiedlich, was eine Prognose erschwert. Der Zeitpunkt, die Kinder über ihre Erkrankung aufzuklären, ist dann gekommen, wenn sie anfangen, gezielte Fragen zu stellen. Das bedeutet, dass die Aufklärung der Kinder in mehreren Schritten geschehen muss, immer so weit, wie es die Kinder selbst durch Fragen forcieren. Etwa im Kindergartenalter wissen sie, dass sie eine Krankheit haben, derentwegen sie Atemübungen machen und Medikamente nehmen müssen und wie sie sich am besten vor Infekten schützen. Im Schulalter verfügen sie über weitere Informationen, über Risiken und Gefahren ihrer Erkrankung und zur Pubertät sind sie sich der ganzen Konsequenzen rational bewusst. Im Laufe der Zeit erfahren sie am eigenen Leibe, was diese Tatsachen für sie bedeuten. Sie müssen sich stärker als andere Jugendliche damit auseinandersetzen, dass ihr Leben begrenzt ist. Die Pflegekräfte unterstützten die Familien bei Unsicherheiten im altersentsprechenden Umgang mit der Erkrankung.

27

▶ Ethische Fragen. Zudem werden sie mit ethischen Fragen der heutigen medizinischen Möglichkeiten wie pränataler Diagnostik und Organtransplantation konfrontiert: Durch die pränatale Diagnostik ist es möglich, bei bereits in der Familie vorhandenen Merkmalsträgern weitere Erkrankte vorgeburtlich zu erkennen. Dies stellt eine Indikation zur Abtreibung dar. Für die an zystischer Fibrose Erkrankten beinhaltet diese Tatsache die Frage

3

Pflege von Kindern mit Störungen des Atemsystems nach dem eigenen Lebenswert und bedeutet eine starke Belastung. Ebenso wollen viele Erwachsene mit Mukoviszidose auch eine Familie gründen. Aufgrund der krankheitsbedingt verminderten Fertilität ist dies oft nur durch künstliche Befruchtung möglich. Hierbei muss gut abgewogen werden, ob der Gesundheitszustand des Erwachsenen mit der Stoffwechselstörung die zusätzlichen Belastungen durch die Versorgung eines Kindes aushält, da Säuglinge mit ihren Bedürfnissen keine Rücksicht auf Befindlichkeit oder Therapiezeiten der Eltern neh-

27

584

men, zumal die Wahrscheinlichkeit von Mehrlingsgeburten bei künstlicher Befruchtung erhöht ist. Die Lungen- und Pankreastransplantation ermöglicht eine Verlängerung des Lebens in fortgeschrittenem Krankheitsstadium. Die Auseinandersetzung mit dieser Möglichkeit bedeutet für die Familien häufig große innere Konflikte. Die Annahme des Organs eines hirntoten Spenders bedeutet nicht nur psychische Konflikte. Körperliche Abstoßungsreaktionen müssen mit immunsuppressiver Therapie unterdrückt werden.

Praxistipp Pflege

Z ●

In Selbsthilfegruppen und Internetforen werden neben Hinweisen zur täglichen Lebensführung auch diese ethischen Fragen thematisiert und können mit anderen Betroffenen diskutiert werden.

Fazit

M ●

Wie ist Ihre persönliche Einstellung zu Fragen der Pränataldiagnostik, künstlicher Befruchtung und Organtransplantation im Zusammenhang mit der Mukoviszidose? Glauben Sie, dass sich diese Einstellung ändern könnte, wenn Sie selbst Angehöriger oder Betroffener wären?

Kapitel 28 Pflege von Kindern mit Störungen des HerzKreislauf-Systems

28.1

Grundlagen

586

28.2

Pflege eines Kindes mit Herzinsuffizienz

586

28.3

Herzkatheteruntersuchung

593

Pflege bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen

28 Pflege von Kindern mit Störungen des Herz-Kreislauf-Systems Simone Teubert

28.1 Grundlagen Je nach Ausprägung der Gesundheitsstörung können herzkranke Kinder vital bedroht und stark belastenden und schmerzhaften Therapien und Operationen ausgesetzt sein. Je nach Ursache und Auswirkung des Herzfehlers erlebt das Kind Einschränkungen im Alltag und ist sich ein Leben lang seiner Erkrankung bewusst. Eltern begleiten ihr Kind in allen Stadien und sind beherrscht von Sorge um das Leben des Kindes und der weiteren Entwicklung. Sie teilen Schmerz, Ängste und Frustration der Kinder. Aber viele Kinder und Eltern haben auch Hoffnung auf ein nahezu normales Leben nach Abschluss einer erfolgreichen Therapie. Bei den Gesundheitsstörungen im Bereich des Herz-Kreislauf-Systems wird zum einen zwischen angeborenen und erworbenen Störungen, zum anderen in der Symptomatik unterschieden. Diese ist v. a. durch das Auftreten bzw. Nichtauftreten einer Zyanose gekennzeichnet. Aufgrund der umfassenden Vorsorgeuntersuchungen und der aufmerksamen Beobachtung der Kinder in den Geburtskliniken werden heute angeborene Herzfehler oft sehr früh erkannt. Symptome, die den Verdacht eines Herzfehlers bei Neugeborenen nahelegen, sind: ● Trinkschwäche ● Tachypnoe/Dyspnoe, bei Anstrengung oder in Ruhe ● blaues Munddreieck, Zyanose beim Schreien ● schnelle Ermüdung ● Schwitzen beim Trinken im Hinterkopfbereich

28

586

Besteht nach Anamneseerhebung und körperlicher Untersuchung ein Verdacht, kann die Diagnose durch EKG, Echokardiografie und Röntgendarstellung des Thorax gestellt werden. Dank der sich ständig weiterentwickelnden Kardiochirurgie und der Möglichkeit therapeutischer Maßnahmen über einen Herzkatheter, ist eine frühe Korrektur im Säuglingsalter oft möglich. Neben den operativen Korrekturen ist die medikamentöse Therapie eine weitere Säule der Behandlung des herzkranken Kindes. Die einzelnen Fehlbildungsformen und erworbenen Störungen des Herzens sind sehr unterschiedlich. Die Pflegeproblematik, die dadurch entsteht, ist für die Kinder individuell unterschiedlich ausgeprägt, aber einzelne Probleme kehren immer wieder. Aus diesem Grund orientiert sich

die Beschreibung der Pflegeprobleme, -ziele und -maßnahmen am Bild des herzkranken Kindes. Besonderheiten werden exemplarisch an der Pflege eines Kindes mit Herzinsuffizienz dargestellt, die im Säuglings- und Kindesalter überwiegend durch Herz- und Gefäßfehler sowie Herzrhythmusstörungen und Infektionen verursacht wird. Dabei wird im Folgenden auf die speziellen pflegerischen Anforderungen im Säuglings- und Kleinkindalter sowie in der Schulkind- und Jugendlichenphase eingegangen.

28.2 Pflege eines Kindes mit Herzinsuffizienz Fallbeispiel Ida, das Sorgenkind

I ●

Frau K. (3-fache Mutter) stellt ihrem Kinderarzt besorgt ihre 12 Tage alte Tochter Ida vor. Sie beobachtete beim Stillen angestrengtes Atmen und hatte den Eindruck, dass die Umgebung des Mundes sich leicht blassgrau verfärbte. Am stärksten war ihr der feuchte Nacken aufgefallen. All diese Zeichen waren ihr bei ihren anderen Kindern nicht aufgefallen.

28.2.1 Ursache und Auswirkung Das insuffiziente Herz ist, bei ausreichendem Blutvolumen, nicht in der Lage, den Organismus adäquat mit Blut zu versorgen. Diese Gesundheitsstörung hat viele Ursachen und kann daher in jedem Alter auftreten (▶ Tab. 28.1). Es gibt Unterschiede bezüglich Schweregrad und Auswirkung, die Herzinsuffizienz kann akut auftreten und chronisch verlaufen. Den Schweregrad einer Herzinsuffizienz bei Kleinkindern, Schulkindern und Jugendlichen schätzt die New York Heart Association (NYHA) folgendermaßen ein: ● NYHA-Stadium I: keine merkliche Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit. ● NYHA-Stadium II: leichte Einschränkung der körperlichen Belastbarkeit; Beschwerdefreiheit in Ruhe, jedoch Ermüdung, Dyspnoe oder Palpitationen (Herzklopfen) bei normaler körperlicher Tätigkeit. ● NYHA-Stadium III: deutliche Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit; in Ruhe noch beschwerdefrei,



jedoch Ermüdung, Dyspnoe oder Palpitationen bereits bei leichter körperlicher Tätigkeit. NYHA-Stadium IV: Symptome der Herzinsuffizienz bereits in Ruhe, Unfähigkeit zur geringsten körperlichen Leistung.

Charakteristisch sind folgende Faktoren, die auch kombiniert auftreten können: ● erhöhte Vorlast (Preload) führt zu Stauungen in Lungen- (Lungenödem) und Körpervenen, Lebervergrößerung ● vergrößerte Nachlast (Afterload) führt zu erhöhter Myokardbelastung ● verminderte Kontraktilität führt zu Myokardinsuffizienz ● pathologische Herzfrequenz führt zu verminderter Pumpleistung des Herzens

Definition

L ●

Unter Preload (Vorbelastung, Vordehnung) versteht man die mechanische Vorbelastung des Herzens, d. h. Dehnung bzw. Länge der Herzmuskelfasern des linken Ventrikels zu Beginn der Ventrikelkontraktion. Afterload (Nachbelastung) bezeichnet den Widerstand, den die Herzmuskulatur bei der Entleerung der Kammer überwinden muss (sog. Auswurfwiderstand).

Die Herzinsuffizienz wird je nach Zustand des Kindes und der Ursache behandelt. Tritt sie infolge eines angeborenen Herzfehlers auf, werden Spezialisten versuchen, die Störung operativ zu korrigieren. Kann die Ursache nicht operativ beseitigt werden, liegen die Behandlungsschwerpunkte in der medikamentösen Therapie und Lebensführung. Einen großen Einfluss auf das Befinden des Kindes nehmen die speziellen Pflegemaßnahmen. Symptome der Herzinsuffizienz (abhängig vom Schweregrad) sind: ● Tachykardie, Dyspnoe in Ruhe bzw. bei geringer Anstrengung, Zyanose, Stridor ● Trinkschwäche, unzureichende Gewichtszunahme, Mattigkeit, eingeschränkte Belastbarkeit, Spielunlust ● feuchtkalte Haut, kalte Extremitäten, blassgraues Hautkolorit, vermehrtes Schwitzen, v. a. am Hinterkopf (Säugling) ● Dystrophie, mangelndes Unterhautfettgewebe

28.2 Pflege eines Kindes mit Herzinsuffizienz

Tab. 28.1 Ursachen der Herzinsuffizienz im Überblick. Alter bei Beginn

primäre kardiale Ursache

in jedem Alter

● ● ●

primäre extrakardiale Ursache

Myo- und Perikarditis Rhythmusstörungen Myokardiopathie



● ● ● ● ●

in den ersten 2 – 3 Lebenswochen

in den ersten 2 – 3 Lebensmonaten

schwere Herzfehler: ● hypoplastisches linkes Herz ● Koarktation ± VSD ● total abnorme Lungenvenendrainage ● Truncus communis ● univentrikuläres Herz ● schwere Aortenstenose (AS) oder Pulmonalstenose (PS) ● Transposition mit guter Mischung (VSD) ● ● ●

nach dem 1. Lebensjahr

● ● ●









● ● ●

Frühgeburtlichkeit Ductus Botalli mit großem Links-rechts-Shunt Atemnotsyndrom schwere Polyglobulie

Ventrikelseptumdefekt, groß Ductus Botalli, groß sehr selten: Vorhofseptumdefekt

peripheres arteriovenöses Aneurysma (z. B. Hirn, Leber)

rheumatische Karditis bakterielle Endokarditis Eisenmenger-Reaktion

Cor pulmonale (z. B. bei Mukoviszidose)

reduzierte Urinausscheidung, unverhältnismäßige Gewichtszunahme durch Ödeme, v. a. im Lid-, Fußrücken- und Schienbeinbereich, Obstipation angespannter, ängstlicher Gesichtsausdruck Überreaktion auf äußere Reize, z. B. erhöhte Schreckhaftigkeit, erhöhtes Geräuschempfinden Angst, Unruhe

Tab. 28.2 Klassifikation des Schweregrades der Herzinsuffizienz bei Säuglingen und Kindern nach Läer et al. (mod. Ross-Score) (AWMF online: S 2k-Leitlinie 023–006: Chronische Herzinsuffizienz 10/2015). Klinischer Punkte-Score

Score 0

Score 1

Score 2

1. Schwitzen

nur Kopf

Kopf und Rumpf während Belastung

Kopf und Rumpf in Ruhe

2. Tachypnoe

nie/selten

gelegentlich

häufig

normal

Einziehungen

Dyspnoe

0–1 Jahr

< 50

50 – 60

> 60

2–6 Jahre

< 35

35–45

> 45

Anamnese

körperliche Untersuchung 3. Atmung

28.2.2 Pflegebedarf einschätzen

4. Atemfrequenz (/Min.)

Kinder mit Herzinsuffizienz sind sehr krank und oft schwer in ihrem Allgemeinbefinden beeinträchtigt. Fast alle Lebensaktivitäten werden durch die Gesundheitsstörung beeinflusst. Die Lebensqualität ist in unterschiedlichem Ausmaß beeinträchtigt. Um eine Verschlechterung der Situation des Kindes zu verhindern, ist es für die betreuende Pflegefachkraft wichtig, kleinste Veränderungen im Verhalten des Kindes wahrzunehmen, einzuordnen, diese an den Arzt weiterzugeben und Pflegemaßnahmen abzuleiten (▶ Tab. 28.2).

Merke



iatrogen: Übertransfusion, Sepsis und schwerer Infekt Hypertonie ausgedehnte Hautaffektion (z. B. Verbrennung) Hyperthyreose schwere Anämie Schock

H ●

Es können diskrete Zeichen sein, die auf eine akute Verschlechterung hinweisen, z. B. Veränderungen der Vitalparameter oder gesteigerte Unruhe.

7–10 Jahre

< 25

25–35

> 35

11–14 Jahre

< 18

18–28

> 28

0–1 Jahr

< 150

150–170

> 170

2–6 Jahre

< 105

105–115

> 115

7–10 Jahre

< 90

90–100

> 100

11–14 Jahre

< 80

80–90

> 90

6. Hepatomegalie (cm unter dem Rippenbogen)

3

5. Herzfrequenz (/Min.)

28

Einteilung des Schweregrades: Gesamtscore: 3– 6 Punkte = leichte Herzinsuffizienz, 7–9 Punkte = mäßige Herzinsuffizienz, 10 – 12 Punkte = schwere Herzinsuffizienz

Wichtig ist die Pflegeanamnese des Kindes unter Beachtung der familiären Situation, welche Ressourcen und Einschränkungen, v. a. das größere Kind, zu Hause hatte. Folgende Pflegeprobleme können auftreten:







beeinträchtigtes Allgemeinbefinden durch instabile Kreislaufsituation erschwerte Atmung z. B. infolge von Lungenödem eingeschränkte oder geringe körperliche Belastbarkeit infolge unzureichender Herzleistung

7

Pflege bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen ●













Trinkschwäche, unzureichendes Gedeihen durch erhöhten Energieverbrauch, Appetitlosigkeit Gefahr der Volumenüberlastung durch unzureichende Urinausscheidung Obstipation durch reduzierte Flüssigkeitsaufnahme Körpertemperatur-Regulationsstörungen durch verminderte Durchblutung Hautveränderungen, Unwohlsein durch starkes Schwitzen Einschränkungen in den Sozialkontakten (Familie, Freunde) durch lange Krankenhausaufenthalte Verunsicherung und Ängste der Eltern und des Kindes durch die Schwere der Erkrankung, häufige Kontrollen beim Kardiologen und vor invasiven Eingriffen

28.2.3 Pflegeziele und -maßnahmen Stabile Vitalfunktionen und rechtzeitiges Erkennen von Veränderungen Merke

● H

Für Kinder mit Herzerkrankungen gelten z. T. andere Grenzwerte bei den Vitalparametern als für Kinder ohne spezielle Fehlbildungen des Herzens.

Dauermonitoring und eine engmaschige Überwachung aller Vitalfunktionen sind in der Akutphase obligatorisch. Überwachungsabstände und Alarmgrenzen der einzelnen Parameter werden vom Arzt angeordnet.

Überwachung

28

588

Damit die Messung der Vitalzeichen aussagekräftig ist, sollte die Überwachung in Ruhe und ohne äußere Störung ablaufen. Kinder (v. a. Säuglinge) sollten nicht hungrig bei der Überwachung sein, da sie dann die Messung schlechter tolerieren. ● Vitalzeichen: Die Pflegefachkraft beurteilt Puls und Atmung (Frequenz, Rhythmus und Qualität) jeweils 1 Minute. Hierbei ist der Einsatz eines Stethoskops sinnvoll. Auf diese Weise können Extrasystolen oder extreme Tachykardien besser erkannt werden. ● Druckstellen: Um Druckstellen zu vermeiden, sind die Kontaktstellen des Pulsoxymeters regelmäßig (alle 2–4 Stunden) zu wechseln. Hände und Füße sollten warm sein, da eine schlechte Durchblutung schneller zu Hautdefekten führt.

Praxistipp

Z ●

Der korrekte Sitz der EKG-Elektroden sollte regelmäßig geprüft werden, da die Kinder aufgrund ihrer Herzerkrankung oft schwitzen und sich einzelne Elektroden lösen können.





Blutdruckmanschette: Diese muss immer individuell auf die Größe des Kindes hin angepasst bzw. daraufhin ausgewählt werden, da es sonst zu falsch hohen oder niedrigen Werten bei der Blutdruckmessung kommen kann. Die Manschette bleibt am Bett des Kindes. Dokumentation: Bei der Überwachung werden Besonderheiten und ermittelte Werte dokumentiert. Zudem wird festgehalten, an welcher Extremität gemessen wurde und ob das Kind während der Messung wach ist oder schläft. Dies ist wichtig, um die erfassten Vitalwerte besser in den Gesamtkontext einordnen zu können. So kann z. B. eine etwas niedrigere Herzfrequenz ganz normal sein, wenn das Kind während der Messung schläft.

Merke

H ●

Jede Abweichung der Vitalparameter, z. B. Tachykardie bzw. Bradykardie beim schreienden Kind, diskrete, aber fortlaufende Veränderung der Sauerstoffsättigung, Blutdruckschwankungen, Blutdruckdifferenzen zwischen oberer und unterer Extremität (z. B. bei beginnender Aortenisthmusstenose) müssen unverzüglich dem Arzt mitgeteilt werden. Sie können einen Hinweis auf die Verschlechterung der Situation des Kindes liefern.

Werte im Bereich der Vitalfunktionen bei herzkranken Kindern dürfen niemals auf herzgesunde Kinder übertragen werden, da z. T. weit abweichende Grenzwerte aufgrund der Herzerkrankung toleriert werden. ▶ Adäquate Sauerstoffversorgung. Die Zyanose der Haut oder Schleimhaut ist eines der wichtigsten Symptome einiger angeborener Herzfehler und der Herzinsuffizienz (▶ Abb. 28.1). Sie kann Hinweis auf eine nicht ausreichende Versorgung des Körpers mit Sauerstoff sein. Eine Sauerstofftherapie erfolgt auf Anordnung des Arztes. Sie wird wie beschrieben durchgeführt und überwacht (S. 257).

Abb. 28.1 Zyanose. Zyanose von Lippen, Zunge und Nasenspitze. (Abb. aus: Greutmann M, Lüscher T. Inspektion. In: Battegay E, Hrsg. Differenzialdiagnose Innerer Krankheiten. 21., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Thieme; 2017)

▶ Besonderheiten. Die Gabe von Sauerstoff bei einem Neugeborenen kann einen Duktusverschluss bewirken. Ein noch offener Ductus Botalli kann aber bei einigen schweren Fehlbildungen des Herzens, z. B. Pulmonalklappenatresie, der einzige Weg der Lungendurchblutung sein. Ein Duktusverschluss bewirkt hierbei eine zyanotische Krise und führt zum Tod!

Merke

H ●

Die Verabreichung von Sauerstoff bei einem Kind mit Verdacht auf kardiale Fehlbildung erfolgt ausschließlich auf Anordnung des Arztes!

Verbesserte Atmung Merke

H ●

Atemnot löst existenzielle Ängste aus und ist für das Kind eine bedrohliche Situation!

Eine Steigerung der bereits vorhandenen Tachypnoe, v. a. in Ruhe, ist beim herzinsuffizienten Kind ein Zeichen für eine Situationsverschlechterung. Aber auch bei optimaler Therapie neigen einige Kinder zur Dyspnoe. Ziel jeder Maßnahme ist daher, die Atmung zu unterstützen und zu erleichtern. Speziell bei der Positionierung kann die betreuende Pflegefachkraft Hilfestellung geben.

28.2 Pflege eines Kindes mit Herzinsuffizienz

Abb. 28.2 Atemerleichterung. Positionierung mit erhöhtem Oberkörper. (Foto: P. Blåfield, Thieme) Abb. 28.3 Hypoxie. Erstmaßnahme bei einem Säugling mit einer hypoxischen Krise.

Die Positionierung in 20 – 30° Hochschräglage mit Unterpolsterung des Thorax wirken atemerleichternd. Die Position soll für das Kind bequem sein. Bei älteren Kindern kann dieser Effekt mit einem Kissen erzielt werden, wobei sie die Arme seitlich auf dem Kissen abstützen können, ähnlich der Haltung in einem Sessel mit Armlehne. Sie sollten dabei die für sie bequemste Position selbst herausfinden (▶ Abb. 28.2). Bei bereits eingetretener Lebervergrößerung sollten sitzende und flache Positionierungen vermieden werden. Die vergrößerte Leber führt in dieser Haltung zum Hochpressen des Zwerchfells und erschwert die Atmung dadurch zusätzlich. Die Unterpolsterung der Beine kann die Bauchdecke entlasten und somit das Befinden des Kindes positiv beeinflussen. Wichtig ist es, so weit wie möglich die Positionierung in Schräglage bei pflegerischen und therapeutischen Tätigkeiten einzuhalten. Anwendungen, die für das Kind nicht angenehm sind, werden durch eine flache Positionierung noch belastender. Physiotherapeuten können mit Atemtherapie die Atmung fördern, sofern es das Befinden des Kindes zulässt. Eine ruhige Umgebung und der gelassene Umgang mit dem herzkranken Kind sind äußerst wichtig. Aufregung bewirkt eine zusätzliche Belastung und kann ein ohnehin dyspnoeisches Kind in regelrechte Krisen stürzen. Atemunabhängig kann es bei einigen Krankheitsbildern (z. B. Fallot-Tetralogie) zu hypoxischen Krisen kommen. Die Kinder werden fahlgrau, extrem unruhig bis panisch und schnappen nach Luft.

Merke

H ●

Bei hypoxischen Krisen nehmen große Kinder zur Erleichterung eine Hockstellung ein. Durch die Kompression der Aorta abdominalis und der Femoralarterien wird der Gefäßwiderstand erhöht und so die Lungendurchblutung verbessert. Als Sofortmaßnahme beim hypoxischen Anfall eines Säuglings ahmt man die Hockstellung nach, indem man die Knie des Kindes an seine Brust presst (▶ Abb. 28.3).

Kinder mit Herzinsuffizienz haben oft bei Aufregung einen trockenen bellenden Husten. Dieser sog. kardiale Husten wird durch Lungenüberflutung hervorgerufen und belastet das Kind zusätzlich. Es ist für die Pflegefachkraft wichtig, Veränderungen, die auf einen Infekt der oberen Luftwege hinweisen (z. B. gesteigerte Sekretbildung), rechtzeitig zu erkennen. Außerdem sollte der Kontakt mit Personen, die an einem Atemwegsinfekt leiden, vermieden werden (z. B. Personal, Besucher).

Physiologische Ausscheidung Ein deutliches Zeichen der Herzinsuffizienz ist das generalisierte kardiale Ödem. Es äußert sich bei der Rechtsherzinsuffizienz v. a. an den Beinen und Knöcheln, bei der Linksherzinsuffizienz als Lungenödem.

Abb. 28.4 Gewichtskontrolle – Bilanzierung. Die ermittelten Werte geben Aufschluss über mögliche Einlagerungen oder eine vermehrte Flüssigkeitsausscheidung. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

scheidungsmenge sehr genau zu beobachten und zu dokumentieren. Die Pflegefachkraft wird auf ärztliche Anordnung eine Flüssigkeitsbilanz durchführen. Sind Diuretika i. v. oder oral zur Förderung der Ausscheidung angeordnet, wird die Wirkung gezielt beobachtet, dokumentiert und an den Arzt weitergegeben (Rückgang der Ödeme, erhöhte Urinausscheidung).

Praxistipp

Bei Säuglingen mit bekannter Herzerkrankung sollte das Gewicht der Windel nach jedem Wickeln erfasst werden, um die Urinausscheidung genau bestimmen zu können (Bilanzierung). Alternativ kann das Kind 2-mal täglich gewogen werden – immer unter den gleichen Bedingungen –, d. h. gleiche Waage, gleiche Uhrzeit und ohne Bekleidung (▶ Abb. 28.4).

Bei größeren Kindern und Jugendlichen, die keine strenge Flüssigkeitsbilanz haben, muss die Pflegende auf die Wichtigkeit der Urinausscheidung hinweisen und Frequenz und Menge erfragen und dokumentieren. Der Patient bzw. die Eltern werden über Abweichungen der normalen Urinausscheidung informiert und gebeten, Veränderungen zu berichten.

Merke Urinausscheidung Hervorgerufen durch einen erhöhten hydrostatischen Druck, kann die Flüssigkeit nicht mehr ausreichend als Urin ausgeschieden werden. Kinder mit Herzinsuffizienz werden i. d. R. langfristig mit Diuretika therapiert. Es ist wichtig, die Aus-

Z ●

28

H ●

Ödeme, v. a. das Lungenödem, belasten das Kind schwer. Selbst bei diskreten Zeichen sollte die betreuende Pflegefachkraft den Arzt informieren und in der Zwischenzeit die Ausscheidung und Vitalfunktionen überwachen.

9

Pflege bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen Die Bezugspersonen und älteren Kinder werden über die Diuretikatherapie und ihre Auswirkungen informiert. Sie werden dazu angeleitet, bei einer Therapie zu Hause weiterhin auf die Ausscheidung, das Auftreten von Ödemen und eine Veränderung der Atmung zu achten. Bei Bedarf muss der Kinderarzt oder Kardiologe aufgesucht werden, um ggf. die Therapie neu abzustimmen.

Merke

H ●

Eine auftretende Oligurie bzw. Anurie kann Hinweis auf eine akute Minderdurchblutung der Niere, z. B. durch kompletten Verschluss (Atresie) der Aortenisthmusstenose (Verengung der Aorta), sein! Dadurch entsteht ein lebensbedrohlicher Zustand!

Stuhlausscheidung Neben der reduzierten Urinausscheidung kann es auch zur Obstipation kommen. Bei sehr festem Stuhl, der durch eine stuhlauflockernde Ernährung nicht beeinflusst werden kann, ist auf ärztliche Anordnung die Stuhlausscheidung medikamentös zu unterstützen. Das Pressen beim Stuhlabsetzen ist sehr anstrengend und erschöpfend für die Kinder. Es kommt zur Erhöhung des thorakalen Innendrucks und zusätzlich besteht die Gefahr einer Analfissur.

Eltern

28

a ●

Es ist wichtig, die Eltern bezüglich der Problematik zu informieren und zu beraten sowie in der Beobachtung der Stuhlausscheidung anzuleiten. Ältere Kinder, denen das Thema Ausscheidung unangenehm ist, gilt es, behutsam über die Wichtigkeit einer problemlosen Stuhlausscheidung aufzuklären. Bei Obstipation sollten sie über vorbeugende und erleichternde Maßnahmen beraten werden.

Physiologische Körpertemperatur Herzkranke, sehr dystrophe Kinder mit wenig Unterhautfettgewebe neigen zu Hypothermie mit kalten Extremitäten und sehr starkem Schwitzen. Es ist wichtig, die Körpertemperatur im physiologischen Bereich zu stabilisieren, da eine Hypothermie zu einer belastenden Situation führt und den Sauerstoffverbrauch erhöhen kann (S. 279). Bei sehr dystrophen

590

Säuglingen ist die Wahl eines Wärmebettes oft die einzige Möglichkeit, eine stabile Körpertemperatur zu erreichen.

Eltern

a ●

Bereits in der Klinik werden die Eltern in die Pflege ihres Kindes integriert und von der betreuenden Pflegefachkraft über die Besonderheiten informiert, beraten und begleitet.

Aufgrund des Schwitzens fühlen sich die Kinder sehr unwohl und laufen Gefahr, sich zu erkälten. Empfehlenswert ist leichte Kleidung, die nicht eng anliegt, vorzugsweise aus atmungsaktiven Naturmaterialien. Die Bettwäsche ist je nach Bedarf, v. a. im Kopfbereich, mehrmals täglich zu wechseln. Bei der Decke sollte man auf wärmende, leichte und ebenfalls atmungsaktive Eigenschaften achten.

Angemessenes Gedeihen Für Kinder mit Herzinsuffizienz bedeutet die Nahrungsaufnahme oft Schwerstarbeit. Besonders Neugeborene haben es oft schwer, ihren Bedarf allein über die oral zugeführte Nahrung zu decken. Oft ist es für die Kinder zu anstrengend, komplette Mahlzeiten zu trinken. Sie verlieren dabei mehr Energie, als sie aufnehmen, und erschöpfen schnell. Zudem haben die Kind einen erhöhten Energiebedarf, der durch Anreicherung der Nahrung (z. B. mit Ceres-Ölen) ausgeglichen werden kann. Mütter mit Stillwunsch sollten dahin gehend motiviert werden, die Muttermilch abzupumpen und sie sondieren zu lassen. Sobald es das Befinden des Kindes zulässt, wird die Mutter bei anfangs kurzen Stillversuchen unterstützt.

Merke

H ●

Das Auftreten einer Herzinsuffizienz im Neugeborenenalter ist keine Kontraindikation für das Stillen. Eine evtl. auftretende Trinkschwäche äußert sich sowohl bei der Verabreichung durch Flaschennahrung als auch beim Stillen.

Die Aufgabe der betreuenden Pflegefachkraft besteht auch darin, das Kind hinsichtlich Trinkverhalten und Trinkfähigkeit zu beobachten. Daraufhin wird mit der Mutter ein zeitlicher Rahmen der Nahrungsgabe besprochen. Die Zeitdauer, z. B. des Stillens, muss individuell von den Möglichkeiten des Kindes abhängig gemacht werden. Kann oder möchte das Kind nicht mehr trinken, sollte die Rest-

menge dem Kind, das an der mütterlichen Brust liegt, langsam sondiert werden. Um den Organismus zu schonen und die Säuglinge nicht einem gesteigerten Hungergefühl auszusetzen, wählt man kleine Mahlzeiten in kurzen Zeitintervallen. Die Kinder erhalten die Nahrung möglichst sofort nach dem Aufwachen, damit sie nicht schreien und sich nicht zusätzlich erschöpfen. Möchte ein Kind trinken, sollte man ihm diese orale Bedürfnisbefriedigung wenigstens mit der Gabe einiger Milliliter ermöglichen. Es ist wichtig, das Kind dabei nicht zu überfordern; vielmehr steht der Lustgewinn im Vordergrund, dessen Befriedigung das Kind ruhiger und zufriedener werden lässt. Schläft ein Kind zur anvisierten Mahlzeit, sollte man es nicht wecken und die Nahrung sondieren.

Eltern

a ●

Steht die Entlassung mit Sondenversorgung nach Hause an, sollten die Eltern frühzeitig zum Sondieren (S. 355) der Nahrung angeleitet werden. Zusätzlich wird ihnen ein ambulanter Pflegedienst zur regelmäßigen Betreuung zur Seite gestellt.

Einige Kinder sind – trotz schwerer kardialer Belastung – in der Lage, ihre Mahlzeiten komplett zu trinken. Aus therapeutischen Gründen wird die Gesamtmenge der täglichen Flüssigkeitszufuhr bei den meisten Kindern restriktiv gehalten, um eine Volumenüberlastung zu vermeiden. Dieses reduzierte Flüssigkeitsangebot empfindet das Kind jedoch nicht immer als ausreichend. Um zusätzliche Aufregung zu vermeiden, empfiehlt es sich dann, die Verabreichung der Nahrung den Bedürfnissen des Kindes anzugleichen. Das kann z. B. bedeuten, dass das Kind unterschiedliche Mengen an Nahrung pro Mahlzeit zu sich nehmen möchte. Die angeordnete Tagestrinkmenge darf dabei jedoch nicht überschritten werden. Klein- und Schulkinder bekommen einen Trinkplan, der mit ihnen und den Eltern gemeinsam gestaltet wird. Es ist wichtig, den Eltern die Gründe für diese Einschränkung ihres Kindes zu erklären, damit sie gemeinsam mit der Pflegenden das Kind motivieren können. Lässt der Allgemeinzustand es zu, darf der Säugling ad libitum trinken. Kommt es dabei zu einer unverhältnismäßigen Gewichtszunahme in Form von Ödemen, wird dieser ggf. medikamentös durch Erhöhung der Diuretikadosen entgegengewirkt. Dies erfolgt ausschließlich auf ärztliche Anordnung.

28.2 Pflege eines Kindes mit Herzinsuffizienz

Toleranz der Medikamenteneinnahme Kinder mit Herzproblemen werden mit einer Vielzahl hochwirksamer und auf die Kreislaufsituation einwirkender Medikamente behandelt. Es ist wichtig, die genaue Dosierung und den Zeitpunkt der Einnahme, die zumeist in regelmäßigen Abständen erfolgt, einzuhalten. Des Weiteren müssen Pflegefachkräfte, Eltern und ältere Kinder Wirkungsweise und Nebenwirkungen der Präparate kennen, um bei auftretenden Symptomen entsprechend reagieren zu können (▶ Tab. 28.3). In der Klinik, v. a. in der Einstellungsphase und bei Dosisveränderungen, sind ein kontinuierliches Monitoring und die engmaschige Kontrolle aller Vitalparameter elementar.

H ●

Merke

Diuretika und blutdrucksenkende Medikamente dürfen nie gleichzeitig verabreicht werden. Es könnte ein unverhältnismäßig starker Blutdruckabfall eintreten!

Die Kinder müssen oft viele Medikamente mehrmals täglich einnehmen, dabei kann es zu Problemen mit der Aufnahme kommen. Es ist daher wichtig, die Kinder zu motivieren und darauf zu achten, dass immer der gesamte Wirkstoff aufgenommen wird. Bei Säuglingen gelingt die Verabreichung von Medikamenten am besten, wenn das Medikament mit einer kleinen

Menge Wasser vermischt wird und anschließend mittels einer speziellen Spritze appliziert wird.

Merke

H ●

Medikamente dürfen nicht in die Flasche gegeben werden, da das Kind sie evtl. nicht ganz trinkt und somit die Aufnahme der Gesamtmenge des Wirkstoffes nicht gewährleistet ist (▶ Abb. 28.5).

Größere Kinder schlucken die Kapseln und Tabletten zusammen mit etwas Nahrung oder Flüssigkeit. Erbricht ein Kind kurze Zeit nach der Medikamentengabe, muss mit dem Arzt geklärt werden, ob die jeweilige Gabe wiederholt werden soll. El-

Tab. 28.3 Beobachtungskriterien beim Einsatz besonderer Medikamente und deren Anwendungsgebiete. Wirkstoff/Medikament

Anwendungsgebiet

Nebenwirkungen

Furosemid/Lasix

u. a. Ödeme infolge von Herzerkrankungen

● ●

Störungen im Elektrolythaushalt Kreislaufstörungen bei erhöhter Diurese

Beobachtungskriterien und Maßnahmen ●



Digoxin/Lenoxin

chronische Herzleistungsschwäche

● ● ●

Übelkeit, Erbrechen unregelmäßiger Herzschlag Störungen im Farbensehen



● ●

Spironolacton/Aldactone

u. a. Herzerkrankungen mit Ödembildung



● ● ●

Propranololhydrochlorid/Dociton

u. a. Hypertonie, Herzrhythmusstörungen

● ● ● ● ●

Enalaprilhydrogenmaleat/Xanef

Hypertonie, Herzinsuffizienz

● ● ●

zeitweilige Aufrechterhaltung des Ductus arteriosus Botalli bei Neugeborenen

● ● ● ● ● ● ● ●

die Pflegefachkraft achtet streng auf mögliche Nebenwirkungen und informiert den Arzt Gefahr der Intoxikation keine Medikamentengabe vor der Medikamentenspiegelkontrolle

bei eingeschränkter Nierenfunktion erhöhte Kaliumwerte und erniedrigte Natriumwerte Arrhythmien Müdigkeit Muskelkrämpfe Müdigkeit Schwindel Übelkeit Hautreaktionen evtl. Blutdruckabfall



starker Blutdruckabfall Tachykardie Herzrhythmusstörungen







Alprostadil/Minprog

Überwachung der Ausscheidungsmenge, ggf. Rückgang der Ödeme Hautturgor, EKG-Veränderungen, Puls und Blutdruck

Fieber Apnoe Bradykardie Herzrhythmusstörung Hypotonie Hautrötungen Thrombopenie nach Therapie > 5 Tage kann eine Magenschleimhauthyperplasie auftreten









regelmäßige Blutdruckkontrollen nach Anordnung des Arztes Abweichungen und starke Schwankungen müssen dem Arzt mitgeteilt werden vor und 1 Stunde nach Medikamentengabe erfolgt die Blutdruckkontrolle durch die Pflegefachkraft starkes Abfallen sowie starke Schwankungen müssen dem Arzt mitgeteilt werden

28

engmaschige Überwachung aller Vitalfunktionen, der Dauertropfinfusion und Temperaturkontrollen genaueste Beobachtung auf mögliche weitere Nebenwirkungen jede Veränderung muss unverzüglich dem Arzt mitgeteilt werden die Möglichkeit von Intubation und Langzeitbeatmung muss jederzeit gewährleistet sein

1

Pflege bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen

Angemessene Belastbarkeit

Abb. 28.5 Genaue Medikamentendosierung. Die Pflegende appliziert einem Säugling das gelöste Medikament in einer 1-ml-Spritze. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

tern, deren Kind zu Hause medikamentös versorgt wird, sollten diesen speziellen Fall vorausschauend mit dem Arzt klären.

Eltern

a ●

Größere Kinder und Eltern werden in die Medikamentenverabreichung eingewiesen und bei der Durchführung unterstützt. Sie bekommen einen detaillierten Medikamentenplan mit nach Hause und werden auf Warnzeichen einer möglichen Intoxikation (z. B. Digitalisüberdosierung) hingewiesen. Sie werden darüber informiert, welche Apotheken sich auf die Herstellung von Kapseln mit geringer Wirkstoffmenge und kleiner Größen spezialisiert haben.

Bei Jugendlichen kommt es im Rahmen der Pubertät oft zum Aufbegehren gegen die Krankheit, das sich häufig in mangelnder Adhärenz äußert. Eine ausführliche Beratung ist daher besonders wichtig bei Jugendlichen, die erst in der Pubertät erkranken und sich plötzlich in ihrem bisherigen Leben sehr eingeschränkt fühlen.

Merke

28

H ●

Behandelnde Ärzte, aber auch Pflegepersonal, sollten im Gespräch mit den Jugendlichen auf die Wichtigkeit einer regelmäßigen Einnahme der Medikamente hinweisen. Eigenmächtiges Absetzen der Medikamente oder die Veränderung der Dosierung kann zur Verschlechterung des Allgemeinzustandes bis hin zu einem Klinikaufenthalt führen.

Säuglinge und Kinder mit Herzinsuffizienz sind je nach Schweregrad nur bedingt leistungsfähig. Dies bedeutet, dass Leistungen, die ein gesundes Kind ohne Schwierigkeiten erbringt, für sie mit großer Mühe und Anstrengung verbunden sind. Besonders im Säuglings- und Kleinkindalter liegt es in der Verantwortung von Pflegefachkräften und Eltern, das Leistungsvermögen der Kinder einzuschätzen und sie nur im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu fordern. Dies äußert sich in der Koordination von Pflegemaßnahmen und Minimal-Handling in der gesamten Pflege genauso wie in der Auswahl von Spielen und krankengymnastischen Übungen. Wird das Kind älter und mobiler, erkennt es selbst die Grenzen seiner Möglichkeiten. Das kann zu Frustration und dem Gefühl der Ausgeschlossenheit führen. Um das Selbstwertgefühl des Kindes zu steigern und zu unterstützen, ist es wichtig zu klären – nach Rücksprache mit dem Kardiologen –, welches Bewegungsund Beschäftigungsangebot für das Kind sinnvoll ist. Zusammen mit den Eltern und dem Kind werden Ressourcen ermittelt und überlegt, wie diese gezielt gefördert werden können. In vielen größeren Städten und Gemeinden gibt es Sportgruppen und Freizeitangebote für Kinder mit kardialen Problemen. Kontaktadressen und spezielle Informationen kann man über die einzelnen Elterninitiativen oder den Bundesverband Herzkranke Kinder e. V. erhalten.

Angstminderung Beobachtet man Kinder mit Herzinsuffizienz in ihrem Verhalten, erkennt man schnell, dass sie im Gegensatz zu gesunden Kindern gleichen Alters andere Empfindungen äußern. Häufig wird im Zusammenhang mit ihrer Gesundheitsstörung der gequälte, ängstliche Gesichtsausdruck beschrieben. Für gesunde Menschen sind die Gefühle der Beklemmung, d. h. existenzielle Lebensangst gepaart mit akuter Atemnot, in ihrem Ausmaß nur erahnbar.

Merke

H ●

Das Kind sollte immer das Gefühl haben, dass jemand für es da ist. Auch im Stationsalltag hat der Beistand der Pflegenden oberste Priorität!

Zeigt ein Kind Anzeichen von Angst und Beklemmung, sollte es mittels Körperkontakt, Ansprache und Ablenkung beruhigt werden.

592

Bei längerer Betreuung erkennen Pflegende und Eltern die Anzeichen für diese Krisen und so kann dem Kind das Vollbild dieses Angsterlebnisses erspart werden. Größere Kinder und Jugendliche formulieren ihre Ängste nicht immer offen und empfinden sie teilweise auch als sehr diffus, aber äußerst belastend. Die Pflegenden sollten immer Gesprächsbereitschaft signalisieren und versuchen, im Gespräch die Auslöser herauszufinden. Eine begleitende psychotherapeutische Behandlung kann sowohl in Einzeltherapie als auch in Form einer Familientherapie Wege aus der Krise aufzeigen. Als akute Hilfe zur Selbsthilfe haben sich Entspannungstechniken bewährt.

Akzeptanz der Erkrankung Herzkranke Kinder und deren Eltern sind einer großen seelischen Belastung ausgesetzt. Aufgabe von Ärzten und Pflegefachkräften ist es, die Eltern umfassend über die therapeutischen und pflegerischen Maßnahmen und den zu erwartenden Verlauf aufzuklären, ihre Ängste wahr- und ernst zu nehmen und ihnen Gelegenheit zu geben, diese zu formulieren.

Merke

H ●

Erkennt das betreuende Personal, dass die Ängste der Eltern im Gespräch nicht ausreichend abgebaut werden konnten, kann man ihnen psychologischen oder seelsorgerischen Beistand anbieten.

Steht eine operative Korrektur eines Herzfehlers mit anschließendem Aufenthalt auf der Kinderintensivstation an, kann man den Eltern zur Vorbereitung auf die zu erwartende Situation einen Rundgang über die Intensivstation anbieten. Älteren Kindern kann man die Intensivstation zeigen, wenn sie diesen Wunsch äußern. Es sollte dabei sehr behutsam vorgegangen werden und versucht werden, Ängste abzubauen und keine neuen zu produzieren. Mit den Eltern sollte zuvor abgeklärt werden, ob sie diese Aufklärungsform für ihr Kind als sinnvoll empfinden oder ob z. B. mit Bildmaterial schonender auf die Bedürfnisse des Kindes eingegangen werden kann. Gespräche und Kontakte mit anderen betroffenen Jugendlichen und Eltern erweisen sich als sehr hilfreich und haben oft über den Klinikalltag hinaus Bestand. Es hat sich als sinnvoll erwiesen, den Eltern nach der ersten Aufregung Adressen von regionalen und bundesweiten Selbsthilfeorganisationen zu geben, sodass sie

28.3 Herzkatheteruntersuchung sich zusätzlich an Stellen außerhalb der Klinik wenden können. Steht die Entlassung nach Hause an, wird ein auf die Bedürfnisse des Kindes und der Eltern ausgerichtetes Entlassungsmanagement vorbereitet und durchgeführt.

Merke

● H

Eltern herzkranker Kinder sind verständlicherweise sehr besorgt um deren Wohl. Es ist daher wichtig, sie darin zu unterstützen, ihr Kind wie andere gesunde Kinder aufwachsen zu lassen.

Das gesamte Familienleben wird bei einem Kind mit schwerer Herzinsuffizienz von Anfang an immer wieder von Klinikaufenthalten des kranken Kindes bestimmt. Es ist wichtig, dem Kind und den Geschwistern die zu erwartende Situation, je nach Alter und unter Zuhilfenahme von Bildmaterial und Spielen, zu erklären. Großzügige Besuchszeiten und die Möglichkeiten der stationären Mitaufnahme eines Elternteils gewährleisten einen kontinuierlichen Kontakt zu Familie und Freunden.

Praxistipp Pflege

Z ●

Nicht immer kann eine Bezugsperson rund um die Uhr mit in der Klinik bleiben. Dann ist es besonders wichtig, den Eltern das Gefühl zu geben, dass das Kind gut betreut wird.

Für manche Kinder gibt es trotz zahlreicher Bemühungen und unter Nutzung aller Möglichkeiten keine Überlebenschance. Sie müssen sterben. Hier ist es wichtig, alle Möglichkeiten der Betreuung und Unterstützung für die Eltern und das Kind auszuschöpfen und ihnen Hilfe bei der Sterbebegleitung (S. 465) ihres Kindes zu geben. Heute stehen in einigen Regionen ambulante Kinderhospizdienste für die Palliativversorgung zu Hause zur Verfügung. Viele Kinder und Familien erwartet nach erfolgreicher Behandlung ein Leben ohne nennenswerte Einschränkungen. Bei Wiedervorstellung in der Ambulanz erkennt das betreuende Team die gut entwickelten und aufgeweckten Kinder fast nicht wieder und die Eltern berichten oft, dass sie selbst kaum glauben können, welch schwere Zeit hinter ihnen liegt.

28.3 Herzkatheteruntersuchung Die Herzkatheteruntersuchung hat im Laufe der letzten Jahre im diagnostischen und therapeutischen Bereich zunehmend an Bedeutung gewonnen. Dabei wird unter laufender Röntgenkontrolle (Durchleuchtung) ein Kunststoffkatheter in das rechte bzw. linke Herz und in die großen Gefäße eingeführt. Um die rechten Herzabschnitte zu erreichen, wird der Katheter über eine periphere Vene (z. B. Vena femoralis) eingeführt. Bei einer Linksherzkatheterisierung wird die Katheterisierung über eine periphere Arterie (z. B. Arteria femoralis) vorgenommen. Bei dieser invasiven Untersuchung kann es bereits während des Eingriffs zu Komplikationen kommen: ● Auftreten von Herzrhythmusstörungen ● Schlingen- oder Knotenbildung des Katheters ● Blutung ● Thrombosen ● Perforation der Herzwand (sehr selten) Die Herzkatheterisierung gibt Auskunft über: ● Druckverhältnisse im rechten und linken Herzen ● Sauerstoffsättigung in den einzelnen Herz- und Gefäßabschnitten ● Bestimmung der Kreislaufgrößen (Verhältnis der Körperdurchblutung zur Lungendurchblutung) ● morphologische Verhältnisse ● Biopsien Die Herzkatheteruntersuchung kann durch spezielle Kathetertechniken u. a. therapeutisch eingesetzt werden zur (▶ Abb. 28.6): ● Durchführung einer Ballonseptostomie nach Rashkind (Schaffen eines künstlichen Vorhofseptumdefekts) ● Dilatation von Stenosen durch Ballonkatheter (Valvuloplastik)





Verschluss des PDA oder des ASD mittels eines Schirmchens Anwendung von Elektrodenkathetern zur HIS-Bündel-Elektrografie

28.3.1 Vorbereitung Die Herzkatheterisierung ist mit einem operativen Eingriff zu vergleichen und muss in der Betreuung auch als solcher gehandhabt werden. Vor dem Herzkatheter sind folgende Voruntersuchungen erforderlich: ● körperliche Untersuchung ● Hautinspektion der Leisten, um einen Soorbefall auszuschließen ● Ultraschall des Herzens ● EKG zum Ausschluss von Herzrhythmusstörungen ● Röntgen des Thorax ● Ausschluss eines Infektes ● Laboruntersuchungen ● die Anforderung von Blutkonserven ● eine Aktualisierung der Medikamentenverordnung für den Tag des Eingriffs

Eltern

a ●

Die Eltern und – je nach Alter – auch das Kind werden vom Kardiologen über die geplante Vorgehensweise aufgeklärt. Die Erziehungsberechtigten müssen schriftlich einwilligen.

Der Eingriff findet i. d. R. unter starker Sedierung statt, kann aber bei sehr instabilen Kindern auch in Narkose erfolgen. Unabhängig von der Nahrungskarenz vor dem Eingriff werden die Medikamente nach Anordnung verabreicht oder pausiert. Falls möglich erfolgt die Applikation intravenös. Folgende pflegerische Tätigkeiten werden vor der Untersuchung von der Pflegefachkraft durchgeführt: ● Überwachung der Infusionstherapie ● Erhebung der Vitalparameter inklusive Körpertemperatur ● ggf. Rasieren des Leistenbereiches bzw. Überprüfung des Ergebnisses, falls die Jugendlichen die Rasur selbst durchführen wollen ● Auftragen der Pflaster mit Lokalanästhetika im Punktionsbereich in der Leiste ● Verabreichung der angeordneten Sedierung mit Überwachung der Vitalparameter und Durchführung der Sturzprophylaxe

28

Abb. 28.6 Kathetermaterial. 1 Stents zur Gefäßstütze, 2 ASD-II-Occluder, 3 Bermann-Angiokatheter mit Schleusen, 4 Einführhilfe für Katheter, 5 Punktionsnadeln. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

3

Pflege bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen

28.3.2 Nachsorge Auf Station werden folgende Beobachtungen und Pflegemaßnahmen durchgeführt. Die Pflegefachkraft ● überwacht engmaschig nach Anordnung (in den ersten Stunden i. d. R. ¼bis ½-stündlich) Blutdruck, Herzfrequenz, Atemfrequenz, Sauerstoffsättigung, ● achtet auf Anzeichen von Übelkeit und verabreicht bei Bedarf Antiemetika nach Anordnung, ● überwacht die Erwärmung des Kindes, ● überprüft die Fußpulse beidseitig, ● überwacht den Druckverband und die Punktionsstelle, ● führt eine leichte Positionierung in Hochlage der Extremität an der Punktionsseite durch, ● überwacht die Infusionstherapie, ● achtet auf die gesteigerte Wahrnehmungsintensität nach der Narkose und reduziert ggf. Lichtquellen und minimiert akustische Reize, ● achtet auf das Einhalten der Bettruhe.

Merke

H ●

Bei folgenden Unregelmäßigkeiten ist sofort der Arzt zu informieren: Bradykardien, Tachykardien, Herzrhythmusstörungen (z. B. Extrasystolen), Tachypnoe, Blutdruckschwankungen, Schwankungen der Sauerstoffsättigung, Auftreten von Fieber, Veränderungen des punktierten Beines (z. B. Farbe, Temperatur, Umfang, abgeschwächte, nicht seitengleiche oder fehlende Fußpulse) Nachblutung und auffälliger venöser Gefäßzugang.

28

594

▶ Überprüfung der Fußpulse. Bei etwas kräftigeren Kindern kann das Tasten der Fußpulse erschwert sein (▶ Abb. 28.7). Bei Unklarheit kann ein Doppler-Gerät benutzt werden oder aber die Sauerstoffsättigungsmessung kann zusätzlich kurzfristig am Fuß erfolgen. Dokumentiert werden zum einen der vorhandene bzw. der nicht tastbare Fußpuls und die Stärke des Pulses zugeordnet zu der jeweiligen Extremität:

Abb. 28.7 Tasten der Fußpulse. Die Überwachung von Fußpulsen, Hautfarbe und -temperatur dient der Kontrolle der Durchblutung nach einer Herzkatheteruntersuchung. (Foto: P. Blåfield, Thieme)





Beispiel 1: re Fuß + + /li Fuß + + : An beiden Extremitäten finden sich gleichmäßig kräftige Pulse. Beispiel 2: re Fuß + /li Fuß + + : Hierbei wäre der Puls am rechten Fuß schwerer ertastbar.

▶ Überwachung des Druckverbandes und der Punktionsstelle. Die Überwachung des Druckverbandes ist äußerst wichtig. Bei Hinweis auf eine Nachblutung muss er ggf. vom Arzt erneuert werden. Ein geschwollenes, blau verfärbtes, kaltes Bein und schwache bis fehlende Fußpulse können auf Durchblutungsstörungen bei einem zu festen Druckverband oder eine Thrombose hinweisen. Der Verband wird nach ärztlicher Anordnung evtl. gelockert. Im Regelfall wird der Verband nach Anordnung einige Stunden (ca. 8 Stunden) später zuerst gelockert, nach 24 Stunden entfernt und die Punktionsstelle mit einem Pflaster versorgt. Es können sich infolge der Manipulationen im Punktionsgebiet Hämatome bilden. Diese sind meist nicht behandlungspflichtig. Duschen bzw. Baden wird je nach Anordnung des Arztes erst 5 – 7 Tage nach dem Eingriff empfohlen, um eine Infektion zu vermeiden.

▶ Erwärmung. Die Kinder können bei der Herzkatheteruntersuchung trotz Vorkehrungen auskühlen und müssen langsam wieder ihre physiologische Körpertemperatur erlangen. Um eine Durchblutungsstörung rechtzeitig zu erkennen, müssen v. a. die Extremitäten wieder aufgewärmt werden. Die Füße können mit Watte umwickelt und mit Strümpfen bekleidet werden, dies wärmt und schützt vor Druckstellen. ▶ Medikation. Mit dem behandelnden Arzt wird zuvor geklärt, ab wann welche Medikamente (bei einer Dauereinstellung) wieder oral gegeben werden können bzw. ob sie für den Zeitraum von 24 Stunden nach dem Eingriff i. v. appliziert werden müssen. Die Kinder erhalten je nach Art der Katheterisierung durch eine Dauerinfusion für 24 – 48 Stunden eine kontinuierliche Heparinzufuhr auf ärztliche Anordnung, die einer Thrombose entgegenwirkt. Die Heparinzufuhr läuft anfangs parallel zur Infusion, später alleine. Läuft die Infusion paravenös, muss umgehend ein neuer Zugang durch den Arzt gelegt werden, um die Heparinisierung des Blutes aufrechtzuerhalten.

Eltern

a ●

Die Kinder erhalten im Rahmen der gesamten Untersuchung hochwirksame Sedativa. Diese können sich in der Aufwachphase in schlechten Träumen, gestörten Sinneseindrücken sowie stark erhöhtem Geräuschempfinden und Übelkeit äußern. Die betreuende Pflegefachkraft und die Eltern müssen über dieses Phänomen informiert sein, um das manchmal verstörte und desorientierte Kind verstehen und beruhigen zu können.

▶ Entlassung. Verlaufen Katheterisierung und Beobachtungszeit komplikationslos und sind keine weiteren Maßnahmen geplant, kann das Kind nach Beendigung der Heparintherapie wieder nach Hause gehen.

Kapitel 29 Pflege von Kindern mit Störungen des Blutsystems

29.1

Bedeutung

596

29.2

Pflege von Kindern mit Anämie

596

29.3

Pflege von Kindern mit chronisch hämolytischer Anämie

598

Pflege eines Kindes mit erworbener Blutungskrankheit

600

Pflege eines Kindes mit Hämophilie

601

29.4 29.5

Pflege von Kindern mit Störungen des Blutsystems

29 Pflege von Kindern mit Störungen des Blutsystems Pamela Jech Tab. 29.1 Ursachen von Anämien.

29.1 Bedeutung Störungen des Blutsystems betreffen Kinder ab dem späten Säuglings- und Kleinkindalter bis hin zum Schulalter. Je nach betroffenem Blutbestandteil sind die Auswirkungen der Bluterkrankungen sehr unterschiedlich. Es kann sich um vorübergehende Störungen handeln, aber auch um chronische Erkrankungen, die lebenslang behandelt werden müssen und langfristig mit Einschränkungen vieler Lebensaktivitäten und der Lebensqualität einhergehen. Unterteilen kann man sie in die Störungen des roten Blutsystems (z. B. Anämien), Störungen des weißen Blutsystems mit unterschiedlich ausgeprägten Immundefekten und Erkrankungen, die mit erhöhter Blutungsneigung einhergehen. Exemplarisch werden hier einige besonders typische und/oder im Kindesalter häufig vorkommende Erkrankungen geschildert, die Pflegebedarf und Ausmaß der Störungen auf viele Lebensaktivitäten besonders gut erkennen lassen. Gesundheitliche Aufklärung, Beratung im Hinblick auf Ernährung und präventive Maßnahmen sind hier ebenso Aufgabe der Pflege wie die Anleitung der Familien im Umgang mit der jeweiligen Erkrankung. Insbesondere Kindern mit chronischen Erkrankungen muss ein weitestgehend normales und vom Klinikalltag unabhängiges Leben ermöglicht werden. Oft ist es sinnvoll, einen ambulanten Pflegedienst in die Betreuung mit einzubeziehen.

29.2 Pflege von Kindern mit Anämie 29.2.1 Ursache und Auswirkung Definition

29

L ●

Als Anämie bezeichnet man eine verminderte Anzahl der Erythrozyten und/ oder des Hämoglobingehaltes bezogen auf die altersentsprechenden Normwerte.

Die Ursachen (▶ Tab. 29.1) können vermehrter Blutverlust, gestörte Erythrozytenproduktion bzw. gesteigerter Untergang von Erythrozyten sein. Die häufigste Anämieform im Kindesalter ist die Eisenmangelanämie. Sie kommt besonders oft im späten Säug-

596

Anämieform

Ursachen

Anämie durch vermehrten Blutverlust

● ●

Anämie durch gestörte Erythrozytenproduktion

● ● ●

Anämie durch gesteigerten Untergang von Erythrozyten (chronisch hämolytische Anämien)

● ● ●

lings- bzw. Kleinkindalter vor, da die von der Mutter vorgeburtlich mitgegebenen Eisenreserven mit der Zeit aufgebraucht werden. Dies ist v. a. dann der Fall, wenn die Kinder nach dem 6. Lebensmonat zu wenig Eisen mit der Nahrung zugeführt bekommen. Bei länger dauernden, schweren Infekten kann durch Verkürzung der Erythrozytenlebensdauer und gestörte Blutbildung eine Infektanämie entstehen. Da das Hämoglobin den Sauerstoff an sich bindet und transportiert, kann es je nach Ausprägung der Anämie zu Symptomen des Sauerstoffmangels kommen. Allgemeine Symptome einer Anämie können sein: ● Müdigkeit, Antriebslosigkeit ● Appetitlosigkeit ● Kopfschmerzen ● Tachykardie ● Schwindel ● verminderte Leistungsfähigkeit und Infektanfälligkeit ● Blässe von Haut- und Schleimhaut Durch einen chronischen oder akuten Blutverlust kann es ebenfalls zu einer Anämie kommen. Hierbei steht die veränderte, u. U. lebensbedrohliche Kreislaufsituation im Vordergrund.

29.2.2 Pflegebedarf einschätzen Bei Kindern mit Anämien können sich folgende Pflegeprobleme ergeben: ● Beeinträchtigung des Wohlbefindens durch Müdigkeit, Kopfschmerzen, Schwindel ● verminderte Leistungsfähigkeit ● möglicherweise mangelnde Akzeptanz bei Ernährungsumstellung und Medikamentengabe ● bei Anämie durch Blutverlust Kreislaufprobleme, Kurzatmigkeit, Bewusstlosigkeit, vitale Bedrohung bei akuter Blutung ● Erkennen und Stillen der Blutung

akute Blutung chronische Blutung Infektion Eisenmangel aplastische Anämie Thalassämie Sichelzellanämie Kugelzellanämie

29.2.3 Pflegeziele und -maßnahmen Deckung des Eisenbedarfs durch die Ernährung Bei Säuglingen und Kleinkindern mit Eisenmangelanämie sind, bedingt durch den langsamen Abfall des Hämoglobins, unspezifische Symptome der Anämie zu erkennen. Bei größeren Kindern sind Mundwinkelrhagaden, trockene Haut, spröde Haare und brüchige Fingernägel zu beobachten. Normalerweise wird der Eisenbedarf (▶ Tab. 29.2) durch ausgewogene Ernährung gedeckt. Die Zufuhr durch gemischte Kost liegt bei 10 – 30 mg am Tag, die Resorption des Eisens im Darm richtet sich nach dem Bedarf. Die Speicherreserven befinden sich in der Leber. Bei Neugeborenen und Säuglingen bis zum 6. Lebensmonat wird der Eisenbedarf hauptsächlich aus den vorgeburtlichen Eisenreserven gedeckt. Die Eisenzufuhr mit der Muttermilch beträgt ca. 0,5 – 0,8 mg Eisen/Tag. Dieses Eisen hat jedoch eine besonders gute Bioverfügbarkeit. Nach ca. 6 Monaten sind die Eisenspeicherreserven aufgebraucht und die Muttermilch allein reicht nicht mehr aus, den erhöhten Bedarf zu decken. In diesem Alter wird mit der Beikost begonnen (S. 347). Rindfleisch hat einen besonders hohen Eisengehalt. Allgemein kann Eisen aus Fleischprodukten vom Körper leichter aufgenommen werden als aus pflanzlichen Lebensmitteln. Familien, die eine vegetarische Ernährung bevorzugen, sollten bei der Auswahl von Getreide und Gemüse auf besonders eisenhaltige Nahrungsmittel achten, z. B. kann das Fleisch im Brei durch Haferflocken ersetzt werden. Eisenreiche Gemüsesorten sind v. a. grüne Gemüsesorten, wie Spinat, Fenchel und Mangold. Beim Kauf von fertigen Babynahrungsmitteln sollte die Zutatenliste auf altersgerechte Zusammensetzung der Nahrung überprüft werden. Die Ernährung (S. 350) sollte durch frisches Obst

Pflege von Kindern mit Störungen des Blutsystems

29 Pflege von Kindern mit Störungen des Blutsystems Pamela Jech Tab. 29.1 Ursachen von Anämien.

29.1 Bedeutung Störungen des Blutsystems betreffen Kinder ab dem späten Säuglings- und Kleinkindalter bis hin zum Schulalter. Je nach betroffenem Blutbestandteil sind die Auswirkungen der Bluterkrankungen sehr unterschiedlich. Es kann sich um vorübergehende Störungen handeln, aber auch um chronische Erkrankungen, die lebenslang behandelt werden müssen und langfristig mit Einschränkungen vieler Lebensaktivitäten und der Lebensqualität einhergehen. Unterteilen kann man sie in die Störungen des roten Blutsystems (z. B. Anämien), Störungen des weißen Blutsystems mit unterschiedlich ausgeprägten Immundefekten und Erkrankungen, die mit erhöhter Blutungsneigung einhergehen. Exemplarisch werden hier einige besonders typische und/oder im Kindesalter häufig vorkommende Erkrankungen geschildert, die Pflegebedarf und Ausmaß der Störungen auf viele Lebensaktivitäten besonders gut erkennen lassen. Gesundheitliche Aufklärung, Beratung im Hinblick auf Ernährung und präventive Maßnahmen sind hier ebenso Aufgabe der Pflege wie die Anleitung der Familien im Umgang mit der jeweiligen Erkrankung. Insbesondere Kindern mit chronischen Erkrankungen muss ein weitestgehend normales und vom Klinikalltag unabhängiges Leben ermöglicht werden. Oft ist es sinnvoll, einen ambulanten Pflegedienst in die Betreuung mit einzubeziehen.

29.2 Pflege von Kindern mit Anämie 29.2.1 Ursache und Auswirkung Definition

29

L ●

Als Anämie bezeichnet man eine verminderte Anzahl der Erythrozyten und/ oder des Hämoglobingehaltes bezogen auf die altersentsprechenden Normwerte.

Die Ursachen (▶ Tab. 29.1) können vermehrter Blutverlust, gestörte Erythrozytenproduktion bzw. gesteigerter Untergang von Erythrozyten sein. Die häufigste Anämieform im Kindesalter ist die Eisenmangelanämie. Sie kommt besonders oft im späten Säug-

596

Anämieform

Ursachen

Anämie durch vermehrten Blutverlust

● ●

Anämie durch gestörte Erythrozytenproduktion

● ● ●

Anämie durch gesteigerten Untergang von Erythrozyten (chronisch hämolytische Anämien)

● ● ●

lings- bzw. Kleinkindalter vor, da die von der Mutter vorgeburtlich mitgegebenen Eisenreserven mit der Zeit aufgebraucht werden. Dies ist v. a. dann der Fall, wenn die Kinder nach dem 6. Lebensmonat zu wenig Eisen mit der Nahrung zugeführt bekommen. Bei länger dauernden, schweren Infekten kann durch Verkürzung der Erythrozytenlebensdauer und gestörte Blutbildung eine Infektanämie entstehen. Da das Hämoglobin den Sauerstoff an sich bindet und transportiert, kann es je nach Ausprägung der Anämie zu Symptomen des Sauerstoffmangels kommen. Allgemeine Symptome einer Anämie können sein: ● Müdigkeit, Antriebslosigkeit ● Appetitlosigkeit ● Kopfschmerzen ● Tachykardie ● Schwindel ● verminderte Leistungsfähigkeit und Infektanfälligkeit ● Blässe von Haut- und Schleimhaut Durch einen chronischen oder akuten Blutverlust kann es ebenfalls zu einer Anämie kommen. Hierbei steht die veränderte, u. U. lebensbedrohliche Kreislaufsituation im Vordergrund.

29.2.2 Pflegebedarf einschätzen Bei Kindern mit Anämien können sich folgende Pflegeprobleme ergeben: ● Beeinträchtigung des Wohlbefindens durch Müdigkeit, Kopfschmerzen, Schwindel ● verminderte Leistungsfähigkeit ● möglicherweise mangelnde Akzeptanz bei Ernährungsumstellung und Medikamentengabe ● bei Anämie durch Blutverlust Kreislaufprobleme, Kurzatmigkeit, Bewusstlosigkeit, vitale Bedrohung bei akuter Blutung ● Erkennen und Stillen der Blutung

akute Blutung chronische Blutung Infektion Eisenmangel aplastische Anämie Thalassämie Sichelzellanämie Kugelzellanämie

29.2.3 Pflegeziele und -maßnahmen Deckung des Eisenbedarfs durch die Ernährung Bei Säuglingen und Kleinkindern mit Eisenmangelanämie sind, bedingt durch den langsamen Abfall des Hämoglobins, unspezifische Symptome der Anämie zu erkennen. Bei größeren Kindern sind Mundwinkelrhagaden, trockene Haut, spröde Haare und brüchige Fingernägel zu beobachten. Normalerweise wird der Eisenbedarf (▶ Tab. 29.2) durch ausgewogene Ernährung gedeckt. Die Zufuhr durch gemischte Kost liegt bei 10 – 30 mg am Tag, die Resorption des Eisens im Darm richtet sich nach dem Bedarf. Die Speicherreserven befinden sich in der Leber. Bei Neugeborenen und Säuglingen bis zum 6. Lebensmonat wird der Eisenbedarf hauptsächlich aus den vorgeburtlichen Eisenreserven gedeckt. Die Eisenzufuhr mit der Muttermilch beträgt ca. 0,5 – 0,8 mg Eisen/Tag. Dieses Eisen hat jedoch eine besonders gute Bioverfügbarkeit. Nach ca. 6 Monaten sind die Eisenspeicherreserven aufgebraucht und die Muttermilch allein reicht nicht mehr aus, den erhöhten Bedarf zu decken. In diesem Alter wird mit der Beikost begonnen (S. 347). Rindfleisch hat einen besonders hohen Eisengehalt. Allgemein kann Eisen aus Fleischprodukten vom Körper leichter aufgenommen werden als aus pflanzlichen Lebensmitteln. Familien, die eine vegetarische Ernährung bevorzugen, sollten bei der Auswahl von Getreide und Gemüse auf besonders eisenhaltige Nahrungsmittel achten, z. B. kann das Fleisch im Brei durch Haferflocken ersetzt werden. Eisenreiche Gemüsesorten sind v. a. grüne Gemüsesorten, wie Spinat, Fenchel und Mangold. Beim Kauf von fertigen Babynahrungsmitteln sollte die Zutatenliste auf altersgerechte Zusammensetzung der Nahrung überprüft werden. Die Ernährung (S. 350) sollte durch frisches Obst

29.2 Pflege von Kindern mit Anämie kann durch Nachspülen und gute Zahnhygiene vorgebeugt werden.

Tab. 29.2 Eisenbedarf, abhängig vom Alter.

Z ●

Alter

Eisenbedarf/Tag

Säugling bis 4 Monate

0,5 mg

4 Monate bis 6 Jahre

8 mg

Praxistipp Pflege

7 bis 9 Jahre

10 mg

bis 18 Jahre, männlich

12 mg

bis 18 Jahre, weiblich

15 mg

Wird das Eisenpräparat bei der Gabe versehentlich verschüttet, hinterlässt es Rostflecken, daher ist die Kleidung des Kindes bei der Verabreichung zu schützen.

Abb. 29.1 Eisenreiche Nahrungsmittel für größere Kinder. (Foto: bit24 – stock. adobe.com)

oder Obstgläschen ergänzt werden (Nahrungsaufbau bei Kleinkindern). Eisen kann in Verbindung mit Vitamin C besonders gut resorbiert werden. Dieses kann dem Brei in Form von Obstsaft zugegeben werden. Eisenreiche Nahrungsmittel, die den Eisenbedarf bei größeren Kindern decken, sind Fleisch und Wurstwaren (besonders Rindfleisch), Eier, grünes Gemüse, Hülsenfrüchte, Vollkorngetreideerzeugnisse, Haferflocken (z. B. in Müsli), Nüsse, Kakao und Weizenkeime (▶ Abb. 29.1).

Merke

H ●

Eine ausgewogene vollwertige Ernährung gemäß der Ernährungspyramide sollte eine ausreichende Versorgung mit Eisen ermöglichen. Natürlich müssen hier Eltern bzw. Familie sowie Kindertagesstätte und Schule eine Vorbildfunktion einnehmen. In allen Bereichen sollte eine entsprechende Versorgung der Kinder möglich sein. Durch Kinderkochbücher, gemeinsamen Einkauf und Zubereitung einer Mahlzeit kann das Interesse an gesunder und abwechslungsreicher Ernährung geweckt werden. Bei ansprechender, kindgerechter Darreichung in großer Runde wird es besser angenommen.

Eine ausführliche Beratung sollte bei ausschließlich vegetarischer Ernährung erfolgen, da tierische Nahrungsmittel als Hauptlieferanten für die Deckung des Eisenbedarfs fehlen. Es sollte eine ovolactovegetabile Kost bevorzugt werden und Fleisch durch eine sinnvolle Zusammensetzung von eisenreichem Gemüse und Getreide ergänzt werden. So ist bei einem gut durchdachten Speiseplan in Zusammenarbeit mit dem Kinderarzt oder einer Diätberatung eine ausreichende Eisenversorgung möglich. Eine ausschließlich vegane Ernährung ist bei Kindern nicht zu empfehlen. Sollte der Eisenbedarf durch die Nahrung nicht zu decken sein oder ist er durch vermehrten Blutverlust erhöht, muss Eisen auf ärztliche Anordnung zusätzlich medikamentös zugeführt werden.

Wirksame Eisenzufuhr durch Medikamente Die zur Verfügung stehenden Eisenpräparate sind ca. 30 Minuten vor dem Essen einzunehmen, um eine bestmögliche Resorption zu erreichen. Es sollte zur Medikamenteneinnahme reichlich Wasser oder Fruchtsaft getrunken werden, da so Nebenwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen und Sodbrennen gemindert werden können. Milch und schwarzer Tee sind ungeeignet, da sie die Resorption beeinträchtigen. Antazida (z. B. Maaloxan) stören ebenfalls die Eisenaufnahme.

Merke

H ●

Eisenpräparate sind vor Kindern verschlossen aufzubewahren, da bei unkontrollierter Einnahme eine Gefahr der Intoxikation besteht.

Stillen einer Blutung Merke

Bei jeder akuten Blutung ist umgehend Hilfe zu leisten und der Arzt zu benachrichtigen.

Ist die Blutung offensichtlich, muss versucht werden, sie zu unterbrechen, z. B. an Extremitäten durch das Anlegen eines Druckverbandes und Positionierung in Hochlage. Zum Eigenschutz sind dabei Schutzhandschuhe zu tragen. Treten leichte Nachblutungen nach Operationen auf, z. B. im Bauchbereich oder der Extremitäten, werden diese auf dem Verband markiert, um die Stärke der Nachblutung besser beurteilen zu können. Blutungen nach Operationen im HNO-Bereich, z. B. Adenotomie und Tonsillektomie, können auch noch einige Tage nach der Operation auftreten. Sie fallen auf, wenn dem Erbrochenen Hämatin und/ oder frisches Blut beigemengt ist. Wird zur Blutstillung eine Eiskrawatte angelegt, so muss darauf geachtet werden, dass eine kontinuierliche Kühlung gewährleistet ist (S. 291). Der zuständige Arzt wird umgehend informiert, damit er die Ursache der Blutung feststellen und evtl. weiterführende Maßnahmen einleiten kann. Bei unklaren Blutungen aus dem Magen-Darm-Bereich ist unverzüglich eine ärztliche Diagnostik einzuleiten, die Kreislaufsituation zu überwachen sowie bei Bedarf kreislaufunterstützende Maßnahmen zu ergreifen.

Praxistipp Pflege Nebenwirkungen der Eisenpräparate können Magen-Darm-Probleme sein, wie Durchfall, Verstopfung und Erbrechen. Ein weiteres Vorgehen sollte mit dem Arzt besprochen werden. Kinder und Eltern sind darüber aufzuklären, dass eine Dunkelfärbung des Stuhls auftreten kann, die unbedenklich ist. Einer Verfärbung der Zähne

H ●

Z ●

29

Kinder haben oft Angst, wenn sie bluten. Deshalb ist es besonders wichtig, sie zu beruhigen und Ruhe auszustrahlen.

7

Pflege von Kindern mit Störungen des Blutsystems

H ●

Merke

Orale Flüssigkeitszufuhr oder Nahrungsaufnahme ist bei gastrointestinalen Blutungen kontraindiziert bzw. nur nach ärztlicher Anordnung erlaubt!

Stabile Kreislaufsituation Bei Kindern mit hohem, akutem Blutverlust steht die aktuelle Kreislaufsituation im Vordergrund. Es kann durch den hohen Flüssigkeitsverlust zum hypovolämischen Schock kommen.

H ●

Merke

Anzeichen für einen Schock sind blasse, kühle, marmorierte Haut sowie zyanotische Akren und Lippen. Der Puls ist schwach tastbar, schlecht gefüllt und fadenförmig, außerdem besteht eine Tachykardie. Die Amplitude des Blutdrucks ist vermindert und später kommt es zur Hypotonie. Das Kind kann bewusstlos sein (S. 868).

Zur Einschätzung der Kreislaufsituation ist die Kontrolle der Vitalfunktionen Puls, Blutdruck, Atmung (S. 244) und der Bewusstseinslage notwendig. Eine kontinuierliche Überwachung der Vitalparameter mittels Monitor ist bei Schockgefahr bzw. im Schock erforderlich. Zur Unterstützung des Kreislaufs werden die Beine hochgelagert. Für den Fall der Verschlechterung des Allgemeinzustandes sollte die Möglichkeit der Sauerstoffverabreichung (S. 257) gegeben sein. Wenn das Kind bewusstlos ist, muss es in die stabile Seitenlage gebracht werden, um ein Zurückfallen der Zunge und Aspiration bei Erbrechen zu vermeiden. Die Zentralisation des Kreislaufs bewirkt eine schlechtere Durchblutung der Extremitäten. Das Kind muss durch Zudecken vor Auskühlung geschützt werden. Es ist unverzüglich ein Notruf zu veranlassen, bzw. innerklinisch der Intensivtherapie zuzuführen. Eine Blutentnahme zur Blutbildkontrolle (Hämoglobin- und Hämatokritbestimmung), Blutgruppenbestimmung, Kreuzprobe und ggf. Bedside-Test sind notwendig, um bei Bedarf eine sichere Bluttransfusion (S. 824) zu ermöglichen.

29.3 Pflege von Kindern mit chronisch hämolytischer Anämie 29.3.1 Ursache und Auswirkung Chronisch hämolytische Anämien sind durch eine verkürzte Lebensdauer der Erythrozyten gekennzeichnet. Dies kann verschiedene Ursachen und Auswirkungen haben (▶ Tab. 29.3). Betroffen von Sichelzellanämie und β-Thalassämie sind Kinder von Familien, die aus der Mittelmeerregion, dem Nahen oder Mittleren Osten sowie aus afrikanischen Ländern eingewandert sind. Beide Krankheiten sind in diesen Ländern besonders häufig vertreten, weil sie einen Schutz vor Malaria bieten und somit einen Evolutionsvorteil für die Träger bedeuteten. 4,8 % aller in Deutschland lebenden Personen sind Hämoglobinopathieträger. Bei Kindern mit Kugel- oder Sichelzellanämie kommt es hauptsächlich in der akuten Phase von hämolytischen bzw. Schmerzkrisen zu einem Krankenhausaufenthalt. Patienten mit einer β-Thalassaemia major erhalten regelmäßig alle 3–4 Wochen stationär bzw. tagesklinisch Blut-

Tab. 29.3 Chronische Anämien. Kugelzellanämie

Sichelzellanämie

Thalassämie

Vorkommen

Mittel- und Nordeuropa, häufigste angeborene hämolytische Anämie in Mitteleuropa, Häufigkeit 1:2500–1:5000

Mittelmeerraum, Naher und Mittlerer Osten, Afrika

Mittelmeerraum, Naher und Mittlerer Osten, Afrika

Pathophysiologie

Defekt in der Erythrozytenmembran, dadurch kugelige Form der Erythrozyten und erschwerte Passage durch Leber und Milz

Hämoglobinopathie, dadurch sichelartige Verformung der Erythrozyten bei Sauerstoffmangel und Abbau in Leber und Milz

Hämoglobinopathie, bei der Eiweißketten des Hämoglobins (α oder β) nicht oder vermindert gebildet werden; die überschüssigen Ketten zerstören die Erythrozyten

Symptome



Anämie Ikterus Splenomegalie Gallensteine hämolytische Krise bei Virusinfektionen, insbesondere nach Parvovirus-B19-Infektion

Thrombenbildung in den kleinsten Gefäßen, dadurch Schmerzkrisen und Infarkte in verschiedenen Organen, z. B. Knochen, Milz, Nieren, Gehirn

ohne Transfusionstherapie: ausgeprägte Anämie, erhöhte Infektanfälligkeit, Splenomegalie; durch verbreiterte Markräume Veränderungen im Gesichtsschädel mit verbreiterten Wangenknochen, weitem Augenabstand

Bluttransfusionen bei schweren Anämien Entfernung der Milz möglichst nach dem 6. Lebensjahr, evtl. nur Teilresektion



● ● ● ●

Behandlung





29

● ●



598

Schulung zum Umgang mit der Krankheit, präventive Maßnahmen symptomatische Behandlung bei Schmerzkrisen ausreichende Schmerztherapie und Flüssigkeitszufuhr bei besonderen Komplikationen werden Bluttransfusionen oder ein partieller Blutaustausch nötig

● ●



● ●

regelmäßige Bluttransfusionen Gabe eisenausschwemmender Medikamente Entfernung der Milz, evtl. nur subtotale Entfernung Stammzelltransplantation gentherapeutische Ansätze derzeit in Studien

Pflege von Kindern mit Störungen des Blutsystems

H ●

Merke

Orale Flüssigkeitszufuhr oder Nahrungsaufnahme ist bei gastrointestinalen Blutungen kontraindiziert bzw. nur nach ärztlicher Anordnung erlaubt!

Stabile Kreislaufsituation Bei Kindern mit hohem, akutem Blutverlust steht die aktuelle Kreislaufsituation im Vordergrund. Es kann durch den hohen Flüssigkeitsverlust zum hypovolämischen Schock kommen.

H ●

Merke

Anzeichen für einen Schock sind blasse, kühle, marmorierte Haut sowie zyanotische Akren und Lippen. Der Puls ist schwach tastbar, schlecht gefüllt und fadenförmig, außerdem besteht eine Tachykardie. Die Amplitude des Blutdrucks ist vermindert und später kommt es zur Hypotonie. Das Kind kann bewusstlos sein (S. 868).

Zur Einschätzung der Kreislaufsituation ist die Kontrolle der Vitalfunktionen Puls, Blutdruck, Atmung (S. 244) und der Bewusstseinslage notwendig. Eine kontinuierliche Überwachung der Vitalparameter mittels Monitor ist bei Schockgefahr bzw. im Schock erforderlich. Zur Unterstützung des Kreislaufs werden die Beine hochgelagert. Für den Fall der Verschlechterung des Allgemeinzustandes sollte die Möglichkeit der Sauerstoffverabreichung (S. 257) gegeben sein. Wenn das Kind bewusstlos ist, muss es in die stabile Seitenlage gebracht werden, um ein Zurückfallen der Zunge und Aspiration bei Erbrechen zu vermeiden. Die Zentralisation des Kreislaufs bewirkt eine schlechtere Durchblutung der Extremitäten. Das Kind muss durch Zudecken vor Auskühlung geschützt werden. Es ist unverzüglich ein Notruf zu veranlassen, bzw. innerklinisch der Intensivtherapie zuzuführen. Eine Blutentnahme zur Blutbildkontrolle (Hämoglobin- und Hämatokritbestimmung), Blutgruppenbestimmung, Kreuzprobe und ggf. Bedside-Test sind notwendig, um bei Bedarf eine sichere Bluttransfusion (S. 824) zu ermöglichen.

29.3 Pflege von Kindern mit chronisch hämolytischer Anämie 29.3.1 Ursache und Auswirkung Chronisch hämolytische Anämien sind durch eine verkürzte Lebensdauer der Erythrozyten gekennzeichnet. Dies kann verschiedene Ursachen und Auswirkungen haben (▶ Tab. 29.3). Betroffen von Sichelzellanämie und β-Thalassämie sind Kinder von Familien, die aus der Mittelmeerregion, dem Nahen oder Mittleren Osten sowie aus afrikanischen Ländern eingewandert sind. Beide Krankheiten sind in diesen Ländern besonders häufig vertreten, weil sie einen Schutz vor Malaria bieten und somit einen Evolutionsvorteil für die Träger bedeuteten. 4,8 % aller in Deutschland lebenden Personen sind Hämoglobinopathieträger. Bei Kindern mit Kugel- oder Sichelzellanämie kommt es hauptsächlich in der akuten Phase von hämolytischen bzw. Schmerzkrisen zu einem Krankenhausaufenthalt. Patienten mit einer β-Thalassaemia major erhalten regelmäßig alle 3–4 Wochen stationär bzw. tagesklinisch Blut-

Tab. 29.3 Chronische Anämien. Kugelzellanämie

Sichelzellanämie

Thalassämie

Vorkommen

Mittel- und Nordeuropa, häufigste angeborene hämolytische Anämie in Mitteleuropa, Häufigkeit 1:2500–1:5000

Mittelmeerraum, Naher und Mittlerer Osten, Afrika

Mittelmeerraum, Naher und Mittlerer Osten, Afrika

Pathophysiologie

Defekt in der Erythrozytenmembran, dadurch kugelige Form der Erythrozyten und erschwerte Passage durch Leber und Milz

Hämoglobinopathie, dadurch sichelartige Verformung der Erythrozyten bei Sauerstoffmangel und Abbau in Leber und Milz

Hämoglobinopathie, bei der Eiweißketten des Hämoglobins (α oder β) nicht oder vermindert gebildet werden; die überschüssigen Ketten zerstören die Erythrozyten

Symptome



Anämie Ikterus Splenomegalie Gallensteine hämolytische Krise bei Virusinfektionen, insbesondere nach Parvovirus-B19-Infektion

Thrombenbildung in den kleinsten Gefäßen, dadurch Schmerzkrisen und Infarkte in verschiedenen Organen, z. B. Knochen, Milz, Nieren, Gehirn

ohne Transfusionstherapie: ausgeprägte Anämie, erhöhte Infektanfälligkeit, Splenomegalie; durch verbreiterte Markräume Veränderungen im Gesichtsschädel mit verbreiterten Wangenknochen, weitem Augenabstand

Bluttransfusionen bei schweren Anämien Entfernung der Milz möglichst nach dem 6. Lebensjahr, evtl. nur Teilresektion



● ● ● ●

Behandlung





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Schulung zum Umgang mit der Krankheit, präventive Maßnahmen symptomatische Behandlung bei Schmerzkrisen ausreichende Schmerztherapie und Flüssigkeitszufuhr bei besonderen Komplikationen werden Bluttransfusionen oder ein partieller Blutaustausch nötig

● ●



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regelmäßige Bluttransfusionen Gabe eisenausschwemmender Medikamente Entfernung der Milz, evtl. nur subtotale Entfernung Stammzelltransplantation gentherapeutische Ansätze derzeit in Studien

29.3 Pflege bei chronisch hämolytischer Anämie transfusionen. Aufgrund der Seltenheit dieser Erkrankungen in Deutschland, sollten betroffene Kinder nach Möglichkeit in hämatologisch erfahrenen Zentren behandelt werden. Nachfolgend wird exemplarisch auf die Pflege von Kindern mit einer β-Thalassaemia major eingegangen. Die Heilung der β-Thalassämie kann bisher nur durch eine Knochenmark- oder Stammzelltransplantation erreicht werden. Um gute Voraussetzungen zu haben, sollte die Transplantation bis zur Pubertät durchgeführt werden. Da nicht immer ein passender Spender vorhanden ist und eine Knochenmarktransplantation mit entsprechenden Risiken behaftet ist, werden die meisten Kinder symptomatisch behandelt. Das bedeutet, im Zyklus von 3–4 Wochen wird eine individuell berechnete Menge Erythrozytenkonzentrat verabreicht. Durch die regelmäßigen Transfusionen soll die eigene Erythropoese unterdrückt werden. Zur Entfernung des mit jeder Transfusion aufgenommenen Eisens ist eine konsequente Medikamentenverabreichung nötig. In festgelegten Abständen finden Kontrolluntersuchungen verschiedenster Körperfunktionen und des Hormonhaushaltes statt, da durch die Erkrankung und die Therapie Schäden auftreten können.

29.3.2 Pflegebedarf einschätzen Die regelmäßigen therapeutischen Maßnahmen, Krankenhausaufenthalte und dadurch bedingte Schulausfälle stellen für Eltern und Kind eine belastende Situation dar. Folgende Pflegeprobleme können auftreten: ● Beeinträchtigung im Leben durch den chronischen Verlauf der Erkrankung und häufige Krankenhausaufenthalte ● Kurz vor den Transfusionen kann es zu verminderter Leistungsfähigkeit, Müdigkeit und Abgeschlagenheit kommen. ● mangelnde Akzeptanz der Therapie (besonders während der Pubertät) ● erhöhte Infektanfälligkeit, insbesondere bei splenektomierten Patienten ● Hautveränderungen an den Einstichstellen, falls die Kinder subkutane Infusionen zur Eisenausschwemmung erhalten ● möglicherweise Angst vor und Beeinträchtigung durch Bluttransfusionen (z. B. Infektionen) ● sekundäre Hörschäden durch die Chelat-Therapie (Eisenausschwemmung) ● Gefahr von Beeinträchtigung durch Herzinsuffizienz, endokrine Funktionsstörungen durch die Eisenüberladung



psychische Belastung durch verkürzte Lebenserwartung und Verschlechterung des Allgemeinzustandes

29.3.3 Pflegeziele und -maßnahmen Frühzeitiges Erkennen von Komplikationen Während der Krankenhausaufenthalte ist die Hauptaufgabe des Pflegepersonals die Überwachung und Betreuung der Kinder während der Bluttransfusion (S. 824). Durch die häufigen Transfusionen kommt es zur Eisenüberladung. In 2 Transfusionen ist so viel Eisen, wie ein Kind in einem Jahr benötigt. Es kommt zur Hämosiderose, diese kann zu schwerwiegenden Schäden an den Organen führen.

Definition

L ●

Hämosiderose heißt, dass Eisen in den Organen eingelagert wird. Betroffen sind v. a. Herz, Leber, Pankreas, Schilddrüse, Hypophyse, Ovarien und Testes. Die Folgen können Leber-, Herzinsuffizienz, Diabetes mellitus, Hypothyreose, fehlendes Wachstum und Verzögerung der Sexualentwicklung sein.

Um diese Spätschäden so gering wie möglich zu halten, wird ca. ab dem 2.– 3. Lebensjahr bzw. nach 15–20 Transfusionen eine Dauertherapie mit einem Medikament zur Eisenausschwemmung notwendig. Es stehen 2 Medikamente zur oralen Verabreichung zur Verfügung. Das häufig bei den Kindern verwendete Deferasirox wird als Tablette 1-mal täglich eine halbe Stunde vor dem Essen eingenommen. Die Möglichkeit der oralen Medikamentengabe ist für die betroffenen Familien eine große Erleichterung, jedoch liegen derzeit noch keine Langzeitergebnisse für dieses Medikament vor. Das Medikament Deferoxamin war viele Jahre die Standardtherapie zur Eisenausschwemmung. Es muss jedoch 5–7mal in der Woche als subkutane Infusion mittels spezieller Infusionspumpen verabreicht werden. Aufgrund der kurzen Halbwertzeit des Medikaments erfolgt die Infusion über einen langen Zeitraum, möglichst 12 Stunden. Welche Therapie zur Anwendung kommt, wird ärztlich angeordnet und hängt vom Alter, von der Compliance, Familiensituation und dem Grad der Eisenüberladung ab. In Einzelfällen kann bei extrem hoher Eisenbelastung die Infusion auch hoch konzentriert intravenös durchgeführt werden. Während der Infusion können al-

lergische Reaktionen mit Quaddelbildung, Juckreiz, Gesichts-, Zungen- und Kehlkopfschwellung auftreten. In diesem Fall ist die Infusion zu unterbrechen, der venöse Zugang ist mit isotoner Kochsalzlösung offen zu halten, und der Arzt wird informiert. Bei erhöhtem Blutbedarf bzw. zunehmender Transfusionsfrequenz kann eine Splenektomie notwendig werden. Damit verbunden ist eine erhöhte Infektanfälligkeit, insbesondere besteht die Gefahr einer Pneumokokkensepsis. Auf ärztliche Anordnung kann eine antibiotische Dauerprophylaxe erfolgen. Es wird jedoch zunehmend erwogen, nur eine subtotale Entfernung der Milz vorzunehmen, um die Komplikationen so gering wie möglich zu halten.

Merke

H ●

Die im Impfplan vorgesehenen Pneumokokken- und Hepatitis-Impfungen sind für Kinder mit chronischen Anämien besonders wichtig.

Um die Kinder wenig in ihrem normalen Leben einzuschränken, ist es wünschenswert, die Transfusionen möglichst in der schulfreien Zeit z. B. nachmittags oder am Wochenende durchzuführen. Auch während der Ferienzeit sollte es möglich sein, die Termine flexibel zu gestalten. Die Angliederung an eine Tagesklinik ist sinnvoll.

Selbstständiger Umgang mit der Therapie Bei guter Mitarbeit der Patienten kann das 5. Lebensjahrzehnt bei Erhaltung der Lebensqualität erreicht werden. Dazu ist es wichtig, dass die Eltern und altersentsprechend auch die Kinder vom Arzt über die Therapie aufgeklärt und von Anfang an mit einbezogen werden. Für eine konsequente Therapie ist es notwendig, die regelmäßigen Termine zu den Transfusionen und Kontrolluntersuchungen wahrzunehmen sowie die Medikamente zuverlässig zu verabreichen. Zu Beginn der häuslichen Therapie kann unterstützend ein ambulanter Pflegedienst hinzugezogen werden. Die Anleitung der Eltern beinhaltet folgende Aspekte: ● Die regelmäßige Verabreichung der oralen Chelatbildner ist wichtig. Sie werden mindestens 30 Minuten vor dem Essen verabreicht. Die Brausetablette wird in Wasser oder Orangensaft aufgelöst. ● Bei der Therapie mit der subkutanen Infusion gibt es die geringsten Einschrän-

29

9

Pflege von Kindern mit Störungen des Blutsystems













kungen bei Besuch von Kindergarten, Schule und Berufsausbildung, wenn die Infusion nachts erfolgt. Bei den Infusionspumpen sind die Angaben des Herstellers zu beachten. Die zubereitete Infusionslösung ist 24 Stunden bei Zimmertemperatur haltbar. Die Infusionsstellen sind vorzugsweise am Bauch zu wählen und nach jeder Infusion zu wechseln. Weiterhin wird darauf hingewiesen, dass die Infusionseintrittsstellen auf Schmerzen, Schwellung sowie pigmentierte Verhärtungen hin zu beobachten sind. Durch die Eisenausscheidung kann eine unbedenkliche Dunkelfärbung des Urins auftreten. Um Nebenwirkungen und Wirksamkeit der Medikamente zur Chelattherapie frühzeitig festzustellen, sind neben regelmäßigen Blut- und Urinuntersuchungen auch Hör- und Sehtests notwendig.

Bestmögliche psychosoziale Situation

29

600

Bei der Thalassämie treffen mehrere Faktoren zusammen, die die psychosoziale Situation der Patienten beeinträchtigen. Im frühen Kindesalter sind es zunächst die regelmäßigen Krankenhausaufenthalte und die nächtlichen Infusionen, die sich belastend auswirken. Um den stationären Aufenthalt zu erleichtern, besteht die Möglichkeit, Kinder, die sich schon kennen, gemeinsam einzubestellen. Im Schulkindalter sind die Kinder oft kleiner als ihre Klassenkameraden. Durch häufigeres Fehlen in der Schule kann die Integration in den Klassenverband erschwert sein, außerdem muss der Unterrichtsstoff nachgeholt werden. Für mehr Verständnis kann es sinnvoll sein, Lehrer und Mitschüler über die Erkrankung zu informieren. Bei den betroffenen Kindern handelt es sich, wie anfänglich beschrieben, meist um Angehörige eines anderen Kulturkreises, was bei der Pflege und Betreuung der Familien berücksichtigt werden muss. Jugendlichen Patienten fehlt häufig die Motivation, die Therapie regelmäßig durchzuführen. Das Ausmaß der Spätfolgen ist jedoch abhängig davon, wie konsequent die Therapie durchgeführt wird. Deshalb sind eine gute Aufklärung und Compliance der Patienten besonders wichtig, um den Verlauf z. B. der körperlichen und sexuellen Entwicklung, von Leber-, Nieren- und Herzinsuffizienz, Diabetes mellitus und Schwerhörigkeit positiv zu beeinflussen. Je nach Grad der Beeinträchtigung sind Berufswahl und Ausbildung erschwert. Sie sollten mit dem Arzt besprochen werden.

Eltern

a ●

Da die Familie dem kranken Kind den Rückhalt gibt, werden an die Familienmitglieder hohe Anforderungen gestellt. Um einen Erfahrungsaustausch zu ermöglichen, sollte der Kontakt mit anderen betroffenen Familien gefördert werden, z. B. durch Vermittlung an Elternvereine oder Selbsthilfegruppen und bei organisierten Kinderfesten im Krankenhaus.

Es wäre wünschenswert, wenn die jungen erwachsenen Patienten in Abhängigkeit von ihrem Alter, der individuellen Entwicklung und der eigenen Verantwortung mithilfe eines Transitionsprogramms in die Erwachsenenmedizin übergeleitet werden könnten. Bei der Familienplanung ist eine genetische Beratung zu empfehlen. Den Patienten wird mit zunehmendem Alter immer mehr bewusst, dass ihre Lebenserwartung eingeschränkt ist.

29.4 Pflege eines Kindes mit erworbener Blutungskrankheit 29.4.1 Ursache und Auswirkung Erworbene Blutungserkrankungen treten besonders häufig bei Kindern zwischen 2 und 7 Jahren auf. Auslösende Faktoren können virale und bakterielle Infektionen sowie seltener Arznei- und Nahrungsmittelallergene sein. Die Ursachen sind z. T. ungeklärt.

Definition

L ●

Bei der Purpura Schoenlein-Henoch handelt es sich um ein gefäßbedingtes Blutungsleiden. Durch eine Autoimmunreaktion werden die Kapillarwände durchlässiger und somit steigt die Blutungsbereitschaft, außerdem kann es zur Ödembildung kommen.

Charakteristisch sind Haut- und Schleimhautblutungen, außerdem kommen häufig Gelenkbeschwerden, Bauchschmerzen und leichtes Fieber hinzu. Die Hautblutungen können als Petechien, Ekchymosen sowie als makulopapulöse Effloreszenzen auftreten. Betroffene Körperstellen sind die Streckseiten der Beine (▶ Abb. 29.2), Gesäß, Fußgelenke bzw. alle Stellen, die übermäßig belastet werden, z. B. Ellenbogen und Körperteile, an denen Kleidung

Abb. 29.2 Purpura Schoenlein-Henoch. Kind mit Hauterscheinungen an den Beinen. (Bald M. Glomerulonephritiden bei Systemerkrankungen und Vaskulitiden. In: Bald M, Biberthaler P, Blattmann C et al., Hrsg. Kurzlehrbuch Pädiatrie. 1. Auflage. Thieme; 2012)

einschnürend wirkt, z. B. Strümpfe, Hosenbund. Ebenso wie die sichtbaren Blutungen an der Haut können auch der MagenDarm-Trakt und die Nieren betroffen sein, sodass es zu kolikartigen Bauchschmerzen, Erbrechen mit Blutbeimengungen, Teerstuhl sowie makroskopisch oder mikroskopisch sichtbaren Blutbeimengungen in Stuhl und Urin kommen kann. Die Therapie erfolgt symptomatisch. Sind Streptokokken nachgewiesen, werden diese mit Penicillin behandelt.

Definition

L ●

Die idiopathische Thrombozytopenie (ITP) ist die häufigste Blutungserkrankung im Kindesalter. Es handelt sich hierbei um eine autoimmunologische Reaktion, bei der Autoantikörper gebildet und die Thrombozyten beschleunigt phagozytiert werden.

Bei unbeeinträchtigtem Allgemeinzustand kann es bei Thrombozytenzahlen < 20 000/μl zu petechialen Hautblutungen und Ekchymosen kommen, häufig begleitet von starkem Nasenbluten. Des Weiteren können Blutungen im Urogenitalund Magen-Darm-Trakt auftreten. Zu schweren Blutungen oder Hirnblutungen kommt es glücklicherweise kaum. Bei selten auftretenden Blutungen können als

29.5 Pflege eines Kindes mit Hämophilie Behandlungsoptionen Immunglobuline, Glukokortikoide und Thrombozytenkonzentrate verabreicht werden. In manchen Fällen kann die ITP in eine chronische Thrombozytopenie übergehen. Die Pflegeprobleme und -maßnahmen sind bei der Purpura Schoenlein-Henoch und der ITP sehr ähnlich, deshalb werden sie im Folgenden gemeinsam erklärt.

29.4.2 Pflegebedarf einschätzen Bei einem Kind mit einer Blutungskrankheit können folgende Pflegeprobleme entstehen: ● beeinträchtigtes Wohlbefinden und Ängste durch die Entstehung neuer Effloreszenzen und Bauchschmerzen, die mit Blutbeimengungen in Stuhl und Urin einhergehen ● mangelnde Akzeptanz der Bettruhe ● beeinträchtigte Mobilität durch Gelenkschwellungen und -schmerzen ● Appetitlosigkeit, Abgeschlagenheit durch Fieber ● verändertes Aussehen durch Gelenkschwellungen und Ödeme an Handund Fußrücken sowie Augenlidern ● Gefahr von allergischen Reaktionen bei der Gabe von Medikamenten ● Gefahr von Blutungen

29.4.3 Pflegeziele und -maßnahmen Erkennen und Vermeiden neuer Blutungen Bei der täglichen Körperpflege sind die Beobachtung der Haut und die Dokumentation neuer Effloreszenzen besonders wichtig. Außerdem werden Urin und Stuhl täglich auf Blutbeimengungen untersucht. Um der Entstehung neuer Blutungen vorzubeugen, ist u. U. die Einhaltung einer Bettruhe für ca. 1–2 Wochen notwendig. Da es den Kindern dabei nach kurzer Zeit wieder recht gut geht, ist für ein ausreichendes Beschäftigungsangebot zu sorgen. Günstig ist es auch, wenn die Kinder nicht allein, sondern mit Gleichaltrigen zusammen im Zimmer liegen. Die Kleidung sollte bequem und locker sein und nicht einschneiden. Ergänzend zu diesen Maßnahmen kommen noch prophylaktische Maßnahmen (S. 611) hinzu, die bei Thrombozytenzahlen < 20 000/μl zu beachten sind. Die Mundhygiene sollte mit einer weichen Zahnbürste oder einer reinigenden Lösung durchgeführt werden. Auf invasive Maßnahmen, wie Einläufe,

i. m. Injektionen, Legen von Kathetern und Magensonden sowie auf routinemäßiges Blutdruck- und rektales Fiebermessen muss verzichtet werden.

Ausreichende Nahrungsaufnahme Im Verlauf der Erkrankung kann es durch Einblutungen in die Magen- und Darmschleimhaut zu kolikartigen Bauchschmerzen kommen. Die Kinder sind deshalb oft appetitlos. Man kann versuchen, sie mit kleinen Portionen und Wunschkost zum Essen zu bewegen. Eine leichte Schonkost, bei der auf blähende Speisen und scharf Gewürztes bzw. Gebratenes verzichtet wird, sollte bevorzugt werden. Außerdem ist auf eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr zu achten. Zur Linderung der Bauchschmerzen werden kalte Bauchwickel nach den Wünschen des Kindes angewandt. Bei Kleinkindern ist dabei die Körpertemperatur zu überprüfen, um einer Auskühlung vorzubeugen. Bei Bedarf sind, nach ärztlicher Anordnung, Schmerzmedikamente zu verabreichen.

Linderung von Gelenkbeschwerden und Ödemen Bei der Purpura Schoenlein-Henoch können die Gelenke schmerzhaft geschwollen sein und somit zur Einschränkung der Bewegung führen. Am häufigsten sind Fuß-, Hand- und Kniegelenke betroffen. Ödeme sind vorwiegend an Hand- und Fußrücken sowie Augenlidern zu beobachten. Es kann versucht werden, die Beine hochzulegen und mit Kühlung eine Verbesserung zu erzielen. Meist genügt jedoch eine Schonung und die Symptome sind im Verlauf der Erkrankung rückläufig. Schmerzmedikamente auf ärztliche Anordnung können Gelenk- und Spannungsschmerzen mildern.

29.5 Pflege eines Kindes mit Hämophilie 29.5.1 Ursache und Auswirkung Definition

L ●

Hämophilie ist eine angeborene chronische Erkrankung mit erhöhter Blutungsneigung. Sie beruht auf einem vererbten Mangel an Gerinnungsfaktoren.

Durch diesen Mangel kommt es zu einer gestörten Blutgerinnung. Normalerweise ziehen sich bei einer Verletzung die Blutgefäße zusammen, es lagern sich Blutplättchen an und bilden einen Pfropf. Die Gerinnungsfaktoren bewirken die Umwandlung von Fibrinogen in das unlösliche Fibrin. Da dieser Vorgang bei Hämophilie nur unzureichend abläuft, bildet sich kein fester Fibrinpfropf und es kommt zu einer andauernden Nachblutung. Die Erkrankung wird zu 2/3 vererbt, sie kann aber auch durch Spontanmutationen entstehen. Da die Erkrankung X-chromosomal rezessiv vererbt wird, betrifft sie folglich fast ausschließlich Jungen. Man unterscheidet Hämophilie A und Hämophilie B, je nachdem, ob der Gerinnungsfaktor 8 (ca. 85 %) bzw. 9 (ca. 15 %) betroffen ist. Nach der prozentualen Restaktivität der Gerinnungsfaktoren wird die Hämophilie in 4 Schweregrade unterteilt.

Merke

H ●

Bei einer Restaktivität < 1 % kann es bereits bei geringer mechanischer Einwirkung zu Hämatomen und Blutungen in Muskulatur, Gelenke und inneren Organen kommen.

Gewährleistung der Therapie Aufgaben des Pflegepersonals sind Medikamentengabe und Überwachung der Gabe von Immunglobulinen und evtl. Thrombozytenkonzentraten. Immunglobuline werden laut Herstellerangaben aufgelöst und verabreicht. Zu beachten ist dabei, das Lösungsmittel vorher auf 37 °C zu erwärmen. Die Chargennummer muss im Dokumentationssystem vermerkt werden. Unverträglichkeitsreaktionen können ähnlich wie bei Bluttransfusionen auftreten, deshalb werden während der Verabreichung die Vitalzeichen überwacht.

Bei den meisten Kindern mit Hämophilie erfolgt die Behandlung in speziellen Hämophiliezentren bzw. in enger Zusammenarbeit mit diesen. Die Therapieform hängt von Art und Schwere der Erkrankung ab und erfolgt durch die Substitution der Gerinnungsfaktoren. Die Substitution erfolgt meistens bei Bedarf, d. h. bei akuten Blutungsereignissen, vor geplanten Operationen oder Aktivitäten, bei denen eine erhöhte Blutungsgefahr besteht. Bei der schweren und z. T. auch bei der mittelschweren Hämophilie erfolgt eine prophylaktische Dauerbehandlung mit Gerinnungspräparaten. Die Injektion ist dabei 2–4-mal wöchentlich intravenös notwendig, evtl. erfolgt sie über einen zentralen Dauerkatheter (z. B. PORT-ACATH).

29

1

Pflege von Kindern mit Störungen des Blutsystems

29.5.2 Pflegebedarf einschätzen

Tab. 29.4 Häufig auftretende Blutungen bei Hämophilie in Abhängigkeit vom Lebensalter. Alter

Blutungsort

Folgende Pflegeprobleme können sich bei einem Kind mit Hämophilie ergeben: ● ständige Gefahr einer akuten Blutung ● Schmerzen durch Blutungen in Weichteile und Gelenke ● Bewegungseinschränkung und Fehlstellung der Gelenke durch Blutungsereignisse ● vitale Bedrohung, beeinträchtigtes Allgemeinbefinden durch allergische Reaktionen bei der Substitution von Gerinnungspräparaten und Blutprodukten ● psychische Belastung durch chronische Erkrankung und damit verbundene Einschränkungen ● evtl. Schuldgefühle der Mutter als Überträgerin der Erkrankung

1. Lebensjahr



29.5.3 Pflegeziele und -maßnahmen Vermeidung von Blutungen Bei Kleinkindern kann durch eine sichere Umgebung, z. B. abgepolsterte Bettgitter und Kanten sowie Spielzeug mit geringer Verletzungsgefahr, Blutungen vorgebeugt werden. Zum Schutz vor Verletzungen können Knie- und Ellenbogenschützer und ein Helm getragen werden. Blutungen im Mundbereich wird durch eine sorgfältige Zahnpflege mit einer weichen Zahnbürste vorgebeugt. Impfungen müssen, da intramuskuläre Injektionen kontraindiziert sind, subkutan verabreicht werden.

Merke

H ●

Bei Schmerzen sollten Analgetika nur nach ärztlicher Rücksprache verabreicht werden, da sie häufig Einfluss auf die Blutgerinnung haben. Kontraindiziert sind salizylhaltige Arzneimittel, da sie zur Beeinträchtigung der Thrombozytenfunktion führen!

29

602

Eine gesunde Ernährung vermeidet eine übermäßige Belastung der Gelenke durch Übergewicht. Außerdem sind kräftige Muskeln und ein sicheres Körpergefühl ein guter Schutz der Gelenke. Deshalb sind geeignete Sportarten, wie Schwimmen, Radfahren, Wandern, Tischtennis oder Segeln, sehr zu empfehlen. Sportarten mit hohem Verletzungsrisiko, wie Fußball, Reiten und Kampfsportarten, sind jedoch nicht geeignet.



Kleinkindalter





Schulkindalter





Jugendalter

● ●

meist ohne Besonderheiten Neigung zu Hämatomen mit zunehmender Beweglichkeit kann es zu Gelenk- und Muskelblutungen kommen Schnitt- und Bissverletzungen in der Mundhöhle, Nasenbluten, Blutungen in den Mundboden zunehmend Muskel- und Gelenkblutungen (v. a. Knie-, Sprung- und Ellbogengelenk) Blutungen im Urogenitaltrakt und durch Zahnwechsel gehäufte Gelenk- und Muskelblutungen Beginn von Blutungen im Magen-Darm-Trakt

Erkennen von Blutungen, Blutstillung In den verschiedenen Altersstufen sind Körperteile und Organe in unterschiedlichem Ausmaß blutungsgefährdet (▶ Tab. 29.4). Frühzeitiges Erkennen und rasches Handeln bei Blutungen helfen, Spätschäden gering zu halten. Wichtig ist dabei, dass die Kinder Verletzungen aus Angst vor möglichen Vorwürfen oder Scham nicht verheimlichen. Treten kleinere Verletzungen, wie Schnitt- und Schürfwunden, auf, heißt es in erster Linie Ruhe bewahren. Zunächst werden allgemeine Maßnahmen zur Blutstillung, wie Hochlegen der betroffenen Extremität, Kühlung mittels Cool-Pack, Kompression (z. B. durch Anlegen eines Druckverbandes), angewendet. Ist die Blutung nach ca. 15 Minuten nicht zum Stillstand gekommen, muss die Substitution des Gerinnungspräparates erfolgen, entweder durch die benachrichtigten Eltern, den Betroffenen selbst oder durch den behandelnden Arzt. Bei der Blutstillung sind Handschuhe zum Eigenschutz zu tragen.

Merke

H ●

Akut lebensbedrohliche Blutungen sind Hirnblutungen (selten), Blutungen in Mundboden und Zungengrund sowie Verletzungen von Leber und Milz. In diesen Fällen ist sofort der Notarzt mit Hinweis auf die Grunderkrankung zu verständigen.

Bei kleineren Blutungen im Bereich der Schleimhäute (z. B. Zahnwechsel, Zahnoperation) ist die zusätzliche Anwendung von Fibrinolysehemmern empfohlen. Diese werden alle 4 Stunden über mehrere Tage lokal angewendet und hemmen die fibrinolytische Wirkung des Speichels.

Substitution der Gerinnungsfaktoren Die Substitution der Gerinnungsfaktoren erfolgt auf ärztliche Anordnung als langsame intravenöse Injektion oder als Kurzinfusion. Das Lösungsmittel wird auf 20–37 °C erwärmt und die Trockensubstanz nach Zugabe des Lösungsmittels durch vorsichtiges Schwenken vollständig aufgelöst. Trübe Lösungen und Lösungen mit Ausflockungen dürfen nicht verwendet werden. Während der Verabreichung ist das Kind auf allergische Reaktionen zu beobachten. Produkt und Chargennummer sind im Dokumentationssystem zu vermerken. Die meisten Gerinnungspräparate müssen bei 2–8 °C im Kühlschrank gelagert werden. Es gibt inzwischen jedoch auch einige Präparate, die bis zu 2 Monate bei Raumtemperatur gelagert werden können, was besonders für Reisen von Vorteil ist. Sie dürfen aber nach dieser Zeit nicht wieder in den Kühlschrank. Viele Blutgerinnungspräparate werden derzeit noch aus Blutplasma gewonnen. Doch inzwischen gibt es empfindliche Nachweismethoden und zuverlässige Verfahren zur Virusinaktivierung, sodass das Risiko einer HIV-Infektion in Deutschland minimiert ist. Einer Hepatitisinfektion wird durch konsequentes Impfen ab dem Säuglingsalter vorgebeugt. Seit 1993 können Gerinnungspräparate auch gentechnologisch (rekombinante Präparate) hergestellt werden.

29.5 Pflege eines Kindes mit Hämophilie

Notfallplan – Hämophilie Ersteinschätzung durch den Betreuer: Notfallnummer:

• Wo ist die Verletzung? Um welche Art von Verletzung handelt es sich? Wie schwer ist die Verletzung? • sofort erste Hilfemaßnahmen zur Blutstillung einleiten • Druckverband anlegen, kühlen • Eltern, ggf. Notarzt und Hämophiliezentrum informieren

Eltern: Behandlungszentrum: Behandelnder Arzt: Der Hämophilieausweis und das Gerinnungspräparat sollten in der betreuenden Einrichtung für den Notfall vorliegen.

Nicht bei jeder Verletzung muss sofort der Notarzt gerufen werden. Aber immer die Eltern!

Was ist passiert?

Was ist zu tun?

• leichte Stoßverletzung, Schürf- oder Schnittwunde, ohne längere Blutung

• Wundversorgung mit Druckverband • kühlen

• Kopf leicht angestoßen (keine Symptome, wie Erbrechen, Müdigkeit, Bewusstlosigkeit)

• Kind engmaschig beobachten • bei Auffälligkeiten Notarzt, Eltern, Hämophiliezentrum informieren • Gerinnungsfaktor spritzen lassen • ggf. klinische Überwachung

• gelenknahe Verletzungen, Stöße, Schwellungen

• Eltern und Hämophiliezentrum kontaktieren • Gerinnungsfaktor spritzen lassen

• starkes Kopftrauma, starke stumpfe Verletzung im Bereich des Brustkorbs oder Bauchraum (z. B. Tritt oder Sturz)

• Notarzt, Eltern, Hämophiliezentrum informieren • Gerinnungsfaktor spritzen lassen • Kliniktransport

Abb. 29.3 Leitfaden für Betreuer. Leitfaden für den Umgang mit Verletzungen bei Kindern mit Hämophilie, geeignet für Betreuer in Kita, Schule und Vereinen.

Bei leichter bis mittelschwerer Hämophilie A kann evtl. die Faktorkonzentration aus körpereigenen Speichern durch die Gabe des Hormons DDAVP (Minirin) angehoben werden.

Eltern

a ●

Für eine rasche Minderung der Beschwerden, mehr Selbstständigkeit und Unabhängigkeit ist es sinnvoll, Eltern und Kind an die kontrollierte Selbstbehandlung heranzuführen. Bei gründlicher Schulung im Hämophilie-Behandlungszentrum werden frühzeitiges Erkennen von Blutungen, Ausführung der Venenpunktion und verschiedene Gerinnungspräparate erläutert.

Physiologische Beweglichkeit der Gelenke

Soziale Integration, psychische Stabilität

Blutungen in Gelenken und Muskulatur können zu Atrophie und Verkürzung des Muskelgewebes, außerdem zu Fehlstellung, Deformierung des Gelenks und Kontrakturen führen. Deshalb ist die konsequente Durchführung von Bewegungstherapie notwendig. Bei schwerwiegenden Beeinträchtigungen sind intensive Rehabilitationsmaßnahmen durchzuführen mit dem Ziel einer möglichst normalen Beweglichkeit der Gelenke. Nur wenn alle konservativen Maßnahmen erfolglos sind, wird ein operatives Vorgehen erwogen.

Für die psychische Stabilität ist es wichtig, das Kind nicht in seinen körperlichen Aktivitäten durch Verbote einzuschränken. Vorbeugende Hinweise zum Schutz vor Verletzungen sind ihm altersentsprechend zu erläutern. Für Blutungen, die aufgrund eines evtl. Fehlverhaltens entstehen, sind dem Kind keine Vorwürfe zu machen. Bei einer erneuten Blutung könnte es sonst versuchen, diese so lange wie möglich zu verheimlichen. Dadurch würde eine notwendige Behandlung unnötig verzögert. Problematisch kann die soziale Integration in Kindergarten, Schule und Beruf sein, da im Umgang mit den Erkrankten u. U. Berührungsängste bestehen. In Kindergarten und Schule sollten Erzieher und Lehrer über die Erkrankung informiert werden, um bei Verletzungen entsprechende Maßnahmen einleiten zu können (▶ Abb. 29.3).

29

3

Pflege von Kindern mit Störungen des Blutsystems

Notfallausweis ACHTUNG! BLUTER! Führen Sie diesen Ausweis immer mit sich, er kann lebensrettend sein.

Name und Vorname

Art der Gerinnungsstörung

Geburtsdatum und -ort

fehlender Gerinnungsfaktor

Straße

Restaktivität/Norm/Hemmkörpernachweis

Wohnort

behandelnder Hausarzt

Abb. 29.4 Bluterausweis. Er enthält wichtige Daten zur Erkrankung und zur Substitution von Gerinnungsfaktoren.

29

604

Zur Unterstützung gibt es u. a. Broschüren von der deutschen Hämophiliegesellschaft. Für den Notfall sollte das Kind immer seinen Bluterausweis mitführen. In ihm sind wichtige persönliche Daten und Informationen zu der Erkrankung und Substitution von Gerinnungsfaktoren enthalten (▶ Abb. 29.4). Ein guter Schulabschluss erweitert die Möglichkeiten bei der Berufswahl. Es sollten keine Berufe gewählt werden, bei denen schwere körperliche Arbeit erforderlich ist und eine erhöhte Verletzungsgefahr besteht.

Kapitel 30 Pflege von Kindern mit onkologischen Erkrankungen

30.1

Bedeutung

606

30.2

Grundlagen der zytostatischen Therapie

606

30.3

Pflege eines Kindes mit onkologischer Erkrankung

608

30.4

Pflege von Kindern und Jugendlichen im Terminalstadium 618

Pflege von Kindern mit onkologischen Erkrankungen

30 Pflege von Kindern mit onkologischen Erkrankungen Brigitte Rinner

30.1 Bedeutung Der Begriff „Onkologie“ (griech. „onkos“: Geschwulst) bedeutet Lehre von Geschwulst- bzw. Tumor- oder Krebserkrankungen. In Deutschland sind Krebserkrankungen inzwischen die zweithäufigste Todesursache. Diese Krankheiten betreffen auch in hohem Maße Kinder und Jugendliche, die, je nach Art der Krebserkrankungen, etwa zu 80 % dauerhaft geheilt werden können. In Deutschland erkranken jährlich mindestens 2000 Kinder unter 15 Jahren neu an Krebs. Durch aggressive Chemo- und Radiotherapie und die z. T. notwendigen Operationen werden die Kinder und ihre Angehörigen großen physischen und psychischen Belastungen ausgesetzt, die über mehrere Jahre andauern können. Nicht nur die kranken Kinder, sondern auch die Eltern und Geschwister sind bis an die Grenzen ihrer emotionalen, körperlichen und sozialen Möglichkeiten belastet. ▶ Bedeutung für die Familie. Durch die häufigen Aufenthalte der Kinder im Krankenhaus ist das Familienleben stark beeinträchtigt: Ein Elternteil betreut das kranke Kind in der Klinik, während der Partner sich um die Organisation des Alltags der betroffenen Familie kümmert. Dazu gehören auch die Versorgung und die Unterbringung der Geschwisterkinder während

(Tumorzellen), da die Zytostatika in unterschiedliche Stadien der Zellteilung eingreifen und dort ihre wachstumshemmende Wirkung auch auf gesunde Zellen entfalten. Deshalb sind Zytostatika auch bei schnell wachsenden Tumoren effektiver (also häufig bei Tumoren im Kindesalter) als bei langsam wachsenden Tumoren. Zytostatika greifen aber nicht nur Tumorzellen an, sondern alle Zellen, die sich vermehren. Dadurch werden auch immer gesunde Zellen durch die Chemotherapie vernichtet.

der Arbeitszeit (z. B. Kindergarten, Kindertagesstätte, Schule, bei Verwandten oder Freunden). ▶ Bedeutung für das kranke Kind. Zu den Problemen einer chronischen Erkrankung gehören zu den Nebenwirkungen, die die aggressiven Therapien mit sich bringen, u. a. häufige Krankenhausaufenthalte, Aufholen von versäumten Schulstunden, Ausschluss von vielen Aktivitäten, körperliche Veränderungen, wenig Kontakt zu Freunden und v. a. der Umgang mit der Angst vor einer ungewissen Zukunft. Um dem kranken Kind bei der Bewältigung seiner Probleme behilflich sein zu können, ist es von sehr großer Wichtigkeit, dass die Eltern eine umfassende Aufklärung über die Erkrankung ihres Kindes erhalten sowie pflegerische Unterstützung, Begleitung, Anleitung und Beratung.

Merke

H ●

Je schneller ein Gewebe proliferiert (sich durch Zellteilung vermehrt), desto höher ist die Wirkung der Zytostase.

30.2 Grundlagen der zytostatischen Therapie

Das am schnellsten wachsende Gewebe ist das Knochenmark, die Bildungsstätte von Erythrozyten, Thrombozyten und Leukozyten. Erythrozyten überleben Monate, Thrombozyten Tage und Leukozyten nur Stunden im peripheren Blut. Also sind Leukozyten die Zellen, die sich am schnellsten vermehren. Konsequenterweise werden Zytostatika Leukozyten eher zerstören als Thrombozyten oder Erythrozyten. Aber auch die Zellen der Schleim-

Zytostatika sind alle Substanzen, die maligne und entartete Zellen am Wachstum und an der Vermehrung hindern, d. h. sie im Rahmen eines therapeutischen Index (Wirkdosis, vertragene Dosis) schädigen und daher für die Chemotherapie geeignet sind (▶ Tab. 30.1). Insbesondere betrifft dies Zellen mit rascher Zellteilung

Tab. 30.1 Grundlagen der zytostatischen Therapie.

30

Zytostatikagruppen

Wirkung

Medikamente

Antimetaboliten

Sie blockieren die Vorstufen der Nukleinsynthese. Sie sind S-Phasen-spezifische, zyklusabhängige Medikamente, die häufig als lang dauernde Infusionen gegeben werden, um die Anzahl der empfindlichen Zellen in der S-Phase zu erhöhen.

Methotrexat (MTX), Mercaptopurin (6-MP), Thioguanin (6-TG), Fluorouracil, CytosinArabinosid (ARA-C)

antibiotische Substanzen

Sie binden sich mit der DNA und blockieren die RNA- und Proteinbildung.

Daunorubicin (DBR), Adriamycin (ADB), Bleomycin, Mitomycin, Actinomycin D (ACD), Mitramycin

Alkylanzien

Sie binden sich mit den Enden ihres Moleküls an die doppelsträngige DNA und führen zur falschen Verknüpfung und verhindern so die Zellteilung.

Cyclophosphamid, Ifosfamid, Chlorambucil, Thiotepa, Procabacin, Dacarbacin, Bis-Choroethyl-Nitrosurea, Cyclohexyl-chlorethyl-Nitrosourea

Vinca-Alkaloide

Sie blockieren die sog. Spindelbildung, erreichen eine Arretierung der Zellen in der Metaphase und zum Teil auch in der späten S-Phase.

Vincristin (VCR), Vinblastin (VBL), Vindesine (VDS)

Epipodophyllotoxine

Sie blockieren das für die DNA-Kopierung entscheidende Enzym Topoisomerase II.

Cis-Platin, Carboplatin, Etoposid (VP16), Teniposid (VM-26)

Enzyme

Sie blockieren gezielt den Stoffwechsel von bestimmten Tumorzellen.

L-Asparaginase

Kortikosteroide

Ihre wichtige Funktion in der Onkologie erhalten sie durch ihre immunsuppressive Wirkung: Sie hemmen die Bildung von Interleukin (I + II), das für das Wachstum und die Ausreifung von Lymphozyten von Bedeutung ist.

Prednisolon, Dexamethason

S-Phase = Synthese-Phase, in ihr wächst die Zelle durch die Produktion von RNA und Proteinen an.

606

30.2 Grundlagen der zytostatischen Therapie häute (Magen-Darm-Trakt) und Keimzellen sind schnell proliferierende Zellen und somit sehr anfällig für Nebenwirkungen der Chemotherapie. Zytostatika greifen überwiegend Zellen in der Teilungs- bzw. Vermehrungsphase an, sodass die Bedingungen bei hoher Proliferationsrate grundsätzlich günstiger sind als bei langsamem Wachstum. Es hat sich jedoch gezeigt, dass die Sensitivität auch gleichermaßen intensiv proliferierender Tumoren gegenüber Zytostatika unterschiedlich ist, v. a. in Bezug auf verschiedene Zytostatika.

30.2.1 Ziele der Therapie Durch die zytostatische Therapie sollen folgende Ziele erreicht werden: ● Vollständige Vernichtung der gesamten malignen Zellen (z. B. Leukämien), um eine Remission zu erzielen. ● Vollständige Vernichtung der malignen Zellen nach Operation und/oder Radiotherapie (z. B. Medulloblastome, Weichteilsarkome). ● Vernichtung maligner Zellen, um eine Operation und/oder Bestrahlungstherapie mit kurativer Absicht durch Verkleinerung des Ausgangstumors zu ermöglichen (z. B. Neuroblastome, osteogenes Sarkom). ● Vernichtung okkulter, sich dem klinischen Nachweis entziehender Metastasen (z. B. unterstützende adjuvante Chemotherapie bei verschiedenen soliden Malignomen). ● Palliation, d. h. Linderung der Schmerzen und/oder Beschwerden, entweder im Sinne der Wachstumsverzögerung eines Malignoms oder im Sinne der bloßen Symptomlinderung. Diese Ziele sind je nach aktueller Situation (Erstbehandlung/Rezidivbehandlung/Tumorart) unterschiedlich und dementsprechend ist in Abhängigkeit davon die Behandlung mit Einzelsubstanzen (selten Monotherapie) oder mit mehreren Substanzen (Polychemotherapie) zu konzipieren bzw. sinnvoll. Eine zytostatische Behandlung mit kurativer Absicht ist heute i. d. R. eine aggressive Kombinations-Chemotherapie, wobei auf die erforderlichen supportiven Maßnahmen zur Vermeidung oder Minderung der Toxizität größter Wert zu legen ist. Ein Fehler hierbei kann den gesamten Therapieerfolg infrage stellen. Eine unumgängliche Voraussetzung sind die Aufklärung von Eltern und Kind über Wirkung und Nebenwirkungen der invasiven Therapie sowie die schriftliche Einverständniserklärung der Eltern in die Chemotherapie bzw. die Therapieoptimierungspläne („TOP“).

30.2.2 Sicherer Umgang In den letzten Jahrzehnten wurde eine große Anzahl chemischer Stoffe entdeckt, die eine entwicklungshemmende Wirkung auf die Körperzellen haben. Diese Entwicklungshemmung beeinflusst die natürliche Zellregeneration, insbesondere bei Geweben, deren Zellen sich stark vermehren. Etwa 100 dieser Stoffe fanden bisher als Zytostatika Eingang in die Behandlung des Menschen. Rund 30 Substanzen sind heute Gegenstand der pädiatrisch-onkologischen Chemotherapie bei der Behandlung von bösartigen Neubildungen mit Zytostatika. Neben der chirurgischen Behandlung und der Radiotherapie sowie Hormonen (sog. Targettherapien sind im Kindesalter eher selten) und radioaktiven Stoffen bieten Teilungsgifte und wachstumshemmende Stoffe als Chemotherapie eine internistische Möglichkeit zur Bekämpfung der Krebserkrankung. Dass der Umgang mit Zytostatika Gefahren in sich birgt, ist seit Jahren bekannt, z. B. lokale Auswirkungen bei direktem Kontakt mit Haut, Augen und Schleimhäuten: Dermatitis, Schleimhautentzündungen, Pigmentationen oder Blasenbildung sind sichtbare allergische Reaktionen. Daher empfiehlt die Berufsgenossenschaft, Zytostatika entweder zentral in der Apotheke oder dezentral am Verabreichungsort (Station), in jedem Fall aber in entsprechenden Sicherheitswerkbänken zuzubereiten.

Merke

H ●

Im Merkblatt 620 der Berufsgenossenschaft (BGW) heißt es: „Mit Zytostatika dürfen nur Personen umgehen, die unterwiesen sind.“

Merke

H ●

Nur wer die Gefahren im Umgang mit Zytostatika und die Maßnahmen zur Abwehr der Gefahren kennt, kann einen sicheren Umgang mit Zytostatika gewährleisten. In der Unterweisung sollten die Arzneimittelwirkungen, einschließlich der unerwünschten Wirkungen und der potenziellen Gefahren, dargelegt werden.

Unfallverhütungsvorschriften und berufsgenossenschaftliche Merkblätter, die im Umgang mit Zytostatika von Bedeutung sind, müssen den Mitarbeitern bekannt sein. Es empfiehlt sich, das Tragen der Schutzkleidung (Schutzbrille, Schutzkittel,

Atemschutz und flüssigkeitsdichte Einweghandschuhe) sowie die technische Ausrüstung und deren Handhabung zu demonstrieren und zu trainieren. Erst bei erlangter Arbeitssicherheit sollte der Umgang mit Zytostatika beginnen. Die Unterweisung des Pflegepersonals ist in angemessenen Zeitabständen, mindestens einmal jährlich zu wiederholen. Bewusstes und sorgfältiges Arbeiten ist der beste Schutz vor Kontamination. Persönliche Schutzausrüstung und technische Hilfsmittel können nur im Zusammenspiel mit optimaler Arbeitstechnik und „bewusstem“ Arbeiten einen wirksamen Schutz bilden, denn auch für das applizierende Personal besteht die Gefahr der Kontamination mit Zytostatika.

Zytostatikazubereitung Die Durchführungsart in vielen Kliniken erfolgt auf diese Weise: Die Zytostatika kommen steril zubereitet in der jeweiligen Applikationsart (intravenös, Kurzinfusion, intrathekal) nach vorheriger schriftlicher Bestellung durch den Arzt aus der Apotheke. Lagerungsbedingungen, Zubereitungs- und Verfallsdatum werden von der Apotheke mittels Aufkleber auf den Spritzen oder Infusionsbeuteln vermerkt. Beim Auspacken und Richten der Zytostatika ist auf folgende Hinweise unbedingt zu achten: ● In den Zuständigkeitsbereich des Pflegepersonals gehören sterile Versorgung der Zubereitung mit einem Infusionssystem und sorgfältige Überwachung von Kind und Infusion nach Applikation der Zytostatika durch den Arzt. ● Bei Broviac-, Hickman- und IntraportKathetern gilt: Medikamente bleiben bis kurz vor der Applikation eingepackt! ● Das kontaminierte Material (z. B. Spritzen, Kanülen, Ampullen, leere Chemotherapiebeutel) wird als „Sondermüll“ in dafür vorgesehene verschlossene Behälter entsorgt.

Merke

H ●

Orale Zytostatika dürfen nicht „gemörsert“ verabreicht werden. Die Gründe dafür sind ungenaue Dosierung, Unsicherheit der Resorption und Gefährdung des Pflegepersonals durch das Einatmen der freigesetzten Aerosole. Der Wirkstoff soll erst im Magen des Kindes freigesetzt werden. Anderenfalls droht eine Verätzung der Speiseröhre.

30

7

Pflege von Kindern mit onkologischen Erkrankungen

30.2.3 Nebenwirkungen Pflegefachkräfte müssen über die Nebenwirkungen der applizierten Zytostatika informiert sein, um vorbeugende Maßnahmen treffen zu können. Bei den Nebenwirkungen wird zwischen Früh- und Spätreaktionen unterschieden.

Früh auftretende reversible Reaktionen

30

608

Sie können nach Stunden oder auch erst nach Wochen auftreten. Dazu zählen: ● Übelkeit (Nausea), Erbrechen (Emesis), Appetitlosigkeit (Inappetenz), Erschöpfungssyndrom (Fatigue) ● Haarausfall (Alopezie; das Haar wächst nach einigen Wochen wieder vollständig nach) ● Schleimhautläsionen als Reaktion auf die chemotherapeutischen Substanzen, insbesondere im Bereich von Mund (Stomatitis, Mukositis) und Speiseröhre ● Anstieg der Harnsäure im Blut (Hyperurikämie) ● Harnblasenentzündung mit blutigem Urin (hämorrhagische Zystitis) ● Nierenschädigung ● Gewichtsabnahme oder -zunahme (durch Kortison), Durchfälle (Enteritis) oder Verstopfung (Obstipation) ● Neurotoxizität mit Auftreten von Muskelschmerzen (z. B. bei Vincristin) ● Knochenmarkdepression mit daraus resultierender Leukopenie (Neutropenie) und Unterdrückung der körpereigenen Abwehr (Immunsuppression) ● Thrombopenie mit erhöhter Blutungsneigung: Auftreten von Petechien und Hämatomen, Nasenbluten, Zahnfleischbluten, Schleimhautblutungen allgemein, blutiges Erbrechen oder blutige Stühle als Folge von Blutungen in der Speiseröhre oder des Magens, vaginale Blutungen, Hirnblutungen, Somnolenz ● Anämie infolge der Knochenmarkdepression (Müdigkeit, Blässe, Kopfschmerzen, Kurzatmigkeit) ● Hautrötungen (Erythem), Hautausschläge (Exanthem), Hautverfärbung (Hyperpigmentation) ● Fieber, Bindehautentzündung (Konjunktivitis) ● Schädigung des Herzmuskels (Kardiomyopathie) ● Leberschädigung und infolgedessen Ikterus ● Lungenfunktionsstörung ● Minderung des Hörvermögens ● Darmverschluss (paralytischer Ileus) ● allergische Reaktion (z. B. Asparaginase, Teniposid): Zeichen einer allergischen Reaktion sind Fieber, Schüttelfrost, Urtikaria, Quincke-Ödem, Atemnot, Engegefühl und anaphylaktischer Schock



paravenöse Injektion/Infusion einhergehend mit Schmerzen und Gewebenekrosen (besonders bei Vincristin, Lyovac-Cosmegen, Adriblastin)

Spätreaktionen Sie treten oft erst nach monate- oder jahrelanger Chemotherapie auf: Amenorrhö, Infertilität, Kardiomyopathie, Lungenfibrose, Immunsuppression, evtl. auch Zweittumoren, Wachstumsstörungen bei Bestrahlungstherapie, Wachstumsstörungen bei Hirntumoren.

30.3 Pflege eines Kindes mit onkologischer Erkrankung 30.3.1 Ursache und Auswirkung In diesem Teil des Kapitels wird die Pflege von Kindern mit onkologischen Erkrankungen beschrieben. Da alle diese Kinder so bald wie möglich einer standardisierten Chemotherapie zugeführt werden, wird hier insbesondere auf die Pflegeprobleme, Pflegeziele und Pflegemaßnahmen bei Kindern während der Chemotherapie eingegangen. Während der Chemotherapie kann es durch die knochenmarksdepressive Wirkung der eingesetzten Medikamente zu einer Leukopenie, d. h. Verminderung der weißen Blutzellen kommen.

Merke

H ●

Jede Verletzung der Haut oder der Schleimhaut stellt eine Eintrittspforte für Bakterien dar, die schlimmstenfalls zur Sepsis führen kann. Dieser Aspekt ist für die Pflegenden von großer Bedeutung, da bei unsachgemäßer Ausführung der Pflege eine erhebliche Gefahr für die Kinder besteht.

Durch die modernen Behandlungen maligner Krankheiten (Leukämien und Tumoren) und ihrer Rezidive ergeben sich auch in Pflege und Beobachtung der Kinder und Jugendlichen neue Gesichtspunkte und Erfahrungswerte. Zu den grundsätzlichen pflegerischen Maßnahmen kommt eine individuell auf das einzelne Kind abgestimmte Pflegeplanung. Neben der physischen Betreuung sind bestimmte psychische Situationen und Veränderungen zu beobachten und zu dokumentieren, damit rechtzeitig notwendige Maßnahmen eingeleitet werden können. Die Kinder erfahren erhebliche Einschränkungen

in vielen Lebensaktivitäten und benötigen umfassende Unterstützung, um mit der Erkrankung leben zu lernen oder aber würdevoll sterben zu können.

30.3.2 Pflegebedarf einschätzen Es können sich folgende Pflegeprobleme aus der körperlichen und psychosozialen Situation des Kindes ergeben: ● Gefahr von Infektionen durch Leukozytopenie ● Gefahr von Blutungen durch Thrombozytopenie ● unzureichende Ernährung bei Schleimhautläsionen, Tumorkachexie ● unzureichende Flüssigkeitszufuhr ● Gefahr von Nebenwirkungen der Chemo- und Bestrahlungstherapie ● Angst des Kindes und der Eltern/Angehörigen vor der Diagnose und möglichem Tod ● Angst vor veränderter Lebenssituation, verändertem Körperbild ● Angst vor Untersuchungen, Therapie und langen Krankenhausaufenthalten ● gestörtes Wohlbefinden durch Therapie (Übelkeit, Erbrechen) und chronische Schmerzen ● verändertes Familienleben

30.3.3 Pflegeziele und -maßnahmen Kinder, die an Krebs erkrankt sind und sich einer Chemotherapie unterziehen müssen, erfahren vielfältige Einschränkungen in den Lebensaktivitäten. Jedes Kind benötigt eine ihm angepasste Pflege und Unterstützung in den Lebensaktivitäten, die ihm bestmögliche Lebensqualität gewährleistet und die häufig lange dauernden Veränderungen seiner Lebensumstände meistern hilft. Täglich durchzuführende Pflegemaßnahmen im Überblick sind: ● Einschätzen der Situation des Kindes (physisch und psychisch) ● Unterstützung bei der Körperpflege, regelmäßige Mund- und Hautinspektion, Mund- und Lippenpflege ● bei Säuglingen optimale Gesäß- und Genitalpflege, Beobachtung von Hautläsionen ● Wechsel von Dreiwegehahnbänken und den sterilen Systemen am zentralen Venenverweilkatheter erfolgt alle 72 Stunden; Infusionssysteme werden alle 24 Stunden gewechselt; nach Einlaufen von Fett-, Blutprodukten sowie Chemotherapeutika wird das Infusionssystem sofort entsorgt. ● Bei peripheren Gefäßzugängen zusätzlich Schienen- und Verbandwechsel

30.3 Pflege eines Kindes mit onkologischer Erkrankung ●









tägliche Körpergewichtskontrolle bei Infusionstherapie, bei Kortisontherapie 1-mal täglich Blutdruckbestimmung bei Wilms-Tumoren 3-mal täglich Blutdruckbestimmung (Hypertonien werden bei etwa 20 % der Fälle beobachtet) bei abdominellen Tumoren 1-mal täglich nüchtern Bauchumfangskontrolle Urin-pH-Kontrolle mit Stix 1-mal pro Schicht (3-mal täglich) (Hämaturie) während der Therapie alle 6 Stunden Bilanzierung: Ausfuhr = Einfuhr – Perspiratio

Intakte Haut Gesunde Haut ist für Bakterien schwer zu durchdringen, bei Verletzungen hingegen kommt es rasch zu Entzündungen und Eiterungen. Umso eher ist dies bei gestörter Immunabwehr infolge Chemotherapie der Fall. Auch die leicht saure Oberfläche der Haut („Hydro-Lipid-Film“) dient der Bakterienabwehr. Um den Hydro-Lipid-Film und damit die Schutzfunktion zu erhalten, ist es wichtig, die Haut nach dem Baden oder Waschen mit einer dem natürlichen pH-Wert der Haut angepassten Körperlotion einzucremen. Die Haut bedarf ständiger Beobachtung. Häufig ist sie zu trocken und die Kinder kratzen sie sich auf, oft sind die Lippen rissig und die Kinder reißen die Hautfetzen ab. Jede Verletzung aber ist zugleich eine neue Eintrittspforte für Erreger.

Praxistipp Pflege

Z ●

Pflegebäder und Salben mit erhöhtem Fettgehalt zur Hautpflege und täglich mehrmaliges Einfetten der Lippen beugen Austrocknung vor.

Bei allen Kindern sollte persönliche Körperhygiene eine Selbstverständlichkeit sein. Es ist hilfreich, täglich den ganzen Körper auf mögliche Infektionsquellen zu untersuchen. Die Eltern sollten angeleitet werden, regelmäßig auf Haut- oder Schleimhautveränderungen bzw. -verletzungen, insbesondere im Anogenitalbereich zu achten. Hautreizungen im Genitalbereich bei harn- und stuhlinkontinenten Kindern und windelversorgten Säuglingen können sich rasch zu schwerwiegenden Problemen entwickeln. Eine intensive Hautpflege dieses Bereiches mit gebrauchsfertiger Wundspüllösung zur lokalen Anwendung (Lavasorb) auf ärztliche Anordnung ist sinnvoll. „Wickelkinder“ sollten so wenig wie möglich in der Feuchtigkeit liegen.

Kleine Aphthen oder kleine rote Schwellungen im Schleimhautbereich können der Beginn einer ernst zu nehmenden Infektion sein.

Merke

H ●

Jede Rötung, Aphthe oder Schwellung der Haut oder auch nur ein „Stippchen“ kann sich innerhalb von Stunden zu massiven Infektionsherden, z. B. Phlegmonen, ausbreiten.

Solche Hautstellen werden mit einer desinfizierenden und adstringierenden (austrocknend, blutstillend und entzündungshemmend) Lösung auf ärztliche Anordnung 1-mal täglich gepinselt. Eine offene Behandlung ist wünschenswert bei Kindern, die gewickelt werden, da sonst eine „feuchte Kammer“ entsteht, in der die Infektionserreger besonders gut gedeihen. Offene Hautstellen können auf ärztliche Anordnung mit Schwarztee-Kompressen behandelt (etwa 15 Minuten ziehen lassen) werden. Es sollten keine Pasten verwendet werden, da der Verlauf der Entzündung unter Pastenabdeckung nicht mehr zu beurteilen ist.

Merke

H ●

An jeder Punktions- oder Infusionseinstichstelle und insbesondere bei länger liegenden Venenverweilkanülen kann es zu Hautinfiltraten kommen, die leicht eitern oder nekrotisieren, was wiederum unter Defektheilung zu Beugekontrakturen führen kann (▶ Abb. 30.1).

Häufiger aber geht von ihnen eine Thrombophlebitis aus. Auch auf ein Eiweißmangelödem sowie eine Herz- oder Niereninsuffizienz ist zu achten!

Abb. 30.1 Venenverweilkanüle. Die Einstichstelle muss täglich inspiziert werden. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Intakte Schleimhäute Am häufigsten treten Schleimhautveränderungen in Mund, Speiseröhre und Magen-Darm-Trakt auf. Diese sind für die Kinder sehr belastend und schmerzhaft. Bei Schleimhautverletzungen in diesem Bereich kann es schnell zur Beeinträchtigung der Nahrungsaufnahme kommen, was zu starkem Gewichtsverlust führen kann.

Nasenpflege Trockene und rissige Nasenschleimhäute sind eine der häufigsten Ursachen für Nasenbluten und eine ideale Eintrittspforte für Krankheitserreger. Die Gefahr der Austrocknung kann durch regelmäßige Pflege (S. 311) der Nasenschleimhaut mit einer Nasensalbe verringert werden.

Merke

H ●

Inhalationen sollten nach Möglichkeit unterbleiben, da Inhalationsgeräte nicht komplett sterilisiert werden können und deshalb einen guten Nährboden für Bakterien abgeben. Inhalationen sind nur unter strengster Beachtung von hygienischen Richtlinien und bei Sterilisation der Inhalationsaufsätze oder bei Verwendung von Einmalmaterial möglich.

Mundpflege Der Mund ist das Fenster zum gesamten Körper. Er spiegelt die Problematik der Chemotherapie sichtbar und lebhaft wider. Komplikationen ergeben sich aus dem hemmenden Einfluss der Chemotherapeutika auf Knochenmark und Immunsystem, der einen direkten Effekt am Mundgewebe zeigt. Der Mund ist eine der Haupteintrittspforten für Krankheitserreger, wie Bakterien, Viren und Hefepilze, in den menschlichen Körper. Dem Mund, v. a. dem Speichel, kommt daher eine besondere Bedeutung bei der Infektabwehr zu. Der Speichel und seine Bestandteile tragen in erheblichem Maße dazu bei, die immunologischen Funktionen im Mundbereich aufrechtzuerhalten. Speichel hilft uns, zu sprechen, zu kauen und die Nahrung zu schlucken. Verschiedene Krankheiten und deren chemotherapeutische Behandlung bringen jedoch die Speichelproduktion in der Mundhöhle praktisch zum Erliegen.

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9

Pflege von Kindern mit onkologischen Erkrankungen

Merke

H ●

Daher muss gerade die Mundpflege in Form häufigen Spülens mit anästhesierenden und oder desinfizierenden Lösungen konsequent durchgeführt werden! Dies erfordert sehr viel Einfühlungs- und manchmal verstärktes Durchsetzungsvermögen der Pflegenden.

Vor Beginn der Chemotherapie wird eine gründliche Untersuchung der Mundhöhle vorgenommen. Dazu gehören eine umfassende Zahnstatuserhebung, evtl. spezielle Zahnuntersuchung und Zahnsanierung.

Eltern

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Die Kinder bzw. Jugendlichen und ihre Eltern sollten über richtige Techniken zur Mundhygiene unterrichtet und angeleitet sowie über die Wichtigkeit der kontinuierlichen Mund- und Zahnpflege aufgeklärt werden. Sie müssen hierbei motiviert und ermutigt werden. Die Eltern und ältere Kinder werden darüber informiert, dass die Inspektion der Mundhöhle in regelmäßigen Abständen durchgeführt werden muss.

▶ Zähneputzen. Um Verletzungen des Zahnfleisches vorzubeugen, sollte eine weiche Zahnbürste benutzt und diese spätestens nach 4 Wochen erneuert werden. Bei einem Thrombozytenwert unter 20 000 sollte zur Vermeidung von Blutungen das Zähneputzen unterbleiben, ebenso bei einem Leukozytenwert unter 1000.

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610

▶ Mundspülungen. Zusätzlich werden auf ärztliche Anordnung regelmäßige (4–10-mal täglich, besonders nach jeder Mahlzeit) vorbeugende Mundspülungen mit desinfizierender Lösung durchgeführt. Kommt es trotzdem zu Entzündungen der Mundschleimhaut (Läsionen, Bläschen), wird die betroffene Stelle mit desinfizierenden Substanzen gepinselt, um eine Superinfektion zu verhindern. Zusätzlich können pflegende Mundlösungen (s. ▶ Tab. 13.5) und ein Oberflächenanästhetikum auf ärztliche Anordnung im Wechsel mit der Grundlösung angewandt werden. Weiterhin empfehlen sich bei Schleimhautläsionen Mundspülungen mit „Spültee“ (auf 1 Liter: 4 Gewürznelken, 1 kleines Stück Zimtrinde, je 1 TL Rosmarin, Thymian, Majoran und Bohnenkraut; in kochendem Wasser 10 Minuten ziehen lassen; die Spülung 2-mal die Stunde durchführen), Spülungen mit Natriumbikarbonat 8,4 % in einer Verdünnung 1 :

10 mit sterilem Wasser (hilft, Beläge abzutragen, und erzeugt einen für Keimwachstum ungünstigen pH-Wert) oder Eiswürfel (Cola, Eistee, Sprudel und Ananas). Von Spülungen mit Kamillentee ist abzuraten, da dieser die Mundschleimhäute austrocknet. Zu empfehlen ist bei Nebenwirkungen von Methotrexat an den Mundschleimhäuten eine Mundspülung mit Leukovorintee auf ärztliche Anordnung (3-mal täglich eine Ampulle auf 150 ml Tee). Bei Säuglingen und Kleinkindern gilt das gleiche Prinzip, jedoch werden bei ihnen anstelle der Mundspülung nur Mundauspinselungen mit sterilen Stieltupfern vorgenommen.

Stomatitis und Mukositis Durch Erbrechen und/oder häufige Stuhlentleerung sind die verschiedenen Schleimhautregionen oft zusätzlichen Reizen ausgesetzt und können eine langzeitige Behandlungspflege erforderlich machen. Häufige Problemkreise sind: ● Stomatitis: Entzündung des Mundes mit Aphthen, Schmerzen, schlechter Atemgeruch, mit Blut vermischter Speichel, weiße Beläge am Zahnfleisch, der Mund fühlt sich trocken an, beginnt typischerweise an der Zunge bzw. der Mundschleimhaut, ● Mukositis: dickflüssiger, sämiger Speichel, Schmerzen, gerötete Schleimhaut mit Geschwürbildung (▶ Abb. 30.2). Die Symptome beginnen gewöhnlich wenige Tage, nachdem die Therapie begonnen wurde, und erreichen ihren Höhepunkt ungefähr eine Woche danach. Nach Abschluss der Therapie klingt die Mukositis langsam ab, vorausgesetzt, sie wird nicht durch eine Infektion, Blutungen oder eine wiederholte Chemotherapie verstärkt. Die allgemeinen Beschwerden werden von unterschiedlich starken Schmerzen begleitet, manchmal ununterbrochen, und können Probleme bei der Nahrungsaufnahme bereiten. Die Betroffenen können auch Schwierigkeiten beim

Abb. 30.2 Mukositis. Hier ist ein Kind mit akuter myeloischer Leukämie (AML) betroffen. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Schlucken und Sprechen haben. Zu bedenken ist außerdem, dass chemotherapeutische Wirksubstanzen möglicherweise einen toxischen Effekt auf die Magenschleimhaut haben. Eine optimale Schmerztherapie und parenterale Ernährung nach ärztlicher Anordnung können diese belastenden Nebenwirkungen überbrücken.

Intakte Haut bei Bestrahlungstherapie Die Radiotherapie (Linear- oder BetatronBestrahlung) ist neben der konventionellen Chemotherapie eine weitere Behandlungsmöglichkeit bei Tumorerkrankungen (z. B. Medulloblastom, Ewing-Sarkom, Wilms-Tumor, Morbus Hodgkin, Neuroblastom und Rhabdomyosarkom). Chemotherapie und Radiotherapie werden je nach Tumorart und Therapieschema ggf. kombiniert angewandt. Die Radiotherapie hat ebenso wie die Chemotherapie zum Ziel, die Tumorzellen zu zerstören. Damit einher geht die Zerstörung von gesunden Zellen, was je nach Bestrahlungsgebiet zu erheblichen Nebenwirkungen führen kann. Die häufigsten Nebenwirkungen sind Schleimhautulzera in Mund und Rachen sowie Hautrötungen mit Spannungsgefühl. Die Haut kann u. U. aufplatzen. Außerdem können Erbrechen und Enteritiden (Durchfälle) auftreten.

Merke

H ●

Das eingezeichnete Bestrahlungsfeld darf nur mit klarem Wasser gewaschen werden, da die gesunden Hautzellen durch die Bestrahlung ebenso angegriffen werden wie die Tumorzellen.

Kommt es unter der Strahlentherapie im Bereich des Bestrahlungsfeldes zu o. g. Nebenwirkungen, wird dieser Hautbezirk auf ärztliche Anordnung mit der Strahlenlotion (aus der Apotheke des Klinikums) u. U. nach Rücksprache mit dem behandelnden Radiotherapeuten behandelt. Ebenso sind Reibungseffekte durch Frottieren oder eng anliegende Kleidung zu vermeiden. Bei Bestrahlung im Bereich des Kopfes ist auf regelmäßige Mundpflege/-spülungen zu achten, da es zu Schleimhautulzerationen im Mund- und Rachenraum kommen kann. Weiterhin ist zu beachten, dass die bestrahlten Hautregionen keiner intensiven Sonnenbestrahlung ausgesetzt werden. Zudem verstärken Zytostatika, wie Adriblastin, Methotrexat und LyovacCosmegen, den Bestrahlungseffekt.

30.3 Pflege eines Kindes mit onkologischer Erkrankung

Erkennen von Blutungen und Blutungsprophylaxe Eine Thrombopenie führt zu einer verstärkten Blutungsneigung. Die Kinder müssen vor Verletzungen geschützt und auf Blutungszeichen untersucht werden (z. B. Petechien, Hämatome, gastrointestinale Blutungen, Blut im Urin). ▶ Schleimhautblutungen. Mundblutungen treten umso häufiger auf, je niedriger die Zahl der Blutplättchen ist. Blutungen können überall im Mundbereich auftreten. Nasenbluten wird lokal mit einem Hämostatikum (Topostasin, Fibrospum, Claudenwattentamponade) behandelt. Eine Eiskrawatte (S. 291) im Nacken kann die Blutung zum Sistieren (Stillstand) bringen. Bei nicht beherrschbarem Nasenbluten ist ein Hals-Nasen-Ohren-Arzt hinzuzuziehen. Kind und Eltern brauchen bei auftretenden Blutungen emotionale Unterstützung, da das Auftreten von Blutungen Ängste auslöst. Unter Umständen ist die Gabe von Thrombozytenkonzentrat unumgänglich.

Merke

H ●

Bei einer Thrombopenie (Thrombozyten < 20 000) sollte Folgendes beachtet werden: keine Blutdruckmessungen (außer bei klinischer Verschlechterung), kein Zähneputzen, (eingeschränkte) Bettruhe. Verboten sind heiße Bäder, heiße Wickel, Dampfbäder (wegen der gefäßerweiternden Wirkung), heftiges Naseputzen, Pressen beim Stuhlgang (Obstipationsprophylaxe!), Einläufe, rektale Temperaturkontrollen, intramuskuläre und subkutane Injektionen.

▶ Anämie. Hier zeigen sich Symptome wie Blässe, Müdigkeit, eingeschränkte Leistungsfähigkeit, Kopfschmerzen, Sehstörungen, Herzrasen (Tachykardie). Transfusionen (S. 827) von filtrierten, gewaschenen, Zytomegalie-Virus-freien und mit 30 Gray bestrahlten Erythrozyten können notwendig sein, um den Hämoglobinwert anzuheben.

Minimierung des Infektionsrisikos Im Vordergrund der Komplikationen bei immunsupprimierten Kindern steht neben der Blutungsgefahr ein erhöhtes Risiko für Infektionen. Die Kinder haben eine besondere Disposition für bakterielle, virale und Pilzinfektionen. Die Infektionsprophylaxe hat oberste Priorität, da Infektionen bei diesen Kindern schnell zu

lebensbedrohenden Situationen führen können. Bei entzündeten Einstichstellen erfolgt nach ärztlicher Anordnung die Pflege mit einer antiseptischen Lösung. Die Pflege eines immunsupprimierten Kindes sollte in einer keimarmen Umgebung und unter aseptischen Bedingungen erfolgen.

Praxistipp Pflege

Z ●

Das Kind muss in dieser Phase beim geringsten Infektionsverdacht (Fieber, Schüttelfrost, Verschlechterung des Allgemeinzustandes) intensiv überwacht werden. Dazu gehören regelmäßige Körpertemperaturkontrollen, Überprüfung von Vitalfunktionen und Bewusstseinslage. Nach Infektionszeichen an Einstichstellen von Gefäßzugängen oder Schleimhautulzerationen u. a. ist zu forschen.

Bei Verdacht auf eine Infektion ist eine ärztlich angeordnete intravenöse Therapie mit Breitspektrum-Antibiotika vorzubereiten und ggf. als Kurzinfusion zu verabreichen. Bei Fieber erfolgt eine antipyretische Therapie.

Merke

H ●

Alle das Kind betreuenden Personen und Besucher müssen infektfrei sein und eine strenge Händedesinfektion durchführen. Die Pflegefachkraft muss sich vergewissern, dass die Eltern die Durchführung der Händedesinfektion verstanden haben.

Bei Kindern bzw. Jugendlichen, die chemotherapiert werden oder sich in einer leukopenischen Phase befinden, sollte auf das Schneiden der Nägel verzichtet werden, um Verletzungen und daraus möglicherweise resultierende Infektionen vorzubeugen. Die Nägel sollen vor Beginn der Chemotherapie vorsichtig geschnitten werden. Während der Chemotherapie oder Leukopenie können diese mit einer Einweg-Sandblattfeile vorsichtig gefeilt werden. Kommt es trotzdem zu Hautverletzungen, werden diese auf ärztliche Anordnung mit gebrauchsfertiger Wundspüllösung (Lavasorb) behandelt. Bei einem Panaritium (Nagelgeschwür) erfolgen auf ärztliche Anordnung 2-mal täglich (morgens und abends) desinfizierende Teilbäder und ein Verband mit desinfizierender Salbe. Wegen der Infektionsgefahr ist das Tragen von Ohrringen, Piercings

und festsitzender Zahnregulierungsapparaturen generell verboten. ▶ Pflegemaßnahme bei Leukopenie. Bei Abfall der Leukozyten unter 1000/mm3 besteht generalisierte Infektionsgefahr. Für gesunde Menschen harmlose Keime können bei Kindern mit Leukopenie zu einer lebensbedrohlichen Sepsis führen. Sie sind durch folgende Maßnahmen vor der Exposition mit Krankheitserregern zu schützen: ● Die wichtigste Infektionsprophylaxe sind das gründliche Händewaschen sowie die Händedesinfektion vor und nach jedem Patientenkontakt, ebenso eine ausführliche Patienten- und Elternaufklärung über Neutropenie und das damit verbundene Infektionsrisiko. ● Sauberes Einzelzimmer mit Doppeltüren, Klimaanlage, Fenster geschlossen halten. ● Schleusen (zweite Tür erst öffnen, wenn die erste Tür geschlossen ist). ● Mundschutz, strenge Händedesinfektion. ● Eventuell Kittelpflege (Leukozyten unter 500/mm3). ● Täglicher Bettwäschewechsel, um die direkte Patientenumgebung so keimarm wie möglich zu halten. ● Waschlappen und Handtücher wegen der Keimbesiedlung nur einmal verwenden. ● Keine Topfpflanzen in den Zimmern, da die Gefahr der Schimmelpilzinfektion besteht. ● Wasserfilter (z. B. PALL-Aquasafe): sorgt für eine Kontaminationsbarriere gegen Bakterien und Protozoen aus dem Wasserleitungsnetz.

Physiologische Nierenfunktion Da es durch die Zytostatikatherapie zu massivem Zellzerfall (z. B. bei Kindern mit großer Tumormasse oder bei ALL mit initial hohen Leukozytenwerten) und damit zu einem Anstieg der Harnsäure kommt, ist während der Dauer der Zytostatikatherapie für eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr zu sorgen, um möglichen Nierenschäden vorzubeugen.

Physiologische Urinausscheidung Die Kinder und Jugendlichen nehmen infolge von Übelkeit und Erbrechen, die durch Chemotherapie ausgelöst werden, oral wenig Flüssigkeit zu sich. Um die Flüssigkeitszufuhr dennoch zu gewährleisten, erfolgt eine intravenöse Infusionstherapie mit vom Arzt angeordneten Infusionslösungen.

30

1

Pflege von Kindern mit onkologischen Erkrankungen

Merke

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Die Zugabe von Natriumbikarbonat auf ärztliche Anordnung sorgt für einen alkalischen Urin-pH (angestrebter Urin-pH 7,5 – 8) und verbessert die Ausscheidung der erhöhten Harnsäure der Niere.

Wie viel Natriumbikarbonat zugegeben wird, richtet sich nach dem Gewicht des Kindes und der angeordneten Menge der Glukoselösung (Richtdosis 2 ml/kg Körpergewicht). Die Kontrolle des Urin-pH zeigt, ob ausreichend gepuffert (Zugabe von Natriumbikarbonat) worden ist. Ist der Urin trotz Natriumbikarbonat-Zusatz nicht alkalisch, muss nach Rücksprache mit dem Arzt eine weitere Dosis zugegeben werden.

Praxistipp Pflege

Z ●

Mindestens 1-mal pro Schicht soll eine Urinuntersuchung mittels Teststreifen durchgeführt werden. Je nach pH-Wert sind häufigere Kontrollen erforderlich.

Bei einer voraussichtlichen Hyperurikämie kann auf ärztliche Anordnung auch eine zusätzliche medikamentöse Therapie durch ein Urikostatikum vorausgehen. Weil viele Zytostatika über die Nieren ausgeschieden werden, bedarf die Nierenfunktion einer regelmäßigen Kontrolle. Deshalb sollte, bevor nierenschädigende Medikamente verabreicht werden, auf das Ergebnis einer Kreatininclearance und der Harnsäurebestimmung im Serum gewartet werden! Viele andere Medikamente,

Die Nahrung sollte ausgewogen sein, d. h. Eiweiß, Fett, Kohlenhydrate, Vitamine und Mineralstoffe müssen in physiologischer Menge enthalten sein. Es ist sinnvoll, während der Chemotherapie sowie Leukopenie nur schälbares Obst anzubieten, um eine Kontamination mit Erregern zu vermeiden und somit das Infektionsrisiko so gering wie möglich zu halten. Gemüse sollte kurz erhitzt (blanchiert) werden. Bei Entzündungen der Mundschleimhaut, Erbrechen und Durchfall werden ausgewählte reizarme Nahrungsmittel erfahrungsgemäß besser toleriert (▶ Tab. 30.2). Die Nahrung kann auch durch hochkalorische Fertignahrung, z. B. Fresubin, das in etlichen Geschmacksrichtungen angeboten wird, oder Maltodextrin, das sich besonders zur Kalorienanreicherung verschiedener Speisen eignet, ergänzt werden. Die Gewichtszunahme kann dadurch verbessert werden.

wie Aminoglykoside oder Amphothericin B, können zusätzliche Nierenschäden verursachen oder die nephrotoxischen Komponenten der Zytostatika verstärken. Um sicherzugehen, dass die Ausscheidung der Zytostatika auch gewährleistet ist, sollte die Therapie nur mit ausreichender Flüssigkeitszufuhr durchgeführt werden. Durch diese Maßnahme kann auch einer sterilen hämorrhagischen Zystitis vorgebeugt werden. Sie kann durch eine Irritation der Blase durch Chemo- oder Radiotherapie auftreten, mit Brennen beim Wasserlassen. Bei ersten Anzeichen muss der Arzt informiert werden. Auch assistiert die Pflegefachkraft bei den regelmäßigen Kontrollen der Elektrolyte im Serum, v. a. wenn Erbrechen, Durchfälle und Nierenschäden vorliegen und Substitutionen von Natrium, Kalium, Kalzium und Magnesium erforderlich sind. Um die Urinausscheidung exakt zu überwachen, muss eine Ein- und Ausfuhrbilanz zu festgelegten Zeiten erfolgen. Eine exakte Bilanzierung ist notwendig, um einer Überwässerung oder einem Flüssigkeitsmangel sowie Elektrolytverschiebungen rechtzeitig entgegenwirken zu können. Zur Ergänzung der korrekten Flüssigkeitsbilanz gehört die 1–2-mal täglich vorzunehmende Gewichtskontrolle.

Wohlbefinden steigern Übelkeit und Erbrechen sind vieldeutige Symptome in der pädiatrischen Onkologie. Sie sind nicht selten auch als Folge einer Chemo- und Radiotherapie zu sehen, kommen bei gastrointestinalen Ulzerationen vor (z. B. durch die Strahlentherapie) und können infolge infektiöser oder septischer Erkrankungen bestehen. Erbrechen tritt auch als Folge einer intrakraniellen Drucksteigerung bei Hirntumoren auf und ist auch sehr oft psychogen bedingt.

Ausreichende Nährstoffzufuhr Durch die Negativerfahrung von Übelkeit und Erbrechen während der Chemotherapie ist bei vielen Kindern die Nahrungsaufnahme gestört. Um die Kinder überhaupt zum Essen zu motivieren, ist es wichtig, dass ihre Wünsche und Bedürfnisse berücksichtigt werden (häufiger kleine Mahlzeiten anbieten, starke Gerüche vermeiden).

Tab. 30.2 Ernährungsbeispiele bei Entzündungen der Mundschleimhaut, Erbrechen und Diarrhö. Symptom

geeignete Lebensmittel

Entzündungen der Mundschleimhaut

● ● ● ● ● ●

Erbrechen

● ● ● ● ● ●

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Diarrhö

● ● ● ● ●

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zu meidende Lebensmittel

weiche Kuchen und Puddings milde Fruchtsäfte kalte Früchte (Wasser-, Honigmelone) schwach gewürzte Speisen salzfreie Dosensuppen Hühnerfrikassee, fein zerkleinertes Fleisch



gekochtes Fleisch Fisch gebackene Kartoffeln Toast fettarme Milch Fruchtsaftkonzentrate



Salzstangen, Zwieback, Weißbrot Teigwaren aus Weizenmehl Sojamilchprodukte, weißer Reis Banane, geschälter und geriebener Apfel Möhren und Rote Bete



● ● ●

● ● ● ●

● ● ●

grobe Getreidesorten frisch gepresste (Zitrus-)Fruchtsäfte extrem heiße oder kalte Nahrungsmittel stark gewürzte, scharfe Nahrungsmittel

gebratenes Fleisch, Hühnchen, Speck, Pommes frites Kartoffelchips cremige Speisen, Rahmkäse Speiseeis, große Mengen Süßspeisen Bohnen und Hülsenfrüchte blähendes Gemüse Zitrusfrüchte Milch

30.3 Pflege eines Kindes mit onkologischer Erkrankung

Definition

L ●

Unter Erbrechen versteht man die zwangsweise Entleerung des Mageninhalts durch den Mund. Häufig, wenn auch nicht notwendigerweise, geht Übelkeit voraus. Übelkeit ist ein schwer zu definierendes und schwer messbares, subjektives Gefühl.

Übelkeit und Erbrechen in Verbindung mit einer Zytostatikabehandlung sind völlig anders als üblich. Die meisten Menschen kennen das unangenehme – wenn auch nicht unerträgliche – Gefühl, etwas gegessen zu haben, von dem ihnen übel wird. Dieses Erlebnis hat allerdings wenig mit dem durch eine Chemotherapie verursachten Gefühl der Übelkeit gemeinsam. Eine durch Zytostatikatherapie induzierte Übelkeit dauert häufig über Stunden, Tage oder sogar Wochen an. Unter Umständen kommt es zu Wellen der Übelkeit mit dazwischenliegenden langen Phasen quälenden Unwohlseins. Dagegen kann für jemanden, der zu viel gegessen oder verdorbene Lebensmittel zu sich genommen hat, Erbrechen eine willkommene Erleichterung sein, da die Übelkeit dadurch beendet wird. Bei Kindern mit onkologischer Erkrankung ist das nicht unbedingt der Fall. Die Übelkeit kann unvermindert andauern, unabhängig vom Einsetzen des Erbrechens. Diese Art der Übelkeit ist weniger klar definierbar, ihre Ursachen sind weniger bekannt und sie ist schwieriger zu behandeln als das Erbrechen. Diese Übelkeit stellt auch eine erhebliche psychische Belastung dar. Für die Pflegefachkräfte und den behandelnden Arzt ist es von großer Wichtigkeit, die einzelnen Zytostatika zu kennen, denn diese Reaktion ist von der Art des Medikamentes, der Dosierung und dem psychischen Befinden des Kindes bzw. Jugendlichen stark abhängig. Deshalb sollte auf ärztliche Anordnung eine frühzeitige und optimale Antiemetikagabe angestrebt werden.

Merke

● H

Ursachen für Übelkeit und Erbrechen sind: Chemotherapie, Radiotherapie, Hirndruck, Obstipation, Analgetika, Opiate, Angst, Aufregung.

Mögliche Maßnahmen zur Linderung sind: ● Umstellung der Applikationsart von Medikamenten: intravenöse oder rektale Gabe anstelle orale Verabreichung. ● Antiemese in Form intravenöser Injektion. ● Zeit für das Kind aufwenden und Gespräche mit ihm führen, um psychische Faktoren zu erkennen und darauf eingehen zu können.

Akzeptanz der Medikamentengabe Hilfreich bei Verabreichung der Medikamente sind realistische, einhaltbare Absprachen und Versprechungen, das Anbieten verschiedener Einnahmemöglichkeiten (z. B. mit dem Lieblingsgetränk) und das Loben und Trösten des Kindes. Bei Säuglingen sollen orale Medikamente nicht in die Nahrung gemischt werden. Es empfiehlt sich, das Medikament auf einem Löffel mit Tee zu vermischen oder die Tabletten direkt hinten auf die Zunge zu legen und anschließend Flüssigkeit zum Hinunterspülen anzubieten. Die kontinuierliche Medikamenteneinnahme ist ein wichtiger Bestandteil der Therapie. Selbst die dem Alter entsprechend aufgeklärten Kinder haben häufig große Probleme bei der Einnahme von Tabletten, Kapseln, Dragees und Säften. Übelkeit, Erbrechen, Mundschleimhautdefekte, Schluckbeschwerden und der Zwang, das Präparat einnehmen zu müssen, verstärken durch Stimmungsschwankungen, vergrößern die Problematik. Um die Kinder zu unterstützen und zu motivieren, damit eine fachgerechte Verabreichung und Einnahme gewährleistet sind, bedarf es der Fantasie des Pflegepersonals sowie ausreichender eigener Information über verschiedene Medikamentenformen, Verabreichungsarten, Dosierungen und über Wirkungen und Nebenwirkungen der Medikamente.

Erkennen von Nebenwirkungen der Medikamente Kortison Glukokortikoide führen zur Steigerung des Appetits und bei längerer Einnahme zu beträchtlicher Gewichtszunahme. Die Kinder bekommen ein rundes Gesicht mit dicken Wangen und meistens auch einen dicken Bauch. Diese Veränderungen sind, wie auch die unter Kortison auftretenden Unreinheiten der Haut, nach Absetzen des Medikamentes rückläufig, können die Kinder aber sehr belasten. Vor Beginn der Kortisontherapie sollten das Kind und seine Eltern über die möglichen Nebenwirkungen und körperlichen Veränderungen

aufgeklärt werden sowie über Hilfen, die die Veränderungen des Aussehens kaschieren können. Das Pflegepersonal und die Eltern können entscheidend mithelfen, die Gewichtszunahme in Grenzen zu halten. Süßigkeiten sollten so weit wie möglich reduziert werden. Ebenso sind salzhaltige Speisen und Salzgebäck unerwünscht, da Kortison auch zu einer verminderten Salzausscheidung führt. Unter Kortisontherapie kann es zur Ausscheidung von Zucker im Harn und zum Ansteigen des Blutzuckerspiegels kommen. Diese Nebenwirkungen sind leicht beherrschbar. Kortison kann auch zu Magengeschwüren führen, deshalb wird zusätzlich ein Medikament zur Magensäurereduktion gegeben. Ein Ansteigen des Blutdrucks kann ebenfalls medikamentös behandelt werden. Eine Blutdruckkontrolle erfolgt 1-mal täglich und bei Bedarf. Die Infektionsbereitschaft ist durch die Kortisontherapie erhöht.

Zytostatika Während der Verabreichung von Zytostatika müssen die Kinder auf allergische Reaktionen beobachtet werden.

Merke

H ●

Beim Auftreten von Urtikaria, Fieber, Atemnot und Anzeichen eines anaphylaktischen Schocks muss die Infusion sofort unterbrochen werden. Der Arzt ist sofort zu benachrichtigen. Maßnahmen der Schockprophylaxe und -behandlung (S. 868) sind unverzüglich einzuleiten. Notfallzubehör und Notfallmedikamente müssen bei zytostatischer Therapie immer in Reichweite bereitliegen, damit bei lebensbedrohlichen Situationen keine Zeitverzögerungen entstehen.

Nekrosen Intravenöse Applikationen einiger Zytostatika über periphere Gefäßzugänge können zu lokalen Reizungen bis zu einer schweren Phlebitis führen. Durch paravenöse Fehlinjektionen von Actinomycin-D oder Vincristin können tiefe Nekrosen entstehen. Diese Reaktionen werden meist nicht direkt bei der Injektion bemerkt, sie treten oft erst später auf. Zunächst entsteht eine schmerzhafte Stelle, die dann ulzeriert. Diese Nekrosen brauchen Wochen und z. T. auch Monate, bis sie wieder heilen. Häufig entsteht ein dauerhafter Gewebeschaden mit Beeinträchtigung der Gelenkfunktionen.

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3

Pflege von Kindern mit onkologischen Erkrankungen

Merke

H ●

Eine häufige lokale Reaktion nach Anthrazyklingabe ist eine i. d. R. benigne Phlebitis mit lokalem Ödem, verstärkter Venenzeichnung und Juckreiz. Kortikosteroide oder Antihistaminika können hier prophylaktisch oder therapeutisch (durch den Arzt) erfolgreich eingesetzt werden.

Paravasate Im Gegensatz zur benignen Phlebitis (oberflächlichen Venenentzündung) finden sich bei Paravasaten meist ausgeprägte, sofort einsetzende Schmerzen an der Injektionsstelle.

Merke

● H

Schmerzäußerungen des Kindes müssen unbedingt ernst genommen werden.

Die entscheidende protektive Maßnahme ist die sofortige Kühlung, die die vermutlich zelluläre Aufnahme von Anthrazyklinen verringern kann. Bei guter Verträglichkeit sollte die Kühlung über 24 Stunden fortgesetzt werden. Schmerzen, Erythem oder Schwellung an der Injektionsstelle nach 3 – 4 Wochen sind Indikationen für die Vorstellung bei einem Chirurgen.

Merke

H ●

Der Verdacht auf ein Paravasat bedarf der Dokumentation in den Pflegeakten und der Meldung an die vorgesetzte Stelle, da diese Komplikation zu einer Schadenshaftung führen kann. Einige Kliniken verlangen das Ausfüllen eines speziellen „Extravasatformulars“.

Für Kinder mit ungünstigen Venenverhältnissen und voraussichtlich langer intravenöser Chemotherapie wird das Einlegen eines voll implantierbaren Venenkatheters empfohlen, z. B. Broviac-Katheter, Hickman-Katheter oder Intraport.

Merke

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Die Applikation muss immer korrekt intravenös unter regelmäßiger Überprüfung der Rückläufigkeit des venösen Gefäßzugangs erfolgen, da viele Zytostatika bei unsachgemäßer, paravenöser Injektion oder Infusion eine Entzündung der Venen und des umliegenden Gewebes auslösen können.

Bereits geringe Infusionsmengen können zu schwerer Phlebitis und u. U. schmerzhaften und schlecht heilenden Nekrosen führen. Besonders gefährlich sind in dieser Hinsicht Adriblastin, Daunoblastin, Mitomycin, und alle anderen tumorhemmende Antibiotika sowie alle Spindelgifte (VCR, VDS, VBL). Bei der Injektion oder Infusion dieser Medikamente ist deshalb äußerste Vorsicht und Sorgfalt in der Überwachung geboten. Sollte es trotz aller Vorsichtsmaßnahmen zu einem Paravasat kommen, sind sofort folgende Gegenmaßnahmen zu ergreifen: ● zuerst Infusion/Injektion stoppen ● Arzt sofort informieren ● Venenverweilkanüle zunächst liegen lassen, den Kanüleninhalt versuchen zu aspirieren ● lokale Therapie durch den Arzt ● pflegerische Maßnahmen durchführen (▶ Tab. 30.3) Für die Behandlung eines Paravasats benötigt man: ● 1 5-ml-Spritze ● 1 Kältepack



● ● ● ● ●



1 Kälte-/Wärmepack (je nach Medikament) 5 Mullkompressen steril 10 × 10 cm 1 Paar sterile Einmalhandschuhe 2 Stieltupfer 5 Einmalkanülen Gr. 26 1 DMSO reinsteril (Synopharm 700 119) 50 ml 1 Amp. Natriumchlorid 0,9 % und 2 Ampullen Hylase „Dessau“ 1 : 500 I.E.

Bei Kälteanwendung über 24 Stunden sollte die Applikation mit einem Kühlelement (z. B. Kältepack) aus dem Kühlschrank, ggf. auch mit Eis in einem sterilen Tuch erfolgen, aber nicht mit Gefrierelementen, da dies zu Erfrierungen (S. 291) des betroffenen Bereiches führen kann.

Praxistipp Pflege

Z ●

Bei Dauerinfusionen von gewebeschädigenden Substanzen ist eine ständige Überwachung der laufenden Infusion außerordentlich wichtig. Durch Broviac-, Hickman-Katheter oder Porth-A-CathSysteme werden diese Komplikationen deutlich verringert.

Lernaufgabe

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Nennen Sie 4 Maßnahmen, die den sicheren Umgang mit Zytostatika gewährleisten. 1. Zubereitung: Apotheke, Stützpunkt auf der Station 2. Transport der fertigen Zubereitung (von der Apotheke auf die Station) 3. Vorbereitung zur Applikation und Verabreichung (im Stationsstützpunkt und am Patientenbett) 4. Entsorgung (Arzneimittelreste, Leergut und Körperausscheidungen

Tab. 30.3 Pflegemaßnahmen bei Paravasat.

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Wichtig ist deshalb, dass intravenöse Applikationen von Zytostatika nur an gut sichtbaren Venen der Hände, Füße oder der Unterarme durchgeführt werden. Paravenöse Injektionen/Infusionen an tief gelegenen Venen, z. B. in der Ellenbeuge, werden oft nicht rechtzeitig bemerkt und für medizinische Interventionen ist es dann meistens zu spät. Daher hat – auch bei Verwendung peripherer Venen – eine sorgfältige regelmäßige Inspektion der Infusionsstelle zu erfolgen.

angewandte Medikamente

pflegerische Maßnahmen

Alkaloide und Epipodophyllotoxine

milde Wärme (Umschläge)

Anthrazykline

sofort kühlen (24 Stunden); Auftragen von topischem Dimethylsulfoxid; die doppelte Größe des Paravasatbereichs behandeln; die Stelle trocknen lassen und alle 8 Stunden 7 Tage lang wiederholen

Actinomycin-D

sofort kühlen (24 Stunden)

Mitomycin, Fluorouracil, Cisplatin, Carboplatin, Ifosfamid, Cyclophosphamid

sofort kühlen (24 Stunden)

andere Zytostatika

Hochlagern der Extremität über 24 – 48 Stunden, offen lassen, evtl. milde Wärme

30.3 Pflege eines Kindes mit onkologischer Erkrankung

Sicherer Umgang mit BroviacKatheter, Hickman-Katheter und Intraport Die operative Einlage von Broviac-Katheter, Hickman-Katheter und Intraport erfolgt in Narkose durch den Chirurgen. ▶ Broviac-Katheter. Er ist ein- oder mehrlumig und bei schlechten Venenverhältnissen indiziert (▶ Abb. 30.3). Der Broviac-Katheter wird in eine zentrale Vene eingelegt (meist Vena subclavia, Vena jugularis interna oder externa) und mittels eines Führungsstabes durch einen subkutanen Tunnel, der als Keimbarriere dient, zur Vene geführt, dort mit ihr zusammengeschlossen und fixiert. Seine Spitze sollte unmittelbar vor dem rechten Vorhof zu liegen kommen. ▶ Intraport. Portsysteme sind bei Intensiv- und Langzeitbehandlung bei Chemotherapie indiziert (▶ Abb. 30.4 u. ▶ Abb. 30.5). Unter das rechte Schlüsselbein wird ein ca. 5 Zentimeter langer Schnitt gesetzt, der Katheter in die entsprechende Vene eingeführt und der Port unter der Haut befestigt. Mit wenigen Nähten wird die Wunde verschlossen. Der Vorteil eines Intraports ist, dass die Kinder damit baden, schwimmen und Sport treiben können. Es bedarf keiner besonderen Vorsicht, da dieser sicher in einer Tasche unter der Haut liegt und keine Verbindung nach außen hat, sodass eine aufwendige Pflege entfällt.

Katheterpflege am Beispiel des Broviac-Katheters Jede onkologisch tätige Einrichtung führt die Katheterpflege aufgrund ihrer Erfahrungen und der individuellen Gegebenheiten sowie der unterschiedlich verwendeten Katheter etwas anders durch. Es kann im Folgenden deshalb nur ein Beispiel gegeben und auf grundlegende Bedingungen hingewiesen werden.

Merke

H ●

Sämtliche Manipulationen am Katheter und die Vorbereitungen hierzu müssen immer unter aseptischen Bedingungen durchgeführt werden.

▶ Vorbereitung. Zur Vorbereitung werden die benötigten Spritzen aus der Verpackung auf eine sterile Unterlage gelegt, mit sterilen Handschuhen aufgezogen und bis zur Verwendung steril aufbewahrt. Der Arzt entfernt den Verband um die Katheteröffnung mit bloßen Hän-

Abb. 30.3 Einlumiger Broviac-Katheter. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Abb. 30.5 Chemotherapie. Viele Zytostatika erfordern ein Portsystem. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Abb. 30.4 Intraport. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

den, ohne jedoch den Katheteranschluss zu berühren, dieser wird von der Pflegefachkraft desinfiziert und anschließend auf einem sterilen Tupfer oder einem sterilen Tuch abgelegt. Anschließend zieht auch der Arzt sterile Handschuhe an. ▶ Durchführung. Wegen der Lage der Katheterspitze im rechten Vorhof besteht die Gefahr der Luftaspiration, sodass der Katheter vor der Öffnung des Verschlusses oder vor Spritzenwechsel abgeklemmt werden muss. Dies geschieht mittels der mitgelieferten Plastikklemme über dem dafür vorgesehenen verdickten Katheteranteil oder mit einer glatten Spezialklemme (▶ Abb. 30.3 u. ▶ Abb. 30.5). Ungeeignet sind geriffelte Kocherklemmen oder andere schmale Klemmen, die die Silikonhaut des Katheters verletzen und zur Durchlässigkeit führen können. Im Falle einer Verwendung von Klemmen muss die Abklemmstelle häufig gewechselt werden, damit die Belastung des Katheters an einer Stelle nicht zu hoch wird. Nach Eröffnung des Katheters wird zunächst mit einer 2-ml-Spritze die Katheterfüllung abgezogen. Dies verhütet möglicherweise Infektionen und gibt darüber hinaus Aufklärung über das Vorliegen von Thromben im Katheter. Bei Verdacht auf eine Keimbesiedlung des Katheters wird der Kathetervorlauf (die Katheterspitze) asserviert (gesichert/aufbewahrt) und zur Kultur gegeben.

Praxistipp Pflege

Z ●

Die Heparinplombe darf auf keinen Fall aus dem Katheter in den Körper hinein injiziert werden, um eine Infektion oder Embolie zu vermeiden. Alle Manipulationen, die höheren Über- oder Unterdruck erzeugen, sind streng zu vermeiden.

Nach Entfernen der Heparinplombe (erkenntlich am Erscheinen von Blut in der Spritze) wird der Katheter zunächst mit physiologischer Kochsalzlösung durchgespült, danach mit einer neuen Heparinplombe gefüllt, deren Volumen sich etwa am Kathetervolumen orientiert (0,5 ml Heparin zu 5000 I.E. auf 1,5 ml Kochsalzlösung 0,9 %). Kurz bevor 0,5 – 1 ml dieser Flüssigkeit in den Katheter gefüllt ist, sollte dieser erneut abgeklemmt werden. Danach wird der Verschluss mit einem neuen, sterilen Schraubverschluss vorgenommen, wobei sorgfältig darauf zu achten ist, dass der lumenwärts gerichtete Verschlussanteil auch mit dem sterilen Handschuh nicht in Berührung kommt. Sollte das Gewinde mit Blut verunreinigt sein, werden die Blutreste entfernt. Danach wird der Katheteranschluss mit einer sterilen Kompresse umwickelt und mit einem Pflasterstreifen umklebt.

30

5

Pflege von Kindern mit onkologischen Erkrankungen

Eltern

a ●

Eltern zeigen häufig „Erfindergeist“, wenn es darum geht, die oft unumgänglichen zentralen Venenkatheter sicher zu versorgen. ▶ Abb. 30.6 zeigt eine Möglichkeit, den steril verpackten Katheter durch eine Stofftasche mit kindgemäßen Motiven zusätzlich vor Kontamination und außerdem vor Manipulation durch kleine Kinder zu schützen. Die Tasche muss regelmäßig gewechselt werden.

▶ Verbandwechsel. Für den Wechsel des Hautverbands (bei durchsichtigem Pflaster alle 5 Tage, bei anderen Pflasterverbänden jeden 2. Tag) bei unauffälliger Eintrittsstelle gelten die üblichen Bedingungen eines Verbandwechsels unter sterilen Bedingungen. Die Eintrittsstelle des Katheters in die Haut ist in jedem Fall sorgfältig zu inspizieren. Rötung oder Sekretion bedeuten eine Infektion und müssen als alarmierend angesehen werden. Es ist ein Hautabstrich durchzuführen, der Bereich sollte mit einer desinfizierenden Salbe/Lösung behandelt werden, der Verbandwechsel muss dann täglich erfolgen. Ist die Haut unauffällig, wird die Kathetereintrittsstelle mit einem hautschonenden Pflaster steril abgedeckt. ▶ Hygiene. Die größte Gefahr für das Kind durch den Katheter sind Infektionen. Staphylococcus epidermidis ist dabei der meistgefürchtete Keim, sodass alle Anstrengungen unternommen werden müssen, um v. a. diesen Hautkeim vor dem Eindringen in die Haut oder den Katheter abzuhalten. Diesem Umstand haben nicht nur das Pflegepersonal und Ärzte Rechnung zu tragen, sondern auch die Angehörigen des Kindes sind hierauf aufmerksam zu machen. Generell ist das Tragen steriler Handschuhe notwendig, um bei allen Manipulationen am Katheter bzw. Dreiwegehähnen einer Kathetersepsis vorzubeugen.

30 Abb. 30.6 Broviac-Katheter. Hier mit Schutztasche aus Stoff. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

616

Die zuleitenden Infusionssysteme werden alle 3 Tage und das Infusionsbesteck wird 1-mal täglich unter sterilen Bedingungen gewechselt. Die Dreiwegehahnbänke werden in einer sterilen Kompresse verpackt.

Praxistipp Pflege

Z ●

Mit einer Dreiwegehahnbank hat der Anwender die Möglichkeit, mehrere Infusionen gleichzeitig laufen zu lassen, kann die Fließrichtung ändern, hat eine Zuspritzmöglichkeit für i. v. Medikamente und kann durch Drehen der Dreiwegehähne die Verabreichung der Infusionen und i. v. Medikamente genau steuern, ein ständiges Dekonnektieren entfällt. Eine 3- bzw. 5-fach-Hahnbank ist eine spezielle Anfertigung bei der 3 bzw. 5 Dreiwegehähne fest über eine Schiene miteinander verbunden werden. Mit der Schiene kann diese Dreiwegehahnbank durch einen sog. Discofixhalter am Infusionsständer befestigt werden (DiscofixHahnbank 3-fach-Set mit 300 cm Schlauch, Modell A2, Kinderklinik Universität Mainz Infusionsregime).

Das zuvor beschriebene Handling im Umgang mit einem Broviac-Katheter gilt natürlich auch für Hickman-Katheter und den Intraport. Mit der Ausnahme, dass hier alle 5 Tage ein Verbandwechsel erfolgt sowie alle 10 Tage ein Nadelwechsel erfolgen sollte. Bei Broviac- und HickmanKatheter wird alle 2 Tage ein Verbandwechsel durchgeführt.

Schmerzlinderung und -freiheit Jede ärztliche Behandlung, jeder notwendige Krankenhausaufenthalt stellt für Kinder eine Ausnahmesituation dar (S. 180). Besteht zusätzlich als Leitsymptom ein akuter oder chronischer Schmerzzustand, schaukeln sich diese unangenehmen Sinnes- und Gefühlserlebnisse auf. Das Phänomen Schmerz – sei er akut oder chronisch auftretend – besteht aus einer Vielzahl verschiedener Komponenten, deren getrennte Betrachtung gerade für das Verständnis der Entwicklung einer Schmerzlinderung im Kindesalter bedeutsam ist. Schmerz beeinträchtigt die ganze Persönlichkeit. Schmerzen sind nicht objektiv messbar und immer individuell. Schmerzen geben an, dass irgendetwas im Körper nicht stimmt. Schmerzen können Erstsymptom sein bzw. durch die onkologische Grunderkrankung hervorgerufen werden. Schmerz kann aber auch Therapiefolge sein, z. B. postoperativ, im Rahmen einer

Chemo- oder Radiotherapie. Hier handelt es sich meist um akute Schmerzzustände. Von akuten Schmerzen werden chronische Schmerzen abgegrenzt, die i. d. R. zu Persönlichkeitsveränderungen und einem veränderten Lebensrhythmus führen. Chronische Schmerzzustände werden häufig bei fortschreitender Erkrankung angetroffen. Letztlich stellt der Schmerz im Finalzustand und beim Sterbenden ein besonderes Problem dar. Er beeinträchtigt jeden Einzelnen sehr, z. B. in Form von Schlaflosigkeit, Bettlägerigkeit, Lustlosigkeit, Appetitlosigkeit, Aggressionen oder Depressionen. Dies alles bewirkt eine Herabsetzung der Schmerzschwelle. Die Schmerzschwelle wird erhöht durch ausreichend Schlaf, Ruhe, Entspannungstechniken, Verständnis, Sympathie, Anheben der Stimmung durch Analgetika und Antidepressiva. Die Schmerztherapie muss durch eine ausreichende Schmerzmedikation den Bedürfnissen des Patienten angepasst sein. Bedürfnisse eines Kindes mit Schmerzen können sein: ● Zuwendung, Liebe, menschliche Kontakte ● Sicherheit, gute Symptomkontrolle, das Gefühl, versorgt zu sein ● Zugehörigkeit, Verständnis, Annahme, Selbstwertgefühl Angaben des Patienten über Schmerzempfindungen müssen in jedem Fall dem Arzt mitgeteilt werden! Dabei muss das Kind in seiner Gesamtsituation erfasst und ernst genommen werden.

Praxistipp Pflege

Z ●

Das Pflegepersonal sollte Schmerzäußerungen gegenüber immer sensibel reagieren und die Äußerungen des Kindes ernst nehmen.

Auf die medikamentöse Schmerzbehandlung (S. 241) soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Jedoch ist zu erwähnen, dass das Pflegepersonal in der Lage sein sollte, seiner Aufgabe als „Anwalt des Kindes“ auch bei der Schmerzbekämpfung gerecht zu werden. Bei der Schmerzlinderung durch pflegerische Maßnahmen sind der Fantasie kaum Grenzen gesetzt! Um das subjektive Befinden des Patienten zu verbessern, sind pflegerische Maßnahmen sehr wichtig. Durch chronische Schmerzen können häufig auch Folgeerscheinungen, wie Schonhaltung, Muskelverspannung, Störung der Atmung und des Kreislaufs, Appetitlosigkeit, Brechreiz und Erbrechen, auftreten.

30.3 Pflege eines Kindes mit onkologischer Erkrankung Hier kann unterstützend eingewirkt werden durch: ● bequeme Positionierung, Anwendung von Wärme oder Kälte bei Verspannung (S. 289) ● Körperkontakt, z. B. in den Arm nehmen, streicheln oder trösten ● Einreibungen oder Massagen (durchblutungsfördernd) ● Beschäftigung, um die Aufmerksamkeit des Kindes von seinen Schmerzen abzulenken ● Begleitung von Pflegenden, also für das kranke Kind da zu sein, wenn es Hilfe braucht

Eltern

a ●

Die Betreuung durch Eltern, Angehörige und Pflegende kann entscheidend zur Schmerzlinderung beitragen.

Voraussetzungen für eine adäquate Schmerzlinderung sind: ● Wahrnehmung und Beobachtung der Schmerzen beim Kind, ggf. Schmerzskalen einsetzen ● Begleitung des Kindes und seiner Eltern ● Weitergabe der Information an den behandelnden Arzt ● umgehende Verordnung und Verabreichung von Schmerzmitteln und Finden der geeigneten Applikationsform Eine gute Schmerzbehandlung erfordert eine optimale Zusammenarbeit zwischen Pflegepersonal und behandelndem Ärzteteam, um das Wohlbefinden des Kindes und seiner Eltern im Krankenhaus zu erhöhen.

Emotionale Unterstützung Den Kindern sollten nach Möglichkeit feste Bezugspersonen aus dem Pflegeteam zugeteilt werden, damit trotz des Schichtdienstes Beständigkeit in der Betreuung und Versorgung besteht, das gibt Sicherheit. Die Bezugsperson hilft, die Eingewöhnung und das Leben auf der Station zu erleichtern. Die Pflegefachkraft bzw. Bezugsperson begleitet das Kind nach Möglichkeit zu allen Untersuchungen sowie zur Strahlentherapie. Dadurch soll erreicht werden, dass die Kinder und Jugendlichen Vertrauen zu der Pflegefachkraft gewinnen und ihre Ängste leichter äußern können. Durch die Krankenhausaufenthalte wird das Kind aus seinem gewohnten Leben herausgerissen; es verliert die bekannten Spielkameraden und Freunde und ist in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Wichtig ist auch eine abwechslungsreiche Gestaltung des Tagesablaufs,

damit sich die Patienten nur selten alleine fühlen. Kindern onkologischer Stationen sollte eine Beschäftigungstherapeutin zur Verfügung stehen (z. B. Musik- oder Kunsttherapie). Für schulpflichtige Kinder stehen Kliniklehrer bereit, das Lernpensum sollte aber dem jeweiligen Gesundheitszustand angepasst sein. Zusammen mit dem Kind kann ein Stundenplan erstellt werden.

Eltern

a ●

Herausragende Bedeutung für das psychische Wohlbefinden hat die Anwesenheit oder der tägliche Besuch der Eltern, weswegen es keine Einschränkungen der Besuchszeiten geben sollte.

Besonders wichtig ist aber auch immer wieder, Zeit für ein Gespräch mit den Kindern zu finden. Meist fragen sie nicht nach der Krankheit, sie interessieren sich aber sehr genau für ihre „Leukos“ und die übrigen Blutwerte. Sie kennen die Namen der Zytostatika und wissen um deren Nebenwirkungen. Auf der Station sollte eine fröhliche Atmosphäre im Vordergrund stehen, aber auch Nöte, Ängste und Trauer ihren Platz haben. Die Persönlichkeit des einzelnen Kindes, seine Probleme und die altersabhängigen Bedürfnisse sollten berücksichtigt werden. Selbsthilfegruppen können Eltern und Kindern helfen, mit der krisenhaften Lebenssituation umgehen zu lernen. ▶ Haarausfall. Der Haarausfall ist besonders für Jugendliche schwer zu verkraften und erfordert viel Verständnis und Zuwendung. Pflegefachkräfte sollten Gelegenheit schaffen, sich Sorgen und Fragen anzuhören, und versuchen dem Kind zu helfen, mit dem veränderten Aussehen zurechtzukommen. Durch eine Reihe von Zytostatika kommt es zu Haarausfall. Ist eine zusätzliche Bestrahlung des Schädels nötig, können die Haare komplett ausfallen. Die Zeit bis zum Nachwachsen (2 – 4 Monate) kann mit einer Perücke, deren Kosten weitgehend von der Krankenkasse übernommen werden, überbrückt werden. Bei einigen Kindern verändern sich die Haarfarbe sowie auch die Haarstruktur. ▶ Zusammenfassung. Wichtige Anforderungen an die Pflegefachkraft auf der onkologischen Station sind: ● Zeit haben für ein Gespräch mit dem Kind oder Jugendlichen sowie dessen Eltern und Angehörigen und jede Äußerung ernst nehmen (S. 233).













Bereitschaft zeigen, sich mit den Problemen auseinanderzusetzen. Einfühlungsvermögen, d. h. das Kind und seine Eltern zu verstehen und ihr Verhalten in ihrer momentanen Situation zu akzeptieren. Fähigkeit zum Aufbau einer partnerschaftlichen Beziehung zwischen Kind, Eltern und Pflegenden. Sich als „Anwalt des Kindes“ in seiner Beziehung zu den behandelnden Ärzten sehen. Unterstützende Funktion für die Eltern in ihren Entscheidungen (z. B. bei Therapieabbruch, palliativer Behandlung, Sterben des Kindes). Förderung der Kontakte zwischen Eltern und den häufig eine sehr untergeordnete Rolle spielenden Geschwistern.

Je nach Alter und Verständnis des betroffenen Geschwisterkindes reagiert es gegenüber dem kranken Kind sehr unterschiedlich. Es zeigt z. B. Wut, Ablehnung, Schuld- und Eifersuchtsgefühle, Trennungsängste, weil es sich im Vergleich zu seinem kranken Geschwisterteil von den Eltern vernachlässigt und ungerecht behandelt fühlt. Oftmals werden den Eltern diese Probleme erst durch psychosomatische Störungen, Verlustängste und Schulprobleme des gesunden Kindes bewusst. Diese Symptome zu erkennen und vermittelnd einzugreifen gehört ebenfalls zu den Aufgaben der Pflegefachkraft, d. h. den Eltern immer wieder bewusst zu machen, dass sich auch die gesunden Kinder in einer äußerst angespannten Stresssituation befinden und deshalb in hohem Maße Zuwendung, Verständnis und Unterstützung seitens einer Bezugsperson (Eltern) bedürfen. Wichtig ist eine frühzeitige, altersentsprechende Aufklärung über die Krankheit und das dadurch veränderte Familienleben. ▶ Onkologische Nachsorgemaßnahmen. Sehr wichtig ist es, in dieser Situation auf eine familienorientierte Nachsorge bzw. Rehabilitation hinzuweisen. Die Rehabilitation wird i. d. R. über den zuständigen Rentenversicherungsträger (z. B. BfA, LVA) oder ggf. über die zuständige Krankenkasse beantragt. Da das Antragsverfahren sehr aufwendig und umfangreich ist, bedarf es der Unterstützung durch den psychosozialen Dienst des jeweiligen onkologischen Zentrums, um zu gewährleisten, dass alle Familienmitglieder eine Kostenzusage erhalten. Welche Möglichkeiten der emotionalen Unterstützung können Sie einem Kind und seinen Angehörigen auf einer onkologischen Station anbieten?

30

7

Pflege von Kindern mit onkologischen Erkrankungen

30.4 Pflege von Kindern und Jugendlichen im Terminalstadium Merke

H ●

„So wie das Sterben zum Leben gehört, gehört zur Pflege Sterbender nichts anderes als zur Pflege der Kranken, die wieder entlassen werden“ (Taubert, 1988).

Zur Pflege des sterbenden Kindes gehören seine psychische Betreuung (und die der Angehörigen), die körperliche Versorgung sowie die Fähigkeit der Pflegenden und Angehörigen, mit der Angst und der emotionalen Betroffenheit, die das Leid insgesamt mit sich bringt, umgehen zu können. Indem Fähigkeiten zur patientenorientierten Pflege erlernt werden, werden zugleich die Voraussetzungen für die umfassende Versorgung und Betreuung Sterbender gefördert. Bei sterbenden Kindern und Jugendlichen ergibt sich eine Anzahl besonderer Pflegeprobleme. Dazu zählen z. B. Schmerzen, Todesangst, Ruhelosigkeit, Dekubitusgefahr, Exsikkose, Essstörungen, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Verstopfung, Schwäche, Müdigkeit, Schläfrigkeit, Husten, Atemnot, Immobilität, Lähmung. Die wichtigsten Probleme werden hier herausgegriffen, kurz erläutert und die entsprechenden Pflegemaßnahmen beschrieben.

30.4.1 Äußere Rahmenbedingungen Es sollte für die Unterbringung des Kindes innerhalb der Klinik möglichst ein Einbettzimmer gewählt werden, damit für die Eltern und Angehörigen die Möglichkeit besteht, Tag und Nacht bei ihrem Kind zu bleiben. Pflegeartikel und medizinische Geräte im Zimmer sollten zugunsten einer persönlichen Atmosphäre auf ein Minimum reduziert werden. Hierzu können z. B. auch eigene Bilder, Fotos, Kuscheltiere beitragen.

30.4.2 Einbeziehung der Eltern

30

618

Sehr wichtig ist es, die Eltern in die Pflege ihres sterbenden Kindes einzubeziehen. Nicht nur das Kind braucht diese zusätzliche Möglichkeit des Kontaktes. Auch die Eltern, die oft fragen: „Können wir denn gar nichts tun?“, finden hier eine gute Möglichkeit, hilfreich zu sein. Schließlich

muss man sich darüber klar werden, dass die Eltern ihr Kind auch bisher versorgt und gepflegt haben. Für sie ist es nicht einsehbar, plötzlich nicht mehr in die Pflege ihres Kindes einbezogen zu werden. Pflegemaßnahmen, wie Mundpflege, Lippenpflege und Waschen, sind ein Anfang und lassen sich meist ohne große Probleme von einem Elternteil übernehmen. Eine langsame Einarbeitung und Annäherung an ihr krankes und sterbendes Kind sowie großes Einfühlungsvermögen des Pflegepersonals sind wichtig, um auch die Bedürfnisse der Eltern zu erkennen und sie nicht zu überfordern. Grundsätzlich gilt für die Pflege, dass das Pflegepersonal so weit wie möglich dafür sorgt, dass die geistigen und körperlichen Funktionen – im Rahmen der eingeschränkten Tätigkeiten – auf einem möglichst hohen Niveau erhalten bleiben. Wenn auch das sterbende Kind nicht völlig von Beschwerden befreit werden kann, ist es doch Aufgabe des Pflegepersonals, diese durch pflegerische Maßnahmen und durch Medikamente in erträglichen Grenzen zu halten. Dazu sind eine genaue pflegerische Beobachtung, Dokumentation und Weitergabe an die Kollegen und an den Arzt erforderlich.

