Freiheit und Macht: Perspektiven kritischer Gesellschaftstheorie - der Humanismusstreit zwischen Sartre und Foucault [1. Aufl.] 9783839417690

Gesellschaftstheorie in der Tradition der Kritischen Theorie beansprucht, zugleich Gesellschaftsanalyse wie Emanzipation

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Freiheit und Macht: Perspektiven kritischer Gesellschaftstheorie - der Humanismusstreit zwischen Sartre und Foucault [1. Aufl.]
 9783839417690

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
I Einleitung: Theoretischer Antihumanismus versus kritisch-praktischer Humanismus – zwei Zugangsweisen einer kritischen Gesellschaftstheorie
Facetten der Debatte zwischen Strukturalismus und Existentialismus: Althusser und Lévi-Strauss gegen Sartre
Foucault gegen Sartre: Das Erbe Heideggers
System und Lebenswelt: Der gesellschaftstheoretische Dualismus bei Habermas
Aufbau der Arbeit
II Der Humanismusstreit Absagen und Antworten
Stationen einer Auseinandersetzung
(1) Gesellschaft
(2) Philosophie
(3) Politik
(4) Subjekt
(5) Geschichte
Beobachterperspektive versus Teilnehmerperspektive
III Foucaults archäologische Subjektkritik
Methode: Das Verfahren der Diskursanalyse
Renaissance, Klassik, Moderne: Eine Geschichte des Wissens und der Erfahrungsweisen
Das anthropologische Viereck
Die Grenzen der Archäologie
IV Sartres transzendental-ontologische Subjektkonzeption
1 Die bewusstseinsphilosophische Begründung: „L’être et le néant“
Phänomenologie der Handlung – Entwurf und Situation
Der ontologische Status der Freiheit
Im Reflexionszirkel des Bewusstseins
(1) Ein nicht-egologisches Bewusstsein
(2) Das präreflexive Cogito
(3) Die reflexive Struktur des Cogito
(4) Das Bewusstsein des Für-Andere-seins
Sartre und seine Doppel: Aporien einer phänomenologischen Ontologie
2 Die praxisphilosophische Begründung: Die „Critique de la raison dialectique“
Verschiebung des methodologischen Ausgangspunktes
Der transzendentale Status der historisch-strukturellen Anthropologie
(1) Die erkenntniskritische Grundlegung der dialektischen Vernunft
Die progressiv-regressive Methode des Verstehens
Die dialektische Struktur kritischer Erfahrung
(2) Grundlagenreflexion der konstituierenden Dialektik der Praxis
(a) Individuelle Praxis
(b) Intersubjektivität
(c) Mangel
(d) Das Praktisch-Inerte
Die Grenzen der handlungstheoretischen Binnenperspektive
V Foucaults Subjekt der Macht
1 Jenseits des ‚anthropologischen Schlummers‘
Die archäologische Kritik des Diskurses der Geschichte
Die methodisch kontrollierte Konstruktion einer virtuellen Beobachterperspektive
Geschichte als dreidimensionaler Raum
(1) Die Diversität der Systeme
(2) Das Spiel der Diskontinuitäten
(3) Die Geschichte der Diskurse
Jenseits der Diskursanalyse
2 Subjektivierung als Unterwerfung
Erste methodologische Verschiebung: Der Einsatz der Genealogie
Der Perspektivismus der Beobachterposition
Macht als Analyseraster
Modelle einer Analytik der Macht
(1) Dispositiv
Disziplinierung
Sexualität
Die analytische Reichweite des Dispositiv-Modells
(2) Praktiken
Rationalitätsregime
Die missliche Verschränkung von Produktion und Repression
(3) Konflikt
Die Außenseite der Strategie
Die Verlagerung des geltungstheoretischen Anspruchs durch die Kriegshypothese
Die Grenzen der Genealogie
3 Techniken des Selbst
Der methodische Bezugsrahmen einer historischen Ontologie der Gegenwart
Praktiken und Problematisierungen
Gouvernementalität als Analyseraster
Drei Ebenen einer Analyse des Regierens
(1) Die Geschichte der modernen Regierungstechnologien
Strukturlogik
Herkunft
Entstehung
(2) Regieren der Anderen
Die Genealogie der Freiheit
Handlungstheoretische Implikationen der strategischen Spiele
(3) Regieren des Selbst
Der Analyseraster der Geschichte der Subjektivität
Archäologie der ethischen Selbstverhältnisse
Genealogie des moralischen Subjektes
Praktiken des Übens: Regelunterwerfung und Regelanwendung
Historische Rationalitätstypen als technologische Voraussetzungen des Handelns
VI Sartres historisch-gesellschaftliches Individuum: Das Singuläre-Allgemeine
Die Rekonstruktion einer historisch-konkreten Totalität
Hermeneutik des Erlebten
Totalität und Handlung
Die Dialektik von Regelunterwerfung und Regelanwendung
(1) Konstitution
Die Familienzelle
Die Sprache der Anderen
(2) Personalisation
Asymmetrische Interaktion
Derealisierung als Technik der Unterwerfung
(3) Programmierung
Objektiver Geist und Ideologie
Humanismus
Pathologien der bürgerlichen Gesellschaft
Die diagnostische Reichweite einer Phänomenologie der Entfremdung
VII Zusammenfassung: Gesellschaftsanalyse und Emanzipationstheorie
Die drei Ebenen des Humanismusstreites
Theorie der Gesellschaft
Der Status der Kritik
Literaturverzeichnis
I Michel Foucault
II Jean-Paul Sartre
III Weiterführende Literatur

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Mathias Richter Freiheit und Macht

Edition Moderne Postmoderne

Im Gedenken an Eberhard Braun (1941 - 2006) meinen Lehrer und Freund

Mathias Richter (Dr. phil.) hat Philosophie, Politikwissenschaften und Empirische Kulturwissenschaften in Tübingen, Paris und Frankfurt am Main studiert. Er arbeitet als Journalist und ist Leiter der Wirtschaftsredaktion der Märkischen Allgemeinen Zeitung in Potsdam. Seine Forschungsschwerpunkte sind Gesellschaftstheorie, politische Philosophie, französische Theoretiker des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart.

Mathias Richter

Freiheit und Macht Perspektiven kritischer Gesellschaftstheorie – der Humanismusstreit zwischen Sartre und Foucault

D.30

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Mathias Richter Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1769-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 9 I Einleitung: Theoretischer Antihumanismus versus kritisch-praktischer Humanismus – zwei Zugangsweisen einer kritischen Gesellschaftstheorie | 11

Facetten der Debatte zwischen Strukturalismus und Existentialismus: Althusser und Lévi-Strauss gegen Sartre | 19 Foucault gegen Sartre: Das Erbe Heideggers | 30 System und Lebenswelt: Der gesellschaftstheoretische Dualismus bei Habermas | 44 Aufbau der Arbeit | 59 II Der Humanismusstreit Absagen und Antworten | 63

Stationen einer Auseinandersetzung | 64 (1) Gesellschaft | 72 (2) Philosophie | 76 (3) Politik | 78 (4) Subjekt | 80 (5) Geschichte | 84 Beobachterperspektive versus Teilnehmerperspektive | 85 III Foucaults archäologische Subjektkritik | 91 Methode: Das Verfahren der Diskursanalyse | 94

Renaissance, Klassik, Moderne: Eine Geschichte des Wissens und der Erfahrungsweisen | 99 Das anthropologische Viereck | 109 Die Grenzen der Archäologie | 119

IV Sartres transzendental-ontologische Subjektkonzeption | 127

1 Die bewusstseinsphilosophische Begründung: „L’être et le néant“ | 129 Phänomenologie der Handlung – Entwurf und Situation | 131 Der ontologische Status der Freiheit | 140 Im Reflexionszirkel des Bewusstseins | 155 (1) Ein nicht-egologisches Bewusstsein | 156 (2) Das präreflexive Cogito | 161 (3) Die reflexive Struktur des Cogito | 172 (4) Das Bewusstsein des Für-Andere-seins | 177 Sartre und seine Doppel: Aporien einer phänomenologischen Ontologie | 186 2 Die praxisphilosophische Begründung: Die „Critique de la raison dialectique“ | 191 Verschiebung des methodologischen Ausgangspunktes | 193 Der transzendentale Status der historisch-strukturellen Anthropologie | 200 (1) Die erkenntniskritische Grundlegung der dialektischen Vernunft | 204 Die progressiv-regressive Methode des Verstehens | 215 Die dialektische Struktur kritischer Erfahrung | 224 (2) Grundlagenreflexion der konstituierenden Dialektik der Praxis | 229 (a) Individuelle Praxis | 231 (b) Intersubjektivität | 236 (c) Mangel | 247 (d) Das Praktisch-Inerte | 252 Die Grenzen der handlungstheoretischen Binnenperspektive | 263 V Foucaults Subjekt der Macht | 269

1 Jenseits des ‚anthropologischen Schlummers‘ | 273 Die archäologische Kritik des Diskurses der Geschichte | 275 Die methodisch kontrollierte Konstruktion einer virtuellen Beobachterperspektive | 281 Geschichte als dreidimensionaler Raum | 285 (1) Die Diversität der Systeme | 286 (2) Das Spiel der Diskontinuitäten | 289 (3) Die Geschichte der Diskurse | 291 Jenseits der Diskursanalyse | 294 2 Subjektivierung als Unterwerfung | 300 Erste methodologische Verschiebung: Der Einsatz der Genealogie | 303 Der Perspektivismus der Beobachterposition | 313 Macht als Analyseraster | 319

Modelle einer Analytik der Macht | 329 (1) Dispositiv | 330 Disziplinierung | 334 Sexualität | 342 Die analytische Reichweite des Dispositiv-Modells | 351 (2) Praktiken | 355 Rationalitätsregime | 357 Die missliche Verschränkung von Produktion und Repression | 364 (3) Konflikt | 372 Die Außenseite der Strategie | 375 Die Verlagerung des geltungstheoretischen Anspruchs durch die Kriegshypothese | 380 Die Grenzen der Genealogie | 390 3 Techniken des Selbst | 393 Der methodische Bezugsrahmen einer historischen Ontologie der Gegenwart | 398 Praktiken und Problematisierungen | 409 Gouvernementalität als Analyseraster | 418 Drei Ebenen einer Analyse des Regierens | 424 (1) Die Geschichte der modernen Regierungstechnologien | 425 Strukturlogik | 428 Herkunft | 434 Entstehung | 440 (2) Regieren der Anderen | 452 Die Genealogie der Freiheit | 455 Handlungstheoretische Implikationen der strategischen Spiele | 458 (3) Regieren des Selbst | 466 Der Analyseraster der Geschichte der Subjektivität | 468 Archäologie der ethischen Selbstverhältnisse | 472 Genealogie des moralischen Subjektes | 479 Praktiken des Übens: Regelunterwerfung und Regelanwendung | 486 Historische Rationalitätstypen als technologische Voraussetzungen des Handelns | 489

VI Sartres historisch-gesellschaftliches Individuum: Das Singuläre-Allgemeine | 499 Die Rekonstruktion einer historisch-konkreten Totalität | 504 Hermeneutik des Erlebten | 510 Totalität und Handlung | 514 Die Dialektik von Regelunterwerfung und Regelanwendung | 517 (1) Konstitution | 519 Die Familienzelle | 520 Die Sprache der Anderen | 525 (2) Personalisation | 530 Asymmetrische Interaktion | 531 Derealisierung als Technik der Unterwerfung | 539 (3) Programmierung | 545 Objektiver Geist und Ideologie | 552 Humanismus | 560 Pathologien der bürgerlichen Gesellschaft | 571

Die diagnostische Reichweite einer Phänomenologie der Entfremdung | 575 VII Zusammenfassung: Gesellschaftsanalyse und Emanzipationstheorie | 583 Die drei Ebenen des Humanismusstreites | 585 Theorie der Gesellschaft | 591 Der Status der Kritik | 598 Literaturverzeichnis | 607 I Michel Foucault | 607 II Jean-Paul Sartre | 612

III Weiterführende Literatur | 615

Vorwort

Gesellschaftstheorie in der Tradition der Kritischen Theorie beanspruchte von jeher, zugleich Gesellschaftsanalyse wie Emanzipationstheorie zu sein. Die vorliegende Arbeit, die in leicht veränderter Fassung im Oktober 2009 am Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften der Johann Wolfgang GoetheUniversität in Frankfurt am Main als Dissertation eingereicht wurde, versucht dieses Anliegen anhand der Werke von Jean-Paul Sartre und Michel Foucault zu diskutieren. Ausgangspunkt ist dabei der zwischen den beiden Theoretikern ausgetragene so genannte Humanismusstreit in Frankreich, Mitte der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Die Frontstellung zwischen Sartres praktisch-kritischem Humanismus und Foucaults theoretischem Antihumanismus ergab sich dadurch, dass zwei methodisch weitgehend gegensätzliche Forschungsprogramme verfolgt wurden. Sartre entwarf seine Gesellschaftstheorie konsequent handlungstheoretisch aus der Binnenperspektive, Foucault beanspruchte, soziale Prozesse aus einer virtuell-externen Beobachterposition zu beschreiben, ohne die Geltungsansprüche der Akteure berücksichtigen zu müssen. Das erkenntnisleitende Interesse dieser Arbeit besteht nun darin zu fragen, welchen Beitrag beide Autoren jeweils unter gesellschaftsanalytischen wie emanzipationstheoretischen Geschichtspunkten heute noch für eine moderne Sozialphilosophie leisten können. Durchführbar wurde diese Untersuchung nur durch Unterstützung und hilfreiche Kritik von akademischen Lehrern, Kollegen und Freunden. Ihnen allen danke ich dafür. An der Universität Frankfurt am Main Axel Honneth, der die Arbeit mit regem Interesse und pointierter Kritik betreut hat, sowie Christoph Menke, in dessen Forschungskolloquium ich – noch an der Universität Potsdam – zahlreiche Anregungen und Gelegenheiten zu Diskussionen fand. Zu danken habe ich auch meinen akademischen Lehrern an der Universität Tübingen: Helmut Fahrenbach, in dessen Kolloquium vor vielen Jahren die ersten Skizzen für diese Arbeit entstanden. Aus diesem Kreis habe ich vieles mitgenommen, insbesondere in leidenschaftlichen und oft über Stunden hartnäckig geführten

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Diskussionen mit Martin Böhler, Peter Kelbel, Ulrich Müller-Schöll, Christof Schilling und Volker Schmidt. Nur noch posthum danken kann ich Eberhard Braun, der im Mai 2006 verstarb. Viel über die spezifisch französische Weise des Philosophierens habe ich bei Étienne Balibar und Gérard Raulet in Paris gelernt, wovon die vorliegende Arbeit profitierte. Mein Dank gilt des Weiteren Alexander Gauland, dem ehemaligen Herausgeber der „Märkischen Allgemeinen Zeitung“ in Potsdam, der es möglich gemacht hat, dass ich dieses Projekt neben meiner Berufstätigkeit verfolgen konnte, sowie den Mitgliedern der dortigen Wirtschaftsredaktion, die mehr oder weniger freiwillig den Fortgang der Arbeit miterlebten. Akribisch durchgesehen wurde das Manuskript kurz vor der Fertigstellung von Agneta Langrehr, Claudius Prößer, Irene Scherer und Ute Sommer. Auch ihnen danke ich für ihre Geduld, sowie – freilich nicht zuletzt, sondern eigentlich an erster Stelle Inka Thunecke, ohne deren intellektuelle wie emotionale Unterstützung diese Arbeit nicht fertig gestellt worden wäre. Berlin, Potsdam, Frankfurt am Main im Februar 2011

„[…] der Mensch ist nichts anderes, als sein Entwurf, er existiert nur in dem Maße, in dem er sich verwirklicht, er ist also nichts anderes als die Gesamtheit seiner Handlungen, nichts anderes als sein Leben.“ JEAN-PAUL SARTRE1

„Der Mensch ist eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das baldige Ende.“ MICHEL FOUCAULT2

I Einleitung Theoretischer Antihumanismus versus kritisch-praktischer Humanismus – zwei Zugangsweisen einer kritischen Gesellschaftstheorie

Noch 37 Jahre später, im Mai 2004, berichtete Daniel Defert von dem symbolischen Angriff auf Michel Foucault. Der Filmemacher Jean-Luc Godard habe 1967 Anne Wiazemsky als Darstellerin einer prochinesischen Studentin in sei-

1

Jean-Paul Sartre (1946): Der Existentialismus ist ein Humanismus. In: ders., Der Existentialismus ist ein Humanismus und andere philosophische Essays 1943-1948. Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Philosophische Schriften 4, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 161 (L’existentialisme est un humanisme, Paris).

2

Michel Foucault (1966): Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/M. 1971, S. 462 (Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris).

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nem Film „La chinoise“3 Tomaten auf ein Exemplar von „Les mots et les choses“ werfen lassen, weil das Buch in linken Kreisen „für eine Negation der Geschichte und damit für die Negation der Möglichkeit einer Revolution stand“.4 Wie hitzig das intellektuelle Klima Mitte der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts in Frankreich gewesen sein muss, lässt sich noch am Gehalt der kolportierten Episode erahnen – waren es doch gar keine Tomaten, sondern Spielzeugpfeile, die im Treppenhaus einer Pariser Maoisten-Kommune auf die „Feinde der Revolution“ abgefeuert wurden. Und es war auch keine Frau, sondern ein von Jean-Pierre Léaud gespielter junger Polit-Aktivist, der mit Pfeil und Bogen auf das Buch eines „reaktionären Autors“ zielte, der angeblich, wie im Film an einer Stelle proklamiert wird, „Worte und Dinge miteinander verwechselt“. Godard sagte später, er habe das politische Klima an den französischen Universitäten und die Reaktionen von Studenten und Lehrpersonal auf Foucaults Buch darstellen wollen.5 Aber auch Godard ist freilich kein neutraler Chronist. Er könne Foucault in der Tat nicht leiden, gesteht er nur wenige Zeilen später, weil dieser beanspruche zu erklären, nach welchen Regeln die Leute zu einer bestimmten Zeit gedacht haben: „C’est justement pour ça que nous tentons de faire des films: pour que les Foucaults futurs ne puissent affirmer de telles choses avec autant de présomption.“6 Das Erscheinen von „Les mots et les choses“ im Jahr 1966 hatte in Frankreich eine leidenschaftliche Debatte ausgelöst und bildete den Höhepunkt des so genannten Humanismusstreites,7 in dessen Zentrum sehr bald Michel Foucault

3 4

La Chinoise. Frankreich 1967, Buch & Regie: Jean-Luc Godard. Vgl. Daniel Defert (2004): Raum zum Hören. Nachwort in: Michel Foucault, Die Heterotopien. Der utopische Körper, Frankfurt/M. 2005, S. 78.

5

Vgl. Jean-Luc Godard (1991): Lutter sur deux fronts. In: ders., Godard par Godard. Des années Mao aux années 80, Paris, S. 25f.

6

Ebd., S. 26. Godard fügt an jener Stelle übrigens noch hinzu, dass sich sein Misstrauen auch gegen Sartre richte. Ein Sartre-Bild gehört im Film ebenfalls zu besagter Collage der „Feinde der Revolution“.

7

Der Humanismusstreit – diesen Begriff gebraucht u.a. Vincent Descombes (Descombes (1979): Das Selbe und das Andere. Fünfundvierzig Jahre Philosophie in Frankreich. 1933-1978, Frankfurt/M. 1981, S. 41; 123ff) – begann etwa 1965, eskalierte 1966 und zog sich in seinen Ausläufern bis etwa 1969/70 hin. In manchen Publikationen läuft die Auseinandersetzung auch unter der Bezeichnung „la querelle du ‚structuralisme‘“ (vgl. etwa Didier Eribon (1991): Michel Foucault (1926-1984), Paris, S. 225). Ausführlich siehe auch: François Dosse (1991): Histoire du structuralisme. Tome 1: Le champ du signe, 1945-1966, Paris, S. 384-421; Jeanette

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und Jean-Paul Sartre standen. Foucaults These vom angekündigten „Tod des Menschen“ provozierte heftige Reaktionen. Der Ton verschärfte sich unter den Intellektuellen, die in zwei Lager gespalten waren: eine eher phänomenologischexistenzphilosophisch, zum Teil auch marxistisch orientierte Richtung, die den theoretischen Primat des Menschen als Subjekt der Geschichte verteidigte,8 und die Fraktion der so genannten Strukturalisten,9 die genau dieses Subjekt seit Längerem zum bloßen Effekt eines übergeordneten Systemzusammenhangs und den Glauben daran zur Ideologie erklärt hatten.

Colombel (1985): Jean-Paul Sartre. Tome 1: Un homme en situations. Textes et débats, Paris, S. 361-412. Wie nachhaltig diese Debatte gewirkt haben muss, zeigt sich auch daran, dass selbst Paul Veyne noch mehr als 40 Jahre danach darauf zu sprechen kommt. Vgl. Paul Veyne (2008): Foucault. Der Philosoph als Samurai, Stuttgart 2009, S. 52ff (Foucault. Sa pensée, sa personne, Paris). 8

Die prominentesten Wortmeldungen kamen von Jean-Paul Sartre, insbesondere in einem Interview der Zeitschrift L’Arc (Jean-Paul Sartre répond. In: L’Arc, no 30, 1966, S. 87-96), Roger Garaudy (Structuralisme et ‚Mort de l’Homme‘. In: La Pensée 135, 1967, S. 107-124), Henri Lefebvre ((1971): L’ideologie structuraliste, Paris), Paul Ricœur (La structure, le mot, l’événement. In: Esprit 360, 1967, S. 801-821) und Mikel Dufrenne (La philosophie du néo-positivisme, ebd., S. 781-800).

9

Die Rolle des Menschen als Subjekt war in Frankreich seit den frühen 60er Jahren von so unterschiedlichen Autoren wie Claude Lévi-Strauss ((1962): La pensée sauvage, Paris), Louis Althusser ((1965): Pour Marx, Paris) oder Jacques Lacan ((1966): Écrits I, Paris), die damals ebenso wie Foucault als „Strukturalisten“ bezeichnet wurden, infrage gestellt worden. Althusser und Foucault haben sich später gegen den Begriff Strukturalismus verwahrt (vgl. Louis Althusser/Étienne Balibar (1970): Lire le capital, Paris, Bd. 1, S. 5f.; Foucault (1967/69): Wer sind Sie, Professor Foucault? (Che cos’è Lei Professor Foucault? In: Paolo Caruso, Conversazioni con Claude Lévi-Strauss, Michel Foucault, Jacques Lacan, Milano, S. 91-131), hier zitiert nach Foucault (1994): Schriften in vier Bänden. Dits et écrits, Bd. 1: 1954-1969, Frankfurt/M. 2001, S. 772 (Dits et écrits. 1954-1988. Tome 1: 1954-1969, Paris)). Lacan fühlte sich nie richtig zugehörig. In die von Foucault ausgelöste Debatte griff von dieser Seite vor allem Georges Canguilhem ein ((1967): Mort de l’homme ou équisement du cogito? In: Critique 242, S. 599-618).

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Auf die Spitze getrieben hatte Foucault den Streit,10 der von Medien und Verlagen massiv befeuert wurde.11 In zahlreichen Interviews und Statements dis-

10 Die oben skizzierte Zuordnung der Autoren zu den beiden Lagern gelingt übrigens nur in dieser speziellen Frage, die sich um die historisch-praktische Rolle des Individuums dreht. Sobald es um theoretisch anders gelagerte, oder gar politische oder ideologische Fragen geht, ändern sich die Frontstellungen zum Teil schlagartig. Insbesondere was den Marxismus und die Interpretation der marxschen Schriften betrifft, waren sich Autoren wie Sartre, Garaudy und Lefebvre alles anders als einig. Auch Foucault und Althusser waren diesbezüglich gänzlich anderer Auffassung. Zur Schwierigkeit einer systematischen Rekonstruktion der damaligen Auseinandersetzungen vgl.: Wolf Lepenies (1970): Lévi-Strauss und die strukturalistische Marx-Lektüre. In: ders./Hanns Henning Ritter (Hg.), Orte des wilden Denkens. Zur Anthropologie von Claude Lévi-Strauss, Frankfurt/M., S. 160ff. 11 Nicht nur die zum Teil bereits erwähnten Theoriezeitschriften überboten sich mit Sondernummern über das Thema (Les Temps modernes 246, 1966, und 248, 1967; Esprit 360, 1967; La Pensée 135, 1967) Auch die Tages- und Magazinpresse schürte kräftig mit. „La fin de l’humanisme“ titelte „Le Monde“ am 9. Juni 1966 über eine von Jean Lacroix verfasste Rezension von „Les mots et les choses“ (zitiert nach Dosse (1991), a.a.O., S. 402). „La plus grande révolution depuis l’existentialisme“, schrieb Madeleine Chapsal in „L’Express“ vom 23. Mai 1966 über das Buch (ebd.). François Mauriac widmete einen Teil seiner Kolumne „Block-Notes“ im „Figaro littéraire“ vom 15. September 1966 dem Antihumanismus von Foucault und ätzte: „Sie machen mir Sartre sympathisch“ (zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 1, Chronologie S. 42). Der „Figaro littéraire“ war sich sogar nicht einmal zu schade, ein Gespräch mit Jacques Lacan mit der Zeile „Sartre contre Lacan“ zu überschreiben, obwohl dieser sich trotz hartnäckiger Fragen nicht auf Sartre hetzen ließ. Lacan hielt sich vornehm zurück und insistierte darauf, es gebe weder eine einheitliche „strukturalistische“ Denkrichtung, noch sei es sinnvoll, seine Arbeiten mit dem ganz anders ausgerichteten Werk von Sartre in Beziehung zu setzen (Le Figaro littéraire, 29. Dezember 1966, S. 4). Berührungspunkte sowie die Abgrenzungen seines Ansatzes zu Sartres existentieller Psychoanalyse hatte er im Übrigen bereits Ende der 40er Jahre knapp umrissen. Vgl. Jacques Lacan (1949): Le stade du miroir comme formateur de la fonction du Je telle qu’elle nous est révélée dans l’expérience psychanalytique. In: ders. (1966), a.a.O., S. 95f. Derweil durfte Simone de Beauvoir im Le-Monde-Interview vom 23. Dezember 1966 gegen Foucault sticheln (vgl. Didier Eribon (1994): Foucault et ses contemporaines, Paris, S. 170). Anlass des Gesprächs war das Erscheinen ihres Romans „Les belles images“, in dem ein dekadentes, konsumversessenes Pariser Bürgertum karikiert wird. An einer Stelle des Romans schildert de Beauvoir eine konfuse

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tanzierte er sich ausdrücklich von Sartre, dessen Denken er als überholt und als in der Theorietradition des 19. Jahrhunderts verwurzelt denunzierte.12 Sich selbst stellte Foucault in die Reihe der aus seiner Sicht wirklich modernen, nämlich „strukturalistischen“ Denker: Jacques Lacan, Claude Lévi-Strauss, Louis Althusser. Zur Eskalation führten vor allem zwei Interviews. Im Mai 1966 nahm Foucault respektvoll Abschied vom großen Philosophen Sartre, dem letzten Humanisten, und seiner Generation, dem Kreis um die Zeitschrift „Les Temps modernes“.13 Einen Monat später setzte er noch einen drauf, indem er Sartre frontal angriff: „Die ‚Critique de la raison dialectique‘, ist der großartige, pathetische Versuch eines Menschen des 19. Jahrhunderts, das 20. Jahrhundert zu denken.“14 Sartre antwortete nicht minder polemisch. Foucault negiere die Geschichte und die menschliche Praxis. Alles in allem verbreite er unter dem Deckmantel der Wissenschaft eine neue Ideologie – als letztes Bollwerk gegen den Marxismus: „Derrière l’histoire, bien entendu, c’est le marxisme qui est visé. Il s’agit de constituer une idéologie nouvelle, le dernier barrage que la bougeoisie puisse encore dresser contre Marx.“15 Trotz der zum Teil schrillen Töne und der Schärfe der Polemik – Foucault reagierte noch 1969 in einer Fußnote in der „Archéologie du savoir“ auf eine Beschimpfung Sartres16 – war der Humanismusstreit mehr als ein Hahnenkampf

Unterhaltung, in der nebenbei über das Ende des Menschen und des Humanismus geplappert wird. Vgl. de Beauvoir (1966): Les belles images, Paris, S. 130ff: „[…] JeanCharles et Dufrène sont d’accord (ils ont les mêmes lectures), l’idée d’homme est à réviser, et sans doute va-t-elle disparaître, c’est une invention du XIXe siècle, aujourd’hui périmée […]“ (ebd., S.131). 12 Vgl. Dosse (1991) a.a.O., S. 403. 13 Vgl. Michel Foucault (1966a): Gespräch mit Madeleine Chapsal. (Entretien avec Madeleine Chapsal. In: La Quinzaine littéraire 5, 16. Mai 1966), hier zitiert nach Michel Foucault (1994), a.a.O., Bd.1, S. 664. 14 Michel Foucault (1966b): Ist der Mensch tot? (L’homme est-il-mort? In: Arts et Loisier, no 38, 15.-21. Juni 1966), hier zitiert nach Michel Foucault (1994), a.a.O., Bd. 1, S. 699. 15 Jean-Paul Sartre (1966): Jean-Paul Sartre répond. In: L’ Arc, a.a.O., S. 88. Ich zitiere aus dem französischen Original, da das Interview bislang nicht komplett ins Deutsche übersetzt wurde. Teilübersetzungen finden sich in: Alternative 54/1967, S. 129-133, sowie in Günther Schiwy (1984): Der französische Strukturalismus. Mode – Methode – Ideologie, Reinbek bei Hamburg, S. 212-217. 16 Sartre hatte Foucault vorgeworfen, er sei nicht in der Lage, Geschichte als dynamischen Prozess zu begreifen und dabei polemisch formuliert: „Mais il remplace

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unter Pariser Intellektuellen, der sonst nicht einmal eine Fußnote in der Philosophiegeschichte verdient hätte. Aus der Distanz von heute aus betrachtet, ging es im Kern der Auseinandersetzung um die prinzipielle Frage nach dem theoretischen Ausgangspunkt für eine kritische Gesellschaftstheorie. Denn was ihr politisch-praktisches Engagement anging, waren Foucault und Sartre nicht sonderlich weit auseinander. Zeitlebens haben sich beide für die Rechte der Schwachen und Unterdrückten eingesetzt. Sartres leidenschaftliche Parteinahme gegen die imperialistischen Kriege in Algerien und Vietnam, sein Protest gegen die sowjetischen Interventionen in Ungarn und der ČSSR, sein kritisch-solidarischer Einsatz für die protestierenden Arbeiter und Studenten 1968 oder seine Verurteilung der Haftbedingungen der RAF-Häftlinge in Stuttgart-Stammheim unterscheiden sich auf der normativen Ebene nicht wesentlich von Foucaults politischer Arbeit in Selbsthilfegruppen der gesellschaftlich Ausgegrenzten, der Homosexuellen, der Psychiatrie- und Gefängnisinsassen, der Unterstützung von Hilfsaktionen für vietnamesische Boat-People oder dem öffentlichen Protest gegen das Kriegsrecht in Polen und das Verbot der Gewerkschaft Solidarność. Beide führten in der politischen Öffentlichkeit einen konsequenten, moralisch imprägnierten Kampf um den Schutz der Würde des Individuums, für Selbstbestimmung und für die Verbesserung der Lebensbedingungen konkreter Menschen. Was allerdings die theoretische Begründung dieses Engagements angeht, könnten die Ansätze kaum gegensätzlicher sein. Foucault positioniert sich grundsätzlich gegen Sartres Konzeption einer historisch-strukturellen Anthropologie, wie sie dieser seit der „Critique de la raison dialectique“17 vertrat. Sartres konkretem Humanismus, den dieser aus der Kritik am klassisch-bürgerlichen Humanismus entwickelte, indem er versuchte, eine Gesellschaftstheorie zu

le cinéma par la lanterne magique, le mouvement par une succession d’immobilités“ (Sartre (1966), a.a.O., S. 87). Foucault reagiert darauf drei Jahre später: „Muß man die letzten Müßiggänger darauf hinweisen, daß ein ‚Tableau‘ (und wahrscheinlich in allen möglichen Bedingungen des Wortes) formal eine ‚Serie von Serien‘ ist? Auf jeden Fall ist es kein kleines festes Bild, das man vor eine Laterne stellt – zur Enttäuschung der kleinen Kinder, die in ihrem Alter freilich die Belebtheit des Kinos vorziehen.“ (Michel Foucault (1969): Archäologie des Wissens, Frankfurt/M. 1981, S. 20, Anmerkung (L’ Archéologie du savoir, Paris)). 17 Vgl. Jean-Paul Sartre (1960): Kritik der dialektischen Vernunft. Theorie der gesellschaftlichen Praxis, Reinbek bei Hamburg, 1967; sowie ders. (1960a): Fragen der Methode, Reinbek bei Hamburg 1999 (Critique de la raison dialectique, Tome I: Théorie des ensembles pratiques, Paris).

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entwerfen, die von einem individuellen Praxisbegriff ausgeht, setzte Foucault einen theoretischen Antihumanismus entgegen, der für die Gesellschaftsanalyse den konkreten Menschen nicht nur methodisch einklammert und damit jeglichen Versuchen einer anthropologisch fundierten Begründung von Gesellschaftskritik eine Absage erteilt.18 Foucault blickt gewissermaßen von außen auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und versucht subjektübergreifende Regelsysteme und Herrschaftsstrukturen als Machtmechanismen zu beschreiben, während Sartre von innen, aus der Perspektive des entfremdeten Individuums eine Gesellschaftskritik zu formulieren versucht. Vom jeweiligen Selbstverständnis der Kontrahenten schließen sich diese Theorieansätze gegenseitig aus. Foucault verdinglicht in den Augen Sartres den Kapitalismus, weil er nicht in der Lage sei, die Dynamik der Geschichte und die Logik gesellschaftsverändernder Praxis zu erfassen. Sartre ist aus der Perspektive Foucaults nicht fähig, die Logik des Systems zu denken, weil er der Ideologie des Menschen aufsitze und nicht begreife, dass das Individuum nicht mehr als ein Systemeffekt sei. Insofern hatte der Marxist Lucien Sève Recht, als er schrieb: „Le débat entre structuralisme et philosophie ‚humaniste‘ est donc, si l’on peut dire, structuralement sans solution, puisque chaque doctrine est à la fois et sans réplique réfutée et réfutante; situation d’ailleurs classique dans l’histoire de la pensée, mais qui atteste sans l’ombre d’un doute que chacune des deux est prisonnière de limitations idéologiques.“19

Ob die Debatte deshalb für das Selbstverständnis kritischer Gesellschaftstheorie zwangsläufig unergiebig war, ist damit allerdings noch nicht entschieden. Die Arbeiten von Sartre und Foucault verhalten sich unter gesellschaftstheoretischen Gesichtspunkten gewissermaßen spiegelverkehrt: Sartre denkt aus der Teilnehmerperspektive. Sein Ausgangspunkt ist die individuelle Praxis des menschlichen Subjekts: „Der Bereich der Philosophie ist der Mensch, das heißt, jedes andere Problem kann nur in bezug auf den Menschen erfaßt werden. [...] Alles, was die Welt in philosophischer Hin-

18 „Les mots et les choses“ lässt sich in gewisser Hinsicht durchaus als ein Buch gegen Sartre lesen. Offenbar war die Urfassung des Textes mit zahlreichen direkten Angriffen gegen Sartre gespickt, die allerdings für die Druckversion entfernt wurden. Vgl. Eribon (1991), a.a.O., S. 221. 19 Lucien Sève (1971): Sur le structuralisme. In: ders., Structuralisme et dialectique, Paris 1984, S. 137.

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sicht betrifft, ist die Welt, in der sich der Mensch befindet, und zwar notwendigerweise die Welt, in der der Mensch in bezug auf den Menschen ist, der sich in der Welt befindet.“20

Wenn es eine Logik des gesellschaftlichen Zusammenhangs gibt, dann ist sie für ihn nur aus der Perspektive der Individuen verstehbar. Wenn es einen Maßstab der Gesellschaftskritik gibt, dann findet Sartre ihn dort. Foucault beansprucht dagegen, die Beobachterperspektive einzunehmen: „Wir haben die Generation Sartres gewiss als eine mutige, großzügige Generation empfunden, die dem Leben, der Politik, der Existenz mit großer Leidenschaft begegnete… Aber wir haben etwas anderes entdeckt, eine andere Leidenschaft: die Leidenschaft für den Begriff und für das ‚System‘, wie ich es einmal nennen möchte…“21

Sartres praxisphilosophische Fragen nach einem Subjekt und damit nach einem Sinn der Geschichte stellen sich für ihn nicht mehr. Foucault interessiert sich für die Funktionslogik der systemischen Mechanismen, durch die der Spielraum menschlichen Handelns vorgegeben ist. Lucien Sèves Versuch, diese gegensätzlichen Zugangsweisen als allein aus ideologischen Gründen beschränkte abzutun, greift aber zu kurz, handelt es sich doch für die Fragestellung einer kritischen Gesellschaftstheorie um ein methodisches Problem. Beide Ansätze lassen sich – trotz der scheinbar unüberwindbaren Differenzen, wie sie im Humanismusstreit zu Tage getreten sind, und trotz der auf den ersten Blick konzeptionellen Unvereinbarkeit – als jeweils konsequente Versuche begreifen, eine der beiden Linien eines Programms kritischer Gesellschaftstheorie zu verfolgen, die im Zuge des 20. Jahrhunderts schrittweise auseinandergetreten sind und sich heute zum Teil in abgewandelten Formen in der Opposition von Handlungstheorie und Systemtheorie wiederfinden.22 Die Ausgangsthese dieser Arbeit ist, dass sich Sartre und Foucault als zwei extreme Protagonisten lesen lassen, die jeweils eines der beiden Momente stark machen, die in der ursprünglichen Konzeption kritischer Gesellschaftstheorie in der Nachfolge von Marx einmal als unauflöslich miteinander verschränkt gegolten haben:

20 Jean-Paul Sartre (1966a): Die Anthropologie. In: ders., Mai ’68 und die Folgen. Reden, Interviews, Aufsätze 2, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 78 (L’anthropologie. Cahiers de philosophie 2, 1966). 21 Foucault (1966a), a.a.O., Bd. 1, S. 664. 22 Vgl. Jürgen Habermas (1981): Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/ Main, dritte durchgesehene Auflage 1985, Bd. II, S. 302f.