30.4.3 Hilfe bei der Bewältigung von Todesangst Noch immer weiß man zu wenig über das Erleben und die Bedürfnisse des Menschen, die dem Tode nahe sind. Größeren Kindern und Jugendlichen bereitet es Angst, wenn sie die Orientierung verloren haben und nicht mehr wissen, welche Tageszeit gerade ist. Andererseits können für Außenstehende geringfügige Belastungen (Monitorsignale, Unruhe und Lautstärke des Stationsbetriebes) für Patienten zur Qual werden. Damit es dem kranken Kind möglich wird, seinen „eigenen Tod“ zu sterben, ist es nötig, ihm so weit wie möglich seine Wünsche zu erfüllen. Dazu gehören auch die Wünsche und Bedürfnisse der Eltern, die oft nur Kleinigkeiten beinhalten. Die Einbeziehung der Eltern betrifft vor allen Dingen den Umgang mit Offenheit und Wahrheit auf Fragen und Ängste der Kinder. Prinzipiell müssen dabei der Entwicklungsstand des Kindes und sein momentaner Erklärungsbedarf berücksichtigt werden. Eltern und Pflegepersonal sollten sensibel werden für Äußerungen des Kindes und ihre Beobachtungen austauschen. Auch wenn die Familie und der Patient selbst seit Diagnosestellung in der Angst lebt, dass diese schwere Krankheit zum Tode führen könnte, trifft die Bestätigung

dieses Verdachtes sie dennoch zutiefst und erweckt neue Formen der Angst – Todesängste – in ihnen. Dieser Angst zu begegnen sowie Kind und Eltern Hilfestellung zu leisten, ist eine der wichtigsten, aber häufig auch eine sehr schwer zu bewältigende Aufgabe der Pflegenden. Auch wenn die Kinder meist nicht darüber sprechen, fühlen sie doch sehr genau, dass sie nicht mehr lange zu leben haben. Die Kinder und Jugendlichen fürchten sich vor dem großen Unbekannten und brauchen deshalb mehr denn je Beistand.

Praxistipp Pflege

Z ●

Je nach Alter werden sich die Patienten mit mehr oder weniger deutlichen Fragen und Anspielungen an das Pflegepersonal bzw. an die Eltern wenden, um genauere Auskünfte über ihren Zustand bzw. ihr mögliches Sterben zu erhalten. Um in solchen Situationen dem sterbenden Kind gerecht zu werden, müssen zwischen Eltern bzw. Angehörigen und dem Stationsteam Absprachen getroffen sein, auf welche Weise den Fragen begegnet werden soll.

Auf keinen Fall aber dürfen Kinder zu einem solchen Gespräch gedrängt werden. Bei aller Wahrheitsliebe seitens des Pflegepersonals darf den Patienten nicht jegliche Lebenshoffnung genommen werden. Aussagen wie „Ja, du wirst in nächster Zeit sterben“ sollen vermieden werden, denn zum einen kann das niemand mit Sicherheit voraussagen und zum anderen wird sich das Kind aufgegeben fühlen und keinen Sinn mehr in seinem Dasein sehen. Es gibt kein vorgefertigtes Konzept, wie diesen Fragen zu begegnen ist. In der gegebenen Situation hängt die Antwort von der persönlichen Einstellung, Religiosität und Weltanschauung der Eltern und des Pflegeteams und ganz besonders vom Alter und Erfahrungshorizont des Kindes ab. Eltern und Kindern kann die Unterstützung durch Psychologen und Klinikseelsorgern angeboten werden (S. 469).

30.4.4 Unterstützung bei der Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr Ab einem bestimmten Stadium können und wollen die Kinder nichts mehr essen und trinken. Dies hat Schwächegefühl und zunehmende Bewusstlosigkeit zur Folge. Das Pflegepersonal versucht in Zusammenarbeit mit den Eltern, die Kinder mit

30.4 Pflege im Terminalstadium ihren Lieblingsspeisen und -getränken zur Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme zu animieren (auch öfters kleinere Mahlzeiten anbieten), um nach Möglichkeit evtl. notwendige Infusionen und Ernährungssonden, die besonders im Finalstadium sehr beeinträchtigend sein können, zu vermeiden. Leider lässt sich eine Infusion nicht immer umgehen, z. B. bei parenteraler Schmerztherapie in einem festgelegten Zeitplan. Wichtig ist hier, eine optimale Mundpflege (S. 609) in Form von Mundspülungen/-auspinselungen sowie Lippenpflege durchzuführen. Auf Wünsche des Kindes einzugehen heißt auch, es nicht zum Essen zu zwingen, sondern vielmehr seine Lieblingsspeisen zu berücksichtigen und ihm diese nach Möglichkeit anzubieten! Dieselbe Beachtung muss der Flüssigkeitszufuhr geschenkt werden. Beschwerden, die die Ausführung der Lebensaktivität „Essen und Trinken“ (S. 612) zusätzlich beeinträchtigen (Übelkeit, Schmerzen), sollen gezielt angegangen werden (S. 616).

30.4.5 Unterstützung der Darmtätigkeit Ein großes Problem stellt die Obstipation dar. Sie kann durch mangelnde Flüssigkeitszufuhr und Immobilität, große abdominelle Raumforderungen, aber ebenso durch die Einnahme von Opiaten zur Schmerzbekämpfung hervorgerufen werden. Obstipation hat auch Appetitlosigkeit zur Folge, die beseitigt werden kann, indem für regelmäßigen Stuhlgang gesorgt wird. Bei diesen Kindern wird i. d. R. alle 2–3 Tage Stuhl abgeführt. Das Kind bekommt auf ärztliche Anordnung ein Glyzerinsuppositorium, Mikroklistier oder einen Einlauf. Helfen diese nicht, wird zusätzlich ein orales Abführmittel gegeben. Ferner bekommen die Kinder mit o. g. Medikamenten prophylaktisch ein Mittel, das den Stuhlgang weicher macht (z. B. Lactulose). Kinder, die infolge von Metas-

tasen im Abdomen Zeichen eines Subileus zeigen, werden mit Analgetika und die Peristaltik anregenden Medikamenten versorgt und sorgfältig beobachtet.

30.4.6 Dekubitusprophylaxe Viele Kinder und Jugendliche neigen durch Immobilität und Abmagerung zu Druckstellen und Druckgeschwüren (S. 403). Bei diesen Kindern wird prophylaktisch eine Dekubitusmatratze ins Bett gelegt. Normalerweise wird das Kind alle 2 Stunden bewegt und in eine neue Position gebracht. Mehrmals täglich werden die gefährdeten Stellen inspiziert. Abschließend soll noch darauf aufmerksam gemacht werden, dass durch die Pflege keine unnötigen Belastungen für das sterbende Kind verursacht werden sollen. Das Pflegepersonal kann z. B. den Umfang mancher pflegerischer Maßnahmen verringern oder andere Schwerpunkte setzen. Wenn ein Kind zur geplanten Zeit nicht in eine andere Position gebracht werden möchte, sollte sein Wunsch akzeptiert werden.

30.4.7 Auswirkungen der Pflege auf das Pflegepersonal Der häufig lange und wiederholte Krankenhausaufenthalt der Kinder führt dazu, dass Pflegende, Ärzte, Erzieherinnen, Lehrer und Physiotherapeuten einen sehr guten Kontakt zu den Kindern und deren Eltern aufbauen. Je älter die Kinder sind, umso kameradschaftlicher ist oft die Beziehung: Man lebt mit ihnen in der Angst vor dem Rezidiv und freut sich gemeinsam über gute Untersuchungsergebnisse. So bedeutet der Tod eines Kindes auch einen persönlichen Verlust für das Behandlungsteam. Am stärksten betroffen ist diejenige Pflegefachkraft, die das Kind betreut hat. Sie muss sich damit auseinan-

dersetzen, dass eine freundschaftliche Beziehung zu Ende gegangen ist. Außerdem führen Tod und Umgang mit sterbenden Kindern dazu, sich über das eigene Leben und Sterben Gedanken machen zu müssen. Das erzeugt Ängste, mit denen man umzugehen lernen muss. Je älter die Kinder und Jugendlichen sind, umso größer ist die Gefahr, sich mit ihnen und ihrer Krankheit zu identifizieren. Die Angst, selbst krank zu werden, liegt nahe. Es ist einleuchtend, dass dies eine große psychische Belastung ist. Schließlich kommen quälende Fragen hinzu: „Habe ich wirklich genug getan? Habe ich mir genügend Zeit für das Kind genommen? Hätte ich nicht, trotz Stationsalltag, mehr auf Wünsche eingehen sollen?“ Diese Situation führt häufig zu Spannungen unter dem Pflegepersonal. Aber die Kraft, Probleme gemeinsam anzugehen, ist manchmal erschöpft. Möglichkeiten der Bewältigung können sein: ● Regelmäßige Teambesprechungen, um sachliche, fachliche und emotionale Probleme zu besprechen und belastende Situationen damit auffangen zu können. ● Regelmäßige Supervision unter kompetenter und „außenstehender“ Leitung. ● Begleitung von Auszubildenden in der Pflege durch eine erfahrene Mentorin während des Einsatzes. ● Unterstützung durch ein soziales Netz (z. B. Familienangehörige, Freunde) und ausgeglichene Freizeitaktivitäten. Es sollten aber auch die positiven Erlebnisse gesehen werden, indem ehemalige Kinder und Jugendliche über lange Wegstrecken ihres Lebens begleitet werden konnten, z. B. bei deren Schul- und Berufsausbildung, Heirat und der Geburt von Kindern. In gegebener Situation aber müssen Pflegende die Bereitschaft haben, den Tod eines Kindes zu akzeptieren.

30

9

Pflege von Kindern mit onkologischen Erkrankungen

30

620

Kapitel 31 Pflege von Kindern mit Störungen des Verdauungssystems

31.1

Bedeutung

622

31.2

Pflege eines Kindes mit Ösophagusatresie

622

31.3

Pflege eines Kindes mit Ileus

626

31.4

Pflege eines Kindes mit Appendizitis

627

31.5

Pflege eines Kindes mit chronischentzündlicher Darmerkrankung

628

Pflege eines Kindes mit Stomaversorgung

629

31.6

Pflege von Kindern mit Verdauungsstörungen

31 Pflege von Kindern mit Störungen des Verdauungssystems 31

Simone Teubert

31.1 Bedeutung Störungen des Verdauungssystems haben unterschiedliche Ursachen und Lokalisationen. Sie betreffen jede Altersgruppe. Die Gesundheitsstörungen reichen von angeborenen bis hin zu erworbenen Störungen, sie können ausheilen oder chronisch verlaufen. Die Erkrankungen im Bereich des Verdauungstrakts gehen mit einer Vielzahl von Einschränkungen der Lebensaktivitäten und einer zeitweiligen, manchmal lebenslangen Minderung der Lebensqualität einher.

31.2 Pflege eines Kindes mit Ösophagusatresie 31.2.1 Ursache und Auswirkung Die Ösophagusatresie ist eine angeborene Hemmungsfehlbildung unklaren Ursprungs. Es handelt sich dabei um eine Unterbrechung der Speiseröhre in ihrem physiologischen Verlauf. Es gibt verschiedene Formen dieser Gesundheitsstörung (▶ Abb. 31.1). Eine kinderchirurgische Intervention ist immer notwendig. Je nach Befund kann eine Ösophagusatresie durch eine Thorakoskopie in speziellen Zentren operiert werden. Diese Operationstechnik ist oft schonender. Es werden aufgrund des kleinen Eingriffs weniger Manipulationen vorgenommen, postoperative

Ösophagus

Atresie

a

Komplikationen werden dadurch minimiert. Bei der am häufigsten auftretenden Erscheinungsform endet der Ösophagus im oberen Abschnitt in einem Blindsack, der untere Anteil hat eine Verbindung zur Luftröhre (ösophagotracheale Fistel). Dies ist häufig kombiniert mit weiteren Fehlbildungen, v. a. des Herzens und des Anogenitalbereichs. Bereits kurz nach der Geburt zeigt das Kind folgende Symptome: ● große Mengen überlaufenden schaumigen Speichels ● das Kind würgt den Speichel teilweise heraus ● Hustenattacken ● Dyspnoe, rezidivierende Zyanoseanfälle ● Sondierungsversuche der Speiseröhre scheitern (▶ Abb. 31.2) ● Magensaft kann nicht aspiriert werden Eine operative Korrektur in Form einer Zusammenfügung der beiden Ösophagusanteile (End-zu-End-Anastomose und ggf. Fistelverschluss) wird angestrebt und erfolgt so bald wie möglich. Eine Gastrostoma- oder PEG-Anlage zur enteralen Ernährung kann erforderlich sein, wenn die Anastomose primär nicht möglich ist oder unter hoher Spannung erfolgen muss.

Atresie

b

Abb. 31.1 Fehlbildungsmöglichkeiten des Ösophagus. a Ösophagusatresie mit ösophagotrachealer Fistel, b Ösophagusatresie ohne Fistel, c ösophagotracheale Fistel ohne Atresie des Ösophagus.

622

Bei dieser Gesundheitsstörung sind in erster Linie die Lebensaktivitäten „Essen und Trinken“, „Atmen“ und „Für eine sichere Umgebung sorgen“ betroffen. Es wird zwischen prä- und postoperativen Pflegeproblemen unterschieden: ● präoperative Pflegeprobleme: ○ instabile Vitalfunktionen (z. B. Dyspnoe, O2-Sättigungsabfall) durch beeinträchtigte Atmung ○ Aspirationsgefahr durch Speichel oder Magensaft bei ösophageal-trachealer Fistel, der nicht geschluckt werden kann ○ Einschränkung der Mobilität des Kindes durch Einsatz der Dauerabsaugsonde ○ Gefahr eines Dekubitus an der Nase bei liegender Dauerabsaugsonde ● postoperative Pflegeprobleme: ○ Schwierigkeiten bei der oralen Nahrungsaufnahme durch Schmerzen beim Schlucken bzw. eine Enge des Ösophagus im Bereich der Anastomosestelle ○ Schmerzen im Operationsgebiet beim Schlucken und nach Bougierung (Aufdehnung der Stenose) ○ Unsicherheit der Eltern beim Umgang mit ihrem Kind

ösophagotracheale Fistel

Trachea

ösophagotracheale Fistel

31.2.2 Pflegebedarf einschätzen

c

Abb. 31.2 Neugeborenes mit Ösophagusatresie. Röntgen-Thorax: luftgefüllter proximaler Ösophagus mit nicht weiter vorzuschiebener Magensonde, Luft im Magen. (Honnef D, Piroth W. Ösophagusatresie (Kind). In: Staatz G, Honnef D, Piroth W et al., Hrsg. Pareto-Reihe Radiologie Kinderradiologie. 1. Auflage. Thieme; 2006)

31.2 Pflege eines Kindes mit Ösophagusatresie

31.2.3 Pflegeziele und -maßnahmen Optimale Erstversorgung sowie prä- und postoperative Stabilisierung Merke

H ●

Die Verdachtsdiagnose Ösophagusatresie sollte bereits im Kreißsaal gestellt werden, da das Kind bei Nichterkennen vital bedroht ist.

Bei Verdacht auf eine Ösophagusatresie ist bei jeder Erstsondierung der pH-Wert des gewonnenen Sekrets zu überprüfen. Da eine weiche Magensonde sich im Blindsack unbemerkt aufrollen kann, kann die Gewinnung von Sekret (verschlucktes Fruchtwasser, Speichel) der Pflegefachkraft oder Hebamme die Gewinnung von Magensekret suggerieren. Wird eine Ösophagusatresie im Kreißsaal nicht erkannt und das Kind in das Neugeborenenzimmer verlegt, muss die betreuende Pflegefachkraft bei Beobachtungen, die den Verdacht nahelegen, sofort den Arzt informieren. Ziel der pflegerischen Maßnahmen ist es, die Atemwege freizuhalten und Komplikationen zu vermeiden. Erstmaßnahmen sind z. B.: ● Absaugen des Sekrets mittels Dauerabsaugsonde ● Oberkörperhochlage und Bauch- oder Seitenlage, um einem Reflux von Magensaft in die Trachea vorzubeugen ● Sauerstoffgabe bei Bedarf und nach Anordnung des Arztes zur Atemunterstützung ● Jegliche Nahrungsverabreichung ist in jedem Fall kontraindiziert ● kontinuierliche Monitorüberwachung ● Verlegung in eine Kinderklinik mit angeschlossener Kinderchirurgie Auf der Kinderintensivstation wird das Kind von den Ärzten und Pflegefachkräften auf den bevorstehenden chirurgischen Eingriff vorbereitet. Ziel ist es, die notwendigen Maßnahmen zügig, aber so schonend wie möglich für das Kind durchzuführen. Das Kind wird in einem Inkubator oder Wärmebett zur besseren Beobachtung und Erhaltung der Körpertemperatur gelegt. Es wird mit einer Dauerabsaugsonde (Schlürfsonde) versorgt. Diese Dauerabsaugsonde liegt je nach Größe des Kindes 2 – 3 cm über dem Ende des Blindsacks, um eine Perforation des Ösophagus zu verhindern. Das Sekret wird damit kontinuierlich abgesaugt, um Aspiration

und Pneumonie zu verhindern. Dabei erfolgt eine kontinuierliche Monitorüberwachung der Vitalfunktionen, um eine Veränderung, wie Dyspnoe oder Abfallen der Sauerstoffsättigung, rechtzeitig zu erkennen. Die weiteren Aufgaben des Pflegepersonals sind die Assistenz bei: ● Intubation und Beatmung ● Blutentnahmen zur Kontrolle aller relevanter Laborparameter ● Legen eines zentralen Venenkatheters ● Stabilisierung von möglichen Stoffwechselentgleisungen durch Durchführung und Überwachung der Infusionstherapie (z. B. Azidosekorrektur) nach ärztlicher Anordnung

Eltern

a ●

Die Eltern werden durch Aufklärungsgespräche mit dem Pädiater, Kinderchirurgen und dem Anästhesisten über das Krankheitsbild und den weiteren Verlauf informiert. Es ist wichtig, dass die Pflegefachkraft den Eltern die pflegerischen Maßnahmen erklärt und ihnen den Kontakt zum Kind ermöglicht, z. B. indem sie die Eltern ermuntert, das Kind zu streicheln oder ihm die Hand zu halten.

Postoperative Betreuung auf der Kinderintensivstation Ziel ist es, das Kind nach dem großen chirurgischen Eingriff zu stabilisieren und ein bestmögliches Wohlbefinden zu erreichen: ● Das Kind wird postoperativ in Linksseitenlage oder Rückenlage, achsengerecht bei 30 ° hochgelagert (Schutz der Anastomose). ● Die Pflegende überwacht die Beatmung. ● Sie richtet ihre Beobachtungen und Maßnahmen nach den Bedürfnissen des relaxierten Kindes. ● Sie überwacht den korrekten Sitz der Magensonde, die zur Schienung der Anastomosenaht im OP von den Kinderchirurgen gelegt wurde. ● Sie überwacht die Thoraxsaugdrainage und die Infusionstherapie über einen zentralen Venenkatheter. ● Lageveränderungen des Kindes müssen mit den Chirurgen besprochen werden. Es darf kein Zug auf die Anastomose ausgeübt werden.

Praxistipp Pflege

Z ●

Die Schienungssonde muss deutlich gekennzeichnet und fixiert werden. Die Kinder tragen Handschuhe, um die Sonde nicht ziehen zu können. Verändert sich die Lage der Sonde (s. Markierung auf der Sonde) oder rutscht sie unabsichtlich heraus, muss sofort der betreuende Arzt informiert werden. Die Sonde darf nicht durch die Pflegefachkraft erneut gelegt werden, da eine Perforation des Ösophagus an der Nahtstelle erfolgen könnte. Nach der Extubation sind die Beobachtung und Überwachung der Vitalfunktionen einschließlich der Sauerstoffsättigung sowie die Einschätzung der Atemfrequenz und -qualität sehr wichtig.

31

Die Pflegefachkraft achtet auf postoperative Komplikationen wie z. B. ● die Veränderung zuvor stabiler Vitalwerte, ● das Auftreten einer Zyanose, ● eine erschwerte, rasselnde Atmung. Dies können Anzeichen einer Aspirationspneumonie sein. Hustet das Kind plötzlich vermehrt, seltsam stimmlos, entwickelt es eine erhöhte Körpertemperatur, so muss immer an eine Anastomoseninsuffizienz gedacht werden. Dabei tritt durch ein Leck der Anastomose Sekret und evtl. Nahrung in das Mediastinum und führt somit zu einer Mediastinitis. Das Auftreten von Bradyoder Tachykardien kann Hinweis auf Schmerzen sein, deshalb ist u. a. auf eine ausreichende Analgesie zu achten.

Merke

H ●

Bei dem geringsten Verdacht auf eine Komplikation informiert die Pflegende unverzüglich den Arzt.

Ist die Durchlässigkeit des Ösophagus auch nach der Operation nicht sofort gewährleistet (z. B. bei einer Anastomose, die aufgrund der Gegebenheiten unter großem Zug erfolgen musste), wird das Kind über ein Gastrostoma oder eine PEG ernährt, bis eine orale Nahrungsaufnahme möglich ist, und weiterhin ggf. eine Dauerabsaugsonde eingesetzt.

3

Pflege von Kindern mit Verdauungsstörungen

31

Merke

H ●

Die operative Anlage eines Ösophagostomas („Speichelfistel“) kann bei besonders problematischen Befunden den langfristigen Einsatz einer Dauerabsaugsonde ersetzen.

Konnte eine erfolgreiche End-zu-EndAnastomose der beiden Ösophagusanteile durchgeführt werden, wird nach Beendigung der Relaxierung und Beatmung (frühestens nach 7–10 Tagen) eine Röntgenkontrastdarstellung des Ösophagus (Ösophagus-Magen-Breischluck) durchgeführt. Diese Untersuchung gibt Aufschluss bezüglich der Weite und Durchgängigkeit des Ösophagus. Bei einigen Kindern ist die Speiseröhre postoperativ gut verbunden, aber nicht ausreichend durchgängig, d. h., sie hat ein zu enges Lumen. Um dieses Lumen zu weiten, wird die Speiseröhre dieser Kinder regelmäßig in Narkose vom Kinderchirurgen bougiert. Der Heilungsverlauf gestaltet sich in diesen Fällen eher langsam und die Kinder bleiben längere Zeit in klinischer Betreuung. Hat sich der Zustand des Kindes stabilisiert, wird es von der Intensivstation auf eine weiterbetreuende Station verlegt.

Freie Atemwege Kinder, deren Ösophagus aufgrund der großen Distanz zwischen den einzelnen Abschnitten nur unter großer Spannung zusammengeführt werden konnte, weisen meist eine stenotische Speiseröhre auf. Dies hat zur Folge, dass sie ihren Speichel nur unzureichend oder gar nicht schlucken können. Hierbei kommt, je nach Schweregrad, erneut die Dauerabsaugsonde zum Einsatz. Ziel dieser Maßnahme ist es, ● dem Kind eine ungehinderte Atmung zu ermöglichen, ● die Atemwege frei von Speichel zu halten, ● einer Aspiration entgegenzuwirken. Neben der suffizienten Sekret-Eliminierung sind eine atemunterstützende Positionierung und eine Atemtherapie durch Physiotherapeuten von größter Wichtigkeit.

Praxistipp Pflege

Z ●

Pflegepersonal und Eltern werden von den Physiotherapeuten zur korrekten Durchführung atemunterstützender Maßnahmen angeleitet.

624

Komplikationslose Nahrungsaufnahme Die Nahrungsaufnahme bei Kindern mit Ösophagusatresie nach der Operation richtet sich nach der Weite der Speiseröhre. Ziel ist es, das Kind so schonend wie möglich an die Nahrungsaufnahme zu gewöhnen bzw. ihm bei weiterer oraler Nahrungskarenz eine Sensibilisierung seiner Geschmacksnerven zu ermöglichen.

Komplikationsloser Nahrungsaufbau Kinder, deren Speiseröhre nach der Operation ein ausreichendes Lumen aufweist, haben eine Magensonde zur Schienung der Anastomose. Die Größe der Magensonde lässt die Passage von Speichel und dünnflüssiger Nahrung zu. Vor der ersten oralen Nahrungsgabe beobachtet die Pflegefachkraft das Kind hinsichtlich seiner Reaktion auf die Mundpflege und sein Saugverhalten. Hat das Kind keine Probleme mit dem anfallenden Speichel, kann nach ärztlicher Anordnung vorsichtig die Verabreichung einer kleinen Menge Wasser unternommen werden. Trinkt das Kind problemlos, wird die Nahrungsmenge anfangs zurückhaltend, später großzügiger gesteigert.

Merke

● H

Ein funktionsfähiges und einsatzbereites Absauggerät muss bereitstehen.

Ist das Trinkverhalten unauffällig, wird die primär als Schienungssonde gedachte Magensonde durch den Kinderchirurgen gezogen. Ist der komplette Nahrungsaufbau erreicht, kann das Kind nach Hause entlassen werden – es bleibt aber weiterhin in kinderchirurgischer Betreuung.

Erschwerter verzögerter Nahrungsaufbau Kinder mit stark stenotischem Ösophagus können zwar schlucken, aber der Speichel wird nicht über die Verengung transportiert. Bei ihnen wird während der Operation ein Gastrostoma oder eine PEG (S. 358) angelegt, um die Ernährung unter Umgehung der Speiseröhre für längere Zeit zu gewährleisten. Die Nahrungsapplikation erfolgt, wie bei der Sondierung über eine Magensonde, langsam und schonend. Beginnt das Kind zu würgen, muss der Sondierungsvorgang sofort unterbrochen werden. Das drohende Erbrechen könnte zu einer Nahtverletzung führen.

Neben einer regelmäßigen Mundpflege während der Nahrungsverabreichung werden die Entwicklung des Geschmackssinns und die Förderung der Mundmotorik durch Ergo- und Physiotherapeuten unterstützt.

Merke

H ●

Bei oraler Stimulation und Saugen am Beruhigungssauger wird vermehrt Speichel produziert. Die Pflegefachkraft achtet auf die ausreichende Förderung der Dauerabsaugsonde, damit das Kind von dem zusätzlich anfallenden Speichel nicht überrascht und erschreckt wird oder diesen aspiriert.

Kann das Kind nach anfänglichen Schwierigkeiten seinen Speichel inzwischen selbst schlucken, wird nach Anordnung des Arztes mit der Nahrungsgabe langsam und schonend begonnen. Die ersten Trinkversuche des Kindes werden von der Pflegefachkraft unterstützt und können später unter Anleitung von den Eltern durchgeführt werden.

Eltern

a ●

Es ist eine wichtige und verantwortungsvolle Aufgabe der Pflegefachkraft, die Eltern bei dem oft langwierigen Trinktraining ihres Kindes zu unterstützen. Es ist dabei sehr wichtig, auf die Bedürfnisse des Kindes zu achten, um es nicht zu überfordern.

Das Kind bestimmt die Menge, die es trinken möchte. Die Restmenge wird weiterhin über Gastrostoma oder PEG sondiert. Den Eltern wird diese besondere Situation ihres Kindes erklärt und sie werden darin bestärkt, regelmäßig Stillversuche oder die Flaschengabe unter Anleitung zu unternehmen. Das Trinktraining kann sich über einen längeren Zeitraum erstrecken und ist eine anspruchsvolle Aufgabe für das gesamte Team und die Eltern. Ist im klinischen Verlauf absehbar, dass der Nahrungsaufbau die Zeit des Klinikaufenthalts überdauern wird, kann das Kind bei stabilem Allgemeinzustand nach Hause entlassen werden. Die Eltern werden vor der Entlassung zur Weiterversorgung des Kindes intensiv angeleitet und beraten. Bereits während des stationären Aufenthalts lernen sie den korrekten Umgang mit dem Kind. Zusätzlich wird ihnen ein Reanimationskurs für Säuglinge vermittelt. Hilfsmittel, wie z. B. ein Absauggerät oder ein Heimmonitor, sollten frühzeitig bei der Krankenkasse beantragt werden.

31.2 Pflege eines Kindes mit Ösophagusatresie

Eltern

a ●

Durch die Mitaufnahme der Eltern können sie den Pflegeaufwand besser einschätzen und organisatorische Strategien für zu Hause entwickeln.

Nach der Entlassung wird das Kind durch einen ambulanten Pflegedienst im häuslichen Umfeld weiterversorgt. Das Kind wird zu regelmäßigen Verlaufskontrollen in die kinderchirurgische Ambulanz einbestellt.

Sicherer Umgang mit dem Kind Aufgrund der Möglichkeiten der pränatalen Diagnostik kann schon früh eine Verdachtsdiagnose gestellt werden. Nach Gesprächen mit den Eltern besteht die Möglichkeit, die Mutter mit ihrem Kind bereits vor der Geburt in eine Frauenklinik mit angeschlossenem kinderchirurgischem Zentrum einzuweisen. Aber auch bei bester Betreuung sind die Eltern größten Ängsten ausgesetzt und haben möglicherweise Schwierigkeiten, sich ihrem Kind zu nähern und eine Beziehung zu ihm aufzubauen. Die Aufgabe der Pflegefachkraft ist es, die Eltern einfühlsam zu begleiten, zu beraten, zu unterstützen, zu motivieren und in die Pflege einzubeziehen. Dadurch können Ängste der Eltern gemindert werden und sie werden ermutigt, an der Versorgung ihres Kindes teilzunehmen. Sobald es vonseiten des Kindes möglich ist, wird es unter Anwesenheit der Pflegefachkraft zum Bonding auf die Brust von Mutter oder Vater gegeben. Den Eltern werden die verschiedenen Ableitungen und deren Funktion erläutert und auf die dadurch entstehende eingeschränkte Beweglichkeit des Kindes hingewiesen. Später lernen sie, unter Anleitung der Pflegenden, Ergo- und Physiotherapeuten, ihr Kind altersgemäß zu fördern. Die Eltern werden in der Handhabung des Gastrostomas/PEG unterwiesen und können das Sondieren ihres Kindes unter Anleitung selbstständig durchführen.

Eltern

a ●

Den Eltern werden so bald wie möglich die Adressen von Selbsthilfegruppen und Elterninitiativen ausgehändigt, damit sie sich auch außerhalb der Klinik mit kompetenten Gesprächspartnern austauschen können.

Funktionsfähige Dauerabsaugsonde Die Dauerabsaugsonde oder ReplogleSonde dient dazu, den anfallenden Speichel, den das Kind nicht selbstständig schlucken kann, schonend abzusaugen. Meist wird eine Sogdrainage verwendet, wie sie auch zur Drainage im Pleuraraum benutzt wird (S. 791). Ableitendes System ist in diesem speziellen Fall ein doppellumiger Absaugkatheter, der mit einem Verbindungsstück an die Ableitungen adaptiert wird. Der Absaugkatheter wird meist im Kreißsaal gelegt. Er wird mehrfach an Nase und Wange mit hautfreundlichem Pflaster fixiert. Die Sogeinstellung (–5 bis –10 cm H2O) erfolgt nach Arztanordnung. Eine höhere Einstellung könnte zum Ansaugen des Katheters an die Ösophagusschleimhaut und zu Läsionen und Nekrosen führen. Die Förderwirkung wäre in diesem Fall nicht mehr gewährleistet.

Merke

H ●

Entfernt sich das Kind die Sonde postoperativ oder hat sich die Fixierung durch herauslaufenden Speichel gelöst, ist sofort der Arzt zu informieren! Bis zum Eintreffen des Arztes wird das Kind intermittierend abgesaugt. Bei noch frischen Operationswunden wird eine Dauerabsaugsonde nur vom Arzt gelegt, da die Gefahr einer Perforation besteht.

Ist eine kontinuierliche Absaugung durch die Dauerabsaugsonde indiziert, kann sie im weiteren Verlauf, d. h. nach Abheilung der Operationswunde, auch von der Pflegefachkraft nach Maß selbstständig gewechselt werden.

Vorbereitung Folgende Materialien werden für den Wechsel einer Dauerabsaugsonde benötigt: ● doppellumiger Absaugkatheter in passender Größe ● Verbindungsadapter ● Absauganlage ● Pflaster zum Fixieren, Schere ● Stift zum Markieren ● Schutzhandschuhe ● Auffangschale

Der neue Katheter wird in der gleichen dokumentierten Länge wie der liegende abgemessen und markiert. Die Pflaster zum Fixieren werden zurechtgeschnitten. Beim Legen der neuen Absaugsonde ist es wichtig, eine zweite Person zur Hilfestellung hinzuzubitten, um den für das Kind belastenden Vorgang so schonend wie möglich durchführen zu können.

31

Durchführung Der Sondenwechsel wird auf diese Weise durchgeführt: ● Liegende Sonde ziehen. ● Nasen-Rachen-Raum sorgfältig absaugen. ● Katheter über die Nase einführen (auf Wechsel der Nasenöffnung achten) und bis zur markierten Stelle vorschieben. ● Sobald aufsteigendes Speichelsekret die richtige Lage anzeigt, an die Absauganlage anschließen und angeordnete Sogstärke einstellen. ● Sonde fixieren.

Nachsorge Bei der Nachsorge ist Folgendes zu beachten: ● Beruhigung des Kindes ● gebrauchte Materialien entsorgen bzw. desinfizieren und aufräumen ● Dokumentation, u. a. Katheterlänge und -art, Naseneingang (re. oder li.), Grund des Wechsels (z. B. Katheter verlegt), Reaktion des Kindes Der Einsatz einer Dauerabsaugsonde gewährleistet zwar bei funktionalem System eine kontinuierliche Sekretabsaugung, sichert aber nicht immer die gesamte Aufnahme des anfallenden Sekrets.

Merke

H ●

Es ist wichtig, die Funktionsfähigkeit der Dauerabsaugsonde sowie Atmung und Verhalten des Kindes regelmäßig zu überwachen. Außerdem ist es unbedingt notwendig, eine einsatzbereite Absauganlage in unmittelbarer Nähe bereitzuhalten!

Gründe für eine Sekretsteigerung können sein: ● starkes Saugen am Beruhigungssauger ● Aufregung ● Mundpflege ● Infekte der oberen Luftwege

5

Pflege von Kindern mit Verdauungsstörungen

31

31.3 Pflege eines Kindes mit Ileus

31.3.2 Pflegebedarf einschätzen

31.3.1 Ursache und Auswirkung

Ein Ileus, ungeachtet seiner Ursachen, ist eine Gesundheitsstörung, die ein Kind in seinem Wohlbefinden und v. a. in seinen Lebensaktivitäten „Essen und Trinken“, „Ausscheiden“, „Schlafen“, „Sich bewegen“ und „Für eine sichere Umgebung sorgen“ beeinträchtigt. Es wird zwischen prä- und postoperativer Pflegesituation unterschieden. Folgende Pflegeprobleme können auftreten: ● instabile Vitalfunktionen bis Schock durch Hypovolämie ● Störungen im Flüssigkeits- und Elektrolythaushalt durch Erbrechen, mangelnde Flüssigkeitszufuhr, Flüssigkeitsverluste in den Darm ● veränderte Stuhlausscheidung ● kolikartige Bauchschmerzen ● Atemprobleme durch erhöhten abdominalen Druck ● Gefahr der Peritonitis und Sepsis durch evtl. auftretende Perforation der Darmwand ● Gefahr der Austrocknung der Mundschleimhaut infolge von Flüssigkeitsmangel, durch Nahrungskarenz und/ oder evtl. Erbrechen ● Angst vor Krankenhauseinweisung, Untersuchungen und Operation ● Angst der Eltern um das Kind

Ein Ileus ist ein Darmverschluss, der in jedem Alter auftreten kann. Unabhängig von der Ursache führt jede länger dauernde oder rezidivierend auftretende Störung der Darmpassage zur Schädigung der Darmwand und Einschränkung der Darmmotilität. Generell wird zwischen mechanischem Ileus, hervorgerufen durch ein lokales Hindernis, und paralytischem Ileus, bei dem die Darmmotorik gelähmt ist, unterschieden. Bei einem paralytischen Ileus setzt die Symptomatik weniger dramatisch ein. Im Neugeborenenalter können folgende Formen eines mechanischen Ileus beobachtet werden: ● Mekoniumileus: Dieser tritt nach der Geburt, hervorgerufen durch zäh-klebriges Mekonium, auf. Dies kann ein Hinweis auf eine Mukoviszidose sein. ● Morbus Hirschsprung Die unterschiedlichen Ursachen eines Ileus sind in ▶ Tab. 31.1 beschrieben. Symptome eines Ileus sind: ● Stuhlverhalt ● krampfartige Bauchschmerzen, Unruhe ● stark geblähtes, druckschmerzhaftes Abdomen durch Gas- und Flüssigkeitsansammlungen ● glänzende Bauchhaut, starke Venenzeichnung ● starke Übelkeit, Meteorismus ● Erbrechen von Mageninhalt und/oder Galle, evtl. Erbrochenes mit Kotbeimengungen bei tief sitzendem Ileus (Miserere) ● Zeichen der Dehydratation durch Wasser- und Elektrolytverlust ● Schocksymptomatik Bei mechanischem Ileus wird das Passagehindernis operativ beseitigt. Bei paralytischem Ileus werden in erster Linie die Grunderkrankung behandelt, der Flüssigkeitshaushalt stabilisiert und die Darmmotilität stimuliert.

31.3.3 Pflegeziele und -maßnahmen Stabile Vitalfunktionen und frühzeitiges Erkennen von Veränderungen der Vitalparameter Wie ▶ Tab. 31.1 zu entnehmen ist, sind Kinder mit bestimmten Grunderkrankungen oder besonderen therapeutischen Maßnahmen (Sedierung, Relaxierung) gefährdet, einen Ileus zu entwickeln. Es ist daher wichtig, dass die betreuende Pflegefachkraft die Symptome kennt und frühzeitige Veränderungen bemerkt und richtig einschätzt. Die Eltern werden gebeten, bei Auffälligkeiten die betreuende

Tab. 31.1 Ursachen eines Ileus im Kindesalter. mechanisch ● ● ● ● ● ● ●

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Adhäsion und Briden inkarzerierte Hernie Volvulus Invagination Fehlbildungen (z. B. Atresien) Parasiten (z. B. Würmer) Tumoren, Polypen

paralytisch ● ● ● ● ● ● ●

Peritonitis Enteritis Pankreatitis diabetische Ketoazidose Elektrolytstörungen (z. B. Hypokaliämie) Vergiftungen (z. B. Morphin) Sedierung oder Relaxierung

Pflegekraft zu rufen, damit sie das Befinden des Kindes einschätzen kann. Frühzeitiges Erkennen kann eine massive Verschlechterung verhindern. Gefährdete Kinder bzw. Kinder mit diagnostiziertem Ileus werden beobachtet auf: ● Veränderungen des Allgemeinbefindens ● Veränderungen der Vitalzeichen, z. B. Tachykardie, Tachypnoe oder Blutdruckschwankungen, Schocksymptomatik ● Veränderungen in der Stuhlausscheidung (z. B. Stuhlverhalt) ● Veränderungen im Bauchbereich, z. B. stark geblähtes Abdomen, Zunahme des Bauchumfangs ● Zeichen der Austrocknung, z. B. herabgesetzter Hautturgor, geringe Urinausscheidung ● Schmerzäußerungen Zeigt sich das Bild eines mechanischen Ileus, wird das Kind prä- und postoperativ betreut (S. 830).

Physiologische Ausscheidung Durch Erbrechen und mangelnde Flüssigkeitsresorption im Darm kann das Kind einen Volumenmangel erleiden. Ziel ist es, Zeichen einer Dehydratation rechtzeitig zu erkennen, einen Schockzustand zu vermeiden und den Mangel auszugleichen. Die Pflegende kontrolliert engmaschig die Vitalzeichen, beobachtet, bilanziert und dokumentiert auch bei bestehender Nahrungskarenz die Ein- und Ausfuhr und informiert die Eltern darüber, Windel, Steckbecken oder Urinflasche nach dem Gebrauch nicht zu leeren. Bei einem paralytischen Ileus wird die Darmperistaltik medikamentös unterstützt. Die Pflegefachkraft überwacht die Wirkung der Medikamente. Die Stuhlausscheidung wird ebenfalls beobachtet, Auffälligkeiten hinsichtlich Menge, Konsistenz und Beimengung (z. B. Blut) werden zusätzlich dokumentiert. Nach der Operation kann die Stuhlausscheidung infolge einer zusätzlichen postoperativen Darmträgheit weiterhin sistieren. Nach Anordnung des Arztes kann die Darmpassage mittels eines Einlaufes (S. 387) angeregt werden. Der Magenablauf und seine Bilanzierung nehmen bei der Pflege eines Kindes mit Ileus einen hohen Stellenwert ein. Ziel ist es, den Magen zu entlasten, indem das Sekret ungehindert ablaufen kann. Besonderheiten wie Farbe (z. B. Grün, Gelb) und Konsistenz (z. B. schleimig, klar) werden dokumentiert. Der Magenablauf wird in regelmäßigen Abständen abgemessen und dann, je nach Anordnung, z. B. mit Glukose-/Ringer-Lösung ersetzt.

Pflege von Kindern mit Verdauungsstörungen

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31.3 Pflege eines Kindes mit Ileus

31.3.2 Pflegebedarf einschätzen

31.3.1 Ursache und Auswirkung

Ein Ileus, ungeachtet seiner Ursachen, ist eine Gesundheitsstörung, die ein Kind in seinem Wohlbefinden und v. a. in seinen Lebensaktivitäten „Essen und Trinken“, „Ausscheiden“, „Schlafen“, „Sich bewegen“ und „Für eine sichere Umgebung sorgen“ beeinträchtigt. Es wird zwischen prä- und postoperativer Pflegesituation unterschieden. Folgende Pflegeprobleme können auftreten: ● instabile Vitalfunktionen bis Schock durch Hypovolämie ● Störungen im Flüssigkeits- und Elektrolythaushalt durch Erbrechen, mangelnde Flüssigkeitszufuhr, Flüssigkeitsverluste in den Darm ● veränderte Stuhlausscheidung ● kolikartige Bauchschmerzen ● Atemprobleme durch erhöhten abdominalen Druck ● Gefahr der Peritonitis und Sepsis durch evtl. auftretende Perforation der Darmwand ● Gefahr der Austrocknung der Mundschleimhaut infolge von Flüssigkeitsmangel, durch Nahrungskarenz und/ oder evtl. Erbrechen ● Angst vor Krankenhauseinweisung, Untersuchungen und Operation ● Angst der Eltern um das Kind

Ein Ileus ist ein Darmverschluss, der in jedem Alter auftreten kann. Unabhängig von der Ursache führt jede länger dauernde oder rezidivierend auftretende Störung der Darmpassage zur Schädigung der Darmwand und Einschränkung der Darmmotilität. Generell wird zwischen mechanischem Ileus, hervorgerufen durch ein lokales Hindernis, und paralytischem Ileus, bei dem die Darmmotorik gelähmt ist, unterschieden. Bei einem paralytischen Ileus setzt die Symptomatik weniger dramatisch ein. Im Neugeborenenalter können folgende Formen eines mechanischen Ileus beobachtet werden: ● Mekoniumileus: Dieser tritt nach der Geburt, hervorgerufen durch zäh-klebriges Mekonium, auf. Dies kann ein Hinweis auf eine Mukoviszidose sein. ● Morbus Hirschsprung Die unterschiedlichen Ursachen eines Ileus sind in ▶ Tab. 31.1 beschrieben. Symptome eines Ileus sind: ● Stuhlverhalt ● krampfartige Bauchschmerzen, Unruhe ● stark geblähtes, druckschmerzhaftes Abdomen durch Gas- und Flüssigkeitsansammlungen ● glänzende Bauchhaut, starke Venenzeichnung ● starke Übelkeit, Meteorismus ● Erbrechen von Mageninhalt und/oder Galle, evtl. Erbrochenes mit Kotbeimengungen bei tief sitzendem Ileus (Miserere) ● Zeichen der Dehydratation durch Wasser- und Elektrolytverlust ● Schocksymptomatik Bei mechanischem Ileus wird das Passagehindernis operativ beseitigt. Bei paralytischem Ileus werden in erster Linie die Grunderkrankung behandelt, der Flüssigkeitshaushalt stabilisiert und die Darmmotilität stimuliert.

31.3.3 Pflegeziele und -maßnahmen Stabile Vitalfunktionen und frühzeitiges Erkennen von Veränderungen der Vitalparameter Wie ▶ Tab. 31.1 zu entnehmen ist, sind Kinder mit bestimmten Grunderkrankungen oder besonderen therapeutischen Maßnahmen (Sedierung, Relaxierung) gefährdet, einen Ileus zu entwickeln. Es ist daher wichtig, dass die betreuende Pflegefachkraft die Symptome kennt und frühzeitige Veränderungen bemerkt und richtig einschätzt. Die Eltern werden gebeten, bei Auffälligkeiten die betreuende

Tab. 31.1 Ursachen eines Ileus im Kindesalter. mechanisch ● ● ● ● ● ● ●

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Adhäsion und Briden inkarzerierte Hernie Volvulus Invagination Fehlbildungen (z. B. Atresien) Parasiten (z. B. Würmer) Tumoren, Polypen

paralytisch ● ● ● ● ● ● ●

Peritonitis Enteritis Pankreatitis diabetische Ketoazidose Elektrolytstörungen (z. B. Hypokaliämie) Vergiftungen (z. B. Morphin) Sedierung oder Relaxierung

Pflegekraft zu rufen, damit sie das Befinden des Kindes einschätzen kann. Frühzeitiges Erkennen kann eine massive Verschlechterung verhindern. Gefährdete Kinder bzw. Kinder mit diagnostiziertem Ileus werden beobachtet auf: ● Veränderungen des Allgemeinbefindens ● Veränderungen der Vitalzeichen, z. B. Tachykardie, Tachypnoe oder Blutdruckschwankungen, Schocksymptomatik ● Veränderungen in der Stuhlausscheidung (z. B. Stuhlverhalt) ● Veränderungen im Bauchbereich, z. B. stark geblähtes Abdomen, Zunahme des Bauchumfangs ● Zeichen der Austrocknung, z. B. herabgesetzter Hautturgor, geringe Urinausscheidung ● Schmerzäußerungen Zeigt sich das Bild eines mechanischen Ileus, wird das Kind prä- und postoperativ betreut (S. 830).

Physiologische Ausscheidung Durch Erbrechen und mangelnde Flüssigkeitsresorption im Darm kann das Kind einen Volumenmangel erleiden. Ziel ist es, Zeichen einer Dehydratation rechtzeitig zu erkennen, einen Schockzustand zu vermeiden und den Mangel auszugleichen. Die Pflegende kontrolliert engmaschig die Vitalzeichen, beobachtet, bilanziert und dokumentiert auch bei bestehender Nahrungskarenz die Ein- und Ausfuhr und informiert die Eltern darüber, Windel, Steckbecken oder Urinflasche nach dem Gebrauch nicht zu leeren. Bei einem paralytischen Ileus wird die Darmperistaltik medikamentös unterstützt. Die Pflegefachkraft überwacht die Wirkung der Medikamente. Die Stuhlausscheidung wird ebenfalls beobachtet, Auffälligkeiten hinsichtlich Menge, Konsistenz und Beimengung (z. B. Blut) werden zusätzlich dokumentiert. Nach der Operation kann die Stuhlausscheidung infolge einer zusätzlichen postoperativen Darmträgheit weiterhin sistieren. Nach Anordnung des Arztes kann die Darmpassage mittels eines Einlaufes (S. 387) angeregt werden. Der Magenablauf und seine Bilanzierung nehmen bei der Pflege eines Kindes mit Ileus einen hohen Stellenwert ein. Ziel ist es, den Magen zu entlasten, indem das Sekret ungehindert ablaufen kann. Besonderheiten wie Farbe (z. B. Grün, Gelb) und Konsistenz (z. B. schleimig, klar) werden dokumentiert. Der Magenablauf wird in regelmäßigen Abständen abgemessen und dann, je nach Anordnung, z. B. mit Glukose-/Ringer-Lösung ersetzt.

31.4 Pflege eines Kindes mit Appendizitis

Schmerzarme und schlaffördernde Positionierung Merke

H ●

Das geblähte Abdomen ist sehr schmerzhaft für das Kind. Ziel ist es, dem Kind zu einer so entspannenden Liegeposition wie möglich zu verhelfen.

Säuglinge werden mithilfe von Hufeisenkissen positioniert (S. 427). Bei größeren Kindern werden zur Unterpolsterung der Knie große Hufeisenkissen oder 2 große Kissen eingesetzt. Der Oberkörper ist in Hochlage positioniert, eine sitzende Haltung ist jedoch zu vermeiden. Diese Position führt zur Entspannung der Bauchregion und das Kind kann freier atmen. Beobachtet die betreuende Pflegefachkraft, dass das Kind diese Lage nur schlecht toleriert, sollte dem Kind, wenn die Umstände es zulassen, die persönlich bevorzugte Schlafhaltung ermöglicht werden.

Intakte Mundschleimhaut Die Kinder leiden bedingt durch die Dehydratation und später aufgrund der therapeutischen Nahrungskarenz meist unter einem starken und quälenden Durstgefühl. Die Mundschleimhaut ist trocken und die Zungenoberfläche rissig. Ein durch die trockene Mundschleimhaut ausgelöster, schlechter Geschmack im Mund, kann zusätzlich Übelkeit und Erbrechen hervorrufen. Ziel ist es, diese Begleiterscheinungen mit sorgfältiger und häufiger Mund- (S. 313) und Lippenpflege zu beseitigen.

Eltern

a ●

Bei Säuglingen wird die Mund- und Lippenpflege alle 2 – 3 Stunden durchgeführt. Die Eltern werden von der betreuenden Pflegefachkraft angeleitet und können sie dann selbstständig durchführen.

Größeren Kindern werden Mundpflegestäbchen mit verschiedenen Aromen angeboten, die sie selbst auswählen können, oder sie erhalten die Gelegenheit, sich die Zähne zu putzen, um den Mund zu befeuchten und zu erfrischen. Ist das Nichtverschlucken nicht gewährleistet, sollte das Zähneputzen vorübergehend ohne Zahnpasta bzw. gar nicht erfolgen. Die Mund- und Lippenpflege wird beim wachen Kind alle 4 Stunden und bei Bedarf (z. B. nach jedem Erbrechen) durch-

geführt. Den Eltern wird die Notwendigkeit der Nahrungs- und Flüssigkeitskarenz auch im Rahmen der Mundpflege erklärt.

Die Therapie erfolgt bei Appendizitis mit klarer OP-Indikation chirurgisch durch Appendektomie.

Toleranz der ableitenden Systeme

31.4.2 Pflegebedarf einschätzen

Um die Stabilisierung und kontinuierliche Überwachung ihres Allgemeinzustandes zu erreichen, sind die Kinder mit verschiedenen Zu- und Ableitungen belastet (z. B. Infusionsschläuche, Magenablaufsonde). Diese beeinträchtigen die Kinder in ihrer Mobilität und erschrecken Eltern, da sie den ernsten Zustand ihres Kindes zusätzlich unterstreichen. Es ist wichtig, dass sowohl den Eltern als auch dem größeren und wachen Kind die Funktion der einzelnen Systeme erklärt und die unterstützende Funktion hervorgehoben wird.

Praxistipp Pflege

Z ●

Die Eltern werden im Umgang mit ihrem Kind unterstützt, damit sie die Angst verlieren, ihrem Kind durch eine vermeintlich ungeschickte Bewegung Schaden zuzufügen. Wichtig ist, dass die Ableitungssysteme sicher am Kind fixiert sind und genügend Bewegungsspielraum bieten.

31.4 Pflege eines Kindes mit Appendizitis 31.4.1 Ursache und Auswirkung Die Appendizitis, im Volksmund fälschlicherweise als Blinddarmentzündung bezeichnet, ist eine Entzündung des Wurmfortsatzes. Sie kann akut oder chronisch verlaufen und ist wegen ihrer diffusen Symptome oft nur schwer zu diagnostizieren. Symptome einer Appendizitis sind: ● Übelkeit, Erbrechen ● kolikartige Schmerzen, zuerst im rechten Oberbauch, nach einigen Stunden im rechten Unterbauch ● Loslassschmerz (die linke Unterbauchseite wird dabei eingedrückt und spontan losgelassen, das Kind verspürt einen starken Schmerz im rechten Unterbauch) ● Druckschmerz im rechten Unterbauch am sog. McBurney-Punkt ● erhöhte Körpertemperatur ● evtl. Temperaturunterschied zwischen axillar und rektal von 1 °C

31

Bei dieser Gesundheitsstörung sind v. a. die Lebensaktivitäten „Ausscheiden“, „Kommunizieren“ und „Für eine sichere Umgebung sorgen“ betroffen. Pflegeprobleme bei einer Appendizitis können sein: ● Flüssigkeitsverlust durch Übelkeit, Erbrechen ● starkes körperliches Unwohlsein durch Fieber ● Schmerzen infolge der entzündeten Appendix ● Gefahr der Perforation und dadurch das Risiko einer Peritonitis ● Angst vor diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen und vor der Operation

31.4.3 Pflegeziele und -maßnahmen Angstfreiheit und Akzeptanz der Maßnahmen Da die Appendizitis i. d. R. sehr akut verläuft, überrascht die Klinikaufnahme Eltern und Kind völlig. Die Verdachtsdiagnose, meist vom einweisenden Kinderarzt gestellt, lässt zumindest die Eltern den weiteren Verlauf erahnen und führt zu Ungewissheit und Ängsten. Ziel ist es, die Ängste von Eltern und Kind zu mindern und sie während der diagnostischen Maßnahmen zu begleiten und zu unterstützen. Die Pflegende betreut das Kind unter Einbeziehung der Eltern während des präoperativen Verlaufs. Folgende Maßnahmen sind präoperativ durchzuführen: ● Die Körpertemperatur wird rektal und axillar gemessen, um eine Temperaturdifferenz zu erkennen (diagnostischer Hinweis). ● Die Vitalfunktionen werden engmaschig überwacht, um eine Veränderung des Befindens des Kindes rechtzeitig zu erkennen. ● Eine Urinprobe zum Ausschluss eines Harnwegsinfekts wird gewonnen. ● Dem Kind wird bei der Einnahme einer schmerzmindernden Position geholfen. ● Schmerzmedikamente werden auf Anordnung des Arztes verabreicht. ● Dem Kind und den Eltern wird erklärt, dass das Kind nichts mehr essen und trinken darf, um für die Operation nüchtern zu sein. ● Assistenz bei Operationsvorbereitungen.

7

Pflege von Kindern mit Verdauungsstörungen

31

Ein Elternteil sollte während der Zeit der Vorbereitungen bei dem Kind bleiben, um es zu beruhigen und ihm Sicherheit zu geben. Die Pflegefachkraft erklärt den Ablauf der einzelnen Untersuchungen und begleitet Kind und Eltern. Besonders bei den für das Kind unangenehmen Untersuchungen, z. B. rektale Untersuchung, ist eine altersentsprechende Aufklärung wichtig, um zusätzliche Ängste abzubauen. Die Versorgung bei komplikationslosem postoperativem Verlauf wird im Kapitel „Perioperative Pflege (S. 830)“ beschrieben.

31.5 Pflege eines Kindes mit chronisch-entzündlicher Darmerkrankung 31.5.1 Ursache und Auswirkung Morbus Crohn und Colitis ulcerosa sind Gesundheitsstörungen, die durch entzündliche, nicht infektiöse Veränderungen einzelner Darmabschnitte gekennzeichnet sind. Die Erkrankungen sind sich in ihrem Erscheinungsbild sehr ähnlich, die Ursachen sind letzlich nicht genau geklärt. Allergische, genetische, autoimmunologische und psychische Faktoren werden diskutiert. Die Unterschiede und Symptome

der beiden Erkrankungen sind in ▶ Tab. 31.2 aufgeführt. Bei Colitis ulcerosa kann es zu toxischem Megakolon mit Perforation kommen, eine Operation wird dann unumgänglich. Bei Morbus Crohn können Stenosen, Abszesse und Fisteln eine chirurgische Intervention notwendig machen. Die Therapie stützt sich auf medikamentöse und ernährungsspezifische Hauptpfeiler.

Merke

Es können folgende Pflegeprobleme auftreten: ● schlechter Ernährungszustand durch Appetitlosigkeit, Malabsorption, Durchfälle ● Beeinträchtigung des Allgemeinbefindens durch Durchfälle und Bauchschmerzen ● verändertes Aussehen durch Medikamentennebenwirkungen (Kortison) ● Schmerzen und Gefahr der Hautinfektion durch perianale Hautläsionen ● hohe psychische Belastung für Kind und Eltern durch die chronische Erkrankung ● belastende soziale Situation durch häufige Krankenhausaufenthalte ● unregelmäßiger Schulbesuch, Probleme in Ausbildung und Berufsausübung

H ●

Eine psychotherapeutische Begleittherapie ist empfehlenswert.

31.5.2 Pflegebedarf einschätzen

31.5.3 Pflegeziele und -maßnahmen

Bei beiden Gesundheitsstörungen liegen ähnliche Schwerpunkte bei den pflegerischen Interventionen vor. Die nachfolgende Beschreibung orientiert sich an den Problemen und Bedürfnissen eines Kindes mit Morbus Crohn. Die Kinder sind besonders in den Lebensaktivitäten „Ausscheiden“, „Sich sauber halten und kleiden“, „Essen und Trinken“, „Mädchen oder Junge sein“ und „Kommunizieren“ beeinträchtigt.

Bestmöglicher Ernährungszustand Im Rahmen der Gesundheitsstörung kommt es zu Resorptionsdefiziten der Nahrungsbestandteile, die zu schweren Mangelerscheinungen führen können. Die Ernährung eines Kindes mit Morbus Crohn spielt eine große Rolle. Ziel ist es, dem Kind eine für seine Entwicklung und sein Wohlbefinden ausreichende Menge

Tab. 31.2 Symptome bei Morbus Crohn und Colitis ulcerosa (nach Rossi 1997). Symptome

Colitis ulcerosa

Morbus Crohn

Makroblutungen im Stuhl

immer

gelegentlich

Bauchschmerzen

oft fehlend

häufig

Anorexie

mäßig

stark

Gewichtsabnahme

mäßig

stark

Wachstumsrückstand

mäßig

stark

Erbrechen

selten

mäßig

Diarrhö

oft schwer

mäßig

perianale Infekte (Fisteln)

selten

sehr oft

Verteilung der Läsionen

ununterbrochen

immer unterbrochen

Lokalisation der Läsionen: ● ● ● ●

628

Ileum Kolon Rektum Anus

● ● ● ●

10 % 95 % 100 % 15 %

● ● ● ●

80 % 50 % 50 % 85 %

extraintestinale Manifestationen (Arthritis, Haut)

oft

oft

Röntgen

oberflächliche Ulzera, röhrenförmige Veränderungen und Verkürzung des Kolons

fokale Veränderungen, Stenosen, Fisteln, Lymphdrüsenschwellungen, tiefe Ulzerationen, Pflastersteinbild

Fieber

mäßig

mäßig

Histologie

Schleimhautulzera

tief greifende serpiginöse („geschlängelte“) Ulzerationen, transmurale („durch eine Organwand hindurch“) Granulome mit Riesenzellen ohne Verkäsung

Karzinom

erhöhtes Risiko

erhöhtes Risiko

Rezidive

oft

etwas seltener

Pflege von Kindern mit Verdauungsstörungen

31

Ein Elternteil sollte während der Zeit der Vorbereitungen bei dem Kind bleiben, um es zu beruhigen und ihm Sicherheit zu geben. Die Pflegefachkraft erklärt den Ablauf der einzelnen Untersuchungen und begleitet Kind und Eltern. Besonders bei den für das Kind unangenehmen Untersuchungen, z. B. rektale Untersuchung, ist eine altersentsprechende Aufklärung wichtig, um zusätzliche Ängste abzubauen. Die Versorgung bei komplikationslosem postoperativem Verlauf wird im Kapitel „Perioperative Pflege (S. 830)“ beschrieben.

31.5 Pflege eines Kindes mit chronisch-entzündlicher Darmerkrankung 31.5.1 Ursache und Auswirkung Morbus Crohn und Colitis ulcerosa sind Gesundheitsstörungen, die durch entzündliche, nicht infektiöse Veränderungen einzelner Darmabschnitte gekennzeichnet sind. Die Erkrankungen sind sich in ihrem Erscheinungsbild sehr ähnlich, die Ursachen sind letzlich nicht genau geklärt. Allergische, genetische, autoimmunologische und psychische Faktoren werden diskutiert. Die Unterschiede und Symptome

der beiden Erkrankungen sind in ▶ Tab. 31.2 aufgeführt. Bei Colitis ulcerosa kann es zu toxischem Megakolon mit Perforation kommen, eine Operation wird dann unumgänglich. Bei Morbus Crohn können Stenosen, Abszesse und Fisteln eine chirurgische Intervention notwendig machen. Die Therapie stützt sich auf medikamentöse und ernährungsspezifische Hauptpfeiler.

Merke

Es können folgende Pflegeprobleme auftreten: ● schlechter Ernährungszustand durch Appetitlosigkeit, Malabsorption, Durchfälle ● Beeinträchtigung des Allgemeinbefindens durch Durchfälle und Bauchschmerzen ● verändertes Aussehen durch Medikamentennebenwirkungen (Kortison) ● Schmerzen und Gefahr der Hautinfektion durch perianale Hautläsionen ● hohe psychische Belastung für Kind und Eltern durch die chronische Erkrankung ● belastende soziale Situation durch häufige Krankenhausaufenthalte ● unregelmäßiger Schulbesuch, Probleme in Ausbildung und Berufsausübung

H ●

Eine psychotherapeutische Begleittherapie ist empfehlenswert.

31.5.2 Pflegebedarf einschätzen

31.5.3 Pflegeziele und -maßnahmen

Bei beiden Gesundheitsstörungen liegen ähnliche Schwerpunkte bei den pflegerischen Interventionen vor. Die nachfolgende Beschreibung orientiert sich an den Problemen und Bedürfnissen eines Kindes mit Morbus Crohn. Die Kinder sind besonders in den Lebensaktivitäten „Ausscheiden“, „Sich sauber halten und kleiden“, „Essen und Trinken“, „Mädchen oder Junge sein“ und „Kommunizieren“ beeinträchtigt.

Bestmöglicher Ernährungszustand Im Rahmen der Gesundheitsstörung kommt es zu Resorptionsdefiziten der Nahrungsbestandteile, die zu schweren Mangelerscheinungen führen können. Die Ernährung eines Kindes mit Morbus Crohn spielt eine große Rolle. Ziel ist es, dem Kind eine für seine Entwicklung und sein Wohlbefinden ausreichende Menge

Tab. 31.2 Symptome bei Morbus Crohn und Colitis ulcerosa (nach Rossi 1997). Symptome

Colitis ulcerosa

Morbus Crohn

Makroblutungen im Stuhl

immer

gelegentlich

Bauchschmerzen

oft fehlend

häufig

Anorexie

mäßig

stark

Gewichtsabnahme

mäßig

stark

Wachstumsrückstand

mäßig

stark

Erbrechen

selten

mäßig

Diarrhö

oft schwer

mäßig

perianale Infekte (Fisteln)

selten

sehr oft

Verteilung der Läsionen

ununterbrochen

immer unterbrochen

Lokalisation der Läsionen: ● ● ● ●

628

Ileum Kolon Rektum Anus

● ● ● ●

10 % 95 % 100 % 15 %

● ● ● ●

80 % 50 % 50 % 85 %

extraintestinale Manifestationen (Arthritis, Haut)

oft

oft

Röntgen

oberflächliche Ulzera, röhrenförmige Veränderungen und Verkürzung des Kolons

fokale Veränderungen, Stenosen, Fisteln, Lymphdrüsenschwellungen, tiefe Ulzerationen, Pflastersteinbild

Fieber

mäßig

mäßig

Histologie

Schleimhautulzera

tief greifende serpiginöse („geschlängelte“) Ulzerationen, transmurale („durch eine Organwand hindurch“) Granulome mit Riesenzellen ohne Verkäsung

Karzinom

erhöhtes Risiko

erhöhtes Risiko

Rezidive

oft

etwas seltener

31.6 Pflege eines Kindes mit Stomaversorgung an Nährstoffen zukommen zu lassen. Dies kann enteral und parenteral erfolgen. Die Aufgabe der Pflegefachkraft beinhaltet die Unterstützung der gesamten Ernährung im Rahmen eines evtl. notwendigen Klinikaufenthaltes. Spezielle Diätvorschriften werden in beschwerdefreien Intervallen so weit wie möglich vermieden. In Zusammenarbeit mit dem behandelnden Gastroenterologen und speziellen Ernährungsberatungsteams wird mit dem Kind und der Familie ein Ernährungsplan entwickelt. Zu empfehlen sind: ● leichte Vollkost nach den Richtlinien der DGE (Deutsche Gesellschaft für Ernährung) ● mehrere kleine Mahlzeiten, evtl. Spätmahlzeit vor dem Schlafengehen ● keine Eliminationsdiät, außer bei bekannten Unverträglichkeiten, z. B. Laktose ● Nahrungsmittel hinsichtlich des erhöhten Bedarfs an Energie und Eiweiß auswählen ● bei Mangelerscheinungen Ergänzung von Mineralstoffen, Spurenelementen und Vitaminen nach ärztlicher Anordnung ● Nährstoffsubstitution bei Bedarf in Form von bilanzierter Trink- und Sondenernährung Diese bilanzierten Trinknahrungen sind heute so konzipiert, dass sie aufgrund ihrer Darreichungsform (z. B. Trinkpäckchen) und vielfältiger Geschmacksrichtungen von den Kindern gut akzeptiert werden. Das Kind sollte immer zum Essen motiviert werden und den Speiseplan mitgestalten können. Bei Kindern wird so lange wie möglich die enterale Ernährung angestrebt. Ist diese nicht mehr möglich, muss eine Magensonde gelegt werden. Die Applikation der Nahrung erfolgt dann mittels einer Ernährungspumpe (z. B. über Nacht). Verschlechtert sich der Zustand des Kindes, kann in der Akutphase eine parenterale Ernährung notwendig werden.

Eltern

a ●

Um den Kindern diese Einschränkung in ihrem Leben zu ersparen, kann die parenterale Ernährung zu Hause durchgeführt werden. Dies geschieht mit Unterstützung eines Ernährungsberatungsteams, das die Eltern und Kinder schult, betreut und berät.

Besonders in der Anfangsphase der parenteralen Ernährung zu Hause stehen ambulante Pflegedienste Eltern und Kind in pflegerischen Fragen zur Seite und werden die in der Klinik erworbenen Pflege-

techniken (Verbandwechsel am zentralen Zugang, steriles Aufbereiten der Infusionslösungen) vertiefen und aufkommende Fragen beantworten. Zusätzlich werden die Kinder engmaschig von einem Gastroenterologen betreut.

Akzeptanz der Medikamenteneinnahme Medikamentös wird in erster Linie die Symptomatik behandelt. Dies führt zum Einsatz von Kortisonpräparaten, Immunsuppressiva und Antibiotika. Belastend für das Kind ist die zeitweise hoch dosierte Kortisontherapie, die das körperliche Erscheinungsbild entscheidend verändert. Es kommt zu Vollmondgesicht, Stammfettsucht und langfristig zu einer Wachstumshemmung. Diese körperliche Veränderung belastet das Kind zusätzlich sehr stark und es empfindet Reaktionen seiner Umwelt als sehr verletzend. Es ist daher wichtig, dem Kind ein positives Körpergefühl zu vermitteln und ihm zu zeigen, dass die temporäre körperliche Veränderung nichts an den Gefühlen zu ihm verändert.

Merke

H ●

Es ist nicht sinnvoll, die deutlichen körperlichen Veränderungen zu verneinen und zu verharmlosen. Eltern, Geschwister und Pflegende würden dadurch an Glaubwürdigkeit verlieren.

Es sollte versucht werden, die vorhandenen Vorzüge mit modischer Kleidung und Frisur hervorzuheben und dem Kind die Hoffnung auf einen begrenzten Zeitraum der äußerlichen Veränderungen in Aussicht zu stellen.

Akzeptanz der Erkrankung Die nicht heilbare Gesundheitsstörung Morbus Crohn ist gekennzeichnet von beschwerdefreien Intervallen und schwer beeinträchtigenden Rezidiven. Das bedeutet, dass immer ein gewisses Krankheitsbewusstsein und die damit verbundenen Ängste vorhanden sind (z. B. vor einer Stomaanlage oder Spätfolgen, wie erhöhtes Karzinomrisiko des Darms). Ziel sollte es sein, dieses Krankheitsbewusstsein in positive Bahnen zu lenken. Wie bereits erwähnt, werden psychische Faktoren bei der Beteiligung der Gesundheitsstörung nicht ausgeschlossen und die damit verbundene Symptomatik ist zusätzlich stark belastend. Daher ist es sinnvoll, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, um zu lernen, mit der Situation umzugehen, die möglichen Ursachen zu erkennen und zu verarbeiten. Ergothe-

rapie kann ein Baustein bei der Bewältigungsstrategie darstellen. Günstig erweist sich eine Familientherapie, um gegenseitiges Verständnis und die Entwicklung von Bewältigungsstrategien zu fördern. Weitere Möglichkeiten zur Stärkung von Selbstbewusstsein und persönlichem Selbstbild können Entspannungstechniken (z. B. autogenes Training) und körperbetonte Sportarten (z. B. Tanzen und Gymnastik) sein. Der Austausch mit Selbsthilfegruppen und Elterninitiativen ist wichtig, um sich über Möglichkeiten der Behandlung und Erfahrung Betroffener zu informieren.

31

31.6 Pflege eines Kindes mit Stomaversorgung 31.6.1 Ursache und Auswirkung Unter einem Darmstoma versteht man die Ausleitung des Dünndarms (Ileostomie) oder des Dickdarms (Kolostomie) an die Hautoberfläche (▶ Abb. 31.3). Eine Stomaanlage ist bei einigen Erkrankungen des Darms unerlässlich, wenn die Darmpassage gestört und eine physiologische Defäkation nicht mehr gewährleistet ist. Die Art des Stomas ergibt sich aus der Lokalisation der Gesundheitsstörung (▶ Tab. 31.3). Die Ileostomie wird meist im rechten Unterbauch angelegt. Bei der Kolostomie werden 3 Formen unterschieden: Zökostomie, Transversostomie und Sigmoidostomie (▶ Abb. 31.4 u. ▶ Tab. 31.4). Die Position eines Stomas wird vor der Operation in Absprache mit dem älteren Kind vom Stomatherapeuten eingezeichnet.

Merke

H ●

Ziel ist es, den optimalen Sitz für das Stoma zu finden und die beste Ausgangssituation für eine unproblematische Versorgung nach der Anlage zu gewährleisten.

Abb. 31.3 Ileostomie. Säugling mit intaktem, gut durchblutetem Darmstoma.

9

Pflege von Kindern mit Verdauungsstörungen ●

Tab. 31.3 Indikationen für die Anlage eines Darmstomas.

31

Kolostomie ● ● ● ● ●

Ileostomie

Entzündungen des Dickdarms Fehlentwicklungen von Darm und Anus Inkontinenz, z. B. nach Trauma Ileus Darmwandperforation

● ● ●

Colitis ulcerosa Morbus Crohn Veränderungen des Dickdarms, z. B. Karzinome

Tab. 31.4 Lokalisation verschiedener Kolostomieformen. Kolostomieform

Charakteristika

Zökostomie

● ●

Transversostomie

● ●





Sigmoidostomie

● ●

Anlage im rechten Unterbauch meist als vorübergehende Maßnahme Lokalisation im rechten oder linken Oberbauch Es gibt 2 Öffnungen, eine kommt vom Dünndarm und fördert Stuhl (oraler Schenkel), die andere führt zu Mastdarm und Anus (aboraler Schenkel). Obwohl die Kontinuität des Darmes unterbrochen ist, kommt es zu Schleimabsonderungen über den Anus. Bei der Transversostomie handelt es sich um eine vorübergehende Maßnahme, bis der Heilungsprozess des erkrankten Darmabschnittes erfolgt ist. Lokalisation im linken Unterbauch Es kann sich um eine endständige Kolostomie handeln, wenn aus therapeutischen Gründen der Schließmuskel entfernt wird.

Transversostomie zuführender Dickdarmschenkel

abführender Dickdarmschenkel

Dickdarm Dünndarm

Zökostomie

Sigmoidostomie

Abb. 31.4 Kolostomieformen. Zökostomie, Transversostomie, Sigmoidostomie.

Bei Neugeborenen wird die Position oft vom Operateur gekennzeichnet. Unmittelbar nach der Operation wird der Stomatherapeut zur Versorgung und Anleitung von Eltern, Kindern und Pflegepersonal hinzugezogen. Ein intaktes Stoma ist gekennzeichnet durch: ● rosiges Aussehen, das auf eine gute Durchblutung hinweist ● intakte Umgebungshaut, keine Nahtinsuffizienz, keine Einschnürungen ● je nach Größe des Kindes deutliches Hinausragen über das Hautniveau

630

31.6.2 Pflegebedarf einschätzen Eine Stomaanlage beeinträchtigt v. a. die Lebensqualitäten „Ausscheiden“, „Sich sauber halten und kleiden“, „Mädchen oder Junge sein“ und „Kommunizieren“. Bei der Stomaversorgung können folgende Pflegeprobleme auftreten: ● gereizte Haut im Stomabereich durch Stuhlkontakt und Beutelversorgung ● Ausscheidung durch Stoma und dadurch veränderte Stuhlkonsistenz ● Scham durch kaum steuerbare Geruchsentwicklung bei der Ausscheidung über das Stoma ● eingeschränkte Bewegungsfreiheit durch die Stomaversorgung ● Akzeptanzprobleme des Stomas ● gestörtes Körperbild durch das Darmstoma

Schwierigkeiten im Umgang mit dem sozialen Umfeld

31.6.3 Pflegeziele und -maßnahmen Die Anlage eines Darmstomas wirft für das betroffene Kind und die Eltern viele Ängste, Unsicherheiten und Probleme auf. Ziel ist es, das Darmstoma gemeinsam mit dem Stomatherapeuten zu versorgen und zu pflegen sowie Eltern und Kind in der selbstständigen Versorgung anzuleiten, um dem Kind ein Leben mit geringstmöglicher Einschränkung zu ermöglichen.

Intakte Haut im Stomabereich – richtiger Umgang mit der Versorgung Kein Stoma gleicht dem anderen. Daher ist die optimale Versorgung, speziell beim Neugeborenen, von der Kreativität und der Bearbeitung der industriell hergestellten Versorgungsmaterialien des Stomatherapeuten und des Pflegepersonals abhängig. Zur Verfügung stehen ein- und zweiteilige Versorgungssysteme, die individuell ausgewählt werden. Das 1-teilige System ist i. d. R. ein sog. Ausstreifbeutel, der an seinem offenen Ende mit einer Klammer geschlossen werden kann. Er hat eine mikroporöse Klebefläche, die hautfreundlich und flüssigkeitsabsorbierend ist. Als zusätzlicher Schutz kann bei Unebenheiten der Stomaumgebung eine die Übergänge ausgleichende Modelliermasse unter das gewählte System appliziert werden. Dieses System wird v. a. bei Säuglingen und kleinen Kindern angewendet, da die Beutel anschmiegsam sind und somit flexibler an die Umgebung angepasst werden können. Das 2-teilige System besteht aus einer Basisplatte mit Rastring und einem Beutel, der aufgesetzt wird. Die Basisplatten sind insgesamt ein wenig starrer und können somit nicht so flexibel den Hautgegebenheiten und den Größenverhältnissen angepasst werden (▶ Abb. 31.5 u. ▶ Abb. 31.6). Dieses System hat den Vorteil, dass die Beutel bei jedem Wechsel komplett entsorgt werden können und der Kontakt mit den Ausscheidungen geringer ist. Auch die Geruchsbelästigung durch das Ausstreifen eines Beutels entfällt. Alle Versorgungssysteme haben eine genormte Öffnung, die für die individuellen Bedürfnisse zurechtgeschnitten werden kann. Die Klebefläche der Beutel und die Hautschutzplatten müssen ebenfalls den Bedürfnissen des Kindes angepasst werden. Für Frühgeborene stehen spezielle Minibeutel zur Verfügung (▶ Abb. 31.7).

31.6 Pflege eines Kindes mit Stomaversorgung

Vorbereitung

Abb. 31.5 2-teiliges System. Zu erkennen ist auch die Hautschutzpaste um die Stomaöffnung. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Abb. 31.6 2-teiliges Versorgungssystem. Basisplatte mit Rastring und passender Ausstreichbeutel. (Foto: T. Stephan, Thieme)

▶ Kind. Wichtig ist es, größere Kinder vor der Maßnahme zu informieren und evtl. zur Mithilfe aufzufordern. Säuglinge werden mit Schnuller und Ansprache während der Versorgung beruhigt. Das kleine Kind liegt unter der Wärmelampe, das große Kind im Bett, dabei ist auf eine zusätzliche Unterlage als Bettschutz zu achten. Der Unterkörper ist so weit wie nötig entkleidet, die Beine sind bedeckt. Es ist auch schon bei kleineren Kindern auf die Intimsphäre zu achten und etwaige Besucher sind während der Versorgung aus dem Zimmer zu bitten. ▶ Material. Sämtliches benötigte Material sollte griffbereit, die Stomaversorgung auf die Bedürfnisse des Stomas zugeschnitten sein: ● für die Reinigung: weiche Baumwollkompressen, Wasser und milde Seife, ggf. Einmalrasierer ● für die Versorgung: neuer Beutel, Schablone zum Ausschneiden der Öffnung, Schere, Hautschutzplatte, evtl. Hautschutzspray und Modellierstreifen zum Ausgleichen von Hautunebenheiten und als zusätzliche Haftverstärkung, Schutzkittel, Einmalhandschuhe, Abwurfbehältnis

Durchführung Bei der gesamten Durchführung berücksichtigt die Pflegefachkraft die hygienische Händedesinfektion und das Tragen von Schutzhandschuhen zur Vermeidung von Schmierinfektionen und zum Eigenschutz der Pflegefachkraft. Dem Kind wird der Grund des Tragens von Handschuhen erklärt. Die alte Stomaversorgung wird vorsichtig abgezogen, wobei die Haut mit einer Hand leicht gespannt wird, um einen Gegenzug zu erzielen. Abb. 31.7 Beutelversorgung für Frühgeborene. Anschmiegsamer, flexibler Minibeutel (einteiliges System). (Foto: Thieme Archivbild)

Merke

● H

Ziel der Stomaversorgung ist die Erhaltung der intakten Haut in der Stomaumgebung, deshalb muss das Stoma konsequent und sorgfältig entsprechend der Herstellerempfehlung und des aktuellen Versorgungsstandards gepflegt werden. Eltern und Kind werden schrittweise darin angeleitet.

Praxistipp Pflege

Z ●

Benzinhaltige Pflasterlöser sind nicht geeignet. Sie reizen und trocknen die Haut aus, außerdem schädigen sie die Hautstruktur.

Ist das Versorgungssystem abgelöst und verworfen, wird die Umgebungshaut von außen in Richtung Stoma kreisförmig mit feuchten Kompressen und Seife gereinigt. Mit klarem Wasser werden dann die Seifenrückstände entfernt und die Haut anschließend mit weichen Kompressen trocken getupft. Waschlappen und Schwämme sind für die hygienische Reinigung ungeeignet, sie können Keim- und Pilz-

wachstum begünstigen. Bei Jugendlichen mit starker Körperbehaarung muss die Umgebungshaut des Stomas regelmäßig rasiert werden, um eine schmerzfreie Ablösung der Stomaversorgung zu gewährleisten und ein Einwachsen und Entzünden der Haarwurzeln zu verhindern. Auf die gereinigte und trockene Haut wird die zugeschnittene Hautschutzplatte oder der Beutel unter Aussparung des Stomas angelegt und sanft aufgedrückt. Dabei wird darauf geachtet, dass das Stoma nicht eingeschnürt wird, die umgebende Haut jedoch komplett abgedeckt ist. Zur Verstärkung der Haftfähigkeit empfiehlt es sich, die Versorgung rund um das Stoma punktförmig anzudrücken. Die optimale Haftfähigkeit entwickelt sich unter sanftem Druck und Körperwärme. Bei zweiteiligen Systemen wird anschließend der Beutel angebracht.

31

▶ Häufigkeit des Wechsels. Bei intakter Haut wird das komplette Versorgungssystem alle 2 Tage erneuert, bei schlechter Haftung durch sehr flüssigen Stuhl und stark gereizter Haut bei Bedarf öfter. Je nach System wird der Beutel in regelmäßigen Abständen geleert oder gewechselt. Bei Säuglingen alle 4 – 6 Stunden, bei größeren Kindern nach Stuhlabgang. Beim Wechsel des Ausstreifbeutels ist darauf zu achten, dass die Auslassöffnung nach unten oder zur Seite, aber niemals nach oben zeigt, um ein problemloses Entleeren zu gewährleisten. Bei Säuglingen ist nach der Entleerung auf eine druckfreie Lagerung der Klemme zu achten. Die beste Beutelausrichtung muss individuell auf die Gegebenheiten abgestimmt werden.

Praxistipp Pflege

Z ●

Bei einer gut haftenden Stomaversorgung kann das Kind baden oder duschen, ohne die Funktion und die Geschlossenheit des Systems zu gefährden.

Komplikationen Durch Minderdurchblutung der Haut, Pilzbefall und aggressiven Stuhl kann es zu Hautmazerationen bis hin zu tiefen Hautläsionen kommen (▶ Abb. 31.8). Nach Rücksprache mit dem Stomatherapeuten wird dann eine andere Versorgungsform gewählt. Bei folgenden Veränderungen des Stomas ist der Arzt zu informieren: ● Verengung des Stomas ● Zurückweichen des Stomas unter Hautniveau

1

Pflege von Kindern mit Verdauungsstörungen

Dokumentation

31

Besonderheiten des Zustandes der Hautbeschaffenheit, der Stomaumgebung und des Stomas (z. B. Farbe, Blutung, Läsionen) werden dokumentiert.

Gute Nahrungsverträglichkeit Abb. 31.8 Hautreizung. Gereizte Umgebungshaut bei Darmstoma. (Foto: Thieme Archivbild)







Blau- oder Schwarzfärbung der Stomaschleimhaut (Minderdurchblutung, Nekrosegefahr) Stomaprolaps (das Stoma wölbt sich weit über das Hautniveau hinaus) unstillbare Blutung

Bei der Reinigung kann es zu einer leichten Schleimhautblutung kommen, diese ist nicht besorgniserregend. Neigt das Kind zu starken Blähungen, empfiehlt sich der Einsatz eines Kohlefilters, der auf den Beutel geklebt wird. Der Beutel muss ggf. in kurzen Abständen entlüftet werden. Um die Geruchsbelästigung im Rahmen zu halten, können Deodoranzien in Form von Pulver, Tabletten oder Tropfen in den Beutel gegeben werden. Beutelüberzüge aus Vlies oder Baumwolle sind hautfreundlich und haben einen nicht zu unterschätzenden ästhetischen Effekt.

Nachsorge Das Kind wird wieder bekleidet bzw. zieht sich selbst an. Der Abfall wird entsorgt, die Arbeitsfläche gründlich desinfiziert, der Raum gelüftet und die Materialien aufgeräumt.

632

Speziell beim Ileostoma ist der Stuhl besonders dünnflüssig, da die Resorptionsfläche des Dickdarms entfällt. Eine spezielle Diät muss, sofern die Grunderkrankung es nicht fordert, nicht eingehalten werden. Für Kinder und Eltern ist es wichtig, die Verträglichkeit der verschiedenen Nahrungsmittel zu kennen und auszuprobieren, um daraufhin den Speiseplan abzustimmen. Folgende Maßnahmen helfen, die Nahrungsverträglichkeit positiv zu beeinflussen: ● häufig kleine Mahlzeiten ● Abendmahlzeit nicht zu spät einnehmen ● ausreichende Flüssigkeitszufuhr ● sorgfältiges Kauen, um eine Stomablockade durch unverdaute Nahrungsbestandteile zu vermeiden (z. B. Pilze, Nüsse, Spargel und Bohnen) ● keine blähenden Nahrungsmittel

Gute Bewegungsmöglichkeiten Als Säugling erlebt das Kind keine Einschränkung in seiner Beweglichkeit. Alle Positionen sind möglich, selbst die Bauchlage wird meist gut toleriert. Beginnt das Kind auf dem Bauch zu robben, kann es sein, dass das bisher bevorzugte System in Rücksprache mit dem Stomatherapeuten geändert werden muss, um eine Ablösung der Stomaversorgung zu vermeiden. Beim größeren Kind gibt es kaum Gründe für eine Einschränkung in der Beweglichkeit. Besteht Unsicherheit bezüglich der Haftung des Beutels, kann ein Gürtel zusätzlichen Halt geben. Das Kind kann nahezu jede Sportart ausüben, sollte jedoch Disziplinen, die besonders die Bauchmuskulatur beanspruchen, meiden, um eine Hernie oder einen Stomaprolaps

zu vermeiden. Mithilfe von Minibeuteln oder Stomakappen, die das Stoma für kurze Zeit abdichten, kann das Kind auch schwimmen. Die Platte haftet auch im Wasser fest auf der Haut. Bei Ileostomien ist das Tragen von Stomakappen aufgrund des ständig auftretenden, dünnflüssigen Stuhlgangs nicht immer möglich.

Akzeptanz des Darmstomas Die Anlage eines Stomas verändert das Körperbild eines Menschen. Es stellt die zumeist mit Scham besetzte körperliche Ausscheidung in den Mittelpunkt und zwingt Kind und Eltern zur täglichen Auseinandersetzung damit. Wächst ein Kind mit einer Stomaversorgung auf, weil eine Zurückverlagerung des Darmstomas nicht möglich ist, erlebt es diese Art der Ausscheidung für sich als selbstverständlich und hat weniger Probleme als Kinder, die erst später ein Stoma benötigen. Ein älteres Schulkind oder Jugendlicher erlebt diese Therapiemaßnahme oft als Katastrophe. Es ekelt sich vor sich selbst und seinen unkontrollierten Ausscheidungen und glaubt, auch die Mitmenschen müssen Ekel und Abscheu empfinden. Hierbei ist es wichtig, mit dem Kind alle Möglichkeiten der Stomaversorgung zu besprechen, es intensiv anzuleiten, um ihm zu zeigen, wie diskret die Stomaversorgung heute sein kann. Es sollte dem älteren Kind selbst überlassen sein, wen es über sein Darmstoma informieren möchte. Die Familie sollte versuchen, die Ausscheidungsform des Kindes nicht in den Vordergrund zu stellen und kränkende Bemerkungen vermeiden. Besonders in der Pubertät, wenn Sexualität, Partnerschaft und Berufswahl thematisiert werden, ist es wichtig, als Eltern immer gesprächsbereit für die Bedürfnisse des Kindes zu sein. Kontakte zu Selbsthilfegruppen und die engmaschige Betreuung durch den Stomatherapeuten unterstützen Kind und Eltern in der Bewältigung dieser besonderen Situation.

Kapitel 32 Pflege von Kindern mit Störungen des Stoffwechsels und des endokrinen Systems

32.1

Bedeutung

634

32.2

Pflege eines Kindes mit Diabetes mellitus

634

32.3

Pflege eines Kindes mit Phenylketonurie 644

Pflege von Kindern mit Stoffwechselstörungen

32 Pflege von Kindern mit Störungen des Stoffwechsels und des endokrinen Systems 32.1 Bedeutung 32

Mechthild Hoehl Erkrankungen des Stoffwechsels sind Störungen, bei denen die Umwandlung von aufgenommenen Nährstoffen durch das Fehlen von Enzymen oder Hormonen nicht oder nur teilweise möglich ist. Dies führt zur Anhäufung der nicht umgewandelten Substanz und zum Fehlen des Umbauprodukts. Stoffwechselstörungen kommen als angeborene oder erworbene Störungen des Kohlenhydrat-, Eiweiß-, Fett- oder Mineralstoffwechsels vor. Einige angeborene Stoffwechselstörungen werden im Neugeborenenscreening erfasst (S. 486).

Merke

H ●

Manche erworbenen Stoffwechselstörungen sind die Folge einer Fehlernährung. Viele ernährungsbedingte Stoffwechselstörungen die man früher nur im Erwachsenenalter sah, wie ernährungsabhängige Hypercholesterinämie oder Erwachsenendiabetes, werden immer häufiger bei Kindern und Jugendlichen diagnostiziert. Eine präventive Ernährungsaufklärung in Kliniken, Arztpraxen, Kindergärten, Schulen und Bildungsstätten ist auch ein Arbeitsfeld für Pflegefachkräfte.

Bei einigen Stoffwechselstörungen ist eine Behandlung durch diätetische Maßnahmen und/oder durch Zugabe des fehlenden Enzyms bzw. Hormons möglich. In diesen Fällen sind die Akzeptanz der chronischen Erkrankung und der konsequente selbstständige Umgang mit der Therapie eine notwendige Voraussetzung für eine möglichst geringe Beeinträchtigung aller Lebensaktivitäten. Ist die Stoffwechselstörung nicht behandelbar, resultieren daraus schwerwiegende Folgen für die psychomentale oder körperliche Gesamtentwicklung des Kindes. Endokrinologische Erkrankungen sind Störungen des Hormonhaushalts, die mit einer Über- oder Unterfunktion der hormonbildenden Drüsen einhergehen. Diese Störungen können angeboren oder aufgrund bösartiger oder autoimmunologischer Prozesse erworben sein. Die Auswirkungen der Störungen sind abhängig von der Funktion der beeinflussten Hormone.

634

Es ist eine Vielzahl unterschiedlicher Störungen des Stoffwechsels und des endokrinen Systems bekannt, die mehr oder weniger gut erforscht und behandelbar sind und an dieser Stelle nicht alle beschrieben werden können. Daher ist hier eine exemplarische Betrachtung der Pflege von Kindern mit Diabetes mellitus und mit Phenylketonurie ausgewählt worden. Für die pflegerische Betreuung von Kindern, deren Störungen seltener sind und daher hier nicht näher ausgeführt werden können, ist es sinnvoll, Informationsmaterial über Selbsthilfegruppen und Fachabteilungen anzufordern.

32.2 Pflege eines Kindes mit Diabetes mellitus

produziert noch Insulin, dieses kann jedoch am Zielort der Zelle nicht richtig wirken (Insulinresistenz). Der Typ-2-Diabetes wird immer häufiger auch bei jüngeren Menschen – bereits im Kindes- und Jugendalter – diagnostiziert. Als Hauptursache wird das zunehmend zu beobachtende Übergewicht bzw. eine Adipositas bei Kindern und Jugendlichen angesehen. Therapeutisch kann durch Gewichtsreduktion, Bewegung und ausgewogene Ernährung eine erhöhte Insulin-Aufnahmefähigkeit der Körperzellen erreicht werden. Reicht dies nicht aus, wird durch eine medikamentöse Therapie mit oralen Antidiabetika eine Senkung des Blutzuckerspiegels angestrebt, indem z. B. der Kohlenhydratabbau im Darm gehemmt bzw. die Freisetzung von Insulin stimuliert wird.

Diana Nowak

32.2.1 Ursache und Auswirkung Bei Diabetes mellitus produzieren die Betazellen der Langerhans-Inseln des Pankreas kein oder zu wenig Insulin, bzw. die Wirkung des Insulins ist vermindert. Das Hormon Insulin ist notwendig, damit die Körperzellen Glukose aufnehmen und speichern können. Ein Mensch mit Diabetes mellitus hat einen absoluten oder relativen Insulinmangel. Daraus resultiert eine Störung der Metabolisierung von Kohlenhydraten, aber auch von Fetten und Eiweißen. Unbehandelt steigt der Blutzuckerspiegel stetig an und führt zu einer chronischen Hyperglykämie. Langfristig können die anhaltend hohen Blutzuckerwerte Spätschäden auslösen. Die WHO teilt die Erkrankung Diabetes mellitus je nach Ursache in folgende Typen ein: ▶ Typ-1-Diabetes. Der Typ-1-Diabetes wurde früher juveniler Diabetes mellitus genannt. Es besteht aufgrund meist autoimmunologisch bedingter Schädigung der insulinproduzierenden Zellen des Pankreas ein absoluter Insulinmangel, d. h., dem Körper muss Insulin zugeführt werden. Es sind hauptsächlich Kinder und Jugendliche betroffen. Es wird der Typ 1 a (immunologisch vermittelte Form) vom Typ 1 b (idiopathische Form) unterschieden. ▶ Typ-2-Diabetes. Diese Diabetesform wurde früher Alters- oder Erwachsenendiabetes genannt, da er meist in höherem Lebensalter auftritt. Es besteht ein relativer Insulinmangel, d. h., der Körper

▶ Weitere Einteilungen. Andere spezifische Typen werden in der 3. Klassifikation von 3A bis 3 H unterschieden. Bei Kindern und Jugendlichen ist besonders 3A von Bedeutung, bei dem genetische Defekte der Betazellfunktion als Ursache für die Erkrankung festzustellen sind, der sog. MODY (maturity onset diabetes of the young). Des Weiteren sind die Klassifizierung eines genetisch bedingten neonatalen Diabetes mellitus (NDM) und die durch Pankreaserkrankungen z. B. Mukoviszidose auftretenden Diabetes mellitus zu nennen. Zusätzlich ist noch der Gestationsdiabetes definiert, der während der Schwangerschaft auftritt. Im Folgenden wird auf den insulinpflichtigen Typ-1-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen eingegangen. Veränderungen durch das Auftreten der Erkrankung entwickeln sich meist langsam. Sie können das Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen in sehr unterschiedlichem Maße beeinflussen.

Symptome Einen Hinweis auf das Vorliegen eines Diabetes mellitus geben: ● häufiges Wasserlassen (Polyurie), evtl. Wiederauftreten von Bettnässen ● gesteigertes Durstempfinden (Polydipsie) ● körperliche Schwäche, Müdigkeit ● Verhaltensänderungen (Konzentrationsschwäche, Stimmungsschwankungen) ● Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen ● Kopfschmerzen ● Gewichtsverlust und Exsikkose

32.2 Pflege eines Kindes mit Diabetes mellitus ●



trockene Haut und Schleimhäute, Juckreiz (Pruritus) Azetongeruch der Atemluft (obstartiger Geruch) ●

Folgeschäden Sie entstehen durch anhaltend hohe Blutzuckerwerte. Kleine Blutgefäße werden hierbei durch die ständig erhöhten Blutzuckerwerte geschädigt. Das Körpergewebe kann nicht mehr optimal ernährt werden. Diabetische Gefäßschäden werden in diabetische Mikroangiopathie und Makroangiopathie unterteilt. Zu den Mikroangiopathien gehören u. a. Retinopathie, Nephropathie und Neuropathie. Infolgedessen kann es somit z. B. zu Beeinträchtigungen im Sehen bis hin zur Erblindung, zu Nierenfunktionsstörungen mit der Notwendigkeit einer Dialyse und Taubheitsgefühlen mit Schmerzen in den Extremitäten kommen. Bei der Makroangiopathie sind vorwiegend Zerebral- und Koronargefäße betroffen, was zum Apoplex oder Myokardinfarkt führen kann.

32.2.2 Pflegebedarf einschätzen Diabetes mellitus ist eine chronische Erkrankung, die das ganze Leben lang bestehen bleibt. Für das Kind und seine Familie ist es oft eine Herausforderung, die Situationsveränderungen zu verarbeiten. Die Kinder können sich jedoch genau wie andere Kinder verhalten und entwickeln, wenn sie einige Aspekte in ihrem Tagesablauf berücksichtigen. Es gibt Kinder und Familien, die die täglichen Insulininjektionen, Blutzuckerkontrollen und Berechnungen der Kohlenhydrateinheiten als unangenehm und einschränkend empfinden. Das kann dazu führen, dass sich die Kinder anders als Gleichaltrige fühlen, evtl. sogar isoliert, ausgegrenzt oder minderwertig. Mögliche Pflegeprobleme können sein: ● Gefahr von akuten Stoffwechselentgleisungen in Form einer Hypoglykämie aufgrund fehlerhafter Berechnung der Kohlenhydrateinheiten (zu wenige Kohlenhydrate gegessen) oder des Insulinbedarfes (zu viel Insulin verabreicht) ● Gefahr einer Hyperglykämie mit der Folge einer Ketoazidose aufgrund fehlender bzw. unzureichender Insulingabe ● Blutzuckerschwankungen durch Infektionen, Stress, Wachstum, hormonelle Reifung und Pubertät ● Angst vor den täglichen Insulininjektionen aufgrund Unsicherheiten im Umgang mit dem Insulinpen ● eingeschränkte Compliance bzw. Adhärenz da z. B. die Blutzuckerkontrollen



oder die Berechnung der Nahrung als lästig empfunden werden und das Verständnis für die zu beachtenden Maßnahmen fehlen kann Unzufriedenheit mit der aktuellen Lebenssituation und Nichtakzeptanz der Erkrankung (dadurch z. B. Aggressionen gegen sich selbst und andere) Angst vor Folgeerkrankungen und Komplikationen, wie z. B. Durchblutungsstörungen durch Angiopathien

32.2.3 Pflegeziele und -maßnahmen

32

Abb. 32.1 Diabetikerschulung. Vermittlung von Ernährungsempfehlungen bei der Zusammenstellung einer Mahlzeit. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Akzeptanz der Lebenssituation Die Erhebung von Bedürfnissen und Gewohnheiten des Kindes ist bereits bei der Aufnahme des Kindes in das Krankenhaus wichtig, um diese im Behandlungsplan und der Schulung berücksichtigen zu können. Die speziellen Schulungen für Kinder und Jugendliche werden i. d. R. von Diabetesberatern in der Klinik übernommen. ▶ Ziel der Diabetikerschulung. Das Kind lernt, mit der neuen Situation selbstständig zurechtzukommen. Je nach Alter und persönlicher Lebenssituation soll es – zusammen mit seinen Eltern – folgende Ziele erreichen: ● Mahlzeiten berechnen und zusammenstellen ● Insulintherapie verstehen und Insulininjektion durchführen ● Urin- und Blutzucker kontrollieren und interpretieren ● Komplikationen verhüten, erkennen und um Spätfolgen und deren Prävention wissen ● Verhalten in besonderen Situationen erlernen (z. B. Hypoglykämie, Infekt) ● Diabetikertagebuch führen ● Zusammenhänge zwischen der Erkrankung und bestimmten Reaktionen im Körper verstehen

Durchführung der Diabetikerschulung In der Diabetikerschulung (▶ Abb. 32.1) werden das Kind und seine Familie im Umgang mit der veränderten Lebenssituation begleitet. Die Dauer der Schulung beträgt 5–10 Tage und enthält sowohl theoretische als auch praktische Inhalte. Es sollte hierfür ein ruhiger Raum gewählt werden, um während der Anleitung nicht gestört zu werden. Sinnvoll ist es, wenn das Kind schon in der Schulung lernt, mit den eigenen Geräten, die es auch später verwendet, umzugehen. Ein persönlicher Behandlungsplan und Ziele werden festgelegt. Je nach Alter und persönlichen Vo-

raussetzungen des Kindes wird auch die Form der Erklärung gewählt. Kleineren Kindern werden spielerisch und abwechslungsreich Informationen gegeben. Hierbei werden alle Sinne angesprochen, um das Verständnis zu erhöhen. Auch der zeitliche Rahmen der Unterweisung sollte je nach Alter begrenzt sein, um Kinder und Eltern nicht zu überfordern. Hilfreich können hier Bilderbücher mit Abbildungen z. B. über das Insulinspritzen sein. Die psychische Unterstützung des Kindes und der Eltern ist ebenfalls notwendig. Der Austausch mit anderen Betroffenen in Selbsthilfegruppen kann helfen, die neue Situation besser zu akzeptieren. Eine Schulung zusammen mit Gleichaltrigen oder die Unterstützung durch Computerprogramme kann die Motivation besonders von älteren Kindern steigern.

Merke

H ●

Ein Diabetiker kann sein Leben unabhängig führen, wenn er sich das fehlende Insulin zuführt. Das Kind soll seine Lebensgewohnheiten und Bedürfnisse auch weiterhin beibehalten können! Durch „Hilfe zur Selbsthilfe“ soll es lernen, seinen Alltag mit seiner Gesundheitsstörung zunehmend selbstständig zu bewältigen.

Weitere Ziele der Diabetesbehandlung sind: ● normale stabile Blutzuckerwerte ● eine altersentsprechende Entwicklung ● Prävention von Folgeschäden ● Stärkung des Selbstbewusstseins des Kindes und seiner Familie ● Bewältigung der veränderten Lebenssituation

5

Pflege von Kindern mit Stoffwechselstörungen

Tab. 32.1 Ursachen, Symptome und Sofortmaßnahmen bei Hyper- und Hypoglykämie. Hyperglykämie (Überzuckerung) Ursachen

● ●

32

● ●

Symptome

● ● ● ● ● ● ● ●

Hypoglykämie (Unterzuckerung)

zu wenig Insulin zu viele BE/KE gegessen oder Nahrung falsch berechnet Infektion, Fieber psychischer Stress



gesteigertes Durstgefühl vermehrtes Wasserlassen Glukose und Azeton im Urin Schwächeanfälle Bauch- oder Unterleibsschmerzen allgemeines Unwohlsein Appetitverlust, Übelkeit und Erbrechen beschleunigtes, vertieftes Atmen = Azidoseatmung (Atem hat Azetongeruch)



● ● ●

● ● ● ● ● ● ● ● ●

Komagefahr als Komplikation bei anhaltender Hyperglykämie! (Coma diabeticum) Sofortmaßnahmen





Flüssigkeit ohne Zucker geben (wenn der Patient noch schlucken kann und ansprechbar ist) Insulingabe

körperliche Belastung zu wenig gegessen zu viel Insulin gespritzt Mahlzeiten bezogen auf Spritz-Ess-Abstand zu spät eingenommen Blässe Schweißausbruch Unruhe Hunger Bauchschmerzen Sprachstörungen Zittern, Gereiztheit, Aggressivität Ohnmachtsgefühl Herzklopfen Sehbeeinträchtigung

Schockgefahr! (hypoglykämisches Koma) ●



wenn das Kind noch schlucken kann, soll es schnellresorbierbare Kohlenhydrate zu sich nehmen Gabe von Glukagon (setzt aus Glykogen Glukose frei), i. m. oder s. c., Arzt informieren

Merke: Besteht Zweifel, ob eine Hyper- oder Hypoglykämie vorliegt, wird immer Glukose gegeben, da ein Mangel an Glukose akut bedrohlicher ist.

Stabilisierung des Stoffwechsels Insulin, Ernährung, Bewegung und Psyche haben Einfluss auf die Stoffwechsellage des Kindes mit einem insulinpflichtigen Diabetes mellitus. Insulin und Bewegung senken den Blutzuckerspiegel. Kohlenhydrathaltige Nahrung liefert dem Organismus Glukose und lässt somit den Blutzuckerspiegel ansteigen. Durch Stress und Aufregung kann sich der Blutzuckerspiegel ebenfalls erhöhen, da eine Adrenalinausschüttung die Mobilisierung der Glykogenreserven in der Leber bewirkt. Hier wirken sich die psychischen Faktoren direkt aus. Indirekt zeigt sich der psychische Einfluss auch darin, inwieweit das Kind die Therapiebestandteile (Insulin, Ernährung, Bewegung) akzeptiert und beachtet (▶ Abb. 32.2). Man spricht in diesem Zusammenhang von Compliance bzw. Adhärenz.

Störung des Stoffwechsels Es gibt verschiedene Gründe, die bei einem Kind mit Diabetes mellitus zu einer akuten Störung des Stoffwechsels führen können: ● Erstmanifestation, d. h. das erste Auftreten der Erkrankung ● starker Durchfall oder Erbrechen ● fehlende Nahrungsaufnahme ● Infektionen, Stress ● Fehler in der Kohlenhydratberechnung ● Fehler in der Insulinapplikation

636

Eine Stoffwechselentgleisung kann sich in Form einer Hyper- oder Hypoglykämie entwickeln (▶ Tab. 32.1). Eine Aufnahme in ein Krankenhaus ist bei Komagefahr notwendig. ▶ Hyperglykämie. Zur Regulation einer Hyperglykämie sind zusätzliche subkutane Insulingaben und die Gabe von Flüssigkeit ggf. auch intravenös notwendig. Bei einer anhaltenden Hyperglykämie kann es zu einer lebensbedrohlichen diabetischen Ketoazidose kommen. Der Organismus versucht dabei den Glukosemangel in den Zellen durch die Gewinnung von Glukose aus dem vermehrten Abbau von Körperfettreserven zu kompensieren. Bei diesem Vorgang entstehen Ketonkörper, die zu einer stoffwechselbedingten Übersäuerung des Blutes (metabolische Azidose) führen. Die Niere scheidet dann aufgrund des erhöhten Blutzuckerspiegels vermehrt Harn aus. Hierdurch kommt es zu Flüssigkeits- und Elektrolytverlusten mit der Folge einer Dehydratation. Zur Beseitigung einer ausgeprägten Hyperglykämie, der Azidose und zum Ausgleich des Elektrolythaushalts werden dem Kind umgehend intravenös Normalinsulin, Elektrolyte und Flüssigkeit über eine Infusion nach ärztlicher Anordnung gegeben. Gleichzeitig werden im Blut die Glukose-, Säure-/Basen- und Elektrolytwerte kontrolliert sowie im Urin der Nachweis von Glukose und Azeton vorgenommen. Insbesondere der Kaliumspiegel im Blut ist zu beachten, da es zu einer Hypokaliämie, mit der Notwendigkeit

Stoffwechsellage

Psyche

Ernährung

Insulin

Bewegung

Abb. 32.2 Stoffwechsellage. Die Stoffwechsellage kann sich durch verschiedene Faktoren verändern.

einer Kaliumsubstitution, kommen kann. Durch die einsetzende Insulinwirkung und die damit bewirkte Aufnahme von Glukose in die Zelle kommt es auch zu einer Kaliumverschiebung vom Blut in die Zelle. Die Regulation des Blutzuckerspiegels und der Ausgleich des Flüssigkeitund Elektrolythaushaltes erfolgen langsam, um Therapiekomplikationen wie z. B. eine Hypoglykämie oder ein Hirnödem zu vermeiden. Zur Überwachung sind regelmäßige Kontrollen von ● Puls, ● Atmung, ● Bewusstsein,

32.2 Pflege eines Kindes mit Diabetes mellitus ● ● ● ●

Temperatur, Blutdruck, Blutzucker und Urinausscheidung

durchzuführen. Bei sehr schlechtem Allgemeinzustand erfolgen zusätzlich eine Monitorüberwachung und Flüssigkeitsbilanzierung. Nach Stabilisierung der Stoffwechsellage kann das Kind wieder Nahrung zu sich nehmen und die Insulintherapie erfolgt subkutan. ▶ Hypoglykämie. Bei einer Hypoglykämie wird dem Kind die fehlende Glukose zugeführt. Ist es ansprechbar und kann noch schlucken, bekommt es Traubenzucker oder andere schnell wirkende Kohlenhydrate oral verabreicht. Bei Bewusstlosigkeit muss Glukose intravenös zugeführt werden. Weiterhin kann Glukagon i. m. oder subkutan appliziert werden. Dies bewirkt die schnelle Freisetzung von Glukose aus Glykogen.

32

Abb. 32.3 Blutzuckerschnelltest. a Stechhilfen ermöglichen eine schmerzarme Blutgewinnung, (Foto: P. Blåfield, Thieme) b Bluttropfen wird an den Teststreifen gehalten. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Merke

H ●

Das Hautdesinfektionsmittel muss getrocknet sein, deshalb Einwirkzeit beachten. Der erste Bluttropfen wird abgewischt, damit es nicht zu verfälschten Messwerten aufgrund von Desinfektionsmittelresten kommen kann.

Kontrolle der Stoffwechsellage Zur Kontrolle der Stoffwechsellage muss regelmäßig Blutzucker, ggf. auch Glukose und Azeton im Urin bestimmt werden.

Regelmäßige Blutzuckerkontrollen Sie ermöglichen dem Diabetiker, seine momentane Stoffwechsellage, d. h. seinen Blutzuckerspiegel zu erfassen. Somit kann auch die notwendige Menge des Insulins besser bestimmt werden. Bei der kapillären Blutzuckerbestimmung mit einem Blutzuckermessgerät ist Folgendes besonders zu beachten: ● Generell muss die Gebrauchsanweisung des Herstellers befolgt werden, um eine genaue Blutzuckerbestimmung zu erhalten. ● Teststreifen müssen auf das Blutzuckermessgerät abgestimmt werden (Kodierung). ● Die Hautdesinfektion ist in der Klinik aufgrund der vorhandenen Krankenhauskeime notwendig, im häuslichen Bereich genügt das Waschen der Hände. ● Spezielle Stechhilfen mit unterschiedlich wählbaren Einstichtiefen erleichtern die Gewinnung von kapillärem Blut. Je dünner die Lanzette, desto geringer ist die Gewebeverletzung. ● Zur Bestimmung des Wertes wird der Teststreifen in das Gerät gegeben. ● Die meisten Geräte ermöglichen die direkte Aufnahme des Blutes durch sog. saugaktive Sensor-Teststreifen. Bei dieser Messmethode werden nur winzige Blutmengen von ca. 1 – 2 μl benötigt. Der Messvorgang wird dann automatisch gestartet (▶ Abb. 32.3).

Neben der konventionellen Blutzuckerbestimmung gibt es weitere Verfahren, den Glukosewert zu ermitteln. So kann bei der kontinuierlichen Glukosemessung (CGM) über einen Sensor im subkutanen Fettgewebe z. B. an der Rückseite des Oberarms in kurzen ca. 1–5-minütlichen Abständen der aktuelle Gewebeglukosewert ermittelt werden. Der Wert kann dann an ein dazugehöriges Lesegerät oder an eine Insulinpumpe übermittelt und abgelesen werden (▶ Abb. 32.4). Zusätzlich kann bei Hypoglykämien durch eine Alarmfunktion am Gerät gewarnt werden. Diese Art der Stoffwechselkontrolle wird in der sensorunterstützten Insulintherapie (SuT) eingesetzt. Bei der sensorunterstützten Insulinpumpentherapie (SuP) wird demnach die Insulingabe über die Insulinpumpentherapie (CSII) mit der CGM kombiniert. Dies kann das Management der Insulintherapie vereinfachen. Bei kleinen Kindern kann jedoch der bis zu 14 Tage liegende Sensor bei einer CGM als störend empfunden werden.

Urinuntersuchung Das Kind kann im Urin feststellen, ob Glukose ausgeschieden wird. Dies ist der Fall, wenn die sog. Nierenschwelle überschritten wird: Steigt der Blutzuckerspiegel über 160 mg/dl an, kann die Niere den Zucker nicht mehr aus dem Primärharn zurückgewinnen. Die Folge ist, dass Glukose im Urin ausgeschieden wird. Des Weiteren bindet der Zucker auf osmotischem Wege Wasser, sodass auch die Menge des Urins zunimmt. Der Harnzucker kann mittels Teststreifen anhand einer Farbskala

Abb. 32.4 Glukosesensor. Die über den Sensor ermittelten Gewebeglukosewerte können an einem speziellen Messgerät abgelesen werden (Symbolbild). (Foto: b4producer – stock.adobe.com)

bestimmt werden. Bei der quantitativen Bestimmung wird die Glukosemenge, die während einer Zeitperiode ausgeschieden wird, erfasst. Hierzu ist es notwendig, den Urin über 6–8 Stunden zu sammeln. Wichtig ist weiterhin die Kontrolle von Azeton im Urin, die auch mittels Teststreifen durchgeführt wird. Normalerweise befindet sich im Urin kein Azeton. Azeton wird bei Glukosemangel in den Zellen und dadurch bedingtem Fettabbau zur Energiegewinnung ausgeschieden. Dies ist bei Insulinmangel der Fall, da die Glukose nicht in die Zelle transportiert werden kann. Daneben gibt es noch weitere Ursachen für das Auftreten von Glukosemangel und damit den Nachweis von Azeton im Urin, z. B. bei lang andauerndem Erbrechen. Liegt ein Insulinmangel vor, wird Insulin appliziert, um den Glukosemangel in den Zellen zu beheben.

Selbstständige Insulininjektion Ein Kind mit Typ-1-Diabetes muss sich Insulin zuführen. Um ein möglichst unabhängiges Leben zu führen, sollte es in der Lage sein, sich dieses selbst zu verabreichen. Hierzu ist es notwendig, dass es zunächst einmal Kenntnisse über die Wirkung des Insulins im Körper erhält. Weiterhin wird es über Insulinarten und de-

7

Pflege von Kindern mit Stoffwechselstörungen

32

ren Wirkung, Formen der Insulintherapie, Umgang mit Insulin und die Technik des Insulinspritzens (S. 640) bzw. den Umgang mit der Insulinpumpe informiert. Auch der Zusammenhang zwischen Blutzuckerwert, Nahrungsaufnahme, Bewegung und Insulinmenge wird erklärt.

ist. Die Insulindosis wird den aktuell gemessenen Blutzuckerwerten und den geplanten Mahlzeiten angepasst. Sport und längeres Ausschlafen können hierdurch besser berücksichtigt werden. Durch die ICT ist eine flexiblere Gestaltung des Alltags möglich.

Formen der Insulintherapie

▶ Insulinpumpentherapie. Die Insulinpumpentherapie wird auch als kontinuierliche subkutane Insulininjektion (CSII) bezeichnet. Über eine spezielle Infusionspumpe werden kontinuierlich in das Unterhautfettgewebe der Bauchhaut Normalinsulin oder kurzwirksame Insulinanaloga verabreicht. Zu den Mahlzeiten kann dann bei Bedarf zusätzlich Insulin über die Insulinpumpe als Bolus verabreicht werden (▶ Abb. 32.5). Zurzeit werden sog. „closed-loop“-Systeme entwickelt, die eine an die aktuelle Stoffwechsellage angepasste automatische Insulinabgabe ermöglichen sollen. Hiermit könnte die Insulintherapie noch individueller auf die jeweilige Situation angepasst werden.

Insulin wird subkutan appliziert. Eine orale Gabe ist nicht möglich, da Insulin ein Hormon ist, das aus Eiweiß besteht. Es würde durch die Magensäure denaturieren und somit nicht bzw. zu kurz wirken. Damit das Kind und seine Eltern mitbestimmen können, welche Insulintherapie für sie die angenehmere und praktikablere ist, werden sie über die verschiedenen Formen informiert. Es wird zwischen konventioneller und intensivierter Insulintherapie unterschieden. Die intensivierte Insulintherapie kann in einer intensivierten konventionellen Insulintherapie oder einer Insulinpumpentherapie erfolgen. ▶ Konventionelle Insulintherapie (CT). Basal- und Bolusinsulin werden in festgelegter Dosis vor dem Frühstück und vor dem Abendessen verabreicht. Die Nahrungsaufnahme erfolgt nach einem festgelegten Ernährungsplan. ▶ Intensivierte konventionelle Insulintherapie (ICT). Sie zeichnet sich dadurch aus, dass mehrmals am Tag (3–4-mal) Insulin gespritzt wird. Basalinsulin bewirkt am Tag und in der Nacht einen kontinuierlichen, lang anhaltenden Insulinspiegel im Blut. Das kurz wirkende Insulin wird jeweils zusätzlich zu den Mahlzeiten als Bolus verabreicht, sodass eine flexiblere Gestaltung des Ernährungsplans möglich

▶ Spritz-Ess-Abstand (SEA). Nach der Insulingabe muss ggf. eine bestimmte Wartezeit eingehalten werden, bis gegessen werden darf. Diese Zeitspanne wird als Spritz-Ess-Abstand bezeichnet und ist individuell auf die Bedürfnisse des Kindes abzustimmen. Für die Einschätzung des Abstandes sind aktueller Blutzuckerwert und Insulinart von Bedeutung. Ist der Blutzucker (BZ) im Normbereich (ca. 100– 150 mg/dl), reicht es, 15–30 Minuten zu warten. Bei hohen Blutzuckerwerten sollte jedoch bis eine Stunde nach dem Spritzen mit dem Essen gewartet werden. Nach dieser Wartezeit erfolgt eine erneute Kontrolle des Blutzuckerwerts. Ist dieser dann im Normbereich, kann das Kind es-

Abb. 32.5 Material Insulinpumpentherapie. (Foto: stock56876 – stock.adobe. com)

sen. Im Gegensatz hierzu sollte bei niedrigem BZ und bei schnellwirksamen Analoginsulinen keine Wartezeit eingehalten werden, sondern direkt gegessen werden (▶ Tab. 32.2). ▶ Korrekturfaktor (KF). Dieser besagt, ab welchem erhöhten Blutzuckerwert das Kind mit Diabetes mellitus den Blutzucker mit zusätzlichem Normalinsulin oder schnellwirksamen Insulinanaloga korrigieren sollte. Diese zusätzliche Insulinmenge wird jeweils vom Arzt individuell für das Kind angeordnet, da verschiedene Kriterien zu berücksichtigen sind. Die Korrekturmenge wird zu der Insulinmenge hinzugerechnet, die ohnehin schon verabreicht wird (▶ Tab. 32.2).

Praxistipp Pflege

Z ●

Ist der Blutzuckerwert zu niedrig, muss das Kind zusätzliche BE/KE (Broteinheiten/Kohlenhydrateinheiten) zu sich nehmen. Der Arzt wird über die Blutzuckerschwankungen informiert.

Tab. 32.2 Beispiel für die Korrektur der Insulingabe je nach Blutzuckerspiegel (wird individuell vom Arzt angepasst). Blutzucker (mg/dl)

Korrekturfaktor*

Spritz-Ess-Abstand

unter 60

sofort zusätzlich 1 – 2 schnellresorbierbare KE/BE

nach der Mahlzeit Blutzuckerkontrolle; wenn BZ angestiegen, Applikation von Insulin: ● Normalinsulin: nach der Mahlzeit ● schnellwirksames Analoginsulin: 30 Minuten nach der Mahlzeit

60 – 100

kein zusätzlicher Insulinbedarf

● ●

100 – 150

kein zusätzlicher Insulinbedarf

● ●

150 – 200

0,5 – 1 I.E. Insulin zusätzlich

● ●

200 – 250

1 – 2 I.E. Insulin zusätzlich

● ●

250 – 300

2 – 3 I.E. Insulin zusätzlich Vorsicht: max. Korrekturmenge 3 I.E. Normalinsulin!

Normalinsulin: unmittelbar vor/zu der Mahlzeit schnellwirksames Analoginsulin: 30 Minuten nach der Mahlzeit Normalinsulin: 15 Minuten vor der Mahlzeit schnellwirksames Analoginsulin: direkt nach der Mahlzeit Normalinsulin: 30 Minuten vor der Mahlzeit schnellwirksames Analoginsulin: 15 Minuten vor der Mahlzeit Normalinsulin: 45 Minuten vor der Mahlzeit schnellwirksames Analoginsulin: 20 – 30 Minuten vor der Mahlzeit

vor der Mahlzeit jeweils erneute Blutzuckerkontrolle; wenn BZ gesunken, dann Einnahme der Mahlzeit möglich ● Normalinsulin: 60 Minuten vor der Mahlzeit ● schnellwirksames Analoginsulin: 45 Minuten vor der Mahlzeit

* Zusätzlicher Insulinbedarf, der vom Arzt individuell und zum Insulinbedarf aus den Kohlenhydrateinheiten der Mahlzeiten dazugerechnet wird.

638

32.2 Pflege eines Kindes mit Diabetes mellitus

Insulinarten und Wirkung

Erlernen der Insulininjektion

Es wird unterschieden zwischen tierischem Insulin (vom Schwein oder Rind) und Humaninsulin (gentechnisch hergestellt, dem menschlichen Insulin angepasst). Heute werden fast ausschließlich Humaninsuline und Insulinanaloga verwendet, da sie besser verträglich sind. Hier wird weiter zwischen schnell- und langwirkenden Insulinanaloga, kurzwirksamen Humaninsulinen (Normalinsulin) und langwirksamen Humaninsulinen (Verzögerungsinsulin, sog. Neutrales Protamin Hagedorn-Insulin = NPH-Insulin) unterschieden (▶ Tab. 32.3). Mischinsuline werden heute in der Insulintherapie bei Kindern kaum noch verwendet. Sie bestehen aus einer Mischung zwischen schnellwirksamen Analoginsulinen oder Normalinsulinen und Verzögerungsinsulinen. Die Mischungen können nach den individuellen Bedürfnissen des Kindes/Jugendlichen aus fertigen, konstanten Mischungsverhältnissen (sog. Kombinationsinsuline) verabreicht oder selbst aufgezogen werden. Hierbei bleibt der Wirkablauf der beiden Insuline der Mischung erhalten.

Neben sachgemäßem Umgang mit dem Insulin müssen die Kinder die Technik der Insulininjektion erlernen. Geäußerte Ängste des Kindes im Zusammenhang mit dem Spritzen darf die Pflegefachkraft nicht überhören, sondern muss mit dem Kind darüber sprechen und gemeinsam mit den Eltern über mögliche Lösungen nachdenken.

Merke

H ●

Es muss beachtet werden, dass einige Insuline nicht untereinander gemischt werden dürfen! Daher Hinweise der Hersteller beachten.

Praxistipp Pflege

Z ●

Zum Erlernen der Insulininjektion kann es hilfreich sein, erst einmal das Spritzen an einer Orange zu demonstrieren und zu üben, bevor das Kind zum Selbstversuch übergeht.

Das Kind wird darauf hingewiesen, dass es auf Hautveränderungen an den Einstichstellen achten soll. Veränderungen des Fettgewebes sind Verdickungen (Lipome) oder Schrumpfung bzw. Rückbildung (Atrophien). Sie entstehen, wenn die Einstichstellen nicht regelmäßig gewechselt werden und bewirken eine Resorptionsverminderung bei erneuter Applikation in diesem Bereich. Daher ist regelmäßiges Wechseln der Injektionsstellen wichtig (S. 640).

Grundsätzliches zur Insulininjektion ▶ Konzentration. Die unterschiedlichen Insulinarten erhält man in verschiedenen Konzentrationen. Sie werden nach internationalen Einheiten (I.E.) dosiert. Insulinampullen für Einmalspritzen enthalten 40 I.E./ml (U-40). Ampullen für Insulinpens sind mit Konzentrationen von 100 I.E./ml (U-100) im Handel. Daher muss die Deklaration der Ampullen überprüft werden!

32

▶ Lagerung. Insulinreserven werden im Kühlschrank gelagert. Insulin ist vor Temperaturen unter 4 °C zu schützen, da es sonst geschädigt wird und seine Wirkung nachlässt. Gleiches gilt für lang andauernde Hitze mit Temperaturen über 40 °C. Für den täglichen Gebrauch wird die Lagerung der Ampullen bei Zimmertemperatur empfohlen. Außerdem sind hygienische Vorschriften bezüglich Aufbewahrungsort und -dauer in Kliniken und zu Hause zu beachten.

H ●

Merke

Auf Verfallsdatum und Packungsbeilage der Insulinpräparate achten!

Tab. 32.3 Insulinarten im Überblick. Schnellwirksame Insulinanaloga

Kurzwirksame Humaninsuline: Normalinsulin

Langwirksame Insulinanaloga

Langwirksame Humaninsuline: Verzögerungsinsulin

Indikation

zusätzliche Insulingabe zur Nahrungsaufnahme (prandiale Substitution) und Korrektur von hohen BZ-Werten = Bolusinsulin Merke: in der Insulinpumpentherapie auch als Basalinsulinsubstitution

zusätzliche Insulingabe zur Nahrungsaufnahme (prandiale Substitution) und Korrektur von hohen BZWerten = Bolusinsulin Merke: in der Insulinpumpentherapie auch als Basalinsulinsubstitution

deckt den Basisbedarf, d. h. die Insulinmenge, die unabhängig von den Mahlzeiten (basale Substitution) benötigt wird = Basalinsulin

deckt den Basisbedarf, d. h. die Insulinmenge, die unabhängig von den Mahlzeiten (basale Substitution) benötigt wird = Basalinsulin

Wirkungsbeginn

sofort bis 10 Minuten nach der Injektion

nach 15 – 30 Minuten

nach 60–120 Minuten

nach 45 Minuten

Wirkungsdauer

2 – 3 Stunden

4 – 6 Stunden

ca. 24 Stunden

ca.12 Stunden

Spritz-Ess-Abstand

nicht nötig, kann vor, während oder nach der Nahrungsaufnahme verabreicht werden

10 – 20 Minuten vor der Nahrungsaufnahme injizieren

kein Spritz-Ess-Abstand, da mahlzeitenunabhängig

kein Spritz-Ess-Abstand, da mahlzeitenunabhängig

Applikationsart

i. v. oder s. c. Injektion

i. v. oder s. c. (klare Lösung)

nur s. c., nicht i. v. (kann sonst schwere Hypoglykämien auslösen!)

nur s. c., nicht i. v.!! (Verzögerungsinsulin darf nicht i. v. gegeben werden, da es sich um eine Kristallsuspension handelt)

Wirkmechanismus

durchdringt Unterhautfettgewebe schneller als Normalinsulin

molekulare Veränderung des Insulins bewirkt eine nur langsame Freisetzung

NPH = Neutrales Protamin Hagedorn, bewirkt verzögerte und lang anhaltende Freisetzung des Insulins

9

Pflege von Kindern mit Stoffwechselstörungen

32

Abb. 32.6 Insulininjektion mit Insulinpen. a Hautdesinfektion, (Foto: H. Degenhardt, Thieme) b Pen im 90°-Winkel in die Hautfalte einstechen und Insulin injizieren, (Foto: H. Degenhardt, Thieme) c Pen nach ca. 10 Sekunden Wartezeit entfernen. (Foto: H. Degenhardt, Thieme)

Insulinspritze Die Insulinspritzen sind bereits mit eingeschweißter dünner und kurzer Kanüle und mit einer Graduierung nach Insulineinheiten ausgestattet. Sie werden ausschließlich für die Insulininjektion verwendet und sind für Insulinampullen mit 40 I.E. = U-40 Spritzen und 100 I.E. = U-100 Spritzen erhältlich. Die Kanüle kann ca.13 mm oder 8 mm lang sein. Letztere wird bei Säuglingen und evtl. bei Kleinkindern verwendet.

Vorbereitung und Aufziehen von Insulinmischspritzen Beim Aufziehen von Insulinmischspritzen wird folgendermaßen vorgegangen: ● Benötigtes Material richten: Insulinampullen (auf Verfallsdatum und Beschädigung überprüfen), Insulinspritze, Hautdesinfektionsmittel und sterilisierte Tupfer. ● Hände waschen, in der Klinik desinfizieren. ● Verzögerungsinsulin zwischen den Handflächen langsam rollen, da sich der Verzögerungsfaktor absetzt (Schütteln sollte vermieden werden, da dies zu Schaumbildung und Schädigung der Insulinkristalle führen kann; in der Klinik wird die Gummimembran der Insulinampullen desinfiziert). ● Luft entsprechend der gewünschten Insulindosis des Verzögerungsinsulins in die Spritze aufziehen. ● Aufgezogene Luft in die Ampulle des Verzögerungsinsulins spritzen, die Spritze wird anschließend aus der Ampulle entfernt, ohne Insulin aufzuziehen.

640







● ●

Entsprechend den gewünschten Insulineinheiten des Normalinsulins Luft in die Spritze aufziehen. Luft in die Ampulle des Normalinsulins geben, die Spritze wird anschließend nicht entfernt, sondern in der Ampulle belassen. Direktes Aufziehen der korrekten Insulinmenge des Normalinsulins. Luftblasen aus der Spritze entfernen. Spritze mit Kanüle in die Ampulle des Verzögerungsinsulins einführen, ohne klares Insulin aus der Spritze in die Ampulle fließen zu lassen, dann die korrekte Insulinmenge des Verzögerungsinsulins dazu aufziehen.

Merke

H ●

Immer zuerst klares Insulin (Normalinsulin) aufziehen, damit kein Verzögerungsinsulin in die Ampulle des Normalinsulins gelangen kann. Bei der nächsten Entnahme und Verabreichung könnte sonst eine unbeabsichtigte Verzögerung der Insulinwirkung entstehen.

Abb. 32.7 Injektionsschema für Kinder. Die morgendliche Injektion sollte in den Bauch erfolgen (oben), die abendliche in den Oberschenkel (unten). (Foto: P. Blåfield, Thieme)



Durchführung Besonderheiten der Insulininjektion: ● Spritztechnik und Injektionsstellen können im Kapitel zu „subkutanen Injektionen (S. 807)“ nachgelesen werden. ● Zu Hause ist ein Desinfizieren der Einstichstelle nicht nötig. Im Krankenhaus wird dies aufgrund des veränderten Keimmilieus empfohlen (▶ Abb. 32.6a). Durch alkoholische Desinfektionsmittelreste kann die Wirkung von Insulin abgeschwächt werden, daher ist die Einwirkzeit bzw. Trocknungsdauer zu be-



achten! Weiterhin kann Alkohol die Haut reizen und zu Allergien führen. Einstichstelle wechseln: z. B. morgens in den Bauch (wird schneller resorbiert, Gürtellinie und Nabelgegend meiden) und abends in den Oberschenkel (wird in Ruhe langsamer resorbiert, durch Bewegung gesteigerte Resorption). Die Injektionsstellen sind bei jeder Injektion zu wechseln, z. B. mithilfe eines Injektionsschemas (▶ Abb. 32.7). Die Oberarme bleiben ausgespart, da die Gefahr, in den Muskel zu spritzen, erhöht ist. Das Insulin würde dann zu schnell resorbiert. In die stehende Hautfalte wird mit kurzen Kanülen oder Insulinpens im 90°Winkel eingestochen, bzw. im 45°-Winkel bei wenig Fettgewebe und längeren Nadeln (▶ Abb. 32.6b).

32.2 Pflege eines Kindes mit Diabetes mellitus ●

Nach der Injektion sollte 10 Sekunden gewartet werden, bevor die Kanüle herausgezogen wird (▶ Abb. 32.6c). Ansonsten besteht die Gefahr, dass Insulin durch den Stichkanal austritt und dann zu wenig Insulin resorbiert werden kann.

32

Nachsorge Die verabreichte Insulinmenge wird im Diabetikertagebuch dokumentiert. Nach der Injektion muss darauf geachtet werden, dass das Kind zeitnah Nahrung zu sich nimmt, damit es nicht durch die einsetzende Insulinwirkung zu einer Hypoglykämie kommt.

Insulinpen Ein Insulinpen ist ein spezieller „Injektionsstift“, bei dem je nach Modell die Dosiseinstellung vor oder während der Injektion selbst durch Knopfdruck festgelegt wird. Hierbei entfällt das Aufziehen der Insulinmenge, da im Pen eine Insulinpatrone vorhanden ist, aus dem sich das Gerät die gewünschte Insulinmenge entnimmt. Von allen Insulinherstellern werden Normal- und Verzögerungsinsuline sowie Mischinsuline in verschiedenen Mischverhältnissen in U-100-Patronen angeboten. Eine Patrone enthält ca. 150– 300 Insulineinheiten (1 ml entspricht 100 I.E.). Der Einstichschmerz wird meistens ähnlich empfunden wie mit der Insulinspritze, da die Stärke der Kanüle gleich ist. Auch in der Spritztechnik gibt es keine Unterschiede zur Insulinspritze (▶ Abb. 32.8).

Merke

● H

Der Insulinpen mit Verzögerungsinsulin muss vor dem Spritzen vorsichtig gekippt werden, damit sich die verzögernden Wirkstoffe in der Suspension gleichmäßig verteilen können.

▶ Vorteile. Der geringere Aufwand, der mit dieser Art der Insulinsubstitution verbunden ist, bringt den Kindern oft eine Erleichterung im Alltag, da das Aufziehen der Insulineinheiten entfällt. Der Pen sieht weniger abschreckend aus als eine Spritze. Es gibt bunte Pens mit Motiven für Kinder und Pens, die auf 0,5 I.E. genau eingestellt werden können. ▶ Nachteile. Da nur bereits vorgefertigte Insulinpatronen verwendet werden können, sind individuelle Mischungen der Insuline wie bei der Insulinspritze nicht möglich. Somit wären 2 Pens notwendig,

Abb. 32.8 Insulinpen. Er erleichtert die Durchführung der Insulininjektion. (Foto: A. Fischer, Thieme)

einer für Normalinsulin, der andere für Verzögerungsinsulin. Manche Diabetiker haben Angst vor Injektionsfehlern, da die Menge, die gespritzt wird, nicht gesehen wird, so wie es bei der Insulinspritze der Fall ist.

Insulinpumpe Über eine Insulinpumpe kann die individuell benötigte Insulinmenge fein dosiert kontinuierlich abgegeben werden (▶ Abb. 32.9). Hierbei liegt der Vorteil darin, dass die Dosierung jederzeit geändert werden kann. Eingestellt werden die Insulineinheiten, die innerhalb einer Stunde verabreicht werden. Die InsulinpumpenKatheter sollten alle 1–2 Tage gewechselt werden. Durch eine zu lange Liegedauer kann es zu Hautreizungen, Verhärtungen an der Einstichstelle, Blutzuckererhöhungen und zum Auftreten von Katheterverschlüssen kommen.

Merke

H ●

Es dürfen sich keine Luftblasen in der Leitung befinden, da sonst zu wenig Insulin verabreicht wird und es zu Stoffwechselentgleisungen (Hyperglykämie) kommen kann.

▶ Vorteile. Mit einer Insulinpumpe kann kurzfristig auf Änderungen im Tagesablauf reagiert werden. So können z. B. zu den Mahlzeiten zusätzliche Insulingaben erfolgen. Die Insulinpumpe ermöglicht somit eine flexiblere Gestaltung des Alltags durch sofortige Anpassung der Insulinabgaben an die aktuelle Stoffwechsellage und sich verändernde Bedürfnisse. Der Diabetiker besitzt somit auch größere Freiheiten bei den Essens- und Schlafenszeiten. Es gibt Pumpen, die wassergeschützt sind. Hiermit ist Duschen und mit einigen Modellen sogar Schwimmen erlaubt. Die Insulinpumpe passt in eine kleine Tasche, die man am Gürtel oder in

Abb. 32.9 Insulinpumpe. Tragweise und Fixierung (Symbolbild). (Foto: b4producer)

der Hosentasche tragen kann. Die Nadel, die subkutan liegen bleibt, ist etwas dünner als die Insulinspritzenkanüle. Sinnvoll ist der Einsatz einer Insulinpumpe auch bei Kindern, die ausgeprägte Blutzuckerschwankungen aufweisen, da die Insulinabgabe individuell eingestellt werden kann. Besonders bei der Therapie von schwangeren Diabetikerinnen hat sich der Einsatz der Insulinpumpe bewährt. ▶ Nachteile. Ein Nachteil ist, dass die Nadel unter der Bauchhaut verbleibt. Dies kann als störend empfunden werden. Es entsteht etwas mehr Aufwand durch häufigere Blutzuckerkontrollen, da die Insulindosis dem Blutzuckerwert angepasst wird. Dies kann jedoch mit einer sensorunterstützten Insulinpumpentherapie durch die kontinuierliche subkutane Glukosemessung ausgeglichen werden. Durch unsachgemäße Bedienung und Störungen der Geräte kann es jedoch auch zu falscher Dosierung des Insulins kommen.

Ausgewogene Ernährung Die Ernährungsempfehlungen entsprechen weitgehend den allgemeinen Grundsätzen einer gesunden Ernährung. Die Nahrungsmenge richtet sich nach dem Energiebedarf des gesunden Kindes (S. 326). Die Kinder sollen ein weitgehend „normales“ Leben nach ihren Bedürfnissen führen können. Besonders bei übergewichtigen Kindern ist auf eine ausgewogene Balance zwischen Energieaufnahme und -verbrauch, insbesondere durch eine Reduktion der Fettaufnahme, zu achten und somit ein normaler BMI anzustreben. Möglichst einfache Empfehlungen der Ernährung werden von den Kindern eher akzeptiert und umgesetzt als Verbote eingehalten. Diese beinhalten im Schwerpunkt die Berechnung der Kohlenhydratmenge, die der Diabetiker zu sich nimmt. Als Hilfsmittel zur Berechnung werden die Kohlenhydrate in Broteinheiten (BE) bzw. in Kohlenhydrateinheiten (KHE/KE) angegeben:

1

Pflege von Kindern mit Stoffwechselstörungen 1 BE = 12 g blutzuckerwirksame Kohlenhydrate (nur Kohlenhydrate ohne Ballaststoffe) = 48 kcal (Kilokalorien) = 201 kJ (Kilojoule) 1 KE = 10 g Kohlenhydrate



Zur Vereinheitlichung und der leichteren Berechnung wird in den letzten Jahren überwiegend die Berechnung der Kohlenhydrate in Kohlenhydrateinheiten (KE) vorgenommen. Die deutsche Diabetes-Gesellschaft empfiehlt, BE und KE gleichwertig als Schätzgröße von 10 – 12 g Kohlenhydraten zu verwenden, da der Kohlenhydratgehalt eines Lebensmittels leichten Schwankungen unterliegen kann. Bei der Nahrungszusammenstellung ist das individuelle Sättigungsgefühl zu berücksichtigen. Die Kinder sollten durch die Nahrung satt werden und nicht durch Hungergefühle zusätzlich verleitet werden, die Empfehlungen zur Ernährung zu umgehen.







32

Merke

H ●

Der Insulinbedarf richtet sich nach der gewünschten Nahrungsmenge und damit den berechneten Kohlenhydrateinheiten, d. h., die Insulingabe wird den Bedürfnissen des Kindes angepasst.

Gestaltung einer Mahlzeit Die Gestaltung einer Mahlzeit bei einer intensivierten konventionellen Insulintherapie (ICT): 1. aktuellen Blutzuckerwert ermitteln: bei Abweichungen vom Normwert zusätzliche Maßnahmen, die vom Arzt festgelegt werden (▶ Tab. 32.2) 2. gewünschte Mahlzeit zusammenstellen 3. BE/KE der ausgewählten Nahrungsmittel berechnen: anhand eines Planes, der die Kohlenhydrateinheiten der einzelnen Nahrungsmittel auflistet und evtl. einer Digitalwaage 4. Insulinbolusbedarf ermitteln = Insulinbedarf für die Mahlzeit berechnen: wird vom Arzt individuell festgelegt, beträgt ca. 1–2,5 I.E. pro KE 5. Spritz-Ess-Abstand beachten: abhängig von Blutzuckerwert und Insulinart (▶ Tab. 32.2) 6. guten Appetit! In der Pflegeanamneseerhebung (S. 59) sollten die Ernährungs- und Aktivitätsgewohnheiten sowie der Tagesablauf des Kindes erfasst werden, um diese bei der Erstellung des Ernährungsplanes zu berücksichtigen. Wichtig und zu beachten sind

642





● ●

die Essenszeiten des Kindes und der Familie zu Hause, wann das Kind aufsteht und zur Schule oder zum Kindergarten geht, wann die gewohnten Pausen- und Schlafenszeiten sind, welche Sport- und Freizeitaktivitäten stattfinden, was es essen mag und was nicht und wie sich die Essgewohnheiten am Wochenende verändern.

Es sollte frühzeitig ein Ernährungsberater hinzugezogen werden.

Prinzipien der Ernährung Folgendes ist zu beachten: ● Haushaltszucker, Traubenzucker und Malzzucker lassen den Blutzucker schnell ansteigen und liefern nur kurzfristig Energie. ● Zuckeraustauschstoffe (z. B. Sorbit, Xylit) enthalten Kohlenhydrate, müssen aber nicht berechnet werden, da sie nur einen geringen Einfluss auf den Insulinspiegel haben. Sie können bei übermäßigem Verzehr Durchfall auslösen. ● Süßstoffe (Saccharin oder Cyclamat) enthalten keine Kohlenhydrate und keine Kalorien, sie besitzen eine höhere Süßkraft. ● Nicht berechnet werden Mineralwasser, Kaffee und Tee (ohne Zucker und Milch). ● Milch, frische Fruchtsäfte und zuckerhaltige Getränke, wie Fruchtsaftgetränke, Limonaden und Cola, müssen angerechnet werden. ● Um Mahlzeiten zusammenstellen zu können, ist eine Kohlenhydrat-Austauschtabelle hilfreich. In dieser sind die Mengen eines Nahrungsmittels angegeben, die einer BE/KE entsprechen. Eventuell sind auch schnell und langsam wirkende Kohlenhydrate gekennzeichnet.

Merke

H ●

Langsam wirkende Kohlenhydrate sind schnell wirksamen vorzuziehen, da diese den Blutzuckerspiegel nur langsam ansteigen lassen.

Mithilfe einer Lebensmittel-Datenbank (s. Internetadressen) können Kinder/Jugendliche mit Diabetes mellitus im Internet ihre Kohlenhydrat- und Insulineinheiten berechnen. Zudem gibt es Ernährungscomputer für unterwegs, mit denen Kinder und Jugendliche motiviert werden können, die Berechnung der Kohlenhydrat- und Insulineinheiten einzuüben.

Ausreichende Aktivität Bewegung ist wichtig für eine ausreichende Wirkung von körpereigenem und substituiertem Insulin, da die Aufnahme von Glukose in die Zellmembranen hierdurch erleichtert wird. Das Ausmaß der körperlichen Aktivität des Kindes, seine Interessen und Möglichkeiten, sollten in die Diabetesbehandlung integriert werden. Auch Leistungssport ist möglich, doch niemand soll zum Sport gedrängt werden!

Merke

H ●

Vor Beginn körperlicher Belastung sollte eine gute Stoffwechsellage vorhanden sein, d. h., der Urin sollte azetonfrei sein und der Blutzucker im Normbereich liegen.

Bei Blutzuckerwerten über 250–300 mg/ dl sollten Glukose und Azeton im Urin bestimmt werden. Ist Azeton im Urin nachweisbar, dann darf kein Sport betrieben werden (▶ Abb. 32.10). Die erhobenen Befunde deuten auf einen Insulinmangel hin, der zunächst ausgeglichen werden muss, damit die Zelle die für die Muskelaktivität notwendige Glukose erhalten kann. Bei gleichmäßiger körperlicher Betätigung und Sport ist zu beachten: Muskelarbeit steigert die Verarbeitung von Glukose und senkt somit den Blutzucker. Übertriebene sportliche Betätigung belastet die Stoffwechsellage ebenso wie zu wenig Bewegung. Um einem Blutzuckerabfall während des Sports vorzubeugen, sollte ein Teil der zusätzlich benötigten Kalorien vor Beginn der Aktivität zugeführt werden.

Merke

H ●

Das Kind sollte pro Stunde körperlicher Aktivität zusätzlich 1–3 KE essen oder trinken. Alternativ kann auch die Insulindosis reduziert werden, um bei intensiver Belastung eine Hypoglykämie zu vermeiden.

Abb. 32.10 Aktivität und Stoffwechsellage. Wann soll kein Sport betrieben werden (Symbolbild)? (Foto: matimix – stock.adobe.com)

32.2 Pflege eines Kindes mit Diabetes mellitus

Prävention von Folgeschäden Mit guter Stoffwechseleinstellung lassen sich Folgeschäden verzögern und z. T. vermeiden. Daher ist die Kontrolle der Stoffwechsellage auch langfristig sinnvoll. Disease-Management-Programme (DMP) zeigen Versorgungswege für chronisch kranke Patienten auf. Diese Programme sind eingeführt worden, um die Qualität der Versorgung von Patienten zu verbessern und unnötige Kosten einzusparen. Für die Erkrankung Diabetes mellitus gibt es spezielle Behandlungsprogramme (für Typ 1 und Typ 2), die die Zusammenarbeit aller an der Behandlung beteiligten Ärzte regeln. Hiermit soll eine optimale Versorgung des Patienten vom Hausarzt über die Weiterbehandlung, z. B. in diabetologischen Schwerpunktpraxen, bei Augenärzten oder Urologen, gewährleistet werden. Der Hausarzt soll hierbei eine sog. Lotsenfunktion übernehmen und die notwendigen Untersuchungen und Versorgungsschritte in der ambulanten und stationären Betreuung abstimmen. Hierbei sollen auch unnötige Mehrfachuntersuchungen vermieden werden. Die Vorbeugung von Folgeerkrankungen wird auch als tertiäre Prävention bezeichnet. Sie ist ein wichtiges Ziel der strukturierten Behandlungsprogramme, die an wissenschaftlichen Empfehlungen ausgerichtet sind. Teilnehmende Ärzte müssen fest-

gelegte Qualifikationen nachweisen und verbindliche Dokumentationsparameter einhalten. Im Rahmen dieser Behandlungsprozesse wird der Patient durch Schulungen aktiv beteiligt. Die Teilnahme an Disease-Management-Programmen ist für die Patienten freiwillig möglich. Um Folgeschäden zu vermeiden, sie zu verzögern bzw. zu erkennen, ist es notwendig, das Kind und seine Eltern auf folgende Dinge hinzuweisen: ● Haut und Füße sind regelmäßig auf Durchblutungsstörungen zu kontrollieren, da diese ein erstes Zeichen eines Gefäßschadens sein können. ● Nikotin und Alkohol schädigen die Blutgefäße zusätzlich und sind zu vermeiden. ● Einmal jährlich (im höheren Lebensalter halbjährlich) werden beim Arztbesuch Blutfette und Blutdruck kontrolliert, die Funktion der Nieren überprüft sowie Urinstatus, Harnstoff und Kreatinin bestimmt. Mit einer Spiegelung des Augenhintergrundes kann eine beginnende Retinopathie, die durch abnehmendes Sehvermögen gekennzeichnet ist, erkannt werden. Diese Untersuchungen tragen somit zur frühzeitigen Erkennung von Spätfolgen bei, um dann ggf. mit therapeutischen Maßnahmen einschreiten zu können. ● Alle 3 Monate wird das HbA1c aus dem Blut bestimmt. Hiermit kann die Stoff-

Schultag /Arbeitstag

Datum:

wechsellage über einen Zeitraum von mehreren Wochen beurteilt werden. Der ermittelte Wert gibt eine Aussage über die Verbindung von Hämoglobin mit der Glukose im Blut. Die Menge des entstehenden Glykohämoglobins ist vom Blutzuckerspiegel abhängig. Je höher das HbA1c, desto höher war der Blutzuckerspiegel in den letzten 8–12 Wochen. Ein HbA1c unter 7 ,5 % (58 mmol/mol) wird von der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) als Zielbereich definiert.

32

Um die Stoffwechsellage und den Therapieerfolg langfristig beurteilen zu können, ist es weiterhin notwendig, dass das Kind ein Diabetikertagebuch führt (▶ Abb. 32.11). Neben den aktuell gemessenen Blutzuckerwerten, der Angabe der Mahlzeiten mit Kohlenhydrateinheiten und der Insulinapplikation, können im Diabetikertagebuch auch weitere Werte und Vorkommnisse eingetragen werden. Zur Erleichterung des Selbstmanagements kann dies auch mittels eines digitalen Diabetikertagebuches über eine App auf dem Smartphone erfolgen. Die ermittelten Blutzuckerwerte eines Bluetooth-fähigen Blutzuckermessgerätes können über eine kompatible App des Smartphones archiviert und ausgewertet werden. Der Arzt kann per Datenübertragung auch online, nach Wunsch der Kinder/Jugendlichen

Wochenende

Urlaubstag

Uhrzeit mg/dl

mmol/l

300

17

250

14

200

11

150

8

100

5

50

2

Urin-Azeton BE/KHE Bolus-Insulin I.E. Basis-Insulin I.E. Blutdruck Hypoglykämie Tätigkeitsprotokoll / Bemerkungen:

Abb. 32.11 Diabetikertagebuch. Alle erhobenen Werte und besonderen Ereignisse werden im Verlauf dokumentiert.

3

Pflege von Kindern mit Stoffwechselstörungen

32

und der Eltern, Einsicht nehmen und entsprechende Anweisungen geben. Das Kind muss jedoch in der Eingabe der Daten im Diabetikertagebuch und der Auswertung der Daten angeleitet und beraten werden. Kleinere Kinder, die diese Zusammenhänge noch nicht verstehen können, werden zur Mitarbeit motiviert. Hier sind in erster Linie die Eltern und Bezugspersonen des Kindes anzuleiten, da sie später im Alltag das Verhalten der Kinder beobachten und beeinflussen.

Intakte Haut Bei schlecht eingestellter Stoffwechsellage verzögert sich die Heilung von Wunden oder Verletzungen der Haut und Schleimhäute, da durch die Gefäßschäden die Hautdurchblutung vermindert ist. Aus diesem Grund besteht auch eine erhöhte Infektionsgefahr. Es ist wichtig, durch gute Hautpflege, besonders der Hautfalten, Füße und Nägel, Verletzungen von Haut und Schleimhäuten vorzubeugen und zu erkennen. Hierzu zählt ebenso eine Anleitung zur regelmäßigen und korrekten Zahnpflege. Durch Nervenstörungen kann die Empfindsamkeit für Temperatur, Druck und Schmerz nachlassen. Daher ist eine gute Beobachtung der gesamten Haut und besonders der Füße notwendig. Dies ist v. a. bei schon länger bestehendem Diabetes mellitus von Bedeutung. Bei Empfindungsstörungen ist Barfußlaufen wegen einer möglichen Verletzungsgefahr zu vermeiden.

Angehörige einbeziehen Erkrankt ein Kind an Diabetes mellitus, ist es besonders wichtig, die Eltern von Anfang an mit in die Pflege und Schulung einzubeziehen. Nur so können sie die Erkrankung verstehen und dem Kind helfen, mit der neuen Situation umzugehen. So kann es z. B. notwendig sein, dass die Eltern für das Kind die Insulininjektion übernehmen. Wichtig ist es zudem, über Ernährungsempfehlungen, Wirkung von Bewegung, Komplikationen, Gefahren, Spätfolgen und deren Prävention informiert zu sein. Weiterhin sollten sie die Anzeichen einer Hypo- oder Hyperglykämie erkennen und die damit notwendig werdenden Interventionen anwenden können. Besonders wenn noch Geschwister vorhanden sind, sollte sich die Familie frühzeitig Gedanken über den zukünftigen gemeinsamen Tagesablauf, wie z. B. die Mahlzeiten und die damit verbundenen Ernährungsgewohnheiten machen, um dem von Diabetes mellitus betroffenen Kind die Situation zu erleichtern.

644

Therapie

a ●

Die Anleitung des Kindes und der Eltern sollte baldmöglichst mit den eigenen Utensilien, z. B. Blutzuckermessgerät oder Insulinpen, erfolgen.

Größtmögliche Individualität Kinder mit Diabetes mellitus haben ihre individuellen Zeiten für Stoffwechselkontrollen, Insulininjektionen oder die Nahrungsaufnahme. Sie sollten für eine gleichbleibende, regelmäßige körperliche Betätigung und Sport sorgen. Ziel ist es, dass die Kinder auch weiterhin ein eigenständiges, unabhängiges Leben führen, trotz gewisser Regeln, die einzuhalten sind. Dem Kind wird erklärt, dass es wichtig ist, einen Diabetikerausweis mit sich zu führen, um in Notfallsituationen anderen die Informationen über die bestehende Erkrankung geben zu können. ▶ Schule und Kindergarten. Kinder, die zur Schule gehen, können durch häufige Krankenhausaufenthalte und die damit verbundenen Fehlzeiten im Unterricht in ihrer Lernentwicklung benachteiligt sein. Durch einen Klinikunterricht werden mögliche Lern- und Wissensdefizite reduziert. Bei guter Mitarbeit von Kindern und Eltern sind i. d. R. häufige Krankenhausaufenthalte nicht nötig. Neben den Eltern sollten auch Lehrer und Erzieher der Kinder informiert werden, wie sie sich in einer Notfallsituation zu verhalten haben. Sie müssen auch wissen, welche Besonderheiten diese Kinder in ihrem Tagesablauf einhalten sollen. So sind z. B. Pausenzeiten zu ermöglichen, um die Stoffwechselkontrollen durchzuführen und die Nahrung einzunehmen. Hilfreich können hier Merkblätter sein, die wichtige Informationen übersichtlich zusammenfassen. ▶ Beruf. Ein Jugendlicher mit Diabetes mellitus sollte bei der Berufswahl beachten, dass er keinen Beruf auswählt, bei dem er sich selbst oder andere Menschen bei einer möglichen Hypoglykämie gefährdet, wie dies z. B. beim Pilot, Lokomotivführer, Dachdecker oder Starkstromelektriker der Fall sein könnte. Gut geeignet sind Berufe, die eine regelmäßige Arbeitszeit, gleichbleibende Belastung und auch regelmäßige Pausen ermöglichen, hierzu zählen z. B. kaufmännische Berufe. Je nach Schweregrad der Erkrankung kann ein Diabetiker z. B. durch Folgeerkrankungen unter die besonderen Regelungen des Schwerbehindertengesetzes fallen. Ab einem Grad von mindestens 50 % gelten dann entsprechende arbeits-

rechtliche Regelungen, z. B. ein besonderer Kündigungsschutz oder technische Arbeitshilfen. Es können darüber hinaus je nach Grad der Behinderung steuerliche Nachteilsausgleiche (d. h. Steuerfreibeträge) geltend gemacht werden. ▶ Auto fahren. Im Handschuhfach sollten immer Traubenzucker (schnelle Resorption) und Kekse (langsame Resorption) deponiert sein, um einer Hypoglykämie vorzubeugen, bzw. ihr schnell entgegenwirken zu können. Zum Erwerb des Führerscheins ist ein Gutachten von dem behandelnden Arzt notwendig, bei dem der Diabetiker regelmäßig seine Stoffwechsellage kontrollieren lässt. Voraussetzung ist ein relativ stabiler Stoffwechsel und dass der Diabetiker eine Hypoglykämie erkennen und behandeln kann. ▶ Urlaub. Es sollte eine Kühlbox für das Insulin mitgenommen werden. Für unterwegs gibt es Kühltaschen, die ohne Strom oder Kühlelemente Insulin kühl halten. Die kleine Tasche wird in kaltes Wasser getaucht; daraufhin bilden die in ihr enthaltenen Kristalle ein Gel, das fast 2 Tage kühlt. Im Flugzeug darf das Insulin nicht in den Gepäckraum gegeben werden, da es gefrieren kann. Abweichungen vom normalen Tagesrhythmus müssen bei der Insulingabe und der Nahrungsaufnahme berücksichtigt werden, z. B. bei Interkontinentalflügen (Zeitverschiebung). Ins Ausland sollte immer ein ausreichender Arzneimittelvorrat mitgeführt werden, falls das verwendete Insulin vor Ort nicht erhältlich ist. Auch Teststreifen zur Harnzuckerbestimmung, Traubenzucker, Süßstoff, Diabetikerausweis und die BE/KEAustauschtabelle sind mitzunehmen. Die üblichen Portionen der wichtigsten Nahrungsmittel sollte sich der Diabetiker einprägen und zusätzlich nachlesen, wie viel BE/KE die üblichen Speisen des Landes enthalten.

32.3 Pflege eines Kindes mit Phenylketonurie Mechthild Hoehl

32.3.1 Ursache und Auswirkung Die Phenylketonurie (PKU) ist die häufigste angeborene Stoffwechselerkrankung. Sie wird autosomal rezessiv vererbt. Das Fehlen des Enzyms Phenylalaninhydroxylase bewirkt, dass die Aminosäure Phenylalanin nicht in Tyrosin umgewandelt werden kann. Überschüssiges Phenylalanin sammelt sich im Körper an und beein-

32.3 Pflege eines Kindes mit Phenylketonurie

Tab. 32.4 Häufigkeit der Phenylalaninkontrollen (nach Ringer 2011). Alter (Jahre)

Laboruntersuchungen

klinische Untersuchungen

unter 1

alle 1 – 2 Wochen

alle 3 Monate

1–9

alle 2 – 4 Wochen

alle 3 – 6 Monate

10 – 15

alle 4 Wochen

alle 6 Monate

älter als 15

alle 2 – 3 Monate

alle 6 – 12 Monate

32.3.2 Pflegebedarf einschätzen

Tab. 32.5 Phenylalaninnormwerte und angestrebte Werte bei PKU (nach APS 2009). Alter

Angestrebte Normwerte

Normwerte Neugeborene bis 1 Monat

bis 2,5 mg/dl

Säuglinge bis 1 Jahr

bis 2 mg/dl

Kleinkinder 2 bis 6 Jahre

bis 2,5 mg/dl

Schulkinder 7 bis 14 Jahre

bis 3 mg/dl

Erwachsene

bis 4 mg/dl

Empfehlungen für PKU-Betroffene 1.–10. LJ

0,7–4 mg/dl

11.–16. LJ

0,7–15 mg/dl

> 16. LJ

< 20 mg/dl

trächtigt die Entwicklung des Zentralnervensystems. Ein Teil des Phenylalanins wandelt sich um in Phenylketone, die im Urin ausgeschieden werden und der Krankheit ihren Namen gaben. Bei Kindern, die sich noch im Wachstum befinden, führen zu hohe Phenylalaninkonzentrationen im Blut zu bleibenden Schädigungen. Bei Menschen jeden Alters sorgen sie für Konzentrationsstörungen und Verhaltensveränderungen. Liegt bei Schwangeren ein erhöhter Phenylalaningehalt vor, wird das Kind dadurch geschädigt (PKU-Embryopathie). Die Symptome einer unbehandelten Phenylketonurie treten etwa ab dem 3. Lebensmonat auf: ● Hyperexzitabilität ● psychomentale Entwicklungsretardierung ● geistige Behinderung, Krampfanfälle ● mäusekotartiger Uringeruch Bei den Kindern ist gleichzeitig der Melaninstoffwechsel gestört, sodass es zu einer auffallenden Pigmentverminderung mit hellen Haaren, blauen Augen und heller Haut kommt, auch dann, wenn die Eltern dunkelhaarig sind. Ein frühzeitiger Beginn einer diätetischen Therapie so bald wie möglich nach der Geburt ist wichtig. Im Rahmen des Neugeborenenscreenings am 3. Lebenstag kann die Erkrankung erkannt werden, bevor es zu sichtbaren Symptomen kommt. Die Analysezeit des Guthrie-Tests beträgt meist einige Tage. Durch die TandemMassenspektrometrie kann die Analyse auf einige Minuten verkürzt werden.

Die Krankheit hat in deutschsprachigen Ländern eine durchschnittliche Häufigkeit von 1 : 10 000. In der Türkei oder in Irland geht man von 1 : 4000 aus.

Merke

32

H ●

Das Neugeborenenscreening zur Früherkennung der PKU ist nur dann aussagekräftig, wenn das Kind vorher bereits Nahrung bekommen hat.

Die Stoffwechselstörung kann dann zwar nicht geheilt, aber gut behandelt werden. Das Ziel der Therapie ist eine normale Entwicklung des Kindes mit geringer Phenylalaninzufuhr. Die Behandlung erfolgt über eine Diät, bei der die zugeführten Eiweiße streng berechnet werden und der Phenylalaningehalt im Blut regelmäßig kontrolliert wird (▶ Tab. 32.4 u. ▶ Tab. 32.5). Es gibt außer der hier beschriebenen klassischen Form auch noch leichtere Ausprägungsformen der Stoffwechselstörung, die nicht behandlungsbedürftig sind. Jeder PKU-Betroffene mit ausreichender Diätcompliance soll in die Lage versetzt werden, Zielwerte zu erreichen, die denen eines Nicht-Betroffenen im gleichen Alter möglichst nahe kommen. Daher wird der Safe Level 0,7–4 mg/dl Phe im Blut formuliert. Im Erwachsenenalter kann ggf. ein Grenzwert im einstelligen Bereich toleriert werden (DIG PKU e. V.).

Am stärksten von der PKU betroffen wird die Lebensaktivität „Essen und trinken“. Es können sich die folgenden Pflegeprobleme ergeben: ● Einschränkungen im täglichen Leben durch die strenge Diät. ● Beeinträchtigung des Appetits durch die Notwendigkeit der Einnahme eines schlecht schmeckenden Eiweißpulvers. ● Soziale Beeinträchtigung durch Einschränkungen der Nahrungsmittelauswahl und Notwendigkeit von strengen Nahrungsmittelkontrollen. ● Angst vor häufigen Blutentnahmen zur Bestimmung der aktuellen Phenylalaninwerte, oder Ablehnung der Blutentnahmen. ● Gefahr der Hyperphenylalaninämie bei Infekten, Gewichtsabnahmen und Diätfehlern mit möglichen Krankheitssymptomen oder Verhaltensauffälligkeiten. ● Ängste und Unsicherheiten der Familien im Umgang mit der Erkrankung. ● Sorgen der Kinder und Jugendlichen vor den Folgen von Stoffwechselentgleisungen. ● Schwierigkeiten der sozialen Integration beim Auftreten von Verhaltensauffälligkeiten. ● Angst vor einer Schädigung des Embryos bei ungeplanter Schwangerschaft; Notwendigkeit der Diätverschärfung bei Kinderwunsch.

32.3.3 Pflegeziele und -maßnahmen Optimale Phenylalaninwerte im Blut Der gewünschte Phenylalaningehalt bleibt konstant, wenn das Kind genau so viel Phenylalanin mit dem Essen aufnimmt, wie sein Körper benötigt und verarbeiten kann. Es erfolgt eine Reduktion der Phenylalaninzufuhr durch eine strenge eiweißbilanzierte Diät, bei der auf Eiweißträger, wie Fleisch, Fisch, Milch, Milchprodukte und Eier, verzichtet wird und phenylalaninhaltige Gemüse unter Berechnung des Phenylalaningehaltes zugeführt werden. Der Diätplan wird individuell auf

5

Pflege von Kindern mit Stoffwechselstörungen

32

die Bedürfnisse und Vorlieben des Kindes abgestimmt. Ein interdisziplinäres Team unterstützt die Familien mit einer Diätberatung und der Anleitung zur Umsetzung der Empfehlungen im Alltag. Das Stillen von Neugeborenen ist teilweise unter strenger Kontrolle des Phenylalaninblutspiegels möglich, da die Muttermilch wenig Phenylalanin enthält. Nicht gestillte Säuglinge erhalten eine Spezialmilchnahrung, die den genauen Bedarf an Phenylalanin und anderen essenziellen Aminosäuren und lebenswichtigen Nährstoffen berücksichtigt und deckt. Ab dem Zeitpunkt, da das Kind Beikost erhält, muss mit der Berechnung des Eiweißgehaltes in den Lebensmitteln begonnen werden.

Merke

H ●

Der Phenylalaningehalt im Blut muss in regelmäßigen Abständen kontrolliert werden. Bei entsprechender Compliance werden die Eltern in der kapillaren Blutentnahme angeleitet. Zudem ist es wichtig, dass die Eltern verstehen, wie wichtig die regelmäßige ärztliche Blutentnahme ist, und wann ggf. zusätzliche Kontrollen notwendig sind (z. B. bei Erkrankungen, Diätfehlern, Verhaltensauffälligkeiten).

Ausgewogene Ernährung Um Mangelerscheinungen durch die eiweißreduzierte Diät zu verhindern, müssen die anderen Aminosäuren supplementiert werden. Das Eiweißpulver ist kein Medikament, sondern ein Eiweißersatz, allerdings ohne Phenylalanin. Es enthält außerdem wichtige Vitamine und Mineralstoffe und sorgt damit für eine vollständige und gesunde Ernährung. Die Menge des Eiweißpulvers, die zugeführt werden muss, wird individuell berechnet und in mehreren Portionen täglich in klarer Flüssigkeit gelöst getrunken.

Akzeptanz der Diät Eltern

a ●

Um die Diät bei größeren Kindern etwas freier und attraktiver zu gestalten, ist es möglich, die Eiweißzufuhr so zu berechnen, dass die Phenylalaninaufnahme im Wochendurchschnitt der Phenylalanintoleranz entspricht. Ausnahme: Stark eiweißhaltige Nahrungsmittel, z. B. Fleisch, dürfen nicht gegessen werden, da ein Ausgleich innerhalb einer Woche nicht gelingt.

Die Diätberechnung erfolgt mithilfe von Computerprogrammen oder Stoffwechseltabellen. Für alle Fälle sollten immer ausreichend phenylalaninarme Nahrungsmittel (z. B. Obst oder Gemüse) bereitstehen, damit das Kind bei Heißhunger nicht dazu verleitet wird, unkontrolliert phenylalaninhaltige Nahrungsmittel zu verzehren.

Eltern

a ●

Das Eiweißpulver kann in einem Schraubdeckelbehälter immer mitgenommen werden. Eine Markierung der Tagesration erspart tägliches Nachwiegen und erleichtert die Kontrolle.

Ein aufgeklärtes Kind ist eher bereit, einschränkende Maßnahmen zu akzeptieren. Beherrscht es die Berechnung und Einhaltung der Diät, wird es andererseits wieder freier in der Lebensgestaltung.

Erkennen von Störungen Bei der behandelten PKU kann es durch Krankheiten, Gewichtsabnahme oder eiweißreiche Ernährung zu vorübergehenden Erhöhungen des Phenylalaninwertes kommen. Symptome einer Hyperphenylalaninämie sind: ● Konzentrationsschwäche, Unruhe ● schlechte feinmotorische Koordination ● Verhaltensauffälligkeiten (z. B. Aggressivität)

H ●

Zeichen eines Phenylalaninanstiegs sind Unruhe, Konzentrationsstörungen, motorische Unsicherheiten, auffälliges, z. B. aggressives Verhalten.

Die Familie nimmt bei Auffälligkeiten mit dem behandelnden Arzt Kontakt auf. Um dem Kind unnötige Arztbesuche oder gar Klinikbesuche zu ersparen, erlernen Eltern und Kind die kapillare Blutentnahme (S. 780) unter Anleitung des Pflegepersonals. Auch bei scheinbar unauffälligen Kindern, besonders bei Kindern unter 10 Jahren, sollten regelmäßige Blutkontrollen erfolgen. Wachstumsschübe können den Eiweißbedarf beeinflussen. Bei Infektionen ist eine tägliche Kontrolle notwendig, da hierbei durch die Freisetzung von körpereigenem Eiweiß der Phenylalaninspiegel stark ansteigen kann. Während einer akuten Erkrankung muss die Eiweißaufnahme reduziert werden. Schwere Erkrankungen machen einen Krankenhausaufenthalt notwendig. Eine Gewichtsreduktion darf nur unter ärztlicher Kontrolle durchgeführt werden, da hierbei auch körpereigenes Eiweiß freigesetzt wird.

Verantwortungsvolle Elternschaft Da die Erkrankung autosomal rezessiv vererbt wird, ist eine humangenetische Beratung sinnvoll.

Merke

Langfristig erhöhte Werte bewirken neurologische Dauerschäden, Abfall der schulischen Leistungen und Intelligenzminderung.

646

Merke

H ●

Weibliche Jugendliche müssen unbedingt rechtzeitig über mögliche Schädigungen eines Kindes bei einer ungeplanten und diätetisch nicht ausreichend betreuten Schwangerschaft aufgeklärt werden.

Alle sicheren Verhütungsmittel können auch bei der PKU angewandt werden. Vor einer Schwangerschaft sollte eine stabile Phenylalaninkonzentration von unter 5 % im Blut gegeben sein, damit sich das Kind normal entwickeln kann. Eine strenge Diät ist am besten schon bei Kinderwunsch, auf jeden Fall ab dem 1. Tag der Schwangerschaft notwendig. Für Männer mit PKU, die Vater werden wollen, spielt der Phenylalaninwert keine Rolle.

Kapitel 33 Pflege von Kindern mit Störungen der Niere und des Urogenitalsystems

33.1

Definition Bedeutung

648

33.2

Pflege eines Kindes mit HarnwegsinfekHarnwegstion infektion

648

33.3

Pflege eines Kindes mit HarntransprotHarntransportstörungen

649

33.4

Pflege eines Kindes mit Harnsteinerkrankung

654

33.5

Pflege eines Kindes mit Blasenentleeneurogener rungsstörung Blasenentleerungsstörung

0 655

33.6

Pflege eines Kindes mit Kolon-Conduit

0 656

33.7

Pflege eines Kindes mit kontinentem Stoma

0 657

33.8

Pflege eines Jungen mit Phimose

660

33.9

Pflege eines Jungen mit Hypospadie

661

33.10 Pflege eines Jungen mit Hodendystopie

662

33.11 Pflege eines Jungen mit Orchitis

663

33.12 Pflege eines Kindes mit nephrotischem Syndrom

663

33.13 Pflege eines Kindes mit akuter postinfektiöser Glomerulonephritis

665

33.14 Pflege eines Kindes mit akuter Niereninsuffizienz

665

33.15 Pflege eines Kindes mit Peritonealdialyse

666

Pflege von Kindern mit Störungen des Urogenitalsystems

33 Pflege von Kindern mit Störungen der Niere und des Urogenitalsystems Heidrun Beyer

33.1 Bedeutung 33

Definition

L ●

Kinder mit Störungen der ableitenden Harnwege und des männlichen Genitales benötigen eine urologische und Kinder mit Erkrankungen der Niere eine nephrologische Pflege.

Eine Fehlbildung im Bereich der Nieren und der ableitenden Harnwege stellt für die betroffenen Eltern eine große Belastung dar. Fehlbildungen müssen i. d. R. baldmöglichst korrigiert werden, um weitere Schäden zu vermeiden. Der Gedanke an einen bevorstehenden operativen Eingriff macht vielen Eltern Angst. Diese Ängste gestalten sich umso gravierender, wenn bereits irreparable Veränderungen im Bereich des Nierenparenchyms eingetreten sind. Tritt ein lebensbedrohlicher Zustand in Form einer Niereninsuffizienz, d. h. eines Nierenversagens ein, muss zeitweilig oder schlimmstenfalls zeitlebens eine Nierenersatztherapie (Dialyse) durchgeführt werden, sofern keine Nierentransplantation erfolgen kann. Die Kinder und ihre Eltern sind durch diese schwerwiegende gesundheitliche Störung und die damit verbundenen psychosozialen Probleme, die sie oftmals nur mit Unterstützung von professionellen Helfern bewältigen können, stark gefordert. Auch Fehlbildungen im Bereich des Genitales stellen für Jungen und deren Eltern eine psychische Belastung dar, besonders wenn sie mit einer Störung des Körperbildes einhergehen, wie es bei einer ausgeprägten Hypospadie, d. h. Fehlmündung der Harnröhre an der Unterseite des Penis, der Fall ist. Bei den Jungen können dann Minderwertigkeitskomplexe auftreten, wenn sie sich z. B. im Kindergarten oder in der Schule während des Urinierens beobachten und feststellen müssen, dass ihr Urinstrahl nicht in die Weite, sondern lediglich nach unten fließt.

33.2 Pflege eines Kindes mit Harnwegsinfektion 33.2.1 Ursache und Auswirkung Harnwegsinfektionen treten bei Kindern aller Altersstufen auf und werden durch verschiedene pathogene Keime, z. B. Escherichia coli, Proteus, Pseudomonas aeruginosa oder Klebsiellen, hervorgeru-

648

fen. Säuglinge sind in besonderem Maße gefährdet. Im 1. Lebenshalbjahr sind Jungen häufiger als Mädchen betroffen. In der weiteren Kindheit treten Harnwegsinfektionen bei Mädchen aufgrund der kürzeren Harnröhre häufiger als bei Jungen auf. Auch der Einfluss von Kälte, die die Widerstandskraft im Bereich der Schleimhaut senkt, kann Harnwegsinfektionen auslösen. Harntransportstörungen, z. B. ein vesikoureteraler Reflux, eine Harnabflussbehinderung durch Stenosen im Bereich der Harnröhre sowie der Harnleiter oder neurogene Blasenentleerungsstörungen können das Aufsteigen und die Vermehrung der eingedrungenen Erreger fördern. Durch transurethrale Untersuchungen oder das Legen eines Blasenkatheters besteht die Gefahr, dass Keime aus dem Mündungsbereich der Harnröhre in die Blase geschoben werden, die zu Harnwegsinfektionen im unteren Harntrakt, z. B. einer Blasenentzündung (Zystitis), führen können. Breitet sich die Infektion auf die oberen Harnwege aus, entsteht eine Pyelonephritis, bei der sowohl das Nierenbecken als auch das Nierenparenchym betroffen sind. Sie kann sich insbesondere im Säuglingsalter zu einer lebensgefährlichen Urosepsis mit Zeichen eines septischen Schocks ausweiten. Durch häufige Pyelonephritiden entstehen Narben im Nierenparenchym, die zu Nierenfunktionsverlust und Bluthochdruck führen. Symptome bei Harnwegsinfektionen sind: ● Unspezifische Zeichen bei Neugeborenen und Kindern unter 3 Jahren: Gedeihstörung, Trinkunlust, Durchfall, Erbrechen, aufgetriebener Bauch, Temperaturschwankungen, Meningismus, graublasses Hautkolorit. ● Klinische Zeichen bei älteren Kindern: vermehrter Harndrang (Pollakisurie), unwillkürlicher Harnabgang, evtl. erneutes Einnässen tagsüber und nachts. ● Schmerzen und Brennen beim Wasserlassen (Dysurie), unklare Bauch- und Rückenschmerzen, dumpfer Druckschmerz im Bereich einer Niere bei Pyelonephritis. ● Appetitlosigkeit, Stimmungslabilität, Müdigkeit ● Subfebrile Temperaturen oder bei einer Pyelonephritis sehr hohes Fieber, verbunden mit Schüttelfrost und stark beeinträchtigtem Allgemeinbefinden. ● Veränderungen des Urins: unangenehmer Geruch, Aussehen trüb oder blutig, mit reichlich Leukozyten und Bakterien. ● Leukozytose, CRP-Erhöhung.

33.2.2 Pflegebedarf einschätzen Durch eine Harnwegsinfektion können sich folgende Pflegeprobleme ergeben: ● Unwohlsein durch ständigen Harndrang, verbunden mit einer schmerzhaften und erschwerten Harnentleerung ● stark beeinträchtigtes Allgemeinbefinden durch Fieber und Schmerzen ● Nahrungsverweigerung und Gedeihstörung durch Appetitlosigkeit ● Gefahr einer Ausbreitung der Infektion bis zur Urosepsis durch hämatogene Ausbreitung der pathogenen Keime ● Gefahr von Nierenparenchymschäden durch Pyelonephritis

33.2.3 Pflegeziele und -maßnahmen Infektfreie Nieren und ableitende Harnwege Folgende Maßnahmen werden von der Pflegefachkraft durchgeführt: ● Nach Arztanordnung erfolgt eine antibiotische Therapie entsprechend dem Antibiogramm. ● Den Kindern wird reichlich Flüssigkeit angeboten, um die Nieren und ableitenden Harnwege gut durchzuspülen. Damit die Kinder die Trinkmenge auch akzeptieren, ist es hilfreich, ihnen ihre Lieblingsgetränke anzubieten. Durch die Verabreichung von harntreibendem Nierentee beim älteren Kind kann die Harnausscheidung angeregt werden. Eventuell ist eine Infusionstherapie notwendig. ● Die Miktion wird auf Häufigkeit und Schmerzen beobachtet und der Urin bezüglich Farbe und Geruch kontrolliert. Urin-Stix und Urikult (S. 380) werden nach ärztlicher Anordnung durchgeführt. ● Eine Harnansäuerung mit L-Methionin auf Werte zwischen pH 5,5 und 6 kann zur Keimreduzierung beitragen. ● Urologen empfehlen auch den Verzehr der Cranberry-Frucht, z. B. in Form von Saft oder Kapseln, um Harnwegsinfektionen vorzubeugen (▶ Abb. 33.1). Die darin enthaltenen Pflanzenschutzstoffe verhindern das Anhaften von Escherichia-coli-Bakterien an den Blasenwänden. ● Temperaturkontrollen erfolgen regelmäßig. Bei Fieber werden nach ärztlicher Anordnung Antipyretika (S. 286) verabreicht oder ein fiebersenkender Wadenwickel (S. 293) angelegt.

33.3 Pflege eines Kindes mit Harntransportstörungen



Abb. 33.1 Harnwegsinfektion. Den Kindern sollte viel Flüssigkeit angeboten werden. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Schmerzreduktion und gutes Gedeihen Die Kinder werden gezielt auf Schmerzzeichen beobachtet. Bei Vorhandensein von Schmerzen können nach ärztlicher Anordnung Analgetika und/oder lokale Wärmezufuhr mittels Wärmflasche (S. 290) verabreicht werden. In der Klinik sollte auf die Anwendung einer Wärmflasche wegen Verbrennungs- und Verbrühungsgefahr verzichtet werden.

Praxistipp Pflege

Z ●

Besteht Appetitlosigkeit, kann eine Wunschkost gemeinsam mit dem Kind und seinen Eltern zusammengestellt werden.

Vorbeugen von Harnwegsinfektionen Die Kinder und ihre Angehörigen werden über vorbeugende Maßnahmen, ganz besonders bei komplizierten Harnwegsinfektionen, eingehend informiert: ● Bei der Durchführung der Intimpflege muss bei Mädchen die Wischrichtung von vorn nach hinten beachtet werden, um das Eindringen von Darmkeimen in den Harntrakt zu vermeiden. Auch sollte auf Seifen und Intimsprays verzichtet werden, um die physiologische Keimflora nicht zu zerstören. ● Die Kleidung sollte luftdurchlässig, trocken und dem Wetter angepasst sein. Es wird geraten, nasse Badekleidung zu wechseln. ● Bei Harndrang ist eine sofortige Blasenentleerung sehr wichtig, um die Vermehrung und das Aufsteigen von Keimen zu vermeiden. ● Mädchen mit sexuellen Kontakten sollten wissen, dass durch Geschlechtsverkehr die im Harnröhrenbereich befindlichen Keime in die Blase transportiert

werden und somit einen Harnwegsinfekt hervorrufen können. Als prophylaktische Maßnahme wird eine Miktion ca. 15 Minuten nach dem Geschlechtsverkehr empfohlen, um die Keime auszuspülen. Das Legen eines transurethralen Blasenkatheters (S. 371) sollte nur unter strenger ärztlicher Indikation und unter Einhaltung aller hygienischen Maßnahmen erfolgen. Auch bei der Versorgung aller Harnableitungen ist ein absolut aseptisches Arbeiten notwendig, um nosokomiale Infektionen zu vermeiden (S. 434).

Schwerwiegende Harnwegsfehlbildungen werden bei entsprechender Indikation im infektfreien Intervall operativ versorgt. Bis zu diesem Zeitpunkt erfolgt eine antibiotische Infektionsprophylaxe nach ärztlicher Anordnung.

33.3 Pflege eines Kindes mit Harntransportstörungen 33.3.1 Ursache und Auswirkung Der in den Nieren gebildete Urin kann bei bestehenden Harntransportstörungen nicht kontinuierlich über das Harnableitungssystem entleert werden. Ursachen dafür können ein vesikoureteraler Reflux, ein mechanisches Hindernis (z. B. subpelvine Stenose, Harnsteine oder Harnröhrenklappen) sowie eine neurogene Blasenentleerungsstörung (z. B. bei Spina bifida) sein. In Abhängigkeit vom Ausprägungsgrad können Harnwegsinfektionen, Steinbildung und eine Schädigung des Nierenparenchyms mit Nierenfunktionsverlust entstehen. Symptome einer Harntransportstörung sind: ● Fieber, evtl. verbunden mit Schüttelfrost bei komplizierter Harnwegsinfektion ● Appetitlosigkeit sowie Trinkunlust bei Säuglingen ● Gedeihstörungen

Merke

● H

Hauptziel bei der Behandlung einer Harntransportstörung ist die restharnfreie Ableitung des Urins aus Niere und Blase, um Komplikationen (Urosepsis, Nierenfunktionsstörung) weitgehend zu vermeiden.

Nierenparenchym Nierenbecken

33

Nephrostomie (1)

Pyelostomie (2)

Abb. 33.2 Perkutane Harnableitungen. Die Nephrostomie (1) führt durch das Nierenparenchym ins Nierenbecken. Eine Pyelostomie (2) wird intraoperativ direkt an das Nierenbecken gelegt.

Temporäre perkutane Harnableitungen Als Sofortmaßnahme kann unter Ultraschallkontrolle eine vorübergehende Harnableitung in Form von Zystostomie bzw. suprapubischer Harnableitung (S. 377) oder Nephrostomie geschaffen werden. Eine Nephrostomie, die durch das Nierenparenchym führt, kann über Monate als Harnableitung dienen (▶ Abb. 33.2). Zu gegebener Zeit kann dann die Harntransportstörung operativ korrigiert werden. Damit postoperativ der Harnabfluss aus der Niere gesichert ist, kann während der Operation eine Pyelostomie eingelegt werden. Sie liegt ebenfalls im Nierenbecken, führt jedoch nicht durch das Nierenparenchym. Auch sie kann über einen längeren Zeitraum belassen werden. Die Kinder können mit den Harnableitungen entlassen werden, nachdem die Eltern in der Versorgung der Nephrostomie oder Pyelostomie unterwiesen wurden.

Merke

H ●

Die Drainagen müssen nach ca. 8–12 Wochen gewechselt werden, da durch das PVC-Material die Gefahr von Infektionen, insbesondere durch Pilze, gegeben ist.

9

Pflege von Kindern mit Störungen des Urogenitalsystems

Tab. 33.1 Ableitungen im Bereich der Blase und Niere nach korrigierenden Eingriffen bei Harntransportstörungen.

33

Erkrankung

Operation

Ableitungen

Lage

Zweck

Dauer

Vesikoureteraler Reflux Zurückfließen des Urins aus der Blase in den Ureter und evtl. ins Nierenbecken; kann ein- oder doppelseitig auftreten (▶ Abb. 33.3). Ursachen: ● Entzündungen ● Fehleinmündung des Harnleiters in die Blase

Lich-Grégoire: submuköse Verlagerung des nicht erweiterten (nicht dilatierten) Harnleiters in die Blasenmuskulatur ohne Eröffnung der Blase

Blasenkatheter

in der Blase, transurethral

Harnableitung

ca. 4 Tage

Wunddrainage

neben der Blase im Gewebe

Ableitung von Wundsekret

ca. 2 Tage

Psoas-Hitch: Absetzen und antirefluxive Neuimplantation des dilatierten Harnleiters nach Eröffnung der Blase (▶ Abb. 33.4); um ein Abknicken der Harnleiter zu vermeiden, wird die Blase am M. Psoas fixiert

Zystostomie

in der Blase, wird durch die Bauchdecke geleitet

Ableitung des Urins

bis die Urinentleerung ohne Restharn erfolgt

Harnleitersplint

im Harnleiter, wird durch die Blase und Bauchdecke herausgeführt

Schienung des Harnleiters, Urintransport

ca. 7 – 8 Tage

Blasenkatheter

in der Blase, transurethral

Ableitung des Urins

ca. 5 Tage

Wunddrainage

im Gewebe

Ableitung von Wundsekret

ca. 2 Tage

Subpelvine Stenose Unterhalb des Nierenbeckens besteht eine Verengung, die durch Urinstau zu einem erweiterten Nierenbecken führt

Nierenbeckenplastik nach Anderson-Hynes: Resektion der Harnleiterenge und evtl. Verkleinerung des erweiterten Nierenbeckens

Pyelostomie

im Nierenbecken, führt nicht durch das Nierenparenchym

Harnableitung

abhängig von den Nierenbeckendruckwerten (S. 653)

Harnleitersplint

im Nierenbecken und Harnleiter

Harnleiterschienung

ca. 7 – 8 Tage

Wunddrainage

im Gewebe neben der Niere

Ableitung von Wundsekret

ca. 2 Tage

Partieller Verlust der Nierenfunktion (z. B. durch Doppelniere)

Heminephrektomie: Entfernen eines Nierenanteils und evtl. Neuimplantation des Harnleiters

Harnleitersplint bei Neuimplantation

s. Psoas-Hitch

Wunddrainage

im Operationsgebiet neben der Blase

Ableitung von Wundsekret

ca. 2 Tage

Nephrektomie: totale Entfernung einer Niere

Wunddrainage

im Operationsgebiet

Ableitung von Wundsekret

ca. 2 Tage

Blasenkatheter

in der Blase, transurethral

zur Kontrolle der Urinproduktion

1 Tag

Kompletter Verlust der Nierenfunktion (durch Nierentumor, z. B. Wilms-Tumor, Hydronephrose)

Harnleiter (Ureter)

erweiterter Harnleiter

neu implantierter Harnleiter mit Harnleitersplint

durchgezogener Harnleiter

Harnblase

Abb. 33.3 Vesikoureteraler Reflux. Der Urin fließt über den Harnleiter bis evtl. in das Nierenbecken zurück. Ein erweiterter Harnleiter kann die Folge sein.

650

a

b

Abb. 33.4 Antirefluxive Implantation des abgesetzten Harnleiters. (OP im Psoas-HitchVerfahren) a Der abgesetzte Harnleiter wird unter der Schleimhaut durchgezogen. Bei zunehmender Blasenfüllung wird der Harnleiter zugedrückt und somit ein Reflux vermieden. b Der neu implantierte Harnleiter wird mit der Schleimhaut vernäht. Zur Schienung wird ein Harnleitersplint eingelegt.

33.3 Pflege eines Kindes mit Harntransportstörungen

Intermediäre und permanente Harnableitungen

33.3.3 Pflegeziele und -maßnahmen

Eine intermediäre, d. h. zeitweilige Form der Harnableitung ist z. B. ein operativ angelegtes Kolon-Conduit, da es sich hierbei um eine inkontinente Form handelt. Es wird daher auch vom „nassen Stoma“ gesprochen (S. 656). Auf Dauer wird eine kontinente Form, z. B. MAINZ-Pouch I oder „Mitrofanoff-Stoma“ (S. 659) angestrebt, um den betroffenen Kindern und Jugendlichen ein höheres Maß an Lebensqualität zu sichern.

Ungehinderter Harnabfluss

Intraoperativ gelegte Harnableitungen Da postoperativ im Bereich der neu implantierten Harnleiter die Gefahr einer Harnverlegung infolge ödematöser Schwellung besteht, werden ggf. während der Operation Harnleiterschienungssplints eingelegt, um einen komplikationslosen Harnfluss zu sichern. Die Art und Liegedauer der Drainagen werden vom Ausmaß der Operation und von den Erfahrungen des Operateurs bestimmt. In ▶ Tab. 33.1 werden Drainagen und ihre Anwendung bei häufig durchgeführten Operationen aufgezeigt.

33.3.2 Pflegebedarf einschätzen Bei Harntransportstörungen können postoperativ folgende Pflegeprobleme auftreten: ● Gefahr einer postoperativen Nachblutung infolge der durchtrennten Blutgefäße ● Schmerzen und Ängste durch postoperativen Zustand ● Gefahr von Harnstauung durch Verlegen der Katheter infolge Blutkoagel ● Gefahr von Wundinfektion und Wundheilungsstörung ● Gefahr postoperativ bedingter Kreislauflabilität, Pneumonie und Thrombose durch Immobilität und Schmerzen ● Obstipationsgefahr und evtl. Entstehung eines paralytischen Ileus nach retroperitonealen Eingriffen ● Gefahr von Harnwegsinfektionen durch Urinableitungen ● Langeweile durch vorübergehende Einschränkung der Bewegung sowie der Selbstständigkeit infolge von Bettruhe ● Verlust der Intimsphäre durch pflegerische Maßnahmen

Der Urinabfluss muss kontinuierlich erfolgen, um eine komplikationslose Wundheilung im Bereich von Blase, Niere und Harnleiter zu erreichen. Ein Stau kann schlimmstenfalls durch den entstehenden Druck zu einem Urinleck an den Nahtstellen führen, was evtl. eine erneute Operation nach sich ziehen würde. Ein gewissenhafter Umgang mit den Harnableitungen und eine sorgfältige Beobachtung der Urinausscheidung sind wichtige Voraussetzungen für den Operationserfolg. ● Die Harndrainagen müssen auf Lageveränderungen überprüft werden. Sie dürfen sich nicht im gespannten Zustand befinden, abknicken oder durchhängen, sondern sollten locker hängend am Körper des Patienten fixiert sein. Urinbeutel u. a. werden sicher am Bettgestell angehängt (▶ Abb. 33.5), jedoch nicht am Bettgitter, da beim Öffnen die Drainagen herausgerissen werden können. Wird der Urinbeutel beim Mobilisieren oder Einnehmen einer anderen Position über das Patientenniveau gehalten, so muss die Harnableitung kurzfristig abgeklemmt werden, um einen Urinrückfluss zu vermeiden. ● Sämtliche Ableitungen müssen kontinuierlich auf Durchgängigkeit beobachtet werden, um ein Verlegen der Harnableitung rechtzeitig zu erkennen. Eltern und Kinder werden diesbezüglich informiert und angeleitet. ● Die ausgeschiedenen Urinmengen können durch häufige Beutelentleerungen zuverlässig kontrolliert werden, z. B. postoperativ nach Ankunft auf der Station. Der Urin aus den verschiedenen Ableitungen, z. B. Zystostomie, linker und rechter Splint, muss getrennt gesammelt und dokumentiert werden. ● Den Kindern sollte ausreichend Flüssigkeit in Form von Getränken oder über Infusion zugeführt werden (▶ Abb. 33.6). ● Eine Flüssigkeitsbilanzierung und getrennte Dokumentation der aus den verschiedenen Harnableitungen abgeflossenen Urinmengen erlauben einen Überblick über Flüssigkeitshaushalt und Harnabfluss. Regelmäßige Gewichtskontrollen, evtl. 2-mal täglich bei Säuglingen, geben zusätzlich Auskunft. ● Bei Sistieren der Harnausscheidung muss sofort der Arzt benachrichtigt werden, damit die Drainagen u. U. angespült werden können. Die Spüllösung soll dann von selbst ablaufen und das Hindernis herausspülen, nachdem die Katheterabklemmung entfernt wurde.

Abb. 33.5 Urinbeutel. Sie müssen sicher am Bett befestigt sein. (Foto: K. Gampper, Thieme)

33

Abb. 33.6 Flüssigkeitszufuhr. Eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr ist für die Durchspülung der Harnableitung wichtig. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Merke

H ●

Das Anspülen einer Nephro- oder Pyelostomie erfolgt wegen der Gefahr einer Nahtdehiszenz (Aufklaffen der Wundränder) durch den Urologen.

Drainagen zur Harnableitung werden erst vom Urologen gezogen, wenn der Harntransport gesichert ist, um einen Harnstau zu vermeiden. Bei einer Pyelostomie oder Nephrostomie, z. B. nach einer Nierenbeckenplastik, wird eine Nierenbeckendruckmessung durchgeführt (S. 653).

1

Pflege von Kindern mit Störungen des Urogenitalsystems

Merke

H ●

Sämtliche im OP erfolgten Beschriftungen der Harnableitungen dürfen nicht durch das Pflegepersonal erneuert werden, um eine Verwechslung auszuschließen. Ein Entfernen oder Anspülen einer falschen Ableitung kann zu massiven Komplikationen führen.

33 Infektfreies Harnsystem Sämtliche Harndrainagen müssen als „geschlossenes System“ behandelt, d. h., sie dürfen nicht dekonnektiert werden, da bei jeglicher Manipulation Keime verschleppt werden können (▶ Abb. 33.7). Das Anspülen verlegter Harnableitungen erfolgt mit kleinen Mengen steriler, physiologischer Kochsalzlösung, die ohne Dekonnektion im Bereich der Entnahmestelle nach vorheriger Desinfektion und Abklemmen des Ableitungsschlauches gespritzt wird. Die Einwirkzeit des Desinfektionsmittels muss dabei beachtet werden. Das Anspülen bei einem Blasenkatheter sollte aus hygienischen Gründen nur 1mal durchgeführt werden. Führt dies nicht zum Erfolg, so muss der Blasenkatheter neu gelegt werden. Ist eine Dekonnektion unumgänglich, darf diese nur unter streng aseptischen Bedingungen nach Sprüh- und Wischdesinfektion mit einem alkoholischen Präparat durchgeführt werden. Weitere Maßnahmen zur Vermeidung einer Infektion: ● Der Urin aus einem Blasenverweilkatheter wird mithilfe von Schutzhandschuhen über die Auslaufvorrichtung, die sich am Boden des Beutels befindet, ohne Kontakt mit dem Gefäß entleert (▶ Abb. 33.8). Das Ablassen des Urins sollte rechtzeitig erfolgen, d. h. vor Kontakt mit der Rücklaufsperre. Die Auslaufvorrichtung wird nach jeder Urinentleerung abgetrocknet und in der entsprechenden Vorrichtung festgeklemmt. Eine Desinfektion der Auslaufvorrichtung wird vom Robert KochInstitut empfohlen. ● Die Gewinnung von Urinproben für bakteriologische Untersuchungen erfolgt über die speziell dafür vorhandene Entnahmestelle (▶ Abb. 33.9). Die Ableitung wird vorher abgeklemmt, die Entnahmestelle desinfiziert und die gewünschte Urinmenge mithilfe einer sterilen Spritze und kleinlumiger Kanüle abgezogen. ● Ein Reflux des Urins wird vermieden, indem die Urinbeutel stets unter Blasenniveau freihängend ohne Bodenkontakt positioniert werden. Die Verwen-

652

Abb. 33.7 Infektionsprophylaxe. Eine Dekonnektion von Drainagen muss wegen der Infektionsgefahr vermieden werden.









Abb. 33.8 Ablassen des Urins. Nach dem Ablassen des Urins wird die Auslaufvorrichtung abgetrocknet und desinfiziert. (Foto: K. Oborny, Thieme)

Abb. 33.9 Urinprobe. Gewinnung des Urins über die vorher desinfizierte Entnahmestelle. (Foto: W. Krüper, Thieme)

dung eines Beutels mit Rücklaufsperre ist unbedingt notwendig, um ein Aufsteigen von Keimen zu verhindern. Der Ablaufschlauch sollte eine ausreichende Knickfestigkeit, Flexibilität und Lumenweite aufweisen. An den Drainageaustrittsstellen sind vonseiten des Pflegepersonals tägliche Verbandwechsel durchzuführen, die bei Bedarf, z. B. Feuchtwerden des Verbandes, häufiger erfolgen müssen, um eine feuchte Kammer zu vermeiden. Der erste Verbandwechsel (S. 845) erfolgt am 2.– 3. postoperativen Tag durch den Urologen. Regelmäßige Schnelltests auf Bakterien und Nitrit im Urin erfolgen nach ärztlicher Anordnung evtl. 2-mal pro Woche, um einen Harnwegsinfekt so schnell wie möglich erkennen zu können (S. 365). Um Kreuzinfektionen zu vermeiden, wird trotz hygienischer Handhabung eine räumliche Trennung von Kindern mit infizierten und nicht infizierten Urindrainagesystemen empfohlen. Die Pflege der Eintrittsstelle des transurethralen Blasendauerkatheters sollte 2-mal, jedoch mindestens 1-mal täglich durchgeführt werden (S. 376). Es wird

empfohlen, Katheter so früh wie möglich nach ärztlicher Anordnung zu entfernen, da sie eine Verbindung zum Körperinneren herstellen und aufgrund des Materials die Entstehung von Infektionen begünstigen. Eine gute Diurese durch ausreichende Flüssigkeitszufuhr beugt ebenfalls Harnwegsinfektionen vor.



Merke

H ●

Spülungen und Instillationen dürfen nur bei spezieller urologischer Indikation, jedoch nicht zur Infektionsprophylaxe durchgeführt werden. Sie sollten bei geschlossenem System und mithilfe eines doppelläufigen Katheters erfolgen.

Gute Wundheilung Der Verbandwechsel an der Operationswunde und der Drainageaustrittsstelle (S. 849) wird unter aseptischen Bedingungen durchgeführt. Das Wundsekret muss bezüglich Menge und Aussehen kontrolliert und anschließend dokumentiert werden.

33.3 Pflege eines Kindes mit Harntransportstörungen

● ● ● ●



Weitere Schwerpunkte sollten sein: Wahrung der Intimsphäre möglichst geringe Belastung des Kindes Motivation zur Mobilisation Erreichen einer schnellstmöglichen Selbstständigkeit Wohlbefinden und Verhütung von Sekundärerkrankungen wie z. B. Pneumonie und Thrombose

33.3.4 Urologisch-nephrologische Diagnostik Nierenbeckendruckmessung Die Nierenbeckendruckmessung wird zum Ausschluss eines pathologisch erhöhten Drucks im Nierenbecken, z. B. nach einer Nierenbeckenplastik, durchgeführt. Erst nach Vorliegen normaler Druckwerte darf die Pyelostomie oder Nephrostomie gezogen werden. Um eine Verfälschung der Messwerte durch Bewegung zu vermeiden, wird die Nierenbeckendruckmessung nachts durchgeführt (Dauer: 2 Stunden). Es ist deshalb notwendig, kleine Kinder nach Anordnung des Arztes zu sedieren und ältere Kinder und Eltern über die bevorstehende Maßnahme eingehend zu informieren. Die Nephrostomie oder Pyelostomie wird für eine bestimmte Dauer, die nach Angabe des Arztes erfolgt, abgeklemmt, um einen Druck im Nierenbecken aufzubauen. Unter sterilen Bedingungen wird ein Urinbeutel an die Nephrostomie oder Pyelostomie angeschlossen, an einer zentralen Venendruck-Messleiste befestigt und so fixiert, dass sich der Nullpunkt in der Höhe der Niere des Kindes befindet (▶ Abb. 33.10). Liegt die Druckmessung im erwünschten Bereich, kann die Harnableitung vom Arzt gezogen werden, nachdem eine Ultraschalluntersuchung und evtl. das Ausscheidungsurogramm keine Auffälligkeiten zeigten.

Merke

H ●

Abgelesen wird sofort nach der Nullwertbestimmung, nach der 1. und der 2. Stunde. Normale Druckwerte liegen zwischen 10 und 15 cm Wassersäule.

Uroflowmetrie Bei der Uroflowmetrie handelt es sich um eine Harnflussmessung zur Feststellung von Harnentleerungsstörungen. Sie dient zur Abklärung einer abgeschwächten oder verlängerten Miktion, Störungen des Miktionsbeginns oder rezidivierender Harnwegsinfektionen. Während der Miktion werden die Miktionszeiten in Sekunden, das Miktionsvolumen und der maximale sowie mittlere Harnfluss pro Sekunde gemessen. Zusätzlich kann die Aktivität der Beckenbodenmuskulatur bzw. des äußeren Blasenschließmuskels mithilfe von kleinen auf der Haut fixierten Elektroden gemessen werden. Das Gerät verfügt i. d. R. über einen Schreiber, mit dem die gemessenen Werte als eine Kurve dargestellt werden können. ▶ Vorbereitung. Die Kinder müssen vorher viel trinken, damit die Blase gefüllt ist. Ihnen sollte erklärt werden, dass die Untersuchung nicht schmerzhaft ist, sondern wie eine normale Miktion abläuft. Die Untersuchung kann beliebig oft wiederholt werden, sofern sich das Kind an die Untersuchungsbedingungen gewöhnt hat. ▶ Durchführung. Die Intimsphäre sollte gewahrt werden, indem größere Kinder während des Miktionsvorgangs allein gelassen werden. Die Restharnmenge kann im Anschluss mithilfe einer Ultraschalluntersuchung erfasst werden.

Miktionszystourethrogramm (MCU)

Austrittsstelle der Drainage

Messskala

Abb. 33.10 Nierenbeckendruckmessung. Der Nullpunkt der Messskala muss mit der Austrittsstelle der Drainage eine waagerechte Linie bilden.

Die Untersuchung dient dem Nachweis eines vesikoureteralen Refluxes, der Beurteilung der anatomischen und funktionellen Harnblasenentleerung und der Darstellung der Harnröhre. Das Kontrastmittel wird über einen zuvor gelegten transurethralen Katheter oder eine Zystostomie eingebracht. Nach dem Entfernen des Katheters werden Blase und Harnröhre mittels Röntgendurchleuchtung während der Miktion dargestellt. Bei einem vesikoureteralen Reflux tritt das Kontrastmittel während der Blasenfüllung und der Miktion in den Harnleiter über. ▶ Vorbereitung. Vor der Untersuchung muss mithilfe eines Schnelltests eine Harnwegsinfektion ausgeschlossen werden, um ein Aufsteigen der Keime bei einem bestehenden Reflux zu vermeiden.

Merke

H ●

Bei allen Untersuchungen mit Kontrastmittel und radioaktiven Substanzen muss eine Einverständniserklärung der Eltern vorliegen.

Ausscheidungsurogramm (AUG)

33

Die Untersuchung wird zur Abklärung von Harnabflussstörungen, Nierenparenchymschäden und Nieren- bzw. Harnwegsfehlbildungen durchgeführt. Sie wird auch als i. v. Urogramm oder intravenöses Pyelogramm (i. v. P.) bezeichnet, da mithilfe eines intravenös verabreichten nierengängigen Kontrastmittels das Nierenbecken und die ableitenden Harnwege dargestellt werden. ▶ Vorbereitung. Die Eltern müssen nach Allergien des Kindes befragt werden. Der Kreatininwert sollte vor der Untersuchung bestimmt werden, da diese im Falle einer Niereninsuffizienz nicht durchgeführt werden darf. Durch Obstipation oder Luftansammlung im Abdomen ist die Beurteilung eines Ausscheidungsurogramms erschwert oder unmöglich. Aus diesem Grund sind einige ernährungsbedingte Vorschriften zu beachten: ● Am Tag vor der Untersuchung darf das Kind keine blähenden Speisen und Schokolade zu sich nehmen. ● Am Abend zuvor sollte das Kind möglichst keine feste Nahrung, sondern nur noch Flüssiges, z. B. Suppe, erhalten. ● Ein obstipiertes Kind wird am Tag zuvor auf ärztliche Anordnung medikamentös abgeführt. ● Vor dem 2. Lebensjahr sollte die Untersuchung unmittelbar vor der nächsten Mahlzeit erfolgen, damit das Kind nicht unnötig lange auf Nahrung verzichten muss. Die Mahlzeit wird zur Untersuchung mitgenommen. ● Ab dem 2. Lebensjahr ist es zu vertreten, dass die Kinder nüchtern bleiben.

Merke

H ●

Durch das intravenös verabreichte Kontrastmittel kann es im schlimmsten Fall infolge einer Kontrastmittelunverträglichkeit zu einem anaphylaktischen Schock kommen. Aus diesem Grund müssen die Kinder während der Untersuchung sorgfältig auch auf Hautveränderungen (z. B. Rötung, Quaddeln), Kopfschmerzen, Unruhe, Pulsveränderungen und Luftnot beobachtet werden.

3

Pflege von Kindern mit Störungen des Urogenitalsystems

MAG-3-Clearance

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Bei dieser Untersuchung handelt es sich um ein Isotopen-Clearance-Verfahren zum Nachweis von Harnabfluss- und Nierenfunktionsstörungen. Es kann die Gesamtfunktion beider Nieren und nach einer Seitentrennung die Funktionsfähigkeit jeder einzelnen Niere beurteilt werden. Nach intravenöser Gabe von radioaktiv markierten Substanzen können mithilfe einer Gammakamera die ableitenden Harnwege dargestellt und die Nierenfunktion durch Messen der Radioaktivität geprüft werden. Die Strahlenbelastung ist durch die kurze Halbwertzeit der Substanz mit denjenigen bei einem Ausscheidungsurogramm oder intravenösem Pyelogramm (i. v. P.) vergleichbar. ▶ Vorbereitung. Die Kinder erhalten einen venösen Zugang. Weiterhin müssen die Nieren und ableitenden Harnwege gut durchgespült werden, um aussagekräftige Ergebnisse zu erhalten. Größere Kinder werden aufgefordert, ca. 2 Liter, z. B. Wasser mit Apfelsaft, zu trinken, kleinere Kinder erhalten die Flüssigkeit über Infusion. ▶ Nachsorge. Das Kind wird aufgefordert, nach der Untersuchung viel zu trinken, um das radioaktive Material schnell auszuscheiden. Säuglinge sollten häufig gewickelt werden. Das Sammeln von Urin muss wegen radioaktiver Strahlung unterbleiben.

Kreatinin-Clearance Es handelt sich um eine Nierenfunktionsprüfung, die der Diagnosestellung und Verlaufskontrolle bei Nierenerkrankungen dient. Kreatinin ist ein Abbauprodukt aus dem Muskelstoffwechsel, das nur über die Niere ausgeschieden werden kann und ebenso wie Harnstoff und Harnsäure zu den harnpflichtigen Substanzen gehört. Bei der Kreatinin-Clearance wird das Blutvolumen bestimmt, das pro Minute von Kreatinin gereinigt wird. Um verlässliche Werte zu erhalten, müssen auch die Kreatininwerte im Urin ermittelt werden. ▶ Durchführung. Der Urin wird über 24 Stunden gesammelt (S. 378). Aus ca. 10 ml der Gesamtmenge wird die KreatininClearance unter Berücksichtigung von Körpergröße und Gewicht bzw. Körperoberfläche errechnet. Zusätzlich wird am Ende der Sammelperiode Blut abgenommen und die Kreatininkonzentration im Serum bestimmt. Auf dem Laborzettel werden Körpergröße und Gewicht des Kindes, sowie die Gesamturinmenge vermerkt, die über 24 Stunden gesammelt wurde.

33.4 Pflege eines Kindes mit Harnsteinerkrankung

33.4.2 Pflegebedarf einschätzen

33.4.1 Ursache und Auswirkung

Folgende Pflegeprobleme können bei Harnsteinen auftreten: ● Harnwegsinfektion durch Harnstau ● schwer beeinträchtigtes Allgemeinbefinden durch Koliken ● Gefahr einer rezidivierenden Steinproduktion ● Gefahr einer Schädigung des Nierenparenchyms nach Extrakorporale Stoßwellenlithotripsie (ESWL) (S. 655)

Die Entstehung von Harnsteinen beruht auf Stoffwechselstörungen, z. B. familiäre Hyperkalziurie, Harnwegsfehlbildungen, Harnwegsinfektionen sowie saurer Urin durch Tumorlyse. Prädisponierende Faktoren sind geringe Flüssigkeitszufuhr, Bewegungsmangel und Adipositas. Auch hoch dosierte Medikamente, z. B. Sulfonamide, können zur Steinbildung führen. Die Folge ist eine übersättigte Lösung, die zu einer Kristallisation führt. Fehlen im Urin zusätzlich Hemmstoffe, z. B. Zitrat, die ein Verkleben der Kristalle verhindern, entstehen makroskopisch erkennbare Steine, die unterschiedliche Formen und Größen aufweisen können. ▶ Kalziumoxalatsteine. Sie können durch vermehrte Kalziumfreisetzung aus dem Knochen, z. B. bei andauernder Immobilität, oder vermehrte Kalziumaufnahme aus dem Darm entstehen. ▶ Harnsäuresteine. Sie entstehen durch eine Übersättigung des Urins mit Harnsäurekristallen, die durch verstärkten Zellabbau nach zytostatischer und Strahlentherapie oder bei prädisponierten Neugeborenen durch vermehrten Abbau kernhaltiger Vorstufen der Erythrozyten anfallen können. Auch ein Stoffwechseldefekt kann die Ursache sein. ▶ Phosphatsteine (Infektsteine). Sie bilden sich häufig bei Vorliegen eines Harnstaus, der die Entstehung von Harnwegsinfektionen mit Steinbildung fördert. Das Ausmaß der Schmerzen und der Harnstauung hängt von Lokalisation, Größe und Wanderung der Steine ab. Nur Steine, die eine physiologische Enge passieren, z. B. vom Nierenbecken in den Ureter, führen zu einer Kolik. Symptome bei einer Harnsteinerkrankung können sein: ● Schmerzen im Rücken, die über einen langen Zeitraum bestehen können ● Koliken, die durch plötzlich eintretende sehr starke, krampfartige Schmerzen im Bereich der Nieren in Erscheinung treten und in die Flanken- und Leistengegend bis in die Genitalregion ausstrahlen können ● Harndrang bei tief sitzenden Steinen, Dysurie und Pollakisurie ● Mikro- und Hämaturie ● Übelkeit, Erbrechen und evtl. Fieber als Entzündungszeichen

33.4.3 Pflegeziele und -maßnahmen Schmerzreduktion während einer Kolik Spasmolytika und Analgetika werden i. d. R. intravenös verabreicht, um Krämpfe zu lösen und Schmerzen zu lindern. Eine Wärmflasche (S. 290) nach ärztlicher Anordnung kann zur Lösung der Spasmen verabreicht werden. Eine gezielte Schmerzbeobachtung ist Aufgabe der Pflegefachkraft. Das Kind sollte getröstet und nicht alleine gelassen werden.

Spontaner Steinabgang Das Kind muss viel trinken, um den Stein auszuschwemmen, da große Flüssigkeitsmengen zu einer Harnflut führen. Die Wünsche des Kindes sind dabei zu berücksichtigen. Im schmerzfreien Intervall sollte das Kind zur Bewegung angeregt werden, um den Stein zu lockern und einen spontanen Steinabgang zu ermöglichen, z. B. durch Treppenlaufen, Springen, Hüpfen, Seilspringen. Für gute Stuhlregulation muss gesorgt werden, was z. B. durch ballaststoffreiche Ernährung, Bewegung, Zäpfchen und Klysma erreicht werden kann (S. 388). Ein stark gefüllter Darm kann den Urinabfluss und den Steinabgang behindern. Jede Urinportion wird mit einem Spezialfilter gesiebt, um den Steinabgang nachzuweisen und ihn analysieren zu lassen, soweit dies noch nicht geschehen ist (▶ Abb. 33.11). Zur Diagnosestellung wird

Abb. 33.11 Urofilter. Der Urin wird gesiebt, um den Steinabgang nachzuweisen. (Foto: T. Stephan, Thieme)

654

33.5 Pflege eines Kindes mit Blasenentleerungsstörung der Urin auf Oxalsäure und Zitrat untersucht.

Extrakorporale Stoßwellenlithotripsie (ESWL) Ein kleiner Stein kann spontan abgehen oder bei entsprechender Größe durch extrakorporale Stoßwellenlithotripsie (ESWL) in griesartigen Steinsand zertrümmert werden. Dies geschieht durch elektromagnetische Stoßwellen, die außerhalb des Körpers erzeugt und mithilfe einer Ultraschallortung auf den Stein ausgerichtet werden. Im Nierenbecken oder Harnleiter werden sie zertrümmert und anschließend auf natürlichem Weg ausgeschieden.

Merke

H ●

Kontraindikationen für die ESWL sind Gerinnungsstörungen, unbehandelte Harnwegsinfektionen, Schwangerschaft und Aneurysmen.

▶ Vorbereitung und Durchführung. Vor einer ESWL wird der Urin auf pathogene Keime kontrolliert. Die Durchführung bei Kleinkindern erfolgt unter Narkose. Bei älteren Kindern und Jugendlichen ist i. d. R. eine Prämedikation und Verabreichung eines Analgetikums, Sedativums oder Spasmolytikums ausreichend. Die Entscheidung wird individuell vom Anästhesisten getroffen. Für die ESWL müssen die Kinder nüchtern sein. Am Vortag sollten keine blähenden Speisen gegessen oder kohlensäurehaltigen Getränke getrunken werden. ▶ Nachsorge. Die Kinder werden bezüglich Puls und Blutdruck überwacht. Zu den häufigeren Komplikationen zählen Flankenschmerzen, Hämaturie (Blut im Urin) und vorübergehende/r Harnleiterverengung bzw. -verschluss durch abgehende Steinfragmente. Jede Urinportion wird deshalb makroskopisch auf Blut kontrolliert. Mithilfe eines Schnelltests wird der erste Urin untersucht und jede Urinportion mithilfe des Urofilters gesiebt. Die Kinder werden aufgefordert, viel zu trinken und sich viel zu bewegen, z. B. Treppenlaufen, damit der Steinabgang gefördert wird. Einen Tag nach der ESWL wird das Ergebnis durch Ultraschall kontrolliert.

Kooperation bei der Harnsteinprophylaxe Nachdem der Stein bzw. die Steintrümmer abgegangen sind, werden diese ana-

lysiert, damit das Kind und die Eltern über prophylaktische Maßnahmen informiert werden können. ▶ Körperliche Betätigung. Durch regelmäßig aktive körperliche Bewegung, z. B. Treppensteigen, Schwimmen, Gymnastik, können kleine Harnkristalle leichter ausgeschwemmt werden. ▶ Ernährung. Die Kost sollte ausgewogen und abwechslungsreich sein und reichlich Gemüse, Salat und Obst enthalten. Der Eiweißbedarf wird wechselweise aus Milchprodukten, Geflügel, Fisch, geringen Fleischmengen und pflanzlichem Eiweiß gedeckt. Da adipöse Menschen eher zur Steinbildung neigen, sollten diese häufig kleine, fettarme Mahlzeiten zu sich nehmen, um eine Gewichtsreduktion zu erreichen. Auch sollte durch eine ballaststoffreiche Ernährung eine geregelte Stuhlregulierung angestrebt werden, um einen ungehinderten Urinfluss zu gewährleisten. Entsprechend der Steinzusammensetzung müssen evtl. bestimmte Nahrungsmittel gemieden bzw. vorrangig gegessen werden. Bei Harnsäure- und Calciumoxalatsteinen erfolgt eine Alkalisierung mit Alkalizitraten oder Allopurinol, um einen Urin-pH über 7,0 zu erhalten. Bei Infektsteinen wird eine Ansäuerung des Urins mit L-Methionin empfohlen.

Eltern

a ●

Bei Calciumoxalatsteinen sollte eine Einschränkung von Käse, Brokkoli, Fenchel, Spinat, Mangold, Rhabarber, dunkler Schokolade und Kakao erfolgen. Bei Harnsäuresteinen sollte die Ernährung basenreich und alkalisierend durch Kartoffeln, Gemüse, Früchte und Mehlspeisen sein und die Eiweißzufuhr in Form von Fleisch eingeschränkt werden.

▶ Flüssigkeitszufuhr. Eine reichliche Flüssigkeitszufuhr bewirkt eine Harnverdünnung, die wiederum einer Steinbildung entgegenwirkt. Daher sollte das spezifische Gewicht des Urins unter 1015 g/l liegen. Bei starkem Schwitzen wird empfohlen, zusätzlich stilles Wasser und Früchtetee zu trinken. ▶ Behandlung von Harnwegsinfekten. Harnwegsinfekte werden antibiotisch behandelt und Harnwegsfehlbildungen, die häufig Ursache von Harnwegsinfektionen sind, operativ korrigiert. Kind und Eltern erhalten Informationen über die Vorbeugung von Harnwegsinfektionen (S. 648).

33.5 Pflege eines Kindes mit neurogener Blasenentleerungsstörung 33.5.1 Ursache und Auswirkung Neurologische Störungen haben häufig Blasenentleerungsstörungen zur Folge. Die Ursachen sind entweder angeboren, z. B. durch Fehlbildungen im Bereich des Rückenmarks (Spina bifida), oder erworben, z. B. Rückenmarkveränderungen verschiedenster Genese. Das sakrale Miktionszentrum befindet sich in Höhe des Sakralmarks (Segmente S 2 –S 4) und ist für die reflexartige Auslösung der Miktion bei einer bestimmten Blasenfüllung zuständig. Die reflexartige Auslösung wird durch Kontrollzentren beeinflusst, die im Stammhirn und in der Hirnrinde lokalisiert sind. Die Formen der neurogenen Blasenentleerungsstörungen variieren entsprechend der vorliegenden Läsion (▶ Abb. 33.12). Ein spastischer Sphinkter birgt die Gefahr einer Niereninsuffizienz, da es durch den hohen Auslasswiderstand zum Urinrückstau im oberen Harntrakt kommt. Bei einem schlaffen Sphinkter wird der Blasenentleerung kein Widerstand entgegengesetzt, dementsprechend ist das Risiko für eine Schädigung der Nieren gering. Bei Vorliegen einer spastischen Blasenmuskulatur (Musculus detrusor vesicae) können zur Entspannung und dadurch Erhöhung der Blasenkapazität Antimuskarinika, wie Oxybutinin (z. B. Dridase), nach ärztlicher Anordnung verabreicht werden. Symptome einer Blasenentleerungsstörung sind: Harninkontinenz, ggf. veränderter Harngeruch infolge einer Harnwegsinfektion, Harnstrahlunterbrechun-

33

Detrusor

Sphinkter a

b

d

c hyperaktiv

hypoaktiv

Abb. 33.12 Formen der neurogenen Blasenentleerungsstörungen.

5

Pflege von Kindern mit Störungen des Urogenitalsystems gen, Blasenentleerung nur unter Zuhilfenahme der Bauchpresse, seltene Blasenentleerungen mit großen Harnvolumina.

Praxistipp Pflege

Zum regelmäßigen Katheterisieren sollte latexfreies Material benutzt werden, da es durch den ständigen Kontakt mit latexhaltigen Kathetern zum Entstehen einer gefährlichen Latexallergie kommen kann. Eltern werden vom Pflegepersonal entsprechend beraten. Die Blase darf nicht ausgedrückt werden, da dies zu einer Steigerung des Blaseninnendrucks und somit zu einem vesikoureteralen Reflux führen kann!

33.5.2 Pflegebedarf einschätzen

33

Es können sich folgende Pflegeprobleme ergeben: ● psychische Belastungen durch Harninkontinenz ● entzündlich veränderte Haut im Genitalbereich durch unkontrollierten Harnabgang ● Einschränkung der Selbstständigkeit bei Nichtbeherrschen des Selbstkatheterismus ● häufige Harnwegsinfektionen durch Restharn ● Gefahr von Nierenfunktionsstörung bzw. -verlust durch Parenchymschäden

33.5.3 Pflegeziele und -maßnahmen Intakte Haut Um die Haut der Kinder intakt zu erhalten, muss sie sauber und trocken sein. Daher ist es notwendig, dass die betroffenen Kinder häufig mit frischen Windeln oder Vorlagen versorgt werden oder Hilfestellungen zur Selbstversorgung erhalten (S. 365). Eine sorgfältige Dekubitusprophylaxe (S. 403) nach Einschätzung des Risikos durch Druckminderung ist unbedingt durchzuführen, da die Kinder infolge ihrer Innervationsstörung nicht nur in ihrer Bewegung gestört sind, sondern zusätzlich eine verminderte Hautdurchblutung sowie Sensibilitätsstörungen aufweisen.

Restharnfreie Blase Die Kinder lernen in der Klinik unter Anleitung, sich regelmäßig selbst zu katheterisieren, um die Blase restharnfrei zu entleeren, sog. intermittierendes Katheterisieren (S. 374). Erfolgt die Blasenentleerung über eine Zystostomie oder suprapubische Harnableitung, muss diese fachgerecht versorgt werden, um Harnwegsinfektionen vorzubeugen (S. 648).

Z ●

Förderung der Selbstständigkeit Unabhängigkeit ist für die betroffenen Kinder und Jugendlichen ein wichtiger Faktor, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Außerdem werden dadurch soziale Kontakte, Freizeitgestaltung, Schulbesuche und eine berufliche Ausbildung erleichtert. Die Kinder und Jugendlichen werden so weit wie möglich mit Einfühlungsvermögen zur Selbstständigkeit angeregt und zum Selbstkatheterismus (S. 375) angeleitet. Bei den täglichen Verrichtungen erhalten sie vom Pflegepersonal nur so viel Hilfe, wie sie unbedingt benötigen, und genügend Zeit eingeräumt, diese selbstständig durchzuführen. Das Katheterisieren ist für viele Rollstuhlpatienten eine sehr mühsame und teilweise nicht selbstständig durchzuführende Tätigkeit. Durch eine Operation kann eine inkontinente Harnableitung, z. B. mithilfe eines Kolon-Conduits, geschaffen werden. Aber auch der Zustand der Inkontinenz ist für viele Patienten mit neurogenen Blasenentleerungsstörungen sehr belastend, sodass durch Operation eine kontinente Harnableitung mittels eines „Mitrofanoff-Stomas“ oder MAINZPouch I erreicht werden kann.

33.6 Pflege eines Kindes mit Kolon-Conduit 33.6.1 Ursache und Auswirkung Ein Kolon-Conduit ist eine inkontinente Harnableitung, die meist vorübergehend durch Operation angelegt wird. Dafür wird ein ausgeschaltetes Dickdarmsegment gewählt, in das die Ureter antirefluxiv (s. ▶ Tab. 33.1) implantiert werden, um Harnwegsinfekte weitgehend zu vermeiden. Dieses Dickdarmsegment wird in Form eines Stomas nach außen geleitet, an der Bauchhaut fixiert (▶ Abb. 33.13) und der auslaufende Urin mit dem Beutel aufgefangen (▶ Tab. 33.2). Ein Conduit ist kein Urinreservoir, es hat lediglich Transportfunktion.

33.6.2 Pflegebedarf einschätzen Präoperativ kann es zu folgenden Pflegeproblemen kommen: ● Gefahr von Kreislaufstörungen, Erbrechen und Entgleisungen des Elektrolytund Wasserhaushaltes durch orthograde Darmspülung, die zur präoperativen Darmreinigung erfolgt (S. 391) ● Verlust der Intimsphäre durch die orthograde Darmspülung ● Angst vor unbekannten Untersuchungen und neuer Lebenssituation

b

a

Abb. 33.13 Kolon-Conduit-Verfahren. a Kolon-Conduit, b Stoma mit rechtem und linkem Harnleitersplint.

Tab. 33.2 Drainagen bei Kolon-Conduit.

656

Drainagen

Lage

Zweck

Dauer

Magenablaufsonde

im Magen

Entlastung des Magen-Darm-Trakts

ca. 3 – 5 Tage, abhängig von der Magensaftmenge

2 Harnleitersplints

in den Harnleitern, werden aus dem Stoma herausgeleitet

Schienung der implantierten Harnleiter und Ableitung des Harns

ca. 10 – 12 Tage

Wunddrainage

im Operationsgebiet

Ableitung von Wundsekret

ca. 2 – 3 Tage

Darmrohr

im Anus, mit Nähten fixiert

Entlastung des Darms

ca. 3 – 5 Tage

33.7 Pflege eines Kindes mit kontinentem Stoma Postoperativ ist das Auftreten folgender Pflegeprobleme gegeben: ● Gefahr von Durchblutungsstörungen im Bereich des Stomas ● Gefahr von Wundheilungsstörungen ● Gefahr von Hautreizung und -mazeration durch Urin ● Infektionsgefahr durch Drainagen und Urinableitungen ● Gefahr einer Verlegung der Harnableitungen durch Blutkoagel ● Minderwertigkeits- und Schamgefühle durch Inkontinenz und gestörtes Körperbild ● Ablehnung der inkontinenten Harnableitung ● Langeweile durch postoperativ bedingte Bettruhe Darüber hinaus können allgemeine präund postoperative Pflegeprobleme (S. 830) bestehen.

33.6.3 Präoperative Pflegeziele und -maßnahmen Komplikationsfreier Verlauf Die Kinder müssen für die angeordneten Untersuchungen, z. B. für intravenöses Pyelogramm, MCU, MAG-3-Clearance (S. 654), vorbereitet werden. Ein zentraler Venenkatheter wird ca. 1 – 2 Tage vor der Operation gelegt, um die Kinder perioperativ parenteral zu ernähren und einen Zugang für die notwendigen Blutkontrollen und Messung des zentralen Venendrucks zu haben. Alle notwendigen Kontrollen vor, während und nach der orthograden Darmspülung (S. 391) müssen durchgeführt werden. Die Stomatherapeutin sollte hinzugezogen werden, damit die ideale Stomaanlage gemeinsam mit dem Kind und den Eltern gefunden und anschließend eingezeichnet werden kann. Das Stoma sollte sich nicht im Bereich von Knochenvorsprüngen, bestehenden Narben oder in der Taille befinden, da an diesen Stellen die Hautschutzplatten nicht gut haften. Antibiotika werden nach ärztlicher Anordnung i. d. R. unmittelbar präoperativ verabreicht. ▶ Darmreinigung. Durch die nachfolgend aufgeführten Maßnahmen kann die Wundheilung unterstützt werden: ● Leichte Kost, z. B. in Form von Suppen und Kartoffelbrei, wird ca. 3 – 4 Tage vor der Operation verabreicht. Milchprodukte führen zu Ablagerungen auf der Darmschleimhaut, daher dürfen sie nicht mehr gegessen oder getrunken werden. ● Ein Klysma (S. 387), Reinigungseinlauf oder hoher Einlauf wird ca. 2 – 3 Tage vor der Operation auf ärztliche Anordnung durchgeführt und Abführmittel, nach Alter und Gewicht berechnet, verabreicht.



Eine orthograde Darmspülung (S. 391) wird bei dem Kind i. d. R. 2 Tage vor der Operation durchgeführt. Anschließend erhalten die Kinder Getränke und dünne Suppen, jedoch keine Milchprodukte.

Diese Maßnahmen sind notwendig, um den Darm so optimal wie möglich für die Operation vorzubereiten, d. h., ihn zu säubern. Kind und Eltern werden für die unangenehme und anstrengende Darmspülung durch gute Information zur Kooperation motiviert. Darüber hinaus müssen alle allgemeinen präoperativen Maßnahmen erfolgen (S. 830).

33.6.4 Postoperative Pflegeziele und -maßnahmen













Intakte Haut und Schleimhaut im Bereich des Stomas Merke

H ●

Die regelmäßige Kontrolle der Durchblutung des Stomas ist sehr wichtig, da eine blasse oder bläuliche Verfärbung der Schleimhaut auf eine Minderversorgung hinweist. Auffälligkeiten müssen dem Arzt mitgeteilt und dokumentiert werden.

Die ideale Anlage eines Stomas ist eine sehr wichtige Voraussetzung für die Hautpflege. Das Stoma sollte ca. 1,5 cm über dem Hautniveau hervorstehen, damit der Urin über die Hautschutzplatte in den Beutel fließen kann und somit ein Kontakt mit der Haut vermieden wird. Eine Hautschutzplatte wird erst erneuert, wenn sie nicht mehr sicher klebt, um eine unnötige Belastung der Haut zu vermeiden. Das Anbringen der Hautschutzplatte bei einem Conduit ist häufig sehr schwierig, da ständig Urin produziert wird, der kontinuierlich aus dem Stoma läuft. Es haben sich folgende Maßnahmen bewährt: ● Hautschutzplatte vor einer Flüssigkeitsaufnahme, z. B. Frühstück, auf die Haut kleben ● evtl. einen kleinen Tupfer auf das Stoma legen ● vor dem Ankleben der Hautschutzplatte das Kind bitten, einzuatmen und die Luft kurz anzuhalten

Gute Wundheilung und infektfreie Harnwege Zur Erreichung des Ziels sollten die nachfolgend aufgeführten Pflegemaßnahmen Beachtung finden:



Die Versorgung der Laparotomiewunde muss fachgerecht durchgeführt werden (S. 842). Urostomiebeutel mit Rücklaufsperre sind zu verwenden und alle hygienischen Regeln im Umgang mit den Harnableitungen zu beachten (S. 651). Eine Kontrolle der Harnableitungen, die sofort nach der Operation Urin fördern müssen, ist gewissenhaft durchzuführen. Außerdem wird nach der ärztlichen Anordnung eine Flüssigkeitsbilanz durchgeführt. Eine Stenose im Bereich des Stomas muss so rechtzeitig wie möglich erkannt werden, da ein Urinstau zu Infektionen und evtl. einer Nierenschädigung führen würde. Ein intraoperativ eingelegtes Darmrohr wird für ca. 3 – 5 Tage belassen, damit Darmgase entweichen können. Die Magenablaufsonde wird anfangs zur Entlastung tief und nach Rückgang des Magensekrets höher gehängt. Bei guter Toleranz kann die Magenablaufsonde im geschlossenen Zustand nach Anordnung gezogen werden. Die parenterale Ernährung erfolgt für ca. 2 – 3 Tage auf ärztliche Anordnung. Danach kann ein langsamer Nahrungsaufbau mit anfangs schluckweisem Tee und im weiteren Verlauf, sofern dieser gut vertragen wurde, mit Zwieback und trockenem Weißbrot beginnen. Danach können Weißbrot mit dünn gestrichener Butter, Kartoffelbrei, Soße und andere leicht verdauliche Nahrungsmittel den Kindern angeboten werden.

33

Darüber hinaus müssen alle notwendigen allgemeinen postoperativen Überwachungsund Pflegemaßnahmen (S. 834) durchgeführt werden.

Gestärktes Selbstvertrauen Sehr wichtig ist es, die Selbstständigkeit der Kinder zu fördern, damit sie lernen, ihre Harnableitung zu akzeptieren, und ihrem veränderten Zustand positiv gegenüberstehen. Eine Grundvoraussetzung ist die gute Anleitung der Kinder bzw. der Eltern durch das Pflegepersonal oder die Stomatherapeutin zur gezielten Haut- und Schleimhautbeobachtung, zum selbstständigen Anbringen der Hautschutzplatte sowie zur Beutelversorgung.

33.7 Pflege eines Kindes mit kontinentem Stoma 33.7.1 Funktion des MAINZ-Pouch I Es handelt sich beim MAINZ-Pouch I um eine permanente Harnableitung, bei der Kontinenz besteht. Der Begriff setzt sich zusammen aus den Begriffen Mixed (= gemischt), Augmentation (= plastisch-opera-

7

Pflege von Kindern mit Störungen des Urogenitalsystems

33

tive Vergrößerung eines Körperorgans), Ileum und Zökum sowie Pouch (engl. Beutel, im Sinne eines Ersatzreservoirs). Diese Form der Harnableitung wird auch als Ileozökal-Pouch bezeichnet. Mithilfe von ausgeschalteten, jedoch mit Blut versorgten Dick- und Dünndarmanteilen wird eine Ersatzblase mit hoher Kapazität, niedrigem Druck und zuverlässiger Kontinenz geschaffen. Das PouchStoma wird im Bereich des Nabels ausgeleitet, bleibt also unsichtbar (▶ Abb. 33.14). Die Pouch-Kapazität beträgt ähnlich wie die der Blase ca. 300 – 700 ml. Die Kontinenz ist ein großer Gewinn für den Patienten, jedoch müssen sie in der Lage sein, die Ersatzblase regelmäßig zu katheterisieren, um Komplikationen zu vermeiden. Intraoperativ werden Drainagen gelegt, um den Harn abzuleiten, den Darm zu entlasten und die Wundheilung zu fördern (▶ Tab. 33.3 u. ▶ Abb. 33.15).

33.7.2 Pflegebedarf einschätzen Postoperativ können infolge eines MAINZPouch I u. a. folgende Pflegeprobleme auftreten: ● Neigung zu Bauchschmerzen durch den gefüllten Pouch ● Gefahr einer Verlegung der Harnableitungen durch Blutkoagel ● Infektionsgefahr und evtl. Wundheilungsstörung durch Laparotomienaht ● Gefahr einer Nahtdehiszenz im Bereich des Pouches durch seltenes Katheterisieren ● Gefahr einer Azidose durch Resorption von Wasserstoffionen aus dem Urin ● Gefahr von Pouchsteinen durch Schleimproduktion der Darmanteile ● Gefahr von Harnwegsinfektionen durch Restharn



Vitamin-B-Mangel durch fehlende Dünndarmanteile, die für die Resorption notwendig sind

Darüber hinaus können allgemeine präund postoperative Pflegeprobleme bestehen.

33.7.3 Pflegeziele und -maßnahmen Prä- und postoperative Pflegeziele und -maßnahmen (S. 656) sind im Wesentlichen die gleichen wie beim Kolon-Conduit, da auch hier Darmanteile für die Harnableitung benötigt werden. Postoperativ müssen die Kinder 3–5 Tage nüchtern bleiben. Spezielle postoperative Pflegeziele und -maßnahmen des MAINZPouch I werden nachfolgend beschrieben.

Tab. 33.3 Drainagen bei MAINZ-Pouch I. Drainagen

Lage

Zweck

Dauer

Magenablaufsonde oder Gastrostomie

Fistel, die über die Haut direkt in den Magen führt

Entlastung des Magen-Darm-Trakts

ca. 5 Tage, nach ca. 4 Tagen hochhängen

2 Harnleitersplints

in jedem Harnleiter, werden neben dem Pouch-Stoma herausgeleitet

Schienung der implantierten Harnleiter, Gewährleistung des Abflusses

ca. 10 – 12 Tage, danach gehen die Kinder bis zum Entfernen des PouchKatheters nach Hause

Pouchostomie

im Pouch, wird über die Bauchhaut herausgeleitet

Ableitung des Harns, dient der Sicherheit, falls Pouch-Katheter nicht fördert

bleibt zur Sicherheit liegen, bis das Katheterisieren beherrscht wird

Pouch-Katheter

im Pouch, wird über das Stoma herausgeleitet

Ableitung des Harns

ca. 21 Tage, danach wird das Katheterisieren erlernt

Darmrohr

im Anus, wird mit Nähten fixiert

Entlastung des Darms

ca. 3 – 5 Tage

2 Wunddrainagen

im Operationsgebiet

zur Wundheilung

ca. 2 – 3 Tage

Magenablaufsonde

Stoma

oder Ersatzblase aus Dickund Dünndarmanteilen

Abb. 33.14 MAINZ-Pouch I. Das Stoma befindet sich im Bereich des Nabels.

Gastrostomie Wunddrainage Pouchostomie rechter und linker Harnleitersplint

Wunddrainage PouchKatheter

Abb. 33.15 Drainagen bei MAINZ-Pouch I. Lage der intraoperativ gelegten Drainagen.

658

33.7 Pflege eines Kindes mit kontinentem Stoma

Ungestörte Wundheilung Merke

H ●

Der Pouch-Katheter muss regelmäßig gespült werden, da der Pouch aus Darmanteilen geschaffen wurde, die Schleim produzieren und somit zum Verstopfen der Harnableitungen führen können.

Innerhalb der ersten 48 Stunden postoperativ darf er nicht angespült werden, damit eine Nahtdehiszenz im Bereich des Pouch vermieden wird. Danach sollte nach Bedarf und Anordnung das Spülen mit ca. 5 – 20 ml Kochsalzlösung 0,9 % erfolgen, z. B. 2-stündlich bei Bauchschmerzen, da diese durch den vollen Pouch verursacht werden können. Das Kind lernt zu unterscheiden, ob die Schmerzen durch die volle Ersatzblase oder andere Ursachen hervorgerufen werden. Nachdem der Pouch gut verheilt ist, erfolgt das Spülen zur Vermeidung von Pouch-Steinen ca. alle 8 Stunden, d. h. 3mal täglich mit 20 – 60 ml Kochsalzlösung 0,9 % oder mithilfe eines Spezialapplikators (Drain-jet). Die Spülflüssigkeit wird in den Pouch instilliert und fließt von selbst wieder ab. Nachdem der Pouch-Katheter gezogen wurde, muss der Pouch in regelmäßigen Abständen über das Pouch-Stoma katheterisiert werden, da ganz besonders im ersten Halbjahr die Gefahr einer Nahtdehiszenz (Auseinanderweichen der Naht) besteht.

Eltern

a ●

Die Kinder und Eltern werden diesbezüglich vom Pflegepersonal gut informiert und zum intermittierenden Katheterisieren angeleitet. Bei Kindern im Grundschulalter dauert das Beherrschen der Technik eine Weile, sodass anfangs die Eltern das Katheterisieren des Pouch übernehmen.

Die Pouchostomie verbleibt aus Sicherheitsgründen im abgeklemmten Zustand und kann nach erfolgreichem Katheterisieren gezogen werden. Die Kinder und Eltern werden darauf hingewiesen, das Katheterisieren wegen der Schleimproduktion mit einem weitlumigen Katheter oder einem speziellen Katheter mit 4 Katheteraugen (MobiStom) durchzuführen. Auch sollten bestimmte zeitliche Interval-

le eingehalten werden. Die Durchführung muss nicht unter sterilen Bedingungen erfolgen. Es genügt, sich vorher die Hände gründlich zu waschen und ggf. zu desinfizieren. Das Katheterisieren erfolgt anfangs 2stündlich, später alle 3 – 4 Stunden, mitunter auch nachts, wenn die Kinder unruhig sind, Urin aus dem Stoma läuft oder eine Infektion vorliegt. Die Kinder sollten sich dafür evtl. einen Wecker stellen. Um ihnen jedoch einen annähernd ungestörten Nachtschlaf zu ermöglichen, kann abends die Flüssigkeitsmenge eingeschränkt und der Pouch möglichst spät katheterisiert werden. Die Kinder werden dazu angehalten, tagsüber reichlich zu trinken, damit die Ersatzblase kontinuierlich gut durchgespült wird, da die Gefahr von PouchSteinen durch Schleimproduktion gegeben ist. Die Kinder bzw. die Eltern sollten die Trinkmengen anfangs notieren. Zusätzlich müssen vom Pflegepersonal die Ausscheidungsmengen kontrolliert werden. Zur Reduzierung der Schleimbildung und Vermeidung von Harnwegsinfektionen wird die Einnahme von Cranberry als Saft oder Kapsel empfohlen. Außerdem sollte regelmäßig der Vitamin-B12-Spiegel im Blut bestimmt werden, da häufig genau der Darmanteil, der für die Resorption des Vitamins benötigt wird, verwendet wurde.

Sicherheit für Pouch-Träger Die Kinder bekommen einen Pass, der sie als Pouch-Träger ausweist, um in Notfällen schwerwiegende Komplikationen zu vermeiden. Im Zustand der Bewusstlosigkeit besteht durch Unterlassen des Katheterisierens die Gefahr eines gefährlichen Harnstaus. Bei Notfalloperationen im Bereich des Abdomens ist die Gefahr der Eröffnung des Pouch gegeben, wenn der Operateur über das Vorhandensein einer Ersatzblase nicht informiert ist. Die Eltern und Kinder müssen darüber aufgeklärt werden, regelmäßig den SäureBasen-Haushalt kontrollieren zu lassen. Darmschleimhaut hat die Aufgabe, z. B. Wasser und Elektrolyte zu resorbieren, sodass Wasserstoffionen aufgenommen werden, die zu einer Azidose führen können. Mithilfe alkalischer Substanzen, z. B. Natriumhydrogenkarbonat, kann in diesem Fall eine Korrektur erfolgen. Liegt der Pouch bereits 5 Jahre oder länger, sollten aufgrund von möglichen Veränderungen und des erhöhten Karzinomrisikos Enddarm und Pouch regelmäßig gespiegelt werden.

33.7.4 Funktion des Mitrofanoff-Stomas Diese Operationstechnik wird z. B. bei Kindern mit neurogenen Blasenentleerungsstörungen durchgeführt, um, ebenso wie beim Mainz-Pouch I, ein kontinentes Stoma zu erhalten. Mit körpereigenem Material (Appendix oder einem kleinen Dünndarmabschnitt) wird ein Kanal gebildet über den die Entleerung aus der Originalblase oder einem Pouch (Ersatzblase) erfolgt. Ist die Blase zu klein, kann diese mithilfe von Darmanteilen vergrößert werden (Blasenaugmentation). Der Appendix (Wurmfortsatz) wird abgetrennt und mittels einer Untertunnelung so auf die Blase oder den Pouch aufgepflanzt, dass der Urin nicht von selbst abfließen kann. Das andere Ende des Appendix wird in die Bauchhaut eingenäht, sodass von außen nur eine winzige Öffnung zu erkennen ist. Es erfolgt dann das regelmäßige Katheterisieren der Blase über den Appendix, der als Tunnel dient. Der Urin wird nach der Operation mittels eines Blasenkatheters, der aus dem Stoma herausführt, einer Zystostomie und evtl. 2 Splints abgeleitet. Zur Entlastung und Wundheilung liegen eine Wunddrainage, eine Magenablaufsonde und ein Darmrohr. Der Blasenkatheter wird nach ca. 14 Tagen gezogen und die Kinder zum Katheterisieren über das Stoma angeleitet. Zystostomie, Splints, Magenablaufsonde, Wunddrainage und Darmrohr werden in den gleichen zeitlichen Abständen entfernt wie beim MAINZ-Pouch I. Auch die Pflegemaßnahmen werden im Wesentlichen wie beim MAINZ-Pouch I durchgeführt.

Eltern

33

a ●

Bevor die Kinder entlassen werden, ist eine gute Information der Eltern bezüglich Harnwegsinfektionen, z. B. blutiger oder unangenehm riechender Urin, Temperaturerhöhung oder Schwierigkeiten beim Einführen oder Entfernen des Katheters, notwendig. Sie werden auch zum Verbandwechsel an den Drainagen angeleitet.

9

Pflege von Kindern mit Störungen des Urogenitalsystems cher oder Sitzbäder durchgeführt werden. Der Penis ist hinsichtlich Schwellung und Verlauf der Wundheilung gut zu beobachten.

33.8 Pflege eines Jungen mit Phimose 33.8.1 Ursache und Auswirkung

33

Bei einer Phimose liegt eine Verengung der Vorhaut (Präputium) vor, die angeboren oder erworben sein kann. Unbehandelt führt sie häufig zu einer Balanitis (Entzündung der Glans penis) oder Balanoposthitis (Entzündung von Glans penis und Präputium). Bis etwa zum 3.– 4. Lebensjahr ist die Phimose physiologisch, da die Verklebungen des inneren Vorhautblattes mit der Oberfläche der Glans penis sich erst im 2. Lebensjahr zu lösen beginnen. Manipulationen jeglicher Art müssen daher unterbleiben, da diese zu Einrissen, Vernarbungen sowie einer Paraphimose führen können. Symptome einer Phimose sind: ● verengte Vorhaut lässt sich nicht über die Eichel zurückstreifen (▶ Abb. 33.16) ● häufig besteht eine rüsselförmig vergrößerte Vorhaut, die sich oft während der Miktion ballonförmig aufbläht (Zeichen für eine extrem enge Vorhautöffnung) ● stark abgeschwächter Harnstrahl während der Miktion ● Harnverhalten bei Verengung der Harnröhrenmündung (Meatusstenose)

Merke a

Duschen ist erlaubt, jedoch sollte keine Reinigung des Wundbereiches erfolgen.

Ist aus kosmetischen Gründen ein Vorhautrest belassen worden, sollte das Präputium täglich zurückgezogen werden. b

c

Abb. 33.17 Zirkumzision (Freihandtechnik). a Mittels kleiner Klemme wird das Präputium (Vorhaut) von der Glans (Eichel) separiert, b zirkuläre Schnittführung parallel zur Glans, c Adaptierung der Schafthaut mit Einzelknopfnähten.





Entzündungszeichen bei Vorliegen einer Balanitis/Balanoposthitis rezidivierende Harnwegsinfekte

Zur Beseitigung der Phimose erfolgt eine Zirkumzision, d. h. eine Beschneidung der Vorhaut (▶ Abb. 33.17).

33.8.2 Pflegebedarf einschätzen Es können folgende Pflegeprobleme nach einer Zirkumzision auftreten: ● Beeinträchtigung des Allgemeinzustandes durch postoperative Schmerzen und Schwellung ● Gefahr eines Harnstaus durch Harnverhalt infolge von Schmerzen ● Gefahr von Nachblutungen und Wundinfektionen

Schmerzverringerung und erfolgreiche Miktion Das Einsetzen und die Häufigkeit der Miktion müssen sorgfältig beobachtet werden, da durch Angst vor Schmerzen der Harndrang oft unterdrückt wird. Mit viel Geduld sollten die Jungen zur Miktion motiviert werden. Auf die Wundränder kann ein anästhesierendes Gleitmittel (z. B. Instillagel) aufgetragen werden. Nach Anordnung sind bei Bedarf rechtzeitig Schmerzmittel zu verabreichen. Eine Reifenbahre verhindert den Druck durch die Bettdecke. Die Jungen verlassen die Klinik häufig nach der ersten erfolgreichen Miktion oder bleiben noch eine Nacht zur Beobachtung.

Praxistipp Pflege

660

Z ●

Die Jungen werden aufgefordert, viel zu trinken, da ein gut verdünnter Urin nicht so stark bei der Miktion brennt. Außerdem sollten ihnen keine Zitrusgetränke angeboten und beengende Kleidung vermieden werden. Eine Schmerzlinderung während der Miktion kann erreicht werden, indem der Junge seinen Penis während des Urinierens in einen Becher hält, der mit körperwarmem Wasser gefüllt ist.

33.8.3 Pflegeziele und -maßnahmen

Abb. 33.16 Physiologische Phimose. Angeborene Phimose bei einem 2-jährigen Jungen. Ab dem 3. Lebensjahr sollte die Vorhaut zurückschiebbar sein. Sonst spricht man von einer Phimose. (Abb. aus: Stein R. Einteilung. In: Thüroff J, Hrsg. Urologische Differenzialdiagnose. 2. Auflage. Thieme; 2007)

H ●

H ●

Schnelle Wundheilung

Merke

Kompressen mit Salbenauflagen, z. B. Dexpanthenol, auf die Glans penis beugen Verklebungen mit dem Verband vor, bewirken eine schnellere Epithelisation und lindern Spannungsgefühle. Sie können mithilfe von Netzhosen locker fixiert werden. Das Infektionsrisiko wird durch häufiges Wechseln der Windeln und Erneuerung der Wundkompressen bei Verschmutzung reduziert. Bei Bedarf können täglich kühle Bäder mit medizinischen Zusätzen, z. B. Kamillenextrakten, nach ärztlicher Anordnung mithilfe kleiner Be-

Bei einer Balanitis/Balanoposthitis können Rötung und Schwellung der Vorhaut, evtl. auch Eiterabsonderung sowie Schmerzäußerungen und evtl. Harnverhalt beobachtet werden (▶ Abb. 33.18). Die Pflegeprobleme, -ziele und -maßnahmen orientieren sich an denen nach einer Zirkumzision.

Pflege von Kindern mit Störungen des Urogenitalsystems cher oder Sitzbäder durchgeführt werden. Der Penis ist hinsichtlich Schwellung und Verlauf der Wundheilung gut zu beobachten.

33.8 Pflege eines Jungen mit Phimose 33.8.1 Ursache und Auswirkung

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Bei einer Phimose liegt eine Verengung der Vorhaut (Präputium) vor, die angeboren oder erworben sein kann. Unbehandelt führt sie häufig zu einer Balanitis (Entzündung der Glans penis) oder Balanoposthitis (Entzündung von Glans penis und Präputium). Bis etwa zum 3.– 4. Lebensjahr ist die Phimose physiologisch, da die Verklebungen des inneren Vorhautblattes mit der Oberfläche der Glans penis sich erst im 2. Lebensjahr zu lösen beginnen. Manipulationen jeglicher Art müssen daher unterbleiben, da diese zu Einrissen, Vernarbungen sowie einer Paraphimose führen können. Symptome einer Phimose sind: ● verengte Vorhaut lässt sich nicht über die Eichel zurückstreifen (▶ Abb. 33.16) ● häufig besteht eine rüsselförmig vergrößerte Vorhaut, die sich oft während der Miktion ballonförmig aufbläht (Zeichen für eine extrem enge Vorhautöffnung) ● stark abgeschwächter Harnstrahl während der Miktion ● Harnverhalten bei Verengung der Harnröhrenmündung (Meatusstenose)

Merke a

Duschen ist erlaubt, jedoch sollte keine Reinigung des Wundbereiches erfolgen.

Ist aus kosmetischen Gründen ein Vorhautrest belassen worden, sollte das Präputium täglich zurückgezogen werden. b

c

Abb. 33.17 Zirkumzision (Freihandtechnik). a Mittels kleiner Klemme wird das Präputium (Vorhaut) von der Glans (Eichel) separiert, b zirkuläre Schnittführung parallel zur Glans, c Adaptierung der Schafthaut mit Einzelknopfnähten.





Entzündungszeichen bei Vorliegen einer Balanitis/Balanoposthitis rezidivierende Harnwegsinfekte

Zur Beseitigung der Phimose erfolgt eine Zirkumzision, d. h. eine Beschneidung der Vorhaut (▶ Abb. 33.17).

33.8.2 Pflegebedarf einschätzen Es können folgende Pflegeprobleme nach einer Zirkumzision auftreten: ● Beeinträchtigung des Allgemeinzustandes durch postoperative Schmerzen und Schwellung ● Gefahr eines Harnstaus durch Harnverhalt infolge von Schmerzen ● Gefahr von Nachblutungen und Wundinfektionen

Schmerzverringerung und erfolgreiche Miktion Das Einsetzen und die Häufigkeit der Miktion müssen sorgfältig beobachtet werden, da durch Angst vor Schmerzen der Harndrang oft unterdrückt wird. Mit viel Geduld sollten die Jungen zur Miktion motiviert werden. Auf die Wundränder kann ein anästhesierendes Gleitmittel (z. B. Instillagel) aufgetragen werden. Nach Anordnung sind bei Bedarf rechtzeitig Schmerzmittel zu verabreichen. Eine Reifenbahre verhindert den Druck durch die Bettdecke. Die Jungen verlassen die Klinik häufig nach der ersten erfolgreichen Miktion oder bleiben noch eine Nacht zur Beobachtung.

Praxistipp Pflege

660

Z ●

Die Jungen werden aufgefordert, viel zu trinken, da ein gut verdünnter Urin nicht so stark bei der Miktion brennt. Außerdem sollten ihnen keine Zitrusgetränke angeboten und beengende Kleidung vermieden werden. Eine Schmerzlinderung während der Miktion kann erreicht werden, indem der Junge seinen Penis während des Urinierens in einen Becher hält, der mit körperwarmem Wasser gefüllt ist.

33.8.3 Pflegeziele und -maßnahmen

Abb. 33.16 Physiologische Phimose. Angeborene Phimose bei einem 2-jährigen Jungen. Ab dem 3. Lebensjahr sollte die Vorhaut zurückschiebbar sein. Sonst spricht man von einer Phimose. (Abb. aus: Stein R. Einteilung. In: Thüroff J, Hrsg. Urologische Differenzialdiagnose. 2. Auflage. Thieme; 2007)

H ●

H ●

Schnelle Wundheilung

Merke

Kompressen mit Salbenauflagen, z. B. Dexpanthenol, auf die Glans penis beugen Verklebungen mit dem Verband vor, bewirken eine schnellere Epithelisation und lindern Spannungsgefühle. Sie können mithilfe von Netzhosen locker fixiert werden. Das Infektionsrisiko wird durch häufiges Wechseln der Windeln und Erneuerung der Wundkompressen bei Verschmutzung reduziert. Bei Bedarf können täglich kühle Bäder mit medizinischen Zusätzen, z. B. Kamillenextrakten, nach ärztlicher Anordnung mithilfe kleiner Be-

Bei einer Balanitis/Balanoposthitis können Rötung und Schwellung der Vorhaut, evtl. auch Eiterabsonderung sowie Schmerzäußerungen und evtl. Harnverhalt beobachtet werden (▶ Abb. 33.18). Die Pflegeprobleme, -ziele und -maßnahmen orientieren sich an denen nach einer Zirkumzision.

33.9 Pflege eines Jungen mit Hypospadie leichter gelingt. Notfalls erfolgt eine Durchtrennung des Schnürrings mit später nachfolgender Zirkumzision.

33.9 Pflege eines Jungen mit Hypospadie 33.9.1 Ursache und Auswirkung Abb. 33.18 Balanitis. Typisches Bild einer Balanitis. Entzündung der Vorhaut, die mit Rötung, Schwellung und evtl. Eiterabsonderung einhergeht. (Abb. aus: Krause H, Wagemann W. Prinzipien kinderchirurgischer Wundbehandlung. In: Lippert H, Hrsg. Wundatlas. 3. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Thieme; 2012)

Unter einer Hypospadie versteht man die Fehlmündung der Harnröhre an der Penisunterseite, die durch eine Entwicklungshemmung in der Embryonalperiode in Folge von Androgenmangel entstanden ist. Als Risikofaktoren gelten auch ein niedriges Geburtsgewicht sowie eine familiäre Belastung. Entsprechend der Lokalisation wird sie in verschiedene Formen eingeteilt, die durch unterschiedliche Schweregrade gekennzeichnet sind (▶ Abb. 33.20). Bei den leichten Formen

Prophylaxe einer Paraphimose Eine Paraphimose ist ein Notfall, der durch Einschnürung der zu engen phimotischen Vorhaut des Penis nach dem Zurückstreifen hinter dem Eichelkranz entsteht. Der entstandene Schnürring führt zu Durchblutungsstörungen, da der venöse Rückfluss behindert ist, jedoch der arterielle Zufluss erhalten bleibt. Es kommt zu einer massiven ödematösen Schwellung der Vorhaut, die bläulich verfärbt ist. Aufgrund der massiven Schwellung wird sie auch als „spanischer Kragen“ bezeichnet (▶ Abb. 33.19). Eine Paraphimose kann während der Pflegemaßnahmen hervorgerufen werden, indem die zurückgeschobene Vorhaut nach der Intimtoilette nicht über die Eichel zurückgeführt wird. Durch den sofort benachrichtigten Urologen wird eine vorsichtige manuelle Reposition nach Auftragen einer lidocainhaltigen Salbe (z. B. Emla) vorgenommen, die im Frühstadium

H. glandis H. coronaria H. penis H. penoscrotalis

H. scrotalis

Abb. 33.20 Hypospadie. Verschiedene Hypospadieformen.

der Hypospadie bedeutet eine Operation lediglich eine kosmetische Korrektur, da Harn- und Samenentleerung i. d. R. nicht gestört sind. Eine Operation im Bereich der Harnröhre birgt die Gefahr von Fisteln und Vernarbungen, sodass sie nur bei funktionellen Formen, d. h. bei Gliedkrümmung oder Harnentleerungsstörung, erfolgen sollte. Aus psychischen Gründen sollte die Operation zwischen dem 9. und 18. Lebensmonat durchgeführt werden und bis zur Beendigung des 3. Lebensjahres abgeschlossen sein. Symptome einer Hypospadie sind: ● dorsale (rückseitige) Vorhautschürze ● abgelenkter Harnstrahl und evtl. Harnstrahlabschwächung ● bei ausgeprägten Formen kommt es zu einer Krümmung des Penis (▶ Abb. 33.21)

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33.9.2 Pflegebedarf einschätzen Bei dieser Fehlbildung der Harnröhre können folgende Pflegeprobleme auftreten: ● Minderwertigkeitsgefühl durch abgelenkten Harnstrahl ● Unsicherheit und Ängste der Eltern bezüglich Fertilitätsstörung ● Ängste des Kindes bezüglich postoperativer Schmerzen ● Gefahr einer postoperativen Wundheilungsstörung

33.9.3 Präoperative Pflegeziele und -maßnahmen Positive Einstellung der Eltern Eine wichtige Voraussetzung ist die gute Information der Eltern durch die Ärzte bezüglich Operationsverfahren und der zu erzielenden kosmetischen Ergebnisse sowie der emotionalen Betreuung durch das Pflegepersonal. Sie helfen den Eltern, sich mit der Fehlbildung ihres Kindes auseinanderzusetzen und ihrem Kind während der prä- und postoperativen Phase zur Seite zu stehen.

Optimales Operationsergebnis

Abb. 33.19 Paraphimose. Operationsindikation. (Abb. aus: Baumann T. Untersuchung. In: Baumann T, Hrsg. Atlas der Entwicklungsdiagnostik. 4., unveränderte Auflage. Stuttgart: Thieme; 2015)

Abb. 33.21 Hypospadie. Penile Torsion bei distaler Hypospadie. (Abb. aus: Stein R. Hypospadie. In: Thüroff J, Hrsg. Urologische Differenzialdiagnose. 2. Auflage. Thieme; 2007)

Zur präoperativen Vorbereitung kann nach ärztlicher Anordnung die Penishaut mit 1- bis 2-prozentiger Testosteroncreme vorbehandelt werden, damit optimale lokale Operationsbedingungen durch vorübergehende Penisvergrößerung und verbesserte Durchblutung geschaffen werden. Dies sollte mindestens über einen Zeitraum von 6 Wochen geschehen. Zum Auftragen der Testosteroncreme müssen Handschuhe getragen werden, um eine Resorption über die Haut zu vermeiden.

1

Pflege von Kindern mit Störungen des Urogenitalsystems

33.9.4 Postoperative Pflegeziele und Pflegemaßnahmen Physiologische Durchblutung von Haut und Schleimhaut

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Folgende Pflegemaßnahmen werden postoperativ durchgeführt: ● Die Beobachtung der Glans penis bezüglich Schleimhautfarbe erfolgt regelmäßig. Bei einer zyanotischen Veränderung muss der Urologe benachrichtigt werden, da es durch massive Schwellungen zu einer Minderversorgung des Gewebes kommen kann. ● Bei starker Schwellung im Bereich des Operationsgebietes sollte nach ärztlicher Anordnung Bettruhe eingehalten werden. ● Der Zeitpunkt des ersten Verbandwechsels ist von der Art des Wundverbandes abhängig. Die heute verwendeten Folienverbände oder Kompressen werden meist am 2. postoperativen Tag vom Urologen gewechselt. Ein fester Verband wird bei einer massiven Schwellung angelegt und verbleibt für einige Tage.

Infektfreie ableitende Harnwege Der Abfluss des Harns wird über eine Harnröhrenschiene (Splint), einen Blasenkatheter oder ggf. über eine Zystostomie gewährleistet. Bei der penilen Hypospadie wird zunehmend der Blasenkatheter bereits im Operationssaal entfernt, sodass weder eine Schienung noch eine Harnableitung besteht. Liegt ein Splint, werden dem Jungen 2 Windeln angelegt, wobei die 1. Windel einen Schlitz für den Splint erhält. Der Urin wird von der 2. Windel aufgefangen. Der Harnabfluss ist sorgfältig zu kontrollieren und zu dokumentieren. Können die Jungen spontan Urin entleeren, werden die ersten beiden Miktionen kontrolliert. Diesbezüglich sollten auch die Eltern informiert werden, da sie die Kinder häufig zur Toilette begleiten. Sofern keine Probleme bei der Miktion bestehen, werden die Jungen nach Hause entlassen und nach 10 Tagen zum Ziehen des Splints wieder einbestellt. Liegt eine Zystostomie, wird die Restharnmenge durch Ultraschalluntersuchung kontrolliert, indem sie für eine bestimmte Zeit abgeklemmt wird. Der korrekte Umgang mit Harnableitungen wird im Abschnitt „Pflege eines Kindes mit Harntransportstörungen“ (S. 649) beschrieben. Der Urin wird auf Zeichen einer Harnwegsinfektion beobachtet.

662

Eltern

a ●

Die Eltern werden vor der Entlassung des Kindes hinsichtlich Beobachtung sowie Reinigung der Splintaustrittsstelle und auf Anzeichen eines Harnwegsinfektes informiert (S. 365).







Schmerzlinderung und ungestörte Wundheilung Um Druck durch die Bettdecke zu verhindern, kann bei Bedarf eine Reifenbahre in das Bett gestellt bzw. beengende Kleidung vermieden werden. Nach ärztlicher Anordnung wird abends Diazepam verabreicht, das besonders nachts auftretende schmerzhafte Spontanerektionen vermeiden soll. Die erste Miktion ist sehr schmerzhaft, besonders bei fehlendem Blasenkatheter oder Splint. Es können daher Schmerzmittel verabreicht werden. Auch sollten die Jungen aufgefordert werden, viel zu trinken, da weniger konzentrierter Urin nicht so stark brennt. Die Einhaltung der hygienischen Grundprinzipien ist Voraussetzung für eine gute Wundheilung.

33.10 Pflege eines Jungen mit Hodendystopie 33.10.1 Ursache und Auswirkung Bei der Hodendystopie (Maldescensus testis) handelt es sich um eine angeborene Fehllage eines oder beider Hoden. Als Ursache wird eine Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Dysfunktion angenommen, die z. B. durch einen zu hohen Östrogengehalt der Mutter in den ersten Monaten der Schwangerschaft entstehen kann. Ein deutlich erhöhtes Risiko findet sich bei familiärer Belastung und Frühgeborenen. Der Hodendeszensus, d. h. die Wanderung beider Hoden in das Skrotum, beginnt ca. im 7. Fetalmonat und ist zum Zeitpunkt der Geburt abgeschlossen. Nach Vollendung des Deszensus verschließt sich der noch offene Processus vaginalis peritonei, eine peritoneale Aussackung, die bis in das Skrotum reicht. Wenn der Deszensus nicht stattfindet, kommt es auch nicht zum Verschluss des Processus vaginalis peritonei, sodass Hodenfehllagen sehr häufig mit Leistenhernien verbunden sind. Formen der Hodendystopie sind: ● Pendelhoden: Er ist normal ins Skrotum deszendiert, kann jedoch durch äußere Reize (Kremasterreflex) hochrutschen.



Gleithoden: Er lässt sich bei der Untersuchung ins Skrotum verschieben, rutscht jedoch sofort zurück, da der Samenstrang zu kurz ist. Hodenretention: Der Hoden bleibt auf dem normalen Weg ins Skrotum stecken. Es werden entsprechend der Lage Bauchhoden und Leistenhoden unterschieden. Hodenektopie: Der Hoden liegt im Bauchraum. Ein Deszensus durch den Leistenkanal ist nicht möglich. In diesem Fall ist eine Hormontherapie zwecklos. Anorchie: Die Hoden fehlen völlig.

Die Diagnose wird durch Tastbefund (leeres Skrotum), Ultraschalluntersuchung oder Kernspintomografie gestellt. Die Therapie erfolgt zwischen dem 6. und 9. Lebensmonat mit LH/RH-Nasenspray (Luteinisierendes-Hormon/Releasing-Hormon) als Sprühstoß in jedes Nasenloch 3mal-täglich über 4 Wochen. Eine subkutane Therapie mit HCG (humanem Choriongonadotropin) an 3 aufeinanderfolgenden Wochen kann versucht werden. Führt dies nicht zum Deszensus, sollte die operative Verlagerung des Hodens bis Ende des 1. Lebensjahres abgeschlossen sein. Sie wird als Orchidopexie bezeichnet und besteht aus der Lösung des Hodens von seinen Haltefasern, Herunterziehen und Fixierung im Skrotum.

Merke

H ●

Gefahren einer zu langen Fehllage des Hodens sind Entartung des Hodengewebes und Fertilitätsminderung, da die Spermatogenese durch die 2 °C höhere Temperatur im Bauchraum gestört ist.

33.10.2 Pflegebedarf einschätzen Nach einer Orchidopexie können sich folgende Pflegeprobleme ergeben: ● postoperative Schmerzen und Schwellung durch Orchidopexie ● Wundheilungsstörung ● Lösung der Hodenfixierung infolge Bewegung

33.10.3 Pflegeziele und -maßnahmen Sichere Fixierung des Hodens Die Kinder sollten sich 2 – 3 Tage wenig bewegen (Kinderwagen), um das Operationsergebnis nicht zu gefährden. Damit die Kinder und Eltern sich an die Anweisung halten, werden sie ausführlich aufgeklärt und zur Kooperation motiviert.

33.12 Pflege eines Kindes mit nephrotischem Syndrom

Schmerzlinderung, infektionsfreie Wunde

33.11.3 Pflegeziele und -maßnahmen

Zur Schmerzlinderung und Abschwellung kann der Hoden mittels eines Hodenbänkchens oder eines Handtuchverbandes hochgelagert werden. Für den Handtuchverband wird ein zusammengefaltetes Handtuch um die Beine des Jungen gelegt und fixiert, sodass der Hoden erhöht auf dem Handtuch liegt. Wird in seltenen Fällen unter der Operation eine Mini-RedonDrainage gelegt, erfolgt der Umgang unter Beachtung aseptischer Bedingungen.

Besserung des Allgemeinbefindens

Praxistipp Pflege

Z ●

Die Drainage muss so gelagert werden, dass ein Zusammendrücken des Faltbalgs vermieden wird.

Der Verband wird auf Nachblutungen kontrolliert. Eine Verunreinigung des Verbands mit Urin und Stuhl sollte weitgehend vermieden werden. Der Verbandwechsel (S. 845) wird nach ärztlicher Anordnung durchgeführt.

33.11 Pflege eines Jungen mit Orchitis 33.11.1 Ursache und Auswirkung Die Hodenentzündung erfolgt meist durch eine fortgeleitete Harnröhrenentzündung oder auf hämatogenem Weg als Komplikation nach Mumps. Da der Nebenhoden dem Hoden unmittelbar aufliegt und beide von einer gemeinsamen Hülle umgeben sind, ist häufig auch der Nebenhoden mit betroffen (Epididymitis). Symptome bei Orchitis/Epididymitis sind: ● massive Schwellung einer oder beider Skrotalhälfte/n ● Druckempfindlichkeit und im weiteren Verlauf starke Schmerzen ● hochrote, glänzende Haut am Skrotum ● hohes Fieber

33.11.2 Pflegebedarf einschätzen Diese Pflegeprobleme können auftreten: ● beeinträchtigter Allgemeinzustand durch starke Schmerzen, die in die Leistenregion und Rücken ausstrahlen ● gestörtes Wohlbefinden durch hohes Fieber ● Ängste der Eltern bezüglich einer Fertilitätsstörung infolge der Entzündung

Durch folgende Maßnahmen soll das Allgemeinbefinden verbessert werden: ● Bettruhe und Hochlagerung des Hodens (S. 663) zur Schmerzreduktion und Verbesserung des Lymphabflusses ● Anlegen von Salbenverbänden zur Abschwellung (z. B. mit Hirudoid-Salbe) oder kühlenden Umschlägen (S. 289) ● Verabreichung von Antiphlogistika, bei Verdacht auf eine bakterielle Infektion Antibiotika nach Arztanordnung ● Durchführung von Maßnahmen zur Regulierung der Körpertemperatur (S. 287) ● bei Blasenentleerungsstörungen ist ggf. der Urin über einen suprapubischen Blasenkatheter (S. 377) abzuleiten ● bei Jugendlichen hat sich in schweren Fällen das Anlegen von Blutegeln im Bereich des Skrotums nach ärztlicher Anordnung bewährt; Blutegel sind in der Apotheke erhältlich

Praxistipp Pflege

Z ●

Die Blutegel beißen sich besser fest, wenn die Haut vorher mit Zuckerwasser bestrichen wird. Nach ca. einer halben Stunde haben sie sich mit Blut vollgesaugt und fallen ab. Danach werden sie entsorgt.

33.12 Pflege eines Kindes mit nephrotischem Syndrom 33.12.1 Ursache und Auswirkung Das nephrotische Syndrom ist keine Krankheit, sondern eine Kombination verschiedener Symptome. Es ist durch einen massiven Eiweißverlust (> 1 g/qmKOF/ Tag), der durch eine Proteinurie hervorgerufen wird, gekennzeichnet. Ursache der Proteinurie ist eine verstärkte Durchlässigkeit der glomerulären Basalmembran. Daraus resultiert eine Hypalbuminämie. Der niedrige Albumingehalt im Blut führt durch die Verminderung des intravasalen onkotischen Drucks zu einer verstärkten Wasseransammlung im Gewebe. Eine gefürchtete Komplikation ist der hypovolämische Schock. Durch Globulinverlust kommt es zu einer geschwächten Abwehr und durch Anti-Thrombin-III-Mangel zu einer gesteigerten Blutgerinnung mit der Gefahr einer Thrombenbildung,

die durch die resultierende Hypovolämie noch begünstigt wird. Zusätzlich werden Hyperlipidämie und Hypercholesterinämie beobachtet, die über einen längeren Zeitraum bestehen bleiben. Die Nierenfunktion ist in den meisten Fällen normal oder nur vorübergehend eingeschränkt. Symptome des nephrotischen Syndroms sind: ● stark ausgeprägte, generalisierte Ödeme besonders im Bereich der Augenlider, des Skrotums oder der großen Labien und symmetrisch auftretende Unterschenkel- und Knöchelödeme ● Gewichtszunahme, ausladendes Abdomen durch Aszites und evtl. erschwerte Atmung infolge eines Pleuraergusses ● der Urin ist durch die Proteinurie milchig trüb (Schaumbildung entsteht nach Aufschütteln des Urins) ● Oligurie und ein erhöhtes spezifisches Gewicht des Urins ● Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen und Durchfall als Folge von Ödemen im Bereich der Darmschleimhaut ● Müdigkeit und Antriebsarmut ● selten tritt eine Hypertonie auf

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33.12.2 Pflegebedarf einschätzen Bei Kindern mit nephrotischem Syndrom können sich folgende Pflegeprobleme ergeben: ● Gefahr des hypovolämischen Schocks (S. 868) durch Flüssigkeitsmangel im Gefäßsystem ● Infektionsgefahr mit Neigung zu bakteriellen Infektionen durch fehlende Gammaglobuline ● erhöhte Thrombosegefahr durch AntiThrombin-III-Mangel und Hypovolämie ● Appetitlosigkeit und Ablehnung der kochsalzarmen Kost oder starkes Hungergefühl durch Kortisontherapie ● Durstgefühl durch Flüssigkeitsreduktion ● Angstgefühl durch Dyspnoe bei Pleuraerguss ● Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls durch verändertes Körperbild infolge von Ödemen und Cushing-Syndrom bei Kortisontherapie ● gestörtes Allgemeinbefinden und Leistungsabfall durch Müdigkeit

33.12.3 Pflegeziele und -maßnahmen Physiologischer Flüssigkeitshaushalt Gewichtskontrollen müssen u. U. 2-mal täglich erfolgen, auch wird der Hautturgor in regelmäßigen Abständen kontrolliert. Der Urin wird über 24 Stunden gesammelt und eine Flüssigkeitsbilanz erstellt.

3

Pflege von Kindern mit Störungen des Urogenitalsystems

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Die Reduktion von Kochsalz und Flüssigkeit ist ein wichtiges Behandlungsprinzip bei Ödemen. Die Flüssigkeitsrestriktion darf jedoch nicht übertrieben werden, da durch die bestehende Hypovolämie das Entstehen von Thrombosen begünstigt wird. Für die Kinder, die unter dem Durstgefühl sehr leiden, ist es oft schwierig, sich an die Flüssigkeitseinschränkung zu halten. Der Wasserhahn im Zimmer stellt eine große Versuchung dar.

Eltern

a ●

Kindgerechte Aufklärung und die Information der Eltern über den Sinn der Flüssigkeitsrestriktion und Überwachung der erlaubten Trinkmenge stellen hohe Anforderungen an Eltern, Kinder und Pflegepersonal.

Durch Tricks kann die Flüssigkeitsmenge optisch vergrößert werden, z. B. indem den Kindern die kleinen Trinkmengen in schmalen Behältnissen angeboten werden. Auch das Lutschen von Eiswürfeln kann Durst vorübergehend löschen. Hilfreich ist es, wenn gemeinsam mit dem Kind und den Eltern ein Tagestrinkplan erstellt wird. Ältere Kinder können vom Pflegepersonal angeleitet werden, die Dokumentation ihrer Trinkmengen selbst vorzunehmen. Tägliche Urinkontrollen (morgens) auf der Station erfolgen in Form von Urin-Stix zur Eiweißkontrolle und Messen des spezifischen Gewichtes. Für die tägliche Eiweißuntersuchung im Urin wird Sammelurin zur Laborkontrolle benötigt. Auf dem Laborschein müssen die Gesamtmenge sowie die Zeitspanne des Sammelurins vermerkt werden. Kontrollen der Atmung und des Bauchumfangs zum Erkennen eines Aszites erfolgen nach ärztlicher Anordnung in regelmäßigen Abständen. Wird eine Pleurapunktion (S. 790) durchgeführt, ist die Assistenz eine Aufgabe des Pflegepersonals. Eine Aszitespunktion sollte wegen der extrem hohen Peritonitisgefahr möglichst nicht erfolgen. Nach ärztlicher Anordnung werden in ausgeprägten Fällen Diuretika unter intensiver Überwachung verabreicht. Wegen der erhöhten Thrombosegefahr und zur Vermeidung eines hypovolämischen Schocks ist diesbezüglich Zurückhaltung erforderlich. In Akutsituationen, d. h. bei Gefahr oder Bestehen eines hypovolämischen Schocks, kann nach Anordnung Humanalbumin 20 % gegeben werden. Normalerweise wird darauf verzichtet, da das Eiweiß sofort wieder ausgeschieden wird.

664

Physiologische Blutzirkulation Die nachfolgend aufgeführten Maßnahmen sind zu beachten: ● Bettruhe ist trotz großer Müdigkeit zu vermeiden. Die Kinder sollten angehalten werden, sich zu bewegen, um die Entstehung von Thromben infolge der Hypovolämie und des Mangels an AntiThrombin III zu verhindern. Eine Überanstrengung sollte jedoch vermieden werden. ● Durch regelmäßige individuell festgelegte Blutdruck- und Pulskontrollen können Blutdruckerhöhungen oder der gefürchtete hypovolämische Schock rechtzeitig erkannt werden. Auch sollte auf Hautblässe und Verhalten des Kindes geachtet werden. ● Bei besonders thrombosegefährdeten Kindern können Heparin-Injektionen nach ärztlicher Anordnung verabreicht werden.

Infektfreier Zustand Zur Unterstützung können folgende Maßnahmen beitragen: ● Den Kindern wird eine vitaminreiche Kost zur Stärkung der Immunabwehr angeboten. ● Pflegepersonal und Mitpatienten sollten infektfrei sein. Patienten und Angehörige werden bezüglich der erhöhten Infektionsgefahr informiert und angeleitet, damit sie alle notwendigen hygienischen Maßnahmen einhalten. ● Bei pflegerischen Maßnahmen ist auf ein hygienisches Vorgehen zu achten. ● Eine Umkehrisolation kann ggf. notwendig werden, sog. Schutzisolierung (S. 740), da die Immunabwehr herabgesetzt ist. ● Eine Penicillin-Prophylaxe kann wegen der Gefahr einer Pneumokokkeninfektion notwendig werden.

Ausgewogene Nährstoff- und Elektrolytzufuhr Eine adäquate Nährstoffzufuhr kann durch Einhaltung der nachfolgenden Ernährungsempfehlungen erreicht werden. Eine bedarfsgerechte Eiweißzufuhr erfolgt z. B. in Form von Milchprodukten, Geflügel, Fleisch und Fisch. Von einer hohen Eiweißzufuhr wird i. d. R. abgesehen, da über die Effektivität dieser diätetischen Maßnahme keine sicheren Ergebnisse vorliegen. Es wird sogar vermutet, dass eine hohe Eiweißzufuhr zur Schädigung der Glomeruluskapillare führt. Gemeinsam mit Kind und Eltern kann eine Kost zusammengestellt werden, die den altersgemäßen Eiweiß- und hohen Nährstoffbedarf deckt. Damit die salzarme Kost toleriert wird, kann sie durch Wür-

zen mit Kräutern schmackhafter gemacht werden. Auch sollte sie in kleinen Portionen appetitanregend angerichtet und in einer ruhigen Umgebung eingenommen werden. Große Hungergefühle während der Kortisontherapie können durch Ablenkung in Form von altersentsprechender Beschäftigung, z. B. mit Spielen oder Vorlesen, gemildert werden. Kaliumverluste, die während der Diuretikatherapie auftreten, können durch entsprechende Nahrungsmittel (Obstsäfte oder Aprikosen) sowie durch Medikamentengabe nach ärztlicher Anordnung ausgeglichen werden. Als Diuretika werden Aldosteronantagonisten verabreicht, die die Kaliumrückresorption fördern.

Pflegerische Mitwirkung bei medizinischen Maßnahmen Pflegefachkräfte assistieren bei folgenden Maßnahmen: ● Assistenz einer Pflegefachkraft bei Blutentnahmen zur Elektrolyt- und Eiweißbestimmung im Serum. ● Verabreichung und Überwachung der ärztlich angeordneten Kortisontherapie (über 12 Wochen); die Pflegefachkraft hat die Aufgabe, sich von der erfolgten Einnahme zu überzeugen und das Kind bezüglich auftretender Nebenwirkungen zu beobachten. ● Bei Vorliegen einer Kortisonresistenz wird eine Nierenbiopsie (S. 792) notwendig, bei der die Pflegefachkraft assistiert. ● Eine Immunsuppression kann mit Cyclosporin A oder einer Zytostatikatherapie mit Cyclophosphamid (Endoxan) durchgeführt werden, wenn es unter der Behandlung mit Kortison zu toxischen Nebenerscheinungen und häufigen Rezidiven kommt. Die Pflegefachkraft hat die Aufgabe, das ärztlich verordnete Medikament fachgerecht zu verabreichen. Cyclosporin A sollte stets zur gleichen Zeit, in geregelten Abständen zu den Mahlzeiten mit Apfelsaft oder Wasser eingenommen werden, um eine gleichmäßige Wirkung zu erzielen. Keinesfalls sollte Grapefruitsaft getrunken werden, da dieser Nebenwirkungen verstärkt. Ein Wechsel der Getränke sollte vermieden werden, da es sonst wegen unterschiedlicher Resorptionsraten zu erheblichen Schwankungen des Cyclosporin-Spiegels kommen kann. Auch sollten keine Plastikbecher benutzt werden, da sich das Medikament in den Poren ablagert und die Effektivität mindert. ● Die Kinder werden durch Geduld und kindgerechten Zuspruch zur Mitarbeit bei den notwendigen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen motiviert.

33.14 Pflege eines Kindes mit akuter Niereninsuffizienz

Ausgeglichene Stimmungslage Häufig besteht bei den betroffenen Kindern eine depressive Stimmungslage, die durch den i. d. R. langen Krankenhausaufenthalt, die Isolation wegen der großen Infektanfälligkeit und das oft stark veränderte Körperbild zu erklären ist. Außerdem bestehen verstärkte Müdigkeit und Antriebsarmut. Vonseiten des Pflegepersonals ist es deshalb besonders wichtig, mit viel Geduld und Einfühlungsvermögen auf die Kinder einzugehen, ihnen Mut zu machen, sie zu motivieren und sie so viel wie möglich mit leichten Spielen abzulenken.

Beratung und Anleitung der Eltern Eltern erhalten vom Pflegepersonal bei Bedarf Hilfestellung für die Beschäftigung ihres Kindes, indem sie es zu Spielen mit leichter Bewegung oder kleinen Spaziergängen ohne Überforderung motivieren. Für die Betreuung ihres Kindes zu Hause werden sie im Umgang mit den Teststreifen unterwiesen, damit sie die Urinkontrollen (morgens) durchführen können. Die Eltern erhalten ein Protokollheft, in das sie Gewicht, Eiweiß und Blut im Urin, Medikamentengabe sowie Auffälligkeiten eintragen können. Auch müssen sie wissen, dass bei erneut auftretenden Ödemen oder Infekten ein Arzt konsultiert werden muss.

33.13 Pflege eines Kindes mit akuter postinfektiöser Glomerulonephritis 33.13.1 Ursache und Auswirkung Die akute postinfektiöse Glomerulonephritis entsteht meist 3 – 4 Wochen nach einer überstandenen Infektion. Am häufigsten gehen Streptokokkeninfektionen, z. B. Angina, Scharlach oder Otitis media, voraus. Es können jedoch auch andere pathogene Keime, z. B. Staphylokokken, Mykobakterien, Pilze und Viren diese Erkrankung auslösen. Die postinfektiöse Glomerulonephritis betrifft häufig ältere Kinder oder junge Erwachsene. Antigen-Antikörper-Komplexe lagern sich an der Basalmembran der Nieren ab und rufen dort Entzündungsreaktionen hervor. Die Folge ist eine eingeschränkte Nierenfunktion mit Hypervolämie, Anstieg der harnpflichtigen Substanzen (Harnstoff, Kreatinin, Harnsäure) und des Kaliumspiegels. Weiterhin besteht eine vermehrte Durchlässigkeit der Glomerulusmembran für Eiweiß und Erythrozyten. Der Antistreptolysintiter ist erhöht und

Abb. 33.22 Makro-Hämaturie. Der Urin hat eine fleischwasserfarbene bis braune Färbung. (Foto: T. Stephan, Thieme)

die Gesamtkomplementaktivität (unspezifische humorale Abwehrreaktion) ist erniedrigt. Außerdem befinden sich im Sediment des Urins Erythrozytenzylinder. Im Verlauf der Erkrankung kann es zu Lungenödem, Pleura- und/oder Perikarderguss kommen. In den meisten Fällen heilt die postinfektiöse Glomerulonephritis folgenlos aus. Symptome für eine postinfektiöse Glomerulonephritis sind: ● fleischwasserfarbene bis braune Färbung des Urins durch Blut (▶ Abb. 33.22) ● Oligurie (verminderte Urinausscheidung) ● Proteinurie (Eiweiß im Urin) ● Ödeme, die bevorzugt im Bereich der Augenlider auftreten ● Blutdruckanstieg, Kopfschmerzen, Schläfrigkeit, evtl. Krampfanfälle ● Appetitlosigkeit, evtl. Erbrechen, Bauchund Rückenschmerzen ● subfebrile Temperatur, evtl. Fieber, Hautblässe

Merke

H ●

Gefürchtete Komplikationen einer Glomerulonephritis sind Niereninsuffizienz, Hirnödem sowie akute Linksherzinsuffizienz.

Die Pflegeprobleme und -maßnahmen orientieren sich an den Symptomen und der Situation des Kindes (s. u., akute Niereninsuffizienz). Gegebenenfalls werden Antibiotika nach ärztlicher Anordnung verabreicht. Bei Bluthochdruck und Ödemen sollte eine strenge Bettruhe eingehalten werden.

33.14 Pflege eines Kindes mit akuter Niereninsuffizienz 33.14.1 Ursache und Auswirkung Ein akutes Nierenversagen ist gekennzeichnet durch den Anstieg der harnpflichtigen Substanzen (Harnstoff, Kreati-

nin, Harnsäure) sowie eine Störung des Wasser-, Elektrolyt- und Säure-BasenHaushaltes durch Abfall der glomerulären Filtrationsrate. Dadurch kommt es zu einer u. U. lebensbedrohlichen Hyperkaliämie, ausgeprägten Ödemen und metabolischer Azidose. Ursachen können Kreislaufschock, hämolytisch-urämisches Syndrom, akute Glomerulonephritis, Uratnephropathie bei zytostatischer Therapie oder in seltenen Fällen eine angeborene Fehlbildung der Harnwege sein. Klinische Zeichen, Verlauf (oligo-anurisches, später polyurisches Stadium und danach Stadium der Restitution) und Behandlung sind von der jeweiligen Ursache, dem Ausmaß und der Dauer der Nierenfunktionsstörung abhängig. Um Komplikationen vorzubeugen, muss rechtzeitig ein Dialyseverfahren eingeleitet werden. Symptome für ein akutes Nierenversagen sind: ● Müdigkeit, Antriebslosigkeit oder Unruhe ● bei Überwässerung: Ödeme, die besonders im Bereich der Augenlider auftreten, die sich aber auch in Organen manifestieren können; als Folge eines Lungen- und Hirnödems kann es zu Dyspnoe und Krampanfällen kommen ● Oligurie und Isosthenurie (spez. Gewicht konstant bis 1012) ● Bluthochdruck, Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Blässe von Haut und Schleimhaut ● Magenschleimhautblutungen durch urämische Gastritis ● im weiteren Verlauf können Bewusstseinsstörungen bis zum Koma mit Kußmaul-Atmung auftreten ● Schocksymptomatik bei hypovolämischem oder septischem Schock ● bei Dehydratation: stehende Hautfalten, halonierte Augen, eingefallene Fontanelle bei Säuglingen und Gewichtsabnahme

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33.14.2 Pflegebedarf einschätzen Folgende Pflegeprobleme können auftreten: ● Gefahr von Herzrhythmusstörungen durch Hyperkaliämie ● Neigung zu Katabolismus durch Nahrungsverweigerung und Erbrechen ● erhöhte Infektanfälligkeit der Harnwege sowie pulmonale Infekte, die zur Sepsis führen können ● Gefahr von Dekubitus durch Ödeme, Bewegungsmangel und Bewusstseinstrübung bei schwerer Niereninsuffizienz ● Ängste durch Atemnot infolge eines Lungenödems ● Sekundärschädigungen durch Krampfanfälle und Koma ● Gefahr der Dehydratation im polyurämischen Stadium

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Pflege von Kindern mit Störungen des Urogenitalsystems

33.14.3 Pflegeziele und -maßnahmen Ausgeglichener Flüssigkeitsund Elektrolythaushalt Die Maßnahmen basieren auf der Kooperation von Kind und Eltern und dienen einer Überbrückung bis zur Spontanheilung.

33

▶ Flüssigkeitszufuhr. Bei bestehenden Ödemen muss die Flüssigkeitsmenge eingeschränkt werden. Die tägliche Flüssigkeitszufuhr beläuft sich auf 300 ml/qm Körperoberfläche pro Tag und den Ersatz der ausgeschiedenen Urinmenge. Bei einer Diarrhö werden auch diese Flüssigkeitsverluste ersetzt. In der polyurämischen Phase müssen ausreichend Flüssigkeit und Elektrolyte zugeführt werden. Eine Flüssigkeitszufuhr muss auch zur Beseitigung eines Schockzustandes durch Hypovolämie erfolgen. Die angeordnete Infusionstherapie und die medikamentöse Behandlung werden korrekt durchgeführt. ▶ Kontrollen. Eine engmaschige und exakte Flüssigkeitsbilanz ist unbedingt erforderlich. Zur genauen Kontrolle der Urinausscheidung kann ein transurethraler Dauerkatheter oder bei länger dauernder Harnableitung eine suprapubische Zystostomie (S. 377) erforderlich sein. So weit möglich, sollten eine bzw. bei Bedarf zwei tägliche Gewichtskontrollen erfolgen. Eine Assistenz der Pflegefachkraft bei der Blutentnahme wird zwecks Kontrolle der harnpflichtigen Substanzen, Elektrolyte, Gesamteiweiß und anderer Parameter erforderlich.

Erkennen einer veränderten Bewusstseinslage Um aufgrund von Hirnödemen neurologische Veränderungen mit Bewusstseinsstörungen und Krampfanfällen rechtzeitig erkennen zu können, müssen engmaschige, z. B. halbstündliche, Kontrollen der Bewusstseinslage sowie Pupillenreaktion erfolgen und eine Krampfbereitschaft registriert werden.

Erkennen einer auffälligen Kreislauf- und Atemfunktion Puls und Blutdruck werden engmaschig kontrolliert, da sich durch Nierenversagen Bluthochdruck entwickeln und es zu einer hypertensiven Enzephalopathie kommen kann. Eine Hyperkaliämie kann zu Herzrhythmusstörungen führen. Die Herzfrequenz sollte daher mithilfe eines Monitors kontinuierlich überwacht werden.

666

Die Kontrolle der Atmung erfolgt in regelmäßigen Abständen, da sie ein wichtiges Kriterium zur Erkennung von Stoffwechselentgleisungen darstellt. Eine Kußmaul-Atmung tritt als Folge einer Azidose auf, da der Körper versucht, die vermehrt vorhandenen Wasserstoffionen durch tiefe Atemzüge ohne Pause abzuatmen. Eine metabolische Azidose wird nach Anordnung mit Natriumbikarbonatinfusion korrigiert, die sorgfältig überwacht werden muss. Eine Dyspnoe ist nach Auftreten eines Lungenödems zu beobachten.

Infektfreier Zustand Eine Temperaturkontrolle muss regelmäßig erfolgen, um Infektionen frühzeitig zu erkennen. Die Einhaltung der hygienischen Maßnahmen ist im besonderen Maße notwendig. Die Kinder sollten von infektfreiem Personal versorgt werden.

Eltern

a ●

Eltern und Kinder werden bezüglich der Infektionsprophylaxe ausführlich beraten.

Ausreichende Kalorienzufuhr Um einem Katabolismus (Abbau von körpereigener Substanz) vorzubeugen, sollte eine kalorienreiche Ernährung, die oral oder über Sonde verabreicht wird, erfolgen. Eine hochprozentige Glukoseinfusion muss evtl. über einen zentralen Gefäßzugang (S. 818) durchgeführt werden. Geduld und ansprechende Zubereitung werden den Kindern bei der Verabreichung der wenig schmackhaften Diät, die eiweiß- und natriumarm sowie weitgehend kaliumfrei sein muss, entgegengebracht.

Intakte Haut und bewegliche Gelenke Eine gute Hautbeobachtung bezüglich Farbe, Beschaffenheit und Ödemen sowie eine sorgfältige Hautpflege werden regelmäßig durchgeführt, da die Haut infolge von Minderdurchblutung schnell zu Hautdefekten neigt. Eine Dekubitus- (S. 403) und Kontrakturenprophylaxe (S. 402) erfolgt nach Risikoeinschätzung, wenn die Kinder durch eine veränderte Bewusstseinslage in ihrer Bewegung eingeschränkt sind.

Ablenkung und Angstminderung Die Kinder sollten nicht allein gelassen und möglichst immer von denselben Pflegenden betreut werden.

Eltern

a ●

Für die Kinder stellt die Anwesenheit der Eltern eine große Hilfe dar. Diese sollten in die Pflege ihres Kindes miteinbezogen werden, um Gefühle der Hilflosigkeit nicht aufkommen zu lassen. Eine Beschäftigung der Kinder muss sich an Alter und Zustand orientieren.

Treten im Verlauf der Behandlung Zeichen einer Urämie auf, d. h. Anstieg der harnpflichtigen Substanzen, Hyperkaliämie und Volumenüberladung über die tolerierbare Grenze, muss eine Dialysebehandlung durchgeführt werden.

33.15 Pflege eines Kindes mit Peritonealdialyse Eine Dialyse wird notwendig, wenn die Nierenfunktion so stark eingeschränkt ist, dass sie ihren vielfältigen Aufgaben nicht mehr nachkommen kann. Durch das Dialyseverfahren können die harnpflichtigen Stoffe eliminiert und der Elektrolyt-, Wasser- und Säure-Basen-Haushalt in einem ausgewogenen Verhältnis aufrechterhalten werden. Es stehen eine Hämodialyse, Hämofiltration, Hämodiafiltration und Peritonealdialyse zur Verfügung. Im Rahmen dieses Lehrbuchs wird nur die Peritonealdialyse angesprochen, da die anderen Methoden bei Kindern seltener und nur in speziellen Zentren durchgeführt werden.

33.15.1 Peritonealdialyse Das Peritoneum mit dem großen Kapillarnetz übernimmt die Funktion einer Filtermembran und trennt die zu reinigende Körperflüssigkeit vom zugeführten Dialysat. Dieses wird mithilfe eines Katheters unter aseptischen Bedingungen in den Bauchraum instilliert. Die Porengröße der biologisch semipermeablen Membran ist so beschaffen, dass nur kleine und mittelgroße Moleküle diffundieren können. Die Diffusion der Moleküle erfolgt stets vom Ort der höheren zum Ort der niederen Konzentration, bis ein Konzentrationsausgleich erfolgt ist. Der Übertritt des Wassers geschieht durch Osmose mithilfe des osmotischen Drucks, der i. d. R. mittels Glukosezusatz im Dialysat gesteigert wird. Durch die Dialyse werden die Entwässerung des Körpers und die Reinigung des Blutes von Abbauprodukten aus dem Eiweißstoffwechsel sowie die Elimination von Kalium erreicht. Die Peritonealdialyse ist gekennzeichnet durch geringen technischen Aufwand, gleichmäßige Entgiftung und geringe Ne-

33.15 Pflege eines Kindes mit Peritonealdialyse

Einlauf

und wird langsam gesteigert, um eine höhere Elimination von Harnstoffen zu erzielen.

Dialysatbeutel Anschluss an Transferset Titaniumadapter Bauchfell (Peritoneum)

Automatisierte Peritonealdialyse (APD) Die APD beruht auf dem gleichen Prinzip wie die kontinuierliche ambulante Peritonealdialyse, wird jedoch mit einer Maschine, dem Cycler, durchgeführt. Erfolgt sie nachts über einen Zeitraum von ca. 8 – 10 Stunden, spricht man von der nächtlichen intermittierenden Peritonealdialyse (NIPD). Bei der kontinuierlichen zyklischen Peritonealdialyse (CCPD) wird zusätzlich zum NIPD-Verfahren noch 1–2mal täglich ein manueller Beutelwechsel durchgeführt. Die NIPD birgt den Vorteil, dass die Kinder tagsüber eine größere Bewegungsfreiheit haben. Auch ist das Infektionsrisiko durch die selten durchgeführten Katheterkonnektionen geringer.

TenckhoffKatheter

Auslauf Symphyse Blasendach Douglasraum Rektumampulle Abb. 33.23 Dialyse. Kontinuierliche ambulante Peritonealdialyse (CAPD).

Eltern benwirkungen bezüglich Hypertonie und Anämie. Sie ist deshalb bei Kindern das Dialyseverfahren der Wahl. Eine gefürchtete Komplikation ist die Peritonitis, die sich z. B. infolge einer Infektion der Katheteraustrittsstelle durch Hautkeime, z. B. Staphylococcus epidermidis, Staphylococcus aureus oder Streptokokken, schnell entwickeln kann. Das frühzeitige Erkennen einer Infektion ist deshalb eine wichtige Maßnahme. Voraussetzung für eine Peritonealdialyse ist ein Zugang zur Bauchhöhle mittels eines Katheters, dessen Spitze sich im Douglas-Raum befindet (▶ Abb. 33.23). Als Verweilkatheter wird i. d. R. ein Tenckhoff-Katheter chirurgisch unter Antibiotikaprophylaxe eingelegt, der sich meist auf der linken Seite 3 cm unterhalb des Nabels befindet.

Kontinuierliche ambulante Peritonealdialyse (CAPD) Definition

L ●

Unter CAPD versteht man eine Peritonealdialyse, die kontinuierlich und ambulant vom Kind oder von seinen Angehörigen durchgeführt wird.

Der Dialysatwechsel muss 4–5-mal pro Tag erfolgen. Die Effektivität der Entgiftung und des Wasserentzuges wird durch die Einlaufmenge und Osmolarität des Dialysats sowie die Häufigkeit des Dialysatwechsels bestimmt. Die Menge des Dialysats richtet sich nach Alter, Gewicht und Gesamtkrankheitsbild des Kindes

33

a ●

Kinder und Eltern werden sorgfältig für 1 – 2 Wochen geschult, damit sie theoretisches Hintergrundwissen und praktische Fertigkeiten erhalten, um selbstständig zu Hause die Peritonealdialyse durchführen zu können.

Die Schulung beinhaltet z. B. den Beutelund Verbandwechsel, Verhalten bei auftretenden Komplikationen (z. B. defekter Katheter), Wahrung der Hygiene, Materialbestellung und Urlaubsplanung. Die Betroffenen werden informiert und motiviert, bei Auffälligkeiten das Dialysezentrum anzurufen, wo sie jederzeit Hilfe erhalten.

7

Pflege von Kindern mit Störungen des Urogenitalsystems

33

668

Kapitel 34 Pflege von Kindern mit Störungen des Bewegungssystems

34.1

Bedeutung

670

34.2

Pflege eines Kindes mit angeborener Fußfehlstellung

670

Pflege eines Kindes mit Hüftgelenksdysplasie

671

34.4

Pflege von Kindern mit Frakturen

673

34.5

Pflege eines Kindes mit Osteomyelitis

678

34.6

Pflege eines Kindes mit einer rheumatischen Erkrankung

679

34.3

Pflege von Kindern mit Bewegungsstörungen

34 Pflege von Kindern mit Störungen des Bewegungssystems Mechthild Hoehl

34.1 Bedeutung

34

Störungen des Bewegungssystems können bei Kindern durch angeborene Haltungsanomalien, Fehlstellungen oder Fehlbildungen des Bewegungsapparates, traumatische Affektionen oder im Rahmen von entzündlichen sowie autoimmunologischen Prozessen auftreten. Durch eine Störung des Bewegungssystems wird die Ausübung vieler Lebensaktivitäten in einem erheblichen Maße beeinflusst. Je nach Schwere der Gesundheitsstörung ist dadurch die motorische Gesamtentwicklung des betroffenen Kindes gefährdet. Dies kann nicht nur zu einer Einschränkung des kindlichen Erfahrungshorizontes führen, sondern auch seine psychosoziale Integration beeinträchtigen. Die pflegerische Betreuung der Kinder mit Störungen des Bewegungssystems muss daher neben der bestmöglichen Erhaltung und Verbesserung der Funktion des Bewegungssystems eine optimale Langzeitentwicklung und soziale Integration anstreben. Dazu gehört neben der Mitwirkung bei der orthopädischen, kinderchirurgischen und physiotherapeutischen Therapie die interdisziplinäre Zusammenarbeit im pflegerischen und therapeutischen Team. Dem Pflegepersonal obliegen hierbei v. a. die Durchführung präventiver, rehabilitativer und lindernder Pflegemaßnahmen und die Anleitung der Familie im selbstständigen Umgang mit den Beeinträchtigungen durch die Bewegungsstörung. Aus der Fülle der möglichen orthopädischen, kinderchirurgischen und traumatologischen Bewegungsstörungen des Kindesalters sind hier die Pflegesituationen ausgewählt, die relativ häufig sind und die spezielle Pflege exemplarisch am besten verdeutlichen. Die Behandlung komplexerer Störungen des Bewegungssystems erfolgt meistens in speziellen Zentren.

34.2 Pflege eines Kindes mit angeborener Fußfehlstellung 34.2.1 Ursache und Auswirkung Definition

L ●

Fußfehlstellungen sind angeborene Strukturveränderungen im Längs- und Quergewölbe des Fußes.

▶ Fußfehlhaltungen. Harmlose Fußfehlhaltungen müssen von strukturellen Deformitäten unterschieden werden, bei denen eine Therapie notwendig wird. Beispiele für nicht fixierte Fußfehlhaltungen durch intrauterin lagebedingte Veränderungen sind z. B. Hackenfüße, Kletterfüße und angeborene leichte Sichelfußhaltungen (▶ Abb. 34.1). Diese sind von der Prognose her günstig und bedürfen nur wenig Unterstützung bei ihrer normalen Entwicklung, jedoch keiner invasiven Maßnahmen. Davon abzugrenzen sind Fußfehlstellungen. ▶ Fußfehlstellungen. Beispiele für fixierte Fußfehlstellungen sind schwere Formen des Sichelfußes, des Knick-Platt-Fußes und der Klumpfuß. Beim angeborenen Klumpfuß handelt es sich um eine komplexe, in 3 Ebenen auftretende, mehr oder weniger kontrakte Veränderung des Fußes, die mit einer Fußverkürzung einhergeht.

Normalfuß

Hackenfuß

Klumpfuß

Kletterfuß

Sichelfuß

Fußfehlstellungen, die nicht angeboren sind, sondern sich im Kindesalter neu entwickeln, können Anzeichen einer neurologischen oder muskulären Grunderkrankung sein (▶ Abb. 34.1). Fußfehlstellungen werden i. d. R. direkt nach der Geburt oder in den ersten Lebenstagen sichtbar. Besonders schwere Fälle können bereits vorgeburtlich durch Ultraschall diagnostiziert werden.

34.2.2 Pflegebedarf einschätzen Durch angeborene Fußfehlstellungen können sich folgende Pflegeprobleme ergeben: ● Gefahr einer bleibenden Funktionseinschränkung des Fußes ● Gefahr von weitergehenden Fehlhaltungen und Spätschäden an anderen Abschnitten des Bewegungssystems, z. B. unphysiologische Beanspruchung von Kniegelenken oder Rückenschmerzen durch Fehlhaltungen ● Beeinträchtigung der normalen Lauflernentwicklung ● Unsicherheiten und Sorgen der Eltern über die weitere Entwicklung des Kindes (körperliche Belastbarkeit im Alltag, z. B. bei längeren Fußwegen zur Schule usw.)

34.2.3 Pflegeziele und -maßnahmen Funktionserhalt Um die Funktion des Fußes bestmöglich zu erhalten und zu fördern, muss ein Neugeborenes mit einer Fußfehlhaltung oder Fußfehlstellung so bald wie möglich einem interdisziplinären Team aus Kinderärzten, Orthopäden und Physiotherapeuten vorgestellt werden. Diese prüfen anhand der Fußbeweglichkeit und Achsenstellung die Form der Fußfehlhaltung bzw. Fußfehlstellung und legen gemeinsam mit dem Pflegepersonal und den Eltern das Therapiekonzept fest.

Sicherheit der Eltern

Abb. 34.1 Fußfehlhaltungen und -fehlstellungen. Abweichungen von der normalen Haltung mit unterschiedlich starker Beeinträchtigung.

670

Zentrale Aufgabe des Gesundheits- und Kinderkrankenpflegepersonals sind Anleitung, Begleitung, Beruhigung und Aufklärung der Eltern, sodass diese die notwendigen Maßnahmen verstehen und konsequent umsetzen.

34.3 Pflege eines Kindes mit Hüftgelenksdysplasie

Normale Fußentwicklung bei Fehlhaltungen Bei Fehlhaltungen werden die Eltern über die insgesamt günstige Prognose aufgeklärt und über Möglichkeiten informiert, die normale Bewegungs- und Funktionsentwicklung des Fußes zu fördern. Die Kinder sollten bei angepasster Raumtemperatur, z. B. unter einer Wärmelampe, unter der Aufsicht der Eltern oder des Pflegepersonals möglichst viel frei strampeln. Mehrmals täglich, z. B. bei jedem Wickeln, werden dem Kind Strampelhose und Söckchen komplett ausgezogen und der Fuß mit sanften Bewegungen in die physiologische Stellung redressiert, d. h. durch leichten Druck in die richtige Stellung gebracht. Hierzu erhalten die Eltern eine Anleitung von Physiotherapeuten oder vom Pflegepersonal. Im Schlaf sollte die Fußhaltung durch Bettzeug nicht unnötig beeinflusst werden, ggf. ist die Seitenlage zu empfehlen. Die motorische Entwicklung des 1. Lebensjahres verläuft i. d. R. unbeeinflusst. Barfußlaufen im Sand oder Fußgymnastik unterstützen die Fußmuskulatur. Sind nach Ablauf der Lauflernphase noch Fehlhaltungen erkennbar, wird das Kind auf zugrunde liegende muskuläre Probleme hin untersucht, entsprechend gefördert und mit orthopädischen Schuheinlagen versorgt.

Redression bei Fehlstellungen Bei fixierten Fehlstellungen, z. B. dem Klumpfuß (▶ Abb. 34.2), beginnt eine Redressionstherapie in den ersten Lebenstagen mit Gipsverbänden oder funktionalen physiotherapeutischen Redressionsübungen mit anschließendem redressierendem Verband. Die Eltern werden über die Notwendigkeit der frühzeitigen und konsequenten Therapie aufgeklärt.

Merke

H ●

Bei frühzeitigem Therapiebeginn bestehen Chancen, die Fußstellung zu korrigieren und die Funktion des Fußes bestmöglich zu erhalten und zu fördern.

Bei der Therapie mit Gipsverbänden besteht die Aufgabe des Gesundheits- und Kinderkrankenpflegepersonals in der Assistenz beim Anlegen des Gipses. Hierbei werden die kindlichen Gelenke so weit wie möglich in der Normalstellung gehalten, während der Gips durch den Orthopäden angelegt wird. Anschließend ist das Kind auf Beeinträchtigungen durch den Gipsverband zu beobachten (S. 674). Der Gips wird anfangs täglich, später in größeren Abständen, abhängig von der Entwicklung des Kindes, erneuert. Ein alternatives Vorgehen zur Gipsbehandlung sind die Korrektur des Fußes durch Pflasterbinden und krankengymnastische Behandlung, sowie der Einsatz von Redressionsorthesen bzw. -schienen.

Eltern

a ●

Die physiotherapeutische funktionelle Redression muss auf Anleitung der speziell ausgebildeten Physiotherapeuten vom Gesundheits- und Kinderkrankenpflegepersonal und von den Eltern erlernt werden, da diese bei jedem Wickeln vorgenommen wird.

Von ein- oder beidseitigen Hüftgelenksdysplasien sind ca. 2–3 % aller Neugeborenen betroffen. Durch Muskelzug kommt es zu zunehmenden Lageveränderungen des Hüftkopfes in der Gelenkpfanne bis hin zur schwersten Form dieser Störung, der Hüftgelenksluxation, dem vollständigen Entgleiten des Femurkopfes aus der Gelenkkapsel. Eine Hüftluxation tritt bei ca. 0,2 % aller Kinder auf, bei Mädchen allerdings rund 5–6-mal häufiger als bei Jungen. Als Risikofaktoren gelten ● familiäre Häufung, ● Steiß- oder Beckenendlage, ● enge Verhältnisse im Mutterleib (z. B. bei Mehrlingen), ● Frühgeburtlichkeit, ● andere Fehlentwicklungen im Bewegungsapparat sowie ● muskuläre oder neurologische Erkrankungen.

34

Symptome einer Hüftgelenksdysplasie sind: ● Hautfaltendifferenzen an den Oberschenkeln, Asymmetrien der Oberschenkel- und Gesäßfalten (▶ Abb. 34.3) ● einseitige Beinverkürzungen ● Bewegungsarmut der betroffenen Extremität ● bei Nichterkennen verspätetes Laufenlernen mit watschelndem Gang Im Sonografiescreening der Hüfte bei Neugeborenen wird die Störung auch bei leichteren Formen frühzeitig erkannt, sodass zeitnah eine geeignete Therapie eingeleitet werden kann.

Die Effektivität der Maßnahmen wird regelmäßig durch das therapeutische Team überprüft. In schweren Fällen werden vor dem Erlernen des Laufens operative Korrekturen notwendig. In manchen Fällen sind spätere Korrektur-Operationen nötig. In der Langzeitbetreuung sind fast immer orthopädische Schienen und Einlagen ins Schuhwerk und Fußgymnastikübungen nötig.

a

34.3 Pflege eines Kindes mit Hüftgelenksdysplasie 34.3.1 Ursache und Auswirkung Abb. 34.2 Klumpfuß. Ausgeprägte Adduktion. (Abb. aus: Sachse A. Sichelfuß/ Klumpfuß. In: Jorch G, Hübler A, Hrsg. Neonatologie. 1. Auflage. Thieme; 2015)

Definition

L ●

Die Hüftgelenksdysplasie ist eine Entwicklungsstörung mit einer mangelhaften Ausbildung der Hüftgelenkpfanne und/oder einer Unterentwicklung des Femurkopfes.

b

Abb. 34.3 Hautfaltendifferenz bei Hüftdysplasie. a Asymmetrische Hautfalten am Oberschenkel in Rückenlage, b asymmetrische Kriechstellung.

1

Pflege von Kindern mit Bewegungsstörungen

34.3.2 Pflegebedarf einschätzen

34

Bei einem Kind mit einer Hüftgelenksdysplasie können folgende Pflegeprobleme entstehen: ● Gefahr einer Hüftluxation durch Instabilität des Gelenks ● Gefahr von sekundären Haltungsanomalien der Wirbelsäule durch dauerhafte unphysiologische Bewegungsmuster ● Gefahr von Schmerzen bei Hüftbelastung und Einschränkung der physiologischen Beinbeweglichkeit durch unphysiologische Haltungen ● Schwierigkeiten beim Laufenlernen durch Schmerzen und Bewegungseinschränkungen, sowie Immobilitätsphasen durch eine notwendige Therapie ● Einschränkungen der Mobilität durch die Notwendigkeit langwieriger Spreizbehandlungen ● Gefahr von Druckstellen und Hautreizungen durch Spreizhilfsmittel ● ggf. Beeinträchtigung durch häufige lange Krankenhausaufenthalte, falls operative Korrekturen notwendig werden

34.3.3 Pflegeziele und -maßnahmen Frühzeitige Korrektur einer Hüftfehlstellung Die Wahl der Maßnahmen, Häufigkeit der Kontrollen und Dauer der Therapie trifft der behandelnde Arzt in Abhängigkeit von der Schwere der bestehenden Störung und des Lebensalters des betroffenen Kindes.

Breit-Wickeln Als erste Maßnahme bei Verdacht auf eine Hüftgelenksdysplasie sowie bei bekannter familiärer Belastung und perinatalen Fehlhaltungen aufgrund der intrauterinen Kindslage bietet sich das „Breit-Wickeln“ an. Dem Kind wird eine 2. Einmalhöschenwindel über die Kleidung gezogen oder der Schritt der Höschenwindel oder eines speziellen Baumwollwindelsystems mit der Einlage eines Stoffwindelstegs verbreitert. Die Verwendung von sog. Spreizwindeln oder von modernen Stoffwickelsystemen kann das Breit-Wickeln für die Familien in der häuslichen Versorgung erleichtern.

672

Merke

H ●

Die idealen Bedingungen für die Hüftkopfpositionierung schafft die AnhockSpreizhaltung. Hierunter wird jene Körperhaltung verstanden, die ein gesundes Neugeborenes automatisch einnimmt, wenn es hochgehoben wird. Die Oberschenkel des Kindes sind in einem Winkel von 100°–110° angehockt. In dieser Stellung drücken die Köpfe der Oberschenkelknochen ins Zentrum der Hüftpfannen. Bei der Verwendung von Spreizsystemen muss das Kniegelenk frei beweglich bleiben.

Bei der Verwendung von Tragehilfen sollte auch bei unauffälligen Kindern immer auf eine korrekte Hüftspreizung und -beugung (Anhockspreizhaltung) geachtet werden (▶ Abb. 34.4). Dabei sind die Beine angehockt, die Knie auf Nabelhöhe und die Oberschenkel leicht abgespreizt. Für die Positionierung im Kinderbett wird die Rückenlage empfohlen, da das Kind in dieser Lage besser strampeln und die Beine anziehen kann, was die physiologische Haltung des Hüftgelenks unterstützt und gut für die Hüftreifung ist.

Mitwirkung bei der Ausreifungsbehandlung mittels Spreizhose oder Hüftbeugeschiene Ist die Hüftgelenksdysplasie sonografisch gesichert, schließt sich eine Ausreifungsbehandlung mit einer Spreizschiene an (▶ Abb. 34.5). Die Spreizhilfen werden vom Orthopädietechniker individuell an die Körpermaße des Kindes angepasst und müssen alle 4 – 8 Wochen der körperlichen Entwicklung des Kindes angeglichen werden.

Eltern

a ●

Die Eltern des Kindes müssen den korrekten Umgang mit der Spreizhilfe lernen. Sie sollten über Besonderheiten Bescheid wissen und verstehen, dass es wichtig ist, dass das Kind die Spreizhilfe kontinuierlich trägt.

Die Spreizhilfen werden i. d. R. über der Kleidung getragen. Daher werden sie zu jedem Wickeln ausgezogen und anschließend sofort wieder angelegt. Sie werden nach den Herstellerangaben so angezogen, dass sich darunter keine Falten bilden. Bei jedem Wickeln wird auf mögliche Druckstellen an den Oberschenkeln des Kindes und unter den Verschlussstellen der Spreizhilfen geachtet.

Abb. 34.4 Wickelkreuztrage. Korrekt getragenes Kind in der Wickelkreuztrage (Symbolbild). (Abb. von: DIDYMOS)

Abb. 34.5 Tübinger Hüftbeugeschiene. Die Schiene unterstützt eine mittlere Spreizung mit angehockten, gebeugten Beinen. (Abb. von: Ottobock)

Die Spreizhilfen zur Ausreifungsbehandlung werden auch zur Stabilisierung und Zentrierung des Hüftgelenkes eingesetzt, wenn bereits eine Hüftluxation besteht. In diesem Fall muss jedoch vor dem ersten Anlegen der Hüftkopf durch den Orthopäden reponiert werden.

Merke

H ●

Bei jedem Wickeln eines Kindes mit reponiertem Hüftgelenk wird darauf geachtet, dass das Gelenk nicht erneut luxiert ist. Beim Auftreten von Schmerzen bei Bewegungen der Beine oder dem erneuten Auftreten von Hautfaltendifferenzen ist der Arzt zu informieren.

Weitergehende Maßnahmen Andere Möglichkeiten der Behandlung der Hüftgelenksdysplasie sind die Retentionsbehandlung mit einer Riemenbandage nach Pavlik, eine Extensionsbehandlung (S. 676) oder die Fixation des Gelenkes mithilfe eines Gipsverbandes in der SitzHock-Stellung nach Fettweis. Für schwerere Formen einer Hüftluxation oder einer verspäteten Behandlung bei Kindern, die sich bereits im Laufalter befinden, stehen

34.4 Pflege von Kindern mit Frakturen weitere Hüftabduktionsorthesen oder Spreizbandagen zur Verfügung. Auch sie werden jeweils genau auf die Körpermaße des Kindes abgestimmt und müssen gemäß den Empfehlungen des Orthopädietechnikers sowie des behandelnden Kinderorthopäden angebracht und getragen werden. Nur in ganz seltenen Fällen ist die Hüftdysplasie so ausgeprägt, dass sie sich nicht durch konservative Maßnahmen beheben lässt. Dann besteht die Therapie in einer Operation. Es stehen verschiedene Operationstechniken zur Verfügung, die abhängig vom Alter des Kindes und der Schwere der Hüftdysplasie zum Einsatz kommen. Hierbei besteht die Aufgabe des Pflegepersonals in der präund postoperativen Pflege (S. 830). Nach der OP wird die Spreizbehandlung zur Stabilisierung des Gelenks fortgesetzt.

Bestmögliche Akzeptanz der Spreizbehandlung Je früher die Spreizbehandlung beginnt, desto geringer sind die Akzeptanzprobleme bei den Kindern. Die Kinder haben üblicherweise wenig Probleme mit der Anhock-Spreizhaltung, v. a. dann, wenn die Hilfsmittel gut angepasst sind und richtig angewendet werden. Wenn die Eltern ausreichend über die Notwendigkeit und

Handhabung der Spreizbehandlung aufgeklärt sind, können sie diese auch gewissenhaft durchführen. Für sie entsteht gelegentlich das Problem, geeignete Kleidung und Zubehör (z. B. Autositze, Kinderwagen) zu finden.

Praxistipp Pflege

Definition

L ●

Eine Fraktur ist ein Knochenbruch, der durch direkte oder indirekte Gewalteinwirkung auf das Knochengerüst entsteht.

Z ●

Merke

Spreizhosen oder Tübinger Schienen lassen sich problemlos über Strampelhosen oder Strumpfhosen anziehen. In der kalten Jahreszeit kann ein Schlafsack oder Autofußsack zum Wärmen der Beine angezogen werden. Größere Kinderautositze und Kinderwagenaufsätze sind in jedem gut sortierten Babyfachhandel zu erwerben.

H ●

Die Familien sollten über präventive Maßnahmen zur Unfallprophylaxe sowie den Gebrauch von Schutzkleidung bei Trendsportarten, z. B. Hand-, Arm- und Beinschoner beim Inlineskaten, aufgeklärt werden.

34

Je nach Intensität der Gewalteinwirkung und nach betroffenem Knochen ist die Auswirkung der Fraktur unterschiedlich (▶ Tab. 34.1). Symptome einer Fraktur sind: ● unsichere Frakturzeichen: ○ Schmerzen ○ Schwellung ○ Bluterguss ○ Bewegungseinschränkung

34.4 Pflege von Kindern mit Frakturen 34.4.1 Ursache und Auswirkung Knochenbrüche sind besonders im Vorund Grundschulalter sehr häufige Traumafolgen.

Tab. 34.1 Typische Frakturen im Kindesalter, Therapien und Pflegeschwerpunkte. Fraktur

Therapie

Pflegeschwerpunkte

Klavikulafraktur geburtstraumatisch oder durch Sturz auf die Schulter

beim Neugeborenen zur Schmerzlinderung nicht auf den betroffenen Arm legen. Vorsichtig an- und auskleiden, bei größeren Kindern Therapie mit Rucksackverband



Oberarmfraktur durch direktes Trauma oder Fall auf die ausgestreckte Hand

Gilchrist-Verband (Fixation des Armes in 90°-Stellung am Oberkörper)





● ●

suprakondyläre Oberarmfraktur durch direktes oder indirektes Trauma

Reposition und Hand-Hals-Halteschlinge nach Blount, Gipsschiene, bei schwieriger Reposition operative Osteosynthese, ggf. Spickung







Beobachtung auf Schmerzen Erläuterung des Handlings und der Therapie an Eltern und Kind Beobachtung der korrekten Verbandpositionierung Beobachtung auf Hautirritationen Hilfestellung bei den Lebensaktivitäten, da nur noch Gebrauch eines Armes/einer Hand möglich Aufklärung über Funktion und Handhabung der Schlinge Hilfestellung bei den Lebensaktivitäten, da nur noch Gebrauch eines Armes möglich, ggf. prä- und postoperative Pflege (Kap. 44) Pflege des Kindes mit Gipsverband, s. u.

Radius-Köpfchen durch unphysiologischen Zug am Arm

konservativ mit Gips (2 Wochen), Operation oder minimalinvasive Spickung mit PrevotNägeln zur frühzeitigen Mobilisation



Hilfestellung bei den Lebensaktivitäten, da nur noch Gebrauch eines Armes/einer Hand möglich, ggf. prä- und postoperative Pflege

Unterarmfraktur durch direktes Trauma oder Sturz

Reposition und Oberarmgips, operativ nur bei Rotationsfehler



Pflege des Kindes mit Gipsverband, s. u.

Handwurzel- und Fingerfrakturen nach Sturz auf die Hand oder direktes Trauma der Finger

Reposition, konservative Behandlung mit Unterarmgips oder Schienen



Hilfestellung bei den Lebensaktivitäten

Oberschenkelfraktur durch direktes Trauma (Stoß, Sturz)

nur noch selten Overheadextension bei Kleinkindern, Standard heute eher Versorgung mit elastisch stabilen Marknägeln



Pflege des Kindes mit Extension (S. 676) nach Osteosynthese-Operation bzw. Spickung frühzeitige Mobilisation prä- und postoperative Pflege

Unterschenkelfraktur durch direktes oder indirektes Trauma

Reposition und Gipsbehandlung mit Oberschenkelgips, operatives Vorgehen bei Rotationsfehlern, ggf. bei Achsabweichung oder um schnelle Belastbarkeit zu erzielen





Pflege des Kindes mit Gipsverband, s. u. Hilfestellung beim Erlernen des Gehens mit Unterarmgehstützen ggf. prä- und postoperative Pflege

Fuß- und Zehenfrakturen nach Sprungverletzung oder direktes Trauma

Reposition und Unterschenkelgehgips



Pflege des Kindes mit Gipsverband, s. u.







3

34.4 Pflege von Kindern mit Frakturen weitere Hüftabduktionsorthesen oder Spreizbandagen zur Verfügung. Auch sie werden jeweils genau auf die Körpermaße des Kindes abgestimmt und müssen gemäß den Empfehlungen des Orthopädietechnikers sowie des behandelnden Kinderorthopäden angebracht und getragen werden. Nur in ganz seltenen Fällen ist die Hüftdysplasie so ausgeprägt, dass sie sich nicht durch konservative Maßnahmen beheben lässt. Dann besteht die Therapie in einer Operation. Es stehen verschiedene Operationstechniken zur Verfügung, die abhängig vom Alter des Kindes und der Schwere der Hüftdysplasie zum Einsatz kommen. Hierbei besteht die Aufgabe des Pflegepersonals in der präund postoperativen Pflege (S. 830). Nach der OP wird die Spreizbehandlung zur Stabilisierung des Gelenks fortgesetzt.

Bestmögliche Akzeptanz der Spreizbehandlung Je früher die Spreizbehandlung beginnt, desto geringer sind die Akzeptanzprobleme bei den Kindern. Die Kinder haben üblicherweise wenig Probleme mit der Anhock-Spreizhaltung, v. a. dann, wenn die Hilfsmittel gut angepasst sind und richtig angewendet werden. Wenn die Eltern ausreichend über die Notwendigkeit und

Handhabung der Spreizbehandlung aufgeklärt sind, können sie diese auch gewissenhaft durchführen. Für sie entsteht gelegentlich das Problem, geeignete Kleidung und Zubehör (z. B. Autositze, Kinderwagen) zu finden.

Praxistipp Pflege

Definition

L ●

Eine Fraktur ist ein Knochenbruch, der durch direkte oder indirekte Gewalteinwirkung auf das Knochengerüst entsteht.

Z ●

Merke

Spreizhosen oder Tübinger Schienen lassen sich problemlos über Strampelhosen oder Strumpfhosen anziehen. In der kalten Jahreszeit kann ein Schlafsack oder Autofußsack zum Wärmen der Beine angezogen werden. Größere Kinderautositze und Kinderwagenaufsätze sind in jedem gut sortierten Babyfachhandel zu erwerben.

H ●

Die Familien sollten über präventive Maßnahmen zur Unfallprophylaxe sowie den Gebrauch von Schutzkleidung bei Trendsportarten, z. B. Hand-, Arm- und Beinschoner beim Inlineskaten, aufgeklärt werden.

34

Je nach Intensität der Gewalteinwirkung und nach betroffenem Knochen ist die Auswirkung der Fraktur unterschiedlich (▶ Tab. 34.1). Symptome einer Fraktur sind: ● unsichere Frakturzeichen: ○ Schmerzen ○ Schwellung ○ Bluterguss ○ Bewegungseinschränkung

34.4 Pflege von Kindern mit Frakturen 34.4.1 Ursache und Auswirkung Knochenbrüche sind besonders im Vorund Grundschulalter sehr häufige Traumafolgen.

Tab. 34.1 Typische Frakturen im Kindesalter, Therapien und Pflegeschwerpunkte. Fraktur

Therapie

Pflegeschwerpunkte

Klavikulafraktur geburtstraumatisch oder durch Sturz auf die Schulter

beim Neugeborenen zur Schmerzlinderung nicht auf den betroffenen Arm legen. Vorsichtig an- und auskleiden, bei größeren Kindern Therapie mit Rucksackverband



Oberarmfraktur durch direktes Trauma oder Fall auf die ausgestreckte Hand

Gilchrist-Verband (Fixation des Armes in 90°-Stellung am Oberkörper)





● ●

suprakondyläre Oberarmfraktur durch direktes oder indirektes Trauma

Reposition und Hand-Hals-Halteschlinge nach Blount, Gipsschiene, bei schwieriger Reposition operative Osteosynthese, ggf. Spickung







Beobachtung auf Schmerzen Erläuterung des Handlings und der Therapie an Eltern und Kind Beobachtung der korrekten Verbandpositionierung Beobachtung auf Hautirritationen Hilfestellung bei den Lebensaktivitäten, da nur noch Gebrauch eines Armes/einer Hand möglich Aufklärung über Funktion und Handhabung der Schlinge Hilfestellung bei den Lebensaktivitäten, da nur noch Gebrauch eines Armes möglich, ggf. prä- und postoperative Pflege (Kap. 44) Pflege des Kindes mit Gipsverband, s. u.

Radius-Köpfchen durch unphysiologischen Zug am Arm

konservativ mit Gips (2 Wochen), Operation oder minimalinvasive Spickung mit PrevotNägeln zur frühzeitigen Mobilisation



Hilfestellung bei den Lebensaktivitäten, da nur noch Gebrauch eines Armes/einer Hand möglich, ggf. prä- und postoperative Pflege

Unterarmfraktur durch direktes Trauma oder Sturz

Reposition und Oberarmgips, operativ nur bei Rotationsfehler



Pflege des Kindes mit Gipsverband, s. u.

Handwurzel- und Fingerfrakturen nach Sturz auf die Hand oder direktes Trauma der Finger

Reposition, konservative Behandlung mit Unterarmgips oder Schienen



Hilfestellung bei den Lebensaktivitäten

Oberschenkelfraktur durch direktes Trauma (Stoß, Sturz)

nur noch selten Overheadextension bei Kleinkindern, Standard heute eher Versorgung mit elastisch stabilen Marknägeln



Pflege des Kindes mit Extension (S. 676) nach Osteosynthese-Operation bzw. Spickung frühzeitige Mobilisation prä- und postoperative Pflege

Unterschenkelfraktur durch direktes oder indirektes Trauma

Reposition und Gipsbehandlung mit Oberschenkelgips, operatives Vorgehen bei Rotationsfehlern, ggf. bei Achsabweichung oder um schnelle Belastbarkeit zu erzielen





Pflege des Kindes mit Gipsverband, s. u. Hilfestellung beim Erlernen des Gehens mit Unterarmgehstützen ggf. prä- und postoperative Pflege

Fuß- und Zehenfrakturen nach Sprungverletzung oder direktes Trauma

Reposition und Unterschenkelgehgips



Pflege des Kindes mit Gipsverband, s. u.







3

Pflege von Kindern mit Bewegungsstörungen Tab. 34.2 Vergleich von Kunststoff- und Gipsstützverbänden. Gipsverband Vorteile ● ●



● ●



34 ●

leicht zu verarbeiten kostengünstig, v. a. bei häufigerem Gipswechsel deutlich preiswerter geringere Gefahr von Dekubiti, da besser anpassbar und weniger scharfkantig Keilung möglich für reponierte Frakturen besser geeignet bessere Umweltverträglichkeit

Kunststoffstützverband (Cast) Nachteile ● ● ● ●



sichere Frakturzeichen: ○ abnorme Beweglichkeit ○ Knochenreiben (Krepitation) ○ Fehlstellung ○ Knochenlücken (Diastasen) ○ sichtbare Knochenteile bei offenen Frakturen

Die Diagnose der Fraktur wird mit Ultraschall oder einer Röntgenaufnahme gesichert.

Besonderheiten kindlicher Frakturen Bei kindlichen Frakturen gibt es folgende Besonderheiten: ● Kindliche Frakturen können auch mit Ultraschall diagnostiziert werden, ein Röntgenbild ist nicht immer notwendig. ● Im Kindesalter sind unvollständige Frakturen an Röhrenknochen möglich, sog. Grünholzfrakturen. Hierbei wurde der Knochen nur kurz geknickt, die Knochenhaut kann noch intakt sein, was die Diagnostik erschweren kann, da die Auswirkungen vergleichsweise geringer sind. ● Die Frakturen heilen wesentlich schneller als bei Erwachsenen. Je jünger das Kind ist, desto kürzer ist die Heilungszeit. ● Gelenkversteifungen durch die Immobilisierung im Gipsverband kommen seltener vor als bei Erwachsenen. ● Leichte Achs- und Längenfehlstellungen können bei Kindern durch das Wachstum ausgeglichen werden. Rotationsfehler bleiben bestehen und beeinträchtigen die Funktion der betroffenen Extremität langfristig. ● Heilt der kindliche Knochen mit einer starken Fehlstellung, so wird diese Deformität möglicherweise durch das Wachstum des Kindes verstärkt. ● Frakturheilungen können einen Wachstumsschub der betroffenen Extremität auslösen; Frakturen an Wachstumsfugen können jedoch auch zu einer Be-

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Vorteile

schwer nicht wasserresistent Gipsbruchgefahr Gipsschatten im Röntgen erkennbar erst nach 24 – 36 Std. voll belastbar

● ●

● ● ● ●

Nachteile

geringes Gewicht bereits nach einer halben Stunde belastbar sehr stark belastbar wasserresistent röntgendurchlässig optisch ansprechend, da farbig

● ●









teuer z. T. schwerer zu verarbeiten (Gefahr der Verklebung) scharfkantig, daher Gefahr von Druckstellen Restelastizität bleibt, daher weniger geeignet für reponierte Frakturen Gefahr der Allergisierung

einträchtigung des Wachstums an dieser Stelle führen. Der kindliche Knochen befindet sich auch während der Frakturheilung im Wachstumsprozess. Daher werden konservative Therapiemaßnahmen mit Gips oder Extension manchmal den operativen Maßnahmen vorgezogen.

Therapie Die Therapie der Fraktur erfolgt entweder operativ oder konservativ, d. h. mit Gipsverband oder Extension, in Abhängigkeit von Ursache und Schwere der Verletzung, Art und Lokalisation der Fraktur sowie dem Alter und anderen Begleiterkrankungen des Kindes. Je nach Therapieform ergeben sich unterschiedliche Aufgabenstellungen für die Gesundheits- und Kinderkrankenpflege. Die Pflege der Kinder nach einer operativen Osteosynthese entspricht den prä- und postoperativen Pflegemaßnahmen (S. 830). Bei der postoperativen Mobilisation ist die Stabilität der Osteosynthese zu berücksichtigen. Übungsstabilität bedeutet, dass alles frei beweglich ist und bewegt werden kann, jedoch noch nicht belastet werden darf. Dagegen bedeutet der Begriff Belastungsstabilität, dass die Extremität nach Abklingen der Schmerzen voll belastet werden kann.

34.4.2 Pflege eines Kindes mit Gipsverband Anlegen des Gipsverbandes Die Reposition der Knochenteile erfolgt unter großzügiger Analgesie, am besten in Narkose. Anschließend wird der Gipsverband angelegt, i. d. R. über die benachbarten Gelenke, damit die Frakturstelle ausreichend ruhiggestellt ist. Es stehen unterschiedliche Möglichkeiten der Gipsversorgung zur Verfügung (▶ Tab. 34.2): Die herkömmlichen Gipsbinden auf der Basis von schwefelsaurem Kalziumdihydrat werden inzwischen

Abb. 34.6 Kunststoffstützverband. Durch geringes Gewicht und farbige Gestaltung ist er bei Kindern beliebt. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

mehr und mehr durch Kunststoff- und Glasfaserverbände (Cast) ersetzt (▶ Abb. 34.6).

Durchführung Das Anlegen des Gipsverbandes bzw. des Kunststoffverbandes geschieht in verschiedenen Stufen: ● Um die Belastung für traumatisierte Kinder so gering wie möglich zu halten, sind die benötigten Materialien in einem sog. Gipsraum der kinderchirurgischen Abteilung immer vollständig vorhanden und griffbereit. ● Die Gips- oder Kunststoffbinden werden mit max. 15–20 °C warmem Wasser befeuchtet, damit die Wärmeentwicklung bei der Gipshärtung nicht zu groß ist. ● Die betroffene Extremität wird in Funktionsstellung gebracht, d. h. in Gebrauchsstellung, damit während der Gipsbehandlung die Extremität im Alltag bestmöglich genutzt werden kann. ● Ein Baumwollstrumpf (Trikotverband) wird angelegt. ● Zum Polstern wird ein Watte- oder Schaumstoffverband zirkulär von distal nach proximal angelegt. An besonders druckgefährdeten Stellen, besonders an Knochenvorsprüngen und Gelenken

34.4 Pflege von Kindern mit Frakturen















werden zusätzliche Polsterstücke aufgelegt. Ansonsten sollte er eher dünn angelegt werden, um die Stabilität des Gipses nicht zu gefährden. Die Watte wird mit Krepp- oder dünnen Kunststoffverbänden umwickelt, um Unebenheiten auszugleichen und eine gleichmäßige Oberfläche zu schaffen. Nun werden die befeuchteten Gipsoder Kunststoffbinden angelegt. Sie werden dabei flach und ohne Zug abgerollt, mit der flachen Hand anmodelliert und Falten geglättet. Die Gipsränder werden gesäubert, der Trikotverband an den Rändern umgeschlagen und Gipskrümelchen sorgfältig entfernt. Die Extremität wird bis zum Erhärten des Gips- oder Kunststoffverbandes mit der ganzen Hand gehalten oder offen gelagert, um Druckstellen durch Fingerabdrücke zu vermeiden. Nach 5–10 Minuten ist der Gips abgebunden, die vollständige Trocknung dauert beim Gipsverband 24–36 Stunden, beim Kunststoffverband 30 Minuten. In dieser Zeit darf der Gips noch nicht belastet werden. Der Gips sollte langsam durchtrocknen, um alle Schichten gleichmäßig zu erhärten. Deshalb sollte insbesondere der konventionelle Gips anfangs nicht mit einer Bettdecke o. Ä. abgedeckt werden. Da in den ersten 48 Stunden die Extremität anschwellen kann, wird der Gips zunächst nur als Schiene oder gespalten angelegt. Nach dem Trocknen des Gipses kann das Kind diesen anmalen, um ihn damit für sich attraktiver zu gestalten. Die Kunststoff- oder Glasfaserverbände werden häufig in attraktiven Farben angeboten. Hier kann sich das Kind vorher die Wunschfarbe auswählen.







Beeinträchtigtes Wohlbefinden durch Juckreiz bei Schweißentwicklung unter dem Gipsverband. Langeweile durch Bewegungseinschränkung. Gefahr der Muskelatrophie bei lange dauernder Immobilisierung.

Weitere Pflegeprobleme entstehen bei besonderen Formen der Gipsbehandlung, z. B. Thrombose- und Obstipationsgefahr bei größeren Kindern, die durch Liegegipse längere Zeit immobilisiert werden, besonders bei Beckengipsen. Hier sollen nur die Maßnahmen aufgeführt werden, die für nahezu alle Kinder mit Gipsversorgung zutreffen.

Pflegeziele und -maßnahmen Haut und Gewebe bleiben intakt Bei einer frischen Verletzung darf noch kein zirkulärer Gipsverband angelegt werden, da die zu erwartende Schwellung das Gewebe schädigen könnte! In diesem Fall darf nur eine Gipsschiene oder ein gespaltener Gips angelegt werden. Eine erhöhte Lage der betroffenen Extremität nach Gipsanlage reduziert die Schwellungsneigung. Das sorgfältige Vorgehen bei der Gipsanlage, besonders das Vermeiden von Unebenheiten, das Säubern und Polstern der Gipsränder sowie die Entfernung der Gipskrümel sind die erste Maßnahme zur Dekubitusprophylaxe. In Abhängigkeit von der Stärke der durch den Gips hervorgerufenen Immobilität (z. B. bei einem Kind mit Beckengips) kommen die genannten Maßnahmen zur Dekubitusprophylaxe (S. 403), ab der Pubertät auch die zur Thromboseprophylaxe (S. 405), zur Anwendung.

Pflegebedarf einschätzen Durch den Gipsverband können folgende Pflegeprobleme entstehen: ● Beeinträchtigung der selbstständigen Ausführung der Lebensaktivitäten durch Immobilisierung der eingegipsten Extremitäten, z. B. Beeinträchtigung beim „Sich sauber halten und kleiden“, beim „Sich bewegen“, beim „Sich beschäftigen, spielen und lernen“, ggf. auch beim „Essen und Trinken“ oder „Ausscheiden“. ● Gefahr von Haut-, Gewebe- und Sensibilitätsstörungen durch Druckstellen und posttraumatisch auftretende Gewebsschwellung. ● Schmerzen durch Haut-, Gewebe- oder Nervenschädigungen. ● Gefahr der Verbrennung durch Wärmeentwicklung bei der Gipshärtung.

Merke

H ●

Fingerendglieder oder Zehen bleiben beim Gipsanlegen frei, um Sensibilität, Motorik und Durchblutung (SMD-Kontrolle) beobachten zu können.

Diese Kontrollen werden anfangs stündlich, später in Abhängigkeit von Alter und Verletzungsfolgen 2–3-mal täglich durchgeführt. Ein größeres Kind wird aufgefordert, Missempfindungen am Gipsverband unverzüglich an seine Bezugsperson oder die zuständige Pflegefachkraft weiterzugeben. Äußerungen des Kindes über Schmerzen oder Missempfindungen am Gips müssen unbedingt ernst genommen werden.

Merke

H ●

Schwellen bei einem Gips die Fingerendglieder bzw. Zehen stark an, verfärbt sich die Haut blass, zyanotisch oder marmoriert oder liegt ein Kribbeln oder generelles Schmerz- oder Druckgefühl unter dem Gipsverband vor, so besteht der dringende Verdacht, dass der Gips zu viel Druck auf das Gewebe ausübt. Auffälligkeiten werden sofort an den zuständigen Arzt weitergeleitet!

Bei jedem Zeichen einer Weichteilkompression muss der Gips sofort entfernt werden. Bei weniger stark ausgeprägter Symptomatik kann eine Gipserweiterung durch Aufschneiden und Spreizen der Gipshülle erfolgen. Die weitere Entwicklung der Auffälligkeiten wird in diesem Fall engmaschig und sorgfältig beobachtet und nachvollziehbar dokumentiert. Bei lokal begrenzten Schmerzempfindungen, z. B. an Knochenvorsprüngen, kann der Gips an dieser Stelle gefenstert werden, d. h., es wird mit der Gipssäge ein kleines Stück des Gipses entfernt, um die darunterliegende Haut beurteilen und ggf. entlasten zu können. Kunststoffverbände können auch mit Verbandscheren bearbeitet werden.

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Sichere Frakturheilung Zur Kontrakturenprophylaxe erfolgt die Positionierung in physiologischer Gelenkmittelstellung. Besonders am Anfang, wenn die betroffene Extremität noch anschwillt, wird diese hochgelagert, z. B. der Arm auf ein Kissen. Bei Oberschenkelund Beckengips wird das Bein flach gelagert und das Fußende erhöht. Bei einer Unterschenkelfraktur wird die betroffene Extremität mit einer Schiene hochgelegt. Das Kind wird darüber informiert, dass es nicht zu lange mit herunterhängender Extremität sitzen oder stehen soll, um Hebelwirkungen an der Fraktur zu vermeiden: Eingegipste Arme werden mit einer Schlinge gehalten, Beine können beim Sitzen auf einen zweiten Stuhl gelegt werden. Um eine sichere Frakturheilung zu ermöglichen, ist es notwendig, dass die Stabilisierung der betroffenen Extremität bis zum Ende der Frakturheilung gewährleistet ist. Hierzu gehört, dass der Gipsverband nicht durch mechanische oder physikalische Reize zerstört wird. Ein herkömmlicher Gipsverband löst sich leicht auf, wenn er mit Wasser in Berührung kommt. Bei Reibungen und Stößen können Teile des Verbandes absplittern.

5

Pflege von Kindern mit Bewegungsstörungen

Eltern

a ●

Die Familie wird darüber informiert, dass das Kind mit dem Gips nicht baden soll und der Gipsverband beim Duschen oder bei Regen mit einer Schutzhülle vor Feuchtigkeit geschützt werden muss. Kunststoffverbände sind zwar feuchtigkeitsstabil, bei der Durchfeuchtung des Verbandes kann es jedoch zu Verklumpungen der inneren Watte- und Kreppverbände kommen.

34

Es ist darauf zu achten, dass das Kind nicht selbstständig an den Innenverbänden manipuliert, etwa Gegenstände wie Stifte oder Legosteine in den Gipsverband steckt. Häufig wollen die Kinder hiermit einen quälenden Juckreiz beheben, der sich bei längerer Gipsversorgung durch Schweißbildung und abgeschilferte Hautzellen ergibt. Bei starkem Juckreiz kann versucht werden, diesen mit der Gabe eines Antihistaminikums auf ärztliche Anordnung zu beheben. Durch die lange Immobilisierung atrophieren (verkümmern) die Muskeln. Mehrmals täglich durchgeführte isometrische Übungen (gezielte Anspannung und Entspannung einzelner Muskelgruppen, ohne die Extremität zu bewegen) wirken dieser Entwicklung entgegen, ganz verhindern lässt sich der Muskelabbau jedoch nicht. Sollte der Gips nicht mehr ausreichend anliegen, muss er erneuert werden.

Bestmögliche Selbstständigkeit Eine Versorgung mit einem Gipsverband ist kein Grund für eine starke Einschränkung bei der Ausübung der Lebensaktivitäten. Ist die Immobilisierung auf eine Extremität begrenzt, lernt das betroffene Kind schnell, seine Beeinträchtigung zu überbrücken, z. B. durch das Erlernen des Schreibens mit der linken Hand. Auch beim „Essen und Trinken“ sowie beim „Sich sauber halten und kleiden“ findet das Kind viele Möglichkeiten, seine immobilisierte Extremität zu ersetzen. Ihm sollte daher nur so viel Unterstützung wie nötig angeboten werden. Dem Kind können hilfreiche Tipps zum Selbstständigkeitstraining durch die Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin gegeben werden, z. B. der Beginn des Ankleidens mit der betroffenen Extremität. Der Gebrauch der Unterarmgehstützen bei Beingipsen wird durch das Pflegepersonal oder Physiotherapeuten trainiert. Bei den Übungen wird das Kind gut beobachtet und vor Stürzen geschützt.

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Merke

H ●

Kinder können den Gebrauch der Unterarmgehstützen frühestens ab dem Vorschul- oder Grundschulalter koordinieren, kleinere Kinder werden sicherheitshalber während der Frakturheilungszeit im Buggy transportiert.

Es ist die Aufgabe der Pflegefachkraft, den individuellen Hilfsbedarf des Kindes zu erkennen und es adäquat zu unterstützen. Die Eltern des Kindes werden hierbei angeleitet, in die Pflege integriert und unterstützt. Erfolgt eine Gipsbehandlung nach einer geplanten Operation, so können alle erforderlichen Verrichtungen präoperativ eingeübt werden.

Lernaufgabe

M ●

Üben Sie im Unterricht das Anlegen eines Gipsverbandes und lassen Sie den Gips für einige Stunden an Ihrem Körper. ● Wie erleben Sie die Beeinträchtigungen Ihrer Lebensaktivitäten? ● Wie können Sie sich selbst helfen, wobei benötigen Sie Hilfe? ● Ist die Beeinträchtigung bei Kindern unterschiedlicher Altersstufen gleich?

Wohlbefinden nach Abnahme des Gipsverbandes Ist die Frakturheilung beendet, wird der Gipsverband mithilfe einer Gipsschere oder einer oszillierenden Säge geöffnet. Herkömmliche Gipse können auch in Essigwasser aufgeweicht werden. Kunststoffverbände können meist mit einer Verbandschere entfernt werden. Die betroffene Extremität wird sorgfältig abgewaschen und anschließend mit einer rückfettenden Hautpflegelotion eingecremt. Dies kann im Rahmen eines Vollbades geschehen. Hierbei kann das Kind behutsam die Beweglichkeit der Extremität testen. Leichte Schmerzen der betroffenen, lange immobilisierten Extremität bei den ersten Bewegungen sind normal. Eine physiotherapeutische Übungsbehandlung ist in der Übergangszeit empfehlenswert, um Kontrakturen und längerfristigen Funktionseinschränkungen vorzubeugen. Eine Überforderung des Kindes in den Tagen nach der Gipsabnahme ist zu vermeiden.

34.4.3 Pflege eines Kindes mit Extension Formen der Extensionsbehandlung Definition

L ●

Die Extensionsbehandlung ist eine Versorgung von Frakturen, bei der die Knochenbruchstücke durch andauernden Zug in die richtige Stellung gebracht werden. Sie bietet sich bei Frakturen der großen Röhrenknochen an, die durch Muskelzug zur Verschiebung der Bruchsegmente neigen.

Dank verbesserter Methoden der minimalinvasiven, elastisch-stabilen Marknagelung wird bei Kindern nach Möglichkeit auf die psychisch belastende Extensionsbehandlung (wochenlange Immobilität) verzichtet. Die Extension wird meist nur noch als vorübergehende Maßnahme oder in Ausnahmefällen eingesetzt. Daher wird an dieser Stelle nur noch exemplarisch die Pflege eines Kleinkindes mit Overheadextension erläutert. Diese wird bei Kleinkindern bis zum 3. Lebensjahr mit Oberschenkelfrakturen durchgeführt (▶ Abb. 34.7). Mit einem Spezialheftpflasterverband werden die Beine des Kindes ab dem Oberschenkel eingebunden und mit Gewichten verbunden, die die Beine senkrecht nach oben in die Länge ziehen. Der Gegenzug wird durch das natürliche Gewicht des freihängenden kindlichen Gesäßes ausgeübt. Es wird immer ein gleichmäßiger Zug auf beide Beine ausgeübt.

Pflegebedarf einschätzen Durch eine Extensionsbehandlung ist eine Vielzahl der kindlichen Lebensaktivitäten beeinträchtigt, insbesondere die Lebens-

90°

Abb. 34.7 Overheadextension. Die Beine werden mit einem Pflasterzug senkrecht nach oben gezogen.

34.4 Pflege von Kindern mit Frakturen aktivitäten „Sich bewegen“, „Schlafen“, „Sich sauber halten und kleiden“, „Essen und Trinken“, „Sich beschäftigen, spielen und lernen“, „Ausscheiden“ und „Mädchen oder Junge sein“. Mögliche Pflegeprobleme sind: ● Gefahr der Frakturheilungsstörung bei unbemerkten Veränderungen an der Extension bzw. Extensionshaltung des Kindes. ● Gefahr von Durchblutungsstörungen, Druckstellen und Hautirritationen durch den Pflasterzugverband. ● Schlafschwierigkeiten durch die ungewohnte Körperhaltung. ● Angst und Unruhe durch die ungewohnte Körperhaltung. ● Einschränkung der Intimsphäre durch teilweise unbedeckte Körperteile, Notwendigkeit der Intimpflege, bzw. Ausscheidungsverrichtung im Bett. ● Schmerzen an der Frakturstelle bei Bewegungen und pflegerischen Manipulationen. ● Langeweile wegen des langwierigen Verweilens in der Extensionshaltung und Einschränkung der Beschäftigungsmöglichkeiten. ● Gefahr von Folgen der Immobilität, z. B. Obstipation, Beeinträchtigung der Atemfunktion, Gefahr der Entwicklung einer passageren Muskelschwäche, Thrombose oder Dekubitus.

Pflegeziele und -maßnahmen

Reinigungspersonal, werden zu äußerster Vorsicht im Bereich der Extension angehalten. Es soll dadurch vermieden werden, dass jemand unbeabsichtigt gegen das Bett des Kindes oder die Extensionsgewichte stößt. Zusätzlich kann ein Hinweis am Bett des Kindes angebracht werden. Schmerzhafte, pflegerische Manipulationen am Kind sollten auf das Nötigste beschränkt werden, größere Manipulationen, wie das Betten, sollten grundsätzlich zu zweit vorgenommen werden. Anschließend werden die richtige Lage des Kindes und die Gewichte überprüft. Transporte des Kindes werden so schonend wie möglich vorgenommen, damit das Bett oder die Gewichte nirgendwo anstoßen. Bodenschwellen werden extrem langsam überfahren.

Praxistipp Pflege

Z ●

Besonders in den ersten Tagen bietet sich auf ärztliche Anordnung eine medikamentöse Analgesie oder auch Sedierung des Kindes an, da jegliche Bewegung ihm zunächst noch starke Schmerzen bereitet.

Intakte Haut

Z ●

Ungestörte Frakturheilung

Praxistipp Pflege

Die Effizienz der Frakturheilung während der Extensionsbehandlung ist von einer korrekten Funktion und Handhabung der Extension abhängig. Hierbei ist auf Folgendes zu achten: ● Die Anbringung der Gewichte bei der Overheadextension geschieht auf ärztliche Anordnung ● Die Gewichte müssen jederzeit frei hängen, sodass sie einen konstant gleichmäßigen Zug ausüben. ● Bei der Overheadextension muss darauf geachtet werden, dass das Gesäß jederzeit freiliegt. ● Auf die Einhaltung der Beugewinkel (90°) und eine gleichseitige, achsengerechte Stellung der Extremitäten ist zu achten. ● Um die korrekte Lage des Kindes zu gewährleisten, kann der Oberkörper mit einer Strampeldecke oder einer seitlich eingesteckten Decke in der richtigen Position gehalten werden.

Die Hautbeschaffenheit unter dem Pflasterzugverband wird regelmäßig von der Pflegefachkraft überprüft. Spannungsblasen oder allergische Reaktionen auf das Pflaster sind bereits an den Pflasterrändern zu erkennen.

Schmerzfreiheit Alle Mitpatienten, Angehörige und Besucher sowie das gesamte Klinikpersonal, z. B. auch abteilungsfremdes Personal und

Wichtig ist, dass das Pflaster nicht verrutscht, da sich hierdurch Hautläsionen durch die entstehenden Scherkräfte bilden. Klagt das Kind über starke Schmerzen, ist aber an den Verbandrändern nichts zu erkennen, muss der Pflasterzugverband durch den Arzt abgewickelt und ggf. das Pflastermaterial variiert werden. Zu beachten ist, dass das Abwickeln und anschließende Neuanwickeln für das Kind eine sehr schmerzhafte Manipulation bedeuten und daher nur mit entsprechender Indikation und Analgesie durchgeführt werden dürfen. Bei der Verwendung von Kirschner-Drähten zur Extension wird die Drahteintrittsstelle auf Hautreaktionen und Entzündungszeichen (Rötung, Schwellung, Schmerz, Sekretion) beobachtet.

Physiologische Durchblutung Durch das feste Anlegen des Pflasterzugverbandes kann die physiologische Blutzufuhr beeinträchtigt sein.

Praxistipp Pflege

Z ●

Die Durchblutungsverhältnisse des Fußes sowie auftretende Schwellungen und Ödeme werden sorgfältig beobachtet. Eine leichte Schwellung der frakturierten Extremität ist normal, kann aber dazu führen, dass der Verband zu eng wird.

34

Durchblutungs- und Sensibilitätsstörungen sind sofort dem Arzt mitzuteilen. Angaben des Kindes über Druckschmerzen oder auffallendes Kältegefühl einer Extremität müssen unbedingt ernst genommen werden. Die Mobilität der Füße muss unverändert vorhanden bleiben.

Ungestörte Nachtruhe Das Kind braucht einige Zeit, um sich an seine ungewöhnliche Körperhaltung zu gewöhnen. Das Beibehalten häuslicher Einschlafrituale, das Lieblingsschmusetier usw. und die Anwesenheit der Bezugsperson können dem Kind das Einschlafen in der ungewohnten Haltung erleichtern. Auf ärztliche Anordnung kann ggf. ein Sedativum am Abend verabreicht werden. Dies ist üblicherweise nach einer Woche nicht mehr notwendig.

Schutz der Intimsphäre/physiologische Ausscheidung Kleinkinder, die bereits selbstständig ihre Ausscheidungen verrichten konnten, werden sich weder mit einer Windel noch mit unbekleidetem Unterleib wohlfühlen.

Praxistipp Pflege

Z ●

Es ist möglich, die Unterwäsche oder eine kurze Hose seitlich aufzutrennen und mit einem Klettverschluss oder Knöpfen zu versehen, damit das Kind damit bekleidet werden kann. Auf keinen Fall sollte dem Kind wegen der Extensionsbehandlung eine Windelhose angezogen werden, wenn es diese normalerweise nicht mehr benötigt.

Das Kind kann während der Extension mittels Steckbecken oder Urinflasche seine Ausscheidung verrichten. Hierbei werden alle Besucher und gehfähigen Patienten gebeten, das Patientenzimmer zu ver-

7

Pflege von Kindern mit Bewegungsstörungen

34

lassen, und das Kind wird ausreichend vor Blicken geschützt. Die Ausscheidung in dieser ungewohnten Stellung verlangt etwas Übung und gelingt einfacher, wenn das Pflegepersonal so unbefangen wie möglich damit umgeht. Hierzu gehört auch ein vorwurfsloser Umgang mit „missglückten“ Versuchen. Sollte das Kind aufgrund der Immobilisierung und der ungewohnten Ausscheidungshaltung zur Obstipation neigen, wird es zusammen mit seinen Bezugspersonen bezüglich seines Ernährungsverhaltens zu einer ballaststoffreichen, ausscheidungsfördernden Ernährung und ausreichender Flüssigkeitszufuhr beraten. Besonders auf Süßigkeiten sollte weitestgehend verzichtet werden. Bei Bedarf können nach ärztlicher Anordnung Laxanzien gegeben werden.

Selbstständige Ausübung der Lebensaktivitäten Da das Kind in dieser Stellung einige Wochen im Bett verbringt, muss es von Bezugspersonen, Pflegenden, Erziehern und Lehrern adäquat beschäftigt (S. 446) werden.

Praxistipp Pflege

Z ●

Bewährt hat sich der Einsatz eines Spielbrettes, das mit einem beliebigen Neigungswinkel über das Kind ins Bett gestellt werden kann.

Nach einer Eingewöhnungsphase und wenn die stärksten Schmerzen vorbei sind, kann das Kind einen Großteil seiner Lebensaktivitäten wieder altersgemäß selbstständig oder teilweise selbstständig ausführen. Das Kind benötigt alle persönlichen Utensilien und die Patientenklingel in greifbarer Nähe. Sind alle Materialien so gerichtet, dass das Kind sie erreichen und benutzen kann, kann es einen Teil seiner Körperpflege übernehmen, essen und trinken und seine Ausscheidungen – in Abhängigkeit vom Lebensalter – verrichten. Aufgabe der Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin ist es, den individuellen Hilfebedarf des Kindes zu erkennen und es adäquat zu unterstützen.

Merke

H ●

Das Kind erhält bei der Ausübung seiner Lebensaktivitäten so wenig Unterstützung wie möglich, aber so viel Unterstützung wie nötig.

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Eltern

a ●

Die Eltern werden abhängig vom Alter und von den Bedürfnissen des Kindes durch das Pflegepersonal angeleitet und in die Pflege miteinbezogen. Sie können z. B. lernen, wie die Windelhose des Kindes unter Extensionsbehandlung gewechselt werden kann.

34.5 Pflege eines Kindes mit Osteomyelitis 34.5.1 Ursache und Auswirkung Definition

L ●

Die Osteomyelitis ist eine bakterielle Entzündung des Knochenmarks, meistens an den langen Röhrenknochen.

Sie entsteht aufgrund einer hämatogenen Streuung der Bakterien in das Knochenmark infolge einer Sepsis oder seltener durch direkte Kontamination nach einer offenen Fraktur. Durch die Ausbildung einer Abszesshöhle und eines umgebenden Ödems kann die Blutzufuhr zu einzelnen Knochenteilen unterbunden sein, was zum Absterben dieser Teile (Knochensequester) führt. Die Symptome einer Osteomyelitis sind zunächst noch etwas diffus und bilden sich meist erst innerhalb einer Woche typisch aus: ● meist allgemeines Krankheitsgefühl mit hohem Fieber ● Schmerzen an der betroffenen Extremität mit automatisch eingenommener Schonhaltung ● Schwellungen, Rötungen, Bewegungseinschränkungen Die Diagnose erfolgt anhand der Laborparameter (allgemeine Entzündungszeichen und Erregernachweis, meist Staphylokokken) und bildgebenden Verfahren, wie Röntgen, Sonografie und Knochenszintigrafie. Die Therapie besteht in einer hoch dosierten Antibiotikagabe. Bei chronischen Verläufen erfolgt eine chirurgische Abszess- oder Sequesterausräumung (Entfernung des abgestorbenen Knochengewebes).

34.5.2 Pflegebedarf einschätzen Bei einem Kind mit einer Osteomyelitis können folgende Pflegeprobleme entstehen: ● gestörtes Wohlbefinden durch allgemeines Krankheitsgefühl und Fieber ● Gefahr der Infektionsausbreitung und Keimverschleppung bei hämatogener Streuung ● Gefahr einer langfristigen Beeinträchtigung des Bewegungssystems durch dauerhafte Knochenschädigung ● Beeinträchtigung bei der Ausübung der Lebensaktivitäten durch Bettruhe ● Angst vor schmerzhaften Eingriffen und unbestimmt langer Dauer des Krankenhausaufenthaltes ● Gefahr der Chronifizierung der Osteomyelitis bei Therapieresistenz, eingeschränktem Immunsystem oder hämatogener Streuung ● Bewegungseinschränkung durch Schmerzen und/oder Spül-SaugDrainage

34.5.3 Pflegeziele und -maßnahmen Allgemeine Pflegeziele Eindämmung der Infektion Damit sich die Infektion beim Kind nicht noch weiter ausbreitet, muss es absolute Bettruhe einhalten. Die betroffene Extremität wird zusätzlich mit einer Schiene oder Gipsschale ruhiggestellt. Aufgabe des Gesundheits- und Kinderkrankenpflegepersonals sind die Mitwirkung bei der Entnahme und dem Versand der Laborproben zum Erregernachweis, die Assistenz beim Anlegen eines venösen Zugangs und bei der Vorbereitung und Durchführung der ärztlich angeordneten hoch dosierten Antibiotika. Die Antibiotika werden i. d. R. über intravenöse Kurzinfusionen verabreicht. Die Pflegefachkraft überwacht hierbei die Durchführung der Kurzinfusion, insbesondere achtet sie auf Venenreizungen. Zur Einschätzung von Wirksamkeit und Nebenwirkungen der Therapie wird ● die betroffene Extremität auf Veränderungen hin beobachtet (Druckschmerz, Schwellung, Rötung und Übererwärmung), ● das Allgemeinbefinden erfasst und ● die Reaktion auf die medikamentöse Therapie beobachtet. Engmaschige Vitalzeichenkontrollen, besonders Kontrollen der Körpertemperatur, dienen dem frühzeitigen Erkennen schwerer septischer Verlaufsformen.

34.6 Pflege eines Kindes mit einer rheumatischen Erkrankung

Merke

H ●

Bei der Pflege des Kindes wird ein Schutzkittel getragen und es werden alle hygienischen Maßnahmen der Infektionsprophylaxe (S. 433) eingehalten. Nach jedem Patientenkontakt erfolgt eine gründliche hygienische Händedesinfektion. Nach einer chirurgischen Versorgung der Osteomyelitis sind alle Wundsekrete, Verbände und alles, was damit in Berührung kommt (z. B. Bettwäsche), als infektiös zu betrachten und entsprechend zu entsorgen. Alle Maßnahmen eines Verbandwechsels bei septischen Wunden (S. 845) sind einzuhalten.

Wenn das Kind operiert wird, überwacht das Pflegepersonal die Wundheilung und den postoperativen Verlauf (S. 834).

Verbesserung des Allgemeinbefindens Da es sich bei der Osteomyelitis um ein schweres Krankheitsbild handelt, benötigt das betroffene Kind viel menschliche Zuwendung und Maßnahmen zur Unterstützung des Wohlbefindens. Applikation und Überwachung der Infusionstherapie erfolgen auf ärztliche Anordnung, solange das Kind noch keine ausreichende Nahrungszufuhr erhält. Nach einer chirurgischen Versorgung wird die übliche postoperative Nahrungskarenz eingehalten. Anhand von Schmerzskalen wird die Schmerzintensität erfragt bzw. beobachtet. Das Kind erhält fiebersenkende und schmerzlindernde Medikamente nach ärztlicher Anordnung. Jegliche Pflegemaßnahmen am Kind werden zurückhaltend und schonend vorgenommen. Um Stresssituationen für das Kind zu verringern, werden belastende Maßnahmen, z. B. das Betten, grundsätzlich mit 2 Pflegefachkräften vorgenommen.

seinen altersgemäßen Fähigkeiten – seine bestmögliche Selbstständigkeit erhält. Die Bezugspersonen des Kindes werden je nach Alter und Bedürfnissen angeleitet und in die Pflege integriert.

Korrekter Umgang mit der Spül-Saug-Drainage Nach einer chirurgischen Abszessausräumung oder Sequesterentfernung wird eine Spül-Saug-Drainage gelegt (▶ Abb. 34.8). Sie dient der mechanischen Reinigung der bakteriell infizierten Gewebehöhle, durch die Kombination von kontinuierlicher Spülung und Absaugung mit dem Ziel der Infektbekämpfung. Diese Drainage besteht aus 2 Teilen: 1. Sterile Spülflüssigkeit wird kontinuierlich in den Knochen geleitet (z. B. Ringer-Lösung, der auf ärztliche Anordnung ein Antibiotikum zugesetzt sein kann); der zuführende Schlauch hat seitliche Perforationen, sodass sich die Spülflüssigkeit in der gesamten Wundhöhle verteilen kann. 2. Mit einem ähnlichen Schlauch, der mit einer Saugflasche verbunden ist, werden Wundsekret und Spülflüssigkeit abgeleitet. Hierfür stehen Einmal-Vakuum-Flaschen zur Verfügung (RedonSystem) oder Sekretsammelflaschen, die mithilfe eines Vakuum-Wandanschlusses einen kontinuierlichen Sog von ca. 30 – 40 cm Wassersäule erreichen.

Merke

H ●

Sekretmenge und -beschaffenheit werden beobachtet und dokumentiert. Einund auslaufende Spülmengen sollten gleich sein und werden streng bilanziert.

Der Füllungszustand und der Sog der Ablaufflasche müssen in kurzen Abständen geprüft werden. Die Flasche wird ausgetauscht, wenn sie etwa zu 2/3 gefüllt ist, bzw. wenn der Sog nachlässt. Die Zuleitung der Spül-Saug-Drainage wird i. d. R. über die Tropfenzahl reguliert, die ärztlich angeordnet wird. Diese ist üblicherweise in den ersten Tagen höher, um Wundsekrete und Blutkoagel gründlich auszuspülen, und wird je nach Beschaffenheit des Sekrets reduziert. Es wird genau und in kurzen Zeitabständen bilanziert, ob die ablaufende Sekretmenge der zugeführten Spülflüssigkeitsmenge entspricht. So wird auch die Durchgängigkeit der Schläuche überwacht. Verstopfungen des Saugsystems durch Sekret oder Koagel können zu Flüssigkeitsansammlungen im Gewebe führen.

Merke

H ●

Bei Verstopfungen des Saugsystems wird die Spülung sofort unterbrochen und der Arzt informiert. Gegebenenfalls muss die Drainage vorübergehend durch eine Saugdrainage ersetzt werden.

Wenn das Spülsekret klar ist und die mikrobiologischen Kontrollen wiederholt unauffällig sind, kann die Drainage gezogen werden. Das Kind darf die betroffene Extremität jedoch weiterhin nicht belasten, bis durch die bildgebenden Verfahren eine ausreichende Knochenheilung nachgewiesen ist.

34.6 Pflege eines Kindes mit einer rheumatischen Erkrankung 34.6.1 Ursache und Auswirkung Definition

Selbstständige Ausübung der Lebensaktivitäten Wenn der Akutzustand der Osteomyelitis überstanden ist und sich das Allgemeinbefinden des Kindes stabilisiert hat, muss es weiterhin für eine längere Zeit Bettruhe einhalten. Dem Kind werden eine adäquate Beschäftigung sowie Klinikunterricht angeboten. Bei der Ausübung seiner Lebensaktivitäten erhält es so viel Unterstützung wie notwendig, bekommt aber seine persönlichen Dinge, die Patientenklingel, seine Pflegeutensilien, das Essen usw. so angeboten, dass es – abhängig von

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L ●

Rheuma ist ein Sammelbegriff für eine Reihe von Gesundheitsstörungen mit schmerzhaften entzündlichen Störungen des Bewegungs- und Stützsystems.

Die häufigsten Rheumaformen sind: postinfektiöses Rheuma (reaktive Arthritis), z. B. rheumatisches Fieber ● juvenile idiopathische Arthritis (JIA) ● Bindegewebsrheuma (Kollagenosen) ● rheumatische Veränderungen in den Blutgefäßen (Vaskulitissyndrome) ●

Abb. 34.8 Spül-Saug-Drainage. Sie kommt nach chirurgischen Sequesterentfernungen zum Einsatz.

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Pflege von Kindern mit Bewegungsstörungen ●

rheumatische Erkrankungen der Knochen (chronisch rekurrierende multifokale Osteomyelitis – CRMO)





Rheumatisches Fieber

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Das rheumatische Fieber ist eine Folgekrankheit einer unbehandelten A-Streptokokken-Infektion. Es geht mit akuten, schmerzhaften Bewegungseinschränkungen und hohem Fieber einher. Gleichzeitig können sich eine hämorrhagische Nephritis und eine Myokarditis entwickeln. Die Therapie dieser Erkrankung beinhaltet die Sanierung des Infektionsherdes und eine symptomatische Behandlung. Pflege und Beobachtung des Kindes richten sich nach dem Schweregrad seiner Beeinträchtigung und den Komplikationen.

Juvenile idiopathische Arthritis (JIA) Die juvenile idiopathische Arthritis (JIA) ist die häufigste chronische, entzündlichrheumatische Erkrankung im Kindes- und Jugendalter. Sie liegt dann vor, wenn eine Gelenkentzündung („Arthritis“) mindestens 6 Wochen dauerhaft anhält. Idiopathisch bedeutet, dass keine Ursache für die Arthritis festgestellt werden kann. Typisch ist der Krankheitsbeginn vor Vollendung des 16. Lebensjahres. Hierbei unterscheidet man Gelenkentzündungen eines (Monoarthritis), weniger (Oligoarthritis) oder mehrerer Gelenke (Polyarthritis). Bei einigen Formen lassen sich laborchemisch Rheumafaktoren im Blut darstellen (seropositiv), bei anderen Formen sind diese jedoch nicht nachweisbar (seronegativ).

Rheumatische Erkrankungen Sie können sich systemisch auf Gelenke, Knochen, Muskeln, Sehnen und Bänder sowie andere Organsysteme ausweiten, z. B. auf Herz, Leber und Milz beim StillSyndrom. Eine häufige Begleiterscheinung ist auch die rheumatische Augenentzündung (Iridozyklitis). In diesem Kapitel soll besonders auf die Pflege von Kindern mit chronisch verlaufenden rheumatischen Störungen eingegangen werden.

Symptome Symptome rheumatischer Erkrankungen können bei den einzelnen Formen unterschiedlich bzw. unterschiedlich stark ausgeprägt sein: ● Schmerzhafte Schwellungen eines oder mehrerer Gelenke, symmetrisch oder asymmetrisch. ● Typische „Morgensteifigkeit“, d. h. Verschlimmerung der Symptomatik nach einer Ruhephase.

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Bewegungseinschränkungen, Destruktionen und Kontrakturen der betroffenen Gelenke. Weitere Symptome je nach befallenem Organsystem: z. B. Iridozyklitis (Entzündung von Iris und Ziliarkörper), Lebervergrößerung, Herzbeteiligung.

Die Diagnose wird v. a. aufgrund der klinischen Symptomatik gestellt. Laborchemische Untersuchungen und bildgebende Verfahren helfen bei der Differenzierung und Einschätzung der Prognose.

Therapie Die Therapie beinhaltet entzündungshemmende nichtsteroidale Antirheumatika, Glukokortikoide, Immunsuppressiva, Biologika und Zytostatika. Die nichtmedikamentöse Therapie besteht aus gelenkschützenden Maßnahmen und Maßnahmen zur Alltagsbewältigung. Mit physio- bzw. ergotherapeutischen und physikalischen Therapien wird versucht, die Schmerzen und den Entzündungsprozess zur Ruhe zu bringen und die Gelenkfunktionen bestmöglich zu erhalten. Bei bleibenden Schäden stehen eine unterstützende Hilfsmittelversorgung, korrigierende Maßnahmen und v. a. eine intensive psychosoziale Betreuung im Mittelpunkt der Therapie, um die soziale Integration und eine möglichst unbeeinträchtigte Allgemeinentwicklung des Kindes zu gewährleisten.

34.6.2 Pflegebedarf einschätzen Von der rheumatischen Störung ist die Lebensaktivität „Sich bewegen“ massiv beeinträchtigt. Je nach der Schwere der Symptomatik ist hierdurch aber auch die selbstständige Ausübung anderer Lebensaktivitäten mehr oder weniger betroffen: ● Beeinträchtigung der körperlichen Entwicklung und Selbstständigkeit. ● Körperbildstörungen durch Gelenkveränderungen, Bewegungseinschränkungen und dauerhaft angelegte Hilfsmittel (z. B. Armschienen). ● Unzufriedenheit des Kindes durch Schmerzen und Bewegungseinschränkung (besonders morgens). ● Starke Beeinträchtigung des Wohlbefindens bis zu starkem Krankheitsgefühl in den Akutphasen. ● Einschränkungen in der Lebensgestaltung durch die Notwendigkeit einer intensiven Therapie. ● Gefahr von Medikamentennebenwirkungen, z. B. Immunsuppression, Veränderung des Körperbildes durch Kortison. ● Gefahr langfristiger Schädigungen des Bewegungssystems durch Gelenkfehlstellungen.







Gefahr von Schädigungen anderer Organsysteme, z. B. Erblindung durch Iridozyklitis. Soziale Isolation durch häufige Krankenhausaufenthalte und sichtbare körperliche Behinderung. Angst und Verunsicherung durch den schubweisen Verlauf der Erkrankung, veränderte Lebensperspektiven.

34.6.3 Pflegeziele und -maßnahmen Verbessertes Allgemeinbefinden Im akuten Krankheitsschub stehen Beobachtung und Eindämmung der lokalen Entzündungsreaktion sowie die Schmerzbekämpfung im Mittelpunkt des Handelns. Die Aufgaben des Gesundheits- und Kinderkrankenpflegepersonals in dieser Zeit sind: ● Verbesserung des Allgemeinbefindens durch vorsichtige Durchführung pflegerischer Maßnahmen und die Abschirmung des Kindes vor allen belastenden und schmerzauslösenden Reizen, z. B. unnötige Bewegungen, Geräusche und Lichtreize. ● Verabreichung und Überwachung der angeordneten medikamentösen Therapie. ● Information der Eltern über mögliche Nebenwirkungen der medikamentösen Therapie, damit die Familie frühzeitig Nebenwirkungen und Unverträglichkeitsreaktionen erkennen und mitteilen kann. ● Beobachtung des Kindes auf Wirkung und Nebenwirkung der Medikamente.

Medikamentenwirkungen und Nebenwirkungen Merke

H ●

Die häufigsten Nebenwirkungen der Antirheumatika sind Magen- und Darmbeschwerden. Daher sollten die Medikamente nicht auf nüchternen Magen eingenommen werden. Leidet das Kind unter starker Appetitlosigkeit, soll es zu den Medikamenten etwas Milch oder Joghurt zu sich nehmen, um ● Nebenwirkungen der Medikamente so gering wie möglich zu halten, ● die Magenschleimhaut zu schützen und ● Magensäure zu neutralisieren.

Manche Antirheumatika, z. B. die Azetylsalizylsäure, haben eine gerinnungshemmende Wirkung. Eine vermehrte Entstehung von Blutungen und Hämatomen bei diesen Kindern wird dem behandelnden

34.6 Pflege eines Kindes mit einer rheumatischen Erkrankung Arzt mitgeteilt. Vor operativen Eingriffen werden diese Präparate vorübergehend abgesetzt. Vereinzelt kann es zu allergischen Reaktionen, z. B. Asthmaanfällen, durch die Medikamente kommen. Treten diese Nebenwirkungen auf, wird der behandelnde Arzt informiert. Meist kann mit einem anderen Präparat die Therapie ohne Probleme fortgesetzt werden. Immunsuppressiva, Zytostatika und Kortisonpräparate dämpfen das Immunsystem und damit auch die entzündliche Reaktion an den Gelenken. Eine Gefahr dieser Therapie ist die Verminderung der körpereigenen Abwehr gegen Infektionserreger aller Art. Mit gewissenhaften hygienischen Maßnahmen (S. 434) sowie der Aufklärung der Familie wird Infektionen vorgebeugt. Auf Zeichen einer beginnenden Infektion wird geachtet. Kortisonpräparate führen bei hoher Dosierung zur Ausbildung eines CushingSyndroms mit Stammfettsucht. Das Kind wird darauf hingewiesen, dass es zur Ausbildung von Fettdepots, Akne und verstärktem Haarwuchs kommen kann. Eine ballaststoff- und vitaminreiche, aber kalorienarme Ernährung wird empfohlen. Bei der Kortisontherapie werden auf ärztliche Anordnung oder Klinikrichtlinien Blutdruckkontrollen durchgeführt.

Kälteanwendung Physikalische Maßnahmen zur Kälteanwendung (S. 291) helfen dem Kind, im Akutstadium die Symptomatik einzudämmen und den Schmerz zu lindern. Das Kind wird befragt, ob ihm Kälte- oder Wärmeanwendungen guttun. Häufigkeit und Dauer der Anwendung richten sich nach Befinden und Alter des Kindes.

Merke

H ●

Eine lokale Wärmeanwendung ist in der Akutphase kontraindiziert. Bei ruhenden Entzündungen wird Wärme dagegen oft als angenehm empfunden.

Gelenkschutz Die betroffenen Gelenke werden schmerzlindernd positioniert. Zur Kontrakturenprophylaxe müssen sie jedoch auch bei Schmerzen vorsichtig durchbewegt werden. Einschränkungen der Beweglichkeit, wie auffallende Bewegungsarmut, Wunsch des Kindes, getragen zu werden anstatt zu laufen, veränderte Bewegungsmuster, z. B. verändertes Gangbild und/ oder feinmotorische Schwierigkeiten

Arthritis = Schmerz, Schwellung Gelenkfehlstellung, Deformität

Fehlbelastung im Alltag

reflektorische Schon= Fehlhaltung

Abb. 34.9 Schmerzkreis. Der Teufelskreis sollte durch therapeutische Maßnahmen durchbrochen werden.

beim Gebrauch der Spielsachen müssen vom Pflegepersonal frühzeitig erkannt werden. Sie können Anzeichen eines Krankheitsschubes sein. Den Eltern werden spielerische Bewegungsübungen gezeigt, mit denen sie Bewegungseinschränkungen erkennen und einschätzen können (z. B. Fingerspiele, In-die-Luft-Malen). Schonhaltungen aufgrund von Schmerzen führen langfristig zu Fehlbelastungen durch unphysiologische Bewegungsabläufe. Hieraus entstehen Gelenkdeformitäten und Gelenkzerstörungen, die wiederum zu Schmerzen führen. Dieser Teufelskreis muss frühzeitig durchbrochen werden (▶ Abb. 34.9). Maßnahmen zum Gelenkschutz umfassen nicht nur alle physio- und ergotherapeutischen sowie pflegerischen Maßnahmen zur Bewegungsförderung und Schmerzlinderung, sondern auch routinemäßige Abläufe, die ins tägliche Leben der Familien integriert werden, um Fehlbelastungen zu vermeiden.

Merke

H ●

Ziel gelenkschützender Maßnahmen ist Schmerzen lindern, Durchblutung fördern, Beweglichkeit erhalten, Gelenke stabilisieren und Fehlstellungen vermeiden.

Zu den gelenkschützenden Maßnahmen gehört: ● achsengerechtes Halten und Bewegen der Gelenke ● Griffverdickungen einsetzen ● Dauerbelastung vermeiden ● so viele Gelenke wie möglich für Bewegungen nutzen ● Stoß, Druck, Zug auf Gelenke vermeiden ● Ruhepausen beachten

34

Jede Bewegungseinschränkung muss auch im akuten Schub sofort vorsichtig und schonend physiotherapeutisch behandelt werden. Entspannungstechniken helfen, die allgemeine Muskelspannung herabzusetzen. Wärmeanwendungen verbessern die Durchblutung und unterstützen die Muskelentspannung, sind aber im Akutstadium kontraindiziert (s. o.). Dehnungen der gelenknahen Muskelgruppen und Aktivierung der entgegengesetzt arbeitenden Muskelgruppen helfen, Fehlstellungen zu lösen und normale Bewegungsabläufe zurückzuerlangen. Die Gelenke des Kindes sollten hierbei mit Hilfsmitteln wie Gehrollern, fahrbaren „Münsterpferdchen“ oder Laufrädern entlastet werden. Eine gute Entlastung gelingt auch bei Bewegungsübungen in warmem Wasser, da die Wärme die Muskulatur entspannt und das Wasser und der hydrostatische Druck der Schwerkraft entgegenwirken. Der natürliche Bewegungsdrang des Kindes sollte von den Eltern und Pflegefachkräften bestmöglich unterstützt werden.

Akzeptanz korrigierender Maßnahmen Zur Vermeidung oder Linderung von Gelenkdeformationen werden Schienen eingesetzt. Hierbei kommen unterschiedliche Schienentypen zum Einsatz: ● Lagerungsschienen zur partiellen Ruhigstellung, Schmerzminderung, Entlastung akut entzündeter Gelenke, nächtlicher Korrektur von Deformitäten ● funktionsverbessernde Schienen gegen Fingerfehlstellungen ● stabilisierende Schienen, um Schmerzen zu lindern, Funktionen zu verbessern und die Kraftübertragung effektiver zu gestalten

1

Pflege von Kindern mit Bewegungsstörungen

Abb. 34.10 Schienen. Armschiene zur Schreibhilfe. (Abb. von: Fa. Thomashilfen, www.thomashilfen.de)

34 Das Kind und seine Eltern werden über die Notwendigkeit der Schienenbehandlung aufgeklärt (▶ Abb. 34.10).

Merke

H ●

Beim Einsatz einer Schiene wird darauf geachtet, dass sie die bestmögliche Funktion gewährleistet, ohne dass durch sie Missempfindungen und Druckstellen entstehen.

Die Kinder erlernen das Ausüben ihrer Lebensaktivitäten mit den Schienen. Manchmal müssen die Schienen auch nur stundenweise getragen werden. Zum Waschen und für physiotherapeutische Übungen der Handbeweglichkeit werden die Schienen abgenommen.

Frühzeitiges Erkennen von Komplikationen Merke

H ●

Das Wissen um mögliche Komplikationen an anderen Organsystemen ermöglicht den Kindern, erste Anzeichen wahrzunehmen und richtig einschätzen zu können.

Sie können je nach Rheumaart unterschiedlich sein. Eine häufige Komplikation von kindlichen rheumatischen Erkrankungen ist die Rheumatische Iridozyklitis, eine Augenentzündung, die akut oder chronisch verlaufen kann. Diese Störung verursacht zu Beginn eher wenig Symptome, z. B. leichte Lichtscheu, kann aber

682

auch ohne ausgeprägte Symptomatik die Sehleistung über Verklebungen an der Regenbogenhaut beeinträchtigen. Im weiteren Verlauf kann sich eine Katarakt oder Glaukom ausbilden sowie Hornhautverkalkungen, Glaskörpertrübungen und Schädigungen des Sehnervs. Bei beginnender Entzündung muss eine Therapie mit kortisonhaltigen Augentropfen oder Augensalbe konsequent durchgeführt werden, um die volle Sehfähigkeit zu erhalten. In schweren Fällen werden systemische Immunsuppressiva eingesetzt oder augenärztliche Operationen durchgeführt (S. 539). Da die Symptomatik am Anfang gering ist, müssen die Familien über die Wichtigkeit der Augenarztbesuche und der Therapie aufgeklärt werden, damit diese nicht vernachlässigt wird.

Selbstständige Bewältigung des Alltags Die rheumatische Gesundheitsstörung des Kindes bedeutet eine Umstellung der Lebensgestaltung der gesamten Familie. Zeitaufwendige physiotherapeutische und ergotherapeutische Übungen bestimmen den Tagesablauf. Um den Alltag gut zu bewältigen, wird für das Kind ein spezieller Tagesablaufplan erstellt. Da die Kinder besonders morgens unter ihren Bewegungseinschränkungen und Schmerzen leiden, ist es sinnvoll, dass sie früher aufstehen, um ausreichend Zeit zum Waschen und Kleiden und für den Schulweg zu haben. Häufig sind gerade am Morgen bereits die ersten Verordnungen, wie physikalische Maßnahmen, notwendig.

Praxistipp Pflege

Z ●

Um dem Kind den Schulweg zu erleichtern und die Gelenke zu entlasten, ist es ratsam, ein zweites Bücherpaket anzuschaffen, das in der Schule verbleibt.

Da der normale Tagesablauf für ein rheumakrankes Kind anstrengender ist als für seine Altersgenossen, wird auch bei Schulkindern eine Mittagspause eingeplant. Für die Medikamentengabe und verordneten Therapien werden feste Zeiten eingerichtet, an die sich das Kind halten und es über seine freie Zeit tatsächlich verfügen kann und damit nicht in Versuchung gerät, die Therapien so lange hinauszuschieben, dass sie vergessen wer-

den. Dem Kind muss seine eigene Verantwortung für die Einhaltung des Therapiekonzeptes vermittelt werden.

Praxistipp Pflege

Z ●

Auch therapiefreie Zeiten müssen eingeplant werden, in denen das Kind sich altersentsprechend beschäftigen kann.

Psychische Stabilität Offenheit im Umgang mit der Erkrankung hilft dem Kind in der Annahme der notwendigen Maßnahmen und unvermeidlichen Einschränkungen. Häufig fühlen sich die Kinder missverstanden, da ihre Einschränkungen von der Umgebung nicht akzeptiert werden. Auch werden den Familien „gute Ratschläge“ von gut meinenden Bekannten gegeben, die aber manchmal für das Kind nicht hilfreich sind und die Familien in der konsequenten Durchführung der vorgeschlagenen Therapie nur verunsichern. Hier hilft der intensive Kontakt zu Fachleuten und gleichfalls Betroffenen.

Bestmögliche soziale Integration Die Bewegungseinschränkungen, Verhaltensänderungen durch Schmerzen und lange Krankenhausaufenthalte können die soziale Integration des Kindes beeinträchtigen. Während der Krankenhausaufenthalte hilft der Klinikunterricht den Kindern, nicht den Anschluss an ihre Altersgruppe zu verlieren. Kontakte zu Mitschülern und Freunden sollten auch vom Klinikpersonal gezielt unterstützt werden. Die Klinikentlassung wird gut mit der Familie, ggf. in Zusammenarbeit mit Sozialarbeitern, die sich um die psychosozialen und finanziellen Hilfen für die Familie bemühen, vorbereitet. Eine sozialmedizinische Nachsorge ist bei schweren Verläufen angezeigt. Für rheumakranke Kinder gibt es spezielle Zentren, in denen sich ein multiprofessionelles Team für die medizinische und soziale Rehabilitation einsetzt. Selbsthilfegruppen bieten Informationsmaterial und Unterstützung für Eltern, Lehrer und weitere Interessierte.

Kapitel 35 Pflege von Kindern mit Störungen des Zentralnervensystems

35.1

Bedeutung

684

35.2

Pflege eines Kindes mit Hydrozephalus

684

35.3

Pflege eines Kindes mit Spina bifida

690

35.4

Pflege eines Kindes mit Schädel-HirnTrauma

693

Pflege eines Kindes mit zerebralen Krampfanfällen

697

35.5

Pflege von Kindern mit ZNS-Störungen

35 Pflege von Kindern mit Störungen des Zentralnervensystems Mechthild Hoehl

35.1 Bedeutung

35

Störungen des Zentralnervensystems sind alle Erkrankungen, die Groß- und Kleinhirn, Liquorräume, Meningen oder Rückenmark betreffen. Als Ursache kommen angeborene und erworbene Störungen, z. B. durch Trauma oder Infektion, infrage, die häufig nicht vollständig ausheilen. Da das ZNS Steuerungszentrale von sensiblen und motorischen Funktionen, Wahrnehmung und Bewusstsein ist, stellt eine neurologische Erkrankung immer auch eine Gefährdung für die psychomotorische, affektive und kognitive Entwicklung des Kindes dar. Zur Beurteilung sind allgemeine Kenntnisse über die Kindesentwicklung (S. 150) heranzuziehen. Die Arbeit von Pflegefachkräften bei der Pflege von Kindern mit einer Störung des Zentralnervensystems muss daher immer eine ganzheitliche Beobachtung aller individuellen Beeinträchtigungen und Ressourcen des Kindes und seiner Familie beinhalten. Durch gezieltes Case-Management bzw. Entlassungsmanagement im multidisziplinären Team können betroffene Familien optimal unterstützt werden. Kinder mit neurologischen Beeinträchtigungen werden auch außerhalb von Kinderkliniken von Pflegefachkräften betreut, besonders im ambulanten Bereich, in Rehabilitations- und Langzeitpflegeeinrichtungen. Kinder mit chronischen, fortschreitenden neurologischen Störungen und deren Familien werden in Kinderhospizen gepflegt und begleitet. Im Rahmen der integrierten Versorgung betreuen Pflegefachkräfte Kinder mit Störungen des Zentralnervensystems auch im Alltag, z. B. zur Ermöglichung des Schulbesuches.

35.2 Pflege eines Kindes mit Hydrozephalus 35.2.1 Ursache und Auswirkung Definition

L ●

Bei einem Hydrozephalus handelt es sich um eine krankhafte Erweiterung der Liquorräume. Zu unterscheiden sind der Hydrocephalus internus (Erweiterung des Ventrikelsystems), der Hydrocephalus externus (Erweiterung des Subarachnoidalraums) und der Hydrocephalus communicans (Erweiterung aller Liquorräume).

684

Es gibt angeborene Hydrozephalen, die häufig schon vorgeburtlich diagnostiziert werden, und erworbene Hydrozephalen (z. B. posthämorrhagisch, postinfektiös oder posttraumatisch). Als Ursachen für die Störung der Liquorzirkulation oder Resorption kommen folgende Mechanismen infrage: ● Störung der Liquorpassage (Hydrocephalus occlusus) durch Aquäduktstenose (Verengung zwischen dem 3. und 4. Ventrikel), Arnold-Chiari-Malformation (Verlagerung von Teilen des Kleinhirns in den Zervixkanal), Tumoren, Blutgerinnsel. ● Vermehrte Liquorproduktion (Hydrocephalus hypersecretorius) bei Störungen in der Plexusregion, die für die Liquorbildung zuständig ist. ● Verminderung der Liquorresorption (Hydrocephalus aresorptivus) durch Beeinträchtigung des meningealen Systems nach Infektionen. ● Kompensatorische Erweiterung der Liquorräume nach primärer Hirnatrophie (Hydrocephalus ex vacuo). In diesem Fall kommt es jedoch nicht zu Liquordrucksteigerungen und zur Ausbildung der klassischen Symptome und Komplikationen. Vor dem Verschluss der Schädelnähte wird die zunehmende Liquormenge i. d. R. durch Kopfwachstum ausgeglichen (▶ Abb. 35.1). Bei größeren Kindern

kommt es zur Ausbildung der klassischen Hirndruckzeichen (▶ Tab. 35.1 u. ▶ Abb. 35.2). Die Diagnose wird über bildgebende Verfahren wie Computer- oder Kernspintomografie, gesichert. Eine frühzeitige neurochirurgische Intervention verhindert das Vollbild der Symptomatik und mögliche Komplikationen.

35.2.2 Pflegebedarf einschätzen Bei einem Kind mit Hydrozephalus kann sich abhängig von der Schwere der Symptomatik eine große Zahl pflegerelevanter Probleme ergeben: ● vitale Bedrohung und Gefahr von neurologischen Ausfällen bei steigendem Hirndruck ● Dekubitusgefährdung, besonders an der Kopfhaut durch großen Auflagedruck, Gefahr der Schädelasymmetrie durch Immobilität des Kindes ● Ernährungsschwierigkeiten, Neigung zum Erbrechen bei Hirndruck(-schwankungen) ● Gefahr der geistigen und/oder körperlichen Entwicklungsverzögerung z. B. durch lang dauernde Krankenhausaufenthalte, häufige Kontrolluntersuchungen und umfangreiche Therapien ● Unsicherheit der Eltern im Umgang mit der Gesundheitsstörung und ihren Auswirkungen

klaffende Schädelnähte, vergrößerte gepolsterte Fontanelle Größenzunahme des Hirnschädels

spärlicher Haarwuchs

30

Venenzeichnung am Kopf

31 3

2 33

44 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43

45 4

Sonnenuntergangsphänomen beeinträchtigte Kopfkontrolle, ggf. Opisthotonushaltung

Abb. 35.1 Symptome des Hydrozephalus beim Säugling. Vor dem Verschluss der Fontanelle wird der Liquordruck durch Kopfwachstum ausgeglichen.

35.2 Pflege eines Kindes mit Hydrozephalus

Tab. 35.1 Anzeichen steigenden Liquordrucks. Symptome des Hydrozephalus beim Säugling ● ●

● ● ●



● ●



Hirndruckzeichen beim größeren Kind

massive Größenzunahme des Hirnschädels über die 97. Perzentile klaffende Schädelnähte, verzögerter Fontanellenverschluss, veränderte Kopfform vergrößerte, über Schädelniveau gepolsterte Fontanelle Venenzeichnung und spärlicher Haarwuchs am Kopf Sonnenuntergangsphänomen, d. h., die Augäpfel sind nach unten verdreht, sodass die Iris teilweise vom Unterlid verdeckt ist beeinträchtigte Kopfkontrolle, ggf. mit Opisthotonushaltung (Überstreckung der Rückenmuskulatur) Trink- und Ernährungsschwierigkeiten Verhaltensauffälligkeiten bei erhöhtem Druck: Schläfrigkeit oder Übererregbarkeit mit Berührungsempfindlichkeit und schrillem Schreien verzögerte statomotorische Entwicklung (spätes Drehen, Krabbeln und/oder Laufenlernen)

● ● ●



● ● ● ● ● ●



Kopfschmerz, Berührungs-, Geräusch- und Lichtempfindlichkeit Übelkeit und Erbrechen Veränderung der Vitalzeichen: Bradykardie, Druckpulsentwicklung, Hypertonie Atemstörung: Tachypnoe, periodische Atmung, Cheyne-Stokes-Atmung Veränderung der Körpertemperatur: zentrales Fieber Bewusstseinsstörungen Verhaltensauffälligkeiten, Apathie oder Übererregbarkeit neurologische Ausfallerscheinungen, auffällige Motorik Krampfanfälle Störungen der Pupillenreaktion: verzögerte Lichtreaktion, veränderte Pupillenform im Augenhintergrund Stauungspapille erkennbar bei Einklemmung des Hirnstamms: weite lichtstarre Pupillen, Hypotonie, Hypothermie, Apnoe (prognostisch ungünstig)

Merke: Die Symptomatik bei Säuglingen mit offener Fontanelle entwickelt sich langsam. Hirndruck bei älteren Kindern mit geschlossenen Schädelnähten kann sich innerhalb kürzester Zeit zur lebensbedrohlichen Krise entwickeln.

Übelkeit, Erbrechen

Durch externe Liquordrainage können sich zusätzlich folgende Pflegeprobleme ergeben: ● Gefahr von neurologischen Auffälligkeiten und Komplikationen durch inadäquaten Liquorabfluss ● Mobilitätseinschränkung z. B. durch den großen Schädel oder bei liegender Liquordrainage ● Infektionsgefahr durch invasive Maßnahmen

Unruhe, Verwirrtheit oder Bewusstseinstörung

35.2.3 Pflegeziele und -maßnahmen

Kopfschmerzen, Berührungs-, Geräusch- und Lichtempfindlichkeit Krampfanfälle auffällige Pupillenreaktionen, Stauungspapille

35

Konservative Therapie/ präoperative Pflege

Hypertonie

Bradykardie

Druckpuls Störung der Atemfunktion 3 5 3 6 3 7 3 8 3 9 4 0 4 1 °C

4 2

Veränderung der Körpertemperatur (zentrales Fieber)

Abb. 35.2 Hirndruckzeichen beim größeren Kind. Sie können in kurzer Zeit lebensbedrohliche Zustände annehmen.

Nach einer Shuntimplantation können sich postoperativ folgende Pflegeprobleme ergeben: ● Beeinträchtigung der neurologischen Situation durch Shuntdysfunktionen mit erneutem Liquordruckanstieg





Gefahr von Wundheilungsstörungen besonders bei OP-Wunden im Windelbereich (Gefahr von Durchnässung und Verschmutzung) Gefahr von Shuntinfektionen, z. B. durch aufsteigende Infektionen

Frühzeitiges Erkennen von möglichen Komplikationen Eine zentrale pflegerische Aufgabe bei einem Kind mit Hydrozephalus ist die Beobachtung auf Zeichen der Gesundheitsstörung und mögliche Komplikationen. Die Hirndruckzeichen (S. 684) können zunächst sehr diskret auftreten. Daher wird Folgendes beobachtet: ● Vitalzeichen (Puls, Blutdruck, Atmung und Körpertemperatur): Sie werden regelmäßig bzw. mit Monitoring auf mögliche Auffälligkeiten, die auf einen erhöhten Hirndruck deuten könnten, kontrolliert. ● Kopfumfang: Dieser wird bei Säuglingen mit Hydrozephalus täglich zirkulär, d. h. okzipitofrontal, und von Ohr zu Ohr (biparietal), gemessen und grafisch in einer Kurve dargestellt, um Veränderungen frühzeitig zu erfassen. Um die Vergleichbarkeit der Messungen zu ermöglichen, werden am Kopf des Kindes die Messpunkte markiert.

5

Pflege von Kindern mit ZNS-Störungen ●



Fontanelle: Ebenso werden Größe, Füllungs- und Spannungszustand der Fontanelle beobachtet. Klaffende Schädelnähte und eine vorgewölbte Stirn mit Venenzeichnung müssen wahrgenommen werden. Befinden: Größere Kinder werden nach ihrem Befinden gefragt. Sorgen der Eltern über auffällige Verhaltensweisen oder Beobachtungen müssen ernst genommen werden.

Merke

35

H ●

Auch diskrete Auffälligkeiten können ein Hinweis auf eine Hirndrucksteigerung sein und müssen ernst genommen werden.

Praxistipp Pflege

Z ●

Es ist darauf zu achten, dass die Venenverweilkanüle nicht am Kopf des Kindes gelegt wird, da das Kind am Kopf besonders schmerzempfindlich sein und die Kanüle z. B. die Positionierung, Messungen des Kopfumfanges sowie notwendige Ultraschalluntersuchungen des Kopfes erschweren kann.

Rasche Druckentlastung

Intakte Haut am Schädel

Bis zur druckentlastenden Operation kann versucht werden, den Hirndruck durch Positionierung in 30°-Oberkörperhochlage und achsengerechte Positionierung, i. d. R. als Rückenlage mit Kopfmittelstellung, zu beeinflussen. In dieser Position sind venöser Blutabfluss und Liquorabfluss am günstigsten. Bei einem Hydrocephalus occlusus ist der Liquorabfluss am Ventrikel beeinträchtigt, sodass die Positionierung in Oberkörperhochlage in diesem Fall weniger Erfolg hat. Die Vorbereitung zu druckentlastenden Maßnahmen geschieht zügig. Da das Kind äußeren Reizen gegenüber sehr empfindlich sein kann, ist für eine möglichst reizarme Umgebung zu sorgen, d. h. mit wenig Geräusch- und Lichtbelastung und abgegrenzten Ruhephasen durch Koordination von therapeutischen und pflegerischen Maßnahmen.

Eine sorgfältige Dekubitusprophylaxe am Kopf durch Weichlagerung, Gelkissen oder andere geeignete Hilfsmittel und regelmäßige Positionswechsel je nach Hautzustand (teilweise alle 2 Stunden) ist notwendig. Der Kopf ist mit geeigneten Hilfsmitteln zu stützen, damit er nicht unkontrolliert zurückrollen kann. Ein regelmäßiger Positionswechsel kann auch der Verformung der dünnen Schädelknochen vorbeugen. Eine gewissenhafte Hautpflege zur Dekubitusprophylaxe ist wichtig.

Physiologischer Ernährungszustand Die häufig vorhandenen Trinkschwierigkeiten bei Säuglingen, Übelkeit und Brechreiz können durch viele kleine Mahlzeiten, Geduld und ausreichend Zeit zur Nahrungsaufnahme überwunden werden. Die Eltern sind entsprechend anzuleiten. Bei häufigem Erbrechen ist ein Andicken der Nahrung möglich. Das Kind kann zur Nahrungsgabe eine sitzende oder halbsitzende Position einnehmen. Nach dem Essen wird eine Aspirationsprophylaxe durch eine geeignete Köperposition durchgeführt. Falls das Kind erbricht, wird es sorgfältig gesäubert, das Erbrechen dokumentiert und an den diensthabenden Arzt gemeldet, da es eine akute Verschlechterung des neurologischen Zustandes anzeigen kann.

686

Befindet sich das Kind in einem sehr schlechten Allgemeinzustand, wird es auf ärztliche Anordnung vollständig oder teilweise parenteral ernährt. Die Pflegefachkraft richtet die Infusion, assistiert beim Legen der Venenverweilkanüle und überwacht die laufende Infusionstherapie.

Merke

H ●

Bei jeder pflegerischen Versorgung wird das Kind auf Druckstellen am Schädel, besonders an Ohren und Hinterhaupt, aber auch an anderen Körperpartien beobachtet.

Bestmögliche Entwicklung Die Förderung eines Kindes mit Hydrozephalus beginnt so früh wie möglich. Entwicklungsunterstützende Maßnahmen werden im multiprofessionellen therapeutischen Team besprochen und in die tägliche Pflege integriert. Die Eltern werden in alters- und entwicklungsgerechte Spiel- und Beschäftigungsmöglichkeiten angeleitet. Die Auswahl des angebotenen Spielzeugs wird dem jeweiligen Entwicklungsstand und den Vorlieben des Kindes angepasst. Nach Möglichkeit werden alle Sinne des Kindes stimuliert, das Kind dabei aber nicht überfordert. Mobiles aus bunten Papierstreifen, die bei Bewegung rascheln, können z. B. über dem Bett angebracht werden, um für das Kind die ange-

ordnete Körperposition interessanter zu machen und eine eigenständige Kopfkontrolle zu fördern. Ein sehr schwerer Kopf muss bei Manipulationen und beim Tragen gestützt werden. Ein Bewegungsplan sowie eine Anleitung zum sorgfältigen Handling werden in Zusammenarbeit mit den Physiotherapeuten erstellt, den Eltern erläutert und mit ihnen eingeübt. Entwicklungsrückstände jeglicher Art werden rechtzeitig einer gezielten Förderung zugeführt.

Postoperative Pflege nach Shuntimplantation Die Therapiemöglichkeiten bei einem Hydrozephalus können Sie der nachfolgenden Tabelle entnehmen (▶ Tab. 35.2). Im Folgenden werden die Pflegeziele und Pflegemaßnahmen, die postoperativ durchgeführt werden, vorgestellt.

Frühzeitiges Erkennen von Komplikationen Merke

H ●

Bei einem Kind mit shuntversorgtem Hydrozephalus muss jede Veränderung des Allgemeinzustandes vom Pflegepersonal und von den Bezugspersonen beobachtet und ernst genommen werden. Jede Abweichung kann ein Alarmsignal für eine Shuntüber- oder -unterfunktion oder postoperative Komplikation sein!

Am 1. postoperativen Tag erfolgt ein Dauermonitoring von Puls, Blutdruck, Atmung, Sauerstoffsättigung und Temperatur. Zudem müssen mindestens stündlich neurologische Kontrollen erfolgen, d. h. Kontrolle der Bewusstseinslage, Pupillenreaktion, motorischen Reaktion und Beobachtung auf mögliche Hirndruckzeichen sowie manuelle Vitalzeichenkontrollen. Das kontinuierliche Monitoring kann die Vitalzeichenkontrollen nicht ersetzen, da Abweichungen zunächst diskret sein können. Sie werden von geschulten Pflegefachkräften oft schon wahrgenommen, bevor messbare Parameter auffällig werden. Bei Säuglingen wird die Fontanelle auf Größe, Spannung und Füllung geprüft. Die Schädelnähte sind hinsichtlich Auffälligkeiten, wie Klaffen, Überlappen oder Zeichen einer Überdrainage regelmäßig zu kontrollieren. Auch nach der Shuntimplantation werden die Kopfumfangskontrollen zunächst täglich, später in größeren Abständen durchgeführt. Das prä- und postoperative Führen einer Perzentilenkurve verdeutlicht die Entwicklung des Kopfumfangs.

35.2 Pflege eines Kindes mit Hydrozephalus

Tab. 35.2 Liquorshuntsysteme, Verweildauer und Indikationen (aus: Kerbl et al. 2016). Shuntsystem

Verweildauer

Technik

Indikation

externe Ventrikeldrainage

kurzfristig (max. 10 Tage – Infektionsrisiko)

Ableitung „nach außen“



mittelfristig (Wochen bis Monate)

Katheter im Ventrikelsystem, Reservoir subkutan über der Schädelkalotte; kann (unter sterilen Bedingungen!) beliebig oft punktiert werden



proximales Ende im Ventrikelsystem → Ventil → subkutaner Verlauf → distales Ende in Bauchhöhle bzw. re. Herzohr Cave: Anlegen einer „Reserveschleife“ wegen Längenwachstums des Kindes!

Definitiv-Versorgung eines Hydrocephalus internus

● ●

● ●





Rickham-Kapsel Ommaya-Reservoir

ventrikuloperitonealer Shunt (VP-Shunt) (1. Wahl) ventrikuloatrialer Shunt (VAShunt) (2. Wahl) (▶ Abb. 35.3)

a

langfristig

Ventil

b

c

Abb. 35.3 Liquorableitende Ventilsysteme. a VP-Shunt, b VA-Shunt, c Ventilmechanismus.

Wundschmerzen an den Nähten sind meist eher gering. Kopfschmerzen können durch die veränderten Druckverhältnisse im Kopf entstehen oder Komplikationen ankündigen. Beim Auftreten von Kopfschmerzen sind andere auf Hirndruck hinweisende Beobachtungskriterien genauer zu prüfen. Die Verbände werden auf Nachblutungen oder Feuchtigkeit durch Liquoraustritt geprüft. Feuchte Verbände bedeuten eine erhöhte Infektionsgefahr und müssen erneuert werden. Beim Rickham-Reservoir kann es durch häufige Punktionen zu Undichtigkeiten und Infektionen kommen, steriles Arbeiten ist wichtig. Beim ventrikuloperitonealen Shunt kann ein Wundverband im Windelbereich liegen und

muss daher vor Durchnässung mit Urin geschützt werden. Die ersten Verbandwechsel werden i. d. R. von den Operateuren selbst vorgenommen. Die Häufigkeit der Verbandwechsel bei unauffälligen Verbänden und Wundverhältnissen orientiert sich an den kliniküblichen Standards. Beim Verbandwechsel wird die Haut auf Auffälligkeiten, wie Rötung, Schwellung, Schmerzen und Druckstellen, geprüft. Der Shuntverlauf wird auf Auffälligkeiten beobachtet. Das Auftreten von Liquorkissen kann durch Diskonnektion der Shuntverbindungen entstehen oder wenn Liquor bei Hirndruck außerhalb des Shunts von den Ventrikeln unter die Kopfhaut gelangt. Die Ventilfunktion kann vom Neurochirurgen geprüft werden. Die Gebrauchsinformationen des verwendeten Materials sind zu den Krankenakten zu legen und zu befolgen. Bei Entlassung werden sie dem Patienten ausgehändigt, damit dieser sie im Notfall greifbar hat.

Merke

H ●

Auffälligkeiten sind sofort dem behandelnden Arzt mitzuteilen.