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in der Einheit von Emanzipationstheorie und Gesellschaftsanalyse.23 Eine kritische Gesellschaftstheorie also, die für sich beansprucht, wissenschaftliche Diagnose des gesellschaftlichen Seins als Systemzusammenhang einerseits zu sein und mit Rücksicht auf die durch Unterdrückungs- und Missachtungserfahrungen gespeisten Ansprüche und Hoffnungen der vergesellschafteten Individuen andererseits, konkrete Möglichkeitsbedingungen gesellschaftlicher Transformation angeben zu können. Diesen theoriestrategischen Ansatz, der einmal den Kern der marxschen Kapitalismustheorie bildete, müsste eine zeitgemäße Gesellschaftstheorie weiterverfolgen können, so sie sich als kritisch versteht. Dabei darf sie sich freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein solches Unterfangen, und nicht nur weil sich die durch einen blinden Geschichtsobjektivismus motivierte marxsche Revolutionstheorie historisch längst erledigt hat, heutzutage weitaus bescheidenere Ambitionen haben muss. Angesichts eines zum globalen System erwachsenen kapitalistischen Weltmarktes und mangels theoretisch wie praktisch tragfähiger Alternativen muss eine kritische Gesellschaftstheorie zumindest derzeit auf universale Entwürfe verzichten. So wie es aussieht, hat sie sich zurzeit damit zu begnügen, eher bescheidenere Absichten zu formulieren, in dem sie die berechtigten Geltungsansprüche gesellschaftlicher Akteure und Gruppen ernst nimmt und zugleich in der Analyse gesellschaftlicher Zusammenhänge punktuelle Veränderungsmöglichkeiten auszumachen sucht. Um die kritische Traditionslinie weiterverfolgen zu können, muss eine moderne Theorie der Gesellschaft aber selbstverständlich auch den heutigen theoretischwissenschaftlichen Standards genügen. Einen Beitrag dazu können Versuche liefern, ältere Ansätze kritisch zu rekonstruieren, um auf diesem Weg ihr Potenzial für eine moderne Gesellschaftstheorie zu überprüfen. Das ist das Vorhaben dieser Arbeit, die beim Humanismusstreit zwischen Sartre und Foucault von 1966 ihren Ausgang nimmt.

Facetten der Debatte zwischen Strukturalismus und Existentialismus: Althusser und Lévi-Strauss gegen Sartre Die Brisanz der Humanismusdebatte in Frankreich ist nur im historischen Kontext der 1960er Jahre zu verstehen. Die Anziehungskraft des seit Kriegsende – vor allem durch die Person Sartres – dominierenden Existentialismus als intel-

23 Vgl. Axel Honneth (1989): Logik der Emanzipation. Zum philosophischen Erbe des Marxismus. In: Hans Leo Krämer/Claus Leggewie (Hg.), Wege ins Reich der Freiheit. André Gorz zum 65. Geburtstag, Berlin, S. 86-106.

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lektuelle Mode begann zu schwinden. Das Pathos des Engagements hatte seinen rebellischen Reiz eingebüßt. Dafür war seit Mitte der 50er Jahre durch den Strukturalismus eine intellektuelle Gegenströmung entstanden, die sich auf die Sprachtheorie von Ferdinand de Saussure24 berief und mit dem Ethnologen Claude Lévi-Strauss ihren ersten Vertreter fand, der de Saussures als strukturale Linguistik gedeutete Analysemethode auf gesellschaftliche Phänomene übertrug.25 Etwa von Anfang der 60er Jahre an hatte der Strukturalismus den Existentialismus als intellektuelle Mode abgelöst.26 Hinzu kommt, und das ist zum Verständnis des politisch-ideologischen Hintergrundes der theoretischen Auseinandersetzung von größerer Bedeutung, die Rolle der Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF). Die einst stramm stalinistisch orientierte KPF sah sich nach dem Tod Stalins und insbesondere nach der Geheimrede von Chruščev auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956, der darauf folgenden Liberalisierung im Einflussbereich der Sowjetunion und der kurz danach erfolgten Niederschlagung der Ungarischen Revolution zu manch abenteuerlichen ideologischen Manövern genötigt. Sartre, der anfangs treu zur KP stand, hatte nach dem Einmarsch in Ungarn 1956 seine kritische Gefolgschaft aufgekündigt.27 Maurice Merleau-Ponty war schon gegen Ende der 40er Jahre in seiner Streitschrift „Humanisme et terror“28 zum Kommunismus im Allgemeinen und zur KPF im Besonderen auf Distanz gegangen. In diesem politischen Zusammenhang und insbesondere nach der ideologischen Verunsicherung durch die Enthüllung der stalinschen Verbrechen auf dem XX. Parteitag war es innerhalb der französischen KP zu Diskussionen über die parteigültige Interpretation des marxschen Werkes gekommen. Dabei hatte sich vor allem Roger Garaudy hervorgetan. Garaudy, damals Mitglied des Zentral-

24 Vgl. Ferdinand de Saussure (1915): Cours de linguistique générale, Lausanne; hier zitiert nach der Ausgabe Paris 1972. 25 Über die Rezeption von de Saussure im Strukturalismus vgl. auch: Manfred Frank (1983): Was ist Neostrukturalismus?, Frankfurt/M., insbesondere S. 40ff. 26 Vgl. Schiwy (1984), a.a.O., S. 13ff; Jean-François Lyotard (1989): Eine subtilere Form des Widerstands … Ein Gespräch mit Mathias Richter. In: Politik und Ästhetik am Ende der Industriegesellschaft. Zur Aktualität von Herbert Marcuse. Sonderheft TÜTE – Tübinger Termine, Tübingen, September 1989, S. 27ff. 27 Vgl. Jean-Paul Sartre (1956/57): Das Gespenst Stalins. In: ders., Krieg im Frieden 2. Reden, Polemiken, Stellungnahmen 1952-1956, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 215332 (Le fantôme de Stalin. In: „Les temps modernes 129/130/131). 28 Vgl. Maurice Merleau-Ponty (1947): Humanismus und Terror. 2 Bde., Frankfurt/M. 1966 (Humanisme et terreur, Paris).

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komitees der Partei, interpretierte das Phänomen des Stalinismus nicht nur als Abweichung von der reinen Lehre des Marxismus-Leninismus, sondern forderte einen veränderten Umgang mit den Werten des bislang in der Partei als bürgerlich verteufelten Humanismus. Konsequenterweise begann Garaudy in der zweiten Hälfte der 50er Jahre sich sowohl mit dem Existentialismus Sartres als auch mit christlich motivierten phänomenologischen und existenzphilosophischen Ansätzen auseinanderzusetzen und versuchte diese zu integrieren.29 Garaudys Annäherung des Marxismus ging einher mit dem Plädoyer für einen „marxistischen Humanismus“.30 In diesem Klima allmählicher theoretischer Beweglichkeit innerhalb der KPF formulierte Louis Althusser, der sich ebenfalls vorsichtig vom Parteidogmatismus absetzte, die Gegenposition eines theoretischen Antihumanismus. Althussers symptomatische Marx-Lektüre verwarf die anthropologisch argumentierenden Frühschriften, auf die sich Garaudy unter anderem berief, als noch dem hegelschen Idealismus verhaftet, konstatierte einen wissenschaftstheoretischen Bruch im Denken von Marx und schrieb erst dem Spätwerk wahrhaft wissenschaftlich-revolutionären Charakter zu.31 Für Althusser gehörte jede Art von philosophisch begründetem Humanismus ins Reich der Ideologie.32 Ungeachtet einer politisch-strategischen Bedeutung, die Althusser ihm innerhalb des Klassenkampfes durchaus zubilligte, beharrte er darauf, dass der Humanismus kein theoretisch tragfähiges Konzept für eine marxistische Gesellschaftstheorie sein könne.33 Althusser grenzt somit – ähnlich wie Foucault, jedoch durch ein anderes Erkenntnisinteresse motiviert, nämlich einer wissenschaftlichen Rechtfertigung

29 Vgl. Roger Garaudy (1960): Perspectives de l’homme. Existentialisme, Pensée catholique, Marxisme, Paris. Dies führte unter anderem 1962 zu einer öffentlichen Diskussion zwischen Garaudy, Sartre, Jean Hyppolite, Jean-Pierre Vigier und Jean Orcel. Vgl. Existentialismus und Marxismus. Eine Kontroverse zwischen Sartre, Garaudy, Hyppolite, Vigier und Orcel, Frankfurt/M. 1966 (Marxisme et Existentialisme, Paris 1962). 30 Zu den Parteitaktischen Hintergründen dieses theoretischen Manövers vgl. Bruno Schoch (1980): Marxismus in Frankreich seit 1945, Frankfurt am Main/New York, S. 208ff. 31 Vgl. Althusser (1965), a.a.O., hier zitiert nach der Ausgabe Paris 1986, S. 27. 32 Vgl. ebd., S. 233f, insbesondere S. 234: „La rupture avec toute anthropologie ou tout humanisme philosophique n’est pas un détail secondaire: elle fait un avec la découverte scientifique de Marx.“ (Hervorhebung im Originaltext). 33 Vgl. hierzu auch: Étienne Balibar (1991): Tais-toi encore, Althusser! In: ders., Écrits pour Althusser, Paris, S. 71ff.

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des Marxismus – den Bereich der Theorie klar von jeglichen an normativen Maßstäben orientierten Vorstellungen von Humanismus ab. Damit war die Humanismusdebatte auch innerhalb der KPF eröffnet, die allerdings offiziell schon nach kurzer Zeit auf einer Sitzung des Zentralkomitees der Partei durch einen Formelkompromiss beendet wurde.34 Aus der historischen Distanz betrachtet, ist an dieser Debatte das jeweilige theoretische Verständnis von Gesellschaft aufschlussreich. Die politisch-taktischen Interessen, die die Kontrahenten aufgrund der parteiinternen Machtverhältnisse verfolgt haben mögen, und der ideologische Gehalt der einzelnen Positionen, der weitgehend der politischen Binnenlogik kommunistischer Parteien geschuldet ist, können dafür außer Acht gelassen werden. Garaudy versuchte eine theoretische Öffnung des Parteimarxismus, um im Dialog mit christlichen und existentialistischen Ansätzen die Rolle der individuellen Praxis aufzuwerten. Seine Problemstellung war – neben taktischen Erwägungen –, wie ein politisches Bündnis mit dem als fortschrittlich erachteten Teil des Bürgertums erreicht werden könnte, auf theoretisch-praktischer Ebene ganz klar in der Dimension des Handelns im historischen Kontext des Klassenkampfes gelagert. Althusser hingegen beanspruchte mit seiner Marx-Lektüre, das System zu denken: die gesellschaftliche Totalität als „[u]n tout complexe structuré ‚déjà donné‘“.35 Die konkrete menschliche Praxis kommt auf der so zugeschnittenen Analyseebene nicht vor. Sein theoretischer Zugriff war auf den gesellschaftlichen Regelmechanismus in seiner konkreten historischen Form angelegt. Das marxsche Spätwerk bot ihm hierfür das theoretische Rüstzeug, das er nicht allein als geeignet für die Analyse der Logik kapitalistischer Warenproduktion ansah. Es sollte auch zur Beschreibung des Strukturzusammenhanges von ökonomischer Basis und ideologischem Überbau sowie der Dynamik des Klassenkampfes dienen.36 Für

34 Zur Genese der Frontlinien im Humanismusstreit innerhalb der KPF und den politischen Hintergründen vgl. Robert Geerlandt (1978): Garaudy et Althusser. Le débat sur l’humanisme dans le parti communiste français et son enjeu, Paris. Die offizielle Formulierung der Partei, die nach der ZK-Sitzung von Argenteuil im März 1966 verkündet wurde, lautete: „Le marxisme est l’humanisme de notre temps, parce qu’il fonde sa démarche sur une conception rigoureusement scientifique du monde.“ Zitiert nach Geerlandt, ebd., S. 36. 35 Vgl. Althusser (1965), a.a.O., S. 198ff. 36 Es soll an dieser Stelle nicht erörtert werden, inwieweit Althussers Marx-Interpretation tatsächlich durch die Quellen gedeckt ist. Dazu gibt es zahlreiche Arbeiten, die zum Teil zu recht unterschiedlichen Resultaten kommen. Vgl. etwa Alfred Schmidt (1969): Der strukturalistische Angriff auf die Geschichte. In: ders. (Hg.), Bei-

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Althusser erschien das marxsche Analyseinstrumentarium offenbar sogar noch auf nichtkapitalistische Gesellschaften anwendbar. Das schlug sich nicht zuletzt in seiner vehementen Ablehnung des seitens der Vertreter des ‚marxistischen Humanismus‘ akzeptierten Begriffs des ‚Personenkultes‘ nieder, den er in einer Auseinandersetzung mit dem britischen Marxisten John Lewis als unwissenschaftlich und von daher untauglich für die Analyse des Stalinismus abqualifizierte.37 Eine wirklich marxistische Herangehensweise an das Phänomen des Stalinismus habe hingegen neben dem gesamten Überbau der sowjetischen Gesellschaft inklusive Partei und Staat auch die ökonomische Basis samt den Produktionsverhältnissen, Klassenverhältnissen und den aktuellen Formen des Klassenkampfes zu durchleuchten.38 Althussers methodischer Zugang ist die Beobachterperspektive. Eine theoretische Herangehensweise zum Verständnis gesellschaftlicher Prozesse über ein wie auch immer konzipiertes historisches Subjekt fällt unter sein Verdikt „Humanismus“ als „bürgerlicher Ideologie“. Seine Argumentation in der Antwort auf Lewis zielte im Grunde auf dessen „Maître inavoué“,39 wie er schreibt. Der theoretische Gegner hieß weder Lewis noch Garaudy, sondern, und trotz dessen

träge zur marxistischen Erkenntnistheorie, Frankfurt/M., S. 194-265; ders. (1971): Geschichte und Struktur. Fragen einer marxistischen Historik, München; Urs Jaeggi (1976): Theoretische Praxis. Probleme eines strukturalen Marxismus, Frankfurt/M.; Axel Honneth (1977): Geschichte und Interaktionsverhältnisse. Zur strukturalistischen Deutung des Historischen Materialismus. In: Jaeggi/ders. (Hg.), Theorien des Historischen Materialismus, Frankfurt/M., S. 405-449. Zur Frontstellung der strukturalistischen und hegelianischen Tradition innerhalb des Westlichen Marxismus vgl. auch: Mathias Richter (1989): György Lukács et Louis Althusser: deux interprétations de Marx. Unveröffentlichte Maîtrise de philosophie, Paris-Nanterre. Für den hier skizzierten Zusammenhang genügt die Darstellung des methodischen Anspruchs von Althussers theoretischem Antihumanismus. 37 „Parce que la ,critique des erreurs‘ de Staline (dont certaines se sont – et en quel nombre! – avérées des crimes) a été conduite d’une manière étrangère au marxisme.“; Louis Althusser (1972): Réponse à John Lewis, Paris, S. 65. 38 Vgl. ebd., S. 65f. Es muss an dieser Stelle offenbleiben, was ein so angelegtes Theorieprogramm zum Verständnis des Stalinismus beitragen könnte und vor allem, was dessen kritischen Gehalt angeht. Dazu wäre neben einem methodischen Vergleich mit konkurrierenden Theorieansätzen eine kritische Bewertung der historischen Fakten notwendig. Auch die parteiinterne ideologische und machtpolitische Konstellation müsste vermutlich berücksichtigt werden. 39 Vgl. ebd., S. 43.

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radikaler Distanzierung vom bürgerlichen Humanismus, Jean-Paul Sartre, „le philosophe de la ‚liberté-humaine‘“.40 Für Althusser gab es weder einen Menschen als entfremdetes Wesen41 noch daraus zu folgernde humanistische Werte, anhand derer sich eine Entwicklungslogik der Geschichte skizzieren ließe. Die Geschichte war für ihn ein „Prozess ohne Subjekt noch Ziel“.42 Der Humanismus verkörperte auf gesellschaftstheoretischer Ebene nichts anderes als die ideologische Kehrseite eines bürgerlichen Ökonomismus.43 Damit meinte Althusser, dass von der bürgerlichen, der hegelschen Dialektik sich verpflichtet fühlenden Gesellschaftstheorie gewissermaßen analog zur Konstruktion eines Motors der Geschichte aus einem ideologischen Wesensbegriff vom Menschen, ein Wesen des gesellschaftlichen Seins aus den Zwängen der Ökonomie abgeleitet werde. Aus der Perspektive des theoretischen Antihumanismus hingegen gibt es keine frei handelnden Subjekte, sondern lediglich nach den vorgegebenen Regeln einer Gesellschaftsformation Agierende: „[...] considérés comme agents, les individus humains ne sont pas des sujets ‚libres‘ et ‚constituants‘ au sens philosophique de ces termes. Ils agissent dans et sous les déterminations des formes d’existence historique des rapports sociaux de production et de reproduction […].“44

Sartre reagierte auf Althussers seit den frühen 60ern immer wieder formulierte Angriffe vergleichsweise moderat. Obwohl es bereits Anfang der 60er auf einer öffentlichen Veranstaltung zu einem äußerst harten verbalen Schlagabtausch zwischen Sartre auf der einen und Althusser und seinem Schülerkreis auf der anderen Seite gekommen war, bei dem es um die Möglichkeit historischer Praxis und die Rolle des Subjekts ging,45 hielt sich Sartre – anders als in der Auseinandersetzung mit Foucault – ziemlich zurück. 1969 gestand er Althusser

40 Vgl. ebd. 41 Vgl. ebd., S. 97. 42 Vgl. ebd., S. 91. 43 Vgl. ebd., S. 79. 44 Ebd., S. 92 (Hervorhebungen i.O.). 45 Vgl. Annie Cohen-Solal (1985): Sartre. 1905-1980, Paris, S. 747. Cohen-Solal zufolge fand die Debatte, von der es keine Dokumentation gibt, 1960 oder 1961 in der Pariser École Normale Supérieure statt.

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sogar zu, „durchaus originale Forschungen“ zu betreiben.46 An der Sache änderte dies freilich nichts. Sartre stellte den methodischen Zugang Althussers zwar nicht prinzipiell infrage, beharrte aber immer darauf, dass dadurch höchstens eine Zustandsbeschreibung der Gesellschaft geleistet werden könne. Die Reichweite seiner Theorie sei insofern begrenzt, in ihrer Totalität könne die Gesellschaft so nicht erfasst werden. Althusser, so Sartre bereits drei Jahre zuvor in seinem Generalangriff gegen den Strukturalismus, sei nicht in der Lage, die Praxis des Individuums begrifflich zu erfassen und könne deshalb nur starre Strukturen, aber nicht die Dynamik der Geschichte beschreiben, weshalb ihm das grundlegende Spannungsverhältnis zwischen Mensch und Struktur, zwischen der Bedingtheit des Menschen durch die Struktur und dem Überschreiten derselben durch den Menschen entgleite: „Mais Althusser ne voit pas qu’il y a une contradiction permanente entre la structure practico-inerte et l’homme qui se découvre conditionné par elle.“47 Fast parallel zu der auf das marxistische Terrain abgestellten Debatte mit Althusser entwickelte sich eine andere Facette des Humanismusstreites über den methodischen Status der Anthropologie. Auch gegenüber dieser von Claude Lévi-Strauss Anfang der 60er Jahre eröffneten Polemik verhielt sich Sartre, der in der „Critique de la raison dialectique“ an mehreren Stellen konstruktiv auf Lévi-Strauss’ frühe Schrift über „Les structures élémentaires de la parenté“ einging,48 noch eher zurückhaltend und versöhnlich.49 Im Schlusskapitel von „La

46 Vgl. Jean Paul Sartre (1969): Das Risiko der Spontaneität, die Logik der Institution. In: Rossana Rossanda: Über die Dialektik von Kontinuität und Bruch, Frankfurt/M. 1975, S. 149. 47 Sartre (1966), a.a.O., S. 93. 48 Vgl. Claude Lévi-Strauss (1949): Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt/M. 1981 (Les structures élémentaires de la parenté, Paris); vgl. Sartre (1960), a.a.O., S. 112ff, 493, 510ff, 534, 538, 697f. 49 Eine Ausnahme stellt eine Interviewpassage aus dem Jahr 1965 dar, in der Sartre gegen Lévi-Strauss offen polemisiert, wenn er sagt: „Lévi-Strauss weiß nicht, was das ist, dialektisches Denken, er weiß es nicht, und er kann es auch gar nicht wissen. Wer schreibt, ‚die Dialektik dieser Dichotomie‘ ist natürlich ganz unfähig, ein dialektisches Denken zu verstehen.“ Und wenig später wirft er ihm sogar vor, „[…] daß er nicht begreift, was ich sagen will […]“. Vgl. Jean-Paul Sartre (1965): Der Schriftsteller und seine Sprache. Interview mit Pierre Verstraeten. In: ders., Was kann Literatur? Interviews, Reden, Texte 1960-1976, Reinbek bei Hamburg 1979, S. 117f (L’écrivain et sa langue. In: Revue d’esthétique 3/4, Juli/Dezember 1965).

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pensée sauvage“50 entwickelte Lévi-Strauss, ausgehend von einer Kritik an Sartres Unterscheidung von analytischer und dialektischer Vernunft, einen Frontalangriff auf dessen Konzeption des Zusammenhanges von menschlicher Praxis und Geschichte,51 indem er gleich zu Beginn klar machte: „[...] wir meinen, daß das letzte Ziel der Wissenschaft vom Menschen nicht das ist, den Menschen zu konstituieren, sondern das, ihn aufzulösen.“52 Lévi-Strauss sprach von den Relikten eines „transzendentalen Humanismus“, der noch an die „Äquivalenz zwischen dem Begriff der Geschichte und dem der Menschheit“ glaube.53 Anders als Althusser zog er jedoch die epistemologische Grenze zu einer vom Begriff des Menschen ausgehenden Gesellschaftstheorie nicht zwischen Ideologie und strenger Wissenschaft, sondern begnügte sich damit, Sartres historischstrukturelle Anthropologie quasi zum Gegenstand der eigenen ethnologischen Forschung zu erklären und sie ins Reich der Mythologie einzuordnen.54 Insofern ähnelt das Argument in gewisser Hinsicht dem Foucaults, der Sartres praxisphilosophischen Ansatz nur wenige Jahre später ins 19. Jahrhundert einordnen und von daher höchstens noch für wissenschaftshistorisch von Interesse halten wird. Dass Lévi-Strauss seine Humanismuskritik an der Frage des Verhältnisses von analytischer und dialektischer Vernunft ansetzt, ist freilich kein Zufall. Denn gerade hier zeigen sich die methodisch grundlegenden Differenzen. Weil Sartre die Welt vom Menschen her denkt, ist für ihn die analytische Vernunft insofern begrenzt, als sie sich in der reinen Beobachterperspektive auf die äußerliche Welt der Objekte richtet. Erst die dialektische Vernunft, die im Vollzug menschlicher Praxis die zeitliche Dimension des Objektes als sowohl hergestellt wie überschreitbar erfassen kann, weist der relativen Wahrheit der analytischen Vernunft ihren Ort innerhalb der Totalität.55 Insofern unterliegt der Geltungsbereich der dialektischen Vernunft aber zugleich auch einer Beschränkung. Sie umfasst lediglich den Bereich gesellschaftlich-historischer Praxis. Dialektik gibt es nur

50 Vgl. Lévi-Strauss (1962), a.a.O., hier zitiert nach: ders.: Das wilde Denken, Frankfurt/M. 1973, S. 282ff. 51 Es sei hier dahingestellt, inwieweit Lévi-Strauss Sartres Begrifflichkeit, ob willentlich oder nicht, grundlegend missversteht. Vgl. dazu Alfred Schmidt (1988): Lévi-Strauss versus Sartre. In: Traugott König (Hg.), Sartre. Ein Kongreß, Reinbek bei Hamburg, S. 302f. 52 Lévi-Strauss (1962), a.a.O., S. 284. 53 Vgl. ebd., S. 302. 54 Vgl. ebd., S. 287 (Anm.), 292f. 55 Vgl. Sartre (1960), a.a.O., S. 97f.

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dort, wo es handelnde Menschen gibt. Aus Sartres Sicht kann es deshalb keine Dialektik der Natur geben.56 Die Vorgehensweise von Lévi-Strauss ist genau umgekehrt. Auch er versteht die dialektische Vernunft als eine Erweiterung der analytischen. Gemeint ist damit aber etwas grundlegend anderes. Für ihn ist die dialektische Vernunft der Ausgangspunkt eines in gewisser Hinsicht an ein hermeneutisches Verfahren erinnernden Objektzuganges, indem der Ethnologe versucht, das Denken einer anderen Gesellschaft zu verstehen. Ziel dieser Operation ist aber nicht, und dies ist der Vorwurf gegenüber Sartre, eine Analogie zwischen der dialektischen Konstitution des Forschungsgegenstandes und einem vermeintlich dialektischen Zugang dieser untersuchten Mitglieder einer anderen Gesellschaft zu ihrer Welt herzustellen.57 In einer knappen Formulierung ausgedrückt: „[...] aus der Tatsache, daß jede Erkenntnis des Anderen dialektisch ist, folgt nicht, daß das Ganze des Anderen vollständig dialektisch ist.“58 Lévi-Strauss beansprucht, und damit versucht er die Binnenperspektive zu überschreiten, mithilfe eines analytischen Verfahrens die Regeln des untersuchten gesellschaftlichen Handelns zu rekonstruieren, indem er die jeweiligen Strukturelemente isoliert und deren logischen Zusammenhang in einem Modell wieder neu zusammensetzt, um so auf lange Sicht „eine allgemeine Form, [...] für die verschiedenen Äußerungen des sozialen Lebens zu finden [...]“.59 Lévi-Strauss verfährt gewissermaßen so, wie Roland Barthes die „strukturalistische Tätigkeit“ beschreibt.60 Es geht ihm gerade darum, die analytische Vernunft, die „einen beträchtlichen Platz in allen Gesellschaften einnimmt, [...] dort wiederzufinden“.61 Die Unterscheidung zwischen den Formen dialektischer und analytischer Vernunft hält Lévi-Strauss für gegenstandslos, da aus seiner Sicht jede Vernunft dialektisch ist.62 Die von ihm avisierte Erweiterung der analytischen Vernunft bedeutet demzufolge – genau entgegengesetzt zu Sartre – nicht deren Ergänzung und Überwindung

56 Vgl. ebd., S. 34f. 57 Vgl. Lévi-Strauss (1962), a.a.O., S. 288ff. 58 Ebd., S. 288. 59 Vgl. ders. (1958): Strukturale Anthropologie I, Frankfurt/M. 1967, S. 390f (Anthropologie structurale, Paris; Hervorhebung i.O.), vgl. auch ebd., S. 388. 60 Vgl. Roland Barthes (1963): Die strukturalistische Tätigkeit. In: Kursbuch 5, 1966, S. 191: „Das Ziel jeder strukturalistischen Tätigkeit sei sie nun reflexiv oder poetisch, besteht darin, ein ‚Objekt‘, derart zu rekonstituieren, daß in dieser Rekonstitution zutage tritt, nach welchen Regeln es funktioniert (welches seine ‚Funktionen‘ sind).“ 61 Vgl. Lévi-Strauss (1962), a.a.O., S. 290. 62 Vgl. ebd., S. 289.

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durch die dialektische, sondern in der Tat eine Ausweitung der analytischen Vernunft auf bislang unerkanntes Terrain. Unabhängig von den normativen Implikationen der Zivilisationskritik, die Lévi-Strauss mit dieser Herangehensweise betreibt – seine Humanismuskritik zielt indirekt sogar auf eine erweiterte, von einem Ethnozentrismus gereinigte Humanität63 –, methodisch wird hier beansprucht, die hermeneutisch-einfühlende Perspektive der individuellen Praxis zu verlassen und auf ein analytisches, mit den Mitteln der strukturalen Linguistik angereichertes Verfahren aus der Beobachterperspektive umzustellen, das auch noch in der Lage ist, den eigenen Standpunkt zu objektivieren.64 Das Erkenntnisziel ist, durch die formale Zergliederung mythischer Gebilde archaischer Gesellschaften universale Regeln der Austausch-, Verwandtschafts- und Kommunikationsbeziehungen herauszuarbeiten, um schließlich zu den allgemeinen Prinzipien menschlicher Denkformen zu gelangen. Der Gegensatz zu Sartre könnte nicht größer sein: Denken ist nicht Praxisvollzug, sondern beides ist erst auf der Basis objektiver Strukturen des psychischen Mechanismus des Menschen möglich. Und diese gilt es zu finden. Lévi-Strauss beansprucht sozusagen, die objektiven Bedingungen der Möglichkeit des sartreschen Praxisbegriffs aufzuweisen: „Wir bestreiten nicht, daß die Vernunft sich auf dem praktischen Feld entwickelt und wandelt: die Art und Weise, wie der Mensch denkt, ist der Ausdruck seiner Beziehungen zur Welt und zu den Menschen. Aber damit die Praxis als Denken gelebt werden kann, muß zunächst (in einem logischen und nicht historischen Sinn) das Denken existieren: seine Ausgangsbedingungen müssen also in der Form einer objektiven Struktur des psychischen Mechanismus und des Gehirns gegeben sein, ohne die es weder Praxis noch Denken geben würde.“65

Im Zentrum der strukturalen Anthropologie steht demzufolge nicht der Mensch, sondern das ihm vorgeordnete Regelsystem, durch das er überhaupt erst in die Lage versetzt wird, dass er handeln kann. Der Materialismus von Lévi-Strauss ist kein historischer, sondern ein logischer, der demzufolge anders als Sartre die Differenz von Natur und Kultur nicht aus ontologischen, sondern lediglich aus

63 Vgl. hierzu Axel Honneth (1987): Ein strukturalistischer Rousseau. Zur Anthropologie von Claude Lévi-Strauss. In: ders., Die zerrissene Welt des Sozialen. Sozialphilosophische Aufsätze, Frankfurt/M. 1990, S. 93-112. 64 Vgl. Lévi-Strauss (1958), a.a.O., S. 389. 65 Ders. (1962), a.a.O., S. 303f.

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methodologischen Gründen anerkennt.66 Der menschliche Geist ist ein Ding unter anderen in der Welt, an dessen Funktionsregeln sich sowohl ablesen lassen muss, was seine Natur ist, als auch wie er die „Struktur des Draußen“ in einer symbolischen Form veranschaulicht.67 Der Tod des Menschen ist für LéviStrauss, wie Alfred Schmidt folgerichtig schreibt, ein „[…] epistemischer Befund: das Ende seiner philosophisch begründeten Sonderstellung“.68 Wie bereits oben angedeutet, hat Sartre dem Strukturalismus immer eine relative Berechtigung eingeräumt, solange er sich der Grenzen seiner theoretischen Reichweite bewusst bleibt. „Je ne suis nullement hostile au structuralisme quand le structuraliste reste conscient des limites de la méthode“,69 so Sartre. Als Analysemethode der Humanwissenschaften ist er für ihn durchaus geeignet, den Ist-Zustand einer gesellschaftlichen Wirklichkeit zu beschreiben. Aus dieser Perspektive kann der Mensch als Untersuchungsgegenstand jeder Form von Anthropologie, also auch der strukturalen, in der Tat als ein Ding wie jedes andere konstituiert werden. So weit ist er mit Lévi-Strauss immer mitgegangen. Was Sartre ablehnt, ist ein methodischer Alleinvertretungsanspruch. Der Mensch in seiner Ganzheit geht darin nicht auf. Und deshalb beharrt er auf dessen Sonderstellung: „Der Mensch der Anthropologie ist Objekt, der Mensch der Philosophie ist Subjekt-Objekt.“70 Für Sartre kann sich die Theorie deshalb schon aus erkenntnistheoretischen Gründen nie damit begnügen, allein die herrschenden Strukturen zu beschreiben, unter deren Voraussetzungen der Mensch denkt und handelt. Das würde bedeuten, diese zu verdinglichen – ein Vorwurf, den er ganz ähnlich auch gegen Althusser formuliert hatte. Um verstehen zu können, wie diese Strukturen sich historisch verändern, ist es laut Sartre unerlässlich, beim konkreten Menschen anzusetzen: „L’homme est pour moi le produit de la structure, mais pour autant qu’il la dépasse.“71 Methodisch bedeutet dies zumindest aus der Perspektive der Philosophie: „L’analyse structurale devrait déboucher sur une compréhension dialectique.“72

66 Vgl. ebd., S. 284. 67 Vgl. ebd., S. 285 (Anm.). 68 Vgl. Schmidt (1988), a.a.O., S. 311. 69 Sartre (1966), a.a.O., S. 88. 70 Ders. (1966a), a.a.O., S. 78. 71 Ders. (1966), a.a.O., S. 90. 72 Ebd., S. 89.

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Foucault gegen Sartre: Das Erbe Heideggers Die knappe Darstellung der Auseinandersetzungen mit Althusser und LéviStrauss sollte auf analoge Konfliktlinien hinweisen. Trotz aller Unterschiede zwischen Althusser und Lévi-Strauss, nicht nur bezüglich des politischen und wissenschaftlichen Feldes, in dem sich die beiden jeweils bewegen, zeigt sich, dass sich unter methodischen Gesichtspunkten der Humanismusstreit mit Sartre um die Frage des gesellschaftstheoretischen Zugangs aus der Handlungs- oder der Beobachterperspektive drehte. Ganz eindeutig konträr zu Sartres praxisphilosophischem Ansatz formuliert Althusser seine Position. Er hofft, mit der marxschen Kapitalismusanalyse im Rücken die Dynamik gesellschaftlicher Auseinandersetzungen durch ein strukturales Modell erfassen zu können. Methodisch etwas integrativer argumentiert Lévi-Strauss, der zumindest auf der erkenntnistheoretischen Ebene noch bereit ist, die dialektische Erfahrung des Forscherindividuums, wenn auch lediglich als Durchgangsstadium, zu akzeptieren – allerdings nur, um diese mithilfe der strukturalen Analyse des so konstituierten Forschungsgegenstandes hinter sich zu lassen. Beiden gemein ist der Anspruch der rationalen Nachkonstruktion der symbolischen Ordnung gesellschaftlicher Zusammenhänge, in der die Funktion menschlicher Subjekte von ihrer Position innerhalb eines relationalen Netzwerkes abhängt, wie dies für strukturalistische Ansätze in den 1960er Jahren charakteristisch ist.73 In beiden Auseinandersetzungen ist die Denunziation des Humanismus nicht primär auf der Ebene normativer Orientierungen angesiedelt, sondern zielt auf den theoretischen Status des Menschen als Subjekt gesellschaftlicher Praxis. Darum drehte sich im Kern auch die im Jahr 1966 eskalierende Auseinandersetzung zwischen Sartre und Foucault. Nur in der Frage der theoretischen Grundlegung des eigenen Unternehmens ist Sartre überhaupt angreifbar. Denn wie kaum ein anderer hat er zeitlebens mit jeder humanistischen Ideologie als Verschleierungsform realer Herrschafts- und Unterdrückungsmechanismen, die für ihn bis zum Terror reichen können, abgerechnet. Unvergessen ist Sartres Vorwort zu „Les damnés de la terre“ von Frantz Fanon, in dem der engagierte Gegner des Algerienkrieges 1961 die Kolonialgeschichte Europas als „Striptease unseres

73 Vgl. Gilles Deleuze (1972): À quoi reconnaît-on le structuralisme? In: François Châtelet (Hg.), Histoire de la philosophie, Tome VIII: Le XXe siècle, Paris, S. 303, zitiert nach der Ausgabe Paris 2000.

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Humanismus“ geißelte, der nichts als eine „verlogene Ideologie“ und eine „ausgeklügelte Rechtfertigung der Plünderung“ sei.74 Doch nicht nur das. Sartre hat den moralischen Idealen der Humanisten, den vorgeblichen Werten einer bürgerlichen Gesellschaft, immer misstraut und deren Vertreter im Grunde als Heuchler denunziert.75 So ließ er bereits 1938 den als etwas entrückt dargestellten Autodidakten in einer Szene des Romans „La Nausée“ sein Bekenntnis zum Humanismus ablegen: „Meine Freunde, das sind alle Menschen. Wenn ich morgens ins Büro gehe, so gehen vor mir, hinter mir andere Menschen an ihre Arbeit. Ich sehe sie, wenn ich es wagen würde, würde ich ihnen zulächeln; ich denke daran, daß ich Sozialist bin, daß sie alle der Zweck meines Lebens, meiner Mühen sind und daß sie es noch nicht wissen. Das ist ein Fest für mich.“76

Man kann die Abstraktheit eines derart von der Realität der Lebenswelt losgelösten Humanismus wohl kaum trefflicher karikieren, um zugleich nachvollziehbar zu machen, warum seinem Gegenüber im Roman, Roquentin, angeekelt Gedanken über die großen Hauptrollen der Humanisten in der Aufführung der Weltgeschichte durch den Kopf jagen: Es gebe, so zählt Roquentin auf, die Rolle des radikalen Humanisten, der der besondere Freund der Beamten sei, den so genannten linken Humanisten, der aus Sorge um die menschlichen Werte mit großer Sympathie für die kleinen Leute ausgestattet sei. Diesen weihe er seine klassische Bildung. Außerdem liebe er alle höheren Säugetiere, insbesondere Katzen und Hunde. Weiter gebe es den kommunistischen Humanisten, der die Menschen seit dem zweiten Fünfjahresplan liebe und der auch strafe, weil er eben liebe, und den katholischen Humanisten, der mit wundersamem Gesichtsausdruck von den Menschen spreche und sich über das schöne Leben des Londoner

74 Vgl. Jean-Paul Sartre (1961): Vorwort. In: Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt/M. 1981, S. 22 (Les damnés de la terre, Paris). 75 Zu Sartres Humanismus-Verständnis vgl. auch Vincent von Wroblewsky (2002): Wie humanistisch ist Sartres Existentialismus? In: Richard Faber/Enno Rudolph (Hg.), Humanismus in Geschichte und Gegenwart, Tübingen, S. 119-137; sowie Ulrich Müller-Schöll (2006): Sartres antihumanistischer Humanismus. In: Peter Knopp/ Vincent von Wroblewsky (Hg.), Carnets Jean-Paul Sartre. Der Lauf des Bösen, Frankfurt/M., S. 79-105. 76 Jean-Paul Sartre (1938): Der Ekel, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 133 (La Nausée, Paris).

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Dockarbeiters und der Stiefelnäherin erfreue.77 Überstürzt verlässt Roquentin nach wenigen Minuten das Lokal und verwirft den wahrlich äußerst inhumanen Gedanken, dem Autodidakten einfach das Käsemesser ins Auge zu bohren: „Die Menschen. Man muß die Menschen lieben. Die Menschen sind bewundernswert. Ich möchte kotzen – und mit einem Schlag ist er da: der Ekel.“78 In Anbetracht einer derart bissigen Abrechnung mit den abstrakten Idealen des bürgerlichen Humanismus scheint Foucault auf der normativen Ebene zunächst nicht allzu weit von Sartre entfernt, wenn er es als eine politische Aufgabe betrachtet, mit den humanistischen Idealen zu brechen, „[…] zumal alle Regime im Osten wie im Westen ihre verdorbene Ware unter dem schützenden Dach des Humanismus feilbieten“.79 Foucault radikalisiert selbst noch die antihumanistische Stalinismuskritik Althussers, wenn er davon spricht, „[...] dass derselbe Humanismus […] 1948 zur Rechtfertigung des Stalinismus und der Hegemonie der Christdemokraten gedient hat […]“.80 Allerdings, und an dieser Stelle wird bereits klar, dass es um mehr als um politisch-ideologische Bewertungen geht, rechnet Foucault neben der westeuropäischen Christdemokratie eben auch Sartre in diese, als fatal erachtete Tradition. Denn der Satz geht in dem Sinne weiter, dass dieser Humanismus eben „[...] auch der Humanismus ist, den wir bei Camus und in Sartres Existentialismus finden.“81 Worauf es Foucault – ähnlich wie Lévi-Strauss und Althusser – ankommt, ist nicht allein die moralisch-politische Färbung des Humanismus, sondern das moderne Wissenschaftsverständnis insgesamt, das den Menschen ganz selbstverständlich – aus Foucaults Sicht völlig unreflektiert – ins Zentrum stellt und zum Ausgangspunkt allen Erkenntnisinteresses macht. Foucault hat ein Selbstverständnis von Wissenschaft im Blick, wie es vielleicht am prägnantesten 1911 der deutsch-britische Pragmatist Ferdinand C.S. Schiller formuliert hatte: „Man denke“, schrieb Schiller zur Erläuterung seines Kant-Verständnisses, „[...] an die ‚Kopernikanische‘ Umwertung, wodurch das ‚Subjektive‘ an die Stelle des ‚Objektiven‘ tritt als die wahre Quelle der wissenschaftlichen Wirklichkeit – ein großer

77 Vgl. ebd., S. 133f. 78 Ebd., S. 139. 79 Vgl. Foucault (1966a), a.a.O., Bd. 1, S. 668. 80 Vgl. Foucault (1967/69), a.a.O., Bd. 1, S. 788. 81 Vgl. ebd.

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Gedanke, den wiederum der Humanismus systematisch ausbilden oder (wenn man so will) noch zuspitzen will.“82

Genau diese Form von Wissenschaft ist laut Foucault für die Theorie selbst nicht begründbar. Seine Abrechnung mit dem Humanismus basiert im Wesentlichen auf zwei Argumenten: Foucault stellt erstens grundsätzlich jede theoretische Rechtfertigung des Humanismus infrage, indem er die Möglichkeit einer auf einer dialektischen Vernunft basierenden philosophischen Anthropologie bestreitet. Humanismus, Anthropologie und Dialektik sind nach Foucaults Auffassung eng miteinander verwoben. Erst das dialektische Denken mache es möglich, eine Philosophie der Praxis und der Geschichte zu entwerfen, in der der als von seinem Wesen entfremdet konzipierte Mensch im historischen Verlauf mit sich und der Geschichte versöhnt werde. Mithilfe dialektischer Denkfiguren sei aber der Primat des Menschen nicht zu rechtfertigen, da dieser zugleich Gegenstand und Voraussetzung des Denkens sei. Aus diesem Grund stehen humanistische Werte für Foucault unter Ideologieverdacht: „Sie [die Dialektik/M.R.] verspricht dem Menschen den Menschen, und insofern lässt sie sich nicht von einer humanistischen Moral trennen.“83 Vom Standpunkt einer analytischen Vernunft, wie ihn Foucault seinem Selbstverständnis nach vertritt, und da fühlt er sich ausdrücklich Lévi-Strauss verbunden, sei es prinzipiell undenkbar, das menschliche Subjekt als Ausgangspunkt der Theorie zuzulassen: „Diese analytische Vernunft ist nicht mit dem Humanismus vereinbar, während die Dialektik ihn möglicherweise erfordert.“84 Zweitens ordnet Foucault die so umschriebene theoretische Begründungsform des Humanismus wissenschaftsgeschichtlich in die aus seiner Sicht bereits überholte Tradition des 19. Jahrhunderts ein: „Die größte Last, die wir aus dem 19. Jahrhundert geerbt haben – und von der wir uns unbedingt befreien sollten –, ist der Humanismus…“85 Der Mensch als Subjekt der Geschichte ist demnach eine historische Erscheinung. Sartres historischstrukturelle Anthropologie ist für Foucault deshalb eine Theorie von gestern. Das Vorbild für diese radikale Kritik der Begründungsstruktur bei gleichzeitiger Historisierung des Humanismus findet Foucault freilich bei Martin

82 Ferdinand C.S. Schiller (1911): Humanismus. In: Ekkehard Martens (Hg.), Texte der Philosophie des Pragmatismus. Charles Sanders Peirce, William James, Ferdinand Canning Scott Schiller, John Dewey, Stuttgart 1975, S. 190. 83 Foucault (1966b), a.a.O., Bd. 1, S. 699. 84 Ebd. 85 Ders. (1966a), a.a.O., Bd. 1, S. 667.

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Heidegger. Dessen Brief über den Humanismus86 von 1946 hat in Frankreich eine ganze Generation von theoretischen Antihumanisten geprägt.87 Heideggers Brief an Jean Beaufret war eine Reaktion auf Sartre. Dieser hatte die von Heidegger in „Sein und Zeit“ aufgeworfene Frage nach dem Sinn von Sein für sich bekanntlich dadurch beantwortet, dass er die menschliche Existenz, verstanden als Dasein,88 in seinem Frühwerk „L’ être et le néant“89 bewusstseinstheoretisch interpretierte und darauf seine Philosophie der Freiheit gründete. Im Schlusskapitel von „L’être et le néant“ war eine Moralphilosophie angekündigt worden,90 die Sartre aber zeitlebens schuldig geblieben ist.91 In seinem ebenfalls

86 Vgl. Martin Heidegger (1947): Über den ‚Humanismus‘. Brief an Jean Beaufret, Paris. In: ders., Platons Lehre von der Wahrheit, Frankfurt/M., S. 53-119. 87 Darauf hat Mikel Dufrenne bereits Ende der 60er Jahre hingewiesen. Vgl. Dufrenne (1968): Pour l’homme, Paris, S. 14ff; ebenso Luc Ferry/Alain Renaut (1985): Antihumanistisches Denken. Gegen die französischen Meisterphilosophen, München/Wien 1987. Auch Althusser hat in seiner Autobiografie eingestanden, von Heidegger zwar nicht viel gekannt zu haben, der Humanismusbrief sei aber nicht ohne Einfluss auf seinen theoretischen Antihumanismus geblieben. Vgl. Louis Althusser (1992): L’avenir dure longtemps. Suivi de Les faits, Autobiographies, Paris, S. 168. Zu den Missverständnissen der Heidegger-Rezeption in Frankreich vgl.: Dominique Janicaud (2005): Du bon usage de la ‚Lettre sur l’humanisme‘. In: Bruno Pinchard (Hg.), Heidegger et la question de l’humanisme. Faits, concepts, débats, Paris, S. 213226. 88 Martin Heidegger (1927): Sein und Zeit, Tübingen 161986, S. 41ff. 89 Vgl. Jean-Paul Sartre (1943): Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Reinbek bei Hamburg 1993 (L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique, Paris). 90 Vgl. ebd., S. 1072. 91 Die von Sartre in den Jahren 1947/48 verfassten moralphilosophischen Skizzen blieben unvollendet und wurden erst nach seinem Tod veröffentlicht. Vgl. Jean-Paul Sartre (1983): Entwürfe für eine Moralphilosophie, Reinbek bei Hamburg 2005 (Cahiers pour une morale, Paris). Ebenso der erst vor wenigen Jahren aus dem Nachlass publizierte Entwurf für einen Vortrag, der für April 1964 an der Universität Cornell (USA) geplant war, den Sartre aber aus Protest gegen die US-Bombardements von Nordvietnam kurzfristig absagte. Vgl. Jean-Paul Sartre (2005): Morale et histoire. In: Les Temps modernes 632/633/634 – Notre Sartre, S. 269-413. In dieselbe Zeit fällt der ebenfalls bereits praxisphilosophisch motivierte, jedoch äußerst skizzenhaft gehaltene Versuch über moralische Erfahrung in einem 1964 in Rom gehaltenen Vortrag. Vgl. Jean-Paul Sartre (1966b): Determination und Freiheit. In: Moral und Gesell-

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1946 gehaltenen berühmten Vortrag „L’existentialisme et un humanisme“92 unternahm er allerdings erste, wenn auch recht holzschnittartige, Versuche in diese Richtung. Ausgehend von der menschlichen Existenz, verstanden als radikale Freiheit, versuchte Sartre dort thesenhaft die Notwendigkeit moralischer Verantwortung herzuleiten, indem er aus dem Basissatz, dass die Existenz der Essenz vorausgeht,93 zu folgern versucht, dass es die unausweichliche Aufgabe des Menschen ist, der individuellen Existenz einen Sinn zu geben. Dies geschehe, indem er die pure Faktizität des Seins auf seine Ziele hin überschreitet und sich dabei selbst definiert. Die normative Dimension ist in den Vollzug menschlicher Existenz eingelassen, ein Gedanke, mit dem sich Sartre im Prinzip noch nahe bei Heidegger befindet. Die Konsequenz, die Sartre daraus zieht, ist jedoch von Heidegger nicht mehr gedeckt: Es gibt per se keinen Sinn von Sein. Und es gibt auch keine vorgegebenen Werte. Es ist allein der Mensch, der sie und auf diesem Wege sich selbst erschafft und damit prinzipiell auch jegliche Formen des sozialen Zusammenlebens. So formuliert Sartre seinen Zuhörern gegenüber apodiktisch: „[...] das Leben hat a priori keinen Sinn. Bevor Sie leben, ist das Leben nichts, es ist an Ihnen, ihm einen Sinn zu geben, und der Wert ist nichts anderes als dieser Sinn, den Sie wählen. Daraus ersehen Sie“ – und hier deutet Sartre zugleich die gesellschaftspolitische Dimension seines Gedankens an –, „daß es die Möglichkeit gibt, eine menschliche Gemeinschaft zu schaffen.“94 Heidegger bezog sich im Humanismusbrief an zwei Stellen auf Sartres Vortrag.95 Im Visier hatte er jedoch generell jeden philosophischen Ansatz, der mit anthropologischen Begründungsstrukturen arbeitet: „Jeder Humanismus gründet entweder in einer Metaphysik, oder er macht sich selbst zum Grund einer solchen.“96 Unter Metaphysik verstand Heidegger bekanntlich Onto-Theologie, d.h. ein Denken, das für sich beansprucht, sowohl die allgemeingültige Einheit des ‚Alls des Seienden‘ (Ontologie) als auch den ersten Grund dieser ‚Allheit‘ (Theologie) angeben zu können. „Die Metaphysik denkt das Sein des Seienden sowohl in der ergründenden Einheit des Allgemeinsten, d.h. des überall Gleich-

schaft. Beiträge von Karel Kosík, Jean-Paul Sartre, Cesare Luporini, Roger Garaudy, Galvano della Volpe, Mihailo Marković und Adam Schaff, Frankfurt/M. 1968, S. 2235 (Determinazione e libertà. In: Morale e società, Roma, S 31-41). 92 Vgl. Sartre (1946), a.a.O., S.145-192. 93 Vgl. ebd., S. 149ff. 94 Ebd., S. 174 (Hervorhebung i.O.). 95 Vgl. Heidegger (1947), a.a.O., S. 72f, 79, auf Sartre allgemein S. 63 und indirekt auch S. 71 und S. 113. 96 Ebd., S. 64.

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Gültigen, als auch in der begründenden Einheit der Allheit, d.h. des Höchsten über allem“, so Heidegger.97 Für ihn fiel die gesamte Tradition der abendländischen Philosophie seit Platon unter Metaphysikverdacht, denn es ist ein Denken, das sich durch „Seinsvergessenheit“ auszeichnet.98 Die aristotelische Logik und ihre Nachfolger kritisierte Heidegger als Vertreter eines vorstellenden Denkens des Seienden in Begriffen,99 dem „die Besinnung auf das Sein selbst“ abhanden gekommen sei.100 Unter dieses Verdikt fallen folgerichtig ebenso die moderne Rationalität und das mit ihr eng verwobene humanistische Denken. „Alles Werten ist, auch wo es positiv wertet, eine Subjektivierung. Es läßt das Seiende nicht: sein, sondern das Werten läßt das Seiende lediglich als das Objekt seines Tuns – gelten.“101 Der Humanismus war also für Heidegger insofern Metaphysik, als er dem Menschen den Ort des höchsten Wesens als Ausgangspunkt des Denkens (Theologie) einräumt und ihn zugleich zum allgemeinen Maßstab der Bewertung des All des Seienden (Ontologie) macht. Der Vorwurf an Sartre ist, genau diese onto-theologische Struktur erneut auf den Daseins-Begriff aus „Sein und Zeit“ zu übertragen. Heidegger wollte sich aber gerade von diesem Begriff des Menschen verabschieden. Ihm kam es „[…] bei der Bestimmung der Menschlichkeit des Menschen als der Ek-sistenz darauf an, daß nicht der Mensch das Wesentliche ist, sondern das Sein als die Dimension des Ekstatischen der Ek-sistenz.“102 Damit war ein Perspektivenwechsel verbunden. Nicht mehr das selbstbewusste und selbstbestimmte menschliche Subjekt in der Tradition der Aufklärung ist das Zentrum der Philosophie, sondern das Sein, das ihn umgibt und das seine Existenz voraussetzt. Heidegger versuchte gewissermaßen, und hier ist der Anknüpfungspunkt für Foucault zu suchen, ein „Denken des Außen“.103 Der Mensch ist bei Heidegger nur noch, so könnte man in Anspielung auf Foucault sagen, ein ‚Effekt des Seins‘. Er „west“ in „seinem Wesen [...], indem er vom Sein angesprochen wird“,104 lässt sich in seinem Denken „vom Sein in Anspruch

97

Martin Heidegger (1957): Die onto-theologische Verfassung der Metaphysik. In: ders., Identität und Differenz, Pfullingen 81986, S. 49.

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Vgl. Heidegger (1947), a.a.O., S. 86. Vgl. ebd., S. 98.

100 Vgl. ebd. 101 Ebd., S. 99. 102 Ebd., S. 79. 103 Vgl. Michel Foucault (1966c): Das Denken des Außen (La pensée du dehors. In: Critique 229, 1966), zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 1, S. 674. 104 Vgl. Heidegger (1947), a.a.O., S. 66.

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nehmen, um die Wahrheit des Seins zu sagen“,105 seine Existenz beinhaltet „das Stehen in der Lichtung des Seins“,106 er wohnt „in der Nähe des Seins“,107 die Sprache, die er benutzt, ist das „Haus des Seins“,108 die „lichtend-verbergende Ankunft des Seins“.109 Heidegger wollte sich jenseits der Subjekt-Objekt-Differenz der abendländischen instrumentellen Rationalität positionieren, die den Menschen zum Ausgangspunkt des Denkens nimmt. „Vielmehr ist der Mensch zuvor in seinem Wesen ek-sistent in die Offenheit des Seins, welches Offene erst als ‚Zwischen‘ lichtet, innerhalb dessen eine ‚Beziehung‘ vom Subjekt zum Objekt ‚sein‘ kann.“110 Während Sartres metaphysischer Humanismus laut Heidegger auf der Ebene der Subjekt-Objekt-Spaltung verharren muss und dieser deshalb „[...] précisement nous sommes sur un plan où il y a seulement des hommes“111 formulierte, bestand Heidegger darauf, sagen zu können: „[…] précisement nous sommes sur un plan où il y a principalement l’Être“112. Damit beanspruchte er für sich, jenseits von Subjekt und Objekt, vom Sein her zu denken. Offen bleibt freilich, was es bedeuten könnte, vom Sein her zu denken. Wenn die aus Heideggers Sicht metaphysische Differenz von Subjekt und Objekt überwunden werden soll, hat das sowohl für die Konzeption des Menschen als auch für die Gegenstände seiner Praxis Konsequenzen. Zum einen muss die Frage nach einem Wesen des Menschen, so sie denn gestellt werden soll, und zumindest Heidegger schließt dies nicht prinzipiell aus, anders formuliert werden. Heidegger verstand darunter weder eine substanzielle Bestimmung noch eine formale, wie etwa Sartre, sondern er wollte das Wesen des Menschen „einzig aus der Frage nach der Wahrheit des Seins“ denken,113 ohne dabei den Menschen „zum Zentrum des Seienden“ zu erheben.114 Zum anderen muss aber der Zugang zum Sein jenseits einer Vergegenständlichung des Seienden möglich sein. Wahres, dem Sein angemessenes Denken stellte sich Heidegger „als Den-

105 Vgl. ebd., S. 53f. 106 Vgl. ebd., S. 66f. 107 Vgl. ebd., S. 91. 108 Vgl. ebd., S. 53. 109 Vgl. ebd., S. 70. 110 Ebd., S. 101. 111 Vgl. Sartre (1946), a.a.O., S. 154 (i.O. zitiert nach der Ausgabe Paris 1996: S. 39), zitiert bei Heidegger (1947), a.a.O., S. 79f. 112 Vgl. Heidegger (1947), ebd. 113 Vgl. ebd., S. 104. 114 Vgl. ebd.

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ken in der Ankunft des Seins“ vor,115 wobei es offenbar nur dann wahr sein kann, wenn das Sein sich wiederum „dem Denken schon zugeschickt“ hat.116 Keiner der beiden Ansprüche, weder ein im heideggerschen Sinne angemessenes Verständnis des Seins noch ein solider Ausgangspunkt, von welchem aus das Sein in Ermangelung des traditionellen Subjektes angemessen gedacht werden könnte, ist aber mit herkömmlichen theoretischen Mitteln zu gewinnen. Heidegger selbst kam deshalb nicht umhin, zur Umschreibung des von ihm Gemeinten auf eine metaphorische Sprache zurückgreifen zu müssen. Aufgrund der Auflösung jeder begrifflichen Bestimmung des Menschen, wie sie in der Philosophie seit der Neuzeit immer wieder versucht wurde, blieb die normative ‚humanistische‘ Dimension außen vor. Mikel Dufrenne hat in seiner Kritik antihumanistischer Theorieansätze im Anschluss an Heidegger daraus den Schluss gezogen, dass mit dem Abschied von normativen Auszeichnungen des Menschen auf der Subjektseite notgedrungen eine Formalisierung und inhaltliche Entleerung auf der Objektseite einhergehe.117 Ob sich so die Attraktivität Heideggers für die sogenannten Strukturalisten erklären lässt, ist allerdings fraglich. Nicht nur, weil Dufrennes Kritik zu kurz greifen dürfte, wenn er diese Ansätze pauschal unter der Kategorie „Positivismus“118 einordnet. Denn es ist doch gerade auch das positivistische Denken, das in Subjekt-Objekt-Kategorien funktioniert und daher aufgrund seiner Seinsvergessenheit von Heidegger in die Tradition der Metaphysik eingeordnet wird. Vor allem aber sperrt sich Heideggers fundamentalontologischer Versuch einer Kritik der Moderne als Kritik eines metaphysischen, verdinglichenden Denkens ja selbst gegen die zeitgenössischen wissenschaftlichen Standards.119 Plausibler erscheint es deshalb, Ansätze, wie etwa den Foucaults, als den Versuch zu betrachten, Heideggers Absicht einer Destruktion der Metaphysik des Humanismus, trotz der Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, mit anderen Mitteln konsequent weiterzuverfolgen. Heidegger hatte in „Sein und Zeit“ zunächst ausgehend von der Analytik des Daseins über ein hermeneutisches Verfahren beabsichtigt, die moderne Metaphysik quasi von innen heraus zu überwinden. Dieses Unterfangen wurde abgebrochen, weshalb „Sein und Zeit“

115 Vgl. ebd., S. 117. 116 Vgl. ebd. 117 Vgl. Dufrenne (1968), a.a.O., S. 19ff. 118 Vgl. ebd., S. 29. 119 Vgl. Jürgen Habermas (1985): Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M., S. 167.

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Fragment geblieben ist.120 Jacques Derrida hat darauf hingewiesen, dass eine radikale Erschütterung der Metaphysik des Menschen, wie Heidegger sie im Auge hat, im Grunde nur „von einem Außen her kommen“121 kann und zugleich eingestanden, dass die „‚Logik‘ eines jeden Bezugs auf ein Außen“ hin „höchst komplex und überraschend“ sei.122 Heidegger hatte bei seinem Versuch, aus dem Denksystem der Metaphysik auszusteigen, im Grunde genau jenes Problem, das Derrida mit folgenden Worten beschreibt: „Die Kraft und die Wirksamkeit des Systems gerade transformieren die Überschreitungen regelmäßig in ‚blinde Ausgänge‘.“123 Laut Derrida gibt es in dieser Lage nur zwei Möglichkeiten: Entweder „[…] den Ausgang und die Dekonstruktion zu versuchen, ohne den Standort zu wechseln […]“124 – das ist seiner Ansicht nach das Unternehmen des späten Heideggers – oder „[…] einen Wechsel des Standortes zu beschließen, auf diskontinuierliche und plötzliche Weise, durch ein brutales Sich-außen-Einrichten und durch die Affirmation absoluten Bruches und absoluter Differenz“.125 Letzteres ist laut Derrida weitgehend der Standpunkt in der französischen Philosophie der späten 60er Jahre, der damals gängigen Ansätze im Umfeld des Strukturalismus also. Wenn Foucault beabsichtigt, das ‚System‘ zu untersuchen, dessen Funktionsweise bestimmt, wie ein Subjekt darin agiert, dann beansprucht er für sich genau diesen Sprung nach außen. Es ist die Suche nach einem Ausgang, der nicht ‚blind‘ ist, der Versuch, virtuell aus der Moderne auszusteigen, um von einem externen Standpunkt aus zu beschreiben, wie diese funktioniert. Aus dieser Perspektive formuliert Foucault seine Kritik des Humanismus, als „Notre Moyen Age à l’époque moderne“.126 Foucaults methodischer Anspruch, eine künstliche Beobachterperspektive einzunehmen und die Handlungsperspektive der einzelnen Akteure verlassen zu können, erinnert in gewisser Hinsicht an Niklas Luhmanns systemtheoretischen Entwurf einer Theorie der Gesellschaft,

120 Zu den möglichen politischen Hintergründen der heideggerschen Kehre vgl. ebd., S. 184ff. 121 Vgl. Jacques Derrida (1972): Fines hominis. In: ders., Randgänge der Philosophie, Wien 21999, S. 155 (Marges de la philosophie, Paris/Hervorhebung i.O.). 122 Vgl. ebd. 123 Ebd. 124 Vgl. ebd. 125 Vgl. ebd, S. 156. 126 Foucault wählte diese Formulierung 1966 in einer Radiosendung. Zitiert nach Dosse (1991), a.a.O., S. 405.

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der im Übrigen in Anlehnung an Heidegger eine ganz ähnliche Humanismuskritik formuliert wie Foucault.127 Freilich ist Heidegger damit nicht von vornherein auf ein antihumanistisches Denken festgelegt. Es ist nach wie vor nicht abwegig, in der Tradition von Sartre mit Heidegger gegen Heidegger zu denken. Denn trotz Metaphysikkritik und Seinsvergessenheit verbleibt der Mensch bei Heidegger, indem er in der ‚Lichtung des Seins‘ steht, doch an privilegierter Stelle. Mit der Frage nach dem Sein stellt sich so automatisch die Frage nach dem Menschen und damit, wie es Pierre Aubenque spitz formliert, das folgende Dilemma: „Plus l’être se disperse, plus l’homme échappe à sa protection, mais se trouve requis pour le protéger à son tour. Mais, en même temps, plus l’être se disperse, plus l’homme s’émancipe et affirme sa liberté. On pourrait dire que l’homme perd dans les deux cas. Mais il y gagne aussi dans les deux: dans le deuxième cas – hypothèse de Sartre – sa liberté pour le néant; dans le premier cas – hypothèse des Heidegger – sa responsabilité pour l’être […]“.128

Ließe sich an der sartreschen Hypothese festhalten, und diese theoretisch begründen, dann wäre der Humanismus bei aller Kritik am ideologischen Missbrauch der moralischen Geltungsansprüche, für die er steht, nicht als das ‚Mittelalter der Moderne‘ zu belächeln, sondern mit Blick auf seine Genese als grundlegender Bestandteil einer Identität der Moderne zu begreifen.129 Eine Identität, die ein handlungsfähiges Subjekt voraussetzt und nur aus der Handlungsperspektive konsequent gedacht werden kann. Was die oben aufgeworfene Fragestellung nach der Relevanz der Ansätze von Foucault und Sartre für eine kritische Gesellschaftstheorie angeht, so zeigt sich an den bislang skizzierten Frontlinien im Humanismusstreit, dass sich die Kontroverse entlang eines grundlegenden methodischen Dissenses entwickelt.

127 Vgl. etwa Niklas Luhmann (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M., S. 119; ders. (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M., S. 30ff. 128 Pierre Aubenque (2005): Du débat de Davos (1929) à la querelle parisienne sur l’humanisme (1946-1968): genèse, raisons et postérité de l’anti-humanisme heideggerien. In: Pinchard (Hg.), a.a.O. S. 237 (Hervorhebung i.O.). 129 Vgl. Charles Taylor (1985): Humanismus und moderne Identität. In: Krzysztof Michalski (Hg.), Der Mensch in den modernen Wissenschaften. Castelgandolfo-Gespräche 1983, Stuttgart, S. 117-170; ausführlicher vgl. ders. (1989): Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt/M. 1994.

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Dies ist nicht zuletzt auch einer der Gründe für die völlig gegensätzliche Rezeption des heideggerschen Projektes einer Fundamentalontologie. Sartre deutet Heideggers Daseinsanalyse, obwohl er mit der philosophischen Tradition einer Wesensbestimmung des Menschen zu brechen beabsichtigt, handlungstheoretisch und formuliert eine radikale Philosophie menschlicher Freiheit und Verantwortung. Foucault beansprucht quasi aus der Perspektive des Seins den objektiven Regelzusammenhang zu beschreiben, innerhalb dessen die einzelnen vergesellschafteten Individuen denken und handeln. Beide Vorgehensweisen schließen sich zunächst methodisch gegenseitig aus. Beide stehen angesichts der heideggerschen Metaphysikkritik unter besonderem Begründungszwang. Sartre müsste zeigen können, wie sich eine Handlungstheorie fundieren lässt, ohne sich auf die Onto-Theologie des Subjekts zu stützen. Foucault hat das Problem, plausibel machen zu müssen, dass sein Verfahren einer methodischen Verfremdung, mit der er versucht, die Außenperspektive einzunehmen, nicht einen ‚blinden Ausgang‘ eröffnet, sondern dadurch tatsächlich Einsichten liefert, die sich aus der Teilnehmerperspektive nicht erfassen lassen. In der hier beabsichtigten Untersuchung soll neben diesen Begründungsfragen vor allem geklärt werden, welche Konsequenzen diese gegensätzlichen Herangehensweisen für eine kritische Gesellschaftstheorie haben. Es soll nach der jeweiligen Reichweite der Ansätze gefragt werden. Wie weit kann Foucaults archäologisch-genealogisch ansetzende Beschreibung der epochalen Konstellationen von Wissen, Macht und Subjektivierung die Funktionsweise moderner Gesellschaften durchleuchten? Wie weit reicht hingegen eine hermeneutisch verfahrende, dialektische Analyse gesellschaftlicher Praxis, wie sie Sartre aus der Teilnehmerperspektive entwickelt? Um Sartre und Foucault im Folgenden als Gesellschaftstheoretiker lesen und vergleichen zu können, müssen im Vorfeld allerdings zwei Punkte berücksichtigt werden: Weder Foucault noch Sartre sind reine Gesellschaftstheoretiker. Beide haben ein breit angelegtes Werk hinterlassen, das den thematischen Horizont einer Gesellschaftstheorie überschreitet. Es muss daher zunächst verortet werden, wo sich bei beiden genau das Thema Gesellschaft befindet und es muss seine unterschiedliche Gewichtung für den jeweiligen Theorieansatz geklärt werden (1). Zum anderen muss die Relevanz der Beiträge von Sartre und Foucault für eine moderne kritische Gesellschaftstheorie vorab grob abgeschätzt werden (2). (1) Jean-Paul Sartre hat sich seit den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts nicht nur als Philosoph, sondern zugleich als Theater- und Romanautor sowie als politisch engagierter Intellektueller hervorgetan. Das Gesellschaftsthema trat erst nach der Erfahrung der Résistence gegen die Besatzung Frankreichs durch die

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Nationalsozialisten in den Horizont seiner politischen und theoretischen Analysen. Ursprünglich war Sartres Existentialismus eine individualistische Subjektphilosophie, die radikal eine absolute Freiheit des Menschen voraussetzte. Erst mit der Einsicht in die „Macht der Dinge“130, wie Sartre später eingesteht, wurde die Frage nach der gesellschaftlichen Bedingtheit des Individuums relevant. Diese führte bekanntlich zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Marxismus. Sartres später entwickelte Gesellschaftstheorie ist allerdings Fragment geblieben. Weder der zweite Band der „Critique de la raison dialectique“, noch die große Flaubert-Studie131 wurden vollendet. Es liegt also keine ausgearbeitete Theorie vor. Für das hier angestrebte Vorhaben stehen deshalb lediglich Bruchstücke zur Verfügung, die zum Teil sogar noch rekonstruiert werden müssen. Ähnliches gilt für die gesellschaftstheoretische Deutung des Werkes von Michel Foucault. Von 1970 an angestellt am Pariser Collège de Françe als Lehrstuhlinhaber für die ‚Geschichte der Denksysteme‘, hat Foucault nie eine explizite Gesellschaftstheorie entwickelt. Von den frühen Arbeiten wie „Naissance de la clinique“132 bis zu den beiden letzten veröffentlichten Bänden der „Histoire de la sexualité“133 handelt es sich weitgehend um historische Analysen oder wie im Fall der „Archéologie du savoir“134 um Methodenreflexionen. „Les mots et les choses“, wodurch die Debatte mit Sartre ausgelöst wurde, ist eher eine Art historisch angelegte Wissenssoziologie. Zugleich verstand sich Foucault aber nicht nur in seinem Engagement als Bürger als extrem politisch. Sein Versuch einer externen Analyse der Regeln epochaler Wissensdiskurse sollte laut Foucault den

130 Vgl. Jean-Paul Sartre (1969a): Sartre über Sartre. In: ders., Sartre über Sartre. Autobiographische Schriften, Reinbek bei Hamburg 1977, S. 144. 131 Vgl. Jean-Paul Sartre (1971/72): Der Idiot der Familie. Gustave Flaubert 1821-1857, 5 Bde., Reinbek bei Hamburg 1977-79 (L’Idiot de la famille. Gustave Flaubert de 1821 à 1857, 3 T., Paris). 132 Vgl. Michel Foucault (1963): Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt/M. 1988 (Naissance de la Clinique, Paris). 133 Vgl. Michel Foucault (1984): Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, Frankfurt/M. 1986 (Histoire de la sexualité II: L’usage des plaisirs, Paris); ders. (1984a): Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3, Frankfurt/M. 1986 (Histoire de la sexualité III: Le souci de soi, Paris). 134 Vgl. Foucault (1969), a.a.O.

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Charakter einer „Diagnose der Gegenwart“135 haben. Dafür bewegte er sich schrittweise von der archäologischen Untersuchung der Regeln des Wissens über eine Genealogie der Macht auf die Ebene der gesellschaftlichen Praktiken zu. Spätestens als sich seine theoretische Aufmerksamkeit in den frühen 70er Jahren auf die Mechanismen der Macht richtet, wie dies in den Büchern „Surveiller et punir“136 und „La volonté de savoir“ („Histoire de la sexualité I“)137 geschieht, ist Foucault auch als Gesellschaftstheoretiker zu verstehen. Trotzdem bleibt das Problem, dass sich diagnostische Aussagen über die gesellschaftlichen Verhältnisse der Gegenwart von Foucault weitgehend auf Interview-Äußerungen beschränken. Fast alle größeren theoretischen Arbeiten haben historische Gesellschaften zum Untersuchungsgegenstand. Dies ist – abgesehen von einem kurzen Ausflug in die Gefilde des Neoliberalismus – auch bei den posthum veröffentlichten Vorlesungen über die Genese der ‚Gouvernementalité‘ und der BioMacht138 der Fall. Insofern kann auch Foucaults Werk, ebenso wie das von Sartre, nur eingeschränkt als Theorie der Gesellschaft gelesen werden. Um sie für das Verständnis der Funktionsweise der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaft zu nutzen, bedarf es einer gewissen interpretatorischen Transformationsleistung. (2) Der hier unternommene Versuch, Sartre und Foucault vor dem Hintergrund der Humanismus-Debatte von 1966 aus gesellschaftstheoretischer Perspektive zu lesen, ist von dem Erkenntnisinteresse geleitet, zu sehen, inwieweit die jeweiligen Positionen als in gewisser Weise extreme Formen einer Handlungs- bzw. Systemtheorie fruchtbar gemacht werden können. Dadurch soll versucht werden, die Voraussetzungen zu klären, unter denen die Klammer zwischen den beiden

135 Vgl. Michel Foucault (1968): Foucault antwortet Sartre. (Foucault répond à Sartre. In: La Quinzaine littéraire 46), hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 1, S. 848. 136 Vgl. Michel Foucault (1975): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1977 (Surveiller et punir. La naissance de la prison, Paris). 137 Vgl. Michel Foucault (1976): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt/M. 1983 (Histoire de la sexualité I: La volonté de savoir, Paris). 138 Vgl. Michel Foucault (1996): In Verteidigung der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1999 (Il faut défendre la societé, Paris); ders. (2004): Geschichte der Gouvernementalität. 2 Bde., I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Frankfurt/M. 2004 (Sécurité, territoire et population, Paris), II: Die Geburt der Biopolitik, Frankfurt/M. 2004 (Naissance de la biopolitique, Paris).