Physiologische Liquordruckverhältnisse In den ersten 24 Stunden postoperativ werden je nach verwendetem Shuntsystem die Positionierung in flacher Rückenlage sowie möglichst wenig Manipulationen empfohlen, damit sich das Ventil auf die kindlichen Druckverhältnisse einstellen kann. Die Anordnungen der behandelnden Neurochirurgen sowie der Hersteller des verwendeten Shuntsystems





Ventrikulitits (Keime!) blut- und eiweißreicher Liquor passagere Entlastung blut- und eiweißreicher Liquor Interimslösung bei Frühgeborenen (< 2000 g) evtl. intraventrikuläre Chemotherapie bei bestimmten Hirntumoren

35

sind hierbei zu beachten. Auffälligkeiten am Spannungs- und Füllungszustand der Fontanelle können mit ärztlicher Rücksprache durch Lageveränderung beeinflusst werden: ● Kopfhochlage bei gespannter Fontanelle, ● flache Rückenlage oder sogar vorübergehende Kopftieflage bei älteren Säuglingen mit eingesunkener Fontanelle. Nach der Shuntimplantation wird das Kind bis zum Abheilen der Wunde nicht auf das Operationsgebiet gelegt. Anschließend muss das Kind jedoch wieder regelmäßige Positionswechsel erfahren, damit sich der Kopf nicht unphysiologisch verformt. Möglicherweise kann eine Kopforthese zur Kopfformung sinnvoll sein. Die Haut am und um das Ventil herum bleibt auch im weiteren Verlauf besonders dekubitusgefährdet. Hier kann mit speziellen Materialien, je nach Verfügbarkeit in der Klinik und kliniküblichen Leitlinien, gezielte Prophylaxe betrieben werden.

Physiologische Ernährung und geregelte Ausscheidung Nach der üblichen postoperativen Nahrungskarenz erfolgt ein rascher Nahrungsaufbau mit vielen kleinen Mahlzeiten. In Einzelfällen kann nach der Anlage eines ventrikuloperitonealen Shunts die Dauer der postoperativen Karenz auf 12–24 Stunden verlängert werden. Dies ist jedoch nicht generell notwendig. Falls das Kind noch flach liegen muss, erfolgt die Nahrungsgabe zur Aspirationsprophylaxe sehr vorsichtig mit kleinem Saugerloch oder bei größeren Kindern mit kleinen Portionen auf dem Löffel. Stillen erfolgt ebenfalls in liegender Position, ggf. kann

7

Pflege von Kindern mit ZNS-Störungen ein starker Milchfluss mit einem Gegendruck mit der Hand auf den Milchkanälen reguliert werden. Die Hilfestellung durch eine Still- und Laktationsberaterin ist hilfreich. Das Kind bekommt eine Magensonde zum „Entlüften“, da es zum Aufstoßen am 1. postoperativen Tag nicht hochgenommen werden kann. Ein neurochirurgisch versorgtes Kind darf nicht obstipieren, da Pressen beim Stuhlgang den Hirndruck erhöht. Eine geregelte Ausscheidung von weichem Stuhl kann über diätetische Maßnahmen und stuhlregulierende Medikamenten auf ärztliche Anordnung beeinflusst werden.

Merke

35

H ●

Bei infektiösen Diarrhöen muss an die Gefahr von aufsteigenden Infektionen über den Drainageschlauch bei VPShunts gedacht werden.

Bestmögliche Langzeitentwicklung Eltern

Bei unklaren Krankheitssymptomen shuntversorgter Kinder muss immer an eine Shuntkomplikation gedacht werden.

Pflege eines Kindes mit externer Liquordrainage

a ●

Die Eltern werden während des stationären Aufenthaltes sorgfältig im Erkennen von Hirndruckzeichen und neurologischen Auffälligkeiten angeleitet. Dies hilft ihnen, Komplikationen der Shuntanlage frühzeitig und selbstständig zu erkennen.

Sinnvoll ist es, wenn die Stationen Anschauungsmaterial und Broschüren zur Elternschulung bereithalten. Die Eltern übernehmen unter Anleitung so bald wie möglich schrittweise eigenständig die Pflegemaßnahmen und bekommen ausreichend Gelegenheit, Fragen zu stellen. Das Kind sollte in einer neuropädiatrischen Ambulanz mit einem multiprofessionellen Team weiter betreut werden. Ist eine solche zu weit vom Wohnort der Familie entfernt, sollte der Kontakt zu nachbetreuenden Fachkräften, ggf. ambulanten Pflegediensten und Selbsthilfegruppen bereits in der Klinik aufgenommen werden. Der Therapieerfolg wird durch regelmäßige Prüfungen von Allgemeinzustand, Shuntfunktion, neurologischem Status sowie bildgebenden Untersuchungen des Kopfes in der poststationären Betreuung überwacht. Die medizinisch notwendige Häufung von Untersuchungen und Eingriffen, wie Sonografien, Röntgen, Computertomografien oder Kernspinunter-

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suchungen sowie Punktionen, Blutentnahmen und ggf. mehrfachen Operationen, bedeuten für Kinder jeglicher Altersstufen und deren Eltern eine große Belastung. Sinnvoll ist in jedem Fall ein Bezugspflegesystem, bei dem eine dem Kind und der Familie bekannte Pflegefachkraft bei den Untersuchungen und Eingriffen assistiert und die prä- und postoperative Pflege durchführt. Spätkomplikationen können sein: ● Verlegung des Liquorshunts durch Verwachsungen im Gewebe ● Fibrinfäden oder Blutgerinnsel ● „Herauswachsen“ des Kindes durch Längenwachstum ● Diskonnektion der Ventilbestandteile und Ventilsepsis durch aufsteigende Infektionen

Definition

L ●

Eine externe Liquordrainage dient in seltenen Fällen der Ableitung des Liquors nach außen zur präoperativen Druckentlastung, als vorübergehende Maßnahme bei passagerer Liquorzirkulationsstörung und/oder zur Liquorableitung bei blutigem oder eiweißreichem Liquor, der einen internen Shunt verstopfen könnte.

Gleichzeitig ist die Messung des intrazerebralen Drucks bei Anwendung von Systemen mit integrierter Druckmessung möglich. Die Anlage der Liquordrainage erfolgt unter streng aseptischen Verhältnissen. Der Eingriff entspricht dem der Ventrikelpunktion (S. 786); es wird jedoch ein Spezialkatheter benutzt, der anschließend mit einem sterilen Ablaufsystem verbunden wird. Im Folgenden werden die Pflegeziele und Pflegemaßnahmen, die bei der Pflege eines Kindes mit externer Liquordrainage durchgeführt werden, vorgestellt.

Regelrechter Liquorabfluss Die Menge des abfließenden Liquors und der verbleibende Liquordruck können über die Höhe des Auffangkolbens reguliert werden. Die Höhe des Messkolbens wird in cm Wassersäule angegeben und beschreibt den Abstand der Tropfkammer über dem Nullpunkt.

Der Nullpunkt wird beim liegenden Kind mit der Höhe des Foramen Monroi angegeben. Dieser entspricht in Rückenlage als Referenzpunkt dem äußeren Gehörgang, in Seitenlage der Nasenwurzel. Ärztlich angeordnet werden i. d. R. Höhe der Tropfkammer, Kontrollintervalle sowie angestrebte Liquorabflussmenge in ml/h. Soll die Tropfkammer 15 cm über dem Nullpunkt hängen, bedeutet das, dass Liquor in den Auffangkolben abfließt, wenn der Liquordruck 15 cm Wassersäule übersteigt.

Merke

H ●

Je höher die Auffangspindel hängt, umso größer muss der Liquordruck sein, damit Liquor abfließt. Wenn die Spindel tiefer hängt, fließt der Liquor schon bei geringerem Liquordruck ab (▶ Abb. 35.4).

Rechtzeitiges Erkennen von Komplikationen Zur Beobachtung eines Kindes mit externer Liquordrainage gehören: ● Monitoring der Vitalzeichen ● Hirndruckkurvenverlauf prüfen ● stündliche Kontrollen von Allgemeinbefinden, Hirndruckzeichen, Fontanellenspannung (ggf. auch öfter) ● Abflusssystem auf Liquormenge und -beschaffenheit prüfen, Liquorabfluss prüfen, auf Zeichen von Dislokation (Lageänderung, Verschiebung) oder Okklusion (Verschluss) achten ● Kontrolle auf mögliche Infektionszeichen, z. B. Hautrötung am Katheterverlauf

Physiologischer Liquordruck Eine nicht ausreichende Drainage bedingt erneute Hirndrucksymptomatik.

Merke

H ●

Die Positionierung des Kindes und die Veränderung der Höhe des Ablaufkolbens erfolgen auf ärztliche Anordnung.

Eine zu rasche Liquordrainage führt zu einer eingesunkenen Fontanelle und schlimmstenfalls zu pathologisch verschmälerten Seitenventrikeln, die man Schlitzventrikel nennt und die zu einem lebensbedrohlichen Zustand führen können.

35.2 Pflege eines Kindes mit Hydrozephalus

Messlatte Referenzpunkte Foramen Monroi äußerer Gehörgang Überlaufhöhe (Abtropfpunkt)

× ×

X

0-Punkt

Nasenwurzel

X

Merke

Das Ablaufsystem darf niemals unbeabsichtigt tief hängen oder herunterfallen, da es dabei zu einer sofortigen Unterdrucksituation im Schädelinneren kommen kann.

Bei Manipulationen am Kind, die den Hirndruck kurzfristig steigern könnten (z. B. Lageveränderungen oder Transport), sollte das System über den Dreiwegehahn für max. 30 Min. verschlossen werden (nach Arztrücksprache) oder der Auffangkolben für diese Zeit höher gehängt werden, um eine Überdrainage zu vermeiden. Anschließend wird überprüft, ob alles wieder korrekt eingestellt ist.

EVD-Schema a

Merke Messlatte Referenzpunkte Foramen Monroi äußerer Gehörgang Überlaufhöhe (Abtropfpunkt)

H ●

H ●

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Ein Kind mit offener Liquordrainage darf niemals über das Ablaufniveau angehoben, bzw. aufgesetzt werden, damit es nicht zu einer Überdrainage kommt! Vorsicht bei höhenverstellbaren Inkubatoren und Betten. Die Drainage muss gleichzeitig mit dem Bett höhenverstellt werden!

× ×

X

Nasenwurzel

0-Punkt

X X

Druckabnehmer immer in Referenzhöhe (3-Wege-Hahn am Abnehmer geschlossen!) EVD-Schema b Abb. 35.4 Liquordrainage. Schematische Darstellung einer externen Ventrikeldrainage. a Auf Überlauf, ohne Messung. b Auf Messung, jedoch bei Messung kein Ablauf. (Abb. aus: MessingJünger A. Externe Ventrikeldrainage/Hirndruckmessung. In: Ehlen M, Hrsg. Klinikstandards für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin. 1. Auflage. Thieme; 2014)

Merke

H ●

Ein abgeknickter Drainageschlauch kann den Liquorabfluss behindern. Eine sorgfältige Lagerung und Überwachung des Schlauchsystems sind deshalb besonders wichtig.

Weitere Maßnahmen zur Unterstützung eines geregelten Liquorabflusses: ● Sofortige Beruhigung schreiender Kinder, um Druckschwankungen zu verhindern (Achtung: Sedierung erschwert die neurologische Beurteilung, eine Beruhigung durch persönliche Zuwendung z. B. durch die Eltern ist vorzuziehen). ● Eine geregelte Verdauung und freie Atemwege verhindern Druckspitzen durch Pressen oder Husten.

Während der Zeit der externen Drainage wird das Kind altersgerecht im Bett beschäftigt, da Messkolbenhöhe und Liquorabfluss nur beim liegenden Kind gleichmäßig gewährleistet sind.

Minderung des Infektionsrisikos Die externe Liquordrainage birgt ein hohes Infektionsrisiko. Das Liquorsystem muss aufgrund der Kontaminationsgefahr immer geschlossen bleiben. Ein Systemwechsel darf nur durch den Neurochirurgen unter streng sterilen Bedingungen erfolgen. Eine Ventrikulitis zeigt sich neben evtl. diskret auftretenden, neurologischen Auffälligkeiten v. a. durch Zeichen einer schweren Infektion: ● hohes Fieber ● allgemeines Krankheitsgefühl ● veränderte Liquorbeschaffenheit ● nachweisbare Infektionsparameter ● mikrobiologischen Erregernachweis

Merke

H ●

Ventrikelinfektionen können durch sterile Punktionstechnik, geschlossenes Drainagesystem, aseptischen Umgang mit dem System und aseptische Verbandwechsel vermieden werden.

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Pflege von Kindern mit ZNS-Störungen Feuchte Verbände müssen sofort erneuert, Undichtigkeiten des Systems wegen massiver Infektionsgefahr sofort behoben werden. Die Herstellerangaben der Drainagesysteme sind zu beachten. Aus einigen Systemen können auf ärztliche Anordnung Liquorkulturen steril entnommen werden. In vielen Fällen erfolgt prophylaktisch eine antibiotische Therapie auf ärztliche Anordnung.

Praxistipp Pflege

35

Z ●

Beim Verbandwechsel werden die Einstichstelle auf Rötung, Schwellung, Sekretabsonderung und die Fixierung des Katheters kontrolliert sowie Schmerzäußerungen des Kindes beachtet.

35.3 Pflege eines Kindes mit Spina bifida 35.3.1 Ursache und Auswirkung Definition

● L

Spina bifida ist eine angeborene Hemmungsmissbildung der Wirbelsäule, bei der der Verschluss einzelner Wirbelkörper nicht erfolgt.

Durch diesen Spalt wölben sich bei einer Meningozele liquorgefüllte Rückenmarkshäute vor. Bei einer Meningomyelozele (MMC) treten neben den liquorgefüllten Meningen auch Teile des Rückenmarks mit Haut bedeckt (geschlossene MMC) oder unbedeckt (offene MMC) heraus (▶ Abb. 35.5). Die Diagnose der MMC wird meist vorgeburtlich durch Ultraschall gestellt, welche die Möglichkeit einer optimalen perinatalen Erstversorgung ergibt. In wenigen Zentren werden pränatale operative Verschlüsse angestrebt. Da solche Zentren jedoch noch nicht flächendeckend vertreten sind, wird hier die Versorgung von Kindern beschrieben, die mit Zele zur Welt kommen. Symptome bei einem Neugeborenen mit Spina bifida können sein: ● bei geschlossener Zele: prallelastische Schwellung über der Wirbelsäule in variabler Größe, beim Pressen oder Schreien verstärkt ● bei offener Meningomyelozele: offene Rückenmarksplatte, zentral dunkelroter Bezirk, seitlich davon erkennbare Rückenmarkshäute, Liquorabfluss aus Zentralkanal und rupturierten Rückenmarkshäuten ● motorische und sensible Ausfälle in unterschiedlicher Ausprägung der von der Zele abwärts gelegenen Spinalnerven, d. h. inkomplette oder komplette Querschnittslähmung: ○ Blasenlähmung mit Inkontinenz, Blasenhochstand und/oder Überlaufblase mit Harnträufeln

eingeschränkte Kontrolle des Mastdarms mit Inkontinenz, fehlendem Analreflex und in einigen Fällen mit Analprolaps ○ Lähmung der unteren Extremitäten ○ Fußdeformitäten, z. B. Klumpfuß ○ kongenitale Deformität der Hüftgelenke ○ Fehlhaltungen der Wirbelsäule: Kyphose und Skoliose möglich zusätzliche Ausbildung eines Verschlusshydrozephalus in 80–90 % der Fälle (Arnold-Chiari-Malformation) Begleitfehlbildungen sind möglich, u. a. Herzfehler, Bauchspalten ○





Merke

H ●

Da Folsäuremangel in der Schwangerschaft ein erhöhtes Risiko für die Entstehung einer Meningomyelozele darstellt, sollte bereits bei bestehendem Kinderwunsch mit der Einnahme von Folsäure begonnen werden.

35.3.2 Pflegebedarf einschätzen Bei einem Kind mit Meningomyelozele können alle Lebensaktivitäten beeinträchtigt sein. Für die Langzeitentwicklung des Kindes sind abhängig von der Höhe der Läsion insbesondere die Lebensaktivitäten

Dura

Spina bifida occulta

a

b

c

dd

Abb. 35.5 Spina bifida. a Spina bifida occulta, b Meningozele, c Meningomyelozele, d lumbale Meningomyelozele die teilweise häutig verschlossen ist. Im Zentrum der Zele findet sich die Neuralplatte mit der Neuralrinne. (Abb. aus: Deeg K. Chiari-Fehlbildungen. In: Deeg K, Hofmann V, Hoyer P, Hrsg. Ultraschalldiagnostik in Pädiatrie und Kinderchirurgie. 4., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart: Thieme; 2013)

690

35.3 Pflege eines Kindes mit Spina bifida „Ausscheiden“ und „Sich bewegen“ beeinträchtigt. Pflegeprobleme können sein: ● Gefahr der Traumatisierung der Zele bei Manipulationen ● Gefahr der zusätzlichen Nervenläsionen durch Austrocknung der Neuralplatte oder Infektionen präoperativ ● Gefahr von Wundheilungsstörungen nach der Operation, Liquorfistelbildung ● eingeschränkte Mobilität durch Lähmungen in unterschiedlicher Ausprägung sowie angeborene Kontrakturen und Kontrakturengefährdung ● Dekubitusgefährdung durch sensible Ausfälle und eingeschränkte Motorik ● Inkontinenz bzw. Obstipation, dadurch Unwohlsein, ggf. soziale Isolation durch Inkontinenz ● Gefahr von sekundären Schädigungen der Niere und des Urogenitalsystems durch Harnstau und Infektionen ● sekundäre Probleme durch Fehlhaltungen und Tethered-Cord-Syndrom (Fixierung des Filum terminale an der Durawand, die Zustandsverschlechterungen beim Wachstum des Kindes ergeben) ● bleibende Behinderungen als Einschränkungen des täglichen Lebens ● Störungen des Selbstwertgefühls durch Einschränkungen im Alltag und Inkontinenz ● psychosoziale Probleme durch die Behinderung und häufige, lang dauernde Krankenhausaufenthalte ● Besorgnis, Verunsicherung und hohe Belastung der Eltern durch die Gesundheitsstörung des Kindes und deren Auswirkungen

35.3.3 Pflegeziele und -maßnahmen Optimale Erstversorgung Nach der pränatalen Diagnostik der Zele erfolgt eine intensive Aufklärung der Eltern. Sie werden an ein Perinatalzentrum mit neurochirurgischer Abteilung verwiesen, wo das Kind mit geplantem Kaiserschnitt (meist in der 38. Schwangerschaftswoche) zur Welt kommt. Eine optimale Erstversorgung verringert das Risiko weiterer Komplikationen wie Infektionen und zusätzliche Nervenschädigungen durch Austrocknung und Traumatisierung des Rückenmarks. Die Erstmaßnahmen in den ersten Lebensminuten und -stunden sind: ● Das Kind wird mit geplanter Sectio entbunden. ● Zum Infektionsschutz geschieht die Erstversorgung mit Mundschutz und sterilen Handschuhen. ● Eine noch geschlossene Zele wird mit sterilen Kompressen zum Schutz vor Läsionen abgedeckt.













Eine möglichst atraumatische Versorgung der Zele verringert das Infektionsrisiko. Das Kind wird in Bauchlage oder Seitenlage gebracht, die übliche Neugeborenenversorgung durchgeführt (S. 475). Offene Zelen werden mit sterilen mit NaCl 0,9 % getränkten Vlieskompressen abgedeckt, um Rückenmark und Meningen feucht zu halten. Um ein Verrutschen der Kompressen zu verhindern, werden diese locker fixiert. Druck auf das empfindliche Nervengewebe ist unbedingt zu vermeiden. Sollte aufgrund anderer notwendiger Manipulationen, z. B. Intubation, die Rückenlage indiziert sein, wird die steril abgedeckte Zele durch Unterlagerung von Thorax und Becken frei gelagert. Vor dem Transport sollte ein ausreichender Erstkontakt zwischen Eltern und Kind erfolgen. Danach wird das Kind in einem beheizten Transportinkubator auf die Spezialstation gebracht, wo gleich mit den Vorbereitungen zur Operation begonnen wird.

Merke

● H

Es ist auf eine latexfreie Versorgung zu achten (Latex z. B. enthalten in Handschuhen, Kathetern, Pflastern, Blutdruckmanschetten usw.), um späteren Latexallergien vorzubeugen.

Die Pflegefachkraft assistiert bei den Operationsvorbereitungen, wie Blutentnahmen, Anlegen einer Venenverweilkanüle zur Infusionstherapie und prophylaktischen antibiotischen Therapie. Bis zur Operation wird das Kind von der Pflegefachkraft intensiv auf mögliche Komplikationen und Infektionszeichen beobachtet, z. B. Veränderungen des Hautkolorits, Temperaturschwankungen, sonstige Veränderungen der Vitalzeichen und Apathie. Der operative Verschluss des Rückenmarks wird i. d. R. innerhalb der ersten 48 Lebensstunden vorgenommen. Bis zur vollständigen Wundheilung wird das Kind in Bauch- oder Seitenlage versorgt und auch entsprechend positioniert.

Frühzeitiges Erkennen von postoperativen Komplikationen Die postoperative Überwachung beinhaltet die engmaschige Kontrolle von Vitalfunktionen (Körpertemperatur, Atmung und Kreislauf), neurologischer Situation und Ausscheidung sowie Kopfumfangskontrollen.

▶ Körpertemperatur. Auffälligkeiten der Körpertemperatur können eine beginnende Infektion signalisieren. Bei einem Analprolaps wird die Körpertemperatur axillar oder im Gehörgang ermittelt. ▶ Atmung. Nach Beendigung der postoperativen Nachbeatmung, die eine großzügige Analgosedierung erleichtert, wird das Kind auf Veränderungen der Spontanatmung und Anzeichen einer Pneumonie beobachtet. Die Atmung kann durch die schwierige Intubationsnarkose in Bauchlage während der Operation, durch Minderbelüftung aufgrund der unphysiologischen Positionierung oder durch mangelnde Zwerchfellaktivität bei einer zervikalen Zele beeinträchtigt sein. ▶ Kreislauf. Tachykardien können Schmerzen und Unwohlsein des Kindes signalisieren. Blutdruckanstiege können frühzeitig einen erhöhten Liquordruck bei beginnendem Hydrozephalus anzeigen. Unphysiologischer Liquorverlust durch Fistelbildung kann den Blutdruck senken.

35

▶ Neurologie. Bereits direkt postoperativ beginnt die Beobachtung des neurologischen Status der unteren Extremitäten. Spontanbewegungen der unteren Extremität sowie sensible Reaktionen sind genau zu registrieren, weil sie über die Schwere der Schädigung, der zu erwartenden Behinderung und Möglichkeiten der Frühförderung Auskunft geben. ▶ Ausscheidung. Die Mastdarm- und Blasenfunktion wird beobachtet, um Probleme und mögliche Komplikationen so früh wie möglich zu erkennen. Stuhlbeschaffenheit und Defäkation werden beurteilt. Postoperativ sind die Kinder zunächst mit einem Blasendauerkatheter versorgt. Nach dessen Entfernung wird auf Blasenfüllung und Miktion, Harnträufeln, Harnstau oder Anzeichen einer Harnwegsinfektion geachtet. ▶ Kopfumfang. In den ersten postoperativen Tagen und Wochen sind besonders auch Kontrollen des Kopfumfanges wichtig, da bei 80–90 % der betroffenen Kinder auch die Gefahr eines Hydrozephalus besteht.

Gute Wundheilung Bei großen Zelen werden meist seitliche Entlastungsschnitte angelegt. Dennoch besteht an der Operationswunde die Gefahr der Nahtdehiszenz, wenn die Haut während der Operation über den Defekt hinweg gedehnt wurde, sodass die Wundränder anschließend auseinanderklaffen können. Es kommt zu beeinträchtigter Durchblutung des Wundgebietes und der

1

Pflege von Kindern mit ZNS-Störungen

Abb. 35.6 Meningomyelozele. Positionierung eines Kindes nach Operation der Meningomyelozele.

35

umliegenden Hautpartien. Der Austritt von Blut oder Liquor und die Bildung von Liquorfisteln oder Liquorkissen sind möglich. Das Wundgebiet wird hochgelagert (▶ Abb. 35.6). Dabei müssen Dehnung und Spannung der Naht vermieden werden. Das Kind liegt in Bauch- und Kopfseitenlage im Inkubator. Dies ermöglicht eine bessere Beobachtung des Kindes und der Wundverhältnisse. Außerdem kann so die Wärmeregulation des unbekleideten Kindes unterstützt werden. In Einzelfällen wird auch eine andere Positionierung des Kindes empfohlen.

Merke

H ●

Es muss darauf geachtet werden, dass das Kind keinen Liquor über die Wunde verliert.

Die Nahrungsgabe erfolgt in dieser Zeit ebenfalls in der empfohlenen Position. Das Kind muss ggf. über eine Magensonde ernährt werden, wenn die Nahrungsgabe in dieser Lage zu problematisch ist. Die Magensonde soll regelmäßig entlüftet werden, um Blähungen und Erbrechen vorzubeugen. Bei Verbandwechseln (Häufigkeit nach den Klinikstandards und ärztlicher Anordnung) wird die Wunde auf pathologische Veränderungen überprüft.

Intakte Haut Eine erhöhte Dekubitusgefahr entsteht durch Mobilitäts- und Sensibilitätsverluste der gelähmten Extremitäten. Diese betrifft in Bauchlage besonders die Knie und Fußgelenke. In der Langzeitbetreuung sind die Sitzbeinhöcker durch einseitige Druckbelastung beim Rollstuhlfahren besonders gefährdet. Die gefährdeten Stellen erfahren eine intensive Beobachtung, Hautpflege und Entlastung. Bei fehlender Spontanmotorik muss eine Dekubitusprophylaxe durchgeführt werden, d. h. Umverteilung des Auflagen-

692

druckes nach Abheilen der OP-Wunde durch regelmäßige Lagewechsel. Besondere Hilfsmittel wie Gelkissen und Spezialauflagen haben sich bewährt. In der Bauchlage ist die Nabelversorgung mit einem sterilen Bändchen anstatt der Klemme durchzuführen. Die Nabelpflege muss gewissenhaft erfolgen. Durch die Inkontinenz kann die Haut zusätzlich durch Läsionen gefährdet sein. Ein häufiger Windelwechsel sowie eine sorgfältige Genital- und Analhygiene mit entsprechender Hautpflege ist beim inkontinenten Kind besonders wichtig.

Eltern

a ●

Die Eltern werden über die Besonderheiten bei der Hautpflege, zu Hilfsmitteln, Prophylaxen und eingeschränktem Empfindungsvermögen ihres Kindes beraten und aufgeklärt. Ein älteres Kind wird darin unterrichtet, wie es mithilfe von Spiegeln seinen Hautzustand regelmäßig selbst beurteilen kann und wie es bereits entstandene Läsionen am besten pflegt.

Bestmögliche spontane oder unterstützte Mobilität Nach Abheilen des Wundgebietes wird mit der Physiotherapie begonnen, um die vorhandenen Fähigkeiten zu fördern und auszubauen. Nach intensiver Anleitung durch den Physiotherapeuten führen die Pflegefachkraft und die Eltern mehrmals täglich einfache Übungen durch, wie z. B. passive Bewegungsübungen oder Übungen zur Kontrakturenprophylaxe. Eine Hüftdeformation sollte durch physiologische Hockspreizstellung, z. B. durch Unterpolsterung des Gesäßes in Bauchlage, beeinflusst werden. In der Bauchlage wird durch eine Unterpolsterung der Fußgelenke verhindert, dass der Fuß in eine Spitzfußstellung gerät. In der Seitenlage ist es wichtig, z. B. eine gefaltete Stoffwindel zwischen beide Beine zu legen, um eine physiologische Beinstellung aufrechtzuerhalten. Eine Verstärkung pathologischer Haltungen muss unbedingt vermieden werden. Alle Positionen werden mit den behandelnden Physiotherapeuten abgesprochen und in der Pflegeplanung vermerkt. Ein angeborener Klumpfuß wird je nach Ausprägung baldmöglichst einer physiotherapeutischen oder orthopädischen Korrektur (S. 670) durch redressierende Therapie, Bandagen oder Gipsverbände zugeführt. Mit der orthopädischen Abteilung wird frühzeitig über mögliche und nötige Korrekturen und Hilfsmittel

nachgedacht und den Familien werden alle konservativen und operativen Möglichkeiten vorgestellt. Die Auswahl von Hilfsmitteln zur Unterstützung der motorischen Entwicklung reicht von Stehbrettern über spezielle Gehapparate und besondere Gehhilfen bis hin zur Rollstuhlversorgung (▶ Abb. 35.7). Die nötigen Hilfsmittel müssen unter Berücksichtigung der Ressourcen des Kindes individuell angepasst werden (▶ Abb. 35.8). Überforderungen sind zu vermeiden, um keine Frustration zu verursachen. Die Einschränkungen im Lauflernalter werden für die Eltern besonders deutlich. In dieser Zeit benötigen die Familien vermehrt Beratungsangebote, die weit über die rein pflegerischen Fragen hinausgehen.

Selbstständiger Umgang mit der Inkontinenzversorgung und Ausscheidungsregulierung Kinder mit einer lumbosakralen Meningomyelozele haben fast immer eine Beckenbodenlähmung. Die Durchlaufblase einer sakralen Meningomyelozele verursacht als Hauptproblem eine schlecht beeinflussbare Inkontinenz. Verschiedene Möglichkeiten der Inkontinenzversorgung (von Windeln, Kondomurinalen bis hin zu urologischen Operationen) bieten sich für die Langzeitversorgung (S. 369) an. Die spastische Lähmung des Blasensphinkters führt zu einer stark gefüllten Blase, die sich nicht oder nur mit geringem Harnträufeln aus der Überlaufblase nach unten entleert. Ist die Spastik des Blasensphinkters sehr groß, kann ein vesikoureteraler Reflux entstehen. Der intermittierende Blasenkatheterismus (S. 374) mit sterilen Einmalkathetern ist zur restharnfreien Urinentleerung in regelmäßigen Abständen geeignet.

Eltern

a ●

Die Eltern können diese Technik unter Anleitung des Pflegepersonals erlernen, um sie auch zu Hause zum Schutz vor Harnwegsinfektionen korrekt durchzuführen. Heranwachsende Kinder erlangen durch das eigenständige Erlernen des Katheterismus eine wichtige Selbstständigkeit. Eine enge Zusammenarbeit mit der urologischen Abteilung, einer Spezialambulanz oder einer aufsuchenden Schulung durch eine ambulante Pflegestation ist notwendig.

35.4 Pflege eines Kindes mit Schädel-Hirn-Trauma

Alter

3–4 Monate

6 –9 Monate

7–12 Monate

12 Monate

18 –20 Monate

Schauen ist wichtig

Gebrauch der Hände und Arme

Erforschung der Umwelt

Erfahrung beim Stehen

Laufen

normale Entwicklung

Entwicklungsphasen

Myelomeningozele

Alter

35

3–8 Monate

8–14 Monate

ab 18 Monate

12 –18 Monate

Abb. 35.7 Meningomyelozele. Die altersgemäßen Entwicklungsphasen eines Kindes mit Meningomyelozele werden durch Hilfsmittel unterstützt.

Abb. 35.8 Mobilität. Individuell angepasste Hilfsmittel ermöglichen eine altersentsprechende Lebensgestaltung. (Foto: W. Krüper, Thieme)

Durch ausreichende Flüssigkeitszufuhr wird das Urogenitalsystem gespült. Bei nachgewiesenen Infektionen muss die angeordnete Therapie konsequent über einen längeren Zeitraum durchgeführt werden. Die Lähmung des Analschließmuskels lässt sich am klaffenden Anus und fehlendem Analreflex sowie unkontrollierbarem Stuhlabgang erkennen. Die Obstipation, die durch die Darmatonie bedingt ist, wird durch diätetische Maßnahmen, Kolonmassagen, Einläufe, Klistiere und Rektalspülungen behoben. Bei Säuglingen muss eine Obstipation vermieden werden, weil sie zur pathologischen Erweiterung des Mastdarmes führen kann. Bei größeren Kindern kann je-

doch durch eine „kontrollierte Obstipation“ und die Verwendung von Analtampons eine Inkontinenz durch schlaffe Anallähmung teilweise so beeinflusst werden, dass der Zeitpunkt der Defäkation gezielt gewählt werden kann. Dies ist für die soziale Integration der Kinder sehr wichtig, weil es die wahrnehmbaren Zeichen der Inkontinenz, z. B. die Geruchsentwicklung, deutlich mildert. Zudem werden Hautirritationen im Anogenitalbereich vermindert.

zum Erwachsenenalter. Die Anbindung an eine Spezialambulanz ist wünschenswert. Erneute psychosoziale Probleme können sich in der Pubertät durch die verstärkte Auseinandersetzung mit Fragen zu Körperbild, Sexualität und Berufswahl ergeben. Sinnvoll und hilfreich ist die Kontaktaufnahme zu einer Selbsthilfegruppe.

Rehabilitation und soziale Integration

35.4.1 Ursache und Auswirkung

Der Arzt informiert die Eltern einfühlsam über Gesundheitsstörung, Behandlungsmöglichkeiten und Prognose. Beratung, Anleitung und Information vom Pflegepersonal über regelmäßig notwendige und rehabilitative Pflegemaßnahmen und Beobachtung im täglichen Umgang mit dem Kind und Gespräche mit allen anderen Beteiligten therapeutischer und sozialer Dienste (z. B. Neurologen, Orthopäden, Physiotherapeuten, Sozialarbeiter) helfen den Eltern, das Kind mit seiner Erkrankung und Behinderung anzunehmen und seine Entwicklung aktiv zu unterstützen. Regelmäßige Aufenthalte zu diagnostischen und therapeutischen Zwecken in der Klinik sowie Ambulanzbesuche begleiten die Entwicklung des Kindes bis

35.4 Pflege eines Kindes mit Schädel-Hirn-Trauma

Definition

L ●

Der Begriff Schädel-Hirn-Trauma (SHT) umfasst alle traumatischen Schädigungen des Schädels, des Hirngewebes und/oder der Blutgefäße im Schädelinneren. Als Ursache kommen Unfälle im Haushalt (z. B. Sturz vom Wickeltisch), Verkehrsunfälle, in manchen Fällen auch Kindesmisshandlungen infrage.

3

Pflege von Kindern mit ZNS-Störungen

H ●

Merke

35

Da Kopfverletzungen bei den kindlichen Unfällen mit Todesfolge einen nicht unerheblichen Anteil einnehmen, sollte das Pflegepersonal über alle Maßnahmen zur Unfallverhütung in und außerhalb der Klinik (Sturzprophylaxe, Sicherungsmaßnahmen am Wickeltisch, Nutzung von Bettgitter oder Treppengitter, Gefährlichkeit von Gehfreis, Sicherheitsmaßnahmen von Kindern im Straßenverkehr, z. B. der korrekte Gebrauch von Kindersitzen im Auto, und dem Sinn von Schutzbekleidung, wie Fahrrad- oder Reithelme) informiert sein und informieren können (▶ Abb. 35.9). Infomaterial und -plakate an exponierten Stellen in Krankenhäusern und anderen Einrichtungen, in denen Familien ein- und ausgehen, können die Aufklärungsarbeit unterstützen.

Man unterscheidet geschlossene oder offene Schädel-Hirn-Traumen mit Hirnverletzungen unterschiedlicher Schweregrade (▶ Tab. 35.3). Die Aufwachphase kann sich durch alle Bewusstseinsstadien über längere Zeit gestalten. Dieser Übergangszustand mit starker motorischer Unruhe wird auch als „Remissionsphase“ bezeichnet. In manchen Fällen ist eine vollständige Genesung nicht zu erreichen. Bei den Blutungen unterscheidet man sub- und epidurale Hämatome sowie in-







Abb. 35.9 Aufklärung. Ein Fahrradhelm als Kopfschutz. Erwachsene sollten mit gutem Beispiel vorangehen (Symbolbild). (Foto: Ermolaev Alexandr – stock.adobe. com)





trazerebrale Blutungen. Im Zusammenhang mit Schädel-Hirn-Traumen kann es durch die Blutung oder eine posttraumatische Hirnschwellung (Hirnödem) zum Entstehen von Hirndrucksymptomatik (S. 684) bis hin zur vitalen Bedrohung kommen. Ein schweres Schädel-HirnTrauma ist häufig kombiniert mit weiteren schweren Verletzungen. In diesem Fall spricht man von einem Polytrauma.

35.4.2 Pflegebedarf einschätzen Aus dem Schädel-Hirn-Trauma resultieren je nach Ausprägungsgrad unterschiedliche Beeinträchtigungen aller Lebensaktivitäten. Pflegeprobleme können sein:

● ●



vitale Bedrohung beim Auftreten von Hirndrucksymptomatik Gefahr von Liquoraustritt und Infektionen bei offenen Schädel-Hirn-Traumen Beeinträchtigung von Allgemeinbefinden, Kommunikationsfähigkeit, Mobilität und je nach Ausprägung des Schädel-Hirn-Traumas aller Lebensaktivitäten durch: ○ neurologische Ausfallerscheinungen (eingeschränkte Bewusstseinslage, Erinnerungslücken, Schläfrigkeit bis zum Koma) ○ Lähmungen ○ sensorische Ausfälle Kommunikations-, Artikulations- oder Sprachstörungen Wahrnehmungs- und Orientierungsstörungen, Koordinationsstörungen gestörter Schlaf-Wach-Rhythmus Gefahr von Krampfanfällen durch Hirnläsionen Angst der Eltern vor bleibender Behinderung und Folgeschäden

35.4.3 Pflegeziele und -maßnahmen Frühzeitiges Erkennen von Komplikationen Bewusstlosigkeit unterschiedlicher Dauer ist das Hauptsymptom eines SchädelHirn-Traumas. Bei der Bewusstlosigkeit (S. 423) kommt es zum Verlust von Schutzreflexen und es müssen entsprechende Maßnahmen eingeleitet werden.

Tab. 35.3 Einteilung der Schweregrade beim Schädel-Hirn-Trauma. Gradeinteilung

Symptomatik

Schädel-Hirn-Trauma 1. Grades (leichtes Schädel-Hirn-Trauma, früher auch Commotio cerebri oder Gehirnerschütterung genannt)

● ● ● ●





Schädel-Hirn-Trauma 2. Grades (mittelschweres SchädelHirn-Trauma)









Schädel-Hirn-Trauma 3. Grades (schweres Schädel-HirnTrauma)







● ●

Maßnahmen

Prognose

Kopfschmerzen Schwindel Erbrechen Bewusstlosigkeit von max. 15 Minuten, Dämmerzustand max. 1 Stunde Erinnerungslücke (retrograde Amnesie) Glasgow-Coma-Scale* 13–15 Punkte

Beobachtung auf Entwicklung von Hirndruckzeichen aufgrund einer möglichen Hirnblutung

Rückbildung sämtlicher Symptome innerhalb von 4 Tagen

erhebliche vegetative Störungen bis zum Schock Bewusstlosigkeit und Dämmerzustand über mehrere Stunden länger dauernde neurologische Befundabweichungen Glasgow-Coma-Scale 9–12 Punkte

Schockbekämpfung, Linderung der vegetativen Symptomatik, Beobachtung bzgl. Hirndruckzeichen durch mögliche Hirnblutung und/oder Hirnödementwicklung

Rückbildung neurologischer Befundabweichungen innerhalb eines Monats, Kopfschmerzen, Schwindel und Konzentrationsschwäche können weiter bestehen

mindestens einstündige initiale Bewusstlosigkeit und Dämmerzustand über 24 Stunden erhebliche Beeinträchtigungen der Vitalzeichen Hirndruckzeichen durch Ausbildung eines Hirnödems Hirnsubstanzschädigung Glasgow-Coma-Scale 3–8 Punkte

Intensivüberwachung aller Vitalfunktionen notwendig, da vitale Bedrohung (Gefahr der Mittelhirneinklemmung), Hirnödemprophylaxe, Intensivtherapie

keine vollständige Genesung, je länger die Bewusstlosigkeit andauert, desto schlechter wird die Prognose; lang andauernde neurologische und vegetative Ausfallserscheinungen bis zum „Wachkoma“ möglich

* Glasgow-Coma-Scale, GCS (s. ▶ Tab. 17.2).

694

35.4 Pflege eines Kindes mit Schädel-Hirn-Trauma Blutungen innerhalb des Schädels, besonders das epidurale Hämatom, können nach initialer Bewusstlosigkeit und einem sog. „freien Intervall“ mit relativer Bewusstseinsklarheit zu sekundären Bewusstseinseintrübungen und lebensbedrohlichen Hirndrucksteigerungen führen. Daher wird das Kind auch in beschwerdefreiem Zustand in den ersten 24 Stunden im Krankenhaus beobachtet. Die Bewusstseinslage wird auf ärztliche Anordnung mindestens stündlich überwacht. Der Grad der Orientierung kann durch einfache Fragen, z. B. nach dem Namen oder Alter festgestellt werden. Säuglinge und Kleinkinder werden auf Verhaltensänderungen, insbesondere im Schrei- und Trinkverhalten sowie auf motorische Auffälligkeiten beobachtet. Wichtig ist hierbei auch die Befragung der Eltern, die das Normalverhalten ihres Kindes besser kennen und somit auch Abweichungen eher registrieren. Eine standardisierte Beurteilung der Bewusstseinslage erfolgt mithilfe der Glasgow-Coma-Scale (GCS, s. ▶ Tab. 17.2) bzw. der Pediatric Glasgow Coma Scale (PGCS). Augenöffnung, verbale und motorische Reaktionen werden hierdurch erfasst und genau beschrieben. Außerdem werden Pupillenkontrollen auf Größe (weit – mittel – eng), Lichtreaktion (prompt – verzögert – keine), Seitendifferenz und Form (normal – entrundet) ebenfalls stündlich durchgeführt.

Merke

H ●

Träge oder fehlende Pupillenreaktion bzw. Lichtstarre, Seitenungleichheit oder Entrundung sind eindeutige Zeichen einer zerebralen Komplikation. Es ist sofort ein Arzt zu informieren!

Zur Beurteilung der Pupillen ist es wichtig, dass die Augen nicht für eine Augenhintergrundspiegelung mit pupillenerweiternden Substanzen behandelt wurden. Auch durch die Gabe von Atropin oder Opiaten kann die Pupillenkontrolle erschwert werden. Neurologische Ausfälle aller Art, z. B. Sehstörungen, Sprachstörungen, zunehmende Kopfschmerzen und Paresen, müssen vom Pflegepersonal bei der Überwachung und pflegerischen Versorgung des Kindes wahrgenommen und beurteilt werden. Sie können immer das Zeichen einer Komplikation sein und bedürfen weiterer diagnostischer Abklärung und der entsprechenden Therapie. Auftretende Krampfanfälle werden in ihrer Ausdrucksform als generalisiert, fokal und/oder seitenbetont beobachtet.

Auch sie geben Aufschluss über eine lokale Schädigung, aber auch über eine mögliche Hirndruckentwicklung. Der Kopf des Kindes wird auf Wunden, Schwellungen, Knochenveränderungen, auftretende Hämatome sowie Liquoroder Blutaustritt aus Nase und Ohren beobachtet.

Praxistipp Pflege

Z ●

Beim Austritt von seröser Flüssigkeit aus der Nase kann mit einem Schnellteststäbchen glukosehaltiger Liquor von unauffälligem Nasensekret differenziert werden.

▶ Vitalzeichenkontrolle. Die Vitalzeichen werden je nach Schwere des Traumas auf ärztliche Anordnung in engen Intervallen überprüft und ggf. mit einem Monitor überwacht. Die Atmung wird bei steigendem Hirndruck unregelmäßig und periodisch. Sie zeigt den Biot-Atemtypus. Die Pulsfrequenz sinkt ab, ein Druckpuls wird fühlbar. Vor der Einklemmung des Mittelhirns kann es jedoch auch zu auffallender Tachykardie kommen. Der systolische Blutdruck kann ansteigen, um bei steigendem intrazerebralem Druck noch eine ausreichende Hirndurchblutung zu gewährleisten. Auffallend niedriger Blutdruck ist dagegen eher Zeichen einer allgemeinen Kreislaufschwäche, z. B. als Folge einer Blutung. Die Körpertemperatur erreicht bei Ausfall des Regulationszentrums auffallend niedrige oder auffallend hohe Werte. Man spricht dann von zentraler Temperaturregulationsstörung.

Praxistipp Pflege

Z ●

Jede Auffälligkeit am Kind kann ein Alarmsignal für ansteigenden Hirndruck und beginnende Einklemmung des Mittelhirns sein. Es muss sofort ein Arzt informiert werden! Das Notfallzubehör muss in der Nähe des Patienten vorhanden sein.

Eine Hyperthermie wird mit physikalischer Kühlung behandelt, da sie sich ungünstig auf die Hirndruckverhältnisse auswirkt.

Physiologische Hirndruckverhältnisse ▶ Hirndrucksonde. Bei schweren Schädel-Hirn-Traumen wird häufig eine Drucksonde eingesetzt, um einen Hirndruckanstieg zu erfassen. Das ist ein subdural oder intraventrikulär eingelegter

Messfühler, der mit dem Druckaufnehmer des Intensivpflegemonitors verbunden ist. Die Hirndrucksonde ermittelt die aktuellen Werte, insbesondere Trends und Reaktionen des kindlichen Hirndrucks auf Manipulationen. Die Pflegefachkraft muss sich über die in ihrer Klinik verwendeten Systeme hinreichend informieren, eine Einweisung vor dem Gebrauch erhalten und die Herstellerangaben sowie die Angaben der behandelnden Neurochirurgen über den Umgang mit der Sonde und die angestrebten Hirndruckwerte beachten. Ein Hirndruck über 20 ist prognostisch ungünstig. Da der Hirndruck in Relation zum zerebralen Perfusionsdruck gesetzt werden muss, werden für kleinere Kinder die oberen Hirndrucknormwerte häufig ebenfalls niedriger angesetzt.

Merke

H ●

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Invasive Hirndruckmesssysteme ersetzen nicht die klinische Beurteilung des Kindes auf mögliche Alarmsignale wie Unruhe, Automatismen, Strecktendenzen und Verschlechterung der Bewusstseinslage.

Praxistipp Pflege

Z ●

Die Beurteilung der neurologischen Parameter ist bei einem beatmeten, sedierten und/oder relaxierten Kind sehr erschwert. Daher ist streng auf minimale Veränderungen der Vitalzeichen, insbesondere Blutdruck und Herzfrequenz und des Hirndrucks zu achten. Die intensive Beobachtung aller Vitalparameter und die Überwachung der angeordneten Therapie sind Hauptaufgaben des Pflegepersonals in dieser Phase.

▶ Hirndruckprophylaxe. Nach einer neurochirurgischen Operation ist die Gefahr eines Hirnödems besonders hoch. Deshalb wird eine Hirndruckprophylaxe durchgeführt: Das Kind liegt in Rückenlage mit einem 30° erhöhten Oberkörper und in Kopfmittelstellung. In dieser Position ist der venöse Rückstrom aus den zerebralen Blutgefäßen am besten gewährleistet (▶ Abb. 35.10). Eine Seitendrehung oder Überstreckung des Kopfes ist kontraindiziert. Diese Position muss in den ersten 48 Stunden nach der Operation streng eingehalten werden. Um dabei Dekubiti zu vermeiden, wird das Kind bereits bei der Übernahme aus dem Operationssaal in ein Spezialbett mit Antidekubitusmatratze gelegt. Eine ausreichende Analgosedierung ist notwendig, um Hirndruckspitzen zu vermeiden. Auf ärztliche Anord-

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Pflege von Kindern mit ZNS-Störungen mente der basalen Stimulation (S. 163) integriert. Eigenständige Äußerungen und Handlungen des Kindes, seien sie auch noch so minimal, müssen vom Pflegepersonal wahrgenommen und unterstützt werden.

Bestmögliche Kommunikation Abb. 35.10 Positionierung bei SchädelHirn-Trauma. Das Kopfteil des Bettes ist um 30° angehoben. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

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nung erfolgt eine kontrollierte Hyperventilation oder eine Hypothermiebehandlung zur Hirndruckprophylaxe.

Merke

● H

Eine ausgeglichene oder eher negative Flüssigkeitsbilanz hilft, einem Hirnödem vorzubeugen. Daher wird auf eine gute Diurese geachtet und ggf. auf ärztliche Anordnung medikamentös unterstützt.

▶ Minimal Handling. Jegliches Handling am Kind geschieht in der ersten postoperativen Zeit zurückhaltend und schonend. Schmerzhafte Stimuli, wie z. B. Blutentnahmen, Absaugen, sind nach Möglichkeit zu vermeiden oder unter ausreichender Analgesie durchzuführen, da sie den Hirndruck erhöhen können. Damit das Kind sich bei notwendigen Manipulationen nicht aufregt, wird es auf ärztliche Anordnung tief sediert und ggf. relaxiert. Invasive Überwachungen der Vitalparameter, z. B. direkte Blutdruckmessung in der Arterie, ersparen unnötige Manipulationen. ▶ Hirndrucksteigernde Aktivitäten. Für ein nicht intensivpflichtiges Kind mit Schädel-Hirn-Trauma sind hirndrucksteigernde Aktivitäten aller Art, z. B. Toben, Aufregung, Schreien, verboten. Bei Kopfschmerzen soll das Kind Bettruhe einhalten. Es sollte nicht fernsehen oder lesen, weil dies die Kopfschmerzen verstärkt. Das Kind braucht eine ruhige, evtl. leicht abgedunkelte und reizarme Umgebung. Mitarbeiter, Mitpatienten und Angehörige werden um Ruhe gebeten.

Frührehabilitation Die Rehabilitation eines Kindes mit Schädel-Hirn-Trauma beginnt mit der Aufnahme des Kindes in die Klinik. In die Pflege eines bewusstseinseingetrübten Kindes mit Schädel-Hirn-Trauma werden die Ele-

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Durch das Trauma kann die Kommunikations- und Artikulationsmöglichkeit des Kindes beeinträchtigt sein. Es muss jedoch davon ausgegangen werden, dass die Hörfähigkeit unbeeinträchtigt ist. Im Zimmer des Kindes darf nicht über seine Erkrankung diskutiert werden. Das Kind wird in alle Handlungen wie ein waches Kind einbezogen. Versteckte nonverbale Reaktionen des Kindes müssen wahrgenommen werden.

Merke

H ●

Die anwesenden Eltern registrieren solche Reaktionen häufig als Erste. Ihre Beobachtungen sind sehr ernst zu nehmen. Auch Pflegefachkräfte und Eltern können nonverbal mit dem Kind kommunizieren, etwa durch gezielte Berührungsangebote bei der Körperpflege (S. 310), Streicheleinheiten und Kuscheln.

Falls das Kind vor dem Unfall ein Hörgerät oder eine Brille trug, werden diese Hilfsmittel frühzeitig wieder angewendet. Erste unverständliche Laute des Kindes werden zunächst wiederholt, um sie dem Kind bewusst zu machen. Gleichzeitig wird versucht, sie zu verstehen und darauf zu reagieren. Das Kind wird zunächst nur von einer Seite angesprochen. Es redet jeweils nur eine Person mit dem Kind mit kurzen und leicht verständlichen Sätzen. Die weitere Entwicklung des Sprachvermögens geschieht häufig mit einem zunächst stark verlangsamten Sprachmuster. Dies erfordert häufig von Pflegepersonal, Eltern und auch vom Kind selbst große Geduld, bis es die Informationen herausgebracht hat, die es sagen wollte. Manchmal ist das Kind eher in der Lage, technische Kommunikationshilfsmittel (S. 231) zu gebrauchen, als sich selbst verbal zu verständigen. Diese können dem Kind zur Unterstützung gegeben werden; sie sollten jedoch nicht die Bemühungen des Kindes zur verbalen Kommunikation in den Hintergrund drängen.

Erhalt und Wiederherstellung der Beweglichkeit In der Akutphase werden alle Gelenke des Kindes in Funktionsstellung gebracht. Beginnt das Kind ungezielte Bewegungen zu machen, versuchen Pflegefachkräfte und Bezugspersonen diese Bewegungen zu einem Ziel zu führen und sie durch unterschiedliche taktile Angebote interessant zu machen. Die Bewegungsmuster werden auf Seitengleichheit, Tonus, schlaffe Lähmungen oder Spastiken beobachtet. Ebenso wird geprüft, ob die Angebote seitengleich wahrgenommen werden. Sobald es der Zustand des Kindes zulässt, beginnen die Physiotherapeuten mit Bewegungsübungen. Diese werden über passives Durchbewegen, isometrische Übungen und das Aufsuchen bestimmter Reflexpunkte zur gezielten Stimulation von Muskeln eingesetzt. Die Reaktion des Kindes auf die Übungen wird beobachtet und das Trainingsprogramm individuell angepasst. Gemeinsam mit den Physiotherapeuten wird der Einsatz weiterer Hilfsmittel erwogen, z. B. Schienen und Stehbretter. Das Pflegepersonal schätzt die Belastbarkeit des Kindes ein, bespricht das Mobilisationsprogramm mit den Physiotherapeuten und führt es weiter durch.

Wiedererlernen der physiologischen Nahrungsaufnahme In der Akutphase wird das Kind parenteral ernährt. Die Pflegefachkraft überwacht die Infusionstherapie und führt die Mundpflege mit den dem Kind vertrauten Substanzen durch. Wenn es sein Zustand zulässt, wird das Kind aufrecht in einen Spezialsessel gesetzt, der es zur Seite abstützt. Die aufrechte Körperposition unterstützt die Aspirationsprophylaxe. In dieser Position wird ihm die Nahrung verabreicht bzw. sondiert, falls es noch nicht essen kann. Während des Sondierens wird eine orale Stimulation mit vertrauten und beliebten Geschmacksrichtungen durchgeführt.

Praxistipp Pflege

Z ●

Die Koordination von Schmecken, Kauen und Schlucken kann anfangs so starke Probleme bereiten, dass Aspirationsgefahr besteht. Für die ersten Ernährungsversuche muss eine betriebsbereite Absauganlage bereitstehen.

Erst wenn der Nahrungsaufbau problemlos ist, können die Eltern die Nahrung anreichen. Das Kind soll dabei so viel selbstständig ausführen, wie es ihm möglich ist. Die besonderen Ernährungswünsche kön-

35.5 Pflege eines Kindes mit zerebralen Krampfanfällen nen, soweit möglich, beachtet werden, doch sollen ausreichende Flüssigkeitsund Ballaststoffzufuhr wegen der Obstipationsneigung durch Immobilität gewährleistet sein.

Normaler Schlaf-WachRhythmus Die Analgosedierung des Kindes in der ersten postoperativen Phase beeinträchtigt den normalen Schlaf-Wach-Rhythmus. Nach Absetzen oder Ausschleichen der Medikamente kann es zu starken Unruhezuständen und einem paradoxen Tagesrhythmus kommen. Wenn Therapie und Überwachung es zulassen, wird eine starke Beleuchtung nachts vermieden und Tageslicht am Tag angeboten, um den Tag-Nacht-Rhythmus neu einzuüben. Alle Pflegemaßnahmen und therapeutischen Maßnahmen finden überwiegend am Tag statt.

Praxistipp Pflege

Z ●

Großen Kindern hilft zur zeitlichen Orientierung eine eigene Armbanduhr oder eine große Zimmeruhr (▶ Abb. 35.11).

Die Kinder ermüden anfangs leicht und benötigen auch am Tag abgegrenzte Ruhephasen. Häusliche Einschlafrituale werden am Abend übernommen. Der Zeitpunkt des Erwachens ist nicht nur vom Absetzen der sedierenden Medikamente, sondern auch von der Ausprägung der Hirnverletzung abhängig. Die geöffneten Augen allein sind noch kein Zeichen aktiver Wahrnehmungsfähigkeit. Das Kind kann sich in einem Wachkoma (apallisches Syndrom) befinden. In diesem Fall benötigen die Eltern eine intensive Aufklärung über den aktuellen Zustand, die daraus resultierenden Probleme, mögliche Fördermaßnahmen sowie eine Anleitung zu den längerfristig notwendigen Pflegemaßnahmen. Das Kind sollte in jedem Fall in einer neurologischen Rehabilitationsklinik vorgestellt und nachbetreut werden.

Frühzeitiges Erkennen von Verhaltensauffälligkeiten Die langfristige Entwicklung eines Kindes lässt sich nur im Vergleich mit den Fähigkeiten und dem Verhalten von Gleichaltrigen beurteilen. Psychologische Tests stellen Fähigkeiten und Verhalten in Relation zum Alter. Die objektive Testung und Einschätzung sind wichtig. Kinder können im Überspielen von Schwächen bisweilen sehr geschickt vorgehen, überfordern sich damit jedoch langfristig selbst. Diese Überforderung kann dann zu Verhaltensstörungen führen. Daher ist es notwendig,

Abb. 35.11 Zeitliche Orientierung. Die zeitliche Orientierung im Tagesverlauf kann durch eine eigene Armbanduhr unterstützt werden (Symbolbild). (Foto: Anton Papulov – stock.adobe.com)

Abb. 35.12 Familienpflege. Die Familien werden frühzeitig in längerfristig notwendigen Pflegemaßnahmen angeleitet. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

vorhandene Defizite rechtzeitig zu erkennen und eine gezielte Förderung durchzuführen. Ob sich ein Kind tatsächlich altersgemäß verhält und entwickelt, ist jedoch nicht nur vom Ausmaß seiner neurologischen Schädigungen abhängig. Kleinere Kinder werden durch eine längere Krankheitsphase in ihrer Entwicklung zurückgeworfen und verlernen auch ohne große Hirnschädigung nach längeren Krankenhausaufenthalten bereits erworbene Fähigkeiten. Daher ist es wichtig, in der Pflegeanamnese die Fähigkeiten zu erfassen, die vor der Krankheit vorhanden waren, um diese mit dem Kind frühzeitig zu trainieren, z. B. Sauberkeitsverhalten, Eigenständigkeit beim Essen. Pflegefachkräfte und Eltern neigen in Erinnerung an die schwere Zeit oder durch falsch verstandene Fürsorge z. T. dazu, einem Kind, das schwer krank war, über längere Zeit einen erhöhten Pflegeaufwand zukommen zu lassen, auch wenn es dem Kind wieder besser geht. Eine Verlegung in eine Nachsorge- oder Rehabilitationseinheit kann helfen, die bereits wieder vorhandenen Fähigkeiten und Ressourcen des Kindes wahrzunehmen und zu fördern.

Eine frühzeitige Integration der Angehörigen in Pflegemaßnahmen und allgemeine Überlegungen erleichtert ihnen das Verständnis der Situation, baut Misstrauen gegenüber notwendigen Maßnahmen ab und verbessert die Kooperation mit den Pflegenden und allen therapeutischen Fachdisziplinen. Je früher die Eltern Pflegemaßnahmen übernehmen, desto eher sind sie dazu auch in der Lage, wenn das Kind langfristig pflegebedürftig werden sollte (▶ Abb. 35.12). Außerdem kennen sie ihr Kind am besten und können vielleicht geringfügige Änderungen der Allgemeinsituation besser wahrnehmen. Wenn das Kind aufwacht, fällt es ihm i. d. R. am schwersten, seine noch vorhandene Beeinträchtigung zu begreifen und zu akzeptieren, da ihm die Zeit seiner Bewusstlosigkeit in seiner Eigeneinschätzung fehlt. Es sieht nicht, dass es ihm ja schon viel besser geht, sondern es misst seinen Zustand an seinen Erinnerungen an gesunde Zeiten. Wiederholte Erklärungen und viel Geduld sind notwendig, diesen Zustand gemeinsam zu überwinden.

Akzeptanz einer bleibenden Beeinträchtigung Ein schweres Schädel-Hirn-Trauma mit lang andauernder Bewusstlosigkeit hinterlässt häufig bleibende Beeinträchtigungen in unterschiedlich schwerer Ausprägung. Die Eltern sind verständlicherweise von Anfang an verunsichert und an einer Prognose interessiert. Die tatsächliche Erholung ist jedoch erst nach allen Rehabilitationsmaßnahmen zu erkennen. Bei schweren Traumen muss die Möglichkeit einer bleibenden Behinderung mit den Eltern jedoch von Anfang an erörtert werden. Dabei dürfen sie nicht entmutigt werden, alles für ihr Kind zu tun und mit Fantasie und Einsatz die Frührehabilitation zu fördern.

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35.5 Pflege eines Kindes mit zerebralen Krampfanfällen 35.5.1 Ursache und Auswirkung Definition

L ●

Unter Anfallsleiden versteht man alle Krankheiten, die mit plötzlich auftretenden neurologischen Veränderungen unterschiedlicher Dauer und Ausprägung einhergehen.

Als Folge einer akuten oder chronischen Funktionsstörung im Gehirn kommt es zur Entstehung überschießender hirnelektrischer Aktivität, die mit Bewusstseins-

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35.5 Pflege eines Kindes mit zerebralen Krampfanfällen nen, soweit möglich, beachtet werden, doch sollen ausreichende Flüssigkeitsund Ballaststoffzufuhr wegen der Obstipationsneigung durch Immobilität gewährleistet sein.

Normaler Schlaf-WachRhythmus Die Analgosedierung des Kindes in der ersten postoperativen Phase beeinträchtigt den normalen Schlaf-Wach-Rhythmus. Nach Absetzen oder Ausschleichen der Medikamente kann es zu starken Unruhezuständen und einem paradoxen Tagesrhythmus kommen. Wenn Therapie und Überwachung es zulassen, wird eine starke Beleuchtung nachts vermieden und Tageslicht am Tag angeboten, um den Tag-Nacht-Rhythmus neu einzuüben. Alle Pflegemaßnahmen und therapeutischen Maßnahmen finden überwiegend am Tag statt.

Praxistipp Pflege

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Großen Kindern hilft zur zeitlichen Orientierung eine eigene Armbanduhr oder eine große Zimmeruhr (▶ Abb. 35.11).

Die Kinder ermüden anfangs leicht und benötigen auch am Tag abgegrenzte Ruhephasen. Häusliche Einschlafrituale werden am Abend übernommen. Der Zeitpunkt des Erwachens ist nicht nur vom Absetzen der sedierenden Medikamente, sondern auch von der Ausprägung der Hirnverletzung abhängig. Die geöffneten Augen allein sind noch kein Zeichen aktiver Wahrnehmungsfähigkeit. Das Kind kann sich in einem Wachkoma (apallisches Syndrom) befinden. In diesem Fall benötigen die Eltern eine intensive Aufklärung über den aktuellen Zustand, die daraus resultierenden Probleme, mögliche Fördermaßnahmen sowie eine Anleitung zu den längerfristig notwendigen Pflegemaßnahmen. Das Kind sollte in jedem Fall in einer neurologischen Rehabilitationsklinik vorgestellt und nachbetreut werden.

Frühzeitiges Erkennen von Verhaltensauffälligkeiten Die langfristige Entwicklung eines Kindes lässt sich nur im Vergleich mit den Fähigkeiten und dem Verhalten von Gleichaltrigen beurteilen. Psychologische Tests stellen Fähigkeiten und Verhalten in Relation zum Alter. Die objektive Testung und Einschätzung sind wichtig. Kinder können im Überspielen von Schwächen bisweilen sehr geschickt vorgehen, überfordern sich damit jedoch langfristig selbst. Diese Überforderung kann dann zu Verhaltensstörungen führen. Daher ist es notwendig,

Abb. 35.11 Zeitliche Orientierung. Die zeitliche Orientierung im Tagesverlauf kann durch eine eigene Armbanduhr unterstützt werden (Symbolbild). (Foto: Anton Papulov – stock.adobe.com)

Abb. 35.12 Familienpflege. Die Familien werden frühzeitig in längerfristig notwendigen Pflegemaßnahmen angeleitet. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

vorhandene Defizite rechtzeitig zu erkennen und eine gezielte Förderung durchzuführen. Ob sich ein Kind tatsächlich altersgemäß verhält und entwickelt, ist jedoch nicht nur vom Ausmaß seiner neurologischen Schädigungen abhängig. Kleinere Kinder werden durch eine längere Krankheitsphase in ihrer Entwicklung zurückgeworfen und verlernen auch ohne große Hirnschädigung nach längeren Krankenhausaufenthalten bereits erworbene Fähigkeiten. Daher ist es wichtig, in der Pflegeanamnese die Fähigkeiten zu erfassen, die vor der Krankheit vorhanden waren, um diese mit dem Kind frühzeitig zu trainieren, z. B. Sauberkeitsverhalten, Eigenständigkeit beim Essen. Pflegefachkräfte und Eltern neigen in Erinnerung an die schwere Zeit oder durch falsch verstandene Fürsorge z. T. dazu, einem Kind, das schwer krank war, über längere Zeit einen erhöhten Pflegeaufwand zukommen zu lassen, auch wenn es dem Kind wieder besser geht. Eine Verlegung in eine Nachsorge- oder Rehabilitationseinheit kann helfen, die bereits wieder vorhandenen Fähigkeiten und Ressourcen des Kindes wahrzunehmen und zu fördern.

Eine frühzeitige Integration der Angehörigen in Pflegemaßnahmen und allgemeine Überlegungen erleichtert ihnen das Verständnis der Situation, baut Misstrauen gegenüber notwendigen Maßnahmen ab und verbessert die Kooperation mit den Pflegenden und allen therapeutischen Fachdisziplinen. Je früher die Eltern Pflegemaßnahmen übernehmen, desto eher sind sie dazu auch in der Lage, wenn das Kind langfristig pflegebedürftig werden sollte (▶ Abb. 35.12). Außerdem kennen sie ihr Kind am besten und können vielleicht geringfügige Änderungen der Allgemeinsituation besser wahrnehmen. Wenn das Kind aufwacht, fällt es ihm i. d. R. am schwersten, seine noch vorhandene Beeinträchtigung zu begreifen und zu akzeptieren, da ihm die Zeit seiner Bewusstlosigkeit in seiner Eigeneinschätzung fehlt. Es sieht nicht, dass es ihm ja schon viel besser geht, sondern es misst seinen Zustand an seinen Erinnerungen an gesunde Zeiten. Wiederholte Erklärungen und viel Geduld sind notwendig, diesen Zustand gemeinsam zu überwinden.

Akzeptanz einer bleibenden Beeinträchtigung Ein schweres Schädel-Hirn-Trauma mit lang andauernder Bewusstlosigkeit hinterlässt häufig bleibende Beeinträchtigungen in unterschiedlich schwerer Ausprägung. Die Eltern sind verständlicherweise von Anfang an verunsichert und an einer Prognose interessiert. Die tatsächliche Erholung ist jedoch erst nach allen Rehabilitationsmaßnahmen zu erkennen. Bei schweren Traumen muss die Möglichkeit einer bleibenden Behinderung mit den Eltern jedoch von Anfang an erörtert werden. Dabei dürfen sie nicht entmutigt werden, alles für ihr Kind zu tun und mit Fantasie und Einsatz die Frührehabilitation zu fördern.

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35.5 Pflege eines Kindes mit zerebralen Krampfanfällen 35.5.1 Ursache und Auswirkung Definition

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Unter Anfallsleiden versteht man alle Krankheiten, die mit plötzlich auftretenden neurologischen Veränderungen unterschiedlicher Dauer und Ausprägung einhergehen.

Als Folge einer akuten oder chronischen Funktionsstörung im Gehirn kommt es zur Entstehung überschießender hirnelektrischer Aktivität, die mit Bewusstseins-

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Pflege von Kindern mit ZNS-Störungen störungen, motorischen Phänomenen und/oder Verhaltensauffälligkeiten einhergehen kann. Man unterscheidet die nicht epileptischen Anfälle, z. B. Affektkrämpfe, von zerebral ausgelösten epileptischen Anfällen. Diese wiederum untergliedert man in Gelegenheitsanfälle und chronische Epilepsien im engeren Sinne.

Definition

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L ●

Gelegenheitsanfälle sind symptomatische Anfälle, die als vorübergehende Reaktion, z. B. auf Stoffwechselentgleisungen (z. B. Hypoglykämien, Hypokalzämien), Vergiftungen, Traumen, Blutungen, Sauerstoffmangel oder Fieber auftreten können.

Fieberkrämpfe treten vorzugsweise im Kleinkind- und Kindergartenalter, vereinzelt während eines Fieberanstiegs auf. Sie dauern selten länger als 15 Minuten und bewirken i. d. R. keine langfristigen EEGVeränderungen.

Definition

L ●

Epilepsie im engeren Sinne bedeutet, wenn mehrfach zerebrale Krampfanfälle auftreten und pathologische Veränderungen im EEG nachzuweisen sind.

0,5–1 % der Gesamtbevölkerung leiden unter Epilepsien. Bei Kindern tritt bei etwa 5 % im Laufe der Entwicklung ein Krampfanfall auf, doch nur bei einem Viertel davon handelt es sich um ein epileptisches Geschehen. Die Anfallsmuster können sehr unterschiedlich sein und sich abhängig vom Lebensalter verändern. Die Symptomatik ist von der Ausbreitung der Krampfaktivität im Gehirn abhängig: Krampfanfälle können generalisiert, d. h. auf das gesamte Gehirn ausgebreitet, oder fokal auf einen Anfallsherd im Gehirn begrenzt sein. Ausgehend von einem herdförmig beginnenden Krampfanfall ist auch eine sekundäre Generalisierung möglich. Diese unterschiedlichen Ausprägungsformen werden aufgrund der Anfallsbeobachtung und des Nachweises der gestörten elektrischen Gehirnaktivität im EEG unterschieden. Einem Krampfanfall kann eine Aura vorausgehen: die subjektive Wahrnehmung unterschiedlicher vegetativer und sensorischer Phänomene, z. B. das Empfinden von Übelkeit oder optische Halluzinationen.

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Symptome von Krampfanfällen sind (▶ Tab. 35.4): ● auffällige plötzliche Verhaltens- oder Bewusstseinsveränderung, auffällige Verhaltensweisen, Unruhe, Angst ● plötzlich veränderter Muskeltonus, plötzliche Schlaffheit oder muskuläre Hypertonie, rhythmische Zuckungen, Zusammenzucken, plötzliche, einschießende Bewegungen, die sich durch Berührung nicht unterbinden lassen ● unkoordinierte oder fahrige Bewegungen, Nesteln, Schmatzen, Veränderungen der Mimik, Speicheln, Kau- und Schluckbewegungen, Rachenlaute ● verdrehte Augen, starrer Blick, Nystagmus, Zucken der Augenlider ● bei Früh- und Neugeborenen: Sauerstoffsättigungsabfall, Apnoen, plötzliche Verhaltens- und Hautkoloritänderungen Begleiterscheinungen können sein: Stürze ● Einnässen, Stuhlabgang ● Zungenbiss ● Blässe, Akrozyanose ● Nachschlaf ●

Von epileptischen Anfällen abzugrenzen sind nichtepileptische Anfälle wie Affektkrämpfe, Nachtschreck (Pavor nocturnus), harmlose Einschlafmyoklonien, Migräneanfälle sowie posttraumatische und dissoziative Anfälle.

35.5.2 Pflegebedarf einschätzen Anfallsleiden sind in ihrer Erscheinung und ihrem Ausprägungsgrad individuell sehr unterschiedlich. Sie können die Ausübung aller Lebensaktivitäten mehr oder weniger stark beeinträchtigen. Mögliche Pflegeprobleme sind: ● ständige und unberechenbare Gefahr eines erneuten Krampfanfalls ● Verletzungsgefahr beim Krampfanfall ● Hypoxiegefahr durch irreguläre Atmung, Aspiration oder Zurückfallen der Zunge beim Krampfanfall ● Scham beim unkontrollierten Abgang von Ausscheidungen ● Übersensibilität gegen äußere Einflüsse, wie Fotostimulation und Fieber ● möglicherweise Abneigung gegen regelmäßige Medikamenteneinnahme ● Gefahr von Nebenwirkungen der Medikamente: Müdigkeit, Übelkeit, Nahrungsverweigerung, Verhaltensauffälligkeiten, Blutveränderungen, Hauterscheinungen ● Angst von Kind und Eltern vor weiteren Anfällen ● Beeinträchtigung der Entwicklung bei schwerem Krankheitsbild



Angst vor Behinderung und möglicher sozialer Ausgrenzung

35.5.3 Pflegeziele und -maßnahmen Frühzeitiges Erkennen von Anfallszeichen Kinder, die anfallsgefährdet sind, werden gewissenhaft auf Anfallszeichen beobachtet. Jede plötzliche Verhaltensänderung, jede plötzlich auftretende Veränderung des Muskeltonus, Bewusstseinsveränderungen, unklare vegetative Zeichen und sonstige Auffälligkeiten am Kind werden wahrgenommen. Das Kind wird angesprochen, um seine Bewusstseinslage zu prüfen. Ihm werden einfache Handlungsanweisungen gegeben wie: „Hebe deinen rechten Arm!“

Merke

H ●

Bei generalisierten Anfällen ist das Kind während des Anfalls bewusstlos. Bei fokalen Anfällen kann das Kind jedoch auch ansprechbar sein!

Motorische Auffälligkeiten müssen registriert werden. Epileptische irreguläre Bewegungsmuster lassen sich nicht unterbinden. So lassen sich Krampfanfälle von unkoordinierten Bewegungen, z. B. bei Früh- und Neugeborenen, abgrenzen.

Merke

H ●

Ein Krampfanfall kann bei jedem Kind völlig unvorbereitet eintreten. Nicht immer sind Krampfanfälle eindeutig. Wichtig ist daher eine genaue Beobachtung von Krampfgeschehen, Ablauf, Dauer und Ausprägung.

Von Bedeutung ist auch, in welchem Situationszusammenhang der Anfall auftritt und ob das Krampfgeschehen generalisiert, seitenbetont oder fokal aufgetreten ist. Es wird nur beschrieben, was tatsächlich beobachtet wurde, und nicht vorschnell interpretiert. Zur Standardisierung der Anfallsbeschreibung und als Leitlinie dient ein Anfallsprotokoll mit Beobachtungskriterien (▶ Abb. 35.13). Die Beschreibung ist für Einschätzung und Therapie des Anfalls bedeutend. Außerdem erleichtert sie das Vergleichen einzelner Krampfanfälle und das Erkennen von Anfallszeichen. Wenn die Pflegefachkräfte wissen, wie bei einem Kind üblicherweise

35.5 Pflege eines Kindes mit zerebralen Krampfanfällen

Tab. 35.4 Typische Anzeichen von Krampfanfällen. Anfallsform

typische Symptome

Maßnahmen

Besonderheiten

Neugeborenen-Anfälle

sehr unspezifisch, möglich sind: Apnoe, Myoklonien, Schluckauf, muskuläre Hypotonie, plötzliche Streckbewegungen, vegetative Reaktionen, z. B. Hautkoloritveränderungen, irreguläre Atmung, Sauerstoffsättigungsabfälle

genaue Beobachtung und Dokumentation der Anfälle, Diagnostik mit Polygrafie, ggf. weitergehende Diagnostik zur Erforschung der Ursache notwendig

bis zum Ausschluss einer Stoffwechselstörung erfolgt eine eiweißfreie Diät

BNS-Anfälle (Blitz-Nick-SalaamAnfall) bei West-Syndrom

ruckartige Vorbeugung des Oberkörpers mit Kreuzen der Arme

medikamentöse Therapie

bei Behandlung mit ACTH ist das Kind immunsupprimiert

einfache fokale Anfälle (auch Partialanfälle, Herdanfälle)

abhängig von der betroffenen Hirnregion, z. B. halbseitige Zuckungen (Jackson-Anfälle), sensorische Anfälle: plötzlich einsetzende irreguläre Empfindungen (Gesichtsfeldausfälle, veränderte Wahrnehmungen, Geräusch-, Geruchs-, Geschmacksempfindungen, vegetative Anfälle mit plötzlichen vegetativen Veränderungen)

Diagnostik, medikamentöse Therapie, Versuch der Biofeedback-Selbstkontrolle

einfache fokale Anfälle sind häufig der Beginn eines komplexeren Anfallsgeschehens und werden als „Aura“ wahrgenommen, die Betroffenen sind i. d. R. beim Anfallsgeschehen bei Bewusstsein

komplex-fokaler Anfall (auch als psychomotorische Anfälle, Temporallappenepilepsie oder Dämmerattacken bezeichnet)

Beginn meist mit Missempfindungen (Aura), dann häufig Automatismen, stereotyp ausgeformte Bewegungsoder Handlungsabläufe (nesteln, schmatzen, unkoordinierte Handlungsabläufe, wirres Reden, unkontrollierbare Gefühlsäußerungen)

beim Anfall nicht fest- oder aufhalten, Ruhe bewahren, bei Anfällen über 20 Min. Notfallmedikation nach ärztlicher Anordnung, medikamentöse Dauertherapie

myoklonische Anfälle, atonische Anfälle, akinetische Anfälle

Anfälle mit Zucken, Tonusverlust, Bewegungsverlust

häufig sehr kurz, Notfallbehandlung daher nicht notwendig. Dokumentation bei Sturzgefahr Helm empfohlen

häufig im Kleinkindes- und Kindergartenalter, wenn sie sehr kurz sind, werden sie oft von den Bezugspersonen gar nicht wahrgenommen

Absence (auch Pyknolepsie, Petit mal = frz. kleines Übel)

abrupt einsetzende Bewusstseinsstörungen zwischen 5 und 20 s: starrer Blick, z. T. Verdrehen der Augen, Unterbrechen der aktuellen Tätigkeit, bei schweren Verläufen, Kopf rückwärts gerichtet, ggf. Automatismen

keine Hilfe beim kurzen Anfall notwendig, langfristig medikamentöse Therapie, um Anfallsbahnung zu vermeiden

typische Anfallsform des Vorschul- und Schulalters

generalisierter tonisch-klonischer Anfall (früher auch großer Anfall oder Grand-Mal-Anfall genannt)

typischer Verlauf: ggf. Aura, Bewusstseinsverlust, tonische Krampfphase mit Anspannung der gesamten Muskulatur, zeitweisem Atemstillstand, Zyanose (15–30 s), klonische Krampfphase mit rhythmischen Zuckungen der gesamten Muskulatur, Zungenbiss, Schaumbildung vor dem Mund möglich, nach dem Krampf häufig Dämmerzustand oder Schlafphase, Kopfschmerzen und Muskelkater, Begleiterscheinungen: vegetative Symptome, Harn- und Stuhlentleerung möglich, lichtstarre Pupillen

beim Anfall vor Verletzungen schützen, Aspirationsprophylaxe durch Positionierung bei Verletzungen, Grand-Mal-Status (mehrere Anfälle hintereinander, ohne das Bewusstsein wiederzuerlangen), akute ärztliche Intervention, ansonsten medikamentöse Dauertherapie

häufig treten die Anfälle immer wiederkehrend zu den gleichen Situationen oder Tageszeiten auf, z. B. Aufwachepilepsien, Schlafepilepsien, nicht bei jedem akut auftretenden Anfall muss interveniert werden, Erfahrungen und Wünsche des Anfallskranken sind hierbei zu berücksichtigen

Fieberkrämpfe

durch rasch ansteigendes Fieber Ausbilden von Anfallssymptomen wie beim generalisierten tonisch-klonischen Anfall, manchmal auch andere Anfallsarten möglich

fiebersenkende Therapie und Gabe von Diazepam-Rectiolen auf ärztliche Anordnung. Anleitung der Eltern, wie bei weiterem Fieber und ggf. erneuten Fieberkrämpfen zu verfahren ist

Fieberkrämpfe treten zwischen dem 6. Lebensmonat und dem 5. Lebensjahr auf, dauern selten länger als 15 Min. und sind prognostisch günstig, sie benötigen i. d. R. keine medikamentöse Dauertherapie

35

9

Pflege von Kindern mit ZNS-Störungen

Name des Kindes: Station: Datum:

Uhrzeit:

Gesamtdauer:

• Situation vor dem Anfall: schläft

wach

beim Essen

beim Spiel

Fieber

sonstige Auffälligkeiten:

müde

aufgeregt

zusammensacken

• Anfallsbeginn: Vorboten

welche?

plötzlicher Beginn

langsamer Beginn

Sturz

Tonus locker

steif

wo:

Zuckungen

seitengleich

seitenbetont

wechselnd

fein

grob

sichtbar

fühlbar

rhythmisch

unrhythmisch

• Anfallsverlauf: • Körperhaltung/-bewegung:

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Beschreibung: • Gesicht: Augenstellung:

Pupillenreaktion:

grimassieren

Speichelfluss

Zungenbiss

Sonstiges:

schmatzen

kauen

normal

verlangsamt

• Bewusstsein: nicht ansprechbar

ansprechbar

Reaktion auf Schmerzreiz

Beschreibung:

• Weitere Symptome: Inkontinenz

Vitalzeichenveränderung:

Hautkolorit:

• Beschreibung des Anfallverlaufs mit ungefährer Dauer der beschriebenen Komponenten:

• Nach dem Anfall: Nachschlaf

Lähmungen

wo:

Erregung

Verwirrtheit

unbeeinträchtigt

Uhrzeit:

Handzeichen:

Uhrzeit:

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Uhrzeit:

Handzeichen:

• Medikation:

(Unterschrift der beobachtenden Pflegefachkraft)

Abb. 35.13 Anfallsprotokoll. Eine genaue Beobachtung und Beschreibung des Anfallgeschehens erleichtern die Diagnostik und Therapie der Epilepsie.

ein Krampfanfall beginnt, können sie auf solche Symptome verstärkt achten. Epilepsie-Meldegeräte erleichtern die Wahrnehmung von klonischen Anfällen im Schlaf (▶ Abb. 35.14).

700

Bei größeren Kindern kann zur Verselbstständigung auch der Einsatz von speziell ausgebildeten Assistenzhunden, sog. Epilepsiewarnhunden überlegt, werden.

Man kann ein größeres Kind befragen, ob es vor einem Anfall Auren empfindet. Wenn das Kind regelmäßig bestimmte Vorboten des Anfalls wahrnimmt, muss ihm erklärt werden, dass es wichtig ist, diese auch zu äußern. Solche Äußerungen,

35.5 Pflege eines Kindes mit zerebralen Krampfanfällen

Körperliche Unversehrtheit beim Krampfanfall Wenn das Kind einen Krampfanfall erleidet, ruft die Pflegefachkraft einen Arzt und bleibt beim Kind. Während des Krampfanfalls wird das Kind sicher und weich positioniert. Wenn möglich, werden dem Kind weiche Decken untergelegt oder Decken um das Kind herumgelegt, sodass es nicht mit den zuckenden Extremitäten an andere Gegenstände anstößt. Harte Gegenstände werden aus der Reichweite des Kindes genommen. Falls das Kind eine Brille trägt, wird diese beim Krampfanfall abgenommen. Das krampfende Kind sollte während des Anfalls nicht festgehalten werden, da das Verletzungsrisiko steigt.

Praxistipp Pflege Abb. 35.14 Epi-Care® mobile. Der Sensor regiert auf epileptische Körperbewegungen und löst einen Alarm aus. Er zeichnet die Anfälle mit Uhrzeit und Dauer auf, sodass die Dokumentation erleichtert wird. (Abb. von: Epitech GmbH)

seien sie auch noch so diffus, müssen vom gesamten Team ernst genommen werden.

Eltern

a ●

Die Eltern werden in der Anfallsbeobachtung angeleitet.

Bei besonders schwer einschätzbaren Anfällen, etwa bei den wegen der Unreife besonders untypisch verlaufenden Neugeborenenkrämpfen, ist eine Dauer-EEG-Ableitung mit Videodokumentation möglich. Bei unklaren Zuständen werden die beim Kind angebrachten Geräte angestellt. Dadurch werden Dokumentation und Beschreibung der Anfälle erleichtert und sie können objektiv klassifiziert werden. Um eine genaue Beobachtung zu erreichen, kann es sinnvoll sein, nicht gleich jedes Anfallszeichen medikamentös zu unterbinden. Allgemein wird nach ärztlicher Anordnung erst bei einer Anfallsdauer, die eine vorher bestimmte Zeitspanne übersteigt, bei großer Belastung oder Gefährdung des Kindes eine Bedarfsmedikation zur Krampfunterbrechung eingesetzt.

Z ●

Ein Zungenbiss lässt sich meist nicht verhindern. Das Einbringen eines Mundkeils ist aufgrund der Kiefersperre sehr schwierig, birgt Verletzungsgefahr für den Helfer und wird daher nicht mehr empfohlen.

Drohen die Atemwege durch Speichel und Erbrochenes verlegt zu sein, wird das Kind zum Aspirationsschutz in eine stabile Seitenlage gebracht. Eine zurückgefallene Zunge kann durch den Esmarch-Handgriff (S. 861) oder in der Bauchlage durch die Schwerkraft nach vorne gebracht werden. Erleidet das Kind eine Hypoxie, kann ihm kontrolliert Sauerstoff verabreicht werden. In diesem Fall ist eine sofortige medikamentöse Unterbrechung des Krampfes sinnvoll. Der behandelnde Arzt legt die antikonvulsive Therapie und die Bedarfsmedikation, die bei schweren Krampfanfällen verabreicht werden soll, fest. Er bestimmt ferner, ab welcher Anfallsdauer der Krampfanfall des Kindes medikamentös unterbunden werden soll. Diese Angaben sind im Dokumentationssystem vermerkt.

Prävention Ein durch Krampfanfälle gefährdetes Kind muss präventiv vor Verletzungen geschützt werden. Sein Bett wird großzügig mit Polstern umrandet, die jedoch die Beobachtungsmöglichkeit des Kindes nicht einschränken dürfen. Droht ein Kind während der Krampfanfälle aus dem Bett zu fallen, werden gepolsterte Bettgitter angebracht. Ist das Kind dem üblichen Gitterbettalter entwachsen, muss hier ggf. im Vorfeld eine schriftliche Erlaubnis einge-

holt und die rechtliche Situation geprüft werden.

Merke

H ●

Bei sportlichen Aktivitäten, handwerklichen Tätigkeiten oder Ausflügen werden die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen getroffen, um eine Gefährdung des Kindes zu vermeiden.

Wenn das Kind zu Sturzanfällen neigt, wird ihm ein Spezialhelm angepasst, der es bei Stürzen vor Verletzungen schützt. Eine attraktive Gestaltung sowie der zwanglose Umgang mit dem Helm sind wichtig, damit das Kind ihn tatsächlich auch täglich trägt.

Lernaufgabe

M ●

35

Leihen Sie im Sanitätsfachhandel einen Epilepsieschutzhelm und machen Sie einen Stadtbummel. Wie erleben Sie die Reaktionen der Passanten?

Kooperation bei der Medikamenteneinnahme Das Ziel der Epilepsietherapie ist die größtmögliche Anfallsfreiheit bei bestmöglicher Lebensqualität des Kindes. Daher ist es sinnvoll, bei schweren und/oder gehäuft auftretenden Anfällen das allgemeine Therapiekonzept im Behandlungsteam zu besprechen. Möglicherweise muss auf ärztliche Anordnung die Medikamentendosierung geändert oder das Medikament gewechselt werden. Wirkung und Nebenwirkung der Medikamente können am besten beurteilt werden, wenn nur wenige Medikamente gleichzeitig eingesetzt werden und so wenig wie möglich auf Bedarfsmedikamente zurückgegriffen werden muss. Im therapeutischen Team werden die Beobachtungen gemeinsam diskutiert. Die möglichen Nebenwirkungen der Medikamente müssen allen Pflegefachkräften bekannt sein, um sie ggf. rechtzeitig erkennen zu können. Die regelmäßige Medikamenteneinnahme ist für die Therapie der Epilepsie sehr wichtig. Es muss von Anfang an versucht werden, die Mitwirkung des betroffenen Kindes und seiner Eltern zu erreichen. Dazu können viele Gespräche notwendig sein.

1

Pflege von Kindern mit ZNS-Störungen

Merke

H ●

Die Beobachtungen der Pflegefachkräfte sind für den Arzt bei der Beurteilung des Therapieerfolges unerlässlich. Die Anfallsprotokolle und Pflegeberichte beinhalten nicht nur Anfallsbeschreibungen, sondern auch Verhalten und Allgemeinbefinden des Kindes. Besonderer Wert wird auf die Beobachtungen der Eltern gelegt, denen diskrete Verhaltens- und Befindensveränderungen des Kindes i. d. R. am schnellsten auffallen.

35

Es müssen eine Medikamentenapplikation und Tablettengröße gewählt werden, die die Einnahme erleichtern, sofern dies möglich ist. Viele Epilepsiemedikamente sind Retardpräparate, die nicht zermörsert werden dürfen. Die Verabreichung kann dem Kind durch das Nachtrinken seines Lieblingsgetränks erleichtert werden. Dieses erfolgt täglich konsequent gleich. Die Medikamenteneinnahme soll zu einem alltäglichen Ritual für das Kind werden, etwa wie das Zähneputzen. Der Zeitpunkt der Medikamenteneinnahme richtet sich nach den Angaben des Beipackzettels. Es wird versucht, möglichst wenige unterschiedliche Einnahmeuhrzeiten zu bestimmen (nicht mehr als 3–4 unterschiedliche Einnahmetermine), um die Lebensaktivitäten des Kindes nicht allzu sehr zu beeinträchtigen. Falls Medikamente erbrochen oder aufgrund einer therapeutischen Nahrungskarenz nicht gegeben werden können, wird mit dem behandelnden Arzt abgesprochen, wie mit der Medikation zu verfahren ist.

Minderung des Anfallsrisikos durch adäquate Lebensweise Fotostimulation, d. h. flackerndes Licht, wirkt auf viele Kinder mit Epilepsie anfallsauslösend. Diese Kinder sollten wenig oder gar nicht fernsehen, keine Computerspiele bedienen und als Jugendliche keine Discos besuchen. Im Allgemeinen wird eine ausgewogene Ernährung empfohlen, v. a. Unterzuckerungen oder Alkoholkonsum in der Pubertät sind zu vermeiden. In Einzelfällen wurden gute Erfahrungen mit der sog. ketogenen Diät im Rahmen der Epilepsie gemacht. Hierbei führt eine kohlenhydratlimitierte, protein- und energiebilanzierte und fettreiche Ernährung zur Bildung von Ketonkörpern, die

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durch eine Veränderung des Hirnstoffwechsels Auswirkungen auf die Anfälle haben sollen. Eine Beratung und Begleitung eines mit der ketogenen Diät vertrauten Therapeutenteams sind unumgänglich. Die Einnahme von weiteren Medikamenten muss mit dem behandelnden Arzt abgeklärt werden. Ein Kind mit zerebralen Krampfanfällen benötigt einen regelmäßigen Tagesablauf mit ausreichender Nachtruhe. Schlafentzug und Übernächtigung wirken häufig anfallsauslösend. Besonders wichtig ist dieser Hinweis auch für jugendliche Epileptiker, die sich von ihrem Elternhaus lösen, auf Ferienfreizeiten fahren oder in der Berufsfindungsphase sind. Sie sollen darauf achten, dass ihr Tagesrhythmus geregelt verläuft. Stresssituationen können das Auftreten von Anfällen begünstigen. Bei weiblichen Jugendlichen kann die einsetzende Menstruation zu einer Anfallshäufung führen. Infektionserkrankungen bedeuten eine zusätzliche Anfallsgefährdung. Fieber kann bei jedem anfallskranken Kind das Auftreten von Krampfanfällen begünstigen. Die Körpertemperatur des Kindes muss bei Infekten in geringen Abständen kontrolliert werden. Daher wird Fieber bei einem Kind mit Epilepsie ebenso wie bei einem Kind, das zu Fieberkrämpfen neigt, bereits frühzeitig, meist ab 38 °C konsequent auf ärztliche Anordnung medikamentös gesenkt. Wenn das Kind vor Beginn eines Krampfanfalls Auren verspürt, kann es durch das Erlernen von Biofeedback-Methoden, etwa die Konzentration auf bestimmte Dinge während der Auren, eine Selbstkontrolle normalerweise unbewusst ablaufender Körperfunktionen mit Reduktion der Anfallshäufigkeit versuchen. Diese Technik kann in Seminaren in Epilepsiezentren erlernt werden und bedarf einiger Übung, sodass ihr Einsatz erst ab dem Schulalter möglich ist.

Eltern

a ●

Es ist wichtig, dass das Kind und seine Eltern um anfallsauslösende Risikofaktoren wissen und diese konsequent vermeiden. Sinnvoll ist es, wenn ein Anfallstagebuch geführt wird, in das jeder Anfall mit Datum und Uhrzeit, seine Begleitumstände und besondere Ereignisse eingetragen werden. So gelingt eine Zuordnung der Anfälle zu möglicherweise auslösenden Ursachen.

Bestmögliche Entwicklung und soziale Integration Die Diagnose „Epilepsie“ ist für die Familie des betroffenen Kindes häufig ein großer Schock. Für viele ist ein Anfallsleiden gleichbedeutend mit einer geistigen Behinderung. Diese Befürchtung trifft jedoch nur für einen kleinen Teil der Betroffenen zu. Die Krampfanfälle sind das Symptom einer Störung im Gehirn, die jedoch nicht in jedem Fall weitreichende Folgen auf die psychomentale Entwicklung des Kindes hat.

Merke

H ●

Entgegen anderslautender Volksmeinungen schädigen Krampfanfälle nur in seltenen Fällen das Gehirn. Entscheidend für die Entwicklung des Kindes ist die zugrunde liegende Erkrankung, die zu den Krampfanfällen führt.

Je unbefangener mit einem Anfallsleiden bei einem ansonsten normal entwickelten Kind umgegangen wird, desto unproblematischer gestaltet sich die psychosoziale Entwicklung des Kindes. Es ist sinnvoll, die Lehrer des Kindes auf mögliche Krampfanfälle hinzuweisen und ihnen zu sagen, wie sie damit umzugehen haben. Damit können ihnen Ängste genommen werden, wenn es in der Schule zu Anfällen kommen sollte. Ein Krampfanfall kann für Außenstehende ein erschreckendes Ereignis sein. Der Umgang damit fällt ihnen umso leichter, je besser sie darüber informiert sind. Das therapeutische Team und Selbsthilfegruppen unterstützen die betroffenen Familien in ihrer Aufklärung, um Missverständnissen vorzubeugen. Sollten sich bei einem Kind durch die zugrunde liegende Gehirnschädigung Behinderungen ergeben, wird es einer frühzeitigen und gezielten Förderung zugeführt.

Kapitel 36 Pflege von Kindern mit Schwerstmehrfachbehinderung

36.1

Bedeutung

704

36.2

Pflege von Kindern mit schwersten Behinderungen

705

Pflege eines Kindes mit Zerebralparese

712

36.3

Pflege von Kindern mit Behinderung

36 Pflege von Kindern mit Schwerstmehrfachbehinderung 36.1 Bedeutung Heidi Schatull

36

704

Der Begriff „Schwerstmehrfachbehinderung“ wird aufgrund der meist subjektiven Einschätzung der Schwere einer Behinderung unterschiedlich interpretiert. Angeborene oder erworbene Behinderungen verhindern häufig die erwartete Entwicklung des Kindes zur Selbstständigkeit. Eine lebenslange Abhängigkeit von der Fürsorge anderer beeinflusst nicht nur das Selbsterleben und Selbstvertrauen eines Menschen, sondern das gesamte Familienleben. Tägliche intensive Pflege und Entwicklungsförderung des Kindes, Wahrnehmung regelmäßiger Therapietermine, häufige Sorgen um die Gesundheit oder wiederholte lebensbedrohliche Situationen im Alltag fordern die ganze Kraft der Eltern. Sie werden zu Experten in der Begleitung ihres Kindes in seiner Behinderung. Oft sind schon sehr junge Eltern mit Fragen über Leben und Tod, nach Behandlungszielen und -ausmaß konfrontiert. Geschwisterkinder erleben das Aufwachsen mit einem Kind, welches die meiste Aufmerksamkeit der Eltern erhält, nicht ohne Folgen für ihre eigene Entwicklung (S. 148). Kontakte zu anderen Betroffenen können ebenso wie die Inanspruchnahme organisatorischer Hilfen eine gute Unterstützung sein. Zur Beratung und Unterstützung von Familien im Umgang mit der Behinderung ihres Kindes kann die Herstellung eines Kontaktes zum Sozialdienst der Kinderklinik hilfreich sein. In Situationen schwerer Krankheit und Schwäche erleben wir alle Hilflosigkeit und Abhängigkeit. Trotzdem gibt es entscheidende Unterschiede zwischen uns und Menschen mit einer grundlegenden schweren Mehrfachbehinderung. Letztere haben ein gänzlich anderes, für uns kaum vorstellbares Erleben ihrer selbst und ihres Umfeldes, welches unser Einfühlungsvermögen und unsere Abstraktionsfähigkeit herausfordert.

Merke

H ●

Kennzeichnend für schwerste Mehrfachbehinderungen sind häufig: ● ausgeprägte Bewegungsstörungen mit dystonen oder spastischen Haltungs- und Bewegungsmustern, mitunter persistierende frühkindliche Reflexe ● Veränderungen im EEG im Sinne einer Epilepsie ● körpernahe Wahrnehmung und Kontaktaufnahme, nonverbale Kommunikation, unbefangener und unmittelbarer Ausdruck des emotionalen Erlebens ● Probleme bei Reizaufnahme und -verarbeitung ● Abhängigkeit von Hilfe für jedes der täglichen Bedürfnisse ● unreflektiertes „Echtsein“ und Leben „ganz und gar im Moment“

36.1.1 Grundlagen Prä-, peri- und postnatale schädigende Einflüsse auf die Ausbildung und Struktur des Gehirns sind ebenso wie vererbte oder chromosomal bedingte Veränderungen mögliche Ursachen für schwerste Hirnschädigungen. Dies können Infektionen mit der Folge der Meningitis oder Enzephalitis, Hirnblutungen, Sauerstoffmangel und traumatische Einflüsse (z. B. SchädelHirn-Trauma) sein, sowohl intrauterin als auch jederzeit nach der Geburt. Auch angeborene Stoffwechselstörungen (z. B. Phenylketonurie) und degenerative Hirnerkrankungen (z. B. Leukodystrophien, Morbus Canavan) führen bei fehlender Behandlungsmöglichkeit im Laufe der Entwicklung zu Zellschädigungen des Hirngewebes. Die Symptome beeinträchtigter Hirnfunktionen zeigen sich sowohl in Störungen der Wahrnehmungsverarbeitung als auch der geistigen und motorischen Fähigkeiten. Beginnt das Leben eines Kindes mit einer frühkindlichen Hirnschädigung, fehlen ihm schon wegen des häufig sehr langen Krankenhausaufenthaltes wichtige Entwicklungsanregungen in den ersten Wochen und Monaten. Im Vordergrund stehen lebensnotwendige, stabilisierende Therapiemaßnahmen, unangenehme Manipulationen, wie z. B. Blutentnahmen, der Verlust der Nähe zur Mutter und der über sie erfahrenen vestibulären und vibratorischen Reize. Von einer anfänglich muskulären Hypotonie verändern sich die Auswirkungen einer Infantilen Zerebralparese (ICP) im Laufe der ersten Lebens-

jahre oft zu spastischen Haltungs- und Bewegungsmustern mit überschießenden Reflexen, s. Kind mit Zerebralparese (S. 712). Schon in seinen ersten Lebensmonaten kann ein Kind mit motorischer Beeinträchtigung, z. B. als Folge einer ICP, die Welt kaum aktiv erforschen, nicht „begreifen“. Der Gehirnentwicklung fehlen wichtige Wahrnehmungen und damit die Basis zur Integration aller folgenden Reize, die auf das Kind in seinem Alltag einwirken. Hier setzt das Konzept der Basalen Stimulation (S. 163) (nach A. Fröhlich u. Ch. Bienstein) in Pflege und Frühförderung an. Begleitende Ergotherapie oder Heilpädagogik fördern die Wahrnehmungsentwicklung z. B. in der Sensorischen Integrationstherapie (nach J. Ayres). ▶ Überwiegend körperliche Behinderung. Kinder mit einer überwiegend körperlichen Behinderung benötigen für ihre geistige Entwicklung gerade in den ersten Lebensmonaten sehr durchdachte Sinnesanregungen zum Ausgleich ihrer motorischen Einschränkungen. Das Kind muss z. B. lernen, dass die Welt sich unterschiedlich anfühlen und dass es selber Einfluss auf sein Umfeld nehmen kann (Ich-Wirksamkeit, Erfolgserlebnisse, Entwicklung von Selbstvertrauen). Kann es sich nicht aktiv bewegen und die Welt „erobern“, ist Aufgabe der betreuenden Personen, die vielfältigen Reize des Umfeldes dosiert und verständlich strukturiert an das Kind heranzutragen. ▶ Vorwiegend geistige Behinderung. Wächst ein Kind mit einer vorwiegend geistigen Behinderung (z. B. Trisomie 21 bzw. Down-Syndrom) auf, zeigt sich häufig auch eine verzögerte motorische Entwicklung. Intensive Frühförderung in Ergotherapie und Heilpädagogik unterstützt das Kind in seiner Auseinandersetzung mit der Umwelt und seinem Verständnis des Erlebten. Der gezielte entwicklungsfördernde Umgang in den täglichen Verrichtungen und Mahlzeiten ermöglicht eine kontinuierliche Erweiterung der lebenspraktischen Fähigkeiten und des tatsächlichen „Begreifens“ (S. 150).

Pflege von Kindern mit Behinderung

36 Pflege von Kindern mit Schwerstmehrfachbehinderung 36.1 Bedeutung Heidi Schatull

36

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Der Begriff „Schwerstmehrfachbehinderung“ wird aufgrund der meist subjektiven Einschätzung der Schwere einer Behinderung unterschiedlich interpretiert. Angeborene oder erworbene Behinderungen verhindern häufig die erwartete Entwicklung des Kindes zur Selbstständigkeit. Eine lebenslange Abhängigkeit von der Fürsorge anderer beeinflusst nicht nur das Selbsterleben und Selbstvertrauen eines Menschen, sondern das gesamte Familienleben. Tägliche intensive Pflege und Entwicklungsförderung des Kindes, Wahrnehmung regelmäßiger Therapietermine, häufige Sorgen um die Gesundheit oder wiederholte lebensbedrohliche Situationen im Alltag fordern die ganze Kraft der Eltern. Sie werden zu Experten in der Begleitung ihres Kindes in seiner Behinderung. Oft sind schon sehr junge Eltern mit Fragen über Leben und Tod, nach Behandlungszielen und -ausmaß konfrontiert. Geschwisterkinder erleben das Aufwachsen mit einem Kind, welches die meiste Aufmerksamkeit der Eltern erhält, nicht ohne Folgen für ihre eigene Entwicklung (S. 148). Kontakte zu anderen Betroffenen können ebenso wie die Inanspruchnahme organisatorischer Hilfen eine gute Unterstützung sein. Zur Beratung und Unterstützung von Familien im Umgang mit der Behinderung ihres Kindes kann die Herstellung eines Kontaktes zum Sozialdienst der Kinderklinik hilfreich sein. In Situationen schwerer Krankheit und Schwäche erleben wir alle Hilflosigkeit und Abhängigkeit. Trotzdem gibt es entscheidende Unterschiede zwischen uns und Menschen mit einer grundlegenden schweren Mehrfachbehinderung. Letztere haben ein gänzlich anderes, für uns kaum vorstellbares Erleben ihrer selbst und ihres Umfeldes, welches unser Einfühlungsvermögen und unsere Abstraktionsfähigkeit herausfordert.

Merke

H ●

Kennzeichnend für schwerste Mehrfachbehinderungen sind häufig: ● ausgeprägte Bewegungsstörungen mit dystonen oder spastischen Haltungs- und Bewegungsmustern, mitunter persistierende frühkindliche Reflexe ● Veränderungen im EEG im Sinne einer Epilepsie ● körpernahe Wahrnehmung und Kontaktaufnahme, nonverbale Kommunikation, unbefangener und unmittelbarer Ausdruck des emotionalen Erlebens ● Probleme bei Reizaufnahme und -verarbeitung ● Abhängigkeit von Hilfe für jedes der täglichen Bedürfnisse ● unreflektiertes „Echtsein“ und Leben „ganz und gar im Moment“

36.1.1 Grundlagen Prä-, peri- und postnatale schädigende Einflüsse auf die Ausbildung und Struktur des Gehirns sind ebenso wie vererbte oder chromosomal bedingte Veränderungen mögliche Ursachen für schwerste Hirnschädigungen. Dies können Infektionen mit der Folge der Meningitis oder Enzephalitis, Hirnblutungen, Sauerstoffmangel und traumatische Einflüsse (z. B. SchädelHirn-Trauma) sein, sowohl intrauterin als auch jederzeit nach der Geburt. Auch angeborene Stoffwechselstörungen (z. B. Phenylketonurie) und degenerative Hirnerkrankungen (z. B. Leukodystrophien, Morbus Canavan) führen bei fehlender Behandlungsmöglichkeit im Laufe der Entwicklung zu Zellschädigungen des Hirngewebes. Die Symptome beeinträchtigter Hirnfunktionen zeigen sich sowohl in Störungen der Wahrnehmungsverarbeitung als auch der geistigen und motorischen Fähigkeiten. Beginnt das Leben eines Kindes mit einer frühkindlichen Hirnschädigung, fehlen ihm schon wegen des häufig sehr langen Krankenhausaufenthaltes wichtige Entwicklungsanregungen in den ersten Wochen und Monaten. Im Vordergrund stehen lebensnotwendige, stabilisierende Therapiemaßnahmen, unangenehme Manipulationen, wie z. B. Blutentnahmen, der Verlust der Nähe zur Mutter und der über sie erfahrenen vestibulären und vibratorischen Reize. Von einer anfänglich muskulären Hypotonie verändern sich die Auswirkungen einer Infantilen Zerebralparese (ICP) im Laufe der ersten Lebens-

jahre oft zu spastischen Haltungs- und Bewegungsmustern mit überschießenden Reflexen, s. Kind mit Zerebralparese (S. 712). Schon in seinen ersten Lebensmonaten kann ein Kind mit motorischer Beeinträchtigung, z. B. als Folge einer ICP, die Welt kaum aktiv erforschen, nicht „begreifen“. Der Gehirnentwicklung fehlen wichtige Wahrnehmungen und damit die Basis zur Integration aller folgenden Reize, die auf das Kind in seinem Alltag einwirken. Hier setzt das Konzept der Basalen Stimulation (S. 163) (nach A. Fröhlich u. Ch. Bienstein) in Pflege und Frühförderung an. Begleitende Ergotherapie oder Heilpädagogik fördern die Wahrnehmungsentwicklung z. B. in der Sensorischen Integrationstherapie (nach J. Ayres). ▶ Überwiegend körperliche Behinderung. Kinder mit einer überwiegend körperlichen Behinderung benötigen für ihre geistige Entwicklung gerade in den ersten Lebensmonaten sehr durchdachte Sinnesanregungen zum Ausgleich ihrer motorischen Einschränkungen. Das Kind muss z. B. lernen, dass die Welt sich unterschiedlich anfühlen und dass es selber Einfluss auf sein Umfeld nehmen kann (Ich-Wirksamkeit, Erfolgserlebnisse, Entwicklung von Selbstvertrauen). Kann es sich nicht aktiv bewegen und die Welt „erobern“, ist Aufgabe der betreuenden Personen, die vielfältigen Reize des Umfeldes dosiert und verständlich strukturiert an das Kind heranzutragen. ▶ Vorwiegend geistige Behinderung. Wächst ein Kind mit einer vorwiegend geistigen Behinderung (z. B. Trisomie 21 bzw. Down-Syndrom) auf, zeigt sich häufig auch eine verzögerte motorische Entwicklung. Intensive Frühförderung in Ergotherapie und Heilpädagogik unterstützt das Kind in seiner Auseinandersetzung mit der Umwelt und seinem Verständnis des Erlebten. Der gezielte entwicklungsfördernde Umgang in den täglichen Verrichtungen und Mahlzeiten ermöglicht eine kontinuierliche Erweiterung der lebenspraktischen Fähigkeiten und des tatsächlichen „Begreifens“ (S. 150).

36.2 Pflege von Kindern mit schwersten Behinderungen

36.2 Pflege von Kindern mit schwersten Behinderungen 36.2.1 Pflegebedarf einschätzen Folgende Pflegeprobleme können im pflegerischen Umgang mit Kindern mit schweren Behinderungen bedeutsam sein: ● Kommunikationsschwierigkeiten durch fehlendes Sprachverständnis und sehr individuelle Ausdrucksweise ● hoher Unterstützungsbedarf infolge fehlender Selbstständigkeit im lebenspraktischen Bereich ● Autostimulationen (Stereotypien, Autoaggressionen) aufgrund von Schmerzen oder Angst ● Unsicherheit, Angst, Abwehr aufgrund zentraler Wahrnehmungsstörungen ● Gefährdung durch veränderte Schmerzwahrnehmung und -äußerung ● Beeinträchtigung von Körperhaltung und Bewegung durch Infantile Zerebralparese (ICP) und persistierende Reflexe (frühkindliche Reflexe behalten ihren Einfluss auf Haltung und Bewegung) ● Auftreten von Krampfanfällen ● erschwerte Nahrungsaufnahme, hohes Aspirations- und Pneumonierisiko bei Schluckstörungen ● Dekubitusgefahr bei Immobilität ● Kontrakturengefahr aufgrund von Lähmungen ● Verletzungsgefahr ● Gefahr der Gedeihstörung bei gastroösophagealem Reflux (GÖR) – Mageninhalt läuft in die Speiseröhre zurück mit der Folge des Spuckens, Erbrechens ● Gefahr der Aspirationspneumonie bei GÖR (Aspiration durch Zurücklaufen von Mageninhalt in den Rachen) ● Obstipationsrisiko, Gefahr des Ileus bei Immobilität

Definition

L ●

Stereotypien sind Verhaltensweisen in ständiger Wiederholung (z. B. Bewegungen, Lautieren, Ordnen von Dingen), die nach außen sinnlos erscheinen. Sie geben dem Betroffenen ein Gefühl von Sicherheit, da er diese Reize selbst kontrollieren kann. Autoaggressionen sind selbstverletzende Verhaltensweisen (z. B. Beißen, Schlagen, Ritzen, Ruminieren [aktives Hochwürgen von Nahrung]). Sie dienen dazu, eine große innere Not „zu übertönen“.

36.2.2 Pflegeziele und -maßnahmen Ein Kind mit Behinderung ist aufgrund seiner sehr individuellen, oft nichtsprachlichen Kommunikation und eingeschränkten Selbstständigkeit nicht in der Lage, sich zu erklären, Hilfe zu holen oder Schmerzen zu beschreiben. Die pflegerische Betreuung ist eine sehr aufmerksame ganzheitliche Begleitung, die neben der Behandlung der akuten Erkrankung immer auch die behinderungsbedingt veränderten Körperfunktionen im Blick hat.

Gelingende Kommunikation Merke

H ●

„Man kann nicht nicht kommunizieren“ (P. Watzlawick).

Eltern

a ●

Im Aufnahmegespräch sollten das Sprachvermögen und -verständnis des Kindes erfragt werden. Wichtig sind auch Informationen zu vertrauten Initialberührungen (S. 310), Signalworten und -gesten, die z. B. Handlungen einleiten oder deren Ende anzeigen. Diese Kenntnisse ermöglichen eine bestmögliche Kommunikation mit dem Kind.

Mimik, Lautäußerungen, Körperhaltung oder Abwehrbewegungen verstehen wir i. d. R. gut. Ein Kind mit schwerster Behinderung drückt sich, wie auch wir, über Atmung, Körperspannung (S. 223), Herzschlag, Schwitzen oder Erröten aus. Besitzt das Kind jedoch Hilfsmittel zur Orientierung und Kommunikation (S. 229), wie Hörgeräte, Brille, Bildtafeln, Talker oder Tablet, sollten diese während des Krankenhausaufenthaltes auch zur Verfügung stehen. Das Nicht-verstandenWerden im fremden Umfeld ist für das Kind eine zusätzliche und vermeidbare Belastung. Bei Aufnahme des Kindes erfolgt eine Einweisung durch die Eltern in den korrekten Umgang z. B. mit allen Geräten, die auch schriftlich für alle an der Pflege Beteiligten festgehalten wird. ▶ Kommunikation durchdacht gestalten. Immer gleiche Abläufe und Begriffe in den Pflegesituationen helfen dem Kind zur Orientierung und Entwicklung eines Sprach- und Situationsverständnisses. In einfachen Sätzen wird der jeweils nächste Handlungsschritt erklärt. Bei der Durchführung wird dann die Reaktion des Kin-

des als sein Mittun und Antworten aufmerksam wahrgenommen. Zur Förderung des Miteinanders können die beobachteten Reaktionen im Sinne des verbalisierenden Zuhörens in Worte gefasst werden (z. B. „kaltes Wasser magst du nicht, nicht wahr?“). Jedoch sprechen wir nicht pausenlos, um die Wahrnehmungsverarbeitung nicht auf zu vielen Ebenen (akustisch, taktil, somatisch, emotional) gleichzeitig zu fordern. Menschen mit Störungen in der sensorischen Integration (s. ▶ Tab. 16.3) können Wahrgenommenes schlecht filtern, nichts ausblenden und Wichtiges kaum von Unwichtigem trennen.

Praxistipp Pflege

Z ●

Pflegemaßnahme ankündigen: Körperteil berühren, benennen, intensive Reize vorab fühlen lassen, z. B. nasser Waschlappen, Desinfektionsspray. Maßnahme kreativ mit bekannten Begriffen einführen, z. B. vor dem Spray: „Jetzt muss die Hand noch einmal duschen.“ Pflegemaßnahme durchführen: mit nur wenigen Begriffen verbal begleiten, dabei Körperkontakt möglichst nicht unterbrechen. Ende der Maßnahme: durch bekannte Begriffe, z. B. „alles fertig“, Berührung oder Geste das Ende mitteilen.

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Entwicklungsförderung zu lebenspraktischer Selbstständigkeit und Selbstbestimmung Für viele Kinder mit schwersten Mehrfachbehinderungen bedeutet „Selbstständigkeit“ z. B. das Verstehenlernen eines immer wiederkehrenden Reizes und u. U. das adäquate Reagieren. Das kann das Öffnen des Mundes beim Anblick oder Geruch der Zahnbürste oder des Löffels sein. Dieses Lernen wird ermöglicht durch immer gleiche Abläufe mit Zeit zur Wahrnehmung. ▶ Zahnpflege. Ein möglicher Ablauf zu Beginn des Zähneputzens kann sein, das Kind die nasse Zahnbürste sehen, an der Hand fühlen und die Zahncreme (sehr wenig nehmen, denn Schaum im Mund kann Würgen auslösen) auf der Bürste riechen zu lassen. Den Mund erst trocken, dann mit der feuchten Zahnbürste berühren und die Lippen sanft zum Putzen der Zähne öffnen. Gemeinsam geschieht das Zähneputzen, wenn das Kind seinen Beitrag leistet, den Mund so lange nötig offen und locker zu lassen. Kann das Kind die

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Pflege von Kindern mit Behinderung Zahnbürste umfassen und mit Hilfe zum Mund führen, unterstützen wir dies. Immer gleiche Abläufe der Reize beim Zähneputzen (von Eltern erfragen) helfen, dem Kind seinen Mundraum vertraut zu machen. Dies kann helfen, Manipulationen im Mund (Schlucktraining, Mundstimulation, Essen) ohne Beißreflex oder Würgereiz tolerieren zu lernen. Ein ständiger Speichelsee im Mund (häufig aufgrund von Wahrnehmungs- und Schluckstörungen) führt zu Zahnstein. Auch um die für Zahnbehandlungen u. U. notwendige Narkose zu vermeiden, ist es wichtig, das Kind an regelmäßige Zahnpflege zu gewöhnen.

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▶ Motorische Förderung. Auch Kinder mit Bewegungsstörungen werden, soweit schmerzfrei möglich, in die Bewegungen beim An- und Auskleiden und Waschen einbezogen. Bei einem solchen Handling wird das Kind z. B. nicht passiv en bloc vom Rücken auf die Seite gedreht, sondern die Pflegefachkraft leitet die Drehung z. B. von der Hüfte her ein und fordert das Kind auf, den Oberkörper aktiv zu drehen. Hier können die Physiotherapeuten den Pflegenden und Eltern Anregungen zum individuellen entwicklungsfördernden Handling geben. Auch Kinder mit Infantiler Zerebralparese (ICP) werden, soweit möglich, in alle Verrichtungen der täglichen Versorgung einbezogen. Voraussetzung ist eine stabile Basis als Ausgangsposition. Die Füße müssen beim Sitzen fest aufstehen, Hüft- und Kniestreckung sollten vermieden werden, damit das Kind sich auf die geforderte Bewegung beim Entkleiden oder Waschen konzentrieren kann. Beim Ankleiden gilt, Extremitäten schiebend vom Rumpf des Kindes her in die Kleidung zu bringen. So erfährt das Kind, in welche Richtung es agieren soll. Das Ziehen an Extremitäten kann Gegenzug auslösen, nicht jedoch die Bewegung, die gefördert werden soll. ▶ Erfolgserlebnisse motivieren. Zur Förderung der Selbstständigkeit übernimmt die Pflegefachkraft die ersten Schritte einzelner Verrichtungen und überlässt dem Kind die erfolgreichen letzten Tätigkeiten. Beispielsweise streift der Erwachsene den Pulli nur so weit über den Kopf, dass das Kind den letzten Handgriff verrichten und den Pullover ganz an- oder ausziehen kann, wofür es dann ein großes Lob erhält. Hilfreich ist, immer dieselbe Reihenfolge (zuerst die motorisch und in der Wahrnehmung bessere Seite) im Ablauf durchzuführen, da Lernen durch ständiges Wiederholen geschieht. Der Aufbau eines Körperbildes ist Voraussetzung dafür, z. B. die Hand zum Waschlappen zu reichen, aktiv mitzuhelfen. Voraus geht, dem Kind ein Körperbild im Sinne einer positiven

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Selbstwahrnehmung zu vermitteln. Aufgrund unberechenbarer plötzlicher Anfälle und Spasmen erlebt ein Kind mit Schwerstmehrfachbehinderung sich über seinen Körper eher negativ. Die Art der Berührungen im Pflegegeschehen macht dem Kind seinen Körper und auch sich selbst bewusst, lässt es spüren, wie annehmbar und wertgeschätzt es ist. Immer gleiche Abläufe vermitteln dem Kind ein verlässliches Erleben seiner selbst. Es kann „in sich“ stabiler werden und aus diesem „Selbst-Bewusstsein“ heraus eine Grundlage für gezielte Reaktionen entwickeln. Selbstständigkeit, sei es Handlungsfähigkeit oder das Voraussehen des Geschehens, befähigt ein Kind dazu, sich zu wehren. Auch wenn es weniger leicht lenkbar ist, darf es seine eigene Position beziehen. Von der Pflegefachkraft fordert dies ein hohes Maß an Geduld und Professionalität.

Merke

H ●

„Der Mensch wird am DU zum ICH“ (Martin Buber).

▶ Positionierung durchdacht gestalten. Bei der Positionierung der Kinder mit seitenbetonter ICP wird bedacht, das Kind nicht auf die motorisch aktive und sensiblere Hand zu legen, damit es das Spielmaterial tatsächlich erreichen kann. Die Position sollte grundsätzlich keine Fehlhaltung unterstützen, z. B. wird der Kopf bei Opisthotonus in Bauchlage nicht unterlagert oder eine vorhandene Skoliose in Seitenlage durch die Aufrichtung des BettKopfteiles nicht verstärkt. ▶ Orientierung ermöglichen/emotionale Stabilität. Gerade ein Kind mit geistiger und/oder körperlicher Behinderung muss bei der Aufnahme deutliche Hilfen zu seiner Orientierung erhalten. Es bekommt die wichtigen Zimmer der Station und den Standort der vertrauten Kleidung und Toilettensachen gezeigt. Die tägliche Erfahrung der von zu Hause bekannten Pflegetätigkeiten vermittelt ein Gefühl der Sicherheit (ritualisierte Abläufe von Eltern erfragen, z. B. Reihenfolge des Aus- und Ankleidens, die das Kind kennt und bei der es mithelfen kann). Das Kind soll sich der Pflege, Diagnostik und Therapie nicht ausgeliefert fühlen, sondern im Rahmen seiner Möglichkeiten mitwirken dürfen (s. unter Selbstbestimmung). Kindern mit schwerer zerebraler Schädigung fehlt häufig die zeitliche und räumliche Orientierung, sodass in ihrer Wahrnehmung alles und jeder, der gerade nicht erlebbar ist, „ganz fort ist“. Halten wir im Verlauf einer

Pflegemaßnahme kontinuierlich den Kontakt durch Berührung oder Sprechen mit dem Kind, wenn wir uns von diesem entfernen, hilft ihm das zur Orientierung und Sicherheit. Auch benötigen viele Kinder mit geistiger Behinderung zu ihrer emotionalen Sicherheit immer gleich verlaufende, berechenbare Abläufe. Schon kleinste Veränderungen und für sie unverständliche Wahrnehmungen im Klinikalltag können sie überfordern und sehr verunsichern. ▶ Stereotypes Verhalten ist sinnvoll. Um ihre Welt wieder in den Griff zu bekommen, reagieren diese Kinder u. U. mit stereotypen (z. B. Kopfschaukeln) oder sogar selbstverletzenden (z. B. Schlagen, Beißen) Verhaltensweisen. Das Unterbinden solcher Stereotypien bringt das Kind mitunter in höchste innere Not, für die es ein anderes Ventil finden muss. Mit diesen intensiven selbst gesetzten Reizen konzentriert sich das Kind auf sich selbst, hat Kontrolle über seine Wahrnehmung und kann sich innerlich von dem äußeren Geschehen distanzieren (▶ Tab. 36.1). So kann es z. B. im Bereich der Wahrnehmung zu irritierenden Störungen kommen. Man unterscheidet: ● propriozeptive Wahrnehmung (das eigene Innere spüren, z. B. Spannung der Muskulatur, Stellung der Gelenke) ● somatische Wahrnehmung (den Körper betreffend) ● taktile Wahrnehmung (Empfindung auf der Haut) ● haptische Wahrnehmung (aktives Befühlen)

Merke

H ●

Jedes stereotype, scheinbar sinnlose Verhalten beantwortet eine innere Not und erfüllt einen Zweck. Selbstverletzende Verhaltensweisen können Ausdruck großer Verzweiflung und Hilflosigkeit, aber auch des Bedürfnisses nach kontrollierter Wahrnehmung bei extremer Hyposensibilität oder Hypersensibilität mancher Wahrnehmungskanäle sein.

Lernaufgabe ●



M ●

Welche immer gleich verlaufenden Verhaltensweisen beobachten Sie (bei sich) in Stresssituationen? Welche selbstverletzenden Verhaltensweisen sind Ihnen bekannt? Überlegen Sie, welchen inneren Nöten damit begegnet wird.

36.2 Pflege von Kindern mit schwersten Behinderungen

Tab. 36.1 Verhaltensweisen bei Wahrnehmungsstörungen, mögliche Ursachen und Maßnahmen. auffälliges Verhalten

mögliche Ursachen/Ziele

Maßnahmen

Veränderte propriozeptive (p) und somatische (s) Wahrnehmung ● ●

● ●





● ●

Weinen bei fehlender Begrenzung Kraftaufwand ist unverhältnismäßig stark (verletzt Personen beim Anfassen, zerdrückt Material, zerbeißt Gläser) kneift, kratzt, schlägt oder beißt sich selber Ruminieren (Heraufwürgen von Nahrung und erneutes Kauen) Atmung aktiv angestrengt schnaufend, prustend, pressend aktives Anspannen und Überstrecken von Körperteilen wiederholte bizarre Fingerhaltungen Stehen und Gehen auf Zehenspitzen

„Nestlage“, auch in Pflegesituation, Umgrenzung durch Handtuch, Seitenlage Körperkontakt während Pflegemaßnahme beibehalten, Loslassen signalisiert Ende der Maßnahme feste Berührungen langsame, klare Bewegungen mit Waschlappen, Handtuch, Körperform „nachmodellieren“, nicht „wischeln“/streicheln Aufbau des Körpers vermitteln durch festgelegte Reihenfolge des Waschens (Beginn dort, wo eine gute Körperwahrnehmung vermutet wird: z. B. Rumpfvorderseite – rechter Arm – linker Arm)

Körpergrenzen, -form werden nicht wahrgenommen, ein „Verlorensein“, Haltlosigkeit erlebt (s) Kraftaufwand kann nicht eingeschätzt und nicht dosiert werden (p) Ausdruck des Bedürfnisses nach „ZuhauseSein“, Gespür, Kontrolle und Sicherheit im eigenen Körper (p/s) intensive Spannung vermittelt eine Ahnung/ Wahrnehmung des eigenen Körpers (p) Zehenspitzengang intensiviert durch reduzierte Fläche Auflagedruck und Wahrnehmung (p)



Erzeugen von Vibration durch Autostimulation



Hyposensibilität – taktile Reize werden evtl. als Irritation, unangenehmes Kitzeln erlebt (t) Hypersensibilität – taktile Reize können als Schmerz erlebt werden (t) Suche nach eindeutiger taktiler Wahrnehmung: Es wird mehr Kraft eingesetzt beim Manipulieren mit Gegenständen und in der Kontaktaufnahme (h) Suche nach klaren kontrollierbaren Informationen (h) Suche nach Informationen über das Umfeld bei mangelnder taktil-haptischer Wahrnehmung





Defizit in der vestibulären Wahrnehmung – Suche nach vestibulären Erfahrungen



wenn möglich, Schaukel- und Drehbewegungen in Hängematte, auf Schoß, auf Spielplatz anbieten



Hypersensibilität im vestibulären Bereich



auf Drehungen vorbereiten, sehr langsames Drehen bei der Positionierung und in der Pflegesituation, Kontakt zur Unterlage beibehalten



Erzeugung von Sinnesreizen bei Mangel an Höreindrücken oder zentral bedingter Hyposensibilität Reaktion auf Ohrgeräusche oder Schmerzen in den Ohren irritierende Höreindrücke bei Hypersensibilität, Bedürfnis nach Kontrolle über akustische Eindrücke, Erzeugen eigener Geräusche als Versuch des Ausblendens



Ansprache von vorne mit Blickkontakt auf Pflegemaßnahmen vorbereiten durch Zeigen von Materialien, Berührung des Körpers akustische Reizüberflutung verhindern akustisches Umfeld gezielt gestalten, Musik gezielt anbieten, kein Radio, für Ruhezeiten sorgen Kommunikation mit klaren Worten, kurzen Sätzen gestalten (ständiges Reden vermeiden)

Erzeugung von Seheindrücken bei Blindheit, Spüren des Auges bei Hyposensibilität Bedürfnis nach Kontrolle über visuelle Eindrücke bei Hypersensibilität, verwirrende Seheindrücke meiden















● ●



veränderte vibratorische Wahrnehmung ●

● ●

Anschlagen von Körperteilen (Kopf, Extremitäten) Schlagen, Boxen im Kopfbereich Brummen





elektrische Zahnbürste verwenden spielerisches Anbieten von Vibration z. B. durch Massagestab, Massagematte

36

veränderte taktil-haptische Wahrnehmung (t) (h) ●







● ● ●

Weinen in der Pflegesituation, Ausweichen, Kind will sich nicht anfassen lassen Anfassen nur mit minimaler Berührungsfläche, Fingerspitzen verletzt Kontaktperson durch Kneifen/Kratzen Gegenstände werden beim Anfassen zerdrückt Wischeln mit den Händen Klopfen auf Umfeld, Gegenstände orale Exploration, Gegenstände werden über den Mund befühlt, erfahren

















intensive Wahrnehmung ermöglichen durch Anbieten fester eindeutiger Materialien in der Pflege thermische Reize (kühleres oder wärmeres Wasser beim Waschen) eigene emotionale Reaktion auf scheinbar „zerstörerisches“ Verhalten des Kindes kontrollieren, um Kind nicht zu entmutigen Ergotherapeut auf Verhalten des Kindes hinweisen

veränderte vestibuläre Wahrnehmung ● ● ●

Schaukeln mit Körper im Liegen/Sitzen Hin- und Herwenden des Kopfes Umherlaufen

Drehbewegungen lösen Folgendes aus: einschießende Spasmen ● Krampfanfälle ● Übelkeit ●

veränderte auditive Wahrnehmung ●

● ● ● ●

Manipulationen am Ohr (Schlagen, Druck, Bohren) Weinen, Schreien Kopfschaukeln Ohren zuhalten Erzeugen eigener Geräusche (Schreien, Tönen, Lautieren, Klopfen, Brummen)







● ●



veränderte visuelle Wahrnehmung ● ● ● ●

● ●

Manipulationen an Augen (Druck, Bohren) wiederholtes Augenverdrehen Schauen in grelles Licht Augenschließen, Blinzeln, nur sehr kurzes Hinschauen Kopfbewegungen Hand-/Fingerbewegungen dicht vor den Augen











Licht- und Sehangebote mit intensiven Kontrasten (großflächige klare SchwarzWeiß-Muster) anbieten bei vermindertem Sehvermögen Umfeld optisch reizarm/überschaubar gestalten nur wenige Materialien auf dem Nachttisch oder beim Essen bereitstellen auf Pflegemaßnahmen durch Befühlen von Materialien, Berühren des Körperteiles, klare Worte vorbereiten

7

Pflege von Kindern mit Behinderung

Wahrnehmungsverarbeitung, Verstehen ermöglichen

36

Zentrale Wahrnehmungsstörungen können z. B. das Sehen, Hören, Fühlen, Riechen, Schmecken, das Körperempfinden oder den Gleichgewichtssinn betreffen. Reize können hyper- oder hyposensibel wahrgenommen werden. Dies kann einzelne oder mehrere Sinneskanäle betreffen, muss aber nicht gleichbleibend vorhanden sein. Störungen in der Integration wahrgenommener Reize bedeuten für das Kind u. U., sich Erlebtes nie merken, es nie verstehen oder deuten zu können. Für alle Kinder mit zerebraler Schädigung ist die Gestaltung des Umfeldes und der Pflegesituation mit klaren eindeutigen Reizen von großer Bedeutung. Die Verarbeitung mehrerer Sinneseindrücke zusätzlich zu den immer vorhandenen körpereigenen Wahrnehmungen kann das Kind leicht überfordern. Alleine das Waschen fordert die Wahrnehmung des Kindes im Bereich der taktil-somatischen, olfaktorischen, thermischen, akustischen, visuellen Wahrnehmung.

Praxistipp Pflege

Z ●

Während der Pflegesituation oder wenn das Kind z. B. Atmung und Schluckvorgang koordinieren muss, wird das Reizumfeld durchdacht gestaltet: Radio oder CD ausschalten, keine Gespräche nebenbei führen.

Lernaufgabe

M ●

Überlegen Sie, welche Sinne z. B. beim Zähneputzen oder der Positionierung angesprochen werden. Was erlebt das Kind? Was sieht und hört es? Was macht ihm u. U. Angst? – Wie können Sie helfen?

▶ Veränderte Schmerzwahrnehmung. Wichtig für den pflegerischen Umgang ist das Wissen über eine mögliche verminderte Schmerzwahrnehmung des Kindes. Unangenehme Maßnahmen, wie z. B. Blutentnahmen oder das Anlegen eines venösen Zugangs, sollten entsprechend an der schmerzunempfindlicheren Seite erfolgen, bedürfen aber auch besonders guter und häufiger Beobachtung. Das Kind wird Schmerzen bei paravenös laufenden Infusionen kaum spüren oder mitteilen können. Auch entstehende Druckgeschwüre oder im Bettgitter eingeklemmte Extremitäten wird ein Kind mit verminderter Schmerzwahrnehmung nicht frühzeitig mitteilen.

708

Eltern

a ●

Eltern können ihrem Kind helfen, indem sie den Bereich des venösen Zugangs im Blick behalten und frühzeitig auf Veränderungen wie Schwellungen und Rötungen im Verlauf der Vene hinweisen.

▶ Taktile Übersensibilität. Eine Hypersensibilität im Bereich der taktilen Wahrnehmung kann jeglichen Berührungsreiz als Schmerz erleben lassen. Hilfreich sind deutliche klare Reize, ggf. auch eine Lageveränderung zur Reduzierung der Muskelspannung (s. frühkindliche Reflexe), die dann auch Einfluss auf die Wahrnehmung hat. Beim Essen löst Übersensibilität im Mundbereich häufig schon weit vorne den Würgereiz aus. Hier ist der Einbezug von Logopäden oder Therapeuten mit Erfahrung in orofazialer Rehabilitation hilfreich. Spürt das Kind bei taktiler Hyposensibilität im Mundraum sehr wenig, ist größte Vorsicht geboten. Nahrung oder Flüssigkeit gelangen schneller in den Rachen, als das Kind sie wahrnehmen und darauf reagieren kann. Diese Kinder fallen häufig durch Vorlieben für intensiv schmeckende Speisen auf, auch durch häufiges Verschlucken und Husten während und nach der Mahlzeit. Wichtig ist, das mehrmalige Abschlucken nach einem Löffel Nahrung zu beobachten. Bei Kindern mit Sensibilitätsstörungen im Mundraum ist pürierte Nahrung mit gröberen Anteilen für die Umstellung von breiiger zu festerer Kost ungeeignet. Die Unterscheidung der Konsistenzen ist diesem Kind nur schwer möglich. Sobald es Brei im Mundraum spürt, schluckt das Kind, ohne die groben Anteile wahrgenommen, zerdrückt oder gekaut zu haben. Es besteht ein hohes Aspirationsrisiko. Zur Anbahnung des Kauens sind eindeutige Reize wichtig. Bei hohem Aspirationsrisiko können feste Stücke, z. B. Obst oder Gummibärchen, in ein Stück Schlauchmull eingelegt, angefeuchtet und zum Kauen zwischen die Backenzähne gehalten werden. Das Ende des Schlauchverbandes wird außen festgehalten (▶ Abb. 36.1). Durch eine entsprechende Ausgangsposition mit leicht vorgeneigtem Kopf (Sitzen oder Seitenlage) wird die Aspiration des dabei reichlich entstehenden Speichels verhindert. ▶ Somatische Wahrnehmung. Spürt ein Kind sich aufgrund einer reduzierten somatischen Wahrnehmung kaum, kann es dies als sehr verunsichernd erleben, da es keinen Halt in sich und scheinbar keine Begrenzung hat. Hilfreich bei weinenden Kindern in der Pflegesituation (fehlende Kleidung und flache Rückenlage bewirken Verlust der Selbstwahrnehmung, Haltlo-

Abb. 36.1 Kautraining. Kausäckchen für Kauübungen bei hohem Aspirationsrisiko. (Foto: H. Schatull, Ingelheim)

sigkeit) ist, sie rundum etwas spüren zu lassen (S. 250), z. B. ein großes gerolltes Handtuch (Nest). Ebenso kann die Seitenlage durch das intensivere Spüren des eigenen Körpers (Knie an Knie, Fuß an Fuß, Arm an Rumpf, Hand an Hand) dem Kind Sicherheit bieten. Berührungen erfolgen großflächig und langsam, sodass das Kind diese bewusst mitverfolgen kann. Auch das Drehen des Kindes geschieht mit deutlichem Kontakt zur Unterlage und einem Tempo „zum Mitdenken“. ▶ Vestibuläre Wahrnehmung. Erlebt ein Kind vestibuläre Reize hypersensibel, kann schon das Drehen bei der Positionierung oder in der Pflegesituation Schwindelgefühle, Angst, einschießende Spasmen oder Krampfanfälle auslösen. Intensive vestibuläre Reize (Schaukeln, Drehen auf dem Spielplatz) können Übelkeit oder Durchfälle nach sich ziehen. Hier gilt es, Fehlinterpretationen und -behandlungen zu vermeiden.

Merke

H ●

Auf Hypo- oder Hypersensibilitäten der unterschiedlichen Wahrnehmungskanäle kann das Kind mit Rückzug, aber auch mit Autostimulation reagieren. Diese dienen dazu, sich verlässliche, weniger irritierende Eindrücke zu verschaffen (▶ Tab. 36.1).

Erkennen von Schmerzen Kinder mit schwersten Mehrfachbehinderungen äußern Schmerzen nicht nur durch Weinen, deutliche Mimik oder Reaktionen auf Berührung oder Bewegungen. Jedes veränderte Verhalten kann Ausdruck von Schmerzen sein (▶ Abb. 36.2). Informationen über das normale Verhalten, Reaktionen sind von den Eltern zu erfragen.

36.2 Pflege von Kindern mit schwersten Behinderungen ●

Schweißausbrüche,



Tachykardie, Atmung flach, verhalten, stoßweise

C

erebrale Anfälle nehmen zu

H

ypertonus der Muskulatur, Überstreckung von Kopf, Rumpf, Gelenken, Spastik nimmt zu, Zähneknirschen

Magenprobleme, Appetitverlust, Würgen, Erbrechen, Gastritis, Hämatin

Einschlaf- und Durch-

schlafstörungen, Unruhe, lange Schlafphasen

Rückzug, Apathie,

Interessenverlust, Weinen, will nicht alleine sein, ernst, ängstliche Mimik

Z

unahme von Autostimulation, Selbstverletzung

Abb. 36.2 Schmerzen. Lang anhaltende Schmerzen äußern sich vielfältig bei Kindern mit schwersten Behinderungen.

Merke

H ●

Die mögliche Beruhigung eines Kindes durch Körperkontakt und liebevolle Zuwendung schließt das Vorhandensein von Schmerzen nicht aus.

Entspannte Pflegesituation bei persistierenden frühkindlichen Reflexen Bei Vorhandensein einer ICP können bestimmte Auslöser im Alltag zu plötzlich einschießenden oder anhaltenden spastischen Reaktionen führen. Diese sind nicht immer eindeutig von epileptischen Krampfanfällen zu unterscheiden. Der Umgang in der Pflege muss langsam, vorbereitend und einbeziehend, mit und nicht nur am Kind geschehen. Vor der Durchführung von Maßnahmen sollten Pflegende die Aufmerksamkeit des Kindes dafür gewonnen haben. Spastikauslöser können sein: ● Erschrecken durch ○ unerwartetes oder festes Anfassen ○ unerwartete (Rollstuhl-)Bewegungen, Lagewechsel ○ unerwartete Wahrnehmungen (z. B. Ansprechen oder körpereigene Reize, wie z. B. Gähnen) ● emotionale Erregung ● Angst/Freude

● ●

Anforderungen, Stressempfindung Anstrengung Schmerzen gastroösophagealer Reflux, Gastritis (Entzündung der Magenschleimhaut), Harnwegsinfekt, Otitis, Obstipation, Zahn-, Muskel-, Gelenkschmerzen

Frühkindliche Reflexe sind Teil der normalen motorischen Entwicklung, sollten sich aber im Verlauf des 1. Lebensjahres verlieren. Sie steuern z. B. über die Nackenstellung (Kopfseitwendung, Nackenbeugung oder -streckung) oder die Lage des Kopfes im Raum die Spannung und das Zusammenspiel von Muskelgruppen im Rumpf und den Extremitäten (▶ Abb. 36.3). In der Pflegesituation, aber auch für diagnostische oder therapeutische Maßnahmen ist die Kenntnis solcher Reflexe von Vorteil, da viele Kinder mit ICP dem Einfluss dieser persistierenden Reflexe unterliegen. Beim Ankleiden und Auskleiden, zum Punktieren einer Vene oder Anlegen der Blutdruckmanschette müssen Extremitäten gebeugt und gestreckt werden. Für Kind und Pflegende ist es anstrengend und unangenehm, gegen Widerstand arbeiten zu müssen. Unterliegt das Kind z. B. dem Einfluss des ATNR (asymmetrisch tonischer Nackenreflex), kann das Drehen des Kopfes das Strecken des gesichtsseitigen Armes oder Beines und Anbeugen der hinterkopfseitigen Extremitäten erleichtern (▶ Abb. 36.4). Die Raumlage des Kopfes (Gesicht zu Boden oder nach oben gewandt) steuert über den Tonischen Labyrinthreflex (TLR) den gesamten Strecker- oder Beugertonus im Körper. Mit dem Gesicht nach unten kann das Kind bei Einfluss des TLR aufgrund der Beugung im ganzen Körper den Kopf nicht anheben, um in Bauchlage seine Atemwege frei zu halten. Ist das Gesicht jedoch nach oben gewandt, kommt es zur Streckung und Anspannung aller Muskeln. Taktile Reize können unter Anspannung irritierend oder schmerzhaft empfunden werden, sodass die Pflegesituation sehr belastend sein kann. Ein Lagewechsel aus der Rücken- in die Seitenlage bringt allen Beteiligten möglicherweise schon Entspannung.

Eltern

a ●

Ständige einseitige Körperhaltungen und Gelenkstellungen unter dem Einfluss persistierender frühkindlicher Reflexe bergen das Risiko von Kontrakturen und Luxationen. Unterstützende Tipps zu Handling und Positionierung des Kindes können die Physiotherapeuten geben.

Erkennen von Krampfanfällen Aufgrund der schweren Hirnschädigung entwickelt sich bei Kindern mit schwersten Mehrfachbehinderungen häufig eine therapieresistente Epilepsie (S. 697). Plötzliche oder auch ständige Krampfanfälle begleiten den Alltag des Kindes. Viele der im EEG nachgewiesenen Anfälle stellen sich klinisch nicht oder nur schwer erkennbar (Schmatzen, Schlucken, schweißige Hand- und Fußflächen, Zunahme des Nystagmus, Reaktionen nur auf starke Reize) dar, beeinflussen aber Wahrnehmung und Reaktionsfähigkeit des Kindes. Weinen, Innehalten, Würgen können Reaktionen auf Erlebnisse des Kindes im Rahmen einer Aura oder auf sensorische Anfälle sein. Gehäuft können Anfälle als frühe Anzeichen oder im Rahmen eines Infektes auftreten, bei Obstipation (S. 386), im Fieberanstieg (S. 285), vor der Regelblutung oder bei instabilen Wetterlagen. Zeigt das Kind anfallsverdächtige Bewegungsabläufe mit generalisierter Streckung, müssen differenzialdiagnostisch auch Schmerzen bei gastroösophagealem Reflux (S. 711) oder aber einschießende Spasmen im Rahmen einer zerebralen Bewegungsstörung (S. 712) bedacht werden. Bei anfallsbedingtem ständigen Schlucken und Schmatzen besteht ein hohes Aspirationsrisiko beim Anreichen von Speisen.

Eltern

36

a ●

Eltern müssen auf anfallsverdächtige Bewegungen und Verhaltensweisen ihres Kindes hingewiesen und in der sensiblen Beobachtung zur Unterstützung der Therapie angeleitet werden.

Freie Atemwege Auf das Eindringen von Flüssigkeiten in die Luftröhre reagieren wir mit Husten oder Würgen. Bei fehlenden Schutzreflexen, auch aufgrund von Wahrnehmungsstörungen oder bei neurogenen Problemen, Schlucken und Atmen zu koordinieren, können die Kinder häufig nicht verhindern, dass Nahrung in die Luftröhre gelangt. Beim Anreichen von Speisen bedeutet dies, durch die Position des Kopfes das Risiko der Aspiration zu verringern. Durch die Streckung der unteren Extremitäten kommt es zu einem Spannungsaufbau in Rumpf, Brustkorb, Hals und Armen. Die Koordination von Atmen und Lautbildung oder Schlucken, auch die kontrollierte Haltung des Rumpfes oder das gezielte Hantieren sind darunter deutlich erschwert. Für eine kontrollierte Muskelspannung ist die Herstellung einer stabilen ruhigen Basis, nämlich die Beugung in

9

Pflege von Kindern mit Behinderung

Abb. 36.4 ATNR. Streckung des gesichtsseitigen und Beugung des hinterkopfseitigen Armes. (Foto: H. Schatull)

36

Hüft- und Kniegelenken und das Aufstellen der Füße, notwendig. Dies ermöglichen Becken- und Fußgurte im Rollstuhl.

Vermeiden von Aspirationen beim Anreichen von Nahrung Praxistipp Pflege ●







Kopf gerade oder nach vorne geneigt halten, nicht nach hinten legen. Ein stabiler Sitz (rechter Winkel in Hüfte, Knie und Fußgelenken durch sichere Fixierung) und ein leichtes Vorneigen des Kopfes fördern das aktive Schlucken und ermöglichen, dass Flüssigkeiten nicht in Rachen und Luftröhre, sondern nach vorne aus dem Mund laufen. Unterstützung zum Mundschluss geben. Mehrmaliges Schlucken abwarten, Zeit zum Atmen geben.

Lernaufgabe

Abb. 36.3 Frühkindliche Reflexe. Schematische Darstellung persistierender frühkindlicher Reflexe am Beispiel des ATNR, STNR und TLR.

710

Z ●

M ●

Versuchen Sie, mit nach hinten geneigtem Kopf zu schlucken. Versuchen Sie, mit offenem Mund zu schlucken. Was empfinden Sie jeweils?

36.2 Pflege von Kindern mit schwersten Behinderungen Kinder mit ständigen plötzlichen Krampfanfällen sollten nur nach Absprache mit Ärzten und Eltern Nahrung mit dem Löffel oder dem Fläschchen gereicht bekommen. Während eines Anfalles ist das Kind nicht in der Lage, Atmung und Schlucken zu koordinieren, und es besteht ein hohes Aspirationsrisiko. Für die Mahlzeit werden eine reizarme Umgebung und eine Zeit gewählt, in der das Kind selten Anfälle hat. Zur Förderung freier Atemwege und zur Pneumonieprophylaxe oder -therapie erhält das Kind zeitweise Atemtherapie. Bedeutsam für den pflegerischen Umgang ist das Wissen um evtl. schlecht belüftete Lungenabschnitte und die Zusammenarbeit mit der Physiotherapie im Hinblick auf die Atemtherapie und Positionierung (S. 249). Besonders im Anschluss an sekretmobilisierende Maßnahmen wird das Kind so positioniert, dass Sekrete effektiv abfließen können. Spricht von medizinischer Seite nichts dagegen, kann hier die Seitenlage in einer leichten Schräglage auf der gesamten Fläche (Kopf an der tiefsten Stelle) helfen.

Intakte Haut Besonders Kinder mit Bewegungs- und Wahrnehmungsstörungen haben ein erhöhtes Dekubitusrisiko. Schmerzen werden u. U. nicht wahrgenommen und das Bedürfnis nach einem Wechsel der Position nicht mitgeteilt. Häufige Positionswechsel, auch minimale Veränderungen der Lage, dienen neben anderen Maßnahmen zur Dekubitusprophylaxe. Sie erhalten aber auch die Wachheit, sowie die Wahrnehmung von Körper und Raum und fördern die Belüftung aller Lungenabschnitte. Kinder mit Verformungen von Wirbelsäule oder Gliedmaßen (Skoliose, Luxationen, Klumpfüße) sind an den unnatürlich hervorstehenden Gelenkteilen besonders dekubitusgefährdet (S. 403).

Gelenke beweglich halten Die extreme Anspannung von Muskelgruppen bei ICP bewirkt schon während des Wachstums einen ständigen, oft einseitigen Zug der Muskeln auf die Gelenke. Es kommt zu Fehlhaltungen, die anfangs in der Physiotherapie noch passiv korrigiert werden können. Jede Pflegesituation bietet die Möglichkeit, alle Gelenke zu bewegen, um Versteifungen zu verhindern. Unphysiologischer Druck und Zug auf die Gelenke in ihrer Fehlstellung müssen vermieden werden. So erfolgt z. B. das Anheben des Gesäßes in Rückenlage mit rumpfnahem Griff oberhalb des Kniegelenks, sodass das Körpergewicht nicht an den Knien hängt.

(z. B. Atemtherapie anregen, keine Rückenlage ohne Aufsicht) gestaltet.

Definition

L ●

Bei einer Immobilitätsosteoporose kommt es durch mangelnde Bewegung und Belastung der Knochen zu einem Verlust der Knochenmasse mit erhöhtem Frakturrisiko. Abb. 36.5 Vibration. Junge in Vollpolsterliegeschale (mit unklarer neurodegenerativer Erkrankung, Innenrotation des rechten Armes). Vibratorisches Angebot durch Massagematte. (Foto: H. Schatull)

Optimale Positionierung und die konsequente Anwendung orthopädietechnischer Hilfsmittel versuchen die Entwicklung von Fehlhaltungen in ihrer Progredienz zu verlangsamen. Das Anlegen mitgebrachter Hilfsmittel eines Kindes sollte von Eltern gezeigt und in der Pflege regelmäßig durchgeführt werden. Risiken bei der Anwendung orthopädietechnischer Hilfsmittel sind die Entstehung von Druckstellen durch falschen Sitz. Die Haltungskorrektur des Rumpfes zur Vermeidung der Entwicklung einer Skoliose oder ihres raschen Fortschreitens ist in individuell angepassten Korsetts, Sitzund Liegeschalen möglich (▶ Abb. 36.5). Ansprechpartner im Umgang mit orthopädietechnischen Hilfsmitteln sind Orthopäden und Physiotherapeuten.

Größtmögliche Sicherheit Vor einer geplanten stationären Aufnahme eines Kindes mit schwerer Behinderung sind Informationen über nötige Sicherheitsvorrichtungen, z. B. Schutzgitter, -polster oder Fixiergurte (evtl. schriftliche Genehmigung der Fixierung notwendig), einzuholen. Kann das Kind Gefahren einschätzen, z. B. mit Besteck hantieren, Gurte am Rollstuhl öffnen oder ohne Unterstützung herumlaufen? Trägt das Kind einen Sturzhelm, muss es diesen zum Klinikaufenthalt mitbringen. Das korrekte Anlegen aller notwendigen Gurte im Rollstuhl sollte von den Eltern demonstriert werden. Bei Vorliegen einer Immobilitätsosteoporose informieren sich die Pflegenden bei den Eltern über vorausgegangene Frakturen. Lagewechsel und Handling des Kindes geschehen hier besonders vorsichtig. Auch das Vorhandensein oder Fehlen von Schutzreflexen, wie z. B. Husten oder Würgen, wird erfragt. Entsprechend werden der Umgang und die Positionierung

Erkennen eines gastroösophagealen Refluxes (GÖR) Ein häufiges Problem für Kinder mit schwersten Behinderungen ist der gastroösophageale Reflux. In der Pflege sollte besonders auf plötzliche Schmerzen mit Aufschreien und möglicherweise generalisiertem Verkrampfen geachtet werden (Differenzialdiagnose: Krampfanfälle, einschießende Spasmen). Wiederholte unklare Schmerzzustände oder Hämatin („kaffeesatzähnliches“, im Magen geronnenes Blut) in der Magenablaufsonde können neben gehäuftem Spucken oder Erbrechen auf ein Zurücklaufen sauren Mageninhaltes in die Speiseröhre hinweisen. Häufige Atemwegsinfekte und eine chronische Verschleimung der Atemwege können Ausdruck möglicher stiller Aspirationen sein. Das Andicken der Nahrung, die Positionierung in Oberkörperhochlage während und nach der Mahlzeit, die rechte Seitenlage zur Förderung der physiologischen Magenentleerung, die Gabe von Antazida, die kontinuierliche langsame Zufuhr von Nahrung bei liegender PEGSonde (S. 358) sind konservative therapeutische Maßnahmen.

Merke

36

H ●

Die chronische Verschleimung kann Folge häufiger stiller Aspirationen sein.

Physiologische Stuhlausscheidung Ein häufiges Problem immobiler Kinder ist die Obstipation (S. 386). Hinweise auf eine bestehende Obstipation können Appetitlosigkeit, Essensreste im Magen bei verlangsamter Magen-Darm-Passage, Erbrechen, Anspannung, Unruhe, aber auch eine Häufung von Krampfanfällen sein. Zur Vermeidung von Schmerzen und gravierenden Darmpassagestörungen erhalten immobile Kinder i. d. R. stuhlerweichende Medikamente (z. B. Lactulose, Ma-

1

Pflege von Kindern mit Behinderung crogol). Auch unter regelmäßiger Stuhlentleerung kann sich über Monate und Jahre ein Kotstau entwickeln, der zum Ileus führen kann. Das Absetzen von Stühlen unterschiedlicher Konsistenz bedarf genauer Beobachtung.

Merke

H ●

Es besteht das Risiko, sog. Überlaufstühle mit Durchfällen zu verwechseln.

36

Hinweise auf ein Passagehindernis können sein: ● stinkende, vergoren erscheinende dünne Stühle im Wechsel mit festem Stuhl bzw. Stuhlanteilen ● zeitweise Druckschmerzen im Bauchraum ● Entleerung von Mageninhalt aus Gastrostoma Auf Überlaufstühle muss mit abführenden Maßnahmen (Macrogol hoch dosiert, digitales Ausräumen, Klistiere, Einläufe) bis zum Erfolg reagiert werden. Auf keinen Fall sollten Überlaufstühle mit Maßnahmen zur Behandlung von Durchfällen behandelt werden.

Entlastung der Familien Die tägliche Betreuung des Kindes mit Schwerstmehrfachbehinderung fordert von der Familie eine Hingabe, die die Grenze zur Selbstaufgabe häufig überschreitet. Gespräche können helfen, die ei-

gene Belastung zu erkennen und für sich und die Familie Hilfe in Anspruch zu nehmen. Über den Sozialdienst können möglicherweise Kontakte zu anderen betroffenen Eltern, zu Einrichtungen, Therapeuten hergestellt und finanzielle Unterstützungsmöglichkeiten aufgezeigt werden (▶ Tab. 36.2). Eine gute Möglichkeit, zu sich selbst, dem Partner, den anderen Kindern und zu neuer Kraft zu kommen, ist, sich Urlaube ohne das Kind mit Behinderung zu erlauben. Das Kind kann in dieser Zeit im Rahmen der Kurzzeitpflege in einer vollstationären Einrichtung „Urlaub machen“.

a ●

Eltern

Für die Verlegung ihres Kindes mit schwerster Behinderung nach Hause benötigen die Eltern Kontakt zu: ● Kinderärzten (Hausbesuche möglich) ● ambulanten Kinderkrankenpflegediensten ● sozialpädiatrischen oder kinderneurologischen Zentren ● ambulanter Frühförderung in Form von Ergotherapie, Heilpädagogik, Logopädie, Physiotherapie (Hausbesuche möglich)

Vor der Verlegung des Kindes in das häusliche Umfeld müssen Eltern ein gewisses Maß an Sicherheit in der Pflege ihres Kindes und im Umgang mit notwendigen Geräten erworben haben. Aufgabe der Pflegefachkräfte ist es, die Eltern von Beginn

an darin anzuleiten und bis zur Entlassung aufmerksam zu begleiten. Es gilt zu klären, ob das Kind zu Hause ggf. mit Unterstützung eines ambulanten Kinderkrankenpflegedienstes versorgt werden kann oder eine andere Lösung notwendig wird. Die Unterbringung des Kindes in einer spezialisierten Einrichtung für die Entwicklungsförderung von Kindern mit schweren Behinderungen kann für die Eltern und Geschwisterkinder eine deutliche Entlastung darstellen. Dies kann für einen begrenzten Zeitraum in einer sehr sensiblen Entwicklungsphase der Geschwister oder auf Dauer notwendig sein.

36.3 Pflege eines Kindes mit Zerebralparese Daniela Schütz

36.3.1 Ursache und Auswirkung Definition

L ●

Die infantile Zerebralparese (ICP, von lat. cerebrum = Gehirn, parese = Lähmung) oder auch zerebrale Bewegungsstörung ist eine bleibende, aber nicht unveränderliche Bewegungs- und Haltungsstörung infolge einer Schädigung des frühkindlichen Gehirns in den frühen Entwicklungsphasen.

Tab. 36.2 Organisatorische Hilfen für Familien und Geschwister behinderter Kinder. Kostenträger bzw. Organisation

Angebot

Kliniken, Kinderhospize, Einrichtungen der Behindertenhilfe, Erziehungsberatungsstellen

● ● ●

Jugendamt (auf Grundlage des Kinder- und Jugendhilfegesetzes [KJHG], SGB VIII Kap. 2 u. 3), freie Wohlfahrtsverbände

● ● ●

Pflegekasse, Krankenkasse, Sozialamt (Eingliederungshilfe), Jugendamt bzw. familienentlastender Dienst der Wohlfahrts- und Behindertenverbände







Pflegekassen der Krankenkassen (Pflegeversicherung), mobile Kinderkrankenpflegedienste, Sozialstationen, ambulante Dienste für Menschen mit Behinderungen, freie Wohlfahrtsverbände, private Träger und Verbände



örtliche und überörtliche Sozialhilfeträger



● ● ●



freie Wohlfahrtsverbände private Träger und Verbände

● ● ●

Rehabilitationsträger (Träger der Renten-, Kranken- und Unfallversicherung, Träger der öffentlichen Jugendhilfe, Träger der Eingliederungshilfe)

● ●



712

Familienberatung vollstationäre Unterbringung Entlastung durch Kurzzeit- oder Verhinderungspflege Erziehungsberatung und -unterstützung, Familienhilfe Einzelbetreuung, soziales Lernen in Gruppen Inobhutnahme, Unterbringung in Pflegefamilien oder Einrichtungen Betreuung des Kindes mit Behinderung im häuslichen Umfeld zur Entlastung der pflegenden Angehörigen (gibt dem pflegenden Elternteil Zeit für Geschwisterkinder, Partner, eigene Interessen) Begleitung eines Jugendlichen mit Behinderungen zu Veranstaltungen seines Interesses sozialpädagogische Beratung Einstufung in Pflegegrade Unterstützung bei der Pflege des behinderten Kindes zu Hause stationäre Pflege, z. B. Unterbringung in Pflegeheimen Kurzzeitpflegemaßnahmen (Verhinderungspflege) Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises Eingliederungshilfe/Hilfen zum Lebensunterhalt für Menschen mit Behinderung, s. Bundesteilhabegesetz (BTHG) Unterbringung in gemeinschaftlichen Wohnformen integrative Tagesstätten heilpädagogische Tagesstätten präventive Leistungen Leistungen, z. B. zur medizinischen Rehabilitation, zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (BTHG) Klärung des Hilfebedarfes und der entsprechenden Zuständigkeiten

Pflege von Kindern mit Behinderung crogol). Auch unter regelmäßiger Stuhlentleerung kann sich über Monate und Jahre ein Kotstau entwickeln, der zum Ileus führen kann. Das Absetzen von Stühlen unterschiedlicher Konsistenz bedarf genauer Beobachtung.

Merke

H ●

Es besteht das Risiko, sog. Überlaufstühle mit Durchfällen zu verwechseln.

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Hinweise auf ein Passagehindernis können sein: ● stinkende, vergoren erscheinende dünne Stühle im Wechsel mit festem Stuhl bzw. Stuhlanteilen ● zeitweise Druckschmerzen im Bauchraum ● Entleerung von Mageninhalt aus Gastrostoma Auf Überlaufstühle muss mit abführenden Maßnahmen (Macrogol hoch dosiert, digitales Ausräumen, Klistiere, Einläufe) bis zum Erfolg reagiert werden. Auf keinen Fall sollten Überlaufstühle mit Maßnahmen zur Behandlung von Durchfällen behandelt werden.

Entlastung der Familien Die tägliche Betreuung des Kindes mit Schwerstmehrfachbehinderung fordert von der Familie eine Hingabe, die die Grenze zur Selbstaufgabe häufig überschreitet. Gespräche können helfen, die ei-

gene Belastung zu erkennen und für sich und die Familie Hilfe in Anspruch zu nehmen. Über den Sozialdienst können möglicherweise Kontakte zu anderen betroffenen Eltern, zu Einrichtungen, Therapeuten hergestellt und finanzielle Unterstützungsmöglichkeiten aufgezeigt werden (▶ Tab. 36.2). Eine gute Möglichkeit, zu sich selbst, dem Partner, den anderen Kindern und zu neuer Kraft zu kommen, ist, sich Urlaube ohne das Kind mit Behinderung zu erlauben. Das Kind kann in dieser Zeit im Rahmen der Kurzzeitpflege in einer vollstationären Einrichtung „Urlaub machen“.

a ●

Eltern

Für die Verlegung ihres Kindes mit schwerster Behinderung nach Hause benötigen die Eltern Kontakt zu: ● Kinderärzten (Hausbesuche möglich) ● ambulanten Kinderkrankenpflegediensten ● sozialpädiatrischen oder kinderneurologischen Zentren ● ambulanter Frühförderung in Form von Ergotherapie, Heilpädagogik, Logopädie, Physiotherapie (Hausbesuche möglich)

Vor der Verlegung des Kindes in das häusliche Umfeld müssen Eltern ein gewisses Maß an Sicherheit in der Pflege ihres Kindes und im Umgang mit notwendigen Geräten erworben haben. Aufgabe der Pflegefachkräfte ist es, die Eltern von Beginn

an darin anzuleiten und bis zur Entlassung aufmerksam zu begleiten. Es gilt zu klären, ob das Kind zu Hause ggf. mit Unterstützung eines ambulanten Kinderkrankenpflegedienstes versorgt werden kann oder eine andere Lösung notwendig wird. Die Unterbringung des Kindes in einer spezialisierten Einrichtung für die Entwicklungsförderung von Kindern mit schweren Behinderungen kann für die Eltern und Geschwisterkinder eine deutliche Entlastung darstellen. Dies kann für einen begrenzten Zeitraum in einer sehr sensiblen Entwicklungsphase der Geschwister oder auf Dauer notwendig sein.

36.3 Pflege eines Kindes mit Zerebralparese Daniela Schütz

36.3.1 Ursache und Auswirkung Definition

L ●

Die infantile Zerebralparese (ICP, von lat. cerebrum = Gehirn, parese = Lähmung) oder auch zerebrale Bewegungsstörung ist eine bleibende, aber nicht unveränderliche Bewegungs- und Haltungsstörung infolge einer Schädigung des frühkindlichen Gehirns in den frühen Entwicklungsphasen.

Tab. 36.2 Organisatorische Hilfen für Familien und Geschwister behinderter Kinder. Kostenträger bzw. Organisation

Angebot

Kliniken, Kinderhospize, Einrichtungen der Behindertenhilfe, Erziehungsberatungsstellen

● ● ●

Jugendamt (auf Grundlage des Kinder- und Jugendhilfegesetzes [KJHG], SGB VIII Kap. 2 u. 3), freie Wohlfahrtsverbände

● ● ●

Pflegekasse, Krankenkasse, Sozialamt (Eingliederungshilfe), Jugendamt bzw. familienentlastender Dienst der Wohlfahrts- und Behindertenverbände







Pflegekassen der Krankenkassen (Pflegeversicherung), mobile Kinderkrankenpflegedienste, Sozialstationen, ambulante Dienste für Menschen mit Behinderungen, freie Wohlfahrtsverbände, private Träger und Verbände



örtliche und überörtliche Sozialhilfeträger



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freie Wohlfahrtsverbände private Träger und Verbände

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Rehabilitationsträger (Träger der Renten-, Kranken- und Unfallversicherung, Träger der öffentlichen Jugendhilfe, Träger der Eingliederungshilfe)

● ●



712

Familienberatung vollstationäre Unterbringung Entlastung durch Kurzzeit- oder Verhinderungspflege Erziehungsberatung und -unterstützung, Familienhilfe Einzelbetreuung, soziales Lernen in Gruppen Inobhutnahme, Unterbringung in Pflegefamilien oder Einrichtungen Betreuung des Kindes mit Behinderung im häuslichen Umfeld zur Entlastung der pflegenden Angehörigen (gibt dem pflegenden Elternteil Zeit für Geschwisterkinder, Partner, eigene Interessen) Begleitung eines Jugendlichen mit Behinderungen zu Veranstaltungen seines Interesses sozialpädagogische Beratung Einstufung in Pflegegrade Unterstützung bei der Pflege des behinderten Kindes zu Hause stationäre Pflege, z. B. Unterbringung in Pflegeheimen Kurzzeitpflegemaßnahmen (Verhinderungspflege) Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises Eingliederungshilfe/Hilfen zum Lebensunterhalt für Menschen mit Behinderung, s. Bundesteilhabegesetz (BTHG) Unterbringung in gemeinschaftlichen Wohnformen integrative Tagesstätten heilpädagogische Tagesstätten präventive Leistungen Leistungen, z. B. zur medizinischen Rehabilitation, zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (BTHG) Klärung des Hilfebedarfes und der entsprechenden Zuständigkeiten

36.3 Pflege eines Kindes mit Zerebralparese Die ICP kann sich spastisch, dyskinetisch und ataktisch manifestieren und geht nicht selten mit mentaler Retardierung, Störung der Sinnesorgane (v. a. Sehen und Hören) und Epilepsie einher. Durch moderne bildgebende Diagnostik (z. B. Sonografie und MRT in jedem Alter) gelingt es zunehmend, einen größeren Einblick in das Spektrum der möglichen Ursachen der prä-, peri- oder postnatal entstandenen Läsionen des sich entwickelnden Gehirns zu erhalten. Dabei ist zu sagen, dass die Ausprägungen und das Auftreten dieser Läsionen und Fehlbildungen vom Stadium der Gehirnentwicklung abhängig sind. Folgende Ursachen lassen sich in prä-, peri- und postnatal unterteilen (Mayatepek 2007): Pränatale Ursachen: ● toxische Fruchtwasserschädigungen ● Infektionen der Mutter (z. B. Röteln, Herpes oder Toxoplasmose) ● Schwangerschaftskomplikationen (z. B. Blutungen) ● Vergiftungen (Intoxikationen z. B. mit Nikotin, Alkohol, Drogen oder Medikamenten) ● bestehende Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus) ● genetische oder hormonelle Störungen Perinatale Ursachen: Atemstillstand (Asphyxie) ● Sauerstoffmangel (Hypoxie) ● Nabelschnurkomplikationen und dadurch Unterversorgung ● Hirnblutungen, Frühgeburt, Plazentalösung

sich dies unmittelbar nach der Geburt feststellen. Leichte Formen lassen sich allerdings in den ersten Lebensjahren nur schwer diagnostizieren. Eltern werden meist erst durch Gedeih- und Funktionsstörungen oder aber Bewegungsarmut ihrer Kinder aufmerksam. ▶ Typische Symptome einer ICP sind: ● frühzeitige abnorme Haltungen und Bewegungen ● abnorme Steifigkeit des Säuglings ● mangelnde Kopfkontrolle ● häufiges Überstrecken („Kissenbohren“) ● selten Strampelbewegungen und erschwerte Abspreizung beim Wickeln ● Ablehnung der Bauchlage ● steife Beugehaltung der Arme ● steife Streckung und Überkreuzungstendenz der Beine ● Seitendifferenz in Haltung und Bewegung, sowie ausfahrende, zappelige, abnorme Bewegungen ● Hemmungen und Stockungen im Bewegungsablauf

Merke

Abb. 36.6 Diparese. Stärkerer Befall an den Beinen als an den Armen (hier Spitzfuß beidseitig, Kniebeugekontraktur links). (Abb. aus: Niethard F, Pfeil J, Biberthaler P. Pathogenese, Klassifikation und Klinik. In: Niethard F, Pfeil J, Biberthaler P, Hrsg. Duale Reihe Orthopädie und Unfallchirurgie. 7., überarbeitete Auflage. Stuttgart: Thieme; 2014)

H ●

Die Ausprägungen einer infantilen Zerebralparese sind oft vielfältig. Daher ist diese Erkrankung meist erst nach dem 2. Lebensjahr richtig zu erkennen.

36



Postnatale Ursachen: Infektionskrankheiten ● Hirnhautentzündung (Meningitis), Gehirnentzündung (Enzephalitis) ● Krampfanfälle ● Atemstörungen, Schädel-Hirn-Trauma ●

Merke

H ●

Meist ist die Hirnschädigung nicht nur auf eine Ursache zurückzuführen, sondern auf mehrere.

Symptome Sichtbar wird eine zerebrale Bewegungsstörung meist durch erhöhte Muskelspannung oder auch ständiges Wechseln von starken und schwachen Muskelspannungen (Muskelhypotonie). Zudem kann die Zusammenarbeit verschiedener Muskelpartien gestört sein, sodass die betroffenen Kinder nicht in der Lage sind, ihre Muskeln zu kontrollieren. Wenn ein Kind sehr stark von einer ICP betroffen ist, lässt

Was passiert bei der ICP? Bei einer infantilen Zerebralparese kommt es zum Verlust von Nervenzellen im Gehirn und somit zur Entwicklungshemmung und Störung des zentralen Nervensystems. Die Weiterentwicklung primitiver Reflexe und die physiologische Entwicklung der Reflexbahnen bleiben aus. Durch diese „Hirnschädigung“ kommt es zu einem irreparablen Defekt. Daher ist die Zerebralparese auch von fortschreitenden zerebralen Prozessen, wie degenerativen Erkrankungen oder Tumoren, abzugrenzen.

Verschiedene Formen Es lassen sich verschiedene Formen von Bewegungs- und Haltungsbesonderheiten unterscheiden, oft handelt es sich auch um „Mischformen“. Unterteilt man nach Tonusstörungen, werden Hemiparese, Diparese (▶ Abb. 36.6) und Tetraparese unterschieden, s. Kap. Zerebrale Bewegungsstörungen (S. 397). Differenziert man nach Art der Tonusstörung lassen sich folgende Unterteilungen ausmachen: ● spastische Form (Spastik = Steifheit der Glieder aufgrund eines erhöhten Mus-





keltonus mit verlangsamtem oder eingeschränktem Bewegungsablauf) dyskinetische/dystone Form (Dyskinesie/Dystonie = unwillkürliche, langsame verkrampfte Bewegungsmuster) ataktische Form (Ataxie = Koordinations- und Gleichgewichtsstörung mit abgehackten Bewegungsabläufen)

Spastische Zerebralparesen (▶ Abb. 36.6) machen etwa 90 % der Zerebralparesen aus und können sich bilateral und unilateral manifestieren (Mayatepek 2007).

36.3.2 Pflegebedarf einschätzen Zerebrale Bewegungs- und Haltungsstörungen sind in Art und Ausprägungsgrad sehr vielfältig. Sie können die Ausübung der Lebensaktivitäten unterschiedlich stark beeinträchtigen. Folgende Pflegeprobleme ergeben sich bei Kindern mit Zerebralparese: ● überschießende Abwehrreaktionen auf Schmerz- und Berührungsreize ● erschwerte Nahrungsaufnahme durch zerebral bedingte Störungen im Mundbereich ● Koordinationsstörungen im Mund beim Saugen, Schlucken, Trinken sowie Abbeißen und Kauen

3

Pflege von Kindern mit Behinderung ●

● ●

● ●





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36

erschwerte Sprachentwicklung durch Störungen der Mundmotorik beeinträchtigte Mimik und Gestik Störungen der Wahrnehmung, besonders beim Sehen und Hören Gefahr von Verhaltensstörungen Gefahr der sozialen Ausgrenzung durch die Behinderung Unsicherheiten der Eltern im Umgang mit ihrem Kind Schuldgefühle, Zukunftsängste und Überlastung der Eltern durch notwendige Therapien Gefahr eines Anfallsleidens Gefahr von Unfällen durch unkoordinierte und unsichere Bewegungen Gefahr von Kontrakturen durch zunehmende Muskelverkürzungen und Bewegungsarmut

36.3.3 Pflegeziele und -maßnahmen Frühzeitiges Erkennen einer Entwicklungsstörung Eine wichtige Pflegeaufgabe bei Kindern mit Zerebralparese ist die Früherkennung von Entwicklungsverzögerungen und Behinderungen, um eine frühzeitige Behandlung und Frühförderung unter Einbeziehung der Eltern einleiten zu können. Die Früherkennung von Zerebralparesen kann bei allen Risikokindern, insbesondere bei sehr früh geborenen Kindern, durch genaue pflegerische Beobachtungen, z. B. auffällige Bewegungsmuster oder Bewegungsarmut, erfolgen. Ist die zerebrale Bewegungsstörung erst einmal aufgetreten, kann sie zwar nicht komplett geheilt werden, aber dennoch sollte es oberstes Ziel sein, die Erkrankung möglichst günstig zu beeinflussen.

Eltern-Kind-Beziehung Die Eltern-Kind-Beziehung spielt für sämtliche Maßnahmen im Rahmen der Behandlung und Pflege eine wesentliche Rolle, denn letztlich sind es die Eltern, die gemeinsam mit dem Kind den Alltag bewältigen. Nicht selten ist die Beziehung der Eltern zu ihrem behinderten Kind erschwert, da sie sich mit der neuen Situation noch arrangieren müssen oder auch Unsicherheiten vorhanden sind. Durch einfühlsame Beobachtung kann die Pflegefachkraft einschätzen, ob und wann Eltern bereit sind, zu ihrem Kind einen „normalen“ Kontakt aufzubauen. Die konstruktive und motivationsfördernde Zusammenarbeit zwischen Pflegefachkraft und Eltern ist besonders wichtig.

714

▶ Anleitung. Die Anleitung der Eltern durch die Pflegefachkraft ist ein wichtiger Schritt zur späteren Versorgung zu Hause. Eine häufige Anleitungssituation im Zusammenhang bei Kindern mit ICP ist z. B. die korrekte Hilfestellung bei der Nahrungsverabreichung. Besonders im Rahmen der bedürfnisorientierten Nahrungsaufnahme ist professionelle Anleitung durch Pflegefachkräfte erforderlich. Das erkrankte Kind muss mit viel Geduld und ggf. unter Einbeziehung von Fachpersonal, z. B. Ergotherapeuten, dazu ermutigt werden, möglichst selbstständig Nahrung zu sich zu nehmen. Neben dem übergeordneten Ziel der ausreichenden Nahrungsund Flüssigkeitsaufnahme muss der Weg dorthin über die Selbstständigkeit des Kindes bei der Aufnahme der Nahrung führen.

Eltern

a ●

Falls das Sondieren von Nahrung zu Hause erforderlich wird, müssen die Eltern im Vorfeld sorgfältig angeleitet werden.

▶ Beratung. Neben der Anleitung der Eltern spielt auch der Beratungsaspekt eine wesentliche Rolle. Unterstützung der Eltern in Form von Informationen bzw. Beratung (z. B. über Selbsthilfegruppen, sozialrechtliche Beratungsstellen, geeignete Hilfsmittel, Ausstellung eines Behindertenausweises, Beantragung von Pflegegeld) gehören zur kompetenten Betreuung der Eltern und Angehörigen durch die Pflegefachkräfte (S. 194). ▶ Pflegequalität. Auf die Sorgen und Ängste, die bei Eltern und Angehörigen entstehen, einzugehen und auf Fragen und Unklarheiten bezüglich der weiteren Versorgung zu Hause professionell zu reagieren, ist eine wichtige Aufgabe von Pflegenden.

Gelingende Kommunikation Bei Kindern mit ICP kann die Kommunikationsfähigkeit, je nach Art und Ausprägung der Erkrankung, erschwert sein, sodass sie ihre Stimmungslage und Gefühlszustände meist über ihre Körpersprache, Gestik und Mimik ausdrücken. Für Pflegefachkräfte bedeutet dies, während der Kommunikation mit den Kindern ihre Wahrnehmung zu sensibilisieren. Möglichkeiten für eine gelingende Kommunikation, sowie Förderangebote und ausgewählte Kommunikationsmittel sind im Kap. Kommunizieren (S. 217) nachzulesen. Aufgrund der unterschiedlichen Ausprägungen der Erkrankung, spielt auch die

Beobachtung eine wichtige Rolle. Ein nicht behindertes Kind hat eine Vielzahl an Möglichkeiten, Missstände zu äußern und seine Spannungen zu variieren (z. B. Wut, Lustlosigkeit, Freude). Ein Kind mit Zerebralparese hat dagegen weniger Variationsmöglichkeiten, denn bei ihm führen pathologische Reaktionen zu einer hohen Muskelanspannung, besonders der Extremitäten.

Praxistipp Pflege

Z ●

Pflegende sollten aufmerksam den Gemüts- und Gefühlszustand der Kinder beobachten, um zu erkennen, ob z. B. Pflegemaßnahmen von Kindern akzeptiert werden oder nicht.

Sensibler Umgang mit dem Kind Je nach Alter und Entwicklungsstand der Kinder und Jugendlichen haben sie auch unterschiedlichen Pflege- und Unterstützungsbedarf im körperlichen, psychischen und sozialen Bereich in Abhängigkeit ihrer individuellen Fähigkeiten. Daher ist im Umgang mit diesen Kindern eine besonders feinfühlige und sensible Vorgehensweise gefragt. Die Kinder müssen das Gefühl haben, sich geborgen und sicher zu fühlen, da sie gerade im Bereich der Kommunikationsfähigkeit Schwierigkeiten haben, ihre Gefühle und Wünsche zu äußern. Besonders Säuglinge und auch kleinere Kinder müssen daher ausreichend Fürsorge und Zuwendung erfahren, damit eine vertrauensvolle Pflege erfolgen kann.

Größtmögliche Unabhängigkeit Das Erkennen, in welchen Lebensaktivitäten ein Kind mit Zerebralparese Unterstützung benötigt und wo vielleicht nur eine „kleine“ Hilfestellung nötig ist, setzt voraus, dass Ressourcen und Einschränkungen gezielt erfasst und im Pflegeplan berücksichtigt werden. Da die Erscheinungsformen der Erkrankung sehr vielfältig sein können, zeigen sich auch sehr vielfältige Verhaltensformen der Kinder. ▶ Rehabilitation. Die rehabilitative Pflege von behinderten Kindern hat eine immer größer werdende Bedeutung. Rehabilitationsbehandlung bei Kindern und Jugendlichen muss früh beginnen und hat daher ihren Platz sowohl in der Akut- als auch Langzeitpflege im ambulanten und stationären Bereich. Die angeborenen Funktionseinschränkungen bei Kindern

36.3 Pflege eines Kindes mit Zerebralparese mit Zerebralparese können durch frühzeitige Rehabilitationsmaßnahmen (S. 714) gefördert werden, sodass sie in ihrer Selbstständigkeit gestärkt werden und ihre Umwelt möglichst unabhängig erfahren können. ▶ Pflegequalität. Die Aufforderung und Förderung zur Selbstständigkeit und Unabhängigkeit der Kinder sollten im Umgang stets berücksichtigt werden. Jedes Kind mit einer Zerebralparese bedarf einer individuellen, ressourcen- und bedürfnisorientierten pflegerischen und rehabilitativen Versorgung.

Soziale Integration Der Aspekt der sozialen Integration spielt gerade bei Kindern mit Zerebralparese eine wesentliche Rolle. Schnell gelangen sie durch ihre Behinderung ins „Abseits“ und werden nicht als Teil der Gesellschaft gesehen. Daher ist die Teilnahme behinderter Kinder am Leben von nicht behinderten Kindern sehr wichtig. Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen können dadurch gefördert werden und können so zu einem positiven Selbstbild beitragen. Im Umgang mit behinderten Kindern sollten einige Grundsätze Berücksichtigung finden: ● Akzeptanz und Annahme des behinderten Kindes. ● „Hilfe zur Selbsthilfe“ geben, d. h. „Sich überflüssig machen“, Wegbegleiter und „Unterstützer“ sein anstatt Betreuer und Versorger und das behinderte Kind und seine Eltern in der Rolle der Kompetenten anstatt der Hilfsbedürftigen zurücklassen. ● Ein weitgehend selbstbestimmtes und unabhängiges Leben ermöglichen. ● Sexualität als wichtiges Thema sehen. ● Persönlichkeitsentfaltung durch Förderung der körperlichen, seelisch-geistigen und sozialen Fähigkeiten. ● Selbstverwirklichung, Kreativität und Lebensfreude fördern. ● Zeit lassen, um Dinge selbst zu tun. ● Ablösung vom Elternhaus unterstützen. ● Möglichkeit einer Ausbildungsstelle sehen und Hilfe anbieten. ▶ Andere Einrichtungen. Neben den Eltern spielen auch verschiedene Institutionen, z. B. Kindergarten, Hort, Schule oder Frühförderstelle, eine wichtige Rolle. Auch sie müssen im Rahmen der Therapie in die Verantwortung einbezogen werden, denn die Förderung und Unterstützung behinderter Kinder in ihren Lebensaktivitäten hört nicht an der „Haustür“ auf.

Größtmögliche Mobilität Die motorischen Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen mit Zerebralparese sollten angeregt werden, damit sie mehr Selbstständigkeit und Unabhängigkeit erfahren. Bewegung bedeutet auch immer „Freiheit“ und ist damit ein wichtiger Bestandteil in der Auseinandersetzung mit dem eigenen „Ich“ und der Umwelt. Zudem kann Sekundärschäden, wie auftretenden Kontrakturen und Haltungsdeformitäten, entgegengewirkt werden. Die Kinder sollten Freude und Spaß an der Bewegung haben und nach ihren individuellen Möglichkeiten ermutigt werden, an Aktivitäten mit gesunden Gleichaltrigen teilzunehmen. ▶ Positionierung und Mobilisation. Ein angenehmes und bequemes Liegen ist gerade bei Kindern mit ICP besonders wichtig, da sie so die Möglichkeit haben, sich zu entspannen und wohlzufühlen. Regelmäßige Positionswechsel unterstützten die vestibuläre Wahrnehmung und geben dem Kind Orientierung über die „Lage im Raum“. Bei Hemiplegie, Tetraspastik und muskulärer Hypotonie müssen spezielle Positionen eingenommen werden. Die Stabilisierung der gewünschten Körperposition erfolgt mit entsprechenden Hilfsmitteln und Schienen unter Erhaltung der Eigenbeweglichkeit (S. 397). ▶ Prophylaxen. Kontraktur-, Spitzfußund Dekubitusprophylaxe bei schwerstbehinderten Kindern, bei muskulärer Hypotonie, Immobilität und bei Lähmungen sollen Folgeschäden verhindern. Regelmäßige Positionswechsel und Hautkontrollen sind ca. alle 2 Stunden zur Vermeidung bzw. Früherkennung von Druckstellen erforderlich, auch bei der Anwendung von Hilfsmitteln wie Schienen oder Sitzen im Rollstuhl.

Verbesserte Lebensqualität durch geeignete Hilfsmittelversorgung Durch die Auswahl von geeigneten Hilfsmitteln kann die Lebensqualität behinderter Kinder deutlich verbessert werden (▶ Abb. 36.7). Beim Einsatz von orthopädischen und/oder therapeutischen Hilfsmitteln sind einige Kriterien zu berücksichtigen. Es sollte darauf geachtet werden, dass Hilfsmittel eine körperliche Behinderung ausgleichen und dass sie helfen, einer drohenden Behinderung vorzubeugen. Des Weiteren sollten Hilfsmittel auch so gewählt sein, dass sie die neurophysiologische Behandlung des Patienten unterstützen. Bevor Hilfsmittel zum Einsatz kommen, muss im Vorfeld das Einverständnis des Kindes und der Eltern einge-

Abb. 36.7 Gehhilfe. Ein passendes Hilfsmittel unterstützt die Mobilität und Selbstständigkeit im Alltag. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

36

holt werden und die genaue Indikation dafür geklärt sein. Hilfsmittel werden in jedem Entwicklungsstand und Alter des Kindes eingesetzt. Wichtig in dem Zusammenhang ist: ● Sie sollten nur so viel Hilfe geben wie nötig. ● Sie sollten zeitlich begrenzt genutzt werden, denn die Gefahr ist groß, dass es durch zu lange Benutzung zu einer Funktionseinschränkung kommt. ● Sie sollten den individuellen Bedürfnissen des Kindes angepasst und nach persönlichen Vorlieben (Farbe, Form und Design) ausgewählt werden. ● Sie sollten den physiologischen Aktivitäten angepasst sein (S. 413), damit orthopädische Komplikationen vermieden werden. Pflegerische Aufgabe ist es, Eltern zu informieren, dass es Hilfsmittel (z. B. Gehhilfen, Stützkorsetts, Rollstühle, Prothesen) für viele Einschränkungen gibt, die den Alltag erleichtern, und wie sie an Fachleute gelangen, die sie bezüglich einer Hilfsmittelversorgung fachkundig beraten können. Darüber hinaus sollten Pflegende fachkundiges Wissen über verschiedene Hilfsmittel haben, um das Kind optimal unterstützen zu können und Gefahren auszuschließen. Das Anleiten von Eltern und Kind im Umgang mit Hilfsmitteln kann ebenso Aufgabe sein wie das Motivieren zum Einsatz des Hilfsmittels und Fördern der Akzeptanz, da Hilfsmittel nicht von allen Betroffenen direkt angenommen werden.

5

Pflege von Kindern mit Behinderung

Förderung der Selbstständigkeit durch ein Behandlungsteam

36

716

Die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Zerebralparese sollte immer im therapeutischen Team erfolgen (▶ Abb. 36.8). In erster Linie geht es allen an der Therapie Beteiligten darum, den Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zu schaffen, eine eigene Körperwahrnehmung zu fördern. Verschiedene konservative und entwicklungsfördernde Therapien, z. B. Basale Stimulation, Physiotherapie nach der Bobath- oder Vojta-Methode, Ess- und Spieltherapie, können dies ermöglichen. Speziell nach dem BobathKonzept erfahren die Kinder eine verbesserte Körperwahrnehmung. Einerseits erleben sie ein sensorisches Feedback von Bewegungen, die sie nicht eigenständig durchführen könnten, andererseits werden unerwünschte Reaktionen auf Reize vermindert. Die schwerst mehrfach behinderten Kinder haben nur geringe Möglichkeiten, sich selbst zu aktivieren und zur Aufrechterhaltung ihrer Aufmerksamkeit beizutragen. Daher besteht zusätzlich die Gefahr,

Logopäden Pflegefachkräfte

Ärzte

Heilpädagogen

Kind mit ICP

Physiotherapeuten

Merke

ambulante Dienste

Motopäden

Abb. 36.8 Multiprofessionelles Behandlungsteam. An der Therapie eines Kindes mit Zerebralparese sind verschiedene Berufsgruppen beteiligt.

dass ihr ohnehin geringer motorischer Antrieb noch weiter vermindert wird. Die physiotherapeutische Behandlung ist ein wesentlicher Aspekt, um die vorhandenen Fähigkeiten der Kinder zu trainieren, sie zu verbessern und Bewegungsabläufe zu beschleunigen. Frühzeitige krankengymnastische Behandlung, möglichst vor Ablauf des 1. Lebensjahres, trägt wesentlich zum Erfolg der Behandlung bei (Holtz 2004).

H ●

Die Förderung der selbstständigen aktiven Bewegung, durch Förderung und Unterstützung der Bewegungsabläufe, der aktiven Aufrichtung z. B. mit verschiedenen Hilfsmitteln, des zielgerichteten Greifens oder der Umgang mit unterschiedlichen Materialien zur Verbesserung der Handlungskompetenz, stellt ein Hauptziel der Therapie dar.

Nicht zu vernachlässigen sind die speziellen medikamentösen Therapien und konservativen orthopädischen „Kontrakturenprophylaxen“ durch verschiedene Orthopädietechniken. Erst bei fortschreitendem Verlauf der Erkrankung und Ausschöpfung aller konservativer Maßnahmen sollten operative Maßnahmen zum Einsatz kommen. ▶ Pflegequalität. Ein umfassender lebenslanger Förder- und Behandlungsplan ist bei Kindern mit ICP von besonderer Bedeutung. Maßnahmen der Beschäftigung durch Pflegefachkräfte, Ergotherapeuten oder Logopäden und die Versorgung mit Hilfsmitteln, sowie Maßnahmen der Sozialfürsorge müssen ebenso in diesem Plan berücksichtigt werden.

Kapitel 37 Pflege von Kindern mit psychosomatischen und psychiatrischen Störungen

37.1

Bedeutung

718

37.2

Betreuung durch Bezugspersonen

718

37.3

Pflege eines Kindes mit einem Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) 723

37.4

Pflege eines Jugendlichen mit einer depressiven Störung

725

Pflege eines Kindes mit Enkopresis/ Enuresis

726

Pflege eines Jugendlichen mit Essstörungen

727

Pflege von Kindern mit Gewalterfahrungen

728

Pflege eines Jugendlichen mit selbstverletzendem Verhalten und Suizidalität

731

37.5 37.6 37.7 37.8

Pflege von Kindern mit psychosomatischen und psychiatrischen Störungen

37 Pflege von Kindern mit psychosomatischen und psychiatrischen Störungen Diana Nowak

37.1 Bedeutung Von psychischen Auffälligkeiten sind laut der BEfragung zum seeLischen WohLbefinden und VerhAlten (BELLA-Studie) 21,9 % der Kinder und Jugendlichen in Deutschland betroffen (Ravens-Sieberer et al., 2007). Darunter werden Ängste, Störungen des Sozialverhaltens und Depressionen besonders häufig benannt. Unumstritten ist, dass die Psyche auch Einfluss auf körperliche Vorgänge und das Wohlbefinden des Menschen hat. Negative psychische Erfahrungen und Belastungen können sich im subjektiven Empfinden des Menschen und in körperlichen Anzeichen und Beschwerden zeigen.

Definition

37

L ●

Psychiatrie wird auch als „Seelenheilkunde“ bezeichnet. Als ein Fachgebiet der Medizin bezieht sie sich auf psychische, also seelische Störungen und deren Auswirkungen. Psychosomatik betrachtet die seelisch-körperlichen Wechselwirkungen und die Bedeutung seelischer Vorgänge für die Entstehung und den Verlauf körperlicher Störungen bzw. Erkrankungen.

An allen Organen oder Organsystemen können psychosomatische Störungen auftreten. Die psychische Verfassung kann sowohl allein als auch zusätzlich zu anderen Faktoren für die körperliche Störung verantwortlich sein. So können chronische Beschwerden wie Rücken- oder Kopfschmerzen auf psychischen Ursachen basieren. Die Auswirkungen dieser Gesundheitsstörungen werden in den entsprechenden Pflegekapiteln beschrieben.

Merke

H ●

Psychische Störungen können sich auf alle Lebensaktivitäten auswirken. Im Besonderen ist immer die Lebensaktivität „Kommunizieren“ zu beachten.

Die Wahrnehmung der eigenen Person, die Beziehung zu den Mitmenschen und speziell zur Familie sind ein wichtiges Thema für die Betroffenen. Ein weiterer wichtiger Aspekt, besonders bei Jugendlichen, ist die Frage nach dem Sinn des Lebens oder grundsätzliche Sinnfragen nach

718

bestimmten Ereignissen. Die Auswirkungen können für den betroffenen Jugendlichen unterschiedlich ausfallen. Diese können zwischen leichten Konzentrationsstörungen, Schlafstörungen oder Stimmungsschwankungen bis hin zu Arbeitsunfähigkeit oder Suizidgefahr reichen. Da sich der einzelne Mensch nicht isoliert entwickelt, sind immer auch die Familiensituation und das weitere soziale Umfeld, z. B. Freunde, zu beachten. Die Kinder selbst fühlen sich oft als „Sündenbock“ für Konflikte. Zeigen sie unangepasstes Sozialverhalten oder begehen sie Straftaten, gelten sie oft als „schwarze Schafe“. Als sog. „Symptomträger der Familie“ können an den auffälligen Verhaltensweisen der Kinder Konfliktsituationen oder Probleme der Familie deutlich werden. Es ist möglich, dass das Kind in seiner Umgebung weder den notwendigen Rückhalt noch die Zuwendung und positive Verstärkung des Selbstbewusstseins erhält, um eine vertrauensvolle Beziehung aufbauen zu können. Die psychischen Störungen bestehen häufig schon eine gewisse Zeit, bevor der Betroffene selbst, die Familie oder Außenstehende, z. B. Lehrer, dies bemerken. Meist dauert es eine längere Zeit, bis professionelle Hilfe gesucht wird. Ein Grund hierfür kann sein, dass psychischen Beschwerden meist weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird als körperlichen Einschränkungen oder Schmerzen. Weiterhin sind psychische Störungen immer noch mit Vorurteilen, Ängsten und negativen Zuschreibungen, wie „verrückt zu sein“ oder ins „Irrenhaus“ zu müssen, behaftet. Hinzu kommt, dass ein Erkennen einer therapiebedürftigen psychischen Störung insbesondere bei Jugendlichen erschwert sein kann, da die Identitätsfindung in dieser Entwicklungsphase der Adoleszenz i. d. R. auch Verhaltensänderungen mit sich bringt. Der Umgang mit Menschen, die psychische Störungen haben, kann durch Angst, Hemmungen bzw. Unsicherheiten, „wie man sich verhalten soll“, erschwert sein. Den Eltern wird oft die Schuld für ein angebliches „Misslingen“ der Erziehung gegeben, z. B. „dass sie ihre Kinder nicht im Griff hätten“ und sich nicht durchsetzen würden. Betroffene Eltern können Versagensängste, Überforderung und Schuldgefühle wegen der Situation ihrer Kinder zeigen. Den Kindern und deren Familien fällt es i. d. R. nicht leicht einzugestehen, dass Probleme vorhanden sind und Hilfe benötigt wird.

37.2 Betreuung durch Bezugspersonen Mit der hier verwendeten Bezeichnung des Betreuers ist nicht die Person, die nach dem Betreuungsgesetz als gesetzlicher Vertreter bestellt wird, gemeint. Als Betreuer wird hier die jeweilige Bezugsperson aus dem therapeutischen Team bezeichnet, die im Tagesverlauf für das Kind als Ansprechpartner da ist.

Merke

H ●

Im Folgenden wird neben dem Begriff „Pflege“ auch der Begriff „Betreuung“ verwendet. Der Hauptanteil der Aufgaben in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie fällt auf den pädagogischen und psychologischen Bereich. Es stehen die psychosozialen Probleme und Ressourcen des Kindes und seiner Familie im Vordergrund. Daher wird auch weniger von der „Pflegefachkraft“ als vom „Betreuer“ gesprochen. Die Aufgaben der Betreuer können demnach, je nach notwendiger Unterstützung, auch durch andere Berufsgruppen, z. B. Erzieher oder Sozialpädagogen, übernommen werden.

Die Gesamtbetreuung der Kinder geschieht über einen längeren Zeitraum durch ein therapeutisches Team, an dem neben Pflegefachkräften verschiedene Berufsgruppen, z. B. Psychiater, Ergotherapeuten, Erzieher, Lehrer, Logopäden, Psychologen und Sozialarbeiter, beteiligt sind. Für den Betreuer ist es notwendig, ein Mittelmaß zwischen Nähe und Distanz zu dem Kind und seiner Familie zu finden. Auf der einen Seite soll sich ein Vertrauensverhältnis entwickeln können, auf der anderen Seite muss auch ein notwendiger professioneller Abstand gewahrt bleiben, um eine gewisse objektive Betrachtungsweise zu erhalten. Unterstützen können hier Teamgespräche über die Situation der psychisch kranken Kinder. Auch die Bewusstwerdung der eigenen Emotionen und die Reflexion des eigenen Verhaltens durch Supervision können hilfreich sein.

Praxistipp Pflege

Z ●

Die Beziehung zwischen den betroffenen Kindern, deren Betreuern und Therapeuten spielt eine wesentliche Rolle für den Erfolg der Therapie. Daher ist es besonders wichtig, dass eine Kontinuität durch feste Bezugspersonen besteht.

37.2 Betreuung durch Bezugspersonen

37.2.1 Betreuungsgrundsätze

37.2.2 Kriterien zur Verhaltensbeobachtung

Schwerpunkte der Betreuung sind gezieltes Beobachten, Spiegeln der wahrgenommenen Äußerungen bzw. des Verhaltens und Anbieten von Gesprächen. Die Betreuer sollten sich zurücknehmen, passiv sein, da sein und zuhören, wenn Gesprächsbedarf besteht. Dadurch wird dem Kind ermöglicht, eigene Gefühle wahrzunehmen, zu äußern und sich zu entwickeln. Diese Grundhaltung kommt im folgenden Text zum Ausdruck. Mit-Sein und Zuhören „Die alte, weise Eule saß auf einer Eiche. Je mehr sie sah, desto weniger sprach sie. Je weniger sie sprach, desto mehr hörte sie. Warum können wir nicht alle sein wie dieser Vogel? Ich hoffe, dass es mir gelingt, der Person, mit der ich zu tun habe, so zuhören zu können, dass sie dadurch befähigt wird, aus sich heraus die Entscheidung zu finden, nach der sie handeln wird“ (Kirkpatrick 1985, aus: Tschudin, 1990).

Merke

H ●

Notwendig für den Erfolg einer Therapie sind Einsicht in die eigene Situation, Motivation zur Veränderung/Entwicklung und Mitarbeit. Letztlich therapiert sich der psychisch kranke Mensch selbst, durch und mit der Unterstützung des therapeutischen Teams.

Die Bereitschaft zur Veränderung der eigenen Lebenssituation, der sog. Leidensdruck, kann sich auf verschiedene Art und Weise ausdrücken. Das Kind kann direkt die Nähe und das Gespräch zum Betreuer suchen. Indirekt kann das Kind durch sein Verhalten, z. B. durch Trotzreaktionen, Aggressivität oder „sich zurückziehen“, Reaktionen provozieren wollen. Auch in Zeichnungen, Fotos, Gedichten oder Tagebuchnotizen, die z. B. über soziale Netzwerke (Social Media) absichtlich für alle sichtbar sind, kann „auf sich aufmerksam gemacht werden“. Weiterhin signalisieren erfundene oder dramatisierte körperliche Beschwerden Bedarf an Zuwendung oder Aufmerksamkeit. Für den Erfolg der Therapie ist es somit von Bedeutung, die Gefühle, die durch die Äußerungen und das Verhalten des Kindes erkennbar werden, zunächst wahrzunehmen, um dann die eigenen Reaktionen hierauf abstimmen zu können.

Merke

H ●

Ziel ist es, das Kind besser kennenzulernen, um sein Befinden und seine Situation besser einschätzen zu können.

Die Situationen und die Störungen der Kinder sind sehr individuell zu betrachten. Besondere Aufmerksamkeit ist den Schilderungen und Beobachtungen des Verhaltens allgemein und dem Sozialverhalten im Besonderen zu schenken.

Eltern

a ●

Voraussetzung für eine erfolgreiche Betreuung und Unterstützung ist eine umfassende Pflege- und Sozialanamnese des Kindes. Informationen sollten auch von den Eltern und evtl. Geschwistern eingeholt werden, da das Kind nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern sein Sozialgefüge berücksichtigt werden muss. Bei Bewusstseins-, Gedächtnis-, Wahrnehmungs- und Denkstörungen oder mangelnder Krankheitseinsicht werden so Informationen aus der Perspektive einer anderen Person aus dem nahen Umfeld ergänzt.

Um dem Kind sein eigenes Verhalten bewusst zu machen, kann in Gesprächen oder durch Reaktionen das beobachtete Verhalten gespiegelt werden. Kriterien zur Verhaltensbeobachtung sind in einem Beobachtungsbogen (▶ Abb. 37.1) aufgelistet. Regelmäßig geführt, können hierdurch auch Aussagen über Veränderungen und Entwicklungen des Kindes gemacht werden.

37.2.3 Institutionen Für die Betreuung und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit psychosomatischen und psychiatrischen Störungen stehen viele verschiedene Einrichtungen zur Verfügung. ▶ Stationärer Bereich. Fachkliniken bzw. Fachstationen der Kinder- und Jugendpsychiatrie bzw. -psychosomatik bieten spezialisierte Therapien unter Berücksichtigung besonderer entwicklungsbedingter Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen im stationären Bereich an. Man unterscheidet zwischen offenen und geschlossenen Stationen. Im Vergleich zu offenen Stationen sind in geschlossenen Be-

reichen erhöhte Sicherheitsmaßnahmen zu beachten. Diese können von den Betroffenen als einen Eingriff in ihre Freiheit empfunden werden. Eine geschlossene Station kann aber auch als Ort der Sicherheit vor ihrer Umwelt oder sich selbst wahrgenommen werden, sodass sie dadurch zur Ruhe kommen können. ▶ Teilstationäre Einrichtungen. In einer Tagesklinik erfolgt die Behandlung lediglich tagsüber und die Kinder können abends, meist gegen 17:00 – 18:00 Uhr, in ihre gewohnte Umgebung zurück. Erst am nächsten Morgen, i. d. R. zwischen 8:00 und 9:00 Uhr, kommen sie wieder in die Klinik. Entgegengesetzt sieht die Situation in einer Nachtklinik aus. Am Tag sind die Kinder in ihrer gewohnten Umgebung in der Familie, Schule oder Arbeitsstelle. Nur nachts werden sie in der Klinik aufgenommen. Somit ermöglichen teilstationäre Therapiekonzepte weniger Einschränkungen in der persönlichen Freiheit und erlauben einen intensiveren Kontakt zu Familie oder Schule bzw. Arbeitsstelle. Damit wird die betreffende Person nicht komplett aus der gewohnten Umgebung herausgelöst.

37

▶ Ambulante Dienste. Dazu zählen niedergelassene Ärzte und weitere Therapeuten, z. B. Psychologen, ambulante ärztliche und nichtärztliche Einrichtungen. So wird z. B. in Erziehungsberatungsstellen den Eltern Hilfestellung bei Erziehungsproblemen oder -fragen gegeben. ▶ Flankierende Dienste. Sie überbrücken die stationäre Versorgung und sollen somit die Wiedereingliederung der Betroffenen in ihre Familie und in die Gesellschaft ermöglichen. Hierzu zählen Übergangswohnheime und Wohnheime, betreutes Wohnen und beschützende Wohnangebote, Tagesstätten, Werkstätten und spezielle Arbeitsplätze für behinderte bzw. psychisch kranke Menschen. ▶ Selbsthilfegruppen. Diese bieten die Möglichkeit, sich mit anderen Betroffenen bzw. Angehörigen auszutauschen und ähnliche Probleme zu reflektieren.

37.2.4 Ziele der Betreuung Integration und Sozialkompetenz entwickeln Ein wichtiges Therapieziel sind die Integration der Betroffenen in ein bestehendes Sozialgefüge und die Entwicklung von sozialer Kompetenz. Um dies zu erreichen, sind die Bewusstwerdung der Notwendigkeit von allgemeingültigen Regeln und deren Einhaltung für die Gruppe und den Einzelnen von Bedeutung.