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theoriegeschichtlich auseinandergetretenen konstitutiven Elementen einer kritischen Gesellschaftstheorie, nämlich Systemanalyse und Emanzipationstheorie, möglicherweise wieder geschlossen werden könnte. Dabei soll Sartres Anspruch, gesellschaftliche Strukturen allein aus dem Blickwinkel subjektiver Praxis zu denken, so rekonstruiert werden, dass sichtbar wird, ob aus diesem in seinem Ursprung als Subjektphilosophie auftretenden Theorietypus heute noch utopischemanzipatorische Funken für eine kritische Gesellschaftstheorie geschlagen werden könnten. Foucaults Herangehensweise soll dazu im Kontrast als quasisystemtheoretischer Versuch interpretiert werden, gesellschaftliche Macht- und Regelmechanismen von außen zu beschreiben, um so zu klären, inwieweit sich daraus ein Ertrag für die Analyse moderner kapitalistischer Gesellschaften ziehen lässt.

System und Lebenswelt: Der gesellschaftstheoretische Dualismus bei Habermas Dieses Vorhaben lässt sich freilich nicht angemessen diskutieren, ohne einen kurzen Blick auf die derzeit am umfassendsten und am differenziertesten ausgearbeitete Variante einer kritischen Gesellschaftstheorie zu werfen: dem kommunikationstheoretisch motivierten Projekt von Jürgen Habermas. In der „Theorie des kommunikativen Handelns“ hat Habermas auf der Basis kommunikativer Rationalität eine Handlungstheorie ausgearbeitet, in die er zur angemessenen Beschreibung moderner Gesellschaften eine funktionalistische Systemtheorie integriert hat. Dabei soll der handlungstheoretische Ansatz allerdings den methodischen Vorrang behalten.139 Habermas unterscheidet zwischen System und Lebenswelt. Damit trifft er zunächst eine analytische Unterscheidung. Sie bezieht sich nicht auf getrennte Gebiete auf der Gegenstandsebene. Es ist ein und dieselbe Gesellschaft, die allerdings über zwei unterschiedliche methodische Zugänge beschrieben wird, was die Chance eröffnen soll, auftretende Krisen adäquat diagnostizieren zu können.140 Aus der Perspektive der Lebenswelt rekonstruiert Habermas handlungstheoretisch mit den Mitteln der Formalpragmatik einen Gesellschaftsbegriff aus der Teilnehmerperspektive. Der systemtheoretische Zugang folgt im Anschluss

139 Vgl. Habermas (1981), a.a.O., Bd. II, S. 229. 140 Vgl. Jürgen Habermas (1986): Entgegnung. In: Axel Honneth/Hans Joas (Hg.), Kommunikatives

Handeln.

Beiträge

zu

Jürgen

kommunikativen Handelns‘, Frankfurt/M., S. 380.

Habermas’

‚Theorie

des

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daran aus einer methodisch eingenommenen Beobachterposition. Grund für den doppelten Zugriff ist, dass Habermas davon ausgeht, dass mit keiner der beiden Methoden allein Gesellschaft in ihrer Totalität erfasst werden kann. Nur dieser Zusammenhang ist für die hier verfolgte Fragestellung von Interesse. Es soll daher im Folgenden der Theorieansatz von Jürgen Habermas nicht in seiner Komplexität und Differenziertheit diskutiert werden. Für die hier verfolgte Perspektive einer methodischen Differenzierung von Teilnehmer- und Beobachterperspektive für eine Konzeption kritischer Gesellschaftstheorie sollen Systemund Lebensweltkonzept aus der „Theorie des kommunikativen Handelns“ nur in groben Zügen dargestellt werden. Warum Habermas sich handlungstheoretisch für die Ebene der Lebenswelt interessiert, um eine Gesellschaftstheorie zu entwickeln, hat er folgendermaßen formuliert: „Die Frage: ‚Wie ist soziales Handeln möglich‘, ist nur die Kehrseite der anderen Frage: ‚Wie ist soziale Ordnung möglich?‘“141 Habermas versucht die symbolische Struktur der Lebenswelt zu entschlüsseln, indem er spezifische Formen von Handlungen mit Blick auf ihre jeweiligen Ziele, die entsprechend durch die Handelnden vorausgesetzten Weltbezüge sowie die dazugehörigen Mechanismen, über die sie mit anderen Handlungen koordiniert werden, formalpragmatisch rekonstruiert. Ausgehend von ihrer teleologischen Struktur unterscheidet er zunächst fünf Typen von Handlungen:142 Unter instrumentellem Handeln (1) versteht Habermas – in Anlehnung an die Tradition seit Aristoteles – Handlungen, in denen ein Aktor zur Realisierung eines beabsichtigten Zweckes die unter Berücksichtigung der spezifischen Situation geeigneten Mittel wählt und anwendet. In diesem Handlungstyp sieht sich der Handelnde einer objektiven materiellen Welt gegenüber, die er zu beeinflussen beabsichtigt. Ist er hingegen mit der sozialen Welt konfrontiert, spricht Habermas von sozialem Handeln, das sich wiederum in strategisches (2), normenreguliertes (3), dramaturgisches (4) und schließlich kommunikatives Handeln (5) unterteilen lässt. Strategisches Handeln ist in Erweiterung der instrumentellen Orientierung innerhalb der sozialen Welt analog am unmittelbaren Erfolg ausgerichtet, hat also das Eintreten beabsichtigter Handlungsfolgen im Blick. Dafür müssen die Erwartungen und Entscheidungen mindestens eines anderen Aktors mit in Betracht gezogen werden. Das Verhältnis zum anderen, der in der objektiven-äußeren Welt gegenübertritt, ist kalkulierend. Im Unterschied zum strategischen setzen die übri-

141 Jürgen Habermas (1982): Erläuterungen zum Begriff des kommunikativen Handelns. In: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt/M. 1984, S. 571. 142 Vgl. Habermas (1981), a.a.O., Bd. I, S. 126ff.

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gen sozialen Handlungstypen Verständigung voraus. Normenreguliertes Handeln unterstellt neben einer äußerlich-objektiven eine gemeinsam geteilte Welt von Mitgliedern einer sozialen Gruppe und die Orientierung an intersubjektiv anerkannten Werten und Regeln. Das dramaturgische Handeln, das sowohl von einer objektiven Außenwelt wie einer lediglich dem Subjekt durch privilegierten Zugang erschließbaren Innenwelt ausgehen muss, ist auf ein Verständnis des Publikums angewiesen, dem sich ein Subjekt offenbart. Explizit zum Tragen kommt Verständigung schließlich beim kommunikativen Handeln. Es setzt Sprache als „Medium unverkürzter Verständigung“ voraus, über das sich einzelne Akteure reflexiv „gleichzeitig auf etwas in der objektiven, sozialen und subjektiven Welt beziehen, um gemeinsame Situationsdeutungen auszuhandeln“.143 Soziales Handeln lässt sich bezüglich der Form der Koordinierung der zielgerichteten Handlungen verschiedener Interaktionsteilnehmer klassifizieren. Anhand dieser Unterscheidung treten die jeweiligen Funktionen für die Reproduktion gesellschaftlicher Zusammenhänge zu Tage. Dem strategischen Handeln fällt dabei eine Außenseiterrolle zu. Es wird allein über das „Ineinandergreifen egozentrischer Nutzenkalküle“ koordiniert, weshalb es zu dessen Verständnis genügt, die teleologische Struktur erfolgsorientierten Handelns zu erläutern. Im Gegensatz dazu müssen beim normenregulierten, dramaturgischen und kommunikativen Handeln zunächst die Bedingungen der Verständigung geklärt werden, anhand derer die Handlungen koordiniert werden – laut Habermas: „[...] Bedingungen der Legitimität, der Selbstdarstellung oder des kommunikativ erzielten Einverständnisses, unter denen Alter seine Handlungen an die von Ego ‚anschließen‘ kann.“144 Strategische Handlungen sind also primär erfolgsorientiert und werden über gegenseitige Einflussnahme koordiniert, während die übrigen Typen sozialen Handelns verständigungsorientiert sind, um einzelne Handlungssequenzen aneinander auszurichten. Hier funktioniert die Koordination über ein wie immer geartetes Einverständnis. Für das Verständnis von Gesellschaft im oben angeführten Sinne – also: Wie ist soziale Ordnung möglich? – sind die aufgeführten Handlungsmodelle für sich genommen, laut Habermas, nur bedingt geeignet. Mit ihnen rücken jeweils nur bestimmte Aspekte sozialer Regelzusammenhänge in den Blick. So lässt sich über den Begriff des strategischen Handelns keine stabile Ordnung konstruieren. Habermas verweist darauf, dass daran anknüpfende utilitaristische Handlungstheorien immer gezwungen sind, normative Zusatzannahmen zu machen. Die Koordination strategischer Handlungen ist nur von außen, etwa durch das Aus-

143 Vgl. ebd., S. 142. 144 Ebd., S. 151.

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balancieren von Interessen über mediengesteuerte Regelsysteme von Machtbeziehungen oder über Märkte denkbar.145 Normengeleitetes Handeln setzt hingegen Gesellschaft als starres Institutionensystem voraus. So findet sich etwa in entsprechenden Rollentheorien kein Platz mehr für „konstruktive Leistungen“ der einzelnen Akteure.146 Aus der Perspektive dramaturgischen Handelns – hier sind für ihn bestimmte phänomenologische Ansätze paradigmatisch – ist es laut Habermas nicht möglich, den „Pluralismus von sich selbst behaupteter Identitäten“ auf eine institutionelle Ordnung hin zu überschreiten.147 Infrage kommt daher nur noch der letzte Kandidat: das kommunikative Handeln, das durch seine explizit über die reflexive Struktur der Sprache vermittelte Handlungskoordinierung dafür geeignet ist, die Reproduktion sozialer Ordnung bis zu einem gewissen Grad transparent zu machen. Es nimmt von daher eine Sonderstellung ein. Diesen Handlungstyp entwickelt Habermas in Auseinandersetzung mit dem symbolischen Interaktionismus und der Ethnomethodologie. Um erläutern zu können, wodurch sich das kommunikative Handlungsmodell von den anderen Handlungstypen besonders auszeichnet, muss darauf rekurriert werden, dass jegliches Handeln immer in Situation stattfindet. Handeln ist laut Habermas die „Bewältigung von Situationen“.148 Und erst unter Berücksichtigung des Handlungskontextes kann der Begriff des kommunikativen Handelns adäquat entwickelt werden. Unter Situation versteht Habermas: „[...] ein durch Themen herausgehobener, durch Handlungsziele und -pläne artikulierter Ausschnitt aus lebensweltlichen Verweisungszusammenhängen, die konzentrisch angeordnet sind und mit wachsender raumzeitlicher und sozialer Entfernung zugleich anonymer und diffuser werden.“149

Handeln in Situation erfordert Situationsdeutung. Dies geschieht, indem sie von den Akteuren sowohl in ihren Weltbezügen mit Blick auf Handlungsabsichten und Pläne wie hinsichtlich von Beschränkungen bezüglich von Handlungsalternativen thematisierbar wird. Zur Beschreibung von Situationen müssen sie deshalb unter der Hand zwischen Lebenswelt und Welt unterscheiden. Situationen sind eingebettet in den Horizont einer jeweiligen Lebenswelt, die „[…] im Modus von Selbstverständlichkeiten gegenwärtig […]“ ist und „[…] mit denen die

145 Vgl. Habermas (1982), a.a.O., S. 577f. 146 Vgl. ebd., S. 581. 147 Vgl. ebd., S. 581f. 148 Vgl. ebd., S. 589. 149 Habermas (1981), a.a.O., Bd. II, S. 187 (Hervorhebung i.O.).

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kommunikativ Handelnden intuitiv so vertraut sind, daß sie nicht einmal mit der Möglichkeit ihrer Problematisierung rechnen“.150 Dieser lebensweltliche Hintergrund gibt den beschränkenden Rahmen ab. Was die Handelnden thematisieren, bezieht sich auf eine sprachlich vermittelte Welt des Objektiven, Normativen oder Individuell-Expressiven. Kommunikatives Handeln zeichnet sich dadurch aus, dass es nicht allein Akteure in ihrem jeweiligen Aktor-Welt-Bezug voraussetzt, sondern Hörer und Sprecher, die sich über die Situationsdeutung verständigen müssen, indem sie sich zur Koordinierung ihrer Handlungen an gegenseitigen Geltungsansprüchen orientieren müssen.151 Damit wird unterstellt, „[...] daß sich die Aktoren der Weltbezüge, die sie aufnehmen, zugleich sprachlich bemächtigen und für das kooperativ verfolgte Ziel der Verständigung mobilisieren“.152 Dem Modell des kommunikativen Handelns kommt somit aufgrund seiner sprachlich vermittelten Reflexionsform und seiner strukturellen Orientierung auf Verständigung innerhalb der Lebenswelt eine Sonderolle zu. Deren Gewicht hat vor dem Hintergrund der Rationalisierung der Weltbilder innerhalb des Prozesses der Modernisierung schrittweise zugenommen. Mit Blick auf die Frage nach der Möglichkeit von sozialer Ordnung stellt kommunikatives Handeln denjenigen Handlungstypus dar, der gewissermaßen als eine Art Bindeglied zwischen den anderen Handlungstypen fungieren kann. Nur dadurch ist gewährleistet, dass Verständigung als konstitutiv für die symbolische Reproduktion der Lebenswelt gefasst werden kann. Aus formalpragmatischer Sicht ist der Begriff der Lebenswelt „der Komplementärbegriff zum kommunikativen Handeln“.153 Zum Verständnis von Gesellschaft in ihrer Totalität reicht der Begriff des kommunikativen Handelns allerdings nicht aus. Die formalpragmatische Analyse der Strukturen der Lebenswelt kommt dann an ihre Grenze, wenn aus der Binnenperspektive der Teilnehmer nicht mehr erklärt werden kann, warum zielgerichtete Handlungen nicht nur über Verständigungsprozesse koordiniert werden, sondern auch über funktionale Zusammenhänge, die weder intendiert noch ohne Weiteres als solche wahrgenommen werden können.154 Sartre hat diese Erfahrung in der „Critique de la raison dialectique“ aus der Teilnehmerperspek-

150 Vgl. Habermas (1982), a.a.O., S. 591. 151 Vgl. Jürgen Habermas (1992): Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, Frankfurt/M., S. 33. 152 Vgl. Habermas (1982), a.a.O., S. 587. 153 Vgl. Habermas (1981), a.a.O., Bd. II, S. 182. 154 Vgl. ebd., S. 226.

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tive als Konfrontation mit dem ‚Praktisch-Inerten‘ umschrieben und sie folgendermaßen charakerisiert: „Aber man muß verstehen, daß diese Erfahrung nicht mehr die der Tat, sondern die des materialisierten Resultats ist. Sie ist nicht mehr das positive Moment, in dem man schafft, sondern das negative Moment, in dem man in der Passivität hervorgebracht wird durch das, was der praktisch-inerte Komplex aus dem gemacht hat, was man selbst gerade gemacht hat.“155

Habermas formuliert das Problem in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ nach einer Auseinandersetzung mit Durkheim unter dem Aspekt der Systemdifferenzierung und den Formen sozialer Integration, indem er zwischen verständigungsorientierten und funktionalen Mechanismen der Handlungsregulierung unterscheidet: „Die Analyse dieser Zusammenhänge ist nur möglich, wenn wir die Mechanismen der Handlungskoordinierung, die die Handlungsorientierungen der Beteiligten aufeinander abstimmen, von Mechanismen unterscheiden, die nicht-intendierte Handlungszusammenhänge über die funktionale Vernetzung von Handlungsfolgen stabilisieren. Die Integration eines Handlungssystems wird im einen Fall durch einen normativ gesicherten oder kommunikativ erzielten Konsens, im andern Fall durch eine über das Bewußtsein der Aktoren hinausreichende nicht-normative Regelung von Einzelentscheidungen hergestellt.“156

Dies ist der Punkt, an dem Habermas den methodischen Wechsel von der Handlungstheorie zur Systemtheorie vornimmt. Um funktionale Zusammenhänge – wie sie etwa Märkte darstellen, die als normfreies Medium die zielgerichteten Handlungen von Individuen als Markteilnehmer regeln und dabei gelegentlich auch nichtbeabsichtigte Handlungsfolgen herbeiführen – transparent machen zu können, ist es notwendig, die Teilnehmerperspektive zu verlassen und eine Beobachterperspektive einzunehmen. Dafür ist es erforderlich, die bislang unterstellte Identifikation von Gesellschaft und Lebenswelt aufzugeben157 und die aus

155 Sartre (1960), a.a.O., S. 360 (Hervorhebung i.O.). Habermas knüpft an diesen Begriff übrigens in „Faktizität und Geltung“ an einer Stelle selbst an. Es geht dort um die „Trägheitsmomente“ moderner komplexer Gesellschaften, denen „die Tendenz zur Verselbständigung“ innewohne und die Chancen demokratischer Einflussnahme; vgl. Habermas (1992), a.a.O., S. 390. 156 Habermas (1981), a.a.O., Bd. II, S. 179 (Hervorhebungen i.O.). 157 Vgl. ebd., S. 225.

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der Teilnehmerperspektive konzipierte Lebenswelt selbst als System von außen zu denken.158 Dieser Umschlag von der Binnen- in die Beobachterperspektive ist für die hier diskutierte Fragestellung von entscheidender Bedeutung. Denn mit dem methodischen Perspektivenwechsel stellt sich das Problem der Verschränkung der beiden Herangehensweisen, um eine kongruente Beschreibung gesellschaftlicher Prozesse leisten zu können. Von der Außenperspektive betrachtet, lassen sich für Habermas zunächst zwei Handlungssysteme unterscheiden, die sich durch verschiedene Formen gesellschaftlicher Integration auszeichnen.159 Das erste Modell geht weiterhin vom Begriff des kommunikativen Handelns aus, konstruiert mit hermeneutischen Mitteln aus der Binnenperspektive Gesellschaft als Lebenswelt. Ihr Integrationsmechanismus ist der der sozialen Integration über die Abstimmung einzelner Handlungsorientierungen. Systemtheoretisch gesprochen, findet innerhalb dieser Handlungssysteme die Reproduktion „symbolischer Strukturen einer Lebenswelt“160 statt. Basis dafür bleibt die Koordinationsleistung des kommunikativen Handelns. Im Kontrast dazu wird das zweite Handlungssystem aus der Beobachterperspektive skizziert und beschreibt Gesellschaft anhand eines Modells sich selbst steuernder Systeme. Sein Integrationsmodus funktioniert nach der Logik der Systemintegration durch die nicht-normative Steuerung von subjektiv unkoordinierten Einzelentscheidungen und deren Handlungsfolgen. Auf dieser Ebene dominieren instrumentelle bzw. strategische Handlungstypen. In das systemintegrativ geregelte Handlungssystem fällt ein wesentlicher Teil der materiellen Reproduktion. Aus Sicht der Lebenswelt ist diese zwar eine notwendige Bedingung für die Erhaltung ihrer symbolischen Strukturen, „[a]ber die Vorgänge der materiellen Reproduktion kommen nur aus der Perspektive der handelnden Subjekte, die zielgerichtet ihre Situation bewältigen, in den Blick – ausgeblendet werden alle kontraintuitiven Aspekte des gesellschaftlichen Reproduktionszusammenhangs“.161 Der frühen Terminologie von Habermas folgend ließe sich das vornehmlich über die Systemintegration gefasste Handlungssystem als der Zusammenhang gesellschaftlicher Arbeit fassen, während die Lebenswelt weitgehend auf Interaktion basiert.162

158 Vgl. ebd., S. 348. 159 Vgl. ebd., S. 226f. 160 Vgl. ebd., S. 226. 161 Ebd. 162 Vgl. Jürgen Habermas (1967): Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels Jenenser ‚Philosophie des Geistes’. In: ders., Technik und Wissenschaft als

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Mit der Einnahme der Beobachterperspektive schrumpft die Lebenswelt freilich zu einem Subsystem.163 Vor dem Hintergrund der Rationalisierungsprozesse in der Moderne und der weiteren Ausdifferenzierung von für sich gegeneinander Umwelten bildenden selbstregulierenden Systemen entkoppeln sich zudem System und Lebenswelt.164 Selbst innerhalb der Lebenswelt differenzieren sich Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit.165 Habermas geht davon aus, dass im Prozess sozialer Evolution die Komplexitätssteigerungen auf der Systemebene und die zunehmende Rationalisierung der Lebenswelt dazu führen, dass sich System und Lebenswelt so weit voneinander differenzieren, dass sie sich nicht mehr ineinander überführen lassen.166 Für die Konzeption einer kritischen Gesellschaftstheorie ist das der springende Punkt: Wie vermitteln sich die unterschiedlichen Logiken von System und Lebenswelt miteinander? Sind sie miteinander kompatibel oder verhalten sie sich aus strukturellen Gründen zueinander widersprüchlich? Methodisch bemerkenswert ist, dass Habermas die ursprünglich nur analytisch eingeführte Unterscheidung zwischen System und Lebenswelt spätestens an dieser Stelle in eine Unterscheidung auf der Ebene des Untersuchungsgegenstandes transformiert. System und Lebenswelt sind unter den Bedingungen der Moderne nun offenbar zwei getrennte Bereiche der Gesellschaft.167 Die symbolische Reproduktion der Lebenswelt vollzieht sich über die verständigungsorientierten Mechanismen der Sozialintegration. Diese Eigenlogik widersetzt sich, laut Habermas, den Imperativen der Systemintegration. Er unterstellt, dass sich lediglich die Funktionsbereiche der materiellen Produktion über Steuerungsmedien aus der Lebenswelt ausdifferenzieren lassen.168 Darin besteht allerdings zugleich das strukturelle Konfliktpotenzial moderner Gesellschaften: in der Gefahr einer Kolonisierung der Lebenswelt durch die Imperative der Sub-

‚Ideologie‘, Frankfurt/M. 1969, S. 9-49; vgl. auch Habermas (1981), a.a.O., Bd. II, S. 348. 163 Vgl. Habermas (1981), ebd., S. 258. 164 Vgl. ebd., S. 230ff. 165 Vgl. ebd., S. 427. 166 Vgl. ebd., S. 230. 167 Vgl. Axel Honneth (1986): Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie, Frankfurt/M., S. 322 (hier zitiert nach der erweiterten Ausgabe Frankfurt/M. 1989). 168 Vgl. Habermas (1981), a.a.O., Bd. II, S. 391.

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systeme des Marktes und der Bürokratie.169 Seine gesellschaftskritische Diagnose formuliert Habermas daher folgendermaßen: „[...] die weitgehende Entkoppelung von System und Lebenswelt ist eine notwendige Bedingung für den Übergang von den stratifizierten Klassengesellschaften der frühen Moderne; aber das kapitalistische Muster der Modernisierung ist dadurch gekennzeichnet, daß die symbolischen Strukturen der Lebenswelt unter den Imperativen der über Geld und Macht ausdifferenzierten und verselbständigten Subsysteme verformt, d.h. verdinglicht werden.“170

Habermas’ analytische Trennung zwischen System und Lebenswelt ist von zahlreichen Seiten kritisiert worden.171 Insbesondere die Notwendigkeit einer Integration der Systemtheorie ist dabei immer wieder prinzipiell infrage gestellt worden.172 Für die hier entwickelte Fragestellung ist primär der oben bereits theoriegeschichtlich erwähnte Zusammenhang von Emanzipationstheorie und Gesellschaftsanalyse von Interesse. Das von Habermas auf der Basis kommunikativer Rationalität entworfene Lebensweltkonzept entgeht zwar aufgrund des intersubjektiven Ansatzes bis zu einem gewissen Grad der foucaultschen Humanismuskritik, es spielt aber, obwohl gerade hier die Ressource normativ-kritischer Rationalität verortet wird, innerhalb seiner Gesellschaftstheorie eine eigentümlich defensive Rolle. Die Eigenlogik der über die Steuerungsmedien Macht und Geld funktionierenden Systeme wird zunächst vor allem unter ihrem Entlastungsaspekt für die kommunikativ verfasste Lebenswelt beurteilt – zumindest solange sie deren symbolische Reproduktion nicht maßgeblich beeinträchtigt. Als bedrohlich angesehen wird die Konkurrenz von System- und Sozialintegration erst, wenn „[…] systemische Mechanismen Formen der sozialen Integration auch in jenen Bereichen, wo konsensabhängige Handlungskoordinierung

169 Vgl. ebd., S. 293. 170 Ebd., S. 420. 171 Vgl. etwa die Beiträge von McCarthy, Berger oder Arnason in dem Band „Kommunikatives Handeln“ von Honneth und Joas (Hg.) (1986), a.a.O; Thomas McCarthy (1985): Komplexität und Demokratie – die Versuchungen der Systemtheorie, ebd., S. 177-215; Johannes Berger (1982): Die Versprachlichung des Sakralen und die Entsprachlichung der Ökonomie, ebd., S. 255-277; Johann P. Arnason: Die Moderne als Projekt und Spannungsfeld, ebd., S. 278-326. 172 Vgl. etwa Hans Joas (1986): Die unglückliche Ehe von Hermeneutik und Funktionalismus. In: Honneth/ders. (Hg) (1986), a.a.O., S. 144-176; Honneth (1986), a.a.O., S. 282 ff, insbesondere S. 313ff.

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nicht substituiert werden kann […]“, verdrängen.173 Erst dann, wenn die „[…] symbolischen Reproduktionen der Lebenswelt bedroht sind […]“, leistet die Lebenswelt „[a]n der zwischen System- und Lebenswelt verlaufenden Front […]“, laut Habermas, „[…] hartnäckigen und aussichtsreichen Widerstand […]“.174 Habermas betont das Eigenrecht der Systemlogik mit dem Argument, dass eine vollständige Bemächtigung der Systemlogik aus der Teilnehmerperspektive der Lebenswelt eine Überforderung der kommunikativen Vernunft bedeuten würde. Modelle kommunikativer Vergesellschaftung haben für komplexe Gesellschaften daher lediglich den „[…] Sinn einer methodischen Fiktion, die die unvermeidlichen Trägheitsmomente gesellschaftlicher Komplexität, also die Rückseite kommunikativer Vergesellschaftung ans Licht bringen soll […]“.175 Die Systemlogik behält gegenüber einem demokratisch verfassten Gemeinwesen quasi einen Autonomiestatus. „Der normative Sinn der Demokratie“, schreibt Habermas, „läßt sich gesellschaftstheoretisch auf die Formel bringen, daß die Erfüllung der funktionalen Notwendigkeiten systemisch integrierte Handlungsbereiche an der Integrität der Lebenswelt, d.h. an den Forderungen auf soziale Integration angewiesenen Handlungsbereiche ihre Grenze finden soll. Andererseits kann die kapitalistische Eigendynamik des Wirtschaftssystems nur in dem Maße gewahrt bleiben, wie der Akkumulationsprozeß von Gebrauchswertorientierungen abgekoppelt wird. Der Antriebsmechanismus des Wirtschaftssystems muß von lebensweltlichen Restriktionen, also auch von den ans administrative Handlungssystem gerichteten Legitimationsforderungen möglichst freigehalten werden.“176

Politisch-normative Einflussnahme auf die Systemimperative seitens der Lebenswelt ist innerhalb des Gesellschaftskonzepts von Habermas lediglich dadurch möglich, dass sich die Zivilgesellschaft über autonome Öffentlichkeiten und politische Diskurse artikuliert und deren Forderungen und Inhalte im demokratischen Verfahren Rechtsförmigkeit annehmen. Das Rechtssystem dient dabei als medialer Übersetzungsmechanismus, der die Botschaften von System und Lebenswelt miteinander kompatibel macht. „Die Sprache des Rechts bringt lebensweltliche Kommunikation aus Öffentlichkeit und Privatsphäre in eine Form, in der diese Botschaften auch von den Spezialkodes der selbstgesteuerten

173 Vgl. Habermas (1981), a.a.O., Bd. II, S. 293. 174 Vgl. ebd., S. 516. 175 Vgl. Habermas (1992), a.a.O., S. 396. 176 Habermas (1981), a.a.O., Bd. II, S. 507.

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Handlungssysteme aufgenommen werden können – und umgekehrt“, so Habermas.177 Aus der Perspektive der hier diskutierten Frage nach dem Verhältnis von Emanzipationstheorie und Gesellschaftsanalyse ist festzuhalten, dass Habermas innerhalb seiner Unterscheidung von System und Lebenswelt wesentliche Komponenten der gesellschaftlichen Realität, nämlich die über die Steuerungsmedien Geld und Macht koordinierten Subsysteme von Wirtschaft und Bürokratie, gewissermaßen für sakrosankt erklären muss. Diese Bereiche stabilisieren sich, wenn auch krisenförmig, entsprechend der Eigenlogik selbstgesteuerter Systeme. Lediglich die symbolische Reproduktion der Lebenswelt enthält über ihre kulturellen, sozialen und persönlichen Teilbereiche aufgrund ihres handlungstheoretischen Korrelats, des kommunikativen Handelns, eine normative Dimension. Habermas verortet in der Struktur der Lebenswelt zwar emanzipatorische Potenziale, hier liegt in der kommunikativen Vernunft auch der Maßstab der Kritik, doch diese Potenziale lassen sich lediglich in den formalen Voraussetzungen der sprachlichen Interaktion bestimmen. „Die utopische Perspektive von Versöhnung und Freiheit ist in den Bedingungen einer kommunikativen Vergesellschaftung der Individuen angelegt, sie ist in den sprachlichen Reproduktionsmechanismen der Gattung schon eingebaut“, so Habermas.178 Konstitutiv für Gesellschaftsanalyse und Gesellschaftskritik sind damit formale Bedingungen, auf eine inhaltliche Auszeichnung menschlicher Emanzipationsziele kann die „Theorie des kommunikativen Handelns“ weitgehend verzichten. Diese bleiben an empirische Lebensformen geknüpft und müssen sich über die Rekonstruktion des Rationalisierungsprozesses innerhalb der Moderne historisch bestimmen lassen. Ein Grund dafür, dass Habermas sowohl auf der Systemebene wie innerhalb der Lebenswelt zu einer weitgehend konfliktarmen Beschreibungen neigt, dürfte in der hohen Abstraktionsebene liegen, auf der seine Gesellschaftstheorie angelegt ist. Das eher defensiv angelegte Lebensweltkonzept hängt zum Teil auch damit zusammen, dass Habermas ein „[…] ‚unterkomplexes Bild‘ der systeminternen Probleme und Widersprüche […]“ zeichnet, wie etwa Johannes Berger bemängelt.179 So unterstellt Habermas offenbar, dass zum Beispiel kapitalistische Wirtschaftssysteme nicht strukturell instabil sind. Indem er seine Zeitdiagnose am keynesianisch konzipierten Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit ansetzt, extrapoliert er diese Ära der durch sozialstaatliche Kompromisse befriedeten Klassenkonflikte, in der die faktische Möglichkeit staatlicher Interventionen zur

177 Habermas (1992), a.a.O., S. 429. 178 Habermas (1981), a.a.O., Bd. I, S. 533. 179 Vgl. Berger (1982), a.a.O., S. 272.

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Beseitigung bzw. Linderung wirtschaftlicher Krisen bestand.180 Angesichts des Niederganges dieses fordistischen Modells,181 nach dessen Vorbild er offenbar das wirtschaftliche und politische Subsystem in Gänze beschreibt, und angesichts der weltwirtschaftlichen Entwicklung seit Ende der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts erscheinen allerdings zumindest Zweifel angebracht, ob die habermassche Gesellschaftsanalyse für diese Bereiche noch adäquat formuliert ist. Vor dem Hintergrund der technologischen, sozialen, ökonomischen und ökologischen Auswirkungen der Globalisierung ist nicht nur zu überlegen, inwieweit andere Analysemodelle182 die Eigenlogik auf der Systemebene präziser erfassen, sondern auch zu fragen, welche Rückwirkungen diese auf eine kritische Gesellschaftstheorie insgesamt haben könnte. So entsteht damit einerseits das Problem der Auswirkungen von Systemkrisen auf den Bereich der Lebenswelt in einer anderen Form, andererseits könnte sich aber auch die Frage nach möglichen Eingriffen in die Systemlogik dann auf neue Weise stellen. Kritisch geprüft werden müsste dann allerdings auch das emanzipatorische Potenzial, das Habermas in der Lebenswelt verortet. Denn auch die formalprag-

180 Vgl. Habermas (1981), a.a.O., Bd. II, S. 505f. 181 Ich gebrauche hier den von Antonio Gramsci stammenden Begriff ‚Fordismus‘ im Sinne der französischen Regulationstheorie als ‚Akkumulationsregime‘, das in der Wachstumsperiode der Nachkriegszeit in Europa und Nordamerika auf der Produktionsebene

durch

das

tayloristische

System der

Arbeitsteilung

und

der

standardisierten Massenproduktion gekennzeichnet ist und in seiner sozialen Komponente vor allem durch Vollbeschäftigung und Massenkonsum. Vgl. Michel Aglietta (1976): Régulation et crises du capitalisme. L’expérience des États-Unis, Paris; Joachim Hirsch/Roland Roth (1986): Das neue Gesicht des Kapitalismus. Vom Fordismus zum Postfordismus, Hamburg. Vgl. auch: Antonio Gramsci (1934): Americanismo e fordismo (Quaderno 22). In: ders., Quaderni del carcere. Vol. III, Torino 1975, S. 2137-2181. 182 Neuere Untersuchungen, die sowohl die qualitativen Veränderungen auf der Systemebene wie deren Auswirkungen auf die Lebenswelt zu berücksichtigen versuchen und zum Teil sogar beanspruchen, eine normative Basis der Kritik ausweisen zu können, haben mit ganz unterschiedlichen theoretischen Ansätzen arbeitende Autoren vorgelegt. Vgl. etwa Luc Boltanski/Ève Chiapello (1999): Le nouvelle esprit du capitalisme, Paris; das von Althussers strukturalem Marxismus beeinflusste Autorenteam Michael Hardt/Antonio Negri (2000): Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt am Main/New York 2000; oder die zum Teil von Foucault inspirierte Arbeit von Robert Castel (1995): Les métamorphoses de la question social. Une chronique du salariat, Paris.

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matisch entwickelten Handlungsbegriffe genügen möglicherweise weder zur adäquaten Beschreibung der phänomenalen Vielfalt in der Realität alltäglicher Praxis183 noch zur Auszeichnung normativ-utopischer Entwürfe individueller Praktiken. Helmut Fahrenbach plädiert u.a. aus diesem Grund für die Rückbindung der habermasschen Handlungstheorie an einen anthropologischen Bezugsrahmen.184 Demzufolge müsste das Handlungsmodell zunächst aus der „strukturellen ‚Grundverfassung‘ menschlichen Daseins“185 entwickelt werden. Erst in dessen Existenzvollzug lasse sich die „basale Strukturkategorie“ eines „verstehend tätigen Sich-Verhaltens des Menschen“186 bestimmen. Aus dieser Perspektive ist Handeln nur eine Verhaltensart in Bezug auf die Welt, deren Verhältnis zu den übrigen, zum Feld menschlicher Erfahrung sowie den Deutungs- und Darstellungsformen gehörenden, erst geklärt werden müsse.187 Denn, so Fahrenbach: „[...] die emanzipatorische Perspektive kritischer Gesellschaftstheorie beansprucht (auf der anthropologisch-normativen Ebene) Elemente einer normativen Bestimmung des Menschen als eines reflektierten, autonomen und kreativen Sich-Verhalten-könnens [...]“.188 Wie weit eine derartige Konzeption – insbesondere vor dem Hintergrund von Foucaults Humanismuskritik – tragen kann, wird im Laufe dieser Arbeit anhand von Sartres historisch-struktureller Anthropologie zu diskutieren sein. Der Versuch, den emanzipatorischen Anspruch einer kritischen Gesellschaftstheorie tiefer, und das heißt konkreter anzusetzen als dies mit den Mitteln der habermasschen Formalpragmatik möglich ist, würde zumindest die Perspektive eröffnen, den defensiven Charakter der Lebenswelt zu überwinden. Die Lebenswelt wäre dann nämlich nicht mehr allein „[…] eine Erbschaft aus Bräuchen, Traditionen, Gewohnheiten und Normen, die gegen die sie erschütternden Veränderun-

183 Vgl. Joas (1986), a.a.O., S. 149. 184 Vgl. Helmut Fahrenbach (1984): Zum anthropologischen Bezugsrahmen der ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ von Jürgen Habermas. In: Willem van Reijen/ Karl-Otto Apel (Hg.), Rationales Handeln und Gesellschaftstheorie, Bochum, S. 81113. 185 Vgl. Fahrenbach (1985): Sich-Verhalten, Handeln, Praxis. In: Michael Grauer/ Gottfried Heinemann/Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Die Praxis und das Begreifen der Praxis, Kasseler Philosophische Schriften 13, Kassel, S. 196. 186 Vgl. ebd., S. 188 (Hervorhebung i.O.). 187 Vgl. ebd., S. 193f. 188 Fahrenbach (1984), a.a.O., S. 107.

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gen verteidigt werden müßten“, wie André Gorz189 gegen den Lebensweltbegriff von Habermas als einem „[…] Reservoir von Selbstverständlichkeiten oder unerschütterlichen Überzeugungen […]“, als „[…] einen kulturell überlieferten und sprachlich organisierten Vorrat an Deutungsmustern […]“190 polemisiert. Sein Vorwurf: Habermas’ Lebensweltbegriff sei konservativ. Über die symbolische Reproduktion der Lebenswelt lasse sich lediglich das Bestehende verteidigen, aber kein neues Konzept für ein anderes Gesellschaftsmodell entwerfen.191 Das ist aber für Gorz gerade der Anspruch, den eine kritische Gesellschaftstheorie haben muss. Er besteht deshalb trotz aller Schwierigkeiten, die ein bewusstseinstheoretischer Ansatz mit sich bringt, im Kontrast zur intersubjektiven Konzeption von Habermas auf dem Vorrang der Autonomie des Individuums, den auch er, ebenso wie Fahrenbach, in der menschlichen Existenz verankert sieht. „Es kann“, und hier folgt Gorz unmittelbar der Intuition Sartres, „nur dann eine autonome Reflexion, eine künstlerische oder geistige Schöpfung, eine moralische Revolte geben, wenn ein ureigener Riß das individuelle Subjekt daran hindert, völlig in der ‚Identität‘ aufzugehen, die ihm seine soziale Zugehörigkeit verleiht.“192 Mit der Verankerung der Gesellschaftstheorie in einer wie auch immer konzipierten schwachen Anthropologie und der damit verbundenen Verlagerung der normativen Dimension auf das Individuum193 wäre u.U. auch der Übergang von einer weitgehend konsensorientierten Handlungstheorie, wie sie Habermas formuliert, zu einem konfliktorientierten Ansatz verbunden – oder, was die Analyse empirischer gesellschaftlicher Konstellationen angeht, zumindest mit einer ent-

189 Vgl. André Gorz (1988): Kritik der ökonomischen Vernunft. Sinnfragen am Ende der Arbeitsgesellschaft, Berlin 1989, S. 251. 190 Vgl. Habermas (1981), a.a.O., Bd. II, S. 189. 191 Vgl. Gorz (1988), a.a.O., S. 245. Auf die Problematik, dass aus dem Lebensweltkonzept von Habermas schwer zu ersehen ist, wie Innovationen entstehen, verweist auch Waldenfels; vgl. Bernhard Waldenfels (1985): Rationalisierung der Lebenswelt – ein Projekt. Kritische Überlegungen zu Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns. In: ders., In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt/M., S. 107ff. 192 Gorz (1988), a.a.O., S. 247. 193 Mit möglichst sparsamen normativen Implikationen versucht das etwa Giddens, fast emphatisch

dagegen

der

eher

politisch-praktisch

motivierte,

radikale

Individualismus von d’Arcais. Vgl. Anthony Giddens (1984): Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung, Frankfurt am Main/New York 1992; Paolo Flores d’Arcais (1997): Die Linke und das Individuum. Ein politisches Pamphlet, Berlin.

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sprechenden Ergänzung, um in der Lage zu sein, reale Machtverhältnisse adäquat beschreiben zu können. Dies ist mit dem habermasschen Instrumentarium nur eingeschränkt möglich. Durch die Unterstellung zweier weitgehend autonom existierender Handlungsbereiche als System und Lebenswelt unterliegt Habermas zwei komplementären Fiktionen, wie Axel Honneth kritisiert: der Existenz einer normfreien Handlungsorganisation und einer machtfreien Kommunikationssphäre.194 Beide sind aber, so wie es aussieht, eng miteinander verschränkt. Erst über die Analyse der Machtförmigkeit von Handlungszusammenhängen, die die repressive Komponente der wirtschaftlichen und politischen Subsysteme direkt auf der Ebene der Lebenswelt mit in den Blick bekommt, eröffnet sich eine Chance, auf der Basis des gesellschaftlichen Seins eine reale normative Spannung auszumachen. Der emanzipatorische Anspruch einer kommunikativ verfassten Vernunft würde damit nicht notwendig infrage gestellt. Damit der Widerspruch zwischen System und Lebenswelt auf der Ebene der Theorie nicht stillgestellt wird, bedarf es aber der inhaltlichen Bestimmung normativer Ansprüche der gesellschaftlichen Subjekte, Gruppen und Klassen und deren teils homogen, teils konflikthaft strukturierten Interessen.195

194 Vgl. Honneth (1986), a.a.O., S. 328. 195 Dass Habermas die Konfliktdimension gesellschaftlicher Verhältnisse begrifflich kaum fasst, ist möglicherweise auch ein Grund dafür, warum die „Theorie des kommunikativen Handelns“ nur mäßige Resonanz bei den osteuropäischen Oppositionsbewegungen der 80er Jahre gefunden hat. Hinzu kommt freilich, dass die nach sowjetischem Modell verfassten Systeme von ihm nie hinreichend analysiert wurden. Habermas hat dies selbst einmal als einen „blinder Fleck“ in der „Frankfurter Forschungstradition“ bezeichnet (vgl. Jürgen Habermas (1982a): Replik auf Einwände. In: ders. (1984), a.a.O., S. 567.) und an anderer Stelle bestätigt, dass er sich „theoretisch nicht mit dem Stalinismus auseinandergesetzt“ hat (vgl. das Streitgespräch mit Adam Michnik: „Mehr Demut, weniger Illusionen.“ In: Die Zeit, Nr. 5, 1993, S.12.). Ein Indiz dafür, dass Habermas auch heute noch beim harten Kern der ehemaligen Dissidenten nicht sonderlich hoch im Kurs steht, sind auch die distanzierten Stellungnahmen in: Mathias Richter/Inka Thunecke (Hg.) (2005): Metamorphosen der Utopie. Rückblicke und Ausblicke nach Europa, Mössingen-Talheim; vgl. besonders Helena Łuczywo (S. 97), Jaroslav Šabata (S. 185f, 195), István Eörsi (S. 332). Sartres individualistischer Ansatz war derweil in Osteuropa, insbesondere im Umfeld revisionistischer Kreise in den 60er und 70er Jahren, weit einflussreicher. Vgl. dazu u.a.: Herbert Schnädelbach (1988): Sartre und die Frankfurter Schule. In: König (Hg.), Sartre. Ein Kongreß, a.a.O., S. 17f; Leszek Kołakowski (1977–79): Die Hauptströmungen des Marxismus. Entstehung,

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Aufbau der Arbeit In dieser Richtung sollen im Folgenden die beiden Theorieansätze von Sartre und Foucault gegeneinander gelesen werden. Dabei versteht es sich freilich von selbst, dass ein derartiger Versuch nicht hinter die aktuellen Theoriestandards zurückfallen darf. Die offensichtlichen Schwächen von Sartres bewusstseinsphilosophischer Begründungsstruktur menschlichen Handelns werden daher partiell repariert werden müssen, indem versucht wird, dessen konflikttheoretische Praxisphilosophie so weit wie möglich für eine intersubjektiv-anerkennungstheoretische Lesart fruchtbar zu machen. Ebenso können Foucaults historische Untersuchungen nur dann für eine Diagnose der Gegenwart herangezogen werden, wenn geklärt werden kann, wie der Anspruch, eine virtuelle Beobachterperspektive einnehmen zu können, methodisch abgesichert werden kann. Zudem muss ausgemessen werden, auf welchen Gegenstandsbereich sich das bezieht, was Foucault Mitte der 60er Jahre mit ‚System‘ bezeichnet. Anders als bei Habermas ist damit mehr als die normenneutral gesteuerten Systeme Politik und Wirtschaft gemeint. Foucaults Systemanalyse erstreckt sich auf den weiten Bereich der regulierenden Mechanismen von Diskursen und Praktiken im Spannungsfeld von Wissen und Macht. Die Explikation seines methodischen Zugangs an einzelnen lokalen Konfliktpunkten wie Wahnsinn, Strafvollzug oder Sexualität liefert dabei zwar eine Fülle materialer Einsichten, etwa über die institutionelle Konstitution und Zurichtung von Gegenstands- und Erlebnisbereichen der Lebenswelt, der Grad und die Grenzen ihrer Generalisierbarkeit für eine Theorie der Gesellschaft muss aber erst noch herausgearbeitet werden. Dabei stellt sich nicht zuletzt auch die Frage nach dem Ort der Kritik bei Foucault.

Entwicklung, Zerfall (zitiert nach der Ausgabe München/Zürich 1988/89), Bd. III, S. 503; auch Habermas (1957): Literaturbericht zur philosophischen Diskussion um Marx und den Marxismus (1957). In: ders., Theorie und Praxis, Frankfurt/M. 41971, S. 281, 449; exemplarisch dazu: Mihály Vajda (1975): Marxismus, Existentialismus, Phänomenologie. Ein Dialog. In: Georg Lukács/Agnes Heller/ders./György Márkus/Maria Márkus/Andras Hegedüs/Ferenc Fehér, Individuum und Praxis. Positionen der ‚Budapester Schule‘, Frankfurt/M., S. 32-77. In den 80er Jahren kursierten offenbar auch Foucault-Texte in den Dissidentenzirkeln, vor allem „Surveiller et punir“ wurde aufmerksam rezipiert. Vgl. Jeanette Colombel (1994): Michel Foucault. La clarté de la mort, Paris, S. 39ff; zum Einfluss von Foucault auf die Opposition in Osteuropa bis 1989 vgl auch: Vladimir Gradev (1997): La lecture brisée. Notes sur les voyages foucaldiens à l’Est. In: Dominique Franche et al. (Hg.), Au risque de Foucault, Paris, S. 175-181.

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Um den jeweiligen Beitrag von Sartre und Foucault für eine kritische Gesellschaftstheorie diskutieren zu können, folgt der Aufbau der Arbeit der oben skizzierten Fragestellung nach dem Verhältnis von Systemanalyse und Emanzipationstheorie. Dafür sollen in einem ersten Schritt zunächst kurz die Konfliktlinien des Humanismusstreites von 1966 vergegenwärtigt werden: Dies dient als Ausgangspunkt, um die Bedeutung der zentralen Begriffe, um die sich der Streit drehte, die Rolle des Subjekts, die unterschiedlichen Konzeptionen von Geschichte sowie von Praxis über ihre Rekonstruktion aus den jeweiligen Werken von Sartre und Foucault zu präzisieren und sie wechselseitig der jeweiligen Kritik zu unterziehen (Kapitel II). Foucaults archäologische Kritik der modernen Humanwissenschaften, wie er sie in „Les mots et les choses“ entfaltet hatte, ist hierfür der Einstieg, um auf epistemologischer Ebene die methodologischen Grundlagen für einen diskursanalytisch verfahrenden theoretischen Anti-Humanismus aus der Beobachterperspektive zu diskutieren (Kapitel III). Von gesellschaftstheoretischem Interesse ist dabei insbesondere, welche Defizite Foucault innerhalb des Begründungsdiskurses einer modernen Handlungstheorie aufdeckt. Diese geben die Folie ab, auf der Sartres Versuche einer theoretischen Grundlegung des Subjekts zunächst in seiner frühen bewusstseinsphilosophischen Konzeption und schließlich in seiner praxisphilosophischen Variante kritisch durchleuchtet werden sollen. Unter Berücksichtigung der dabei zu Tage tretenden epistemologischen Klippen soll ein erster Versuch unternommen werden, auf der Grundlage von Sartres Handlungstheorie das methodische Rüstzeug für eine Theorie der Gesellschaft aus der Binnenperspektive eines praktisch-kritischen Humanismus zu rekonstruieren, wie sie in der „Critique de la raison dialectique“ angelegt ist (Kapitel IV). Damit wird sich die Untersuchung bereits auf das Feld des Politisch-Praktischen verlagern. Vornehmlich soll dabei ausgeleuchtet werden, wie weit ein konsequent aus der Teilnehmerperspektive entwickeltes handlungstheoretisches Konzept trägt, um gesellschaftliche Prozesse transparent zu machen. Im Zentrum steht dabei die in der „Critique de la raison dialectique“ entwickelte Konfliktstruktur zwischen einzelnen Subjekten, von der aus Sartre schrittweise über Serien, Kollektive und Gruppen die Binnenlogik von Institutionen zu entfalten versucht. Geklärt werden muss dabei der Status der dialektischen Vernunft für Sartres historisch-strukturelle Anthropologie und seine Begründung einer Moral der Befreiung. Spiegelverkehrt zu Foucaults Kritik der anthropologischen Begründung des modernen Subjekts muss Sartres zentraler Einwand gegen die Archäologie der Humanwissenschaften in Stellung gebracht werden: ein positivistisches Geschichtsverständnis, das aus methodischen Gründen nicht in der Lage sei, historische Transformationen zu erklären. Foucault begegnet diesem Einwand auf

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mehreren Ebenen (Kapitel V). In der „Archéologie du savoir“ entwirft er, noch mit diskursanalytischen Mitteln, eine alternative, mehrdimensionale Geschichtskonzeption, die auf die Kontinuitätsunterstellungen der Moderne zu verzichten versucht. Dieses Unterfangen treibt ihn allerdings über das epistemische Feld der Diskurse hinaus auf das Gebiet der Praktiken. Eine der Konsequenzen, die Foucault daraus zieht, ist eine Umstellung der Diskursanalyse auf die weitgehend genealogisch operierende Analytik der Macht. Damit tritt die bereits in der Diskursanalyse untergründig mitlaufende gesellschaftliche Dimension offen zu Tage. Historische Subjekte werden nun in epistemischer wie praktischer Hinsicht als Resultate sozialer Macht beschrieben – zunächst anhand eines Modells gesellschaftlicher Disziplinierung, schließlich über historisch wirkmächtige Selbsttechniken der Subjektivierung, die bis auf die Selbstverhältnisse der Individuen durchschlagen. Bemerkenswert daran ist für den hier verfolgten Zusammenhang, dass Foucault bis zuletzt konsequent in einer Beobachterperspektive verharrt und somit binnentheoretisch sich stellende Geltungsfragen außen vor zu lassen gedenkt. Daraus ergibt sich zumindest in methodischer Hinsicht der Anspruch, die eine historische Gesellschaft prägenden Regelmechanismen von einem externen Standpunkt aus erläutern zu können. Wie weit diese Konzeption trägt, soll in zwei ausführlichen Teilen zu Foucaults Analytik sozialer Macht zunächst anhand der disziplinarischen Logik der Normalisierungstechniken und schließlich am Modell der ‚Gouvernementalität‘ (Gouvernementalité) und der spezifischen Techniken des Selbst überprüft werden. Dabei wird versucht, die begrifflichen Implikationen von Foucaults Vorgehensweise zu klären, um abschätzen zu können, inwieweit sein Verfahren für eine kritische Gesellschaftsanalyse fruchtbar gemacht werden könnte. Von Interesse ist dabei, ob Foucaults machtanalytischer Ansatz geeignet ist, selbst auf der Handlungsebene die Logik individueller Praktiken transparent zu machen und vor allem, auf welche Weise sich Formen von Kritik und Widerstand diagnostizieren und bewerten lassen. Was Foucault aus der Beobachterperspektive als Mechanismus der Disziplinierung beschreibt, findet sich schließlich beim späten Sartre über weite Strecken als erlebte Subjektivierung aus der Binnenperspektive wieder. In seiner Flaubert-Studie unternimmt er einen neuen Anlauf, um gesellschaftliche Machtverhältnisse aus der Verkettung individueller Handlungen zu rekonstruieren – diesmal allerdings unter umfassender Berücksichtigung des Durchgriffs der Regulierungsmechanismen gesellschaftlicher Wissens- und Machtsysteme auf die Ebene individueller Welt- und Selbsterfahrung (Kapitel VI). Dabei gelingt es Sartre, Foucaults Subjektkritik über weite Strecken zu unterlaufen. Das Individuum wird als ein im Grunde durch die gesellschaftlichen Machtverhältnisse konstituiertes konzipiert. Gleichwohl versucht Sartre an einem minimalen Be-

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griff individueller Freiheit festzuhalten. Vor dem Hintergrund des Humanismusstreites wird zu klären sein, welcher Status einem so konzipierten Handlungssubjekt innerhalb eines Begründungsprogramms kritischer Gesellschaftstheorie noch zugewiesen werden kann. Innerhalb des hier gezogenen Bezugsrahmens gilt es zudem zu erörtern, wie groß die diagnostische Reichweite einer binnentheoretisch so ansetzenden Gesellschaftsanalyse ist. Um abschätzen zu können, ob der späte Sartre noch für sich beanspruchen kann, die theoretischen und praktischen Grundlagen der Emanzipation freizulegen, müssen die normativen Implikationen seines modifizierten Handlungskonzeptes bestimmt werden. Sowohl Sartres praxisphilosophischer Zugriff aus der Teilnehmerperspektive wie Foucaults archäologisch-genealogischer Blick von einem virtuellen Außen werden im Verlauf dieser Arbeit durchgängig als originelle Versuche behandelt, die Verschränkung von System und Lebenswelt aus jeweils unterschiedlichen Richtungen zu konzipieren. Abschließend solle beide Ansätze in methodischer Hinsicht in das Spektrum konkurrierender Theorieangebote eingeordnet werden, um deren Status und Relevanz für eine moderne Gesellschaftstheorie grob umreißen zu können (Kapitel VII). Das Ziel ist dabei, von der Sache her mögliche Anschlussstellen zu lokalisieren und die notwendigen methodologischen Voraussetzungen zu klären, unter denen die beiden sich zunächst scheinbar ausschließenden Theorieprogramme miteinander kompatibel gemacht werden könnten. Geleitet ist dieses Unterfangen von der Vermutung, dass eine Verschränkung von Teilnehmer- und Beobachterperspektive wie sie von Sartre einerseits und von Foucault andererseits entwickelt wurde, für das Verständnis sozialer Konflikte methodisch fruchtbar gemacht werden könnte. Gelänge dies, wäre zumindest angedeutet, unter welchen Voraussetzungen Gesellschaftsanalyse und Emanzipationstheorie heutzutage zusammengedacht werden können. Die von Henri Lefebvre gebrauchte Metapher von der „gekreuzten Kritik“, der „Konfrontation des philosophischen Projekts mit dem ‚Wirklichen‘“,196 erhielte dann vielleicht wieder einen pragmatischeren Sinn: verstanden als das Ausleuchten des Spannungsverhältnisses zwischen Emanzipationsansprüchen, wie sie von realen Subjekten, Gruppen und Klassen formuliert werden, und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in der Gestalt systemischer Zwänge, aber u.U. auch vorhandener Veränderungspotenziale.

196 Vgl. Henri Lefebvre (1965): Metaphilosophie. Prolegomena, Frankfurt/M. 1975, S. 330 (Hervorhebung i.O.). Vgl. dazu auch: Helmut Fahrenbach (1982): H. Lefebvres ‚Metaphilosophie‘ der Praxis. In: Michael Grauer/Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Grundlinien und Perspektiven einer Philosophie der Praxis. Kasseler Philosophische Schriften 7, Kassel, S. 100.

II Der Humanismusstreit Absagen und Antworten

Es waren zwei vergleichsweise kurze Interviews.1 Aber sie müssen damals eingeschlagen haben wie eine Bombe. Der Humanismusstreit hatte seinen Höhepunkt erreicht. In nur wenigen Sätzen rechnete Foucault im Frühjahr 1966, kurz nachdem „Les mots et les choses“ erschienen war, mit der Vätergeneration der französischen Nachkriegsphilosophie um Sartre und Merleau-Ponty ab, diese „mutige, großzügige Generation“, wie Foucault sie ironisch titulierte, die sich so leidenschaftlich für das Leben, die Politik und die Existenz engagiert habe.2 Es war vor allem ein Generalangriff auf Sartre, diesen Denker, der in den Augen Foucaults einem desillusionierten Nachkriegsbürgertum beweisen wollte, dass es überall einen Sinn gebe. Sartre habe das zugleich als Feststellung und als Aufforderung verstanden: „Dass die Dinge Sinn haben, heißt, dass wir allem einen Sinn geben müssen.“3 Dieser Auffassung von Philosophie, die den Menschen als Entzifferer und Programmierer des Sinnes konzipierte, erteilte Foucault eine klare Absage. Die Antwort kam prompt. Nur wenige Monate später holte Sartre ebenfalls in einem Interview zum Gegenschlag aus, in dem er Foucault des „Positivismus“4 bezichtigte und ihm vorwarf, er weigere sich beharrlich, die Bewegung

1

Vgl. Foucault (1966a), a.a.O., Bd. 1; und (1966b), a.a.O., Bd.1.

2

Vgl. Foucault (1966a), a.a.O., Bd.1, S. 664.

3

Ebd., S. 665.

4

Vgl. Sartre (1966), a.a.O., S. 94: „Nous revenons au positivisme. Seulement ce n’est plus un positivisme des faits, c’est un positivisme des signes.“ Dieser Vorwurf muss Foucault provoziert haben. Jedenfalls bekannte er sich in der „Archéologie du savoir“ und nochmals einige Jahre später in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France ausdrücklich zu einem „glücklichen Positivismus“. Vgl. Foucault (1969), a.a.O., S. 182, sowie ders. (1971): Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Col-

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der Geschichte zur Kenntnis zu nehmen. Stattdessen versuche er mithilfe einer „eklektizistischen Synthese“ aus Robbe-Grillet, Strukturalismus, Linguistik, Lacan und Tel Quel die Unmöglichkeit historischer Reflexion zu belegen.5 Foucault legte daraufhin in mehreren Interviews nach,6 Sartre reagierte nicht mehr. Im Folgenden soll der Verlauf des Schlagabtauschs und die darin meist nur thesenhaft und provokant formulierten Positionen kurz dargestellt werden, um anschließend den Kern des Humanismusstreits herauszuschälen.

Stationen einer Auseinandersetzung Seiner Generation, und damit meinte Foucault diejenigen, die nach dem Krieg noch keine zwanzig Jahre alt und bereits mit den strukturalistischen Theorieansätzen von Lacan und Lévi-Strauss konfrontiert waren, sei klar geworden, dass der von Sartre gesuchte Sinn wahrscheinlich nur so etwas wie den Oberflächeneffekt eines Ordnungssystems darstelle - „[…] eine Oberflächenerscheinung, ei-

lège de France – 2. Dezember 1970, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1977, S. 48 (L’ordre du discours. Leçon inaugurale au Collège de France prononcée le 2 décembre 1970, Paris). Kurz nach Sartres Positivismus-Vorwurf hatte Sylvie Le Bon in dessen Zeitschrift „Les Temps modernes“ Foucault als „verzweifelten Positivisten“ bezeichnet. Vgl. Sylvie Le Bon (1967): Un positiviste désespéré: Michel Foucault. In: Les Temps modernes 248, S. 1299-1319. 5

Vgl. Sartre (1966), a.a.O., S. 87f.

6

Foucault wurde in den Jahren 1966 bis 1968 noch häufiger auf sein Verhältnis zu Sartre angesprochen, so dass er mehrfach die Gelegenheit hatte, die unterschiedlichen Aspekte seiner Position zu formulieren. Vgl. u.a. Foucault (1967): Über verschiedene Arten, Geschichte zu schreiben (Sur les façons d’écrire l’histoire. In: Les Lettres françaises, No 1187, 15.6.1967, S. 6-9), hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 1, S. 750-769; ders. (1967/69), a.a.O., Bd. 1 (Dieses Interview erschien in einer gekürzten Fassung erstmals in der italienischen Zeitschrift La Fiera letteraria vom 28.9.1967, S. 11-15. Ich zitiere aus der langen Fassung von 1969, benutze allerdings, solange es um die Darstellung des unmittelbaren Schlagabtauschs zwischen Sartre und Foucault geht, nur die Textpassagen, die bereits 1968 veröffentlicht waren. Erst ab dem systematischen zweiten Teil dieses Kapitels greife ich vereinzelt auch auf Teile zurück, die erst 1969 publiziert wurden.); ders. (1968), a.a.O., Bd. 1; ders. (1968a): Interview mit Michel Foucault (En intervju med Michel Foucault. In: Bonniers Litteräre Magasin 37/3, Stockholm März 1968, S. 203-211), zitiert nach: Foucault (1994), a.a.O., Bd. 1, S. 831-845.

D ER H UMANISMUSSTREIT – A BSAGEN

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ne Spiegelung, eine Schaumkrone […], während das eigentliche Tiefenphänomen, von dem wir geprägt sind, das vor uns da ist und uns in Zeit und Raum trägt, das System ist“.7 Folgerichtig steht für Foucault nicht der Mensch als Subjekt und dessen Bedürfnis nach Sinn im Zentrum des Erkenntnisinteresses. Die Aufgabe der Philosophie sei es, die Logik des Systems zu verstehen, also das, was passiert, bevor sich das Denken des Menschen und dessen Suche nach Sinn ereignet: „Aufgabe der heutigen Philosophie […] ist es, dieses Denken vor dem Denken, dieses System vor dem System aufzudecken… Es bildet die Grundlage, auf der unser ‚freies‘ Denken entsteht und für einen kurzen Moment funkelt…“8 Foucault opponierte damit gegen Sartres Intuition, die Philosophie müsse bei der konkreten menschlichen Existenz ansetzen. Ja er behauptete sogar, die Philosophie komme über die Analyse der übergeordneten Regel- und Ordnungssysteme der wirklichen Welt – und das war für Foucault die wissenschaftlich-technische Welt des Menschen – viel näher.9 Das unübersehbare Ziel Foucaults war es, sich offen gegen Sartres Philosophie der menschlichen Praxis und dessen ontologische Grundannahmen zu stellen: der Existenz des Menschen als Subjekt der Freiheit. Dahinter verberge sich noch das Erbe des Humanismus, die Idee des Menschen wie sie im 19. Jahrhundert erfunden worden sei, eine Idee, die Foucault bereits in „Les mots et les choses“ als vorübergehendes Problem charakterisiert hatte, das der Epoche des modernen Denkens angehöre.10 Der Humanismus habe sich zum Ziel gesetzt, den Menschen zu retten, indem er „den Menschen im Menschen“ an den Tag bringe. Damit versuche er mit den Mitteln der Moral, der Werte und dem Ideal der Versöhnung Probleme zu lösen, die er sich, streng wissenschaftlich betrachtet, gar nicht stellen dürfe – Probleme, die etwa durch Fragen nach dem Verhältnis des Menschen zur Welt aufgeworfen würden, oder was wirklich sei, was künstlerisches Schaffen bedeute oder gar Glück, „[…] all die Obsessionen, die es gar nicht verdienen, als theoretische Probleme behandelt zu werden…“.11 Foucault hatte dafür nur Hohn und Spott übrig. In „Les mots et les choses“ hatte er dies in einer Passage, die, ohne diesen direkt zu nennen, unmittelbar auf Sartre gemünzt sein dürfte, folgendermaßen ausgedrückt:

7

Vgl. Foucault (1966a), a.a.O., Bd.1, S. 665 (Hervorhebung i.O.).

8

Ebd., S. 666.

9

Vgl. ebd., S. 670.

10 Vgl. Foucault (1966), a.a.O., S. 461f. 11 Vgl. Foucault (1966a), a.a.O., Bd. 1, S. 667f.

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„Allen, die noch vom Menschen, von seiner Herrschaft oder von seiner Befreiung sprechen wollen, all jenen, die noch fragen nach dem Menschen in seiner Essenz, jenen, die von ihm ausgehen wollen, um zur Wahrheit zu gelangen, jenen umgekehrt, die alle Erkenntnis auf die Wahrheit des Menschen selbst zurückführen, allen, die nicht formalisieren wollen, ohne zu anthropologisieren, die nicht mythologisieren wollen, ohne zu demystifizieren, die nicht denken wollen, ohne sogleich zu denken, daß es der Mensch ist, der denkt, all diesen Formen linker und linkischer Reflexion kann man nur ein philosophisches Lachen entgegensetzen – das heißt: ein zum Teil schweigendes Lachen.“12

In theoretischer Hinsicht beurteilte er das humanistische Denken als abstrakt, politisch betrachtete er es als reaktionär.13 Die politische Arbeit in der Theorie bestehe darin, sich endgültig vom Humanismus zu befreien.14 Was Foucault hier unter der Hand kritisierte, ist die Unterstellung einer Wesensbestimmung des Menschen, die sowohl theoretisch vorausgesetzt wie politisch-praktisch als Zweck und Ziel menschlicher Praxis in der Geschichte verwirklicht werden soll. Etwas präziser wurde er wenige Wochen später in einem zweiten Interview, in dem er eine weitere Attacke gegen Sartre ritt und diesen als den „letzte[n] Hegelianer“ und den „letzte[n] Marxisten“ denunzierte.15 Das Problem des Humanismus bei Sartre, so Foucault, hänge eng mit dessen Konzeption einer philosophischen Anthropologie und der Dialektik zusammen: „Grob gesagt, verfolgen Humanismus, Anthropologie und dialektisches Denken gemeinsame Interessen.“16 Im Gegensatz zum analytischen Denken, das damit unvereinbar sei, verkörpere die Dialektik geradezu die grundlegende Denkfigur des Humanismus. Foucault nennt dafür drei Gründe: „[…] weil sie eine Philosophie der Geschichte ist, weil sie eine Philosophie der menschlichen Praxis ist, weil sie eine Philosophie der Entfremdung und der Versöhnung ist.“17 Deshalb sei die Dialektik im Wesentlichen eine „Philosophie der Rückkehr zu sich selbst“, eine Denkfigur, die dem Menschen verspreche, „authentischer“ und „wahrer“ zu werden.18 Der Mensch werde im Grunde zum Prinzip und Ziel der Geschichte. Konsequenterweise forderte Foucault deshalb den Abschied von der Dialektik. Die

12 Foucault (1966), a.a.O., S. 412. 13 Vgl. Foucault (1966a), a.a.O., Bd. 1, S. 669. 14 Vgl. ebd., S 668. 15 Vgl. Foucault (1966b), a.a.O., Bd. 1, S. 699. 16 Ebd., S. 698. 17 Ebd., S. 699. 18 Vgl. ebd.

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Idee vom Menschen werde für die Theorie überflüssig.19 Mehr versprach er sich von einem analytischen Denken, das das reine Wissen ins Spiel bringe und das er in der Traditionslinie von Nietzsche, Heidegger, Russell, Wittgenstein und Lévi-Strauss auszumachen glaubte.20 Sartre hatte sich von Foucaults Polemik offenbar aus der Reserve locken lassen. In einer Breitseite gegen den Strukturalismus im Allgemeinen und Foucault im Besonderen rechnete er im Herbst 1966 mit der jüngeren Generation ab. Den Sinn ausklammern zu wollen, zeuge vom Unverständnis für die Geschichte. Für Sartre konnte der Sinn nicht nur als Effekt der Differenzen von Zeichenwerten innerhalb eines symbolischen Ordnungssystems entstehen. Sinn werde im Akt subjektiver Überschreitung von Positivitäten in einer bestimmten historisch determinierten Situation produziert.21 In den Augen Sartres musste Foucault dies entgehen, weil er ein unhistorisches Forschungsprogramm verfolge. Genau besehen, betreibe Foucault in „Les mots et les choses“ nicht einmal wirklich eine Archäologie der Humanwissenschaften, denn sonst müsste er – zumindest nach dem Verständnis von Sartre – versuchen, die Spuren einer verschwundenen Zivilisation freizulegen, um diese zu rekonstruieren. Foucault arbeite aber eher wie ein Geologe, der nacheinander die Schichten des Bodens beschreibt, auf dem wir stehen. Dadurch stoße er zwar schrittweise zu den Bedingungen der Möglichkeit einer bestimmten Denkweise vor, die zu jeweils einer bestimmten Zeit dominierte, was aber nach Ansicht von Sartre daran wirklich interessant wäre, darauf bleibe Foucault eine Antwort schuldig: Wie sind die einzelnen Denkformen entstanden? Und wie kam es, dass die Menschen von der einen zur anderen wechselten?22 Um das erklären zu wollen, müsste Foucault laut Sartre zunächst sein grundlegendes methodisches Defizit beheben und die menschliche Praxis in seinen Ansatz integrieren – also genau das, was er ausklammert und auf theoretischer Ebene zu eliminieren versucht: „Il lui faudrait pour cela faire intervenir la praxis, donc l’histoire, et c’est précisément ce qu’il refuse.“23 Wie bereits weiter oben erwähnt, erteilte Sartre dem Strukturalismus, unter den er auch die Methode Foucaults subsumierte, damit keine generelle Absage. Er schätzte ihn als ein durchaus fruchtbares Verfahren, allerdings von begrenzter

19 Vgl. Foucault (1966a), a.a.O., Bd. 1, S. 667. 20 Vgl. Foucault (1966b), a.a.O., Bd. 1, S. 700. 21 Vgl. Sartre (1966), a.a.O., S. 91. 22 Vgl. ebd., S. 87. 23 Ebd.

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Reichweite.24 Das, was diese Methode aufweisen könne, seien größere funktionale Einheiten, Ensembles von Praktiken wie etwa das System der Sprache als Element einer gesellschaftlich geschaffenen Struktur. Sartre ordnete die Sprache denjenigen Entitäten zu, die er mit dem Begriff des „Praktisch-Inerten“ zu fassen suchte.25 Derartige gesellschaftliche Strukturen ließen sich aber mit zweierlei Methoden beschreiben: einerseits als Ordnung, die das Individuum in seinem Sein und in seinem Handeln determiniert, andererseits als Resultat der Praxis von Individuen. Für eine strukturale Beschreibung der Logik einer Ordnung, etwa der Ordnung eines Zeichensystems, das gestand Sartre durchaus zu, ist der Mensch als praktisches Subjekt nicht erforderlich: „C’est le moment de la structure, où la totalité apparaît comme la chose sans l’homme, un réseau d’oppositions dans lequel chaque élément se définit par un autre, où il n’y a pas de terme, mais seulement des rapports, des différences. Mais cette chose sans l’homme est en même temps matière ouvrée par l’homme, portant la trace de l’homme.“26

Für die Analyse eines gesellschaftlichen Zusammenhangs bedeutet das nach Sartre Folgendes: Solange man sich auf der Beschreibungsebene befindet, lässt sich eine symbolische Ordnung über das Verhältnis der einzelnen Elemente zueinander innerhalb der Synchronie eines Systems explizieren. Sobald jedoch die Entstehung und die historische Dynamik dieser Ordnung verstehbar werden sollen, ist eine diachrone Herangehensweise notwendig. Das macht es, laut Sartre, erforderlich, den Systembegriff mit Blick auf die partiellen Totalitäten, wie sie durch die Praxis historischer Subjekte erst zustandekommen, zu überschreiten. Leitbegriffe der Untersuchung sind dann nicht mehr System und Element, sondern Praxis und Totalität: „La structure ne s’impose à nous que dans la mesure

24 Vgl. ebd., S. 88. 25 Vgl. ebd., S. 89. In einem anderen, bereits im Frühjahr 1966, also vor Foucaults erster Intervention, erschienenen Interview, das allerdings auch zum Kontext des Humanismusstreits zu zählen ist, weil sich Sartre darin direkt mit der strukturalen Anthropologie von Lévi-Strauss auseinandersetzte, hat Sartre unter Verweis auf die „Critique de la raison dialectique“ das „Praktisch-Inerte“ als etwas bezeichnet, das den Menschen objektiv spiegelt und es definiert als „[…] die menschlichen Aktivitäten, insofern sie durch ein streng objektives Material vermittelt werden, das sie auf die Objektivität verweist“; vgl. Sartre (1966a), a.a.O., S. 79. 26 Sartre (1966), S. 89.