9

Pflege von Kindern mit psychosomatischen und psychiatrischen Störungen

Beobachtungsbogen 1. Sozialverhalten, allgemein Beispiele: freundlich-zugewandt, herzlich, anlehnungsbedürftig, misstrauisch, altklug, geltungsbedürftig, distanzarm, abweisend, ängstlich, durchsetzungsfähig, neugierig, aggressiv, fordernd a) gegenüber Betreuer b) gegenüber anderen Kindern/Jugendlichen c) gegenüber Eltern/Geschwistern

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5. Einschätzung der eigenen Situation, Stärken und Schwächen Beispiele: kann eigene Situation einschätzen, kann Bedürfnisse und Probleme äußern, hat Krankheitseinsicht, kann Gefühle äußern, hat Selbstvertrauen, ist zur Therapie motiviert, hat eigene Lebensperspektive, akzeptiert eigene Grenzen und Schwächen, dramatisiert Erlebnisse

2. Sozialverhalten, in speziellen Situationen

6. Beobachtung der Lebensaktivitäten

a) bei Anweisung, z. B. überangepasst, lenkbar, aggressiv b) bei Wunschversagen, z.B. schnell verzichtend, resigniert, einsichtig, auflehnend c) bei Aktivitätsangebot, z. B. neugierig, begeisterungsfähig, abweisend d) gegenüber „Schwächeren“, z. B. bestimmend, beschützend, gleichgültig e) beim Spiel, Gruppenaktivität, z. B. kann gut /schlecht verlieren, ehrlich f) in Konfliktsituationen, z. B. gibt schnell nach, setzt eigene Interessen durch, ist kompromissbereit, gehemmt, ängstlich g) Umgang mit eigenem und fremden Eigentum, z. B. zerstörerisch, verantwortungsbewusst, sparsam, verschwenderisch h) unter Leistungsdruck, z. B. ängstlich, gehemmt, aggressiv, nervös, blockiert, unkonzentriert, ausdauernd, selbständig, pedantisch

Kommunizieren: z. B. Schmerzen, Orientierung, Legasthenie, Sprache, Hör- und Sehbehinderung Atmen / Kreislauf regulieren: z. B. Atemnot, Schwindel, Herzrasen, Ohnmacht Körpertemperatur regulieren: z. B. Schweißausbrüche, kalte Extremitäten Sich sauber halten und kleiden: z. B. mangelnde oder übertriebene Körperhygiene, unangemessene Kleidung, äußeres Erscheinungsbild Essen und trinken: z. B. Nahrungsverweigerung, Esssucht, Ernährungszustand, provoziertes Erbrechen Ausschneiden: z. B. Einkoten / Einnässen, Verstopfung Sich bewegen: z. B. Antrieb, Aktivität, grob- und feinmotorisches Geschick, motorische Unruhe, Verspannung, Besonderheiten wie TICs, Stereotypien Schlafen: z. B. Bewusstsein, Schlaflosigkeit, Müdigkeit, Ein- und Durchschlafstörungen, Schlafwandeln, Alpträume Für eine sichere Umgebung sorgen: z. B. Selbst- oder Fremdverletzung, Gefahrenbewusstsein Sich beschäftigen, spielen und lernen: z. B. Interessen, Hobbys, Berufswunsch, Spielwünsche Mädchen oder Junge sein: z. B. Rollenverhalten, Partnerschaft, sexualisiertes Verhalten, Distanzlosigkeit Sterben: z. B. Wünsche, Ängste, Vorstellungen, Trauer, Verlusterlebnisse

3. Stimmungslage, Emotionalität Beispiele: unruhig, erregt, fremd-/selbstverletzend, aggressiv, ängstlich, traurig, reizbar, ausgeglichen, gehemmt, impulsiv, kontrolliert, sensibel a) Vorherrschende Stimmung b) Stimmungsänderung durch spezielle Situationen/Ereignisse

4. Geistige Fähigkeiten Beispiele: kann sich an Ereignisse gut erinnern, fasst Zusammenhänge schnell auf, kann sich nicht in andere einfühlen, kann eigenes Verhalten sachlich reflektieren, kann sich gut auf neue Situationen einstellen, altersgemäße Auffassungsgabe

Abb. 37.1 Beobachtungsbogen.

Merke

H ●

Zunächst werden klare Verhaltensregeln in der Gruppe formuliert, ebenso werden die Konsequenzen dargelegt, die bei Nichtbeachtung folgen.

Das gemeinsame Erstellen der Regeln erhöht die Akzeptanz für die Einhaltung, ist aber nicht in jedem Fall möglich. Ein eindeutiges und gleiches Verhalten aller Betreuer bei Nichtbeachtung der aufgestellten Regeln ist Bedingung dafür, dass die

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Kinder die Regeln annehmen und nicht die Betreuer untereinander ausspielen. Daher ist es wichtig, dass in Teambesprechungen über das Verhalten und die Konsequenzen ehrlich gesprochen wird. Zu beachten ist, dass es den Kindern häufig an Motivation und Einsicht in ein Fehlverhalten mangelt. Sie wirken oft gleichgültig, ihnen scheint „alles egal“ zu sein. Durch Gruppenaktivitäten lernen sie den Umgang miteinander und die Rücksichtnahme auf andere Kinder. Die Betreuer beobachten das Sozialverhalten der Kinder innerhalb der Gruppe. Sollten Regeln verletzt werden oder die Sicherheit

gefährdet sein, ist regulierend einzugreifen. Bei Fehlverhalten sollte neben der negativen Konsequenz auch eine angemessene „Wiedergutmachung“ vom Kind erfolgen, das hierbei mitentscheiden kann, was dieses beinhaltet. Dem Kind ist nicht nur Aufmerksamkeit zu schenken, wenn es Regeln bricht, sondern auch wenn es Regeln einhält. Bei der gemeinsamen Auswahl und Festlegung des Fernsehprogramms ist das Alter der Kinder und Jugendlichen zu berücksichtigen. Gewaltverherrlichende Filme oder Computerspiele sollten generell nicht erlaubt werden.

37.2 Betreuung durch Bezugspersonen

Praxistipp Pflege

Z ●

Zeigen die Kinder trotz intensiver Bemühungen auch weiterhin unverändert ihr unerwünschtes Verhalten, kann dies frustrierend für alle Beteiligten sein. Bei den Betreuern können emotionale Auswirkungen wie Enttäuschung, Ablehnung, Wut oder Resignation deutlich werden. Eine professionelle Haltung ist es, die eigene Emotionslage wahrzunehmen und ehrlich zu diesen Gefühlen zu stehen. Hilfreich sind oft der Austausch innerhalb des Teams und die Unterstützung durch erfahrene Kollegen. Manchmal ist es auch sinnvoll, die Betreuung des Kindes an einen Kollegen abzugeben.

Gemeinsame Gruppenaktivitäten und das damit verbundene Ziel des Einlebens in eine Gruppe gehören mit zum therapeutischen Konzept. So kann z. B. das gemeinsame Zubereiten einer Mahlzeit das „WirGefühl“ stärken. Innerhalb einer Gruppe einen bestimmten Verantwortungsbereich zu übernehmen und an einem gemeinsamen Ziel mitzuarbeiten stärkt das Verantwortungs- und Selbstbewusstsein (▶ Abb. 37.2). Auch der Umgang mit Konflikten innerhalb einer Gruppe kann so eingeübt werden. Beispielsweise kann bei einem Kind mit einer dissozialen Verhaltensauffälligkeit das Spielen in der Gruppe Stress und Aggressivität auslösen. Die Situation wird dann mit dem Kind gemeinsam reflektiert. Wenn nötig, erfolgen zusätzlich zuvor vereinbarte Sanktionen. Oft sind alltägliche Aktivitäten für die Kinder mit Konfliktpotenzial behaftet. So bedeutet z. B. für ein Kind mit einem Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) der tägliche Schulbesuch mit der geforderten Konzentration oder das Einnehmen der Mahlzeiten in Ruhe ohne Hilfestellung eine oft kaum zu erfüllende Herausforderung (S. 397).

Eine generell wichtige therapeutische Maßnahme ist ein geregelter Tagesablauf, der Kontinuität und Sicherheit in das tägliche Leben bringen kann. Gemeinsame regelmäßige Essenszeiten, Schulbesuch und geplante Freizeitaktivitäten bzw. Beschäftigungen sind hierbei wichtige Grundsäulen im Tagesgeschehen.

Sicherheit gewährleisten Die Bereitschaft des Kindes ist i. d. R. Voraussetzung für die Therapie in einer psychiatrischen Einrichtung. In bestimmten Situationen kann es jedoch notwendig sein, auch gegen die Motivation und den Willen des Betroffenen zu handeln. Dies ist der Fall, wenn das Leben des psychisch Kranken oder das Leben eines anderen Menschen in Gefahr ist. Bei der zwangsweisen Unterbringung in eine psychiatrische Einrichtung besteht Behandlungspflicht, um die gegenwärtige erhebliche Gefahr für das Leben und die Gesundheit abzuwenden. Die eingewiesene Person hat in dieser Situation nicht das Recht,, über das eigene Leben zu entscheiden und sich dem Tod hinzugeben. Dies wird z. B. bei Menschen mit Suchterkrankung oder Suizidgefährdung durch die eingeschränkte Entscheidungsfähigkeit begründet. Zur Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus besagt das Bürgerliche Gesetzbuch: § 1906 BGB: „Die Anstaltsunterbringung von Geisteskranken, Geistesschwachen und rauschgiftoder alkoholsüchtigen Personen, die gemeingefährlich oder selbstgefährlich sind und dadurch die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden, in Verwahrungs- oder Entziehungsanstalten ist außerhalb des Strafverfahrens nach den Unterbringungsgesetzen der Länder zulässig.“ Werden Kinder gewalttätig gegen sich selbst oder andere Menschen, kann es also gerechtfertigt sein, sie zu ihrem eigenen Schutz oder zum Schutz anderer Menschen zu isolieren. Eine Isolierung bedeutet hier, dass sie von anderen Menschen und verletzenden Gegenständen getrennt werden.

Merke

Abb. 37.2 Gruppenaktivität. Das gemeinsame Kochen kann das „Wir-Gefühl“ stärken. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Dies gilt auch für die vorübergehende Unterbringung in einem sog. „Time-OutRaum“. In diesem Raum befinden sich keine Möbel oder sonstige Gegenstände, an denen sich das Kind verletzen könnte. Hier kann das Kind seinen Aggressionen freien Lauf lassen, ohne sich selbst und andere zu gefährden. Wenn der psychische Zustand wieder stabil ist, erfolgt, je nach Situation des Kindes, die angemessene Integration in den Tagesablauf und in die Gruppe.

Lernen, mit Stress umzugehen Kinder mit innerer Anspannung und Unruhe können im „Snoezel-Raum“ zur Ruhe kommen (▶ Abb. 37.3). Durch verschiedene Angebote findet sich hier für jeden etwas Ansprechendes, um die „Seele baumeln zu lassen“. Um Entspannung oder Konzentration auf gezielte Sinneswahrnehmungen herbeizuführen, sind verschiedene Methoden möglich. Hierzu zählen z. B. sanft sprudelnde Farbwassersäulen oder Lichtspiele in gedämpfter, ruhiger Atmosphäre, evtl. untermalt mit meditativer Musik. Beliebt ist auch sanftes Schwingen in der Hängematte, das ein Gefühl der Geborgenheit vermittelt. Dies wird zusätzlich durch die Umsetzung von akustischen Reizen in spürbare Vibrationen im beheizbaren Klangwasserbett gefördert. Kinder/Jugendliche, die in der Wahrnehmung eingeschränkt sind, nehmen die genannten Angebote ebenfalls gerne an. Neben der Entspannung im „Snoezel-Raum“ können die Kinder auch durch andere Techniken, z. B. autogenes Training, lernen, mit Stress umzugehen. Positiv sind ebenfalls Fantasiereisen, die in Entspannungsübungen integriert werden können, so z. B. die „Kapitän-Nemo-Geschichten“ von Ulrike Petermann. Kapitän Nemo leitet die Kinder in seinen Geschichten sicher durch Gefahren und Abenteuer in der Unterwasserwelt. Hierdurch gewinnen die Kinder Mut, Sicherheit und Selbstvertrauen. Ähnlich wie

37

H ●

Bevor eine Isolierung oder sogar Fixierung stattfinden kann, muss eine schriftliche ärztliche Anordnung, bzw. auch ein richterlicher Beschluss vorliegen. Ausnahme ist eine akute Gefahrensituation. Hier ist es allerdings notwendig, dass die ärztliche Anordnung unverzüglich nachfolgt.

Abb. 37.3 Snoezel-Raum. Hier kann man entspannen und die Seele baumeln lassen. (Foto: K. Oborny, Thieme)

1

Pflege von Kindern mit psychosomatischen und psychiatrischen Störungen beim autogenen Training werden meditative Formeln wie „Ich bin ganz ruhig“ oder „Nur ruhig Blut, dann wird alles gut“ wiederholt. Die Geschichten können auch beim Einschlafen helfen, da sie beruhigend wirken. Die positiven Effekte entstehen besonders deshalb, da die Geschichten eine Handlung beinhalten, auf die sich Kinder einlassen können. Sie lernen innerhalb der Fantasiereisen, zuversichtlich und gelassen den Herausforderungen zu begegnen. Es werden Ängste und motorische Unruhe abgebaut. Weiterhin kann eine bessere Konzentrationsfähigkeit erreicht werden.

Selbstbewusstsein stärken

37

Die Gestaltung der Freizeit dient neben der Beschäftigung und dem psychischen und physischen Ausgleich auch dazu, das Selbstbewusstsein zu stärken. Positive Erfahrungen stärken das Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten und damit das Selbstwertgefühl. Beim Klettern an der Kletterwand werden die Kinder herausgefordert, die eigenen Grenzen zu erfahren (▶ Abb. 37.4). Weiterhin lernen sie, sich anderen Menschen anzuvertrauen, da sie während des Kletterns von einem Betreuer gesichert werden. Bewegung oder Sport generell stellt für viele eine gute Möglichkeit zum Ausgleich dar, um so evtl. negative Gefühle wie Wut abzubauen. Eine gezielte Bewegungstherapie ist auf die Bedürfnisse und Fähigkeiten abgestimmt. Sie verhindert eine Überoder Unterforderung und gewährleistet so

eine positive Erfahrung für das Kind. Diese kann ebenso durch Musiktherapie geschehen, die durch Anhören von Musik oder Musizieren die Selbstwahrnehmung fördert. Hier können die Kinder oder Jugendlichen zudem lernen, Musik als Ausdrucksform ihrer Gefühle zu nutzen.

Beziehungen aufbauen Viele Kinder mit psychischen Störungen haben auch Probleme, Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen. Oft fehlt ihnen das Vertrauen in andere Menschen. Hilfreich kann hier sein, das Kind zunächst durch wenige Bezugspersonen zu betreuen und in eine kleinere Gruppe zu integrieren. Oft fällt es den Kindern leichter, sich Tieren anzunähern. Kinder haben meist Freude daran, zu einem Tier Kontakt herzustellen. Sie können mit der Übernahme von Verantwortung in der Versorgung des Tieres eine wichtige Aufgabe erfüllen und ein sinnstiftendes Gefühl entwickeln, gebraucht zu werden. Weiterhin kann im Umgang mit dem Tier auch die Beziehung zu einem Lebewesen eingeübt werden. Gefühle wie Zuneigung können leichter gezeigt werden, da Tiere z. B. kein abweisendes Verhalten aufgrund des Aussehens des Kindes zeigen. Tiere reagieren sensibel auf die Handlungen und Emotionen der Kinder. Sie können den Kindern damit ihr Verhalten und ihre Gefühle spiegeln. So lernen die Kinder beim therapeutischen Reiten (▶ Abb. 37.5) Rücksicht auf ein Lebewesen zu nehmen und erfahren positive Bestärkung durch die Reaktionen des Pferdes auf ihr Verhalten.

37.2.5 Therapieformen Pflegefachkräfte in psychiatrischen Einrichtungen arbeiten in einem therapeutischen Team mit anderen Berufsgruppen zusammen. In gemeinsamen Fallbesprechungen bringen die Teammitglieder ihre Erfahrungen aus den Therapieeinheiten

und den Beobachtungen des Verhaltens aus dem Tagesverlauf ein. Durch das Zusammenwirken von verschiedenen Therapieformen wird versucht, ein optimales Ergebnis für das Kind zu erzielen. Einige dieser Therapieformen werden nun kurz beschrieben. Ein vertiefendes Studium entsprechender Fachliteratur ist zu empfehlen.

Psychotherapie Definition

L ●

Die Psychotherapie ist eine allgemeine Bezeichnung für alle Formen der psychologischen Behandlung von psychischen Störungen. Zu den psychotherapeutischen Behandlungen zählen z. B. Familientherapie, Erziehungsberatung, Gesprächstherapie, Gruppentherapie, Spieltherapie, Reittherapie, Maltherapie, Musiktherapie, autogenes Training, eine unterstützende medikamentöse Therapie (Pharmakotherapie), Hypnose und Bewegungstherapie.

Verhaltenstherapie Eine bedeutsame psychotherapeutische Behandlungsmöglichkeit ist die Verhaltenstherapie, die sich im Laufe der Zeit den Entwicklungen der Psychotherapie und des damit verbundenen Menschenbildes angepasst hat. Ziel der klassischen ursprünglichen Verhaltenstherapie ist eine Auseinandersetzung mit einem bestimmten unerwünschten Verhalten, durch das Verlernen, Umlernen oder Lernen von neuen Verhaltensweisen. Der Erfolg wird objektiv durch die Beobachtung der Verhaltensänderung überprüft. Im Folgenden werden einige Variationen der Verhaltenstherapie und deren Weiterentwicklung kurz beschrieben. Konkrete Beispiele sind im speziellen Teil bei den einzelnen psychischen Störungen zu finden. ▶ Operante oder instrumentelle Konditionierung. Hierbei reagieren die Personen aus dem Umfeld je nach gewünschtem Verhalten auf die Handlung einer Person. Dieses geschieht mittels positiver Verstärkung des erwünschten Verhaltens durch Belohnung. Zeigt ein Kind ein unerwünschtes Verhalten, erfolgt eine negative Verstärkung durch Bestrafung.

Abb. 37.4 Selbstbewusstsein. Beim Klettern an der Kletterwand können Kinder ihre eigenen Grenzen erfahren (Symbolbild). (Foto: K. Oborny, Thieme)

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Abb. 37.5 Therapeutisches Reiten. Der Kontakt zum Pferd fördert die Beziehungsfähigkeit (Symbolbild). (Foto: K. Oborny, Thieme)

▶ Desensibilisierung. Sie gehört auch zu den Techniken der Verhaltenstherapie und wird vorwiegend bei emotionalen Problemen, z. B. Angststörungen, angewandt. Hierbei soll ein angstauslösender Reiz geschwächt bzw. aufgehoben werden. Dies geschieht durch eine langsam an

37.3 Pflege eines Kindes mit ADHS den Reiz heranführende Vorgehensweise. Begonnen wird dabei zunächst mit der Einschätzung und gedanklichen Vorstellung der Angstsituation. Die Steigerung der Konfrontation mit den angstauslösenden Reizen erfolgt dann je nach individueller Gefühlslage, bis der Betroffene die Situation ohne Hilfestellung alleine bewältigen kann. ▶ Kognitive Verhaltenstherapie (KVT). Die kognitive Verhaltenstherapie stellt eine Weiterentwicklung der klassischen Verhaltenstherapie dar. Hierbei wird davon ausgegangen, dass nicht nur die Umstände oder bestimmte Reize die Handlungen eines Menschen steuern, sondern auch dessen eigene Gedanken und Bewertung einer Situation. Dementsprechend sollen in der kognitiven Verhaltenstherapie zunächst die Wahrnehmung und Deutung des Menschen reflektiert und ggf. relativiert werden, indem gemeinsam weitere Interpretationsmöglichkeiten überlegt werden. Darauf aufbauend können dann unterstützende Deutungsmuster eingeübt werden. ▶ Dialektisch-behaviorale Therapie (DBT). Diese Therapieform wurde von Marsha Linehan in den 1990er-Jahren für suizidale erwachsene Patienten mit einer Borderline-Symptomatik entwickelt. Ein Bereich umfasst hierbei das Erlernen von Handlungsalternativen oder Fertigkeiten (Skills) im sog. „Skillstraining“, um emotional belastende Situationen besser zu meistern. Unter Berücksichtigung der speziellen Situation von Jugendlichen wurde dieses Konzept in der dialektisch-behavioralen Therapie für Adoleszente (DBT-A) konkretisiert. So findet es sich z. B. als therapeutische Grundlage von Jugendlichen mit selbstverletzenden Handlungen wieder, welche hierbei Strategien erlernen, um ihre Stress- und Gefühlstoleranz zu beeinflussen. Damit können selbstverletzende Handlungen vermieden werden.

Medikamentöse Therapie Die medikamentöse Therapie stützt sich auf Psychopharmaka und stellt einen Teil der Gesamtbehandlung dar. Nicht jeder Mensch reagiert auf Psychopharmaka gleich. Sie können je nach psychischer Verfassung unterschiedliche Auswirkungen zeigen. Zudem muss berücksichtigt werden, dass Kinder auf Medikamente oftmals anders reagieren als Erwachsene.

Definition

L ●

Psychopharmaka sind Medikamente, die auf psychische Vorgänge im Menschen Einfluss haben. Sie wirken z. B. beruhigend oder stimulierend bzw. antriebssteigernd aufgrund der Veränderung biochemischer und neurophysiologischer Prozesse im Gehirn.

Je nach vorliegender psychischer Störung kann eine unterstützende Pharmakotherapie erfolgen. Exemplarisch sind hier zu nennen: ● Antidepressiva bei Depressionen, Angstzuständen und Zwangsstörungen, ● Neuroleptika/Antipsychotika bei Wahnvorstellungen und Halluzinationen, z. B. bei Schizophrenie und Manie ● Psychostimulanzien bei Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörungen Es sind die allgemeinen Regeln der medikamentösen Therapie (S. 438) zu beachten. Eine ärztliche Rücksprache muss für jede Änderung im vorgesehenen Therapieplan, z. B. bei verspäteter Einnahme der Medikamente oder bei Weigerung des Kindes, die Medikamente zu nehmen, erfolgen. Eine regelmäßige Einnahme ist wichtige Voraussetzung für eine wirkungsvolle Therapie. Zu den Aufgaben der Pflegefachkräfte gehören neben der Überwachung der Medikamenteneinnahme auch die Beobachtung auf Begleiterscheinungen und Nebenwirkungen der Medikamente. Im Einzelnen wird hier auf den jeweiligen Beipackzettel verwiesen. Allgemein können folgende Nebenwirkungen beobachtet werden: ● vegetative Begleiterscheinungen, z. B. Mundtrockenheit, Tachykardie, Hypooder Hypertonie ● extrapyramidale Syndrome (Bewegungsstörungen) ● innere Unruhe ● erhöhte Krampfbereitschaft ● gastrointestinale Störungen wie Obstipation oder Durchfälle und Übelkeit ● Schlafstörungen, Müdigkeit ● Gewichtszunahme ● Verhaltensänderung (Kriterien für die Beobachtung des Verhaltens können dem Beobachtungsbogen entnommen werden, s. ▶ Abb. 37.1) Im Folgenden werden nun einige ausgewählte Erkrankungen bzw. psychische Störungen kurz vorgestellt. Hierbei wird für die jeweils typisch betroffene Altersgruppe entweder der Begriff „Kinder“ oder „Jugendliche“ verwandt. Es können nicht alle Aspekte beleuchtet werden. Zu beachten ist die individuelle Situation je-

des Kindes, die einen persönlichen Betreuungsplan erforderlich macht. Daher werden nur einige Beobachtungen und Verhaltensweisen vorgestellt. Die konkrete Situation kann für das einzelne Kind anders aussehen und verlaufen. Auch die vorgestellten Pflegeziele und Pflegemaßnahmen stellen nur ausgewählte Angebote dar, die bei jedem Kind neu zu überdenken und zu ergänzen sind. Auf die Ausführungen weiterer Themen, z. B. Sucht, muss in diesem Rahmen verzichtet werden.

37.3 Pflege eines Kindes mit einem Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) 37.3.1 Ursache und Auswirkung Definition

L ●

Ein Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom ist gekennzeichnet durch eine Beeinträchtigung der Aufmerksamkeit, motorische Unruhe (Hyperaktivität) und Impulsivität. Man unterscheidet Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität (ADS = Aufmerksamkeitsdefizitstörung oder ADD = Attention Deficit Disorder) von Aufmerksamkeitsstörung mit Hyperaktivität (ADHS = Attention Deficit Hyperactivity Disorder).

37

Als Risikofaktoren für die Entstehung dieser hirnorganischen Dysfunktion werden neben der genetischen Belastung verschiedene Faktoren angesehen. Hierzu zählen die Frühgeburtlichkeit und der Konsum von Drogen, Nikotin und Alkohol in der Schwangerschaft. Verstärkt werden kann dies durch ungünstige Erziehungspraktiken und hohe situative Anforderungen. Meist sind von der Störung Jungen betroffen. Bei Kleinkindern überwiegt der übermäßige Bewegungsdrang, der sich z. B. in ständigem Laufen zeigt. Größere Kinder und Jugendliche fallen durch Unruhe und Zappeligkeit auf. Durch die mangelnde Aufmerksamkeit und eine hohe Impulsivität in Kombination mit starkem Bewegungsdrang sind die Kinder besonders unfallgefährdet. Symptome des ADHS sind: ● Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörung ● ständige Ruhelosigkeit, Bewegungsunruhe ● Impulsivität im Denken und Handeln ● leichte Erregbarkeit

3

Pflege von Kindern mit psychosomatischen und psychiatrischen Störungen ● ●

● ● ● ●

geringe Selbstkontrolle hohe Ablenkbarkeit, Antriebsüberschuss Distanzlosigkeit gestörtes Sozialgefüge zappelig, „nicht still sitzen können“ Mangel an Ausdauer, „eine Arbeit nicht zu Ende bringen können“

37.3.2 Pflegebedarf einschätzen

37

Mögliche Probleme bei Kindern mit ADHS sind: ● Müdigkeit aufgrund von Einschlaf- und Durchschlafstörungen ● Aggressivität, Reizbarkeit und Unruhe durch eine geringe Frustrationstoleranz ● gestörte soziale Integration und evtl. Isolation durch Störungen im Sozialverhalten, wie z. B. Distanzlosigkeit und Aggressivität ● Schulprobleme aufgrund von Lern- und Leistungsstörungen durch eine verminderte Konzentrationsfähigkeit ● Gefühl der persönlichen Ablehnung und ungerechten Behandlung, basierend auf den Konsequenzen, die durch das Fehlverhalten entstehen ● gemindertes Selbstwertgefühl durch häufige negative Rückmeldungen aufgrund von Fähigkeits- und Fertigkeitsdefiziten Das Ausmaß möglicher Probleme ist vom sozialen Umfeld und von dessen Reaktionen mitbestimmt. Eltern, Geschwister und weitere Bezugspersonen wie Lehrer können von dem Verhalten des Kindes überlastet sein und damit die Situation für das Kind erschweren. Weiterhin kann sich die Bewältigung von Situationen in der familiären Umgebung, Schule oder Ausbildung je nach Anpassung der gestellten Anforderungen durch die Kontaktpersonen positiv oder negativ auswirken.

37.3.3 Pflegeziele und -maßnahmen Motorische Unruhe ist vermindert Bei starker Unruhe kann nach ärztlicher Anordnung eine medikamentöse Behandlung z. B. mit Methylphenidat oder anderen Neuroleptika erfolgen. Hiermit soll bei dem betroffenen Kind eine Erhöhung der Konzentration von Dopamin und Noradrenalin im Gehirn erreicht werden. Dadurch werden die Gehirnaktivität und damit die Konzentrationsfähigkeit verbessert. Die medikamentöse Therapie wird individuell auf die Bedürfnisse des Kindes eingestellt. Hierbei ist der Tagesablauf, z. B. Schulbesuch und Schlafzeiten, zu be-

724

rücksichtigen. Die Kinder erhalten daher meist morgens, jedoch nicht auf nüchternen Magen, ihre Medikamente. Häufige Nebenwirkungen der Medikamente sind Appetitlosigkeit und Schlafstörungen. Beruhigungsmittel sind weniger geeignet, da sie hier eine eher aufputschende Wirkung zeigen. Ausreichende Bewegung und Ergotherapie sind zum motorischen Ausgleich wichtig. Entspannungsübungen dagegen helfen dem Kind, zur Ruhe zu kommen. Entspannend wirken z. B. das Ausmalen von Mandalas oder das Vorlesen von Fantasiereisen (S. 721). Die Reduzierung der Reize, die auf das Kind einströmen, ist eine sehr wichtige Maßnahme, um dem Kind die Beibehaltung der Aufmerksamkeit zu erleichtern. Mögliche hilfreiche Bedingungen hierfür sind z. B. Räume, die mit wenig Bildern und Möbeln eingerichtet sind, eine Reduzierung von Lärmquellen, eine geringe Anzahl von Schülern in einer Klasse oder in der Therapiegruppe und ein Einzelzimmer. Weiterhin ist ein fest strukturierter Tagesablauf eine große Hilfe für die Kinder. Festgelegte Zeiten zum Aufstehen, Essen, Unterrichtsbeginn, Hausaufgabenerledigen und gleichbleibende Freizeitaktivitäten erleichtern dem Kind die Konzentration. Wichtig ist auch, dass bei den einzelnen Maßnahmen, z. B. Essen oder Schularbeiten, keine Ablenkung erfolgt. Klare Aufforderungen und Absprachen sind für das Kind leichter verständlich und verhindern Frustration auf beiden Seiten. Hierzu zählen auch visuelle Hilfen zur Selbstkontrolle oder Selbstinstruktionen, z. B. „erst zuhören, dann antworten“ oder „genau hinsehen“. Diese werden auf einem Plakat im Klassenraum oder Gruppenraum aufgehängt. Ein ausgeglichenes Verhalten der Betreuer beruhigt die Kinder, Nervosität und Hektik dagegen können sich auf die Kinder übertragen. Wichtig ist auch, das Kind für ruhiges und rücksichtsvolles Verhalten zu loben oder zu belohnen, um sein Selbstbewusstsein zu stärken.

Praxistipp Pflege

Z ●

Dem Kind ist besondere Aufmerksamkeit bzw. Zuwendung zu widmen, wenn es das erwünschte Verhalten zeigt. Hiermit erhalten die Kinder eine positive Bestärkung ihres Verhaltens und nicht nur eine ablehnende bzw. „strafende“ Rückmeldung, wenn sie negatives Verhalten zeigen.

Mit den Lehrern ist ein enger Austausch über die Leistungen und den zu bewältigenden Lernstoff zu führen. Oft muss ne-

ben dem regulären Unterricht auch bei den Schulaufgaben Unterstützung gegeben werden. Dieses kann in der psychiatrischen Einrichtung von den Betreuern, zu Hause auch von den Eltern übernommen werden. In der Schule können Integrationshelfer bzw. Schulbegleiter die pädagogische Arbeit der Lehrkräfte vor Ort unterstützen.

Eltern

a ●

Die Elternberatung und das Einüben von Reaktionen auf das Verhalten des Kindes spielen für die Unterstützung der Eltern und die Fortführung der Therapie eine wichtige Rolle. Sie werden somit auch über die Absprachen der Verhaltenstherapie und über mögliche Erfolge oder auch Misserfolge informiert.

Verantwortung für eigenes Verhalten übernehmen Viele Kinder können durch ihre Aufmerksamkeitsstörung kaum alle gestellten Regeln einhalten. Dennoch muss das Kind lernen, Verantwortung für sein eigenes Verhalten zu übernehmen. Die Verantwortlichkeit für das eigene Verhalten kann ihm durch Spiegeln der damit ausgelösten Konsequenzen verdeutlicht werden. Günstig ist es, mit positiven Verstärkern zu arbeiten, die die Kinder für ein angemessenes Verhalten belohnen. Tritt ein bestimmtes negatives Verhalten des Kindes bewusst und beabsichtigt auf, kann es auch notwendig werden, dies mit einer Bestrafung zu missbilligen. Dies kann z. B. durch das Sammeln von negativen Punkten für unangemessenes Verhalten geschehen. Hier müssen die dann folgenden Konsequenzen vorher bekannt sein. Diese sollten sich jedoch nicht auf soziale Aspekte wie Zuwendungsentzug oder Missachtung der Person beziehen.

Eltern

a ●

Viele Kinder zeigen Schwierigkeiten, die in der Institution eingehaltenen Regeln auch zu Hause einzuhalten. Dies kann der Fall sein, wenn die Eltern die Regeln nicht mit der nötigen Konsequenz durchsetzen. So kann vereinbart werden, bei dem Besuch der Eltern bei jedem Missachten der aufgestellten Regeln einen traurigen Smiley (oder digital als Emoticon) aufzuzeigen. Sind z. B. 10 traurige Smileys erreicht, bringt die Mutter das Kind zurück in die Gruppe.

37.4 Pflege eines Jugendlichen mit einer depressiven Störung

37.4 Pflege eines Jugendlichen mit einer depressiven Störung 37.4.1 Ursache und Auswirkung Die Ursachen für die Entstehung einer depressiven Störung sind multifaktoriell. Hierzu zählen neben Risikofaktoren wie z. B. einer genetischen Disposition, chronischen Erkrankung oder frühkindlichen Erfahrung von Gewalt oder Verlust, auch reduzierte Schutzfaktoren wie z. B. mangelnde eigene Bewältigungsstrategien und fehlende Unterstützung in der Familie. Eine depressive Störung kann dann in belastenden oder herausfordernden Lebensphasen aufgrund des Ungleichgewichts von Schutzfaktoren und Risikofaktoren ausgelöst werden. Das parallele Auftreten von weiteren psychiatrischen Erkrankungen (Komorbiditäten) wie z. B. einer Angststörung oder ADHS werden häufig beobachtet.

Definition

L ●

Unter Depression versteht man eine tiefe Traurigkeit mit dem Unvermögen, sich über etwas zu freuen oder für etwas Interesse zu entwickeln. Die Veränderungen in der Stimmung und des Aktivitätsniveaus werden von dem Betroffenen als äußerst belastend empfunden.

Mögliche Symptome einer depressiven Störung können sein: ● Antriebslosigkeit, Müdigkeit, Erschöpfung ● Interessenverlust, sozialer Rückzug ● Traurigkeit, häufiges Weinen ohne „adäquate Erklärung“ ● Gefühl der Hoffnungslosigkeit oder auch Wahrnehmung einer „Gefühllosigkeit“ ● Schlaflosigkeit bzw. Schlafstörungen ● Minderwertigkeitsgefühle, Selbstzweifel, Unsicherheit, Angst, Gefühl der Überforderung ● Gedankenkreisen, Grübeln ● psychotische Symptome wie z. B. Halluzinationen ● somatische Symptome wie z. B. Bauchschmerzen Die Ausprägung einer depressiven Störung wird je nach Anzahl und Ausmaß der Symptome und deren Verlauf einer leichten, mittelschweren und schweren depressiven Phase zugeordnet. Das Spektrum der Auswirkungen stellt sich von

Abb. 37.6 Depression. Ist ein Elternteil erkrankt, kann dies die Entwicklung des Kindes negativ beeinflussen (Symbolbild). (Foto: Art_Photo – stock.adobe.com)

einer tiefsten Traurigkeit und Antriebslosigkeit bis hin zu einer „Manie“ mit getriebener körperlicher und emotionaler Aktivität (euphorisch oder gereizt) dar. Eine Einteilung einer depressiven Störung wird hierbei zwischen einem unipolaren und einem bipolaren Verlauf vorgenommen. Wobei bei der unipolaren depressiven Störung keine manische Phase zu erkennen ist und die bipolare Störung sowohl depressive, als auch manische Episoden zeigen kann.

Eltern

a ●

Insbesondere Kinder und Jugendliche können von einer depressiven Störung in ihrer emotionalen, kognitiven und sozialen Entwicklung negativ beeinflusst werden. Dies gilt sowohl, wenn sie selbst daran erkrankt sind, als auch, wenn ein Elternteil an einer depressiven Störung leidet (▶ Abb. 37.6). In der Betrachtung der depressiven Störungen im Kindes- und Jugendalter ist somit auch der Einfluss auf die mögliche Entstehung einer Depression und/oder einer Entwicklungsstörung bei einem Kind aufgrund der Depression eines erkrankten Elternteils zu berücksichtigen. Dies zeigt sich z. B. bei einer postpartalen Depression. Von dieser Form einer depressiven Störung können Frauen nach der Geburt ihres Kindes betroffen sein. Die Auswirkungen sind in einer gestörten Interaktion mit dem Kind beobachtbar und können sich negativ auf die Entwicklung des Kindes auswirken.

37.4.2 Pflegebedarf einschätzen Die Auswirkungen von depressiven Störungen betreffen zum einen die Erlebniswelt des Kindes und Jugendlichen selbst,

zum anderen kann auch die Familie von den Verhaltensänderungen mitbetroffen sein. Mögliche Probleme können sein: ● autoaggressives und selbstverletzendes Verhalten zur Ableitung von emotionalen Anspannungszuständen ● suizidales Verhalten durch tiefe Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit ● Probleme in der Alltagsbewältigung (Schule, Arbeit, Körperpflege …) durch Antriebslosigkeit ● Verstärkung der Minderwertigkeitsgefühle und Traurigkeit durch fehlende soziale Kontakte und fehlende sinnvolle Beschäftigung ● Unsicherheiten im Umgang mit anderen Menschen, bei Veränderungen im Umfeld oder dem Lernen in der Schule aufgrund von Angststörungen, Verhaltensstörungen und Lernschwierigkeiten ● Gewichtsverlust bzw. bei Kindern erfolgt keine adäquate Gewichtszunahme durch Appetitlosigkeit

37.4.3 Pflegeziele und -maßnahmen

37

Es gibt eine Vielzahl von unspezifischen Symptomen der Depression, die sich auch anderen somatischen und psychischen Erkrankungen zuordnen lassen. Damit werden Erkennen und gezieltes Intervenieren erschwert. Ein frühzeitiges Behandeln einer Depression ist jedoch für den weiteren Verlauf der Erkrankung und der damit verbundenen Auswirkungen für die Betroffenen und deren Familien von großer Bedeutung.

Frühzeitiges Erkennen einer depressiven Störung und einer akuten Selbstgefährdung Die Symptome einer Depression können bereits ab dem Säuglingsalter bestehen und beobachtet werden. Die Säuglinge zeigen z. B. eine reduzierte Gestik und Mimik, Schwierigkeiten mit der Nahrungsaufnahme, dem Schlafen und ein reduziertes Interesse an der Interaktion mit anderen Menschen. Im Kleinkindalter kommen dann Äußerungen über Bauch- und Kopfschmerzen und ein auffälliges Verhalten beim Spielen dazu. Schulkinder weisen ggf. kognitive Einschränkungen beim Lernen in der Schule oder Auffälligkeiten im Kontakt mit anderen Kindern auf. Bei Jugendlichen sind zusätzlich selbstverletzende Handlungen und Drogenmissbrauch zu beobachten. Einige Kinder und Jugendliche sprechen auch mit vertrauten Personen oder in Internetforen über ihre Traurigkeit und ihre suizidalen Gedanken.

5

Pflege von Kindern mit psychosomatischen und psychiatrischen Störungen Die Diagnosestellung einer depressiven Störung kann nach den momentanen Möglichkeiten ab dem Alter von 3 Jahren erfolgen. Meist kommt es jedoch erst im höheren Kindes- bzw. im Jugendalter zur Diagnosestellung. Generell sollten eine differenzierte Beobachtung des Verhaltens, des Erscheinungsbildes und die Äußerungen des Kindes bzw. Jugendlichen erfolgen. Neben der Selbsteinschätzung des Betroffenen sind auch Informationen aus dem Umfeld (Eltern, Lehrer) zu berücksichtigen.

Praxistipp Pflege

Z ●

Die medikamentöse Therapie mit Antidepressiva (Serotoninwiederaufnahmehemmer = SSRI) im Kindes- und Jugendalter ist kritisch zu sehen. Die Auslösung einer manischen Phase kann hierdurch begünstigt werden. Die Kinder und Jugendlichen müssen besonders aufmerksam beobachtet werden, da es zu einer Verstärkung der suizidalen Absichten kommen kann (S. 731).

37 Positive Entwicklung in der Alltagsbewältigung und bei sozialen Interaktionen Depressive Jugendliche sind in ihren Äußerungen über ihre Ängste und Nöte ernst zu nehmen. Dazu ist in den therapeutischen Einheiten Raum zur Öffnung durch den Aufbau einer vertrauensvollen Atmosphäre zu geben. Zusätzlich sind unterstützende Elemente zu berücksichtigen. Je nach Ausprägungsgrad werden neben einer kognitiven Verhaltenstherapie (S. 722) auch die Einnahme von Antidepressiva (bevorzugt: Fluoxetin) nötig. Konkrete entlastende Handlungsoptionen zur Bewältigung von selbstverletzendem Verhalten können die Jugendlichen in einer dialektisch-behavioralen Therapie (DBT) erlernen (S. 723). Hierzu zählen auch Techniken im Umgang mit Stress und Möglichkeiten zur Ablenkung bzw. Beschäftigung. So kann sich z. B. regelmäßige körperliche Aktivität positiv auf die Stimmungslage auswirken. Da eine depressive Störung oft einer langfristigen, meist Monate andauernden Therapie bedarf, lässt sich ein erster Behandlungserfolg erst nach mehreren Wochen bis Monaten evaluieren. Neben der Einschätzung des betroffenen Jugendlichen selbst sind auch seine Kontaktpersonen bzw. das Umfeld wie Therapeuten, Eltern, Lehrer in die Beurteilung von Verhalten und Gesamtsituation einzubeziehen. Hierzu zählt neben der

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Entwicklung von Handlungskompetenz auch die Entwicklung von Fähigkeiten, um individuelle Anzeichen für Rückschläge im Prozess der Genesung frühzeitig zu erkennen.

37.5 Pflege eines Kindes mit Enkopresis/Enuresis 37.5.1 Ursache und Auswirkung Definition

L ●

Unter Enkopresis bzw. Enuresis versteht man eine unwillkürliche Stuhl- bzw. Urinausscheidung ohne erkennbare organische Ursachen, bei der Enkopresis ab einem Alter von 4 Jahren, bei der Enuresis ab dem 5. Lebensjahr.

Enkopresis und Enuresis sind durch Störungen in der Ausscheidungsfunktion gekennzeichnet. Enkopresis bedeutet Einkoten, Enuresis hingegen Einnässen. Die Ereignisse können seltener (z. B. mehrfach pro Monat) oder häufiger (z. B. mehrfach am Tag bzw. in der Nacht) beobachtet werden. Tritt das Einnässen nur nachts auf, spricht man von Enuresis nocturna, tritt es nur tagsüber auf, dann wird dies als Enuresis diurna bezeichnet. Das Auftreten der Enkopresis wird meist nur tagsüber beobachtet, selten auch nachts. Es wird zwischen der primären und sekundären Enkopresis/Enuresis unterschieden. Bei der primären Form war das Kind über das 4./5. Lebensjahr hinaus noch nie sauber bzw. trocken. Bei der sekundären Form beherrschte das Kind bereits die Ausscheidungskontrolle, beginnt aber wieder einzukoten bzw. einzunässen.

37.5.2 Pflegebedarf einschätzen Einnässen bzw. Einkoten kann als alleiniges Ereignis beobachtet werden oder auch begleitet von emotionalen Äußerungen oder Verhaltensstörungen sein. Mögliche Probleme für das Kind und seine Familie können sein: ● gestörte Kontaktfähigkeit durch ängstliches Verhalten, Hemmungen oder Aggressivität ● soziale Ausgrenzung, besonders auch von Gleichaltrigen, aufgrund von Einnässen bzw. Einkoten ● gestörtes Selbstbewusstsein und Konfliktlösungsverhalten durch Schamgefühl ● gestörtes Wohlbefinden durch Geruchsentwicklung oder Hautirritationen

37.5.3 Pflegeziele und -maßnahmen Es ist i. d. R. davon auszugehen, dass kein Kind sich absichtlich einnässt oder einkotet. Drohungen und Strafen können daher das Erleben der Ereignisse für das Kind noch verschlimmern.

Harn- bzw. Stuhldrang wird bemerkt Beim Toilettentraining wird das Kind regelmäßig zu bestimmten Zeiten, z. B. nach den Mahlzeiten oder vor dem Schlafengehen, aufgefordert, die Toilette aufzusuchen. Ballaststoffreiche Kost kann zur Unterstützung der Stuhlregulierung förderlich sein. Ein Tagebuch gibt einen Überblick und eine Einschätzung über die Häufigkeit, die Tageszeit und Situationen, in denen das Einnässen und Einkoten erfolgen. Dieses kann zudem aber auch über die erfolgreichen Toilettengänge Aufschluss geben. Ein wichtiges Ziel ist es, das Kind zur Mitarbeit am Trainingsprogramm zu motivieren. Dazu wird es bei erfolgreichem Toilettengang bzw. sauberer Unterhose oder einer „trockenen Nacht“ belohnt. Das Kind erhält z. B. bei jedem Erfolgserlebnis einen Aufkleber, den es in ein Sammelheft klebt. Hat es eine zuvor festgelegte Anzahl an Aufklebern gesammelt, erhält das Kind eine zusätzliche Belohnung, z. B. darf es einen Spielwunsch äußern.

Merke

H ●

Eine Bestrafung bei Misserfolg geschieht nicht.

Jedoch soll das Kind lernen, Verantwortung für das Geschehene zu übernehmen, indem es z. B. seine verschmutzte Wäsche selbst wäscht bzw. dabei mithilft und auch die anschließend notwendige Körperpflege selbstständig durchführt. Um nächtliches Einnässen zu verhindern, werden die Kinder vor der sonst üblichen Einnässzeit geweckt bzw. stellen sich einen Wecker. Um das Kind auf seine Ausscheidung aufmerksam zu machen, können für die Nacht Klingelmatten oder Klingelapparate eingesetzt werden. Sie reagieren auf Feuchtigkeit mit einem Signalton, wodurch das Kind geweckt wird.

Kinder werden in der Gruppe akzeptiert Besonders wichtig ist es, das Kind nicht vor anderen Kindern bloßzustellen, um die unangenehme Situation nicht noch zu

37.6 Pflege eines Jugendlichen mit Essstörungen verstärken und das Selbstvertrauen zu verringern. Die Fähigkeiten des Kindes werden bewusst gefördert und positiv herausgestellt, um sein Selbstbewusstsein zu stärken. Diese können dann auch für die Gruppe eingesetzt werden. So übernimmt das Kind, wie alle anderen Kinder auch, wichtige Aufgaben bei Gruppenaktivitäten, z. B. Tischdecken.

Die massive Gewichtsreduktion wird durch extreme Diät bzw. Fasten, übermäßige Bewegung, Erbrechen und evtl. Missbrauch von Laxanzien, Diuretika oder Schilddrüsenhormonen erreicht.

Bulimia nervosa Definition

37.6 Pflege eines Jugendlichen mit Essstörungen

Bulimia nervosa ist gekennzeichnet durch Heißhungerattacken, die übermäßige Nahrungsaufnahmen zur Folge haben. Anschließend wird versucht, durch selbst induziertes Erbrechen einer Gewichtszunahme vorzubeugen.

37.6.1 Ursache und Auswirkung Eine lang anhaltende Essstörung kann zu erheblichen gesundheitlichen Schäden führen. Betrachtet man die Gesamtheit der an einer Essstörung erkrankten Jugendlichen sind Mädchen häufiger betroffen als Jungen. Besonders oft kommen unter den Essstörungen die Anorexia nervosa (Magersucht) und die Bulimia nervosa (Ess-Brech-Sucht) vor. Daneben sind weitere psychisch bedingte Veränderungen im Essverhalten wie z. B. die Binge-EatingDisorder (Esssucht) mit der Folge einer Gewichtszunahme zu nennen.

Anorexia nervosa Abzugrenzen ist eine Anorexia nervosa von anderen Essstörungen, z. B. einer vorübergehenden Appetitlosigkeit, aufgrund einer akut emotional belastenden Situation.

Definition

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Die Anorexia nervosa oder Magersucht genannt, stellt eine Form der Nahrungsverweigerung mit extremer Gewichtsabnahme dar. Dies geschieht aufgrund der Einschätzung, zu dick zu sein, bzw. der Angst davor, dick zu werden. Die Folge ist der suchtartige Drang, Kontrolle über das eigene Gewicht zu besitzen.

Häufig sind Mädchen in der Pubertät zwischen 12 und 18 Jahren betroffen. Ursachen für die Entstehung der Essstörung können Verweigerung der körperlichen Entwicklung und der damit verbundenen weiblichen Rolle sein. Darüber hinaus spielen asketische Ideale in der PeerGroup und Vorbilder wie Models eine große Rolle. Häufig ist zudem eine gestörte familiäre Interaktion zu beobachten.

Durch die zwanghafte Beschäftigung mit dem Essen werden regelrechte „Fressanfälle“ ausgelöst. Anschließend erbrechen die meisten Betroffenen wieder alles. Im Vergleich zu Betroffenen mit Anorexia nervosa kann das Körpergewicht im Normalbereich liegen und stärker schwanken. Störungen in der Wahrnehmung des Körperschemas sind ebenfalls zu beobachten. Symptome einer Essstörung sind z. B.: ● rascher und hoher Gewichtsverlust bei Anorexia nervosa, bis zum lebensbedrohlichen Zustand bei extremer Gewichtsabnahme ● fehlende Fettpolster ● Äußerung von Furcht vor Gewichtszunahme ● Ausbleiben bzw. Fehlen der Menstruationsblutung (Amenorrhoe) ● erhöhter Kalorienverbrauch durch verstärkten Bewegungsdrang und unpassende Kleidung (bei Kälte dünne Kleidung bewirkt Kältezittern; bei Wärme warme Kleidung bewirkt verstärktes Schwitzen) ● trockene, schuppige Haut ● Zahnschäden durch Erbrechen ● Täuschungsmanöver bei der Gewichtskontrolle ● verminderte Vitalfunktionen, z. B. Hypotonie, erniedrigte Körpertemperatur (Frieren), kalte, zyanotische Extremitäten ● Scheinobstipation

Binge Eating Disorder (BED)/ Binge-Eating-Störung (BES) Diese Form der Essstörung tritt meist erst im späteren Jugendalter bzw. im jungen Erwachsenenalter auf und wird häufig in Kombination mit anderen affektiven Störungen wie z. B. einer sozialen Angst oder Depression beobachtet.

Definition

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Bei der Binge-Eating-Störung oder „Esssucht“ besteht der unkontrollierbare Drang, große Nahrungsmengen zu sich zu nehmen. Definiert wird eine Zeitspanne von mindestens 2 Tagen pro Woche über einen Zeitraum von 6 Monaten hinweg. Die „Essanfälle“ stehen meist in enger Verbindung mit einer negativen Emotionslage. Es erfolgt, im Unterschied zur Bulimia nervosa, keine Handlung, um das Gewicht zu regulieren, wie z. B. das Induzieren von Erbrechen.

Nach einem „Essanfall“ fühlen sich viele Betroffene schuldig, sie schämen sich für ihr Verhalten. Hinzu kommt, dass für die Gewichtsentwicklung eher ungesunde Lebensmittel konsumiert werden (unabhängig von ihren „Essanfällen“). Als Folge der regelmäßig und dauerhaft übermäßigen Kalorienzufuhr entstehen Übergewicht und meist sogar Adipositas mit den damit verbundenen Folgen wie Bluthochdruck oder Typ-2-Diabetes. Symptome einer Binge-Eating-Störung sind, z. B.: ● auffälliges Essverhalten: sehr schnelles Essen von unverhältnismäßig großen Mengen an fett- und kohlenhydratreichen Nahrungsmitteln mit einem Verlust des Sättigungsgefühls ● Die Nahrungsaufnahme erfolgt aufgrund des Schamgefühls oft alleine bzw. heimlich. ● Völlegefühl und Schuldgefühle nach dem Essen ● extreme Gewichtszunahme mit veränderten Körperproportionen ● sozialer Rückzug und emotional bedingte Verhaltensänderungen wie depressive Verstimmungen oder aggressives Verhalten aufgrund der Scham- und Schuldgefühle ● Gefühl der Erschöpfung und evtl. gleichzeitig ein Gefühl der inneren Unruhe

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37.6.2 Pflegebedarf einschätzen Mögliche Probleme bei Essstörungen sind: ● Gefahr der Unterernährung bis hin zu einem lebensbedrohlichen Zustand durch Nahrungsverweigerung, Erbrechen nach der Nahrungsaufnahme und Einnahme von Abführmitteln bei Anorexia nervosa

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Pflege von Kindern mit psychosomatischen und psychiatrischen Störungen ●













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Gewichtsschwankungen bei Bulimia nervosa durch übermäßige Nahrungsaufnahme mit selbst induziertem Erbrechen Zahndefekte, Entzündung der Mundschleimhaut, Ösophagitis, Gastritis durch Erbrechen bei Anorexia nervosa und Bulimia nervosa Gefahr eines Kreislaufkollapses aufgrund von Störungen im Elektrolyt- und Flüssigkeitshaushalt bei Anorexia nervosa und Bulimia nervosa Leistungsabfall, Konzentrationsschwäche durch Energiemangel bei Anorexia nervosa und Bulimia nervosa fehlende Krankheitseinsicht und damit fehlende Motivation zur Therapie durch gestörte Wahrnehmung des Körperbildes bei Anorexia nervosa und Bulimia nervosa mangelndes Selbstbewusstsein/Selbstwertgefühl durch Missbilligung des eigenen Körperbildes (Ekel vor sich selbst und dem eigenen Körper) Scham- und/oder Schuldgefühle bei „Essanfällen“ bei Bulimia nervosa und Binge-Eating-Störung der Jugendliche sieht keinen Ansprechpartner in Eltern oder Freunden, fühlt sich allein gelassen, distanziert sich

37.6.3 Pflegeziele und -maßnahmen Geregelte Nahrungsaufnahme und Gewichtsregulierung Anorexia nervosa Bei der Anorexia nervosa steht die Verhinderung einer akuten Lebensbedrohung durch den vorhandenen Energiemangel für den Körper im Vordergrund der therapeutischen Maßnahmen. Eventuell muss eine Zwangsernährung über eine Magensonde erfolgen und Bettruhe eingehalten werden. Ist die akute Bedrohung überwunden, wird die Nahrungsaufnahme durch einen in einer Ernährungsberatung festgelegten Essensplan geregelt. Die Jugendlichen sollten in die Essensauswahl und Essenszubereitung einbezogen werden (▶ Abb. 37.7). Über die Ernährung wird dann ein Protokoll, evtl. ein Ernährungstagebuch geführt. Weiterhin werden der Ernährungszustand und der Allgemeinzustand beobachtet. Hierzu zählt auch die tägliche Gewichtskontrolle. Gemeinsam werden Gewichtsgrenzen mit jeweils positiven oder negativen Konsequenzen festgelegt. So können die Jugendlichen bei der Erreichung eines bestimmten Sollgewichtes belohnt werden, indem sie die Erlaubnis zu bestimmten Aktivitäten erhalten. Das

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Abb. 37.7 Frühstück. Nach Möglichkeit sind energiereiche Nahrungsmittel zu bevorzugen. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

über zeitlich festgelegte Essenszeiten erfolgen. Weiterhin werden gemeinsam Beschäftigungen im Tagesablauf geplant, um die frei gewordene Zeit sinnvoll zu nutzen. Hierzu zählen auch Entspannungsübungen, um die Körperwahrnehmung zu fördern. Parallel dazu wird in Gesprächen nach Ursachen für das gestörte Essverhalten gesucht. Verläuft die Therapie erfolgreich, ist eine weitere Unterstützung zur Erhaltung des Erfolges wichtig, da ein „Rückfall“ in alte Verhaltensmuster nicht ausgeschlossen werden kann.

Binge-Eating-Störung Gegenteil kann dann der Fall sein, wenn ein bestimmtes Mindestgewicht unterschritten wird. Begleitend zur Überwachung von Nahrungsaufnahme und Gewichtszunahme werden Gespräche geführt. Nach und nach kann dann die Eigenverantwortlichkeit bei der Nahrungsaufnahme gefördert werden. Für die Entwicklung eines gegenseitigen Vertrauensverhältnisses ist es wichtig, keine zu strengen Kontrollen der Nahrungsaufnahme durchzuführen.

Praxistipp Pflege

Z ●

Werden Manipulationen entdeckt, z. B. Mogeln bei Gewichtsbestimmung oder Rückfall in bekanntes Essverhalten, sollten diese direkt angesprochen werden. Die direkte Klärung gibt den Jugendlichen die Chance, Stellung zu beziehen. Weiterhin beugt es der Entwicklung von Schuldgefühlen vor.

Um die Akzeptanz der Therapieangebote zu erhöhen, sind Absprachen über mögliche Freiheiten bei der Therapieauswahl, aber auch über Konsequenzen bei Nichtbeachtung von Vereinbarungen zu treffen und einzuhalten. Interessen der Jugendlichen sind mit einzubeziehen und zu fördern. Hieraus lassen sich oft neue Perspektiven ableiten. Schwerpunkt ist im weiteren Verlauf der Betreuung die Förderung der sozialen Integration (S. 719). Die Kontaktaufnahme zu anderen Jugendlichen sollte durch aktive Beteiligung am Gruppengeschehen gefördert werden.

Bulimia nervosa Bei einer Bulimia nervosa ist zunächst die Unterbrechung der Essattacken wichtig. Hierbei wird in einer Verhaltenstherapie der Umgang mit dem Essen thematisiert. Dies kann durch eine Selbstbeobachtung mit Essprotokollen und eine Vereinbarung

Die Therapie der Binge-Eating-Störung ist in weiten Teilen der Behandlung der Bulimia nervosa gleichzusetzen. Zusätzlich sind noch gewichtsreduzierende Maßnahmen in das Konzept einzubeziehen. Neben der Unterstützung in der Umstellung der Ernährungs- und Essgewohnheiten sollte auch der Einbezug von regelmäßigen Bewegungsangeboten in den Alltag bedacht werden. Die Interessen und realistischen Möglichkeiten des Betroffenen sind dabei zu beachten, um einen anhaltenden Erfolg der Maßnahmen durch Selbstmotivation und Stärkung des Selbstbewusstseins zu erreichen. In der kognitiven Verhaltenstherapie kann die notwendige Selbstkontrolle z. B. durch Stressbewältigungsstrategien erlernt werden.

Eltern

a ●

In der Familientherapie sollte der Kontakt zu den Eltern langsam, dosiert und gezielt ermöglicht werden. Bei erfolgreicher Beteiligung an der Therapie können auch Gespräche/Kontakte mit der Familie erlaubt werden. Ziel ist es, dass die Betroffenen über ihre Situation auch mit der Familie offen sprechen können.

37.7 Pflege von Kindern mit Gewalterfahrungen 37.7.1 Ursache und Auswirkung Gewalt gegen Kinder ist ein ernst zu nehmendes Problem – es ist davon auszugehen, dass weltweit ca. 75 % der Kinder im Alter zwischen 2 und 4 Jahren innerhalb der Familie eine Form der körperlichen oder seelischen Gewalt erlebt haben – die Dunkelziffer ist dabei hoch (UNICEF 2017). Ausgehend von der Annahme, dass jede Gewalterfahrung einen negativen Einfluss auf die körperliche, geistige und emotio-

37.7 Pflege von Kindern mit Gewalterfahrungen nale Entwicklung nehmen kann, ist es wichtig, bereits bei einem bestehenden Verdacht frühzeitig professionell (psychotherapeutisch) zu intervenieren. Besonders Gewalt gegenüber Kindern kann für das betreuende Team sehr schockierend und emotional belastend sein. Es gilt deshalb die eigenen emotionalen und fachlichen Grenzen in der Pflege verantwortungsbewusst wahrzunehmen und im Team deutlich zu machen. Hilfsangebote lassen sich über Kinderschutzzentren veranlassen.

Definition

L ●

„Unter Kindesmisshandlung werden einzelne oder mehrere Handlungen oder Unterlassungen durch Eltern oder andere Bezugspersonen verstanden, die zu einer physischen oder psychischen Schädigung des Kindes führen, das Potenzial einer Schädigung besitzen oder die Androhung einer Schädigung enthalten“ (Jud 2011).

Formen von Misshandlung Misshandlungen an Kindern können unterteilt werden in ● körperliche, psychische bzw. emotionale Misshandlung, ● körperliche oder emotionale Vernachlässigung und ● sexuelle Misshandlung (meist als sexueller Missbrauch bezeichnet). Hierbei lässt sich als Merkmal zur Unterscheidung bei einer Misshandlung das aktive Vorgehen von einer passiven, demnach unterlassenden Handlung in der Vernachlässigung darstellen. Oftmals sind jedoch beide Formen der aktiven und passiven gesundheitlichen Schädigung zugleich vorhanden.

Eltern

a ●

Eine Sonderform einer Misshandlung stellt das Münchhausen-by-proxy-Syndrom (Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom) dar. Hierbei nimmt die Bezugsperson des Kindes, meist die Mutter, an dem Kind eine gesundheitsschädigende Handlung vor oder erfindet Beschwerden, um ärztliche Behandlungen an dem Kind zu erzielen. Über diese Handlung wird aufgrund einer Persönlichkeitsstörung eine Aufmerksamkeit für die eigene Person auf Kosten der Gesundheit des Kindes angestrebt.

Gewalterfahrung Gewalt kann sowohl außerhalb, als auch innerhalb der Familie ausgeübt werden. Dabei erfolgt der größte Anteil von Gewalterfahrungen bei Kindern durch nahestehende bekannte Personen, meist innerhalb der Familie. Gewalt kann dabei von einer oder mehreren Personen ausgeübt werden. Ursachen für Gewalt an Kindern können u. a. Überforderung und Hilflosigkeit in belastenden Situationen sein. Viele gewaltausübende Personen haben selbst Gewalterfahrungen in der eigenen Kindheit gemacht. Als Auslöser für Gewalt nennen Kapelari et al. 2016 ● nächtliches Erwachen, ● Schreiphasen, ● Trennungsängste und Trotzverhalten des Kindes. Gewalt an Kindern ist auch als Ausübung von Macht gegenüber dem Kind zu sehen. Dies gilt es insbesondere bei sexuellem Missbrauch zu beachten. Oft geht es beim sexuellen Missbrauch nicht allein um die Ausübung von sexuellen Handlungen, sondern um die Befriedigung eines Machtbedürfnisses und das Verlangen nach Kontrolle über das Kind oder eine Situation. Auswirkungen von Gewalterfahrungen können nicht nur unmittelbar, sondern auch noch Jahre später erkennbar sein. Es ist auch möglich, dass erst im Erwachsenenalter psychische und physische Störungen auftreten, die im Zusammenhang mit einer Gewalterfahrung stehen. Die zeitliche Verzögerung erschwert dann das Erkennen des Einflusses der Gewalterfahrung auf die gesundheitlichen Probleme.

Praxistipp Pflege

Z ●

Zu beachten ist, dass es sich bei der Ausübung von Gewalt an Kindern auch um eine Straftat handeln kann, welche strafrechtliche und ggf. zivilrechtliche Auswirkungen mit sich bringt. Hierbei sind zusätzliche polizeiliche bzw. staatsanwaltliche Ermittlungen zu erwarten, welche einer objektiv sachlichen Darstellung der Beobachtungen und des Nachweises von diagnostischen Befunden bedarf. Der frühzeitige Einbezug des zuständigen rechtsmedizinischen Institutes wird in diesem Fall notwendig. Zum Schutz des Kindes vor weiteren Gewalttaten und zur Klärung des Sorgerechtes wird ebenfalls frühzeitig die Jugendhilfe eingeschaltet.

Aufgrund von gesundheitlichen Schädigungen durch Gewalt an Kindern, lassen sich z. B. die Bezeichnung „BatteredChild-Syndrom“ (Kindesmisshandlung) und „Schütteltraumasyndrom“ definieren. Auswirkungen von Gewalterfahrungen können jedoch nicht nur unmittelbar, sondern auch noch Jahre später erkennbar sein. Es ist auch möglich, dass erst im Erwachsenenalter psychische und physische Störungen auftreten, die im Zusammenhang mit einer Gewalterfahrung stehen. Die zeitliche Verzögerung erschwert dann das Erkennen des Einflusses der Gewalterfahrung auf die gesundheitlichen Probleme.

37.7.2 Pflegebedarf einschätzen Mögliche Probleme von Kindern mit Gewalterfahrungen können sein: ● Ein- und Durchschlafstörungen durch Ängste ● Essstörungen aufgrund depressiver Verstimmungen ● Auto- und Fremdaggressionen, selbstund fremdgefährdende Handlungen durch emotionalen Kontrollverlust ● gehemmtes und/oder überangepasstes Verhalten im Umgang mit anderen Menschen durch Minderwertigkeitsgefühle ● allgemein distanzloses und ungehemmtes Verhalten gegenüber fremden Personen ● psychosomatische Beschwerden wie Bauch- oder Kopfschmerzen ● Kontrollverlust über die Ausscheidungsfunktion durch Einnässen und/oder Einkoten ● Entwicklung von Schulangst und/oder Sozialphobie

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37.7.3 Pflegeziele und -maßnahmen Frühzeitiges Erkennen einer Kindeswohlgefährdung Eine wichtige Aufgabe von Pflegefachkräften besteht in der Beobachtung von Verhalten und Pflegezustand des Kindes. Bereits in der Aufnahmesituation und bei der anschließenden Erstellung der Pflegeanamnese können Auffälligkeiten des Kindes erfasst bzw. beobachtet werden. Warnzeichen für eine mögliche Kindesmisshandlung können sein: ● Auffällige misshandlungstypische Verletzungen (▶ Abb. 37.8). ● Verletzungen des Kindes, dessen klinisches Erscheinungsbild nicht mit den Erklärungen der Eltern oder des Kindes zusammenpassen.

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Pflege von Kindern mit psychosomatischen und psychiatrischen Störungen

retinale Einblutung (Schütteltrauma)

Quetschung der Mundwinkel (Abdruck durch den Sauger bei Flaschenfütterung)

Würgemale Rötung oder Abschürfung der Haut (z. B. Abdruck einer Hand, eines Gegenstandes wie Stock oder Gürtel)

multiple bzw. symmetrische Hämatome (z. B. Oberarmhämatome vom Festhalten)

Bissmarken scharf begrenzte Verbrühung: (z. B. Eintauchen der Hände in heiße Flüssigkeiten)

punktförmige Verbrennungen (Zigaretten)

Fraktur, bevor das Kind laufen kann (z. B. Sturz durch Schubsen, Fallenlassen)

Genital- und Analverletzungen

Abb. 37.8 Anzeichen von Gewalteinwirkung. Mögliche Verletzungen und Lokalisationen einer Misshandlung.

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● ●



Verletzungen des Kindes, die bei der Untersuchung oder Pflege entdeckt werden, die vorher nicht erwähnt wurden. Auffälligkeiten in der Entwicklung des Kindes ohne nachvollziehbare Begründung. Auffälligkeiten bzw. Veränderungen im Verhalten des Kindes, die sich nicht erklären lassen. Kind ist ungepflegt, trägt schmutzige Kleidung, die ggf. nicht witterungsgemäß angepasst wurde. Inadäquate bzw. gestörte Eltern-KindInteraktion. Erkennbare Bindungsstörungen des Kindes: „frozen watchfulness“ („eingefrorene Wachsamkeit“ oder hoffnungsloser, emotionsloser Blick des Kindes). Auffällig übertriebene Zuwendung der Eltern. Eltern wechseln häufig den Kinderarzt. Das Kind hat ungewöhnlich häufig eine Verletzung, die ärztlich versorgt werden muss. Generell Verletzungen bei Säuglingen (da sie sich noch nicht selbst fortbewegen können).

Wertschätzung und Stärkung des Selbstwertgefühls

Merke

Stärkung der Fürsorgekompetenz

H ●

Bestehen Anzeichen einer Gewalteinwirkung, ist es wichtig, diese verantwortungsbewusst auch auf andere Ursachen hin zu prüfen. Äußerungen der Eltern müssen kritisch hinterfragt werden. Das gemeinsame Vorgehen in einem multiprofessionellen Team ist dann besonders wichtig.

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Viele Kinder entwickeln aufgrund ihrer emotionalen Verletzungen und der gleichzeitigen Abhängigkeit vom Täter Ängste, die sich massiv auf ihr Leben auswirken können. Die Erlebnisse werden oft als Strafe für das eigene Fehlverhalten verstanden. Durch manipulative Äußerungen, Drohungen und Schuldzuweisungen der Bezugsperson(en) fühlt sich das Kind ggf. mitverantwortlich für die an ihm ausgeübte Gewalt. Daher ist es essenziell, innerhalb des therapeutischen Angebots das Selbstwertgefühl des Kindes zu stärken. Dies geschieht im Spannungsfeld der Erkenntnis der Opferrolle: „mir wurde unrecht getan“, „mich trifft keine Schuld“ und der Bewusstwerdung der eigenen Handlungsmöglichkeiten mit dem Ziel der Loslösung aus der Opferrolle: „Ich wehre mich und sage Nein!“ Unterstützen können dabei das Erkennen und die Stärkung der Ressourcen und die damit verbundenen positiven Erfahrungen. Hierbei sind therapeutische Gespräche und die Auswahl der Beschäftigung nach den jeweiligen Interessen und Fähigkeiten hilfreich.

Zur Prävention von (weiteren) Gewalterfahrungen ist es wichtig, die Eltern bzw. die Bezugspersonen im Umgang mit dem Kind eng zu begleiten. Durch den intensi-

ven Kontakt können mögliche Störungen bzw. Unsicherheiten in der Fürsorge und Pflege des Kindes schnell erfasst werden. Bei Bedarf müssen die Eltern z. B. hinsichtlich der Ernährung, Pflege und Sicherheit des Kindes angeleitet und geschult werden. In der Eltern-Kind-Interaktion ist der Umgang mit dem Kind auf sog. „Feinzeichen“ hin zu beobachten. Ziegenhain et al. (2010) beschreiben hierzu in ihrem „Lernprogramm Baby-Lesen“ in einer Skala der elterlichen Feinfühligkeit die Abstufungen von ● sehr feinfühlig, ● feinfühlig, ● wenig feinfühlig und ● überhaupt nicht feinfühlig. Darunter wird die Fähigkeit eingeordnet, inwieweit die Eltern die verbalen und nonverbalen Äußerungen des Kindes verstehen und situationsgerecht darauf eingehen. Hierbei sind insbesondere fehlende adäquate positive Zuwendung bzw. ein Auftreten von aggressiven Äußerungen oder Handlungen zu beachten. Das Kind seinerseits reagiert dann entsprechend seinen Möglichkeiten auf die Kommunikation der Eltern. In der Interaktion mit den Eltern können somit beim Säugling und Kleinkind entsprechende „Feinzeichen von Offenheit und Belastbarkeit“ (Ziegenhain et al. 2010) beobachtet werden (▶ Tab. 37.1). Unterstützung und Anleitung der Eltern bestehen in der gemeinsamen Wahr-

37.8 Pflege eines Jugendlichen mit selbstverletzendem Verhalten und Suizidalität

Tab. 37.1 Feinzeichen von Offenheit und Belastbarkeit (aus: Ziegenhain et al. 2010) Das Kind ist …

… offen und aufmerksam

Autonomes System

● ●

regelmäßige Atmung rosige Hautfarbe

… zeitweise belastet und kann sich regulieren ● ●

gähnen, seufzen, niesen grimassieren

… belastet und kann sich nicht mehr alleine regulieren ●





Motorisches System

● ● ●



Kopf zur Bezugsperson wenden sich anschmiegen, einkuscheln weiche, gut modulierte Bewegungsabläufe entspannte Körperhaltung, gleichmäßige Körperspannung











System der Schlaf- Wach-Zustände mit klaren Erregungsund Bewusstseinsniveaus

● ●

wach und aufmerksam stabile emotionale Balance, fängt kleinere oder größere Veränderungen oder Belastungen gut ab



Blickkontakt suchen, aufnehmen, halten lächeln (langsam ein- und ausschwingend, leicht geöffneter Mund) offen, aktiv, interessiert



sich selbst festhalten (z. B. an der Kleidung) Hände oder Füße zusammenlegen/-falten Hand in den Mund nehmen/ zum Kopf/Ohr nehmen Hand am Körper, sich selbst berühren Daumen, Schnuller lutschen



zeitweise wach und aufmerksam, zeitweise müde oder unruhig



● ● ●





● ●



System der kognitiven Aufmerksamkeit und der sozialen Aufgeschlossenheit







nehmung und Interpretation der Signale des Kindes und einer davon abgeleiteten adäquaten Reaktion. Damit soll die Grundlage für die Stärkung der Fürsorgekompetenz der Eltern geschaffen werden, um einer möglichen Überforderungen entgegenzuwirken (z. B. bei einem „Schreikind“ zur Prävention eines Schütteltraumas). Das Verhalten der Pflegefachkraft im Umgang mit dem Kind kann den Eltern als Modellverhalten dienen und Handlungsoptionen aufzeigen. Dabei sind Vorwürfe durch ein Bloßstellen von vermeintlich falschen Interaktionsmustern, wie z. B. „so macht man das aber nicht, ich zeige Ihnen mal, wie das geht“ zu unterlassen. Die Pflegefachkraft kann die Eltern ermutigen, indem sie Ressourcen des Kindes und Entwicklungsschritte verdeutlicht, z. B. „Haben Sie gesehen, wie entspannt das Kind darauf reagiert hat?“.

● ●

ausdrucksloser Gesichtsausdruck Blick abwenden blinzeln, kurz die Augen schließen

37.8 Pflege eines Jugendlichen mit selbstverletzendem Verhalten und Suizidalität 37.8.1 Ursache und Auswirkung Definition

L ●

Unter Suizidalität werden alle Aktivitäten verstanden, die zur Selbsttötung führen. Die Verzweiflung am Leben kann auch mit anderen, z. B. Freunden, Gleichgesinnten oder Sektenmitgliedern, zum kollektiven Selbstmord führen. Dagegen besteht bei einem nichtsuizidalen selbstverletzenden Verhalten (NSSV) keine Selbsttötungsabsicht. Dies kann jedoch als eine Form der Autoaggression bei einer psychischen Störung durch z. B. sich „Ritzen“ oder „Schneiden“ zu einer ggf. bedrohlichen Verletzung führen.

Barton et al. 2017 nennen als Risikofaktoren für eine Suizidalität die Impulsivität und mangelnde emotionale Regulations-





gepresste, unregelmäßige Atmung, Atempausen marmorierte, gerötete oder blasse Haut würgen, spucken, drücken (bei Säuglingen) sich stark überstrecken Hand spreizen und hochhalten abwenden, wegdrehen mit den Armen rudern (schlagen) den Arm/die Hand der Bezugsperson wegdrücken körperliches Erstarren/Einfrieren brüchige emotionale Balance (häufiger Wechsel der Verhaltenszustände) dösen aufgerissene Augen, starrer Blick meckern, schreien unzugänglich, nicht ansprechbar, zurückgezogen erregt, überwach

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fähigkeit. Ursache für die Selbsttötungsabsicht kann somit eine nicht zu bewältigende Lebenskrise oder ein traumatisierendes Ereignis sein. Beispiele hierfür sind ● der Verlust von Bezugspersonen durch Tod, ● Leistungsversagen, ● Schulprobleme, ● Trennung vom Partner, ● Liebeskummer, ● sexuelle Missbrauchserfahrungen oder ● Scheidung der Eltern. Suizidgefährdete Jugendliche können oft den Zwiespalt zwischen „Kind sein“ und „Autonomieentwicklung“ nicht bewältigen. Möglicher Auslöser für einen Suizidversuch kann auch eine zugrunde liegende Depression sein (S. 725). Die häufigsten Suizidhandlungen bei Jugendlichen werden durch Tablettenvergiftung, Pulsaderschnitte, Strangulation und Sprung in die Tiefe ausgeübt. Eine Wiederholungsgefahr besteht nach dem ersten nicht vollendeten Versuch in 20 – 50 % der Fälle. Suizidgedanken sind geschlechtlich gleich stark ausgeprägt. Selbstmordversuche werden von Mädchen 3- bis 7-mal häufiger als von Jungen unternommen. Der Tod ist dabei nicht immer ernsthaft beabsichtigt. Suizidver-

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37.8 Pflege eines Jugendlichen mit selbstverletzendem Verhalten und Suizidalität

Tab. 37.1 Feinzeichen von Offenheit und Belastbarkeit (aus: Ziegenhain et al. 2010) Das Kind ist …

… offen und aufmerksam

Autonomes System

● ●

regelmäßige Atmung rosige Hautfarbe

… zeitweise belastet und kann sich regulieren ● ●

gähnen, seufzen, niesen grimassieren

… belastet und kann sich nicht mehr alleine regulieren ●





Motorisches System

● ● ●



Kopf zur Bezugsperson wenden sich anschmiegen, einkuscheln weiche, gut modulierte Bewegungsabläufe entspannte Körperhaltung, gleichmäßige Körperspannung











System der Schlaf- Wach-Zustände mit klaren Erregungsund Bewusstseinsniveaus

● ●

wach und aufmerksam stabile emotionale Balance, fängt kleinere oder größere Veränderungen oder Belastungen gut ab



Blickkontakt suchen, aufnehmen, halten lächeln (langsam ein- und ausschwingend, leicht geöffneter Mund) offen, aktiv, interessiert



sich selbst festhalten (z. B. an der Kleidung) Hände oder Füße zusammenlegen/-falten Hand in den Mund nehmen/ zum Kopf/Ohr nehmen Hand am Körper, sich selbst berühren Daumen, Schnuller lutschen



zeitweise wach und aufmerksam, zeitweise müde oder unruhig



● ● ●





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System der kognitiven Aufmerksamkeit und der sozialen Aufgeschlossenheit







nehmung und Interpretation der Signale des Kindes und einer davon abgeleiteten adäquaten Reaktion. Damit soll die Grundlage für die Stärkung der Fürsorgekompetenz der Eltern geschaffen werden, um einer möglichen Überforderungen entgegenzuwirken (z. B. bei einem „Schreikind“ zur Prävention eines Schütteltraumas). Das Verhalten der Pflegefachkraft im Umgang mit dem Kind kann den Eltern als Modellverhalten dienen und Handlungsoptionen aufzeigen. Dabei sind Vorwürfe durch ein Bloßstellen von vermeintlich falschen Interaktionsmustern, wie z. B. „so macht man das aber nicht, ich zeige Ihnen mal, wie das geht“ zu unterlassen. Die Pflegefachkraft kann die Eltern ermutigen, indem sie Ressourcen des Kindes und Entwicklungsschritte verdeutlicht, z. B. „Haben Sie gesehen, wie entspannt das Kind darauf reagiert hat?“.

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ausdrucksloser Gesichtsausdruck Blick abwenden blinzeln, kurz die Augen schließen

37.8 Pflege eines Jugendlichen mit selbstverletzendem Verhalten und Suizidalität 37.8.1 Ursache und Auswirkung Definition

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Unter Suizidalität werden alle Aktivitäten verstanden, die zur Selbsttötung führen. Die Verzweiflung am Leben kann auch mit anderen, z. B. Freunden, Gleichgesinnten oder Sektenmitgliedern, zum kollektiven Selbstmord führen. Dagegen besteht bei einem nichtsuizidalen selbstverletzenden Verhalten (NSSV) keine Selbsttötungsabsicht. Dies kann jedoch als eine Form der Autoaggression bei einer psychischen Störung durch z. B. sich „Ritzen“ oder „Schneiden“ zu einer ggf. bedrohlichen Verletzung führen.

Barton et al. 2017 nennen als Risikofaktoren für eine Suizidalität die Impulsivität und mangelnde emotionale Regulations-





gepresste, unregelmäßige Atmung, Atempausen marmorierte, gerötete oder blasse Haut würgen, spucken, drücken (bei Säuglingen) sich stark überstrecken Hand spreizen und hochhalten abwenden, wegdrehen mit den Armen rudern (schlagen) den Arm/die Hand der Bezugsperson wegdrücken körperliches Erstarren/Einfrieren brüchige emotionale Balance (häufiger Wechsel der Verhaltenszustände) dösen aufgerissene Augen, starrer Blick meckern, schreien unzugänglich, nicht ansprechbar, zurückgezogen erregt, überwach

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fähigkeit. Ursache für die Selbsttötungsabsicht kann somit eine nicht zu bewältigende Lebenskrise oder ein traumatisierendes Ereignis sein. Beispiele hierfür sind ● der Verlust von Bezugspersonen durch Tod, ● Leistungsversagen, ● Schulprobleme, ● Trennung vom Partner, ● Liebeskummer, ● sexuelle Missbrauchserfahrungen oder ● Scheidung der Eltern. Suizidgefährdete Jugendliche können oft den Zwiespalt zwischen „Kind sein“ und „Autonomieentwicklung“ nicht bewältigen. Möglicher Auslöser für einen Suizidversuch kann auch eine zugrunde liegende Depression sein (S. 725). Die häufigsten Suizidhandlungen bei Jugendlichen werden durch Tablettenvergiftung, Pulsaderschnitte, Strangulation und Sprung in die Tiefe ausgeübt. Eine Wiederholungsgefahr besteht nach dem ersten nicht vollendeten Versuch in 20 – 50 % der Fälle. Suizidgedanken sind geschlechtlich gleich stark ausgeprägt. Selbstmordversuche werden von Mädchen 3- bis 7-mal häufiger als von Jungen unternommen. Der Tod ist dabei nicht immer ernsthaft beabsichtigt. Suizidver-

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Pflege von Kindern mit psychosomatischen und psychiatrischen Störungen ● ●



Appetitlosigkeit und Gewichtsabnahme Lebenssituation wird als ausweglos erlebt, tiefe Traurigkeit und Verzweiflung, Verlust von Zukunftsvorstellungen Selbstmordfantasien und Äußerung von Suizidabsichten

37.8.3 Pflegeziele und -maßnahmen Abb. 37.9 Tiefe Traurigkeit. Rückzug und Hoffnungslosigkeit als mögliche Anzeichen für eine Suizidgefährdung (Symbolbild). (Foto: Jonathan Stutz – stock.adobe.com)

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suche können auch aus Provokation geschehen, um auf sich aufmerksam zu machen. Es muss aber jede Äußerung eines Suizidgedankens und Suizidversuchs ernst genommen werden. Bei Jungen zeigt sich durch die Anwendung „härterer Methoden“ (z. B. Erhängen, Erschießen, Hinabstürzen) ein höherer Anteil tödlich endender Suizidversuche als bei Mädchen. Als Zeichen der Selbstmordgefährdung können Perspektivlosigkeit, Schwermütigkeit, Gehemmtheit, Niedergedrücktheit, Traurigkeit und Verstimmtheit beobachtet werden (▶ Abb. 37.9).

Merke

H ●

Die meisten suizidgefährdeten Jugendlichen sprechen über ihre Absichten oder senden Signale aus! Die Äußerung von Selbstmordgedanken kann z. B. durch Fantasievorstellungen, spielerische Darstellung der Selbstmordsituation zum Ausdruck kommen. Meist hören die Jugendlichen plötzlich auf, über ihr Vorhaben zu reden. Dann ist oft der Entschluss, sich das Leben zu nehmen, endgültig gefällt.

37.8.2 Pflegebedarf einschätzen Mögliche Probleme suizidgefährdeter Jugendlicher sind: ● Interessen- und Hoffnungslosigkeit, Rückzug von Aktivitäten/Hobbys ● gestörte Beziehungsfähigkeit und soziale Isolation (keine Teilnahme am Gruppengeschehen, reduziertes Interesse an Kontaktaufnahme)

732

Schutz vor schädigenden Handlungen Bei Ankündigung einer suizidalen Krise wird eine stationäre Aufnahme in eine psychiatrische Einrichtung notwendig. Der Jugendliche ist auf Gegenstände zu untersuchen, mit denen er sich selbst verletzen kann. Anschließend wird er evtl. isoliert, z. B. im Time-Out-Raum, um ihn vor dem Suizid zu schützen.

Merke

H ●

In der akuten Phase sollte die suizidgefährdete Person nicht unbeaufsichtigt sein.

Es werden vom Team Bezugspersonen ausgewählt, die an den ersten Tagen der stationären Betreuung abwechselnd anwesend sind. Eventuell ist auch eine unmittelbare Einzelbetreuung, die auch während der Nacht anwesend ist, erforderlich. Allein darf der Jugendliche die Station bzw. das Zimmer nicht verlassen, hier sollten die Türen zur Sicherheit verschlossen sein. Auf Signale und Äußerungen ist zu achten, die auf eine Absicht zum Selbstmord hindeuten. Alle Beobachtungen und Pflegemaßnahmen werden dokumentiert. Absprachen zwischen Bezugspersonen und suizidgefährdetem Jugendlichen sind für alle im Team bindend. Dem Jugendlichen sollten durch Zuwendung in Form einer wohlwollenden und geduldigen Begegnung Geborgenheit und Nähe vermittelt werden. In Gesprächen ist aufmerksam zuzuhören und seine Situation ernst zu nehmen. Es sollten keine (gut gemeinten) Ratschläge erfolgen, da Lösungswege vom Jugendlichen selbst entwickelt werden sollen. Dem Jugendlichen helfen die Akzeptanz seiner Person und die Offenheit für seine Probleme und Ängste. Das Selbstbewusstsein des Jugendlichen kann unterstützt werden durch das Spiegeln seiner Stärken und das Entgegenbringen von Wertschätzung und Zuwendung.

Vor einer anstehenden Entlassung werden sog. „Suizidverträge“ ausgehandelt, die beinhalten, dass sich der Jugendliche bis zum nächsten Treffen nichts antun darf. Aus Erfahrung weiß man, dass noch Suizidgefährdete hierzu oft nicht einwilligen.

Konflikte verbalisieren Die Gesprächstherapie stellt eine Möglichkeit dar, um dem Jugendlichen zu helfen, die eigene Situation zu reflektieren und evtl. Lösungswege zu entwickeln. Mithilfe von Musiktherapie oder Kunsttherapie sind andere nonverbale Formen des Ausdrucks von Gefühlen oder der Einschätzung der Situation gegeben. Manchen Jugendlichen fällt dieses leichter, als direkt über den Konflikt oder die Belastungssituation zu sprechen. Gesprächsbereitschaft sollte deutlich signalisiert werden, damit der Jugendliche spürt, dass jemand da ist, mit dem er jederzeit reden kann. Äußert der Jugendliche Gesprächsbedarf, sollte geduldig und ruhig zugehört werden. Mit dem Jugendlichen zusammen werden Absprachen bezüglich erlaubter Freiheiten getroffen, hierzu zählt z. B. die Besuchsregelung der Angehörigen. Die Vereinbarungen werden mit den Teamkollegen abgesprochen. Der gleiche Informationsstand erspart Diskussionen und ein „Gegeneinanderausspielen“ durch die Jugendlichen.

Angenehme Erlebnisse ermöglichen Es werden verschiedene Aktivitäten angeboten, aus denen eine Mitauswahl durch den Jugendlichen erfolgen kann. Interessen und Stärken sind hierbei zu berücksichtigen, um das Selbstwertgefühl des Jugendlichen zu stärken. Körperwahrnehmung und Entspannung sind durch bestimmte Techniken oder im „SnoezelRaum“ (S. 721) möglich. Eine Beteiligung am Gruppengeschehen bei gemeinsamen Aktivitäten wird ermöglicht, sobald es die Situation des Jugendlichen zulässt. Auch hierbei sollten sie in die Entscheidungen miteinbezogen werden, ob z. B. ein Kinobesuch oder ein gemeinsamer Kochabend stattfinden soll. So früh wie möglich sollten sie auch Aufgaben für die Gruppe übernehmen, z. B. Einkaufen für den Kochabend oder die Organisation eines Spielabends.

Kapitel 38 Pflege von Kindern mit infektiösen Erkrankungen

38.1

Bedeutung

735

38.2

Rechtliche Grundlagen

736

38.3

Hygienische Grundlagen

739

38.4

Impfungen

741

38.5

Exanthembeobachtung

742

38.6

Pflege eines Kindes mit Durchfallerkrankungen

742

38.7

Pflege eines Kindes mit Hepatitis

743

38.8

Pflege eines Kindes mit Herpes-simplexInfektion 745

38.9

Pflege eines Kindes mit Influenza (Virusgrippe)

746

38.10 Pflege eines Kindes mit Keuchhusten (Pertussis)

746

38.11 Pflege eines Kindes mit Kopfläusen (Pediculosis capitis)

748

38.12 Pflege eines Kindes mit Masern (Morbilli)

749

38.13 Pflege eines Kindes mit Meningitis/ Enzephalitis

750

38.14 Pflege eines Kindes mit MRSA

752

38.15 Pflege eines Kindes mit Pfeifferschem Drüsenfieber (infektiöse Mononukleose) 752 38.16 Pflege eines Kindes mit Scharlach

753

38.17 Pflege eines Kindes mit Skabies (Krätze)

754

38.18 Pflege eines Kindes mit Stomatitis aphthosa

755

38.19 Pflege eines Kindes mit Windpocken (Varizellen)

756

38.1 Bedeutung

38 Pflege von Kindern mit infektiösen Erkrankungen Diana Nowak

38.1 Bedeutung Infektionserkrankungen gehören zu den weltweit häufigsten Todesursachen. Selbst für hoch entwickelte Industrienationen stellt die Behandlung von Krankheiten wie AIDS, Hepatitis und Tuberkulose eine Herausforderung dar. Viele Erkrankungen treten weltweit wieder häufiger auf, nachdem sie zurückgedrängt schienen, z. B. die Tuberkulose. Dies wird u. a. dadurch begünstigt, dass immer mehr Erreger gegen die bisher verwendeten Antibiotika resistent werden. Das bedeutet, die Wirksamkeit vieler Antibiotika ist nicht mehr gegeben. Neben einer Zunahme von sog. multiresistenten Keimen kommen auch immer wieder neu entdeckte Erregerformen hinzu.

Definition ●







L ●

Epidemiologie: Befasst sich als Wissenschaftszweig u. a. mit dem Auftreten von Infektionserkrankungen in der Bevölkerung. Epidemie: Bezeichnet ein vermehrtes, zeitlich und örtlich begrenztes Auftreten einer Krankheit, insbesondere einer Infektionskrankheit. Pandemie: Stellt eine sich weltweit verbreitende infektiöse Erkrankung dar, z. B. Influenza. Endemie: Bezeichnet das örtlich begrenzte Auftreten einer Infektionserkrankung, z. B. Malaria in subtropischen Sumpfgebieten.

Die Ausbreitung von Infektionserkrankungen wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst. Hierzu zählt neben unhygienischen Lebensbedingungen auch die „Impfmüdigkeit“. Weiterhin wird die Verbreitung der Infektionserkrankungen über einzelne Länder hinweg, z. B. durch Tourismus oder Flüchtlinge, gefördert. Alle Infektionskrankheiten haben nicht nur Auswirkungen für den infizierten und erkrankten Menschen, sondern auch für sein Umfeld. Aus Angst vor Ansteckung können das Kind und seine Familie von anderen Menschen ausgegrenzt werden. Es können Vorurteile bzgl. mangelnder Hygiene und niedrigen sozialen Status durch das Auftreten von Infektionserkrankungen entstehen. Dies kann zu einer Stigmatisierung betroffener Menschen führen, z. B. bei Kindern mit Kopfläusen. Hier kann die Ursache für eine Ausbreitung im Kindergarten völlig unbegründet bei Kindern aus sozial schwachen Familien vermutet

werden, dabei können prinzipiell alle Kinder von Kopfläusen befallen werden. Grundsätzlich sollte bei einem Verdacht auf das Vorliegen einer Infektionserkrankung das Kind vor weiterem Schuloder Kindergartenbesuch einem Arzt vorgestellt werden. Dieser kann die notwendigen Schutzmaßnahmen, wie eine medikamentöse Behandlung oder eine Isolierung, einleiten. Diese Schutzmaßnahmen können bereits vor dem Auftreten von Krankheitssymptomen, in der sog. Inkubationszeit, notwendig werden.

Definition

L ●

Als Inkubationszeit wird die Zeit zwischen der Ansteckung, d. h. dem Eindringen des Krankheitserregers in den Körper, bis zum Auftreten der ersten Krankheitserscheinungen bezeichnet. Sie ist bei den einzelnen Infektionserkrankungen unterschiedlich lang.

Infektiöse Erkrankungen können verschiedene Organsysteme betreffen. Daher können auch unterschiedliche pflegerische Interventionen notwendig werden. Gemeinsame pflegerische Schwerpunkte lassen sich in der psychischen Betreuung der Kinder und deren Familien erkennen. Häufig muss das Kind von anderen Menschen isoliert werden. Durch die Isolierung kann es insbesondere zu Einschränkungen in den Lebensaktivitäten „Sich bewegen“ und „Kommunizieren“ mit veränderter Wahrnehmung und reduzierten Sozialkontakten kommen. Zunächst wird nun allgemein die psychische Situation betrachtet. Im Weiteren folgen dann pflegerische Schwerpunkte in Bezug auf die Einhaltung hygienischer Maßnahmen.

38.1.1 Psychische Situation Wie bei allen Kindern, die in das Krankenhaus aufgenommen werden, sind auch Kinder mit Infektionskrankheiten durch die neue Situation belastet. Zudem sind sie häufig von anderen Kindern isoliert und befinden sich u. U. für Tage oder Wochen alleine in einem Zimmer und dürfen es nicht verlassen. Durch die Isolation und die zusätzlichen Schutzmaßnahmen ist die Gefahr der Entstehung von Ängsten gegeben, z. B. durch das Tragen von Schutzkitteln, Schutzhandschuhen und Mundschutz. Der Kontakt zur Familie ist oft eingeschränkt. Geschwister und Freunde dürfen i. d. R. nur zu Besuch kommen, wenn sie über 14 Jahre alt sind. Zu-

dem ist oft nur eine begrenzte Anzahl von Besuchern erlaubt. Bei größeren Kindern kommen Ängste hinzu, andere anstecken zu können. Oft fühlen sie sich ausgegrenzt und empfinden Minderwertigkeitsgefühle. Jüngere Kinder können ihre Krankheit und die Isolierung von anderen als eine Bestrafung ansehen. Für die Eltern kann es beschämend sein, mit anderen über die Erkrankung ihres Kindes zu sprechen. Sie können aber auch Schuldgefühle wegen der Erkrankung des Kindes entwickeln, weil sie z. B. Hygienevorschriften nicht eingehalten haben. Die pflegerischen Maßnahmen verfolgen hier 2 Ziele: ● das Kind akzeptiert die Isolierung ● das Kind erfährt Wertschätzung

Praxistipp Pflege

Z ●

Bei Ängsten des Kindes sind informierende, beruhigende Gespräche hilfreich. Die Anwesenheit einer Bezugsperson oder der Pflegefachkraft kann die Situation erleichtern, ebenso das ruhige koordinierte Arbeiten und die Rücksichtnahme auf Bedürfnisse, z. B. Schlaf oder eine angemessene Beschäftigung.

38

Kind akzeptiert Isolierung Die neue Situation sollte dem Kind gemeinsam mit seinen Eltern erklärt werden. Damit die Eltern und das Kind die hygienischen Richtlinien verstehen und einhalten können, ist es notwendig, sich Zeit zu nehmen, um ihnen diese zu erläutern und für Fragen zur Verfügung zu stehen. Die Eltern und das Kind sind bei der Aufnahme durch neue Eindrücke und sorgenvolle Gedanken überfordert, sodass sie die Informationen, die sie zu Beginn des Krankenhausaufenthaltes erhalten, oft vergessen. Hilfreich ist ein Informationsblatt, das die wichtigsten Hygieneregeln zum Nachlesen enthält (▶ Abb. 38.1). Um die Akzeptanz für die Isolierung zu erhöhen, sollten konkrete Hilfestellungen erfolgen, wie sich das Kind innerhalb des nun eingeschränkten Umfeldes beschäftigen kann: ● Hinweise auf Spielzeug (auch eigenes von zu Hause) sowie ein Bücher- bzw. Medienangebot ● Beschäftigungsangebote (S. 446) durch eine Erzieherin (diese kann auch den Eltern kreative Tipps geben) ● Kinder mit den gleichen Infektionserkrankungen evtl. zusammen in einem Zimmer unterbringen (Kohortenisolierung)

5

Pflege von Kindern mit infektiösen Erkrankungen ●

● ●

die Einhaltung der Hygienebestimmungen ist auf einer Infektionsstation wichtig, da die Patienten an übertragbaren Krankheiten leiden. Wir bitten Sie, folgende Dinge zu beachten: Im Patientenzimmer ist es notwendig, einen Schutzkittel zu tragen. Bitte desinfizieren Sie Ihre Hände bei Betreten und Verlassen des Patientenzimmers. Setzen Sie sich bitte nicht auf das Krankenbett. Zu Ihrem eigenen Schutz sollten Sie im Patientenzimmer nichts essen und trinken. Hierzu steht Ihnen ein Raum zur Verfügung. Bitte belassen Sie alle Pflegeutensilien Ihres Kindes im Zimmer. Die erkrankten Kinder dürfen das Krankenzimmer nicht verlassen. Dies darf nur in Ausnahmefällen und nach Rücksprache mit dem Arzt erfolgen. Benutzen Sie bitte nicht die Patiententoilette. Bitte betreten Sie nicht die Stationsküche. Das Pflegepersonal versorgt die Kinder mit Essen und Getränken. Bitte belassen Sie das schmutzige Geschirr im Zimmer.

38

Abb. 38.1 Informationsblatt für Eltern. Es enthält die wichtigsten Hygieneregeln.

Merke

H ●

Eltern und Bezugspersonen werden der Besuch und die Mitaufnahme ermöglicht. Sie werden in die Pflege des Kindes miteinbezogen.

Kind erfährt Wertschätzung Erkrankt ein Mensch an einer Infektionskrankheit, bedeutet dies gleichzeitig die Gefahr für andere, sich anzustecken. Ängste und Vorurteile können sich entwickeln. Deutlich wird dies besonders bei stigmatisierenden und bei lebensbedrohlichen Erkrankungen, z. B. bei AIDS. Dies kann so weit führen, dass infizierte Menschen gemieden werden, bis hin zur sozialen Isolation der betroffenen Personen und deren Familien. Um Ängste abzubauen, werden sowohl der Infizierte oder Erkrankte als auch die Angehörigen über Infektionswege und sinnvolle Schutzmaßnahmen informiert. Dies ermöglicht im Weiteren ein präventives Handeln. Einem Menschen mit Wertschätzung zu begegnen, bedeutet, ihn respektvoll zu behandeln. Die Wertschätzung zeigt sich in der Achtung der Autonomie des Menschen, u. a. indem dieser aktiv in Abläufe

736

und Entscheidungen einbezogen wird. Weiterhin sind Bedürfnisse und Anliegen durch gezieltes Nachfragen, Zuhören und Ausredenlassen ernst zu nehmen. Kinder sind ebenfalls, soweit es möglich ist, in die Abläufe einzubeziehen und an Entscheidungen zu beteiligen. Hierzu zählen die Wahl des Zeitpunktes einer Pflegemaßnahme und die Berücksichtigung der Ressourcen, z. B. das selbstständige An- und Ausziehen bei Untersuchungen. Für Menschen mit einer Infektionskrankheit gehört hierzu neben den genannten Aspekten auch die Erfahrung von menschlicher Zuwendung durch Körperkontakt, die aufgrund möglicher Ängste vor Ansteckung oder hygienischen Vorschriften evtl. eingeschränkt ist.

38.2 Rechtliche Grundlagen 38.2.1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) Seit dem 01. 01. 2001 ist das Infektionsschutzgesetz (IfSG) in Kraft. Es löst das Bundesseuchengesetz ab und regelt u. a. welche Krankheiten meldepflichtig sind und wie der Meldepflichtige die Angaben machen muss. Auch die Meldewege werden dargestellt. Ziele des Gesetzes sind:

Schutz der Bevölkerung vor Infektionskrankheiten übertragbaren Krankheiten vorbeugen Infektionen frühzeitig erkennen und ihre Weiterverbreitung verhindern

Zu diesem Zweck wird die notwendige Mitwirkung und Zusammenarbeit von Behörden, Ärzten, Krankenhäusern, wissenschaftlichen Einrichtungen sowie sonstigen Beteiligten unterstützt. Verdeutlicht und gefördert werden soll die Eigenverantwortung des Einzelnen sowie der Träger und Leiter von Einrichtungen bei der Prävention von infektiösen Erkrankungen. Das IfSG ist ein Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen. Im 1. Abschnitt werden u. a. im § 2 Begriffsbestimmungen festgelegt (https://www.gesetze-im-internet.de/ifsg/IfSG.pdf): ● Infektion: Die Aufnahme eines Krankheitserregers und seine nachfolgende Entwicklung oder Vermehrung im menschlichen Organismus. ● übertragbare Krankheit: Eine durch Krankheitserreger oder deren toxische Produkte, die unmittelbar oder mittelbar auf den Menschen übertragen werden, verursachte Krankheit. ● Ausscheider: Eine Person, die Krankheitserreger ausscheidet und dadurch eine Ansteckungsquelle für die Allgemeinheit sein kann, ohne krank oder krankheitsverdächtig zu sein. ● nosokomiale Infektion: Eine Infektion mit lokalen oder systemischen Infektionszeichen als Reaktion auf das Vorhandensein von Erregern oder ihrer Toxine, die im zeitlichen Zusammenhang mit einer stationären oder einer ambulanten medizinischen Maßnahme steht, soweit die Infektion nicht bereits vorher bestand.

Definition

L ●

Unter „unmittelbar“ wird die Übertragung von Mensch zu Mensch oder vom Tier zum Menschen verstanden. Dagegen bedeutet „mittelbar“ die Übertragung durch Lebensmittel, tierische Produkte, Gegenstände, Wasser, Schmutz, s. Kap. „Für eine sichere Umgebung sorgen (S. 432)“.

Die statistische Erfassung und Bewertung von bestimmten nosokomialen Infektionen und Erregern mit speziellen Resistenzen sind nach § 23 des Infektionsschutzgesetzes vorgeschrieben. Jedes Krankenhaus bzw. jede Einrichtung hat nosokomiale Infektionen in einem selbst festgelegten Risikobereich zu erfassen.

38.2 Rechtliche Grundlagen

Aufgaben des Robert KochInstituts Durch das Infektionsschutzgesetz werden in § 4 dem Robert Koch-Institut (RKI) besondere Aufgaben zugeteilt. Hierzu zählen bezüglich des Meldewesens: ● Erstellung von Kriterien (Falldefinitionen) für die Übermittlung eines Erkrankungs- oder Todesfalls und eines Nachweises von Krankheitserregern. ● Festlegung der nach § 23 Abs. 1 zu erfassenden nosokomialen Infektionen und Krankheitserreger mit speziellen Resistenzen und Multiresistenzen und deren Veröffentlichung in einer Liste im Bundesgesundheitsblatt. ● Zusammenfassung der nach dem Gesetz übermittelten Meldungen und deren infektionsepidemiologische Auswertung. Das Institut führt weiterhin epidemiologische und laborgestützte Analysen durch sowie die Forschung zu Ursachen, Diagnostik und Prävention übertragbarer Krankheiten. Zu den Aufgaben des RKI gehört es auch, Richtlinien und Empfehlungen zu entwickeln und herauszugeben, z. B.: ● Konzeptionen zur Vorbeugung übertragbarer Krankheiten sowie zur frühzeitigen Erkennung und Verhinderung der Weiterverbreitung von Infektionen ● Herausgabe von Richtlinien, Empfehlungen und Merkblättern in Zusammenarbeit mit den jeweils zuständigen Bundesbehörden für Fachkreise (gilt als Maßnahme des vorbeugenden Gesundheitsschutzes)



Beratung der zuständigen Stellen bei Maßnahmen zur Vorbeugung, Erkennung und Verhinderung der Weiterverbreitung von schwerwiegenden übertragbaren Krankheiten

Das RKI koordiniert darüber hinaus die Zusammenarbeit mit den zuständigen Bundesbehörden, Länderbehörden, den nationalen Referenzzentren, weiteren wissenschaftlichen Einrichtungen und Fachgesellschaften sowie ausländischen und internationalen Organisationen und Behörden. Zusätzlich werden Koordinationsaufgaben im Rahmen des Europäischen Netzes für die epidemiologische Überwachung und die Kontrolle übertragbarer Krankheiten übernommen.

Meldepflicht Das IfSG listet in § 6 meldepflichtige Krankheiten und in § 7 meldepflichtige Nachweise von Krankheitserregern auf. § 8 regelt, welche Personen zur Meldung verpflichtet sind: ● der feststellende, behandelnde bzw. leitende Arzt ● Leiter von Medizinaluntersuchungsämtern und sonstigen privaten oder öffentlichen Untersuchungsstellen einschließlich der Krankenhauslaboratorien ● Leiter von Einrichtungen der pathologisch-anatomischen Diagnostik ● der Tierarzt ● Angehörige eines anderen Heil- oder Pflegeberufs, der für die Berufsausübung oder die Führung der Berufsbezeichnung eine staatlich geregelte Ausbildung oder Anerkennung erfordert







der verantwortliche Luftfahrzeugführer oder Kapitän eines Seeschiffes Leiter z. B. von Pflegeeinrichtungen, Justizvollzugsanstalten, Heimen, Lagern Heilpraktiker

In § 9 und § 10 sind die Angaben, die bezüglich der namentlichen Meldung zu machen sind, festgelegt. Ebenso ist der Zeitraum für die Meldung geregelt.

Tätigkeits- und Beschäftigungsverbot Bei bestimmten Erkrankungen (oder dem Verdacht) sind andere Menschen vor einer Ansteckungsgefahr zu schützen. Daher kann es notwendig sein, dass die Berufsausübung vorläufig untersagt ist. Das Infektionsschutzgesetz regelt u. a. die gesundheitlichen Anforderungen an das Personal, das Umgang mit Lebensmitteln hat. So sind z. B. laut § 42 in Gemeinschaftseinrichtungen keine Lehr-, Erziehungs-, Pflege-, Aufsichts- oder sonstige Tätigkeiten auszuüben, bis der Nachweis vorliegt, dass keine Infektionsgefahr mehr besteht. Ausscheider bestimmter Krankheitserreger (z. B. Salmonella typhi und paratyphi) müssen besondere Vorschriften beachten. Sie dürfen nur mit Genehmigung des Gesundheitsamtes und unter Einhaltung der notwendigen Schutzmaßnahmen arbeiten, Gemeinschaftseinrichtungen benutzen oder an Veranstaltungen teilnehmen. Die Erkrankungen, die zu einem Tätigkeits- bzw. Beschäftigungsverbot führen, sind in ▶ Tab. 38.1 dargestellt. § 43 regelt die Belehrung von Personen, die gewerbsmäßig die in § 42 Abs. 1 bezeichneten Tätigkeiten ausüben. Nach

38

Tab. 38.1 Infektionserkrankungen mit Tätigkeits- und Beschäftigungsverbot nach dem IfSG. Verbot von Tätigkeiten in Gemeinschaftseinrichtungen* (Lehr-, Erziehungs-, Pflege- und Aufsichtstätigkeiten) nach § 34

Verbot von Tätigkeiten in der Herstellung von Lebensmitteln bzw. mit Kontakt zu Lebensmitteln nach § 42

Bei Erkrankung oder Verdacht der Erkrankung an: ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●

Cholera Diphtherie Enteritis durch enterohämorrhagische E. coli (EHEC) virusbedingtes hämorrhagisches Fieber Meningitis durch Haemophilus influenzae Typ b Impetigo contagiosa (ansteckende Borkenflechte) Keuchhusten ansteckungsfähige Lungentuberkulose Masern Meningokokken-Infektion Mumps Paratyphus Pest Poliomyelitis Scabies (Krätze) Scharlach oder sonstigen Streptococcus-pyogenes-Infektionen Shigellose Typhus abdominalis Virushepatitis A oder E Windpocken verlauste Personen

● ● ● ● ● ● ● ●



Typhus abdominalis Paratyphus Cholera Shigellenruhr Salmonellose einer anderen infektiösen Gastroenteritis Virushepatitis A oder E Personen, die an infizierten Wunden oder Hautkrankheiten erkrankt sind, bei denen Krankheitserreger über Lebensmittel übertragen werden können Ausscheider von: ○ Shigellen ○ Salmonellen ○ enterohämorrhagische Escherichia coli ○ Choleravibrionen

* § 33 definiert Gemeinschaftseinrichtungen als Einrichtungen, in denen überwiegend Säuglinge, Kinder oder Jugendliche betreut werden.

7

Pflege von Kindern mit infektiösen Erkrankungen einer ersten Belehrung ist diese alle 2 Jahre erneut durchzuführen.

38.2.2 Unfallverhütungsvorschriften

Besuch von Gemeinschaftseinrichtungen

Zum Infektionsschutz haben die Berufsgenossenschaften Unfallverhütungsvorschriften festgelegt, die verbindliche Pflichten für den Arbeitgeber und den Arbeitnehmer darstellen. Hier gilt es die Biostoff- und die Gefahrstoffverordnung zu beachten. Die konkrete Anwendung der Biostoffverordnung wird durch die „Technischen Regeln biologischer Arbeitsstoffe“ (TRBA) geregelt. Hier sind besonders die TRBA 250 hervorzuheben, die das Verhalten gegenüber potenziellen Infektionserregern in Einrichtungen des Gesundheitsdienstes für Mensch und Tier erläutern. Bei der Gefahrenstoffverordnung sind Mitarbeiter vor den Gefahren im Umgang mit Chemikalien, wie z. B. Desinfektionsmittellösungen, zu schulen bzw. zu schützen. Alle Mitarbeiter müssen in die bestehenden Schutzmaßnahmen eingewiesen werden. ▶ Tab. 38.2 zeigt besondere Schutzmaßnahmen bei einigen Infektionserkrankungen. Weiterhin besteht für das Personal die Empfehlung, sich gegen bestimmte Infektionskrankheiten impfen zu lassen. Informationen hierzu kann der

§ 34 des Infektionsschutzgesetzes beschreibt, dass Personen bei den in ▶ Tab. 38.1 genannten Erkrankungen Räume von Gemeinschaftseinrichtungen (wie Schulen oder Kindergärten) nicht benutzen und nicht an Veranstaltungen teilnehmen dürfen. Gleiches gilt für Kinder, die das 6. Lebensjahr noch nicht vollendet haben und an infektiöser Gastroenteritis erkrankt oder dessen verdächtig sind.

Prävention Hierzu stellt das RKI ein Merkblatt zur Belehrung für Eltern und sonstige Sorgeberechtigte in verschiedenen Sprachen zur Verfügung (www.rki.de). Es sind Erkrankungen benannt, bei denen nach dem Gesetz das Kind nicht in die Schule (oder andere Gemeinschaftseinrichtungen) darf. Die Eltern tragen dafür Verantwortung, dass ihr Kind bei einem Verdacht auf das Vorliegen einer infektiösen Erkrankung, vor einem weiteren Schul- oder Kindergartenbesuch einem Arzt vorgestellt wird.

zuständige Betriebsarzt der jeweiligen Einrichtung geben.

Merke

H ●

Schwangere dürfen nicht auf einer Infektionsstation arbeiten, wenn eine erhöhte Gesundheitsgefährdung für die werdende Mutter oder das Kind besteht.

Bei bestimmten Infektionskrankheiten, z. B. der offenen Tuberkulose, sind noch zusätzliche Schutzmaßnahmen zu treffen, wenn ein Patient entlassen oder verstorben ist. Diese dienen der Vernichtung von Krankheitserregern, um die Gefahr einer Übertragung der Krankheit auszuschließen. Grundsätzlich wird bei der Schlussdesinfektion das Patientenbett speziell gekennzeichnet und in einer zentralen Bettenreinigung aufbereitet. Ist diese nicht vorhanden, wird das Bett nach den jeweiligen Vorschriften der Klinik desinfiziert. Patienteneigene Utensilien werden so weit wie möglich desinfiziert oder entsorgt (S. 434).

38 Tab. 38.2 Besondere Schutzmaßnahmen bei einigen ausgewählten Infektionserkrankungen. Erkrankung und Erreger

besondere Schutzmaßnahmen

AIDS Erreger: Human immune deficiency virus (HIV)





i. d. R. keine Isolierung notwendig Schutzisolierung bei Infektanfälligkeit Information über Schutzmaßnahmen bei Sexualkontakt

Diphtherie Erreger: Corynebacterium diphtheriae



strikte Isolierung

Durchfallerkrankungen Erreger: Viren (z. B. Noroviren), Bakterien (z. B. Salmonellen)



separate Toilette oder Steckbecken strikte Isolierung z. B. bei Salmonelleninfektion Schutzhandschuhe beim Wickeln tragen Windel als infektiösen Abfall entsorgen



● ● ●

Hepatitis Erreger: Hepatitis-A-, -B-, -C-, -D-, -E-Viren

● ● ●

Pflegepersonal mit Herpes labialis muss zum Schutz des Patienten einen Mundschutz tragen, der Kontakt zu Patienten mit Immunschwäche ist zu vermeiden Eltern mit Herpes labialis informieren den direkten Kontakt mit dem Kind zu vermeiden, z. B. nicht küssen Abklärung mit einem Arzt: ○ vor dem Besuch öffentlicher Einrichtungen wie Kindergarten ○ vor Aufnahme einer Pflegetätigkeit in einem Risikobereich mit abwehrgeschwächten Patienten

Herpes-Infektionen Erreger: Herpes-simplex-Virus (Stomatitis aphthosa, Typ 1: H. labialis/nasalis; Typ 2: H. genitalis/ perianalis), humanes Herpesvirus 6 (Dreitagefieber = Exanthema subitum)



Influenza (Virusgrippe) Erreger: RNS-Viren, verschiedene Subtypen



Keuchhusten (Pertussis) Erreger: Bordetella pertussis, Keuchhustenbakterium



strikte Isolierung für die Dauer der Ansteckungsfähigkeit (antibiotische Therapie reduziert Ansteckungsdauer)

Kopfläuse (Pediculus capitis), Nissen = Eier der Läuse



kein Besuch von öffentlichen Einrichtungen, wie Schule oder Kindergärten, für die Dauer des Befalls viele Einrichtungen fordern eine Bescheinigung über eine durchgeführte Behandlung von den Eltern eine Ansteckungsgefahr ist i. d. R. schon nach der ersten Behandlung mit wirksamen Pedikuloziden nicht mehr möglich











738

Standardisolierung bei Hepatitis B und C separate Toilette oder Steckbecken bei Hepatitis A und E Schutzhandschuhe beim Wickeln tragen

Standardisolierung eine aktive Immunisierung kann entsprechend den von der WHO für die InfluenzaSaison empfohlenen Stämmen durchgeführt werden

38.3 Hygienische Grundlagen

Tab. 38.2 Fortsetzung Erkrankung und Erreger

besondere Schutzmaßnahmen

Masern (Morbilli) Erreger: Masernvirus



Meningitis/Enzephalitis Erreger: Bakterien (z. B. Meningokokken, Pneumokokken, Haemophilus influenzae), Viren (z. B. Herpesviren, Borrelien)



strikte Isolierung bei Meningokokken bis 24 Stunden nach Therapiebeginn, bei Viren für die Dauer der Erkrankung

Mumps (Parotitis epidemica) Erreger: Mumpsvirus



Standardisolierung für die Dauer der Ansteckungsfähigkeit

Pfeifferʼsches Drüsenfieber (infektiöse Mononukleose) Erreger: Epstein-Barr-Virus (EBV)



strikte Isolierung für die Dauer der Ansteckungsfähigkeit

Poliomyelitis (Kinderlähmung) Erreger: Poliomyelitisvirus



strikte Isolierung für die Dauer der Erkrankung separate Toilette, solange Erregerausscheidung über Stuhl

Röteln (Rubeola) Erreger: Rötelnvirus









für die Dauer der Ansteckungsfähigkeit strikte Isolierung und Schleusen Schleusen spätestens ab dem 9. Inkubationstag empfohlen (auch wenn noch kein Exanthemausbruch besteht)

Neugeborene mit Rötelnembryopathie können die Erkrankung auf andere übertragen, daher ist eine Isolierung von anderen Neugeborenen nötig Schwangere müssen vor ansteckungsfähigem Kind geschützt werden

Scharlach Erreger: Beta-hämolysierende Streptokokken der Gruppe A



strikte Isolierung bis 24 – 48 Stunden nach Therapiebeginn, ohne Therapie 3 Wochen und länger ansteckend, solange Erreger im Rachenbereich nachweisbar sind

Skabies (Krätze) Krätzmilbe: Sarcoptes scabiei



Standardisolierung für die Dauer der Erkrankung kein Besuch öffentlicher Einrichtungen für die Dauer des Befalls engen Körperkontakt vermeiden

● ●

Tuberkulose Erreger: Mycobacterium tuberculosis

● ● ●

● ●



Windpocken (Varizellen) Erreger: Varizella-Zoster-Virus Herpes zoster (Gürtelrose) entsteht als Folge einer endogenen Reaktivierung einer früheren Varizellenerkrankung

38.3 Hygienische Grundlagen Viele Erreger können über Gegenstände übertragen werden, die mit dem Patienten in Berührung gekommen sind. Daher ist es notwendig, die kontaminierten Gegenstände zuerst zu desinfizieren bzw. zu sterilisieren, bevor sie mit anderen Personen in Kontakt kommen. Um sich selbst und andere vor einer Ansteckung zu schützen, müssen die Pflegefachkräfte bei allen pflegerischen Maßnahmen folgende Grundsätze beachten: ● Schutzkittel tragen, um die Kontamination der Berufskleidung zu vermeiden (▶ Abb. 38.2) ● Schutzhandschuhe beim Umgang mit Ausscheidungen tragen, um direkten Hautkontakt zu vermeiden















● ●

strikte Isolierung bis 3 – 4 Wochen nach Therapiebeginn Raumdesinfektion bei offener Tuberkulose nach Entlassung Atemschutz für alle Kontaktpersonen bei einer offenen Tbc notwendig (aerogene Übertragung) kein Besuch öffentlicher Einrichtungen für die Dauer der offenen Tuberkulose beim Verlassen des Zimmers müssen die an einer offenen Tbc erkrankten Personen einen speziellen Mund-Nasen-Schutz tragen Kinder unter 10 Jahren gelten i. d. R. als nicht infektiös aufgrund der schwächeren Hustenstöße (RKI)

38

Schleusen empfohlen ab 10. Inkubationstag (falls noch kein Exanthemausbruch) bis zum Abfallen der Borken kein Besuch von öffentlichen Einrichtungen, wie Kindergarten Isolierung für die Dauer der Ansteckungsfähigkeit

Mundschutz tragen, wenn die Gefahr aerogener Ansteckung, z. B. bei offener Tuberkulose, besteht bei Entsorgung von Wäsche, Essgeschirr und Abfall ggf. zusätzliche spezielle Vorschriften beachten abwaschbare Spielsachen, wie Plastikbausteine und waschbare Stofftiere, erleichtern die Desinfektion nach der Entlassung Zimmer jeweils nur für den Tagesbedarf an Pflegeutensilien auffüllen, um spätere Entsorgung von nicht benutzten Materialien zu vermeiden und damit Kosten zu sparen keine Topfpflanzen im Zimmer, da Blumenerde als Nährboden und bei Hautkontakt als Überträger von Erregern dient erkranktes Kind darf das Zimmer nur nach Zustimmung des Arztes verlassen

Abb. 38.2 Schutzkleidung. Diese wird bei der Gefahr einer Übertragung von infektiösen Erkrankungen getragen. (Foto: K. Oborny, Thieme)

9

38.3 Hygienische Grundlagen

Tab. 38.2 Fortsetzung Erkrankung und Erreger

besondere Schutzmaßnahmen

Masern (Morbilli) Erreger: Masernvirus



Meningitis/Enzephalitis Erreger: Bakterien (z. B. Meningokokken, Pneumokokken, Haemophilus influenzae), Viren (z. B. Herpesviren, Borrelien)



strikte Isolierung bei Meningokokken bis 24 Stunden nach Therapiebeginn, bei Viren für die Dauer der Erkrankung

Mumps (Parotitis epidemica) Erreger: Mumpsvirus



Standardisolierung für die Dauer der Ansteckungsfähigkeit

Pfeifferʼsches Drüsenfieber (infektiöse Mononukleose) Erreger: Epstein-Barr-Virus (EBV)



strikte Isolierung für die Dauer der Ansteckungsfähigkeit

Poliomyelitis (Kinderlähmung) Erreger: Poliomyelitisvirus



strikte Isolierung für die Dauer der Erkrankung separate Toilette, solange Erregerausscheidung über Stuhl

Röteln (Rubeola) Erreger: Rötelnvirus









für die Dauer der Ansteckungsfähigkeit strikte Isolierung und Schleusen Schleusen spätestens ab dem 9. Inkubationstag empfohlen (auch wenn noch kein Exanthemausbruch besteht)

Neugeborene mit Rötelnembryopathie können die Erkrankung auf andere übertragen, daher ist eine Isolierung von anderen Neugeborenen nötig Schwangere müssen vor ansteckungsfähigem Kind geschützt werden

Scharlach Erreger: Beta-hämolysierende Streptokokken der Gruppe A



strikte Isolierung bis 24 – 48 Stunden nach Therapiebeginn, ohne Therapie 3 Wochen und länger ansteckend, solange Erreger im Rachenbereich nachweisbar sind

Skabies (Krätze) Krätzmilbe: Sarcoptes scabiei



Standardisolierung für die Dauer der Erkrankung kein Besuch öffentlicher Einrichtungen für die Dauer des Befalls engen Körperkontakt vermeiden

● ●

Tuberkulose Erreger: Mycobacterium tuberculosis

● ● ●

● ●



Windpocken (Varizellen) Erreger: Varizella-Zoster-Virus Herpes zoster (Gürtelrose) entsteht als Folge einer endogenen Reaktivierung einer früheren Varizellenerkrankung

38.3 Hygienische Grundlagen Viele Erreger können über Gegenstände übertragen werden, die mit dem Patienten in Berührung gekommen sind. Daher ist es notwendig, die kontaminierten Gegenstände zuerst zu desinfizieren bzw. zu sterilisieren, bevor sie mit anderen Personen in Kontakt kommen. Um sich selbst und andere vor einer Ansteckung zu schützen, müssen die Pflegefachkräfte bei allen pflegerischen Maßnahmen folgende Grundsätze beachten: ● Schutzkittel tragen, um die Kontamination der Berufskleidung zu vermeiden (▶ Abb. 38.2) ● Schutzhandschuhe beim Umgang mit Ausscheidungen tragen, um direkten Hautkontakt zu vermeiden















● ●

strikte Isolierung bis 3 – 4 Wochen nach Therapiebeginn Raumdesinfektion bei offener Tuberkulose nach Entlassung Atemschutz für alle Kontaktpersonen bei einer offenen Tbc notwendig (aerogene Übertragung) kein Besuch öffentlicher Einrichtungen für die Dauer der offenen Tuberkulose beim Verlassen des Zimmers müssen die an einer offenen Tbc erkrankten Personen einen speziellen Mund-Nasen-Schutz tragen Kinder unter 10 Jahren gelten i. d. R. als nicht infektiös aufgrund der schwächeren Hustenstöße (RKI)

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Schleusen empfohlen ab 10. Inkubationstag (falls noch kein Exanthemausbruch) bis zum Abfallen der Borken kein Besuch von öffentlichen Einrichtungen, wie Kindergarten Isolierung für die Dauer der Ansteckungsfähigkeit

Mundschutz tragen, wenn die Gefahr aerogener Ansteckung, z. B. bei offener Tuberkulose, besteht bei Entsorgung von Wäsche, Essgeschirr und Abfall ggf. zusätzliche spezielle Vorschriften beachten abwaschbare Spielsachen, wie Plastikbausteine und waschbare Stofftiere, erleichtern die Desinfektion nach der Entlassung Zimmer jeweils nur für den Tagesbedarf an Pflegeutensilien auffüllen, um spätere Entsorgung von nicht benutzten Materialien zu vermeiden und damit Kosten zu sparen keine Topfpflanzen im Zimmer, da Blumenerde als Nährboden und bei Hautkontakt als Überträger von Erregern dient erkranktes Kind darf das Zimmer nur nach Zustimmung des Arztes verlassen

Abb. 38.2 Schutzkleidung. Diese wird bei der Gefahr einer Übertragung von infektiösen Erkrankungen getragen. (Foto: K. Oborny, Thieme)

9

Pflege von Kindern mit infektiösen Erkrankungen

38.3.1 Isolierungsmaßnahmen

Praxistipp Pflege

Besteht der Verdacht, dass ein Kind an einer Infektionserkrankung leidet, wird es im Krankenhaus von anderen Kindern isoliert, um einer Übertragung der Krankheitserreger vorzubeugen. Schon bei der Aufnahme wird es in einem separaten Aufnahmezimmer untersucht. Später wird es dann in einer fachspezifischen Abteilung weiter betreut. An eine sog. Infektions- oder Isolierstation werden bestimmte Anforderungen gestellt, um die Versorgung der Patienten unter hygienischen Richtlinien durchführen zu können. Zu diesen Anforderungen zählen zum einen bauliche Aspekte, die es ermöglichen, die notwendigen Isolierungsmaßnahmen durchzuführen, und zum anderen hygienische Grundsätze, die eingehalten werden sollen. Eine wichtige bauliche Gegebenheit ist, dass sich zwischen Patientenzimmer und Stationsflur eine Schleuse befindet.

Definition

38

L ●

Schleusen bedeutet, dass eine Tür, entweder die des Patientenzimmers oder die Außentür zum Flur, zuerst geschlossen sein muss, bevor die nächste geöffnet wird. Dieses Vorgehen verhindert eine direkte Weiterverbreitung der Erreger über die Luft.

Die Schleuse kann weiterhin genutzt werden, um Wäsche und Müll speziell zu entsorgen und die Schutzkleidung an- bzw. auszuziehen. Der Schutzkittel wird in der Schleuse mit der Kittelinnenseite nach außen aufgehängt. Damit wird einer Übertragung von Erregern, die auf der Außenseite des Kittels haften, vorgebeugt. Benutzt der Patient die Schleuse, um z. B. in die Nasszelle zu gelangen, wird der Kittel mit der Kittelaußenseite nach außen aufgehängt. Hiermit verhindert man eine mögliche Kontamination der Kittelinnenseite durch den Patienten. Viele Isolierstationen haben die Patientenzimmer mit Be- und Entlüftungsanlagen ausgestattet, die eine „Umwälzung“ der Raumluft ermöglichen.

Z ●

Sollen trotzdem die Fenster im Patientenzimmer von Kindern mit „fliegenden Infektionen“, wie Windpocken und Masern, geöffnet werden, sind in den anderen Patientenzimmern die Fenster geschlossen zu halten. Verlässt das Kind, z. B. zu Untersuchungen, das Zimmer und die Station, sind alle anderen Türen zu den Patientenzimmern zu schließen. Ebenso müssen die Abteilungen informiert werden, die mit dem Kind aufgesucht werden. Dies gilt auch für die Abteilungen, die sich auf dem Weg dorthin befinden. Andere Kinder, die z. B. mit einer offenen Tuberkulose im Krankenhaus behandelt werden, müssen einen speziellen Mund-NasenSchutz tragen, wenn sie das Zimmer für eine Untersuchung verlassen sollen.

In der Therapie der Infektionserkrankungen sind Isolierungsformen unterschiedlichen Ausmaßes notwendig. Alle betroffenen Patienten sind über mögliche Übertragungswege und Schutzmaßnahmen aufzuklären. Um Besucher rechtzeitig über wichtige Hygienemaßnahmen zu informieren, kann mit einem Hinweisschild am Patientenzimmer um Rücksprache beim Pflegepersonal vor dem Patientenkontakt gebeten werden (▶ Abb. 38.3). Ergänzend hierzu können auch konkrete Anweisungen wie „bitte Schutzkittel tragen“ an der Patientenzimmertür befestigt werden. Diese können durch die Abbildung eines Kittels oder Mundschutzes verdeutlicht und für Patienten aus anderen Kulturen in weiteren Sprachen übersetzt werden.

Standardisolierung Bei der Standardisolierung sind Schutzmaßnahmen erforderlich, aber nicht unbedingt eine Isolierung des Kindes im Einzelzimmer. Kinder mit gleichen Infek-

Abb. 38.3 Informationsschild am Patientenzimmer. (Foto: K. Oborny, Thieme)

740

tionskrankheiten können gemeinsam in einem Zimmer untergebracht werden (Kohortenisolierung). Eine patienteneigene Toilette ist jedoch erforderlich, wenn Erreger über die Ausscheidungen übertragen werden. Nur bei direktem Kontakt mit dem Kind sind Schutzkittel, Schutzhandschuhe und ggf. Mund-Nasen-Schutz zu tragen.

Strikte Isolierung Kinder mit Infektionskrankheiten, bei denen eine besondere Infektionsgefahr nicht nur durch direkten Kontakt, sondern auch über eine Tröpfcheninfektion gegeben ist, müssen strikt isoliert werden. Neben den grundsätzlichen hygienischen Maßnahmen wird ein Einzelzimmer mit Schleuse, eine eigene Toilette/Waschgelegenheit notwendig. Pflegeutensilien, wie Waschschüssel, Steckbecken oder Blutdruckmessgerät, werden nur für diesen Patienten verwendet und verbleiben nach einer Desinfektion im Zimmer. Die Anzahl der Besucher sollte auf die engsten Angehörigen beschränkt werden.

Schutzisolierung Schutzisolierung, auch protektive Isolierung oder Umkehrisolierung genannt, dient dem Schutz des Patienten. Diese Art der Isolierung findet bei Kindern Anwendung, deren körpereigene Abwehr herabgesetzt ist und die somit besonders gefährdet sind, sich mit Keimen zu infizieren. Dies kann z. B. bei immunsupprimierten Kindern mit onkologischen Erkrankungen oder einer HIV-Infektion der Fall sein. Hier kann es auch zu opportunistischen Infektionen durch fakultativ pathogene Keime kommen, d. h., bestimmte Mikroorganismen lösen erst bei einem abwehrgeschwächten Organismus Krankheiten aus. Bei einer Schutzisolierung ist Folgendes zu beachten: ● Die Kinder sind in einem Einzelzimmer untergebracht. ● Alle Personen, die dieses Zimmer betreten, müssen zum Schutz des Kindes einen Schutzkittel und einen Mundschutz tragen. ● Die Dinge, die ins Patientenzimmer gebracht werden, müssen keimfrei bzw. keimarm sein, z. B. kann sterilisierte Wäsche verwendet werden, Geräte werden desinfiziert, Nahrung und Getränke werden keimarm zubereitet. ● Um die Keimbesiedlung im Zimmer möglichst gering zu halten, werden benutzte Materialien und Schmutzwäsche direkt aus dem Patientenzimmer geräumt.

38.4 Impfungen

38.4 Impfungen Impfungen schützen den Einzelnen und die Allgemeinheit vor Infektionskrankheiten. Es wird zwischen der aktiven und passiven Impfung unterschieden.

Definition

L ●

Bei der aktiven Impfung sollen abgeschwächte Erreger oder Teile von Erregern eine Antikörperbildung durch den Körper selbst bewirken. Im Gegensatz hierzu werden bei der passiven Impfung bereits Antikörper verabreicht, die gegen den Erreger vorgehen.

Mit Lebendimpfstoffen werden abgeschwächte, aber vermehrungsfähige Viren oder Bakterien verabreicht, hingegen enthalten Totimpfstoffe inaktivierte Krankheitserreger bzw. deren Antigenbestandteile oder Toxoide. Der Impfkalender

(▶ Tab. 38.3) enthält die empfohlenen Standardimpfungen für Säuglinge, Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Darüber hinaus können individuell weitere sog. Indikationsimpfungen für bestimmte Risikogruppen angeraten werden. Hinzu kommen weitere beruflich bedingte Impfempfehlungen aufgrund einer arbeitsmedizinischen Vorsorge oder privat durch das Reisen in gefährdete Gebiete. Eine gesetzliche Impfpflicht gibt es in Deutschland nicht. Mit einer Grundimmunisierung erfolgt der erste Kontakt mit einem Impfstoff, der die Antikörperbildung im Organismus auslöst. Durch eine Auffrischimpfung wird der Körper erneut mit dem Impfstoff in Verbindung gebracht, um eine wirkungsvolle Abwehrfunktion aufrechtzuerhalten. Mit einer Nachholimpfung kann eine Grund- bzw. Erstimmunisierung aller noch nicht Geimpften bzw. die Komplettierung einer unvollständigen Impfserie vorgenommen werden (RKI 2016).

Merke

H ●

Ziel der Impfung ist es, eine Immunität gegen bestimmte Infektionskrankheiten aufzubauen. Neben dem Schutz der einzelnen Personen sollen durch hohe Durchimpfungsraten einzelne Krankheitserreger letzlich weltweit ausgerottet werden.

Eine Grundimmunisierung wird bis zum vollendeten Alter von 14 Monaten empfohlen. Damit wird bezweckt, dass vor dem Eintritt in Gemeinschaftseinrichtungen ein vollständiger Impfschutz vorliegt. Um die Zahl der Injektionen gering zu halten, sollten vorzugsweise Kombinationsimpfstoffe verwendet werden.

Tab. 38.3 Impfkalender* für Säuglinge, Kinder, Jugendliche und Erwachsene. empfohlenes Alter

Schutzimpfung gegen

ab 6. Lebenswoche

1. Grundimmunisierung: Rotaviren (RV) (die darauffolgende 2. und je nach Impfstoff auch 3. Grundimmunisierung mit Rotaviren erfolgt nach einem Abstand von mind. 4 Wochen)

2. Lebensmonat (LM)

1. Grundimmunisierung: Tetanus (T), Diphtherie (D), Pertussis (aP), Haemophilus influenzae Typ b (Hib), Poliomyelitis (IPV), Hepatitis B (HB) 1, Pneumokokken

3. LM

2. Grundimmunisierung: T, D, aP, ggf. auch: Hib, IPV, HB 2 2. Grundimmunisierung für Frühgeborene: Pneumokokken (benötigen insg. 4 Grundimmunisierungen bis zum Ende des 14. LM)

4. LM

3. Grundimmunisierung: T, D, aP, Hib, IPV, HB 2. Grundimmunisierung: Pneumokokken

11.– 14. LM

4. Grundimmunisierung: T, D, aP, Hib, IPV, HB 3. Grundimmunisierung: Pneumokokken 1. Grundimmunisierung: Masern, Mumps und Röteln (MMR), Varizellen (V) Meningokokken C (ab vollendetem 12. Lebensmonat)

ab 15.– 23. LM

Nachholimpfung: T, D, aP, Hib, IPV, HB, Pneumokokken 2. Grundimmunisierung: MMR, V (Mindestabstand zur 1. Impfung 4–6 Wochen)

ab. 2.–4. Lebensjahr (LJ)

Nachholimpfung: T, D, aP, Hib Nachholimpfung bis Ende 6. LJ: IPV Nachholimpfung bis Ende 17. LJ: HB, Meningokokken C, MMR, V

5.–6. LJ

1. Auffrischimpfung: T, D, aP

9.–14. LJ

2. Auffrischimpfung bis Ende des 17. LJ: T, D, aP 1. Auffrischimpfung bis Ende des 17. LJ: IPV 1. Grundimmunisierung: Humane Papillomviren (HPV) für alle Mädchen im Alter von 9–13 bzw. 14 Jahren (je nach verwendetem Impfstoff), die 2. Grundimmunisierung: HPV folgt nach 6 Monaten

ab 18. LJ

Weitere Auffrischimpfung oder Nachholimpfung, jeweils 10 Jahre nach der letzten vorangegangenen Dosis: T, D3 Standardimpfung: MMR bei unsicherem Impfstatus

ab 60. LJ

Pneumokokken Influenza (jährliche Regelimpfung mit aktuellem von WHO empfohlenen Impfstoff)

38

*Standardimpfungen/Regelimpfungen: Beruhen auf allgemeinen öffentlichen Empfehlungen der „Ständigen Impfkommission (STIKO) am Robert Koch-Institut“; Stand: August 2016. 1 Hepatitis-B-Impfung ist bereits nach der Geburt möglich (postexpositionelle Hepatitis-B-Prophylaxe simultan mit HB-Immunglobulingabe bei Neugeborenen von HbsAg-positiven Müttern bzw. mit unbekanntem HBsAg-Status, die folgende 2. Impfung nach 1 Monat und die 3. Impfung frühestens nach 5 Monaten nach der 2. Impfung). 2 Bei Anwendung eines monovalenten Impfstoffes kann die Impfung gegen Hib, IPV und HB hier entfallen. 3 Alle Erwachsenen sollen die nächste fällige Tetanus/Diphtherie-Impfung einmalig als Kombinationsimpfung mit Pertussis bzw. bei entsprechender Indikation zusätzlich mit Poliomyelitis erhalten.

1

Pflege von Kindern mit infektiösen Erkrankungen

Merke

H ●

Zum Eigen- und Fremdschutz werden dem Personal im Gesundheitswesen bestimmte Impfungen empfohlen. Hierzu zählen z. B. die Grippeschutzimpfung oder die Impfung gegen Hepatitis B. Darüber hinaus gibt es für spezielle Arbeitsbereiche zusätzliche Impfempfehlungen, wie z. B. die Pertussisimpfung für die Pädiatrie. Eine aktuelle Beratung über den vorhandenen und empfohlenen Impfschutz erfolgt beim zuständigen Betriebsarzt im Rahmen der arbeitsmedizinischen Untersuchung. Um eine gute Wirksamkeit und Verträglichkeit einer Impfung zu gewährleisten, sollte bei einem bestehenden Infekt nicht geimpft werden. Weiterhin gibt es Impfhindernisse durch Allergien gegen Bestandteile des Impfstoffes, wie z. B. Hühnereiweiß.

38

Sind Operationen geplant, sollte ein Mindestabstand von 3 Tagen bei Totimpfungen und 14 Tagen bei Lebendimpfungen eingehalten werden. Es werden zwar keine Inkompatibilitäten befürchtet, mögliche Impfreaktionen sollten jedoch von Komplikationen durch die Operation unterschieden werden können.

Praxistipp Pflege

Z ●

Die Lagerung aller Impfstoffe erfolgt im Kühlschrank bei 2 – 8 °C. Falsch gelagerte oder gar gefrorene Impfstoffe dürfen nicht mehr verwendet werden. Ebenso ist darauf zu achten, dass kein direkter Kontakt zu Desinfektionsmitteln entsteht. Die Durchstechstopfen der Ampullen müssen daher nach der Desinfektion vollständig getrocknet sein, bevor der Impfstoff entnommen wird.

Geimpft wird bevorzugt in den M. deltoideus (Oberarm) bzw., wenn dies nicht möglich ist, in den M. vastus lateralis (Oberschenkel). Vor anstehenden Auslandsreisen sollte man sich frühzeitig über notwendige Impfprophylaxen informieren. Auffrischimpfungen gegen Diphtherie und Tetanus erfolgen alle 10 Jahre. Bei einer Verletzung kann vorsorglich gegen Tetanus geimpft werden, wenn die Impfung länger als 5 Jahre zurückliegt. Mädchen wird, aufgrund der Gefahr einer Rötelnembryopathie bei Infektion in der Schwangerschaft, die Rötelnimpfung empfohlen.

742

Im Impfausweis werden neben dem Impfdatum die Chargen-Nummer und Bezeichnung des Impfstoffes eingetragen. Dies dient dem Nachweis über die erhaltenen Impfungen und damit der Kontrolle des Impfschutzes. Aufgrund der guten Verträglichkeit der neuesten Impfstoffe sind unerwünschte Arzneimittelwirkungen nur in seltenen Fällen beobachtet worden. Zu den unbedenklichen Impfreaktionen zählen: ● vorübergehende leichte Rötung, Schwellung und Schmerzhaftigkeit im Bereich der Injektionsstelle ● leicht erhöhte Körpertemperatur in den ersten 72 Stunden nach der Impfung Reaktionen, die über diese Erscheinungen hinausgehen, müssen von einem Arzt abgeklärt und umgehend an das Gesundheitsamt gemeldet werden (Meldepflicht nach § 6 Abs. 1 Nr. 3 IfSG).

38.5 Exanthembeobachtung An Windpocken, wie auch an Röteln, Masern und Scharlach, erkranken überwiegend Kinder. Bei einem normalen Verlauf der Infektion müssen die Kinder nicht sta-

tionär aufgenommen werden. Die Krankheitsbilder Windpocken, Röteln, Masern und Scharlach gehen mit einer sichtbaren Hautveränderung (Effloreszenz) einher. Zum Zweck der Unterscheidung beschreibt ▶ Tab. 38.4 auf einen Blick die Hautveränderungen dieser Infektionskrankheiten.

38.6 Pflege eines Kindes mit Durchfallerkrankungen 38.6.1 Erreger und Inkubationszeit Durchfall (Diarrhö) kann durch verschiedene Erreger ausgelöst werden, häufig durch Viren (z. B. Noroviren) oder Bakterien (z. B. Campylobacter jejuni oder Salmonellen). Die Inkubationszeit beträgt zwischen wenigen Stunden und 7 Tagen. Je nach Erreger besteht Meldepflicht.

38.6.2 Infektionsweg Durchfallerkrankungen werden zumeist durch Schmierinfektion übertragen. Dabei gelangt infiziertes Material über den fä-

Tab. 38.4 Exanthembeschreibung einiger Infektionserkrankungen. Erkrankung und Hautveränderungen Masern (S. 749) Beginn am Hals, hinter den Ohren, dann Ausbreitung über das ganze Gesicht, Thoraxbereich und über den ganzen Körper: ● hellrot, scharf begrenzt, später dunkelrot, manchmal bräunliche oder livide Färbung, grobfleckig, teilweise konfluierend ● Handinnenflächen und Fußsohlen ebenfalls befallen ● Rückgang des Exanthems und Fieberabfall etwa am 3. Krankheitstag mit Hautschuppung Röteln Hautausschlag beginnt hinter den Ohren und breitet sich dann auf den ganzen Körper aus: ● zartrosa bis hellrot ● fein- bis mittelfleckige einzeln stehende Effloreszenzen ● fließen nicht zusammen Scharlach (S. 753) kleinste, dicht stehende Pünktchen, die aussehen wie Nadelstiche, intensiv gerötete, samtartige, makulopapulöse Effloreszenzen: ● besonders an Unterbauch, Achselhöhlen, seitlicher Leistengegend, Leistenbeugen und Innenseiten der Oberarme und Oberschenkel ● in der 2. Woche beginnt sich die Haut zu schälen (besonders an Handflächen und Fußsohlen) (periorale Blässe) weitere Besonderheiten: ● Gesicht nicht betroffen, Wangen intensiv gerötet, nur Munddreieck (zwischen Kinn, Oberlippe und Nase) bleibt ausgespart (periorale Blässe) ● am 5. Krankheitstag wird die weißlich belegte Zunge rot mit erhabenen Papillen (Himbeerzunge) Varizellen am ganzen Körper juckende, blassrote Flecken: ● auch die behaarte Kopfhaut ist befallen ● Knötchen und Bläschen bilden sich ● Bläschen trocknen ein und bilden einen dunkelroten Schorf, der nach mehreren Tagen abfällt ● alle Stadien des Ausschlags (von Makula bis zur Kruste) sind gleichzeitig vorhanden („Sternkartenphänomen“ oder „Sternenhimmel“)

38.7 Pflege eines Kindes mit Hepatitis kal-oralen Infektionsweg in den Verdauungstrakt. Es ist aber auch eine Tröpfcheninfektion möglich. Diese erfolgt z. B. bei Noroviren über die orale Aufnahme der Tröpfchen, die durch das Erbrechen des Erkrankten über die Luft übertragen werden. Das Infektionsschutzgesetz ist bezüglich eines Tätigkeits- und Beschäftigungsverbots und des Besuchs von Gemeinschaftseinrichtungen zu beachten (▶ Tab. 38.1).

38.6.3 Symptome Die Symptome bei Durchfallerkrankungen sind vielfältig. Der Stuhl des infizierten Kindes verändert sich: ● dünne, häufige Stuhlentleerungen ● evtl. schleimiger, zerhackter oder blutiger Stuhl ● Stuhlfarbe, evtl. grünlich, Geruch säuerlich oder faulig Bei länger anhaltender Diarrhö wird der Körper des Kindes derart geschwächt, dass man von einem reduzierten Allgemeinzustand sprechen kann. Folgende klinische Zeichen können beobachtet werden: ● Übelkeit, Erbrechen ● blass-graues Aussehen, kalte Extremitäten ● eingesunkene Fontanelle, reduzierter Hautturgor ● aufgetriebener Bauch ● Schwindelgefühl, Kopfschmerzen ▶ Noroviren. Die frühere Bezeichnung der Noroviren lautet Norwalk-like-Viren. Sie stellen eine Untergruppe der humanen Caliciviren dar und verursachen einen großen Anteil der vorkommenden Gastroenteritiden im Kindesalter. Die Meldepflicht besteht nach § 7 und § 6 des IfSG. Die Inkubationszeit liegt bei 6–50 Std. Es besteht eine hohe Ansteckungsgefahr, davon sollte mindestens noch bis 48 Std. nach der Normalisierung des Stuhles und des Ausbleibens des Erbrechens aus-

gegangen werden. Der Erreger kann jedoch noch Wochen mit dem Stuhl ausgeschieden werden, sodass eine sorgfältige Toiletten- und Händehygiene weiterhin durchgeführt werden muss (RKI). Typisch für Noroviren sind eine akute Verschlechterung des Allgemeinbefindens, heftiger Durchfall und schwallartiges Erbrechen, das von Übelkeit und Bauchschmerzen begleitet ist. I.. d.. R. kommt es schon nach Stunden bis wenigen Tagen zur Besserung der Symptome.

38.7 Pflege eines Kindes mit Hepatitis 38.7.1 Erreger, Inkubationszeit und Infektionsweg Hepatitis ist eine meldepflichtige, akute, infektiöse Lebererkrankung. Sie wird durch Viren (Hepatitis A, B, C, D, E) ausgelöst. Das Hepatitis-A-Virus (HAV) ist nur in der ca. 2 – 6 Wochen andauernden Inkubationszeit und in den ersten Tagen nach Beginn des Ikterus im Stuhl nachweisbar. Es wird, ebenso wie das Hepatitis-E-Virus (HEV), über Kontaktinfektion (meist fäkal-oral, „Schmierinfektion“) und durch Trinkwasser oder Lebensmittel übertragen. Die Inkubationszeit bei Hepatitis B beträgt 6 Wochen bis 6 Monate, bei Hepatitis C3–8 Wochen. Die Übertragung erfolgt über Blut- oder Sekretbestandteile, Tränen, Speichel, Muttermilch, Sperma, Vaginalsekret und Menstruationsblut. Eine Infektion mit dem Hepatitis-D-Virus erfolgt nur bei bereits vorliegender Hepatitis-BInfektion (▶ Tab. 38.2). Das Infektionsschutzgesetz ist bezüglich eines Tätigkeits- und Beschäftigungsverbots und des Besuchs von Gemeinschaftseinrichtungen zu beachten (▶ Tab. 38.1).

▶ Salmonellose. Es gibt verschiedene Salmonellenerreger, z. B. Salmonella typhi und paratyphi (Meldepflicht). Die Inkubationszeit beträgt bei der Enteritis infectiosa 3–72 Std., bei Typhuserregern 14 Tage. Es besteht die Gefahr des Dauerausscheidens durch Persistieren der Salmonellen in Gallenblase und Darm. Zusätzlich können auch wegdrückbare Roseolen auf der Bauchhaut bei Typhus und Paratyphus beobachtet werden. Meist kommt es zuerst zu einer kurzfristigen Obstipation, dann folgen schnell dünne, schleimig-blutige Stühle, die bei Typhus erbsbreiartig sein können. Gefahren bzw. Komplikationen einer Salmonellose können Bronchopneumonie, Herzbeteiligung, Hirnödem, Kreislaufstörungen und Darmperforation sein.

38.6.4 Pflegeziele und -maßnahmen

Merke

Pflegeprobleme, zu erreichende Ziele und die dafür zu ergreifenden Maßnahmen können Sie ▶ Tab. 38.5 entnehmen.

Praxistipp Pflege

H ●

38

Bei Neugeborenen infizierter Mütter kann innerhalb von 12 Stunden postpartum eine Hepatitis-B-Prophylaxe mit simultan HB-Impfstoff und einem HBImmunglobulin durchgeführt werden (▶ Tab. 38.3).

Z ●

Beim Wickeln von Säuglingen mit Durchfallerkrankungen sollten zum Schutz vor Schmierinfektionen immer Schutzhandschuhe getragen werden (▶ Tab. 38.2).

Tab. 38.5 Pflegeprobleme, -ziele und -maßnahmen bei Durchfallerkrankungen. Pflegeprobleme

Pflegeziele

Pflegemaßnahmen

Wasser- und Elektrolytverlust mit erhöhter Kreislaufbelastung und allgemeiner Schwäche aufgrund von Durchfällen und Erbrechen

ausgeglichener Wasser- und Elektrolythaushalt







● ●

kontinuierliche Überwachung der Infusionstherapie Beobachtung von Hautturgor (bei Exsikkose bleibt eine abgehobene Hautfalte stehen, ▶ Abb. 38.4), Vitalzeichen, Bewusstsein und Verhalten tägliche Ein-, Ausfuhr- und Gewichtskontrolle Beobachtung der Urinausscheidung Stuhlbeobachtung, auch auf Blutbeimengungen

3

Pflege von Kindern mit infektiösen Erkrankungen

Tab. 38.5 Fortsetzung Pflegeprobleme

Pflegeziele

Pflegemaßnahmen

unzureichende Nahrungsaufnahme durch Übelkeit, Erbrechen und Nahrungsverweigerung

ausreichende Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme















38

Gefahr einer Austrocknung, Schädigung und Infektion der Mundschleimhaut durch reduzierten Flüssigkeitshaushalt und Erbrechen

intakte, feuchte Mundschleimhaut

Mundpflege (S. 313) nach den Mahlzeiten und dem Erbrechen

gestörtes Wohlbefinden durch Fieber

Wohlbefinden durch physiologische Körpertemperatur



gelinderte Bauchschmerzen



häufiger und schmerzhafter Stuhldrang, Bauchschmerzen







besondere Gefährdung bei Säuglingen und Kleinkindern für ein Wundsein im Windelbereich durch häufige dünnflüssige Stühle

intakte Haut im Windelbereich

Gefahr der Entwicklung einer Sepsis bei vorliegender Salmonella-typhi- und -paratyphiInfektion bei nicht ausgebildetem oder geschwächtem Immunsystem des Darms

frühzeitiges Erkennen von Anzeichen einer Sepsis

● ●



● ●

Abb. 38.4 Exsikkose. Eine abgehobene Hautfalte bleibt stehen. (Abb. aus: Middeke M. Durst. In: Füeßl H, Middeke M, Hrsg. Duale Reihe Anamnese und Klinische Untersuchung. 6., aktualisierte Auflage. Thieme; 2018)

744

bei Dehydrierung Zufuhr von oralen Rehydrierungslösungen (ORL), um neben Flüssigkeit auch das ideale Verhältnis von Glukose und Elektrolyten zu verabreichen (evtl. über eine Magensonde) so bald wie möglich wieder normale Nahrungszufuhr (Realimentation) Beobachtung von Appetit, Übelkeit, Erbrechen und Bauchschmerzen kleinere und leicht verdauliche fettarme Mahlzeiten, z. B. getoastetes Weißbrot, mit einer Gabel zerdrückte und aufgeschlagene Banane, geriebener Apfel bis an die Schale (da direkt unter der Schale die wirksamen Pektine enthalten sind), Karottenbrei, Kartoffelbrei, Nudeln oder Reis auf Cola, Limonaden oder Säfte verzichten (enthalten zu viel Glukose und im Verhältnis zu wenig Elektrolyte und Wasser, damit ist die Flüssigkeitsaufnahme im Darm vermindert) Säuglinge, die gestillt werden, erhalten weiter Muttermilch anderen Säuglingen leicht resorbierbare, laktose- und fettarme Diätnahrung (z. B. ein Gemisch aus Elektrolytlösung, Reisschleim und Milchnahrung oder Karotten) anbieten

Kontrolle der Körpertemperatur fiebersenkende Maßnahmen (S. 286) nach Rücksprache mit dem Arzt kann Wärme auf dem Bauch angewendet werden Kind zur Toilette begleiten, Schamgefühl berücksichtigen bei jedem Patientenkontakt auf Schmerzäußerungen achten schonende Hautreinigung im Windelbereich Säuglinge mit Diarrhö müssen nach Bedarf häufiger gewickelt werden Beobachtung auf Sepsiszeichen: Kontrolle der Körpertemperatur (intermittierendes hohes Fieber mit Schüttelfrost), Blutdruckund Pulskontrolle Assistenz bei der Abnahme einer Blutkultur nach Arztanordnung wird eine Antibiotikatherapie durchgeführt und überwacht

38.7.2 Symptome



Eine Hepatitis verläuft in 2 Stadien: ● Prodromalstadium: dauert mehrere Tage bis einige Wochen, geht mit Gelenkund Kopfschmerzen sowie Fieber einher ● Organstadium: ○ Übelkeit, Erbrechen, Appetitlosigkeit und Widerwillen gegen fettige Speisen ○ Schmerzen im rechten Oberbauch



evtl. Gerinnungsstörungen, die sich in Nasen- und Zahnfleischbluten äußern Ikterus und dadurch bedingter Juckreiz (infolge von Gallensäure im Blut)

Hepatitis A verläuft bei Kindern häufig asymptomatisch und subklinisch, d. h. ein Verlauf mit abgeschwächten Symptomen. Kann ein Virusnachweis der Hepatitis B (HBV) oder Hepatitis C (HCV) über 6 Monate erbracht werden, ist die Hepatitis B bzw. C in eine chronische Form überge-

38.8 Pflege eines Kindes mit Herpes-simplex-Infektion gangen. Bei einem chronischen Verlauf erhöht sich die Gefahr für eine Leberzirrhose und ein Leberzellkarzinom (RKI 2016).

Merke

H ●

Es besteht die Gefahr eines Leberzerfallskomas durch ausgedehnte Nekrosen des Leberparenchyms. Die Leberfunktion versagt. Zeichen dafür sind: Schläfrigkeit, Apathie bis hin zu tiefer Bewusstlosigkeit, evtl. motorische Unruhezustände, hämorrhagische Diathesen infolge mangelnder Gerinnungsfaktoren, Kreislaufversagen.

Die Inkubationszeit dauert 4 – 6 Tage. Die Viren werden über Tröpfchen- und Schmierinfektion (Inhalt der Bläschen ist infektiös) übertragen. Das Virus bleibt nach der Erstinfektion latent im Körper. Bei geschwächter Immunabwehr kommt es zu Rezidiven durch Aktivierung des Virus. Bei vorgeschädigter Haut, z. B. bei Neurodermitis, kann es zu Superinfektionen kommen (▶ Tab. 38.2).

38.8 Pflege eines Kindes mit Herpes-simplexInfektion 38.8.1 Erreger, Inkubationszeit und Infektionsweg Die Herpes-simplex-Infektion wird durch Viren verursacht: ● Typ I: Herpes labialis (▶ Abb. 38.5), Herpes nasalis ● Typ II: Herpes genitalis, Herpes perianalis ● Humanes Herpesvirus 6: Dreitagefieber (Exanthema subitum)

38.8.2 Symptome Eine Herpesinfektion zeigt folgende Symptome: ● gruppenweise auftretende, juckende Bläschen ● entzündete, gerötete Haut ● beim Dreitagefieber hohes, schwer beeinflussbares Fieber mit der Gefahr von Fieberkrämpfen

38.7.3 Pflegeziele und -maßnahmen Pflegeprobleme, zu erreichende Ziele und die dafür zu ergreifenden Maßnahmen können Sie ▶ Tab. 38.6 entnehmen.

Merke

● H

Durch die eingeschränkte Entgiftungsfunktion der Leber sind viele Medikamente kontraindiziert.

38.8.3 Pflegeziele und -maßnahmen Pflegeprobleme, zu erreichende Ziele und die dafür zu ergreifenden Maßnahmen können Sie ▶ Tab. 38.7 entnehmen.

Abb. 38.5 Herpes-simplex-Infektion. Lippenherpes (Herpes labialis). (Abb. aus: Baumann T. Haut. In: Baumann T, Hrsg. Atlas der Entwicklungsdiagnostik. 4., unveränderte Auflage. Stuttgart: Thieme; 2015)

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Tab. 38.6 Pflegeprobleme, -ziele und -maßnahmen bei Hepatitis. Pflegeprobleme

Pflegeziele

Pflegemaßnahmen

unzureichende Nahrungsaufnahme durch Übelkeit, Appetitlosigkeit, Bauchschmerzen und Müdigkeit

Kind nimmt Nahrung zu sich, Kind fühlt sich wohl, kann sich ausruhen

● ●



● ●

Juckreiz aufgrund des erhöhten Gallensäurespiegels im Blut und der Einlagerung von Gallensäure in die Haut

Juckreizlinderung

● ●



Gefahr der Entwicklung einer Leberzirrhose mit den lebensbedrohlichen Komplikationen von Ösophagusvarizenblutungen und einer hepatischen Enzephalopathie

Anzeichen eines Leberzirrhose und deren Komplikationen werden frühzeitig erkannt



häufige, kleine Mahlzeiten fettarme, kohlenhydrat- und vitaminreiche Kost nach Wunsch in der ersten Ikteruswoche relativ eiweißarme Kost, Normalkost wenn Transaminasen rückläufig Kind sollte viel trinken feuchtwarme Bauchwickel, Leberwickel und Bettruhe sowie eine ruhige Beschäftigung kühle Waschungen und Umschläge Kürzen der Fingernägel, um Kratzspuren zu vermeiden Beobachtung von Juckreiz, der Hautfarbe und -beschaffenheit Beobachtung des Kindes insbesondere auf Petechien, Hämatome, blutiges Erbrechen, die Bewusstseinslage (mit einer örtlichen und zeitlichen Orientierung) bei älteren Kindern

5

Pflege von Kindern mit infektiösen Erkrankungen

Tab. 38.7 Pflegeprobleme, -ziele und -maßnahmen bei Herpes-simplex-Infektionen. Pflegeprobleme

Pflegeziele

Pflegemaßnahmen

gestörtes Wohlbefinden durch Fieber und Juckreiz, Brennen mit einem Spannungsgefühl der Haut

Wohlbefinden durch physiologische Körpertemperatur und Juckreizlinderung



● ● ● ●

Gefahr der Superinfektion der Haut- und Schleimhäute

intakte Haut und Schleimhäute









Merke

H ●

Schwangere mit Herpes vaginalis sollten ihr Kind per Kaiserschnitt entbinden, da die Gefahr einer Herpessepsis für das Neugeborene besteht.

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● ●







38.9 Pflege eines Kindes mit Influenza (Virusgrippe) 38.9.1 Erreger, Inkubationszeit und Infektionsweg Influenza wird durch verschiedene Subtypen der RNS-Viren (RNS = Ribonukleinsäure) verursacht. Die Inkubationszeit dauert 1 – 3 Tage. Sie ist kurz vor Ausbruch bis zu einer Woche lang ansteckend. Influenza wird durch Tröpfcheninfektion, z. B. beim Husten oder Niesen, über den Nasen-Rachen-Raum und den Respirationstrakt übertragen. Eine Meldepflicht besteht nur für den direkten Nachweis. Zur Prophylaxe wird jährlich ein aktueller Impfstoff angeboten (▶ Tab. 38.3).

38.9.2 Symptome Zu den Symptomen der Influenza zählen: ● plötzlich hohes Fieber bei relativer Bradykardie und allgemeinem Krankheitsgefühl

auslösende Faktoren (z. B. Stress) sollten gemieden werden Körpertemperatur kontrollieren fiebersenkende Maßnahmen kühle Umschläge Sitzbäder mit desinfizierenden und adstringierenden Zusätzen lindern die Symptome bei Vulvovaginitis (Scheidenentzündung) Haut und Schleimhäute werden bei guten Lichtverhältnissen auf Veränderungen der Hauterscheinungen beobachtet bei schweren Infektionen wird eine orale oder intravenöse Aciclovirtherapie nach Arztanordnung durchgeführt evtl. lokal, intravenös oder oral Antibiotika nach Arztanordnung verabreichen, um Sekundärinfektionen zu bekämpfen nach Arztanordnung wird die Haut lokal behandelt, z. B. mit Aciclovirsalbe

Kopf- und Gliederschmerzen entzündliche Schleimhautschwellungen an Kehlkopf, Trachea, Bronchien und Bronchiolen Schmerzen hinter dem Sternum im Bereich der Trachea trockener Reizhusten, evtl. Konjunktivitis Nasenbluten, Beeinträchtigung des Kreislaufs, Schwindelgefühl

Merke

H ●

Es besteht die Gefahr der Superinfektion durch Schädigung der Epithelzellen, z. B. Pneumonie, Myokarditis, Alteration des peripheren Gefäßsystems mit Schock-, Ödem- und Blutungsneigung und Gefäßerweiterung. Beteiligung des ZNS ist möglich.

38.9.3 Pflegeziele und -maßnahmen Pflegeprobleme, zu erreichende Ziele und die dafür zu ergreifenden Maßnahmen können Sie ▶ Tab. 38.8 entnehmen.

38.10 Pflege eines Kindes mit Keuchhusten (Pertussis) 38.10.1 Erreger, Inkubationszeit und Infektionsweg Erreger der Pertussis ist Bordetella pertussis (Keuchhustenbakterium). Die Inkuba-

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tionszeit beträgt 1 – 3 Wochen. Pertussis wird als Tröpfcheninfektion übertragen und ist von den ersten Symptomen, wie Husten und Heiserkeit, bis zu 40 Tagen ansteckend. Die höchste Ansteckungsgefahr besteht im 1. Stadium. Das Kind ist für die Dauer der Ansteckungsfähigkeit zu isolieren. Die antibiotische Therapie reduziert die Ansteckungsdauer (▶ Tab. 38.2). Das Infektionsschutzgesetz ist bezüglich eines Tätigkeits- und Beschäftigungsverbots und des Besuchs von Gemeinschaftseinrichtungen zu beachten (▶ Tab. 38.1). Der Impfkalender (▶ Tab. 38.3) gibt Empfehlungen zur möglichen Prophylaxe.

Symptome Pertussis verläuft in mehreren Stadien: ● katarrhalisches Stadium (Stadium catarrhale) ● Krampfhustenstadium (Stadium convulsivum) ● Rekonvaleszenzstadium (Stadium decrementi) ▶ Katarrhalisches Stadium. Es dauert ca. 1 – 2 Wochen und äußert sich folgendermaßen: ● trockener Husten, der auch nachts anhält ● evtl. Schnupfen ● subfebrile Temperaturen ▶ Krampfhustenstadium. Dieses Stadium dauert ca. 3 – 4 Wochen. Endotoxine

38.10 Pflege eines Kindes mit Keuchhusten (Pertussis)

Tab. 38.8 Pflegeprobleme, -ziele und -maßnahmen bei Influenza. Pflegeprobleme

Pflegeziele

gestörte Nahrungsaufnahme durch Schmerzen beim Schlucken, Reizhusten und Appetitlosigkeit

● ●

ausreichende Nahrungsaufnahme gelinderte Schmerzen beim Schlucken

Pflegemaßnahmen ●







flüssig-breiige, leicht verdauliche Kost erleichtert die Nahrungsaufnahme nach ärztl. Anordnung können vor der Mahlzeit Analgetika verabreicht werden bei reduzierter Nahrungsaufnahme wird eine Mundpflege durchgeführt für eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr sorgen, Getränke anbieten

behinderte Atmung durch vermehrte Sekretbildung bzw. Anschwellen der Schleimhäute

freie Atemwege



Inhalationen und Atemtherapie durch Physiotherapeuten kann die Atmung erleichtern

gestörtes Wohlbefinden durch Fieber, Kopfund Gliederschmerzen

physiologische Körpertemperatur Schmerzlinderung



fiebersenkende Maßnahmen nach Anordnung sind Antipyretika zu verabreichen

Gefahr von Herz- und Kreislaufbelastungen

stabile Herz- und Kreislauffunktion, Ruhephasen und Erholung sind gewährleistet





● ●



aus Pertussiserregern führen im ZNS zur Auslösung der Hustenanfälle und Apnoen mit: ● stakkatoartigen Hustenanfällen, evtl. mit rausgestreckter Zunge ● kurzem, hartem Husten ● ziehender Inspiration (Reprise) ● Luftnot, Erstickungsangst ● Zyanose und Tränensekretion



● ● ●

Pflegemaßnahmen koordinieren und unnötige Ruhestörungen vermeiden Umgebung sollte möglichst reizarm gestaltet sein Vitalzeichen sind zur Erkennung von Komplikationen zu beobachten mindestens 3 Tage Bettruhe, ggf. auch über die Entfieberung hinaus (▶ Tab. 38.2)

bis zu 50 Hustenanfällen pro Tag mit Erschöpfungszustand nach dem Hustenanfall und evtl. Erbrechen nach dem Hustenanfall zähflüssigem Schleim, Speichelfluss Gewichtsabnahme blutunterlaufenen Augen

Merke

H ●

Komplikationen sind Bronchopneumonien, Otitis media, Dyspepsie und Enzephalopathien. Häufig erkranken Erwachsene mit untypischen Symptomen an Pertussis und infizieren Kinder.

▶ Rekonvaleszenzstadium. Die Hustenanfälle nehmen an Häufigkeit und Stärke ab, über eine längere Zeit ist ein abgemilderter, aber immer noch stakkatoartiger Husten vorhanden.

38

Pflegeziele und -maßnahmen Pflegeprobleme, zu erreichende Ziele und die dafür zu ergreifenden Maßnahmen können Sie ▶ Tab. 38.9 entnehmen.

Tab. 38.9 Pflegeprobleme, -ziele und -maßnahmen bei Pertussis. Pflegeprobleme ● ●

Atemnot mit Erstickungsgefahr vitale Bedrohung durch Apnoegefahr besonders bei Säuglingen

Pflegeziele ● ●

freie Atemwege frühzeitiges Erkennen der Apnoe/Atemnot

Pflegemaßnahmen ●

● ●







Gewichtsabnahme durch Erbrechen und unzureichende Nahrungsaufnahme

● ● ●

ausreichende Nahrungsaufnahme stabiles Körpergewicht Gewichtszunahme bei Säuglingen

● ● ● ● ●

während der Hustenanfälle das Kind beruhigen, Oberkörper hochlagern evtl. Sauerstoffgabe nach Arztanordnung für viel Frischluft und ausreichende Luftfeuchtigkeit sorgen keine sekretfördernden Maßnahmen durchführen, da bereits viel Schleim produziert wird, der evtl. abgesaugt werden muss Hustenanfälle dokumentieren (Hustenart, Häufigkeit, Zeitpunkt, Schwere, Sekretauswurf, Erbrechen) Sauerstoffsättigung mit Pulsoxymeter überwachen und die Vitalzeichen kontrollieren (Atmung!) häufige, kleine Mahlzeiten keine krümeligen Speisen viel Flüssigkeit anbieten bei Bedarf über die Magensonde ernähren Gewicht kontrollieren

7

Pflege von Kindern mit infektiösen Erkrankungen

Tab. 38.9 Fortsetzung Pflegeprobleme

Pflegeziele

Pflegemaßnahmen

Ängste der Eltern wegen Hustenanfällen, Zyanose und Apnoegefahr

Ängste der Eltern sind reduziert









Erschöpfung durch Hustenanfälle und gestörten Schlaf Gefahr von Petechien, Riss des Zungenbändchens und dem Auftreten von Analprolaps und Hernien durch die starken Hustenanfälle

● ●

Erholungsphasen sind gewährleistet frühzeitiges Erkennen von Petechien, Riss des Zungenbändchens, eines Analprolaps und Hernien









38.11 Pflege eines Kindes mit Kopfläusen (Pediculosis capitis) 38.11.1 Erreger und Infektionsweg

38

Eine Ansteckung mit Kopfläusen erfolgt über einen unmittelbaren Kontakt, i. d. R. direkt vom befallenen Kopf. Daher sind besonders Kinder beim Spielen mit direktem Körperkontakt zu anderen Kindern gefährdet. Die Übertragung durch Gegenstände ist relativ unwahrscheinlich, kann aber nicht komplett ausgeschlossen werden. Ausgewachsene Läuseweibchen sind bis zu 3 mm lang und von grauer Farbe, bzw. rötlich nach dem Blutsaugen. Die Eier der Läuse (Nissen) sind ca. 0,8 mm lang und von weißlicher bis gelblicher Farbe.

Praxistipp Pflege

Z ●

Um einen Befall mit Kopfläusen feststellen zu können, ist das Kopfhaar systematisch zu untersuchen. Bevorzugt sind die Stellen an den Schläfen, am Hinterkopf bis zum Nacken und direkt hinter den Ohren befallen. Eine weitere Möglichkeit, einen Kopflausbefall festzustellen, kann mittels des sog. „feuchten bzw. nassen Auskämmens“ geschehen. Hierbei werden nach einer Haarwäsche und dem Auftragen einer Spülung die Haare mit einem normalen Kamm vorbereitet. Anschließend wird das Kopfhaar Strähne für Strähne mit einem speziellen Nissenkamm vom Haaransatz bin zu den Spitzen ausgekämmt. Der Kamm wird nach jedem Auskämmen auf einem weißen Papiertuch ausgestrichen. Vorhandene Kopfläuse können mit dieser Methode erfasst und sichtbar werden.

748

Werden Kopfläuse festgestellt, müssen die Eltern umgehend den Kindergarten/die Schule informieren, damit andere Kinder ebenfalls frühzeitig behandelt werden können (▶ Tab. 38.2). Weiterhin ist das Infektionsschutzgesetz bezüglich eines Tätigkeits- und Beschäftigungsverbots und des Besuchs von Gemeinschaftseinrichtungen zu beachten (▶ Tab. 38.1). Um die Weiterverbreitung zu verhindern, sollte das betroffene Kind nicht mit anderen Kindern in Kontakt kommen, bis der Erfolg der Behandlung gesichert ist.

38.11.2 Symptome Zu den Symptomen zählen: ● Juckreiz auf dem Kopf durch den beim Blutsaugen in die Kopfhaut gelangenden Speichel der Laus und dadurch bedingtes Kratzen mit der Gefahr einer Superinfektion ● ekzemartiger Ausschlag im Nacken ● sichtbare Nissen und Läuse (▶ Abb. 38.6)

Abb. 38.6 Kopfläuse. Die Eier der Kopflaus werden als Nissen bezeichnet. (Abb. aus: Tilgen W, Pföhler C, Zaun H. Pedikulosen. In: Gortner L, Meyer S, Hrsg. Duale Reihe Pädiatrie. 5., vollständig überarbeitete Auflage. Thieme; 2018)

Eltern während der Hustenanfälle nicht mit dem Kind alleine lassen Überwachungs- und unterstützende Maßnahmen erklären Faktoren reduzieren, die die Hustenanfälle provozieren Minimal Handling und koordiniertes ruhiges Arbeiten Berücksichtigung der Ruhephasen des Kindes Beobachtung auf Petechien im Gesicht, Riss des Zungenbändchens, Auftreten von Analprolaps und Hernien

38.11.3 Pflegeziele und -maßnahmen Pflegeprobleme, zu erreichende Ziele und die dafür zu ergreifenden Maßnahmen können Sie ▶ Tab. 38.10 entnehmen. Zur Behandlung können neurotoxisch oder physikalisch wirkende pedikulozide Substanzen (Mittel gegen Läuse) eingesetzt werden. Pedikulozide, die als Wirkstoff ein Pestizid enthalten (= synthetisch hergestellte, chemische Substanz, die Insekten abtötet) können bei unsachgemäßer Anwendung das Nerven- und Immunsystem des Menschen schädigen.

Praxistipp Pflege

Z ●

Die orale Aufnahme von Pedikuloziden muss unbedingt vermieden werden, das Kind darf nicht mit den Händen den Kopf berühren. Das Medikament ist außer Reichweite des Kindes aufzubewahren. Zum Eigenschutz sind beim Auftragen der Präparate Schutzhandschuhe zu tragen.

Das RKI empfiehlt die Behandlung in einer Kombination von physikalischen bzw. chemischen und mechanischen Verfahren. Hierbei wird neben der Anwendung von Pedikuloziden auch das Auskämmen mit dem Nissenkamm empfohlen. Es gibt darüber hinaus auch Kopflausmittel auf pflanzlicher Basis und weitere alternative Behandlungsmöglichkeiten, deren Effektivität allerdings umstritten ist. So wird z. B. ein Essiggemisch (Essig mit 5 % Säure im Verhältnis 1:1 mit Wasser verdünnt) in die Haare einmassiert. Zusätzlich wird ein Handtuch mit der Lösung getränkt und um den Kopf gewickelt. Die Einwirkzeit beträgt 1 Stunde. Das Verfahren soll mindestens 8 Tage lang täglich durchgeführt werden.

38.12 Pflege eines Kindes mit Masern (Morbilli)

Tab. 38.10 Pflegeprobleme, -ziele und -maßnahmen bei Kopfläusen. Pflegeprobleme

Pflegeziele

Pflegemaßnahmen

Hautreaktionen und Juckreiz durch den Speichel der Kopflaus mit der Gefahr einer Superinfektion durch das Aufkratzen der Haut

Juckreizlinderung und intakte Kopfhaut









● ●

Schamgefühle bei Kind und Eltern

Infektionswege sind bekannt





38.12 Pflege eines Kindes mit Masern (Morbilli) 38.12.1 Erreger, Inkubationszeit und Infektionsweg Masern werden durch Viren verursacht (Meldepflicht). Die Inkubationszeit beträgt 7 – 21 Tage. Die Übertragung findet per Tröpfcheninfektion und über die Luft statt. Besonders ansteckend sind Masern während des Prodromalstadiums, also 4 – 5 Tage vor dem Exanthemausbruch und etwa 2 Tage danach (▶ Tab. 38.2). Das Infektionsschutzgesetz ist bezüglich eines Tätigkeits- und Beschäftigungsverbots und des Besuchs von Gemeinschaftseinrichtungen zu beachten (▶ Tab. 38.1). Der Impfkalender (▶ Tab. 38.3) gibt Empfehlungen zur möglichen Prophylaxe.



Eltern Schuldgefühle nehmen: Der Läusebefall ist kein Hygieneproblem! allgemeine Aufklärungsarbeit in der Öffentlichkeit (an Schulen/ Kindergärten) über Infektionswege

Koplik-Flecken (kleine weiße, „kalkspritzerartige“ Flecken auf der geröteten Wangenschleimhaut), dies sind lokale Nekroseherde mit Ansammlung von Riesenzellen

14 Tage nach der Ansteckung beginnt das Organstadium mit Exanthem (▶ Abb. 38.7). Folgendes lässt sich in Bezug auf das Exanthem beobachten: ● kurzer Fieberabfall, mit erneutem Anstieg Exanthemausbruch mit Beginn am Hals und hinter den Ohren, dann Verbreitung über das ganze Gesicht und den oberen Thoraxbereich über den ganzen Körper ● dunkelrote, manchmal bräunliche oder livide Färbung, grobfleckig, teilweise konfluierend (▶ Tab. 38.4) ● Handinnenflächen und Fußsohlen sind ebenfalls befallen ● Rückgang des Exanthems und Fieberabfall etwa am 3. Tag, Hautschuppung nach Rückgang des Exanthems

38.12.2 Symptome Die Erkrankung läuft in 2 Stadien ab. Die Symptome des Prodromalstadiums, etwa am 10. Tag nach der Ansteckung, sind folgende: ● Fieber und Appetitlosigkeit ● Schnupfen und trockener Husten ● Bindehautentzündung mit Lichtempfindlichkeit ● Unruhe und Berührungsempfindlichkeit

verordnete Pedikulozide (Allethrin, Pyrethrum, Permethrin und Dimeticone) werden auf den Kopf aufgetragen, hierbei ist die vom Hersteller empfohlene Einwirkzeit zu beachten nach der Einwirkzeit werden die Haare gründlich ausgewaschen (kein zu warmes Wasser verwenden, da dies die Durchblutung steigert und die Aufnahme der giftigen Substanzen über die Haut fördert) Augen, Mund und Nase sollten mit einem Waschlappen geschützt werden keinen Fön zum Trocknen der Haare nach der Anwendung von dimeticon- und/oder cyclometiconhaltigen Mitteln benutzen (leichte Entflammbarkeit) Nissen werden mit einem „Nissenkamm“ (Läusekamm) entfernt eine Wiederholung der Anwendung der Präparate ist nach 8 – 10 Tagen notwendig

Merke

H ●

Bei Masern können Komplikationen wie Bronchitis, Otitis media, Pneumonie, Meningitis und Enzephalitis auftreten. Die subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE) stellt eine Entzündung des Gehirns aufgrund einer seltenen, aber gefürchteten Spätkomplikation einer Maserninfektion dar.

38

Abb. 38.7 Masern. Das Masernexanthem. (Abb. aus: Höger P. Klinik. In: Plettenberg A, Meigel W, Schöfer H, Hrsg. Infektionskrankheiten der Haut. 3. vollständig überarbeitete Auflage. Thieme; 2010)

38.12.3 Pflegeziele und -maßnahmen Pflegeprobleme, zu erreichende Ziele und die dafür zu ergreifenden Maßnahmen können Sie ▶ Tab. 38.11 entnehmen.

9

Pflege von Kindern mit infektiösen Erkrankungen

Tab. 38.11 Pflegeprobleme, -ziele und -maßnahmen bei Masern. Pflegeprobleme

Pflegeziele

Abgeschlagenheit und Appetitlosigkeit als Folge des Fiebers

● ●

Ruhebedürfnis wird erfüllt ausreichende Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr

Pflegemaßnahmen ● ● ● ● ●

behinderte Atmung und trockene Mundschleimhaut

erleichterte Atmung und feuchte Mundschleimhaut

● ●

● ●

Lichtempfindlichkeit, Brennen und Juckreiz der Augen durch eine Konjunktivitis

gesteigertes Wohlbefinden

● ● ● ●



Gefahr des Auftretens von Komplikationen: Bronchitis, Otitis media, Pneumonie, Meningitis und Enzephalitis

38

38.13 Pflege eines Kindes mit Meningitis/ Enzephalitis 38.13.1 Erreger und Inkubationszeit Es gibt 2 Arten von Meningitis (Entzündung der Hirnhäute): ● Bakterielle Meningitis wird z. B. durch Meningokokken, Pneumokokken, Haemophilus influenzae ausgelöst (Meldepflicht). ● Seröse Meningitis wird z. B. durch Herpesviren oder Borrelien verursacht. Zu ihr zählt auch die FSME (FrühsommerMeningoenzephalitis), die meldepflichtig ist. Bei FSME beträgt die Inkubationszeit 6 – 14 Tage. Enzephalitis (Entzündung des Gehirns) kann durch Bakterien oder Viren verursacht werden. Am häufigsten ist die durch den Herpesvirus hervorgerufene Herpesenzephalitis. Die Enzephalitis ist eine gefürchtete Komplikation bei Masern oder anderen Infektionen des Organismus.

38.13.2 Infektionsweg Die Erreger werden über Tröpfchen- oder Schmierinfektion übertragen. Auch die hämatogene Ausbreitung ist möglich. FSME wird durch den Stich einer infizierten Zecke übertragen, jedoch nicht von Mensch zu Mensch. Der Erreger kommt

750

Komplikationen werden frühzeitig erkannt

Bettruhe fiebersenkende Maßnahmen Kontrolle der Körpertemperatur Vitalzeichen und Bewusstseinslage kontrollieren Wunschkost anbieten Inhalationen Positionierung in Oberkörperhochlage und Frischluftzufuhr viel Flüssigkeit anbieten zur Stomatitisprophylaxe sollte eine Mundpflege durchgeführt werden Zimmer abdunkeln Umgebung reizarm gestalten Verkrustungen am Auge mit NaCl 0,9 % entfernen Augentropfen oder -salben auf Arztanordnung nach der Reinigung applizieren Kind davon abhalten, sich die Augen zu reiben

Beobachtung der Atemfunktion, Puls- und Blutdruckkontrollen, Schmerzäußerungen, neurologische Veränderungen wie Bewusstseinslage, Krampfanfälle, Lähmungen

hauptsächlich in Ost- und Mitteleuropa, Süddeutschland und Österreich vor. Das Infektionsschutzgesetz ist bezüglich eines Tätigkeits- und Beschäftigungsverbots und des Besuchs von Gemeinschaftseinrichtungen zu beachten (▶ Tab. 38.1). Der Impfkalender (▶ Tab. 38.3) gibt Empfehlungen zur möglichen Prophylaxe.

Merke

H ●

Bei FSME ist eine aktive Impfung möglich. Sie ist besonders für Menschen zu empfehlen, die in gefährdeten Gebieten leben oder dorthin in den Urlaub fahren. Welche Regionen in Deutschland ein besonders hohes FSME-Risiko aufweisen, können Sie über die Karte des RKI zu „FSME-Risikogebieten“ einsehen (www.rki.de).

38.13.3 Symptome Folgende Symptome können bei einer Meningitis beobachtet werden: ● meningitische Zeichen, z. B. Meningismus/Nackensteifigkeit und Opisthotonus ● Kopfschmerzen, evtl. Krampfanfälle ● gespannte Fontanelle beim Säugling, ggf. Hirndruckzeichen ● Gereiztheit, aber auch Müdigkeit ● Berührungsempfindlichkeit, Bewusstseinseintrübung

Abb. 38.8 Meningokokken-Sepsis. Petechien und flächenhafte Hautblutungen sowie thrombotische Verschlüsse der Hautgefäße. Frische Fingerendgliednekrose am Mittelfinger. (Abb. aus: Studt J, Bächli E. Anamnese und Untersuchung. In: Battegay E, Hrsg. Differenzialdiagnose Innerer Krankheiten. 21., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart: Thieme; 2017)

Die Symptome einer Enzephalitis ähneln denen der Meningitis. Charakteristisch für die Enzephalitis sind zusätzliche neurologische Symptome:

38.13 Pflege eines Kindes mit Meningitis/Enzephalitis ● ● ●

● ●

neurologische Ausfälle, Lähmungen Krampfanfälle Bewusstseinsveränderungen und -verlust Wesensveränderung, Aggressivität Unruhe, Orientierungslosigkeit

Z ●

Praxistipp Pflege

Die Haut sollte auf Petechien beobachtet werden. Sie sind ein Zeichen für eine lebensbedrohliche Komplikation bei einer Meningokokkenmeningitis. Bei Auffälligkeiten ist umgehend ein Arzt zu informieren. Es besteht die Gefahr einer Meningokokken-Sepsis mit dem Auftreten eines Waterhouse-Friderichsen-Syndroms (▶ Abb. 38.8).

38.13.4 Pflegeziele und -maßnahmen Pflegeprobleme, zu erreichende Ziele und die dafür zu ergreifenden Maßnahmen können Sie ▶ Tab. 38.12 entnehmen.

Merke

H ●

Nach der Akutphase einer Enzephalitis sollte sich so bald wie möglich eine Frührehabilitation anschließen, um Folgeschäden zu vermeiden.

Tab. 38.12 Pflegeprobleme, -ziele und -maßnahmen bei Meningitis/Enzephalitis. Pflegeprobleme

Pflegeziele

Pflegemaßnahmen

beeinträchtigtes Wohlbefinden und gesteigertes Ruhebedürfnis durch Kopfschmerzen, Berührungs- und Lichtempfindlichkeit und Fieber

Steigerung des Wohlbefindens Ruhebedürfnis wird erfüllt

● ● ● ● ● ● ● ● ●

unzureichende Nahrungsaufnahme und Unwohlsein durch Übelkeit und Erbrechen

ausreichende Nahrungszufuhr

Gefahr von Folgeschäden und bleibenden Behinderungen, wie Hydrozephalus und Taubheit

frühzeitiges Erkennen von Komplikationen wie zunehmender Kopfumfang und eingeschränktes Hörvermögen

● ● ● ●



● ●

abgedunkeltes Zimmer ruhiges Verhalten, ruhige Umgebung Schmerzmedikamente nach Arztanordnung bequeme, entspannende Positionierung Minimal Handling Kind wird mit dem Kopf in Mittelstellung 30° hochgelagert Beobachten auf Schmerzen Kontrolle der Körpertemperatur fiebersenkende Maßnahmen Kind sollte nicht zum Essen gezwungen werden Wunschkost in schweren Fällen parenterale Ernährung Vitalzeichen regelmäßig kontrollieren, Häufigkeit ist abhängig von der Situation des Kindes Kontrolle von Urinausscheidung, Körpergewicht und evtl. Bilanzierung Bewusstseinslage, Hörvermögen Kopfumfang bei Säuglingen täglich messen

38

Bei einem Kind mit Enzephalitis können zu den bereits genannten Problemen weitere Probleme auftreten: Störungen in den Vitalfunktionen, der Bewusstseinslage mit Verhaltensänderungen und der Gefahr von Krampfanfällen aufgrund eines Hirnödems

● ●





stabile Vitalfunktionen frühzeitiges Erkennen von Veränderungen im Verhalten und im Bewusstsein frühzeitiges Erkennen eines Krampfanfalls die Kommunikation ist angepasst und effektiv

● ● ● ●

● ●







Gefahr von Dekubitus und Kontrakturen durch eingeschränkte Bewegungsfähigkeit aufgrund neurologischer Ausfälle und Lähmungen



unzureichende oder fehlende orale Nahrungsaufnahme aufgrund eines eingeschränkten Bewusstseinszustandes

ausreichende Nährstoffaufnahme

Gefahr der Entwicklung von Soor, Stomatitis, Parotitis bei fehlender bzw. eingeschränkter oraler Nahrungsaufnahme und der damit reduzierten selbstreinigenden Funktion durch den Speichelfluss

intakte Mundschleimhaut



intakte Haut Beweglichkeit erhalten

Überwachung der Vitalzeichen (zumeist über Monitor) Beobachtung auf Hirndruckzeichen (S. 684) evtl. Sedierung nach Arztanordnung Einschätzung der Bewusstseinslage mit der Glasgow Coma Scale (S. 423) Ein- und Ausfuhr, insbesondere Urinausscheidung Aspirationsschutz (S. 868) bei Bewusstlosigkeit und Keratitisprophylaxe (es besteht die Gefahr einer Entzündung der Hornhaut aufgrund des Austrocknens bei fehlendem bzw. unzureichendem Lidschluss) Basale Stimulation (S. 163) kann den Kindern helfen, sich zu orientieren und sich mitzuteilen, dabei ist jedoch die Berührungsempfindlichkeit des Kindes zu beachten die Kommunikation mit dem Kind halten, mit ihm sprechen, ihm etwas vorlesen, ihm leise seine Lieblingsmusik vorspielen, ohne es zu überfordern Beobachtung hinsichtlich Abwehrreaktionen

Kontrakturen- und Dekubitusprophylaxe nach Risikoeinschätzung (S. 402)

● ●

Ernährung über Magensonde evtl. parenterale Ernährung über Infusionen

bei jeder Gabe der Sondennahrung: Inspektion der Mundschleimhaut ● orale Stimulation ● prophylaktische Mundpflege ●

1

Pflege von Kindern mit infektiösen Erkrankungen

38.14 Pflege eines Kindes mit MRSA 38.14.1 Erreger, Inkubationszeit und Infektionsweg Die Übertragung von MRSA (Methicillinresistenter Staphylococcus aureus) erfolgt über Tröpfcheninfektion. Sie sind nicht virulenter als Methicillin-sensible, aber die Therapie ist aufgrund der Antibiotikaresistenz erschwert. Durch die alleinige Besiedlung mit MRSA hat das Kind keine Beschwerden bzw. Symptome und es ist keine systemische Therapie nötig. ▶ Tab. 38.13 enthält Hygienemaßnahmen, um andere Patienten vor einer nosokomialen Infektion zu schützen.

38.15 Pflege eines Kindes mit Pfeifferschem Drüsenfieber (infektiöse Mononukleose) 38.15.1 Erreger, Inkubationszeit und Infektionsweg Der Erreger ist das Epstein-Barr-Virus (EBV). Es gehört zur Gruppe der Herpesviren. Die Inkubationszeit beträgt 5 – 12 Tage. Die infektiöse Mononukleose wird über Tröpfchen- oder Schmierinfektion übertragen. Es besteht eine Virusausscheidung über den Speichel („kissing disease“). Die Kinder sind für die Dauer der Ansteckungszeit zu isolieren (▶ Tab. 38.2).

38.15.2 Symptome Zu den Symptomen gehören: ● allgemeines Unwohlsein mit Fieber und Halsschmerzen ● Erbrechen und Appetitlosigkeit ● Kopfschmerzen und Schmerzen bei Kopfbewegungen ● generalisierte Lymphknotenschwellung ● Milz- und Leberschwellung ● evtl. nicht juckendes Exanthem am Rumpf ● kloßige Sprache und Schwellung der Augenlider ● Rhinitis und Schwellung der Rachenmandel ● Mundatmung

Tab. 38.13 Besondere Hygienemaßnahmen bei einem Kind mit MRSA-Besiedlung. Maßnahme

Erläuterung

Isolierung





Schutzkleidung im Patientenzimmer

● ● ●

38

Schutzkittel (mind. 1-mal pro Schicht bzw. nach Kontamination wechseln) Mund- und Nasenschutz (muss bereits vor dem Zimmer angelegt werden) Einmalhandschuhe bei Patientenkontakt bzw. bei Kontakt mit kontaminierten Gegenständen/ Flächen

laufende Desinfektion

täglich alle Flächen und Gegenstände, die im direkten Patientenkontakt stehen, desinfizieren, z. B. Blutdruckmessgeräte, Fieberthermometer oder BZ-Messgeräte; diese verbleiben während des Patientenaufenthaltes im Zimmer

Entsorgung





● ●

Dekolonisationsmaßnahmen, Körperpflege







● ●

Instrumente werden im Zimmer in einem geschlossenen Behälter gesammelt und zum Transport mit einer keimdichten Tüte in die Zentralsterilisation gegeben Wäsche wird im Patientenzimmer in spezielle Wäschesäcke (je nach Regelung der Einrichtung) abgeworfen und zum Transport zwecks Aufbereitung mit einer zusätzlichen keimdichten Wäschetüte versehen Abfälle werden im Zimmer in entsprechende Abfallsäcke (B-Abfall) entsorgt Geschirr unmittelbar vor dem Abtransport in den Wagen einräumen und diesen sofort verschließen mit antiseptischem Waschzusatz, z. B. Skinsan scrub, tägliche Ganzkörperwaschung, inkl. Hauptund Körperhaare, i. d. R. über 5 Tage; Nasenschleimhaut wird für 5 Tage behandelt, z. B. mit Turixin Nasensalbe, i. d. R. über 3 Tage mit Wattetupfern bei Besiedlung von Nasen-Rachen-Raum zum Zähneputzen Einmalzahnbürste und Mund-RachenAntiseptik, z. B. mit Chlorhexidin, verwenden bei Wundbesiedlung ist mit einem Wundantiseptikum zu behandeln, z. B. Lavasept-Lösung oder jodhaltigen Antiseptika wie Betaisodona oder Braunol Patientenwäsche, Handtücher, Waschlappen und Bettwäsche nach der Körperpflege wechseln nach der antiseptischen Waschung möglichst nur desinfizierte bzw. erneuerte Gegenstände/ Utensilien verwenden, z. B. EKG-Elektroden, Blutdruckmanschette

Kontrolluntersuchungen

Abstriche von Nase, Achsel, Damm, evtl. Wunden oder Hautläsionen (nach Arztanordnung)

Besuch

Besucher sind durch ein Schild am Patientenzimmer aufgefordert, sich beim Pflegepersonal vor dem Eintritt über notwendige Schutzmaßnahmen zu informieren (▶ Abb. 38.3)

Transport des Patienten



● ●



Schlussdesinfektion

● ●



752

Einzelzimmer und strikte Isolierung, bis 3 aufeinanderfolgende Abstriche negativ sind (= erfolgreiche Dekolonisation) Mitpatienten isolieren, bis Abstriche negativ sind

vor dem Transport sollte der Patient eine antiseptische Körperwaschung und frische Wäsche erhalten Transport mit einer Trage oder einem frischen Bett kann der Patient nicht umgelagert werden, ist das Bettgestell zu desinfizieren und das Bett frisch zu beziehen bei Besiedlung der oberen Luftwege muss der Patient einen Mund-Nasen-Schutz tragen Gegenstände und Materialien, die sich nicht desinfizieren lassen, sind als Abfall zu entsorgen die Bettendesinfektion erfolgt mittels Wischdesinfektion im Patientenzimmer, Decke und Kissen werden zur weiteren Aufbereitung in Plastiksäcke verpackt, die Matratze des Patientenbettes muss im Transportbezug zur Dampfdesinfektion private Wäsche wird in keimdichter Tüte zum direkten Waschen bei mind. 65 °C transportiert

38.16 Pflege eines Kindes mit Scharlach

Tab. 38.14 Pflegeprobleme, -ziele und -maßnahmen bei infektiöser Mononukleose. Pflegeprobleme

Pflegeziele

Pflegemaßnahmen

gestörte Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme durch Schluckbeschwerden

ausreichende Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme



behinderte Nasenatmung

freie Nasenatmung

gesteigertes Ruhebedürfnis durch Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen



● ●



physiologische Körpertemperatur ausreichend erholsame Schlaf- und Ruhephasen sind gewährleistet

Inhalationen und Nasentropfen nach Anordnung ●

● ● ● ●

Gefahr einer Milzruptur aufgrund einer Splenomegalie

Bettruhe und Positionierung werden eingehalten



● ●

Merke

H ●

Komplikationen der infektiösen Mononukleose: ZNS-Beteiligung, Myokarditis, bakterielle Superinfektionen der Atemwege!



● ●



38.15.3 Pflegeziele und -maßnahmen Pflegeprobleme, zu erreichende Ziele und die dafür zu ergreifenden Maßnahmen können Sie ▶ Tab. 38.14 entnehmen.



flüssig-breiige Kost Analgesie auf ärztliche Anordnung warme oder kühle Halswickel je nach Befinden des Kindes fiebersenkende Maßnahmen und Kontrolle der Körpertemperatur Pflegemaßnahmen koordinieren entspannte Position Analgetikagabe auf ärztliche Anordnung Schmerzbeobachtung und -dokumentation Bettruhe sollte wegen der Gefahr der Milzruptur bei Belastung und mindestens 3 Tage über Entfieberung hinaus eingehalten werden bauchdeckenentspannende Position ca. 3–4 Wochen nach Genesung keinen Sport ausüben

geschwollene, druckschmerzhafte Halslymphknoten, Schluckbeschwerden evtl. Erbrechen, Kopfschmerzen Exanthem, besonders am Unterbauch, in den Achselhöhlen, der seitlichen Lendengegend, den Leistenbeugen und Innenseiten der Oberarme und Oberschenkel sichtbar Schälen der Haut (besonders an den Handflächen und Fußsohlen) in der 2. Woche etwa am 5. Krankheitstag wird die weißlich belegte Zunge rot, mit deutlich erhabenen Papillen (▶ Abb. 38.9)

Es treten folgende Symptome auf: ● plötzlich hohes Fieber mit Schüttelfrost ● gerötete, geschwollene, evtl. eitrige Tonsillen

38

H ●

Komplikationen sind durch die Antibiotikabehandlung seltener geworden. Es treten manchmal noch Otitis media, Lymphadenitis, Sinusitis, Sepsis mit Myokarditis, Glomerulonephritis und Rheuma auf.

38.16.1 Erreger, Inkubationszeit und Infektionsweg

38.16.2 Symptome

Zweiterkrankungen können vorkommen, da die Immunität nicht lebenslang anhält. Sie treten jedoch meist ohne Exanthembildung auf und gehen lediglich mit einer Angina einher.

Merke

38.16 Pflege eines Kindes mit Scharlach

Erreger von Scharlach sind beta-hämolysierende Streptokokken der Gruppe A (Bakterien). Es handelt sich um eine Lokalinfektion des Rachens bzw. der Mandeln (Exanthembeschreibung s. ▶ Tab. 38.4). Das Infektionsschutzgesetz ist bezüglich eines Tätigkeits- und Beschäftigungsverbots und des Besuchs von Gemeinschaftseinrichtungen zu beachten (▶ Tab. 38.1). Besondere Schutzmaßnahmen sind in ▶ Tab. 38.2 beschrieben.

Weitere Symptome erscheinen am 2. Tag und sind oft nur für wenige Stunden sichtbar: ● hellroter Ausschlag aus kleinsten dicht stehenden Pünktchen, die aussehen wie Nadelstiche ● auch das Gesicht ist betroffen, nur das Munddreieck bleibt ausgespart, periorale Blässe

38.16.3 Pflegeziele und -maßnahmen Abb. 38.9 Scharlach. Himbeerzunge. (Abb. aus: Neurath M, Lohse A, Akat K et al. Übersicht der häufigsten Infektionskrankheiten im Kindesalter. In: Neurath M, Lohse A, Hrsg. Checkliste Anamnese und klinische Untersuchung. 3. aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart: Thieme; 2010)

Pflegeprobleme, zu erreichende Ziele und die dafür zu ergreifenden Maßnahmen können Sie ▶ Tab. 38.15 entnehmen.

Eltern

a ●

Wird das Kind zu Hause betreut, müssen die Eltern darauf hingewiesen werden, bei anhaltendem Fieber wegen möglicher Komplikationen erneut ihren Arzt aufzusuchen.

3

Pflege von Kindern mit infektiösen Erkrankungen

Tab. 38.15 Pflegeprobleme, -ziele und -maßnahmen bei Scharlach. Pflegeprobleme

Pflegeziele

Schmerzen beim Schlucken und Appetitlosigkeit mit der Gefahr einer verminderten Nahrungsaufnahme

● ●

Schmerzlinderung Gewährleistung der Nahrungsaufnahme

Pflegemaßnahmen ● ● ● ●

● ●

gestörtes Wohlbefinden durch Fieber Gefahr von Sekundärerkrankungen

● ●

physiologische Körpertemperatur komplikationslose Genesung

● ●

kühlende Halswickel schmerzlindernde Medikamente nach Arztanordnung flüssig-breiige Kost keine das Gewebe reizenden Getränke, z. B. Obstsäfte Verabreichung von Penicillin nach Arztanordnung Beobachtung: ○ vegetative Veränderungen, z. B. Anstieg des Blutdrucks ○ Urinausscheidung, Ödeme ○ Schmerzen und Schwellungen der Gelenke ○ erneuter Fieberanstieg

38.17.3 Pflegeziele und -maßnahmen

38.17 Pflege eines Kindes mit Skabies (Krätze)

Pflegeprobleme, zu erreichende Ziele und die dafür zu ergreifenden Maßnahmen können Sie ▶ Tab. 38.16 entnehmen.

38.17.1 Erreger und Infektionsweg

38

Eine Ansteckung mit einem Parasit, wie der Krätzmilbe wird auch als Infestation bezeichnet. Die Krätzmilbe bohrt Milbengänge in die Haut, die als weiße, kommaartige Striche erscheinen. Sie legt dort ihre Eier ab, die Nachkommen sind innerhalb von 3 Wochen geschlechtsreif. Die Übertragung erfolgt von Mensch zu Mensch über intensiven Hautkontakt.

Definition

L ●

Eine Sonderform der Skabies, stellt die Skabies crustosa (ehemals Skabies norvegica) dar, die bei Immunschwäche des Betroffenen auftritt. Hierbei ist von einer besonders hohen Ansteckungsgefahr auszugehen, da sich die Krätzmilben aufgrund der fehlenden Immunantwort des Organismus intensiver vermehren können. Dies bedeutet, dass bei dieser Form der Skabies eine Ansteckungsgefahr auch über kurze Hautkontakte möglich ist (RKI). Dies erfordert besondere Schutzmaßnahmen wie eine strikte Isolation und die Mitbehandlung aller Personen, die Kontakt mit dem Betroffenen hatten. Das typische Hautbild der Skabies crustosa zeigt zudem Hyperkeratosen (Verhornungen), teilweise auch mit Krusten- bzw. Borkenbildung. Ein Unterschied besteht weiterhin im fehlenden bzw. verminderten Juckreiz.

754

Merke

Abb. 38.10 Skabies. Papeln an den seitlichen Fußrändern/Fußrücken (für Säuglinge eine charakteristische Lokalisation). (Abb. aus: Tilgen W, Pföhler C, Zaun H. Skabies (Krätze). In: Gortner L, Meyer S, Hrsg. Duale Reihe Pädiatrie. 5., vollständig überarbeitete Auflage. Thieme; 2018)

Das Infektionsschutzgesetz ist bezüglich eines Tätigkeits- und Beschäftigungsverbots und des Besuchs von Gemeinschaftseinrichtungen zu beachten (▶ Tab. 38.1). Besondere Schutzmaßnahmen sind in ▶ Tab. 38.2 beschrieben.