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où elle est faite par d’autres. Pour comprendre comment elle se fait, il faut donc réintroduire la praxis, en tant que processus totalisateur.“27 Damit hatte Sartre die Grundbegriffe seines Theorieprogramms umrissen. Der Philosophie kommt demzufolge eine viel weiter gefasste Aufgabe zu als sie Foucault skizziert hatte. Sartre geht es nicht nur um die Analyse eines bestehenden Ordnungssystems und dessen Konstitutionsbedingungen, sondern es geht um mehr. Es geht um deren historische Entstehungsbedingungen und die Möglichkeiten der Transformation und dies vor allem – und das ist der entscheidende Differenzpunkt zu Foucault – aus der Perspektive menschlicher Praxis und dem jeweiligen Sinn, den die innerhalb einer bestehenden Ordnung agierenden Subjekte damit verbinden: „Si l’on admet, comme moi, que le mouvement historique est une totalisation perpétuelle, que chaque homme est à tout moment totaliseur et totalisé, la philosophie représente l’effort de l’homme totalisé pour ressaisir le sens de la totalisation.“28 Insofern unterscheidet sich für Sartre die Philosophie grundlegend von der Wissenschaft. Die Wissenschaft arbeitet analytisch, ihr Objekt sei immer nur ein begrenzter Ausschnitt der menschlichen Realität. Die Methode der Philosophie hingegen müsse die Dialektik sein: „En tant qu’interrogation sur la praxis, la philosophie est en même temps une interrogation sur l’homme, c’est-à-dire sur le sujet totalisateur de l’histoire.“29 Mit Blick auf Foucault bedeutet das: Foucault betreibt in den Augen Sartres Wissenschaft, aber keine Philosophie. Er analysiere die Strukturen gesellschaftlicher Ordnungssysteme ohne die Dimension des Subjekts und dessen Praxis zu berücksichtigen. Aus philosophischer Sicht für Sartre ein Skandal: „Je ne comprends donc pas qu’on s’arrête aux structures: c’est pour moi un scandale logique.“30 Foucault machte diesen logischen Skandal eher auf der Seite Sartres aus. Es sei schon bemerkenswert, dass ausgerechnet diejenigen, die einer längst überholten Vorstellung von Geschichte anhingen, ihm einen „Mord an der Geschichte“ zur Last legten, während die modernen Historiker seine Forschungen ernsthaft diskutierten, parierte Foucault Sartres Angriffe in einem Interview im Sommer 1967.31 Dass Foucault die Geschichte ausblende, war in der Tat ein schwerer Vorwurf. Denn „Les mots et les choses“ ist ja gerade ein historisches Buch, ein Buch über die Geschichte der Ordnungen des Wissens. Allerdings operiert Fou-

27 Ebd. 28 Ebd., S. 95. 29 Ebd. 30 Ebd. 31 Vgl. Foucault (1967), a.a.O., Bd. 1, S. 750.

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cault mit einem völlig anderen Geschichtsverständnis – eines, das Sartre als unkritisch und positivistisch abqualifizierte. Foucault wiederum kritisierte dessen Auffassung von Geschichte als naiv. Auf ideologischer Ebene ließe sich eine derartige Mystifizierung der Geschichte mit der methodischen Entwicklung der modernen Wissenschaften erklären. Nachdem Forschungsdisziplinen wie Linguistik, Ethnologie, Religionsgeschichte oder Soziologie das dialektische Instrumentarium des 19. Jahrhunderts über Bord geworfen hätten, sei die Geschichte bislang für viele Intellektuelle der letzte Hort der Dialektik geblieben. Geschichte verstanden als die große Erzählung einer einheitlichen Bewegung, die sich aus der logischen Entwicklung von Widersprüchen speist. Genau dieses Geschichtsverständnis lehnte Foucault ab und er meinte zweifellos erneut Sartre, wenn er jenes folgendermaßen paraphrasierte: „[…] ein Geschichtsverständnis […], das sich am Modell des Berichts als Abfolge von Großereignissen in einem hierarchisch gegliederten Bestimmungsgefüge orientiert; der Einzelne ist in dieser Totalität gefangen, die ihn übersteigt und sich nicht um ihn kümmert, auch wenn die vielen Einzelnen möglicherweise die kaum bewussten Urheber sind. Diese zugleich als individuelles Projekt und als Totalität verstandene Geschichte ist für manche unantastbar geworden. Eine Ablehnung dieses Geschichtsverständnisses empfinden sie als Angriff auf die große Sache der Revolution.“32

Gegen die Vorstellung von einer linearen Geschichte als Abfolge von Revolutionen führte Foucault ein alternatives Forschungsprogramm ins Feld. Er problematisierte • alle Versuche einer universalen Periodisierung, denn dadurch würde immer nur eine bestimmte Schicht von historischen Ereignissen herausgegriffen. Würden jedoch andere Schichten als Untersuchungsgegenstand gewählt, sei damit auch eine andere Periodisierung verbunden. Parallel zu den jeweiligen Schichten ergäben sich demnach unterschiedliche, sich unter Umständen widersprechende Periodisierungen. • Er plädierte daher für eine Methode, die die Brüche und Diskontinuitäten in der Geschichte beschreiben können muss. • Er forderte, den traditionellen Gegensatz von Humanwissenschaften und Geschichtswissenschaften und die damit einhergehende Unterscheidung von Synchronie und Diachronie aufzuheben.

32 Ebd., S. 751.

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Und er hielt es für unerlässlich, bei der Analyse historischer Prozesse Formen und Beziehungen jenseits von Kausalverhältnissen zuzulassen.33

Foucault formuliert damit ein verändertes Erkenntnisinteresse an der Geschichte. Es gehe nicht darum, in der exegetischen Tradition des Verdachtes einen versteckten Sinn, eine verborgene Wahrheit hinter den Dingen zu entdecken,34 sondern „[…] die Geschichte als Ensemble tatsächlich formulierter Äußerungen zu behandeln […]“.35 Insofern unterscheide sich seine archäologische Forschungsstrategie auch von der des Strukturalismus. Sein Interesse konzentriere sich nicht darauf, die formalen Möglichkeiten innerhalb eines Systems wie dem der Sprache zu untersuchen, sein Untersuchungsgegenstand sei das Archiv der Diskurse, so wie sie in einer historischen Situation tatsächlich stattgefunden und Spuren hinterlassen haben: „Die Archäologie, wie ich sie verstehe, ist nicht mit der Geologie (als Analyse des Unterirdischen) verwandt und auch nicht mit Genealogie (als Beschreibung der Anfänge und der Folgen), sie ist die Analyse des Diskurses in seiner Modalität als Archiv.“36 Soweit in groben Zügen der Verlauf der Auseinandersetzung zwischen Foucault und Sartre. Über weite Strecken lässt sie sich als Debatte um das grundsätzliche Verständnis von Philosophie als Gesellschaftstheorie interpretieren. Die zentralen Streitpunkte konzentrierten sich dabei auf folgende Themenkomplexe: das theoretische und methodologische Design für ein angemessenes Verständnis von Gesellschaft (1), die entsprechende Rolle der Philosophie für die Gesellschaftsanalyse (2) und der Stellenwert politischer Praxis (3). Als übergeordnete Problematiken stellen sich damit während des Humanismusstreites zwei grundlegende Fragen, die im Verlauf dieser Untersuchung noch ausführlicher zu erörtern sein werden: Welche theoretische und praktische Rolle kommt in den jeweiligen Ansätzen den menschlichen Subjekten zu? (4) Und damit verbunden: Wie ist Geschichte zu denken? (5) Im Folgenden sollen diese Punkte in systematischer Absicht kurz erörtert werden. Dafür wird auch auf spätere Interviewäuße-

33 Vgl. ebd., S. 751f. 34 Vgl. ebd., S. 759. 35 Vgl. ebd., S. 758. 36 Ebd., S. 763 (Hervorhebung i.O.). Bemerkenswert ist übrigens, dass Foucault an dieser Stelle seine Methode nicht nur gegen Sartres Vergleich mit der Geologie abgrenzte, sondern auch eine genealogische Herangehensweise ausschließt, obwohl er sonst durchaus mit Nietzsches genealogischem Verfahren sympathisiert. Vgl. ebd., S. 768.

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rungen von Foucault zurückgegriffen werden, wo er seine Position zum Teil detaillierter erläutert und spezifiziert hat.37

(1) Gesellschaft Analytik versus Dialektik, System versus Totalität – die Schlüsselbegriffe, anhand derer der unterschiedliche methodische Zugriff auf das Phänomen Gesellschaft konzipiert wird, waren im Verlauf des ersten groben Aufrisses des Humanismusstreites bereits aufgetaucht. Damit sind allerdings lediglich die Zugangsweisen für die jeweilige Analyse von Gesellschaft umschrieben. Denn wenn Foucault von ‚System‘ sprach, meinte er damit nicht explizit die Funktionsweise eines ‚Gesellschaftssystems‘. Ähnlich gilt dies für den Terminus ‚Totalität‘, wie ihn Sartre gebrauchte. Der Systembegriff ist bei Foucault zunächst lediglich heuristisch zu verstehen, als methodisches Instrumentarium, um eine geregelte Ordnung zu beschreiben, um dabei nicht, wie noch Sartre, vom Individuum als Subjekt und Konstitutivum gesellschaftlicher Verhältnisse ausgehen zu müssen. Foucault versuchte gerade das Individuum auszuklammern, um so anonyme Strukturen zu Tage treten zu lassen. Bei ihm stand daher nicht das ‚Ich‘ im Vordergrund, sondern das ‚man‘, wenn er fragte: „Was ist dieses anonyme System ohne Subjekt? Was denkt da? Das ‚Ich‘ ist explodiert (man denke nur an die

37 Wie bereits erwähnt, führte Foucault die Debatte mehr oder weniger freiwillig in mehreren Interviews weiter. Im März 1968 schlug er schließlich, was die politische Dimension von Sartres Philosophie anbelangt, zum Teil sogar etwas versöhnlichere Töne an. Vgl. Foucault (1968), a.a.O., Bd. 1, S. 846. In einem Leserbrief an die Redaktion der Zeitschrift „La Quinzaine littéraire“, in dem er beklagte, der Wortlaut jenes veröffentlichten Interviews sei nicht von ihm autorisiert worden, würdigte er Sartre sogar ausdrücklich und übte sich dabei in betonter Bescheidenheit: „Ich denke, Sartres gewaltiges Werk und sein politisches Handels werden eine ganze Epoche kennzeichnen. Gewiss arbeiten heute manche in eine andere Richtung. Aber ich werde niemals zulassen, dass man meine kleinen historischen und methodologischen Vorarbeiten mit einem Werk wie dem seinen vergleicht – nicht einmal im Sinne eines Gegensatzes.“ Vgl. Foucault (1968b): Eine Richtigstellung von Michel Foucault (Une mise au point de Michel Foucault. In: La Quinzaine littéraire 47, 15.-31. März 1968, S. 21); zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 1, S. 854.

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moderne Literatur) – dem folgt nun die Entdeckung des ‚es gibt‘. Es gibt ein ‚man‘.“38 Damit war das Programm des theoretischen Antihumanismus umschrieben. Es ist der Anspruch, den Humanismus, diese „kleine Hure des gesamten Denkens“ der Kultur, Politik und Moral der Gegenwart, wie Foucault sich verächtlich ausdrückte, als theoretisches Konzept hinter sich zu lassen, um in seinem Sinne ernsthafte Humanwissenschaften betreiben, also dieses anonyme ‚man‘ in den Blick bekommen zu können. Und das hieß für ihn, es sei methodisch eines unerlässlich:. „[…] zunächst all die Schimären zerstören, die aus der Idee erwachsen sind, man müsse den Menschen suchen.“39 Foucault unternahm den Versuch, diejenige Dimension der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu erfassen, die in seinen Augen der anthropozentristischen Perspektive des sartreschen Existentialismus entgeht: das Unbewusste,40 die Determinanten des historischen Wissens inklusive der modernen Humanwissenschaften,41 kurz die historischgesellschaftlichen Bedingungen des individuellen und kollektiven Bewusstseins. Der Mensch, so betonte Foucault, verschwindet deshalb nicht aus dem Raum des Sozialen: „Das soziale Funktionieren ist natürlich das Funktionieren der Individuen in ihrer wechselseitigen Beziehung“.42 Der in „Les mots et les choses“ angekündigte Tod des Menschen bedeutete lediglich, dass er auf theoretischem Niveau nicht mehr benötigt werde – zumindest nicht für das, worauf Foucault sein Erkenntnisinteresse richtete. „Ich habe versucht, einen autonomen Bereich zu bestimmen, der das Unbewusste des Wissens darstellt, der seine eigenen Regeln hat, wie ja auch das Unbewusste des Menschen seine eigenen Regeln und Determinanten besitzt.“43 Was genau unter einem solchen ‚System‘ von autonomen Regeln zu verstehen sein könnte, unter diesem bereits erwähnten ‚Denken vor dem Denken‘, umschrieb Foucault folgendermaßen: „Ein System ist eine Menge von Beziehungen, die unabhängig von den verknüpften Elementen fortbestehen und sich verändern.“44 Obwohl Foucault diese formale autonome Gesamtheit von Verhältnissen zunächst anhand der Struktur von Mythen, der verborgenen Ordnung in Höhlenmalereien oder dem genetischen Code von Chromosomen zu explizieren

38 Foucault (1966a), a.a.O., Bd. 1, S. 666. 39 Foucault (1967/69), a.a.O., Bd. 1, S. 788. 40 Vgl. Foucault (1968a), a.a.O., Bd. 1, S. 835. 41 Vgl. ebd., S. 841. 42 Foucault (1967/69), a.a.O., Bd. 1, S. 790. 43 Foucault (1968), a.a.O., Bd. 1, S. 849. 44 Ebd., Foucault (1966a), a.a.O., Bd. 1, S. 665.

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suchte, kam er in seinen Interviewäußerungen doch schnell auf die gesellschaftliche Dimension seines Systembegriffs zu sprechen: Die Art wie Menschen in einer bestimmten Epoche gedacht, geschrieben, geurteilt, gesprochen, empfunden haben, all das hänge von der übergeordneten Ordnungsstruktur eines Systems ab, „[…] ihr ganzes Verhalten [der Menschen/M.R.] wird von einer theoretischen Struktur gesteuert, von einem System, das sich mit der Zeit und von Gesellschaft zu Gesellschaft verändert, aber zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften präsent ist.“45 Inwiefern sich mit dieser Herangehensweise tatsächlich die Strukturlogik gesellschaftlicher Verhältnisse untersuchen lässt, wird in Verlauf dieser Arbeit noch zu diskutieren sein – zumal berücksichtigt werden muss, dass Foucault zu dem Zeitpunkt, um den es hier geht, noch weit entfernt von dem war, was er später als ‚Analytik der Macht‘ entwickelte. Für Sartre war Foucaults Anliegen nicht nur – wie bereits erwähnt – platter Positivismus, sondern auch eine Verkürzung der Realität auf einen isolierten Ausschnitt. Das, was Foucault als System beschrieb, war für ihn gewissermaßen nur das Standbild einer Gesellschaft, das sich aus synchroner Perspektive festhalten lasse. Die gesellschaftliche Dynamik, die Logik der Konflikte, die Entstehung und mögliche Überwindung von Herrschaftsstrukturen konnten aus Sartres Sicht damit nicht erfasst werden. Ja, er hegte sogar den Verdacht der ideologischen Verschleierung der Existenz von Repression und Widerstand.46 Das foucaultsche System war für Sartre gewissermaßen nur eine Facette dessen, was er als Totalität zu erfassen suchte. Diese komme aber erst in den Blick, wenn die Handlungsperspektive mit berücksichtigt wird. Sartre erläuterte dies methodisch an seinem Gebrauch der Termini ‚Definition‘ (concept) und ‚Begriff‘ (notion). Um eine Struktur oder ein System zu beschreiben, müssten die einzelnen Elemente innerhalb des Systems klar definiert werden. Diese Definitionen sind, laut Sartre, überzeitliche, zeitlose Kategorien, um einen Ist-Zustand zu erfassen. Sobald aber die reale Zeit ins Spiel komme, wandle sich das, was die Definition erfasse, die Realität entgehe dem Systembegriff. Unmittelbar an Foucault (und Althusser) gerichtet, formulierte Sartre: „Du point de vue épistémologique, cela revient à prendre parti pour le concept contre la notion. Le concept est a-temporel. […] Dès que vous introduisez la temporalité, vous devez considérer qu’à l’intérieur du développement temporel, le concept se modifie. La notion au contraire peut se définir comme l’effort synthétique pour produire une idée qui se

45 Ebd., S. 666 (Hervorhebung i.O.). 46 Vgl. Sartre (1966), a.a.O., S. 88.

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développe elle-même, par contradictions et dépassements successifs, et qui est donc homogène au développement des choses.“47

Sartre hat diese Unterscheidung an anderer Stelle präzisiert: „[…] der Unterschied zwischen Definition (concept) und Begriff (notion) ist für mich folgender: eine Definition ist eine Bestimmung von außen, die zugleich zeitlos ist; ein Begriff ist für mich eine Bestimmung von innen, die nicht nur die Zeit in sich einschließt, die der Gegenstand, von dem es einen Begriff gibt, voraussetzt, sondern auch seine eigene Erkenntniszeit. […] Der Unterschied, den ich zwischen Definition und Begriff mache, deckt sich mit dem zwischen Erkennen und Verstehen. Um einen Menschen verstehen zu können, muß man notwendig die Haltung der Empathie einnehmen.“48

Der entscheidende Unterschied ist neben der diachronen Dimension also die Perspektive der potenziell Beteiligten. Erst aus dieser Sicht lässt sich, laut Sartre, die reale Dynamik des Ganzen überhaupt nachvollziehen – und das bedeutete für ihn nicht erkennen, also beschreiben eines fixen Gegenstandes, sondern verstehen, was die Anstrengung des Begriffs erfordert. Auch auf diese Unterscheidung wird im Weiteren noch genauer einzugehen sein. Für den Zweck einer ersten schematischen Darstellung der unterschiedlichen Herangehensweisen an das Phänomen Gesellschaft, wie sie sich innerhalb des Humanismusstreits artikulierten, genügt es vorläufig, festzustellen, dass Sartre primär aus der Teilnehmerperspektive der gesellschaftlichen Akteure versucht das Ganze in seiner Dynamik als Totalität zu denken. Diese Vorgehensweise versteht sich insofern als dialektisch, weil sie die Konflikte und potenziellen Widersprüche zwischen den einzelnen Handlungen im Zusammenhang des Ganzen als dynamische Totalität zu fassen beansprucht. Sartres Totalität ist insofern ebenfalls wie das foucaultsche System ein heuristischer Begriff,49 denn Totalitäten lassen sich nie definitiv beschreiben, da sie als immer in Bewegung, d.h. sich immer im Prozess partieller Detotalisierung bei gleichzeitiger Retotalisierung befindend gedacht werden müssen. Das eigentliche Problem, so Sartre, sei doch, wie die Strukturen überschritten und transformiert werden: „Il est de savoir comment le sujet ou la sub-

47 Ebd., S. 94 (Hervorhebungen i.O.). 48 Sartre (1971): Über ‚Der Idiot der Familie‘. Interview mit Michel Contat und Michel Rybalka. In: Le Monde, 14. Mai 1971; hier zitiert nach: ders., Was kann Literatur? Interviews, Reden, Texte 1960-1976, Reinbek bei Hamburg 1979, S. 153f (Sur ‚L’Idiot de la famille‘. In: Situations X. Politique et autobiographie, Paris 1976, S. 91-115). 49 Vgl. Sartre (1960a), a.a.O., S. 144f.

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jectivité se constitue sur une base qui lui est antérieure, par un processus perpétuel d’intériorisation et de réextériorisation.“50 Auch diese Konzeption wird im Weiteren noch näher zu untersuchen sein. Klar ist aber zumindest bereits, dass dieser Ansatz, auch was die Perspektive des Zugangs angeht, eindeutig konträr zu demjenigen Foucaults liegt. Dieser versucht – wie gezeigt – gerade über ein analytisches Verfahren aus der reinen Beobachterperspektive einen Zugang zu systemisch gefassten Ordnungen gesellschaftlicher Verhältnisse zu gewinnen. Foucault beschreibt seine Tätigkeit als eine ‚Ethnologie‘ unserer Kultur: „Ich könnte sie [seine Forschung/M.R.] als eine Analyse der für unsere Kultur charakteristischen kulturellen Tatsachen definieren. In diesem Sinne handelt es sich gewissermaßen um eine Ethnologie der Kultur, der wir selbst angehören.“51 Was die Dimension der Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse angeht, so stellte sich Foucault trotz damals schon gelegentlicher Distanzierungen an die Seite der Strukturalisten und gegen einen „faden“ Humanismus der Marxisten, die sich dagegen wehrten, „[…] dass der Strukturalismus die alten Werte des bürgerlichen Liberalismus infrage stellt“.52 Aus der Außenperspektive werden die bürgerlichen Werte des Liberalismus in ihrer historischen Kontingenz beschreibbar. Sartre dagegen beansprucht, diese Werte aus der Binnenperspektive als Ideologie zu denunzieren, ganz im marxschen Sinne als „verkehrtes Weltbewußtsein“ einer „verkehrten Welt“.53 Gerade aber die immanente Kritik der Ideologie des bürgerlichen Humanismus liefert ihm die theoretische Basis, um für einen praktischen Humanismus eintreten zu können.

(2) Philosophie Aus Sartres Sicht ist das, was Foucault betreibt, streng genommen keine Philosophie, sondern Wissenschaft mit begrenztem Objektbereich. Foucault hält dagegen Sartres Philosophiebegriff für historisch überholt. Die traditionelle Philosophie in ihrer modernen Form, wie sie ihre Hochzeit im 19. Jahrhundert erlebt hatte, existiere nicht mehr, behauptete Foucault. Diese Form der Theorie sei im 20. Jahrhundert an ihr Ende gekommen. Für die Gegenwart lasse sich lediglich

50 Sartre (1966), a.a.O., S. 93. 51 Foucault (1967/69), a.a.O., Bd. 1, S. 776. 52 Vgl. Foucault (1968a), a.a.O., Bd. 1, S. 835. 53 Vgl. Karl Marx (1844): Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: MEW, Bd.1, Berlin 131981, S. 378.

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von einer „activité philosophique“ auf dem Terrain unterschiedlicher Bereiche der Einzelwissenschaften und der Politik sprechen.54 Mit Philosophie im überholten Sinne meinte Foucault vor allem deren Anspruch, die Totalität zu denken, eine Idee historisch „relativ neuen Datums“, die aber bereits wieder dabei sei, sich zu überleben.55 Entgegen Sartres Ambitionen, gehörte für Foucault das Denken der Totalität nicht mehr zur Aufgabe der zeitgenössischen Philosophie. Er betrachtete die Philosophie eher als eine diagnostische Tätigkeit.56 Was Foucault darunter versteht, umschrieb er an anderer Stelle zunächst mit scheinbar positivistischer Bescheidenheit: „Der Philosoph soll sagen, ‚was geschieht‘; das ist seine Aufgabe. Heute muss er aufzeigen, dass die Menschheit zu entdecken beginnt, dass sie ohne Mythen funktionieren kann.“57 Ein Vorhaben, das genau besehen – freilich trotz seines Versuchs, theoriegeschichtlichen Ballast abzuwerfen – alles andere als bescheiden ist, stellte Foucault doch zugleich mehrfach klar, dass er als Aufgabe der zeitgenössischen Philosophie nichts Geringeres als das gesellschaftstheoretisch anspruchsvolle Vorhaben einer „Diagnose der gegenwärtigen Kultur“58 ansah. Auf den theoretischen Anspruch der Philosophie, das methodologische Instrumentarium für eine Diagnose der Gegenwart bereitzustellen, hätte Foucault sich mit Sartre durchaus einigen können. Denn Sartre wollte nichts anderes als die moderne Welt auf den Begriff bringen. Nur war damit etwas gänzlich anderes gemeint. Sartre hielt, wie bereits erwähnt, an der Idee der Totalität fest. Sie war für ihn eines der grundlegenden Instrumente, soll Philosophie als dialektisches Verfahren in der Lage sein, in der hegelschen Tradition ihre Zeit in Gedanken zu erfassen. Auch wenn Sartre einen anderen, nämlich offenen Totalitätsbegriff verwendete, der sich deutlich vom hegelschen Idealismus absetzte, der Begriff der Totalität blieb für ihn methodisch unverzichtbar, um die einzelnen Handlungssequenzen der Subjekte als Teile eines in sich sinnvoll strukturierten Ganzen denken zu können. Darin liegt, laut Sartre, die Aufgabe der Philosophie: die Handlungen des Einzelnen im Kontext ihrer Handlungsvoraussetzungen und den daraus folgenden beabsichtigten und unbeabsichtigt erzielten Resultaten innerhalb eines sich aufgrund dieser Handlungen partiell verändernden Gesamtzusammenhangs verstehbar zu machen. Die Philosophie arbeitet so-

54 Vgl. Foucault (1967), a.a.O., Bd. 1, S. 765f, vgl. auch ders. (1968), a.a.O., Bd. 1, S. 845 und ders. (1967/69), a.a.O., Bd. 1, S. 783. 55 Vgl. Foucault (1967/69), ebd. 56 Vgl. Foucault (1968), a.a.O., Bd. 1, S. 848. 57 Foucault (1967/69), a.a.O., Bd. 1, S. 793. 58 Vgl. ebd.; auch ebd., S. 776; ders. (1968), a.a.O., Bd. 1, S. 848.

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zusagen an den Schnittstellen der vereinzelten Totalisierungen: „La philosophie se situe à la charnière. La praxis est dans son mouvement une totalisation complète; mais elle n’aboutit jamais qu’à des totalisations partielles, qui seront à leur tour dépassées. Le philosophe est celui qui tente de penser ce dépassement.“59 Unbestreitbar eine sehr ambitionierte Rolle, die Sartre der Philosophie zuwies, die allerdings vor dem Hintergrund verständlich wird, dass er damit beanspruchte, die immanente Logik von gesellschaftlichen Transformationen und Revolutionen einsichtig machen zu können. Darauf wird weiter unten noch ausführlicher einzugehen sein. Foucault teilte diese Ausrichtung des philosophischen Erkenntnisinteresses nicht – nicht nur, weil er Sartres methodisches Vorgehen für antiquiert hielt, sondern vor allem, weil er offenbar die Handlungsperspektive als für wenig Erfolg versprechend erachtete, um die Transformation dessen zu denken, was er als ‚System‘ bezeichnete: „Unser Eindruck, dass da ein Bruch, eine Transformation stattgefunden hat, ist vielleicht eine Täuschung. Es könnte auch die letzte oder eine weitere Äußerungsform eines Systems sein, in dem wir gefangen sind, eine Äußerungsform, die erstmals auftritt und uns glauben macht, wir wären schon bald in einer neuen Welt.“60

(3) Politik Die unterschiedlichen Philosophiebegriffe haben notwendig Konsequenzen für die jeweilige Auffassung des theoretischen Stellenwertes politischer Praxis. Eine Theorieform, die beansprucht, Diagnose der Gegenwart aus der Beobachterperspektive zu leisten, erlaubt es nicht ohne Weiteres, das Feld politischer Handlungen in ihrem aktuellen Vollzug zu beurteilen. Vor allem rechtfertigen und begründen lassen sich Handlungen mit einem solchen Theorieansatz schwer. Dies zeigte sich bei Foucault sowohl in der Einschätzung der politischen Dimension seiner eigenen Arbeit wie derjenigen Sartres. Die Philosophie ist, wie oben bereits bemerkt, für Foucault u.a. auch eine politische Tätigkeit. In dieser Beziehung zollte er Sartre sogar durchaus seine Anerkennung. Sartre sei insofern ein moderner Philosoph, „[…] denn für ihn [Sartre/M.R.] reduziert Philosophie sich letztlich auf eine Form politischer Tätigkeit“.61 Eine Anerkennung, die Sartre in dieser Form wohl hätte zurückweisen müssen, leitete er sein Verständnis von

59 Sartre (1966), a.a.O., S. 95. 60 Foucault (1968a), a.a.O., Bd. 1, S. 845. 61 Vgl. Foucault (1967/69), a.a.O., Bd. 1, S. 784.

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Politik doch gerade von einem Philosophiebegriff her, der weit über das Feld des Politischen hinausragt und dieses erst zu bestimmen und zu begründen vermag. Foucault versprach sich von der Begründungsfunktion der Philosophie dagegen wenig. Die politische Tätigkeit des Theoretikers entzieht sich seiner Ansicht nach notwendigerweise einer strengen Begründung, wenn es um die Beschreibung von Regelsystemen im Zuge einer Diagnose der Gegenwart geht: „Aber wenn es darum geht, das Diskurssystem zu bestimmen, auf dem wir heute leben, wenn wir gezwungen sind, die Worte infrage zu stellen, die wir noch im Ohr haben und die sich mit unseren eigenen Worten vermischen, dann ist die Archäologie gezwungen, wie Nietzsches Philosophie, mit dem Hammer vorzugehen.“62

Was bleibt, ist offenbar allein eine subjektivistisch anmutende Form der Subversion. Foucault schwankte während des Humanismusstreites zwischen einem gewissen anarchistischen Aktivismus und einem technokratischen Verständnis von Politik. Provokativ behauptete er, es müsse doch eine linke Politik möglich sein, die ohne die ‚humanistischen Mythen‘ auskomme, indem sie einfach das Optimum des gesellschaftlichen Funktionierens definiere und zwar auf der Basis einer bestimmten Beziehung zwischen Bevölkerungswachstum, Konsum, individueller Freiheit und der Möglichkeit von Freude für jeden – und all das, „[…] ohne sich dabei jemals auf die Idee des Menschen zu stützen“.63 Die Konzeption von Politik erscheint zumindest zum Zeitpunkt der Auseinandersetzung vage. Der Kontrast zu Sartre zeigte sich auf der theoretischen Ebene vor allem darin, dass zwar jede politische Aktion der Analyse und theoretischen Reflexion bedarf,64 Foucault aber den Begriff des Engagements als nicht theoriefähig und dogmatisch verwirft. „Der Unterschied“ , so Foucault, „liegt […] darin, dass wir, gerade weil wir Politik und Theorie aufs Engste miteinander verknüpfen, diese Politik der docta ignorantia ablehnen, die mit dem Begriff des Engagements verbunden ist.“65 Sartre hat sich in der Auseinandersetzung mit Foucault nicht direkt zum theoretischen Status politischen Engagements geäußert. Er ist in seinen Einlassungen aber gewissermaßen immer schon vorausgesetzt. Aus Sartres Sicht ist es selbstverständlich unzulässig, den Begriff des Engagements aus der Theorie auszuklammern. Aus handlungstheoretischer Perspektive ist dies für ihn freilich

62 Foucault (1967), a.a.O., Bd. 1, S. 767f. 63 Vgl. Foucault (1967/69), a.a.O., Bd. 1, S. 790. 64 Vgl. Foucault (1968), a.a.O., Bd. 1, S. 852; ders. (1968a), a.a.O., Bd.1, S. 839. 65 Vgl. Foucault (1968), a.a.O., Bd. 1, S. 852 (Hervorhebung i.O.).

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auch gar nicht möglich. Sartre denkt den Menschen von vornherein als engagiert. Eine neutrale Sicht auf die Welt ist für ihn schon aus ontologischen Gründen nicht gegeben, da In-der-Welt-Sein immer bedeutet, in Situation und mit einer bestimmten intentionalen Perspektive auf die Welt zu sein.66 Für Sartre muss sich von daher die Rationalität von Politik aus der Handlungsperspektive begründen lassen. Politik hat damit immer schon eine moralische Dimension. Die menschliche Freiheit ist kritischer Maßstab, anhand dessen sich beabsichtigtes Ziel und faktisches Resultat jeder politischen Aktion bewerten lassen muss.

(4) Subjekt Im Zentrum der Auseinandersetzung um den methodischen Zugriff auf das Phänomen Gesellschaft, das damit verbundene Selbstverständnis der Philosophie und den entsprechenden theoretischen wie praktischen Stellenwert der Politik stand der theoretische und praktische Status des Menschen als Subjekt. Für Sartre evidentermaßen methodologischer Ausgangspunkt und praktischer Urheber politisch-gesellschaftlicher Prozesse, verstand Foucault die Idee des Menschen als Subjekt als ein historisches Produkt der Moderne, das mit dem humanistischen Diskurs des späten 18. Jahrhunderts in Erscheinung trat. Foucaults Subjektkritik basierte in der Auseinandersetzung mit Sartre im Wesentlichen auf zwei Argumenten: Das erste ist historisch-epistemischer Natur, demzufolge der Mensch erst ab einem bestimmten Zeitpunkt zum Subjekt/Objekt und damit zum Ausgangspunkt und prominenten Gegenstand jeder möglichen Theorie wurde: „Als Subjekt jeglichen Wissens und als Objekt eines möglichen Wissens.“67 Damit einher geht, laut Foucault, die wissensgeschichtlich außergewöhnliche Vorstellung von einem Wesen des Menschen. Die Versuche der aus dieser Fragestellung sich entwickelnden modernen Humanwissenschaften, ein Wesen oder eine Natur des Menschen ausmachen zu können, hätten in ihrer vermeintlich kritischen Funktion allerdings lediglich einen „eschatologischen Mythos“ geschaffen: „[…] man hoffte, durch die Erkenntnis des Menschen werde der Mensch sich von der Entfremdung und von jeglicher Fremdbestimmung durch nicht beherrschte Bedingungen befreien, so dass er wieder oder erstmals Herr über sich selbst und Besitzer seiner selbst

66 Vgl. Arthur C. Danto (1975): Jean-Paul Sartre. Göttingen 1992, S. 96ff. 67 Foucault (1967/69), a.a.O., Bd. 1, S. 778.

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werde. Anders gesagt, man machte den Menschen zum Erkenntnisobjekt, damit er das Subjekt seiner eigenen Freiheit und seines Daseins werden konnte.“68

Diese Freiheitsmythen hätten aber spätestens Mitte des 20. Jahrhunderts ihre Anziehungskraft eingebüßt. Anstelle eines Wesens oder einer Natur des Menschen seien die modernen Humanwissenschaften auf Strukturen, Korrelationen und quasi-logische Systeme gestoßen. Von der Idee des Menschen sei hingegen nichts mehr übrig geblieben. Die Folge: „Der Mensch verschwindet aus der Philosophie nicht als Objekt von Wissen, sondern als Subjekt der Freiheit und des Daseins.“69 Dies ist im Grunde die Konsequenz für das zweite systematische Argument: Foucault bestreitet generell die Vorstellung von einer Souveränität des Subjekts und des Bewusstseins aus methodologischen Gründen. Das Subjekt lasse sich als Element formaler Regelstrukturen beschreiben und sei deshalb in seiner theoretischen Doppelfunktion als Subjekt/Objekt verzichtbar: „Seit wir erkannt haben, dass alle menschliche Erkenntnis, jegliche menschliche Existenz, das ganze menschliche Leben und vielleicht sogar das biologische Erbe des Menschen in Strukturen eingebunden sind, das heißt in eine formale Menge von Elementen, zwischen denen Relationen bestehen, die von jedermann beschrieben werden können, hört der Mensch gleichsam auf, für sich selbst sein eigenes Subjekt, also zugleich Subjekt und Objekt zu sein.“70

Der Mensch kann nach Foucault von daher nicht mehr Ausgangspunkt der Theorie sein. Damit bestreite er nicht das Cogito, aber er zweifle an dessen methodologischer Brauchbarkeit und damit an der Möglichkeit, Geschichte und Gesellschaft mit den Begriffen des Subjekts und des Bewusstseins zu denken, wie dies Sartre intendiere.71 Foucault plädierte deshalb dafür, die Illusion des Cogito einzuklammern, um so – und das ist als der Versuch, die reine Beobachterperspektive einzunehmen, zu verstehen – das „ganze System von Relationen“ zu Tage treten lassen und beschreiben zu können.72 Sartre ließ keines der beiden Argumente gelten. Foucaults radikale Infragestellung der Souveränität des Subjekts relativierte er insofern, dass für ihn der

68 Foucault (1968), a.a.O., Bd. 1, S. 846. 69 Ebd., S. 847. 70 Foucault (1967/69), a.a.O., Bd. 1, S. 779. 71 Vgl. ebd., S. 780ff. 72 Vgl. ebd., S. 781.

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Ausgangspunkt beim Cogito lediglich methodische Gründe hatte. Das reale Subjekt der menschlichen Praxis war auch für Sartre durch äußere, und das heißt für ihn vor allem durch gesellschaftliche Determinanten beeinflusst. Insofern sei das Subjekt in der Tat dezentriert, und als ‚substanzielles Ich‘ im Sinne einer Wesensbestimmung des Menschen schon lange tot – schon bei Marx, wie Sartre bemerkte, und damit im Grunde länger als dies Foucault theoriegeschichtlich konstatierte: „L’‚homme‘ n’existe pas, et Marx l’avait rejeté bien avant Foucault ou Lacan, quand il disait: ‚Je ne vois pas d’homme, je ne vois que des ouvriers, des bourgois, des intellectuels‘. Si l’on persiste à appeler sujet une sorte de je substantiel, ou une catégorie centrale, toujours plus ou moins donnée, à partir de laquelle se développerait la réflexion, alors il y a longtemps que le sujet est mort.“73

Für Sartre allerdings kein Grund, die Kategorie des Subjekts gänzlich aufzugeben, ging es ihm doch gerade darum, den Spielraum des Subjekts im Kontext vorgängiger Determinanten auszuloten. Diese, das Subjekt bedingenden, ihm äußerlichen, gesellschaftlichen Voraussetzungen gelte es gerade mit Blick auf die menschliche Freiheit hin zu analysieren: „L’essentiel n’est pas ce qu’on a fait de l’homme, mais ce qu’il fait de ce qu’on a fait de lui. Ce qu’on a fait de l’homme, ce sont les structures, les ensembles signifiants qu’étudient les sciences humaines. Ce qu’il fait, c’est l’histoire elle-même, le dépassement réel de ces structures dans une praxis totalisatrice.“74

Sartre intendierte also, wie er immer wieder betonte, nicht von einer Wesensbestimmung des Menschen auszugehen. Diese irrige Vorstellung war für ihn – und darin ähnelte seine Position in gewisser Hinsicht derjenigen Foucaults – gerade das Resultat einer Verdinglichung des Menschen als Objekt der Humanwissenschaften. Aus der Erkenntnis des Scheiterns dieser Idee zog er allerdings im Gegensatz zu Foucault nicht die Konsequenz, die reine Objektivität der Strukturen gelten zu lassen, um sie von außen zu beschreiben, Sartre insistierte darauf, dass bei der Betrachtung der Objektseite eine eigenständige Subjektivität des Menschen, und damit das, was für ihn erst den „totalen Menschen“75 ausmachte, verloren gehe. Anstelle einer Wesensbestimmung des Menschen bestand Sartre dar-

73 Sartre (1966), a.a.O., S. 93 (Hervorhebung i.O.). 74 Ebd., S. 95 (Hervorhebungen i.O.). 75 Vgl. Sartre (1966a), a.a.O., S. 79.

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auf, den theoretischen Status des menschlichen Subjekts aus der formalen Struktur der Praxis zu entwickeln: „Die Philosophie beginnt in dem Augenblick, in dem das dialektische Verhältnis von Geschichte und Struktur uns erkennen läßt, daß in allen Fällen der Mensch – als ein reales Glied einer vorgegebenen Gesellschaft und nicht als abstrakte menschliche Natur – für den Menschen nur ein Quasi-Objekt ist.“76 Ein mögliches Verständnis des Menschen ist demnach nur aus der Synthese einer methodischen Arbeitsteilung denkbar. Den Humanwissenschaften kommt dabei die Aufgabe zu, den Menschen als „Exteriorität“ zu behandeln und ihn als natürliches Wesen in der Welt, als Objekt zu betrachten. Da dies, laut Sartre, aber notwendig nur zu partiellen Resultaten führen kann, sei es unumgänglich, für ein Verständnis der Totalität der menschlichen Welt, den Menschen zugleich aus der Perspektive der „Interiorität“ – also der Binnenperspektive des Handelns – anzugehen.77 Die Subjektperspektive ist damit nicht theoretisch gesetzt, sondern existiert im Vollzug von Handlungen, und ist damit konstitutiver Bestandteil der Praxis. Methodisch ist deshalb aus Sartres Sicht der Übergang vom ‚Erklären‘ (intellection) zum ‚Verstehen‘ (compréhension) entscheidend: „Der Übergang von Erklären zum Verstehen ist der Übergang von der Stasis, bei der es darum geht, die Gegebenheiten zu analysieren oder zu beschreiben, der analytischen und auch phänomenologischen Stasis zur Dialektik. Es ist notwendig, das Objekt der Untersuchung wieder in die menschliche Aktivität einzubringen, verstehen kann man nur die Praxis, und nur durch die Praxis versteht man.“78

Für das Verständnis der Dynamik gesellschaftlicher Zusammenhänge bedeutete dies die Notwendigkeit eines hermeneutischen Zugangs über die Handlungsperspektive der einzelnen Subjekte. Nur so können, nach Sartre, Entstehung und Transformation von Ordnungsstrukturen gedacht werden. Damit ist das Subjekt in methodischer Hinsicht konstitutiv für die Theorie der Gesellschaft, die Funktionslogik der systemischen Ordnung muss an die Struktur des menschlichen Praxisvollzugs zurückgebunden werden.

76 Ebd., S. 81. 77 Vgl. ebd., S. 82. 78 Ebd., S. 83 (Hervorhebungen i.O.).

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(5) Geschichte Sartres Unterscheidung zwischen Erklären und Verstehen ist im Grunde auch der Schlüssel im Streit über die theoretische Konzeption von Geschichte. Foucault unterstellte seinen Kritikern und damit auch Sartre eine Geschichtsauffassung in der Tradition des 19. Jahrhunderts im Sinne einer Kausalgeschichte und der Unterstellung eines linearen-evolutionären Fortschritts.79 Genau das lehnte Foucault ab: „Wir müssen uns vor einer allzu simplen, linearen Auffassung von Geschichte hüten.“80 Dieses Geschichtsbild basiere auf drei Mythen: einer unterstellten Kontinuität, dem Glauben an die reale Ausübung menschlicher Freiheit und an den Zusammenhang von individueller Freiheit und ökonomischen Zwängen81 – in sartrescher Terminologie gesprochen: Es wird die synthetisierende Kraft menschlicher Praxis vorausgesetzt. Diese Dimension hatte Foucault als theoretisch unhaltbar ausgeklammert. Wie oben gezeigt, ging es ihm darum, die Brüche und Diskontinuitäten freizulegen, einzelne Serien, Neuanfänge und Umgruppierungen durch die gezielte Auswahl von Objekten und Diskursen zu isolieren. Historische Transformationen erhalten dabei eher den Charakter von Ereignissen, die nicht streng aus bestimmten Ursachen ableitbar sind. Sartres Einwand war vor allem, dass sich mit Foucaults Ansatz die historische Dynamik nicht nachvollziehen lasse. Den Vorwurf einer theoretisch nicht gesicherten Unterstellung linearer Entwicklung bestritt er. Sartre deutete ihn in gewisser Weise um, indem er sich dagegen verwahrte, er lege historischen Prozessen ein Ordnungsprinzip zu Grunde. Ordnungen ließen sich lediglich auf der Ebene von gegebenen Strukturen ausmachen. Diese lösten sich im Verlauf der Geschichte aber gerade auf, konterte er. Insofern sei die Geschichte als Prozess weitgehend von Unordnung geprägt: „L’histoire, ce n’est pas l’ordre. C’est le désordre. Disons: un désordre rationnel. Au moment même où elle maintient l’ordre, c’est-à-dire la structure, l’histoire est déjà en train de la défaire.“82 Er verweigerte also die Unterstellung eines Kontinuitätsprinzips – streng genommen allerdings lediglich auf der Ebene der Realgeschichte. Die Geschichte war für ihn ein offener Prozess, der keiner vorgegebenen Logik gehorchte, und insofern ganz im Sinne Foucaults von Diskontinuitäten gezeichnet sein kann. Als Unordnung ist die Geschichte aber zugleich insofern rational, als Sartre ihr aus der Perspektive des Subjekts in der Tat prinzipielle Intelligibilität unterstellte.

79 Vgl. Foucault (1967/69), a.a.O., Bd. 1, S. 777. 80 Ebd. 81 Vgl. Foucault (1968), a.a.O., Bd. 1, S. 850f. 82 Sartre (1966), a.a.O., S. 90.

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Nur dadurch wurde Geschichte für ihn als permanente Totalisierung konzipierbar, Totalisierung verstanden als labiler Zustand, innerhalb dessen jeder Einzelne immer zugleich Totalisierender und Totalisierter ist.83 Die Kontinuität kommt demzufolge nicht auf der Ebene des Beobachtens und Erklärens realer historischer Abläufe und Konstellationen zustande, sondern erst auf der Ebene des Verstehens als rationaler Nachkonstruktion des Ganzen aus der Perspektive der handelnden Individuen im Kontext der prinzipiellen Intelligibilität eines Ganzen. „Man muß“, so Sartre, „stets das Ganze vom Teil aus und das Teil vom Ganzen aus betrachten. Das setzt voraus, daß die menschliche Wahrheit eine totale ist, das heißt, daß es möglich ist, durch die konstanten Detotalisierungen hindurch die Geschichte als ablaufende Totalisierung zu begreifen.“84

Beobachterperspektive versus Teilnehmerperspektive Soweit der rekonstruktive Versuch einer Darstellung der strittigen Punkte und des Verlaufs der komplexen Konfliktlinien in der Sartre-Foucault-Debatte. Wie sich an mehreren Stellen bereits zeigte, war die Auseinandersetzung nicht nur von Polemik, sondern zum Teil auch von Missverständnissen geprägt. Diese müssen im Folgenden geklärt werden. Dabei soll es nicht nur um eine vergleichende Gegenüberstellung von Positionen gehen. Es müssen auch die unterschiedlichen Ebenen der Argumentation bestimmt werden, um festzustellen, wo Sartre und Foucault schlicht aneinander vorbeireden und insofern möglicherweise gar keine Gegensätze bestehen und wo die Kritik tatsächlich die methodische Architektur des konkurrierenden Ansatzes tangiert. An diesen Punkten wird dann zu fragen sein, welche theoretischen Konsequenzen diese für die jeweilige Position haben könnten. So ist etwa bislang noch nicht klar ersichtlich, inwiefern Foucaults Subjektkritik tatsächlich die sartresche Konzeption in Gänze trifft. Insbesondere die Unterstellung einer Wesensbestimmung des Menschen und die Annahme eines substanziellen Ichs als Grundlage seines bewusstseinsphilosophischen Subjektbegriffs werden von Sartre strikt bestritten. Im Folgenden soll daher über den Umweg einer werkimmanenten Rekonstruktion der jeweiligen theoretischen Ansätze sowohl die argumentative Kraft von Foucaults Subjektkritik nachvollzogen werden als auch die theoretische Begründung von Sartres Subjektphilosophie überprüft werden.

83 Vgl. ebd., S. 95. 84 Sartre (1966a), a.a.O., S. 84.

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Ebenfalls offenbleiben mussten nach dem bisherigen Aufriss des Humanismusstreits die entscheidenden Punkte im Verständnis von Geschichte. So ließ sich aus den Interview-Äußerungen nicht klären, inwieweit Foucaults Kritik an der Kontinuitätsunterstellung einer idealistisch gefärbten traditionellen Theorie der Geschichte auch Sartres Vorschlag von der Intelligibilität historischer Prozesse aus der Handlungsperspektive tatsächlich im Kern berührt. Sartre weist den Vorwurf der Unterstellung einer realgeschichtlichen Kontinuität im Sinne eines überhistorischen Ordnungsprinzips weit von sich. Foucault stellt aber auch Sartres synthetischen Praxisbegriff und damit auch die an einer Totalität methodologisch ausgerichtete Deutungsstrategie infrage. Da das methodische Herangehen Foucaults aus der Beobachterperspektive erfolgt, wäre prinzipiell auch eine Ergänzung und gegenseitige inhaltliche Bereicherung der beiden Zugänge denkbar. Aus Foucaults Sicht schließen sich die Zugangsweisen allerdings aus. Sartre ist an der Integration des konkurrierenden Ansatzes interessiert, weist der Beobachterperspektive allerdings einen methodisch untergeordneten Status zu. Um diese Fragen zu klären, müssen auch die jeweiligen Geschichtskonzeptionen ausführlicher untersucht werden. In den nächsten Schritten sollen daher die Problematiken des Subjekts und der Geschichte bei Sartre und Foucault detaillierter diskutiert werden. Erst auf dieser Grundlage lassen sich die weiteren Punkte, die sich in der systematischen Analyse des Humanismusstreits ergeben haben, weiter gehend erörtern. Der jeweilige theoretische Status des Subjekts und die damit verbundene Konzeption von Geschichte sind konstitutiv für den jeweiligen methodischen Zugriff auf das Phänomen Gesellschaft und die damit einhergehenden strittigen Rollen von Philosophie und politischer Praxis. Aus der jeweiligen Perspektive – Teilnehmer bzw. Beobachter – soll der Versuch unternommen werden, Sartre und Foucault als Gesellschaftstheoretiker zu lesen und auf ihre Aktualität hin zu überprüfen.85

85 In der Sekundärliteratur finden sich für die hier beabsichtigte gesellschaftstheoretische Perspektive nur vereinzelte Anhaltspunkte. Das Gros der bislang publizierten, meist kürzeren Arbeiten beschränkt sich auf vergleichende Analysen und konzentriert sich in der Regel auf einzelne Aspekte. Theoriegeschichtliche Vergleiche mit einem Überblick über die hier interessierenden Themenkomplexe finden sich etwa im Eingangskapitel von Mark Poster (1984): Foucault, Marxism and History. Mode of Production versus Mode of Information, Cambridge/New York, S. 1-43; sowie bei Hugh J. Silverman (1978): Jean-Paul Sartre versus Michel Foucault on civilizational study. In: Philosophy & Social Criticism 5, S. 159-171. Die meisten Untersuchungen beschäftigen sich mit der Subjektthematik im engeren Sinne, darunter sehr ausführlich und mit systematischem Interesse Andrea Roedig (1997): Foucault und Sartre. Die Kritik des

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Die bisherige Gegenüberstellung der Positionen von Sartre und Foucault hatte einen Zeitindex: die Jahre unmittelbar nach 1966, als der Humanismusstreit in Frankreich auf seinen Höhepunkt zugesteuert war. Für die nun beabsichtigte Re-

modernen Denkens, Freiburg/München; sowie Neil Levy (2001): Being up-to-date. Foucault, Sartre, and Postmodernity, New York/Washington D.C.-Baltimore/Boston/Bern/Frankfurt am Main/Berlin/Brussels/Vienna/Oxford. Beide konzentrieren sich dabei allerdings weitgehend auf die frühen Werke. Foucaults Subjektkritik ist ebenfalls der Schwerpunkt bei Phyllis Sutton Morris (1997): Self-Creating Selves: Sartre and Foucault. In: American Catholic Philosophical Quarterly 50, No 4, S. 537-549; sowie bei Pierre Verstraeten (1988): Sartre und Foucault. In: König (Hg.), a.a.O., S. 334-364 und Philip Knee (1990): Le cercle et le doublet: Note sur Sartre et Foucault. In: Philosophiques 17, S. 113-126. Unter gleichzeitiger Berücksichtigung der politischen Dimension ebenso ders. (1991): Le problème politique chez Sartre et Foucault. In: Laval théologique et philosophique 47, S. 83-93 und Jeanette Colombel (1987): Foucault et Sartre. In: Lettre International 14 (Paris), S. 27-29. Letztere unterstellt allerdings etwas gewagte theoretische Konkordanzen. Instruktiv dagegen der Versuch bei Eshleman, das Bedingungsverhältnis von Zwang und subjektiver Freiheit zu diskutieren, vgl. Matthew Eshleman (2004): Sartre and Foucault on Ideal ‚Constraint‘. In: Sartre Studies International 10, S. 56-76. Fragliche Vereinnahmungsversuche von Foucault aus sartrescher Perspektive findet sich bei Brian Seitz (2004): Sartre, Foucault, and the Subject of Philosophy’s Situation. In: ebd., S. 92-105 und ebenso, allerdings in gesellschaftskritischer Hinsicht zum Verhältnis von Foucaults Machtanalytik und Sartres Analyse der strukturellen Dynamik von Gruppen bei Kevin Boileau (2004): How Foucault Can Improve Sartre’s Theory of Authentic Political Community. In: ebd, S. 77-91. Eher dekonstruktivistisch geprägt ist die Annäherung bei Erik Michael Vogt (1995): Sartres Wieder-Holung, Wien, S. 151-266. Einen plausiblen, jedoch nur skizzenhaften Versuch der systematischen Klärung des Verhältnisses von Foucaults Machtkonzeption und Sartres Praxisbegriff mit der Perspektive, beide Ansätze in einem Ergänzungsverhältnis zu denken, unternimmt Steve Hendley (1988): Power, knowledge, and praxis: A Sartrean approach to a Foucaultian problem. In: Man and World 21, S. 171-189. Ebenso von systematischem Interesse geprägt ist der kurze Aufriss zu Sartres und Foucaults Geschichtskonzeptionen von Hugh J. Silverman (1986): Le lieu de l’histoire. Sartre et Foucault. In: Cahiers de sémiotique textuelle 56 (Études sartriennes II-III), S. 151-156. Ausführlich mit dem Geschichtsbegriff, aber weitgehend nur vergleichend, befasst sich Flynn in einer Doppelmonografie. Vgl. Thomas R. Flynn (1997/2005): Sartre, Foucault, and historical reason. Bd. 1: Toward an existentialist theory of history, Bd. 2: A poststructuralist mapping of history, Chicago/London.

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konstruktion der Begründungsformen der jeweiligen Ansätze muss freilich weiter ausgegriffen werden. Dies ist aus zwei Gründen notwendig: Zum einen muss zur Bewertung der Standpunkte der damalige Stand der jeweiligen Theorieentwicklung nachvollzogen werden, zum anderen erfordert aber auch das hier verfolgte erkenntnisleitende Interesse einer methodischen Bewertung des jeweiligen Zugangs für eine kritische Gesellschaftstheorie, dass die Untersuchung zusätzlich auf spätere Arbeiten ausgedehnt wird. Da beide Autoren mehrfach Modifikationen und Korrekturen ihrer Positionen vorgenommen haben, ist dies erst im Rückblick auf das Gesamtwerk möglich. Um die Bedeutung des Humanismusstreits für das jeweilige Werk einschätzen zu können, ist es zunächst hilfreich, sich den Stand der Publikationen von Sartre und Foucault zum Zeitpunkt der Debatte nochmals zu vergegenwärtigen. Da die beiden Protagonisten zwei verschiedenen Philosophen-Generationen angehörten – 1966 war Sartre 61 Jahre alt, Foucault 35 – repräsentierte die Auseinandersetzung einen äußerst ungleichen Stand der jeweiligen Theorieentwicklung. Sartre hatte mit „L’être et le néant“ (1943) und der „Critique de la raison dialectique“ (1960) bereits zwei seiner Hauptwerke vorgelegt und dabei seine anfängliche Position zum Teil schon deutlich modifiziert. Die in den 70er Jahren folgende monumentale Flaubert-Studie stellte eine weitere Wendung innerhalb der Werksgeschichte dar. Foucault dagegen hatte nach wissensgeschichtlichen Studien zur Entstehung des Wahnsinns und des medizinischen Diskurses mit „Les mots et les choses“ 1966 sein erstes großes Werk mit weitgehend philosophischen Ambitionen veröffentlicht. Er befand sich damit in der ersten – methodologisch als archäologisch zu charakterisierenden – Phase seiner Theorieentwicklung. Das komplette, eher genealogisch angelegte Unternehmen einer Analytik der Macht, auf das er sich in den 70er Jahren konzentrierte, sowie die in den 80ern begonnene Geschichte der Subjektivität standen noch aus. Für die beabsichtigte Rekonstruktion der Positionen im Streit um den Status des Subjekts und der Geschichte ist es nicht nur deshalb von Interesse, weitgehend die kompletten Werke heranzuziehen, weil dadurch die gesellschaftstheoretischen Begründungsstrukturen sichtbar werden sollen, sondern – nicht zuletzt – auch weil sich ein Teil der jeweiligen Modifikationen zumindest indirekt auf den Schlagabtausch während des Humanismusstreits zurückführen lassen dürften. So ist etwa Sartres Rezeption des Strukturalismus, die sich zwar zum Teil bereits in der „Critique de la raison dialectique“ niedergeschlagen hatte, in der FlaubertStudie, vor allem was die Dimension der Semiologie und der Sprachtheorie betrifft, noch stärker bemerkbar und führt, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, zu einer weiteren Verschiebung des Subjektbegriffs. Damit kommt er Foucaults Subjektkritik partiell entgegen. Foucault wiederum hat nach eigenem Bekunden

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auf Sartres Kritik reagiert.86 Vor allem seine Konzeption von Geschichte hat er in der „Archéologie du savoir“, die 1969 als methodologische Explikation von „Les mots et les choses“ erschien, ausführlich reformuliert. Dem Vorwurf der nicht erklärten historischen Übergänge entzieht sich Foucault im Laufe der 70er Jahre teilweise mithilfe des genealogischen Ansatzes seiner Machtanalytik. Die in den 80er Jahren begonnene Geschichte der Subjektivität führt, was noch zu zeigen sein wird, sogar zu einer gewissen Annäherung an Sartres frühe Subjektkonzeption. Im Folgenden soll die Auseinandersetzung um die Problematik des Subjekts auf drei Ebenen rekonstruiert werden, indem die theoretisch-epistemologische, die politisch-praktische und schließlich individuell-expressive Dimension beleuchtet wird. Gegen eine direkte Gegenüberstellung auf der jeweiligen Ebene sprechen allerdings die jeweiligen Werkentwicklungen und der Zeitpunkt, an dem der Humanismusstreit stattgefunden hat. Für die Darstellung wird es daher notwendig sein, sich der immanenten Logik der einzelnen Werksgeschichte anzupassen und zum Teil zwischen den Ebenen zu springen. In einem ersten Schritt wird Foucaults Subjektkritik, wie er sie vornehmlich in „Les mots et les choses“ über eine Archäologie der Humanwissenschaften entwickelte, skizziert werden. Vor diesem Hintergrund wird dann der Subjektbegriff des frühen Sartre untersucht, wie er ihn weitgehend in „L’être et le néant“ als Ontologie der Freiheit entwirft. Die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs und der Résistance gegen die nationalsozialistische Okkupation sowie die anschließende theoretische Auseinandersetzung mit dem Marxismus haben Sartre dazu geführt, diesem idealistisch konzipierten Subjekt schrittweise eine praxisphilosophische Wendung zu geben. Demzufolge wird auch zu prüfen sein, inwieweit diese praktisch ausgerichtete Konzeption der epistemisch-archäologischen Subjektkritik Foucaults erliegt. Vor dem Hintergrund des Humanismusstreites ist die zweite, praktische Dimension der Subjektproblematik daher zweigeteilt. Foucaults Kritik operierte auf der Basis der theoretisch zu begründenden Erkenntnisfunktion des Subjekts. Von dort aus nimmt er auch Sartres praxisphilosophischen Ansatz ins Visier. Der Thematik subjektiver Praktiken selbst stellt sich Foucault erst in den 70er Jahren im Zuge seiner Machtanalytik – allerdings geradezu spiegelverkehrt zu Sartres praktischem Subjekt. Sartre denkt dieses weiterhin als, wenn auch durch äußere

86 Vgl. Foucault (1968b), a.a.O, Bd. 1, S. 854: „Seit achtzehn Monaten hüte ich mich vor jeder Erwiderung, weil ich an einer Antwort auf Fragen arbeite, die man mir gestellt, auf Schwierigkeiten, denen ich begegnet bin, und auf Einwände, die erhoben worden sind – unter anderem auch von Sartre.“

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gesellschaftliche Zwänge eingeschränkte, individuelle Freiheit. Bei Foucault führt die gesellschaftstheoretische Neuorientierung dagegen dazu, das Subjekt zunächst als ein Unterworfenes, als Effekt der Disziplinierungs- und Normalisierungsmechanismen der Macht zu beschreiben. Sartres Praxisphilosophie ist also in der Auseinandersetzung mit Foucault noch Gegenstand der Kritik, während Sartre sich mit Foucaults Machtanalytik offiziell nicht mehr auseinandergesetzt hat. Diese Gegenüberstellung muss also vollständig aus den Werken rekonstruiert werden. Dasselbe gilt komplett für die dritte, individuell-expressive Dimension. Erst mit dem erneuten Umbau seiner theoriestrategischen Konzeption bewegt sich Foucault in den 80er Jahren ein Stück weg von der Machtanalytik und damit von der Fremdkonstitution hin zur Frage nach einer möglichen Selbstkonstitution des Subjekts. Foucaults Untersuchungen der Techniken des Selbst in der Antike befassen sich nun nicht mehr nur mit dem unterworfenen Subjekt der Disziplinen, sondern begreifen das Einüben von Praktiken zugleich als Mittel der gezielten Gestaltung des individuellen Lebens. In diesem Zusammenhang taucht bei Foucault der bis dahin methodisch ausgeklammerte Freiheitsbegriff auf und erhält einen begrenzten theoretischen Status, was ihn zumindest ein Stück weit in die Nähe zu Sartre bringt. Dies zumal Sartre in seiner letzten Phase – in der Flaubert-Studie – sein Augenmerk gerade auf den minimalen Grad von subjektiver Freiheit konzentriert, die einem Individuum innerhalb der ökonomischen und ideologischen Zwänge der Struktur moderner bürgerlicher Gesellschaften verbleibt. Es wird zu zeigen sein, in welcher Hinsicht gerade in den letzten Phasen der jeweiligen Werkentwicklung nachträglich gewisse Annäherungen in der Frage des Subjekts zu verzeichnen sind.

„Das Feld der Philosophie in dieser weltbürgerlichen Bedeutung läßt sich auf folgende Fragen bringen: 1) Was kann ich wissen? – 2) Was soll ich tun? 3) Was darf ich hoffen? 4) Was ist der Mensch?“ (IMMANUEL KANT)1

III Foucaults archäologische Subjektkritik

Dem aus dem Sartre-Lager stammenden Positivismusvorwurf war von Foucault, wie bereits erwähnt, zwar mit der ironischen Erwiderung, er vertrete eben einen ‚glücklichen Positivismus‘ begegnet worden, faktisch vertrat Foucault aber eine Position, die kaum in das gängige Positivismus-Raster passte. Sartre schien sich dessen in gewisser Weise bewusst gewesen zu sein, als er etwas unscharf von einem ‚Positivismus der Zeichen‘ sprach. Unklar bleiben musste dabei freilich, was damit eigentlich gemeint war. Foucaults damalige Kokettierung mit dem Vokabular des Strukturalismus legte es für Sartre nahe, dass er sich auch dessen Zeichentheorie bediente. Die Absicht, dieses äußerst konstruktivistische Verfahren als positivistisch im Sinne einer Affirmation vom Bestehenden zu verurteilen, dürfte allerdings vornehmlich politisch motiviert gewesen sein. Foucaults Forschungsgegenstand war zudem ohnehin nicht die Sprache in der Form eines geschlossenen Zeichensystems, sondern das historische Material der Diskurse, also derjenigen Entitäten, die durch die angewandte Sprache hinterlassen wurden.2

1

Immanuel Kant (1800): Logik. In: Werkausgabe, Bd. VI, Schriften zur Metaphysik und Logik 2, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1977, A 25 (S. 447f).

2

In der Forschungsliteratur wurde immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass Foucaults Verfahren trotz einzelner Anleihen nicht als strukturalistisch zu verstehen ist. Vgl. etwa Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow (21983): Michel Foucault: Beyond

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Die methodische Differenz zu Sartre liegt vielmehr in der Perspektive der Herangehensweise. Foucault beabsichtigt mit seinem archäologischen Verfahren in der Tat, die von Sartre vorausgesetzte Kategorie des Subjekts zunächst einzuklammern, um sie schließlich als historisch gewordenes, modernes Konstrukt zu destruieren. Dies ist allerdings nur möglich, wenn es gelingt, eine historischkritische Perspektive aus der Distanz einzunehmen. Denn nur dann könnte gelingen, was Foucault im Auge hat: Anstelle der Ergründung der Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis und Handeln – also dem Verhältnis von Subjekt und Welt aus dem Blickwinkel des Subjekts, wie das in der philosophischen Tradition spätestens seit Kant und in dieser Hinsicht auch von Sartre noch intendiert wurde – geht es ihm darum, die Konstitutionsbedingungen von Erfahrung, unter denen Subjekt und Objekt historisch überhaupt erst an je bestimmten Stellen auftauchen, freizulegen. Foucault ist daher nicht an der Geschichte eines möglichen Erkenntnisfortschritts interessiert, Foucault will die Geschichte der Erkenntnisordnungen schreiben. Dies ist die Grundidee, die dahintersteckt, wenn er sagt, er versuche eine Art Ethnologie der eigenen Kultur zu betreiben, eine Analyse der „kulturellen Tatsachen“. Foucault versucht sich gewissermaßen virtuell von den eigenen historisch-kulturellen Voraussetzungen zu distanzieren, ja geradezu zu entfremden: „Ich versuche, mich außerhalb der Kultur zu stellen, der wir angehören, und ihre formalen Voraussetzungen zu untersuchen, um sie einer Kritik zu unterziehen, und zwar nicht, um ihre Werte herzuleiten, sondern um zu sehen, wie sie tatsächlich hat entstehen können. Durch die Analyse der Bedingungen unserer Rationalität stelle ich übrigens unsere Sprache, meine Sprache infrage, da ich die Möglichkeit ihrer Entstehung untersuche.“3

Beabsichtigt ist also, eine reine Beobachterperspektive einzunehmen, um quasi von einer externen Position aus die Regeln der Wissensordnung einer bestimmten Epoche zu beschreiben. Foucault betrachtet sein Verfahren als rein deskriptiv. Die Arbeit der Kritik besteht nach seinem Selbstverständnis nicht in einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit der immanenten Logik einer Ordnung der eigenen Kultur, sie besteht allein in der kritischen Distanzierung vom Gegenstand. In der Auseinandersetzung mit der Subjektphilosophie begibt sich Foucault daher nicht auf die Ebene einer Analyse ihrer theorieimmanenten Geltungskraft, sondern der Archäologe des Wissens verlagert den Gegenstandsbe-

Structuralism and Hermeneutics. Second Edition with an Afterword by and an Interview with Michel Foucault, Chicago. 3

Foucault (1967/69), a.a.O., Bd. 1, S. 776.

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reich, in dem er sich auf das „[…] Vorhaben einer reinen Beschreibung der diskursiven Ereignisse […]“4 zurückzieht. Foucaults Versuch der Einnahme einer ethnologischen Beobachterperspektive gegenüber der eigenen Kultur besteht also in dem ambitionierten Unternehmen einer Kritik der reflexionstheoretischen Tradition der Subjektphilosophie, wie sie etwa Sartre vertritt, ohne selbst auf die Leistung eines Bewusstseinssubjektes zurückgreifen zu wollen. Folgerichtig muss Foucault auch das methodische Instrumentarium der Hermeneutik, das traditionell für eine Analyse des Fremden bereitsteht, aus der Hand geben. Gemäß Foucaults Rede von einer ‚Ethnologie der eigenen Kultur‘ bedeutet dies, durch eine Dezentrierung der Perspektive eine künstliche Distanz zur eigenen kulturellen Tradition aufzubauen. Mithilfe einer methodischen Verfremdung des Forschungsgegenstandes soll so die eigene Kultur als fremde erscheinen. Es kann also weder darum gehen, die Intentionen von Subjekten zu verstehen, noch den Sinn ihrer Handlungen nachzuvollziehen, sondern allein darum, den Regelmechanismus ausfindig zu machen, der das Möglichkeitsspektrum vorgibt, innerhalb dessen die einzelnen Subjekte agieren. In der Einleitung zur deutschen Ausgabe von „Les mots et les choses“ formuliert Foucault diese Herangehensweise mit Blick auf die dort praktizierte Analyse wissenschaftlicher Diskurse folgendermaßen: „Ich wollte gerne wissen, ob die Individuen, die verantwortlich für den wissenschaftlichen Diskurs sind, nicht in ihrer Situation, ihrer Funktion, ihren perzeptiven Fähigkeiten und in ihren praktischen Möglichkeiten von Bedingungen bestimmt werden, von denen sie beherrscht und überwältigt werden. Kurz, ich versuchte den wissenschaftlichen Diskurs nicht vom Standpunkt der sprechenden Individuen aus zu erforschen, noch, was sie sagen, vom Standpunkt formaler Strukturen aus, sondern vom Standpunkt der Regeln, die nur durch die Existenz solcher Diskurse ins Spiel kommen […].“5

Auf die eigene Kultur angewendet, verspricht sich Foucault von seinem archäologischen Verfahren also die Möglichkeit der Analyse der historisch entstandenen unbewussten Strukturen einer Gesellschaft, die die jeweilige Erfahrung der Subjekte a tergo bestimmen.

4

Vgl. Foucault (1969), a.a.O., S. 41 (Hervorhebung i.O.).

5

Foucault (1966), a.a.O., S. 15.

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Methode: Das Verfahren der Diskursanalyse Um sich unter Verzicht auf die reflexionstheoretische Instanz des Subjekts und historisch bereitstehende hermeneutische Verfahren auf eine reine Beschreibung diskursiver Ereignisse zurückziehen zu können, ist es erforderlich, dass Foucault für seine Archäologie eine völlig veränderte, neue Theoriesprache entwickelt, die den Ballast der Tradition des Humanismus und der Anthropologie hinter sich lässt.6 Diese entwickelt Foucault in den 60er Jahren mit Blick auf die Analyse historischer Erfahrungsformen für das Verfahren der Diskursanalyse, das die Freilegung der erkenntniskonstitutiven Struktur von jeweils kultur- und epochenspezifischen Wissensordnungen zum Ziel hat. Schlüsselbegriffe dieser Methode, wie sie in „Les mots et les choses“ angewandt wurde, sind historisches Apriori (1), Episteme (2) und Diskurs (3).7 In der „Archéologie du savoir“ hat Foucault wenige Jahre später versucht, dieses Begriffsraster näher zu explizieren. (1) Obwohl er dem Subjekt eine erkenntniskonstitutive Funktion abspricht, geht Foucault davon aus, dass keine Erfahrung unmittelbar, sondern immer nur unter bestimmten historisch-kulturell variierenden Voraussetzungen gegeben ist. Von diesen hänge ab, welche Phänomene sich in welcher Form zu einem bestimmten Zeitpunkt als Gegenstände des Wissens konstituieren lassen. Um die jeweilige epistemische Grundlage geschichtlich situierter Erfahrungsformen beschreiben zu können, führt Foucault den Begriff des ‚historischen Apriori‘ ein. Unter bewusster Anleihe bei Kant und gleichzeitiger Distanzierung von ihm ist damit allerdings kein transzendentales Apriori, etwa unter Berufung auf eine überhistorische Kategorientafel, gemeint, sondern ein konkretes, empirisch auffindbares, zeitlich und – insofern sich Foucault ausschließlich auf den europäischen Kulturraum bezieht – zum Teil auch geografisch begrenztes Organisationsprinzip der Erfahrung eines bestimmten Zeitalters. Anders als bei Kant soll dieses Apriori nicht „[…] Gültigkeitsbedingung für Urteile, sondern Realitätsbedingung für Aussagen […]“8 sein. Es ist, wie Foucault in „Les mots et les choses“ ausführt, „[…] das, was in einer bestimmten Epoche in der Erfahrung ein mögliches Wissensfeld abtrennt, die Seinsweise der Gegenstände, die darin erscheinen, definiert, den alltäglichen

6

Vgl. Foucault (1969), a.a.O., S. 28.

7

Vgl. hierzu sehr prägnant: Hans Herbert Kögler (22004): Michel Foucault, Stuttgart/Weimar. S. 35ff.

8

Vgl. Foucault (1969), a.a.O., S. 184.

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Blick mit theoretischen Kräften ausstattet und die Bedingungen definiert, in denen man eine Rede über die Dinge halten kann, die als wahr anerkannt wird“.9

Foucault verwahrt sich damit nicht nur gegen überhistorische Kategorien, sondern beansprucht zugleich historische Konkretion. Deshalb versucht er mit dem Begriff des historischen Apriori nicht nur die transzendentale Ebene einzuziehen, sondern schließt auch die Möglichkeit aus, darunter eine historisch variierende formale Struktur zu fassen oder ein den erfassten Entitäten von außen auferlegtes Regelkorsett der Erfahrung. Als „rein empirische Figur“ ist das historische Apriori „[…] die Gesamtheit von Regeln, die eine diskursive Praxis charakterisieren […]“ und ist dabei „[…] selbst ein transformierbares Ganzes“.10 Für das Vorhaben einer Ethnologie der eigenen Kultur bedeutet dies, es müssten sich konkrete Regelgebilde bestimmen lassen, auf denen die spezifische Erfahrung in der europäischen Moderne basiert. Und genau dies ist das Anliegen von „Les mots et les choses“. (2) Der Untersuchungsgegenstand von „Les mots et les choses“ sind allerdings die Humanwissenschaften. Um die subjektunabhängigen Konstitutionsbedingungen wissenschaftlicher Diskurse isolieren zu können, bedarf es neben dem historischen Apriori einer Epoche zugleich eines konkreten Erkenntnisrasters. Wissenschaften existieren demnach nicht nur auf der Basis historisch variabler Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung, sie funktionieren zugleich innerhalb einer spezifischen, ebenfalls historisch bedingten Erkenntnisordnung. Diese bezeichnet Foucault mit dem antiken Begriff ‚Episteme‘ – eine Ordnung, durch die festgelegt ist, unter welchen Voraussetzungen in einer bestimmten Epoche etwas als Wissen anerkannt ist – und damit zugleich, was nicht darunterfällt. In gewisser Hinsicht wurde der Episteme-Begriff in der Antike auch so verstanden. Schon Platon hatte diese Unterscheidung vorgenommen, als er die Episteme als eine der Fähigkeiten, das Seiende zu ordnen, von der Meinung (doxa) und dem Nicht-Wissen (agnoia) trennte.11 Bei Aristoteles wird die Episteme schließlich in drei Bereiche unterteilt: das theoretische, poietische und praktische Wissen – wobei nur das theoretische Wissen streng genommen Episteme als allgemeines Wissen mit Anspruch auf Wahrheit im Sinne von Wissenschaft ist, während das poietische Wissen ein Wissen im Sinne von Können als ‚wissen, wie…’(technē)

9

Foucault (1966), a.a.O., S. 204.

10 Vgl. Foucault (1969), a.a.O., S. 185. 11 Vgl. Platon: Politeia. In: Sämtliche Werke, Bd. 3, hrsg. von Walter F. Otto, Ernesto Grassi und Gert Plamböck, Hamburg 1958, 476e,4ff (S. 196).