38.17.2 Symptome Skabies äußert sich bei einer Erstinfestation meist nach 2–5 Wochen, bei einer erneuten Infektion (Reinfektion) bereits nach 1–2 Tagen durch: ● Juckreiz, besonders nachts ● am Ende der bis zu 1 cm langen Gänge zeigen sich kleine Bläschen als Ekzemreaktion (▶ Abb. 38.10) ● Besonders betroffen ist die Haut zwischen den Fingern und Zehen, an der Achsel, der Leiste und am Gesäß. Bei Säuglingen können auch die Fußsohlen und das Gesicht befallen sein.

H ●

Säuglinge sollten zur Gewährleistung des Therapieerfolgs und der Sicherheit stationär behandelt werden. Das Mittel zur Behandlung von Skabies darf von Kindern nicht abgeleckt werden, da es toxisch wirkt. Daher sind besondere Schutzmaßnahmen zu treffen, wie das Tragen von Fäustlingshandschuhen. Alle engen Familienmitglieder und Kontaktpersonen müssen behandelt werden. Für Neugeborene, Säuglinge unter 2 Monaten und Schwangere gestaltet sich eine wirksame und gleichzeitig ungefährdende Therapie schwierig, aktuell ist kein Antiskabiosum zugelassen. Die Eltern oder die Schwangere müssen bei einer Anwendung der Präparate auf diese Tatsache hingewiesen werden (OffLabel-Use).

38.18 Pflege eines Kindes mit Stomatitis aphthosa

Tab. 38.16 Pflegeprobleme, -ziele und -maßnahmen bei Skabies. Pflegeprobleme

Pflegeziele

Pflegemaßnahmen

Unwohlsein durch Juckreiz, Gefahr einer Superinfektion durch das Aufkratzen der Haut

Juckreizlinderung, intakte und infektfreie Haut

● ●





Gefahr einer Reinfektion durch Übertragung auf Kontaktpersonen

Abtötung der Milben











● ● ●



38.18 Pflege eines Kindes mit Stomatitis aphthosa 38.18.1 Erreger, Inkubationszeit und Infektionsweg Die Stomatitis aphthosa ist eine Herpessimplex-Infektion. Erreger ist das Herpessimplex-Virus. Die Inkubationszeit beträgt 4–6 Tage. Die Erkrankung wird über Tröpfcheninfektion übertragen. ▶ Tab. 38.2 stellt besondere Schutzmaßnahmen dar.





nicht so warm anziehen, da dies den Juckreiz fördert Fingernägel kurz schneiden, da es zu einer Superinfektion durch Kratzen kommen kann Säuglingen und kleinen Kindern evtl. Handschuhe („Fäustlinge“) anziehen Beobachtung auf Juckreiz und Veränderungen der Hauterscheinungen vorbereitend Patient duschen bzw. baden, anschließend Haut gut abtrocknen, ca. 60 Min. warten, bis normale Hauttemperatur wieder erreicht ist (Wärme erhöht die Resorption der Wirkstoffe des Präparats) Antiskabiosum, z. B. Permethrin 5 % Creme (neurotoxische Wirkung), lokal mit Schutzhandschuhen auf die gesamte Haut ab dem Unterkiefer (auch hinter den Ohren!) auftragen bei Säuglingen und Kleinkindern bis 3 Jahren wird der Kopf (nicht um den Mund und die Augen) mitbehandelt die Einwirkzeit beträgt bei Permethrin 8–12 Stunden (am besten über Nacht) nach der vorgegebenen Einwirkzeit das Mittel abwaschen bzw. abduschen Kleider- und Bettwäschewechsel nach jeder Behandlung durchführen evtl. erfolgt eine weitere Behandlung nach ca. 7 Tagen Anwendungsdauer bei anderen Präparaten beachten, kann bis zu 3–5 Tage betragen enge Kontaktpersonen des Kindes werden mitbehandelt

Bläschen auf der Schleimhaut der gesamten Mundhöhle einschließlich Rachen (▶ Abb. 38.11), evtl. auch an den Lippen; Bläschen konfluieren, die Erosionen sind schmerzhaft und verkrusten bei der Nahrungsaufnahme treten Schmerzen auf, Folge ist meist Nahrungsverweigerung

Merke

H ●

Bei abwehrgeschwächten Kindern besteht die Gefahr, dass die Bläschen auch im Larynx, im Ösophagus und an der Vulva auftreten.

38

Abb. 38.11 Stomatitis aphthosa. (Abb. aus: Engelmann G, Sitzmann F. Ätiologie und Pathogenese. In: Gortner L, Meyer S, Sitzmann F, Hrsg. Duale Reihe Pädiatrie. 4. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2012)

38.18.2 Symptome Es treten folgende Symptome auf: ● Fieber und allgemeine Abgeschlagenheit ● Übelkeit, fauliger Mundgeruch, starker Speichelfluss

38.18.3 Pflegeziele und -maßnahmen Pflegeprobleme, zu erreichende Ziele und die dafür zu ergreifenden Maßnahmen können Sie ▶ Tab. 38.17 entnehmen.

5

Pflege von Kindern mit infektiösen Erkrankungen

Tab. 38.17 Pflegeprobleme, -ziele und -maßnahmen bei Stomatitis aphthosa. Pflegeprobleme

Pflegeziele

schmerzhafte Bläschen an der Mundschleimhaut

● ●

Pflegemaßnahmen

Schmerzlinderung intakte Mundschleimhaut

● ● ●



Verweigerung der Nahrungsaufnahme durch Schmerzen

ausreichende Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme

● ● ● ● ●

Infektion weiterer Haut- und Schleimhautbereiche durch Schmierinfektion

intakte Haut und Schleimhaut

gestörtes Wohlbefinden durch Fieber

physiologische Körpertemperatur



● ● ●

Spülungen mit Kamillentee schmerzlindernde Medikamente nach Arztanordnung Austupfen der Mundhöhle mit schmerzstillenden, desinfizierenden Tinkturen vor der Nahrungsaufnahme Lippenpflege z. B. mit Aciclovir nach Arztanordnung lokal auf Bläschen Wunschkost häufig Getränke anbieten säurehaltige Getränke und Speisen vermeiden ggf. die Nahrung über eine Magensonde verabreichen Infusionstherapie nach Arztanordnung beim Waschen des Gesichts sollte der Waschlappen nach dem Kontakt mit dem Mund gewechselt werden ggf. ein Tuch zum Auffangen des Speichels umbinden fiebersenkende Maßnahmen Kontrolle der Körpertemperatur

Tab. 38.18 Pflegeprobleme, -ziele und -maßnahmen bei Windpocken.

38

Pflegeprobleme

Pflegeziele

gestörtes Wohlbefinden und gestörter Schlaf aufgrund von Juckreiz



Juckreizlinderung Austrocknung der Bläschen ausreichend Schlaf



Gefahr einer Superinfektion nach einem Aufkratzen der betroffenen Hautstellen

komplikationsloses Abheilen der betroffenen Hautstellen



Merke

● ●

● ●

● ●

H ●

Zum Eigenschutz sollten bei der Mundpflege Schutzhandschuhe getragen werden.

38.19 Pflege eines Kindes mit Windpocken (Varizellen) 38.19.1 Erreger, Inkubationszeit und Infektionsweg Erreger der Windpocken sind Herpesviren. Durch eine endogene Reaktivierung, vorwiegend bei Abwehrschwäche, können sie z. B. bei Erwachsenen die sog. Gürtelrose, den Herpes zoster auslösen. Die Inkubationszeit beträgt 11 – 21 Tage. Die Vi-

756

Pflegemaßnahmen Bläschen mit der verordneten Schüttelmixtur betupfen austrocknender Badezusatz, z. B. Tannolact Verhinderung einer Überwärmung, die den Juckreiz fördert: z. B. leichte Kleidung aus Naturfasern und Hautpflege mit eher kühlerem Wasser Fingernägel werden sauber und kurz gehalten Kind soll sich nicht kratzen, z. B. ablenken, Eltern mit einbeziehen bei Komplikationen bzw. einer Superinfektion Aciclovir oder Antibiotika nach Arztanordnung verabreichen

ren werden per Tröpfcheninfektion oder durch die Luft verbreitet. Ansteckend sind Windpocken einen Tag vor Ausbruch des Exanthems bis zur Eintrocknung der Bläschen und dem Abfallen der Borken. Der Impfkalender (▶ Tab. 38.3) gibt Empfehlungen zur möglichen Prophylaxe. Das Infektionsschutzgesetz ist bezüglich eines Tätigkeits- und Beschäftigungsverbots und des Besuchs von Gemeinschaftseinrichtungen zu beachten (▶ Tab. 38.1). Besondere Schutzmaßnahmen sind in ▶ Tab. 38.2 beschrieben.

38.19.2 Symptome Symptome von Windpocken sind: ● Abgeschlagenheit und leichtes Fieber ● juckende, blassrote Flecken am ganzen Körper, die Knötchen und Bläschen bilden; diese trocknen ein und bilden einen dunkelroten Schorf, der nach mehreren Tagen abfällt



alle Stadien des Ausschlags sind gleichzeitig vorhanden („Sternkartenphänomen“ oder „Sternenhimmel“, Exanthembeschreibung s. ▶ Tab. 38.4)

38.19.3 Pflegeziele und -maßnahmen Pflegeprobleme, zu erreichende Ziele und die dafür zu ergreifenden Maßnahmen können Sie ▶ Tab. 38.18 entnehmen. Bei Herpes zoster können durch den Befall der Nerven (Neuritis) starke Schmerzen auftreten. Nach Abheilen kann diese Neuralgie noch über lange Zeit erhebliche Schmerzen bereiten. Zur Schmerzlinderung können nach Arztanordnung Analgetika verabreicht werden.

Kapitel 39 Pflege kritisch kranker Kinder

39.1

Bedeutung

758

39.2

Klinische und apparative Überwachung

759

39.3

Spezielle Intensivpflegemaßnahmen

760

Pflege kritisch kranker Kinder

39 Pflege kritisch kranker Kinder Eva-Maria Wagner

39.1 Bedeutung Die Pflege kritisch kranker Kinder, die Kinderintensivpflege, stellt eine hoch spezialisierte Form der Pflege dar. Sie befasst sich sowohl mit akut kritisch kranken Kindern, bei denen auf der Intensivstation einer Klinik kurzfristig der Ausfall lebensnotwendiger Funktionen überbrückt wird, als auch mit Kindern, die chronisch kritisch krank sind und deren lebenswichtige Funktionen dauerhaft (über Monate oder Jahre) unterstützt werden müssen. Die zweite Gruppe von Kindern wird i. d. R. außerhalb einer Klinik betreut, entweder zu Hause (häusliche Intensivpflege, engl.: high tech home care) oder in speziellen Einrichtungen, z. B. einem Wohnheim für dauerbeatmete Kinder oder einem Kinderhospiz (Friesacher 2006, Friesacher 2016).

39.1.1 Bedeutung für das Kind

39

758

Eine lebensbedrohliche akute Erkrankung reißt das Kind plötzlich aus seinem vertrauten Alltagsleben und bringt es unvorbereitet in die fremde, schwer verständliche, hoch technisierte Umgebung einer Intensivstation mit häufig wechselndem Personal. Unvermittelt ist vieles, was für das Kind selbstverständlich war, nicht mehr oder nur noch teilweise möglich, z. B. sprechen, atmen, sich bewegen, essen und trinken, ausscheiden. Das Kind ist an verschiedene Geräte angeschlossen, die akustische Alarme von sich geben, es ist häufig sehr hell und laut, viele Geräusche kann das Kind nicht zuordnen, es wird häufig von verschiedenen Personen berührt oder bewegt, was unangenehm oder sogar schmerzhaft sein kann. Für das Kind ist unklar, wie lange dieser beängstigende Zustand anhalten wird oder ob überhaupt wieder alles so wird, wie es vor der Erkrankung war. Im Laufe der intensivmedizinischen Behandlung stellt sich evtl. heraus, dass eine oder mehrere Einschränkungen auf Dauer bestehen bleiben werden. Während der Therapie auf der Intensivstation macht das Kind neue, beunruhigende Erfahrungen: Schmerz, Einsamkeit, Heimweh, Hunger und Durst, eine erschwerte Atmung, ein verändertes Bewusstsein, ein beeinträchtigtes Körpergefühl. Große Teile dieser Erfahrungen muss das Kind alleine durchleben ohne die kontinuierliche Anwesenheit eines Elternteils (Köhlen 2008, Hinterwirth 2018). Es muss darauf vertrauen, dass die vielen, wechselnden Erwachsenen um es herum, die ihm diese unangenehmen Erfah-

rungen zumuten, es letzlich gut mit ihm meinen, da es ja existenziell auf ihre kompetente Betreuung angewiesen ist (Hopfner et al. 2003, Bischof 2010). Pflegefachkräfte können ein kritisch krankes Kind unterstützen, indem sie: ● Sich zu Schichtbeginn vorstellen und dem Kind öfters während ihrer Schicht sagen, wer sie sind, sowie sich zum Ende der Schicht vom Kind verabschieden, auch wenn das Kind bewusstlos oder tief sediert ist. ● Dem Kind in altersentsprechenden, kindgerechten Worten erklären, dass und warum es auf der Intensivstation behandelt wird und was als Nächstes geschehen wird. ● Die Eltern und andere Bezugspersonen in die Pflege einbeziehen und möglichst viel Kontakt ermöglichen, auch Körperkontakt. ● Innerhalb der eigenen Berufsgruppe keine Gespräche über den Kopf des Kindes hinweg führen, z. B. bei der Übergabe. ● Ärzte und Angehörige anderer Berufsgruppen dabei unterstützen, das Kind als Person wahrzunehmen und einzubeziehen, z. B. keine Visitengespräche am Bett des Kindes über seinen Kopf hinweg zu führen. ● Den Tag-/Nachtrhythmus auf der Intensivstation gestalten und dem Kind wiederholt Informationen zur zeitlichen Orientierung geben. ● Das Kind vor unnötigem Lärm, Licht und Schmerz schützen und altersentsprechende Anregung anbieten. Dies gilt sowohl für wache als auch für bewusstlose Kinder. ● Bei allen Kindern, die voraussichtlich länger als 3 Tage beatmet werden müssen, ein Intensivtagebuch führen, in dem beschrieben wird, was das Kind erlebt, wie es ihm geht, und das z. B. auch Fotos enthalten soll, sodass die Geschichte des Intensivaufenthalts später für das Kind und/oder die Eltern bewusst nacherlebbar und verständlich wird (siehe www.intensivtagebuch.de).

39.1.2 Bedeutung für die Eltern Eine lebensbedrohliche Erkrankung kommt als Krise auf die Familie zu: Das Kind muss auf der Intensivstation behandelt werden, die Eltern stehen hilflos, fassungslos am Bett des Kindes. Gleichzeitig müssen sie ihren Alltag bewältigen (Berufstätigkeit, Haushalt) und möglicherweise für ein oder mehrere Geschwisterkinder sorgen. Neben der Sorge um das Überleben ihres Kindes tritt die Ungewissheit bezüglich der Zukunft. Wird das Kind

bleibende Folgen der Erkrankung behalten? Bleibt das Kind gar chronisch kritisch krank? Manchmal belasten Schuldgefühle die Eltern, z. B. nach einem Unfall oder einer Intoxikation. All dies kann dazu führen, dass Eltern selbst Unterstützung benötigen, um ihrem kritisch kranken Kind eine Hilfe sein zu können (psychosoziale Begleitung, finanzielle Unterstützung, Haushaltshilfe). Was auf einer Normalstation der Kinderklinik bereits seit Langem zu Regel gehört – die Mitaufnahme der Eltern –, ist auf einer Intensivstation in vielen Kliniken bislang undenkbar. Abgesehen von den ungünstigen räumlichen Begebenheiten scheitert die Mitaufnahme oft an der fehlenden Bereitschaft des Personals, die Eltern mitaufzunehmen (Kügler 2014). Insbesondere in einer absoluten Ausnahmesituation wie einer Reanimation ihres Kindes ist es für die Mehrzahl der Eltern kaum zu ertragen, nicht dabei sein zu dürfen. Sie fühlen sich dazu verpflichtet und berechtigt, sowohl den ersten als auch den möglicherweise letzten Moment im Leben ihres Kindes gemeinsam zu verbringen (Baumeister 2014). Pflegefachkräfte können die Eltern unterstützen, indem sie: ● Als Zuhörer zur Verfügung stehen, ohne zu werten oder zu urteilen. ● Den Eltern Möglichkeiten zeigen, wie sie sich an der Pflege beteiligen können, z. B. bei der Körperpflege oder der Positionierung. ● Den Eltern Hilfestellung geben, mit ihrem Kind zu kommunizieren, z. B. durch Vorlesen oder nichtverbale Kommunikation über Hautkontakt, Massage, atemstimulierende Einreibung (S. 253), Maßnahmen zur Basalen Stimulation (S. 163). ● Im Team überlegen, inwieweit die Ausübung der Elternrolle in dieser krisenhaften Situation unterstützt werden kann, z. B. indem den Eltern auch bei beengten Raumverhältnissen eine dauerhafte Anwesenheit beim Kind angeboten wird, auch nachts. ● In Absprache mit den Ärzten weiteren Familienmitgliedern den Kontakt zum kritisch kranken Kind ermöglichen, z. B. Großeltern oder Geschwisterkindern. ● Den Kontakt zu anderen Berufsgruppen in der Klinik vermitteln, z. B. Klinikseelsorge, Sozialdienst oder psychologischer Dienst. ● Gemeinsam mit dem ärztlichen Dienst ein Konzept zur Elternanwesenheit bei Reanimation entwickeln und andere Elternpaare vor Erlebnissen wie der Reanimation eines anderen Kindes schützen.

39.2 Klinische und apparative Überwachung ●





Austausch der Eltern untereinander unterstützen und auf Selbsthilfegruppen hinweisen. Mit den Eltern und Ärzten gemeinsam die Entlassung planen, wenn erforderlich unter Einbezug eines häuslichen Kinderkrankenpflegedienstes (S. 116), oder die Verlegung in eine Rehabilitationseinrichtung (S. 124). Ein strukturiertes Entlassungsmanagement sowie das Angebot der sozialmedizinischen Nachsorge, die die Eltern für 20 Std. zu Hause unterstützt, können äußerst hilfreich sein.

39.1.3 Bedeutung für das Pflegepersonal Auf einer Intensivstation zu arbeiten bedeutet, häufige Notfallsituationen zu bewältigen, unter Zeitdruck rasch zu handeln, sich mit den verschiedensten medizinischen Geräten zu befassen, eng mit Ärzten, anderen Berufsgruppen und Pflegefachkräften zusammenzuarbeiten. Die Pflegesituationen auf der Intensivstation sind komplex, unübersichtlich und häufiger Veränderung unterworfen. Die Vitalfunktionen der Kinder müssen apparativ und medikamentös unterstützt werden. Mit der allmählichen Stabilisierung, z. B. bei der künstlichen Beatmung, können unvorhergesehene Rückschritte einhergehen. Das Pflegepersonal muss regelmäßig das Verhalten im Notfall trainieren (S. 860) (Weisner 2017) und die korrekte Handhabung der benötigten Medizinprodukte beherrschen (S. 443) (Kirchberg 2014). Um Gefahren in der Kinderintensivpflege und -therapie frühzeitig zu identifizieren und die Patientensicherheit zu gewährleisten, wird das Pflegepersonal in der Umsetzung eines speziellen Systems zur Erfassung von „Beinahe-Unfällen“ geschult, wie dem „Critical-IncidentReporting-System (CIRS)“ (S. 55). Nicht alle Kinder können in einem befriedigenden Zustand von der Intensivstation verlegt werden (z. B. Wachkoma nach schwerem Schädel-Hirn-Trauma). Manche Kinder bleiben kritisch krank, es muss die Überleitung in die häusliche Intensivpflege oder eine Frührehabilitation geplant und organisiert werden. Trotz aller Möglichkeiten der modernen Medizin kann nicht jedem Kind geholfen werden – eine Sterbebegleitung (S. 465) kann erforderlich werden. All diesen Herausforderungen muss sich das Pflegepersonal auf der Intensivstation stellen, ohne zu resignieren oder sich als Person hinter der Technik zu verstecken (Langzeitfolgen bei Intensivpflegepersonal s. Rudolph, 2004). Pflegefachkräfte können sich auf der Intensivstation gegenseitig unterstützen, indem sie:

















Sich fachlich auf den neuesten Stand bringen. Anfallende Aufgaben in jeder Schicht fair verteilen und bei sehr belastenden Tätigkeiten diese reihum im Team von jedem einmal erledigen lassen. Jeden Mitarbeiter entsprechend seinem Können und seiner Berufserfahrung einsetzen, auch unerfahrenen Mitarbeitern gegenüber Wertschätzung ausdrücken, dass sie das Team ergänzen. Sich gegenseitig loben für eine gelungene Arbeit. Gemeinsam lachen trotz all der schwierigen und problematischen Situationen, die auftreten. Gemeinsam darauf achten, sich nicht zu überfordern, z. B. Pausen ermöglichen in jeder Schicht, Überstunden begrenzen, häufigen kurzfristigen Diensttausch vermeiden. Kooperatives Arbeiten mit allen anderen Berufsgruppen und den Pflegefachkräften der Normalstationen anstreben. Stress abbauen durch gezielte Freizeitaktivitäten, z. B. regelmäßig Sport treiben, ein Hobby pflegen, Kunst und Kultur genießen.

39.2 Klinische und apparative Überwachung Unter klinischer Überwachung versteht man die pflegerische Beobachtung eines kritisch kranken Kindes mittels der Sinne Sehen, Hören, Fühlen, Riechen. Die Überwachung kritisch kranker Kinder erfolgt sowohl klinisch als auch apparativ (▶ Abb. 39.1). Auf der einen Seite können die Patienten nicht ununterbrochen klinisch überwacht werden und bestimmte Vitalparameter lassen sich nur mittels apparativer Überwachung erfassen. Andererseits können alle Apparate auch Fehlalarme oder Fehlfunktionen aufweisen, sodass sie stets durch eine in der Bedienung erfahrene Pflegefachkraft interpretiert werden müssen. Beide Beobachtungsformen ergänzen sich gegenseitig. Über Umfang und Intensität der Überwachung entscheidet der Arzt in Abhängigkeit vom Zustand des kritisch kranken Kindes (umfassende Einführung in das Thema bei Messall 2017). Folgendes muss beobachtet werden: ● Durch Sehen können beurteilt werden: Haut, Schleimhaut, Pupillen, Gefäßzugang, Atemexkursionen, Operationswunde/-verband, Beatmungstubus/Trachealkanüle, Katheter und Drainagen. ● Durch Fühlen können beurteilt werden: Puls, Muskeltonus, Temperatur, Atmung/Rasseln von Sekret, Fontanelle. ● Durch Hören (mittels Stethoskop) können beurteilt werden: Atmung, Herzaktion, Darmgeräusche.

Abb. 39.1 Multifunktionsmonitor. Apparative Überwachung kritisch kranker Patienten. (Foto: K. Oborny, Thieme)

Die klinische Überwachung wird durch die apparative Überwachung der Vitalparameter ergänzt. Bei der apparativen Überwachung (engl.: Monitoring) unterscheidet man die nicht invasive Überwachung (z. B. Pulsoxymetrie, EKG-Ableitung) von der invasiven Überwachung mittels Messkathetern oder -sonden, die in periphere oder zentrale Blutgefäße (z. B. arterieller Blutdruck, zentralvenöser Venendruck) oder in ein Organ (z. B. intrakranielle Drucksonde) eingebracht werden. Die apparative Überwachung umfasst: EKG, Pulsoxymetrie, Atmung (Atemfrequenz, Apnoen), Blutdruck, Körpertemperatur, intrakraniellen Druck und weitere Atmungsparameter wie endexspiratorisches Kohlendioxid oder transkutanen Partialdruck von Sauerstoff (tcpO2) und Kohlendioxid (tcpCO2). Die Einstellung der Alarme (Aktivierung, Alarmgrenzen, Sensibilität) muss durch das Pflegepersonal regelmäßig überprüft und in Absprache mit dem Arzt ggf. verändert werden. Die in den angeordneten Zeitabständen erfassten Messwerte werden in der Vitalzeichenkurve dokumentiert oder direkt über ein elektronisches Patienten-DatenManagement-System (PDMS) gespeichert.

Merke

39

H ●

Die Beobachtung kritisch kranker Kinder ist eine verantwortungsvolle Aufgabe, die gut geschultes Personal und differenzierte Beobachtungsfähigkeit erfordert, um sich anbahnende lebensbedrohliche Situationen frühzeitig zu erkennen. Dies gilt sowohl für die klinische als auch die häusliche Kinderintensivpflege. Bei der häuslichen Kinderintensivpflege müssen auch die Eltern oder andere Betreuungspersonen in der pflegerischen Beobachtung geschult werden.

9

Pflege kritisch kranker Kinder ▶ Orotracheale Intubation. Sie ist für den Arzt rasch und technisch einfach durchzuführen, allerdings sind die Tubusfixierung und die Mundpflege für das Pflegepersonal schwierig. Ein oral liegender Tubus wird von wachen, nicht sedierten Kindern häufig schlecht toleriert.

39.3 Spezielle Intensivpflegemaßnahmen Im Folgenden werden die wichtigsten Intensivpflegemaßnahmen erläutert, zu weiterführenden Maßnahmen s. Literaturverzeichnis.

▶ Nasotracheale Intubation. Diese ist für den Arzt technisch schwieriger durchzuführen. Oft kann nur ein kleinlumigerer Tubus verwendet werden als bei der orotrachealen Intubation. Bei Schulkindern und Jugendlichen besteht ein erhöhtes Risiko einer Sinusitis. Andererseits kann der Tubus sicher fixiert werden, die Mundpflege ist gut durchführbar und der Tubus wird auch von wachen Kindern meist gut toleriert.

39.3.1 Unterstützung bei der Intubation Definition

L ●

Unter Intubation versteht man das Einbringen eines Tubus (lat.: Röhre) in die Trachea, entweder über die Nase (nasotracheal) oder über den Mund (orotracheal), um einen sicheren Atemweg zu schaffen, über den eine künstliche Beatmung möglich ist. Beide Methoden haben ihre Vor- und Nachteile.

▶ Aufgaben der Pflegefachkraft. Sie bestehen bei einer Intubation darin, das erforderliche Material bereitzustellen, auf seine Funktionstüchtigkeit zu prüfen und dem Arzt anzureichen, damit dieser die Intubation so zügig wie möglich durchführen kann.

▶ Indikationen zur Intubation. Ateminsuffizienz, Beatmung bei und nach Operationen (▶ Abb. 39.2), Reanimation, Unfälle sind z. B. Indikationen zur Intubation.

Intubationsmaterial Sinnvoll ist der Einsatz eines Notfallwagens, in dem das gesamte benötigte Material griffbereit liegt, das regelmäßig auf Vollständigkeit und Funktionsfähigkeit kontrolliert wird.

39

▶ Endotrachealtubus. Die Größe des benötigten Tubus ist abhängig von Alter und Körpergröße des Kindes (▶ Tab. 39.1).

Praxistipp Pflege

Z ●

Als Faustregel gilt ab dem Alter von 2 Jahren: (Alter : 4) + 4 = Tubusgröße in mm Innendurchmesser.

Abb. 39.2 Orotracheale Intubation vor OP. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Bei Kindern unter 2 Jahren gilt der Durchmesser des Kleinfingers des Kindes als Anhaltspunkt für die Tubusgröße.

Eltern

Kind und Eltern sollten wissen, dass der Endotrachealtubus die Stimmbänder blockiert, sodass Sprechen nicht möglich ist, solange der Tubus liegt. Nach der Extubation (Entfernen des Endotrachealtubus) wird das Kind wieder sprechen können.

Endotrachealtuben gibt es mit und ohne Cuff, d. h. einen aufblasbaren Ballon kurz vor dem Ende des Tubus zum Abdichten der Trachea. Tuben ohne Cuff verwendet man bei Früh- und Neugeborenen, da in diesem Lebensalter die engste Stelle im Luftweg nicht die Glottis (Kehlkopf) ist, sondern diese unterhalb der Glottis liegt (subglottisch). Wird der Tubus nicht ganz exakt positioniert, kann es schnell zu Drucknekrosen an der Trachealschleimhaut kommen. Tuben mit Cuff sind ab der Größe von 3,0 mm Innendurchmesser erhältlich und können jenseits des Neugeborenenalters ab einem Körpergewicht von 3 kg verwendet werden (▶ Abb. 39.3). Diese Tuben haben den Vorteil, dass es seltener zur spontanen Extubation durch Herausrutschen kommt und bei hohem Beatmungsdruck wenig Luftleckage auftritt. Zudem kommt es seltener zu einer stillen Aspiration von Sekret, das aus der Mundhöhle entlang des Tubus in die Trachea läuft. Vor dem Einsatz des Tubus wird mithilfe einer Spritze der Cuff mit Luft gefüllt, um die Dichtigkeit zu kontrollieren. Manche Systeme werden auch mit Wasser gefüllt. Das Füllen des Cuffs wird als Blocken bezeichnet. Der Druck im Ballon muss je-

Tab. 39.1 Tubusgrößen sowie passende Größen des Absaugkatheters für Kinder, Innendurchmesser (ID) in mm.

760

Tubus mit Cuff

a ●

Alter

Tubus ohne Cuff

Frühgeborenes < 750 g

2,0

Absaugkatheter Charr 5

Frühgeborenes < 2500 g

2,5

Charr 5

Neugeborenes 2,5 – 4,5 kg

3,0 – 3,5

Charr 6

bis 6 Monate

3,5 – 4,0

6 – 12 Monate

4,0 – 4,5

3,0 mit Cuff

Charr 8

1 – 2 Jahre

4,5 – 5,0

3,5 mit Cuff

Charr 8 – 10

2 – 4 Jahre

5,0 – 5,5

4,0 mit Cuff

Charr 10

4 – 6 Jahre

5,5 – 6,0

4,5 mit Cuff

Charr 10

6 – 8 Jahre

6,0 – 6,5

5,0 mit Cuff

Charr 10

8 – 10 Jahre

5,5 mit Cuff

Charr 10

10 – 12 Jahre

6,0 mit Cuff

Charr 12

12 – 14 Jahre

6,5 mit Cuff

Charr 12

Charr 8

39.3 Spezielle Intensivpflegemaßnahmen es die Möglichkeit der apparativen automatischen Cuffdruckkontrolle, die mittels Alarmen auf einen zu hohen oder zu niedrigen Druck hinweist. Bei der Verwendung eines elektronischen Cuffwächters wird der Cuffdruck 1 mmHg über dem Spitzendruck der künstlichen Beatmung eingestellt.

Konnektor

Praxistipp Pflege

Z ●

Ein Cuff sollte nicht völlig entblockt werden, sondern eine Restfüllung von einigen Millilitern Luft enthalten. Dadurch wird verhindert, dass der Ballon scharfkantige Falten wirft, die die Trachealschleimhaut schädigen können, und dass sog. „Aspirationsstraßen“ für Sekret entlang der Cuff-Falten entstehen.

Kontrollballon Luer-LockSpritzenansatz NiederdruckCuff

Markierungsring zur Kontrolle der Intubationstiefe

Abb. 39.3 Tubus mit Cuff. Die Funktion des Cuffs muss vor der Intubation geprüft werden. (Foto: T. Stephan, Thieme)

▶ Laryngoskop. Dieses Instrument besteht aus einem Handgriff mit Lichtquelle und Spatel, beide Teile müssen miteinander verbunden werden. Das Laryngoskop wird benötigt, um den Kehlkopfeingang sichtbar zu machen. Der Spatel ist in gerader oder gebogener Form und in verschiedenen Größen erhältlich, je nach Alter des Patienten vom Frühgeborenen bis zum Erwachsenen (▶ Abb. 39.5). ▶ Intubationszange. Die Intubationszange hilft, den Tubus durch den Kehlkopf in die Trachea vorzuschieben. Sie ist der Anatomie des Nasen-Rachen-Raumes entsprechend gebogen geformt und in verschiedenen Größen erhältlich.

Abb. 39.4 Cuffdruckwächter zur manuellen Kontrolle. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

doch so niedrig bleiben, dass die Durchblutung der Trachealschleimhaut aufrechterhalten bleibt. Es gibt verschiedene Systeme zur Kontrolle des Drucks. Mittels eines Manometers (▶ Abb. 39.4) sollte alle 2 Stunden kontrolliert werden, ob der nach der Intubation geblockte Cuff einen Druck um 20 mmHg aufweist, um einer Schädigung der Trachealschleimhaut vorzubeugen. Außer den heutzutage üblichen Großvolumen-Niederdruckballons (High Volume/Low Pressure Cuffs) gibt es auch selbstregulierende Systeme mit schaumstoffgefülltem Ballon (Fome Cuff) oder ein isobares System mit einem Latex-Referenz-Ballon (Lanz-System). Außerdem gibt

▶ Führungsstab. Ein Führungsstab ist ein stabiler, verformbarer Metallstab mit Kunststoffummantelung und dient der Schienung des Tubus bei orotrachealer Intubation. Vor der Anwendung muss Gleitgel aufgetragen werden, damit der Führungsstab nach der Intubation leicht wieder entfernt werden kann. Das hintere Ende des Führungsstabs sollte zum Schutz vor Verletzungen stets umgebogen werden, sodass die vordere Spitze nicht über die Tubusspitze hinausragt. Führungsstäbe gibt es in verschiedenen Größen je nach Innendurchmesser des Tubus.

Merke

● H

Der Führungsstab wird nur bei orotrachealer Intubation angewendet, um dem Tubus mehr Stabilität zu verleihen bzw. ihm eine stärkere Krümmung zu geben. Bei der nasotrachealen Intubation darf er nicht angewendet werden.

Abb. 39.5 Laryngoskop anreichen. Das Laryngoskop wird von der Pflegefachkraft so angereicht, wie der Arzt es in den Mund des Kindes einführt, also mit dem Spatel nach unten, sodass die Spatelspitze zum Kinn des Kindes zeigt. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

▶ Beatmungsbeutel und -maske. Sie sind in unterschiedlichen Größen erhältlich. Die Beatmungsmaske muss Mund und Nase des Kindes bedecken und dicht sitzen, ohne dass bei ihrer Anwendung Druck auf die Augen ausgeübt wird. Runde Masken mit weichem Wulst sind für Ungeübte leichter dicht zu halten als anatomisch geformte Masken. ▶ Weiteres Material. Benötigt werden eine funktionstüchtige Absauganlage mit Absaugkathetern in passender Größe, ein Sauerstoffanschluss, ein Monitor zur Überwachung von EKG und Sauerstoffsättigung, ein Stethoskop, ein einsatzbereites Beatmungsgerät, Medikamente zur intravenösen Sedierung und evtl. Atropin zur Vorbeugung einer reflektorischen Bradykardie aufgrund der Manipulation im Rachen.

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▶ Positionierung. Um den Tubus problemlos einführen zu können, werden Säuglinge und Kleinkinder in „Schnüffelposition“ (als ob sie etwas erschnuppern möchten) auf dem Rücken positioniert (s. ▶ Abb. 47.2). Größere Kinder werden mit leicht überstrecktem Kopf und einer kleinen Rolle unter den Schultern positioniert.

Durchführung Zur Überwachung wird der Systolenton am EKG-Monitor laut gestellt, um Veränderungen der Herzfrequenz sofort zu hören. Je nach ärztlicher Anordnung werden vor der Intubation intravenös Medikamente verabreicht, der Nasen-RachenRaum und evtl. der Magen werden zum Schutz vor Aspiration abgesaugt. Das Kind erhält nach ärztlicher Anordnung Sauerstoff über Beatmungsbeutel und -maske, sodass es während des Eingriffs eine sta-

1

Pflege kritisch kranker Kinder bile Sauerstoffsättigung hat und einer Hypoxie vorgebeugt wird. Dieses Vorgehen bezeichnet man als Präoxygenierung. Die Intubation wird vom Arzt vorgenommen, die Pflegefachkraft reicht das Material an, beobachtet den Zustand des Kindes und schiebt bei Bedarf nach Ansage den Tubus etwas vor oder übt von außen leichten Druck auf den Kehlkopf aus, um die Intubation zu erleichtern. Sobald der Tubus platziert ist, wird der Beatmungsbeutel angeschlossen und das Kind wird bebeutelt, d. h., es bekommt Luft aus dem Beutel zugeführt. Dabei sollte sich der Thorax gleichmäßig heben. Der Arzt überprüft durch Auskultation, ob die Lunge seitengleich und gleichmäßig belüftet wird. Anschließend wird der Tubus mit einem Pflasterstreifen auf Nasenrücken und Wangen des Kindes fixiert oder mit einem kommerziellen Fixierungssystem befestigt und an das Beatmungsgerät angeschlossen. Zur Entlastung des Magens wird eine Magensonde gelegt, die zunächst nach oben offen aufgehängt wird, damit Luft entweichen kann, die während der Maskenbeatmung in den Magen gelangt. Mit einer Röntgenaufnahme wird die korrekte Lage des Tubus überprüft und in der Patientenakte dokumentiert (z. B. „Tubus bei Markierung 15 cm am Naseneingang fixiert“). Die Fixierung des Tubus nach nasotrachealer Intubation ist in ▶ Abb. 39.6 dargestellt.

39 39.3.2 Endotracheales Absaugen Ist bei einem künstlich beatmeten Kind Sekret aus den Atemwegen abzusaugen, muss das Kind endotracheal abgesaugt werden, da infolge der Intubation der Kehldeckel kontinuierlich geöffnet bleibt und somit kein effektiver Hustenstoß mehr möglich ist. Kind und Eltern werden über das geplante Vorgehen informiert. Da das endotracheale Absaugen eine sehr unangenehme Maßnahme darstellt und für das Kind mit Atemnot, Hustenreiz und Erstickungsangst verbunden ist, sollte die Pflegefachkraft dem Kind ein altersentsprechendes Unterstützungsangebot machen. Sofern sich Eltern dazu in der Lage fühlen, können sie ihr Kind unterstützen. Beim Frühund Neugeborenen sowie Säugling kann eine umgrenzende Positionierung angeboten werden oder das Auflegen der Hand eines Elternteils oder einer zweiten Pflegefachkraft. Bei größeren Kindern können die Eltern die Hand halten, das Kind darf die Hand so fest drücken, wie es nur kann, um seine Aufmerksamkeit nicht ausschließlich auf die Absaugung zu konzentrieren. Langzeitbeatmete wache Kinder

762

a

b

d

c

Abb. 39.6 Tubusfixierung mit Dreipunkttechnik. a Geschnittenes Tubuspflaster, b Fixation am Nasenrücken, c Tubuspflaster wird um den Tubus gewickelt; bei der 2. Umrundung wird es nach unten um den Tubus geschlungen und dann auf Nasenrücken, Nasenflügeln und Wange fixiert, d der Vorgang wird auch mit der 2. Pflasterhälfte zur anderen Gesichtsseite durchgeführt.

Tab. 39.2 Menge der Spülflüssigkeit zum endotrachealen Absaugen. Alter

Menge

Frühgeborene

bis 0,3 ml

Neugeborene

bis 0,5 ml

Säuglinge

0,5 – 1,0 ml

Kleinkinder

1,0 – 2,0 ml

Schulkinder

3,0 bis max. 5,0 ml

können häufig selbst angeben, wann sie abgesaugt werden müssen. Das endotracheale Absaugen erfolgt stets unter sterilen Bedingungen, für jeden Absaugvorgang wird ein neuer steriler Katheter benutzt. Die Häufigkeit des Absaugens ist abhängig von der Menge des Sekrets, der Zeitpunkt wird durch Auskultation bestimmt. Der Durchmesser des Absaugkatheters sollte maximal ⅔ des Innendurchmessers des Tubus betragen; dies ist jedoch aufgrund der kleinen Tuben bei Früh- und Neugeborenen sowie Säuglingen häufig nicht umsetzbar. Welcher Absaugkatheter zu welchem Tubus passt, kann in ▶ Tab. 39.1 nachgelesen werden. Ein zu großer Katheter verursacht beim Kind Erstickungsgefühle, da er fast das gesamte Lumen des Tubus verlegt, außerdem wird durch den hohen intrapulmonalen Sog die Entstehung von Atelektasen begünstigt.

Material Ergänzend zum praktischen Vorgehen beim Absaugen des Nasen-Rachen-Raumes (S. 256) werden sterile Handschuhe benötigt sowie NaCl 0,9 % in einer kleinen Spritze, um das Trachealsekret zu verflüssigen und das Einführen des Absaugkatheters zu erleichtern. Die Menge des benötigten NaCl 0,9 % richtet sich nach der Größe des Kindes (▶ Tab. 39.2).

Merke

H ●

Allgemein werden zum Anspülen 0,1 – 0,2 ml Spülflüssigkeit pro Kilogramm Körpergewicht verwendet.

Das Anspülen verursacht Hustenreiz, kann Surfactant aus der Lunge ausspülen und erhöht die Gefahr der Keimbesiedlung der unteren Atemwege. Daher sollte es nur eingesetzt werden, wenn es wirklich erforderlich ist. Um den Absaugkatheter gleitfähig zu machen, kann auch Silikonspray verwendet werden oder ein Spray zur Befeuchtung der Mundschleimhaut (künstlicher Speichel).

Merke

H ●

Da es beim endotrachealen Absaugen zur Bildung potenziell infektiösen Aerosols kommt, sollte die Pflegefachkraft zum Selbstschutz einen Mund-NasenSchutz und eine Schutzbrille tragen. Eine andere Möglichkeit zur Reduktion der Infektionsgefahr ist die Verwendung eines geschlossenen Absaugsystems.

Allgemeines zum praktischen Vorgehen beim Absaugen kann im Unterkapitel „Absaugen“ nachgelesen werden (S. 256).

39.3 Spezielle Intensivpflegemaßnahmen

Besonderheiten beim endotrachealen Absaugen Vor dem Absaugen wird der Systolenton am EKG-Monitor laut gestellt, sodass Veränderungen der Herzfrequenz während des Absaugens mitgehört werden können. Die Alarme am Monitor und am Beatmungsgerät werden vorübergehend inaktiviert. Zur Aspirationsprophylaxe wird die Magensonde ggf. geöffnet. Es ist sinnvoll, das endotracheale Absaugen mit 2 Pflegefachkräften durchzuführen, damit der Vorgang hygienisch korrekt und zügig erfolgt. Nach Aktivierung des Sogs des Absauggerätes und Öffnen der Verpackung des Absaugkatheters zieht die erste Pflegefachkraft den sterilen Handschuh an die Hand, mit der sie den Absaugkatheter in den Tubus einführt. Bei Bedarf wird nun der Tubus von der zweiten Pflegefachkraft mit NaCl 0,9 % angespült und für 3 – 5 Beatmungshübe wieder mit den Beatmungsschläuchen verbunden. Nun entnimmt die erste Pflegefachkraft den Absaugkatheter steril aus der Packung und führt ihn nach erneuter Dekonnektion der Beatmungsschläuche, die auf der Innenseite der Verpackung des sterilen Handschuhs sauber abgelegt werden, zügig in den Tubus ein, bis die Tubusspitze erreicht ist. Dabei fixiert sie den Tubus mit ihrer anderen Hand (▶ Abb. 39.7). Je nach Katheterart wird der Absaugkatheter entweder ohne Sog eingeführt (konventioneller Katheter) oder mit Sog (Luftkissenkatheter) und nach Erreichen der korrekten Position zügig mit leicht drehenden Bewegungen zurückgezogen.

Merke

H ●

Insgesamt sollte das endotracheale Absaugen nur 10 Sekunden dauern, um Erstickungsgefühlen des Kindes und dem Abfallen der Sauerstoffsättigung vorzubeugen. Tipp: Die Pflegefachkraft kann selbst die Luft anhalten, um ein Gefühl für die Dauer zu bekommen.

Beim Abfallen der Herzfrequenz oder der Sauerstoffsättigung sollte der Absaugvorgang beendet und die Stabilisierung des Kindes abgewartet bzw. durch Gabe von Sauerstoff und/oder zusätzlichen Beatmungshüben mit dem Beatmungsgerät oder dem Handbeatmungsbeutel unterstützt werden. Ist mehr als ein Absaugvorgang erforderlich, ist zwischen 2 Absaugvorgängen eine Pause einzulegen.

Beobachtung Das Absaugsekret wird hinsichtlich Menge, Aussehen (klar/weißlich/gelblich/blutig usw.), Konsistenz (zäh/flüssig) und evtl. Geruch beurteilt. Die Pflegefachkraft achtet außerdem auf Veränderungen beim Kind: Atmung, Thoraxexkursion, Herzfrequenz, Sauerstoffsättigung, Blutdruck, Hautkolorit, Hustenstoß (kräftig/ schwach/fehlt). Nach dem Absaugen wird der Tubus wieder mit dem Beatmungsgerät konnektiert. Es wird darauf geachtet, dass der Thorax des Kindes sich gleichmäßig und seitengleich hebt. Bei Bedarf wird die Lunge auskultiert, um die Effektivität des Absaugens einzuschätzen. Falls erforderlich, wird der Nasen-Rachen-Raum mit einem frischen Katheter abgesaugt, zuerst der Mund, danach die Nase. Anschließend wird der sterile Handschuh über den zusammengerollten Katheter gezogen und verworfen. Tubusfixierung und Einstellung des Beatmungsgerätes werden kontrolliert, insbesondere die Zufuhr von Sauerstoff und, falls erforderlich, angepasst. Die Parameter der apparativen Überwachung werden überprüft. Die Lagerung der Beatmungsschläuche erfolgt ohne Zug. Der Absaugvorgang sowie besondere Beobachtungen werden im Dokumentationssystem vermerkt.

systemen zu begegnen versucht (▶ Abb. 39.8). Diese Systeme haben eine geschlossene Schutzhülle aus Plastik um den Absaugkatheter, die ihn vor einer Verunreinigung von außen schützt, daher darf dieser Katheter mehrfach benutzt werden. Vorteile des geschlossenen Absaugsystems: ● Keine Dekonnektion der Beatmungsschläuche, die künstliche Beatmung wird während des Absaugvorgangs weitergeführt, daher sind Herzfrequenz und Sauerstoffsättigung der Patienten oft stabiler. ● Bei pulmonalen Infektionen des Patienten besteht eine wesentlich geringere Gefahr der Kontamination für das Pflegepersonal. ● Materialersparnis, da keine sterilen Handschuhe verwendet werden müssen und der geschlossene Absaugkatheter je nach Herstellerinformation und klinikinterner Regelung 24–48 h lang immer wieder verwendet werden kann. ● Sterile Vorgehensweise ist garantiert. ● Trachealsekret kann im Sichtfenster gut beurteilt werden. ● Absaugkatheter hat farbige Längenmarkierungen, mit deren Hilfe die maximale Einführtiefe exakt bestimmt werden kann. ● Endotracheales Absaugen kann von einer Pflegefachkraft allein durchgeführt werden, ohne den Patienten zu sehr zu belasten.

Merke ●

H ●

39

Bei Kindern, deren Atemwege mit multiresistenten Erregern infiziert sind, sollte ein geschlossenes Absaugsystem eingesetzt werden.

Durchführung Die Durchführung ist ungewohnt für Pflegefachkräfte, die bisher das offene endotracheale Absaugen gewohnt sind, und muss entsprechend geschult und geübt werden, um effektiv zu sein.

39.3.3 Geschlossenes endotracheales Absaugen

Abb. 39.7 Endotracheales Absaugen. Einführen des Katheters in den Tubus. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Die herkömmliche Vorgehensweise beim endotrachealen Absaugen wird auch als „offenes Absaugen“ bezeichnet, da eine Dekonnektion der Beatmungsschläuche erforderlich ist. Dieses Vorgehen bringt einige Nachteile mit sich, denen man durch den Einsatz von geschlossenen Absaug-

Abb. 39.8 Geschlossenes Absaugsystem. (Foto: K. Oborny, Thieme)

3

Pflege kritisch kranker Kinder

39.3.4 Sekretmobilisation

39

Beim endotrachealen Absaugen kann Sekret nur entfernt werden, wenn es bis in die Trachea gelangt ist. Tiefere Lungenabschnitte können nur im Rahmen einer Bronchoskopie abgesaugt werden. Daher ist die Sekretmobilisation bei einem künstlich beatmeten Kind sehr wichtig. Siehe Allgemeines zu atemerleichternden Positionen und zu sekretlockernden Maßnahmen (S. 253). Bestimmte Positionen zur Sekretmobilisation dürfen bei einem kritisch kranken Kind nur in Abhängigkeit vom Zustand des Kindes durchgeführt werden und können z. T. kontraindiziert sein, z. B. keine Kopftieflage bei Kindern mit SchädelHirn-Trauma, und sollten daher nur nach Absprache mit dem Arzt angewendet werden. Atemerleichternde Positionierungen, auch zur Dehnung, müssen für das Kind bequem und schmerzfrei durchzuführen sein und daher stets individuell festgelegt werden. Zur effektiven Atmung und für einen produktiven Hustenstoß ist eine möglichst aufrechte, sitzende Körperhaltung erforderlich. Aus diesem Grund sollte der Einsatz von superweichen Materialien zur Positionierung und Spezialbetten stets nur so lange wie unbedingt erforderlich erfolgen. Husten kann bei Operationswunden im Brust- oder Bauchbereich Schmerzen hervorrufen. Hilfreich ist es, wenn die Pflegefachkraft dem Kind zeigt, wie es leichten Gegendruck mit der eigenen Hand, einem kleinen Kissen oder einem zusammengerollten Handtuch ausüben kann.

Merke

H ●

Die erfolgreichste Atemtherapie ist die frühzeitige und regelmäßige Mobilisation. Sehr hilfreich ist dabei das Konzept der Kinästhetik bzw. des Kinaesthetics Infant Handling (s. Literaturverzeichnis).

Bei manchen beatmeten Kindern ist aufgrund ihrer Grunderkrankung der Hustenreflex stark eingeschränkt, z. B. bei fortgeschrittenen neuromuskulären Erkrankungen. Wenn allgemeine sekretmobilisierende Maßnahmen nicht ausreichend sind, kann der Einsatz eines sog. Hustenassistenten (Cough Assist) hilfreich sein, insbesondere bei der Heimbeatmung. Bei diesem Gerät erfolgt die Einatmung mit positivem Druck, bei der Ausatmung entsteht ein Sog, der das Sekret aus den tiefer liegenden Atemwegen zur Trachea transportiert, wo es abgesaugt werden kann.

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39.3.5 Künstliche Beatmung

39.3.6 Atemgasklimatisierung

Überwachung und Pflege bei künstlicher Beatmung stellen einen Schwerpunkt der pädiatrischen Intensivpflege dar. Es stehen viele Beatmungsgeräte und verschiedene Formen der künstlichen Beatmung zur Verfügung, um kritisch kranke Kinder mit ihren sehr unterschiedlichen Problemen zu behandeln. Grundsätzlich unterscheidet man bei den Formen der künstlichen Beatmung: ● invasive Beatmung über Endotrachealtubus oder Trachealkanüle ● nicht invasive Beatmung über eine Maske

Bei der künstlichen Beatmung über einen Endotrachealtubus oder über eine Trachealkanüle sowie bei der Spontanatmung über die Trachealkanüle wird die physiologische Funktion der Nase bei der Erwärmung und Anfeuchtung der Einatemluft ausgeschaltet bzw. umgangen. Auch in den unteren Atemwegen findet noch eine Erwärmung und Anfeuchtung statt, allerdings ist sie alleine nicht ausreichend, um eine Erwärmung auf Körpertemperatur und eine Anfeuchtung auf 100 % relative Feuchte zu gewährleisten. Fehlende Wärme und Feuchtigkeit führen zur Austrocknung des Flimmerepithels und zur Eindickung des Schleims in den Atemwegen. In der Folge kommt es zu Sekretstau und Verkrustungen, der Atemwegswiderstand steigt, ebenso die Gefahr von Atemwegsinfektionen und Atelektasen. Diesen negativen Folgen muss bei der künstlichen Beatmung vorgebeugt werden. Eine geeignete Atemgasklimatisierung unterstützt die Selbstreinigung der Lunge und reduziert Komplikationen.

Die verschiedenen Beatmungsformen unterscheiden sich hauptsächlich dadurch, wie groß der verbleibende Anteil der Spontanatmung des Patienten im Verhältnis zur Atemarbeit ist, die durch das Beatmungsgerät ersetzt wird. Heimbeatmungsgeräte haben i. d. R. weniger Beatmungsmöglichkeiten als Beatmungsgeräte für die klinische Behandlung. Moderne Beatmungsgeräte sind elektronisch gesteuert und verfügen über eine Vielzahl von Parametern, die mittels optischer und akustischer Alarme überwacht werden (▶ Abb. 39.9). Zu unterschiedlichen Beatmungsformen s. Literaturverzeichnis.

Merke

H ●

Alle Beatmungsgeräte, auch für die Heimbeatmung, sind aktive Medizinprodukte nach dem Medizinproduktegesetz (S. 443) und dürfen von Ärzten und Pflegefachkräften nur bedient werden, wenn die betreffende Person in die sachgerechte Handhabung, Anwendung und den Betrieb eingewiesen wurde. Es liegt in der Verantwortung jeder einzelnen Pflegefachkraft, ein Beatmungsgerät nur nach entsprechender Einweisung zu bedienen.

Definition

L ●

Den Vorgang der Anfeuchtung und Erwärmung des Inspirationsgases bei der künstlichen Beatmung bezeichnet man als Atemgasklimatisierung.

Formen der Atemgasklimatisierung Bei der Atemgasklimatisierung gibt es grundsätzlich 2 Methoden, die aktive und die passive Atemgasklimatisierung.

Merke

H ●

Aktive und passive Systeme zur Atemgasklimatisierung dürfen beim Einsatz am Patienten nicht miteinander kombiniert werden.

Passive Atemgasklimatisierung

Abb. 39.9 Beatmungsgerät. Mit großem Display und Überwachung verschiedener Beatmungsparameter. (Foto: K. Oborny, Thieme)

Wärme und Feuchtigkeit aus der Ausatemluft werden in einer Art Filter zurückgehalten und anschließend der Einatemluft wieder zugeführt. Diese Filter nennt man Wärme- und Flüssigkeitsaustauscher (engl.: Heat and Moist Exchanger = HME), die oft auch als „künstliche Nase“ bezeichnet werden, da sie die physiologische Funktion der Nase nachahmen. Viele HME haben eine zusätzliche Filterfunktion für Bakterien und Viren.

39.3 Spezielle Intensivpflegemaßnahmen

Merke

Abb. 39.10 Künstliche Nase. Sie hält die Luftfeuchtigkeit der Ausatemluft zurück und befeuchtet dadurch die Einatemluft. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Für die Pädiatrie gibt es HME in kleinen Größen mit geringem Totraumvolumen und niedrigem Widerstand. Man unterscheidet HME für beatmete Patienten (▶ Abb. 39.10) und HME für Patienten, die über eine Trachealkanüle spontan atmen. Alle HME-Filter sind Einwegprodukte und müssen regelmäßig gewechselt werden (Herstellerinformationen beachten), dies ist i. d. R. alle 24 Stunden erforderlich und bei Verschmutzung mit Sekret sofort. ▶ Vorteile. Passive Atemgasbefeuchter sind sehr viel preiswerter als aktive Systeme zur Atemgasbefeuchtung und bei ihrer Anwendung kann es nicht versehentlich zu einer Überhitzung der Atemgase kommen.

Aktive Atemgasklimatisierung Bei künstlich beatmeten Kindern wird durch Geräte, die in das Beatmungsschlauchsystem eingebaut werden, die Einatmungsluft angefeuchtet und erwärmt. Bei Kindern sollten ausschließlich Systeme mit beheizten Schläuchen verwendet werden, um der Bildung von Kondenswasser im Schlauchsystem vorzubeugen. Das Gerät sollte die Atemgastemperatur patientennah messen und über eine Alarmfunktion verfügen, falls die eingestellte Atemgastemperatur über- oder unterschritten wird oder die Befeuchtungskammer nicht mehr ausreichend mit Aqua dest. befüllt ist. Die Einstellung des Gerätes erfolgt entsprechend der Bedienungsanleitung und den klinischen Erfordernissen. Beim Einsatz eines Gerätes zur aktiven Atemgasklimatisierung muss die Einstellung von Temperatur und Feuchte regelmäßig kontrolliert und dokumentiert werden. Angestrebt werden bei invasiver Beatmung eine Temperatur von 37 °C und eine relative Feuchtigkeit von 100 % (Humberg 2017).

H ●

Ein aktiver Atemgasbefeuchter muss unterhalb des Niveaus des Patienten angebracht sein, damit Kondenswasser aus dem Inspirationsschlauch nicht in den Tubus hineinlaufen kann, sondern in den Befeuchter zurückläuft. Wenn im Schlauchsystem eine Wasserfalle verwendet wird, muss sich diese an der tiefsten Stelle des Systems befinden. Kondenswasser muss aus dem Schlauchsystem entfernt werden nach Händedesinfektion und Anlegen von Einmalhandschuhen (Humberg 2017).

Das Beatmungsschlauchsystem muss aus hygienischen Gründen regelmäßig gewechselt werden. Dies geschieht entsprechend der Empfehlung des Robert KochInstituts (RKI) i. d. R. alle 7 Tage. Entweder werden Einwegschlauchsysteme eingesetzt oder die Schlauchsysteme werden entsprechend den Herstellerangaben und den klinikinternen Richtlinien hygienisch aufbereitet. Für die Heimbeatmung ist es oft einfacher, Einwegsysteme einzusetzen, anstatt die Wiederaufbereitung von Mehrwegschlauchsystemen zu organisieren.

39.3.7 Unterstützung bei der Extubation Definition

L ●

Unter Extubation versteht man die Entfernung des Endotrachealtubus.

Das Kind muss zunächst von der künstlichen Beatmung entwöhnt werden, indem die maschinelle Unterstützung Schritt für Schritt reduziert wird, und zwar in dem Tempo, in dem die Eigenatmung des Kindes zunimmt. Damit eine Extubation erfolgreich ist, müssen einige Voraussetzungen erfüllt sein: ● ausreichende Spontanatmung des Kindes, stabile und freie Atemwege ● normale Körpertemperatur ● intakte Schutzreflexe ● Wachheit des Kindes

Material Alle Materialien zur erneuten Intubation müssen griffbereit liegen. Ein funktionstüchtiges Absauggerät mit Absaugkatheter in unterschiedlichen Größen, ein Beatmungsbeutel mit passender Maske und Sauerstoffanschluss, abschwellende Nasentropfen nach ärztlicher Anordnung,

eine Sauerstoffbrille in der korrekten Größe, ggf. eine Spritze zum Entblocken des Cuffs sind vorhanden. Bei Frühgeborenen wird nach ärztlicher Anordnung häufig ein atemstimulierendes Medikament vor der Extubation oral verabreicht.

Vorbereitung Eine geplante Extubation sollte tagsüber stattfinden, wenn genügend Personal (Ärzte und Pflegefachkräfte) zur Stelle ist. Möglicherweise kann mit den Eltern abgesprochen werden, dass ein Elternteil in den ersten Stunden danach beim Kind bleibt, um emotionale Unterstützung anzubieten. Vier Stunden vor der Extubation erhält das Kind zum Schutz vor Aspiration keine Nahrung oder Flüssigkeit über die Magensonde mehr, die Infusionsmenge wird entsprechend erhöht.

Durchführung Das Kind wird altersentsprechend informiert, was als Nächstes mit ihm geschehen wird, ebenso die Eltern. Zur Extubation wird es mit erhöhtem Oberkörper in Rückenlage positioniert. Ein evtl. noch vorhandener Rest Mageninhalt wird über die Magensonde aspiriert, das Kind wird endotracheal sowie in Mund und Nase abgesaugt. Die Beatmungsschläuche werden vom Tubus dekonnektiert, das Kind wird mit dem Beatmungsbeutel beatmet. Die Fixierung des Tubus wird vorsichtig gelöst. Falls der Tubus einen Cuff hat, wird nun der Cuff restlos entblockt. Größere, verständige Kinder werden aufgefordert, tief einzuatmen, damit sich die Stimmbänder öffnen und der Tubus ohne Reibung herausgezogen werden kann. Der Tubus wird während der Inspiration des Kindes zügig zurückgezogen. Das Nasenloch, in dem der Tubus lag, wird abgesaugt, um Schleim zu entfernen, danach werden bei entsprechender ärztlicher Anordnung abschwellende Nasentropfen in jedes Nasenloch gegeben. Bei Bedarf erhält das Kind eine Sauerstoffbrille oder Nasensonde bzw. eine Sauerstoffgabe über den Inkubator. Manchmal wird auch direkt auf eine Form der nicht invasiven Beatmung gewechselt, z. B. nasaler CPAP beim Frühgeborenen. Nun sollte das Kind möglichst bequem und atemerleichternd positioniert werden, dies kann beim Frühoder Neugeborenen die Bauchlage sein.

39

Beobachtung In der ersten Zeit nach der Extubation sollte das Kind nicht allein gelassen werden. Es muss auf Zeichen einer beginnenden Ateminsuffizienz genau beobachtet werden. Bei Stridor oder Obstruktion wird

5

Pflege kritisch kranker Kinder vom Arzt evtl. eine Inhalation mit entsprechenden Medikamenten verordnet. Eine auffallende Schläfrigkeit kann auf einen CO2-Anstieg infolge ungenügender Atmung hinweisen. Es ist günstig, die Eltern einzubeziehen, wenn das Kind noch unruhig und ängstlich ist. Anfangs sollte das Kind möglichst wenig sprechen, um die Stimmbänder zu schonen. Je nach Zustand des Kindes wird etwa eine halbe Stunde nach der Extubation eine Blutgasanalyse durchgeführt. Zirka 4 Stunden nach der Extubation kann bei ausreichender Atmung die Infusion reduziert und wieder mit der enteralen Ernährung begonnen werden. Die Physiotherapie sollte die Pflegefachkräfte bei der Durchführung von atemtherapeutischen Maßnahmen unterstützen, die langfristig den Erfolg der Extubation sichern sollen.

Eltern

a ●

Wenn möglich werden die Eltern des Kindes bei der Durchführung atemtherapeutischer Maßnahmen einbezogen.

39.3.8 Nicht invasive Beatmung

39

Definition

● L

Die nicht invasive Beatmung (NIV) ist eine Beatmungstherapie über eine dicht sitzende Maske ohne Schaffung eines künstlichen Atemweges wie bei der Intubation. Die nicht invasive Beatmung und die invasive Beatmung sind 2 Therapiemöglichkeiten, die sich gegenseitig ergänzen. Bei Früh- und Neugeborenen ist die nicht invasive Beatmung über nasalen CPAP eine sehr häufig angewandte Beatmungsform.

▶ Vorteile. Die Vorteile der nicht invasiven Beatmung sind: ● Das Schluckvermögen bleibt erhalten, Mikroaspirationen werden vermieden. ● Der physiologische Hustenstoß bleibt erhalten. ● Die Keimbesiedlung der unteren Atemwege entlang des Tubus oder der Trachealkanüle entfällt, es treten weniger nosokomiale Pneumonien auf.

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Abb. 39.11 Nasen-Konfektionsmaske. Nasenmaske zur nicht invasiven Beatmung. (Abb. aus: Grolle B. Nasenmasken. In: Humberg A, Herting E, Göpel W et al., Hrsg. Beatmung von Kindern, Neugeborenen und Frühgeborenen. 1. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2016)

▶ Indikationen. Die Indikationen zur nicht invasiven Beatmung sind: ● Vermeidung der Intubation bei respiratorischer Insuffizienz ● optimale Beatmungstherapie unter Erhaltung der Spontanatmung ● Entwöhnung von der maschinellen Beatmung (Weaning) ● Erfordernis der Langzeitbeatmung ● Behandlung von Schlafapnoen oder anderen Apnoe-Syndromen Die NIV kann mit unterschiedlichen Masken durchgeführt werden, die je nach Indikation, Gesichtsform und Akzeptanz des Kindes ausgewählt werden. ▶ Nasenmaske. Nasenmasken sind i. d. R. klein und leicht und haben nur ein geringes Totraumvolumen. Das Kind kann mit der Maske sprechen, trinken und essen, sein Gesichtsfeld wird nicht sehr eingeschränkt, allerdings gibt es stets ein Leck beim Öffnen des Mundes, dies ist häufig im Schlaf problematisch. Nasenmasken gibt es mit oder ohne Gelkissen und mit unterschiedlichen Haltebändern (▶ Abb. 39.11). ▶ Mund-Nasen-Maske. Die Mund-Nasen-Maske ist größer und schwerer und hat ein größeres Totraumvolumen als die Nasenmaske (▶ Abb. 39.12). Sie kommt nur zum Einsatz, wenn aufgrund eines großen Lecks über den Mund die Anwendung einer Nasenmaske nicht möglich ist. ▶ Nachteile. Bei der Durchführung der NIV gibt es 2 große Problembereiche: zum einen die Akzeptanz durch das Kind, zum anderen Probleme mit den Masken (Leckage, Druckstellen v. a. am Nasenrücken, Minimierung des Totraums).

Abb. 39.12 Mund-Nasen-Konfektionsmaske. (Abb. aus: Grolle B. Nasenmasken. In: Humberg A, Herting E, Göpel W et al., Hrsg. Beatmung von Kindern, Neugeborenen und Frühgeborenen. 1. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2016)

Merke

H ●

Für langzeitbeatmete Kinder, z. B. mit Heimbeatmung, besteht die Möglichkeit, individuell angepasste Masken zu verwenden. Diese müssen jedoch aufgrund des Wachstums des Kindes und z. T. auch beim Fortschreiten der Grunderkrankung regelmäßig neu angepasst werden (etwa alle 6 – 12 Monate).

Für die NIV können spezielle Beatmungsgeräte verwendet werden oder konventionelle Beatmungsgeräte, wenn sie über eine entsprechende Software verfügen.

Merke

H ●

Ganz wesentlich für das Gelingen der NIV ist zu Beginn der Beatmung die individuelle Abstimmung aller Beatmungsparameter durch den Arzt auf die Spontanatmung des Kindes.

▶ Beobachtung. Um die Effektivität der NIV zu beurteilen, werden folgende Parameter beobachtet: ● ruhigere Atmung, weniger Erschöpfung des Kindes ● adäquate Sauerstoffsättigung nach ärztlicher Anordnung (Überwachung mittels Pulsoxymeter) ● Höhe der erforderlichen Sauerstoffzufuhr ● Blutgasanalyse Zu Beginn der Behandlung wird zunächst eine Stabilisation angestrebt, nach etwa 2–3 Stunden sollte in der Blutgasanalyse jedoch auch eine Besserung erkennbar sein.

39.3 Spezielle Intensivpflegemaßnahmen ▶ Abbruch der NIV. Bei folgenden Problemen sollte die NIV abgebrochen und eine Intubation und invasive Beatmung erwogen werden: ● fortbestehende Sauerstoffsättigung < 85 % (Hypoxie) bei einer Sauerstoffzufuhr von 50 % ● steigender Kohlendioxidgehalt im Blut (Hyperkapnie) ● Kreislaufinstabilität ● fortschreitende Bewusstseinstrübung, die oft als Folge eines steigenden Kohlendioxidgehalts im Blut entsteht ▶ Rehabilitation. In der häuslichen Intensivpflege kann die NIV auch bei heimbeatmeten Kindern eingesetzt werden, allerdings eher bei Kindern, deren Beatmungsdauer pro Tag unter 12 – 14 Stunden liegt. Besonders geeignet ist die NIV bei Kindern mit stabilem oder nur langsam fortschreitendem Krankheitsverlauf, wie bei neuromuskulären Erkrankungen.

39.3.9 Tracheostomapflege und Trachealkanülenwechsel Definition

L ●

Unter einer Tracheotomie versteht man die operative Eröffnung der Trachea (Luftröhrenschnitt), unter Tracheostomie oder Tracheostoma die dadurch entstandene Öffnung. Durch die direkte Verbindung von der Trachea nach außen kann eine Trachealkanüle eingeführt werden, über die das Kind spontan atmen oder künstlich beatmet werden kann.

▶ Arten von Trachealkanülen. Eine Trachealkanüle ist ein im Mittelteil annähernd rechtwinklig gebogenes Stück Kunststoff oder Metall (Silber) mit seitlichen Schlitzen zur Fixierung. Silberkanülen (▶ Abb. 39.13a) sind einerseits wiederverwendbar, sehr dünnwandig und provozieren kaum die Bildung von Granulationsgewebe, andererseits sind sie sehr starr und haben keinen Cuff, daher werden sie nur bei spontan atmenden Patienten eingesetzt. Silberkanülen bestehen aus einer Außen- und einer Innenkanüle, Letztere wird auch als „Seele“ bezeichnet. Kunststoffkanülen (▶ Abb. 39.13b) sind Einwegprodukte zur Anwendung beim beatmeten Patienten, die entweder aus einer Kanüle bestehen oder aus einer Außen- und Innenkanüle. Sie besitzen am äußeren Ende einen Normkonnektor, an den entweder ein Handbeatmungsbeutel oder ein Beatmungsschlauchsystem angeschlossen werden kann. Trachealkanülen gibt es ebenso wie Endotrachealtuben in

Abb. 39.13 Trachealkanülen. a Kunststoffkanüle mit Beatmungsadapter, (Foto: K. Oborny, Thieme) b Silberkanüle (Außen- und Innenkanüle). (Foto: T. Stephan, Thieme)

verschiedenen Größen (ab 2,5 mm Innendurchmesser) und mit oder ohne Cuff. Außerdem gibt es Phonationskanülen (Sprechkanülen), die entweder beim spontan atmenden Kind oder auch beim beatmeten Kind das Sprechen ermöglichen. ▶ Indikationen. Die Indikationen für eine Trachealkanüle sind: ● angeborene Fehlbildungen, wie beidseitige Choanalatresie ● subglottische Stenose ● Tracheomalazie ● Stimmbandparese ● Langzeitbeatmung über Monate bis Jahre ▶ Vorteile. Die Vorteile von Trachealkanülen sind: ● Verminderung des Totraums durch kürzeren Weg für das Atemgas ● größerer Komfort für das Kind, da Mund und Nase frei sind ● Sprechen ist möglich bei Verwendung einer Sprechkanüle ● Essen und Trinken sind möglich ● Beatmung wird erleichtert, da im Verhältnis zum Endotrachealtubus größere und kürzere Kanülen verwendet werden ● bei Dislokation ist es leichter möglich, eine Trachealkanüle neu zu legen, als einen Endotrachealtubus Ein Tracheostoma wird möglichst geplant im Operationssaal angelegt, in Ausnahmefällen auch direkt auf der Intensivstation. Die pflegerischen Aufgaben im Zusammenhang mit dem Tracheostoma umfassen: ● Absaugen bei Bedarf, um die Durchgängigkeit der Kanüle zu erhalten ● Cuffdruckkontrolle bei Kanülen mit Cuff ● Pflege der Haut um das Stoma bzw. nach Neuanlage des Tracheostomas Ermöglichung einer ungehinderten Heilung ● Wechsel der Trachealkanüle

Durchführung der Tracheostomapflege ▶ Vorbereitung. Zur Vorbereitung wird das Kind in verständlichen Worten über das geplante Vorgehen informiert und mit einer kleinen Schulterrolle so positioniert, dass der Hals gut zugänglich ist. ▶ Häufigkeit. Die Häufigkeit der Tracheostomapflege richtet sich nach dem Zustand des Stomas, nach der Neuanlage des Stomas ist sie häufiger erforderlich als bei einem bereits längere Zeit gut verheilten Stoma. Sie sollte mindestens 1-mal pro Tag durchgeführt werden, bei Verschmutzung oder Durchfeuchtung der Trachealkompresse oder des Fixierungsbandes öfter.

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▶ Material. Benötigt werden Händedesinfektionsmittel, unsterile und sterile Handschuhe, sterile Kompressen oder sterile Watteträger, sterile Schlitzkompressen oder geschlitzte Wundauflagen (z. B. Metalline), Hautdesinfektionsmittel (z. B. Octenisept), neues gepolstertes Fixierungsband für die Trachealkanüle. ▶ Vorgehen. Nach Händedesinfektion und Anziehen der unsterilen Handschuhe wird von der ersten Pflegefachkraft das Fixierungsband gelöst und die gebrauchte Schlitzkompresse gemeinsam mit den unsterilen Handschuhen verworfen. Die zweite Pflegefachkraft fixiert die Trachealkanüle und hält ggf. den Kopf des Kindes. Nach Inspektion des Tracheostomas auf Rötung, Krusten, Sekret, Schwellung oder Druckstellen und unangenehmen Geruch reinigt die erste Pflegefachkraft das Tracheostoma mit sterilen Handschuhen und sterilen Kompressen oder sterilen Watteträgern von innen nach außen. Ein verheiltes, reizloses Tracheostoma kann mit NaCl 0,9 % gereinigt werden; ist das Tracheostoma noch nicht verheilt oder infektiös, wird ein Hautdesinfektionsmittel, z. B. Octenisept, verwendet. Sehr praktisch ist die Verwendung von speziellen Stoma-Reinigungstüchern, z. B.

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Pflege kritisch kranker Kinder Stoma-Clean. Anschließend wird eine sterile Schlitzkompresse oder geschlitzte Wundauflage um die Trachealkanüle gelegt, sodass der Schlitz sich oberhalb der Kanüle befindet.

Praxistipp Pflege

Z ●

In eine sterile Kompresse sollte nicht mittels Schere ein Schlitz geschnitten werden, da die Schnittkante sich auflöst und kleine Fädchen am Tracheostoma reiben oder in die Wunde hineingelangen können.

39

Die Art der Auflage richtet sich nach dem Zustand des Stomas. Bei sehr starker Sekretabsonderung empfiehlt sich die Anwendung einer besonders saugfähigen, geschlitzten Wundauflage, z. B. aus Polyurethanschaum. Auch der Hals und die Halsfalten werden auf Rötungen, Druckstellen oder Abschürfungen inspiziert, bei Bedarf wird Wundschutzcreme dünn aufgetragen und eine dünne Mullkompresse aufgelegt, um die geschädigte Hautstelle gegenüber der Reibung durch das Fixierungsband abzupolstern. Nun wird ein Ende eines neuen Fixierungsbandes durch eine Öffnung der Kanülenplatte gefädelt, anschließend wird das Band um den Hals des Kindes geführt, sodass es glatt aufliegt und nicht verdreht ist. Das andere Ende des Fixierungsbandes wird durch die zweite Öffnung der Kanülenplatte gezogen und befestigt. Praktisch sind Klettverschlussbänder, die in verschiedenen Größen erhältlich und einfach auf die erforderliche Weite einstellbar sind. Wenn kleine Kinder den Klettverschluss selbst öffnen und die Gefahr besteht, dass die Trachealkanüle herausrutscht, muss evtl. ein Stoffband verwendet werden, das mittels Knoten fixiert wird und nur mit einer stumpfen Verbandschere durchgeschnitten werden kann. Das Fixierungsband sitzt genau richtig, wenn ein Finger der Pflegefachkraft zwischen das Band und den Hals des Kindes passt. Da die Manipulation an der Trachealkanüle zu Hustenreiz führen kann, wird das Kind zum Abschluss stets für seine Mitarbeit gelobt. Ist der Sitz der Kanüle und des Bandes überprüft und korrekt, kann die zweite Pflegefachkraft das Kind loslassen und bequem positionieren.

a ●

Eltern

Bei der Anleitung der Eltern empfiehlt es sich, diese zunächst einmal bei der Tracheostomapflege zusehen zu lassen. Dann kann nach Erläuterung der zu beachtenden Schritte ein Elternteil zunächst die Rolle der zweiten Pflegefachkraft und im weiteren Verlauf die eigentliche Durchführung der Tracheostomapflege übernehmen. Wichtig ist der Hinweis für die Eltern, dass die Pflegemaßnahmen in der Klinik unter sterilen Bedingungen durchgeführt werden, zu Hause ist i. d. R. eine gründliche Händedesinfektion vor der Maßnahme ausreichend, z. B. auch bei der Tracheostomapflege, sobald das Stoma verheilt ist.

Durchführung des Trachealkanülenwechsels Ein Wechsel der Trachealkanüle ist aus hygienischen Gründen und aufgrund begrenzter Haltbarkeit des Materials in regelmäßigem Abstand erforderlich. Hierbei müssen die Herstellerangaben berücksichtigt werden. Am Bett sollte stets das gesamte erforderliche Material für einen Trachealkanülenwechsel bereitliegen, falls dieser aufgrund Fehllage, Herausrutschen, Materialdefekt oder Kanülenobstruktion

notfallmäßig erforderlich wird. Der erste Wechsel nach operativer Anlage eines Tracheostomas wird vom Arzt durchgeführt. Gelingt dies problemlos, erfolgen die weiteren Wechsel i. d. R. durch das Pflegepersonal. Sobald das Tracheastoma gut verheilt ist, können die Eltern angeleitet werden, damit sie diese Aufgabe zu Hause auch durchführen können. Normalerweise wird ein Trachealkanülenwechsel geplant und in möglichst großem Zeitabstand zu einer Mahlzeit durchgeführt, damit es nicht zu Erbrechen und Aspiration kommt. Der Trachealkanülenwechsel wird von 2 Personen durchgeführt, damit er möglichst rasch, schonend und sicher für das Kind erfolgt. Ein Arzt sollte in der Nähe sein, falls Schwierigkeiten auftreten. ▶ Material. Benötigt werden Trachealspreizer oder Nasenspekulum, Cuffdruckmesser, Spritze zum Entblocken und Blocken des Cuffs, Trachealkanüle mit Halteband in der passenden Größe sowie in der nächstkleineren Größe, Gleitgel, evtl. eine Einführhilfe (Obturator), die oft bereits im Set beigefügt ist (▶ Abb. 39.14). Bei der neuen Trachealkanüle wird die Dichtigkeit des Cuffballons überprüft, und wenn es sich um eine längenverstellbare Kanüle handelt, wird die Kanüle auf die erforderliche Länge eingestellt, d. h. die Distanz vom Ende der Kanüle bis zur Halteplatte individuell für das Kind eingestellt. Auf

Spritze

Stethoskop

Einführhilfe Schlitzkompresse

Spekulum

Trachealkanüle

Gleitmittel Cuffmesser Halteband

Abb. 39.14 Material zum Wechseln einer Trachealkanüle. (Abb. nach: Lauber A, Schmalstieg P, Hrsg. verstehen und pflegen Band 3. Thieme; 2018)

768

39.3 Spezielle Intensivpflegemaßnahmen die Spitze der Kanüle wird etwas Gleitgel aufgebracht. ▶ Durchführung. Das Kind wird altersentsprechend über die geplante Maßnahme informiert und mit einer kleinen Nackenrolle auf dem Rücken positioniert, sodass der Kopf leicht zurückfällt und die Trachealkanüle gut zugänglich ist. Bei Bedarf wird endotracheal abgesaugt. Eine Pflegefachkraft hält den Kopf des Kindes und die liegende Trachealkanüle. Eine weitere Pflegefachkraft entblockt bei Bedarf den Cuff, löst die Fixierung der alten Trachealkanüle und richtet unter sterilen Bedingungen die neue Trachealkanüle. Nun zieht die erste Pflegefachkraft die alte Kanüle in einem leichten Bogen, der Krümmung der Kanüle entsprechend vorsichtig heraus. Die zweite Pflegefachkraft führt die neue Kanüle in das Tracheostoma ein, mit einer ruhigen, kontrollierten Bewegung, die ebenfalls der Krümmung der Kanüle entspricht. Wenn die Kanüle einen Cuff hat, wird dieser nun geblockt, das Kind wird wieder an das Beatmungsgerät angeschlossen, die Kanüle fixiert und eine neue Trachealkompresse angebracht.

Merke

H ●

Möglicherweise muss das Kind beim Herausziehen oder Einführen der Kanüle husten oder würgen; daher sollte es wissen, wann die Maßnahme beendet ist.

Nach Auskultation der Lunge auf seitengleiche Belüftung wird das Kind bequem positioniert. Eine Cuffdruckkontrolle erfolgt. Das gebrauchte Material wird entsorgt, eine Einwegkanüle kann weggeworfen werden, eine wiederverwendbare Kanüle (z. B. aus Silber) wird entsprechend den Herstellerangaben gereinigt. Der Trachealkanülenwechsel wird in der Patientenakte dokumentiert.

Probleme beim Trachealkanülenwechsel Manchmal fällt das Einführen der Kanüle leichter, wenn die Pflegefachkraft die Kanüle quer zum Tracheostoma ansetzt und sie dann mit einer 90°-Drehung in das Stoma einführt. Wenn das Tracheostoma nach Herausziehen der alten Kanüle in sich zusammenfällt, sodass die Öffnung verschlossen ist, kann man versuchen, das Tracheostoma wieder zu öffnen, indem man mit den Fingern die Haut leicht von der Öffnung wegzieht. Bei manchen Kindern ändert sich die Größe der Öffnung mit der Atmung des Kindes. Die Pflegefachkraft sollte versuchen, die Kanüle in dem Moment einzuführen, in dem sich das Tracheostoma am weitesten öffnet. Mithilfe eines Trachealspreizers oder eines Nasenspeku-

lums kann das Tracheostoma erweitert werden, sodass die neue Kanüle eingeführt werden kann. Ein durch die Kanüle geschobener Absaugkatheter, der mit der Spitze zuerst in das Tracheostoma eingeführt wird, kann als Führungsschiene benutzt werden. Bei manchen Trachealkanülen ist eine Einführhilfe bereits im Set beigefügt.

Praxistipp Pflege

Z ●

Scheitert das Einführen der Trachealkanüle erneut, muss sofort ein Arzt herbeigerufen werden. In der Zwischenzeit wird das Tracheostoma mit einer Kompresse abgedichtet und das beatmungspflichtige Kind mittels Maske und Beatmungsbeutel beatmet.

Rehabilitation: Sprechen mit Trachealkanüle Das Sprechen sowie Lautäußerungen mit einer Trachealkanüle mittels der Luft, die in der Exspiration zumindest teilweise durch den Kehlkopf strömt, ist möglich bei der Anwendung von: ● Kanülen, die etwas kleiner sind als der Durchmesser der Trachea, sodass Luft neben der Kanüle vorbeigelangen kann; auch mit der kleineren Kanüle muss eine ausreichende Beatmung oder Spontanatmung gesichert sein. ● Kanülen mit Fensterung/Siebung; ihre Anwendung ist bei Kindern jedoch häufig problematisch, da Granulationsgewebe in die Fensterung einwachsen kann und bei Kleinkindern oft die Fensterungen an der Innenwand der Trachea anliegen und keine Luft durchlassen. ● Kanülen mit Fensterung, die durch Anwendung einer Innenkanüle verschlossen werden können; diese sind für Säuglinge und Kleinkinder jedoch meist zu dick in ihrer Wandstärke. ● Sprechventile für beatmete Kinder, die bei entblocktem Cuff auf den Normkonnektor der Trachealkanüle aufgesetzt werden; bei der Einatmung öffnet sich das Ventil, bei der Ausatmung schließt es sich, sodass die Ausatemluft über den Kehlkopf ausströmt (z. B. Passy Muir, Shiley, Tracoe). ● Trachealkanülenverschluss oder Caps beim spontanatmenden Kind, die die Trachealkanüle verschließen. Jede dieser Möglichkeiten zur Stimmbildung bedeutet für das Kind eine veränderte Atemtechnik, da nun die Exspiration über die Stimmritze und dann die Nase oder den Mund erfolgt, was mehr Anstrengung erfordert als die Exspiration über die Trachealkanüle. Häufig empfinden die Kinder diese Anstrengung als unangenehm oder beängstigend. Daher dür-

fen stimmbildende Hilfsmittel anfangs nur für wenige Minuten eingesetzt werden. Das Kind sollte während dieser Zeit stets einen Erwachsenen bei sich haben, der auf Zeichen der Anstrengung bzw. Erschöpfung achtet (Atemfrequenz, Atemtiefe, Einsatz der Atemhilfsmuskulatur, Nasenflügeln) und bei Bedarf den Sprechversuch abbricht. Die Zeiten mit Stimmhilfsmittel sollten nur in kleinen Schritten verlängert werden, je nach Toleranz durch das Kind. Zur Unterstützung der Stimmbildung kann eine logopädische Behandlung erfolgen. Der Einsatz von Sprechventilen hat weitere Vorteile für das Kind: ● Physiologisches Schlucken wird wieder möglich. ● Schluckreflex wird getriggert, Speichel kann wieder geschluckt werden. ● Kehldeckel kann wieder geschlossen werden. ● Effektives Abhusten wird ermöglicht. ● Geruch und Geschmack werden stimuliert. Bedauerlicherweise gibt es Kinder, die aufgrund einer instabilen Beatmungssituation mit keinem der aufgeführten Hilfsmittel zurechtkommen und dauerhaft auf andere Kommunikationsmittel angewiesen bleiben, z. B. eine Sprechtafel (S. 231) oder ein technisches Hilfsmittel (assistive Technologie) wie z. B. eine „Kopfmaus“ zur Erfassung der Kopfbewegungen oder ein „Eyetracker“ zur Erfassung der Augenbewegungen in Kombination mit einem computerbasierten Sprachausgabegerät wie z. B. einem „Talker-Sprachcomputer“ (Bejan u. Lindwedel-Reime 2016).

39

39.3.10 Häusliche Kinderintensivpflege Wird ein Kind mit Heimbeatmung entlassen, ist zu Hause oft eine ambulante Intensivpflege erforderlich. Sowohl Eltern als auch Pflegefachkräfte erleben die ständige Präsenz in einer Familie rund um die Uhr als eine Situation mit besonderen Herausforderungen und Belastungen (Martin-Borrink 2016). Technologieabhängige Kinder und Jugendliche, die zu Hause leben können, profitieren meist sehr von einer 1:1-Versorgung im Elternhaus. Damit die komplexen Herausforderungen der ambulanten Kinderintensivpflege gut bewältigt werden können, braucht es ● ein gut geplantes Überleitungsmanagement der Kinderintensivstation, ● eine adäquate Vorbereitung des Pflegepersonals in Aus- und Weiterbildung, ● ausreichend qualifiziertes Pflegepersonal in der häuslichen Kinderintensivpflege sowie ● Flexibilität der Krankenkassen, wenn Familien die bewilligten Pflegestunden individuell in Anspruch nehmen möchten (Falkson u. Roling 2016).

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Teil IV Mitwirken bei der Diagnostik und Therapie

IV

40 Situation von Kindern im Rahmen pflegerischer, diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen

773

41 Blutentnahmen, Punktionen, Biopsien

778

42 Injektionen

800

43 Infusion und Transfusion

810

44 Perioperative Pflege

830

45 Wundmanagement

840

46 Funktionsdiagnostik

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47 Notfallsituationen

860

40.1 Angst vor Interventionen

40 Situation von Kindern im Rahmen pflegerischer, diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen Diana Nowak Pflegerische, diagnostische und therapeutische Maßnahmen (z. B. Verbandwechsel, Injektion) sind oft mit Angst oder Schmerzen verbunden. Selbst Erwachsene können bereits bei dem Gedanken an einen Eingriff, z. B. beim Betreten einer Zahnarztpraxis und bei der damit verbundenen Geruchs- und Geräuschwahrnehmung, Angst empfinden. Kinder, die aufgrund des Entwicklungsstandes die Notwendigkeit eines Eingriffs nicht verstehen, sind ihrer Gefühlswelt noch stärker ausgesetzt. Das folgende Fallbeispiel soll eine negative Erfahrung für ein Kind während einer therapeutischen Maßnahme aufzeigen.

Fallbeispiel Tanja hat Angst

● I

Die 6-jährige Tanja wird seit 2 Tagen aufgrund einer Pneumonie in einer Kinderklinik stationär therapiert. Sie war schon mehrfach wegen ihrer Neurodermitis in ärztlicher Behandlung. Ihr geht es mittlerweile schon besser und sie hat wieder etwas Appetit. Sie sitzt am Tisch und frühstückt, als die Pflegefachkraft Corinna das Zimmer betritt, um die Infusionsflasche mit Infusionsleitung zu wechseln. Tanja erstarrt, als sie Corinna erblickt, und spricht mit weinerlicher Stimme: „Ich mag keine Infusion mehr haben, die tut so weh.“ Corinna antwortet: „Lass mich mal deine Hand ansehen, das kann doch gar nicht sein, es ist alles in Ordnung. Wenn du lieb bist, tut das auch gar nicht weh, dann kannst du weiteressen.“ Tanja schlägt Corinnas Hand weg und wiederholt mehrfach: „Nein, ich will das nicht. Das tut weh.“ Corinna ignoriert dies und bittet die anwesende Pflegeschülerin, den Arm des Kindes festzuhalten. Dann wechselt sie unter Protest des Kindes die Infusionsleitung. Anschließend verlässt sie das Zimmer mit den Worten: „Siehst du, das ist doch gar nicht so schlimm.“ Die Pflegeschülerin versucht die weinende Tanja zu trösten.

Lernaufgabe

M ●

Überlegen Sie: 1. Inwiefern erlebte Tanja eine negative Erfahrung mit der therapeutischen Maßnahme? 2. Wie hätte die Situation für das Kind positiver gestaltet werden können? 3. Wie wird Tanja möglicherweise auf die nächsten Infusionen reagieren? 4. Welche weiterreichenden Folgen können solche Erlebnisse mit sich bringen? 5. Welchen Einfluss könnte die Pflegeschülerin in der Situation nehmen?

40.1 Angst vor Interventionen Angst entsteht nicht nur aufgrund negativer Erfahrungen. Alles Unbekannte und Neue kann bei Kindern neben Neugierde auch Angst auslösen.

40.1.1 Ursachen Angst entsteht durch: ● fehlende bzw. ungenaue Informationen ● mangelndes Vertrauen und Zuwendung ● Unsicherheit bzw. Hilflosigkeit ● bereits gemachte (negative) Erfahrungen ● Entwicklung von unangenehmen Vorstellungen ● Schuldgefühle (der Eingriff kann als Strafe für vermeintliches Fehlverhalten empfunden werden) ● Kontrollverlust („Andere tun etwas mit mir und ich bin ihnen ausgeliefert!“)

40.1.2 Symptome Angst zeigt sich in Abwehr- und Vermeidungsreaktionen, wie Schreien, Schlagen, Verstecken, Ablenken, Schweigen, Weinen und Abwenden. Die physiologische Erregung zeigt sich z. B. als Tachykardie, Schwitzen, Blutdruckanstieg, Blässe oder rote Flecken auf der Haut. Der Körper befindet sich in einem „Alarmzustand“, d. h., er bereitet sich durch vegetative Veränderungen auf eine mögliche Abwehr oder Flucht vor.

Praxistipp Pflege

Z ●

Durch gezielte Vorbereitung des Kindes vor Interventionen soll der Entwicklung von Angst vorgebeugt, Kooperation erreicht und ängstliches Verhalten abgebaut werden. Lassen Sie es zu, dass ein Kind seine Angst äußern darf. Nehmen Sie seine Gefühlsäußerung ernst.

40.1.3 Maßnahmen gegen die Angst Eine unbekannte, mit Fantasievorstellungen behaftete Situation kann bedrohlicher empfunden werden als eine angstauslösende Situation, die bekannt ist, verstanden und erwartet wird. Vorbereitende Maßnahmen helfen, Stress zu reduzieren. Bei lange im Voraus geplanten pflegerischen Maßnahmen, Eingriffen und Untersuchungen kann durch stressreduzierende Maßnahmen, z. B. die Einübung von Entspannungstechniken, besonders älteren Kindern geholfen werden. In vielen deutschen Städten gibt es für Kinder Angebote, in sog. „Teddykliniken“ „kranke“ Stofftiere untersuchen und behandeln zu lassen (▶ Abb. 40.1). Ziel ist die spielerische Vorbereitung auf Arztbesuche und Krankenhausaufenthalte, indem Ängste abgebaut werden. In der täglichen Routine wird oft versucht, einem Kind durch Zureden seine Angst zu nehmen: „es ist nicht so schlimm“, „sei tapfer“, „du schaffst das schon“, „andere Kinder haben das auch schon erlebt“. Dies ist meist keine Hilfe, da negative Vorerfahrungen und Vorstellungen mehr belasten können, als ein kurzes, gut gemeintes Wort helfen kann. Es ist hilfreich, die Kinder ernst zu nehmen und ihnen offen zu sagen, dass es verständlich ist, dass sie Angst haben und diese auch haben dürfen. Ruhiges, einfühlsames Zuhören und Ermutigen können dem Kind helfen, die Selbstachtung zu bewahren und sich nicht durch Überredung und Überrumpelung unverstanden und minderwertig zu fühlen.

40

3

Situation von Kindern

Abb. 40.1 Teddyklinik. Kindgerechte Vorbereitung auf diagnostische und therapeutische Maßnahmen am Beispiel eines Kuscheltieres. a Medizinische Geräte zur Untersuchung des Kuscheltieres. (Abb. von: Teddyklinik Mainz; Foto: Sarah Liebezeit) b Röntgenbilder vom Kuscheltier. (Abb. von: Teddyklinik Mainz; Foto: Alexandra Walter)

Merke

H ●

Ängste des Kindes dürfen nicht in der täglichen Routine und Hektik untergehen!

40.2 Pflegerische Aufgaben Es gibt einige Aspekte, die im Rahmen von pflegerischen, diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen berücksichtigt werden sollten und im Folgenden beschrieben werden.

40.2.1 Information

40

774

Durch die Information über anstehende Pflegemaßnahmen, Untersuchungen oder den nun folgenden Eingriff gibt die Pflegefachkraft dem Kind und seinen Eltern die Möglichkeit, sich physisch und psychisch auf die Situation einzustellen und zu verstehen, was und warum etwas geschieht. Die Information sollte entsprechend dem Entwicklungsstand und der Persönlichkeit des Kindes erfolgen, s. Kap. Wachstum und Entwicklung (S. 148). Evtl. sollte die Information bei kleineren Kindern spielerisch durch Zeigen von Bildern oder mithilfe von Puppen unterstützt werden (▶ Abb. 40.2). Hierfür sollte jedoch nicht die Lieblingspuppe des Kindes genommen werden. Bei sehr ängstlichen Kindern kann auch dies Abwehr auslösen. Bei der Erklärung sollte eine einfache, verständliche, kindgerechte und nicht bedrohliche Wortwahl getroffen werden. So kann die Röntgenuntersuchung mit den Worten: „Wir werden jetzt ein Foto von deinem Bein machen“ beschrieben werden, um dem Kind eine Vorstellung zu ermöglichen, die ihm bekannt ist.

Merke

Abb. 40.2 Angstreduktion. An der Puppe erprobt das Kind die Injektion, die ihm selber bevorsteht (Symbolbild). (Foto: P. Blåfield, Thieme)

H ●

Bekannte Begriffe und nicht bedrohliche Erklärungen wirken auf das Kind beruhigend und angstreduzierend ein.

In einer Körperzeichnung kann z. B. die Stelle markiert werden, an der ein geplanter Eingriff vorgenommen wird. Weiterhin sollte dem Kind und seinen Eltern die Gelegenheit für Rückfragen gegeben werden. Oft ist es auch hilfreich, wenn unbekannte Personen vorgestellt und unbekannte Räume gezeigt werden, bevor der Eingriff stattfindet. Spezielle Schutzkleidung, wie Schutzkittel oder Mundschutz, werden dem Kind ebenfalls erklärt. Die Pflegefachkraft sollte darauf achten, dass besonders ängstliche Kinder nicht durch zu lange Zeiträume zwischen Information und tatsächlichem „Eingriff“ verunsichert werden. In der Wartezeit kann die Ablenkung durch Beschäftigungsangebote kurzfristig Angst mildernd sein.

Eltern

a ●

Die Eltern kennen ihr Kind am besten und wissen oft schon im Voraus, wie es reagieren wird und was zu tun ist, um ihm die Angst zu nehmen. So können die Eltern auch Teile der Vorbereitung des Kindes übernehmen, indem sie ihm die Situation in seiner „Sprache“ erklären. Dies ist jedoch vorher mit den Eltern zu besprechen, damit sie nicht überfordert werden. Die Anwesenheit der Eltern während des Eingriffs ist sicher von vielen Kindern erwünscht (▶ Abb. 40.3). Welche Rolle die Eltern bei der Untersuchung bzw. dem „Eingriff“ einnehmen, ist vorher zu klären. So können sie z. B. das Kind trösten, Mut zusprechen oder die Hand halten. Die Eltern können durch ihr eigenes ruhiges und kooperatives Verhalten dem Kind Sicherheit und Vertrauen geben.

Abb. 40.3 Anwesenheit der Eltern. Viele Kinder wünschen sich, dass ihnen bei schmerzhaften Eingriffen ein Elternteil beisteht (Symbolbild). (Foto: P. Blåfield, Thieme)

40.2.2 Kommunikation ▶ Ehrlichkeit. Ein Kind sollte nicht angelogen werden! Was gesagt und anschließend getan wird, muss übereinstimmen. Die Pflegefachkraft sollte z. B. vermeiden zu sagen, „das tut überhaupt nicht weh“, wenn sie weiß, dass es wehtut. ▶ Respekt. Das Respektieren eines anderen Menschen ist in den Situationen, in denen er nur bedingt oder nicht selbstbestimmt handeln und sich äußern kann, z. B. bei Untersuchungen und Eingriffen, besonders wichtig. Ein Mensch sollte nicht abwertend behandelt werden! Dazu zählt auch, dass man einem Kind zuhört, es ausreden lässt, sich ihm persönlich zuwendet und z. B. nicht über den vergangenen Theaterbesuch mit einer Kollegin spricht, während man bei ihm Blut abnimmt. Kinder können ab einem bestimmten Alter für sich selbst sprechen, daher können sie auch gefragt werden, wie sie sich fühlen. Wichtig ist die Aufnahme von Blickkontakt während des Gesprächs. Je nach Alter können Kinder auch in den Ablauf von pflegerischen Maßnahmen, wie dem Zeitpunkt des Verbandwechsels, oder zur aktiven Mithilfe, wie dem Ablösen des Pflasters, einbezogen werden.

Situation von Kindern

Abb. 40.1 Teddyklinik. Kindgerechte Vorbereitung auf diagnostische und therapeutische Maßnahmen am Beispiel eines Kuscheltieres. a Medizinische Geräte zur Untersuchung des Kuscheltieres. (Abb. von: Teddyklinik Mainz; Foto: Sarah Liebezeit) b Röntgenbilder vom Kuscheltier. (Abb. von: Teddyklinik Mainz; Foto: Alexandra Walter)

Merke

H ●

Ängste des Kindes dürfen nicht in der täglichen Routine und Hektik untergehen!

40.2 Pflegerische Aufgaben Es gibt einige Aspekte, die im Rahmen von pflegerischen, diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen berücksichtigt werden sollten und im Folgenden beschrieben werden.

40.2.1 Information

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Durch die Information über anstehende Pflegemaßnahmen, Untersuchungen oder den nun folgenden Eingriff gibt die Pflegefachkraft dem Kind und seinen Eltern die Möglichkeit, sich physisch und psychisch auf die Situation einzustellen und zu verstehen, was und warum etwas geschieht. Die Information sollte entsprechend dem Entwicklungsstand und der Persönlichkeit des Kindes erfolgen, s. Kap. Wachstum und Entwicklung (S. 148). Evtl. sollte die Information bei kleineren Kindern spielerisch durch Zeigen von Bildern oder mithilfe von Puppen unterstützt werden (▶ Abb. 40.2). Hierfür sollte jedoch nicht die Lieblingspuppe des Kindes genommen werden. Bei sehr ängstlichen Kindern kann auch dies Abwehr auslösen. Bei der Erklärung sollte eine einfache, verständliche, kindgerechte und nicht bedrohliche Wortwahl getroffen werden. So kann die Röntgenuntersuchung mit den Worten: „Wir werden jetzt ein Foto von deinem Bein machen“ beschrieben werden, um dem Kind eine Vorstellung zu ermöglichen, die ihm bekannt ist.

Merke

Abb. 40.2 Angstreduktion. An der Puppe erprobt das Kind die Injektion, die ihm selber bevorsteht (Symbolbild). (Foto: P. Blåfield, Thieme)

H ●

Bekannte Begriffe und nicht bedrohliche Erklärungen wirken auf das Kind beruhigend und angstreduzierend ein.

In einer Körperzeichnung kann z. B. die Stelle markiert werden, an der ein geplanter Eingriff vorgenommen wird. Weiterhin sollte dem Kind und seinen Eltern die Gelegenheit für Rückfragen gegeben werden. Oft ist es auch hilfreich, wenn unbekannte Personen vorgestellt und unbekannte Räume gezeigt werden, bevor der Eingriff stattfindet. Spezielle Schutzkleidung, wie Schutzkittel oder Mundschutz, werden dem Kind ebenfalls erklärt. Die Pflegefachkraft sollte darauf achten, dass besonders ängstliche Kinder nicht durch zu lange Zeiträume zwischen Information und tatsächlichem „Eingriff“ verunsichert werden. In der Wartezeit kann die Ablenkung durch Beschäftigungsangebote kurzfristig Angst mildernd sein.

Eltern

a ●

Die Eltern kennen ihr Kind am besten und wissen oft schon im Voraus, wie es reagieren wird und was zu tun ist, um ihm die Angst zu nehmen. So können die Eltern auch Teile der Vorbereitung des Kindes übernehmen, indem sie ihm die Situation in seiner „Sprache“ erklären. Dies ist jedoch vorher mit den Eltern zu besprechen, damit sie nicht überfordert werden. Die Anwesenheit der Eltern während des Eingriffs ist sicher von vielen Kindern erwünscht (▶ Abb. 40.3). Welche Rolle die Eltern bei der Untersuchung bzw. dem „Eingriff“ einnehmen, ist vorher zu klären. So können sie z. B. das Kind trösten, Mut zusprechen oder die Hand halten. Die Eltern können durch ihr eigenes ruhiges und kooperatives Verhalten dem Kind Sicherheit und Vertrauen geben.

Abb. 40.3 Anwesenheit der Eltern. Viele Kinder wünschen sich, dass ihnen bei schmerzhaften Eingriffen ein Elternteil beisteht (Symbolbild). (Foto: P. Blåfield, Thieme)

40.2.2 Kommunikation ▶ Ehrlichkeit. Ein Kind sollte nicht angelogen werden! Was gesagt und anschließend getan wird, muss übereinstimmen. Die Pflegefachkraft sollte z. B. vermeiden zu sagen, „das tut überhaupt nicht weh“, wenn sie weiß, dass es wehtut. ▶ Respekt. Das Respektieren eines anderen Menschen ist in den Situationen, in denen er nur bedingt oder nicht selbstbestimmt handeln und sich äußern kann, z. B. bei Untersuchungen und Eingriffen, besonders wichtig. Ein Mensch sollte nicht abwertend behandelt werden! Dazu zählt auch, dass man einem Kind zuhört, es ausreden lässt, sich ihm persönlich zuwendet und z. B. nicht über den vergangenen Theaterbesuch mit einer Kollegin spricht, während man bei ihm Blut abnimmt. Kinder können ab einem bestimmten Alter für sich selbst sprechen, daher können sie auch gefragt werden, wie sie sich fühlen. Wichtig ist die Aufnahme von Blickkontakt während des Gesprächs. Je nach Alter können Kinder auch in den Ablauf von pflegerischen Maßnahmen, wie dem Zeitpunkt des Verbandwechsels, oder zur aktiven Mithilfe, wie dem Ablösen des Pflasters, einbezogen werden.

40.2 Pflegerische Aufgaben ▶ Lob und Trost. Nach Abschluss der pflegerischen, diagnostischen oder therapeutischen Maßnahme wird das Kind für sein gutes Verhalten gelobt und evtl. belohnt. Dem Kind sollte Gelegenheit zum Ausdruck seiner Gefühle gegeben werden. Es wird ihm Trost gespendet. Sind die Eltern während der Untersuchung oder therapeutischen Maßnahme nicht anwesend, wird das Kind so bald wie möglich zu den wartenden Eltern gebracht.

40.2.3 Rahmenbedingungen Merke

H ●

Ein Kind soll immer von den gleichen bekannten Pflegefachkräften betreut werden. Die Anwesenheit einer vertrauten Pflegefachkraft kann es dem Kind in einer unbekannten Situation erleichtern, seine Ängste zu äußern und ein Sicherheitsgefühl zu entwickeln.

Es ist wichtig, dem Kind eine „Schutzzone“ zu erhalten, in der keine unangenehmen Eingriffe stattfinden. Nach Möglichkeit sind keine invasiven Maßnahmen im Patientenzimmer bzw. am Patientenbett durchzuführen. Um dem Kind Ruhe und Sicherheit zu vermitteln, sollte nur eine begrenzte Anzahl an Personen im Be-

handlungsraum anwesend sein. Unruhe und Hektik, offene Türen, viele ein- und ausgehende Personen, Telefonläuten, Klingelgeräusche, Piepser, Alarme usw. erhöhen eine evtl. schon vorhandene Aufregung. Ein zügiger Ablauf der Pflegemaßnahme, der Untersuchung oder des Eingriffs verhindert zusätzliche Belastungen durch Wartezeiten. Bei der Vorbereitung sollte darauf geachtet werden, dass alle Materialien komplett gerichtet sind und Ersatzmaterial vorhanden ist. Das Kind kann sein Kuscheltier mitnehmen oder die Hand der Bezugsperson halten. Älteren Kindern kann die Pflegefachkraft oder der Arzt die Untersuchungsgeräte zuerst zeigen, ggf. anfassen lassen und erklären. Angstauslösende Instrumente werden außer Sichtweite geräumt oder abgedeckt. Schmerzlindernde oder sedierende Medikamente sind z. B. vor einem Verbandwechsel nach ärztlicher Anordnung einzusetzen.

40

5

Situation von Kindern

40

776

Kapitel 41

41.1

Blutentnahmen, Punktionen, Biopsien

41.2 41.3 41.4 41.5 41.6

Blutentnahmen: Theoretische Grundlagen

778

Blutentnahmen: Pflegerische Aufgaben

778

Punktionen und Biopsien: Theoretische Grundlagen

782

Punktionen und Biopsien: Pflegerische Aufgaben

783

Umgang mit Labormaterial: Theoretische Grundlagen

794

Umgang mit Labormaterial: Pflegerische Aufgaben

797

Blutentnahmen, Punktionen, Biopsien

41 Blutentnahmen, Punktionen, Biopsien 41.1 Blutentnahmen: Theoretische Grundlagen Monika Hensel

41.1.1 Begriffsbestimmungen Blutentnahmen werden bei der stationären Aufnahme in der Klinik oder einem ambulanten Termin eines Kindes durchgeführt, um eine Diagnose zu stellen oder zu sichern. Außerdem werden Blutentnahmen zur Beurteilung des Krankheitsverlaufs eingesetzt. Man unterscheidet verschiedene Arten von Blutentnahmen: ● venöse Blutentnahme (aus einer Vene) ● arterielle Blutentnahme (aus einer Arterie) ● kapilläre Blutentnahme (aus dem Kapillargebiet) ● Blutentnahmen aus einem zentralen Venenkatheter oder einer arteriellen Kanüle

41.1.2 Zuständigkeitsbereiche Der verantwortliche Arzt ist für die schriftliche Anordnung von Blutentnahmen und die Aufklärung des Kindes und der Eltern über die geplante Maßnahme zuständig. Die Pflegefachkraft bereitet alle nötigen Materialien vor. Während der Blutentnahme ist sie für Beobachtung und Beruhigung, sowie Halten und Fixieren des Kindes zuständig.

41

41.2 Blutentnahmen: Pflegerische Aufgaben Merke

H ●

Komprimieren der Punktionsstelle ist erforderlich. Bei Früh- und Neugeborenen besteht die Gefahr, dass gehäufte Blutentnahmen zu Anämie und/oder Hypovolämie führen. Bei schwer kranken Früh- und Neugeborenen ist die Blutentnahme über einen liegenden Nabelarterienkatheter oder Nabelvenenkatheter ohne Schmerzbelastung möglich.

Merke

H ●

Aus vernarbten, entzündlich veränderten und schlecht sichtbaren Gefäßen sollte keine Blutentnahme erfolgen.

41.2.1 Allgemeine pflegerische Aufgaben Für alle Blutentnahmen gelten die folgenden Aufgaben.

Vorbereitung Das Kind wird alters- und situationsgerecht über die Notwendigkeit der Blutentnahme und den voraussichtlichen Ablauf aufgeklärt. Zu erwartende Unannehmlichkeiten (Schmerzen) werden ehrlich benannt.

Eltern

a ●

Nach Möglichkeit werden die Eltern des Kindes oder andere Vertrauenspersonen in die Maßnahme miteinbezogen.

Ein gut organisierter Ablauf und eine sichere technische Fertigkeit von Arzt und Pflegefachkraft sind für den Verlauf der Blutentnahme entscheidend, um Stressbelastung und Schmerzen für die Kinder

so gering wie möglich zu halten. Der Zeitpunkt der Blutentnahme wird im Idealfall an die Schlaf-Wach-Gewohnheiten des Kindes angepasst. Dies erfordert eine gute Koordination mit dem ärztlichen Dienst. Der Zeitpunkt kann mit den Eltern abgeklärt werden, damit diese während der Blutentnahme anwesend sind, um ihr Kind zu trösten. Eine Möglichkeit zur Schmerzreduktion ist das Auftragen einer anästhesierenden Salbe nach ärztlicher Verordnung vor der Punktion auf die gewählte Hautstelle (Herstellerangaben beachten, ▶ Abb. 41.1). Die Blutentnahme findet in einem speziellen, gut beleuchteten Untersuchungsraum statt, in dem alle Materialien gerichtet sind. Das Patientenzimmer sollte nur in Ausnahmefällen zur Blutentnahme genutzt werden, damit es Privatsphäre und Schutzzone für die Kinder bleibt. Muss bei einem schwer kranken Kind die Blutentnahme im Bett durchgeführt werden, wird das Bett vorher mit einer Unterlage vor Verunreinigungen geschützt.

Hygienische Grundprinzipien bei der Durchführung Bei allen Gefäßpunktionen muss auf strikte Einhaltung der Asepsis geachtet werden: ● Vor und nach der Blutentnahme erfolgt eine hygienische Händedesinfektion. ● Zur Punktion darf nur steriles Einmalmaterial verwendet werden. ● Die Einwirkzeit des Hautdesinfektionsmittels muss eingehalten werden (das Hautdesinfektionsmittel muss vollständig angetrocknet sein, bevor die Punktion vorgenommen wird). ● Die desinfizierte Hautstelle des Kindes wird dann nicht mehr berührt und nicht durch Sprechen, Husten oder Niesen kontaminiert.

Jede Blutentnahme bedeutet eine enorme Schmerz- und Stressbelastung für das Kind!

Die Indikation für Blutentnahmen bei Kindern sollte so eng wie möglich gehalten werden, da sie eine große emotionale Belastung für das Kind darstellen. Die einzelnen Blutentnahmemengen werden außerdem reduziert, um den Blutverlust des Kindes gering zu halten. Das gilt insbesondere bei Blutungsneigungen und Gerinnungsstörungen. Es besteht die Gefahr der Nachblutung und Bildung von Hämatomen an der Punktionsstelle. Ein längeres

778

Abb. 41.1 Anästhesierendes Pflaster. a Die anästhesierende Salbe wird aufgetragen. (Foto: P. Blåfield, Thieme) b Ein durchsichtiges Pflaster verhindert ein versehentliches Abwischen der Salbe. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

41.2 Blutentnahmen: Pflegerische Aufgaben ●

Alle beteiligten Personen tragen während der Entnahme und Weiterbearbeitung des Blutes stets Einmalhandschuhe zum Eigenschutz.







Nachsorge



Das Kind wird für seine Mitarbeit gelobt und darüber informiert, dass die belastende Maßnahme jetzt beendet ist.



Praxistipp Pflege



Z ●



je einen Abwurfbehälter für gebrauchte Kanülen und einen für sonstige Abfälle sterilisierte Tupfer und Hautdesinfektionsmittel Einmalhandschuhe zum Eigenschutz Stauschlauch hautfreundliches Pflaster Etiketten mit Patientenname, Geburtsdatum und Station besondere Materialien, die für den Versand oder Transport erforderlich sind

Eine altersgemäße Kleinigkeit zur Belohnung lenkt oft schnell von Ängsten und Schmerzen ab.

▶ Punktionsstelle. Bevorzugte Stellen für die venöse Blutentnahme bei Kindern sind Arm-, Fuß- und Kopfvenen (▶ Abb. 41.3). ▶ Positionierung. Das Kind wird je nach Punktionsstelle positioniert: ● Armvene: Das Kind liegt auf dem Rücken. Ein Arm ist mit der Innenseite nach oben in Richtung des Arztes ausgestreckt (▶ Abb. 41.4).

Abwurfbehälter Händedesinfektionsmittel Hautantiseptikum unsterile Handschuhe

Das Kind erhält auf die Einstichstelle nur ein kleines hautschonendes Pflaster, dessen Entfernung möglichst schmerzfrei ist. Die Kinder werden im Anschluss auf Nachblutungen und entzündliche Veränderungen an der Einstichstelle beobachtet. Die gebrauchte Punktionskanüle wird in einem speziellen Abwurfbehälter entsorgt.

Merke

steriles Pflaster Stauschlauch

H ●

Die häufigsten Stichverletzungen entstehen durch Unachtsamkeit beim Entsorgen von gebrauchten Blutentnahmeoder Injektionskanülen.

Tupfer Butterflykanüle verschiedene Kanülen verschiedene Blutröhrchen (rot = Blutbild, grün = Gerinnung, lila = Blutsenkung BSG, weiß = Serum)

Abb. 41.2 Materialien für die Blutentnahme. Klinikinterne Materialien und Standards sind zu beachten. (Foto: T. Stephan, Thieme)

41.2.2 Spezielle pflegerische Aufgaben Venöse Blutentnahme Die Durchführung der venösen Blutentnahme fällt in den ärztlichen Zuständigkeitsbereich. Venöse Blutentnahmen können mit dem Legen einer Venenverweilkanüle und einer intravenösen Injektion verbunden werden. Bei schwer kranken Kindern werden zur Entnahme von venösem Blut nicht die großlumigen Venen in der Ellenbeuge punktiert, damit dort, falls notwendig, ein zentralvenöser Katheter gelegt werden kann.

Vorbereitung ▶ Material. Folgende Materialien werden benötigt (▶ Abb. 41.2): ● Blutröhrchen ● Entnahmekanülen oder ein Vakuumsystem (ein Vakuumsystem besteht aus einer Flügelkanüle mit flexiblem Schlauch, an den die verschiedenen Blutröhrchen angeschlossen werden) ● Abstellgefäß für Blutröhrchen

V. supratrochlearis V. temporalis superficialis

41

V. auricularis posterior V. cephalica V. cubitalis V. cephalica V. basilica

Venenbogen an Hand- und Fußrücken

V. femoralis V. saphena magna

Abb. 41.3 Punktionsstellen. Abgebildet sind mögliche Stellen für die venöse Blutentnahme.

9

Blutentnahmen, Punktionen, Biopsien

Merke

H ●

Die Stauung darf nicht zu fest sein, der periphere Puls muss noch tastbar sein, um eine ungehinderte arterielle Durchblutung zu erhalten.

Abb. 41.4 Positionierung zur Punktion der Armvene. Der Arm wird mit der Innenseite nach oben fixiert. (Abb. nach: Lauber A, Schmalstieg P. verstehen und pflegen Band 3. Thieme; 2018)

Je nach Kanülenart und Abnahmetechnik wird das Blut aspiriert, per Vakuum in Spezialröhrchen gezogen oder tropft ab. Dabei ist darauf zu achten, dass das Blut nicht durch Pumpen oder Quetschen in das Abnahmeröhrchen gelangt, sondern frei tropft. Ein solcher Abnahmefehler führt z. B. zu falsch hohen Kaliumwerten im Blut. Bei Entnahme von größeren Mengen Blut muss die Pflegefachkraft den Stauvorgang zwischendurch für kurze Zeit beenden, um eine erneute Füllung der Gefäße zu ermöglichen. Vor dem Entfernen der Kanüle wird der Stau gelöst, um Nachblutung und Hämatomentstehung zu verhindern.

Praxistipp Pflege Abb. 41.5 Positionierung zur Punktion der Kopfvene. Je nach Punktionsstelle ist eine seitliche Fixierung des Kopfes sicherer, damit das Kind den Kopf nicht wegdrehen kann. (Foto: P. Blåfield, Thieme)





41

Fußvene: Das Kind liegt in Rückenlage, der Fuß wird von der Pflegefachkraft überstreckt. Kopfvene: Das Kind liegt auf dem Rücken, der Kopf wird seitlich fixiert (▶ Abb. 41.5).

Merke

H ●

Beim Halten des Kopfes darf die Pflegefachkraft keinen Druck auf den Ausführungsgang der Parotis (Ohrspeicheldrüse im Kiefer-Mund-Bereich) ausüben. Dies ist schmerzhaft für das Kind.

Durchführung Nach hygienischer Händedesinfektion ziehen sich Arzt und Pflegefachkraft Einmalhandschuhe an. Die Punktionsstelle wird mit Hautdesinfektionsmittel desinfiziert. Bei Punktionen an den Extremitäten wird das Blut oberhalb der Punktionsstelle gestaut. Das Stauen und das Fixieren des Kindes kann bei Neugeborenen, Säuglingen und Kleinkindern die Pflegefachkraft übernehmen. Bei Schulkindern wird ein Stauschlauch 1 – 2 Querfinger oberhalb der Punktionsstelle angelegt, sodass die venösen Gefäße deutlicher hervortreten.

780

Z ●

Beim Entfernen der Kanüle kann man die Kinder auffordern, tief einzuatmen, und die Kinder zählen lassen, zuerst langsam und dann beim Empfinden von Schmerz lauter.

Das Kind wird getröstet und die Einstichstelle mit einem trockenen, sterilisierten Tupfer so lange komprimiert, bis sie nicht mehr blutet.

Kapilläre Blutentnahme Definition

L ●

Eine kapilläre Blutentnahme beinhaltet die Entnahme von Blut durch Punktion eines gut durchbluteten Gewebeareals.

Die kapilläre Blutentnahme wird häufig durchgeführt bei: ● Blutzuckerbestimmung ● Blutgasanalyse ● Bilirubinbestimmung beim Neugeborenen ● Neugeborenenscreening zur Früherkennung von Stoffwechselerkrankungen Die kapilläre Blutentnahme erfolgt i. d. R. durch die Pflegefachkraft oder das Laborpersonal der Klinik. Bei Frühgeborenen, Neugeborenen und Säuglingen ist der bevorzugte Ort der kapillären Blutentnahme die Fersenkante. Bei Klein- und Schulkindern die seitliche Fingerkuppe oder das Ohrläppchen.

Merke

H ●

Die Haut an der Punktionsstelle darf nicht entzündlich verändert oder ödematös sein. Ebenso darf eine kapilläre Blutentnahme nicht bei einer Kreislaufzentralisation vorgenommen werden. In diesem Fall ist die periphere Durchblutung unzureichend.

Es ist darauf zu achten, dass die Punktionsstelle gewechselt wird. Wiederholte Punktionen führen zu einer erhöhten Schmerzempfindlichkeit des betroffenen Hautgebietes.

Vorbereitung Das Kind und seine Eltern werden altersund situationsgemäß darüber aufgeklärt, welchen Sinn und Zweck die kapilläre Blutentnahme hat und wie diese abläuft. Das Kind darf sich einen Finger für die Blutentnahme aussuchen, damit man nicht gerade den „Nuckelfinger“ erwischt, oder einen besonderen Finger, den das Kind bei verschiedenen Tätigkeiten, z. B. Spielen oder Malen, nutzen möchte. Außerdem achtet die Pflegefachkraft darauf, dass eine gute periphere Durchblutung gewährleistet ist. Das Füßchen des Säuglings erwärmt man durch Reiben oder warme Umschläge mit einem in 37 °C warmen Wasser getränkten Tuch, das für etwa 5 Minuten um die Punktionsstelle gewickelt wird (▶ Abb. 41.6). Als Nässeschutz legt die Pflegefachkraft eine wasserdichte Unterlage in das Bett des Kindes. Zum Schutz vor Auskühlung wird die Blutentnahme bei Früh- und Neugeborenen unter einer Wärmelampe durchgeführt.

Praxistipp Pflege

Z ●

Wassertemperatur unbedingt kontrollieren: Es besteht die Gefahr von Verbrühungen!

Durch Reiben und Erwärmen wird das Gewebe hyperämisiert, d. h., die Kapillaren füllen sich verstärkt mit Blut. Im hyperämisierten Zustand ist die Konzentration von Kohlendioxid, Sauerstoff und der pHWert dem im arteriellen Blut sehr ähnlich. ▶ Maßnahmen zur Schmerzreduktion. Ein Mittel zur Schmerzintervention stellt die orale Verabreichung höherprozentiger Glukoselösung (Glucose 30 %) dar, deren Wirkung in zahlreichen Studien sicher nachgewiesen wurde. Diese Studien zeigten, dass die Gabe von oraler Glukose bei Kindern in den ersten 12 Lebensmonaten das endogene Opioidsystem anregt, das eine natürliche Analgesie herbeiführt.

41.2 Blutentnahmen: Pflegerische Aufgaben

Abb. 41.7 Punktion der Ferse. Der Fuß wird so gehalten, dass die Fersenkante gut zugänglich ist. Schraffierte Stellen an der Außenseite der Ferse entsprechen möglichen Punktionsstellen. Abb. 41.6 Kapilläre Blutentnahme am Fuß. Um die periphere Durchblutung zu fördern, wird der Fuß des Säuglings vorher in warme Umschläge gewickelt.

Auch wird durch die Präsenz von Glukose im Mund und das Schnullern eine Endorphinausschüttung vom Hypothalamus eingeleitet. Schmerzen lassen sich dadurch effektiv lindern, ohne Nebenwirkungen von pharmakologischen Medikamenten hinnehmen zu müssen. Klinisch konnte gezeigt werden, dass durch die Kombination von Schnullern und gleichzeitiger oraler Gabe der Glukoselösung das Schmerzempfinden deutlich reduziert werden kann. Vorteile sind eine einfache Applikation, rascher Wirkungseintritt und eine über Minuten andauernde opiatähnliche Wirkung. Zurzeit liegen keine Anzeichen für irgendwelche Nebenwirkungen vor. Es ist Folgendes zu beachten: ● Gabe 2 Minuten vor der schmerzhaften Aktion ● Kontraindikationen beachten, z. B. vermutete oder bestätigte nekrotisierende Enterokolitis ● Dosierung, Konzentration, Wiederholungsdosis und Maximaldosis pro Tag der Glukoselösung nach kliniküblichen Standards

Merke

H ●

Die Lösung darf nur als Schmerzmedikation und nicht zur Beruhigung des Kindes eingesetzt werden.

Weitere Maßnahmen zur Behandlung von Schmerzen, die man einzeln und in Kombination anwenden kann, sind: im Arm halten und trösten, sprechen, singen und streicheln.

▶ Material. Benötigt werden: ● unsterile Einmalhandschuhe ● Hautdesinfektionsmittel ● sterilisierte Tupfer ● Stechhilfe ● Blutröhrchen je nach gewünschter Blutentnahme ● hautfreundliches Pflaster ● Abwurfmöglichkeit für Papier und stichsichere Kanülenbox für Nadeln der Stechhilfe

Abb. 41.8 Stechhilfe. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Durchführung Es erfolgen eine Händedesinfektion sowie das Anziehen von Einmalhandschuhen zum Eigenschutz. Die ausgewählte Einstichstelle wird desinfiziert, die Einwirkzeit des Hautdesinfektionsmittels eingehalten. ▶ Punktion der Ferse. Der Einstich an der Ferse erfolgt seitlich und senkrecht zur Haut, außerhalb der Oberfläche des Fersenbeins, um Verletzungen vorzubeugen und nur so weit, dass die Knochenhaut nicht getroffen wird. Es besteht sonst die Gefahr einer Knochenhautentzündung, außerdem ist eine Knochenhautverletzung sehr schmerzhaft (▶ Abb. 41.7). ▶ Punktion eines Fingers. Bei einer Blutentnahme am Finger erfolgt der Einstich ebenfalls seitlich, denn die Fingerkuppen sind sehr schmerzempfindlich. Der erste Blutstropfen wird mit einem sterilisierten Tupfer abgewischt, denn er enthält zu viel Gewebeflüssigkeit, die die Laborparameter verändern kann. Dann wird das Gewebe um die Punktionsstelle leicht gestaut.

Merke

H ●

Bei der kapillären Blutentnahme darf das Gewebe generell nicht zu sehr gestaut werden, da es zur Verfälschung der Blutwerte durch zu viel Gewebeflüssigkeit kommen kann.

41

Bei den Stechhilfen ist die entsprechende Einstichtiefe einzustellen oder eine geeignete Größe zu wählen (▶ Abb. 41.8). Bei manchen Untersuchungen, z. B. der Blutzuckerbestimmung, ist es wichtig, dass die vorgeschriebene Blutmenge für die Untersuchung genau eingehalten wird, um Messfehler zu vermeiden. Es muss darauf geachtet werden, dass sich keine Luft in der Kapillare befindet, denn dies führt bei einigen Parametern der Blutgasanalyse und der Blutzuckerbestimmung zu einer Fehlbestimmung.

1

Blutentnahmen, Punktionen, Biopsien

Praxistipp Pflege

Z ●

Blutentnahmen mit Kapillarröhrchen kann die Pflegefachkraft für Kinder interessant gestalten, indem sie sie dazu auffordert, auf die „rote Eisenbahn“ zu warten, die jetzt in das Röhrchen fährt.

Nachsorge Die Einstichstelle wird mit einem sterilisierten Tupfer komprimiert, bis die Blutung gestillt ist. Die gebrauchte Nadel der Stechhilfe muss zum Schutz vor Stichverletzungen in einem speziellen Abwurfbehälter entsorgt werden. Die Einstichstelle wird auf Nachblutungen, entzündliche Veränderungen (z. B. Rötung, Schwellung und Schmerzen) beobachtet.

Arterielle Blutentnahme Die Arterienpunktion ist ärztliche Aufgabe. Die Pflegefachkraft übernimmt i. d. R. das Positionieren und Halten des Kindes. Eine arterielle Blutentnahme dient zur Blutgasanalyse bei schweren Störungen der Herz- oder Atemfunktion. Die häufigste Punktionsstelle ist die Arteria radialis (▶ Abb. 41.9). Bei der arteriellen Blutentnahme wird nie gestaut. Der Arzt tastet die Arterie und führt die Kanüle in einem Winkel von 30° in die Arterie ein.

41

▶ Messfehler. Die Messung der Blutgase Sauerstoff (O2) und Kohlendioxid (CO2) ist nur bei einer kurzen Punktionsdauer verwertbar, denn durch Schreien und Luftanhalten aufgrund des Schmerzreizes sinkt der Sauerstoffgehalt im Blut des Kindes. Nach einer arteriellen Blutentnahme muss die Punktionsstelle so lange komprimiert werden, bis die Blutung gestoppt ist.

41.3 Punktionen und Biopsien: Theoretische Grundlagen Pamela Jech Punktionen und Biopsien sind invasive Maßnahmen, für die eine Einwilligung der Sorgeberechtigten notwendig ist. Für die Kinder und ihre Eltern sind sie oft mit großer Angst verbunden. Kinder aller Altersstufen fürchten sich hauptsächlich vor Schmerzen durch den Eingriff. Eltern und größere Kinder sind in sorgenvoller Erwartung der Ergebnisse, da es sich bei Punktionen und Biopsien zum großen Teil um Maßnahmen einer erweiterten Diagnosesicherung handelt. Dies betrifft v. a. den Ausschluss von Tumorerkrankungen, bzw. anderen chronischen Erkrankungen oder Organschäden, die eine langwierige Therapie nach sich ziehen. Außerdem sehen die Eltern auch Gefahren, die eine evtl. notwendige Narkose beinhalten kann. Punktionen und Biopsien dienen zur Entnahme von: ● Gewebeproben, z. B. Lebergewebe, Muskelgewebe oder Knochenmark ● physiologischen Flüssigkeiten, z. B. Liquor oder Urin ● anderen Körperflüssigkeiten (Transsudaten oder Exsudaten) aus physiologischen und pathologischen Körperhohlräumen Das gewonnene Material wird zytologisch, histologisch oder mikrobiologisch untersucht. Außerdem können Punktionen der Therapie dienen, z. B.: ● zur Entlastung des Organismus bei Aszitespunktion oder Pleuraergüssen ● zum Einbringen von Medikamenten, wie bei der intrathekalen Gabe von Zytostatika

41.3.1 Begriffsbestimmungen Die invasive Gewinnung von Untersuchungsmaterial wird als Punktion oder Biopsie bezeichnet.

Definition

L ●

Eine Punktion ist das Einführen einer Hohlnadel oder eines Trokars in pathologische oder physiologische Körperhöhlen, Hohlorgane sowie parenchymatöse Organe zur Gewinnung von Flüssigkeiten oder Gewebe. Sie können aber auch zur Entlastung oder zum Einbringen eines Therapeutikums durchgeführt werden. Eine Biopsie ist die Entnahme einer Gewebeprobe am Lebenden mittels Hohlnadel und spezieller Instrumente, wie Zangen, Stanzen oder Skalpell. Sie kann unter Sicht mithilfe von Ultraschall und Röntgen oder als sog. Blindpunktion durchgeführt werden.

Das Untersuchungsmaterial von Ergüssen wird je nach Ursache als Transsudat oder Exsudat bezeichnet. Diese unterscheiden sich hinsichtlich mehrerer Merkmale (▶ Tab. 41.1).

Definition

L ●

Transsudat ist eine meist seröse Flüssigkeit nicht entzündlichen Ursprungs (z. B. bei Traumen). Es ist zell- und eiweißarm und fibrinogenfrei. Exsudat ist eine Flüssigkeit, die im Rahmen einer Entzündung aus dem Gefäß tritt. Das Aussehen ist getrübt und wird je nach Bestandteilen als hämorrhagisch, fibrinös, serös oder eitrig bezeichnet.

Tab. 41.1 Unterscheidungsmerkmale von Transsudat und Exsudat.

Ursache

Abb. 41.9 Arterielle Blutentnahme. Häufigste Punktionsstelle ist die Arteria radialis.

782

Transsudat

Exsudat

lokale und allgemeine Stauungen, z. B. hämorrhagische Ergüsse bei Traumen

bei entzündlichen Prozessen

Aussehen

klar

getrübt

Farbe

hellgelb

hellgelb, grünlich, blutig, eitrig, jauchig

spezifisches Gewicht

1005 – 1015

> 1015

Eiweißgehalt

gering

Zellen, Eiter

41.4 Punktionen und Biopsien: Pflegerische Aufgaben

41.3.2 Zuständigkeitsbereiche

41.4 Punktionen und Biopsien: Pflegerische Aufgaben

Der Arzt ist für die umfassende Aufklärung des Kindes bzw. der Eltern (Sorgeberechtigten) über Indikation, Durchführung und Gefahren des Eingriffes verantwortlich. Die Eltern müssen ihr schriftliches Einverständnis für die geplanten Maßnahmen geben. Das Pflegepersonal ist für die Betreuung des Kindes, die gründliche Vorund Nachbereitung der Untersuchung und die Beobachtung des Kindes während und nach dem Eingriff zuständig. Während der Durchführung sorgt die Pflegefachkraft für die richtige Positionierung des Kindes, beruhigt es und reicht dem Arzt das benötigte Material.

41.4.1 Allgemeine pflegerische Aufgaben Beim allgemeinen Ablauf der Biopsien und Punktionen gibt es kaum Unterschiede, sodass Grundsätzliches in Bezug auf Vorbereitung, Durchführung und Nachsorge zunächst allgemein beschrieben werden soll (▶ Abb. 41.10). Abweichungen und spezielle Aspekte einiger besonders häufig in der Kinderklinik vorkommender Eingriffe werden im Anschluss ausführlich erläutert. ▶ Psychische Aspekte. Dem Kind werden – sofern möglich – die bevorstehenden Maßnahmen in ruhiger Umgebung einfühlsam und altersentsprechend erklärt (S. 774). Das Ziel dabei ist, möglichst viele

Ängste abzubauen und die Kooperation des Kindes zu fördern. Die Intimsphäre des Kindes sollte auch während des Eingriffs so weit wie möglich gewahrt werden, z. B. indem nur der Bereich entkleidet wird, der für die Biopsie oder Punktion relevant ist.

a ●

Eltern

Den Eltern kann je nach Wunsch die Möglichkeit gegeben werden, an den Untersuchungen teilzunehmen. Ihre Anwesenheit kann dem Kind zusätzliche Sicherheit geben.

▶ Hygienische Grundprinzipien. Jeder dieser Eingriffe bedeutet, dass dem Kind eine Verletzung zugefügt wird, die eine potenzielle Eintrittsstelle für Keime sein kann. Deshalb sind eine dringende Indikation sowie die fachgerechte Vorbereitung,

Bei allen Eingriffen sind folgende Richtlinien zu beachten: – Wahrung der Persönlichkeit und Intimsphäre des Kindes – Hygienestandards – Schutz der Patienten und Eigenschutz – Wirtschaftlichkeit

Vorbereitung

Kind Eingriffsraum (unter Einbe– Patientenliege ziehung der – ÜberwachungsEltern) möglichkeit, – Kind evtl. Notfallwagen nüchtern lassen – entsprechende Kleidung – Schmerzmedikation bzw. Prämedikation

Durchführung

Richten des Materials – zur Desinfektion – Punktionsbesteck – Probenröhrchen – Verbandmaterial

Aufgabenverteilung: – eine Pflegekraft: halten, positionieren, beruhigen des Kindes, Vitalzeichenkontrolle – zweite Pflegekraft: Anreichen des Materials, Befüllen der Probenbehälter – Arzt: Durchführung der Punktion Ablauf der Punktion: – Desinfektion der Haut für Lokalanästhesie bzw. Kurznarkose – Schutzkleidung und sterile Handschuhe anziehen – Desinfektion der Punktionsstelle – Punktion und Probenentnahme – Verband anlegen

Nachbereitung

– Positionierung des Kindes – Kontrolle von Vitalzeichen, Schmerzen, Blutungen, Bewusstseinslage, punktionsspezifischen Komplikationen

Beschriften und Verschicken des Punktats

Entsorgen des benötigten Materials

41

Dokumentation

Abb. 41.10 Allgemeiner Ablauf einer Punktion.

3

Blutentnahmen, Punktionen, Biopsien Durchführung und Nachsorge unter Beachtung aller hygienischen Grundsätze (S. 434) besonders wichtig, z. B.: ● Beachtung der Infektionswege ● Haut- und Händedesinfektion ● Instrumentendesinfektion bzw. -sterilisation ● Flächendesinfektion

Vorbereitung

41

784

▶ Kind. Bei der Vorbereitung des Kindes muss Folgendes beachtet werden: ● Durch den Arzt erfolgt vor dem Eingriff die Kontrolle der Blutwerte (Blutbild, Gerinnung, Blutgruppe). Die Pflegefachkraft richtet das Material für die Blutentnahme und assistiert dabei. ● Das Kind wird altersentsprechend über die geplanten Maßnahmen und die Vorgehensweise informiert. ● Es wird zur Entleerung von Blase und ggf. Darm auf die Toilette geschickt, Säuglinge und Kleinkinder werden gewickelt. ● Die Kleidung sollte bequem sein, z. B. ein Schlafanzug, da das Kind nach dem Eingriff oft eine Bettruhe einhalten soll. ● Bei größeren Kindern und umfangreichen Eingriffen empfiehlt es sich, dem Kind ein OP-Hemd anzuziehen, damit die Punktionsstelle gut zugänglich ist und Hygieneanforderungen besser erfüllt werden. Außerdem ist mit Verschmutzung durch Blut oder Desinfektionsmittel zu rechnen. ● Eventuell muss das Kind an der Punktionsstelle rasiert werden. ● Zur Schmerzminimierung kleinerer Eingriffe bei Neugeborenen können Maßnahmen, wie „Facilitated tucking“ (Froschhaltung), nichtnutritives Saugen und die orale Gabe von 20–30 %iger Sucrose- oder Glukoselösung sowie „Swaddling“ (einwickeln) angewendet werden. ● Bei bestimmten Punktionen oder bei einer notwendigen Analgosedierung des Kindes muss es vor dem Eingriff nüchtern bleiben (Schulkinder 6 Stunden, Säuglinge und Kleinkinder 4 Stunden bzw. nach ärztlicher Anordnung). ● Ebenfalls auf ärztliche Anordnung erfolgen Sedierung und Schmerzmedikation. Die Anordnungen und Durchführung werden im Dokumentationssystem vermerkt. ● Die Anwendung von anästhesierenden Salben bzw. Pflastern (S. 241) erfolgt nach ärztlicher Anordnung und Kennzeichnung der Punktionsstelle ca. 1 Std. vor dem Eingriff nach Angaben des Herstellers.

▶ Eingriffsraum. Die Durchführung invasiver Maßnahmen im Patientenzimmer sollte vermieden werden, weil dieses für das Kind eine Schutzzone darstellt, in der es sich sicher fühlen kann. Deshalb sollten möglicherweise schmerzhafte Manipulationen im Eingriffsraum der Station erfolgen. Das Kind kann so auch vor neugierigen Blicken der Zimmernachbarn geschützt werden. Außerdem kann der Raum in Ruhe, entsprechend den hygienischen Aspekten und der Art des Eingriffs, vorbereitet werden: ● Die Patientenliege bietet eine feste Unterlage und dem Arzt und der assistierenden Pflegefachkraft Zugang von allen Seiten. ● Die Fenster des Raumes müssen geschlossen sein, um Luftzug und damit eine mögliche Keimverschleppung zu vermeiden. ● Es ist für eine angenehme Raumtemperatur zu sorgen, da sich das Kind z. T. entkleiden muss, für Säuglinge sollte eine Wärmelampe bereitstehen. ● Dem Arzt bietet ein höhenverstellbarer Drehhocker eine optimale Arbeitsposition. ● Bei größeren Eingriffen ist eine Kreislaufüberwachung des Kindes über einen Monitor notwendig, der im Eingriffsraum vorhanden sein sollte. ● Für einen möglichen Zwischenfall während der Punktion sind im Eingriffsraum ein Sauerstoffanschluss sowie Notfallwagen oder Notfallkoffer bereit. ▶ Material. Für Punktionen und Biopsien werden grundsätzlich folgende Materialien benötigt: ● anästhesierende Salbe und dazugehöriger Pflasterverband ● Einmalrasierer, Rasierschaum und unsterile Unterlage ● Abwurfbehälter ● Wärmelampe ● evtl. eine zusätzliche Lichtquelle ● Hilfsmittel zur Positionierung (z. B. Sandsack, Molton) ● sterile Tupfer ● Hautdesinfektionsmittel, ggf. gefärbt und ungefärbt ● Material für die Lokalanästhesie (Spritze, Aufziehkanüle, 18er-Kanüle zur Injektion, Lokalanästhetikum) ● sterile(r) Kittel, sterile Handschuhe (für den Arzt) in verschiedenen Größen ● Mundschutz ● unsterile Kittel und Handschuhe zum Versorgen des Materials (für die assistierende Pflegefachkraft) ● steriles Abdecktuch ● sterile Nierenschale ● evtl. Skalpell ● Punktionskanüle je nach Art der Punktion

● ● ●

Probenentnahmeröhrchen ausgefüllte Labor- und Begleitscheine Pflaster, Schere, Verbandmaterial

Zusätzliche Materialien werden später bei den speziellen Punktionen und Biopsien aufgeführt.

Durchführung Bei jeder Punktion sind im Idealfall neben dem Arzt noch 2 assistierende Pflegefachkräfte anwesend. Eine Pflegefachkraft ist für die Positionierung und Fixierung des Kindes zuständig. Je nach Hygienerichtlinien der Klinik und zum Eigenschutz trägt sie dabei Schutzkittel und Handschuhe. Während der Durchführung des Eingriffs achtet sie auf Schmerzäußerungen, Veränderungen der Bewusstseinslage und der Vitalfunktionen. Die andere Pflegefachkraft reicht dem Arzt die entsprechenden Materialien an. Grundsätzlich gilt für jede Punktion und Biopsie folgender Ablauf: ● Schutzkittel und Schutzhandschuhe anziehen ● evtl. Rasur vornehmen ● Kind positionieren ● dem Arzt anreichen: ○ mit Desinfektionsmittel getränkte Tupfer ○ Spritze, Lokalanästhetikum und entsprechende Kanülen ○ steriler Kittel, Mundschutz, sterile Handschuhe ○ Material zur erneuten Desinfektion ○ entsprechende Punktionsnadel und Spritze(n) zum Abziehen des Punktionsmaterials ○ trockene, sterile Tupfer zum Entfernen der Punktionsnadel ○ anschließend wird gemeinsam der Verband angelegt Die Pflegefachkraft verteilt das Punktat auf die vorgesehenen Laborröhrchen und Behältnisse. ▶ Verbandarten. Es wird unterschieden zwischen Schutzverband und Kompressions- oder Druckverband. Der Schutzverband wird zum Schutz der Punktionsstelle vor Infektionen angelegt. Benötigt werden dazu sterile Kompressen und Pflaster oder ein Pflasterschnellverband. Der Druckverband wird angelegt, um eine Blutung zu stillen oder die Entstehung von Ödemen oder Ergüssen zu verhindern. Dazu wird entweder eine elastische Binde um den Schutzverband gewickelt oder es werden mehrere Tupfer auf dem Schutzverband mit Pflaster fixiert. Es muss darauf geachtet werden, dass die Durchblutung der Extremität gewährleistet bleibt.

41.4 Punktionen und Biopsien: Pflegerische Aufgaben

Nachsorge Nach dem Eingriff sollte das Kind die Möglichkeit haben, sich auszuruhen bzw. die Sedierung auszuschlafen. Manche Medikamente verursachen eine erhöhte Geräuschempfindlichkeit, deshalb sollte das Zimmer ruhig und evtl. abgedunkelt sein. Wenn das Kind noch nicht voll orientiert ist, muss eine kontinuierliche Beobachtung durch eine Bezugsperson gewährleistet sein. Auch bei größeren Kindern sollten zur Sturzprophylaxe vorübergehend Seitenschutzgitter angebracht werden. Durch den Einsatz von Hilfsmitteln, wie Sandsack, Schaumstoffschiene oder Molton, können die Kinder entsprechend den Erfordernissen nach dem Eingriff positioniert werden. Da die Kinder in den meisten Fällen eine Bettruhe einhalten müssen, sollte eine Bezugsperson zur Beruhigung und altersgemäßen Beschäftigung des Kindes anwesend sein. Bei größeren Kindern werden Patientenklingel, Steckbecken und Urinflasche in Reichweite gestellt. Die Pflegefachkraft überwacht und dokumentiert in regelmäßigen Abständen nach ärztlicher Anordnung bzw. klinikinternem Standard die Vitalparameter, Bewusstseinslage des Kindes, Schmerzempfinden und den Verband auf Nachblutungen und Sekretaustritt. Blutränder werden auf dem Verband markiert, um Nachblutungen zu erkennen.

Merke

H ●

Auffälligkeiten der Vitalzeichen, Veränderungen der Bewusstseinslage oder Nachblutungen sind sofort dem ärztlichen Dienst mitzuteilen.

Schmerzen werden nach einer altersentsprechenden Schmerzskala beurteilt. Medikamente sind frühzeitig, nach ärztlicher Anordnung, ggf. nach Schmerzschema zu verabreichen. Bei der oralen Verabreichung von Schmerzmedikamenten muss die Bewusstseinslage, z. B. nach Narkose, oder das Einhalten einer evtl. Nahrungskarenz berücksichtigt werden. Eine intravenöse Schmerzmittelgabe oder Suppositorien sind dann vorzuziehen.

Merke

H ●

Ist das Kind nicht in der Lage, sich zu äußern – können auch ein erhöhter Blutdruck und Puls auf Schmerzen hindeuten!

Um eine Infektion zu erkennen, wird regelmäßig die Körpertemperatur kontrolliert. Bei größeren, unauffälligen Kindern, wird spätestens 4 – 6 Stunden nach dem Eingriff gemessen. Bei Säuglingen ist eine erste Temperaturkontrolle direkt nach dem Eingriff vorzunehmen, da hier die Gefahr einer Auskühlung besteht. Je nach Punktionsart und Punktionsstelle müssen regelmäßige Umfangsmessungen vorgenommen werden, um Nachblutungen (z. B. bei Leberbiopsie) oder erneutes Auftreten eines Ergusses (z. B. im Kniegelenk) zu erkennen. Die Messstellen werden hierzu markiert, um Vergleichswerte zu erhalten.

41.4.2 Spezielle pflegerische Aufgaben

▶ Punktat. Die Menge des Punktats wird bestimmt. Dann wird das Punktat in den entsprechenden Probenentnahmeröhrchen mit den dazugehörigen Begleitscheinen ins Labor verschickt.

Indikation

Merke

● H

Beim Versorgen von Proben und benutztem Material sind stets Schutzhandschuhe zu tragen, da sie infektiös sein können!

▶ Material. Das gebrauchte Material wird entsprechend den Hygienevorschriften entsorgt, bzw. desinfiziert. Aus Gründen der Unfallverhütung sind spitze Gegenstände wie Kanülen und Punktionsnadeln in stichfesten Behältnissen zu entsorgen.

Liquorpunktion Definition

L ●

Die Liquorpunktion ist die Punktion des Subarachnoidalraums, bzw. des Lumbalkanals, mittels Hohlnadel. Die häufigste Punktionsstelle ist im Lumbalbereich, seltener sind die Subokzipitalpunktion und bei Säuglingen die Ventrikelpunktion.

Die Liquorpunktion wird zur Diagnostik und Therapie durchgeführt. ▶ Diagnostik. Messung des Liquordrucks, mikroskopische Zellzahlbestimmung sowie chemische, bakteriologische und serologische Untersuchungen können Aufschluss über pathologische Prozesse geben (z. B. Meningitis, Multiple Sklerose). ▶ Therapie. Therapeutisch erfolgt eine Liquorpunktion z. B. zur intrathekalen Gabe von Medikamenten (z. B. Zytostatika, Nusinersen) sowie als Spinalanästhesie zur Schmerzbekämpfung. Eine Ventrikelpunktion kann zur Druckentlastung beim Hydrozephalus eingesetzt werden.

Kontraindikationen

▶ Dokumentation. Im Dokumentationssystem festzuhalten sind: ● Zeitpunkt und Dauer des Eingriffs ● Vitalzeichen und Befinden des Kindes vor, während und nach dem Eingriff ● Punktionsart und -stelle ● Aussehen und Menge des entnommenen Materials ● Flüssigkeitsmenge (ggf. mit in die Bilanz aufnehmen) ● Umfangsmessungen vor und nach dem Eingriff

Eine Lumbalpunktion darf nicht durchgeführt werden bei infizierter Haut der Punktionsstelle und bei erhöhtem Hirndruck bzw. wenn eine Stauungspapille festgestellt wurde. Hier ist zunächst eine genaue Abklärung der Ursache notwendig, da sonst bei einer schnellen Druckentlastung bei massiv erhöhtem Hirndruck die Gefahr einer Hirnstammeinklemmung besteht. Eventuell kann in diesem Fall eine Subokzipital- oder Ventrikelpunktion durchgeführt werden.

Vom Arzt werden Dauer der Bettruhe, evtl. Nahrungskarenz, Häufigkeit und Parameter der Vitalzeichenkontrollen (soweit kein Standard vorhanden ist, bzw. bei Abweichungen), Alarmgrenzen bei Monitorüberwachung und die Schmerzmedikation festgelegt.

Vorbereitung

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▶ Kind. Bezüglich des Kindes ist zu beachten: ● Durch den Augenarzt erfolgt der Ausschluss einer Stauungspapille. Dazu werden nach ärztlicher Anordnung Augentropfen zur Weitstellung der Pupille verabreicht. ● Ebenfalls nach ärztlicher Anordnung erfolgt direkt vor der Liquorpunktion eine Blutzuckerkontrolle. Der Glukosegehalt des Liquors beträgt normalerweise 2/3 des Blutzuckers, ein niedrigerer Wert kann auf eine bakterielle Infektion hinweisen.

5

Blutentnahmen, Punktionen, Biopsien ▶ Material. Zusätzlich zum allgemeinen Material wird Folgendes benötigt (▶ Abb. 41.11): ● 3 – 6 sterile Liquorröhrchen ● Liquorpunktionsnadel mit Mandrin und Arretierung (▶ Abb. 41.12)

Durchführung ▶ Punktionsstelle. Am häufigsten erfolgt zur Liquorentnahme die Lumbalpunktion. Die Punktionsstelle liegt hierbei zwischen dem 3. und 4. oder dem 4. und 5. Lendenwirbel. In diesem Bereich befindet sich kein Rückenmark mehr, da es bereits auf Höhe des 2. Lendenwirbels endet. Die Einstichstelle für die Subokzipitalpunktion liegt zwischen Hinterhauptschuppe und Dornfortsatz des 2. Halswirbels. Bei Säuglingen besteht die Möglichkeit einer Ventrikelpunktion durch die große Fontanelle, wenn sie noch nicht verschlossen ist. ▶ Positionierung. Die Lumbalpunktion wird bei größeren Kindern meist im Sitzen durchgeführt. Dabei ist der Rücken des Kindes dem Arzt zugewandt, das Gesäß befindet sich an der Kante der Untersuchungsliege. Die Pflegefachkraft steht seitlich neben dem Kind, umfasst den Nacken und hält Arme und Beine fest. Der Rücken des Kindes ist zum Katzenbuckel gekrümmt (▶ Abb. 41.13a). Bei Säuglingen, Kleinkindern und Schwerkranken kann die Punktion auch im Liegen erfolgen. Das Kind liegt auf der Seite, der Rücken ist dem Arzt zugewandt. Die Pflegefachkraft umfasst Arme und Beine (▶ Abb. 41.13b). Die Subokzipitalpunktion wird immer im Liegen durchgeführt. Säuglinge werden bei der Ventrikelpunktion wie zu einer Blutentnahme am Kopf gehalten.

41

786

▶ Assistenz. Nach Einführung der Punktionsnadel durch den Arzt wird der Mandrin entfernt und steril abgelegt. In jedes Laborröhrchen wird ca. 1 ml Liquor aufgefangen. Bei einer Entlastungspunktion oder Gabe einer größeren Medikamentenmenge, wird die entsprechende Menge Liquor entnommen. Danach erfolgt die langsame Gabe des Medikaments. Anschließend wird der Mandrin wieder eingesetzt und die Punktionsnadel entfernt. Mit einem trockenen, sterilen Tupfer wird die Punktionsstelle abgedeckt und ein Pflasterverband darübergeklebt. Der Tupfer verbleibt, um Druck auszuüben und so Liquoraustritt zu verhindern. In seltenen Fällen wird der Liquordruck einmalig manuell gemessen. Hierzu wird an die Lumbalkanüle eine Verlängerung, z. B. Perfusorleitung, angeschlossen und diese senkrecht gehalten. Mit einem Maßband wird festgestellt, wie hoch der Liquor steigt. Der Wert gibt den Liquor-

Abb. 41.11 Material für die Liquorpunktion. Zu sehen sind u. a. Liquorröhrchen, Punktionsnadeln. (Foto: P. Jech)

Abb. 41.12 Liquorpunktionsnadel mit Mandrin und Arretierung. (Foto: K. Oborny, Thieme)

Abb. 41.13 Positionierung zur Lumbalpunktion. a Der Rücken des Kindes ist zum sog. Katzenbuckel gekrümmt. (Abb. nach: Lauber A, Schmalstieg P. verstehen und pflegen Band 3. Thieme; 2018) b Bei Säuglingen und Kleinkindern erfolgt die Lumbalpunktion meist im Liegen. (Abb. nach: Lauber A, Schmalstieg P. verstehen und pflegen Band 3. Thieme; 2018)

druck in cm/H2O (Wassersäule) an. Für Mehrfachmessungen werden bei liegender Liquordauerableitung Systeme mit integrierter Druckmessung verwendet, die Messwerte werden auf dem Monitor angezeigt.

Nachsorge ▶ Kind. Das Kind wird sofort nach Entfernen der Punktionsnadel hingelegt, um Liquoraustritt ins Gewebe zu verhindern. Anschließend wird es ins Zimmer gefahren oder getragen. Es wird eine 2–4-stündige Bettruhe empfohlen bzw. ist der Klinikstandard einzuhalten. Ob eine längere Bettruhe als Prophylaxe gegen Kopfschmerzen hilft, ist nicht erwiesen. Sollten jedoch Kopfschmerzen und Schwindel auftreten, hilft es meist, wenn sich das Kind flach hinlegt. Die Nachbildung des Liquors kann durch reichliche Flüssigkeitszufuhr unterstützt werden. ▶ Material. Die Liquorröhrchen werden mit einem entsprechenden Etikett versehen und sofort ins Labor geschickt. Bleibt der Liquor lange liegen, kommt es zum Zellzerfall, der die Laborergebnisse

verfälschen kann. In manchen Kliniken wird die Zellzahl im Liquor direkt vom Arzt mikroskopisch bestimmt. Das Einmalmaterial wird entsorgt, die Punktionskanüle kommt in den Abwurfbehälter. ▶ Komplikationen. Durch das gesetzte Gewebetrauma kann noch einige Tage Liquor verloren gehen und der daraus folgende Unterdruck im intrakraniellen System kann zu einem Postpunktionssyndrom mit Kopfschmerzen, Rückenschmerzen und Erbrechen führen; mindern kann man diese Komplikation, indem eine Punktionsnadel mit geringem Durchmesser oder eine atraumatische Sprotte-Nadel mit konisch-runder Spitze verwendet wird. Weitere mögliche Komplikationen sind: ● Infektion ● Einklemmung des Hirnstamms ● Paraplegie durch Fehlpunktion Nach einer Ventrikelpunktion besteht außerdem noch die Gefahr von intrazerebralen und ventrikulären Blutungen, daher ist auf die Beobachtung der Bewusstseins-

41.4 Punktionen und Biopsien: Pflegerische Aufgaben lage und neurologischer Parameter besonderer Wert zu legen.

Knochenmarkpunktion Definition

L ●

Eine Knochenmarkpunktion ist die Punktion der Markräume platter Knochen zur Entnahme von Knochenmark.

Indikation Die Entnahme von Knochenmark erfolgt zur Diagnostik und zur Therapie. ▶ Diagnostik. Histologische und zytologische Untersuchungen zur Diagnostik von Erkrankungen des blutbildenden Knochenmarks. ▶ Therapie. Zur Knochenmarkspende z. B. bei onkologischen Erkrankungen, sowie zur intraossären Infusionstherapie (S. 864) im Notfall.

Vorbereitung ▶ Kind. Der Eingriff ist meist geplant und erfolgt unter Kurznarkose. ▶ Material. An Material wird benötigt: ● Knochenmarkpunktions- oder Biopsienadel mit Mandrin und Arretierungsplatte in der passenden Größe (▶ Abb. 41.14) ● 20-ml-Spritze ● mehrere heparinisierte 5-ml-Spritzen ● sterile Nierenschale ● Uhrglasschälchen ● ca. 20 beschriftete und entfettete Objektträger (mit Name, Geburtsdatum, Tag der Entnahme) ● geschliffener Objektträger zum Ausstreichen des Knochenmarkblutes ● sterile Kompressen, Pflasterverband ● elastische Binde ● Sandsack ● Versandmaterial

Durchführung ▶ Punktionsstellen. Bevorzugte Stellen für die Knochenmarkpunktion sind der vordere und hintere Beckenkamm. Bei Säuglingen kann auch die Tibia punktiert werden. ▶ Positionierung. Das Kind wird je nach Punktionsstelle positioniert: ● Punktion des vorderen Beckenkamms: Bei der Punktion in Rückenlage werden die Arme auf dem Bauch verschränkt und ein Polster unter das Gesäß geschoben (▶ Abb. 41.15). In Seitenlage werden die Beine angewinkelt und der Kopf durch ein kleines Kissen oder einen Sandsack unterstützt. ● Punktion des hinteren Beckenkamms: Die Punktion kann in Bauchlage erfolgen; dabei wird ein Polster, z. B. ein Kissen, unter Bauch und Becken gelegt (▶ Abb. 41.16a). Wird die Punktion in Seitenlage durchgeführt, gilt das Gleiche wie bei der Punktion des vorderen Beckenkamms (▶ Abb. 41.16b). ● Tibiapunktion: Das Kind liegt auf dem Rücken, der Unterschenkel wird mit einem kleinen Sandsack oder Molton unterpolstert. ▶ Assistenz. Die Pflegefachkraft beachtet Folgendes: ● Für einen eventuellen Hautschnitt wird ein Skalpell angereicht. Der Arzt führt die Punktionsnadel ein und entfernt den Mandrin. ● Mit der 20-ml-Spritze wird Knochenmarkblut aspiriert. Dieses wird auf das Uhrglasschälchen gegeben und danach auf die Objektträger ausgestrichen. ● Für weitere Diagnostik werden die heparinisierten 5-ml-Spritzen mit Kno-



Nachsorge ▶ Kind. Die Punktionsstelle wird 2 Stunden mit einem Sandsack beschwert. Das Kind hat 4 Stunden bzw. bis zum Nachlassen der Sedierung Bettruhe. Der Verband ist alle 2 Stunden, ggf. nach ärztlicher Anordnung häufiger, auf Nachblutungen zu kontrollieren. Außerdem ist das Kind auf verstärkte Schmerzen an der Punktionsstelle zu beobachten bzw. zu befragen. ▶ Komplikationen. An Komplikationen können auftreten: ● Hämatom und Nachblutungen ● Schmerzen ● Osteomyelitis

Gelenkspaltenpunktion Definition

L ●

Eine Gelenkspaltenpunktion ist die Punktion eines Gelenkspalts mittels Hohlnadel. Es wird Synovialsekret (Gelenkflüssigkeit) gewonnen.

Indikation Die Gelenkspaltenpunktion erfolgt zur Diagnostik und zur Therapie.

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a

Abb. 41.14 Knochenmarkpunktionsnadel. (Foto: P. Jech)



chenmarkblut gefüllt und das Material durch Schwenken gut vermischt. Der Mandrin wird wieder eingesetzt und die Punktionsnadel entfernt. Die Punktionsstelle wird mit einer sterilen Kompresse abgedeckt und ein Druckverband angelegt.

b

Abb. 41.15 Punktion des vorderen Beckenkamms. a Säugling in Rückenlage, b älteres Kind in Rückenlage.

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Blutentnahmen, Punktionen, Biopsien

a

b

Abb. 41.16 Punktion des hinteren Beckenkamms. a Älteres Kind in Bauchlage, b Säugling in Seitenlage.

e Ellbogengelenk

a Schultergelenk von hinten und Seite

b Schultergelenk von vorn

c Kniegelenk von vorn

d Hüftgelenk von vorn und von der Seite

f Sprunggelenk

Abb. 41.17 Gelenkspaltenpunktion.

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▶ Diagnostik. Bei unklaren Gelenkergüssen werden zur Diagnostik serologische, bakteriologische und histologische Untersuchungen durchgeführt. Physiologisch ist Synovialsekret klar, schleimhaltig und fadenziehend. Bei pathologischen Ergüssen kann es verändert sein: ● serös: bei Knorpelschäden (Arthrose), rheumatoiden Erkrankungen, Traumata ● eitrig: bei Infektion, z. B. Osteomyelitis ● blutig: nach Trauma, Hämophilie ▶ Therapie. Der Gelenkspalt kann zur Entlastung punktiert werden, um Flüssigkeitsansammlungen abzuziehen (Entlastungspunktion).

Vorbereitung ▶ Kind. Die Vorbereitung erfolgt entsprechend den allgemeinen Maßnahmen. Zusätzlich muss der Gelenkumfang vor der Punktion gemessen und evtl. das Punktionsgebiet rasiert werden.

788

▶ Material. Zusätzlich zum allgemeinen Material wird Folgendes benötigt: ● Blutkulturflaschen (aerob und anaerob) ● mehrere 10-ml-Spritzen ● sterile 1er-Kanüle

Durchführung ▶ Punktionsstelle. Die Gelenkspaltenpunktion erfolgt je nach betroffenem Gelenk (▶ Abb. 41.17), z. B.: ● Schultergelenk, Einstich von hinten und der Seite, Einstich von vorne ● Kniegelenk ● Hüftgelenk, Einstich von vorn und der Seite ● Ellenbogengelenk ● Sprunggelenk ▶ Positionierung. Die Positionierung erfolgt je nach erkranktem Gelenk. Es wird dabei leicht angewinkelt und mit Hilfsmitteln, z. B. einem Sandsack oder einer Stoffwindel, unterlagert.

▶ Assistenz. Die Punktionsstelle wird mit einem sterilen Lochtuch abgedeckt. Der Arzt punktiert den Gelenkspalt und zieht die Flüssigkeit mit den 10-ml-Spritzen ab. Das Material wird sofort in die Blutkulturflaschen gegeben. Anschließend wird die Wunde mit sterilen Kompressen versorgt und ein Druckverband wird angelegt. Die Menge des Punktats wird festgestellt und dokumentiert. Das restliche Material wird in die Laborröhrchen verteilt.

Nachsorge ▶ Kind. Das punktierte Gelenk sollte 24 Stunden lang ruhiggestellt werden, es ist evtl. hochzulagern und nicht zu belasten. Außer den üblichen Überwachungsmaßnahmen ist der Gelenkumfang zu messen. Die Messstellen werden markiert, um zu gewährleisten, dass immer an derselben Stelle gemessen wird. Nach Anlegen des Druckverbandes ist die Durchblutung der jeweiligen Extremität durch Prüfen der Hauttemperatur, ggf. der peripheren Pulse, zu kontrollieren.

41.4 Punktionen und Biopsien: Pflegerische Aufgaben ▶ Komplikationen. An Komplikationen können auftreten: ● Infektionsgefahr ● Nachblutung durch Verletzung eines Blutgefäßes ● erneute Schwellung

Aszitespunktion Definition

● L

Eine Aszitespunktion ist die künstliche Entleerung von Flüssigkeit aus dem Peritonealraum durch einen unter aseptischen Bedingungen eingeführten Trokar (Punktionsinstrument).

Indikation Die Aszitespunktion wird hauptsächlich zur Diagnostik durchgeführt. Das Punktionsmaterial wird bakteriologisch, zytologisch und auf seinen Eiweißgehalt hin untersucht. Therapeutisch erfolgt sie zur Entleerung und Entlastung bei respiratorischen Problemen. Dies ist jedoch selten, da der Eingriff sehr kreislaufbelastend ist und die Verwendung von Diuretika zur Ausschwemmung meist ausreicht.

Vorbereitung ▶ Kind. Zusätzlich zur allgemeinen Vorbereitung ist auf die Blasenentleerung zu achten. Der Bauchumfang wird vor der Punktion gemessen und markiert. ▶ Material. Speziell für die Aszitespunktion wird zusätzlich folgendes Material benötigt: ● Skalpell ● Punktionskanüle (z. B. Abbocath 14 – 19 G) mit Verbindungsschlauch, 20-mlSpritze und evtl. Auffangbeutel ● Messzylinder, Urometer zur Ermittlung des spezifischen Gewichts und sterile Röhrchen ● Kocherklemme

Durchführung

▶ Assistenz. Der Arzt führt die Punktion durch, entfernt den Mandrin, schließt den Verbindungsschlauch an und leitet die Flüssigkeit in die sterilen Röhrchen bzw. in den Messbehälter. Während der Punktion wird das Kind evtl. nach ärztlicher Anordnung in eine andere Position gebracht. Der Erguss wird abgeleitet bzw. langsam abgezogen und die Punktionsnadel entfernt. Soll die Punktion zur Entlastung erfolgen, richtet sich die Menge der abpunktierten Flüssigkeit nach dem Zustand des Kindes. Bei Blutdruckinstabilität wird die abgeleitete Flüssigkeit z. B. durch Humanalbumin 5 % auf ärztliche Anordnung intravenös ersetzt. Die Pflegefachkraft dokumentiert Menge und Aussehen des Punktats und ermittelt das spezifische Gewicht zur Unterscheidung von Exsudat und Transsudat. Die Punktionsstelle wird mit sterilen Kompressen abgedeckt und verbunden. Außerdem wird ein Kompressionsverband angelegt und evtl. mit einem Sandsack beschwert.

Nachsorge ▶ Kind. Das Kind sollte nach dem Eingriff in Rücken- oder Seitenlage liegen. Die Vitalzeichen (Puls, Blutdruck, Atmung) sind engmaschig halbstündlich bis stündlich zu kontrollieren, es empfiehlt sich ein Überwachungsmonitor. Die Flüssigkeitsein- und -ausfuhr werden sorgfältig bilanziert. Mindestens einmal täglich wird der Bauchumfang gemessen. Der Verband wird auf nachlaufenden Aszites und Nachblutungen hin beobachtet. Verbandwechsel erfolgen nach Klinikstandards.

Definition

L ●

Eine Perikardpunktion ist die Punktion eines Ergusses im Herzbeutel.

Die Kinder sind i. d. R. sehr krank, sodass sie auf der Intensivstation betreut werden. Der Eingriff wird unter Defibrillations- und Intubationsbereitschaft durchgeführt. Notfallmedikamente sind bereitzuhalten (S. 864).

Indikation ▶ Diagnostik. Gewinnung von Punktat für zytologische und mikrobiologische Untersuchungen. ▶ Therapie. Zur Entlastung einer Kompression des Herzens z. B. bei Perikarderguss (▶ Abb. 41.19), Pneumoperikard.

Vorbereitung ▶ Kind. Zu beachten ist: ● Vor dem Eingriff erfolgt generell eine Echokardiografie. ● Medikamente zur Analgosedierung und Lokalanästhesie sind lt. ärztlicher Anordnung vorzubereiten. ● Das Kind ist an einen Überwachungsmonitor angeschlossen, der Systolenton wird laut gestellt. ● Der Blutdruck wird engmaschig kontrolliert, ggf. erfolgt eine invasive Blutdrucküberwachung.

▶ Komplikationen. An Komplikationen können auftreten: ● Verletzung innerer Organe oder Blutgefäße ● Peritonitis ● Kreislaufkollaps ● Elektrolyt- und Eiweißverluste

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Inzisionsstellen

▶ Punktionsstelle. Die Punktionsstelle wird sonografisch ermittelt. Der Arzt ertastet Leber und Milz und zeichnet diese ein. Die Punktion erfolgt meist im linken Unterbauch, am Übergang vom äußeren zum mittleren Drittel, auf der Linie Nabel/ vorderer Darmbeinstachel (▶ Abb. 41.18). ▶ Positionierung. Das Kind liegt auf dem Rücken, der Oberkörper liegt zur Entspannung der Bauchdecke in leichter Oberkörperhochlage. Die Arme liegen über dem Kopf und werden von einer Pflegefachkraft fixiert.

Perikardpunktion

Abb. 41.18 Aszitespunktion. Lage der Punktionsstellen.

Abb. 41.19 Röntgen-Thorax bei großem Perikarderguss. Typische „Bocksbeutel“Form der Herzsilhouette mit ausgeprägter Verbreiterung des Herzschattens nach links und rechts (Pfeil). (Abb. aus: Röntgen des Thorax. In: Greten H, Rinninger F, Greten T, Hrsg. Innere Medizin. 13. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2010)

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Blutentnahmen, Punktionen, Biopsien ▶ Material. Zusätzlich zu dem üblichen Material ist bereitzustellen: ● Ultraschallgerät ● Punktionskanüle (18 G oder 20 G), evtl. mit Ablaufschlauch ● 5-ml- und 10-ml-Spritzen, Dreiwegehahn ● Intubationsbesteck, Notfallmedikamente, Defibrillator ● Volumenersatz, z. B. Humanalbumin 5 %, NaCl 0,9 %

Durchführung ▶ Punktionsstelle. Die Punktion erfolgt meist infrasternal links im 30°-Winkel Richtung linke Schulter und seltener parasternal in Höhe des 4.– 5. Intercostalraums li. (▶ Abb. 41.20). ▶ Positionierung. Das Kind liegt mit leicht erhöhtem Oberkörper auf dem Rücken. Die Arme werden rechts und links neben dem Kopf gehalten. Das Kind muss sehr gut fixiert werden. ▶ Assistenz. Nach dem Einführen der Punktionskanüle durch den Arzt wird das Punktat langsam mit den Spritzen abgezogen. Während des Eingriffs erfolgt eine ständige Kontrolle von EKG, Sauerstoffsättigung und Blutdruck. Die Kanüle wird unter einem sterilen Tupfer entfernt und ein Verband angelegt. Bei Bedarf wird ein Pigtailkatheter eingelegt und mit einer Naht fixiert. Der Katheter wird entweder abgestöpselt oder ohne Sog abgeleitet. Menge und Aussehen des Punktats werden dokumentiert.

Nachsorge

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▶ Kind. Das Kind hat absolute Bettruhe mit leicht erhöhtem Oberkörper. Es ist weiterhin an einen Überwachungsmonitor angeschlossen, der folgende Vitalzeichen erfasst: EKG, Blutdruck (peripher oder invasiv), Atmung, Sauerstoffsättigung; außerdem wird der Allgemein-

zustand beobachtet. Es erfolgt eine genaue Flüssigkeitsbilanzierung. Nach dem Eingriff erfolgt ein Thorax-Röntgen zum Ausschluss eines Pneumothorax.

Therapeutisch können außerdem Medikamente in den Pleuraspalt instilliert werden, z. B. lokale Chemotherapeutika oder Antibiotika.

▶ Komplikationen. An Komplikationen können auftreten: ● Herzrhythmusstörungen, z. B. Extrasystolen ● Herz-Kreislauf-Versagen durch zu schnelles Ablassen des Ergusses ● Verletzung von Koronargefäßen ● Perforation des Ventrikels ● Pneumothorax ● Infektion ● versehentliche Leberpunktion

Vorbereitung

Pleurapunktion Definition

Die Pleurapunktion ist die Punktion der Pleurahöhle. Die Pleurahöhle wird von dem viszeralen und parietalen Pleurablatt gebildet. Zwischen den Pleurablättern befindet sich der Pleuraspalt. Durch einen dünnen Flüssigkeitsfilm haften die Pleurablätter aneinander, dadurch herrscht ein leichter Unterdruck von ca. 4 cm H2O.

infrasternal

Abb. 41.20 Perikardpunktion. Punktionsstellen.

790

▶ Material. Zusätzlich zum allgemeinen Material wird Folgendes gerichtet: ● Skalpell ● Pleurapunktionskanüle (Braunüle 16 – 20 G oder 1er-Kanüle beim Säugling) zur Einmalpunktion, Dreiwegehahn, Verbindungsschlauch ● Trokar, Pleurakatheter oder Pigtail-Katheter (▶ Abb. 41.21), wenn eine Pleuradrainage angeschlossen werden soll (▶ Abb. 41.22) ● 10-ml- und 20-ml-Spritzen ● evtl. Medikamente zur Instillation und Material zum Aufziehen derselben ● Monitoring (Puls, Blutdruck, Sauerstoffsättigung) ● Notfallmedikamente ● vorbereiteter Sauerstoffanschluss

Indikation Eine Pleurapunktion wird zur Diagnostik und Therapie durchgeführt. ▶ Diagnostik. Das Punktat wird im Labor zytologisch und mikrobiologisch untersucht. ▶ Therapie. Eine Pleurapunktion kann zum Abziehen bzw. Ableiten von Eiter bei entzündlichen Prozessen, Flüssigkeiten nach Operationen im Thoraxbereich, wie Wundsekret, Blut, Lymphe, oder von Luft bei einem Pneumothorax durchgeführt werden.

Definition

parasternal

L ●

▶ Kind. Das Kind sollte nach Möglichkeit nüchtern sein, meist erfolgt der Eingriff jedoch ungeplant. Eventuell werden nach ärztlicher Anordnung Medikamente zur Analgosedierung und Hustenstillung verabreicht.

L ●

Abb. 41.21 Pigtail-Katheter. (Abb. aus: Gottschalk U, Dietrich C. Direktpunktion. In: Dietrich C, Nürnberg D, Hrsg. Interventioneller Ultraschall. 1. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2011)

Bei einem Pneumothorax ist aufgrund einer Verletzung der Pleura, z. B. durch Trauma, Operation, Infektion oder Beatmung, Luft in den Pleuraspalt gelangt. Ein Pneumothorax kann aber auch spontan auftreten. Eine Entfaltung der betroffenen Lungenseite ist nicht mehr gewährleistet und die Atmung entsprechend eingeschränkt. Die Punktion kann einmalig erfolgen oder es wird eine Pleuradrainage (s. u.) mit kontinuierlichem Sog angeschlossen.

Abb. 41.22 Pleuracath. Pleurapunktionskanülen zur Pleuradrainage bzw. Einmalpunktion. (Foto. T. Stephan, Thieme)

41.4 Punktionen und Biopsien: Pflegerische Aufgaben

mechanischer Sogregler Ventil mit Filter zum manuellen Druckausgleich

Anschluss für Saugsystem

Flasche mit Messstab zur Sogregulierung

Lunge Pneumothorax SekretAuffangflasche

Sog

Manometer

Sekretsammelrohr

Wasserschloss

Bülau-Drainage

Wasserschloss

Abb. 41.24 Mehrkammersystem einer Pleuradrainage. Patientenanschluss

Abb. 41.23 Einmalpleuradrainagesystem. (Foto: K. Gampper, Thieme)

Soll eine Pleuradrainage durchgeführt werden, werden zusätzlich noch eine Absaugpumpe, ein Einmalpleuradrainagesystem (▶ Abb. 41.23), gefüllt nach Gebrauchsanweisung, bzw. ein Dreiflaschensystem (▶ Abb. 41.24) benötigt. Außerdem ggf. Nahtmaterial, Nadelhalter und Schere, um den Pleurakatheter zu fixieren. Manchmal erfolgt die Fixierung auch nur mit Pflasterzügen.

entfernt. Danach wird mit den Spritzen der Erguss abgezogen. Dabei ist zu beachten, dass beim Wechseln der Spritzen ein Eindringen von Luft in den Pleuraspalt durch Verschließen des Dreiwegehahns oder Abklemmen des Trokars verhindert wird. Das Punktat wird abgezogen und die Laborröhrchen gefüllt. Menge und Aussehen des Punktats werden dokumentiert. Soll die Punktionskanüle entfernt werden, wird die Einstichstelle sofort mit einem sterilen Tupfer abgedeckt und mit einem luftdichten Dachziegelverband oder luftdichten Folienverband über dem abdeckenden Tupfer versorgt.

Durchführung ▶ Punktionsstelle. Die Punktionsstelle befindet sich zwischen dem 5. und 6. Interkostalraum der hinteren Axillarlinie, bzw. der tiefsten Stelle des Ergusses nach Röntgenkontrolle. Bei Frühgeborenen kann im Notfall auch mit der Taschenlampe durchleuchtet werden. Beim Pneumothorax erfolgt der Einstich i. d. R. im 2. Interkostalraum der Medioklavikularlinie oder zwischen dem 4. und 5. Interkostalraum der vorderen Axillarlinie. ▶ Positionierung. Die Punktion erfolgt meist, aufgrund des Zustandes des Kindes, im Liegen. Das Kind liegt auf dem Rücken mit evtl. erhöhtem Oberkörper zur Atemerleichterung. Der Arm der erkrankten Seite umfasst den Kopf, um eine Dehnung der Interkostalräume zu erreichen. Eine Pflegefachkraft hält Arm und Oberkörper, während eine zweite Pflegefachkraft Becken und Beine festhält. ▶ Assistenz. Bei größeren Kindern, wird abhängig von der gewählten Art des Pleurakatheters evtl. ein Hautschnitt mit dem Skalpell durchgeführt. Die Pleurapunktionskanüle wird eingeführt, der Mandrin

Nachsorge ▶ Kind. Das Kind wird, falls keine Drainage angeschlossen ist, nach der Punktion zur Unterstützung der Kompression auf die punktierte Seite gelegt. Der Oberkörper wird zur Atemerleichterung etwas erhöht positioniert. Es wird eine engmaschige Kontrolle von Puls, Atmung, Körpertemperatur und Allgemeinzustand durchgeführt. Kontinuierliche Überwachung von Herzfrequenz und SaO2 (Sauerstoffsättigung) ist zu empfehlen. ▶ Komplikationen. An Komplikationen können auftreten: ● Pneumo- oder Hämatothorax ● Kollapsgefahr bei Entlastungspunktion, wenn eine zu rasche Entleerung erfolgt ● Infektion

Umgang mit Pleuradrainagen Bei der Pleuradrainage verbleibt ein Schlauch nach der Punktion in der Pleurahöhle. Unter kontinuierlichem Sog wird Luft oder Sekret in ein Sammelgefäß abgeleitet. Die Drainage erfolgt meistens über ein Dreikammersystem, bestehend aus

Sammelbehälter, Wasserschloss und Sogkontrollkammer. Das System ist als Einweg- oder 3-Flaschen-Mehrwegsystem verfügbar. Der Sog wird mit einer elektrischen Saugpumpe oder mit Vakuum- oder Druckluftanschluss erzeugt. Einwegsysteme werden entsprechend den Herstellerangaben mit Wasser befüllt und verwendet. Kinder mit liegender Pleuradrainage werden häufig auf der Kinderintensivstation betreut. Bei der Pflege sind folgende Besonderheiten zu beachten: ● Die kontinuierliche Überwachung der Vitalparameter Atmung, Herzfrequenz, SaO2, RR erfolgt über Monitoring. ● Zusätzlich erfolgt eine regelmäßige Auskultation der Lunge, um die gleichmäßige Belüftung zu überprüfen. ● Der Drainageschlauch ist entweder mit Steristrips fixiert oder angenäht und zunächst mit sterilen Kompressen abgedeckt. Um eine Dislokation und damit unzureichende Drainageförderung, Schmerzen oder Lufteintritt zu vermeiden, wird der Schlauch zusätzlich mit Pflasterstegen fixiert. ● Bei unauffälligen Wundverhältnissen kann die Eintrittsstelle zur besseren Beobachtung mit einem durchsichtigen Pflasterverband geschützt werden. ● Die Positionierung erfolgt zur Atemerleichterung mit leicht erhöhtem Oberkörper bzw. so, dass eine gute Drainageleistung gewährleistet ist. ● Besonders wichtig ist eine regelmäßige Kontrolle der Sogleistung, da sie sich insbesondere durch Wechsel der Körperhaltung ändern kann. Bei Sogveränderungen ist eine Nachregulierung entsprechend der ärztlichen Anordnung erforderlich. ● Der Drainageschlauch muss knickfrei verlaufen, sodass das Sekret kontinuierlich gefördert werden kann. Ist der

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1

Blutentnahmen, Punktionen, Biopsien







Schlauch durch Koagel verstopft, kann man versuchen mithilfe einer Rollklemme den Fluss wieder zu aktivieren. Die Beschaffenheit des Sekrets wird beurteilt (eitrig, blutig, serös) und die Menge dokumentiert und bilanziert. Am Wasserschloss kann man am „Blubbern“ erkennen, ob noch Luft gefördert wird. Bei beatmeten Kindern darf eine Pleuradrainage, die noch Luft fördert, nicht abgeklemmt werden, da sonst ein Spannungspneumothorax entstehen kann. Einmalabsaugsysteme können den Sog vorübergehend auch ohne Vakuumanschluss halten. Der Transport beatmeter Kinder wird dadurch erleichtert. Manipulationen und Bewegungen an der Thoraxdrainage sind sehr schmerzhaft, deshalb ist auf ausreichende Analgesierung lt. ärztlicher Anordnung zu achten. Mobilisation und Positionswechsel müssen sehr behutsam vorgenommen werden. Günstig ist es, wenn eine zweite Pflegefachkraft oder das Kind selbst die Pleuradrainage dabei halten kann. Wenn Luft und Sekret nicht mehr gefördert werden, wird die Drainage nach ärztlicher Anordnung abgeklemmt. Meist erfolgt nach 24 Stunden eine Röntgenkontrolle. Bei positivem Verlauf wird die Drainage vom Arzt gezogen. Die Eintrittsstelle wird luftdicht mit einem Dachziegelverband abgedeckt. Die Vitalzeichen und besonders die Atmung des Kindes werden weiter engmaschig beobachtet.

Leberbiopsie Definition

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L ●

Eine Leberbiopsie ist die Entnahme eines Lebergewebszylinders mit einer speziellen Punktionskanüle.

Sie kann gezielt durch Laparoskopie unter sterilen Bedingungen im OP erfolgen (perkutane Entnahme, Leberblindpunktion). Meistens erfolgt die Leberbiopsie jedoch unter Sicht durch Ultraschall.

Vorbereitung ▶ Kind. Das Kind ist für den Eingriff mindestens 6 Stunden nüchtern zu lassen. Da bei chronischen Lebererkrankungen häufig Gerinnungsstörungen vorliegen, ist vor der Leberbiopsie eine Kontrolle der Blutwerte (Blutbild, Gerinnungsstatus, Blutgruppenbestimmung) besonders wichtig. Für eine mögliche Nachblutung sollten entsprechend Blutkonserven bereitliegen. Bereits vor dem Eingriff sind Puls und Blutdruck zu messen, um Vergleichswerte zu haben. ▶ Material. Außer dem allgemeinen Material ist Folgendes zu richten: ● Skalpell ● Biopsienadel (Menghini-Nadel) ● 10-ml-Spritze ● NaCl 0,9 % ● Uhrglasschälchen ● Pinzette (anatomisch) ● Nahtmaterial, Nadelhalter, Schere ● Laborröhrchen mit Formalin 10 % zum Verschicken des Punktats

Durchführung ▶ Punktionsstelle. Die Punktionsstelle befindet sich auf der vorderen Axillarlinie auf Höhe des 9. bzw. 10. Interkostalraums (▶ Abb. 41.25). ▶ Positionierung. Das Kind liegt in Rückenlage, die rechte Flanke wird mit einem kleinen Kissen oder Sandsack etwas unterpolstert. Der Rumpf und der Kopf sind nach links geneigt. Die Arme werden über dem Kopf gehalten. Becken und Beine müssen ebenfalls fixiert werden. Der Eingriff kann auch in linker Seitenlage erfolgen. ▶ Assistenz. In eine 10-ml-Spritze werden 3 ml NaCl 0,9 % aufgezogen und diese dann steril abgelegt. Mit dem Skalpell führt der Arzt zunächst einen Hautschnitt durch, dann erfolgt die eigentliche Punktion mit der Menghini-Nadel. Nach dem Einstich wird die Spritze aufgesetzt und

Indikation

▶ Kind. Das Kind sollte nach der Punktion für 2 Stunden auf der rechten Seite liegen, zur besseren Kompression auf einem Sandsack. Nach der Leberbiopsie sind eine Bettruhe von 24 Stunden und eine Nahrungskarenz von 6 Stunden einzuhalten. Außerdem erfolgt eine engmaschige Kontrolle (alle 15 – 30 Minuten) von Puls, Atmung, Blutdruck, Schmerzen und Kontrolle des Verbandes auf Nachblutungen. Auf ärztliche Anordnung ist eine Blutbildkontrolle vorzubereiten. ▶ Material. Der Gewebezylinder wird mit dem Rest NaCl 0,9 % auf das Uhrglasschälchen gespült, evtl. mit Pinzette und Skalpell noch einmal geteilt und im Laborröhrchen verschickt. Unterschiedliche Verfahrensweisen sind je nach Diagnostik möglich. ▶ Komplikationen. An Komplikationen können auftreten: ● Nachblutungen (intraperitoneal) ● Kreislaufversagen ● Pneumothorax ● gallige Peritonitis durch versehentliches Anstechen eines Gallengangs ● starke Schmerzen ● sekundäre Leberentzündung

Nierenbiopsie Definition

L ●

Eine Nierenbiopsie ist die Punktion der Niere, um Nierenparenchym zu gewinnen.

Indikation

Kontraindikationen

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Nachsorge

Sie kann perkutan unter Ultraschall- oder Röntgenkontrolle oder als offene Nierenbiopsie im OP durchgeführt werden. Der Eingriff erfolgt unter Kurznarkose.

Die Leberbiopsie erfolgt ausschließlich zur Diagnostik bei Lebererkrankungen, z. B. chronische Hepatitis, Leberzirrhose und Stoffwechselstörungen.

Kontraindikationen für eine Leberbiopsie sind u. a. erhöhte Blutungsneigung, Leberabszess, Hämangiome der Leber, Echinokokkuszyste.

die Punktionsnadel mit NaCl 0,9 % durchgespült. Mit Anziehen des Spritzenstempels wird ein Sog erzeugt und damit ein Gewebezylinder aspiriert. Ist das Kind schon etwas älter und bei Bewusstsein, wird es aufgefordert, während des nur kurz andauernden Eingriffs die Luft anzuhalten. Nach Entfernen der Punktionsnadel wird die Einstichstelle mit sterilen Kompressen abgedeckt und ein Druckverband angelegt.

Abb. 41.25 Leberbiopsie. Die Punkte zeigen mögliche Punktionsstellen an.

Eine Nierenbiopsie wird zur Diagnostik bei angeborenen oder erworbenen Erkrankungen der Niere mit eingeschränkter Nierenfunktion (z. B. nephrotisches Syndrom, Glomerulonephritis) durch-

41.4 Punktionen und Biopsien: Pflegerische Aufgaben geführt. Die Gewebeproben werden mikroskopisch untersucht.

Kontraindikationen Eine Nierenbiopsie darf nicht durchgeführt werden, wenn Gerinnungsstörungen vorliegen oder nur eine Niere vorhanden bzw. funktionstüchtig ist.

Vorbereitung ▶ Kind. Vor der Nierenbiopsie werden meist ein Ultraschall, eine Nierenszintigrafie (S. 858) und ein i. v. Pyelogramm durchgeführt. Außerdem ist eine Kontrolle der Blutwerte (Gerinnung, Blutbild, Blutgruppenbestimmung und Kreuzprobe) notwendig. Blutkonserven sollten für den Bedarfsfall bereitliegen. Da der Eingriff meistens geplant durchgeführt wird, sollte das Kind vorher nach Möglichkeit 6 Stunden nüchtern bleiben. ▶ Material. Für die Nierenbiopsie wird außer dem allgemeinen Material Folgendes benötigt: ● Ultraschallgerät ● Biopsienadel (Menghini-Nadel) ● Skalpell ● Nahtmaterial, Nadelhalter, anatomische Pinzette, Schere ● 10-ml-Spritze mit NaCl 0,9 % ● Klammerpflaster oder Nahtmaterial, Pflaster, elastische Binde

Durchführung ▶ Punktionsstelle. Die Punktionsstelle befindet sich am lateralen unteren Nierenpol. Sie wird anhand einer Röntgenkontrolle festgestellt und auf dem Rücken des Kindes markiert. ▶ Positionierung. Das Kind wird in Bauchlage punktiert. Unter dem Bauch liegt ein hartes Polster oder ein Sandsack. Die Arme befinden sich seitlich vom Kopf oder nach unten gestreckt und werden von einer Pflegefachkraft festgehalten. ▶ Assistenz. Durchführung und Assistenz der Nierenbiopsie entsprechen der Leberbiopsie (S. 792).

wichtig ist die Kontrolle der Urinausscheidung, dabei ist auf Blutbeimengungen zu achten. Nach ärztlicher Anordnung erfolgen Urinanalysen und Blutbildkontrollen. ▶ Komplikationen. An können auftreten: ● Blutungen ● Kreislaufkollaps ● Nierenschmerzen ● Infektionen

Muskelbiopsie Definition

Komplikationen

Nachsorge

L ●

Bei der Muskelbiopsie werden mehrere Muskelgewebezylinder mittels Menghini-Nadel entnommen.

Indikation Die Muskelbiopsie erfolgt zur histologischen und histochemischen Diagnostik bei neuromuskulären Erkrankungen, z. B. spinale Muskelatrophie, Muskeldystrophie.

Vorbereitung ▶ Kind. Vor der Muskelbiopsie wird die Gerinnung kontrolliert. Der Eingriff erfolgt in Kurznarkose. Wenn nötig muss die Punktionsstelle rasiert werden. ▶ Material. Zusätzlich zum allgemeinen Material wird noch Folgendes benötigt: ● Einmalrasierer ● Skalpell ● steriles Muskelbiopsiebesteck mit Menghini-Nadeln verschiedener Größen, anatomischer und chirurgischer Pinzette, kleiner spitzer Schere ● 3 – 4 sterile Laborröhrchen ● Petrischale ● NaCl 0,9 % ● Flüssigstickstoff im Behälter ● Glutaraldehyd 3 % ● Trockeneis im Styroporkarton zum Verschicken ● elastische Binde ● Klammerpflaster oder Nahtmaterial und Nadelhalter, Pflaster

Nachsorge ▶ Kind. Das Kind liegt nach dem Eingriff auf dem Rücken, dadurch wird das Nierenlager entlastet. Zur besseren Kompression wird der Rücken mit einem Sandsack unterpolstert. Nach der Nierenbiopsie sind eine Bettruhe von 24 Stunden und eine Nahrungskarenz von 6 Stunden einzuhalten. Die Vitalzeichen (Blutdruck, Puls, Atmung) werden zunächst engmaschig überwacht. Der Verband wird auf Nachblutungen beobachtet, außerdem erfolgt eine Schmerzkontrolle. Besonders

▶ Assistenz. Die Punktionsstelle wird mit einem sterilen Lochtuch abgedeckt. Mit dem Skalpell führt der Arzt einen kleinen Hautschnitt durch. Dann erfolgt die Punktion mit der Menghini-Nadel und es werden mehrere Gewebeproben entnommen. Anschließend wird der Schnitt vernäht oder mit Klammerpflaster versorgt und ein Druckverband angelegt.

▶ Kind. Das Kind muss nach dem Eingriff eine Bettruhe von 4 Stunden bzw. bis zum Nachlassen der Sedierung einhalten. Bei einem Druckverband ist auf Nachblutungen und eine ausreichende Durchblutung der Extremität (Sensibilität, Temperatur, Hautkolorit) zu achten. Wurde der Musculus quadriceps femoris punktiert, sind die Fußpulse zu kontrollieren. Nach der Biopsie sollte das Kind 2 Tage nicht baden oder duschen, um eine Infektion der Punktionsstelle zu vermeiden. Ist nicht nur die Motorik, sondern auch die Sensibilität des Muskels betroffen, kann die Schmerzwahrnehmung des Kindes gestört sein. In diesem Fall ist besonders auf die Haltung des entsprechenden Körperteils, die Durchblutung und entzündliche Veränderungen zu achten, da das Kind ggf. Veränderungen nicht oder zu spät selbst bemerkt. ▶ Material. Die Gewebeproben werden je nach Untersuchung und Klinikstandard unterschiedlich versorgt, z. B.: in Flüssigstickstoff konserviert (Versand mit Trockeneis), im Laborröhrchen mit Glutaraldehyd 3 % oder mit kochsalzgetränkten Kompressen in einer geschlossenen Petrischale. Die Transportbehältnisse werden vor dem Versand beschriftet. Die Biopsiebestecke werden zum Sterilisieren gegeben. ▶ Komplikationen. An Komplikationen können auftreten: ● Nachblutungen ● Infektion ● Verletzung von Nerven

Hautbiopsie Definition

Durchführung ▶ Punktionsstelle. Muskelgewebe wird hauptsächlich dem Musculus quadriceps femoris am Oberschenkel entnommen oder einem anderen deutlich, aber nicht schwer betroffenen Muskel. ▶ Positionierung. Das Kind wird in Rückenlage oder je nach zu punktierendem Muskel positioniert.

41

L ●

Eine Hautbiopsie ist die Gewinnung von Hautpartikeln durch eine sog. Stanzbiopsie.

Es wird eine möglichst typische Hauteffloreszenz entnommen.

3

Blutentnahmen, Punktionen, Biopsien

Indikation Eine Hautbiopsie wird zur histologischen, histochemischen und mikrobiologischen Diagnostik bei unklaren Hauterkrankungen durchgeführt. Die Entnahme von Hautveränderungen, z. B. Leberflecken mit Malignitätsverdacht, erfolgt möglichst in einem frühen Stadium der Erkrankung. Weiterhin ist eine Hautbiopsie zur Diagnosesicherung bei Erkrankungen des Nervensystems und Autoimmunerkrankungen angezeigt.

Vorbereitung ▶ Kind. Die Vorbereitung des Kindes entspricht der Muskelbiopsie. ▶ Material. Außer dem allgemeinen Material wird Folgendes benötigt: ● Stanzbiopsienadel ● Schere, Pinzette ● Probenbehälter mit Formalin ● bei größeren Hautpartien zusätzlich Skalpell, Nahtmaterial oder Klammerpflaster

Durchführung ▶ Punktionsstelle. Die Punktionsstelle(n) wird (werden) je nach Lokalisation der Erkrankung festgelegt.

nimmt der Arzt mit der Biopsienadel die Gewebeproben. Erfolgt die Entnahme von verschiedenen Stellen, werden diese auf den Probenbehältnissen vermerkt. Nach Entfernen der Nadel wird ein Druckverband angelegt. Bei größeren Eingriffen erfolgt ein Wundverschluss durch Naht oder Klammerpflaster.

Nachsorge ▶ Kind. Bei der Nachsorge ist v. a. auf Nachblutungen zu achten. Wurde ein Druckverband angelegt, ist auf ausreichende Durchblutung des betroffenen Gebietes zu achten. Je nach zugrunde liegender Hautveränderung kann die Wundheilungsfunktion der Haut gestört sein, daher ist die Wundheilung zu beobachten und ggf. auf ärztliche Anordnung mit lokalen Anwendungen zu unterstützen. ▶ Komplikationen. An Komplikationen können auftreten: ● Nachblutungen ● hypertrophe Narbenbildung

41.5 Umgang mit Labormaterial: Theoretische Grundlagen Michael Färber*, Tina Wilhelm

▶ Positionierung. Sie erfolgt nach ärztlicher Anweisung entsprechend der Punktionsstelle. ▶ Assistenz. Es erfolgt eine schonende Hautdesinfektion, um die obere Hornschicht nicht zu zerstören. Dann ent-

Innerhalb einer Kinderklinik hat nahezu jedes Kind im stationären, ambulanten oder tagesklinischen Bereich Kontakt mit labordiagnostischen Untersuchungen. Die zur Eingrenzung und Sicherung der Diagnose notwendigen Maßnahmen werden,

wie alle anderen technischen Untersuchungen, gezielt vom Arzt angeordnet. Damit sollen unnötige Untersuchungen vermieden werden, weil sie z. T. einen hohen Kostenfaktor darstellen und je nach Gewinnung des Probematerials einen schmerzhaften oder unangenehmen Eingriff für das Kind bedeuten. Jede Laboruntersuchung kann einem bestimmten Untersuchungsmedium zugeordnet werden (z. B. Blut, Haut- und Schleimhautabstriche, Stuhl, Urin, Liquor).

41.5.1 Begriffsbestimmungen Untersuchungsmaterial Blut Das am häufigsten untersuchte Material eines Kindes ist das Blut. Zahlreiche Gesundheitsstörungen können die Zusammensetzung des Blutes verändern, z. B.: ● hämatologisch (Blutbild, Blutsenkung) ● klinisch-chemisch (Elektrolyte, Blutgerinnung, Eiweiße, Hormone) ● serologisch-immunologisch (Blutgruppenbestimmung, CRP, Allergiediagnostik, Infektionsnachweis) Besonderheiten der einzelnen Blutproben sowie Normwerte entnehmen Sie bitte der ▶ Tab. 41.2, ▶ Tab. 41.3, ▶ Tab. 41.4, ▶ Tab. 41.5, ▶ Tab. 41.6 und ▶ Tab. 41.7.

Laborwerte im Kindes- und Jugendalter Achtung: Die angegebenen Normwerte können von Labor zu Labor variieren!

Tab. 41.2 Besonderheiten der einzelnen Blutproben.

41

Probe

Vacutainer

Monovette

Besonderheiten bei der Entnahme

Verwendung

EDTA

Zur Blutbildbestimmung im Kindesalter genügen für Frühgeborene, Säuglinge und Kleinkinder 6 – 8 Tropfen Blut innerhalb des dafür vorgesehenen Blutbildröhrchens für Kinder. Bei Schulkindern und Jugendlichen muss die Blutbildmonovette bis zur Markierung mit Blut gefüllt werden. Vorsicht: Blutbildröhrchen dürfen nicht geschüttelt werden, um eine Hämolyse der Erythrozyten zu vermeiden.

Blutbildbestimmung

Serum (ohne Zusatz)

Die Röhrchen müssen zur Durchmischung mit den Kunststoffkügelchen oder dem gerinnungsfördernden Gel kurz geschwenkt, jedoch nicht geschüttelt werden.

zur Serumgewinnung, klinische Chemie, Serologie, Blutgruppenbestimmung

Gerinnungsröhrchen müssen exakt bis zur Markierung gefüllt werden, da ansonsten das Mischungsverhältnis mit Natriumzitrat nicht stimmt. Im Anschluss muss das Röhrchen vorsichtig geschwenkt werden.

Bestimmung Gerinnungsfaktoren

Serum mit Trennhilfe Gerinnung

794

41.5 Umgang mit Labormaterial: Theoretische Grundlagen

Tab. 41.2 Fortsetzung Probe

Besonderheiten bei der Entnahme

Verwendung

Blutzucker

Vacutainer

Monovette

Es muss darauf geachtet werden, dass bei Blutzuckerröhrchen mit Hämolysat die Kapillare vollständig mit Blut gefüllt wird. Im Anschluss daran ist das Röhrchen zu schütteln, sodass sich das Blut mit dem Hämolysat vermischt.

Blutzuckerbestimmung

heparinisierte Blutröhrchen

Fast alle klinisch-chemischen Parameter können aus Heparinplasma bestimmt werden.

zur Plasmagewinnung

Citratröhrchen/Blutsenkung

Bei der Blutentnahme muss das Blutröhrchen bis zur vorgesehenen Markierung gefüllt und im Anschluss leicht geschwenkt werden. Durchführung nach Westergren: Das Blutröhrchen wird mit einem graduierten Steigröhrchen verbunden, in welches das Blut mit drehenden Bewegungen vorsichtig hineingedrückt wird. Nach der 1. und 2. Stunde wird der Abfall der festen Blutbestandteile an der Graduierung abgelesen. Das Ablesen der BSG erfolgt i. d. R. durch das Pflegepersonal, kann jedoch auch ggf. im Labor erfolgen. Bei Durchführung auf Station wird von der Pflegefachkraft im Pflegearbeitsraum ein Dokumentationsblatt mit Patientennamen und Ablesezeit vorbereitet sowie ein Wecker gestellt, um die Ablesezeit genau einzuhalten.

zur Bestimmung der Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit (BSG)

Tab. 41.3 Wichtige Laborwerte bei Kindern: Erythrozyten und Blutsenkungsgeschwindigkeit (nach: Bald et al. 2012) Laborparameter Erythrozyten in Mio./μl

Neugeborene

Säuglinge

1 Tag

1 Monat

6 Monate

1 J.

2–6 J.

7–12 J.

13–17 J.

4,5–6,5

3,9–5,3

3,8–5,0

4,2–5,5

4,3–5,5

4,5–5,5

w: 4,3–5,5 m: 4,8–5,7

41–48

34–39

33–40

34–41

37–43

w: 36–44 m: 39–47

0,3–1,3

0,3–1,3

0,1–1,3

0,1–1,3

w: 0,1–1,5 m: 0,1–1,3

Hämatokrit (Hkt) in %

Kinder > 1 J.

Retikulozyten in % der Erythrozyten

1,5–6,5

0,3–1,3

GesamtHämoglobin in mmol/l (g/dl)

1.–4. Tag: 10,2–13,2 (16.2–21,2) 1.–2. Woche: 9,6–12,2 (15,5–19,6) 3.–4. Woche: 7,8–10,7 (12,6–17,2)

5.–12. Woche: 5,9–7,9 (9,6–12,8) > 12 Wochen: 6,8–8,9 (11,0–14,4)

6,1–8,1 (10,7–13,1)

BSG (BKS, BSR)

nach 1 h: bis 2 mm

nach 1 h: bis 10 mm

nach 1 h: bis 10 mm

Jugendliche

6,8–9,1 (11,9– 14,7)

41

5

Blutentnahmen, Punktionen, Biopsien

Tab. 41.4 Wichtige Laborwerte bei Kindern: Leukozyten und Thrombozyten (aus: Bald et al. 2012) Laborparameter

Säuglinge

Kinder > 1 J.

Erwachsene

Leukozyten gesamt /μl

9000–15 000

8000–12 000

4000–9000

Neutrophile Granulozyten in %

25–65

35–70

55–70

Stabkernige in %

0–10

0–10

3–5

Eosinophile Granulozyten in %

1–7

1–5

2–4

Basophile Granulozyten in %

0–2

0–1

0–1

Lymphozyten in %

20–70

25–50

25–40

Monozyten in %

7–20

1–6

2–6

Thrombozyten /μl

140 000–440 000

140 000–440 000

140 000–440 000

Tab. 41.5 Wichtige Laborparameter bei Kindern: Säure-Basen-Status (arteriell) (aus: Bald et al. 2012) Laborparameter

Neugeborene

Sauglinge

Kinder > 1 J.

pCO2 in kPa (mmHg)

3,7–6,0 (28–45)

3,3–5,3 (25–40)

4,2–6,2 (32–47)

pO2 in kPa (mmHg)

11,3–13,3 (85–100)

11,3–13,3 (85–100)

11,3–13,3 (85–100)

pH

7,29–7,39

7,35–7,45

7,35–7,45

Base Excess (BE) in mmol/l

–10 bis –2

–7 bis –1

–4 bis + 2

Sauerstoffsättigung in %

92–96

92–96

92–96

Standardbikarbonat in mmol/l

21–25

21–25

21–25

Tab. 41.6 Wichtige Laborparameter bei Kindern: Gerinnung (im Plasma) (aus: Bald et al. 2012) Laborparameter

Neugeborene

Sauglinge

Kinder nach dem 1. Lebensjahr 0,8–1,3

Antithrombin III in U/ml

0,4–1,0

0,8–1,3

D-Dimere in μg/l

< 400

< 400

< 400

Fibrinogen in g/l

1,6–4,6

1,6–4,6

1,6–4,6

Partielle Thromboplastinzeit (PTT)

45–70 s

28–45 s

28–40 s

Plasma-Thrombinzeit (PTZ)

17–24 s

17–24 s

17–24 s

Thromboplastinzeit (TPZ; Quick)

> 50 %

70–100 %

70–100 %

Tab. 41.7 Wichtige Laborwerte bei Kindern: Klinische Chemie (nach: Bald et al. 2012)

41

796

Laborparameter

Neugeborene

Sauglinge

Kinder nach dem 1. Lebensjahr

Bilirubin direkt Bilirubin gesamt

3,4 μmol/l (0,2 mg/dl) < 17 μmol/l (< 1 mg/dl)

3,4 μmol/l (0,2 mg/dl) < 17 μmol/l (< 1 mg/dl)

3,4 μmol/l (0,2 mg/dl) < 17 μmol/l (< 1 mg/dl)

Cholesterin gesamt LDL HDL

< 3,6 mmol/l (< 139 mg/dl) 1,1–3,0 mmol/l (45–117 mg/dl) 0,34–1,37 mmol/l (13–53 mg/dl)

< 5,8 mmol/l (< 224 mg/dl) 1,5–5,6 mmol/l (60–217 mg/dl) 0,57–2,3 mmol/l (22–89 mg/dl)

< 5,8 mmol/l (< 224 mg/dl) 1,5–5,6 mmol/l (60–217 mg/dl) 0,57–2,3 mmol/l (22–89 mg/dl)

GOT, AST

< 77 U/l

< 52 U/l

< 43 U/l

GPT, GLT, ALT

< 67 U/l

< 42 U/l

w: < 35 U/l m: < 45 U/l

γ-Glutamyl-Transferase (γ-GT)

< 216 U/l

2.–6. Monat: < 162 U/l 7.–12. Monat: < 76 U/l

< 38 U/l

Kreatinin

< 106 μmol/l (< 1,2 mg/dl)

< 88 μmol/l (< 1,0 mg/dl)

< 88 μmol/l (< 1,0 mg/dl)

Harnsäure

120–350 μmol/l (2–6 mg/dl)

120–350 μmol/l (2–6 mg/dl)

120–350 μmol/l (2–6 mg/dl)

Harnstoff

< 7,1 mmol/l (< 48 mg/dl)

< 7,1 mmol/l (< 48 mg/dl)

< 7,1 mmol/l (< 48 mg/dl)

Natrium

130–145 mmol/l (130–145 mval/l)

130–145 mmol/l (130–145 mval/l)

130–145 mmol/l (130–145 mval/l)

Chlorid

95–110 mmol/l (95–110 mval/l)

95–110 mmol/l (95–110 mval/l)

95–110 mmol/l (95–110 mval/l)

Kalium

3,6–6,0 mmol/l (3,6–6,0 mval/l)

3,7–5,7 mmol/l (3,7—5,7 mval/l)

3,2–5,4 mmol/l (3,2—5,4 mval/l)

Kalzium

1,75–2,7 mmol/l (7,0–10,8 mg/dl)

2,05—2,7 mmol/l (8,2–10,8 mg/dl)

2,05–2,7 mmol/l (8,2–10,8 mg/dl)

Magnesium

0,7–1,5 mmol/l (1,7–3,7 mg/dl)

0,7–1,0 mmol/l (1,7–2,5 mg/dl)

0,5–1,05 mmol/l (1,2–3,2 mg/dl)

Laktat (nüchtern)

0,6–2,4 mmol/l (5,7–22 mg/dl)

0,6–2,4 mmol/l (5,7–22 mg/dl)

0,6–2,4 mmol/l (5,7–22 mg/dl)

Glukose

2,4—3,4 mmol/l (44–62 mg/dl)

2,8–5,6 mmol/l (50–100 mg/dl)

3,3–5,6 mmol/l (60–100 mg/dl)

C-reaktives Protein (CRP)

< 5 mg/l (< 0,5 mg/dl)

< 8 mg/l (< 0,8 mg/dl)

< 8 mg/l (< 0,8 mg/dl)

41.6 Umgang mit Labormaterial: Pflegerische Aufgaben

Blutkultur Definition

L ●

Eine Blutkultur ist eine mikrobiologische Untersuchung zur Keimanzucht aus einer venösen Blutprobe.

Das Anzüchten dieser Keime erfolgt in einer Nährkultur. Das Nährmedium befindet sich in einer dafür vorgesehenen Flasche, der eine Gasmischung zugesetzt ist (anaerobe Flasche enthält mehr Kohlendioxid und aerobe Flasche mehr Sauerstoff). Eine aerobe Blutkultur lässt sich durch eine andersfarbige Verschlusskappe von einer anaeroben unterscheiden (▶ Abb. 41.26). Die Entnahme erfolgt venös vor Beginn der antibiotischen Behandlung. Bei Verdacht einer Infektion eines zentralvenösen Zugangs erfolgt die Blutentnahme ggf. aus dem zentralen Venenkatheter. Die Technik der Blutkulturentnahme ist vom verwendeten System abhängig. Die Herstellerangaben bzgl. Abnahme, Lagerung und benötigter Blutmenge sind zu beachten. Je nach Fabrikat werden aerobe Blutkulturen, nach Einbringen des Blutes, mit Raumluft belüftet. Dies erfolgt produktabhängig entweder direkt beim Ansetzen der Blutkultur oder unter Verwendung eines Bakterienfilters im Labor. Es ist besonders wichtig, eine Kontamination der Blutprobe durch Beachtung der hygienischen Grundprinzipien (S. 434) und einen fachgerechten Umgang mit Labormaterial (S. 794) zu vermeiden und die angelegte Blutkultur schnellstmöglich bei 37 °C im Brutschrank zu lagern. Der zeitnahe Transport der Blutkultur in das Labor erfolgt bei Raumtemperatur. Erste Ergebnisse sind nach 48 Stunden zu erwarten. Laut WHO (Weltgesundheitsorganisation) wird eine 5-tägige Lagerung im Brutschrank empfohlen.

Abb. 41.27 Urinkultur. Der Nährboden wird mit frischem Urin übergossen oder in ein Gefäß mit Urin eingetaucht. (Foto: W. Krüper, Thieme)

Abb. 41.26 Blutkultur. Blutentnahme für eine Blutkultur mittels Adaptersystem. (Abb. von: Becton Dickinson GmbH)

bis zum Transport im Kühlschrank gelagert. Klinikspezifische Regelungen sind prinzipiell zu beachten.

Untersuchungsmaterial Stuhl Bei Erkrankungen oder bestehendem Verdacht auf infektiöse Erkrankungen des Verdauungstraktes, z. B. Salmonellose, wird zum Keimnachweis (pathogene Keime) auf ärztliche Anordnung eine Stuhlprobe entnommen (S. 392). Die Abnahme von 3 Stuhlproben an 3 aufeinanderfolgenden Tagen ist nicht mehr obligatorisch und erfolgt nur noch auf ausdrückliche Anordnung des Arztes. Die Stuhlproben werden bis zum Transport in das Labor gekühlt gelagert. Bei besonderen Stuhluntersuchungen, z. B. auf Amöben oder Lamblien, ist die Stuhlprobe körperwarm in das Labor zu schicken. Stuhluntersuchungen werden i. d. R. innerhalb von 48 Stunden ausgewertet.

Untersuchungsmaterial Urin

Anderes Untersuchungsmaterial

Um Keime im Urin nachweisen zu können, ist das Anlegen einer Urinkultur (▶ Abb. 41.27) notwendig. Diese gibt Auskunft über mögliche Erreger, die bei bakteriellen Infektionen der ableitenden Harnwege im Urin vorhanden sind. Das Labor weist Erreger nach sowie die Resistenz der Keime gegenüber Antibiotika. Aus diesem Grund sollte die Urinkultur unbedingt vor Beginn der antibiotischen Therapie angelegt werden. Erfolgt eine Urinkultur mittels Eintauchnährboden, muss diese bis zum Transport bei Zimmertemperatur gelagert werden. Wird eine Urinkultur aus einem sterilen Röhrchen bestimmt, wird dieses

Zum Nachweis von Erregern auf Haut, Schleimhaut, sowie Wunden, können mittels sterilen Watteträgers Abstriche vorgenommen werden. Ein Abstrichröhrchen (▶ Abb. 41.28) ist mit einer gelartigen Nährlösung gefüllt, und enthält einen sterilen Watteträger. Der Watteträger wird steril ausgepackt und nur an dem dafür vorgesehenen Griffteil berührt. Wichtig ist, dass der sterile Watteträger nur das abzustreichende Gebiet berührt! Der Abstrich erfolgt zügig, da dieser Vorgang, je nach Lokalisation des Abstrichs, für das Kind unangenehm sein kann, z. B. Rachenabstrich oder Augenabstrich.

Abb. 41.28 Abstrichröhrchen. Röhrchen mit Nährlösung und Watteträger. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Nach der Abnahme sollte das Röhrchen zeitnah ins Labor transportiert werden. Um eine Resistenzbestimmung durchführen zu können, benötigt das mikrobiologische Labor i. d. R. 48 Stunden. Informationen zur Indikation und Durchführung der Liquorgewinnung finden Sie im Kap. Liquorpunktion (S. 785). Es ist darauf zu achten, dass die Liquorröhrchen zeitnah ins Labor transportiert werden.

41

41.6 Umgang mit Labormaterial: Pflegerische Aufgaben 41.6.1 Zuständigkeitsbereiche Labordiagnostische Untersuchungen werden ausschließlich ärztlich angeordnet. Der Arzt hat die Pflicht, Eltern über invasive Maßnahmen zu informieren und deren Einwilligung einzuholen. Bei bestimmten Untersuchungen (z. B. Lumbalpunktion) muss dies sogar schriftlich erfolgen. Die Aufgaben des Pflegepersonals beinhalten folgende Tätigkeiten: ● alters- und situationsgerechte Vorbereitung des Kindes im Hinblick auf die bevorstehende Untersuchung

7

Blutentnahmen, Punktionen, Biopsien ●

● ●







Ausfüllen der Begleitscheine (zum Teil auch EDV-gestützt) Richten des Entnahmematerials Assistenz während der Probematerialgewinnung bzw. die eigenständige Durchführung weniger invasiver Probeentnahmen, z. B. kapilläre Blutentnahme Durchführung einfacher Schnelltests (z. B. Urinstix), die auf Station durchgeführt werden können Dokumentation der erfolgten Probeentnahme Eintragen bzw. Einkleben von Untersuchungsbefunden im Dokumentationssystem

Außerdem besteht die Möglichkeit, einige Laborproben, z. B. kapilläre Blutentnahmen, für ein Blutzuckertagesprofil von Mitarbeitern des Labors auf Station durchführen zu lassen. Als Alternative können mobile Patienten mit ihren Angehörigen direkt in die Laborabteilungen geschickt werden. Der Transport des Probematerials erfolgt in vielen Krankenhäusern durch einen hausinternen Hol- und Bringdienst, Rohrpost o. Ä. Dies stellt eine erhebliche Zeitersparnis für das Pflegepersonal dar.

▶ Material. Nach ärztlicher Anordnung der diagnostischen Maßnahme werden die benötigten Materialien durch die Pflegefachkraft gerichtet. Hierzu gehören auch die nötigen Anforderungsscheine. In einigen Kliniken erfolgt eine EDV-gestützte Anforderung. Die Behältnisse des Probenmaterials müssen korrekt beschriftet und dem Kind klar zugeordnet sein. Zur Beschriftung gehören: ● Patientenetikett oder beschrifteter Aufkleber mit dem Namen des Kindes, Geburtsdatum, Klinik sowie Station ● Entnahmezeit und -datum ● Angaben zum Material (z. B. infektiös oder nicht infektiös, Augenabstrich linkes Auge) ● ggf. Verdachtsdiagnose ● bei Untersuchungen, die an Fremdlabors weitergeleitet werden, ist sehr häufig die Unterschrift des Arztes erforderlich Vor dem Versand des Probematerials werden nochmals die Daten des Kindes mit denen auf dem Anforderungsschein verglichen.

Merke

41.6.2 Vorbereitung

41

798

▶ Kind. Das Kind und seine Eltern sollten, sofern die angeordnete Untersuchung planbar ist, frühzeitig über die diagnostische Maßnahme informiert werden. Wird eine Blutentnahme mit der Zielsetzung einer Medikamentenbestimmung durchgeführt, ist der zeitliche Abstand zur letzten Medikamentengabe von bedeutender Wichtigkeit, z. B. bei der Behandlung mit Antikonvulsiva im Rahmen einer Epilepsie. Bei einigen Blutuntersuchungen ist es erforderlich, dass das Kind nüchtern ist, z. B. bei einer Nüchtern-Blutzuckerbestimmung. In diesem Fall werden das Kind und seine Eltern über die Nüchtern-Blutentnahme informiert sowie ein Nüchternschild am Bett befestigt, s. konkrete Angaben zur Entnahmetechnik von Blut (S. 779), Urin (S. 380) und Stuhl (S. 392).

H ●

Es ist darauf zu achten, dass sich innerhalb der Probenbehältnisse die vom Labor gewünschte Menge an Blut, Urin, Liquor usw. befindet, da ansonsten u. U. eine Untersuchung des Materials nicht möglich ist.

41.6.3 Durchführung Genaue Angaben zur Durchführung einer Probeentnahme können Sie den Kapiteln Punktionen, Biopsien, Blutentnahmen (S. 778) und Ausscheiden (S. 364) entnehmen.

41.6.4 Hygienische Grundprinzipien Folgende hygienische Grundprinzipien müssen eingehalten werden: ● Zum Eigenschutz der Pflegefachkraft müssen im Umgang mit Blut, Liquor, Körperflüssigkeiten sowie Ausscheidungen unsterile Einmalhandschuhe getragen werden. ● Es ist darauf zu achten, dass sich auf der Außenseite des Probebehälters kein Probenmaterial, z. B. Blut, Liquor, befindet. ● Wird infektiöses Material versandt, muss dieses in einem dafür vorgesehenen Behälter oder Beutel ins Labor transportiert werden. ● Wurde Probenmaterial steril entnommen, ist eine Kontamination des Probenmaterials zu vermeiden.

41.6.5 Nachsorge Die Untersuchung von Probenmaterial kann an unterschiedlichen Orten erfolgen, d. h. innerhalb des Krankenhauses oder in nationalen oder internationalen Fremdlaboren. Vor dem Versand sollte darauf geachtet werden, dass das Probenbehältnis fest verschlossen ist. Muss das Probenmaterial gekühlt werden, ist es in einem separaten Kühlschrank der Station zu lagern. Es ist z. T. erforderlich, Blutröhrchen gekühlt in das Labor zu transportieren, z. B. bei einer Untersuchung auf Wärmeagglutinine. Hier bietet es sich an, das Röhrchen in ein gelgefülltes Kühlelement zu legen und so an das Labor weiterzuleiten. Des Weiteren müssen spezielle Transportbedingungen, z. B. lichtgeschützter Transport, beachtet werden. Das gewonnene Untersuchungsmaterial sollte, wenn möglich, zeitnah in das Labor transportiert werden, da v. a. bei Blutuntersuchungen als Folge langer Lagerzeiten, Verfälschungen des Testergebnisses entstehen können. Im pflegerisch-medizinischen Dokumentationssystem wird die jeweilige erfolgte Probenabnahme mit Datum und Uhrzeit durch die Pflegefachkraft dokumentiert.

Kapitel 42 Injektionen

42.1

Theoretische Grundlagen

800

42.2

Pflegerische Aufgaben

803

Injektionen

42 Injektionen Monika Hensel

42.1 Theoretische Grundlagen Definition

intramuskuläre Injektion

● L

intrakutane Injektion

Eine Injektion ist das Einbringen einer Flüssigkeit in den Körper mittels Spritze und Kanüle.

Epidermis

Injektionen haben mehrere Vorteile gegenüber anderen Applikationsformen von Arzneimitteln: ● Umgehung des Verdauungstraktes (bei Erbrechen oder Durchfall kann ein oral verabreichtes Medikament nicht ausreichend resorbiert werden). ● Verabreichung ist unabhängig von Bewusstseinslage, Schluckfähigkeit oder Nahrungskarenz der Kinder jederzeit möglich. ● Um eine schnelle Wirkung eines Medikamentes zu erzielen, wird eine intravenöse Injektion vorgenommen (das Medikament gelangt so direkt in den Blutkreislauf). ● Durch eine spezielle Zusammensetzung lässt sich bei injizierten Medikamenten die Freisetzung des Wirkstoffs verzögern, so ist bei einigen Arzneimitteln eine gleichmäßige und längerfristige Wirkung möglich (Depotwirkung).

42.1.1 Begriffsbestimmungen Injektionsarten

42

800

Es gibt verschiedene Wege, die Flüssigkeit in den Körper zu injizieren (▶ Abb. 42.1). Je nach Injektionsart unterscheidet sich auch der Ort, an dem die Injektion vorgenommen wird. Es wird zwischen den folgenden Injektionsarten unterschieden: ● intrakutan (i. c.): Arzneimittel wird in die oberste Hautschicht appliziert ● subkutan (s. c.): Arzneimittel wird in die Subkutis, d. h. unter die Haut in das Unterhautfettgewebe, gespritzt ● intravenös (i. v.): Arzneimittel wird direkt in die Vene appliziert ● intramuskulär (i. m.): Arzneimittel wird in einen Muskel gegeben. Es wird entweder in die Gesäßmuskulatur oder in den Oberschenkel gespritzt. Bei der Injektion in den Gesäßmuskel (ventroglutäale Injektion) unterscheidet man: ○ Injektion nach Peter Sachtleben (Crista-Methode) ○ Injektion nach Arthur von Hochstetter

subkutane Injektion

15°

Korium Subkutis a

45°

90°

90°

Muskulatur

Epithel Korium

intrakutane Injektion

subkutane Injektion Subkutis

b Abb. 42.1 Injektionen. a Injektionswinkel und -tiefen bei der intrakutanen, subkutanen und intramuskulären Injektion. b Medikamentendepots sind farblich hervorgehoben.



Injektion in den Oberarmmuskel (M. deltoideus): erfolgt häufig bei Impfungen, entsprechend den herstellerbezogenen und STIKO-empfohlenen Injektionshinweisen (STIKO: Ständige Impfkommission am Robert Koch-Institut)

Materialien Spritzen Spritzen sind steril verpacktes Einmalmaterial aus Kunststoff. Eine Spritze besteht aus Kolben, Konus und dem Zylinder. Die Spritzen sind mit einer Skala versehen, an der man die Menge der aufgezogenen Flüssigkeit ablesen kann. Handelsüblich sind Spritzen mit 1, 2, 5, 10 und 20 ml Fassungsvermögen (▶ Abb. 42.2). Grundsätzlich müssen alle sterilen Einwegprodukte an der dafür vorgesehenen Lasche geöffnet werden. Ein Durchbrechen des Verpackungspapieres darf zugunsten der Hygiene nicht stattfinden (▶ Abb. 42.3).

Abb. 42.2 Spritzen. Einige Spritzen mit unterschiedlichem Fassungsvermögen. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Spezielle Spritzen haben eine besondere Graduierung. Die Insulinspritze ist als 1-ml-Spritze für 40 i. E. Insulin erhältlich (▶ Abb. 42.4a), die Tuberkulinspritze hat eine Graduierung bis zu 1/10 Millimeter zur genauen Dosierung kleinster Mengen (▶ Abb. 42.4b). Den Spritzenkonus gibt es in 2 Ausführungen: ● Luer-Steckansatz: Kanüle wird fest aufgesteckt ● Luer-Lockansatz: Kanüle wird festgedreht

42.1 Theoretische Grundlagen

Abb. 42.3 Korrektes Öffnen. Die Abbildung zeigt das korrekte Öffnen der Verpackung, ohne sie zu durchbrechen. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Abb. 42.4 Spezielle Spritzen. a Insulinspritze, (Foto: P. Blåfield, Thieme) b Tuberkulinspritze. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Europäisch Ø einheitlicher (mm) Farbcode Ansatz

Schaft

Länge (mm)

0,90

38

0,60

26

0,45

23

Gelb Abb. 42.5 Einmalkanüle. Eine Kanüle besteht aus Ansatz und Schaft.

Blau

Braun

Kanülen Eine Kanüle ist eine Hohlnadel aus rostfreiem Stahl (▶ Abb. 42.5). Kanülen zur Injektion, zum Aufziehen von Medikamenten oder Infusionszusätzen sind steril verpacktes Einmalmaterial. Es sind Kanülen in unterschiedlichen Längen und Durchmessern im Handel. Aufgrund von Farbmarkierungen kann man die verschiedenen Größen unterscheiden (▶ Abb. 42.6). Über der Kanüle befindet sich eine abnehmbare Plastikschutzkappe. Um das Verletzungsrisiko zu senken, wurden Sicherheitskanülen entwickelt, bei denen die Schutzkappe nicht mehr aufgesteckt, sondern über die gebrauchte Kanüle geklappt wird (▶ Abb. 42.7).

Merke

H ●

Die Länge der Injektionskanüle wird nach Alter und Körpergewicht des Kindes, Injektionsort und -art ausgewählt.

Injektionslösungen ▶ Glasampullen (▶ Abb. 42.8a). Glasampullen sind in verschiedener Form und in verschiedenen Behältnissen verfügbar und enthalten ein bereits gelöstes Medikament. Vor dem Öffnen entfernt man durch behutsames Beklopfen der Ampulle die Flüssigkeit aus dem Ampullenhals. Alle handelsüblichen

Gauge (G)

Nummer

20

1

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18

Abb. 42.6 Verschiedene Einmalkanülen. Sie unterscheiden sich in Länge und Durchmesser und sind zur besseren Differenzierung farblich gekennzeichnet.

42

Abb. 42.7 Sicherheitskanüle. a Offen, (Foto: P. Blåfield, Thieme) b geschlossen. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Ampullen sind Brechampullen, erkennbar durch einen Punkt oder Ring am Ampullenkopf.

Merke

H ●

Zum Schutz vor Schnittverletzungen muss die Pflegefachkraft beim Öffnen immer einen nicht fusselnden Tupfer um den Ampullenhals legen.

▶ Stechampulle (▶ Abb. 42.8b). Daraus ist über den Gummistopfen eine Mehrfachentnahme möglich. Bei Anbruch dieser Ampullen sind das Anbruchdatum und die Uhrzeit auf dem Etikett zu notieren. Die Vorschriften des Herstellers über die Lagerung und Aufbewahrungsdauer des angebrochenen Medikaments sind zu beachten.

1

Injektionen Die Pflegefachkraft benötigt 2 Kanülen. Eine zum Aufziehen, die zweite zum Injizieren des Medikaments.

42.1.2 Zuständigkeitsbereiche

Abb. 42.8 Ampullenformen. a Glasampulle mit gelöstem Medikament. (Abb. aus: Wetsch W, Hinkelbein J, Spöhr F. Relaxierung. In: Wetsch W, Hinkelbein J, Spöhr F, Hrsg. Kurzlehrbuch Anästhesie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie. 2., aktualisierte Auflage. Stuttgart: Thieme; 2018) b Stechampulle mit gelöstem Medikament. (Abb. aus: Wetsch W, Hinkelbein J, Spöhr F. Relaxierung. In: Wetsch W, Hinkelbein J, Spöhr F, Hrsg. Kurzlehrbuch Anästhesie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie. 2., aktualisierte Auflage. Stuttgart: Thieme; 2018)

42

Abb. 42.9 Mini-Spike. Mehrfachentnahme durch Mini-Spike. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

▶ Stechampullen mit Trockensubstanz. Die Trockensubstanz muss unmittelbar vor der Benutzung mit einem Lösungsmittel (z. B. Aqua dest.) aufgelöst werden. Der Hersteller liefert das entsprechende Lösungsmittel mit der Trockensubstanz oder gibt im Beipackzettel an, welches Lösungsmittel geeignet ist. Das Lösungsmittel wird unter sterilen Bedingungen mittels steriler Spritze und steriler Kanüle aufgezogen oder mit Überleitungskanüle in das Medikamentenbehältnis gebracht. Nach dem Entfernen der Schutzkappe und der Desinfektion des Gummistopfens der Stechampulle wird das Lösungsmittel

802

langsam in die Stechampulle gespritzt, um Schaumbildung zu verhindern. Dabei muss auf den Ausgleich des Überdrucks durch Abziehen von Luft geachtet werden. Über einen sog. Mini-Spike ist eine Mehrfachentnahme aus einer Stechampulle möglich (▶ Abb. 42.9). Wurde der Mini-Spike hygienisch und sachgerecht geöffnet, wird er mit leichtem Druck von oben durch die Gummimembran geschoben (Herstellerangaben zur Desinfektion der Membran beachten). Die spikefreie Hand fixiert dabei die fest auf der Arbeitsfläche stehende Ampulle.

Praxistipp Pflege

Z ●

Liegt ein Mini-Spike, muss nur die Schutzkappe zur Entnahme geöffnet werden. Anschließend wird die ordnungsgemäß ausgepackte Spritze aufgesetzt. Das Medikamentenreservoir wird umgedreht, sodass ein Aufziehen möglich ist. Anschließend wird die Verschlusskappe wieder geschlossen. Alternative: Vor jeder neuen Entnahme ist der Gummistopfen zu desinfizieren. Die Entnahme erfolgt mittels steriler Spritze und steriler Kanüle unter sterilen Bedingungen.

Injektionen sind nur dann erlaubt, wenn der Patient oder bei Kindern die Sorgeberechtigten über den Eingriff aufgeklärt worden ist und in die Maßnahme eingewilligt hat. Das Aufklärungsgespräch erfolgt durch den Arzt. Verweigern die Eltern die Injektion auch nach vorausgegangener Aufklärung, darf in keinem Fall die Injektion durchgeführt werden. Zur Durchführung muss eine schriftliche Anordnung des Arztes mit Name des Patienten, Dosis des Medikaments sowie Art und Zeitpunkt der Verabreichung vorliegen. Telefonische und mündliche Anordnungen des ärztlichen Dienstes sind nur im Notfall zulässig und müssen anschließend umgehend schriftlich fixiert werden.

Anordnungs- und Durchführungsverantwortung Dem Arzt obliegt die Anordnungsverantwortung, dem Pflegepersonal die Übernahme- und Durchführungsverantwortung. Die Pflegefachkraft muss prüfen, ob sie die übertragene Aufgabe erledigen kann (Übernahmeverantwortung). Die Handlungskompetenz für i. m. und s. c. Infektionen wird in der 3-jährigen Ausbildung erworben. Die Pflegefachkraft ist berechtigt, eine Maßnahme abzulehnen, die sie nicht verantworten kann.

Merke

H ●

Durchführungsverantwortung heißt, für die korrekte Vorbereitung des Kindes und der Maßnahme und die technisch richtige Durchführung der delegierten Tätigkeit einzustehen.

Der Arzt kann Pflegefachkräften die Verabreichung von i. m. und s. c. Injektionen übertragen, wenn er sich von ihren Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten überzeugt hat. Die i. v. und i. c. Injektionen liegen im Zuständigkeitsbereich des Arztes. Eine i. v. Injektion kann nur dann einer Pflegefachkraft übertragen werden, wenn diese für diese Aufgabe besonders ausgebildet wurde und entsprechende Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten nachweist (z. B. Pflegefachkraft mit Fachweiterbildung für Anästhesie- und Intensivpflege).

42.2 Pflegerische Aufgaben

Merke

H ●

Die Verabreichung von Injektionen geht mit der Gefahr von beträchtlichen Komplikationen einher und beinhaltet eine besondere Sorgfaltspflicht. Missachtet die Pflegefachkraft diese Sorgfalt, setzt sie sich bei Auftreten von Komplikationen zivilrechtlichen oder strafrechtlichen Konsequenzen aus (S. 91).

42.2 Pflegerische Aufgaben Für Kinder bedeuten Injektionen immer ein angsteinflößendes und schmerzhaftes Erlebnis. Die Pflegefachkraft muss besonders auf Ängste und Sorgen der Kinder eingehen und die Maßnahmen einfühlsam und altersgerecht erklären und durchführen. Die Eltern der Kinder werden in die Vorbereitung miteinbezogen. Sehr wichtig ist es, die Kinder ehrlich aufzuklären. Äußerungen wie „die Spritze tut überhaupt nicht weh“ sind zu vermeiden, sonst verliert das Kind gegenüber der Pflegefachkraft das Vertrauen.

42.2.1 Allgemeine pflegerische Aufgaben Maßnahmen zur Schmerzreduktion Einige wichtige Grundsätze tragen dazu bei, dass die schmerzhaften Injektionen von den Kindern besser toleriert werden: ● Die Pflegefachkraft klebt vor der geplanten Injektion ein Pflaster mit einer anästhesierenden Salbe (S. 241) nach ärztlicher Anordnung auf die Punktionsstelle. ● Das Hautdesinfektionsmittel muss vor dem Einstich vollständig angetrocknet sein (andernfalls gelangt das Hautdesinfektionsmittel in den Stichkanal und verursacht ein unangenehmes Brennen). ● Während der Injektion darf die Richtung des Stichkanals nicht verändert werden und das Medikament sollte gleichmäßig und langsam injiziert werden. ● Die Injektionslösung sollte Zimmertemperatur haben. ● Bei häufigen Injektionen sollten die Injektionsstelle gewechselt werden und schmerzunempfindlichere Hautstellen bevorzugt werden, z. B. die Bauchdecke bei s. c. Injektionen.



Ein buntes Pflaster, viel Lob und Trost durch die Pflegefachkraft und die Eltern erleichtern die Akzeptanz der Maßnahme.

Für Sicherheit sorgen Der vorgeschriebene Applikationsweg, Haltbarkeitsdatum und Aufbewahrungsvorschriften des Herstellers der Injektionslösungen sind zu beachten. Die im Beipackzettel angegebene Kontrolle der Injektionsflüssigkeit auf Farbveränderung, Ausflockung und Trübung wird durchgeführt. Die Injektionslösung muss steril und frei von Schwebeteilen sein.

Merke

H ●

Die Pflegefachkraft hat immer die 6-RRegel zu befolgen: ● Richtiger Patient ● Richtiges Medikament ● Richtiger Zeitpunkt ● Richtige Dosierung ● Richtige Applikationsform ● Richtige Dokumentation

Die Pflegefachkräfte müssen über Wirkungen und Nebenwirkungen des Medikaments sowie mögliche Komplikationen informiert sein.

zess, Punktion von Gefäßen, Nekrose, Hämatom oder Verletzung eines Nervs).

Berechnen und Aufziehen des Medikaments Fallbeispiel

I ●

Der Arzt ordnet die Injektion von 20 mg eines Medikaments an. In einer Ampulle sind in 2 ml Lösung 80 mg Wirkstoff enthalten, d. h.: 80 mg = 2 ml → 20 mg = 0,5 ml. Das Kind erhält also 0,5 ml des Medikaments injiziert (= 20 mg Wirkstoff).

Durchführung Das Aufziehen der Injektionslösung erfolgt auf einer sauberen und desinfizierten Arbeitsfläche unter sterilen Bedingungen (▶ Abb. 42.10). Es werden folgende Materialien gerichtet: ● sterile Spritze in der jeweiligen Größe ● sterile Kanülen ● verordnete Injektionslösung ● sterile Tupfer ● Flächendesinfektionsmittel ● Hautdesinfektionsmittel ● Etiketten zum Beschriften der Spritze ● hautfreundliches Pflaster ● Abwurfschale für Abfall und Abwurfbehälter für Glas und Kanülen

Hygienische Grundprinzipien Vor dem Aufziehen einer Injektionslösung und vor der Injektion sowie im Anschluss an diese Maßnahme wird eine gründliche hygienische Händedesinfektion durchgeführt.

Merke

H ●

Alle Vorgänge rund um die Injektion erfordern immer absolut aseptische Bedingungen.

Spritzen und Kanülen dürfen erst unmittelbar vor der Injektion der sterilen Verpackung entnommen werden. Dabei ist darauf zu achten, dass die intakte Verpackung vorsichtig geöffnet wird und die Pflegefachkraft beim Aufziehen den Spritzenkolben und die Kanüle nicht berührt.

Ein Etikett wird mit dem Namen des Kindes, Namen des Medikaments, Dosierung, Applikationsart, Datum und Uhrzeit der Herstellung beschriftet. Nach der Händedesinfektion wird das Medikament steril aufgezogen. Bei einer Trockensubstanz und Lösungsmittel wird das vollständige Auflösen abgewartet. Währenddessen kann die Pflegefachkraft die Spritze und Kanüle in der Stechampulle belassen. Danach wird die verordnete und errechnete Menge korrekt und luftfrei aufgezogen und die Spritze mit der Injektionskanüle und dem vorbereiteten Etikett versehen.

42.2.2 Spezielle pflegerische Aufgaben Intramuskuläre Injektionen Definition

Komplikationen Es können Unverträglichkeitsreaktionen gegenüber den injizierten Medikamenten auftreten, z. B. allergische Reaktionen. Schäden können ferner durch fehlerhafte Injektionen entstehen (z. B. Spritzenabs-

42

L ●

Die intramuskuläre Injektion ist eine Injektionstechnik, bei der kleinere Arzneimittelmengen in einen Muskel gegeben werden.

3

42.2 Pflegerische Aufgaben

Merke

H ●

Die Verabreichung von Injektionen geht mit der Gefahr von beträchtlichen Komplikationen einher und beinhaltet eine besondere Sorgfaltspflicht. Missachtet die Pflegefachkraft diese Sorgfalt, setzt sie sich bei Auftreten von Komplikationen zivilrechtlichen oder strafrechtlichen Konsequenzen aus (S. 91).

42.2 Pflegerische Aufgaben Für Kinder bedeuten Injektionen immer ein angsteinflößendes und schmerzhaftes Erlebnis. Die Pflegefachkraft muss besonders auf Ängste und Sorgen der Kinder eingehen und die Maßnahmen einfühlsam und altersgerecht erklären und durchführen. Die Eltern der Kinder werden in die Vorbereitung miteinbezogen. Sehr wichtig ist es, die Kinder ehrlich aufzuklären. Äußerungen wie „die Spritze tut überhaupt nicht weh“ sind zu vermeiden, sonst verliert das Kind gegenüber der Pflegefachkraft das Vertrauen.

42.2.1 Allgemeine pflegerische Aufgaben Maßnahmen zur Schmerzreduktion Einige wichtige Grundsätze tragen dazu bei, dass die schmerzhaften Injektionen von den Kindern besser toleriert werden: ● Die Pflegefachkraft klebt vor der geplanten Injektion ein Pflaster mit einer anästhesierenden Salbe (S. 241) nach ärztlicher Anordnung auf die Punktionsstelle. ● Das Hautdesinfektionsmittel muss vor dem Einstich vollständig angetrocknet sein (andernfalls gelangt das Hautdesinfektionsmittel in den Stichkanal und verursacht ein unangenehmes Brennen). ● Während der Injektion darf die Richtung des Stichkanals nicht verändert werden und das Medikament sollte gleichmäßig und langsam injiziert werden. ● Die Injektionslösung sollte Zimmertemperatur haben. ● Bei häufigen Injektionen sollten die Injektionsstelle gewechselt werden und schmerzunempfindlichere Hautstellen bevorzugt werden, z. B. die Bauchdecke bei s. c. Injektionen.



Ein buntes Pflaster, viel Lob und Trost durch die Pflegefachkraft und die Eltern erleichtern die Akzeptanz der Maßnahme.

Für Sicherheit sorgen Der vorgeschriebene Applikationsweg, Haltbarkeitsdatum und Aufbewahrungsvorschriften des Herstellers der Injektionslösungen sind zu beachten. Die im Beipackzettel angegebene Kontrolle der Injektionsflüssigkeit auf Farbveränderung, Ausflockung und Trübung wird durchgeführt. Die Injektionslösung muss steril und frei von Schwebeteilen sein.

Merke

H ●

Die Pflegefachkraft hat immer die 6-RRegel zu befolgen: ● Richtiger Patient ● Richtiges Medikament ● Richtiger Zeitpunkt ● Richtige Dosierung ● Richtige Applikationsform ● Richtige Dokumentation

Die Pflegefachkräfte müssen über Wirkungen und Nebenwirkungen des Medikaments sowie mögliche Komplikationen informiert sein.

zess, Punktion von Gefäßen, Nekrose, Hämatom oder Verletzung eines Nervs).

Berechnen und Aufziehen des Medikaments Fallbeispiel

I ●

Der Arzt ordnet die Injektion von 20 mg eines Medikaments an. In einer Ampulle sind in 2 ml Lösung 80 mg Wirkstoff enthalten, d. h.: 80 mg = 2 ml → 20 mg = 0,5 ml. Das Kind erhält also 0,5 ml des Medikaments injiziert (= 20 mg Wirkstoff).

Durchführung Das Aufziehen der Injektionslösung erfolgt auf einer sauberen und desinfizierten Arbeitsfläche unter sterilen Bedingungen (▶ Abb. 42.10). Es werden folgende Materialien gerichtet: ● sterile Spritze in der jeweiligen Größe ● sterile Kanülen ● verordnete Injektionslösung ● sterile Tupfer ● Flächendesinfektionsmittel ● Hautdesinfektionsmittel ● Etiketten zum Beschriften der Spritze ● hautfreundliches Pflaster ● Abwurfschale für Abfall und Abwurfbehälter für Glas und Kanülen

Hygienische Grundprinzipien Vor dem Aufziehen einer Injektionslösung und vor der Injektion sowie im Anschluss an diese Maßnahme wird eine gründliche hygienische Händedesinfektion durchgeführt.

Merke

H ●

Alle Vorgänge rund um die Injektion erfordern immer absolut aseptische Bedingungen.

Spritzen und Kanülen dürfen erst unmittelbar vor der Injektion der sterilen Verpackung entnommen werden. Dabei ist darauf zu achten, dass die intakte Verpackung vorsichtig geöffnet wird und die Pflegefachkraft beim Aufziehen den Spritzenkolben und die Kanüle nicht berührt.

Ein Etikett wird mit dem Namen des Kindes, Namen des Medikaments, Dosierung, Applikationsart, Datum und Uhrzeit der Herstellung beschriftet. Nach der Händedesinfektion wird das Medikament steril aufgezogen. Bei einer Trockensubstanz und Lösungsmittel wird das vollständige Auflösen abgewartet. Währenddessen kann die Pflegefachkraft die Spritze und Kanüle in der Stechampulle belassen. Danach wird die verordnete und errechnete Menge korrekt und luftfrei aufgezogen und die Spritze mit der Injektionskanüle und dem vorbereiteten Etikett versehen.

42.2.2 Spezielle pflegerische Aufgaben Intramuskuläre Injektionen Definition

Komplikationen Es können Unverträglichkeitsreaktionen gegenüber den injizierten Medikamenten auftreten, z. B. allergische Reaktionen. Schäden können ferner durch fehlerhafte Injektionen entstehen (z. B. Spritzenabs-

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L ●

Die intramuskuläre Injektion ist eine Injektionstechnik, bei der kleinere Arzneimittelmengen in einen Muskel gegeben werden.

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Injektionen

Merke

H ●

Bei Kindern im Schock und mit schlechten Kreislaufverhältnissen sollte keine i. m. Injektion durchgeführt werden. Das injizierte Medikament wird in diesem Fall nicht ausreichend resorbiert. Bei Kindern mit Gerinnungsstörungen führt eine i. m. Injektion zu langen Nachblutungen und zur Hämatombildung. Weitere Kontraindikationen sind: ● Unklarheit über anatomische Strukturen ● mangelnde Muskelmasse ● Medikamentenunverträglichkeit ● Therapie mit Antikoagulanzien z. B. Heparin ● Hautdefekte, Paresen, Verletzungen, Verbrennungen, Narben, Entzündungen und Infektionszeichen im Injektionsbereich

Grundsätzlich sollte die Indikation zur i. m. Injektion sehr streng gestellt werden. Viele Medikamente, z. B. Schmerzmedikamente, sind als orale Retardpräparate verfügbar, alternativ kann eine parenterale Gabe intravenös über eine liegende Venenverweilkanüle erfolgen. Es wird entweder in die Gesäßmuskulatur oder in den Oberschenkel gespritzt. Bei der Injektion in den Gesäßmuskel (ventroglutealen Injektion) unterscheidet man: ● Injektion nach Peter Sachtleben (CristaMethode) ● Injektion nach Arthur von Hochstetter

Abb. 42.10 Aufziehen von Medikamenten aus einer Glasampulle. a Ampullenkopf durch z. B. leichtes Klopfen entleeren und Tupfer über den gesamten Ampullenkopf legen. (Foto: W. Krüper, Thieme) b Ampullenkopf mit Daumen und Zeigefinger abknicken. (Foto: W. Krüper, Thieme) c Sorgfältiges Entnehmen von Spritze und Kanüle aus Verpackung. Peel-off-System nutzen, d. h. Kanüle und Spritze nicht durch die Verpackung drücken. (Foto: W. Krüper, Thieme) d Die Aufziehkanüle stößt auf den Boden der Ampulle auf. Der Zeigefinger bietet ein Widerlager an der Spritzengriffplatte. Daumen und Zeigefinger ziehen den Spritzenkolben zurück. (Foto: W. Krüper, Thieme)

Injektionen nach Peter Sachtleben (Crista-Methode)

42

804

Die Injektion erfolgt in den Musculus glutaeus. Es ist die bevorzugte Injektionsmethode bei Kindern. Das Gewebe dort ist nerven- und gefäßarm und befindet sich an der seitlichen Gesäßregion. Injektionsort ist das Dreieck zwischen Crista iliaca, Spina iliaca und Trochanter major. Der Injektionsort wird folgendermaßen ermittelt (diese Beschreibung gilt für Pflegefachkräfte, die Rechtshänder sind): ● Das Kind liegt entspannt, mit etwas angewinkelten Beinen in rechter Seitenlage. ● Der Kopf des Kindes liegt links von der Pflegefachkraft. ● Die linke Hand der Pflegefachkraft wird an der Flanke des Kindes angelegt, der Zeigefinger der linken Hand liegt dabei auf der Knochenleiste des Darmbeinkammes (▶ Abb. 42.11).

Abb. 42.11 Ventroglutäale Injektion nach Sachtleben (Crista-Methode). a Die linke Hand liegt so in der Flanke, dass der Zeigefinger an der Knochenleiste des Darmbeinkamms liegt. (Foto: A. Fischer, Thieme) b Der Injektionspunkt liegt 3 Querfinger unterhalb des Darmbeinkammes auf der gedachten Frontallinie über dem Trochanter major. (Foto: A. Fischer, Thieme) c Markierung der Einstichstelle mit dem Fingernagel. (Foto: A. Fischer, Thieme) d Nach der sorgfältigen Hautantiseptik erfolgt die Injektion zügig senkrecht zur Hautoberfläche in Richtung Bauchnabel. (Foto: A. Fischer, Thieme)

42.2 Pflegerische Aufgaben

Abb. 42.12 Injektion in den Oberschenkel. a Injektionsbereich festlegen. (Foto: O. Kirschnick) b Injektionsstelle desinfizieren. (Foto: O. Kirschnick) c Einwirkzeit abwarten. (Foto: O. Kirschnick) d Injektionsnadel im 90°-Winkel einführen. (Foto: O. Kirschnick) e Medikament langsam injizieren. (Foto: O. Kirschnick) f Stichkanal mit Tupfer kurz komprimieren. (Foto: O. Kirschnick)



Rechts vom Zeigefinger der linken Hand der Pflegefachkraft, bei Schulkindern 3 Querfinger, bei Kleinkindern 2 Querfinger und beim Säugling 1 Querfinger breit unterhalb des Darmbeinkammes (auf der gedachten Verbindungslinie zwischen Darmbeinkamm und dem großen Rollhügel) liegt die Injektionsstelle.

Injektion in den Oberschenkel Das Kind liegt entspannt in Rückenlage. Die Injektionsstelle befindet sich im äußeren mittleren Drittel des Oberschenkelmuskels. Als oberer Orientierungspunkt dient der Trochanter major und als unterer Orientierungspunkt die Patella (▶ Abb. 42.12). Diese Methode wird bevorzugt bei Säuglingen und Kleinkindern angewendet, um z. B. Impfungen zu verabreichen.

Injektion nach von Arthur von Hochstetter Merke

● H

Diese Methode wird nur bei Jugendlichen und Erwachsenen angewendet.

Injektionsort ist der M. glutaeus medius bzw. der M. glutaeus minimus. Der Patient liegt in Rücken- oder Seitenlage. Die Hand der Pflegefachkraft wird so auf die Hüfte des Patienten gedrückt, dass der Handteller den großen Rollhügel fühlt (▶ Abb. 42.13). Zeige- und Mittelfinger der Pflegefachkraft werden dabei maximal gespreizt (▶ Abb. 42.14). Der nach ventral zeigende Zeige- bzw. Mittelfinger tastet mit der Kuppe den vorderen Darmbeinstachel. Der andere, nach dorsal zeigende Finger, tastet entlang des Darmbeinkammes. Von dort aus wird der Finger nun ca. 2 cm nach unten weggedreht, während der andere Finger auf dem Darmbeinstachel liegen bleibt. Durch die Drehung kommt der Handballen auf dem großen Rollhügel zu liegen. Die Injektionsstelle liegt nun im unteren Teil des beschriebenen Dreiecks.

Merke

● H

Unterschiedliche Fingerlängen können Abweichungen des Injektionsortes hervorrufen.

In der Beschreibung der Injektionsmethode nach Arthur von Hochstetter gibt es keinerlei Angaben, ab welchem Alter, wel-

Darmbeinkamm (Crista ilica) vorderer Darmbeinstachel (Spina iliaca anterior superior) großer Rollhügle (Trochanter major)

Abb. 42.13 Ventroglutäale Injektion nach Arthur von Hochstetter. Als Markierungspunkte für die Injektion nach Arthur von Hochstetter dienen der vordere Darmbeinstachel, der Darmbeinkamm und der große Rollhügel.

42

cher Körpergröße oder welchem Körpergewicht diese Methode angewendet werden darf.

Durchführung Der eigentliche Injektionsvorgang ist bei allen Methoden gleich. Zur sicheren Positionierung und Fixierung von Kindern ist während der Injektion eine zweite Pflegefachkraft notwendig. Die Vorbereitung erfolgt nach den jeweils beschriebenen Posi-

5

Injektionen

42

Abb. 42.14 Ventroglutäale Injektion nach Arthur von Hochstetter. (Foto: A. Fischer, Thieme) a Abtasten des vorderen Darmbeinstachels und Darmbeinkamms. b Der nach ventral zeigende Mittelfinger tastet mit der Kuppe den vorderen Darmbeinstachel, der Zeigefinger wird maximal abgespreizt und tastet entlang des Darmbeinkammes, von dort aus wird der Zeigefinger nun ca. 2 cm nach unten weggedreht, während der andere auf dem Darmbeinstachel liegen bleibt. c Durch diese Drehung kommt der Handballen auf dem großen Rollhügel zu liegen und es folgt die Markierung der Injektionsstelle z. B. mit dem Fingernagel, Tupferreibung (Haut rötet sich) oder gefärbtes Desinfektionsmittel. d Desinfektion der Injektionsstelle: sprühen, wischen, sprühen, Einwirkzeit einhalten, e wischen. Die Injektionsstelle ist auf diesem Foto mit einem roten Punkt markiert. f Kanülenschutz abziehen (beachte das Belassen einer kleinen Luftblase). g Im unteren Teil des durch 2 Finger beschriebenen Dreiecks wird nun die Injektion zügig vorgenommen: h senkrecht zur Hautoberfläche tief in das Gewebe einstechen. i Aspirieren. j Medikament langsam injizieren und Kanüle entfernen. Kanüle einhändig in den Abwurfbehälter entsorgen. k Einstichstelle mit trockenem, frischem Tupfer kurz komprimieren. l Einstichstelle mit einem Pflasterschnellverband abdecken.

tionierungen und Injektionsstellen. Die Injektionskanüle wird im Winkel von 90° senkrecht in den Muskel eingestochen. Danach erfolgt der Aspirationsversuch: Während der Kanülenansatz am Konus

806

mit der einen Hand fixiert wird, zieht die andere Hand den Stempel der Spritze zurück. Wird hierbei Blut aspiriert, muss die Injektion sofort unterbrochen werden und an einer anderen Stelle ein frisch aufgezo-

genes Medikament injiziert werden. Es besteht sonst die Gefahr einer versehentlichen intravenösen/intraarteriellen Injektion.

42.2 Pflegerische Aufgaben Das Medikament wird langsam injiziert. Die Pflegefachkraft hält während der Injektion mit einer Hand den Kanülenansatz am Konus der Spritze fest. Dabei wird das Kind auf mögliche Komplikationen beobachtet und bestmöglich beruhigt und abgelenkt. Äußert das Kind während der Injektion sehr starke Schmerzen, ist die Injektion abzubrechen. Nachdem die Injektion beendet ist, wird die Kanüle zügig herausgezogen und die Einstichstelle mit einem sterilen Tupfer komprimiert. Durch vorsichtige Kreisbewegungen mit dem Tupfer wird das Medikament verteilt.

Merke

H ●

Benutzte Kanülen dürfen niemals zurück in die Plastikhülle gesteckt werden. Es besteht Verletzungsgefahr! Gebrauchte Kanülen müssen sofort in spezielle Abwurfbehälter entsorgt werden. Alternativ gibt es spezielle Injektionskanülen mit spezieller Schutzhülle. Nach Aktivierung des Sicherheitsmechanismus ist die Gefahr der Stichverletzung reduziert.

▶ Komplikationen. Bei der Durchführung von intramuskulären Injektionen kann es zu folgenden Komplikationen kommen: ● Das Anstechen eines Gefäßes erkennt die Pflegefachkraft durch den Aspirationsversuch. ● Unsauberes Arbeiten kann zur Ausbildung eines Spritzenabszesses führen. ● Aseptische Nekrosen entstehen bei Unverträglichkeit des Gewebes gegenüber dem injizierten Medikament. ● Die Injektionskanüle kann abbrechen (sehr selten), deshalb soll die Kanüle nie komplett bis zum Ansatz in den Muskel eingeführt werden. ● Das Auftreffen der Kanüle auf den Knochen ist sehr schmerzhaft und sollte vermieden werden; die Kanüle wird in diesem Fall etwas zurückgezogen und es wird in den Muskel injiziert. ● Das Anstechen eines Nervs kann zu Lähmungen und sensorischen Ausfällen führen.

Nachsorge Die Einstichstelle wird im Anschluss der Injektion auf Hämatome und entzündliche Veränderungen, z. B. Rötung, Schwellung, Schmerzen und Funktionseinschränkungen, beobachtet. Zum Schluss wird die Einstichstelle mit einem Pflaster versehen. Die Pflegefachkraft dokumentiert den Zeitpunkt der Injektion, Wirkstoff und Dosis des Medikaments, die Verabrei-

chungsart, die Injektionsstelle und alle Besonderheiten mit ihrem Handzeichen.

Subkutane Injektion Definition

L ●

Die subkutane Injektion ist eine Injektionstechnik, bei der Arzneimittel in die Subkutis, d. h. unter die Haut in das Unterhautfettgewebe, gespritzt werden.

Die Subkutis enthält fast den gesamten Fettanteil der Haut mit eingelagerten Blutgefäßen und kleinen Nerven. ▶ Injektionsstellen. Für die subkutane Injektion gibt es folgende Injektionsstellen (▶ Abb. 42.15): ● Oberarm (Außenseite) ● Oberschenkel (Vorder- und Außenseite) ● Umgebung unterhalb des Bauchnabels ● ober- und unterhalb des Schulterblattes Die Vorbereitung und Nachsorge einer subkutanen Injektion entsprechen der intramuskulären Injektion.

Durchführung Das Kind wird abhängig von der Injektionsstelle positioniert. Nach hygienisch korrekter Händedesinfektion der Pflegefachkraft und der Injektionsstelle des Kindes wird mit Daumen und Zeigefinger der einen Hand eine Hautfalte abgehoben und mit der anderen Hand die Injektion durchgeführt (▶ Abb. 42.16). Die subkutane Injektion in die Bauchhaut erfolgt zwischen Crista iliaca und dem Bauchnabel, wobei 2 cm um den Nabel frei bleiben. Alternativ kann in die Außenseite und vordere Fläche der Oberschenkel injiziert werden, wobei eine Handbreite über dem Knie frei gelassen wird (▶ Abb. 42.15). Der Einstich der Kanüle erfolgt bei längeren Kanülen im Winkel von 45°. Für manche Injektionen, z. B. Insulin- und Heparininjektionen, sind besonders fein geschliffene, relativ kurze Kanülen im Handel bzw. entsprechend präparierte Einmalspritzen, mit denen die s. c. Injektion im Winkel von 90° durchgeführt werden kann. Im Gegensatz zur i. m. Injektion wird keine Aspirationsprobe durchgeführt. Eine Aspiration durch die feine Subkutankanüle, die nur bei lang andauernder Aspiration eine positive Probe ergeben könnte, würde zur Schädigung des Gewebes führen. Außerdem ist eine intravenöse Injektion in Blutgefäße der Subkutis bei korrekter Durchführung undenkbar.

Bereiche für subkutane Injektion (s. c.)

Abb. 42.15 Injektionsstellen für die subkutane Injektion.

Die Hautfalte wird während der Injektion nicht losgelassen. Anderenfalls kann die Kanüle bei dünnen Kindern in das muskuläre Gewebe vordringen. Auch wird damit die Gefahr von Komplikationen, z. B. Hämatomen infolge einer Gewebetraumatisierung durch Verwackeln der Kanüle, deutlich verringert. Ein weiterer Vorteil liegt darin, dass durch die Injektion in die hochgehobene Hautfalte eine kleine Erweiterung und damit Platz für das Medikament entsteht. Nach der langsamen Injektion des Medikaments zieht die Pflegefachkraft die Kanüle zügig heraus und drückt einen trockenen, sterilen Tupfer auf die Einstichstelle. Das Medikament wird nicht durch Verreiben verteilt. Bei häufigen subkutanen Injektionen (z. B. Insulininjektionen) muss bei der Injektion die Einstichstelle gewechselt werden, da ansonsten eine Schädigung des Subkutangewebes entstehen könnte.

Eltern

a ●

42

Subkutane Injektionen können auch vom Kind oder von den Eltern nach vorangegangener Anleitung selbstständig durchgeführt werden, z. B. Insulininjektionen bei Kindern mit Diabetes mellitus. Spezielle Insulininjektionsgeräte, sog. Pens, erleichtern die Anwendung in der Klinik und im häuslichen Bereich.

7

Injektionen

45°

a

90°

b

c

Abb. 42.16 Injektion in die Subkutis des Unterbauchs. a Hautfalte aufnehmen. b Einstich im 45°-Winkel (längere Kanüle). c Einstich im 90°-Winkel (kürzere Kanüle).

Intrakutane Injektionen Definition

L ●

Die intrakutane Injektion ist eine Injektionstechnik, bei der kleine Arzneimittelmengen in die Haut eingespritzt werden. Sie ist eine ärztliche Tätigkeit.

▶ Injektionsstellen. Für die intrakutane Injektion bieten sich folgende Körperstellen an: ● Innenseite des Unterarms ● Außenseite des Oberschenkels ● Streckseite des Oberarms

42

808

▶ Indikationen. Diese Technik wird verwendet zur: ● Durchführung von Sensibilisierungstests (z. B. Tuberkulin- und Allergentestung) ● Applikation von Lokalanästhetika

Durchführung am Beispiel einer Tuberkulintestung Die Pflegefachkraft positioniert das Kind in Rückenlage und fixiert den Arm des Kindes mit der Innenseite nach oben in Richtung des Arztes. Die Haut wird oberhalb der Einstichstelle gespannt und der Arzt führt nach vorausgegangener Desinfektion der Hautstelle eine feine Kanüle mit dem Anschliff nach oben in die oberste Hautschicht ein. Beim Injizieren der Flüssigkeit entsteht eine Quaddel. Die Einstichstelle wird nicht mit einem Tupfer komprimiert.

Eltern

a ●

Die Pflegefachkraft informiert das Kind und seine Eltern darüber, dass an dieser Hautstelle nicht gewaschen oder gekratzt werden darf.

Mechanische Reize verfälschen das Testergebnis. Der Arzt beurteilt i. d. R. nach etwa 48 – 72 Stunden das Ergebnis.

Merke

H ●

Bei einem an Tuberkulose erkrankten Kind kann die i. c. Injektion von Tuberkulin zu einer starken, lokalen Reaktion an der Einstichstelle führen.

Kapitel 43

43.1

Infusion und Transfusion

43.2 43.3 43.4

Infusionstherapie: Theoretische Grundlagen

810

Infusionstherapie: Pflegerische Aufgaben

811

Transfusionstherapie: Theoretische Grundlagen

824

Transfusionstherapie: Pflegerische Aufgaben

827

Infusion und Transfusion

43 Infusion und Transfusion 43.1 Infusionstherapie: Theoretische Grundlagen Michael Färber*, Tina Wilhelm Im Rahmen eines stationären Aufenthalts innerhalb einer Kinderklinik, sowie in Bereichen der ambulanten Therapie, machen Kinder häufig Erfahrung mit der Infusionstherapie. Für das Kind ist die Infusionstherapie oft verbunden mit Angst. Diese Angst führt zu Stress und dem Gefühl des Ausgeliefertseins. Deshalb ist eine altersentsprechende und einfühlsame Vorbereitung auf die geplante Infusionstherapie durch Arzt und Pflegepersonal unerlässlich.

43.1.1 Begriffsbestimmungen Definition

● L

Eine Infusion (lat. infundere = hineingießen) ist die kontinuierliche Applikation von Flüssigkeit in den Körper unter Umgehung des Magen-Darm-Traktes.

Eine Infusionslösung kann auf unterschiedlichen Wegen infundiert werden: ● in eine Vene (intravenös, i. v.) ● in eine Arterie (intraarteriell, i. a.) ● ins Unterhautfettgewebe (subkutan, s. c.) ● in einen Röhrenknochen (intraossär, i.o.)

43

Eine Infusionstherapie kann mehrere Ziele verfolgen, z. B.: ● Regulierung des Wasser- und Elektrolythaushaltes ● Wiederherstellung des Säure-BasenGleichgewichtes ● Regulierung des Flüssigkeitshaushaltes (Volumensubstitution) aufgrund von Blutverlust, Plasmaverlust (z. B. nach Verbrühung/Verbrennung), sowie Flüssigkeitsverlust im Rahmen von Durchfall und Erbrechen ● ausreichende Nährstoffzufuhr (parenterale Ernährung) ● Medikamentenverabreichung ● Osmotherapie (Ausschwemmung von Ödemen) Die Dauer der Infusionstherapie ergibt sich aus der Zielsetzung und der Situation des Kindes. Hier wird unterschieden zwischen einer Dauerinfusion über mehrere Stunden bis Tage (z. B. bei parenteraler Er-

810

nährung) und der Kurzinfusion, die i. d. R. höchstens über 3 Stunden (z. B. Antibiotika) infundiert wird.

Definition

Wasser- und Elektrolythaushalt Wasser Der erwachsene menschliche Körper besteht zu 55 – 65 % aus Wasser, Säuglinge und Kleinkinder sogar zu 70 – 75 %. Somit ist Wasser die Grundsubstanz in unserem Organismus. ¾ des vorhandenen Wassers befindet sich im Inneren der Zellen (intrazellulärer Raum) und nur ¼ außerhalb (extrazellulärer Raum). Folglich spielen sich im menschlichen Körper alle chemischen Reaktionen in einem wässrigen Milieu ab.

Elektrolythaushalt Innerhalb der Körperflüssigkeit sind Elektrolyte enthalten, die für uns von existenzieller Bedeutung sind.

Definition

gang wird mit dem Begriff Osmose bezeichnet.

● L

Elektrolyte sind Verbindungen (Säuren, Basen, Salze), die in wässrigen Lösungen in positiv (Kationen) und negativ (Anionen) geladene Teilchen zerfallen.

Osmose (griech. osmo = Stoß) ist der Übertritt (Diffusion) des Lösungsmittels von einer weniger stark konzentrierten Lösung in eine stärker konzentrierte Lösung durch eine dazwischenliegende halbdurchlässige (semipermeable) Membran.

Dieser Regelmechanismus kann durch verschiedene Ursachen, z. B. Krankheiten, Operationen oder Unfälle, gestört sein. In diesem Fall ist der Körper nicht mehr in der Lage, die Veränderungen von Volumen- oder Elektrolytverschiebungen zu kompensieren. Es besteht die Indikation zur Infusionstherapie.

Infusionslösungen Sterile Infusionslösungen sind in 3 verschiedenen Behältertypen im Handel: ● Glasflaschen ● Kunststoffflaschen ● Kunststoffbeutel Ihr Fassungsvermögen beträgt zwischen 50 und 1000 ml. Des Weiteren besteht die Möglichkeit, in dafür vorgesehenen Mischbeuteln Infusionslösungen zu mischen.

Regulation Die Zusammensetzung der Elektrolyte in den verschiedenen Flüssigkeitsräumen ist unterschiedlich und wird durch Kontrollund Regelmechanismen konstant gehalten. Mit dieser als Homöostase beschriebenen Konstanz des Wasser- und Elektrolythaushaltes ist verbunden: ● Aufrechterhaltung der konstanten Ionenzusammensetzung (Isoionie) ● Aufrechterhaltung des osmotischen Drucks (Isotonie) ● Aufrechterhaltung des Säure-BasenGleichgewichts (Isohydrie) Die Niere hat bei dieser Regulation eine wichtige Aufgabe. Überflüssige Ionen, die die Homöostase stören, werden über den Harn ausgeschieden. Der menschliche Organismus versucht, die unterschiedlichen Konzentrationen der Lösungen in den jeweiligen Räumen in einem konstanten Gleichgewicht zu halten, d. h., die Anionen und Kationen sind im extrazellulären und intrazellulären Raum im Gleichgewicht. Dieser Vor-

L ●

Merke

H ●

Grundsätzlich müssen alle Infusionsbehältnisse auf sichtbare Schäden hin geprüft werden. Darüber hinaus werden die zu infundierenden Infusionslösungen auf Verfallsdatum, Aussehen (klar oder verfärbt), sowie evtl. Ausflockungen oder sonstige Beimengungen geprüft. Sollte eine Auffälligkeit vorliegen, ist das Infusionsbehältnis zu entsorgen.

Es wird unterschieden zwischen isotonen, hypotonen und hypertonen Infusionslösungen: ● Eine isotone Infusionslösung hat den gleichen osmotischen Druck wie das Blutplasma (ca. 300 mosmol/l). ● Eine hypotone Infusionslösung hat einen niedrigeren osmotischen Druck und somit eine niedrigere Osmolarität (< 270 mosmol/l).

43.2 Infusionstherapie: Pflegerische Aufgaben ●

Eine hypertone Infusionslösung hat einen höheren osmolaren Druck (> 310 mosmol/l).

Definition

L ●

Unter Osmolarität versteht man die Summe der molekularen Konzentrationen aller osmotisch wirksamen Teilchen (angegeben in osmol) pro Volumeneinheit (Liter).

Infusionslösungen werden in 4 große Hauptgruppen gegliedert: ● Basislösungen ● Korrekturlösungen ● Nährlösungen ● Infusionslösungen zum Volumenersatz ▶ Tab. 43.1 gibt einen Überblick über die Hauptgruppen und Indikationen von Infusionslösungen.

Berechnung der Infusionsgeschwindigkeit Als Grundlage aller Geschwindigkeitsberechnungen einer schwerkraftgesteuerten Infusion gilt folgende Regel: 1 ml entspricht 20 Tropfen einer gebräuchlichen Infusionslösung.

Berechnung der Tropfenzahl Angeordnet sind Gesamtinfusionsmenge und Infusionsdauer.

Merke Die Berechnungsformel lautet:

H ●

Tropfenzahl = Infusionsmenge in ml  20 Tropfen=ml Infusionsdauer in Stunden  60 Min:=h

▶ Beispiel. Ein Kleinkind soll postoperativ 300 ml einer Infusionslösung innerhalb von 5 Std. infundiert bekommen. Berechnung: (300 × 20) : (5 × 60) = 6000 : 300 = 20. Das Kind erhält somit 20 Tropfen in der Minute.

Berechnung der Einlaufzeit

Durchführungsverantwortung

Angeordnet sind Tropfenzahl/Min. und Gesamtinfusionsmenge.

Nach Anordnung des ärztlichen Dienstes übernehmen examinierte Pflegefachkräfte die Durchführungsverantwortung bezüglich ihres Handelns. Auszubildende im Pflegeberuf tragen nach theoretischer und praktischer Unterrichtung zusammen mit der jeweiligen examinierten Pflegefachkraft einen Teil der Durchführungsverantwortung. Die Durchführungsverantwortung beinhaltet: ● Vorbereitung der Infusionslösung unter hygienischen Gesichtspunkten ● korrektes Zumischen von Medikamenten in die Infusionslösung ● Anhängen der Infusionslösung bei liegendem intravenösem Zugang ● korrekte Einstellung der Tropfenzahl bei schwerkraftgesteuerten Infusionen ● korrekte Eingabe der zu infundierenden Milliliter pro Stunde bei pumpengesteuerter Infusion ● Überwachung der laufenden Infusionstherapie bzgl. der korrekten Einlaufgeschwindigkeit ● Beobachtung der Einstichstelle der Venenverweilkanüle, sowie des umliegenden Gewebes und des Allgemeinzustandes des Kindes ● Auswechseln von Infusionslösungen, sowie von Infusionssystemen

Merke Die Berechnungsformel lautet:

H ●

Infusionszeit = Infusionsmenge in ml  20 Tropfen=ml Tropfenzahl=Min:  60 Min:=h

▶ Beispiel. Ein Schulkind bekommt postoperativ 1800 ml Gesamtinfusionsmenge mit einer Tropfenzahl von 40 Tropfen/Min. infundiert. Berechnung: (1800 × 20) : (40 × 60) = 36 000 : 2400 = 15. Die Infusionstherapie ist nach 15 Stunden beendet.

Merke

H ●

Falls möglich, ist die druckgesteuerte und mengenkontrollierte Infusion mit Infusionspumpen vorzuziehen. Das gilt im Besonderen für die Infusionstherapie im Bereich der Intensivmedizin, bei Früh- und Neugeborenen sowie Säuglingen und Kleinkindern und bei Infusionslösungen bzw. Medikamenten, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums mengenkontrolliert infundiert werden müssen, z. B. Zytostatika oder Antibiotika.

43.1.2 Zuständigkeitsbereiche Anordnungsverantwortung Die Anordnungs- und Gesamtverantwortung der Infusionstherapie obliegt ausschließlich dem Arzt. Er trifft im Rahmen dieser Verantwortungskompetenz folgende Entscheidungen: ● zu infundierende Lösung ● Infusionsart (Dauer- oder Kurzinfusion) ● Applikationsart der Infusion ● Einlaufgeschwindigkeit und Gesamtmenge der Infusion ● evtl. Zusatz von Medikamenten

Merke

H ●

Anordnungen im Rahmen der Infusionstherapie müssen vom Arzt schriftlich dokumentiert und mit Unterschrift oder Handzeichen versehen werden.

Merke

H ●

Voraussetzung für die Verwendung einer Infusions-/Infusionsspritzenpumpe ist eine entsprechende Einweisung nach den Vorgaben der MedizinprodukteBetreiberverordnung.

43.2 Infusionstherapie: Pflegerische Aufgaben 43.2.1 Vorbereitung, Wechsel und Entfernen einer Infusion

43

Vor Beginn der Infusionstherapie müssen die notwendigen Materialien rationell und übersichtlich auf einer zuvor desinfizierten Arbeitsfläche zusammengestellt werden. Fenster und Türen sollten geschlossen werden. Folgende Materialien sind grundsätzlich erforderlich: ● Infusionsständer ● ggf. Nachttisch als Abstellmöglichkeit für eine Spritzenpumpe bei Säuglingen oder Spezialhalterungen für Spritzenpumpen

1

Infusion und Transfusion

Tab. 43.1 Infusionslösungen und deren Indikation. Infusionslösung

Indikation

Hinweise

Basislösungen elektrolytfreie Kohlenhydratlösung (z. B. Glukose 5 %)



Zufuhr von Flüssigkeit Zufuhr von Kohlenhydraten Trägerlösung für Medikamente

NaCl 0,9 %



Trägerlösung

Elektrolytlösungen mit Wasser (z. B. Jonosteril)



Ergänzungslösungen

Elektrolytlösung mit Wasser und Kohlenhydraten (z. B. Jonosteril HD 5)



Ergänzungslösungen



zur Korrektur bei Störung des Wasser-Elektrolyt-Haushalts

● ●



Basislösungen sind isoton bzw. hypoton



isoton



⅓-Elektrolytlösungen: Natriumgehalt < 60 mosmol/l ½-Elektrolytlösungen: Natriumgehalt > 61 und < 90 mosmol/l ⅔-Elektrolytlösungen: Natriumgehalt > 91 und < 120 mosmol/l Vollelektrolytlösungen: Natriumgehalt > 140 mosmol/l

Korrekturlösungen korrigierende Elektrolytlösungen (z. B. Jonosteril päd I, Jonosteril päd II)







Elektrolytkonzentrate/Elektrolytzusätze (z. B. Natriumchlorid-Lösung 5,85 %, Kaliumchlorid 7,45 %)





Osmodiuretika (z. B. Osmosteril)

● ●



Lösungen zur Wiederherstellung des Säure-BasenHaushalts, z. B. Natriumbikarbonat

● ●

Elektrolytzusätze sind hochprozentige Elektrolytlösungen mit nur einem Inhaltsstoff (z. B. Kalzium oder Kalium) und werden den Basislösungen zugesetzt. Zusätze müssen immer verdünnt infundiert werden, da die hohe Konzentration zu Venenreizung oder Stoffwechselentgleisung bis hin zum lebensbedrohlichen Zustand führen kann.

zur Ausschwemmung von Ödemen zur Prophylaxe und Therapie eines Hirnödems zur forcierten Diurese, z. B. bei Vergiftungen



Infusionslösungen zur Osmotherapie sind hyperton und binden deshalb Wasser. Zunächst gelangt die Flüssigkeit aus dem Interstitium zurück in die Blutbahn. Später wirken die Osmodiuretika im Glomerulumfiltrat der Niere, vermindern die Rückresorbtion von Wasser und somit kommt es zur gesteigerten Diurese.

Alkalose Azidose



Infusionslösungen zur Wiederherstellung des Säure-Basen-Haushaltes wirken hyperosmolar.

Zufuhr von Eiweiß als Teil der parenteralen Ernährung



lichtgeschützt lagern langsames Infundieren, da sie ansonsten wieder über die Niere ausgeschieden werden

zur Deckung des Bedarfs an Energie und essenziellen Fettsäuren



Energiezufuhr parenterale Ernährung Ausgleich von Hypoglykämien



als Zusatz zur parenteralen Ernährung bei Vitaminmangelerscheinungen



Vitaminlösungen werden lichtgeschützt infundiert.

akuter Blutverlust hypovolämischer Schock



Bei Plasmaersatzmitteln besteht die Gefahr einer anaphylaktoiden Reaktion.

Nährlösungen Aminosäurelösungen, z. B. Aminosteril KE päd

Fettlösungen, z. B. Lipovenös

hochprozentige Kohlenhydratlösung, z. B. Combisteril I





● ● ●

43

Vitamine, z. B. Soluvit











Fettlösungen nur langsam infundieren fettlösliche Vitamine (E, D, K, A) können der Fettemulsion zugesetzt werden; Applikation muss dann lichtgeschützt erfolgen Kohlenhydratlösungen werden in Form von Zucker (z. B. Glukose) zugeführt hochprozentige, hypertone Infusionslösungen (Osmolarität > 800 mosmol/l) werden über einen zentralen Venenkatheter infundiert, da es ansonsten zur starken Venenreizung kommt

Spurenelemente Kombinationslösungen (enthalten Aminosäuren, Kohlenhydrate und Elektrolyte) Infusionslösung zum Volumenersatz z. B. Plasmasteril

● ●

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43.2 Infusionstherapie: Pflegerische Aufgaben ●





● ●

Infusionssystem (für Schwerkraftinfusion oder für Infusionspumpe) ggf. Infusionspumpe (▶ Abb. 43.1) oder Infusionsspritzenpumpe (▶ Abb. 43.2) angeordnete Infusionslösung (auf Verfalldatum achten!) sterilisierte Tupfer, Desinfektionsmittel Materialien zur Beschriftung des Infusionsbehältnisses, z. B. Aufkleber oder ein wasserfester, lösungsmittelfreier Stift





Vorbereitung einer Schwerkraftinfusion Die Vorbereitung einer Schwerkraftinfusion erfolgt in mehreren Schritten: ● Nach einer hygienischen Händedesinfektion (▶ Abb. 43.3a) wird die Verschlusskappe der Infusionsflasche geöffnet. Verschlusskappe des Infusionsbehältnisses entfernen und darunterliegende Einstichstelle desinfizieren







(Wischdesinfektion, dabei Einwirkzeit beachten). Die Einstichstelle von Plastikflaschen muss nicht zwangsläufig desinfiziert werden. Allerdings sollten hierzu prinzipiell die Herstellerangaben beachtet werden. Das steril verpackte Infusionssystem wird geöffnet und aus der Verpackung genommen (▶ Abb. 43.3b). Der Einstichdorn wird unter aseptischen Bedingungen durch den Gummistopfen in die stehende Flasche oder den liegenden Infusionsbeutel gestochen (▶ Abb. 43.3c), dabei sind Rollklemme oder Durchflussregler und Luftfilter geschlossen (▶ Abb. 43.3d). Die Infusionsflasche wird am Infusionsständer aufgehängt. Durch Komprimieren erfolgt die Füllung der Tropfkammer bis zur Hälfte (▶ Abb. 43.3e) (bei Glasflaschen erfolgt dann ein Öffnen des Luftfilters), anschließend wird das Infusionssystem luftleer gemacht (▶ Abb. 43.3e). Die Beschriftung der Infusionsflasche erfolgt eindeutig mit Patientenname, Datum, Uhrzeit und Zimmernummer sowie der Angabe von Zusätzen. Beim Füllen eines Infusionssystems für Infusionspumpen sollte das Infusionssystem nicht zu schnell mit der Infusionslösung entlüftet werden, da es zur Bildung von Luftbläschen kommen kann. Da die Infusionspumpe auf jedes noch so kleine Luftbläschen mit Alarm reagiert, kann dies u. U. bedeuten, dass die Infusion mit einem neuen Infusionssystem versehen werden muss.

Vorbereitung einer Infusion mit Zusätzen

Abb. 43.1 Infusionspumpe. Beim Infusomaten sind Infusionsgeschwindigkeit und Volumen einzustellen. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Um eine Infusion mit Zusätzen vorzubereiten, werden folgende zusätzliche Materialien benötigt: ● steril verpackte Spritzen (mit entsprechendem Volumen) ● steril verpackte Kanülen zum Aufziehen des Zusatzes ● sterilisierte Tupfer ● Abwurfschale ● angeordneter Infusionszusatz

Merke

Abb. 43.2 Infusionsspritzenpumpe. Der Perfusor ermöglicht eine genaue Einstellung auch bei kleineren Infusionsmengen. (Foto: A. Fischer, Thieme)

● H

Die Zubereitung einer Infusion mit Zusätzen ist mit der Herstellung eines Medikaments gleichzustellen und daher laut Gesetz in den Zuständigkeitsbereich eines Apothekers einzuordnen. Nur wenn dies aus organisatorischen Gründen in einer Klinik nicht möglich ist, darf die Infusion im stationären Bereich auf ärztliche Anordnung unter streng aseptischen Bedingungen und erst unmittelbar vor der Verabreichung zubereitet werden.

Nachdem alle Materialien gerichtet wurden, erfolgt eine hygienische Händedesinfektion. Falls sich der benötigte Infusionszusatz in einer Glasampulle befindet, wird der Ampullenhals an der dafür vorgesehenen Markierung mit einem Tupfer abgebrochen. Plastikampullen werden durch Drehen der Spitze geöffnet. Die Spritze, sowie die Kanüle, werden steril der Verpackung entnommen und die Aufziehkanüle auf die Spritze aufgesetzt. Die Schutzkappe der Kanüle wird entfernt und die angeordnete Menge des Ampulleninhalts aufgezogen. Zur Vermeidung einer Kontamination wird ein Kanülenwechsel empfohlen. Der Inhalt der Spritze wird im nächsten Schritt vorsichtig in die Basisinfusion eingespritzt.

Praxistipp Pflege

Z ●

Bei der Entstehung von Überdruck in der Infusionsflasche durch Zuspritzen von größeren Flüssigkeitsmengen sollte nach einer Unterbrechung des Zuspritzens Luft aus der Infusionsflasche in die Spritze aspiriert werden. Nun ist das Einspritzen einer weiteren Teilmenge möglich. Dieser Vorgang wird so lange wiederholt, bis das gesamte Volumen zugefügt ist.

Die Kanüle wird entfernt und der Gummistopfen desinfiziert (Einwirkzeit beachten). Die Infusion mit Zusatz wird dann wie bei der Vorbereitung der Infusion weiterverarbeitet.

Vorbereitung einer Infusionsspritze (Perfusorspritze) Mit einer Infusionsspritzenpumpe werden kleinere Mengen an Infusionslösungen infundiert. Eine Infusionsspritze hat ein Volumen von 50 ml. Zur Vorbereitung einer Infusion mittels Infusionsspritzenpumpe werden zusätzlich eine Infusionsspritze und eine Infusionsspritzenleitung benötigt. Jede Infusionsspritze ist mit einer Kanüle zum Aufziehen versehen. Eine Infusion mittels Infusionsspritzenpumpe besteht immer aus einer Basisinfusionslösung und ggf. weiteren Zusätzen. Zunächst ist immer die Basislösung aufzuziehen, z. B. 30 ml Glukose 5 %. Eventuelle Zusätze werden in weiteren sterilen Spritzen aufgezogen und in die zurückgezogene Perfusorspritze unter sterilen Bedingungen zugespritzt. Hierbei ist für jeden Vorgang die Verwendung einer neuen Kanüle zu empfehlen, um Verunreinigungen zu vermeiden. Dann wird die Perfusorleitung auf die Perfusorspritze aufgeschraubt und luftleer gemacht. Auf die Spritze wird ein Aufkleber geklebt, auf dem der Inhalt im Detail aufgeführt ist.

43

3

Infusion und Transfusion

Abb. 43.3 Vorbereitung einer Infusion. (Foto: W. Krüper, Thieme) a Hygienische Händedesinfektion durchführen. b Infusionsbesteck aus der Packung nehmen. c Einstichdorn in den Gummistopfen stechen, Rollklemme oder Durchflussregler sind dabei geschlossen. d Infusion an einen Infusionsständer hängen. Durch Komprimieren die Tropfenkammer bis zur Hälfte füllen. e Rollklemme bzw. Durchflussregler öffnen und System vollständig entlüften.

Vorbereitung einer Infusion in einer Laminar-Air-Flow-Einheit

43

814

Neben der herkömmlichen Vorgehensweise beim Vorbereiten der Infusion besteht die Möglichkeit, die Infusion in einer Laminar-Air-Flow-Einheit zuzubereiten (▶ Abb. 43.4). Die Laminar-Air-Flow-Einheit gewährleistet, dass das Aufziehen unter sterilen Bedingungen erfolgt, da die Luft durch ein spezielles Filtersystem zu 99,99 % von allen Partikeln gereinigt wird, die größer als 3 μm sind. Vor Inbetriebnahme muss das Gerät auf die vom Hersteller angegebene Betriebsstufe eingeschaltet werden. Laut Herstellerangabe muss die Lüftung mindestens 10–15 Minuten vorlaufen, um die Luft im Arbeitsbereich zu reinigen. Während der Vorlaufzeit wird der Arbeitsbereich innerhalb des Laminar-Air-Flow mit einem Flächendesinfektionsmittel desinfiziert. Voraussetzung ist, dass die Pflegefachkraft mit sterilem Kittel, sterilen Handschuhen, Mundschutz und Haube unter sterilen Bedingungen arbeitet und die Betriebsanleitung lückenlos beachtet. Des Weiteren muss die Pflegefachkraft eine Geräteeinweisung laut MedizinprodukteBetreiberverordnung erhalten haben.

Filtersystem

Acrylscheibe

Arbeitsfläche

Luftansaugung

gefilterte Luft Lüftung

ungefilterte Luft

Abb. 43.4 Laminar-Air-Flow-Einheit. Sie ermöglicht die Zubereitung von Infusionen unter sterilen Bedingungen.

43.2 Infusionstherapie: Pflegerische Aufgaben

Merke

H ●

Jede zubereitete Mischinfusion ist pharmakologisch als Arzneimittel zu betrachten!

heit der Bezugsperson, schmerzreduzierende Maßnahmen vor dem Eingriff und eine angstreduzierende Gestaltung der Umgebung besonders wichtig (▶ Abb. 43.5).

Assistenz beim Legen eines peripheren Gefäßzugangs Vorbereitung

Wechseln des Infusionsbehältnisses und des Infusionssystems Im Vorfeld werden Kind und Eltern über das Wechseln des Infusionsbehältnisses und des Infusionssystems informiert. Der Wechsel von Infusionsflasche und Infusionssystem erfolgt unter aseptischen Bedingungen.

Merke

H ●

Bei der Verwendung von Klemmen, um festsitzende Schraubverbindungen zu öffnen, ist darauf zu achten, dass ausschließlich für Infusionssysteme geeignete Klemmen (armierte, d. h. beschichtete Klemmen, oder Schlauchklemmen aus Kunststoff) benutzt werden. Es besteht ansonsten die Gefahr der Haarrissbildung am Verbindungsstück. Diese stellen eine Eintrittsstelle für Keime und Luft dar.

Glukosehaltige Mischinfusionen sollten i. d. R. nicht länger als 6 Stunden laufen, es sei denn, sie wurden unter dem LaminarAir-Flow aufgezogen. Ansonsten ist die Gefahr der Keimbesiedlung erhöht. Sofern eine Infusion mittels Schwerkraft einläuft, ist es wichtig, dass Infusionssystem nie leer laufen zu lassen. Es erfolgt zunächst eine hygienische Händedesinfektion. Vor dem Wechseln der Infusionsflasche muss die Rollklemme geschlossen sein. Der Alarm der Infusionspumpe wird kurzzeitig unterdrückt. Die Verschlusskappe der Infusionsflasche wird geöffnet und der nach oben gehaltene Einstichdorn des Infusionssystems senkrecht in die Infusionsflasche eingestochen. Nach dem Öffnen der Rollklemme wird die Alarmunterbindung der Infusionspumpe deaktiviert sowie die Einlaufgeschwindigkeit überprüft. Bei einer schwerkraftgesteuerten Infusion wird ebenfalls die Tropfenzahl erneut eingestellt.

43.2.2 Legen eines peripheren Gefäßzugangs Das Legen eines peripheren Gefäßzugangs kann je nach Alter des Kindes ein traumatisches Erlebnis sein. Daher sind eine altersgerechte Vorbereitung, die Anwesen-

Die notwendigen Materialien werden von der Pflegefachkraft auf einem Tablett gerichtet und stellen sich wie im Folgenden beschrieben zusammen. ▶ Material. Benötigt werden: ● Schutzkittel ● unsterile Handschuhe ● sterile Tupfer ● Hautdesinfektionsmittel ● Venenverweilkanülen (▶ Abb. 43.6) ● Pflaster, Verband, evtl. Schiene ● Abwurfschale ● Stauschlauch ● 2-ml- oder 5-ml-Spritze mit Verbindungsleitung, die mit isotonischer Kochsalzlösung gefüllt ist ● ggf. Dreiwegehahn (▶ Abb. 43.7) ● steriler Stöpsel zum Verschluss der Verbindungsleitung (z. B. Combi-Stopper) ▶ Kind. Das Kind wird einfühlsam und altersgerecht informiert. Ehrlichkeit hat dabei oberste Priorität! Auf keinen Fall darf verschwiegen werden, dass das Legen einer Venenverweilkanüle Schmerzen bereitet. Die Eltern des Kindes werden durch den Arzt über das Legen der Venenverweilkanüle sowie die geplante Infusionstherapie informiert. Ein älteres Kind erhält darüber Informationen, dass es beim Legen der Venenverweilkanüle ruhig liegen bleiben muss. Je nach Alter sollte das Kind durch eine zweite Pflegefachkraft gehalten werden, damit die Venenpunktion sicher erfolgen kann. Die Eltern oder Bezugsperson sollten, wenn möglich, beim Legen der Verweilkanüle anwesend sein. Zur Schmerzreduktion besteht die Möglichkeit, ca. 45 Minuten vor dem Eingriff auf ärztliche Anordnung zur Analgesierung ein anästhesierendes Salbenpflaster gemäß den Herstellerangaben auf der Punktionsstelle aufzukleben (z. B. Emla).

Praxistipp Pflege

Z ●

Bei der Auswahl der Infusionsstelle soll darauf geachtet werden, dass das Kind in seinen Lebensaktivitäten möglichst wenig beeinträchtigt wird: ● Ist das Kind Rechts- oder Linkshänder? ● Gibt es einen Lieblingsfinger zum Lutschen? ● Hat das Kind ausreichend weite Kleidung an?

Abb. 43.5 Die Mutter ist beim Legen der Infusion dabei. Die Anwesenheit der Bezugsperson ist für Kinder im Krankenhaus besonders wichtig (Symbolbild). (Foto: pingpao – stock.adobe.com)

Abb. 43.6 Plastikverweilkanüle. Der Stahlmandrin (rechts) wird nach dem Legen entfernt, sodass nur der freie Plastikschlauch in der Vene verbleibt. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Abb. 43.7 Dreiwegehahn. Er ermöglicht korrektes Zuspritzen eines Medikaments bei laufender Infusionstherapie. (Foto: W. Krüper, Thieme)

43

Durchführung Zu Beginn der Maßnahme erfolgt eine hygienische Händedesinfektion. Das Legen der Venenverweilkanüle ist ärztliche Aufgabe. Positionierung und Fixierung des Kindes erfolgen durch eine zweite Pflegefachkraft. Das Kind ist dabei in Rückenlage. Beim Legen einer Venenverweilkanüle tragen Arzt und Pflegefachkraft zum Eigenschutz unsterile Einmalschuhe. Folgende Punktionsstellen eignen sich zur Punktion und zum Anlegen einer Venenverweilkanüle:

5

Infusion und Transfusion ●

● ● ●



Handrücken (Venenbogen am Handrücken) Ellenbeuge (V. cephalica) Unterarm (V. cephalica) Fußrücken (Venenbogen am Fußrücken) Kopf (V. supratrochlearis, V. temporalis superficialis)

Nachdem die Punktionsstelle aufgefunden wurde, erfolgt das Stauen der Vene entweder durch die Hand der Pflegefachkraft oder einen Stauschlauch.

Merke

H ●

Es ist darauf zu achten, dass trotz Stauung der periphere Puls an der Extremität noch tastbar ist.

Nach der Desinfektion der gewählten Einstichstelle und korrekter Venenpunktion wird der Stahlmandrin etwas zurückgezogen und gleichzeitig die Plastikkanüle in die Vene geschoben. Die mit isotonischer Kochsalzlösung gefüllte Verbindungsleitung wird auf die Venenverweilkanüle gesteckt und langsam Kochsalzlösung in die Vene injiziert. Erfolgt nicht unmittelbar nach dem Legen des venösen Zugangs die Infusionstherapie, wird der Verbindungsschlauch mit einer sterilen Verschlusskappe verschlossen.

Merke

H ●

Veränderungen an und um die Punktionsstelle (z. B. Rötung, Schwellung) sowie Schmerzäußerungen des Kindes zeigen eine mögliche Fehlpunktion an!

Treten keine Auffälligkeiten auf, kann die Venenverweilkanüle mit Pflasterstreifen oder einem speziellen Fixierungspflaster fixiert werden (▶ Abb. 43.8). Dabei muss der Verband im Bereich der Einstichstelle steril sein. Bei einer Venenpunktion an

43

einer Extremität kann diese durch eine gepolsterte Schiene in physiologischer Mittelstellung ruhiggestellt werden. Es darf durch die Fixierung keine Stauung entstehen, um eine störungsfreie Infusionstherapie zu gewährleisten. Liegt die Venenverweilkanüle am Kopf, muss darauf geachtet werden, dass sich unter den Pflasterstreifen keine Haare befinden. Es ist sinnvoll, bereits bei der Auswahl der Fixierung die schwierigere Ablösung des Pflasters zu berücksichtigen und andere, leicht lösbare Klebematerialien zu bevorzugen. Durch eine „Mütze“, bestehend aus einem Netzverband, erfolgt eine zusätzliche Fixierung der Venenverweilkanüle. Die vorbereitete Infusion wird nach nochmaliger Kontrolle angeschlossen und die angeordnete Infusionsgeschwindigkeit bzw. Tropfenzahl eingestellt. Es ist darauf zu achten, dass die Infusionsleitung nicht abgeknickt und die Verbindungsleitung mit der Infusionsleitung fest konnektiert ist.

Nachsorge Das Legen einer peripheren Venenverweilkanüle ist für das Kind mit sehr viel Stress in Form von Angst, Schmerzen, Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein verbunden. Deshalb ist es besonders wichtig, das Kind altersgerecht zu beruhigen und es für seine Tapferkeit zu loben. Wurden vor dem Legen der Venenverweilkanüle Vereinbarungen mit dem Kind getroffen, z. B. ein kleines Geschenk, sind diese unbedingt einzuhalten, da dies ansonsten ein großer Vertrauensbruch gegenüber dem Kind darstellt. Die Infusionsflasche wird so platziert, dass sie nie direkt über dem Kopf des Kindes hängt, sondern immer an einem Infusionsständer an der dafür vorgesehenen Aufhängung. Zum Abschluss erfolgt eine hygienische Händedesinfektion.

Dokumentation Im Infusionsplan werden zeitnah Datum und Uhrzeit mit Beginn der Infusionstherapie dokumentiert und mit dem Handzeichen der jeweiligen Pflegefachkraft abgezeichnet. Außerdem werden im Dokumentationssystem die Punktionsstelle sowie weitere Besonderheiten (z. B. erfolgte Fehlpunktionen) dokumentiert.

Entfernen der Infusion und der Venenverweilkanüle

Abb. 43.8 Tegaderm. (Abb. von: 3M Deutschland GmbH)

816

Die Beendigung der Infusionstherapie sowie das Entfernen der Venenverweilkanüle erfolgt nach ärztlicher Anordnung. An erster Stelle steht die Information von Kind und Eltern über die geplante Maßnahme.

Vor dem Entfernen der Kanüle wird das Infusionssystem mit der Rollklemme abgeklemmt und die Infusionspumpe ausgeschaltet. Zum Eigenschutz ist das Tragen von unsterilen Einmalhandschuhen erforderlich. Der Verband sowie eine evtl. vorhandene Schiene werden entfernt. Um die Pflasterstreifen besser ablösen zu können, empfiehlt es sich, das Pflaster vorsichtig mit einem speziellen Pflasterentferner (z. B. REMOVE) zu benetzen. Befindet sich die Venenverweilkanüle bei Säuglingen z. B. am Kopf, ist das Ablösen des Pflasters mit Hautdesinfektionsmittel kontraindiziert, da das Verflüchtigen des Alkohols negative Auswirkungen auf Augen und Atmung des Kindes haben kann. Nachdem die Kanüle vorsichtig herausgezogen wurde, muss die Einstichstelle ca. 1 – 2 Minuten mit einem sterilen Tupfer komprimiert werden, bis die Blutung zum Stillstand (Sistieren) gekommen ist. Das Kind erhält nun ein hautfreundliches (ggf. buntes) Pflaster auf die Einstichstelle. Die Beendigung der Infusionstherapie und das Entfernen der Venenverweilkanüle werden im Dokumentationssystem mit Datum und Uhrzeit dokumentiert.

43.2.3 Pflege eines Kindes mit Infusionstherapie Eine laufende Infusionstherapie stellt für das Kind eine besondere Situation dar, da es z. T. in seinen Lebensaktivitäten eingeschränkt ist. Bei einem Kind mit laufender Infusionstherapie können folgende Pflegeprobleme entstehen: ● Probleme bei der eigenständigen Nahrungsaufnahme aufgrund der Bewegungseinschränkung ● eingeschränkte Aktivität bei der eigenen Durchführung der Körperpflege sowie des Kleidungswechsels, da aufgrund der Lokalisationsstelle der Venenverweilkanüle das Kind nicht mehr oder nicht ausreichend in der Lage ist, sich selbstständig zu waschen ● eingeschränkte Bewegungsmöglichkeiten ● eingeschränkte Beschäftigungsmöglichkeit und daraus entstehende Langeweile ● Gefahr von Schmerzen durch eine paravenös laufende Infusion ● Gefahr von Unverträglichkeitsreaktionen ● Gefahr von Infektionseintritt über die Venenverweilkanüle oder die Infusion ● Gefahr einer Venenreizung an der Eintrittsstelle der Venenverweilkanüle Im Folgenden werden die Pflegemaßnahmen den Pflegezielen zugeordnet.

43.2 Infusionstherapie: Pflegerische Aufgaben

43.2.4 Pflegeziele und Maßnahmen bei liegender Infusion Eigenständigkeit bei der Ausübung der Lebensaktivitäten Unter Berücksichtigung der Ressourcen des Kindes wird dem Kind so viel Hilfe angeboten, wie es tatsächlich benötigt. Wichtig ist, dass das Kind dabei nicht überfordert oder unterfordert wird. ▶ Ernährung. Die Nahrungsaufnahme eines Kindes unter laufender Infusionstherapie ist oftmals ganz oder teilweise gestört. Auslöser für die gestörte Aufnahme von Nahrung und Flüssigkeit kann die Bewegungseinschränkung des Arms oder der Hand sein, an dem die Venenverweilkanüle lokalisiert ist. In diesem Fall ist die Nahrung von der Pflegefachkraft so weit vorzubereiten, dass das Kind, sofern es das Lebensalter und der Gesundheitszustand zulassen, eigenständig seine Nahrung zu sich nehmen kann. Das Stillen eines Neugeborenen oder Säuglings mit laufender Infusionstherapie stellt kein Problem dar, sofern darauf geachtet wird, dass kein Zug am Infusionssystem entsteht und keine Gegenindikation aufgrund der Grunderkrankung besteht. Gegebenenfalls müssen Stillproben durchgeführt werden, um die Bilanzierung genau dokumentieren zu können. In der Flüssigkeitsbilanz muss die infundierte Flüssigkeit zur Trinkflüssigkeit summiert werden. Um eine Überwässerung des Körpers zu vermeiden, muss bei Ausscheidungsstörungen die Trinkmenge beschränkt oder die Infusionsmenge angepasst werden. ▶ Bewegung, Spielverhalten. Auch Kinder und Jugendliche mit laufender Infusion sollen möglichst an den Geschehnissen des Tagesablaufs der Station teilnehmen können (▶ Abb. 43.9). Befindet sich die Kanüle am Fuß, kann das Kind in einen Buggy gesetzt werden. Kinder mit laufender Infusion sind auch in ihrem Spielverhalten eingeschränkt.

Abb. 43.9 Mobil trotz Infusionstherapie. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Deshalb ist ein adäquates Spiel- und Beschäftigungsangebot für das Kind sehr wichtig.

lichkeit, Ärmel von T-Shirts oder Pullover auf einer Seite zu öffnen und diese mit Klettverschlüssen zu versehen. Beim Wechseln der Kleidung wird am Infusionssystem für kurze Zeit die Rollklemme verschlossen und die Infusionsflasche durch den Ärmel des Kleidungsstücks gesteckt. Hierbei ist darauf zu achten, dass der Belüftungsfilter an der Tropfkammer verschlossen ist. So wird die Benetzung des Filters mit Infusionslösung vermieden und seine Funktion bleibt erhalten. Nach dem Wechseln der Kleidung wird die Infusionsflasche zurück an den Infusionsständer gehängt und der Belüftungsfilter sowie die Rollklemme geöffnet. Die Infusionspumpe wird erneut eingeschaltet bzw. die Tropfenzahl neu eingestellt.

▶ Ausscheidung. Urin- und Stuhlentleerung des Kindes sind im Bett auf einem Steckbecken oder in eine Urinflasche möglich. Soweit Lebensalter und Gesundheitszustand des Kindes es zulassen, ist der Gang auf das Töpfchen oder zur Toilette ebenfalls möglich. Es ist darauf zu achten, dass das Infusionssystem nicht unter Zug steht und die Infusionsflasche korrekt am Infusionsständer fixiert ist.

Wohlbefinden in geeigneter Kleidung Eine periphere Venenverweilkanüle mit laufender Infusionstherapie ist keine Indikation, um dem Kind ausschließlich klinikspezifische Hemden (OP-Hemdchen) anzuziehen. Bei der Kleidung des Kindes ist darauf zu achten, dass diese weit genug ist, um sie problemlos zu wechseln. Liegt die Venenverweilkanüle beim Säugling am Füßchen, ist darauf zu achten, dass der Strampler keine Füße hat. Eltern werden dahin gehend beraten, von zu Hause weite Kleidung für ihr Kind mitzubringen. Private Kleidung bedeutet für ein Kind etwas Gewohntes, weite Kleidung hat den Vorteil, dass beim Wechseln des T-Shirts eine Dekonnektierung des Infusionssystems vermieden werden kann. Benötigt ein Kind für längere Zeit eine Infusionstherapie, haben Eltern die Mög-

Merke

H ●

Ein unnötiges Dekonnektieren des Infusionssystems ist zu vermeiden, da jede Manipulation das Eindringen von Keimen begünstigt!

Rechtzeitiges Erkennen von Komplikationen Die tägliche Gewichtskontrolle, wenn möglich immer zur gleichen Uhrzeit, ist besonders wichtig. Außerdem erfolgt auf ärztliche Anordnung häufig eine Bilanzierung in Form von Ein- und Ausfuhrkontrolle, um ein mögliches Einlagern von Flüssigkeit im Gewebe (Ödeme) rechtzeitig zu erkennen. Während der Durchführung der Körperpflege durch die Pflegefachkraft ist im besonderen Maße der Zustand von Haut und Schleimhäuten zu beobachten, da diese ein Bild über den Flüssigkeitshaushalt des Kindes geben. Sind die Schleimhäute trocken, die Lippen spröde und lässt sich die Haut in Falten abheben, weist dies auf einen Flüssigkeitsmangel hin. In diesem Fall ist umgehend der Arzt zu informieren sowie die

43

Tab. 43.2 Beobachtungskriterien bei Infusionstherapie. Beobachtung des Kindes mit laufender Infusion ● ●

● ● ● ● ●

Allgemeinbefinden Unverträglichkeitsreaktionen (Rötung, Quaddelbildung, Tachykardie, Schweißausbruch) Schmerzäußerungen Vitalzeichen Flüssigkeitsgleichgewicht Bedarf zur Unterstützung der Lebensaktivitäten Schwellung

Beobachtung der Infusion ●

● ● ● ● ●



Inhalt der angehängten Infusion, Infusionslösung, Beschriftung, Auffälligkeiten Infusionsgeschwindigkeit Fixierung der Venenverweilkanüle Dichtigkeit und Durchgängigkeit des Systems Auffälligkeiten an der Einstichstelle freie Lage des Infusionssystems, d. h. kein Abknicken oder Einklemmen der Leitung Stellung des Dreiwegehahns

7

Infusion und Transfusion Beobachtungen innerhalb des Pflegeberichts zu dokumentieren. Um während der Infusionstherapie Veränderungen am Kind sowie an der Infusion erkennen zu können, ist eine kontinuierliche Beobachtung erforderlich (▶ Tab. 43.2). Es ist sinnvoll, das Kind sowie seine Eltern zur Selbstkontrolle anzuleiten, d. h., dass bei Auffälligkeiten, wie Schmerzen, Schwellung sowie Hautrötung, eine Pflegefachkraft zu informieren ist.

Paravenös laufende Infusion Die Schmerzäußerung eines Kindes kann ein erstes Zeichen für eine paravenös (ins Gewebe) laufende Infusion sein. Es kommt zur Schwellung der Einstichstelle und des umliegenden Gewebes. Säuglinge äußern diese Schmerzen durch Schreien. In diesem Fall muss die Infusionstherapie zwingend unterbrochen werden und umgehend der Arzt informiert werden, da einige Infusionslösungen und Medikamente Gewebeschädigungen und Nekrosen hervorrufen können, z. B. Infusionslösungen mit Zusatz von Kalzium. Eine Spülung durch den Arzt (ggf. mit einem Antidot) kann bei gravierenden Paravasaten durchgeführt werden, um die Symptome zu mildern. Im Dokumentationssystem werden Zeitpunkt, Ausmaß sowie die Therapie im Zusammenhang mit der paravenös laufenden Infusion dokumentiert. In ausgeprägten Fällen sollte aus juristischen Gründen eine Fotodokumentation vorgenommen werden.

a ●

Eltern

Kind und Eltern müssen im Umgang mit dem Infusionsständer angeleitet werden. Den Eltern wird erklärt, dass sie sich bei Problemen des Kindes sowie technischen Störungen der Infusionspumpe an eine Pflegefachkraft wenden sollen. Aus rechtlichen Gründen ist die Bedienung von medizinischen Geräten, also auch von Infusionspumpen, ausschließlich dem Fachpersonal zu überlassen!

43.2.5 Zentraler Venenkatheter (ZVK) Monika Hensel

L ●

Definition

Als zentralen Venenkatheter (ZVK) bezeichnet man einen Katheter, dessen Spitze in der oberen Hohlvene vor dem rechten Vorhof liegt.

Zugangsmöglichkeiten für zentrale Venenkatheter zeigt ▶ Abb. 43.10. Der Arzt ist zuständig für ● die Aufklärung der Eltern, ● das Legen des Katheters, ● Blutentnahmen und Injektionen am liegenden Katheter.

Die Eltern müssen ihr Einverständnis schriftlich bestätigen. Die Pflegefachkraft ist verantwortlich für die Vorbereitung des Materials, die Assistenz beim Legen und die Überwachung und Betreuung des Kindes während und nach der Maßnahme.

Assistenz bei der Anlage eines zentralen Venenkatheters Indikation Als Indikationen gelten: ● parenterale Ernährung über einen längeren Zeitraum ● Notwendigkeit eines sicheren venösen Zugangs über einen längeren Zeitraum (z. B. große Operationen) ● Applikation von hoch konzentrierten Lösungen ● schlechte periphere Venenverhältnisse ● Messung des zentralen Venendrucks ● Möglichkeit von häufigen Blutentnahmen ohne zusätzliche Schmerzbelastung des Kindes

Vorbereitung Die Pflegefachkraft ist zuständig für die Vorbereitung des Kindes, der Materialien und der Räumlichkeiten. Bei Säuglingen erfolgt der Eingriff unter einer Wärmelampe. ▶ Material. Folgende Utensilien werden benötigt und sollten auf einer sterilen Arbeitsfläche vorbereitet werden: ● sterile Abdecktücher, steriles Lochtuch

Phlebitis

43

Eine Rötung an der Eintrittsstelle und/ oder entlang der Vene, auch Phlebitis genannt, kann durch mechanischen Reiz der Venenverweilkanüle oder auch durch die einlaufende Infusionslösung entstehen. Diese Beobachtung ist unverzüglich dem Arzt mitzuteilen. Bei Verdacht auf eine Infektion der Einstichstelle sollte die Venenverweilkanüle umgehend entfernt werden. Kühlende Umschläge oder Salben nach ärztlicher Verordnung können zur Linderung der Symptome beitragen. Es ist zusätzlich sinnvoll, die entsprechende Extremität hochzulegen.

Merke

V. jugularis interna V. jugularis externa V. subclavia

V. basilica

V. femoralis

H ●

Vorsicht ist beim Einsatz von kühlenden Umschlägen bei Säuglingen und temperaturinstabilen Patienten geboten, da die Gefahr der Auskühlung besteht.

V. saphena magna

Abb. 43.10 Zentraler Venenkatheter. Zugangsmöglichkeiten für einen ZVK. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

818

43.2 Infusionstherapie: Pflegerische Aufgaben ●

● ●







● ●



sterile Kittel, sterile Handschuhe, Mundschutz und Haube sterile Tupfer, Hautdesinfektionsmittel sterile Nierenschale, sterile Spritzen und sterile Kanülen sterile isotonische Kochsalzlösung (NaCl 0,9 %) ZVK-Set (▶ Abb. 43.11) mit Materialien in der Größe, die dem Alter bzw. der Größe des Kindes entsprechen (zentraler Venenkatheter, Punktionskanüle, Dilatatorkanüle, Führungsdraht, Skalpell, Spritze) Nahtmaterial, Nadelhalter und sterile Schere Verbandmaterial, Pflaster Infusionslösung mit Filterleitung, Dreiwegehähne Abwurfmöglichkeit

Durchführung Das Kind wird alters- und situationsgerecht informiert und vom ärztlichen Dienst sediert und analgesiert. Außerdem erfolgt eine Lokalanästhesie an der Punktionsstelle. Ein Monitoring, das kontinuierlich EKG, Sauerstoffsättigung und inter-

mittierend Blutdruckwerte ermittelt, ist erforderlich.

Praxistipp Pflege

Z ●

Der Systolenton am Monitor wird laut gestellt, denn das Auftreten von Herzrhythmusstörungen, z. B. Extrasystolen und/oder eine deutlich erhöhte P-Welle, kann ein Hinweis darauf sein, dass sich der Katheter bereits im rechten Vorhof befindet.











Das Legen des zentralen Venenkatheters erfolgt grundsätzlich unter sterilen Bedingungen. Hier wird exemplarisch auf das Legen eines zentralen Venenkatheters über die Vena subclavia mit der SeldingerTechnik eingegangen: ● Zur Punktion der Vene lagert die Pflegefachkraft das Kind in flacher Rückenlage mit einer Schulterrolle unter dem oberen Brustkorb, damit die Schulter leicht angehoben und der Arm etwas nach außen rotiert liegt. Eine leichte Kopftieflage während des Legens verhindert das Entstehen einer Luftembolie.









Nach gründlicher Händedesinfektion werden vom Arzt und von der Pflegefachkraft, die direkt am Kind steht, steriler Kittel, Mundschutz, Haube und sterile Handschuhe angezogen. Nach der Hautdesinfektion des Injektionsgebietes wird ein steril angereichtes Lokalanästhetikum injiziert. Das umliegende Punktionsgebiet wird mit einem sterilen Lochtuch abgedeckt. Vor der Punktion wird der Katheter, bei mehrlumigen Kathetern alle Katheterschenkel, steril mit isotonischer Kochsalzlösung gefüllt. Der Arzt punktiert die Vene, entfernt den Mandrin und führt einen Führungsdraht in die Vene ein. Im Anschluss wird die Punktionskanüle entfernt. Danach erfolgt die Verwendung eines Dilatators. Dieser wird über den Führungsdraht in die Vene geschoben, sodass Punktionsstelle und Gefäß erweitert werden. Dann wird der Dilatator wieder entfernt und der zentrale Venenkatheter über den Führungsdraht bis in die obere Hohlvene vorgeschoben. Der Draht dient dem leichteren Einführen des zentralen Venenkatheters und wird entfernt, nachdem der Katheter platziert ist. Das Abmessen der Katheterlänge erfolgt anhand der Markierung. Um eine Fehllage des zentralen Venenkatheters auszuschließen, wird eine Röntgenkontrolle durchgeführt. Dafür wird der Katheter provisorisch fixiert. Nach dem Röntgen erfolgt die endgültige Fixierung mit einer Hautnaht und Pflasterstreifen. Danach werden nach ärztlicher Anordnung Infusionslösungen und Medikamente verabreicht.

Merke

H ●

Während der Punktion beobachtet die Pflegefachkraft kontinuierlich Vitalzeichen, Allgemeinbefinden, mögliche Schmerzreaktionen und Hautkolorit des Kindes.

43 Nachsorge

Abb. 43.11 ZVK-Punktionsset. a Einlumiger Polyurethankatheter zur Katheterisierung der oberen Hohlvene in steriler Hülle. b Dreilumiges Cavakatheter-Besteck für hohe Durchflussraten und Akutdialyse zur Katheterisierung der oberen Hohlvene nach der Seldinger-Methode. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Das Kind wird nach der Maßnahme entsprechend seinem Krankheitsbild bei der Einnahme einer bequemen Position unterstützt und durch liebevolles Zureden und Erklären beruhigt. Die Einstichstelle wird auf Nachblutungen und Veränderungen beobachtet.

9

Infusion und Transfusion

Merke

H ●

Katheterart, Größe und Lage des Katheters, Fixierung, Punktionsstelle, Liegedauer und Beobachtungen und Besonderheiten während des Ablaufs werden im Patientendokumentationssystem vermerkt.

Das Kind muss gewissenhaft auf Anzeichen einer beginnenden Kathetersepsis beobachtet werden: Temperaturanstieg oder -abfall, Rötung der Eintrittsstelle, hohe oder niedrige Herzfrequenz, Verschlechterung des Allgemeinzustandes, z. B. Appetitlosigkeit, Trinkschwierigkeiten, Spielunlust, Müdigkeit, blass-graues Hautkolorit und eine gestörte Mikrozirkulation können erste Infektionszeichen sein. Ein hygienisch einwandfreies Handling am ZVK ist notwendig: ● Die Infusionssysteme sind regelmäßig nach kliniküblichen Standards zu wechseln. ● Aus Sicherheitsgründen werden nur Infusionsleitungen, die mit einem Bakterien-, Luft- und Partikelfilter ausgestattet sind, verwendet. ● Um einer Luftembolie vorzubeugen, wird der zentrale Venenkatheter beim Systemwechsel mit einer armierten Klemme oder den vom Hersteller vorgesehenen Klemmen abgeklemmt. ● Ein Verbandwechsel an der Eintrittsstelle wird regelmäßig nach kliniküblichen Standards durchgeführt. ● Die Einstichstelle und das umgebende Hautareal werden auf Entzündungszeichen, wie Rötung, Schwellung und Sekretabsonderung inspiziert.

Merke

H ●

Eine sichere Fixierung des Venenkatheters und sorgfältige Beobachtung des Kindes verhindert, dass der Katheter abknickt oder herausrutscht.

43 Komplikationen Beim Legen eines ZVK kann es zu den folgenden Komplikationen kommen. ▶ Fehlpunktion. Eine versehentliche Fehlpunktion kann zu Verletzungen an der Lunge führen. Eintritt von Luft (Pneumothorax), Lymphflüssigkeit (Chylothorax) oder Blut in den Pleuraspalt (Hämatothorax) können die Folge sein. Weitere mögliche Folgen können eine arterielle Punktion oder die Verletzung eines Nervs sein.

▶ Infektion. Es kann zu Hautinfektionen an der Eintrittsstelle oder einer Kathetersepsis kommen, d. h. Eintritt von Bakterien in den zentralen Katheter, was zu einer lebensbedrohlichen Infektion führen kann. ▶ Luftembolie. Diese entsteht durch Eintritt von Luft beim Legen oder beim liegenden zentralen Venenkatheter in das Gefäßsystem. ▶ Weitere Komplikationen. Hierzu gehören Herzrhythmusstörungen, Bildung von Blutgerinnseln, unkorrekte Katheterlage, Katheterabriss, Abknicken des Katheters.

43.2.6 Zentrale Venendruckmessung Definition

L ●

Der zentrale Venendruck (ZVD) ist der Druck im thorakalen Hohlvenensystem.

Die ZVD-Messung dient zur Beurteilung des Füllungszustandes im venösem Blutsystem und der Funktion des rechten Herzens (▶ Tab. 43.3). Voraussetzung für die Messung des zentralen Venendruckes ist ein korrekt liegender zentraler Venenkatheter. Der zentrale Venendruck kann über einen elektronischen Druckwandler an einem geeigneten Monitor oder einem mit steriler Kochsalzlösung gefüllten Flüssigkeitsmanometer gemessen werden. Die Messung ist Aufgabe des Pflegepersonals. Indikationen zur zentralen Venendruckmessung sind: ● Überwachung der Herz-Kreislauf-Funktion bei schwer kranken Kindern, z. B. Schock, Sepsis ● Störungen des Flüssigkeitshaushalts ● Herz- und Nierenerkrankungen Der ZVD-Wert ist unterschiedlichen Einflüssen unterworfen. Zur konkreten Beurteilung der Kreislauf- und Volumensituation bedarf es der Einordnung des Wertes in alle klinischen Befunde. Hohe zentrale Venendrücke werden gemessen bei: ● Hypervolämie ● Rechtsherzinsuffizienz ● Perikarderguss

Niedrige zentrale Venendrücke werden gemessen bei: ● Flüssigkeitsdefizit ● Sepsis ● Schock

Nullpunktbestimmung Vor dem Messen muss als Ausgangswert der Nullpunkt bestimmt werden. Der Nullpunkt liegt auf der Höhe des rechten Vorhofes an einer Stelle, die vom Brustbein des Kindes 2/5 und von der Wirbelsäule 3/5 des senkrechten Durchmessers des Brustkorbes entfernt ist. Mit einer Thoraxschublehre kann die Pflegefachkraft den Nullpunkt bei Kindern jedes Alters bestimmen. Das Kind wird dazu in flacher Rückenlage positioniert (nur in Ausnahmefällen, z. B. Kinder mit Hirndruck oder bei Aspirationsgefahr, in leichter Oberkörperhochlage). Der untere Arm der Thoraxschublehre wird vorsichtig von rechts unter den Brustkorb auf Höhe der Brustwarzen geschoben, während sich der obere Arm der Thoraxschublehre mit der Wasserwaage auf dem Brustkorb des Kindes befindet. Der Nullpunkt ist in Höhe des mittleren Zeigers und wird mit einem speziellen Hautstift markiert (▶ Abb. 43.12).

Thoraxschublehre

Messpunkt

Abb. 43.12 Nullpunktbestimmung zur ZVD-Messung. Der Nullpunkt liegt auf der Höhe des rechten Herzvorhofs.

Tab. 43.3 Normwerte für den zentralen Venendruck. Lebensalter

Normwert

Neugeborene

0 – 3 mmHg bzw. ~0 – 4 cmH2O

Säuglinge, Kleinkinder, Schulkinder

1 – 5 mmHg bzw. ~1 – 6 cmH2O

Erwachsene

5 – 10 mmHg bzw. ~6 – 13 cmH2O

1 mmHg entspricht 1,36 cm Wassersäule. Wird die Messung mittels Wassersäule ermittelt, beträgt der Umrechnungsfaktor für mmHg 0,74

820

43.2 Infusionstherapie: Pflegerische Aufgaben

ZVD-Messung mit Flüssigkeitsmanometer

Druckmesser (Manometer) cm H2O

Vorbereitung Die Kinder werden in flacher Rückenlage (oder in Abhängigkeit vom Krankheitsbild in leichter Oberkörperhochlage) positioniert. Der zentrale Venendruck muss immer in der gleichen Lage gemessen werden, damit die ermittelten Werte vergleichbar sind. Vor jeder Messung ist die Übereinstimmung der Markierung am Kind mit dem Nullpunkt der Messskala zu prüfen (▶ Abb. 43.13). ▶ Material. Es werden folgende Utensilien benötigt: ● Infusionssystem, gefüllt mit steriler isotonischer Kochsalzlösung ● Dreiwegehahn, Verbindungsleitung zum zentralen Venenkatheter ● Messlatte mit Graduierung ● Thoraxschublehre, Stift zur Nullpunktmarkierung ● Infusionsständer

NaCl 0,9%Infusion

Thoraxquerschnitt Messskala

10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 –1 –2 –3

rechter Vorhof Brustbein Brustbein rechter Vorhof

2/5 3/5

Wirbelsäule

Dreiwegehahn

Abb. 43.13 ZVD-Messung. Die Markierung des Nullpunktes muss mit dem Nullpunkt auf der Messskala übereinstimmen.

Messschenkel

Messschenkel

Messschenkel

Durchführung

Elektronische ZVD-Messung Die zweite Variante der ZVD-Messung wird zumeist auf Intensivstationen oder in der Anästhesie eingesetzt. Mittels eines geeigneten Monitors und eines Druckwandlers kann der zentrale Venendruck elektronisch gemessen werden. Die Pflegefachkraft füllt unter sterilen Bedingungen das Messsystem luftfrei mit

Kind a

Infusion

Kind b

Infusion

Infusion

Kind c

Abb. 43.14 ZVD-Messung. a Dreiwegehahn ist zum Messschenkel hin geöffnet, dieser füllt sich mit Flüssigkeit, b Dreiwegehahn ist zwischen Kind und Messschenkel geöffnet, sodass der Flüssigkeitspegel bis zum aktuellen ZVD sinkt, c nach der Messung wird der Messschenkel geschlossen und die Infusion wieder mit dem Kind verbunden.

steriler isotonischer Kochsalzlösung und verbindet es mit dem Druckwandler über ein Kabel mit dem Monitor. Vor der Messung erfolgt ein Nullabgleich des Druckwandlers. Die Durchführung der Messung entspricht im Wesentlichen dem vorher beschriebenen Verfahren (▶ Abb. 43.15).

Praxistipp Pflege

Z ●

Alle Infusionen, v. a. druckgesteuerte, müssen angehalten werden, damit es später nicht zu Bolusinjektionen kommen kann. ZVD-Messungen dürfen nicht an Infusionsschenkeln vorgenommen werden, an denen lebenswichtige Medikamente, z. B. Katecholamine, infundiert werden, da es zu gefährlichen Konzentrationsschwankungen kommen kann.

20 mmHg

Die Pflegefachkraft informiert das Kind, dass die ZVD-Messung nicht schmerzhaft ist, und erklärt die Maßnahme. Das Kind sollte während der Messung nicht aufgeregt sein oder schreien, denn das Messergebnis ist bei Unruhe sehr ungenau. Die Messung erfolgt in 3 Schritten (▶ Abb. 43.14): 1. Das Messsystem wird unter sterilen Bedingungen mit isotonischer Kochsalzlösung gefüllt und die Messskala an einem Infusionsständer befestigt. 2. Mittels Dreiwegehahn wird während der Messung der Messschenkel zum Kind geöffnet und die Infusion während dieser Maßnahme gestoppt. Sobald sich die Flüssigkeit atemsynchron in der Messskala bewegt, liest die Pflegefachkraft den Wert in Augenhöhe ab. 3. Danach wird der Dreiwegehahn zur Messskala wieder geschlossen und die Infusion wieder angestellt.

A: Vorhofkontraktion C: Ventrikelkontraktion V: Erschlaffungsphase

15 10 5

A

C

0

V ZVD

Abb. 43.15 ZVD. Normale ZVD-Kurve.

43

43.2.7 Nabelkatheter Legen eines Nabelvenenkatheters Definition

L ●

Ein Nabelvenenkatheter ist ein zentralvenöser Zugang, der bei Früh- und Neugeborenen in den ersten Lebenstagen durch die Katheterisierung der Nabelvene gelegt wird.

1

Infusion und Transfusion Die Liegedauer eines Nabelvenenkatheters sollte auf einen kurzen Zeitraum beschränkt bleiben, da die Komplikationsrate bei längerer Verweildauer ansteigt.

Nabelvene Nabelarterien

Indikation

Nabelvenenkatheter

Ein Nabelvenenkatheter wird aus folgenden Gründen gelegt: ● Zufuhr von lebensnotwendigen Medikamenten und Volumenersatz bei Frühund Neugeborenen ● Messung des zentralen Venendrucks ● keine Möglichkeit eines peripheren Zugangs ● Reanimation im Kreißsaal ● Blutaustauschtransfusion

Vorbereitung

Merke

H ●

Das Legen eines Nabelvenenkatheters erfolgt unter streng aseptischen Bedingungen.



43 ●





822

Abb. 43.16 Sondierung der Nabelvene. Der Nabelvenenkatheter wird in die Nabelvene eingeführt.



Die Pflegefachkraft bereitet das Kind, die Räumlichkeiten und Materialien vor. Benötigt werden: ● steriler Kittel, sterile Handschuhe, Mundschutz, Haube ● sterile Abdecktücher, steriles Lochtuch ● sterile anatomische und chirurgische Pinzetten, Scheren und Klemmen ● sterile Knopfsonden in verschiedenen Größen ● sterile Nabelkatheter in verschiedenen Größen ● sterile Spritzen, sterile isotonische Kochsalzlösung ● steriles Skalpell, Nahtmaterial und Nadelhalter ● sterile Tupfer und Hautdesinfektionsmittel ● Abwurfmöglichkeit

Durchführung

Nabelarterienkatheter

Die Pflegefachkraft ist für die Positionierung des Kindes, steriles Anreichen der Materialien und die Beobachtung des Kindes zuständig. Das Kind wird von der Pflegefachkraft unter einer Wärmelampe mit ausreichender Lichtquelle in Rückenlage positioniert. Der Arzt verabreicht dem Kind Schmerz- und Beruhigungsmittel. Zur genauen Überwachung des Kindes erfolgt ein Monitoring, womit kontinuierlich Herzfrequenz, Sauerstoffsättigung, Blutdruck und Körpertemperatur ermittelt werden.









Die Pflegefachkraft reicht dem Arzt alle benötigten Utensilien steril an, beobachtet und beruhigt das Kind während des Eingriffs. Der Arzt desinfiziert den Nabelstumpf und durchtrennt den Nabelschnurrest ca. 0,5–1 cm über Hautniveau mit einem Skalpell. Gegebenenfalls muss der blutende Nabel mit sterilen Kompressen komprimiert werden. Im Anschluss wird der Nabelschnurstumpf erneut desinfiziert. Der Nabelschnurstumpf wird mit einer chirurgischen Pinzette gespreizt und Blutreste mit einer 2. Pinzette entfernt. Die Nabelvene ist das größte der 3 Gefäße. Der Venenverlauf wird mit einer Knopfsonde dargestellt und der mit steriler isotonischer Kochsalzlösung gefüllte Nabelkatheter eingeführt (▶ Abb. 43.16). Richtlinie für die einzuführende Katheterlänge ist bei Kindern unter 2000 g etwa 8 cm und bei Kindern über 2500 g etwa 10 cm. Im Anschluss wird der Katheter mit Pflaster und einer Hautnaht fixiert und ein steriler Verband angelegt.

Es erfolgt eine röntgenologische Kontrolle der Katheterlage. Die optimale Lage ist etwa 1 cm oberhalb des Zwerchfells in der V. cava inferior. Bei korrekter Lage des Nabelvenenkatheters erfolgt die Infusionstherapie nach ärztlicher Anordnung.

Praxistipp Pflege

Z ●

Möglich sind auch die offene Pflege der Eintrittsstelle und eine Fixierung in Form von Stegpflastern (▶ Abb. 43.17). Das Stegpflaster des Nabelvenenkatheters ist blau und wird zusätzlich mit der Aufschrift NVK gekennzeichnet, um Verwechslungen auszuschließen.

Abb. 43.17 Stegpflaster zur Fixierung. Zur besseren Unterscheidung werden verschiedenfarbige Pflaster benutzt.

Nachsorge Während und im Anschluss an das Legen des Nabelvenenkatheters werden Allgemeinzustand, Verhalten, Hautkolorit, Vitalzeichen und mögliche Schmerzreaktionen des Kindes sorgfältig beobachtet, um Komplikationen rechtzeitig zu erkennen. Zur besseren Überwachung sollte auch nach dem Eingriff ein Monitoring mit kontinuierlicher Registrierung von Herzfrequenz, Sauerstoffsättigung, Blutdruck und Temperatur erfolgen. Die Eintrittsstelle des Nabelvenenkatheters ist auf Veränderungen, wie Nachblutungen, Lage des Katheters, sichere Fixierung des Katheters und entzündliche Veränderungen, zu beobachten. Hinweise auf eine entzündliche Veränderung sind Rötung, Schwellung und Sekretabsonderungen der Kathetereintrittsstelle. Auffälligkeiten jeglicher Art werden sofort dem Arzt mitgeteilt.

Praxistipp Pflege

Z ●

Eine Positionierung eines Kindes mit NVK/NAK in Bauchlage sollte aufgrund der unzureichenden Möglichkeiten, die Eintrittsstelle zu beobachten, nicht durchgeführt werden.

Legen eines Nabelarterienkatheters Definition

L ●

Ein Nabelarterienkatheter ist ein arterieller Zugang, der bei schwer kranken Früh- und Neugeborenen während der ersten Lebenstage gelegt wird (▶ Abb. 43.18).

43.2 Infusionstherapie: Pflegerische Aufgaben

Nabelvene Nabelarterien

Abb. 43.18 Sondierung der Nabelarterie. Bevor ein Nabelarterienkatheter gelegt werden kann, muss die Nabelarterie geweitet werden.

Es besteht die Gefahr von erheblichen Komplikationen, z. B. Gefäßschädigungen, Blutungen bei versehentlicher Diskonnektion, arterielle Thrombosen und Embolien. Deshalb sollte der Nabelarterienkatheter nur so lange wie nötig liegen bleiben. Die Überwachung und Pflege von Kindern mit Nabelarterienkatheter erfolgen auf der Intensivstation.

Indikation Ein Nabelarterienkatheter ermöglicht die kontinuierliche, direkte Messung des Blutdrucks bei Früh- und Neugeborenen und bietet außerdem die Möglichkeit zur Entnahme von arteriellem Blut zur Bestimmung der Blutgase und anderer Laborparameter.

Vorbereitung Die Vorbereitung des Kindes, die Vorbereitung des Materials und die Durchführung entsprechen im Wesentlichen denen beim Nabelvenenkatheter.

Versorgung eines Nabelarterienkatheters Falls eine Katheterisierung von Nabelvene und Nabelarterie vorgenommen werden soll, muss als Erstes der Nabelarterienkatheter gelegt werden, da Manipulationen am Nabelstumpf einen verstärkten Arteriospasmus bewirken. Der Nabelarterienkatheter muss deutlich mit einem roten Pflaster mit der Aufschrift „Arterie“ gekennzeichnet werden. Der Nabelarterienkatheter wird mit einem Druckmesssystem verbunden, über das eine kontinuierliche Spülung der Arterie mit steriler isotonischer Kochsalzlösung erfolgt.

Merke

H ●

Bei jeglicher Manipulation am Arterienkatheter ist auf steriles Handling zu achten.

▶ Überwachung. Die Beobachtung eines Kindes mit Nabelarterienkatheter auf mögliche Komplikationen ist pflegerische Aufgabe. Dazu gehören: ● Überwachung der Blutdruckkurve am Monitor und Kontrolle des Messsystems in regelmäßigen Abständen auf Luftblasen, sowie die Katheterlänge und Fixierung. ● Beobachtung der Nabelumgebung auf Veränderungen und Nachblutungen. ● Regelmäßige Kontrolle von Temperatur und Hautfarbe der Beine des Kindes. Die Pulse müssen an beiden Beinen tastbar sein. Eine Verfärbung der Haut – auch in der Gesäßgegend – oder ein nicht tastbarer Puls deuten auf mögliche Komplikationen wie Durchblutungsstörungen hin. Es muss umgehend der Arzt informiert werden.

Merke

H ●

Es darf keine intraarterielle Injektion über den Nabelarterienkatheter erfolgen.

Falls Nachblutungen auftreten, muss am Bett des Kindes eine sterile Klemme greifbar sein, um den Nabelstumpf sofort abklemmen zu können. ▶ Blutentnahme. Es besteht die Möglichkeit, dem Nabelarterienkatheter Blut zu entnehmen. Dies ist Aufgabe des Arztes. Die Pflegefachkraft assistiert dabei, um steriles Handling zu ermöglichen. Die Blutentnahme sollte sehr langsam erfolgen, damit die Arterie nicht kollabiert. Im Anschluss muss das System vorsichtig mit steriler isotonischer Kochsalzlösung durchgespült werden, um es von Blutresten zu säubern.

43.2.8 Blutaustauschtransfusion Definition

L ●

Eine Blutaustauschtransfusion ist ein schrittweiser Ersatz von Patientenblut mit Spenderblut.

Der Austausch dient der Entfernung von mütterlichen Antikörpern, Bilirubin, Erregern und Toxinen aus dem kindlichen Blut. Bei Früh- und Neugeborenen erfolgt eine Blutaustauschtransfusion über einen Nabelvenenkatheter (▶ Abb. 43.19). Indikation für eine Blutaustauschtransfusion ist die Therapie einer schweren Hyperbilirubinämie bei AB0- oder Rhesusinkompatibilität.

Abb. 43.19 Therapie des Neugeborenen mit Hyperbilirubinämie. (Abb. aus: Baumann T. Sauerstoffapplikation mit Gesichtsmaske. In: Baumann T, Hrsg. Atlas der Entwicklungsdiagnostik. 4., unveränderte Auflage. Stuttgart: Thieme; 2015)

Vorbereitung ▶ Kind. Der Arzt ermittelt, zu welchem Zeitpunkt eine Blutaustauschtransfusion vorzunehmen ist. Maßgebend sind Alter des Kindes, Bilirubinwert im Serum und Ursache des Ikterus. Voraussetzung zur Durchführung sind die Bestellung der gewünschten Anzahl an Blutkonserven und das Legen eines periphervenösen Zugangs durch den Arzt, damit dort die Möglichkeit besteht, Medikamente zu injizieren und eine Infusionstherapie durchzuführen. Die Austauschtransfusion erfolgt in einer ausreichend warmen und hellen Umgebung. Die Positionierung des Kindes erfolgt in Rückenlage. ▶ Beobachtung. Während des Eingriffs erfolgt eine kontinuierliche Überwachung von Herzfrequenz, Atmung, Sauerstoffsättigung, Blutdruck und Körpertemperatur, um Komplikationen rechtzeitig zu erfassen. ▶ Material. Benötigt werden ein vollständiges Austauschset, ein Infusionsständer und ein Transfusionsfiltersystem. Der Arzt kontrolliert die Blutkonserve und bereitet das Austauschset unter sterilen Bedingungen vor.

Praxistipp Pflege

Z ●

43

In der Nähe des Kindes sollten sich ein Notfallwagen mit Notfallmedikamenten, Intubationsset, Beatmungsbeutel mit passender Maske, ein Sauerstoffanschluss und eine funktionstüchtige Absauganlage befinden, um im Notfall schnell eingreifen zu können.

3

Infusion und Transfusion

Durchführung Die Vorbereitung des Austausches sollte zügig, der Austausch selbst in Ruhe durchgeführt werden. Zwei Pflegefachkräfte werden für eine Blutaustauschtransfusion benötigt. Eine Pflegefachkraft assistiert dem Arzt und die zweite führt Protokoll über Austauschmengen, Austauschgeschwindigkeit, Medikamentengabe, Vitalzeichen und Allgemeinzustand des Kindes. Bei guter Vorbereitung und stabilem Allgemeinzustand des Kindes reicht eine Pflegefachkraft am Kind und eine zweite in Rufweite. Im Folgenden wird eine Blutaustauschtransfusion bei einem Neugeborenen mit Hyperbilirubinämie beschrieben. Wie viel Milliliter Blut transfundiert wird, richtet sich nach dem Gewicht des Kindes. Das Austauschvolumen beträgt das 2- bis 3-fache Blutvolumen des Kindes. Dadurch werden mehr als 80 % des kindlichen Blutes ersetzt (▶ Abb. 43.20). Eine langsame Austauschgeschwindigkeit verringert die Kreislaufbelastung und steigert die Entfernung des Bilirubins. Der Blutaustausch erfolgt immer in 3 Schritten: 1. Entnahme von kindlichem Blut über den Nabelvenenkatheter 2. Verwerfen dieses Blutes in einen Abwurfbeutel 3. langsame Transfusion der gleichen Menge Blut aus der Konserve Die Menge der einzelnen Portionen beträgt 5 – 20 Milliliter je nach Körpergewicht und Allgemeinzustand des Kindes. Während der Austauschtransfusion muss die Konserve regelmäßig leicht bewegt oder geschwenkt werden, um Sedimentationen vorzubeugen.

Merke

H ●

Der Blutaustausch ist eine kreislaufbelastende Maßnahme, deshalb ist besonders auf jegliche Veränderungen von Vitalzeichen, Ausscheidung und Hautkolorit zu achten, damit Komplikationen und Veränderungen rechtzeitig erkannt und behandelt werden. Während des Blutaustauschs kann es aufgrund des Zitratgehalts des Spenderbluts zu einer Hypokalzämie beim Kind kommen. Zeichen einer Hypokalzämie sind z. B. Zittern und Krampfanfälle. Es erfolgt während der Transfusion eine regelmäßige Kalziumsubstitution nach ärztlicher Anordnung.

Nachsorge Die Kinder werden auch nach der Austauschtransfusion in regelmäßigen Abständen überwacht. Jegliche Veränderungen und Auffälligkeiten von Vitalzeichen, Ausscheidung, Hautkolorit oder Allgemeinzustand des Kindes sind sofort dem Arzt mitzuteilen. Wird der Nabelvenenkatheter nicht nach der Austauschtransfusion entfernt, wird mit der Infusionstherapie nach ärztlicher Anordnung begonnen. Zum Schluss wird das Kind sicher und bequem gelagert, sodass es sich von der belastenden Maßnahme erholen kann. Ein vorsichtiger Nahrungsaufbau ist nach der Austauschtransfusion bei komplikationslosem Verlauf und stabilen Vitalzeichen möglich.

Spenderblut

Spritze zum Abziehen, Verwerfen und Injizieren des Blutes

Bei einem Kind mit Rhesus- oder AB0Inkompatibilität wird nach der Austauschtransfusion die Fototherapie fortgesetzt.

43.3 Transfusionstherapie: Theoretische Grundlagen Michael Färber*, Tina Wilhelm Blut ist für den Menschen von existenzieller Bedeutung. Ohne Blut wären wir nicht lebensfähig. Das Blutvolumen eines Kindes variiert je nach Alter: ● reifes Neugeborenes: ca. 88 ml pro kg Körpergewicht ● 1 Jahr altes Kind: ca. 69–112 ml pro kg Körpergewicht ● Kind älter als 1 Jahr: ca. 51–86 ml pro kg Körpergewicht (Gortner 2012). Unterschiedliche Ursachen können bei einem Kind zu einem Blutmangel führen. In diesem Fall ist u. U. die Indikation für eine Bluttransfusion gegeben. Eine Bluttransfusion kann aus verschiedenen Gründen erforderlich sein: ● schwere Anämie ● akuter Blutverlust (z. B. nach Verkehrsunfällen) ● chronische Blutverluste (evtl. Einblutungen in das Körperinnere, z. B. im Rahmen einer Gerinnungsstörung) ● große Blutverluste bei operativen Eingriffen ● Blutaustauschtransfusion, z. B. bei Hyperbilirubinämie, Sepsis

Merke

Ein Blutverlust von 10 % der Gesamtblutmenge wird von einem Kind noch gut ertragen. Ein plötzlicher Blutverlust von 30 % ist gefährlich, ein solcher von 50 % des Gesamtblutvolumens ist tödlich.

43.3.1 Begriffsbestimmungen

43

Definition Vierwegehahn Nabelvenenkatheter

Blutauffangbeutel für kindliches Blut

H ●

L ●

Eine Transfusion ist die Übertragung von Vollblut oder Blutbestandteilen an einen Menschen.

Nachdem dem Spender eine gewisse Menge Blut entnommen wurde, wird dieses zunächst auf Krankheiten (z. B. Hepatitis B, HIV) untersucht und aufbereitet. Das Abb. 43.20 Austauschtransfusion. Bei ihr werden mehr als 80 % des Blutes ersetzt.

824

43.3 Transfusionstherapie: Theoretische Grundlagen Vollblut oder die Blutbestandteile werden dann in einem Plastikbeutel von einer Blutbank an das Blutdepot der jeweiligen Klinik geliefert. Allerdings kann auch der Spender gleichzeitig selbst Empfänger sein. Es wird dann von der Eigenblutspende gesprochen. Die Indikation zur Eigenblutspende ist bei der Versorgung von Kindern jedoch nur in seltenen Fällen gegeben.

Blutgruppensysteme Die Entdeckung der Blutgruppen im Jahr 1901 durch Karl Landsteiner sowie der Rhesusfaktoren im Jahr 1940 war der eigentliche Beginn für die heutige Transfusionsmedizin. Im AB0-System werden 4 verschiedene Blutgruppen unterschieden: A, B, AB und 0 (Null). Durch Vererbung wird die jeweilige Blutgruppe in Form von sog. Antigenen auf der Oberfläche der Erythrozyten (rote Blutkörperchen) übertragen. Die Blutgruppenbestimmung ist vor einer Bluttransfusion notwendig, da die Transfusion einer Blutkonserve mit einer falschen Blutgruppe zu einer Antigen-Antikörper-Reaktion und zur Hämolyse des Empfängerblutes führen kann.

Blutgruppen ▶ Blutgruppe A. Menschen mit der Blutgruppe A besitzen in ihrem Blutplasma die Antikörper (Agglutinine) Anti-B, die Blutkörperchen der Gruppe B miteinander verklumpen. ▶ Blutgruppe B. Menschen mit der Blutgruppe B besitzen in ihrem Blutplasma die Antikörper Anti-A, die Blutkörperchen der Gruppe A miteinander verklumpen. ▶ Blutgruppe AB. Menschen mit der Blutgruppe AB haben in ihrem Blutplasma keine Antikörper, da ansonsten ihre eigenen Blutkörperchen miteinander verklumpen würden. ▶ Blutgruppe 0 (Null). Menschen mit der Blutgruppe 0 haben in ihrem Blutplasma die Antikörper Anti-A und Anti-B. Blutgruppen sind innerhalb der Bevölkerung der Erde sehr unterschiedlich verteilt. Nachfolgend die Verteilung von Blutgruppen in Mitteleuropa (Faller 2012): ● Blutgruppe A ca. 44 % ● Blutgruppe B ca. 10 % ● Blutgruppe 0 ca. 42 % ● Blutgruppe AB ca. 4 %

Rhesusfaktoren Besonders wichtig ist das Blutkörperchenmerkmal des Rhesusfaktors (D, C, c, E oder e). Ist der Buchstabe groß geschrieben, ist das Antigen dominant. Etwa 85 % aller Menschen verfügen über das Antigen D

und werden somit Rhesusfaktor-D-positiv bezeichnet. 15 % der Menschen besitzen nicht dieses Antigen und werden deshalb als Rhesusfaktor-D-negativ bezeichnet (Faller 2012). Rhesus-D-positive Blutkonserven sind folglich mit dem Aufdruck D und Rhesus-D-negative Blutkonserven mit dem Aufdruck D– beschriftet. Bei der Transfusion von Blut ist neben den Blutgruppen auf den Rhesusfaktor zu achten. Wird einem rhesusnegativen Menschen rhesuspositives Blut transfundiert, kommt es im Blut zur Bildung von Antirhesusfaktoren. Somit wird der Empfänger gegen rhesuspositives Blut sensibilisiert. Eine zweite Transfusion von rhesuspositivem Blut führt zu einer Unverträglichkeitsreaktion und kann dann lebensgefährlich werden! Das rhesuspositive Kind einer rhesusnegativen Mutter kann während der Schwangerschaft im Blut der Mutter die Bildung von Antirhesusfaktoren hervorrufen. Dem ersten Kind schaden diese Antikörper i. d. R. nicht, jedoch kann es bei erneuten Schwangerschaften von einer mäßigen Anämie, Ikterus bis hin zu Totund Fehlgeburten infolge eines Hydrops (Wassersucht) kommen. Die Entwicklung eines Hydrops ist jedoch dank verbesserter Diagnostik sowie der Anti-D-Prophylaxe deutlich seltener geworden.

Bestimmung der Blutgruppe Vor der Bluttransfusion erfolgen 2 Verträglichkeitsprüfungen von Spender- und Empfängerblut. Innerhalb der Blutbank wird die Kreuzprobe und unmittelbar vor der Transfusion auf Station der AB0-Identitätstest (Bed-Side-Test) durchgeführt.

Kreuzprobe Merke

H ●

Die Kreuzprobe wird von der Deutschen Gesellschaft für Transfusionsmedizin zwingend vorgeschrieben!

Der Laborarzt im Blutdepot benötigt hierfür Blut des Kindes (Empfänger) in einem exakt beschrifteten Röhrchen sowie den dazugehörigen Laborschein, um die folgenden 3 Tests durchzuführen.

▶ Coombstest. Hier handelt es sich um einen Sicherheitstest in Form eines Antikörper-Suchtests, sofern aus dem Majorund Minortest kein eindeutiges Ergebnis hervorgeht.

Merke

H ●

Die Kreuzprobe ist negativ, wenn es beim Major- und Minortest zu keiner Verklumpung kommt. Die Blutkonserve kann dem Empfänger übertragen werden.

Unmittelbar vor jeder Transfusion wird vom transfundierenden Arzt auf Station ein weiterer Test durchgeführt, der sog. AB0-Identitätstest (Bed-Side-Test).

AB0-Identitätstest (Bed-Side-Test) Auf einer speziellen Karte (▶ Abb. 43.21) wird vom Arzt nochmals die Blutgruppe des Kindes (Empfängers) mit der zu transfundierenden Konserve überprüft.

Merke

H ●

Auch bei Eigenblut ist laut Transfusionsgesetz der AB0-Identitätstest von der Konserve vorgeschrieben.

Es gibt 2 verschiedene Formen von BedSide-Karten. Die einen enthalten direkt das Testserum, die anderen müssen mit dem Testserum (Anti-A, Anti-B, Anti-AB und evtl. Anti-D) beträufelt werden (▶ Abb. 43.22). Nach dem Abtrocknen der Bed-Side-Karte wird diese mit einer dafür vorgesehenen durchsichtigen Folie überklebt und in der Patientenakte aufbewahrt.

Praxistipp Pflege

Z ●

Bed-Side-Karten sowie Testseren sind im Kühlschrank zu lagern.

43

▶ Majortest. Das Serum des Empfängers wird auf Antikörper untersucht, die gegen die Antigene der Spendererythrozyten gerichtet sein könnten. ▶ Minortest. Hier handelt es sich um eine Gegenprobe, bei der festgestellt wird, ob die Erythrozyten des Empfängers mit dem Serum des Spenders reagieren.

Abb. 43.21 Bed-Side-Test. Er ermöglicht noch einmal die Prüfung der Übereinstimmung der Blutgruppen. (Foto: W. Krüper, Thieme)

5

Infusion und Transfusion

Diagnose

Anti-ASerum

Anti-BSerum

In ▶ Tab. 43.4 werden die häufigsten Blutprodukte zusammengefasst.

Anti-AAnti-BSerum

43.3.2 Zuständigkeitsbereiche

Blutgruppe A

H ●

Merke

Die Anordnungs- und Gesamtverantwortung obliegen laut Transfusionsgesetz ausschließlich dem Arzt.

Blutgruppe B

Blutgruppe AB

Blutgruppe 0

Abb. 43.22 Blutgruppenbestimmung. Die Testkarten sind mit Antigentestseren präpariert.

Blutprodukte ▶ Konservierung. Nach Entnahme des Spenderblutes und der Untersuchung auf mögliche Erkrankungen wird das Blut innerhalb einer Blutbank mit Zitronensäure (Acidum citricum), Natriumzitrat (Citricum sodium) sowie Traubenzucker (Dextrose) konserviert. Diese 3 Konservierungskomponenten werden als ACD-Stabilisatoren bezeichnet. Die somit konservierte Blutkonserve ist bei einer Kühlung zwischen 2 und 6 °C bis zu 28 Tage haltbar. Es gibt noch eine weitere Konservie-

rungsform (Stabilisatoren Zitronensäure, Phosphat, Dextrose, Adenin), die die Blutkonserve bis zu 35 Tage haltbar macht.

Praxistipp Pflege

Z ●

Beim Transport von Blutkonserven aus einer externen Blutbank erfolgt dies in dafür vorgesehenen Fahrzeugen und Behältnissen, die eine Gewährleistung der Kühlkette sichern.

Indikationsstellung für eine Transfusion von Blut- oder Blutbestandteilen, schriftliche Anforderung der Blutkonserve, Aufklärung von Kind und Eltern, Überprüfung der Blutgruppen sowie der Bed-SideTest können nur vom Arzt durchgeführt werden und sind somit nicht delegierbar an eine Pflegefachkraft! Ebenfalls ist das Anhängen einer Blutkonserve oder einer Transfusion mit Blutbestandteilen (z. B. Thrombozytenkonzentrat) eine nicht delegierbare ärztliche Aufgabe. Pflegefachkräfte haben die Durchführungsverantwortung für: ● Bereitstellung des erforderlichen Materials, ● Vorbereitung des Kindes, ● Anwärmen der Blutkonserve, ● Betreuung und Überwachung des Kindes vor, während und nach der Transfusion sowie Aufbewahrung des Konservenbeutels nach der Transfusion. Sie müssen in der Lage sein, beim Auftreten einer Notfallsituation adäquate Maßnahmen einzuleiten. Auszubildende im Pflegeberuf tragen nach theoretischer und praktischer Unterrichtung ebenfalls mit der jeweiligen examinierten Pflegefachkraft einen Teil der Durchführungsverantwortung.

Tab. 43.4 Verfügbare Blutprodukte.

43

826

Produkt

Indikation

Zusammensetzung

Lagerung

gewaschenes Erythrozytenkonzentrat

nach vielen vorausgegangenen Transfusionen

Erythrozyten > 80 % Leukozyten < 5 % Plasma < 15 %

14 Tage bei + 2 bis + 6 °C im Kühlschrank

bestrahltes Erythrozytenkonzentrat

bei immunsupprimierten Kindern, z. B. nach Knochenmarktransplantation

Erythrozyten > 80 % Leukozyten < 20 % Plasma < 15 %

7 Tage bei + 2 bis + 6 °C

Thrombozytenkonzentrat

nach starkem Blutverlust sowie bei Thrombozytopenie

höherer Gehalt an Thrombozyten bei der Hälfte des Volumens gegenüber Frischblut

bis zu 5 Tage bei + 20 bis + 24 °C, sofern aus Frischblut gewonnen

gefrorenes Frisch-Plasma, GFP (fresh frozen plasma, FFP)

Gerinnungsstörungen

nach dem Auftauen: Gerinnungsfaktoren mit 80-prozentiger ursprünglicher Wirkung

1 Jahr bei –30 °C, 2 Jahre bei –40 °C und mehr

Faktor VIII (Gerinnungspräparat)

Hämophilie A

primär Faktor VIII

bei + 4 bis + 8 °C, Lagerung laut Hersteller

Immunglobuline

bieten Schutz gegen virale und bakterielle Infektionen

humane Globuline

Lagerung laut Hersteller

43.4 Transfusionstherapie: Pflegerische Aufgaben ▶ Aufklärung. Das Ankündigen einer Bluttransfusion oder das Übertragen von Blutbestandteilen durch den Arzt löst bei Kindern und deren Eltern u. U. Ängste aus. Angst vor evtl. lebensgefährlichen Erkrankungen, z. B. Hepatitis B oder HIV. Auch kann eine Ablehnung durch die Eltern bzgl. o. g. Blutprodukte erfolgen, da ihnen ggf. ihre Religion die Übertragung von Blut untersagt. Hier ist die Fachkompetenz der Pflegefachkraft sowie des Arztes gefragt, um evtl. Alternativen aufzuzeigen. Wird die Bluttransfusion nach Aufklärung durch den Arzt weiterhin von den Eltern abgelehnt und besteht Lebensgefahr für das Kind, kann u. U. in Zusammenarbeit mit dem zuständigen Jugendamt, das Sorgerecht für diesen Bereich kurzfristig entzogen werden.

Nachdem die Blutkonserve mit dem Anforderungsschein aus dem Blutdepot auf die Station geliefert wurde, werden zunächst von der Pflegefachkraft Patientendaten, Blutgruppe sowie die Kreuzprobe überprüft, um eine lebensbedrohliche Verwechslung auszuschließen. Wird die Blutkonserve erst zu einem späteren Zeitpunkt transfundiert, muss diese in einem speziellen BlutkonservenKühlschrank gelagert und dann vor der Übertragung auf das Kind auf Raumtemperatur erwärmt werden. Werden mehrere Blutkonserven transfundiert (z. B. bei einem Notfall), können diese in einem dafür vorgesehenen Blutwärmer erwärmt werden.

Merke

43.4 Transfusionstherapie: Pflegerische Aufgaben

H ●

Eine Blutkonserve darf nur in dafür vorgesehenen Geräten erwärmt werden, da ansonsten die Gefahr der Hämolyse besteht.

43.4.1 Bluttransfusion Vorbereitung Bevor mit dem Transfundieren der Blutkonserve begonnen werden kann, müssen die notwendigen Materialien auf einer desinfizierten Arbeitsfläche zusammengestellt werden. Folgende Materialien werden hierzu grundsätzlich benötigt: ● Transfusionsbesteck mit Filter (▶ Abb. 43.23) ● Infusionsständer ● Blutpumpe ● versiegelte Blutkonserve oder Konserve mit Blutbestandteilen ● unsterile Einmalhandschuhe

Tropfkammer mit Filter

Rollenklemme

Patientenzuleitung

Einstichdorn

Luer-LockAnschluss

Abb. 43.23 Transfusionssystem. Es ist mit einem feinmaschigen Filter ausgestattet. (Foto: Thieme Archivbild)

Grundsätzlich ist beim Aufziehen von Blutprodukten ein behutsames Vorgehen notwendig. Folgende Vorgehensweise zur Vorbereitung einer Bluttransfusion kann empfohlen werden: ● hygienische Händedesinfektion durchführen ● Verpackung des sterilen Transfusionsbestecks öffnen ● unsterile Einmalhandschuhe anziehen ● Kunststoffversiegelung der vorgesehenen Einstichstelle vorsichtig abdrehen ● Transfusionsbesteck vorsichtig mit dem Einstichdorn in den Konservenbeutel einführen (beim Einführen des Einstichdorns in den Konservenbeutel ist darauf zu achten, dass die Pflegefachkraft den Konservenbeutel nicht durchsticht, deshalb flach liegenden Beutel waagerecht anstechen!) ● Rollklemme ist offen, Beutel leicht hochhalten ● Topfenkammer des Transfusionsbestecks bis zur Hälfte mit Blut füllen ● Rollklemme schließen und die Blutkonserve am Infusionsständer aufhängen ● gesamte Transfusionsleitung entlüften ● Transfusionssystem in die vorgesehene Blutpumpe einspannen ● Blutkonserve nie im Bypass zu Infusionen mit Medikamenten transfundieren ● Blutkonserven nie über Silastic-Katheter verabreichen (ggf. dünne Einschwemmkatheter o. Ä.) aufgrund der erhöhten Gefahr eines Katheterverschlusses.

Merke

H ●

Eine Bluttransfusion darf nur über eine dafür zugelassene Infusionspumpe transfundiert werden, da es ansonsten aufgrund des Drucks auf die Blutbestandteile zur Hämolyse kommt. Hier gilt es die Vorgaben der Hersteller und der klinikeigenen Medizintechnik zu beachten.

Durchführung Hat der transfundierende Arzt ein weiteres Mal Patientendaten, Blutgruppe und Kreuzprobe überprüft sowie den BedSide-Test durchgeführt, kann die Blutkonserve an das Kind übertragen werden.

Merke

H ●

Das Anschließen der Bluttransfusion an den peripheren oder zentralen Venenzugang sowie das Aufdrehen der Rollklemme und Starten der Transfusion sind ausschließlich dem Arzt vorbehalten!

Je nach Gesundheitszustand des Kindes ist es sinnvoll, das Kind vor der Transfusion zur Toilette zu begleiten oder den Säugling zu wickeln, da während der Transfusion Pflegeinterventionen vom Kind als sehr belastend empfunden werden und die Interpretation der Beobachtungsparameter erschwert ist. Die Vitalwerte (Puls, Atmung, Blutdruck, Körpertemperatur) des Kindes werden vor der Transfusion ermittelt, um aktuelle Vergleichswerte für die Vitalwerte während und nach der Transfusion zu haben. Nachdem der Arzt die Transfusion gestartet hat, obliegt die weitere Überwachung des Kindes der Pflegefachkraft. Die Überwachung erfolgt engmaschig nach ärztlicher Anordnung, z. B. in der 1. Stunde viertelstündlich und dann ab der 2. Stunde halbstündlich. Die Überwachung erfolgt unter folgenden Kriterien: ● regelmäßige Kontrolle von Herzfrequenz, Blutdruck und Atmung ● regelmäßige Beurteilung der Bewusstseinslage des Kindes ● regelmäßige Befragung des Kindes bezüglich seines Wohlbefindens, z. B. nach Übelkeit, Schmerzen ● Kontrolle der Körpertemperatur ● Beobachtung der Urinausscheidung bzgl. Menge, Häufigkeit (z. B. Oligurie) und Beimengungen (z. B. Hämaturie)

43

7

Infusion und Transfusion ●





regelmäßige Hautbeobachtung auf Quaddeln (Urtikaria), Rötung des Gesichts (Flush), Blässe, Zyanose Beobachtung der Einstichstelle des peripheren Venenzugangs auf Rötung und Schwellung Beobachtung der Fließgeschwindigkeit der Bluttransfusion, sofern diese nach dem Schwerkraftprinzip übertragen wird

Nachsorge Nachdem die Blutkonserve transfundiert wurde, wird diese vom venösen Zugang entfernt, in einem Plastikbeutel verpackt und 24 Stunden im Kühlschrank der Station aufbewahrt. Sollte eine verspätete Unverträglichkeitsreaktion beim Kind auftreten, kann aus dem Rest der Konserve eine nachträgliche Überprüfung vorgenommen werden. Nach 24 Stunden wird die leere Blutkonserve, mit einem Patientenaufkleber versehen, zurück ins Blutdepot transportiert. Üblicherweise wird nach ärztlicher Anordnung zur Nachspülung der Venenverweilkanüle isotonische Kochsalzlösung infundiert. Im Anschluss daran kann die geplante Infusionstherapie nach ärztlicher Anordnung fortgesetzt oder der venöse Zugang mit isotonischer Kochsalzlösung abgestöpselt werden. Auch nach Beendigung der Bluttransfusion muss das Kind von der Pflegefachkraft weiterhin für mindestens eine Stunde engmaschig nach bereits genannten Kriterien überwacht werden. Die von der Pflegefachkraft erhobenen Vitalwerte und Beobachtungen werden im Dokumentationssystem festgehalten.

43

828

Mögliche Komplikationen und Maßnahmen



Trotz gründlicher Untersuchungen auf infektiöse Krankheiten sowie Kreuzprobe und Bed-Side-Test birgt jede Bluttransfusion eine potenzielle Gefahr bzgl. möglicher Komplikationen.



▶ Frühkomplikationen. Sie werden von der Pflegefachkraft durch die engmaschige Überwachung des Kindes zeitnah erkannt. Mögliche Frühkomplikationen können sein: ● Allergische Reaktionen, die auf das Eiweiß im transfundierten Blut zurückzuführen sind. Symptome sind hierbei Schüttelfrost, Fieber sowie eine Hautrötung (Flush). ● Unterkühlung (Hypothermie) aufgrund einer Transfusion großer Mengen nicht erwärmten Blutes. ● Sehr selten: bakterielle Infektionen aufgrund verunreinigter Konserven (erkennbar an septischen Symptomen in Form von Fieber, Schüttelfrost und Schmerzen).



▶ Hämolytische Transfusionsreaktion. Sie tritt entweder während oder unmittelbar nach der Bluttransfusion auf, bis hin zur Form einer Spätreaktion nach einigen Tagen. Der Grund für die Reaktion ist in den meisten Fällen auf die Verwechslung von Blutkonserven zurückzuführen. Folgende Symptome einer hämolytischen Transfusionsreaktion sind bei den Kindern zu beobachten: ● Kopfschmerzen, Fieber und Schüttelfrost

● ● ● ●

Weinen oder Schreien (durch brennende Schmerzen in der Vene, über die die Blutkonserve transfundiert wird) Tachykardie, Hypotonie Blutdruckabfall bis hin zum Schock Bewusstseinstrübung Tachypnoe Ausscheidung von Blut im Urin (Hämaturie) Schmerzen im Bereich von Bauch, Brust oder Rücken

In schweren Fällen kann es zur sog. Verbrauchskoagulopathie mit akutem Nierenversagen kommen, die eine akute Lebensgefahr für das Kind darstellt.

Definition

L ●

Eine Verbrauchskoagulopathie ist eine erhöhte Gerinnungsbereitschaft durch Aktivierung der Blutgerinnung mit intravasaler Bildung von Mikrothromben.

Praxistipp Pflege

Z ●

Bei Unwohlsein des Kindes oder Symptomen, die auf einen Transfusionszwischenfall hinweisen können, ist die Transfusion von der Pflegefachkraft sofort zu stoppen und der Arzt umgehend zu benachrichtigen.

80 % der schweren Transfusionsreaktionen entstehen durch Verwechslung, daher sind Identitätssicherung und -kontrolle bei jedem Schritt der Transfusionsvorbereitung und -durchführung unerlässlich.

Kapitel 44 Perioperative Pflege

44.1

Theoretische Grundlagen

830

44.2

Pflegerische Aufgaben

830

Perioperative Pflege

44 Perioperative Pflege Heidrun Beyer

44

Für jeden Menschen bedeutet eine bevorstehende Operation, verbunden mit einem Krankenhausaufenthalt, ein einschneidendes Erlebnis, dem er mit Angst und Unsicherheit entgegensieht. Dies gilt nicht nur für das Kind selbst, sondern auch für die betroffenen Eltern. Kinder, die noch keine Vorerfahrungen bezüglich einer Operation haben, können sich häufig nicht so recht vorstellen, was ein Eingriff bedeutet, auch wenn er kindgerecht, wahrheitsgemäß und unmissverständlich erklärt wird. Untersuchungen in Form von ausgewerteten Kinderzeichnungen über das perioperative Angsterleben von Kindern haben gezeigt, dass sie Angst vor Schmerzen haben, z. B. bei Venenpunktionen, Entfernen des Nahtmaterials oder Redondrainagen (Sümpelmann et al. 1994). Außerdem ängstigen sie sich vor der ungewohnten Umgebung auf der Station, aber auch vor dem OP-Personal, besonders dann, wenn es Mundschutz und Haube trägt. Schulkinder haben häufig ganz konkrete Ängste vor intraoperativer Wachheit und postoperativen Schmerzen, wogegen bei einzelnen Kindern im Vorschulalter auch irrationale Ängste (z. B. Gespenster, böse Menschen im Operationssaal) bestehen. Weiterhin bedeutet für die Kinder ein stationärer Aufenthalt eine große Belastung, da sie aus ihrem gewohnten familiären Gefüge herausgerissen werden, auch wenn Mutter oder Vater während dieser Zeit im Krankenhaus bei ihrem Kind bleiben. Sie vermissen häufig ihre Geschwister, Freunde und evtl. ihr lieb gewonnenes Haustier. Für die Eltern ist der operative Eingriff neben der Angst um ihr Kind mit viel Unruhe und Änderungen des Tagesablaufs verbunden, da sie entweder kontinuierlich bei ihrem Kind weilen oder stundenweise ins Krankenhaus kommen. Diese Belastungen sind besonders gravierend, wenn noch kleinere Geschwister zu versorgen sind und keine verlässlichen Hilfen zur Verfügung stehen. In diesem Kapitel werden die allgemeinen prä- und postoperativen Pflegemaßnahmen besprochen. Die speziellen Pflegemaßnahmen können in den entsprechenden Kapiteln nachgelesen werden.

44.1 Theoretische Grundlagen

44.2 Pflegerische Aufgaben

44.1.1 Begriffsbestimmungen

44.2.1 Pflegerische Aufgaben vor der Operation

▶ Ambulante Operation. Unter ambulanten Operationen versteht man, dass die Nacht vor und nach dem diagnostischen oder therapeutischen Eingriff außerhalb eines Krankenhauses oder einer Klinik verbracht wird. Ambulante Operationen können in Praxen sowie in Krankenhäusern oder Kliniken durchgeführt werden. Die ambulante Operation wird heute für verschiedene kleine, geplante Operationen, z. B. Herniotomie oder Zirkumzision, gewählt, da hierbei sowohl psychologische als auch wirtschaftliche Aspekte berücksichtigt werden. Voraussetzung für das ambulante Operieren ist die eigenverantwortliche Indikationsstellung des Arztes, die trotz des vorhandenen Kataloges über durchführbare ambulante Operationen individuell unter Beachtung der medizinischen sowie sozialen Faktoren erfolgen muss. Eine ausgiebige Aufklärung von Eltern und Kind, die sowohl das prä- als auch das postoperative Verhalten und die Betreuung betrifft, muss unbedingt vorher erfolgen.

Kontaktaufnahme

▶ Stationäre Operation. Unter der stationären Operation wird der Krankenhausaufenthalt vor, während und nach dem operativen Eingriff verstanden.

44.1.2 Zuständigkeitsbereiche Der Chirurg hat die Aufgabe, Kind und Eltern über die Art der Operation und die damit verbundenen Risiken zu informieren, eine ausführliche Anamnese zu erheben und eine körperliche Untersuchung durchzuführen. Da juristisch jeder Eingriff eine Körperverletzung darstellt, muss für die Operation eine schriftliche Einwilligungserklärung der Eltern oder eines Vormundes vorliegen. Ab dem 18. Geburtstag ist eine Einwilligung vom Patienten selbst einzuholen.

Merke

Eltern

a ●

Die Pflegefachkraft informiert Kind und Eltern über den Stationsablauf und bei Bedarf über soziale Leistungen der Krankenkassen. I.d.R. werden die Kosten für die Mitaufnahme eines Elternteils bei Kindern häufig bis zum 8. Lebensjahr problemlos übernommen, bei älteren Kindern wird eine Notwendigkeitsbescheinigung des behandelnden Krankenhausarztes benötigt. Auch werden die Kosten oder das Fahrgeld für eine Haushaltshilfe bzw. der Verdienstausfall beim Vater oder bei der Mutter für die Betreuung von Kindern im Haushalt erstattet, sofern vorher ein Antrag erstellt wurde und eine Bescheinigung des behandelnden Arztes vorliegt.

Individuelle Situationseinschätzung Für die individuelle Situationseinschätzung ist es deshalb wichtig zu wissen, ob die Operation bereits seit längerer Zeit ge-

H ●

Für langfristig geplante Operationen muss ein Zeitraum von 24 Stunden zwischen der Aufklärung und der bevorstehenden Operation liegen, damit genügend Zeit für die Entscheidungsfindung gegeben ist. Bei einer Notoperation wird das Einverständnis der Eltern und des Jugendlichen vorausgesetzt.

830

Der erste Kontakt zwischen Kind, Eltern und Pflegepersonal ist ein sehr wichtiger Moment, um eine Vertrauensbasis zu schaffen, die die Grundlage für gute Zusammenarbeit, Angstminderung sowie schnelle Genesung des Kindes ist (▶ Abb. 44.1). Verläuft dieses in einer ruhigen und entspannten Atmosphäre, so sind die Weichen für eine gute Zusammenarbeit gestellt.

Abb. 44.1 Informationsgespräch. Die Pflegefachkraft informiert Eltern und Kind über den Stationsablauf und das postoperative Verhalten. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

44.2 Pflegerische Aufgaben plant war oder ob es sich um einen unerwarteten Noteingriff handelt. Weiterhin ist es wichtig zu erfragen, ob bei dem Kind bereits eigene Erfahrungen bezüglich eines Krankenhausaufenthaltes bestehen, wie er empfunden und verarbeitet wurde. Auch das Alter des Kindes ist ein entscheidender Faktor, der mitberücksichtigt werden muss, da Kleinkinder die Notwendigkeit der Maßnahmen noch nicht verstehen. Für diese Altersgruppe ist es ganz besonders wichtig, dass eine Bezugsperson mit aufgenommen wird, um Ängste und Verlassenheitsgefühle so gering wie möglich zu halten.

Praxistipp Pflege

Z ●

Die prä- und postoperative Anleitung und Beratung durch das Pflegepersonal (z. B. Einhalten der Nahrungskarenz, Schonung der Operationswunde) hilft, Komplikationen zu vermeiden und Wohlbefinden zu fördern.

Entspannung und Angstminderung

▶ Festlegen der Prämedikation. Eine gute Prämedikation, die zu einer entspannten psychischen Situation beiträgt, ist eine wichtige Voraussetzung für eine komplikationslose Narkose. Der Anästhesist legt am Vortag der Operation schriftlich in einem Narkoseprotokoll die Prämedikation für den Patienten fest, nachdem er das Kind eingehend untersucht hat. Er protokolliert auch lockere Milchzähne und entfernt diese bei Bedarf, um eine Aspiration zu vermeiden. Weiterhin ist es seine Aufgabe, die Eltern und das Kind über die Art der Narkose sowie die damit verbundenen Risiken aufzuklären und eine schriftliche Einwilligung einzuholen. Zur Prämedikation gehören die Medikamentengaben am Vorabend der Operation und am Operationstag selbst (S. 832). Am Vorabend der Operation kann nach Anordnung und Bedarf ein Beruhigungsmittel oder ein Schmerzmittel verabreicht werden, um den Kindern zu einem ruhigen Schlaf zu verhelfen.

Ausschluss von Risikofaktoren

Um Ängste abzubauen, sollten Kinder und Eltern vom Pflegepersonal über alles Bevorstehende informiert werden, sofern es nicht den ärztlichen Bereich betrifft. Dies kann während der Aufnahme, abends vor dem Einschlafen oder unmittelbar vor der Operation geschehen und muss altersentsprechend individuell erfolgen. Auch für die Eltern ist es hilfreich, wenn ihre Ängste und Nöte ernst genommen werden und informative Gespräche vonseiten des Pflegepersonals erfolgen. Eventuell kann ein Kontakt mit betroffenen Kindern und Eltern hergestellt werden, um ihnen Mut zu machen und ihnen Gelegenheit zu geben, Fragen zu stellen, die durch eigenes Erleben besser beantwortet werden können. Werden hierdurch die Ängste gemildert, wirkt sich das i. d. R. auf das Kind positiv aus.

Merke

möglich vorzubereiten. Das Laufen mit Gehhilfen kann geübt oder der Umgang mit dem Stomabeutel erlernt werden.

● H

Je entspannter ein Kind vor einer Operation ist, desto geringer ist der Narkosemittelverbrauch, was wiederum einem komplikationslosen Narkoseverlauf dient.

▶ Kooperation. Weiterhin können andere Berufsgruppen, z. B. Psychologen, Physiotherapeuten, Stomatherapeuten oder Orthopädietechniker, hinzugezogen werden, um die postoperative Situation so gut wie

Um Komplikationen weitgehend auszuschließen, müssen die folgenden Pflegemaßnahmen beachtet werden. ▶ Körpermessungen. Zur präoperativen Vorbereitung werden bei der Aufnahme Körperlänge und Gewicht gemessen, um den Ausgangswert zu ermitteln und die Medikamentendosis errechnen zu können. ▶ Hautbeobachtung. Es ist Aufgabe des Pflegepersonals, Auffälligkeiten der Haut, z. B. Entzündungen, Soor oder Exanthem, zu erkennen und den Arzt darüber zu informieren. Dies gilt sowohl für die Aufnahme als auch für den Zeitpunkt kurz vor der Operation, da u. U. der Eingriff verschoben werden muss. ▶ Vitalwerte. Die Vitalwerte, besonders Blutdruck, Puls und Temperatur, müssen kontrolliert werden, damit Vergleichswerte vorhanden sind. Auch können Infektionen durch Temperaturveränderungen rechtzeitig erkannt werden. Die Normwerte können im Kapitel „Atmen und Kreislauf regulieren“ (S. 244) nachgelesen werden. ▶ Allergien. Die Angehörigen sollten unbedingt nach bestehenden Allergien, z. B. auf Medikamente, Pflaster und Nahrungsmittel, befragt werden, um Komplikationen zu vermeiden.

▶ Urin- und Stuhluntersuchungen. Ein Urinschnelltest wird durchgeführt, um eine Harnwegsinfektion frühzeitig zu erkennen. Auch eine Stuhlprobe kann nötig sein und wird z. B. bei einer Appendizitis abgenommen. ▶ Blutuntersuchungen. Das Ausmaß der Blutuntersuchungen ist abhängig von Art und Umfang einer Operation. Für große Operationen werden Elektrolyte, Blutbild, Leberwerte, Gerinnung und evtl. harnpflichtige Substanzen abgenommen. Blutgruppe sowie Rhesusfaktor werden bestimmt und Blut für eine evtl. notwendige Bluttransfusion bestellt. Das Pflegepersonal assistiert bei der Blutentnahme, beruhigt und tröstet anschließend die Kinder. Nach Anordnung des Arztes werden vor der Operation z. B. bestehende Elektrolytstörungen oder eine verminderte Blutgerinnung therapiert. ▶ Nasen- und Rachenabstrich. Bei der Aufnahme in die Klinik wird meist ein Screening auf MRSA (Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus) durchgeführt. Dafür wird ein Abstrich des Nasen-Rachen-Raums entnommen. Auf ärztliche Anordnung können auch Abstriche bei einer offenen Wunde erfolgen. Bei einem Screening auf MRGN (multiresistente gramnegative Stäbchen) erfolgt auch rektal ein Abstrich. Die Entscheidung, nach welchen resistenten Keimen gesucht wird, wird in besonderem Maße nach der Herkunft der Kinder gestellt (Heim, Ausland, Kriegsgebiete). ▶ Hygienemaßnahmen. Werden bei einem Kind multiresistente Keime festgestellt, muss das Kind i. d. R. isoliert werden. Die Eltern (und ggf. auch das Kind) werden über die nun notwendigen hygienischen Maßnahmen informiert – die Eltern müssen z. B. regelmäßig die Hände desinfizieren und einen Schutzkittel und Mundschutz tragen. Die Isolation kann aufgehoben werden, wenn an 3 aufeinanderfolgenden Tagen 3 MRSA-negative Abstriche den „Sanierungserfolg“ bestätigen.

Abführmaßnahmen Je nach bevorstehender Operation müssen Abführmaßnahmen eingeleitet werden. Erfolgt die Operation im Darmbereich, werden Nahrungskarenzen und sorgfältige Darmentleerungen durch retrograde (Flüssigkeit wird über den Darm eingebracht) oder orthograde (Flüssigkeit wird oral aufgenommen) Darmspülungen (S. 391) ärztlich angeordnet, damit der Darm für die Operation so sauber wie möglich ist.

44

1

Perioperative Pflege

Merke

H ●

Bei akuten abdominellen Erkrankungen ist die Darmreinigung streng kontraindiziert, um eine Darmperforation zu vermeiden.

44.2.2 Pflegerische Aufgaben am Operationstag Hautreinigung Merke

Ernährungsmangement Bei einer geplanten Operation darf das Kind für eine bestimmte Zeit vor der OP nichts essen (Aspirationsprophylaxe). Die Eltern werden darüber informiert, die vom Anästhesisten vorgegebenen Zeiten einzuhalten. Richtlinien der DGAI (Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin 2015) fordern Folgendes: Bei Kindern, die älter als 1 Jahr sind, ist eine Nahrungskarenz von 6 Std. für feste Nahrung und Formulanahrung (Säuglingsnahrung auf Kuhmilchbasis) einzuhalten. Kuhmilch gilt als feste Nahrung, da sie durch die Magensäure im Magen ausflockt. Bis zu 2 Std. vor dem Eingriff dürfen nur kleine Mengen klarer Flüssigkeit, z. B. ein Glas gesüßter Tee, getrunken werden.

Praxistipp Pflege ●







44

832

Z ●

Informieren Sie Kind und Eltern darüber, dass die Zähne nur bis max. 2 Stunden vor der Operation geputzt werden dürfen. Entfernen Sie frühzeitig Süßigkeiten und Nahrungsmittel aus dem Nachttisch. Weisen Sie Jugendliche darauf hin, 8 Std. vor der Operation nicht mehr zu rauchen. Auch Kaugummikauen regt die Magensäureproduktion an. Bringen Sie ein großes „Nüchtern“Schild am Bett an, das verhindert, dass das Kind versehentlich Frühstück erhält.

Kinder unter 1 Jahr können vor dem Eingriff bis zu 4 Stunden Muttermilch oder bis zu 4–6 Stunden Formulanahrung erhalten, da der Stoffwechsel von Säuglingen empfindlich auf lange Perioden von Nüchternheit reagiert. Muttermilch wird schneller verdaut als Formulanahrung. Neugeborene und kranke Säuglinge benötigen eine parenterale Flüssigkeits- und Kalorienzufuhr.

Fingernägel Haare

H ●

Nabel

Ein sauberes und unverletztes Operationsgebiet ist Grundvoraussetzung für eine komplikationslose Wundheilung.

Der Zeitpunkt der Hautreinigung sollte so nahe wie möglich am Operationstermin liegen. Daher ist die Körperpflege am Operationstag zur Reduzierung von Hautkeimen am effektivsten. Aus Zeitgründen wird sie jedoch häufig am Vortag der Operation durch Duschen, Baden oder einer Ganzkörperwaschung unter Verwendung einer pH-neutralen Waschlotion vorgenommen. Besonderes Augenmerk ist auf die Reinigung von Nabel, Hautfalten, Finger- und Zehennägeln zu richten, da sich in diesen Bereichen gehäuft pathogene Keime befinden (▶ Abb. 44.2). Die Haare sollten frisch gewaschen sein. Am OPTag wird bei dieser Vorgehensweise nur eine kurze Morgentoilette durchgeführt. Die Reinigungsmaßnahmen bei einer Notoperation sind auf das Notwendigste zu beschränken.

Merke

H ●

Auf das Eincremen von Oberkörper und Gesicht sollte insgesamt verzichtet werden, um das Anbringen der Elektroden nicht zu erschweren und das problemlose Einführen des Tubus zu ermöglichen.

Den Kindern wird i. d. R. unmittelbar vor der Operation aus hygienischen Gründen ein sauberes Flügelhemd angezogen, evtl. eine Haube aufgesetzt und anschließend ein frisch überzogenes Bett gerichtet. ▶ Fremdkörper. Schmuck, Brillen, Kontaktlinsen, Hörgeräte, Zahnspangen und herausnehmbarer Zahnersatz werden am Operationstag entfernt und sicher verwahrt, um eine Verletzung in Notsituationen und eine Aspirationsgefahr zu vermeiden. ▶ Kosmetika. Es darf sich kein Nagellack auf den Fingernägeln befinden, damit die Sauerstoffsättigung korrekt gemessen werden kann.

Zehennägel

Abb. 44.2 Hautreinigung. Bei der präoperativen Pflege ist besonders auf die Reinigung der Haare, der Nägel und des Nabels zu achten. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

▶ Thromboseprophylaxe. Jugendlichen und Erwachsenen werden zur Vermeidung einer Thrombose präoperativ medizinische Thromboseprophylaxestrümpfe (MTPS) angezogen (S. 407) und nach ärztlicher Anordnung präoperativ subkutan Heparin (S. 406) gespritzt. ▶ Antibiotikagabe. Diese erfolgt nach Anordnung des Arztes i. d. R. 30 Minuten vor der Operation zur Infektionsprophylaxe.

Haarentfernung ▶ Rasur. Eine notwendige Rasur sollte unmittelbar vor der Operation außerhalb des Operationssaales erfolgen, damit Mikroläsionen sich nicht mit pathogenen Keimen besiedeln und die Operationswunde danach infizieren. Vom Robert Koch-Institut wird anstelle einer Rasur eine Kürzung der Haare oberhalb der Hautoberfläche mit einer elektrischen Haarschneidemaschine „Clipper“ empfohlen, deren Scherköpfe auswechselbar sind (▶ Abb. 44.3). Diese Methode führt nicht zu Hautläsionen ebenso wie die Depilation. ▶ Depilation. Sie kann bereits am Vorabend der Operation von den Jugendlichen selbst vorgenommen werden, da bei dieser Methode keine Hautverletzungen entstehen. Da es durch die Enthaarungscreme zu Allergien kommen kann, sollte sie vorher in der Armbeuge getestet werden. Nach der Haarentfernung ist die Haut sorgfältig zu reinigen. Aufgabe des Pflegepersonals ist es, das Operationsgebiet zu kontrollieren.

44.2 Pflegerische Aufgaben wird, vermieden werden (▶ Abb. 44.4). Die Handhabung der lokalanästhesierenden Präparate ist der Packungsbeilage zu entnehmen.

Vor Notoperationen oder Eingriffen an den ableitenden Harnwegen können Blasenkatheter oder eine Zystostomie zur Urinableitung und Überwachung der Urinausscheidung (S. 365) gelegt werden.

Prämedikation

Abb. 44.4 Lokalanästhesie. Pflaster mit lokalanästhesierender Creme. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Merke

H ●

Enthaarungscreme darf nicht im Bereich von Schleimhäuten oder entzündeten Hautarealen benutzt werden.

Legen einer Verweilkanüle Für Kinder ist das Legen einer Venenverweilkanüle im Vorbereitungsraum eine schmerzhafte Maßnahme, die zu Ängsten führt. Diese kann durch Verabreichen eines lidocainhaltigen Pflasters (z. B. Emla) oder das Auftragen einer lidocainhaltigen Creme, die über die Haut resorbiert

Die Prämedikation erfolgt i. d. R. auf Abruf, da bis zum Narkosebeginn ca. 30 – 40 Minuten vergehen sollten, damit das Kind schläfrig ist. Nach dem Telefonanruf wird das Kind zur Toilette geschickt, bevor das angeordnete Medikament verabreicht wird. Bei der Einnahme des Medikaments in Form von Saft muss beachtet werden, dass nach der Prämedikation nichts nachgetrunken werden darf und Tabletten nur mit einem Schluck Wasser eingenommen werden, um einer Aspiration vorzubeugen. Bei Säuglingen und Kleinkindern erfolgt die Medikamentengabe in Form eines Zäpfchens. Die Prämedikation wird mit Datum, Uhrzeit und Unterschrift auf dem Narkoseprotokoll vermerkt.

Praxistipp Pflege



Analgesie Verminderung der Peristaltik und Sekretion

Transport des Kindes in den Operationssaal

Blasenentleerung

Abb. 44.3 Haarkürzung. Clipper zur atraumatischen Haarkürzung. (Abb. von: 3M Deutschland GmbH)



Z ●

Das Kind darf nach Verabreichung der Prämedikation nicht mehr aufstehen, da es schläfrig ist und sich durch einen Sturz verletzen könnten. Laute Geräusche sollen vermieden werden, damit die beruhigende Wirkung gefördert wird.

Nach Verabreichung der Prämedikation wird das Kind bezüglich auftretender Unverträglichkeitsreaktionen beobachtet und die Vitalzeichen kontrolliert, da Kollapsgefahr besteht. Zur Prämedikation stehen verschiedene Medikamente zur Verfügung (▶ Tab. 44.1). Gründe für eine gezielte Prämedikation sind: ● Minderung von Angst und Anspannung ● Erleichterung der Narkoseeinleitung ● Reduzierung des Narkotikaverbrauchs und damit Senkung des Narkoserisikos

▶ Vorbereitung. Ein reibungsloser organisatorischer Ablauf gewährleistet dem Kind sowie den Angehörigen geringe Wartezeiten, wodurch Ängste und Belastungen reduziert werden: ● Ist ein Transportdienst vorhanden, wird er rechtzeitig bestellt. ● Alle Unterlagen des Kindes wie Patientenkurve, Krankengeschichte, Röntgenbilder, Untersuchungsbefunde, Narkoseprotokoll und Einwilligungserklärung werden rechtzeitig zusammengestellt und vollständig in den Operationsbereich mitgenommen. ● Neben allen Unterlagen werden notwendige Hilfsmittel zur Positionierung, Ersatzwindeln und Infusionsgeräte in den Operationssaal mitgenommen. ● Es ist hilfreich, wenn das Bett des Kindes mit der Beschriftung des Namens und der Station sowie Telefonnummer versehen wird, damit evtl. auftretende Fragen ohne Verzögerung durch Rückruf auf der Station geklärt werden können. ▶ Durchführung. Während des Transports wird das Kind in Blickrichtung gefahren und bezüglich Veränderungen gut beobachtet. Die Begleitung des Kindes in den Operationssaal sollte durch ein Elternteil und eine dem Kind vertraute Pflegefachkraft erfolgen. Häufig ist für kleine Kinder die Mitnahme ihres geliebten Kuscheltieres eine große Beruhigung, denn sie fühlen sich dann nicht so allein und ausgeliefert.

Aufenthalt im Vorbereitungsraum Wünschenswert ist die Anwesenheit einer vertrauten Person im Vorbereitungsraum des Operationssaales bis zum Einschlafen des Kindes, damit Ängste und Verlassenheitsgefühle weitgehend gemindert werden. Nachdem die kleinen Kinder eingeschlafen sind, werden sie über eine Patientenumbetteinrichtung (Schleuse) in

44

Tab. 44.1 Medikamente zur Prämedikation. Wirkstoff

Wirkung

Nebenwirkung

Midazolam (Sedativum/Hypnotikum, z. B. Dormicum)

Einleitung einer Narkose

Müdigkeit, Schläfrigkeit, Schwindelgefühl, Kopfschmerzen, evtl. paradoxe Reaktionen (akute Erregungszustände)

Atropin (Vagolytikum, z. B. Atropinsulfat)

Peristaltik hemmend, Spasmen lösend, Sekretion hemmend

Tachykardie, Mundtrockenheit, Hautrötung

3

Perioperative Pflege den Operationsbereich aufgenommen. Größeren Kindern, die noch wach sind, sollte Gelegenheit gegeben werden, sich von ihren Eltern vor der Schleuse zu verabschieden. Die Pflegefachkraft, die das Kind einschleust, verzichtet auf einen Mundschutz, um das noch wache Kind nicht zu erschrecken. Eltern erhalten Informationen hinsichtlich des weiteren Verlaufs, z. B. über den ungefähren Zeitpunkt der Rückkehr ihres Kindes.

Eltern

a ●

Für die Kinder bedeutet die Anwesenheit der Bezugsperson beim Aufwachen aus der Narkose eine große Hilfe.

Vorbereitung des Zimmers Nachdem das Kind die Station verlassen hat, sollte ein ruhiges Zimmer für die Rückkehr mit den notwendigen Materialien gerichtet werden. Der Raum wird gut gelüftet. Werden die Kinder in einem frischen Bett zurückgebracht, entfällt das Beziehen des Bettes. Dem Eingriff entsprechend müssen unterschiedliche Materialien und notwendige apparative Anschlüsse vorhanden sein. Bereitgestellt werden z. B. Schienen zur Ruhigstellung der Extremität, Infusionsständer, Blutdruckgerät, Überwachungsblatt, Mundpflegetablett, Nierenschale, Aufhängevorrichtung für Drainagen, evtl. Urinbeutel, Urinflasche, Steckbecken. Absaugvorrichtung, Sauerstoffanschluss, Beatmungsbeutel mit Maske, Überwachungsmonitor und evtl. Notfallmedikamente sollten einsatzfähig bereitstehen. Die Klingel muss auf Funktionstüchtigkeit überprüft werden und sich in Reichweite des Kindes befinden.

Übernahme des Kindes zum Rücktransport

44

834

Ob ein Kind nach einer Operation direkt aus dem Operationssaal oder von der Aufwachstation kommt, hängt vom Ausmaß und von der Schwere des operativen Eingriffs ab. In besonderen Fällen wird ein Kind einige Tage auf der Intensivstation überwacht und versorgt, ehe es auf die weiterversorgende Station zurückverlegt wird. Der Rücktransport erfolgt stets durch 2 Pflegefachkräfte, wovon eine erfahren und examiniert sein muss, damit sie in einer Notsituation Erste-Hilfe-Maßnahmen durchführen kann. Ein einsatzbereiter Beatmungsbeutel muss daher stets griffbereit sein. Bei umfangreichen opera-

tiven Eingriffen sollte nach Rücksprache auch eine Sauerstoffflasche mitgeführt werden.

Merke

H ●

Bei beatmeten Kindern ist eine Arztbegleitung notwendig.

Folgendes ist beim Rücktransport zu beachten: ● Um einen Patienten postoperativ transportieren zu können, muss er bei vollem Bewusstsein, d. h. ansprechbar, erweckbar, und ältere Kinder müssen persönlich sowie örtlich orientiert sein. ● Die abholende Pflegefachkraft überzeugt sich außerdem davon, dass z. B. die Harnableitungen sicher fixiert, deutlich gekennzeichnet und in geöffnetem Zustand sind. Folgende Informationen müssen beim Anästhesieteam und dem Chirurgen eingeholt werden, damit das Kind postoperativ gezielt überwacht und versorgt werden kann: ● Umfang und Verlauf der Operation sowie der Narkose einschließlich evtl. aufgetretener Komplikationen ● erhaltene Medikamente und Transfusionen ● aktuelle Vitalzeichenwerte, Bewusstseinslage und erfolgte Urinausscheidung ● spezielle Positionierungen des Kindes, die postoperativ erfolgen müssen ● Zeitpunkt der Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme, d. h. Beginn der ersten Teegabe ● Medikamentenverordnung, z. B. Schmerzmittel, sowie Infusionen, Transfusionen und evtl. Sauerstoffgaben ● Art und Häufigkeit der Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen

Merke

H ●

Alle ärztlichen Anweisungen müssen schriftlich erfolgen.

Das Kind wird so transportiert, dass es nicht gefährdet wird. Es darf nicht auskühlen und durch Stöße beeinträchtigt werden. Drainagen sowie Katheter müssen sicher fixiert werden. Während der Fahrt wird das Kind zur Aspirationsprophylaxe in einer flachen Kopf-Seiten-Lage und in Blickrichtung transportiert, sofern keine anders lautenden ärztlichen Anweisungen bestehen. Dabei müssen Hautfarbe, Atmung und Puls gut beobachtet werden, um eine aku-

te Kreislaufveränderung, bedingt durch die Nachwirkungen von Narkotika bei Intubationsnarkose, und evtl. Blutverluste rechtzeitig zu erkennen. Außerdem muss die laufende Infusion, insbesondere die Tropfgeschwindigkeit, kontrolliert werden. Während des operativen Eingriffs und danach besteht besonders bei Kindern die Gefahr eines massiven Wärmeverlusts, der zu erhöhtem Sauerstoffverbrauch, erhöhtem Herzzeitvolumen und verlängertem postnarkotischem Unwohlsein führt. Um einer Hypothermie während der Operation vorzubeugen, können Ganz- oder Teilkörperdecken des Patientenwärmsystems, z. B. „WarmTouch“, zum Einmalgebrauch verwendet werden. Die Unterfläche der Decken weist Poren auf, durch die warme Luft aus einem Gebläse zu dem Kind gelangt. Durch diese Methode kann die kalte Luftschicht, die sich um das Kind befindet, durchbrochen werden. Frühund Neugeborene werden in einem vorgewärmten Transportinkubator transportiert.

44.2.3 Pflegerische Aufgaben nach der Operation In den ersten Stunden nach der Operation besteht durch die Narkose sowie die Inzision eine erhöhte Gefahr von Komplikationen. Besonders während der postoperativen Phase muss eine sorgfältige und kontinuierliche Beobachtung anhand postoperativer Überwachungsstandards in festgelegten Intervallen mit präziser Dokumentation zum Erfassen des kindlichen Befindens erfolgen. Sie wird i. d. R. im Aufwachraum durch intensivmedizinisches Pflegepersonal durchgeführt. Je nach Operationsart kann es zu Gefahren und Störungen kommen, aus denen sich folgende Pflegeprobleme ergeben: ● Gefahr einer Atemdepression durch Narkoseüberhang und Schmerzmittel (Opiaten) ● Gefahr von Kreislaufstörungen und einer veränderten Bewusstseinslage durch Narkosewirkung und evtl. Volumenmangel ● Gefahr einer Aspiration durch Erbrechen ● Gefahr einer Pneumonie durch Flachlage und Schonatmung infolge von Schmerzen ● Gefahr einer Thrombose durch Veränderung der Blutgerinnung infolge der Inzision sowie verlangsamter Blutströmung durch Immobilität ● Dekubitusgefahr, z. B. durch Immobilität, Schienen oder Gipsverbände

44.2 Pflegerische Aufgaben ●



















Schlafstörungen durch ungewohnte Umgebung, Schmerzen, ungewohnte Schlaflage und Überwachungsmaßnahmen Einschränkungen der Selbstständigkeit und evtl. Rückschritt in der Entwicklung bei Kleinkindern durch Immobilität, Schmerzen und Erschöpfung Ängste und Unsicherheit vor schmerzhaften Eingriffen wie Blutentnahmen, insbesondere wenn schlechte Vorerfahrungen bestehen Verletzung des Schamgefühls durch Untersuchungen und Eingriffe im Genitalbereich Soorgefahr durch Sonden- oder parenterale Ernährung Meteorismus durch vorangegangene Darmatonie infolge relaxierender Medikamente und Opiate bei Inhalationsnarkose sowie Bewegungsmangel Gefahr eines Harnwegsinfekts durch einen Blasendauerkatheter Gefahr von Wundheilungsstörungen infolge einer Infektion Gefahr der Nachblutung durch nicht vollständig verschlossene Gefäße und Gerinnungsstörungen Gefahr der Nahtdehiszenz durch ungenügende Ruhigstellung und zu frühe Belastung u. a.

Die folgenden Pflegemaßnahmen dienen dazu, die jeweiligen Pflegeziele zu erreichen.

Erkennen einer veränderten Bewusstseinslage Postoperativ wird die Bewusstseinslage anfangs in kürzeren und später in erweiterten Intervallen nach ärztlicher Anweisung kontrolliert, um Komplikationen durch Sauerstoffmangel oder Narkotikaüberhang schnell erfassen zu können. Um die Bewusstseinslage zu überprüfen, sollte das Kind zunächst sanft angefasst und leise angesprochen werden, um es nicht zu erschrecken. Bei eingetrübten sowie neurologischen Patienten wird die Pupillenreaktion in regelmäßigen Abständen kontrolliert. Es werden evtl. standardisierte Beurteilungen der Bewusstseinslage (S. 423) mithilfe der Glasgow-Coma-Scale durchgeführt. Eine Sturzprophylaxe ist z. B. durch das Anbringen von Bettgittern zu gewährleisten.

Freie Atmung Um einer Aspiration vorzubeugen, werden die Kinder anfangs flach in eine Kopf-Seiten-Lage gebracht, falls keine Kontraindikation besteht, damit das Erbrochene sofort aus dem Mund abfließen kann. Für die Nachschlafphase kann aus Sicherheits-

gründen ein Guedel-Tubus eingelegt werden, der ein Zurückfallen der Zunge mit Verlegung der Atemwege verhindert. ▶ Überwachung. Wichtig ist die regelmäßige Kontrolle von Atemfrequenz, -rhythmus, -qualität und ggf. der Sauerstoffsättigung sowie des Hautkolorits, da nach Einsetzen der Spontanatmung diese wieder insuffizient werden kann. Die Ursache kann ein tiefer Nachschlaf durch einen Überhang von Narkosemitteln oder eine atemdepressive Wirkung nach Verabreichung von Schmerzmitteln (Opiaten) sein. ▶ Beatmungsutensilien. Ein Beatmungsbeutel mit passender Maske sowie ein einsatzbereites Absauggerät mit Absaugkathetern sollten griffbereit vorhanden und die Möglichkeit einer Sauerstoffzufuhr gegeben sein. ▶ Flüssigkeits- und Nahrungskarenz. Der Zeitpunkt der oralen Flüssigkeitszufuhr und des Nahrungsaufbaus hängt vom Ausmaß und von der Lokalisation der durchgeführten Operation ab. Sofern nicht am Magen-Darm-Trakt operiert wurde, kann die erste Teegabe nach 2 – 4, evtl. 6 Stunden nach Narkoseende, entsprechend der Entscheidung des Anästhesisten und Chirurgen, erfolgen. Eine begrenzte Flüssigkeits- und Nahrungskarenz muss nach jeder Operation und Anästhesieform erfolgen, um bei Komplikationen und einem notwendigen Folgeeingriff eine Intubationsnarkose möglich zu machen. ▶ Pneumonieprophylaxe. Da die Kinder aufgrund von Schmerzen häufig eine Schonatmung aufweisen, d. h. nicht genügend durchatmen, muss im weiteren postoperativen Verlauf eine gezielte Pneumonieprophylaxe (S. 260) zur freien Atmung erfolgen.

Erkennen einer instabilen Kreislaufsituation ▶ Herzfrequenz und Blutdruck. Der Puls muss anfangs in kurzen Abständen, evtl. mithilfe eines Monitors, kontrolliert werden, um Schockzeichen, z. B. durch Volumenmangel, bedingt durch eine innere Blutung, rechtzeitig zu erkennen. Die Abstände werden ärztlich angeordnet und können anfangs viertel-, später halbstündlich oder stündlich notwendig sein. Ebenso wird der Blutdruck in entsprechenden Abständen gemessen und dokumentiert. Bei Auffälligkeiten muss der Arzt informiert werden.

▶ Hautbeobachtungen. Hautfarbe, Hautfeuchte und Hauttemperatur werden kontinuierlich beobachtet, da sich Kreislaufveränderungen durch eine blasse, klebrige und kühle Haut bemerkbar machen. ▶ Urinproduktion. Die Urinproduktion ist ein wichtiger Parameter für eine stabile Kreislaufsituation. Deshalb muss die Urinmenge bei Spontanmiktion oder bei liegendem Dauerkatheter, z. B. anfangs stündlich, kontrolliert und ggf. eine Flüssigkeitsbilanz nach ärztlicher Anordnung erstellt werden (S. 378).

Praxistipp Pflege

Z ●

Unruhe, Tachykardie und Blutdruckanstieg können auch durch eine volle Blase verursacht werden.

▶ Zentraler Venendruck. Nach ärztlicher Anordnung wird der zentrale Venendruck (S. 818) in regelmäßigen Abständen kontrolliert, um Kreislaufveränderungen rechtzeitig zu erkennen.

Physiologische Körpertemperatur Eine Kontrolle der Körpertemperatur sollte unmittelbar nach der Ankunft auf der Station erfolgen, da die Kinder während der Operation auskühlen können, sofern es im Operationssaal keine Spezialdecken gibt. Temperaturbeobachtungen müssen auch regelmäßig nach ärztlicher Anordnung erfolgen, um beginnende Infektionen schnell erfassen zu können. Ein Resorptionsfieber in den ersten 2–5 postoperativen Tagen ist physiologisch und sollte 38,5 °C nicht übersteigen (S. 279).

Merke

H ●

Sollten die Kinder eine Untertemperatur haben, darf die Wärmezufuhr nur durch Decken und Kissen erfolgen, da eine Wärmezufuhr mittels Wärmflaschen zu einer Erweiterung der Gefäße und somit zu Nachblutungen führen kann.

44 Schmerzminderung und Wohlbefinden Die Reduzierung von Schmerzen und Ängsten trägt nicht nur zum Wohlbefinden eines Kindes bei, sondern ist auch entscheidend an der Vermeidung eines Stressulkus beteiligt, da die Stresshormone Kortison und Adrenalin vermehrt aus-

5

Perioperative Pflege geschüttet werden. Es ist daher eine wichtige Aufgabe des Pflegepersonals, die Säuglinge und Kinder aufmerksam auf Schmerzäußerungen zu beobachten und diese auch ernst zu nehmen. Bei kleinen Kindern sind Schmerzen durch gekrümmte Rumpfhaltung, an den Körper angezogene Beine, verzerrten Mund, Wimmern, motorische Unruhe usw. zu erkennen. Bei größeren Kindern können Schmerzskalen zur Selbsteinschätzung (S. 237) herangezogen werden. Folgende Pflegemaßnahmen tragen zur Schmerzlinderung und zum Wohlbefinden des Kindes bei: ● Bei Bedarf und ärztlicher Anordnung wird den Kindern ein Schmerzmittel verabreicht. Zuvor sollte abgeklärt werden, ob die Schmerzen z. B. durch unangepasste Positionierung oder zu enge Schienen hervorgerufen wurden.

Merke

● H

Beginnende Schmerzen kündigen sich meist mit Unruhe, Veränderungen der Atmung, Schwitzen, Tachykardie und Blutdruckanstieg an. Schmerzmittel sollten nach Möglichkeit vor dem Eintreten der Schmerzintervalle verabreicht werden.



Nach Eingriffen im Bereich des Abdomens dient eine Knierolle der Entspannung der Bauchdecke. Sofern keine Schaumstoffrolle zur Verfügung steht, können Kissen oder zusammengerollte Handtücher unter die Knie des Kindes gelegt werden (▶ Abb. 44.5).

Merke

H ●

Bei einer Thrombosegefährdung sollte jedoch auf Knierollen verzichtet werden, da durch den Auflagedruck und die damit verbundene Verlangsamung der Blutströmung die Entstehung von Thromben in den Beinvenen begünstigt wird.



44





836

ruht auf der Aktivierung der Muskelpumpe, um den Kreislauf zu mobilisieren, einer Thrombose vorzubeugen und das Atemzugvolumen zu steigern. Nach entsprechender Information und Motivation des Kindes werden Blutdruck und Puls gemessen. Sind keine Auffälligkeiten zu erkennen, wird es vom Pflegepersonal in einer Drehbewegung an die Bettkante gesetzt, erhält Hausschuhe (möglichst geschlossene) und evtl. einen Bademantel. Je nach Alter des Kindes bekommt es von 1–2 Pflegefachkräften Hilfestellung beim Aufstehen und die Aufforderung, tief durchzuatmen. Je nach Zustand des Kindes können unter sorgfältiger Beobachtung einige Schritte im Zimmer gemacht werden. Das Kind muss dabei sicher gehalten werden, da ein plötzliches Kreislaufversagen auftreten kann.

Ruhigstellung der operierten Extremität, z. B. durch eine Schiene. Auch sollten die Kinder dahin gehend beraten werden, dass beim Husten, Lachen und Bewegen das Auflegen einer Hand mit einem leichten Druck auf die Wunde zu einer Schmerzreduzierung führt. Kinder erhalten nach einer Operation so viel Hilfestellung für die Körperpflege wie nötig, damit sie nicht übermäßig belastet, jedoch so früh wie möglich mobilisiert werden.

Abb. 44.5 Knierolle. Sie dient postoperativ zur Entspannung der Bauchdecke. (Foto: P. Blåfield, Thieme)







Die Körperpflege orientiert sich am Befinden des Kindes. Am 1. postoperativen Tag sollte evtl. nur eine Teilwaschung erfolgen, damit das Kind auf keinen Fall überfordert wird. Eltern, die einen Teil der Pflegeaufgaben übernehmen, werden vom Pflegepersonal informiert und erhalten entsprechende Hilfestellungen. Die Haare müssen täglich vorsichtig gekämmt oder gebürstet und längeres Haar zu einem Zopf geflochten werden, um ein Verfilzen zu vermeiden. Haarschmuck wird seitlich angebracht, um Druckstellen am Hinterkopf zu verhindern. Für eine ruhige Umgebung ist zu sorgen, damit die Kinder sich von der Operation erholen können.

Physiologische Blutzirkulation Zur Vermeidung einer Thrombose wird bei gefährdeten Jugendlichen und längerer Liegezeit eine Thromboseprophylaxe nach ärztlicher Anordnung durchgeführt, die bereits präoperativ durch das Tragen medizinischer Thromboseprophylaxestrümpfe (MTS) und die Injektion von Heparin erfolgt. Dabei ist auf einen korrekten Sitz passender medizinischer Thromboseprophylaxestrümpfe zu achten (S. 407). ▶ Frühmobilisation. Ein möglichst frühzeitiges Aufstehen nach einer Operation erfolgt in Absprache mit dem Chirurgen i. d. R. am nächsten Morgen schrittweise. Die Wirkungsweise dieser Maßnahme be-

Infektfreie Nieren und ableitende Harnwege Die erste Urinentleerung sollte spätestens 6 – 8 Stunden postoperativ erfolgen, um einen Harnwegsinfekt durch Reflux (Zurückfließen des Urins) zu vermeiden. Da es häufig nach allen Formen der Anästhesie zu Miktionsstörungen kommen kann, ist die Blasenentleerung oft erschwert und kann häufig nur mittels kleiner Hilfen (S. 367) erfolgen. Sammelurin, Flüssigkeitsbilanzen, Kontrolle des Hautturgors und Urinschnelltests (S. 380) werden nach ärztlicher Anordnung durchgeführt. Zur Infektionsprophylaxe gehört auch der aseptische Umgang mit allen Ableitungen der Harnwege (S. 651).

Störungsfreie Wundheilung Zu einer komplikationslosen Wundheilung tragen eine fachgerechte Wundversorgung und bei Eingriffen am MagenDarm-Trakt eine Entlastung dieses Organsystems durch parenterale Ernährung und eine Magenablaufsonde bei. ▶ Wundbeobachtung. Der Wundverband muss unmittelbar postoperativ auf Nachblutungen kontrolliert werden. Sind geringe Blutmengen nachgesickert, so werden diese auf dem Verband vorsichtig markiert, um eine Ausweitung der Blutung erkennen zu können (▶ Abb. 44.6). Bei einer Zunahme der Blutung muss der Chirurg unverzüglich hinzugezogen werden. ▶ Verbandwechsel. Der erste Verband wird i. d. R. vom Chirurgen erst ab dem 2.– 4. Tag unter aseptischen Bedingungen gewechselt, um die Wundheilung (S. 840) nicht zu stören. Die weiteren Verbandwechsel werden dann i. d. R. täglich durchgeführt, um den Verlauf der Wund-

44.2 Pflegerische Aufgaben

Abb. 44.6 Durchgebluteter Wundverband. Die Pflegefachkraft zeichnet die Grenze der Blutung auf den Verband, um Nachblutungen zu erkennen. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

heilung beurteilen zu können, sofern es sich z. B. nicht um hydrokolloide oder Folienverbände (S. 848) handelt. Auffälligkeiten müssen weitergegeben und der Wundheilungsverlauf dokumentiert werden. ▶ Wundsekret. Die Überwachung des Wundsekretes sowie der fachgerechte Umgang mit Drainagen (S. 849) müssen sorgfältig durchgeführt werden. ▶ Wundbehandlung. Eine Ruhigstellung der Wunde fördert den Heilungsprozess und kann je nach Lokalisation, z. B. mithilfe einer Schiene, gewährleistet werden. Die Wunde sollte bis zur Nahtentfernung nicht mit Wasser in Berührung kommen. Aus diesem Grund erfolgt die Körperpflege je nach Lokalisation der Wunde durch eine Ganz- oder Teilwaschung bzw. ein Teilbad. Bei kleineren Wunden ist ab dem 3.–5. postoperativen Tag das Duschen möglich, sofern das Operationsgebiet durch einen Okklusivverband geschützt ist. ▶ Magenablaufsonde. Eine Magenablaufsonde dient der Entlastung der Operationsnähte im Magen-Darm-Bereich und trägt somit zu einer ungestörten Wundheilung bei. Sie wird anfangs auf Ablauf, d. h. tief gehängt, damit Magensekrete ungestört abfließen können. Bei Nachlassen der Sekretion kann sie dann auf Magenniveau und anschließend über Niveau gehängt werden. Wird dies vom Patienten gut toleriert, d. h., es erfolgt kein Erbrechen, kann sie im geschlossenen Zustand nach Rücksprache mit dem Arzt gezogen werden. ▶ Flüssigkeits- und Nahrungsaufbau. Nach kleinen unkomplizierten Eingriffen im Bereich des Magen-Darm-Trakts, z. B. Appendektomie, kann nach ca. 6 Stunden löffelweise Tee verabreicht werden, sofern keine anderen ärztlichen Anweisungen

bestehen. Wenn dieser gut vertragen wird, kann nach 24 Stunden ein Zwieback und am nächsten Tag Breikost gegessen werden. Tritt kein Erbrechen ein, kann die Nahrung zügig aufgebaut werden. Bei bestimmten Operationen stehen i. d. R. klinikspezifische Kostaufbaupläne zur Verfügung. Wurde im Bereich des Magen-DarmTrakts operiert, muss zur Schonung und Heilung des Operationsgebietes eine längere Nahrungskarenz erfolgen.

Merke

H ●

Der Zeitpunkt der Nahrungsgabe nach Eingriffen am Magen-Darm-Trakt ist stets abhängig von der Menge des Magensekretes, der Darmperistaltik, dem Windabgang und dem Ausscheiden von Hungerstuhl.

Während der Flüssigkeits- und Nahrungskarenz muss das Kind parenteral ernährt werden, um eine ausreichende Flüssigkeits-, Elektrolyt- und Nährstoffzufuhr zu gewährleisten. Die Aufgabe des Pflegepersonals ist es, die angeordnete Infusionstherapie über einen peripheren oder zentralen Zugang durchzuführen und nach klinikinternen Richtlinien zu überwachen. Bei lang andauernder Nahrungskarenz wird nach ärztlicher Anordnung eine Stressulkusprophylaxe durchgeführt, indem die Produktion von Magensäure medikamentös reduziert wird. Hunger-, aber auch evtl. Durstgefühle werden für die Kinder häufig zum großen Problem. Das Pflegepersonal sollte darauf achten, dass andere Kinder in Anwesenheit der Betroffenen kein Essen zu sich nehmen.

Intakte Haut und Schleimhaut Bei einer parenteralen oder Sondenernährung muss eine sorgfältige Mundpflege durchgeführt werden, damit die Mundschleimhaut befeuchtet und die Entstehung von Soor (S. 302) vermieden wird. Wird das Kind über eine Ernährungssonde ernährt, erfolgt eine sorgfältige Dekubitusprophylaxe der Schleimhaut (S. 358). Auch die Körperhaut wird prophylaktisch vor der Entstehung eines Dekubitus geschützt (S. 403).

Anregen der Darmperistaltik Das Einsetzen der Darmperistaltik wird von den Chirurgen kontrolliert, da es postoperativ zu einer Darmatonie kommen kann, die durch Narkosemittel, Manipulation am Darm und mangelnde Bewegung verursacht wird. Im schlimmsten

Fall kann es zu einem paralytischen Ileus kommen. Zur Anregung der Darmperistaltik und des Windabgangs kann ein Darmrohr gelegt werden. Nach großen Eingriffen am Magen-Darm-Trakt wird das Darmrohr bereits im Operationssaal gelegt und evtl. durch eine Naht fixiert. Vorsichtiges Streichen des Abdomens im physiologischen Verlauf des Darmes von rechts nach links kann bei festgesetzten Winden hilfreich sein. Die Förderung der Darmperistaltik kann durch lokale Wärmezufuhr in Form von feuchtwarmen Auflagen außerhalb des Wundgebietes nach ärztlicher Anordnung erfolgen. Intravenöse Gaben von Peristaltik anregenden Medikamenten können mittels Infusionen auf ärztliche Anordnung verabreicht werden. Eine Stuhlentleerung sollte entsprechend der Operation und ärztlichen Anordnung am 3.– 5. postoperativen Tag mithilfe eines Abführmittels, Klysmas oder Mikroklists (S. 388) durchgeführt werden, sofern bis dahin noch keine spontane Stuhlentleerung erfolgt ist.

Merke

H ●

Wundschmerzen, die durch Pressen verstärkt werden, können dazu führen, dass der Stuhl eingehalten wird.

Optimistische Grundstimmung Die folgenden Pflegemaßnahmen können mithelfen, eine positive Einstellung zu bewirken: Bettruhe bedeutet für die Kinder i. d. R. eine große Belastung, da sie in ihrem Bewegungsdrang eingeschränkt sind und unter Langeweile leiden. Die Beschäftigung des Kindes sollte daher alters- und situationsgemäß erfolgen und ihrem Befinden entsprechend zur Eigenaktivität motiviert werden (S. 450). Vonseiten des Pflegepersonals bzw. der Erzieher können anwesende Eltern bei Bedarf zu geeigneten Spielen mit ihrem Kind angeregt werden. Kliniklehrer haben die Aufgabe, die Kinder bei längeren Krankenhausaufenthalten zu unterrichten, damit sie am Ende des Schuljahres das Klassenziel erreichen. Das Pflegepersonal spricht mit den Lehrkräften die günstigste Zeit für den Unterricht ab.

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7

Perioperative Pflege

Eltern

a ●

Die Anwesenheit eines Elternteils bedeutet für die Kinder während der ersten schmerzhaften postoperativen Tage Trost (▶ Abb. 44.7). Die Eltern übernehmen unter Anleitung i. d. R. unterschiedliche Pflegeaufgaben, wie z. B. Temperaturmessung oder Waschen, was von den Kindern als sehr beruhigend empfunden wird. Durch Aufmunterung, Zuspruch und Rücksichtnahme können unangenehme Situationen für die Kinder erträglicher gemacht werden, z. B. bei lang andauernder Nahrungskarenz und Schmerzen. Entlassungsberatung: Je nach Operation erhalten die Eltern vom Chirurgen wichtige Informationen zu Verhaltensweisen für zu Hause.

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Abb. 44.7 Eltern. Die Anwesenheit der Mutter ist ein Trost für das Kind. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Kapitel 45 Wundmanagement

45.1

Theoretische Grundlagen

840

45.2

Pflegerische Aufgaben

842

Wundmanagement

45 Wundmanagement Heidrun Beyer Eine Wunde, insbesondere eine großflächige, stellt für ein Kind eine große Belastung dar. Durch Schmerzen führt sie häufig zu einer Einschränkung der Beweglichkeit, was für kleine Kinder ein Stillstand oder gar Rückschritt in der Entwicklung bedeuten kann. Liegende Wunddrainagen, die der Ableitung von Blut und Gewebeflüssigkeit dienen, erinnern die Kinder ständig daran, dass ihr Körper verletzt ist. Viele Kinder fürchten sich vor dem Ziehen von Drainagen bzw. dem Entfernen von Nahtmaterial. Aber auch das Wechseln eines Verbandes ist für die meisten Kinder mit viel Stress verbunden. Besonders belastend ist es für die betroffenen Kinder und deren Eltern, wenn es zu Komplikationen der Wundheilung infolge von Wundinfektionen oder Nahtdehiszenz kommt, die mit einer Verlängerung des Krankenhausaufenthalts und weiteren schmerzhaften Prozeduren verbunden sind. Hilfreich ist es für Kinder mit Wunden jeder Art, wenn sie verständliche und vor allen Dingen wahrheitsgemäße Informationen von Pflegenden und Ärzten erhalten, was in einer ruhigen Atmosphäre ohne Zeitdruck erfolgen sollte. Kleinere Kinder lassen sich evtl. spielerisch von der Notwendigkeit der Maßnahme überzeugen.

Merke

H ●

In Kliniken stehen speziell ausgebildete Wundexperten zur Verfügung. Außerdem gibt es Expertenstandards für die Versorgung von chronischen Wunden.

Wundeinteilung Die Wunden werden nach der Ursache der Entstehung oder ihrer Beschaffenheit eingeteilt.

Ursachen der Wundentstehung Folgende Wunden werden unterschieden: ● Mechanische Wunden entstehen durch äußere Gewalteinwirkung. Zu ihnen werden z. B. Schuss-, Stich-, Biss-, Riss-, Platz-, Schürf- (▶ Abb. 45.1), Quetsch-, Kratzwunden gezählt. ● Chemische Wunden werden durch Säure und Laugen hervorgerufen und führen zu Verätzungen. ● Thermische Wunden entstehen durch Hitze, z. B. Verbrühung mit heißem Wasser, sowie durch Kälteeinwirkung. ● Bestrahlungswunden werden durch UV-Strahlen nach Sonneneinwirkung oder durch ionisierende Strahlen, die zur Tumortherapie eingesetzt werden, hervorgerufen.

45.1 Theoretische Grundlagen 45.1.1 Begriffsbestimmungen Definition

Bei einer Wunde handelt es sich um eine gewaltsame Durchtrennung oder umschriebene Schädigung von Haut oder Schleimhaut, die durch Operation oder Unfall hervorgerufen wurde.



45

840

Wunden können nach ihrer Beschaffenheit unterteilt werden: ● Geschlossene Wunden zeichnen sich durch intakte Haut und Schleimhaut aus, sind i. d. R. tief und können verschiedene Gewebearten betreffen, z. B. Knochen und Muskeln. ● Offene Wunden haben eine zerstörte Haut- oder Schleimhaut und können sowohl oberflächlich, perforierend oder kompliziert sein. Es können alle Hautschichten und die darunterliegenden Gewebe betroffen sein. ● Aseptische Wunden wurden unter sterilen Bedingungen in ein nicht infiziertes Gewebe gesetzt, z. B. Operationsund scharfrandige Verletzungswunden, die durch Naht verschlossen wurden. ● Kontaminierte und potenziell kontaminierte Wunden weisen noch keine Zeichen einer Infektion auf, werden jedoch prophylaktisch offen behandelt, da sie verschmutzt oder älter als 6 Stunden sind. ● Septische Wunden sind alle verschmutzten und infizierten Wunden, z. B. Bisswunden und Dekubitalgeschwüre. Sie werden stets offen behandelt, d. h. nicht durch Naht verschlossen.

Wundheilung Jede Gewebezerstörung aktiviert den Körper, den Schaden so schnell wie möglich zu beheben, um einen übermäßigen Blutverlust zu vermeiden und vor einer Infektion, sowie vor einer Auskühlung bei ausgedehnten Wunden, zu schützen. Ablauf und Dauer der Wundheilung richten sich nach Ursache, Beschaffenheit, d. h. aseptisch oder septisch, und Alter der Wunde. Dementsprechend werden 2 Arten der Wundheilung unterschieden.

L ●

Wundmanagement beinhaltet: Wundanalyse (Anamnese, Inspektion und Wundstatus) ● Wundreinigung einschließlich aller Maßnahmen zur Unterstützung der Wundheilung ● Anlegen des Wundverbandes ● ausführliche Dokumentation bezüglich des Wundzustands

Beschaffenheit der Wunden

Abb. 45.1 Schürfwunde mit Kopfplatzwunde. Zwei Tage nach Versorgung. (Abb. aus: Krause H, Wagemann W. Prinzipien kinderchirurgischer Wundbehandlung. In: Lippert H, Hrsg. Wundatlas. 3. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart: Thieme; 2012)

▶ Primäre Wundheilung. Die Voraussetzung hierfür ist eine saubere Wunde, die nicht älter als 6 Stunden und nicht durch einen Biss oder Schuss entstanden ist. Die Wundränder werden mithilfe von Nahtmaterial, Klammer- oder Klebeverschluss adaptiert und verheilen meist ohne größere Zwischengewebsnarbe (▶ Abb. 45.2). ▶ Sekundäre Wundheilung. Hierbei handelt es sich um verschmutzte, ältere oder infizierte Wunden, die nicht durch Nahtmaterial verschlossen werden dürfen, sondern sich langsam von innen nach außen durch Bildung von Granulationsgewebe verschließen müssen. Dadurch ist

45.1 Theoretische Grundlagen

Phasen des Wundheilungsprozesses

a

b

c

Abb. 45.2 Primäre Wundheilung. a Saubere, offene Wunde, nicht älter als 6 Stunden, b mithilfe von Nahtmaterial adaptierte Wundränder, c verheilte Wunde ohne größere Zwischengewebsnarbe.

der Abfluss von infiziertem Sekret gewährleistet und die Gefahr einer Infektion durch anaerobe Keime vermindert. Die Heilungsdauer ist in diesem Fall verzögert und hat meist einen verlängerten Krankenhausaufenthalt zur Folge. Das Ergebnis ist eine hypertrophe Narbe (▶ Abb. 45.3) oder ein Keloid (▶ Abb. 45.4). Es ist wichtig, die Unterscheidung einer aseptischen Wunde mit primärer Wundheilung und einer kontaminierten sowie septischen Wunde mit sekundärer Wundheilung zu kennen, um die unterschiedliche Heilungsdauer dem Kind sowie den Eltern erklären zu können. Außerdem wird durch das Wissen die Gefahr einer Kreuzinfektion minimiert, da die Notwendigkeit bezüglich der Einhaltung hygienischer Regeln abgeleitet werden kann. Wissen und Erfahrung befähigen, eine Wunde sicher zu beurteilen und hinsichtlich der Auswahl entsprechender Wundauflagen fachgerecht zu entscheiden. ▶ Tab. 45.1 bietet eine Übersicht über Faktoren, die die Wundheilung beeinflussen.

Abb. 45.3 Hypertrophe Narbe. Wulstige Bindegewebswucherung bleibt im Bereich der abgeheilten Wunde lokalisiert und bildet sich nach Monaten oder Jahren zurück. (Abb. aus: Piatek S, Tautenhahn J. Definition. In: Lippert H, Hrsg. Wundatlas. 3. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart: Thieme; 2012)

Abb. 45.4 Keloid (Wulstnarbe). Derbe, erhabene Bindegewebswucherungen der Haut, die die Grenze der abgeheilten Wunde überschreiten und keine Tendenz zur Rückbildung zeigen. (Abb. aus: Piatek S, Tautenhahn J. Definition. In: Lippert H, Hrsg. Wundatlas. 3. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart: Thieme; 2012)

Die Wundheilung verläuft in 3 Phasen und ist durch Defektheilung gekennzeichnet. Dieser Defektverschluss durch vernarbendes Bindegewebe erfolgt i. d. R. mit funktionellen Einbußen, da bei einer Hautnarbe die Elastizität des Gewebes vermindert ist und keine Schweißdrüsen und Haare gebildet werden. ▶ Exsudationsphase. Reinigungsphase, Dauer ca. 4 Tage. Unmittelbar nach einer Verletzung kommt es zur Sekretion aus den Blut- und Lymphgefäßen mit dem Ziel, die Wunde zu reinigen und die Wundlücke aufzufüllen. Gefäß- und Wundverschluss entstehen durch Vasokonstriktion und die anschließend einsetzende Blutgerinnung mit Bildung eines Fibrinnetzes und Einlagerung von Blutzellen, wodurch ein Thrombus entsteht. Austretende weiße Blutkörperchen (Granulozyten) und Bindegewebezellen (Histiozyten und Fibroblasten) vernichten pathogene Keime und abgestorbene Zellen durch Phagozytose. Infolge einer Reizung der Mastzellen, die Histamin und Bradykinin abgeben, kommt es zur Ausbildung eines Wundödems. Diese vermehrte Durchfeuchtung des Gewebes ist nach heutigem Wissensstand die Grundvoraussetzung für die Steigerung der Zellvermehrung und das Zellwachstum, wodurch die zügige Ausbildung des Granulationsgewebes gewährleistet wird. ▶ Proliferationsphase. Dauer ca. 10 Tage. Von den Wundrändern sprießen kleine Gefäße (Kapillaren) in das Wundgebiet ein. Durch die Bindegewebezellen werden ab dem 6. Tag kollagene Fasern produziert, sodass die Wunde an Festigkeit

Tab. 45.1 Faktoren, die eine Wundheilung beeinflussen. Förderung der Wundheilung

Hemmung der Wundheilung

allgemeine Faktoren ● ● ●

● ●

jugendliches Alter guter Allgemeinzustand Zufuhr von essenziellen Aminosäuren (z. B. Phenylalanin) und energieliefernden Stoffen (Kohlenhydrate) Vitamine (A, C, K) Spurenelemente (Zink, Kupfer)

● ● ● ● ● ●

höheres Alter schwere Allgemeinerkrankung (z. B. maligne Tumore) Stoffwechselerkrankung (z. B. Diabetes mellitus) Unterernährung Eiweiß- und Vitaminmangel Medikamenteneinnahme (z. B. Kortison, Zytostatika)

lokale Faktoren ●

● ● ● ●

● ● ●

sorgfältiges Wunddébridement (Ausschneiden von minderdurchblutetem und verschmutztem Gewebe) aseptische Wunde (primäre Wundheilung) gute Durchblutung der Wunde Ruhigstellung der Wunde (z. B. mittels Schiene) Wunde ruhen lassen (Verbandwechsel 2. postoperativer Tag oder später) spannungsfreie Wundränder atraumatische Operationstechnik aseptischer und atraumatischer Verbandwechsel

● ● ● ● ● ● ●

kontaminierte oder infizierte Wunde Fremdkörper, Nekrosen, Wundtaschen (sekundäre Wundheilung) Zirkulationsstörungen zu frühe Belastung Spannung der Wundränder (z. B. Wundödem) vorgeschädigtes Gewebe (z. B. Bestrahlung) traumatisierende Operationstechnik

45

1

Wundmanagement gewinnt und schrumpft. Die proliferative Wundheilungsphase ist weiterhin durch Defektauffüllung mit neu gebildetem Bindegewebe sowie vom Rande her beginnender Epithelisation gekennzeichnet. Die Infektabwehr erreicht in dieser Phase ihren Höhepunkt. ▶ Reparationsphase. Dauer mehrere Wochen. Die reparative Wundheilungsphase beginnt ca. am 8. Tag und ist durch rasche Zunahme und Vernetzung von kollagenen Fasern gekennzeichnet, sodass die Reißfestigkeit des Gewebes zunimmt. Zelldichte sowie Vaskularisation nehmen dagegen gleichermaßen ab, sodass ein Verblassen des Defektgewebes zu beobachten ist. Die Narbe hat nach ca. 10–14 Tagen eine ausreichende Festigkeit erreicht, sodass Hautfäden entfernt werden können. Eine maximale Belastbarkeit erreicht sie jedoch erst nach ca. 3 Monaten. Dies erklärt die ärztlich angeordnete Schonung nach einer Operation für einen längeren Zeitraum. Der aus Fibrin und Zelldetritus (zerfallene Zellen) bestehende Schorf schützt die Wunde vor Austrocknung und Infektion. Darunter kann sich die Wunde ungestört epithelisieren. Ist der Prozess abgeschlossen, löst sich der Schorf spontan. Eine gut granulierende, saubere Defektwunde verkleinert den Durchmesser um ca. 1 – 2 mm pro Tag.

Wundheilungsstörungen Bei der Wundheilung kann es zu einer Vielzahl von Komplikationen kommen (▶ Tab. 45.2). Um diese rechtzeitig zu erkennen, muss die Wunde von der Pflegefachkraft oder dem Arzt regelmäßig beobachtet und beurteilt werden.

45.2 Pflegerische Aufgaben 45.2.1 Allgemeine pflegerische Aufgaben Eine frische blutende Wunde ist für das Kind und die Eltern meist eine beängstigende Situation. Die Pflegefachkraft versucht das Kind und die Eltern bis zum Eintreffen des Arztes zu beruhigen. Sie assistiert dem Arzt bei der Wundversorgung, führt ärztliche Anordnungen aus, beurteilt die Wunde und dokumentiert sie sach- und fachgerecht. Regelmäßige Schulungen über neueste Entwicklungen in der Wundversorgung sind für das Pflegepersonal notwendig, um Wunden optimal versorgen zu können.

Allgemeines Die Wundanalyse, bestehend aus Anamnese und Wundbeurteilung, ist für das Therapiekonzept unbedingt notwendig. Für den Arzt ist es wichtig zu wissen, wie die Wunde entstanden ist, wie lange sie bereits besteht, ob Wundbehandlungen durchgeführt wurden etc. Um den Wundstatus und mögliche Störfaktoren zu erkennen, ist eine ausgiebige Wundbegutachtung unumgänglich. Daher gilt die Regel: „Erst schauen, dann handeln.“

Symptome Wunden können eine Vielzahl von Symptomen hervorrufen: ● Schmerzen ● Blutungen und Wundsekretion ● Schockzeichen bei ausgedehnten Wunden oder massivem Blutverlust

Tab. 45.2 Beobachtung von Wundheilungsstörungen.

45

842

Wundheilungsstörung

Beobachtungsmerkmale

Wundinfektion

Rötung (anfangs lokal begrenzt), Schwellung, Überwärmung, Schmerzen, Funktionsstörung, später systemische Infektzeichen: Fieber, BSG und CRP erhöht, evtl. Keimnachweis

Abszess (Eitergeschwür)

Ansammlung von Eiter in einem nicht vorgebildeten, sondern durch Gewebeeinschmelzung entstandenen Gewebehohlraum mit Abszessmembran Entzündungszeichen, Fluktuation, pulssynchroner Klopfschmerz

Phlegmone

eitrige Entzündung in einem nicht abgegrenzten Raum, die sich infiltrativ im interstitiellen Bindegewebe ausbreitet; lokale und allgemeine Entzündungszeichen

Hämatom (Bluterguss)

Blutansammlung im Weichteilgewebe oder in einer vorgebildeten Körperhöhle

Nekrose

Veränderung des Gewebes durch Zelltod (blauschwarz, trocken oder sezernierend)

Wunddehiszenz

Auseinanderweichen primär verschlossener Wundränder („Aufplatzen“), z. B. durch große Spannung zwischen den Wundrändern

Keloide (Wulstnarbe)

derbe, platte oder strangförmige, manchmal juckende Bindegewebewucherungen, die sich im Gegensatz zu hypertrophen Narben auch auf unbeschädigte Haut ausdehnen



● ●

Entzündungszeichen: Rötung, Schwellung, Überwärmung, Schmerz, Fieber, Eiter Nekrosen Juckreiz

Pflegeprobleme Durch Wunden können folgende Pflegeprobleme entstehen: ● Angst und gestörtes Wohlbefinden durch Schmerzen ● Wundheilungsstörung, z. B. durch Infektion ● Beeinträchtigung des Allgemeinbefindens, z. B. durch Fieber ● Bewegungseinschränkung und Langeweile durch Schmerzen, Bettruhe oder Isolation ● Verlust der Selbstständigkeit, evtl. verbunden mit einem Entwicklungsrückschritt z. B. durch Verbände, Schmerzen ● Schockgefahr durch großen Blutverlust ● Beeinträchtigung des Allgemeinbefindens und evtl. des Nachtschlafes durch Juckreiz infolge Wundheilung Die nachfolgenden Pflegemaßnahmen zur Wundversorgung dienen dazu, die Pflegeziele zu erreichen.

Schmerz- und Angstreduzierung Folgende Verhaltensweisen des Pflegepersonals tragen zur Minimierung von Schmerzen und zur Entspannung des Kindes bei: ● Die Kinder werden altersgemäß und wahrheitsgetreu über das Auftreten von Schmerzen, z. B. beim Verbandwechsel, informiert, damit das Vertrauensverhältnis zwischen Kind und Pflegepersonal oder Ärzten nicht zerstört wird. ● Die Anwesenheit eines Elternteils hilft häufig, schmerzhafte Maßnahmen besser zu ertragen. ● Schmerzstillende Medikamente werden nach ärztlicher Anordnung ca. 30 Min. vor einem Verbandwechsel verabreicht. ● Kinder werden während des Verbandwechsels abgelenkt und haben möglichst keinen direkten Blick auf die gerichteten Instrumente. ● Die Auswahl des Verbandmaterials, z. B. ein leicht ablösbarer oder ein durchsichtiger Wundverband, der einen selteneren Verbandwechsel notwendig macht, kann zur Schmerzverringerung beitragen. ● Im Beisein des Kindes erfolgen keine unbedachten Äußerungen über die Wundverhältnisse. ● Pflasterstreifen können mit Wundbenzin oder mit Ringer- bzw. Kochsalzlösung 0,9 % getränkten Tupfern gelöst werden.

45.2 Pflegerische Aufgaben

Praxistipp Pflege

Z ●

Es ist weniger schmerzhaft, die Haut vorsichtig durch Nachgreifen vom Pflaster zu lösen, als das Pflaster von der Haut abzuziehen.

Häufig möchten die Kinder das Pflaster selbst entfernen. Am Ende der unangenehmen oder schmerzhaften Manipulation sollten sie für ihre Tapferkeit gelobt werden.

Infektfreier Zustand Die nachfolgend aufgeführten Pflegemaßnahmen helfen, Infektionen vorzubeugen bzw. sie rechtzeitig zu erkennen und den Heilungsverlauf zu beobachten. ▶ Beobachtung und Dokumentation. Das Wundgebiet und die Drainageaustrittsstelle werden bei jedem Ver bandwechsel sorgfältig begutachtet (▶ Tab. 45.3). Auffälligkeiten werden sofort weitergegeben und dokumentiert. Präzises und kontinuierliches Führen eines Wunddokumentationsbogens ist eine hilfreiche Maßnahme, den Verlauf einer Wundheilung zu verfolgen, die Therapie entsprechend anzupassen und sich rechtlich abzusichern. In besonderen Fällen können Fotos mit Zentimetermaßstab, Pausverfahren (Zeichnen der Wundumrisse auf transparenter Folie) u. a. den Verlauf einer Wundheilung dokumentieren. Mithilfe von sterilen Einmalmaßbändern kann die Wundgröße festgestellt werden (▶ Abb. 45.5). Bei Verdacht auf eine Wundinfektion werden nach ärztlicher Anordnung Wundabstriche für mikrobiologische Untersuchungen abgenommen.

▶ Therapie bei MRSA. Werden resistente Problemkeime durch einen Abstrich an der Wunde nachgewiesen, so erfolgt nach ärztlicher Anordnung eine Behandlung der Nase mithilfe eines Nasen-Gels, z. B. Octenidin (Octenisept), und einer desinfizierenden Lösung für Haut und Wunde, z. B. mit Polihexanid (Lavasept). Liegt eine Infektion mit MRSA vor, wird eine systemische Therapie mit einem Reserveantibiotikum und einer lokalen Therapie kombiniert. ▶ Vitalzeichenkontrolle. Die Vitalzeichen werden in entsprechenden Abständen kontrolliert. Auffälligkeiten werden sofort gemeldet und dokumentiert. ▶ Hygiene. Der Zeitpunkt und die Durchführung des Verbandwechsels sind entscheidende Faktoren zur Infektionsverhütung, da ein länger belassener Verband, der unter sterilen Bedingungen im Operationssaal angebracht wurde, zu einer Verminderung des Infektionsrisikos beiträgt. Ein fachgerechter und aseptischer Umgang mit allen Kathetern (S. 652), Drainagen und venösen Zugängen verhindert ein Aufsteigen sowie eine Ausbreitung von Mikroorganismen.

Merke

H ●

Kinder mit septischen Wunden dürfen keinen Kontakt zu Kindern mit aseptischen Wunden haben, um eine Übertragung von pathogenen Keimen zu vermeiden. Werden resistente Problemkeime gefunden, so müssen erregerbezogene Hygienepläne, die mit der Hygienefachkraft abgesprochen wurden, eingehalten werden.

Tab. 45.3 Wundbeobachtung und Wundbeurteilung. Beobachtungskriterien

Ausprägung

Größe/Tiefe der Wunde

Kleine oder ausgedehnte, flächenhafte Wunde oder evtl. tiefe Wunden mit Wundtaschen?

Phasen der Wundheilung

Blutet die Wunde noch stark? Epithelisierung erkennbar?

Ausmaß/Beschaffenheit des Wundsekrets

Stark sezernierende Wunde? Wunde trocknet bereits aus? Wundsekret: serös, blutig, eitrig?

Infektionszeichen

Rötung, Schwellung und Erwärmung des Wundgebietes? Fieberzeichen? Schmerzen? Funktionseinschränkung?

Wundbeläge/Nekrosen

Gelbliche, grünliche oder schmierige Beläge? Trockene oder feuchte Nekrosen?

Geruch der Wunde

Übel riechend?

Zeichen der Nahtdehiszenz

Wundränder adaptiert oder klaffen bereits auseinander?

Sensibilität des Wundbereichs

Verursacht die Wunde extreme Schmerzen oder werden keine Schmerzen wahrgenommen?

Abb. 45.5 Maßband zum Einmalgebrauch. Die Größe einer Wunde (hier: Dekubitalulkus) kann damit festgestellt werden. (Foto: K. Gampper, Thieme)

Ungestörte Wundheilung und Hautschonung Folgende Maßnahmen helfen, die Wundheilung zu fördern und die umliegende Haut zu schonen: ● Der Verband wird vorsichtig gelöst, um neu gebildetes Epithelgewebe nicht abzureißen. ● Ein festklebender Verband kann mit physiologischer Kochsalz- oder Ringerlösung aufgeweicht werden. ● Postoperative Wundverbände, die durchsichtig sind oder durch wabenförmige Wundkissen den direkten Blick auf die Wunde ohne Verbandwechsel ermöglichen. ● Die Wunden werden entsprechend ihrer Beschaffenheit mit ärztlich verordneten Salben oder einem Spezialverband versorgt. ● Eine Ruhigstellung der Wunde und eine sichere Fixierung des Verbandes fördern den Heilungsprozess. ● Kinder werden darüber informiert, dass jegliche Manipulation an der Wunde den Heilungsprozess beeinträchtigen kann. ● Verbände werden mit hautschonendem Pflaster, z. B. Leukosilk, oder Netzverbänden fixiert. Eltern werden zuvor nach Allergien, z. B. einer Pflasterallergie, gefragt. ● Pflasterstreifen oder Fixomull werden auf der gesunden Haut so sparsam wie möglich verwendet. ● Industriell gefertigte Wundverbände und Pflasterstreifen dürfen nicht zu straff gespannt und können evtl. an den Rändern eingeschnitten werden.

Merke

H ●

45

Pflasterstreifen dürfen niemals zirkulär geklebt werden, da dies zu Einschnürungen führt, die eine Minderdurchblutung des Gewebes mit Wundheilungsstörungen zur Folge haben.

3

Wundmanagement

Förderung des Wohlbefindens Eine alters- und situationsgemäße Beschäftigung des Kindes, um Langeweile zu vermeiden (S. 446), bekommt bei Isolierung, z. B. bei ausgedehnten thermischen Wunden, eine besondere Bedeutung. Bei Bedarf erhalten die Eltern Unterstützung vom Pflegepersonal oder von den Erzieherinnen, um ihr Kind im Bett zu beschäftigen. Das Kind sollte bei den täglichen Verrichtungen, z. B. Ganzkörperpflege, nur so viel Hilfe wie unbedingt nötig erhalten, um die Selbstständigkeit weitgehend zu erhalten. Eine Mobilisation wird nach Rücksprache mit dem Arzt unter Beachtung der Belastbarkeit des Kindes so früh wie möglich begonnen.



Bei einem unzureichenden Tetanusschutz ist eine Tetanusprophylaxe in Form einer i. m. Injektion notwendig. Sofern kein zuverlässiger Schutz besteht, werden Tetagam (passiver Impfschutz) und Tetanol (aktiver Impfschutz) als Simultanimpfung verabreicht. Im Falle einer zuvor erfolgten korrekten Durchimpfung wird nach Bedarf eine Auffrischung mit Tetanol durchgeführt.

H ●

Merke

Ältere oder infizierte Wunden dürfen nicht primär verschlossen werden. Keimvermehrung und mögliche hämatogene oder lymphogene Keimstreuung wären die Folge.

45.2.2 Spezielle pflegerische Aufgaben Operative Wundversorgung Kleine Hautwunden werden in der Ambulanz in Lokalanästhesie durch eine Naht versorgt, sofern sie nicht älter als 6 Stunden und nicht verschmutzt sind. Das Pflegepersonal hat die Aufgabe, dem Chirurgen zu assistieren: ● Die Wunde und ihre Umgebung werden zuerst mit sterilen, in Kochsalzlösung 0,9 % getränkten Tupfern von Blut, Schmutz und evtl. Fremdkörpern gereinigt und anschließend, mit Ausnahme der Augenbrauen, im Umkreis von etwa 1 cm rasiert, sofern sich im Wundgebiet Haare befinden. ● Die Wundränder werden nach vorheriger Hautdesinfektion mit einem Lokalanästhetikum infiltriert. Im Bereich der Extremitäten erfolgt eine Leitungsanästhesie. ● Anschließend wird die Wunde zur Keimabtötung mit Wundantiseptika, z. B. Octenisept, desinfiziert. ● Danach werden die Wundränder mit dem Skalpell ausgeschnitten, geglättet und verschmutztes Gewebe wird entfernt.

Merke

H ●



Umgang mit Materialien zur Wundversorgung Verbandwagen Ein Verbandwagen ist ein kleiner, fahrbarer Schrank, in dem das für eine Wundversorgung benötigte Material aufbewahrt wird. Um eine Kontamination der Instrumente und Materialien zu vermeiden, müssen folgende Regeln beachtet werden: ● Der Verbandwagen wird bei Nichtgebrauch in einem geeigneten Raum abgestellt und abgedeckt. ● Alle Arbeitsflächen werden täglich, sonstige Oberflächen mindestens einmal wöchentlich desinfiziert. Es wird daher empfohlen, auf der Arbeitsfläche nur das Material für einen Tag aufzubewahren. ● Das Verfalldatum wird bei allen Instrumenten, Verbandmaterialien und Medikamenten regelmäßig kontrolliert. ● Grundsätzlich darf aus hygienischen Gründen kein Verbandwagen in das Patientenzimmer gefahren werden, sondern muss im Flurbereich bleiben. Das benötigte Material kann auf einem desinfizierten Tablett zum Patienten mit-

genommen werden. Während des Besucher- und Patientenverkehrs bleibt der Wagen nicht auf dem Flur stehen. Gebrauchtes Material und Instrumentarium dürfen keinesfalls auf dem Verbandwagen abgelegt werden, sondern müssen ohne Zwischenlagerung in einem Abfallbehältnis bzw. Instrumentenkasten entsorgt werden.

H ●

Merke

Die Entsorgung sämtlicher Materialien und Instrumente erfolgt vollständig getrennt vom Verbandwagen.

Instrumente zur Wundversorgung Häufig benötigte Instrumente müssen auf jeder Station in ausreichender Anzahl für Verbandwechsel, Ziehen einer Drainage etc. vorhanden sein und sollten aus hygienischen Gründen einzeln und steril verpackt oder im Verbandset vorliegen. Steriles Material wird regelmäßig bezüglich Verpackungsschäden und Verfalldatum kontrolliert und bei Bedarf an die Zentralsterilisation zurückgegeben. Gebrauchte Instrumente werden in geöffnetem Zustand in einem Instrumentenkasten abgeworfen, damit Reinigung und Desinfektion besser erfolgen können. Bei einer Trockenentsorgung erfolgen Desinfektion, Reinigung und Sterilisation in der Zentralsterilisation. Es besteht auch die Möglichkeit, die Instrumente in einer Desinfektionslösung zu desinfizieren und dann weiter aufzubereiten. Häufig gebrauchte Instrumente werden in ▶ Abb. 45.6 vorgestellt.

H ●

Merke

Anatomische Instrumente haben keine Haken!

Sorgfältiges Wunddébridement (Ausschneiden von minderdurchblutetem und verschmutztem Gewebe) ist eine wichtige Voraussetzung für die ungestörte Wundheilung.

45 ●

844

Die Wunde wird anschließend durch Nähte, Klammern oder sterile Pflasterstreifen verschlossen, sofern keine Kontraindikation dafür besteht, und anschließend durch einen Verband geschützt.

a

b

c

d

e

f

g

h

i

Abb. 45.6 Häufig gebrauchte Instrumente. a Anatomische Pinzette, b chirurgische Pinzette, c anatomische Klemme, d chirurgische Klemme, e gebogene Fadenschere, f gerade Fadenschere, g gerade spitz-stumpfe Schere, h Knopfsonde, i Knopfkanüle.

45.2 Pflegerische Aufgaben

Verbandmaterialien

Verbandwechsel

Wundverbände sollen die Wunde vor Infektionen und mechanischen Irritationen schützen, sie je nach Wundbeschaffenheit trocken oder feucht halten und für eine konstante Temperatur sorgen. Es wird hier nur eine kleine Auswahl der zahlreichen Verbandmaterialien vorgestellt, um aufzuzeigen, dass es für jede Wundbeschaffenheit einen speziellen Wundverband gibt (▶ Tab. 45.4). Es ist daher notwendig, sich in regelmäßigen Abständen bei der Krankenhausapotheke oder den verschiedenen Firmen, die sich ständig um Verbesserungen ihrer Produkte bemühen, zu informieren.

Bei jedem Verbandwechsel sind grundsätzliche Dinge zu beachten, um dem Kind Angst zu nehmen und ihm Sicherheit zu vermitteln. Dies gilt sowohl für die Vorbereitung als auch für die Durchführung. Die Einhaltung der Asepsis ist das oberste Gebot und muss lückenlos erfolgen – sowohl bei aseptischen als auch bei septischen Wunden. Der erste Verbandwechsel wird bei einer komplikationslosen Wunde vom Chirurgen erst nach ca. 2 – 6 Tagen durchgeführt, um die Wundheilung nicht zu stören. Hierbei assistiert die Pflegefachkraft dem Arzt oder führt weitere Verbandwechsel nach Anordnung selbstständig unter Beachtung aller hygienischen Regeln durch:







Durchnässte, durchblutete oder von außen sichtbar verschmutzte sowie lose Verbände müssen nach Absprache mit dem Arzt gewechselt werden. Verbandwechsel bei großflächigen Wunden sollten nicht im Mehrbettzimmer, sondern in einem Verbandraum durchgeführt werden, um andere Kinder hinsichtlich einer Erregerübertragung nicht zu gefährden. Durchzug muss vermieden werden, deshalb werden Fenster und Türen geschlossen. Auch müssen Tätigkeiten mit Luftbewegung, z. B. Reinigungsarbeiten, für diese Zeit eingestellt werden, um ein Aufwirbeln von Staub und Keimen zu verhindern.

Tab. 45.4 Verbandmaterialien im Überblick. Materialbeschaffenheit

Materialeigenschaften

Anwendungsgebiete

Mullkompressen ●

bestehen aus reiner Baumwolle und sind in verschiedenen Größen erhältlich, z. B. ESKompressen



● ●

gute Saugfähigkeit, ohne überschüssige Feuchtigkeit von der Wunde wegzuleiten weich und luftdurchlässig fusseln nicht



schützt vor Verklebung lässt sich gut zerschneiden, ohne zu zerfasern Mazeration (Aufweichen) der Haut wird verhindert kann mehrere Tage auf der Wunde verbleiben kann atraumatisch entfernt werden verhindert allergische Reaktionen



sehr gute Saugwirkung, ohne überschüssige Feuchtigkeit von der Wunde wegzuleiten Polsterschutz luft- und wasserdurchlässig weich und drapierfähig Kontaminationsschutz kleben bei Kontakt am Wundgrund fest



erleichtern das Auflegen und Abnehmen kleben durch die Metalline-Schicht nicht an der Wunde fest



luft- und sekretdurchlässig granulationsfördernd antibakteriell verkleben nicht so leicht mit dem neuen Gewebe halten neu gebildetes Gewebe geschmeidig und beugen Narben vor



erhalten die Wunde in physiologischer Feuchte und Temperatur bakterielle Barriere und wasserdicht durchsichtig wasserdampf- und sauerstoffdurchlässig verklebungsarmes Wundkissen





für die Erstversorgung bei verschmutzten, infizierten und stark sezernierenden Wunden zum Abdecken aseptischer Wunden

ADAPTIC ●



sterile und feuchte Wundauflage aus Viskose ohne Wirkstoffe dreidimensionale Verknüpfung der Fasern: Das Gewebe ist so aufgebaut, dass nur einzelne Auflagepunkte und keine Auflagefläche die Wunde berührt. Dadurch wir der Wundkontakt minimiert und das Verkleben verhindert.

● ●





● ●

● ● ● ●

Verbrennungen Strahlenschäden Schürf- und Risswunden Hauttransplantationen Amputationen

Saugkompressen ●

bestehen aus Vliesstoffumhüllung mit integriertem Saugkörper aus Zellstoff, z. B. Zetuvit steril



● ● ● ● ●



zur Reinigung bei stark sezernierenden, infizierten und nicht infizierten Wunden Merke: Engmaschige Kontrolle ist erforderlich, da es bei einem gesättigten Verband zur Mazeration der Wunde kommt. Gefahr von Zellstripping (Abreißen der neu gebildeten Zellschicht bei direktem Kontakt mit der Wunde)

Schlitzkompressen ●

bestehen aus Baumwolle oder haben eine Metalline-Auflage, z. B. MetallineDrainage-Kompressen

● ●



zur Versorgung z. B. sämtlicher Drainagen, Katheter bei liegender Trachealkanüle

Gaze-Silikonauflagen ●





bestehen aus weitmaschigem Baumwollgewebe (Gaze) imprägniert mit Fett (z. B ADAPTIC, Atrauman) oder ein mit Silikon beschichtetes Polyamidnetz (z. B. Mepitel) spezielle Gazeauflagen (z. B. Mesalt, MelMax)

● ● ● ●









bei oberflächlichen Wunden, z. B. Schürfwunden nach Hauttransplantationen für Empfänger und Spender Verbrennungen 2. und 3. Grades (nach Nekrektomie) epithelisierende chronische Wunden

Folienverbände ●



aus Polyurethan, einer semipermeablen Folie, die mit einem hypoallergenen Polyacrylatkleber beschichtet sind (z. B. Hydrofilm, Mefilm, Askina Derm, Tegaderm) OPSITE Post-OP Visible mit wabenförmigen Wundkissen



● ● ● ●

● ● ●



Operationswunden saubere Schürfwunden Druckulzera im ersten Stadium Merke: Wundbeurteilung ohne Verbandwechsel möglich bei geeigneter Wunde: Duschen oder Baden erlaubt

45

5

Wundmanagement

Tab. 45.4 Fortsetzung Materialbeschaffenheit

Materialeigenschaften

Anwendungsgebiete

Hydroaktive (feuchte) Wundverbände Hydrokolloide ●



bestehen außen aus einem dünnen Polyurethanfilm, darin eingebettet sind quellfähige hydrophile Partikel (z. B. Pektin, Gelatine oder Zellulose) in einer Trägersubstanz Deckfolie ist abdichtend oder halbdurchlässig, d. h. semi-okklusiv; Verband ist quellfähig, elastisch, selbsthaftend und je nach Stärke auch durchsichtig (z. B. Comfeel transparent, Varihesive E, Hydrocoll, SureSkin, Askina Hydro, Traumasive plus)





● ●

● ● ● ●

● ●

absorbieren Sekrete und aktivieren die Selbstreinigung leicht antibakterielles Wundmilieu durch niedrigen pH-Wert lösen Nekrosen auf halten das Wundmilieu in physiologischer Feuchte und Wärme (fördert die Zellvermehrung) kleben nicht an der Wunde an verhindern Schorfbildung evtl. durchsichtig, abhängig von der Stärke luftdurchlässig, Gasaustausch ist gewährleistet atraumatisches Entfernen des Verbandes Merke: Hydrokolloidmasse verflüssigt sich bei Kontakt mit Wundsekret. Es entsteht ein gelbliches visköses Sekret, das nicht mit Eiter verwechselt werden darf.



nicht infizierte Wunden mit schlechter Heilungstendenz, z. B. Dekubiti und Verbrennungen 1. und 2. Grades ● zur Reepithelisierung nach einer Spalthautentnahme ● Schürfwunden, die nicht infiziert sind ● defekte Haut um Anus praeter ● Versorgung von Operationsnähten ● Merke: Rückstände müssen durch Wundspülung (S. 849) entfernt werden Kontraindikationen: ● infizierte Wunden ● Stich- und Bisswunden mit Sehnen- und Knochenbeteiligung ● nekrotische Wunden ● Verbrennungswunden 3. Grades ● ischämische Wunden bei Diabetes mellitus Typ I ● Allergien gegen Inhaltsstoffe

hohes Exsudat-Aufnahmevermögen sehr gute Reinigungswirkung Schutz vor Keimen gas- und wasserpermeabel granulationsfördernd Duschen ist möglich, Feuchtigkeit gelangt nach außen, dringt aber nicht ein keine Gelrückstände in der Wunde



autolytische Wundreinigung (Zersetzung von Nekrosen, Fibrinbelägen und Zelldetritus) durch idealfeuchtes Wundklima fördern Granulationsbildung und Epithelisierung können z. B. durch Pektin Exsudate binden keine Mazeration der Wundränder



idealfeuchtes Wundmilieu (durch Kontakt z. B. mit Blut Bildung eines Gels) hypoallergen hämostyptische (blutstillende) Wirkung durch Kalzium stimulieren die Zellaktivität durch Zink und Mangan



breites antimikrobielles Wirkspektrum auch bei multiresistenten Erregern wie MRSA, VRE, Pseudomonas hypoallergen, keine toxische Wirkung auf menschliche Zellen



Reste lösen sich nach 7–20 Tagen auf elastisch, haftet auf der Wunde, transparent wasserdampfdurchlässig, bakteriendicht fördert die Heilung antiinfektiöse Komponente minimiert Schmerzen Verbandwechsel wird überflüssig. Wunde heilt i. d. R. narbenfrei ab.



Hydropolymerverbände (Polyurethanschaum) ●



bestehen i. d. R. aus einer semipermeablen Polyurethanfolie (PU-Folie) und Polyurethanschaum Weiterentwicklung der klassischen Hydrokolloide (z. B. Cutinova, Mepilex, Biatain, Tielle, Perma Foam, Curafoam, Combiderm, Suprasorb P)

● ● ● ● ● ●







für alle akuten und chronischen nicht infizierten Wunden, z. B. Schürfwunden als synthetischer Hautersatz z. B. vor Transplantationen Kontraindikation: Infektion (produktabhängig)

Hydrogele ●





Gel wird mithilfe eines Applikators auf gereinigte Wunde aufgetragen Gel kann auch an eine Polyurethanfolie gebunden sein einige Produkte enthalten auch Pektin oder Alginate (z. B. Varihesive Hydrogel, Suprasorb G, NU-Gel, Purilon-Gel, Askina Gel)





● ●





sekundär heilende Wunden, z. B. thermische Wunden, Dekubiti, Ulzera in jeder Phase der Wundheilung in Kombination mit silberhaltigen Wundauflagen auch bei infizierten Wunden Merke: Schichtdicke des Gels ca. 0,5 cm; abgedeckt wird z. B. mit Schaumstoffverband; Wundauflage kann bis zu 7 Tage auf der Wunde verbleiben

Kalziumalginate ● ●

Wundabdeckungen, Wundtamponaden bestehen aus Kalzium-Alginatfasern, die aus Braunalgen gewonnen werden und neben Kalzium evtl. auch Zink und Mangan enthalten (z. B. Seasorb, Kaltostat, Trionic, Melgisorb, Sorbsan)



● ●



● ●

mittelstarke bis starke Exsudation, z. B. Dekubitalulzera Spalthautentnahmestellen tiefe Wundhöhlen

silberhaltige Wundauflagen ●



mit Silberionen (z. B. Actisorb silver 220, Contreet, Acticoat) durch Kontakt mit Flüssigkeit werden Silberionen freigesetzt







infizierte und chronische Wunden Merke: Vor Strahlenbehandlung oder MRT (Magnetresonanztomografie) müssen silberhaltige Wundauflagen entfernt werden

resorbierbarer Epithelersatz

45

Suprathel: Membran aus Polylactid, besteht vorwiegend aus Milchsäure

● ● ● ● ● ● ●

846

● ● ● ●

Verbrühungen und Verbrennungen 2. und partiell 3. Grades Verätzungen Spalthautentnahmestellen Schürfwunden Suprathel wird meist mit einer Schicht Fettgaze kombiniert, die ebenso wie Suprathel bis zur völligen Abheilung belassen wird.

45.2 Pflegerische Aufgaben bände oder Wunden dürfen niemals mit ungeschützten Händen berührt werden. Als „verlängerte Finger“ sollten Pinzetten benutzt werden, da die Berührungsstellen kleiner und somit die Kontaminationsgefahr geringer ist. Anstelle der Pinzetten kann auch mit sterilen Handschuhen gearbeitet werden, wenn man bei dieser Handhabung geübter ist. Abb. 45.7 Richten des Materials zum Verbandwechsel. Das sterile Material (linke Hälfte) wird weit vom Patienten entfernt gerichtet, damit eine Kontamination vermieden wird. (Foto: P. Blåfield, Thieme)







Beim Richten des Materials wird beachtet, dass nicht über sterilem Material gearbeitet wird, d. h., das unsterile Material befindet sich nahe beim Patienten und das sterile weit vom Patienten entfernt (▶ Abb. 45.7). gründliche hygienische Händedesinfektion Da Keime am häufigsten durch Handkontakt übertragen werden, wird die Non-Touch-Technik angewendet: Ver-

Merke

● H

Abb. 45.8 Schutzkleidung. Sie wird direkt vor dem Verbandwechsel angelegt. (Foto: P. Blåfield, Thieme)

Aseptische Wunden werden stets vor den septischen versorgt, damit eine Kreuzinfektion vermieden wird. Diese hygienische Regel muss bei Verbandvisiten unbedingt beachtet werden.





Für jeden Verbandwechsel, sowohl bei aseptischen als auch bei infizierten Wunden, werden sterile Materialien und Instrumente verwendet. Neben einem Schutzkittel sollten Mundschutz und Schutzhandschuhe getragen werden, wenn es sich um großflächige Wunden handelt und/oder der





Arzt oder das Pflegepersonal an einer Infektion der Atemwege leidet (▶ Abb. 45.8). Niemals darf in eine Wunde „hineingesprochen“ werden. Materialien werden aus hygienischen Gründen nicht im Bett des Patienten abgestellt. Mit jedem Tupfer wird nur einmal über das zu desinfizierende Gebiet gestrichen.

Tab. 45.5 Mögliche Medikamente zur Wundbehandlung und ihre Wirkungen. Medikament

Wirkprinzip

Kochsalzlösung 0,9 %, Ringerlösung



Reinigung, Spülung



saubere und nicht infizierte Wunden

Lavasept-Lösung 0,2 %



Wunddesinfektion mit breitem Wirkungsspektrum gegen Bakterien und Pilze hypoallergen



Wundspülung bei akuten und chronischen Knochen- und Weichteilinfektionen

Desinfektion mit breitem Wirkungsspektrum gewebeverträglich



z. B. Bagatellverletzungen, Schnittwunden, thermische Verletzungen Wundgebiet kann durch Verfärbung nicht gut beurteilt werden keine Anwendung bei Säuglingen



jodhaltige Lösungen/Salben





Anwendung





Octenisept





Wund- und Schleimhautantiseptikum mit umfassendem Wirkungsspektrum führt zur gewünschten Mazeration







Polihexanid-Gel 0,04 % Auch als Lösung 0,02 % zur Wundspülung erhältlich



● ● ●

Dexpanthenol-Salbe (z. B. Bepanthen)

● ● ●



medizinischer Honig* (z. B. Medihoney) Inhaltsstoffe: Zucker, Traubenzucker, Wasser, Enzyme, Vitamine, Spurenelemente und Proteine, Pflanzenschutzstoffe ● Als getränkte Netzauflage, reiner Honig oder Gel auch in Kombination mit Alginat erhältlich. ● Werden mit Sekundärverband kombiniert. ● Seit 2005 als Fertigpräparat in Europa zugelassen.











antiseptisch wirkende Substanz mit großer therapeutischer Bandbreite langsamer Wirkungseintritt geruch- und farblos verursacht auf frischen Wunden keine Schmerzen oder Brennen



Stärkung der epidermalen Barrierefunktion hydratisiert die Hornschicht fördert die Zellproliferation und Epithelisation lindert Juckreiz und Spannungsgefühle



wundreinigende und heilungsfördernde Wirkung durch hohe Zuckerkonzentration und Enzyme durch osmotische Wirkung werden Wundödeme verringert entzündungshemmende Wirkung durch Flavone und Polyphenole (Pflanzenschutzstoffe) medizinischer Honig wirkt wie antibakterielles Hydrogel







● ● ●

● ●

Reinigung und Desinfektion (auch bei Kindern anwendbar) kann für Wundspülungen in einem Verhältnis von 1:1 mit Ringer/Aqua verdünnt werden (Voggenreiter 2009) 1 – 2 Min. Einwirkzeit zur Behandlung von infizierten Wunden oder als Wundprophylaxe größere Verbrennungswunden (1.–2. Grades)

oberflächliche Hautläsionen und -reizungen (auch bei Verbrennungen 1. Grades) gute Ergebnisse bei Mesh-Entnahmestellen (S. 565) des Spenders chronische, schlecht heilende Wunden Wunden mit Nekrosen und Fibrinbelägen maligne Wunden Spalthautentnahme- und Transplantationsstellen traumatische Wunden Merke: Durch die osmotische Wirkung können Schmerzen auftreten. Auch sind allergische Reaktionen beschrieben.

45

7

Wundmanagement

Vorbereitung



▶ Kind. Es sollte in Ruhe alters- und wahrheitsgemäß informiert werden. Die Intimsphäre muss gewahrt werden, indem das Kind vor Blicken geschützt und unbeteiligte Besucher aus dem Zimmer geschickt werden. Eltern sollte man die Anwesenheit gestatten, soweit keine gravierenden Gründe dagegensprechen. Das Kind wird in eine bequeme Lage gebracht und nur so weit aufgedeckt, wie es nötig ist. Bei Bedarf wird ein Bettschutz untergelegt.

Merke

H ●

Bei mobilen Kindern sollte der Verbandwechsel immer in einem speziellen Verbandzimmer stattfinden, um eine Kontamination mit pathogenen Keimen im Patientenzimmer zu vermeiden.

▶ Material. Das benötigte Material wird komplett zusammengestellt und unter Beachtung der hygienischen Regeln griffbereit gerichtet. Von Hygienefachleuten wird empfohlen, sterile Verbandsets zu verwenden, die je nach Stationsbedarf in der Zentralsterilisation zusammengestellt oder bei Firmen bestellt werden können: ● Schutzkittel und evtl. Mundschutz ● steriles Verbandset, bestehend z. B. aus Nierenschale, Tupfern, Kompressen, anatomischen und chirurgischen Pinzetten ● unsterile und sterile Handschuhe ● alkoholisches Hautdesinfektionsmittel ● Schere, Pflaster, Nierenschale ● nach Bedarf z. B. sterile Klemmen, Scheren, Knopfsonden ● Gele, Salben, Lösungen (▶ Tab. 45.5) und spezielles Verbandmaterial nach Anordnung

Durchführung

45

848

Beim Verbandwechsel wird folgendermaßen vorgegangen: ● Hände desinfizieren ● Schutzkleidung anlegen (Schutzkittel und evtl. Mundschutz) ● unsterile Einmalhandschuhe zum Eigenschutz anziehen und die Fixierung des Verbands lösen ● wundabdeckende Kompresse mit der durch den Handschuh geschützten Hand entfernen, dabei das Wundgebiet nicht berühren ● Schutzhandschuhe und alten Verband verwerfen ● Händedesinfektion nach Bedarf durchführen und sterile Handschuhe anziehen, falls nicht mit einer Pinzette gearbeitet wird

Wunde sorgfältig beobachten und beurteilen (S. 844)

Merke

H ●

Es muss unbedingt darauf geachtet werden, dass verklebte Verbände nicht abgerissen, sondern mit steriler Kochsalzlösung 0,9 % angeweicht werden.

▶ Aseptische Wunde. Eine aseptische und trockene Wunde benötigt i. d. R. kein Desinfektionsmittel. Sollte sie dennoch z. B. mit Ringerlösung gereinigt oder mit einem Antiseptikum desinfiziert werden, erfolgt dies mithilfe einer sterilen Pinzette oder eines sterilen Handschuhs und mit desinfektionsmittelgetränkten Tupfern. Das geschlossene Wundgebiet wird von innen nach außen desinfiziert, damit keine Hautkeime in den Wundbereich gelangen. Die zum Desinfizieren benutzte Pinzette kann weiter für das Auflegen des sterilen Verbandes verwendet werden, sofern sie nicht mit der Wunde in Berührung gekommen ist. Es besteht auch die Möglichkeit das Desinfektionsmittel aufzusprühen. Nach einer Einwirkzeit von 2 Minuten kann der sterile Verband angelegt werden. ▶ Septische Wunden. Bei einer infizierten Wunde wird das Wundgebiet von außen nach innen gereinigt, damit eine Ausbreitung der Keime vermieden wird. Dem Wundzustand entsprechend werden Nekrosen abgetragen, Wundabstriche abgenommen, die Wunde desinfiziert oder gespült und Gele oder Salben nach ä. A. aufgetragen. Die benutzte Pinzette wird anschließend verworfen. Der Verband wird mit einer neuen, sterilen Pinzette aufgelegt. ▶ Neuer Verband. Selbsthaftendes Pflaster wird appliziert (▶ Abb. 45.9). Nicht selbsthaftende Wundauflagen werden z. B. mit Fixomull, Pflasterstreifen oder Netzschlauchverbänden fixiert.

Abb. 45.9 Selbsthaftendes Pflaster. (Foto: W. Krüper, Thieme)

Nachsorge Das Kind wird anschließend wieder in eine bequeme Position gebracht, gelobt und ggf. getröstet. Im Dokumentationssystem werden Verbandwechsel, Zustand der Wunde (Lokalisation der Wunde, Größe, Wundumgebung, Wundrand, Wundgeruch, Wundexsudat, Farbe, Schmerz, Infektionszeichen) und Art der Wundauflage vermerkt. Das Material wird anschließend fachgerecht entsorgt. Danach erfolgen eine Hände- sowie Flächendesinfektion.

Hydrokolloide Verbände Sie werden z. B. bei nicht infizierten Wunden mit schlechter Heilungstendenz eingesetzt (▶ Abb. 45.10). Beim Umgang mit hydrokolloiden Verbänden ist Folgendes zu beachten: ● Der Verband muss ca. 3 – 4 cm der gesunden und völlig trockenen Wundumgebung bedecken, da sich die Hydrokolloidmasse unter Aufnahme des Wundsekretes verflüssigt. Besteht keine sichere Klebewirkung, kommt es durch die Verflüssigung des Materials zum „Auslaufen“ des Verbandes. ● Die Notwendigkeit eines Verbandwechsels wird sichtbar, wenn sich im Bereich des Verbandes eine weiße Blase bildet. Zum Ablösen des Verbandes kann evtl. Pflasterlöser benutzt werden. ● Nach Abnahme des Verbandes kann eine gelbliche Gelschicht, verbunden mit einem süßlich, fauligen Geruch, festgestellt werden. Das ist charakteristisch für einen hydrokolloiden Verband. Keinesfalls dürfen diese Beobachtungsmerkmale für eine Wundinfektion gehalten und die Therapie mit hydrokolloiden Verbänden abgebrochen werden (▶ Abb. 45.11). ● Zur Beseitigung der Verbandrückstände wird die Wunde z. B. mit steriler Koch-

Abb. 45.10 Hydrokolloidverband mit Kleberand. (Abb. aus: Tautenhahn J, Piatek S. Hydrokolloide. In: Lippert H, Hrsg. Wundatlas. 3. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart: Thieme; 2012)

45.2 Pflegerische Aufgaben

Abb. 45.12 Wundspülung. Durchführung der Wundspülung mittels Spritze und Spülkatheter. (Foto: T. Stephan, Thieme)

Abb. 45.11 Gesättigter Hydrokolloidverband. Eventuell übel riechendes Gel darf nicht mit einer Infektion verwechselt werden. (Abb. aus: Tautenhahn J, Piatek S. Hydrokolloide. In: Lippert H, Hrsg. Wundatlas. 3. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart: Thieme; 2012) ●



salzlösung 0,9 % oder Ringerlösung gespült. Um einer Mazeration des Wundrandes vorzubeugen, wird vor dem Auflegen des Verbandes das Bestreichen des Wundrandes mit Hautschutzprodukten, z. B. von Cavilon, empfohlen.

Wundspülung Sie kann sowohl bei infizierten als auch bei nicht infizierten Wunden, z. B. nach Entfernen eines hydrokolloiden Verbandes, notwendig sein (s. o.).

Vorbereitung Bei der Vorbereitung einer Wundspülung werden im Wesentlichen die gleichen Maßnahmen wie bei einem septischen Verbandwechsel durchgeführt. Darüber hinaus muss das Bett durch Einwegunterlagen geschützt werden. ▶ Material. Zusätzlich wird Folgendes benötigt: ● ein zweites Paar steriler Handschuhe und evtl. ein frischer Schutzkittel ● Spüllösung (angewärmte sterile Ringeroder Kochsalzlösung 0,9 %) ● steriles Gefäß für die Spüllösung ● Einmalspritze und sterile Knopfkanüle oder Spülkatheter ● saugfähige Einwegunterlagen ● Schutzbrille

Durchführung Es wird in gleicher Weise wie bei einem septischen Verbandwechsel verfahren. Beim Spülvorgang müssen zusätzliche hygienische Maßnahmen beachtet werden: ● Das umgebende, intakte Hautgebiet wird ausreichend mit einer alkoholischen Hautdesinfektionslösung desinfi-





ziert, da ein Rückfluss von Spülflüssigkeit in das Wundgebiet nicht ausgeschlossen werden kann. Die Spülflüssigkeit wird aus dem sterilen Gefäß aufgezogen und die Wunde mithilfe der in die Wunde eingeführten Knopfkanüle oder des Spülkatheters gespült (▶ Abb. 45.12). Nach der Spülung wird die Unterlage entfernt und die Handschuhe verworfen. Im Anschluss an eine Händedesinfektion werden sterile Handschuhe angezogen und alle geschlossenen Hautareale, die mit Flüssigkeit in Kontakt gekommen sind, getrocknet und erneut desinfiziert.

Wunddrainagen Sie liegen im Gewebe – nicht in Organen – und haben die Aufgabe, Blut und Körperflüssigkeiten abzuleiten, um eine komplikationslose Wundheilung zu erreichen.

Merke

H ●

Drainagen dürfen niemals angespült werden, da die Gefahr einer Infektion durch Keimverschleppung gegeben ist.

Abb. 45.13 Redon-Drainage. Der Faltbalg („Gummiziehharmonika“) ist noch eng zusammengezogen, Sog ist vorhanden. (Foto: W. Krüper, Thieme)

bereizung oder Verlegung der Drainage durch Darmanteile gegeben. ▶ Redondrainage (Vakuumdrainage). Eine Redon-Drainage saugt kontinuierlich Flüssigkeit und Blut mittels Unterdruck (ca. 0,8 bar) aus dem Gewebe ab. Dadurch werden ● die Bildung von Hämatomen oder Seromen verhindert, ● Gewebehohlräume verkleinert, ● das Verkleben von Wundtaschen beschleunigt und ● das Infektionsrisiko gemindert. Der Nachteil besteht darin, dass der Sog nicht einstellbar ist, sodass lediglich das Vorhandensein eines Unterdrucks in der Flasche beurteilt werden kann (▶ Abb. 45.13). Ein Auseinanderweichen des Faltbalges („Gummiziehharmonika“) zeigt den abnehmenden Unterdruck in der Flasche an. Vakuumdrainagen werden vorwiegend in der Unfallchirurgie und z. B. bei Operationen im Bereich der Extremitäten angewendet. Nach neuesten Erkenntnissen soll bei aseptischen Operationen auf Drainagen verzichtet werden, da keine bessere Heilung beobachtet wurde.

Merke Nach dem Wirkprinzip werden 2 Arten von Wunddrainagen unterschieden: die Wunddrainage ohne Sog und die Vakuumdrainage mit Sog. ▶ Ableitungsdrainage (Wunddrainage ohne Sog). Die Wirkung entsteht durch den Gewebedruck mittels Schwerkraft. Durch den Höhenunterschied läuft das Sekret in den Sekretbeutel und kann mithilfe des Auslassventils abgelassen werden (z. B. Robinson-Drainage). Indikationen für Wunddrainagen ohne Sog sind z. B. Operationen im Bereich des Abdomens oder Nierenoperationen. Trotz des minimalen Soges ist die Gefahr einer Gewe-

H ●

Gefahren durch Wunddrainagen sind: ● aufsteigende Infektion, da Wunddrainagen einen direkten Zugang in das Körperinnere haben ● Arrosionsblutung, da durch das Schlauchende eine Reizung des Gewebes oder eine Eröffnung von Gefäßen erfolgen kann ● ungenügender Sekretabfluss bei Verlegung der Drainageöffnungen

45 Umgang mit Wunddrainagen Kind und Eltern müssen wissen, dass ein störungsfreier Abfluss des Wundsekretes ein entscheidender Faktor zur Unterstüt-

9

Wundmanagement zung der Wundheilung ist. Sie erhalten daher ausführliche Informationen, damit die Wunddrainage auch ihren Zweck erfüllen kann. Dazu gehört, dass sie die Drainagen stets sicher und unter Körperniveau halten, wenn sie ihr Kind aus dem Bett nehmen, um ein Zurückfließen des Wundsekretes oder Herausreißen der Drainage zu vermeiden. Beim Umgang mit Wunddrainagen ist Folgendes zu beachten: ● Die Redon-Flaschen und Wundsekretbeutel werden sicher am Bett befestigt und evtl. unsichere Konnektionsstellen zusätzlich fixiert. Die Drainagen sollten zusätzlich am Körper des Kindes locker mit Fixomull oder Leukosilk gesichert werden, um ein versehentliches Herausreißen zu vermeiden. ● Sie werden stets unter Körperniveau aufgehängt, damit ein Reflux des Sekrets vermieden wird. Auch dürfen Schläuche nicht abknicken oder durchhängen, um einen ungehinderten Sekretabfluss zu gewährleisten. ● Manipulationen an den Drainagen dürfen nur unter streng aseptischen Bedingungen durchgeführt werden. ● Wunddrainagen werden i. d. R. am 2.–3. postoperativen Tag vom Chirurgen gezogen, da später meist kein Wundsekret mehr abfließt. Hinzu kommt, dass alle Drainagen eine Eintrittspforte für Mikroorganismen sind, die sowohl innerhalb des Schlauchlumens als auch an der Außenwand des Drains aufsteigen und zu Infektionen führen können. Dies kann sowohl in horizontaler als auch in vertikaler Position des Schlauches erfolgen. ● Wunddrainagen sollten nur dann dekonnektiert und gewechselt werden, wenn der Sog nicht mehr ausreichend ist.

Merke

● H

Aus hygienischen Gründen sind offene Drainagen, Sicherheitsnadeln zur Lagefixierung des Drains sowie das Anstechen der Drainageschläuche zur Materialentnahme nicht gestattet. Die Sekretauslassvorrichtung der Robinson-Drainage sollte vor und nach der Sekretentnahme desinfiziert und wieder mit der Schutzhülle versehen werden. Dabei werden Schutzhandschuhe getragen.

45

850

Drainagen werden auf ihre Durchgängigkeit geprüft, indem das Pflegepersonal sich von den geöffneten Klemmen überzeugt. Das abfließende Sekret wird auf Aussehen, Menge und Beschaffenheit kontrolliert und protokolliert.

Um einen kontinuierlichen Überblick über die Sekretmengen zu erhalten, kann eine Markierung auf der Flasche mit Uhrzeit erfolgen. Wird ein Sistieren (Aufhören) des Wundsekretes beobachtet, so kann durch Ausstreifen des Schlauches mithilfe einer Schlauchrollerklemme in Richtung Auffanggefäß die Durchgängigkeit des Drainagesystems wieder möglich gemacht werden.

Wechsel der Redon-Flasche Ein Wechsel der Redon-Flasche ist nur gestattet, wenn kein Sog mehr in der Flasche ist, da jede Dekonnektion mit der Gefahr einer Kontamination verbunden ist. Ein Verlust des Sogs entsteht, wenn z. B. die Flasche ca. zu zwei Drittel gefüllt ist, was am Auseinanderweichen des Faltbalges zu erkennen ist.







kontaminierten Verbindungsschlauch fachgerecht ablegen, Handschuhe ausziehen und ebenfalls entsorgen; das Schlauchende kann durch den übergestreiften Handschuh geschützt werden Flasche sicher unterhalb des Austrittniveaus der Drainage fixieren, um ein Zurückfließen des abgeleiteten Sekrets zu verhindern Schieber und Klemmen von unten nach oben öffnen, damit keine Klemme vergessen wird

Merke

H ●

Das Öffnen der letzten Klemme ist häufig sehr schmerzhaft. Es muss daher sehr langsam erfolgen. Das Kind sollte darauf vorbereitet werden.

Vorbereitung ▶ Material. Folgende Utensilien werden benötigt: ● Schutzkittel und Händedesinfektionsmittel ● alkoholisches Hautdesinfektionsmittel ● steril verpackte Redon-Flasche ● Schutzhandschuhe (evtl. sterile Handschuhe bei unsicherem Handling) ● sterile Kompressen und evtl. sterile Unterlage ● gepolsterte Klemme ● Pflaster, Schere ● Nierenschale Das Material wird griffbereit gerichtet und die Verpackungen geöffnet.

Durchführung Beim Wechsel der Redon-Flasche wird folgendermaßen vorgegangen: ● Kind alters- und wahrheitsgemäß informieren ● Händedesinfektion durchführen ● Drainageschlauch mit gepolsterter Klemme abklemmen und Schieber an der Flasche verschließen, um einen Sekretrücktransport aus dem Verbindungsschlauch zu vermeiden, der beim Öffnen des Unterdrucksystems erfolgen würde (aus diesem Grund wird der Schieber auch als „Sekretstopp“ bezeichnet) ● Konnektionsstelle mit Desinfektionsmittel besprühen, evtl. auf steriler Unterlage ablegen und 2 Minuten einwirken lassen ● Schutzhandschuhe bzw. sterile Handschuhe anziehen ● Verbindungsschlauch, evtl. mittels 2 steriler Kompressen, möglichst patientenfern dekonnektieren und sofort neue Flasche anschließen

Nachsorge Es sind folgende Maßnahmen zu beachten: ● Drainage auf Durchgängigkeit und Sog kontrollieren ● Sekretmenge ablesen und protokollieren ● kontaminiertes Material fachgerecht entsorgen und die gefüllte Vakuumflasche zum klinischen Abfall geben ● Flächen- und Händedesinfektion durchführen

Ziehen der Drainage Am 2. oder spätestens am 3. postoperativen Tag wird der Drain vom Arzt mobilisiert oder gezogen, da später i. d. R. keine Wundsekrete mehr abfließen.

Vorbereitung ▶ Kind. Es wird wahrheitsgemäß informiert, denn das Ziehen des Drains ist schmerzhaft. Rechtzeitig vor der Drainageentfernung sollte ein orales Analgetikum nach ärztlicher Anordnung verabreicht werden. Das Kind sollte vor Blicken geschützt und bei der Einnahme einer bequemen Position unterstützt werden. ▶ Material. Folgende Utensilien werden benötigt: ● Schutzkittel und Händedesinfektionsmittel ● unsterile und sterile Handschuhe ● Hautdesinfektionsmittel ● sterile anatomische Pinzette, spitze Schere oder Skalpell ● sterile Kompressen ● Schere und Pflaster ● Nierenschale

45.2 Pflegerische Aufgaben

Durchführung Es handelt sich um eine ärztliche Maßnahme, bei der die Pflegefachkraft assistiert, das Kind ablenkt und beruhigt: ● Kittel und Schutzhandschuhe bereitlegen ● Kind während der Maßnahme ablenken oder auf den kurzen Schmerz vorbereiten (das Kind kann z. B. ermutigt werden, die Hand der Pflegefachkraft während des Schmerzes zu drücken) ● Verband mit Schutzhandschuhen entfernen und beides fachgerecht entsorgen ● Hautdesinfektionsmittel nach dem Auftragen trocknen lassen ● der Arzt durchtrennt die Fäden mittels steriler Schere und Pinzette und lockert oder zieht die Redon-Drainage ● danach nochmals mit Hautdesinfektionsmittel desinfizieren ● abschließend zum Schutz sterile Kompresse auf der Wunde fixieren

Merke

● H

Die Drainagen werden i. d. R. mit Sog gezogen, um ein Verbleiben von Koageln im Drainagekanal zu vermeiden.

Nachsorge Das Kind wird für sein tapferes Verhalten gelobt. Das Material wird anschließend fachgerecht entsorgt, indem das Einmalmaterial einschließlich der Redon-Drainage im Abwurfbehältnis für infektiöses Ma-

terial verworfen wird. Instrumente werden wieder aufbereitet (S. 844). Das Mobilisieren oder Ziehen der Redon-Drainage sowie die Sekretmenge werden im Dokumentationssystem protokolliert.

Nahtentfernung Nähte werden i. d. R. zwischen dem 5. und 8. postoperativen Tag vom Operateur entfernt, können jedoch ggf. nach ärztlicher Anordnung auch länger belassen werden (je nach Belastung der Narbe). Die Nahtentfernung erfolgt unter aseptischen Bedingungen, um eine Infektion über den Stichkanal zu vermeiden.

Vorbereitung ▶ Kind. Die Vorbereitungen für die Nahtentfernung sind im Wesentlichen die gleichen wie bei einem aseptischen Verbandwechsel. Das Fädenziehen bereitet den meisten Kindern große Ängste, es ist daher wichtig, das Kind zu beruhigen und abzulenken. Das Kind sollte wissen, dass sich das Entfernen der Fäden so anfühlt, als würde man leicht an einem Haar ziehen. ▶ Material. Folgende Utensilien werden benötigt: ● Händedesinfektionsmittel ● Schutzkittel und sterile Handschuhe ● Hautdesinfektionsmittel ● sterile anatomische und chirurgische Pinzetten ● sterile kleine, spitze Fadenschere oder Skalpell ● sterile Tupfer und Kompressen ● Pflaster, Schere und Nierenschale

Durchführung Die Vorgehensweise entspricht einem Verbandwechsel aseptischer Wunden (S. 848). Die Desinfektion des Nahtgebiets erfolgt unter Einhaltung der Einwirkungszeit von 2 Minuten. Bei einer Einzelknopfnaht wird das Fadenende vom Arzt mit der anatomischen Pinzette aus dem Stichkanal herausgezogen und unterhalb des Knotens unmittelbar über der Haut durchgeschnitten, um zu verhindern, dass hautexponierte Teile des Fadens durch die Wunde gezogen werden. Danach wird der Faden schnell herausgezogen und in die Nierenschale abgeworfen. Bei einer Intrakutannaht wird einer der beiden Knoten dicht über der Haut abgeschnitten und am anderen Ende vorsichtig und mit zunehmender Spannung herausgezogen. Anschließend erfolgt eine erneute Desinfektion, bevor der neue Verband angelegt wird.

Nachsorge Die Stichkanäle und Narben werden kontrolliert und das Material wird fachgerecht entsorgt. Das Ziehen der Fäden sowie die Beobachtungen werden dokumentiert.

45

1

Wundmanagement

45

852

Kapitel 46 Funktionsdiagnostik

46.1

Theoretische Grundlagen

854

46.2

Pflegerische Aufgaben

854

Funktionsdiagnostik

46 Funktionsdiagnostik 46

Michael Färber*, Tina Wilhelm Zur Einschätzung von Krankheitsverläufen nehmen funktionsdiagnostische Maßnahmen einen hohen Stellenwert im Rahmen der medizinischen Diagnosestellung ein. Somit haben Kinder in Einrichtungen des Gesundheitswesens oder Arztpraxen oft Kontakt mit funktionsdiagnostischen Untersuchungen. Die häufig sehr großen und u. U. auch lauten Geräte lösen nicht selten bei Kindern Panik aus. Zusätzlich steht bei Eltern, größeren Kindern und Jugendlichen die Angst vor der resultierenden Diagnose im Raum. Hier ist in besonderem Maße die altersentsprechende Aufklärung des Kindes durch das Klinikpersonal erforderlich. Dies gehört neben der Assistenz bei den Untersuchungen zur zentralen Aufgabe der Pflegefachkräfte.

46.1 Theoretische Grundlagen 46.1.1 Begriffsbestimmungen Funktionsdiagnostische Maßnahmen sind in verschiedene Bereiche einzuteilen: ● bildgebende Verfahren (z. B. Röntgen, Computertomografie, Magnetresonanztomografie [▶ Abb. 46.2], Sonografie [▶ Abb. 46.3]) ● Messung elektrischer Ströme (z. B. EKG, EEG [▶ Abb. 46.4]) ● nuklearmedizinische Untersuchungen (z. B. Szintigrafie [▶ Abb. 46.5]) Die genannten Untersuchungen werden z. T. im Kinderkrankenhaus im Rahmen eines stationären Aufenthaltes oder ambulant, jedoch auch häufig im Bereich von Erwachsenenkliniken oder Spezialpraxen durchgeführt. Gerade in außerklinischen Bereichen ist hinsichtlich der Aufklärung und Betreuung von Kindern Personal mit Qualifikation und Erfahrung im Umgang mit Kindern wünschenswert.

46.1.2 Schutzmaßnahmen Bei allen Röntgenverfahren sowie nuklearmedizinischen Untersuchungen ist das Einhalten von Strahlenschutzmaßnahmen, die in der Röntgen- und Strahlenschutzverordnung (RöV, StrlSchV) geregelt werden, zwingend erforderlich: ● ausreichender Abstand (Strahlung nimmt bei doppelter Entfernung um das 4-Fache ab) ● Abschirmung durch besondere Bauweise (Blei in den Wänden, Türen, Glas)

854



Schutzkleidung (Bleischürzen), flexible Bleiabdeckmatten zum Gonadenschutz der Kinder

Ein unnötiger Aufenthalt in Räumen mit Strahlenbelastung ist zu vermeiden. Die Zeit des Kontakts mit strahlendem Material bzw. Röntgenstrahlen ist möglichst kurz zu halten.

Merke

H ●

Es dürfen keine Schwangeren während einer Röntgenuntersuchung oder nuklearmedizinischen Untersuchung anwesend sein, da die Strahlung zu Fehlbildungen oder Entwicklungsstörungen beim Feten führen kann.

46.2 Pflegerische Aufgaben 46.2.1 Allgemeine pflegerische Aufgaben Information Bei allen Untersuchungen müssen das Kind und die Eltern frühzeitig und umfassend über die zu erwartenden funktionsdiagnostischen Maßnahmen informiert werden. Eine Ausnahme stellen Notfallsituationen (S. 860) dar. Die Aufklärung und Information der Eltern sowie das Einholen einer Einwilligungserklärung erfolgen durch den Arzt. Das Kind wird alters- und situationsgerecht aufgeklärt. Hierbei kann auch der Einsatz von altersentsprechender Literatur für das Kind hilfreich sein. Das Kind hat somit die Möglichkeit, sich im Vorfeld mit der Thematik zu beschäftigen, was Ängste und Unklarheiten reduziert oder abbaut. Zur Angstreduktion und Vermittlung von Sicherheit kann die Anwesenheit einer Bezugsperson während der funktionsdiagnostischen Maßnahme hilfreich sein. Begleiten die Eltern ihr Kind zur geplanten Untersuchung, sollte ihnen erklärt werden, wie sie ihr Kind während der Untersuchung unterstützen können.

dierung entweder intravenös durch den Arzt oder auf ärztliche Anordnung oral oder rektal durch das Pflegepersonal. Ein sediertes Kind ist während und nach der Untersuchung besonders intensiv zu überwachen. Eine notwendige Vitalzeichenkontrolle kann während der Untersuchung als Monitorüberwachung erfolgen. Hierfür gibt es röntgengeeignete Materialien für die EKG-Elektroden und -kabel. Vor einigen bildgebenden Untersuchungen erhält das Kind über eine Venenverweilkanüle intravenös ein Kontrastmittel. Hierbei besteht die Gefahr einer allergischen Reaktion. Daher müssen die Kinder auf ärztliche Anordnung vor einer Kontrastmittelgabe meist nüchtern bleiben, damit im Falle einer Unverträglichkeitsreaktion ein Aspirationsschutz besteht. Das Kind und seine Eltern werden im Vorfeld über die notwendige Nahrungskarenz informiert. Ein venöser Zugang und altersentsprechende Notfallutensilien müssen vorhanden sein.

Merke

H ●

Allergische Reaktionen machen sich durch Tachykardie, plötzliches Hitzegefühl, gerötetes Gesicht, Exanthem bis hin zum anaphylaktischen Schock mit Schocksymptomatik bemerkbar.

Transport Sedierte Kinder werden immer liegend in Begleitung einer Pflegefachkraft transportiert. Hierbei werden Allgemeinbefinden, Bewusstseinslage sowie Vitalzeichen des sedierten Kindes beobachtet. Bei schwer erkrankten Kindern, wie intensivpflegebedürftigen Kindern oder Kindern, bei denen Komplikationen zu erwarten sind, ist häufig die Begleitung durch einen Arzt und die Mitnahme eines Notfallkoffers sowie Beatmungsbeutels inklusive Beatmungsmaske erforderlich. Zur Untersuchung werden noch der Anforderungsschein sowie ggf. die übrigen Patientenunterlagen (z. B. alte Röntgenbilder) mitgenommen.

Dokumentation Beobachtung Um eine erfolgreiche Durchführung der funktionsdiagnostischen Maßnahme zu gewährleisten, muss das Kind ruhig liegen bleiben. Falls notwendig erfolgt eine Se-

Im Anschluss an die Untersuchung erfolgt eine vollständige Dokumentation zu folgenden Punkten: ● durchgeführte Untersuchung

46.2 Pflegerische Aufgaben ●

● ● ●

Beobachtung und Besonderheiten vor, während und nach der Untersuchung aktueller Zustand des Kindes evtl. verabreichte Medikamente evtl. Maßnahmen zur Nachsorge

Zum Abschluss werden alle relevanten Informationen an den zuständigen Arzt auf der Station sowie an das Pflegeteam weitergegeben. Die Aufgabe des Arztes ist es, die Eltern über das Ergebnis der durchgeführten Untersuchung zu informieren.

46.2.2 Spezielle pflegerische Aufgaben Röntgen (konventionelles Röntgen) Definition

L ●

Eine Röntgenaufnahme (benannt nach dem deutschen Physiker Wilhelm Conrad Röntgen [1845 – 1923]) ist das Durchstrahlen eines Körpers mit Röntgenstrahlung zur Darstellung von Organen, Organteilen oder Anteilen des Skelettsystems.

Der menschliche Körper ist für die Röntgenstrahlung, die letzlich elektromagnetische Wellen darstellen, unterschiedlich durchlässig. Dadurch entstehen auf dem Röntgenbild Schwarz-Weiß-Abstufungen (▶ Abb. 46.1).

Vorbereitung Zur Aufgabe der Pflegefachkraft gehört die Vorbereitung des Kindes: ● Es wird darauf geachtet, dass Halsketten oder Ohrringe des Kindes vor einer Röntgenaufnahme des Oberkörpers abgenommen werden, da diese sich auf dem Röntgenbild darstellen würden.





Das Kind wird unmittelbar vor der Röntgenaufnahme so weit wie nötig entkleidet, um die gewünschte Körperregion aufnehmen zu können. Das Anlegen einer Bleischürze vor dem Bereich der kindlichen Gonaden schützt die Keimdrüsen vor den Röntgenstrahlen. Je nach Alter des Kindes stehen Bleischürzen in verschiedenen Größen zur Verfügung.

Falls es notwendig wird, eine Röntgenaufnahme mit einem mobilen Röntgengerät am Bett des Kindes durchzuführen, z. B. im Intensivbereich, ist streng darauf zu achten, dass Besucher und nicht benötigtes Personal den Raum verlassen. Mitpatienten sind mit mobilen Bleiwänden vor Streustrahlung zu schützen. ▶ Positionierung. Das Kind wird durch Mitarbeiter der Röntgenabteilung in eine bestimmte Position gebracht, um eine möglichst aussagekräftige Aufnahme machen zu können. Hierzu kann es manchmal notwendig sein, ein kleines Kind innerhalb einer speziellen Haltung zu fixieren. Ein Neugeborenes oder ein Säugling wird zur Thorax-Röntgenaufnahme z. B. in eine halboffene Plastikröhre (Babix-Hülle) gelegt. Das Kind hat hierbei beide Ärmchen gestreckt über dem Kopf. Durch an der Röhre befindliche Fixiergurte wird das Kind am Kopf sowie an beiden Handgelenken gesichert. Die Röhre mit dem Kind wird nun vor die Röntgenplatte gehängt, damit das Kind in aufrechter Haltung geröntgt werden kann. Für andere Aufnahmen stehen spezielle Hilfsmittel zur Verfügung. Da gerade Positionierung und Fixierung von Neugeborenen und Säuglingen auf Eltern befremdlich und beängstigend wirken können, ist eine Aufklärung der begleitenden Eltern über Notwendigkeit und Vorteile dieser Positionierung und die vergleichsweise geringe Belastung des Säuglings durch Fixierung wichtig.

Computertomografie (CT) Definition

L ●

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Eine Computertomografie ist ein Röntgenverfahren, bei der ein Röntgenstrahl, unter gleichzeitiger Bewegung des Lagerungstisches, spiralförmig den Körper abtastet. Diese Vorgehensweise ermöglicht die Herstellung von dreidimensionalen Aufnahmen, die auf dem anatomischen Querschnitt (Schichten) des menschlichen Körpers basieren.

Vorbereitung Um die bestmögliche Bildqualität zu erreichen, muss das Kind während der röntgenologischen Untersuchung ruhig liegen bleiben. Eine altersgerechte Information des Kindes beinhaltet Informationen über das zu erwartende Gerät, die räumliche Enge sowie den Ablauf der Untersuchung. Wichtig ist die Information, dass die Untersuchung keine Schmerzen verursacht! Im Kleinkindalter kann eine medikamentöse Sedierung durch den Arzt erforderlich sein. Es gelten für die Sedierung die bereits genannten Kriterien (S. 854). Vor Untersuchungsbeginn sind alle Gegenstände, die im Strahlenfeld liegen, zu entfernen. Es gelten die Strahlenschutzrichtlinien (S. 854).

Praxistipp Pflege

Z ●

Bei älteren Kindern und Jugendlichen kann häufig auf eine Sedierung verzichtet werden. Bei geplanten computertomografischen Aufnahmen kann nach einem Informationsgespräch mit Kind und Eltern und nach Rücksprache mit Mitarbeitern der CT-Abteilung im Vorfeld die CT-Abteilung mit deren Untersuchungsräumen besucht werden. Somit können Ängste abgebaut und Fragen beantwortet werden.

Durchführung

Abb. 46.1 Röntgen-Thorax Kind. Nach der Entwicklung des Röntgenbildes wird dieses entweder direkt am PC oder vor einem Lichtschirm vom Arzt beurteilt (Foto: sudok1 – stock.adobe.com)

Während der Röntgenaufnahme trägt die Person, die bei dem Kind im Röntgenraum bleibt, eine Strahlenschutzschürze aus Blei. Das Personal der Röntgenabteilung gibt Anweisungen während des Zeitpunkts der Aufnahme, etwa dass das Kind in Inspirations- oder Exspirationsstellung verharren soll (sofern es altersgerecht dazu in der Lage ist). Das Kind sollte sich während der Aufnahme nicht bewegen, damit das Röntgenbild klare Aussagen liefert.

Durchführung Das Kind wird auf einer Liege durch die Untersuchungsöffnung in das Gerät gefahren. Der Körper wird nun von beweglichen Röntgenröhren umkreist (▶ Abb. 46.2). Die aufgenommenen Bilder werden in verschiedenen Schichtaufnahmen dargestellt. Alle weiteren Aufgaben der Pflegefachkraft sind wie beim konventionellen Röntgen.

5

Funktionsdiagnostik

46

rotierende Röntgenröhre

Merke

H ●

Metallhaltige Gegenstände (z. B. Armbanduhr, Halskette, Piercings) sind außerhalb des Untersuchungsraums zu lassen, da sie das Magnetfeld irritieren können.

Durchführung Detektorenring

Abb. 46.2 Computertomografie. Das Kind wird von beweglichen Röntgenröhren umkreist, die Signale werden vom PC zu einem 2- oder 3-D-Bild zusammengesetzt.

Magnetresonanztomografie (MRT) Definition

L ●

Die Magnetresonanztomografie/Kernspintomografie ist ein bildgebendes Verfahren, das Querschnittbilder des Körpers liefert. Die Bilder werden durch starke Magnetfelder sowie elektromagnetische Wechselfelder im Radiofrequenzbereich erzeugt.

Zur Reduzierung des Lärms werden dem Kind und der Begleitperson in der MRTAbteilung Ohrenstöpsel und/oder Kopfhörer gegeben. Bei sedierten Kindern gelten die oben beschriebenen Maßnahmen. Des Weiteren ist es wichtig, immer verbal mit dem Kind in Kontakt zu sein, um ihm ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Erfolgt die Untersuchung ohne Sedierung, ist es sinnvoll, ein Lieblingsspielzeug des Kindes (ohne Metall!) mit in den MRTRaum zu nehmen. So kann die Begleitperson versuchen, das Kind von der unangenehmen Situation abzulenken.

Eltern

a ●

Die Anwesenheit der Eltern ist sinnvoll, da sie für das Kind einen großen Sicherheitsfaktor darstellen. Das Kind erhält eine Art Helm, der über eine Spiegelvorrichtung den Blickkontakt zu den Eltern ermöglicht.

Abb. 46.3 Sonografie.

muss das Kind eine Nahrungskarenz einhalten, die ärztlich angeordnet wird. Hier ist dem Kind altersgerecht zu erklären, dass es nach der nicht schmerzhaften Ultraschalluntersuchung wieder essen und trinken darf.

Durchführung Je nach Alter des Kindes muss die Pflegefachkraft das Kind auskleiden und ggf. in der vom untersuchenden Arzt gewünschten Position halten. Um weinende Säuglinge während der Untersuchung beruhigen zu können, ist es sinnvoll, eine Spieluhr oder das Lieblingskuscheltier mitzunehmen. Ist das Kind an einen Beruhigungssauger (Schnuller) gewöhnt, kann dieser ebenfalls mitgenommen werden.

Praxistipp Pflege Vorbereitung Im Vergleich zur Computertomografie sind beim MRT die räumliche Enge und der starke Gerätelärm für das Kind unangenehmer. Deshalb ist es hier besonders wichtig, das Kind sowie die Eltern über die zu erwartende Situation zu informieren. Bei Kindern in den ersten Lebensjahren ist meist eine medikamentöse Sedierung erforderlich, um durch Bewegungen verursachte Störungen der MRT-Aufnahmen zu verhindern. Beim MRT mit Kontrastmittel ist eine Nahrungskarenz in den meisten Fällen nicht erforderlich, da dieses eine sehr gute Verträglichkeit bietet. Ausnahmen werden ausdrücklich ärztlich angeordnet. Zur Überwachung der Vitalzeichen mit Monitor während des MRT müssen dem Kind spezielle Elektroden zur Brustwandableitung aufgeklebt werden, die kein Metall enthalten.

856

Sonografie Definition

L ●

Eine sonografische Untersuchung ist eine Organdarstellung mittels hochfrequenter Ultraschallwellen.

Die für unser Ohr nicht hörbaren Schallwellen werden vom Gewebe teils absorbiert, jedoch überwiegend reflektiert. Diese Reflexion wird auf einem bildgebenden Monitor als Ultraschallbild dargestellt (▶ Abb. 46.3).

Vorbereitung Falls keine aktuellen Körpermaße vorhanden sind, werden auf der Station Körpergewicht und -größe ermittelt. Im Neugeborenen- und Säuglingsbereich wird u. U. noch zusätzlich der Kopfumfang des Kindes benötigt. Diese Angaben sind für den Arzt zur Ausmessung und Beurteilung der Organgröße relevant. Vor speziellen sonografischen Untersuchungen, z. B. des Verdauungstraktes,

Z ●

Zur Leitung der Schallwellen wird bei der Sonografie ein Gel benötigt. Dieses meist kühle Gel kann in einem Flaschenwärmer auf Körpertemperatur erwärmt werden.

Nach der Untersuchung werden die Gelreste von der Pflegefachkraft z. B. mit einer Stoffwindel entfernt. Um ein Auskühlen eines Neugeborenen oder Säuglings zu vermeiden, wird das Kind nur so weit entkleidet, wie es für die Untersuchung notwendig ist.

Elektrokardiografie (EKG) Definition

L ●

Die Elektrokardiografie registriert die Aktionspotenziale des Herzens, die von der Körperoberfläche abgeleitet werden, und zeichnet diese auf. Das EKG gibt Auskunft über den Rhythmus der Herzkontraktionen.

46.2 Pflegerische Aufgaben Die Aufzeichnung kann auf Papier oder über einen Monitor erfolgen. Es wird unterschieden zwischen: ● Ruhe-EKG ● Langzeit-EKG (meistens 24 Stunden) ● Belastungs-EKG ● Monitoring (kontinuierliche EKG-Überwachung mit Alarmfunktion)

Langzeit-EKG sowie beim EKG-Monitoring werden meistens nur 3 Elektroden aufgeklebt, vgl. Kap. „Weitere Möglichkeiten der Herzfrequenzmessung“ (S. 262).

Elektroenzephalogramm (EEG) Definition

Vorbereitung Je nach Alter und Gesundheitszustand erfolgt die Information an das Kind, dass es während der Untersuchung ruhig liegen bleiben muss, damit diese aussagekräftig ist und nicht wiederholt werden muss.

Durchführung Der Oberkörper des Kindes wird entkleidet. Es werden nun vom Mitarbeiter der EKG-Abteilung die Elektroden auf den Brustkorb des Kindes geklebt (▶ Abb. 46.4) sowie die Klammern für die Extremitätenableitung angebracht. Im Anschluss daran werden die 10 Elektrodenkabel mit dem Gerät verbunden. Die Aufzeichnung des EKGs erfolgt meist auf Papier. Die Pflegefachkraft achtet hierbei darauf, dass das Kind sich möglichst ruhig verhält. Beim Beruhigen des Kindes darf die Pflegefachkraft das Kind nicht berühren, da es sonst zu Störungen innerhalb des geschriebenen EKGs kommen kann und dieses nicht verwertbar ist. Bei Schulkindern und Jugendlichen wird, bei gegebener Fragestellung, zusätzlich ein Belastungs-EKG durchgeführt. Das Belastungs-EKG wird nach dem gleichen Prinzip wie das Ruhe-EKG erstellt. Der wesentliche Unterschied liegt darin, dass das Belastungs-EKG unter körperlicher Aktivität aufgezeichnet wird. Dazu wird ein Laufband oder ein Fahrrad in Form eines Heimtrainers genutzt. Um die Sicherheit für das Kind zu gewähren, ist vor dem Belastungs-EKG eine altersentsprechende Aufklärung erforderlich. Beim

L ●

Ein Elektroenzephalogramm registriert mittels am Kopf angebrachter Elektroden die elektrischen Hirnströme des Kindes.

Die Hirnströme werden auf Papier oder Videofilm aufgezeichnet (▶ Abb. 46.5). Es wird unterschieden zwischen: ● Wach-EEG ● Schlaf-EEG ● Langzeit-EEG ● Schlafentzugs-EEG

Uhr morgens zu Hause durch die Eltern geweckt. Im Krankenhaus hat die Pflegefachkraft die Aufgabe, sofern kein Elternteil anwesend ist, das Kind altersgerecht zu beschäftigen, um es vor dem Einschlafen zu schützen.

Durchführung Während des EEGs muss der Kopf des Kindes still liegen bleiben. Handelt es sich bei dem zu untersuchenden Kind um ein Kind mit Anfallsleiden (Epilepsie), wird auf ärztliche Anordnung eine Notfallmedikation (z. B. eine Diazepamrektiole) bereitgehalten. Nach dem EEG sorgt die Pflegefachkraft im stationären Bereich für ausreichend Ruhe, sodass das Kind die Möglichkeit zum Schlafen hat. Erfolgt das EEG ambulant oder innerhalb einer Arztpraxis, werden durch das Personal die Eltern über den resultierenden Ruhebedarf ihres Kindes informiert.

Vorbereitung Je nach angeordneter EEG-Form muss das Kind wach sein oder schlafen. ▶ Schlaf-EEG. Dem Kind wird von der Pflegefachkraft nach ärztlicher Anordnung eine orale medikamentöse Sedierung verabreicht. Das Kind darf nach der Sedierung nicht mehr alleine gelassen werden und wird von der Pflegefachkraft auf seine Bewusstseinslage und Vitalzeichen überwacht. Da beim sedierten Kind häufig die Aufzeichnungen der Hirnströme während der Einschlafphase relevant sind, ist zu beachten, dass das Kind nicht vor dem EEG einschlafen darf. ▶ Schlafentzugs-EEG. Jugendliche dürfen die ganze Nacht nicht schlafen und Kleinkinder werden ab 24:00 Uhr oder 4:00

46

Praxistipp Pflege

Z ●

Es ist wichtig, dass das Kind in einem ausgeglichenen Allgemeinzustand, z. B. nach der Nahrungsaufnahme, zur Untersuchung gebracht wird, um aussagekräftige Aufzeichnungen zu erhalten.

Endoskopie Definition

L ●

Eine Endoskopie ist die Betrachtung von Körperhöhlen oder Körperhohlräumen mittels eines röhrenförmigen Instruments (Endoskop), das über optische Systeme mit Beleuchtung verfügt.

Im Kindesalter ist eine endoskopische Untersuchung eher selten und erfolgt unter Narkose.

Vorbereitung

Abb. 46.4 Elektrokardiografie. Verschiedene Farben der EKG-Kabel zeigen an, wo die Extremitätenableitung angebracht wird (Symbolbild). (putilov_denis – stock.adobe.com)

Die Vorbereitungen zur Narkose ähneln der präoperativen und postoperativen Pflege (S. 830). Prinzipiell ist darauf zu achten, dass das Kind vor der endoskopischen Untersuchung des Verdauungstraktes, z. B. Magenspiegelung (Gastroskopie), auf ärztliche Anordnung eine Nahrungskarenz oder eine spezielle Diät einhalten muss. Abb. 46.5 Elektroenzephalogramm.

7

Funktionsdiagnostik

Durchführung

46

Während der Endoskopie wird das Kind i. d. R. vom Fachpersonal dieser Abteilung betreut. Bei der Übernahme des Kindes nach der Untersuchung erfolgt eine engmaschige Überwachung der Vitalzeichen, ggf. Monitoring, mit der entsprechenden Dokumentation. Des Weiteren muss auf eine vom Arzt evtl. angeordnete Bettruhe geachtet werden, s. Nachsorge nach einer Narkose (S. 835).

Szintigrafie Definition

L ●

Eine Szintigrafie ist ein bildgebendes Verfahren aus dem Bereich der Nuklearmedizin. Hierbei werden radioaktive Teilchen mit einer kurzen Halbwertszeit intravenös vom untersuchenden Arzt injiziert und anschließend mit einer speziellen Kamera, von der die abgegebene Strahlung aufgefangen wird, sichtbar gemacht.

858

Auf dem Bild wird das zu untersuchende Organ dargestellt. Hier ist ersichtlich, wie stark sich die radioaktive Substanz in den einzelnen Organen anreichert. Diese spezielle Untersuchung gibt Aufschluss über die einzelnen Organfunktionen, z. B. der Schilddrüse.

Vorbereitung Zur intravenösen Injektion des Radiopharmakons benötigt das Kind eine Venenverweilkanüle (S. 779). Da das Kind auch während der Szintigrafie ruhig liegen bleiben muss, ist v. a. bei Säuglingen und Kleinkindern häufig eine medikamentöse Sedierung erforderlich. Je nach Organ oder Organsystem, das mit einer Szintigrafie dargestellt werden soll, ist die Vorbereitung unterschiedlich. Das Pflegepersonal beachtet hierbei entsprechende ärztliche Anordnungen; beispielsweise benötigt das Kind vor einer Nierenszintigrafie im Vorfeld genügend Flüssigkeit, da dies zu einer besseren Durchspülung sowie Durchblutung der Niere führt. So können sich die radioaktiven Substanzen besser in der Niere anreichern und es kann eine zufriedenstellende Organdarstellung erfolgen.

Durchführung Die Pflegefachkraft begleitet das Kind während der Untersuchung und gewährleistet im Falle einer medikamentösen Sedierung eine regelmäßige Vitalzeichenkontrolle. Bei einer Assistenz bei der i. v. Injektion des Radiopharmakons schützen Einmalhandschuhe vor einer radioaktiven Kontamination.

Nachbereitung Nach Abschluss der Untersuchung erhält das Kind eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr, um das Ausschwemmen der radioaktiven Substanzen zu unterstützen. Ist eine ausreichende orale Flüssigkeitsaufnahme nicht gewährleistet, wird u. U. durch den Arzt eine Infusionstherapie angeordnet. Im Umgang mit möglicherweise radioaktiven Ausscheidungen werden Schutzhandschuhe empfohlen.

Kapitel 47 Notfallsituationen

47.1

Bedeutung

860

47.2

Notfallmanagement

860

47.3

Akute Atemstörung

866

47.4

Akute Herz-Kreislauf-Störungen

868

47.5

Neurologische Notfälle

868

47.6

Vergiftungen

869

47.7

Traumatische Notfälle

870

47.8

Physikalische Notfälle

871

47.9

Notfälle bei erwachsenen Patienten

871

Notfallsituationen

47 Notfallsituationen Mechthild Hoehl

47.1 Bedeutung 47 Definition

L ●

Notfallsituationen sind plötzlich auftretende Ereignisse, die die lebenswichtigen Körperfunktionen eines Menschen (Atmung, Kreislauf, Bewusstsein) lebensbedrohlich beeinträchtigen können. Wird auf Notfallsituationen nicht sofort und adäquat reagiert, kommt es zu bleibenden Schäden oder zum Tod des Patienten.

In den letzten Jahren wurden die Empfehlungen für die Erstmaßnahmen in Notfallsituationen neu standardisiert. Die Empfehlungen der ERC (European Resuscitation Council) werden in regelmäßigen Abständen evaluiert und der daraus resultierende wissenschaftliche Konsensus mit den entsprechenden Behandlungsempfehlungen „Consensus on Science with Treatment Recommendations“ (CoSTR) angepasst. Die Empfehlungen zielen darauf ab, die Wiederbelebung sowohl für Laien als auch für Fachpersonal zu vereinfachen und effektiver zu gestalten. Zu Notfallsituationen im Kindesalter kommt es u. a. durch: ● Atemstörungen: Fremdkörperaspiration, Krupp-Syndrom, Epiglottitis, Status asthmaticus, Apnoe ● Herz-Kreislauf-Störungen: Rhythmusstörungen, Zirkulationsstörungen, z. B. durch Volumenmangel, Beeinträchtigung des Schlagvolumens, Kollaps, kardiogener Schock ● neurologische Störungen: Bewusstlosigkeit, Krampfanfall, Intoxikationen (Alkohol, Drogen) ● anaphylaktische Reaktionen: anaphylaktischer Schock ● akute Stoffwechselentgleisungen: diabetisches Koma, Toxikose ● Traumen: Schädel-Hirn-Traumen, Polytraumen, Kindesmisshandlung, Verbrennungen, Verbrühungen

Merke

H ●

Notfallsituationen können auch im häuslichen Umfeld von Kindern auftreten. In diesem Fall sind die Eltern gefordert, bis zum Eintreffen professioneller Helfer Erste-Hilfe-Maßnahmen einzuleiten. Eltern wird daher empfohlen, einen speziellen „Erste-Hilfe-am-Kind-Kurs“ zu belegen, um in einer solchen Situation bestmöglich reagieren zu können.

860

In der Klinik kann es durch akute Verschlechterungen der Gesundheitsstörungen der Kinder zu Notfallsituationen kommen. Sind Notfallsituationen zu erwarten, werden vorbereitende Maßnahmen getroffen, etwa das Richten von Notfallutensilien, um im Bedarfsfall koordiniert reagieren zu können.

47.2 Notfallmanagement 47.2.1 Erkennen eines Notfalls Um die Notfallsituation zu beherrschen, muss der Notfall sofort als solcher erkannt werden. Die Situation des Patienten muss sofort eingeschätzt werden. Die sog. „Blickdiagnose“ umfasst: ● Ansprechbarkeit: Die Bewusstseinslage wird durch Ansprechen oder Anfassen geprüft, bei Säuglingen erkennt man die Bewusstseinslage am besten am „gerichteten Blick“, d. h. daran, dass das Kind gezielt seine Bezugsperson oder etwas Interessantes, z. B. Licht oder ein Mobile anschaut. ● Atemfunktion: Es wird auf sichtbare Thoraxbewegungen, hörbare Atemgeräusche und fühlbare Thoraxexkursionen oder Luftbewegungen geachtet. Im Zweifel ist immer von einem Atemstillstand auszugehen! ● Kreislaufkontrolle: Sie erfolgt mittels EKG-Monitoring, Herzfrequenzkontrolle mittels Stethoskop oder der Pulstastung an der A. brachialis bei Säuglingen unter 1 Jahr bzw. der A. carotis bei Kindern über einem Jahr. Bei Asystolie oder extremer Bradykardie (bei Säuglingen bei einer Herzfrequenz unter 60 Schlägen/Min.) muss eine Reanimation (Herz-Lungen-Wiederbelebung) erfolgen. Steht kein Stethoskop zur Herzkontrolle zur Verfügung und ist ein Puls nicht auf Anhieb tastbar, wird beim Fehlen von Bewusstsein, Atmung und weiteren Lebenszeichen (z. B. Bewegung) auf das weitere Aufsuchen eines Pulses verzichtet und von der kompletten Leblosigkeit ausgegangen. Bei der Laienschulung wird auf die Pulskontrolle mittlerweile verzichtet.

Merke

H ●

Bei einem Herz-Atem-Stillstand muss unverzüglich mit lebensrettenden Sofortmaßnahmen begonnen werden. Jede Sekunde kann über Leben und Tod entscheiden!

▶ Wiederbelebungszeit. Für den Erfolg einer Reanimation ist der sofortige Beginn der Maßnahmen entscheidend. Die Prognose ist abhängig von der Ursache der Reanimationsbedürftigkeit, vorhandenen Grunderkrankungen und der Körpertemperatur. In den ERC-Richtlinien wird betont, dass bei der Reanimation von Kindern im Gegensatz zur Erwachsenenreanimation keine eindeutige Prognose im Zusammenhang mit der Dauer der Reanimation gegeben werden kann.

47.2.2 Hilferuf Als erste Maßnahme in einem eingetretenen oder unmittelbar drohenden Notfall wird ein Hilferuf abgegeben. Tritt ein Notfall in häuslicher Umgebung ein, können weitere Angehörige gerufen werden, die den Notruf auslösen. Wenn ein Notruf ohne Verlassen des Notfallpatienten oder Delegation des Notfalls nicht möglich ist, gilt folgende Regelung: 1. Lebensbedrohliche Notfallsituationen im Erwachsenenalter – Call first: Bei Erwachsenen, die leblos aufgefunden werden, kann ein Herzproblem mit Kammerflimmern die Ursache des Notfalls sein. In diesem Fall hängt die Prognose von einer sofortigen Rettungsdienst-Alarmierung bzw. Verfügbarkeit eines AED (automatisch externen Defibrillators) ab. 2. Lebensbedrohliche Notfallsituationen im Kindesalter – Call fast: Bei Kindern, zuerst Rettungsversuche, da möglicherweise ein behebbares Atemproblem die Notfallursache ist, unverzüglich mit 5 initialen Beatmungen beginnen (ca. 1 Minute). Falls dies nicht zum Erfolg führt, Notruf absetzen und danach die Reanimationsbemühungen nach dem ABCDE-Schema fortsetzen (S. 861).

Merke

H ●

Die Notfallmeldung per Telefon erfolgt über die Rufnummer 112 und beinhaltet folgende Angaben: 1. Wer? Name und Alter der Person (Neugeborenes, Säugling, Kleinkind, Schulkind, Erwachsener). 2. Wie viele? Handelt es sich um eine Person oder um mehrere Personen (z. B. Massenunfall)? 3. Was/Welche Probleme genau? Art des Notfalls: ● Unfall oder Verletzung welcher Art?

Notfallsituationen

47 Notfallsituationen Mechthild Hoehl

47.1 Bedeutung 47 Definition

L ●

Notfallsituationen sind plötzlich auftretende Ereignisse, die die lebenswichtigen Körperfunktionen eines Menschen (Atmung, Kreislauf, Bewusstsein) lebensbedrohlich beeinträchtigen können. Wird auf Notfallsituationen nicht sofort und adäquat reagiert, kommt es zu bleibenden Schäden oder zum Tod des Patienten.

In den letzten Jahren wurden die Empfehlungen für die Erstmaßnahmen in Notfallsituationen neu standardisiert. Die Empfehlungen der ERC (European Resuscitation Council) werden in regelmäßigen Abständen evaluiert und der daraus resultierende wissenschaftliche Konsensus mit den entsprechenden Behandlungsempfehlungen „Consensus on Science with Treatment Recommendations“ (CoSTR) angepasst. Die Empfehlungen zielen darauf ab, die Wiederbelebung sowohl für Laien als auch für Fachpersonal zu vereinfachen und effektiver zu gestalten. Zu Notfallsituationen im Kindesalter kommt es u. a. durch: ● Atemstörungen: Fremdkörperaspiration, Krupp-Syndrom, Epiglottitis, Status asthmaticus, Apnoe ● Herz-Kreislauf-Störungen: Rhythmusstörungen, Zirkulationsstörungen, z. B. durch Volumenmangel, Beeinträchtigung des Schlagvolumens, Kollaps, kardiogener Schock ● neurologische Störungen: Bewusstlosigkeit, Krampfanfall, Intoxikationen (Alkohol, Drogen) ● anaphylaktische Reaktionen: anaphylaktischer Schock ● akute Stoffwechselentgleisungen: diabetisches Koma, Toxikose ● Traumen: Schädel-Hirn-Traumen, Polytraumen, Kindesmisshandlung, Verbrennungen, Verbrühungen

Merke

H ●

Notfallsituationen können auch im häuslichen Umfeld von Kindern auftreten. In diesem Fall sind die Eltern gefordert, bis zum Eintreffen professioneller Helfer Erste-Hilfe-Maßnahmen einzuleiten. Eltern wird daher empfohlen, einen speziellen „Erste-Hilfe-am-Kind-Kurs“ zu belegen, um in einer solchen Situation bestmöglich reagieren zu können.

860

In der Klinik kann es durch akute Verschlechterungen der Gesundheitsstörungen der Kinder zu Notfallsituationen kommen. Sind Notfallsituationen zu erwarten, werden vorbereitende Maßnahmen getroffen, etwa das Richten von Notfallutensilien, um im Bedarfsfall koordiniert reagieren zu können.

47.2 Notfallmanagement 47.2.1 Erkennen eines Notfalls Um die Notfallsituation zu beherrschen, muss der Notfall sofort als solcher erkannt werden. Die Situation des Patienten muss sofort eingeschätzt werden. Die sog. „Blickdiagnose“ umfasst: ● Ansprechbarkeit: Die Bewusstseinslage wird durch Ansprechen oder Anfassen geprüft, bei Säuglingen erkennt man die Bewusstseinslage am besten am „gerichteten Blick“, d. h. daran, dass das Kind gezielt seine Bezugsperson oder etwas Interessantes, z. B. Licht oder ein Mobile anschaut. ● Atemfunktion: Es wird auf sichtbare Thoraxbewegungen, hörbare Atemgeräusche und fühlbare Thoraxexkursionen oder Luftbewegungen geachtet. Im Zweifel ist immer von einem Atemstillstand auszugehen! ● Kreislaufkontrolle: Sie erfolgt mittels EKG-Monitoring, Herzfrequenzkontrolle mittels Stethoskop oder der Pulstastung an der A. brachialis bei Säuglingen unter 1 Jahr bzw. der A. carotis bei Kindern über einem Jahr. Bei Asystolie oder extremer Bradykardie (bei Säuglingen bei einer Herzfrequenz unter 60 Schlägen/Min.) muss eine Reanimation (Herz-Lungen-Wiederbelebung) erfolgen. Steht kein Stethoskop zur Herzkontrolle zur Verfügung und ist ein Puls nicht auf Anhieb tastbar, wird beim Fehlen von Bewusstsein, Atmung und weiteren Lebenszeichen (z. B. Bewegung) auf das weitere Aufsuchen eines Pulses verzichtet und von der kompletten Leblosigkeit ausgegangen. Bei der Laienschulung wird auf die Pulskontrolle mittlerweile verzichtet.

Merke

H ●

Bei einem Herz-Atem-Stillstand muss unverzüglich mit lebensrettenden Sofortmaßnahmen begonnen werden. Jede Sekunde kann über Leben und Tod entscheiden!

▶ Wiederbelebungszeit. Für den Erfolg einer Reanimation ist der sofortige Beginn der Maßnahmen entscheidend. Die Prognose ist abhängig von der Ursache der Reanimationsbedürftigkeit, vorhandenen Grunderkrankungen und der Körpertemperatur. In den ERC-Richtlinien wird betont, dass bei der Reanimation von Kindern im Gegensatz zur Erwachsenenreanimation keine eindeutige Prognose im Zusammenhang mit der Dauer der Reanimation gegeben werden kann.

47.2.2 Hilferuf Als erste Maßnahme in einem eingetretenen oder unmittelbar drohenden Notfall wird ein Hilferuf abgegeben. Tritt ein Notfall in häuslicher Umgebung ein, können weitere Angehörige gerufen werden, die den Notruf auslösen. Wenn ein Notruf ohne Verlassen des Notfallpatienten oder Delegation des Notfalls nicht möglich ist, gilt folgende Regelung: 1. Lebensbedrohliche Notfallsituationen im Erwachsenenalter – Call first: Bei Erwachsenen, die leblos aufgefunden werden, kann ein Herzproblem mit Kammerflimmern die Ursache des Notfalls sein. In diesem Fall hängt die Prognose von einer sofortigen Rettungsdienst-Alarmierung bzw. Verfügbarkeit eines AED (automatisch externen Defibrillators) ab. 2. Lebensbedrohliche Notfallsituationen im Kindesalter – Call fast: Bei Kindern, zuerst Rettungsversuche, da möglicherweise ein behebbares Atemproblem die Notfallursache ist, unverzüglich mit 5 initialen Beatmungen beginnen (ca. 1 Minute). Falls dies nicht zum Erfolg führt, Notruf absetzen und danach die Reanimationsbemühungen nach dem ABCDE-Schema fortsetzen (S. 861).

Merke

H ●

Die Notfallmeldung per Telefon erfolgt über die Rufnummer 112 und beinhaltet folgende Angaben: 1. Wer? Name und Alter der Person (Neugeborenes, Säugling, Kleinkind, Schulkind, Erwachsener). 2. Wie viele? Handelt es sich um eine Person oder um mehrere Personen (z. B. Massenunfall)? 3. Was/Welche Probleme genau? Art des Notfalls: ● Unfall oder Verletzung welcher Art?

47.2 Notfallmanagement

Liegt eine Atemstörung vor (z. B. massive Dyspnoe, Stridor, zunehmende Atemnot, steigender Sauerstoffbedarf, Zyanose, Atemstillstand)? ● Liegt eine Herz-Kreislauf-Störung vor (z. B. Rhythmusstörung, Kollaps, Schock, Herzstillstand)? ● Besteht eine neurologische Auffälligkeit (z. B. Bewusstlosigkeit, keine motorische und verbale Reaktion auf Ansprache oder Schmerzreize, Krampfanfall)? ● Bestehen sonstige Auffälligkeiten (z. B. anaphylaktische Hautreaktion, Blutung)? 4. Wo? Angabe des Ortes mit genauer Adresse oder Beschreibung. 5. Warten! Der Notruf ist erst dann beendet, wenn das Gegenüber am anderen Ende der Leitung signalisiert, dass alles verstanden wurde und Hilfe auf den Weg geschickt wird. ●

47.2.3 Notfallmanagement im Krankenhaus Je nach Art des Notfalls oder der Organisationsform der Klinik wird ein Arzt, das Reanimations-Team oder die Intensivstation verständigt. Es sollte möglich sein, den Hilferuf vom Patientenzimmer über die Patientenrufanlage auszulösen, sodass die auffindende Pflegefachkraft beim Kind bleiben kann.

Lernaufgabe

M ●

Informieren Sie sich über die Möglichkeiten, an Ihrem Arbeitsplatz den Notruf auszulösen.

Das Verhalten in Notfallsituationen trainiert das Pflegepersonal in regelmäßigen Schulungen. Das Erlernen des Verhaltens in Notfallsituationen ist Bestandteil der Ausbildung und muss anschließend 1 – 2jährlich wiederholt werden. Bei den Schulungen wird unterschieden zwischen PLS (Paediatric Life Support) – Basismaßnahmen der Kinderreanimation, und PALS (Paediatric Advanced Life Support) – erweiterte Maßnahmen, die v. a. im Intensivpflegebereich, OP oder Notfallteam zum Einsatz kommen. Hierbei handelt es sich um klinikübergreifende Standards der Notfallversorgung. An dieser Stelle werden jedoch vorwiegend die für die Grundausbildung im Pflegeberuf wichtigen Maßnahmen erläutert BLS (Basic Life Support) und PLS (Paediatric Life support).

Merke

H ●

Korrektes Verhalten in der Akutsituation setzt die Fähigkeit zum Erkennen des drohenden oder bereits eingetretenen Notfalls sowie die Fähigkeit zum gezielten und koordinierten Handeln voraus.

Das Notfallzubehör wird an einem zentralen, gut zugänglichen Platz gelagert und regelmäßig, d. h. meist wöchentlich und nach jedem Gebrauch, auf Vollständigkeit und Funktionstüchtigkeit, das Sterilgut und die Medikamente auf das Mindesthaltbarkeitsdatum überprüft. Es wird ein Plan erstellt, auf dem die regelmäßige Kontrolle mit dem Handzeichen der kontrollierenden Pflegefachkraft und dem Kontrolldatum dokumentiert ist.

Merke

H ●

Jede Pflegefachkraft ist verpflichtet, sich über den Aufbewahrungsort und den richtigen Gebrauch der Notfallutensilien ihrer Abteilung zu informieren.

In Abteilungen mit häufig auftretenden Notfallsituationen, z. B. Intensivstationen, wird zu Dienstbeginn ein Notfallplan erstellt, in dem festgelegt ist, welche Pflegefachkraft welche Aufgaben während eines Notfalls übernimmt. In den anderen Abteilungen handeln i. d. R. die Bezugspflegeperson des Patienten gemeinsam mit speziell für Notfallsituationen trainierten Kollegen, um ein organisiertes Vorgehen in der Situation zu gewährleisten. Möglich ist auch die Hilfestellung in Notfallsituationen durch ein Reanimationsteam, das zentral, z. B. auf den Intensivstationen, stationiert ist und bei Bedarf angefordert wird. Der Einsatz eines Reanimationsteams ist nur in Kliniken mit kurzen Wegen und einem funktionierenden Kommunikationssystem möglich, durch das das Team jederzeit vom jeweiligen Notfallort angefordert werden kann. Dies gewährleistet ein koordiniertes Handeln durch erfahrene Mitarbeiter. Bis zum Eintreffen des Rettungsteams ergreift das Stationsteam Basic-Life-Support-Maßnahmen.

47.2.4 Ruhe bewahren Für erfolgreiches Handeln in Notfallsituationen ist es unbedingt notwendig, Ruhe zu bewahren. Wichtig ist es, auch die äußeren Bedingungen so zu gestalten, dass ruhiges und zügiges Arbeiten erleichtert wird. Unnötiges Material wird beiseite geräumt und eine freie Arbeitsfläche geschaffen. Alle Notfallutensilien sollten

ohne zusätzliche Wege erreichbar sein, z. B. in einem mobilen Reanimationswagen. Für verbrauchtes Material wird eine ausreichende Abwurfmöglichkeit bereitgestellt. Beim Kind sind nur so viele Helfer wie notwendig. Es reichen i. d. R. 2 – 3 helfende Personen beim Kind sowie ein „Springer“ in Rufweite, der evtl. zusätzlich benötigtes Material besorgt, Notfallmedikamente aufzieht sowie Außenarbeiten erledigt, z. B. Blutproben verschickt oder Funktionsdiagnostik bestellt. Die Aufgabenbereiche und Zuständigkeiten der einzelnen Helfer werden klar und eindeutig festgelegt. Nach Möglichkeit werden unbeteiligte Passanten gebeten, die Maßnahmen nicht zu behindern. Im Krankenhaus wird entweder das bedrohte Kind in einen „Eingriffsraum“ gebracht oder die anderen mobilen Kinder und Besucher aus dem Zimmer geschickt. Die Eltern sollten während der Reanimation anwesend sein dürfen, sofern sie dies wünschen. Im Fall einer erfolglosen Reanimation kann dies den Abschied vom Kind und den Trauerprozess erleichtern. So konnten sie sehen, das „alles für das Kind getan wurde“.

47

47.2.5 Lebensrettende Basismaßnahmen beim Kind „Paediatric Life Support (PLS)“ Da die Ursache für die Reanimation beim Kind meist nicht kardial, sondern respiratorisch bedingt ist, ist die Initialbeatmung zu Beginn der Reanimation besonders wichtig. Unabhängig von der Art des Notfalls ist es sinnvoll, nach einem festgelegten Handlungsschema zu verfahren (▶ Abb. 47.1). Der Ablauf bei der Reanimation bei Kindern folgt dem ABCDESchema.

A – Atemwege frei machen Als erste Maßnahme bei der kardiopulmonalen Reanimation gilt es die Atemwege frei zu machen: ● Der Mund kann ausgewischt werden; die Atemwege werden abgesaugt, falls eine Absaugung zur Verfügung steht. ● Der physiologische Luftstrom durch die kindlichen Atemwege kann durch die Positionierung des Kopfes erleichtert werden: ○ Bei Säuglingen wird der Kopf in Neutralposition, die sog. „Schnüffelposition“ (▶ Abb. 47.2), gebracht. Da beim Säugling der Kopf in Rückenlage häufig nach vorn gebeugt ist, kann eine leichte Streckung erforderlich sein und diese mit einer zusammengerollten Windel oder einer Handtuchrolle unterhalb des Oberkörpers unterstützt werden.

1

Notfallsituationen ○

47 ○

Bei Kleinkindern und Schulkindern werden die Atemwege des Kindes frei, indem eine Hand auf die Stirn des Kindes gelegt wird und der Kopf leicht nach hinten geneigt wird. Hierbei wird gleichzeitig mit den unter der Kinnspitze platzierten Fingerspitzen das Kinn angehoben, ohne die Halsweichteile zu komprimieren. Bei Schwierigkeiten und bei Verdacht auf Halswirbelsäulenverletzung kann der Esmarch-Handgriff (▶ Abb. 47.3) angewendet werden: Hierbei werden 2 Finger jeder Hand an den Kieferwinkel gelegt und der Unterkiefer nach vorn geschoben.

Abb. 47.3 Esmarch-Handgriff.

Der Einsatz eines altersgerecht ausgewählten Guedel-Tubus kann helfen, die Atemwege freizuhalten (▶ Abb. 47.4). Im „Paediatric Advanced Life Support“ (PALS) werden auch die Larynxmaske und Intubation für geschulte Helfer empfohlen. Reicht das Freimachen der Atemwege allein nicht aus, um die respiratorische Situation zu verbessern, oder liegt eine zusätzliche Atemstörung vor (z. B. Fremdkörperaspiration), sind weitere Maßnahmen notwendig.

B – Beatmung Abb. 47.1 „Paediatric Life Support“. (Abb. von: © German Resuscitation Council (GRC) und Austrian Resuscitation Council)

Atemweg frei

richtig a Atemweg blockiert

b

falsch

c

Abb. 47.2 „Schnüffelposition“.

862

falsch

Eine akute oder vorübergehende Hypoventilation kann durch künstliche Beatmung ausgeglichen werden. Möglich sind Mund-zu-Mund-, Mund-zu-Nase-Beatmung, Maskenbeatmung sowie Beatmung mit Beatmungsbeutel oder Beatmungsgerät nach der Intubation.

Abb. 47.4 Pharyngealtuben. Obere Reihe: Oropharyngealtuben (Guedel-Tuben) in verschiedenen Größen; untere Reihe: Nasopharyngealtuben (Wendl-Tuben) in verschiedenen Größen. (Abb. aus: Secchi A, Ziegenfuß T. Pharyngealtuben. In: Secchi A, Ziegenfuß T, Hrsg. Checkliste Notfallmedizin. 4. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2009)

Atemspende beim Säugling Bei Säuglingen und Kleinkindern erfolgt die Atemspende gleichzeitig in Mund und Nase, indem der Helfer seine Lippen über Mund und Nase legt und ein geringes Atemzugvolumen wählt („Ein-Mund-vollBeatmen“, ▶ Abb. 47.5a). Hierbei werden mit dem Mund des Helfers Mund und Nase des Säuglings dicht umschlossen und in einer Sekunde so viel Luft eingeblasen, wie in die aufgeblähten Wangen des Ersthelfers passt. Hierbei sollte sich der Thorax des Säuglings sichtbar heben. Die Kopfposition wird in Neutralposition gehalten und beobachtet, ob sich der Thorax senkt, wenn die Luft entweicht. Die Beatmung wird insgesamt 5-mal durchgeführt (Initialbeatmung). Ist die gleichzeitige Beatmung über Mund und Nase anatomisch und wachstumsbedingt nicht mehr möglich, bieten sich wie bei der Erwachsenenreanimation die folgenden Möglichkeiten an.

Mund-zu-Mund-Beatmung Hierzu kann die Ausatemluft in den leicht geöffneten Mund geblasen werden. Die Nase muss dabei zugehalten werden (▶ Abb. 47.5b). Der Helfer atmet normal ein, überstreckt den Hals des Kindes leicht, hält die Nase des Kindes zu, legt seine Lippen auf den leicht geöffneten Mund des Kindes und bläst seine Atemluft in die Lunge des Kindes, sodass sich der Brustkorb sichtbar hebt.

Mund-zu-Nase-Beatmung Sie wird bei schweren Mundverletzungen, erschwerter Mundöffnung oder Schwierigkeiten bei ausreichender Abdichtung bei der Mund-zu-Mund-Beatmung empfohlen. Der Helfer atmet normal ein, überstreckt den Hals des Kindes leicht, verschließt dessen Mund durch Hochschieben der Unterlippe, legt seine Lippen auf die Nase des Kindes und bläst seine Atem-

47.2 Notfallmanagement Liegen keine Lebenszeichen vor: sofortiger Beginn der Thoraxkompression!

C – Thoraxkompression (Compression)

a

Abb. 47.6 Beutelbeatmung.

Da es verschiedene Fabrikate und Ausführungen von Beatmungsbeuteln und Masken gibt, wird hier auf die Angabe von Richtwerten zur altersabhängigen Materialgröße und Handhabung verzichtet. b

Abb. 47.5 Atemspende. a Bei Säuglingen und Kleinkindern, b bei größeren Kindern (Nase während der Beatmung zuhalten).

luft in die Lunge des Kindes, sodass sich der Brustkorb sichtbar hebt.

Praxistipp Pflege

Z ●

Aus hygienischen Gründen sollte sich der Helfer vor der Aufnahme von Sekreten aus dem Mund-Nasen-Raum schützen. Möglich ist das Abdecken des Mund-Nasen-Raumes mit speziellen Beatmungsfiltertüchern bzw. Einmalmasken.

Beutelbeatmung Die oben beschriebene altersentsprechende Kopfposition ist die Ausgangsposition für eine Beutelbeatmung. Der Beatmungsbeutel muss in der für das Kind passenden Größe gewählt werden. Ebenso muss die Maske für das Kind geeignet sein. Das bedeutet, dass die Maske bei der Beutelbeatmung Nase und Mund des Kindes bedeckt und am Nasenrücken sowie am Kinn dicht abschließt (▶ Abb. 47.6). Dabei darf der Beatmungsbeutel nicht auf die Augen gedrückt werden.

Merke

H ●

Jede Pflegefachkraft ist verpflichtet, sich über die in ihrer Klinik gängigen Materialien zu informieren und die Handhabung regelmäßig zu üben.

Ist die Effektivität der Beatmung nicht erkennbar, gilt es erneut zu prüfen, ob die Atemwege auch wirklich frei sind und ob die Positionierung des Kindes korrekt ist. Möglich ist auch, dass das Kind gegen die Beatmung presst oder der angebotene Druck zu hoch ist. Dieses muss unbedingt vermieden werden, da die Gefahr der Thoraxüberblähung und Entwicklung eines Pneumothorax besteht.

Merke

H ●

Bei suffizienter Beatmung hebt und senkt sich der Thorax. Die Intubation (S. 760) ermöglicht die sicherste Form der Beatmung.

Nach 5 initialen Beatmungen wird das Kind auf Lebenszeichen hin beobachtet (Spontanatmung, Husten oder normale Atmung [cave: Schnappatmung oder vereinzelte unregelmäßige Atemzüge]). Falls Lebenszeichen vorliegen, wird die Beatmung fortgesetzt, bis das Kind selbst effektiv atmet. Bleibt das Kind bewusstlos, atmet aber selbst, wird es in die Seitenlage gebracht und die Vitalfunktionen weiter überprüft.

Auf ein aufwendiges Suchen und Abmessen des Druckpunktes wird mittlerweile verzichtet. Der Druckpunkt bei Kindern jeden Alters liegt in der unteren Sternumhälfte. Die Kompressionstiefe beträgt mindestens ein Drittel des Brustkorbdurchmessers. Bei Neugeborenen und 2 anwesenden Helfern wird der Thorax mit beiden Händen umfasst und die Massage mit den Daumen durchgeführt („Zangengriff“, ▶ Abb. 47.7). Die Daumenspitzen sind hierbei zum kindlichen Kopf gerichtet. Die Thoraxkompression bei Säuglingen mit einem Helfer erfolgt mit 2 Fingern, da von der Seite gearbeitet werden muss, um auch die Beatmungen durchführen zu können (▶ Abb. 47.8). Das Kind sollte auf einer harten Unterlage liegen. Zielfrequenz der Kompressionen pro Minute: ● Erwachsene: 100/Min. ● Kleinkind: 120/Min. ● Säugling: 140/Min.

47

Bei Kindern über einem Jahr wird mit dem Handballen senkrecht Druck auf den Kompressionspunkt ausgeübt. Heben Sie dabei die Finger an, um zu vermeiden, dass zu viel Druck auf die Rippen entsteht. Die Kompressionstiefe beträgt mindestens ein Drittel des Thoraxdurchmessers (ca. 4 cm). Ab dem Schulalter werden hierfür wie bei der Erwachsenenreanimation beide Arme verwendet (▶ Abb. 47.9).

Merke

H ●

Das Kompressions-Beatmungsverhältnis bei Kindern beträgt für professionelle Helfer 15:2. Ein lautes Mitzählen unterstützt die Koordination von 2 Helfern. In der Laienschulung wird bei der Reanimation von Kindern ein Kompressions-Beatmungsverhältnis von 30:2 gelehrt.

Die Basismaßnahmen werden von den Ersthelfern kontinuierlich fortgesetzt, bis Lebenszeichen feststellbar sind oder das Kind in die Hände des Notfallteams übergeben werden kann. Dieses kann die erweiterten Maßnahmen des „PALS“ anwenden.

3

Notfallsituationen

D – Medikamente (Drugs)

47 Abb. 47.7 „Zangengriff“.

Abb. 47.8 Thoraxkompression bei Säuglingen.

Um eine adäquate medikamentöse Therapie in einer Notfallsituation zu gewährleisten, werden 1 – 2 periphervenöse Zugänge benötigt. Bereitet das Legen einer peripheren intravenösen Infusion aufgrund der schlechten Kreislaufsituation Probleme, wird nach 3 erfolglosen Punktionsversuchen die Anlage eines intraossären (i.o.) Zuganges empfohlen. Bei Kindern besteht die Möglichkeit, einen intraossären Zugang mit einer Spezialkanüle in das Schienbein zu legen. Bei Kindern unter 6 Jahren wird der Zugang unterhalb des Knies gelegt (▶ Abb. 47.10), bei Kindern über 6 Jahren oberhalb des Knöchels. Selbst bei sehr schlechter Kreislaufsituation werden Medikamente aus dem Markraum schnell resorbiert. Nach Medikamentengabe muss ein intraossärer Zugang mit physiologischer Kochsalzlösung nachgespült werden. Infusionen müssen per Druckinfusion verabreicht werden, um die Verteilung der Wirkstoffe sicherzustellen und Widerstände zu überwinden. Der intraossäre Zugang kann bis zur Anlage eines sicheren venösen Zugangs genutzt werden. Bei Neugeborenen besteht zudem die Möglichkeit eines Nabelvenenkatheters (S. 821).

Praxistipp Pflege

a

b

Abb. 47.9 Thoraxkompression bei größeren Kindern. a Mit einem Arm, b mit 2 Armen.

864

Z ●

Notfallmedikamente werden bei drohenden Notfällen vorsorglich aufgezogen, die für das Kind geeigneten Medikamente und ihre Dosierung festgelegt und eindeutig dokumentiert. Die Spritzen werden mit Wirkstoffname und Konzentration, Aufziehdatum, Uhrzeit und Handzeichen beschriftet. Aufgezogene Medikamente dürfen nur unter Beachtung der im Beipackzettel angegebenen maximalen Lagerungszeit und in Abhängigkeit von den hygienischen Standards der Klinik einen begrenzten Zeitraum gelagert werden, keinesfalls länger als 24 Stunden.

Im akuten kardiopulmonalen Notfall wird als Mittel der ersten Wahl Adrenalin vorbereitet. Adrenalin ist indiziert bei persistierender Bradykardie oder Asystolie trotz effektiver Beatmung. Es kann i. v. oder i.o. in der Dosierung von 1:10 000 verwendet werden. Hierzu stehen entweder Fertigspritzen zur Verfügung oder es muss aus den handelsüblichen Ampullen, die 1:100 verdünnt sind noch einmal 1:10 auf 1:10 000 verdünnt werden. Unverdünnt darf Adrenalin nur zur subkutanen oder intramuskulären Injektion angewendet werden. Intravenös, in-

TibiaVorderkante

90° zur medialen Tibia-Oberfläche

Abb. 47.10 Intraossärer Zugang.

traossär und endotracheal wird das Medikament nur nach Verdünnen auf das Zehnfache angewendet. Beispiel: 1 ml Lösung wird mit 9 ml isotonischer Trägerlösung verdünnt. Man erhält 10 ml 0,01 %ige Adrenalin-Lösung.

E – Elektrotherapie ▶ Defibrillation OHNE „Automatisch externen Defibrillator (AED)“. Eine Defibrillation wird bei im EKG beobachtetem Kammerflimmern, eine Kardioversion bei tachykarden Rhythmusstörungen durchgeführt. Die altersentsprechende Paddelgröße beträgt bei Kindern bis 10 kg 4,5 cm, bei größeren Kindern 8 – 12 cm. Nach dem Auftragen des Elektrodengels werden die Paddels rechts parasternal unterhalb der Klavikularlinie, links bei der vorderen Axillarlinie in Höhe des Herzspitzenstoßes aufgesetzt. Man beginnt mit einer kleinen Energiedosis, die bei notwendigen Wiederholungen langsam gesteigert wird (2 bis maximal 4 Joule/kg KG). Hilfreich ist das Einsetzen verabredeter Kommandos vor der Energiefreigabe. ▶ Defibrillation MIT „Automatisch externem Defibrillator“. Falls es bei Kindern zu einem primären Kreislaufstillstand oder Kammerflimmern kommt, kann auch – wo vorhanden – ein automatisch externer Defibrillator (AED) eingesetzt werden. Mit der grünen Taste wird der Defibrillator aktiviert. Er leitet wie ein Navigationssystem den Ersthelfer durch die Maßnahmen. Der AED wird entsprechend der jeweiligen Anleitung angewendet. Für 1–8-jährige Kinder verwenden Sie, falls vorhanden, die entsprechenden Kinderpads (Abgabe verminderter Energiedosis). Falls aufgrund der EKG-Analyse ein Schock empfohlen wird, wird dieser mit der roten Taste ausgelöst.

47.2 Notfallmanagement

Merke

H ●

Bei der Energiefreigabe dürfen weder das Kind noch leitfähige Materialien berührt werden. Es besteht die Gefahr eines Stromschlags!

47

Beenden der Reanimation Führen alle Reanimationsmaßnahmen nicht zum gewünschten Erfolg, entscheidet der leitende Arzt anhand der bekannten Daten bezüglich der Ursache des Notfalls und der Grunderkrankung des Kindes über die Reanimationsdauer und die Indikation zum Abbrechen der Reanimationsmaßnahmen.

47.2.6 Neugeborenenreanimation Für die Reanimation eines Neugeborenen direkt im Kreißsaal gelten die Empfehlungen, die in ▶ Abb. 47.11 schematisch dargestellt sind. Weitere wichtige Punkte sind: ● Bei jeder Geburt (auch bei geplanten außerklinischen Geburten) sollte eine in der Reanimation von Neugeborenen ausgebildete Fachkraft vor Ort sein. Hilfsmittel zur Beatmung und vorgewärmte, trockene Tücher sollten bereitliegen. ● Ein späteres Abnabeln hat viele Vorteile für Früh- und Neugeborene. So erhält das Kind Sauerstoff, Nährstoffe und Mineralien über das noch in der Plazenta vorhandene Blut. Dieser extra Schub wirkt sich u. a. positiv auf Atmung und Kreislauf des Kindes aus. Ein Abnabeln vor dem ersten Atemzug sollte daher nur im absoluten Ausnahmefall stattfinden. ● Die Körpertemperatur von Früh- und Neugeborenen soll zwischen 36,5 und 37,5 °C gehalten werden. Ein Wärmeverlust wird durch Abtrocknen, Nutzung einer Wärmelampe oder Versorgung auf einer Wärmematte, angewärmte und befeuchtete Atemgase, Einhüllen in warme Tücher, ggf. Abdecken mit Spezialfolie, verhindert. ● Zur optimalen Bestimmung der Herzfrequenz bei reanimationspflichtigen Neugeborenen sollte nach Möglichkeit ein EKG-Monitoring stattfinden. ● Der Kopf des Kindes wird während der Reanimation in Neutralposition gehalten. ● Für ein spontan atmendes Früh- oder Neugeborenes mit Anzeichen einer Dyspnoe ist die Atemunterstützung mittels CPAP („Continuous Positive Airway Pressure“ = kontinuierlicher positiver Atemwegsdruck) meist effektiver und weniger invasiv als eine Intubation.

Abb. 47.11 Algorithmus der Neugeborenenreanimation. (Abb. von: © German Resuscitation Council (GRC) und Austrian Resuscitation Council)





Eine Larynxmaske kann auch bei Neugeborenen > 2000 g bzw. ≥ 34 Schwangerschaftswochen als Alternative zu einer Maskenbeatmung verwendet werden, v. a. wenn eine Maskenbeatmung oder eine Intubation nicht gelingt oder nicht möglich ist. Da zu hohe Sauerstoffkonzentrationen mit einer erhöhten Mortalität und dem verzögerten Einsetzen der Spontanatmung verbunden sind, soll die Beatmung eines reifen Neugeborenen mit



Raumluft beginnen. Für Frühgeborene kann anfangs ebenfalls Raumluft oder eine geringe Sauerstoffkonzentration (bis 30 %) verwendet werden. Wenn trotz der Beatmung die Pulsoxymetrie keine ausreichende Sättigung anzeigt wird die Sauerstoffkonzentration schrittweise erhöht. Die ersten Beatmungen werden als Bläh- bzw. Entfaltungsbeatmungen durchgeführt, um die Lungenentfaltung zu unterstützen und Restflüssigkeit zu

5

Notfallsituationen



47





entfernen. Hierbei wird der Inspirationsdruck über 2–3 Sekunden pro Beatmung konstant gehalten. Leicht grünes Fruchtwasser unter der Geburt stellt keine Indikation zur Absaugung dar. Besteht jedoch der Verdacht auf eine Obstruktion der Atemwege durch zähes, dickflüssiges Mekonium, sollte das betreuende Team in Alarmbereitschaft sein und bei nicht vitalem Kind sofort tracheal absaugen. Bei Neugeborenen mit Bauchwanddefekten und Zwerchfellhernien wird auf eine Beutelbeatmung ohne vorherige tracheale Intubation falls möglich verzichtet, um den Magen-Darm-Trakt nicht mit Luft zu füllen. Ebenfalls kritisch ist die Beutelbeatmung bei einer Ösophagusatresie, da durch die Fistel Luft in den Magen-Darm-Trakt gelangt. Die europäischen Leitlinien zur Versorgung und Reanimation des Neugeborenen unterstützen die Anwesenheit der Eltern während einer Reanimation. In jedem Fall sollen die Eltern regelmäßig über den Zustand ihres Kindes informiert werden und ggf. in die Entscheidung über weitere Maßnahmen einbezogen werden.

47.3 Akute Atemstörung Folgende Symptome können bei akuten Atemstörungen beobachtet werden: ● erhöhte Atemfrequenz ● Stridor, Stöhnen ● Einziehungen ● Zyanose, Sauerstoffsättigungsabfall (Blutgase: Sauerstoffabfall, Kohlendioxidanstieg) ● respiratorische Azidose ● beeinträchtigtes Allgemeinbefinden ● Angst, Unruhe ● Erschöpfung, Apathie ● Bradykardie

Abhängig von der zugrunde liegenden Störung können die Symptome sehr unterschiedlich ausgeprägt sein.

47.3.1 Ertrinken Bei Kleinkindern ist durch den sog. „Atemschutzreflex“ (reflektorischer Verschluss der Stimmritze nach Eindringen von Wasser) auch ein Ertrinken in sehr flachen Gewässern möglich. Die Kinder werden in flachen Gewässern leblos treibend aufgefunden. Auch bei rechtzeitiger „Rettung“ größerer Kinder, die nicht mehr über den Atemschutzreflex verfügen, besteht die Gefahr einer anschließenden Lungenschädigung durch eingedrungenes Wasser (sog. sekundäres Ertrinken). ▶ Erstmaßnahmen. Folgende Erstmaßnahmen müssen ergriffen werden: ● falls nötig: Reanimation über längeren Zeitraum durchführen, da durch Hypothermie der Sauerstoffbedarf sinkt und daher trotz längerer Reanimationsdauer die Prognose gut sein kann, ● Intubation, Beatmung mit PEEP (positivem endexspiratorischem Druck), um einem Lungenödem vorzubeugen, das sich als Folge der Gewebeschädigung durch das eingedrungene Wasser entwickeln kann, ● Herzdruckmassage, Vorbereitung der Notfallmedikamente, ● vor weiterer Auskühlung schützen, ● auch bei Beinahe-Ertrunkenen genaue Beobachtung der Atmung auf Dyspnoezeichen. ▶ Prävention. Kleinkinder dürfen nicht unbeaufsichtigt in der Badewanne, in der Nähe von Gewässern, Gartenteichen, Regentonnen oder Planschbecken gelassen werden. Kinder müssen über Gefahren aufgeklärt werden. Sie sollten frühzeitig lernen zu schwimmen.

47.3.2 Aspiration von Fremdkörpern ▶ Beobachtung. Zeichen einer Aspiration von Fremdkörpern sind: beobachtetes Verschlucken, plötzlich einsetzende Atemnot, Husten, je nach Lokalisation des Fremdkörpers seitenungleiche Atmung, Zyanose, Bewusstseinseintrübung durch Sauerstoffmangel in schlimmen Fällen. ▶ Erstmaßnahmen. Das Kind wird zu kräftigem Husten aufgefordert (▶ Abb. 47.12).

Merke

Bei der Aspiration eines Fremdkörpers sollte das Kind zum Husten aufgefordert werden. Ist der Hustenstoß effektiv (Kind hustet laut, atmet vor dem Husten ein, ist ansprechbar), hilft ein kräftiger Hustenstoß meist mehr als z. B. das Heimlich-Manöver.

Ist der eigene Hustenstoß zu schwach, kann folgende Technik angewendet werden, um einen künstlichen Hustenstoß zu erzeugen. ▶ Rückenschläge. Bei Säuglingen und Kleinkindern in Kopftieflage max. 5 feste Schläge zwischen die Schulterblätter geben. Der Säugling wird in Bauchlage mit dem Kopf nach unten gehalten (z. B. über das Knie gelegt), um die Schwerkraft zu nutzen. Ziel ist es, die Atemwege mit so wenigen Schlägen wie möglich freizubekommen (▶ Abb. 47.13a). Eine stützende Hand am Kiefer des Säuglings verhindert unkontrollierte Kopfbewegungen und Schütteltraumen. Falls der Fremdkörper durch die gezielten Schläge auf den Rücken nicht beseitigt werden kann, müssen bei Säuglingen Tho-

Schweregrad beurteilen

ineffektives Husten

bewusstlos: – Atemwege freimachen – 5 Beatmungen – kardiopulmonale Reanimation

bei Bewusstsein: – 5 Rückenschläge – 5 Kompressionen (bei Säuglingen: Thorax, bei Kindern > 1 Jahr: Abdomen)

Abb. 47.12 Behandlung einer Fremdkörperverlegung der Atemwege beim Kind.

866

H ●

effektives Husten

– Patienten ermutigen zu husten – fortlaufende Überprüfung, ob Hustenstoß noch effektiv ist und sich Verfestigung löst

47.3 Akute Atemstörung ▶ Prävention. Kinder unter 3 Jahren sollten nicht mit verschluckbaren Kleinteilen spielen und keine Erdnüsse essen.

Merke

a

H ●

Verschlucken von Fremdkörpern ohne Husten oder Atemnot legt die Vermutung nahe, dass der Fremdkörper in den Magen-Darm-Trakt gelangt ist.

c

47.3.3 Krupp-Syndrom

b

Abb. 47.13 Maßnahmen nach Aspiration eines Fremdkörpers. a Dosierte Rückenschläge bei einem Säugling, b Thoraxkompressionen bei Säuglingen, c Heimlich-Griff bei größeren Kindern.

rax- und bei Kindern abdominelle Kompressionen vorgenommen werden. ▶ Thoraxkompression. Führen Sie max. 5 Thoraxkompressionen in Rückenlage durch (Position wie bei der Herzdruckmassage, die Kompressionen jedoch kräftiger und langsamer, ▶ Abb. 47.13b). Nur bei älteren Kindern (> 1 Jahr) sollte das sog. „Heimlich-Manöver“ zur Anwendung kommen (▶ Abb. 47.13c): Oberbauchkompression bei wachen Kindern in aufrechter Position. Lässt sich der Fremdkörper durch diese Maßnahmen nicht entfernen, wird das Kind nur noch vorsichtig bewegt, um eine Lageveränderung des Fremdkörpers zu vermeiden. Bei Bedarf wird Sauerstoff verabreicht sowie eine Bronchoskopie zügig vorbereitet, besonders bei quellbaren Fremdkörpern. Wird das Kind nach der Aspiration bewusstlos und der Fremdkörper lässt sich nicht innerhalb von 5 Versuchen entfernen, muss sofort mit der Reanimation begonnen werden.

Merke

H ●

Bei der Oberbauchkompression besteht die Gefahr von inneren Verletzungen (z. B. Milzriss), eine gewissenhafte Beobachtung und Untersuchung nach der Maßnahme ist angezeigt.

▶ Beobachtung/Verlauf. Beim KruppSyndrom lassen sich 4 Phasen unterscheiden: 1. Phase: Heiserkeit, bellender Husten, plötzlicher Beginn, meist nachts oder in den frühen Morgenstunden 2. Phase: inspiratorischer Stridor, Einziehungen 3. Phase: starke Atemnot, Steigerung der bisherigen Symptome, Unruhe, Angst, Blässe, Tachykardie 4. Phase: Erstickungsgefahr, Zyanose, Bewusstseinstrübung durch Sauerstoffmangel, Bradykardie ▶ Erstmaßnahmen. Folgende Erstmaßnahmen müssen ergriffen werden: ● Ruhe bewahren, Kind und Eltern beruhigen (Unruhe steigert die Atemnot), ggf. Sedierung nach ärztlicher Anordnung in 1. und 2. Phase. ● Kind aufsetzen, Frischluftzufuhr, feuchte Tücher aufhängen, Verneblung von Warmluft, Sauerstoffzufuhr. ● Kühle Getränke anbieten (keine Milch, diese kann zu einer verstärkten Schleimbildung führen), ausreichende Flüssigkeitszufuhr zur Sekretverflüssigung. ● Engmaschige Vitalzeichenkontrolle, besonders Atmung, auf Stridor achten, kontinuierliche Anwesenheit der Pflegefachkraft bei schwerer Symptomatik. ● Medikamentöse Abschwellung der Trachealschleimhaut auf ärztliche Anordnung, z. B. kortikoidhaltiges Zäpfchen, Inhalation mit Sympathomimetika. ● Bei Zyanose Sauerstofftherapie.

den, Speichelfluss, Angst, Apathie durch Sauerstoffmangel, Bradykardie bei Inspiration. ▶ Erstmaßnahmen. Folgende Erstmaßnahmen müssen ergriffen werden: ● aufrechte Sitzposition (Gefahr der Atemwegsverlegung im Liegen) ● Sauerstoffapplikation, ggf. Maskenbeatmung in sitzender Position ● Bereitschaft zur Intubation durch erfahrenes Personal ● Blutgasanalyse, Abnahme der präoperativen Blutparameter (z. B. Gerinnungswerte, Blutbild, Blutchemie) (S. 830) sowie Legen eines intravenösen Zugangs vor möglicher Intubation ● keine unnötigen Manipulationen wie Absaugen ● rasche Intubation (ggf. unter Tracheotomiebereitschaft im HNO-OP), es droht die Atemwegsverlegung durch weitere Schwellung des Kehldeckels ● Reanimationsbereitschaft, Gefahr des reflektorischen Herzstillstandes während der Intubation ● rascher Beginn der antibiotischen Therapie ▶ Prävention. Impfung mit Haemophilus influenzae Typ B (HIB), s. ▶ Tab. 38.3

47.3.5 Status asthmaticus ▶ Beobachtung. Starke exspiratorische Dyspnoe, exspiratorisches Giemen, Bronchialobstruktion, verlängertes Exspirium, Kind nimmt selbstständig entlastende Haltung ein, Einsatz der Atemhilfsmuskulatur, Angst, ggf. Hinweis auf allergisches Geschehen (S. 574).

47.3.4 Epiglottitis

▶ Erstmaßnahmen. Folgende Erstmaßnahmen müssen ergriffen werden: ● sitzende Positionierung ● ggf. Entfernung möglicher Allergene (z. B. Federkissen) ● Atemtherapie, Physiotherapie, Durchführung von erlernten atemerleichternden Maßnahmen ● Anwendung der Bedarfsmedikation nach dem Notfallplan des Kindes, Bronchodilatation durch Dosieraerosole oder Inhalationen auf ärztliche Anordnung ● bei Sauerstoffmangel: Sauerstoffgabe ● Flüssigkeitszufuhr zur Verbesserung der Sekretolyse ● intravenöse bronchodilatatorische Dauertropfinfusion nach ärztlicher Anordnung ● Kortikoide und Antihistaminika auf ärztliche Anordnung

▶ Beobachtung. Die Epiglottitis zeigt folgende Symptome: akuter Beginn, schwerstkrankes Erscheinungsbild, hohes Fieber, kloßige Sprache, Schluckbeschwer-

▶ Prävention. Bei bekanntem Asthma muss auf beginnende Symptomatik adäquat lt. Notfallplan reagiert werden. El-

▶ Prävention. Eltern müssen über Frühzeichen eines erneuten Kruppanfalls aufgeklärt werden, wobei auch adäquate Maßnahmen erläutert werden sollten.

47

7

Notfallsituationen tern sollen entsprechend aufgeklärt werden. Allergenexposition ist zu meiden. ●

47

47.3.6 Insektenstich im Mund-Rachen-Raum ▶ Beobachtung. Kind schreit nach Stich des Insekts, Einstichstelle schwillt an. Bei einem Stich in den Rachenraum droht die Verlegung der Atemwege. ▶ Erstmaßnahmen. Folgende Erstmaßnahmen müssen ergriffen werden: ● kalte Getränke anbieten, größere Kinder Eiswürfel lutschen lassen ● umgehende Arztkonsultation, Notruf ● Beobachtung der Schwellung und der Atmung auf Geräusche und Dyspnoe ● Gabe eines Antihistaminikums auf ärztliche Anordnung ▶ Prävention. Keine Picknicks mit Kindern in der Wespenzeit (Sommer), Getränke abdecken, Kindern im Freien ganzjährig keine gesüßten Getränke geben oder nur mit dünnem Strohhalm trinken lassen. Kinder über die Gefahren aufklären. Besteht bei einem Kind eine bekannte Allergie gegen Insektenstiche, muss die Familie und je nach Alter auch das Kind wissen, was im Notfall zu tun ist.

47.4 Akute Herz-Kreislauf-Störungen Symptome einer akuten Herz-KreislaufStörung: ● keinerlei körperliche Belastungsfähigkeit ● Unruhe, Angst ● Tachy- oder Bradykardie, Rhythmusstörungen ● Blutdruckabfall, Schwindelgefühl, Kollaps ● grau-blasses bis zyanotisches Hautkolorit, kalte Extremitäten, Kaltschweißigkeit ● Ödeme, ggf. großer Bauch durch Lebervergrößerung ● Bewusstseinseintrübung bei starker Zirkulationsstörung

47.4.1 Paroxysmale Tachykardie ▶ Beobachtung. Anfallsartig auftretende Erhöhung der Herzfrequenz bis auf das Doppelte der altersüblichen Frequenz. Es können Frequenzen von 300 Schlägen pro Minute erreicht werden. ▶ Erstmaßnahmen. Folgende Erstmaßnahmen müssen ergriffen werden: ● Auslösen eines Vagusreizes durch Trinken eiskalter Getränke, Auflegen von Eiswasserbeuteln auf die Stirn für

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10–15 Sekunden, Auslösen des Würgereizes, einseitige Karotissinusmassage Medikation nach ärztlicher Anordnung (Adenosin, β-Blocker, Digitalis, Sedierung) unter kontinuierlicher EKG-Monitorkontrolle Bereitstellen weiterer Notfallutensilien, gerichteter Medikamente, Defibrillator

47.4.2 Kardiogener Schock Der kardiogene Schock ist die Folge von Kardiomyopathie, Myokarditis oder Dekompensation bei angeborenen Herzfehlern. Daraus resultieren unbeherrschbare Rhythmusstörungen. Es besteht die Möglichkeit von Kreislaufversagen und Minderdurchblutung lebenswichtiger Organe. ▶ Erstmaßnahmen. Folgende Erstmaßnahmen müssen ergriffen werden: ● sitzende Positionierung ● Sauerstoffapplikation ● bei Bedarf Beatmung bzw. Reanimation ● strenge Flüssigkeitsrestriktion, Ein- und Ausfuhrkontrolle ● Medikation (Katecholamine, Digitalisierung, Diurese) nach ärztlicher Anordnung ● Bereitstellen weiterer Notfallutensilien

47.4.3 Volumenmangelschock ▶ Beobachtung. Der Volumenmangelschock kann verschiedene Ursachen haben, die zu folgenden Symptomen führen: trockene Schleimhäute, herabgesetzter Hautturgor, zurückgehende Urinausscheidung, eingesunkene Augen, Tachykardie, Blutdruckabfall, marmorierte kalt-schweißige Haut, Bewusstseinstrübung; beim Säugling: eingesunkene Fontanelle. Zeichen von Volumenmangel durch Blutungen sind: auffallende Blässe, Blutung nach außen oder Hämatombildung, z. B. wachsende Körperumfänge (z. B. wachsender Bauchumfang bei Blutungen in den Bauchraum). ▶ Erstmaßnahmen. Folgende Erstmaßnahmen müssen ergriffen werden: ● Schocklage (Beine und Arme hochlagern, Volumen sammelt sich im Körperzentrum) ● Sauerstoffgabe, bei starker Unterversorgung Beatmung ● Assistenz beim Legen von 1 – 2 Infusionskanülen, einem intraossären Zugang oder einem ZVK ● Infusionstherapie nach Anordnung (Plasmaexpander, Ringer-LaktatLösung) ● häufige Laborkontrollen nach Anordnung ● medikamentöse Kreislaufunterstützung (Katecholamine) nach Anordnung ● bei Blutungen: Blutstillung, Transfusion

▶ Prävention. Durchfallerkrankungen und Blutungen muss man bei Kindern frühzeitig ärztlich behandeln lassen.

47.4.4 Anaphylaktischer Schock Der anaphylaktische Schock tritt auf nach Kontakt mit Allergenen, z. B. Medikamenten (besonders aus Fremdeiweißen gewonnene Medikamente und Kontrastmittel), bestimmten Nahrungsmitteln, Insektenstichen, Tierhaaren. ▶ Beobachtung. Es kommt zum Auftreten von Hautreaktionen, Ausschlag, Quaddeln, Juckreiz, Schleimhautschwellung, Stridor, Bronchokonstriktion, Kreislaufstörungen, Blutdruckabfall, Tachykardie, Schock, Bewusstseinstrübung als Folge zerebraler Minderdurchblutung. ▶ Erstmaßnahmen. Folgende Erstmaßnahmen müssen ergriffen werden: ● Allergenexposition unterbinden, z. B. Medikamentenzufuhr unterbrechen, Nahrungsmittel ausspucken lassen, Insektenstachel vorsichtig mit Pinzette entfernen, Einstichstelle kühlen ● medikamentöse Therapie (Adrenalin, Antihistaminika, Kortikoide) nach ärztlicher Anordnung ▶ Prävention. Bei bekannter Allergie, soweit möglich, Allergene meiden, Allergiepass und Notfallmedikamente immer mitführen. Einweisung der Familie und des Umfeldes in den Gebrauch der Notfallmedikamente bei Allergien, falls dies notwendig werden könnte.

47.5 Neurologische Notfälle Neurologische Notfälle äußern sich in Bewusstseinsstörungen, schlechter oder fehlender Erweckbarkeit, neurologischen Ausfallerscheinungen, gestörten verbalen und motorischen Reaktionen, inadäquaten Antworten auf Ansprache, Lähmungen, Krampfanfällen.

47.5.1 Zerebraler Krampfanfall Zerebrale Krampfanfälle (S. 697) treten auf bei Epilepsie, akuten Hirnaffektionen (z. B. Hypoxie), Stoffwechselentgleisung, Vergiftung, Trauma, Fieber, entzündlichen Erkrankungen des Gehirns. ▶ Beobachtung. Es kommt zum Auftreten von plötzlichem Bewusstseinsverlust, Sturz mit möglichen Begleitverletzungen, tonische und/oder klonische Bewegungen, Zyanose, Zungenbiss, Speichelfluss, Ein-

47.6 Vergiftungen nässen, weiten Pupillen. Der Krampfanfall kann fokaler oder generalisierter Ausprägung sein.



▶ Erstmaßnahmen. Folgende Erstmaßnahmen müssen ergriffen werden: ● vor Begleitverletzungen schützen, weich positionieren, Bett abpolstern, verletzungsgefährdende Gegenstände wegräumen ● Kind nicht festhalten (Frakturgefahr) ● Auf keinen Fall etwas zwischen die Zähne schieben, es besteht hohe Verletzungsgefahr für den Ersthelfer und je nach Hilfsmittel Aspirationsgefahr für den Patienten! ● auf freie Atemwege achten, Seitenlage zum Aspirationsschutz, ggf. Absauggerät bereithalten ● bei Zyanose Sauerstoffzufuhr ● medikamentöse Unterbrechung des Krampfanfalls rektal i. o. (z. B. in die Wangentasche) oder i. v. nach ärztlicher Anordnung ● bei Fieberkrämpfen auf ärztliche Anordnung und/oder klinikinternen Standards ggf. Fieber senken ● falls möglich, Behandlung der auslösenden Ursache



47.5.2 Bewusstlosigkeit Bewusstlosigkeit entsteht durch Unterversorgung des Gehirns bei Hypoxie, Kreislaufversagen, Durchblutungsstörungen im Gehirn, traumatischen Affektionen des Gehirns, Stoffwechselentgleisungen, Vergiftungen. ▶ Beobachtung. Daraus resultiert eingeschränkte oder fehlende motorische oder verbale Reaktion. Bei tiefer Bewusstlosigkeit fehlen die Schutzreflexe. ▶ Erstmaßnahmen. Folgende Erstmaßnahmen müssen ergriffen werden: ● Positionierung in stabiler Seitenlage (▶ Abb. 47.14) mit nach unten gerichtetem Mund, damit Flüssigkeit abfließen kann, um Aspiration und Atemwegsverlegungen durch die zurückfallende Zunge zu verhindern.



Beim Säugling kann ein Kissen oder eine hinter den Rücken zusammengerollte Decke verhindern, dass das Kind auf den Rücken oder Bauch rollt. Auslösen des Notrufes kontinuierliche Beobachtung des Kindes

Merke

H ●

Ein akut bewusstloses Kind darf nicht allein gelassen werden.





engmaschige Vitalzeichenkontrolle (Gefahr der Beeinträchtigung der Vitalfunktionen je nach Ursache der Bewusstlosigkeit) und neurologische Kontrollen (z. B. Pupillenkontrollen, Glasgow Coma Scale (GCS)) Einleiten der Diagnostik (Labor, Computertomografie = CT, Lumbalpunktion = LP, Elektroenzephalogramm = EEG) auf ärztliche Anordnung



wenn möglich, Beeinflussen der Ursache

47.6 Vergiftungen ▶ Beobachtung. Bei Vergiftungen treten unspezifische Symptome aller Art auf, je nach Art des aufgenommenen Giftes und dessen Wirkungsweise. Es kann zu Störungen des Kreislaufs, der Atmung, des Bewusstseins, zu Übelkeit und Erbrechen kommen. Eventuell finden sich Spuren von Gift am Körper oder im Mund des Kindes (Tabletten, Pflanzen, Zigaretten) oder das Kind hat auffallenden Mundgeruch. Andere Möglichkeiten von Vergiftungen sind Suizidversuch oder Verwechslungen bei Medikamenteneinnahme.

47

▶ Erstmaßnahmen. Die Erstmaßnahmen richten sich nach dem Alter und Gewicht des Kindes, sowie dem aufgenommenen Gift und orientieren sich an den Empfehlungen der Giftzentrale (▶ Tab. 47.1):

Tab. 47.1 Sofortmaßnahmen bei Vergiftungsunfällen (nach Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung – BZgA). Maßnahmen Sofortmaßnahmen (immer nur nach Rücksprache mit Giftnotrufzentrale oder Arzt/Ärztin): ● ● ●

Ruhe bewahren. Giftnotrufzentrale anrufen und ggf. nach Anweisung Sofortmaßnahmen durchführen. Bei Bewusstlosigkeit sofort den Rettungsdienst 112 verständigen.

Informationen für den Giftnotruf/den Rettungsdienst: Wer ist betroffen? Alter, Geschlecht, ungefähres Körpergewicht. Was wurde aufgenommen? Wann erfolgte die Einnahme oder Einwirkung? Wie wurde das Gift aufgenommen? Wie viel wurde aufgenommen? Zusätzliche Angaben: Wie geht es dem Kind? Wo hat sich der Unfall ereignet? Wurden bereits Maßnahmen unternommen? Welche? Bei Aufnahme über den Mund: Zur Verdünnung des Giftes in kleinen Schlucken und Mengen Wasser, Tee oder Saft zu trinken geben, keine Milch. Bei Einatmung: ● ● ●

Für frische Luft sorgen, Fenster und Türen öffnen, das Kind ins Freie bringen. Das Kind warm zudecken und beruhigen. Auf Selbstschutz achten und das Gift nicht selbst einatmen.

Bei Augenkontakt: ● ●



Die Augen sofort mindestens 10 Minuten unter fließendem Wasser spülen. Den Wasserfluss direkt auf das Auge richten, um noch vorhandene Reste so schnell wie möglich zu verdünnen und auszuspülen. Anschließend sofort eine augenärztliche Praxis aufsuchen.

Bei Hautkontakt: ●



Kleidung entfernen und die betroffenen Hautstellen gründlich unter fließendem Wasser abspülen. Auf Selbstschutz achten und nach Möglichkeit Handschuhe tragen.

Wichtig: ●

Abb. 47.14 Stabile Seitenlage.





Nicht versuchen, das Kind auf irgendeine Art zum Erbrechen zu bringen. Keine Milch zu trinken geben, Milch beschleunigt in vielen Fällen die Giftaufnahme durch den Darm. Einem bewusstlosen Kind nie Flüssigkeit einzuflößen versuchen.

9

47.6 Vergiftungen nässen, weiten Pupillen. Der Krampfanfall kann fokaler oder generalisierter Ausprägung sein.



▶ Erstmaßnahmen. Folgende Erstmaßnahmen müssen ergriffen werden: ● vor Begleitverletzungen schützen, weich positionieren, Bett abpolstern, verletzungsgefährdende Gegenstände wegräumen ● Kind nicht festhalten (Frakturgefahr) ● Auf keinen Fall etwas zwischen die Zähne schieben, es besteht hohe Verletzungsgefahr für den Ersthelfer und je nach Hilfsmittel Aspirationsgefahr für den Patienten! ● auf freie Atemwege achten, Seitenlage zum Aspirationsschutz, ggf. Absauggerät bereithalten ● bei Zyanose Sauerstoffzufuhr ● medikamentöse Unterbrechung des Krampfanfalls rektal i. o. (z. B. in die Wangentasche) oder i. v. nach ärztlicher Anordnung ● bei Fieberkrämpfen auf ärztliche Anordnung und/oder klinikinternen Standards ggf. Fieber senken ● falls möglich, Behandlung der auslösenden Ursache



47.5.2 Bewusstlosigkeit Bewusstlosigkeit entsteht durch Unterversorgung des Gehirns bei Hypoxie, Kreislaufversagen, Durchblutungsstörungen im Gehirn, traumatischen Affektionen des Gehirns, Stoffwechselentgleisungen, Vergiftungen. ▶ Beobachtung. Daraus resultiert eingeschränkte oder fehlende motorische oder verbale Reaktion. Bei tiefer Bewusstlosigkeit fehlen die Schutzreflexe. ▶ Erstmaßnahmen. Folgende Erstmaßnahmen müssen ergriffen werden: ● Positionierung in stabiler Seitenlage (▶ Abb. 47.14) mit nach unten gerichtetem Mund, damit Flüssigkeit abfließen kann, um Aspiration und Atemwegsverlegungen durch die zurückfallende Zunge zu verhindern.



Beim Säugling kann ein Kissen oder eine hinter den Rücken zusammengerollte Decke verhindern, dass das Kind auf den Rücken oder Bauch rollt. Auslösen des Notrufes kontinuierliche Beobachtung des Kindes

Merke

H ●

Ein akut bewusstloses Kind darf nicht allein gelassen werden.





engmaschige Vitalzeichenkontrolle (Gefahr der Beeinträchtigung der Vitalfunktionen je nach Ursache der Bewusstlosigkeit) und neurologische Kontrollen (z. B. Pupillenkontrollen, Glasgow Coma Scale (GCS)) Einleiten der Diagnostik (Labor, Computertomografie = CT, Lumbalpunktion = LP, Elektroenzephalogramm = EEG) auf ärztliche Anordnung



wenn möglich, Beeinflussen der Ursache

47.6 Vergiftungen ▶ Beobachtung. Bei Vergiftungen treten unspezifische Symptome aller Art auf, je nach Art des aufgenommenen Giftes und dessen Wirkungsweise. Es kann zu Störungen des Kreislaufs, der Atmung, des Bewusstseins, zu Übelkeit und Erbrechen kommen. Eventuell finden sich Spuren von Gift am Körper oder im Mund des Kindes (Tabletten, Pflanzen, Zigaretten) oder das Kind hat auffallenden Mundgeruch. Andere Möglichkeiten von Vergiftungen sind Suizidversuch oder Verwechslungen bei Medikamenteneinnahme.

47

▶ Erstmaßnahmen. Die Erstmaßnahmen richten sich nach dem Alter und Gewicht des Kindes, sowie dem aufgenommenen Gift und orientieren sich an den Empfehlungen der Giftzentrale (▶ Tab. 47.1):

Tab. 47.1 Sofortmaßnahmen bei Vergiftungsunfällen (nach Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung – BZgA). Maßnahmen Sofortmaßnahmen (immer nur nach Rücksprache mit Giftnotrufzentrale oder Arzt/Ärztin): ● ● ●

Ruhe bewahren. Giftnotrufzentrale anrufen und ggf. nach Anweisung Sofortmaßnahmen durchführen. Bei Bewusstlosigkeit sofort den Rettungsdienst 112 verständigen.

Informationen für den Giftnotruf/den Rettungsdienst: Wer ist betroffen? Alter, Geschlecht, ungefähres Körpergewicht. Was wurde aufgenommen? Wann erfolgte die Einnahme oder Einwirkung? Wie wurde das Gift aufgenommen? Wie viel wurde aufgenommen? Zusätzliche Angaben: Wie geht es dem Kind? Wo hat sich der Unfall ereignet? Wurden bereits Maßnahmen unternommen? Welche? Bei Aufnahme über den Mund: Zur Verdünnung des Giftes in kleinen Schlucken und Mengen Wasser, Tee oder Saft zu trinken geben, keine Milch. Bei Einatmung: ● ● ●

Für frische Luft sorgen, Fenster und Türen öffnen, das Kind ins Freie bringen. Das Kind warm zudecken und beruhigen. Auf Selbstschutz achten und das Gift nicht selbst einatmen.

Bei Augenkontakt: ● ●



Die Augen sofort mindestens 10 Minuten unter fließendem Wasser spülen. Den Wasserfluss direkt auf das Auge richten, um noch vorhandene Reste so schnell wie möglich zu verdünnen und auszuspülen. Anschließend sofort eine augenärztliche Praxis aufsuchen.

Bei Hautkontakt: ●



Kleidung entfernen und die betroffenen Hautstellen gründlich unter fließendem Wasser abspülen. Auf Selbstschutz achten und nach Möglichkeit Handschuhe tragen.

Wichtig: ●

Abb. 47.14 Stabile Seitenlage.





Nicht versuchen, das Kind auf irgendeine Art zum Erbrechen zu bringen. Keine Milch zu trinken geben, Milch beschleunigt in vielen Fällen die Giftaufnahme durch den Darm. Einem bewusstlosen Kind nie Flüssigkeit einzuflößen versuchen.

9

Notfallsituationen ●





47 ●





Überprüfen der Vitalfunktionen, Bewusstseinslage und Stabilisierung zum Selbstschutz Schutzhandschuhe tragen, keine Mund-zu-Mund-Beatmung Substanzen sicherstellen und mitnehmen (z. B. Tabletten, Pflanzenreste, Beeren, auch Erbrochenes) bei Verdacht auf Vergiftung Anruf bei den Giftnotrufzentralen mit Angabe zu Alter, Größe, Gewicht des Kindes, Art und ungefähre Menge der aufgenommenen Substanz, Zeitpunkt der Giftaufnahme, aktueller Zustand des Patienten Giftnotruf-App des BfR (www.bfr.bund. de) bei deutlichen Vergiftungssymptomen Notruf

In Deutschland gibt es verschiedene regionale Zentren, die bei Verdacht auf eine mögliche Vergiftung kontaktiert werden können. Der jeweilige Giftnotruf soll als erste Anlaufstelle dienen, um zu verhindern, dass aus einem ersten Verdacht einer Vergiftung ggf. eine lebensbedrohliche Situation entsteht. Bei akuter Gefahr sollte direkt der Notruf über 112 gewählt werden. Jede Familie mit Kindern im Haushalt oder auch alle Einrichtungen, die mit Kindern arbeiten, sollte eine Giftnotrufnummer griffbereit haben. Eine Übersicht über die Giftinformationszentralen im deutschsprachigen Raum können Sie unter folgendem Link einsehen: www.dgk.de ▶ In der Klinik. Nach der Aufnahme müssen folgende Aufgaben durchgeführt werden: ● kontinuierliche Überwachung aller Vitalparameter, bei bekanntem Gift Kontrolle der gefährdeten Körperfunktionen nach Anordnung der Giftnotrufzentrale ● Labordiagnostik nach Anweisungen der Notrufzentrale, für alle Fälle bei unklaren Vergiftungserscheinungen erste Urinportion und Erbrochenes aufheben ● primäre Giftentfernung: Entfernen von Giftresten im Mund und auf der Haut des Kindes, Spülen mit reichlich Wasser ● Verdünnung der aufgenommenen Giftstoffe durch Anbieten von geringen Mengen Flüssigkeit (keine Milch und keine kohlensäurehaltigen Getränke) ● falls das Kind erbricht: Erbrochenes für toxikologische Untersuchungen aufbewahren ● Gabe von medizinischer Aktivkohle zum Binden von Giftstoffen ● Gabe von Antidoten (Gegenmitteln) nach Auskunft der Giftnotrufzentrale, um den Giften entgegenwirken zu können

870



ggf. Magenspülung, dabei das Kind seitlich zum Aspirationsschutz positionieren, dicke Magensonde bzw. Magenspülschlauch oral legen, auf Vagusreizung, Bradykardie achten, körperwarme isotone Spülflüssigkeit (z. B. NaCl 0,9 %) in Einzelportionen von 5 – 10 ml/kg KG eingeben und wieder ablaufen lassen bzw. abziehen; Vorgang wiederholen, bis die Spülflüssigkeit klar zurückkommt, Spülflüssigkeit zur Giftidentifikation aufbewahren

Merke ●





H ●

Nach heutigen Erkenntnissen überwiegen die Risiken einer Magenspülung häufig deren Nutzen und daher ist aufgrund der hohen Komplikationsgefahr (Aspirationen, Schleimhautverletzungen) die Indikationsstellung eng zu stellen, und nur noch Ausnahmefällen vorbehalten. Bei bewusstlosen Kindern Magenspülung nicht ohne vorherige Intubation (Aspirationsgefahr) durchführen; bei Gefahr von Krampfanfällen erst nach antikonvulsiver Therapie! Strenge Kontraindikationen sind darüber hinaus Vergiftungen mit (flüssigen) Kohlenwasserstoffen (z. B. Benzin) und die Aufnahme ätzender Substanzen. Das gilt auch für das induzierte Erbrechen.

▶ Prävention. Mögliche Gifte wie Giftpflanzen, Haushaltschemikalien, Zigaretten(-stummel), Alkohol vor Kindern sicher aufbewahren, bei Medikamentengaben genaue Kontrollen von Patient, Medikament, Dosierung, Verabreichung usw., anschließend Medikamentenbehältnisse gut wegschließen.

47.7 Traumatische Notfälle 47.7.1 Verbrennung, Verbrühung Die Erstmaßnahmen sind im Kap. „Pflege eines Kindes mit thermischen Verletzungen (S. 559)“ aufgeführt.

47.7.2 Polytrauma Als Polytrauma bezeichnet man das Auftreten unterschiedlicher traumatischer Affektionen durch Verkehrsunfälle, Haushaltsunfälle und Misshandlungen. Es kommt zur Beeinträchtigung des Allgemeinzustandes, Volumenmangel bei

Blutverlusten, Bewusstseinseintrübung bis Bewusstlosigkeit. ▶ Symptome. Folgende Symptome können auftreten: ● Schädel-Hirn-Trauma: Bewusstlosigkeit, Kopfverletzung, Liquor- oder Blutaustritt aus Nase oder Ohr, neurologische Ausfälle, auffällige Pupillenreaktionen (z. B. Seitendifferenzen), Krampfanfälle (S. 697) ● Thoraxtrauma: seitenungleiche Atmung, massive Dyspnoe, Ateminsuffizienz, Hämatothorax, Pneumothorax ● Bauchtrauma: Prellmarke, wachsender Bauchumfang bei Blutverlust im Abdomen, Abwehrspannung, Verfärbung der Bauchdecke ▶ Erstmaßnahmen. Folgende Erstmaßnahmen müssen ergriffen werden: ● Positionierung des Kindes nach Indikation: ○ bei Schädel-Hirn-Trauma 30° hoch, Kopfmittelstellung, um Hirndruckentwicklung vorzubeugen ○ bei Thoraxtrauma auf erkrankte Seite lagern, um Luftaustritt zu vermeiden ○ bei Bauchtraumen Rückenlage mit angewinkelten Beinen ○ Frakturen und traumatische Affektionen der Wirbelsäule immobilisieren, z. B. mit Vakuummatratzen oder Schienen ○ bei Volumenmangelschock Schocklage, falls andere Verletzungen nicht dagegensprechen ● Versorgung von Blutungen: ○ sterile Wundabdeckungen ○ bei starken Blutungen: betroffenes Körperteil falls möglich hochhalten, Arterie komprimieren, Druckverband anlegen ○ mögliche Fremdkörper nicht am Unfallort entfernen, da dann die Blutung sehr stark auftreten könnte ● Schutzmaßnahmen gegen Auskühlen ● Schocktherapie, Analgesierung oder Sedierung auf ärztliche Anordnung ● Vitalzeichenkontrollen, EKG-Monitoring, engmaschige Blutdrucküberwachung, neurologische Kontrollen sowie weitere Kontrollen abhängig vom verletzten Gebiet, Wundverbandkontrollen ● Diagnostik (Röntgen, Sonografie, Computertomografie), um das Ausmaß der Schädigung festzustellen ● konsiliarische chirurgische bzw. neurochirurgische Versorgung ● intensivmedizinische postoperative Versorgung

47.9 Notfälle bei erwachsenen Patienten

47.7.3 Kindesmisshandlung

47.8 Physikalische Notfälle

Manche Notfälle sind Folgen von Gewalt gegen Kinder. Es handelt sich hierbei um gravierende Verletzungen des Kindeswohls. Folgende Zeichen können ggf. auf eine Misshandlung hinweisen: ● unpassende Angaben: Die Verletzungen passen nicht zum angegebenen Unfallhergang ● Schütteltrauma: Hirnblutungen unklarer Ursache nach Schütteln von Säuglingen und Kleinkindern, neurologische Ausfälle, manchmal Griffhämatome an Oberarmen oder Thorax, retinale Einblutungen (nahezu beweisend für das Schütteltrauma) ● Frakturen in unterschiedlichen Heilungsstadien ● Verwundungen an ungewöhnlichen Körperstellen, z. B. Arminnenseiten ● Punktverbrennungen durch Zigaretten ● Genitalverletzungen

47.8.1 Hitzschlag

▶ Erstmaßnahmen. Folgende Erstmaßnahmen müssen ergriffen werden: ● bei Verdacht auf Misshandlung immer stationäre Einweisung; falls vorhanden, Screening-Instrumente auf Kindeswohlgefährdung durch Kinderschutzteams anwenden ● bei bedrohlichen Verletzungen notfallmedizinische Versorgung, bei weniger bedrohlichen Verletzungen weitergehende Diagnostik anstreben, um das Kind ausreichend beobachten zu können ● bei dringendem Verdacht auf Misshandlung oder Kindeswohlgefährdung Jugendamt informieren, in diesem Fall gilt eine Schweigepflichtentbindung, es besteht ein Anzeigerecht, jedoch in Deutschland keine Anzeigepflicht ● ggf. Fotodokumentation mit Maßstab ● einfühlsamer Umgang mit dem Kind, keine Suggestivfragen stellen ▶ Prävention. Präventionsprogramme, um Notfallsituationen vorzubeugen, wie Elternberatung, Elternkurse, Informationsmaterial zur Vorbeugung des Schütteltraumas, zur Unfallprävention und zur adäquaten Ersten Hilfe bei Kindern. FrüheHilfen-Programme, Sensibilisierung z. B. durch Screenings (z. B. „Guter Start ins Kinderleben“, „Keiner fällt durchs Netz“ o. Ä.), um gefährdete Familien zu erkennen, Hilfen zur Erziehung.

Definition

L ●

Hitzschlag ist eine Wärmestauung bei feuchtwarmer Witterung und Überanstrengung, die zur Überhitzung des Körpers führt.

Zu beobachten sind eine heiße und trockene Haut, hochrotes Gesicht, Mattigkeit bis Benommenheit, erhöhte Körpertemperatur bis 40 °C. ▶ Erstmaßnahmen. Folgende Erstmaßnahmen müssen ergriffen werden: ● den Betroffenen an einen kühlen und ruhigen Ort bringen ● Oberkörperhochlage ● Kleidung öffnen ● vorsichtige Kühlung mit kühlenden Umschlägen (nur wenige Grade unter Körpertemperatur) an gut durchbluteten Körperstellen, z. B. Stirn, Handgelenken, Leiste ● engmaschige Vitalzeichen-, Körpertemperatur- und Bewusstseinskontrolle ● Notruf ▶ Prävention. Angemessene Kleidung, Überanstrengung bei feuchtwarmer Witterung vermeiden, Kinder nie im Auto in der prallen Sonne lassen.

47.8.2 Sonnenstich Definition

L ●

Der Sonnenstich ist eine Hirnhautreizung durch direkte Sonneneinstrahlung auf Kopf und Nacken. Sie tritt besonders bei Säuglingen und Kleinkindern ohne Kopfbedeckung auf.

Zu beobachten sind Kopfschmerzen, Benommenheit, Unruhe, Meningismus, ggf. Körpertemperaturerhöhung, hochroter Kopf, Übelkeit und Erbrechen.

▶ Erstmaßnahmen. Folgende Erstmaßnahmen müssen ergriffen werden: ● den Betroffenen in den Schatten bringen ● 30°-Oberkörperhochlage ● vorsichtige Kühlung, Auflegen von kühlenden Tüchern in den Nacken ● Beruhigung durch Zureden und Anwesenheit ● Vitalzeichen- und Bewusstseinskontrolle ● Ausschluss einer Meningitis durch den Arzt

47

▶ Prävention. Direkte Sonneneinstrahlung meiden, Kopfbedeckung.

47.8.3 Stromunfall Nach Kontakt mit Stromleiter (z. B. Manipulation an Steckdosen) besteht die Gefahr der Schädigung der Herzreizleitung. Im EKG sieht man ein Kammerflimmern, „Strommarken“ (Verbrennungen) treten an den Ein- und Austrittsstellen des Stroms auf. ▶ Erstmaßnahmen. Folgende Erstmaßnahmen müssen ergriffen werden: ● unbedingt zum Selbstschutz zuerst Stromkreis unterbinden ● bei Hochspannungsleitungen Stromkreisunterbindung durch Elektrizitätswerk, Sicherheitsabstand von 5 – 10 Metern einhalten ● Vitalzeichenkontrolle, EKG-Kontrolle, ggf. Reanimation, Defibrillation ● sterile Versorgung der Brandwunden ● Anstrengung des Kindes vermeiden ▶ Prävention. Steckdosensicherungen (auch in Kliniken, in denen Kinder behandelt werden), keine defekten elektrischen Geräte verwenden, in Anwesenheit von Kindern keine Installation oder Reparaturen an der Elektrik vornehmen.

47.9 Notfälle bei erwachsenen Patienten Da viele nicht generalistisch ausgebildete Gesundheits- und Kinderkrankenpflegekräfte im Laufe ihrer Ausbildung und ihres Berufslebens auch mit erwachsenen Patienten arbeiten, werden an dieser Stelle die 2 zentralen Notfälle des Erwachsenenalters vorgestellt. Unabhängig davon sollte jeder Mensch in der Lage sein, im Notfall adäquat zu handeln. In Deutschland ist ein Grundlagenwissen durch einen verpflichtenden Erste-Hilfe-Kurs beim Führerscheinerwerb sichergestellt. Die empfohlenen Auffrischungskurse werden leider viel zu selten in Anspruch genommen.

1

Notfallsituationen

47.9.1 Herzinfarkt Definition

47

L ●

Der Herzinfarkt ist eine akute, lebensbedrohliche Minderdurchblutung des Herzmuskels, wodurch es zu Gewebenekrosen und Unterversorgung am Herzmuskel kommt.

Beobachtet werden lang anhaltende, stechende, drückende oder brennend empfundene Schmerzen in der linken Brust, evtl. ausstrahlend in Oberarm oder Rücken, Unterkiefer oder Oberbauch, plötzliches Schwächegefühl, Kollaps oder auffallende Blässe, Schweißausbrüche, Atemnot, Todesangst, evtl. Übelkeit, Herzrhythmusstörungen bis Herzversagen. Bei Frauen sind Atemnot, Übelkeit, Erbrechen und Schmerzen im Oberbauch häufig die einzigen Alarmzeichen. ▶ Erstmaßnahmen. Folgende Erstmaßnahmen müssen ergriffen werden: ● Oberkörper hochlagern ● beengende Kleidung öffnen ● beruhigen ● Gabe von Bedarfs- und/oder Notfallmedikamenten (Nitroglyzerin-Spray oder Kapseln), falls beim Patienten vorhanden ● Schmerzbekämpfung ● Sauerstoffgabe ● Diagnosesicherung mittels EKG, Einleitung der medikamentösen Lysetherapie ● bei Herzversagen Reanimation. Falls verfügbar automatische externe Defibrillation.

872

Merke

H ●

Bei Verdacht auf Herzinfarkt sofortiger Notruf (S. 860). Hierbei sollte auf den Verdacht auf einen Herzinfarkt hingewiesen werden, um eine kompetente notärztliche Betreuung sicherzustellen.

▶ Prävention. Gesunde Ernährung, Gewichtsreduktion bei Adipositas, Stressbewältigung, nicht rauchen, mäßigen Ausdauersport treiben, Wahrnehmen der angebotenen regelmäßigen Gesundheitschecks, Behandlung einer arteriellen Hypertonie.

47.9.2 Hirninfarkt (Schlaganfall) Definition

L ●

Der Hirninfarkt ist ein akuter Verschluss eines hirnversorgenden Blutgefäßes, wodurch es zur Zerstörung von Hirngewebe mit z. T. irreversiblen neurologischen Ausfällen kommt.

▶ Beobachtung. Anzeichen, bei denen an einen Hirninfarkt gedacht werden muss, sind plötzlich auftretende neurologische Auffälligkeiten, wie mehr oder weniger stark ausgeprägte Lähmungserscheinungen oder Taubheitsgefühle (z. B. Halbseitenlähmung, Nachziehen eines Beines, Herunterhängen des Mundwinkels, unkoordinierte Bewegungen), Sprachstörungen, Sehstörungen, plötzlicher Verlust von

kognitiven Fähigkeiten (z. B. Lese- oder Schreibfähigkeit), Bewusstseinseintrübungen bis Bewusstlosigkeit, evtl. plötzlich auftretende starke Kopfschmerzen mit Übelkeit und Erbrechen. ▶ Erstmaßnahmen. Folgende Erstmaßnahmen müssen ergriffen werden: ● Beobachtung des Patienten ● beengende Kleidung öffnen ● bei Bewusstlosigkeit: stabile Seitenlage ● bei Kreislaufversagen: Reanimationsmaßnahmen ● Verlegung auf Spezialabteilung „Stroke Unit“ ● zügige Einleitung diagnostischer Maßnahmen zur Ursachensuche: Computertomografie, Doppler, Laboruntersuchungen ● je nach Ursache: Vorbereitung zur Lysetherapie oder operativen Therapie

Merke

H ●

Bei Verdacht auf Hirninfarkt sofortiger Notruf!

▶ Prävention. Gesunde Ernährung, Bewegung, Reduktion von Übergewicht, Verzicht auf Nikotin, Drogen oder übermäßigen Alkoholgenuss. Kontrolle und Behandlung von Risikofaktoren, wie Hypertonie, Vorhofflimmern, Diabetes mellitus, Hypercholesterinämie, Adipositas und Nikotinsucht. Kurzzeitige Ausfälle als Vorboten eines Hirninfarkts unbedingt ernst nehmen. Nach einem Hirninfarkt Rezidivprophylaxe mit Thrombozytenaggregationshemmern.

Teil V Anhang

V

Literaturverzeichnis

876

Glossar

903

Abkürzungsverzeichnis

910

Literaturverzeichnis

Literaturverzeichnis Kapitel 1 Verwendete Literatur Benner P. Stufen zur Pflegekompetenz. From Novice to Expert. 2. Aufl. Bern: Verlag Hans Huber; 2012 Berufsverband Kinderkrankenpflege Deutschland e. V., Hrsg. Bildungskonzept Kinderkrankenpflege. Integrität und Dynamik eines Berufsbildes. Lübeck: Schmidt Römhild Verlag; 1994 Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz. Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für die Berufe in der Krankenpflege (KrPflAPrV). Im Internet: https://www.gesetze-im-internet.de/krpflaprv_2004/KrPflAPrV.pdf; Stand: 22.05.2018 Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz. Gesetz über die Berufe in der Krankenpflege (Krankenpflegegesetz – KrPflG). Im Internet: https://www.gesetze-im-internet.de/ krpflg_2004/KrPflG.pdf; Stand: 22.05.2018 Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Was erhält Menschen gesund? Antonovskys Modell der Salutogenese – Diskussionsstand und Stellenwert. Im Internet: https://www.bzga.de/pdf. php? id = 0ddf4b0628799d2005cc654f15e704b9; Stand: 22.05.2018 Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe e. V. Definition der Pflege. International Council of Nurses ICN. Im Internet: https://www.dbfk.de/media/docs/ download/Allgemein/ICN-Definitionder-Pflege-deutsch.pdf; Stand: 22.05.2018 Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe e. V., Hrsg. Berufsbild. Eschborn: DBfKVerlag; 1993 Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe e. V., Hrsg. Die Bedeutung professioneller Pflege. Im Internet: https://www. dbfk.de/de/themen/Bedeutung-professioneller-Pflege.php; Stand 16.07.2018 Deutscher Bundestag: Bundestag beschließt Reform der Pflegeausbildung. Im Internet: https://www.bundestag. de/dokumente/textarchiv/2017/kw25de-pflegeberufe/509760; Stand: 22.05.2018 Duden. Das Fremdwörterbuch. 11. Aufl. Berlin: Bibliographisches Institut, Dudenverlag; 2015 Geiger H. Das Krankenhaus im Wandel der Zeit. Deutsche Krankenpflege Zeitschrift 1986; 11: 783 – 788 International Council of Nurses. The ICN Definition of Nursing. Im Internet: http://www.icn.ch/who-we-are/icn-definition-of-nursing/; Stand: 22.05.2018

876

Kellnhauser E. Krankenpflegekammern und Professionalisierung der Pflege. 2. Aufl. Mönchengladbach: Ursula Zawada; 2012 Lauber A, Hrsg. Grundlagen beruflicher Pflege. verstehen und pflegen Band 1. 4. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2018 Marriner-Tomey A. Pflegetheoretikerinnen und ihr Werk. Basel: Recom; 1992 Nightingale F. Rathgeber für Gesundheitsund Krankenpflege. 2. Aufl. bearbeitet von Dr. P. Niemener. Leipzig: Brockhaus; 1878 Oehme J, Schmoeger R: Geschichte der Krankenpflege. München: Alete Wissenschaftlicher Dienst; 1994 Pschyrembel Klinisches Wörterbuch. 262. Aufl. Berlin: De Gruyter; 2010 Roper N, Logan W, Tierney A. Die Elemente der Krankenpflege. 4. Aufl. Basel: Recom; 1993 Schewior-Popp S, Sitzmann F, Ullrich L, Hrsg. Thiemes Pflege. Das Lehrbuch für Pflegende in Ausbildung, 13. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2017 Steppe H. Pflegewissenschaft und Geschichte. In Seidl E, Hrsg. Betrifft: Pflegewissenschaft: Beiträge zum Selbstverständnis einer neuen Wissenschaftsdisziplin; Wien: Maudrich; 1993: S. 158–168 Weltgesundheitsorganisation (WHO). Health Promotion Glossary 1998. Im Internet: http://www.who.int/healthpromotion/about/HPR Glossary 1998.pdf; Stand: 22. 05. 2018 Zerwer A. Säuglingspflegefibel. Berlin: Springer; 1912

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Erpenbeck J, von Rosenstiel L. Handbuch Kompetenzmessung. Erkennen, verstehen und bewerten von Kompetenzen in der betrieblichen, pädagogischen und psychologischen Praxis. Stuttgart: Schäffer-Poeschel Verlag; 2003 Friesacher H. Studienmöglichkeiten in der Pflege. JuKiP 2013; 6: 258–268 Kellnhauser E. Krankenpflegekammern und Professionalisierung der Pflege. 2. Aufl. Mönchengladbach-Rheydt: Ursula Zawada Fachverlag; 2012 Kellnhauser E. Der Gründungsprozess der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz. Vorgehensweise. Registrierung der Mitglieder & Wahl der Vertreterversammlung. Hannover: Schlütersche Verlag; 2016 Kruse, A-P. Die Krankenpflegeausbildung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. 2. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer; 1995 Roth, J, Ettling, S. Culture communication skills® Interkulturelle Kompetenz in Gesundheit und Pflege. Stuttgart: EduMedia GmbH; München: Bayerischer Volkshochschulverband e. V.; 2014 Wegmann, H. Antonie Zerwer. Ein Leben für Kinder. Berlin: Edition Hentrich; 1992

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Kapitel 2 Verwendete Literatur Amnesty International. Über Menschenrechte. Im Internet: https://www.amnesty.de/informieren/die-allgemeineerklaerung-der-menschenrechte; Stand: 05.06.2018 Arndt M. Ethik denken. Maßstäbe zum Handeln in der Pflege. 2. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2007 Borchert W. „Die Lesebuchgeschichten“ von Wolfgang Borchert. Im Internet: http://www.atelierheinzel.de/borchert. html; Stand: 05.06.2018 Bucher K. Wegmarken. Luzern: Rex; 1980 Bundeszentrale für politische Bildung. Dossier Menschenrechte. Im Internet: http://www.bpb.de/internationales/ weltweit/menschenrechte/; Stand: 05.06.2018 Bundeszentrale für politische Bildung. Das Grundgesetz – Die Grundrechte. Im Internet: http://www.bpb.de/nachschlagen/gesetze/grundgesetz/44187/i-diegrundrechte-art-1–19; Stand: 05.06.2018 Deinzer R. Wahrnehmung und Beantwortung ethischer Fragen im pflegerischen Alltag. Pflegezeitschrift 2007; 2: 92 Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe: ICN-Ethikkodex für Pflegende. Im Internet: https://www.dbfk.de/media/ docs/download/Allgemein/ICN-Ethikkodex-2012-deutsch.pdf; Stand: 05.06.2018 Deutsches Institut für Menschenrechte. Über uns. Auftrag des Instituts. Im Internet: http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/ueber-uns/auftrag/; Stand: 11.06.2018 Domenig D. Das Konzept der transkulturellen Kompetenz. In: Domenig D, Hrsg. Transkulturelle Kompetenz. Lehrbuch für Pflege-, Gesundheits- und Sozialberufe. 2. Aufl. Bern: Huber Verlag; 2007: 165–189 Duden. Das Fremdwörterbuch. 11. Aufl. Berlin: Bibliographisches Institut, Dudenverlag; 2015 Epiktet. Handbuch der Moral. Übersetzt von R. Nickel. Im Internet: http://www. philo.uni-saarland.de/people/analytic/ strobach/alteseite/veranst/therapy/ epiktet.html; Stand: 11.06.2018

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Weiterführende Literatur Babadagi-Hardt Z. Ein freundliches Lächeln öffnet viele Türen. Pflege von muslimischen Patienten. Interview geführt von Stephan Lücke. Die Schwester Der Pfleger 2013; 52: 740–745 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Hrsg. Charta der Rechte hilf- und pflegebedürftiger Menschen. Berlin: 2006 Bundeszentrale für politische Bildung. Dossier Bioethik. Im Internet: http:// www.bpb.de/gesellschaft/umwelt/bioethik/; Stand: 11.06.2018 Celik M. Muslimischen Ritualen Raum geben. Sterben, Tod und Bestattung. Die Schwester Der Pfleger 2013; 52: 746– 751 Gressel M. CNE Schwerpunkt Transkulturelle Pflege. Kultursensibel pflegen. Mit Fingerspitzengefühl. JuKiP 2015; 5: 239–242

Herpich A. CNE Schwerpunkt Transkulturelle Pflege. Den Menschen wahrnehmen – das Fremde überbrücken. JuKiP 2015; 5: 234–238 Kuckert A, Sagawe A, Weskamm A, ZielkeNadkarni A. Genitalverstümmelung an Frauen und Mädchen – Hintergründe und Hilfestellung für professionell Pflegende. Berlin: Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe; 2008 Özbabacan A, Gaiser A, Picker E et al. CNE Schwerpunkt Transkulturelle Pflege. Aus den eigenen Reihen. Migration und Behinderung. JuKiP 2015; 5: 229–233 Stupka-Gerber E. Ohne Deutsch im Kreißsaal. Basics für die Kommunikation mit Migrantinnen in der Geburtshilfe. Stuttgart: Hippokrates Verlag; 2014

Online-Angebote www.1000fragen.de (Aktion Mensch) www.auswaertiges-amt.de (Auswärtiges Amt) http://www.dbfk.de (Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe [DBfK] e. V.) www.dpv-online.de (Deutscher Pflegeverband DPV) http://www.icn.ch (International Coucil of Nurses ICN) www.igfm.de (Internationale Gesellschaft für Menschenrechte e. V.) www.institut-fuer-menschenrechte.de (Deutsches Institut für Menschenrechte) www.weltethos.org (Stiftung Weltethos)

Kapitel 3 Verwendete Literatur Berger S, Mosebach H, Wieteck P. NANDAI-Pflegediagnosen. Definitionen und Klassifikation 2007 – 2008. Kassel: Recom; 2008 Brobst RA, Georg J, Hrsg. Der Pflegeprozess in der Praxis. 2. Aufl. Bern: Huber; 2007 Brockhaus. Der große Brockhaus in einem Band. Leipzig: Brockhaus; 2003 Bruijns S. Buskop-Kobussen M. Pflegediagnosen und Interventionen in der Kinderkrankenpflege. München: Urban & Fischer; 1999 Budnik B, Kreikenbaum J. Pflegeplanung leicht gemacht. Für die Gesundheitsund Krankenpflege. 7. Aufl. München: Urban & Fischer in Elsevier; 2013 Bundesministerium für Bildung und Forschung, Hrsg. Aktionsprogramm „Lebensbegleitendes Lernen für alle“ (Januar 2001). Im Internet: http://www. competences.info/doc/ 2001_01_01_de_BMBF_Lebensbegleitendes_Lernen_fuer_alle.pdf; Stand: 11.06.2018

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Woog P. Chronisch Kranke pflegen. Das Corbin-Strauss-Pflege