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und das praktische Wissen ein Wissen vom richtigen Handeln (phronesis) umfasst.12 Foucaults Episteme-Begriff bezieht sich ungefähr auf das, was bei Aristoteles als theoretische Episteme beschrieben ist. Allerdings, und das ist der entscheidende Unterschied zu Aristoteles, werden die Voraussetzungen für das, was zu einer jeweiligen Epoche als Wissenschaft gelten kann, von Foucault nicht als überzeitlich, sondern als historisches Produkt und damit als variabel betrachtet. In der „Archéologie du savoir“ definiert er die Episteme sehr abstrakt als „[…] die Gesamtheit der Beziehungen, die man in einer gegebenen Zeit innerhalb der Wissenschaften entdecken kann, wenn man sie auf der Ebene der diskursiven Regelmäßigkeiten analysiert.“13 Was Foucault darunter versteht, ist allerdings weit konkreter gefasst. Gemeint ist gewissermaßen das Selbstverständnis der Wissenschaft einer bestimmten Epoche. Dazu gehört neben den im historischen Apriori beschreibbaren unbewussten Erfahrungsbedingungen der Subjekte das komplette sogenannte wissenschaftliche Design: historisch und kulturell entstandene Begriffe, die symbolisch geordnete Theoriewirklichkeit, deren interne Hierarchisierung nach Grundbegriffen und Erkenntnisprinzipien, durch die etwa die jeweilige Logik gültiger Argumentation, die Art der zulässigen Aussagen oder die Auswahl der relevanten Gegenstände bestimmt sind. Diese Ordnungsprinzipien des wissenschaftlichen Denkens versucht Foucault für einen bestimmten Zeitraum zu isolieren und zu bestimmen. Dabei geht er davon aus, dass es im Verlauf der Geschichte auf diesem Gebiet zu Brüchen und Diskontinuitäten kommt. In der Einleitung zu „Les mots et les choses“ formuliert er dieses Anliegen wie folgt: „Was wir an den Tag bringen wollen, ist das epistemologische Feld, die episteme, in der die Erkenntnisse, außerhalb jedes auf ihren rationalen Wert oder ihre objektiven Formen bezogenen Kriteriums betrachtet, ihre Positivität eingraben und so eine Geschichte manifestieren, die nicht die ihrer wachsenden Perfektion, sondern eher die der Bedingungen ist, durch die sie möglich werden.“14

Es geht also auch hier nicht um die Bewertung der Qualität der innerhalb einer Episteme formulierten Geltungsansprüche oder um die Relevanz von Fragestellungen. Foucault beabsichtigt mit dieser Art von Wissenschaftsgeschichte ledig-

12 Vgl. etwa Aristoteles: Nikomachische Ethik. Auf der Grundlage der Übersetzung von Eugen Rolfes herausgegeben von Günther Bien, Hamburg 41985, 1139b,14ff (S. 133ff). 13 Vgl. Foucault (1969), a.a.O., S. 273. 14 Foucault (1966), a.a.O., S. 24f (Hervorhebung i.O.).

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lich, die diskursiven Regelmäßigkeiten eines bestimmten historischen Verständnisses von Wissenschaft zu beschreiben.15 Fragen nach Bedeutung und Wahrheit bleiben eingeklammert. (3) Die Episteme kann für Foucault nur unter der Voraussetzung zum Gegenstand der archäologischen Analyse werden, dass sie sich in einem ‚Diskurs‘ manifestiert. Was Foucault genau unter ‚Diskurs‘ versteht, ist allerdings nicht ganz einfach zu fassen. In einer ersten Annäherung lässt sich sagen: Diskurse sind Aussagenmengen, die einer zeitlichen und räumlichen Limitierung und Streuung sowie gewissen Regelhaftigkeiten unterliegen. Es handelt sich also um sprachliche Systeme oder Einheiten, in denen Aussagen geregelt verknüpft werden. Das Problem ist allerdings, sich klar zu machen, welcher Art diese Verknüpfungen sind. Nach Foucault besitzen Diskurse keine allgemeinen formalen Strukturen, sondern beziehen sich auf konkrete Gegenstände, operieren mit speziellen Begriffen, verfolgen bestimmte Themen und unterliegen spezifischen Äußerungsmodalitäten. Über diese recht unterschiedlichen Aspekte, Dimensionen und Eigenschaften des Diskurses sollen sich nun aber die Formationsregeln bestimmen lassen, die sich jenseits der Konstitutionsleistung eines Subjektes beschreiben lassen müssen. Denn nur dann kann der Diskurs das leisten, wofür Foucault ihn methodisch braucht: als eine Formation sprachlicher Äußerungen, deren Ordnung die Konstitution einer bestimmten wissenschaftlichen Welterfahrung ermöglicht und zugleich expliziert. Unter dem Formationssystem des Diskurses muss man laut Foucault „[…] ein komplexes Bündel von Beziehungen verstehen, die als Regel funktionieren: Es schreibt das vor, was in einer diskursiven Praxis in Beziehung gesetzt werden mußte, damit diese sich auf dieses oder jenes Objekt bezieht, damit sie diese oder jene Äußerung zum Zuge bringt, damit sie diesen oder jenen Begriff benutzt, damit sie diese oder jene Strategie organisiert. Ein Formationssystem in seiner besonderen Individualität definieren, heißt also, einen Diskurs oder eine Gruppe von Aussagen durch die Regelmäßigkeit einer Praxis zu charakterisieren.“16

15 Aufgrund der Beschreibung historischer Brüche zwischen den spezifischen Strukturen wissenschaftlicher Welterfahrung wurde Foucaults Episteme in der Literatur bereits häufiger mit dem Paradigma-Begriff von Thomas S. Kuhn verglichen. Vgl. hierzu Kögler (22004), a.a.O., S. 37f; Dreyfus/Rabinow (21983), a.a.O., S. 60; Honneth (1986), a.a.O., S. 133. Vgl. auch: Thomas S. Kuhn (1962/70): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/M. 21976. 16 Foucault (1969), a.a.O., S. 108.

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Damit ist allerdings noch nicht eindeutig geklärt, wie sich die Formationsregeln des Diskurses präzise bestimmen lassen sollen, zumal Foucault beansprucht, darüber die jeweilige Spezifizität und Individualität eines konkreten Diskurses erfassen zu können. Foucault gesteht dies selbst zu, wenn er einräumt, den Diskursbegriff, generell verstanden als eine „Menge sprachlicher Performanzen“, mit unterschiedlichen Bedeutungen zu belegen: als real auffindbare produzierte Zeichenmenge, als „Menge von Formulierungsakten“ im Sinne einer „Folge von Sätzen oder Propositionen“; und schließlich präferiert er, ihn als konstituiert durch „eine Menge von Zeichenfolgen“ aufzufassen, insoweit diese „[…]Aussagen sind, das heißt insoweit man ihnen besondere Existenzmodalitäten zuweisen kann“.17 Das Schwanken bezüglich der Charakterisierung der Formationsregeln des Diskurses zeigt eine methodische Schwierigkeit, die sich für die gewählte ethnologische Beobachterperspektive ergibt. Aufgrund des Verzichts auf die Syntheseleistung eines Beobachtersubjekts muss sich ein gesuchter Regelmechanismus aus dem Gegenstand selbst ergeben. Für reine Zeichenmengen ließen sich Formationsregeln vermutlich am ehesten als semiotische Ordnungssysteme erfassen, wodurch aber weder ein für den Diskurs eigentümlicher Gegenstandsbezug, noch die thematische, begriffliche Orientierung berücksichtigt würden. Folgen von Sätzen und Propositionen dürften, sobald die Sinnperspektive ausgeklammert ist, streng genommen nur noch in ihrer grammatischen oder illokutionären Struktur analysierbar sein. Da es Foucault aber weder um rein formale noch um logische Strukturen, sondern um konkrete, real stattfindende, empirisch vorfindbare sprachliche Performanzen geht, müssen die Formationsregeln auch die Existenzmodalitäten von Diskursen bestimmen – also das „Verbreitungs- und Verteilungsprinzip“ der Aussagen.18 Aussagen erhalten demzufolge in Abgrenzung von sprachanalytischen oder sprachpragmatischen Theorien den Status von Funktionen, die sich aus ihrer faktischen Existenz als konkrete Anwendung einer Zeichenordnung ergeben sollen. Funktionen lassen sich aber wiederum nur unter Bezug auf ein bestimmtes Ordnungssystem definieren, das ja aber gerade gesucht wird. Es bleibt eine gewisse Unklarheit. Foucault gelingt zwar die negative Abgrenzung seines Diskursbegriffs von konkurrierenden Ansätzen, seien sie hermeneutischer, sprachanalytischer oder zeichentheoretischer Provenienz, die positive Bestimmung bleibt allerdings verschwommen und kann deshalb höchstens

17 Vgl. ebd., S. 156. 18 Vgl. ebd.

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als programmatisch gelten.19 Festzuhalten bleibt insofern zunächst nur so viel: Diskurse sind, grob gesagt, eine irgendwie geartete systematische Verknüpfung realer Aussagen. Eine weitere methodische Ausarbeitung dieses archäologischen Programms der Diskursanalyse hat Foucault nicht mehr vorgenommen. In seinen späteren Arbeiten hat er von dem Versuch, die Formationsregeln allein aus dem Diskurs selbst zu entfalten, Abstand genommen und das Feld der Untersuchung auf nicht-diskursive Elemente gesellschaftlicher Praktiken ausgedehnt. Für seinen frühen ausschließlich archäologisch verfahrenden Ansatz war das Diskurskonzept jedoch konstitutiv. Der Diskurs hatte eine zentrale Funktion für die Erschließung von Wirklichkeit. Und in der Anwendung hat das Diskurskonzept zumindest in „Les mots et les choses“ trotz der erwähnten Mängel zu anregenden Einsichten geführt.

Renaissance, Klassik, Moderne: Eine Geschichte des Wissens und der Erfahrungsweisen „Les mots et les choses“ trägt den Untertitel „Eine Archäologie der Humanwissenschaften“. Foucault entwickelt dort seine radikale Kritik des abendländischen Subjektbegriffs im Gewand einer Wissenschaftsgeschichte. Methodisch verfährt Foucault, wie bereits beschrieben, gewissermaßen ‚ethnologisch‘, indem er den Subjektbegriff einklammert und aus der Beobachterperspektive versucht eine Theorie epochaler diskursiver Praktiken zu entwickeln.20 Von dieser Position eines theoretischen Antihumanismus aus soll es möglich werden, die abendländische Denkfigur der Subjektphilosophie als spezifisches Produkt der Moderne zu beschreiben, eine epistemische Voraussetzung, die mit dem Ende der Moderne folgerichtig auch wieder ihre Denknotwendigkeit verlieren wird. Foucault skizziert diesen Gedankengang programmatisch im Vorwort und legt damit das leitende Interesse seines wissenschaftshistorischen Vorhabens offen:

19 Zu den Unzulänglichkeiten des Diskursbegriffs in der „Archéologie du savoir“ vgl. insbesondere die tiefer gehenden Analysen von Honneth (1986), a.a.O., S. 149ff; sowie Bernhard Waldenfels (1991): Michel Foucault: Ordnung in Diskursen. In: François Ewald/ders. (Hg.), Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt/M., S. 277-297. 20 Vgl. Foucault (1966), a.a.O., S. 15.

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„Seltsamerweise ist der Mensch, dessen Erkenntnis in naiven Augen als die älteste Frage seit Sokrates gilt, wahrscheinlich nichts anderes als ein bestimmter Riß in der Ordnung der Dinge, eine Konfiguration auf jeden Fall, die durch die neue Disposition gezeichnet wird, die sie unlängst in der Gelehrsamkeit angenommen hat. Daher stammen alle Schimären neuer Humanismen, alle Leichtigkeiten einer ‚Anthropologie‘, wenn diese als allgemeine Reflexion (halb positivistisch, halb philosophisch) über den Menschen verstanden wird. Indessen gibt es eine Stärkung und tiefe Beunruhigung, wenn man bedenkt, daß der Mensch lediglich eine junge Erfindung ist, eine Gestalt, die noch nicht zwei Jahrhunderte zählt, eine einfache Falte in unserem Wissen, und daß er verschwinden wird, sobald unser Wissen eine neue Form gefunden haben wird.“21

Es geht Foucault also darum, nachvollziehen zu können, wie die wissenschaftliche Thematisierung des Menschen im Verlauf der Geschichte zu Stande kam – oder in seinem Vokabular: Wie und zu welchem Zeitpunkt die moderne Episteme auftauchte, in der die Vorstellung des Menschen als Subjekt konstitutiv war. „Les mots et les choses“ ist demzufolge der Versuch einer Rekonstruktion des Wandels der diskursiven Struktur wissenschaftlicher Erfahrung, die mit dem Eintritt in die Moderne dazu führte, dass mit dem Auftauchen der Humanwissenschaften der Mensch ins Zentrum des Interesses rückt. Um dies zu zeigen, isoliert Foucault drei Epochen, über deren Grenzen hinweg er die Veränderung des konkreten Erfahrungsraumes einzelner Wissenschaften zu verfolgen sucht. Mithilfe synchroner Schnitte setzt er innerhalb der europäischen Wissenschaftsgeschichte zwei epistemische Schwellen, an denen er einen grundlegenden Wandel der Erfahrungsstruktur ausmacht: Gegen Ende des 16. Jahrhunderts, als die Renaissance-Erfahrung zum Abschluss kommt und für die beiden folgenden Jahrhunderte die Episteme der Klassik einsetzt. Unter Klassik versteht Foucault den Zeitraum, der traditionell als Rationalismus bezeichnet wird. Der zweite Bruch befindet sich am Ende des 18. Jahrhunderts im Übergang zur Moderne. Foucault hatte anhand dieser Epocheneinteilung in den 60er Jahren mehrere Wissenschaftsdisziplinen untersucht. In der „Histoire de la folie“22 analysierte er den Wandlungsprozess des Verständnisses des Wahnsinns von der Renaissance über die Klassik bis zur Psychologie und Psychiatrie in der Moderne. In der „Naissance de la clinique“23 ging es um die Medizin an der Schwelle zwischen

21 Foucault (1966), a.a.O., S. 26f. 22 Michel Foucault (1961): Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt/M. 1969 (Folie et Déraison. Histoire de la folie à l’âge classique, Paris) 23 Foucault (1963), a.a.O.

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Klassik und Moderne. Beide Bücher verfolgen also den Wandel des Wissens über Krankheiten. „Les mots et les choses“ schließlich behandelt das Erkenntnisfeld von Ökonomie, Biologie und Sprachwissenschaft und die damit verbundene Form wissenschaftlicher Erfahrung unter Rückgriff auf die in den jeweiligen Epochen angesiedelten philosophischen Diskurse. Das Ziel dieser Zeitschnitte ist es, die jeweiligen Kontraste deutlich werden zu lassen, um dadurch die historische Begrenzung und Relativität der eigenen Erfahrungsform verdeutlichen zu können. So fungiert in „Les mots et les choses“ die Analyse der Erfahrungsstruktur der Renaissance vornehmlich dazu, den Bruch zur Klassik zu veranschaulichen, um dadurch ein möglichst prägnantes Bild der Episteme des Rationalismus zeichnen zu können. Darstellungsstrategisch dient dies vor allem dazu, auf dieser Kontrastfolie schließlich das erkenntnistheoretische Selbstverständnis der Moderne zu relativieren und damit infrage stellen zu können. Kennzeichnend für die Episteme der Renaissance ist, laut Foucault, das Prinzip der Ähnlichkeit. Das Weltbild dieser Zeit basiert auf einem unendlichen Netz von Verweisungen, Bezügen, Relationen, die sämtlich über Analogien, optische Parallelen, Korrespondenzen, Spiegelungen, Entsprechungen, Wiederholungen usw. aus dem Sein herausgelesen werden können. Das Wissen des 16. Jahrhunderts ruht auf einem semantischen Raster der Ähnlichkeit.24 Dieses liefert die Mittel, um Symbole oder Texte, um Sichtbares wie Unsichtbares zu deuten. „Die Welt“, schreibt Foucault, „drehte sich um sich selbst: die Erde war die Wiederholung des Himmels, die Gesichter spiegelten sich in den Sternen, und das Gras hüllte in seinen Halmen die Geheimnisse ein, die dem Menschen dienten.“25 Plastisch wird dieses Denken für den zeitgenössischen Leser etwa anhand der von Foucault referierten Erwartung an die besondere Heilwirkung von Nüssen gegen Kopfschmerzen aufgrund der optischen Affinität zwischen Schädelknochen und Nussschale bzw. Gehirn und Nusskern.26 Foucault macht vier grundlegende Gestalten der Ähnlichkeit aus, die die Renaissance-Erfahrung strukturieren: Die convenientia, mit deren Hilfe bestimmte Entitäten über räumliche Zuordnungen in ein Verwandtschaftsverhältnis gebracht werden; die aemulatio, die erhellt, wie der Mikrokosmos sich im Makrokosmos spiegelt – und umgekehrt; die Analogie, welche Ähnlichkeiten in den Verhältnissen zwischen den Dingen verdeutlicht; und die Sympathie, welche die Bewegung aufgrund der Annäherung zwischen entfernten Dingen erklärt. Die Erkenntnis der Welt wird somit nur möglich durch ein unendliches Durchlaufen

24 Vgl. Foucault (1966), a.a.O., S. 46. 25 Ebd. 26 Vgl. ebd., S. 58.

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der Ähnlichkeiten. Sie erfordert eine nicht endende Hermeneutik, die permanente Deutung von Zeichen und Symbolen sowie das Auslegen und Kommentieren von Texten. Für die Extrapolation des Kontrastes zur nachfolgenden Klassik ist vor allem entscheidend, dass es innerhalb dieser Ontologie der Ähnlichkeiten keine kategoriale Differenz zwischen Zeichen und Dingen gibt. Sie bilden ein Feld von wechselseitigen Verweisungen, in dem etwas als Zeichen für etwas anderes fungiert, weil es diesem in einer bestimmten Form ähnelt. Das Zeitalter der Ähnlichkeiten kommt in dem Augenblick an sein Ende, als ein neues Organisationsprinzip des Wissens in der Geschichte auftaucht. Foucault ist nicht daran interessiert, einen fließenden Übergang nachzuzeichnen. Sein Anliegen ist es gerade, eine Diskontinuität zu markieren, um den Kontrast zur Anordnung des Wissens anderer Zeitalter nachzeichnen zu können.27 Das neue Organisationsprinzip des klassischen Wissens ist das der Ordnung der Identitäten und Unterschiede. Paradigmatisch hierfür steht für Foucault Descartes Misstrauen gegenüber der Ähnlichkeit, wie es dieser gleich im ersten Satz der „Regulae“ formulierte: „Ea est hominum consuetudo, ut, quoties aliquam similitudinem inter duas res agnoscunt, de utraque judicent, etiam in eo in quo sunt diversae, quod de alterutra verum esse compererunt.“28 Mit dem Eintritt ins klassische Zeitalter ist die Ähnlichkeit nach Foucault nicht mehr Form des Wissens, sondern Möglichkeit des Irrtums.29 Descartes ist für Foucault zugleich einer der Kronzeugen für das Auftauchen dieses neuen Denkens. Bei ihm tritt zum Zwecke des Vergleichs der Dinge an die Stelle der Ähnlichkeiten einerseits die Idee des Maßes, durch welches sich das Ähnliche aus der Perspektive einer übergeordneten Einheit anhand von Identitäten und Unterschieden kalkulieren lässt, andererseits diejenige der Ordnung, die es gestattet, von der einfachsten Entität aus eine Serien von Unterschieden zu erstellen.30 Das methodische Selbstverständnis der wissenschaftlichen Erfahrung der Klassik ist die Analyse, ihre Ordnungsprinzipien sind mathesis und taxonomia. Erstere verkörpert die universale Methode der Algebra zur Ordnung einfa-

27 Vgl. ebd., S. 82f. 28 René Descartes: Regulae ad directionem ingenii. Kritisch revidiert und herausgegeben von Heinrich Springmeyer und Hans Günter Zekl, Hamburg 1973, S. 2; zitiert nach Foucault (1966), a.a.O., S. 83: „Sooft die Menschen irgendeine Ähnlichkeit zwischen zwei Dingen bemerken, pflegen sie von beiden, mögen diese selbst in gewisser Hinsicht voneinander verschieden sein, das auszusagen, was sie nur bei einem als wahr erfunden haben.“ 29 Vgl. Foucault (1966), ebd. 30 Vgl. ebd., S. 85ff.

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cher Einheiten, Letztere dient der Klassifizierung komplexer Erfahrungsgegenstände. Entscheidend für dieses neue Verständnis von Welterfahrung ist, nach Foucault, ein veränderter Zeichenbegriff. Galt in der Renaissance etwas als Zeichen, weil es aufgrund seiner Ähnlichkeit mit etwas anderem auf dieses verweisen konnte, so hat das Zeichen der Klassik nun Repräsentationsfunktion. Ein Zeichen steht für etwas anderes, es ist natürlich oder arbiträr, aber seine Verknüpfung des Bezeichnenden mit dem Bezeichneten ist allein eine Erkenntnisleistung. Dies ist allerdings nur möglich geworden, weil das Zeichen selbst „[…] als Element unterschieden und von dem globalen Eindruck losgelöst […]“ wurde. Zeichen sind insofern ein Resultat der Analyse, sie sind aber zugleich deren Instrument, „[…] weil, wenn es einmal isoliert und definiert ist, es auf Eindrücke übertragen werden kann, und dabei spielt es in Beziehung zu diesen gewissermaßen die Rolle eines Rasters.“31 Das Zeichen ist damit Mittel der Zergliederung, es ist Analyseinstrument, das zur Darstellung der Logik der Natur dient. Die Erfahrung des klassischen Wissens ist damit an ein verändertes historisches Apriori geknüpft. War es in der Renaissance mit der Ähnlichkeit verbunden, so basiert es jetzt auf der völligen Transparenz des Diskurses. Denn die ungetrübte Repräsentierbarkeit des Seins im System der Zeichen ist die unhintergehbare erkenntnistheoretische Voraussetzung des klassischen Denkens. Eine vermittelnde Instanz zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem, wie es in der Renaissance die Ähnlichkeit war, ist nicht mehr erforderlich. Foucault betont diese dualistische Zeichentheorie als Charakteristikum der Klassik unter Verweis auf die Logik von Port-Royal: „Die Beziehung des Bezeichnenden zum Bezeichneten stellt sich jetzt in einem Raum, in dem keine vermittelnde Gestalt ihr Zusammentreffen mehr sichert: sie ist im Innern der Erkenntnis die zwischen der Vorstellung (idée) einer Sache und der Vorstellung einer anderen hergestellte Verbindung.“32 Im Erfahrungsraum der Klassik verfolgt die Wissenschaft somit eine veränderte Aufgabe. An die Stelle der Kunst der Interpretation der Ähnlichkeiten ist mit dem Ende der Episteme der Renaissance eine Wissenschaft getreten, die die Repräsentationen ordnet, indem sie das Tableau der Identitäten und Unterschiede entwirft. Foucault zeigt dies anhand der in der Klassik aufkommenden wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit Grammatik, Naturgeschichte und der Analyse der Reichtümer befassen. Für die hier interessierende Frage nach der wissensgeschichtlichen Fundierung von Foucaults Subjektkritik ist nun so viel ersichtlich: Aus archäologischer Perspektive, also aus der externen Betrachtung diskursiver Praktiken, war das

31 Vgl. ebd., S. 95. 32 Ebd., S. 98 (Hervorhebung i.O.).

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menschliche Subjekt für das Wissen der Klassik ebenso wenig von belang wie in der Renaissance. Auch im klassischen Zeitalter ist Wahrheit offenbar nicht an die Konstitutionsleistung eines Subjekts geknüpft, sondern wird aufgrund der Repräsentationsfunktion des Zeichens in den Diskurs verlagert. Die Sprache ermöglicht von vornherein eine den Dingen adäquate Repräsentation. Und solange diese Funktion der Sprache unhintergehbar ist und damit das Verhältnis von Sein und Repräsentation als völlig transparent vorausgesetzt bleibt, solange ist ein Subjekt, das diese Verknüpfung überhaupt erst möglich machen soll, überflüssig. Erst in dem Moment, in dem die Evidenz dieser Verknüpfung in Zweifel gezogen wird, kommt die klassische Episteme an ihr Ende. Zuzeiten Descartes jedoch ist es, trotz seines methodischen Zweifels, nicht denkbar, diese Konstellation infrage zu stellen. Aufgabe des Menschen ist es, die Ordnung der Welt nachzuvollziehen. Dank der Verlässlichkeit und Transparenz der Repräsentation war dies mithilfe des Darstellungsmediums einer aus arbiträren Zeichen bestehenden künstlichen Sprache möglich. Das ‚Cogito‘ Descartes hat im Raum der Repräsentation lediglich die Aufgabe, begriffliche Klarheit zu schaffen. Es fragt nicht nach seinem ureigenen Sein, sondern gliedert lediglich nacheinander „[…] das, was man sich repräsentiert, und das, was ist […]“.33 Insofern war eine Wissenschaft, die den Menschen zum Subjekt-Objekt ihrer selbst machte, nicht erforderlich. Der Mensch hatte in jener wissenschaftlichen Erfahrungswelt keinen Ort. Im Zeitalter der Klassik sind Natur und menschliche Natur über die Macht des Diskurses miteinander verbunden, ein Diskurs, der jene erkenntnistheoretische Funktion – oder wie Foucault schreibt – denjenigen Platz einnimmt, an dem „[…] wir heute die ursprüngliche, unabweisbare, rätselhafte Existenz des Menschen zu erkennen glauben […]“.34 Für Foucault folgt daraus im Wesentlichen, „[…] daß die klassische Sprache als gemeinsamer Diskurs der Repräsentation und der Sachen, als Ort, in dem Natur und menschliche Natur sich überkreuzen, absolut etwas ausschließt, was man als ‚Wissenschaft vom Menschen‘ bezeichnen könnte. Solange die Sprache in der abendländischen Kultur gesprochen hat, war es nicht möglich, daß die menschliche Existenz für sich selbst in Frage gestellt wurde, denn was sich in ihr verknüpfte, war die Repräsentation und das Sein.“35

Die geschieht erst mit dem Niedergang der klassischen Episteme, als das Band zwischen Repräsentation und Sein zerreißt. Die Geburt der modernen Erfahrung

33 Vgl. ebd., S. 377. 34 Vgl. ebd, S. 375. 35 Ebd., S. 376 (Hervorhebung i.O.).

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beinhaltet eine tiefgreifende archäologische Veränderung. Sie bringt mit dem Menschen als erkennendes Subjekt und zugleich Objekt der Wissenschaft ein neues historisches Apriori an den Tag. Aufgrund dieser Doppelfunktion nimmt er laut Foucault in diesem neuen Raum des Wissens allerdings keine eindeutige Position ein. Er ist: „Unterworfener Souverän, betrachteter Betrachter […]“.36 Foucault spart auch an dieser Stelle eine Erklärung des Übergangs aus. Er skizziert erneut einen Bruch. Die neu auftauchende Episteme wird im Kontrast zur Klassik expliziert – ein Kontrast, der umso deutlicher hervortreten kann, als die klassische Wissensordnung mithilfe der archäologischen Methode in ihrer inneren Struktur als eine Ordnung ohne Subjekt beschrieben werden konnte.37 Diese über den Diskurs zusammengehaltene Ordnung der Dinge zerbricht nun in dem Moment, in dem Zweifel an der Wahrheit der Verknüpfung von Sein und Repräsentation auftauchen und sich das bisher umschlossene Feld des Wissens nach zwei Seiten hin öffnet: in Richtung eines Subjektes, indem sich die Frage nach dem Ort der Bedingungen der Möglichkeit des Verhältnisses der Repräsentationen stellt, und zugleich in Richtung des Objekts, indem nach den Bedingungen des Verhältnisses zwischen den Repräsentationen auf der Seite des Seins gefragt wird. Es ist das Auftauchen des „transzendentalen Themas“,38 das, laut Foucault, das anthropologische Zeitalter einläutet und damit ein neues historisches Apriori erfordert. An die Stelle des Diskurses, dessen Unhintergehbarkeit für die klassische Episteme konstitutiv war, tritt nun der Mensch als Unhintergehbarkeit der Moderne. Die beiden Seiten, nach denen die Repräsentation aufbricht, sind auf der Objektseite die Entstehung der Humanwissenschaften, auf der Subjektseite verbindet Foucault philosophiegeschichtlich damit die kantische Transzendentalphilosophie:

36 Vgl. ebd, S. 377. 37 Dieses methodische Vorgehen hat Foucault gelegentlich dem Verdacht ausgesetzt, er favorisiere insgeheim die Episteme der Klassik zu Gunsten der Moderne, seine Subjektkritik basiere insofern auf einer strukturalistischen Aufwertung des Repräsentationsmodells und dessen Diskurses (vgl. etwa Frank (1983), a.a.O., S. 212ff). Mir scheint hingegen, dass Foucault lediglich mithilfe von Anleihen in der strukturalistischen Terminologie versucht, die internen Korrelationen der klassischen Episteme zu beschreiben, um so eine deutliche Kontrastfolie für eine Darstellung der Moderne zu haben. 38 Vgl. Foucault (1966), a.a.O., S. 300.

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„[…] sie deckt so ein transzendentales Feld auf, in dem das Subjekt, das nie in der Erfahrung gegeben wird (weil es nicht empirisch ist), das aber endlich ist (weil es keine intellektuelle Anschauung gibt), in seinem Verhältnis zu einem Objekt X alle formalen Bedingungen der Erfahrungen im allgemeinen bestimmt. Die Analyse des transzendentalen Subjekts legt die Grundlage einer möglichen Synthese zwischen den Repräsentationen frei.“39

Damit schafft Kant, laut Foucault, auf der Erkenntnisseite den Platz, den die nachkantische Philosophie in mehr oder weniger expliziten anthropologischen Varianten mit der Figur des Menschen ausgestalten wird. Kant befindet sich für Foucault damit an der Bruchstelle zwischen den beiden Epistemen. Er liest ihn als Wegbereiter der Moderne, der die theoretischen Unsicherheiten, die mit dem Auseinanderbrechen der Repräsentation entstehen, reflektiert und dabei eine entscheidende Verschiebung vornimmt.40 Den mit der Aufklärung verbundenen Skeptizismus gegenüber der Gültigkeit der vom Dogmatismus der Metaphysik der Repräsentation unterstellten Verbindung von Denken und Sein verstand Kant als Herausforderung zur Begründung einer neuen Metaphysik als Wissenschaft „[…] durch die Bestimmung so wohl der Quellen, als des Umfanges und der Grenzen derselben, alles aber aus Prinzipien“.41 In einer archäologischen Lesart lässt sich der Ausgangspunkt von Kants „Kritik der reinen Vernunft“ als eine Kritik des klassischen Gebrauchs des Instrumentes der Analyse verstehen. Was in der Klassik als geeignetes Mittel angesehen wird, um die Welt der Dinge und der Repräsentationen zu ordnen, wird von Kant als unzulässiger Missbrauch analytischer Urteile apriori kritisiert, und zwar in dem Sinne, dass die klassische Analyse nicht nur Begriffe zergliedert und ordnet, sondern beansprucht, diese zu erweitern, also unter der Hand synthetische Urteile einschmuggelt. Dies ist genau das Problem, das sich nach Foucault erst mit dem Auseinanderbrechen der klassischen Transparenz von Repräsentation und Sein stellt, indem die Frage nach der Synthesis von Denken und Sein aufkommt. Kant schränkt das Gebiet der klassischen Analyse ein und formuliert damit ein neues Problem: das der Synthesis. Der Lösungsweg, den Kant in seiner Revolution der Denkungsart bekanntlich vorschlägt, besteht – knapp formuliert – darin, den Primat des Denkens vor dem Sein zu postulieren und über den Weg der transzendentalen Deduktion das Verhältnis der Begriffe apriori zu den Ge-

39 Ebd. (Übersetzung korrigiert/M.R.) 40 Vgl. zum Folgenden ausführlicher: Andrea Hemminger (2004): Kritik und Geschichte. Foucault – ein Erbe Kants?, Berlin/Wien, besonders S. 83ff. 41 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1781/87). In: Werkausgabe, Bd. III, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1974, A XII (S. 13).

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genständen in der Form zu klären, dass es durch die Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung möglich wird, dass subjektive Bedingungen der Erkenntnis objektive Gültigkeit erlangen können. Entscheidend ist dabei die Rolle des Subjektes, dem die Aufgabe der Synthesis zukommt, indem es die Mannigfaltigkeit der sinnlichen Anschauungen, durch die es affiziert wird, und die zur Verfügung stehenden Kategorien, also der Verstandesbegriffe, durch das Vorstellungsvermögen zu einer Einheit verbindet. Diese Leistung einer synthetischen Einheit der Apperzeption kommt dem reinen „Ich denke“ des Subjektes zu.42 Für die Beantwortung von Kants erster seiner vier berühmten Fragen „Was kann ich wissen?“ hat dies folgende Konsequenzen: Anders als in der Klassik gibt es nun keine Erkenntnis des Unbedingten mehr. Erkenntnis bezieht sich immer nur auf empirische Gegenstände. Die Voraussetzung hierfür ist die Autonomie eines reinen ‚Ich denke‘, das nur formal gefasst ist und in diesem Sinne nicht selbst Gegenstand der Erkenntnis sein kann. Da dieses formale, transzendentale Subjekt aber auf sinnliche Affektion durch die empirische Außenwelt angewiesen ist, ist damit zugleich seine Endlichkeit angezeigt. Entscheidend für Foucault ist an dieser Konstruktion des Subjektbegriffs, dass Kant strikt die Ebene des Empirischen von der des Transzendentalen trennt.43 Und genau in die-

42 Vgl. hierzu insbesondere §16 der Kritik der reinen Vernunft; ebd., B 131ff (S. 136f), wo Kant u.a. in der Fußnote (B 134) bemerkt: „Und so ist die synthetische Einheit der Apperzeption der höchste Punkt, an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik, und nach ihr, die Transzendental-Philosophie heften muß, ja dieses Vermögen ist der Verstand.“ 43 Auf dieser grundlegenden Differenz hatte Foucault bereits seine Argumentation in der von ihm 1961 als ‚Thèse complémentaire‘ vorgelegten Einführung in Kants „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ aufgebaut, in der er zu zeigen versuchte, dass die Anthropologie unter systematischen Gesichtspunkten lediglich als ein Werk des Übergangs zwischen der „Kritik der reinen Vernunft“ und der Transzendentalphilosophie als künftiger wissenschaftlicher Metaphysik zu bewerten sei. Der Anthropologie kommt, Foucault zufolge, kein eigenständiger theoretischer Status zu. Sie wiederholt lediglich die transzendentalen Fragen auf dem Gebiet der empirischen Welt, ohne auf deren Begründungsformen zurückgreifen zu können: „L’Anthropologie répète la Critique de la Raison pure à un niveau empirique où se trouve déjà répétée la Critique de la raison pratique: le domaine du nécessaire est tout aussi bien le domaine de l’impératif. [...] En d’autres termes, la répétition anthropologico-critique ne repose ni sur elle-même, ni sur la Critique: mais bien sur une réflexion fondamentale, par rapport à la quelle l’Anthropologie qui n’a ni la consistance du répété, ni la profondeur de ce qui fonde la répétition – qui n’est donc que le moment transitoire mais nécessaire

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ser Hinsicht steht Kant für Foucault an der Schwelle zur Moderne. Denn nach ihm wird die Philosophie die Barriere zwischen dem Transzendentalen und dem Empirischen wieder einreißen.44 Insofern hat Kants Infragestellung der Repräsentation durch die Eingrenzung des Wissens die Welt zwar aus dem dogmatischen Schlummer erweckt, aber – zumindest in der Lesart Foucaults – zugleich die Voraussetzung dafür geschaffen, dass das moderne Denken in einen neuen, den „anthropologischen Schlummer“ fiel.45 Doch Kant ist für Foucault lediglich der Wegbereiter der Moderne auf der Subjektseite der Repräsentation. Dessen herausragende Stellung markiert für den Archäologen, der ja keine traditionelle Ideengeschichte betreiben will, lediglich einen Kipppunkt während des Umbruchs der klassischen Wissensordnung. Nahezu gleichzeitig mit Kants philosophischer Bearbeitung der Probleme der klassischen Erfahrung entstehen am Ende des 18. Jahrhunderts mit den Humanwissenschaften auf der Objektseite begriffliche Synthesen, die auf eine Dimension des Seins jenseits der Repräsentationen referieren. Foucault expliziert dies anhand der Auflösung der klassischen Diskurse der Analyse der Reichtümer, der Naturgeschichte und der allgemeinen Grammatik mit dem Auftreten der Abstraktionen ‚Arbeit‘, ‚Leben‘ und ‚Sprache‘ und der damit verbundenen Etablierung von Ökonomie, Biologie und Sprachwissenschaft als moderne Wissen-

de la répétition – ne peut manquer de se liquider, et de disparaître, paradoxalement, comme l’essentiel.“ Vgl. Michel Foucault (2008): Introduction à l’Anthropologie. In: Emmanuel Kant, Anthropologie du point de vue pragmatique, Paris, S. 11-79; hier zitiert: S. 65f (Hervorhebungen i.O.). Der untergeordnete systematische Status, den Foucault der Anthropologie bei Kant zuweist, ist freilich innerhalb der KantForschung alles andere als unstrittig. Der genau entgegengesetzten Ansicht ist zum Beispiel Fahrenbach, der darauf hinweist, dass Kant die berühmten vier Grundfragen der Philosophie, die er in der Einleitung zur Logik formuliert, in den Kontext ihrer weltbürgerlichen Bedeutung einordnet. Demzufolge steht die letzte Frage ‚Was ist der Mensch?‘, zumindest vor dem Hintergrund des Weltbegriffs der Philosophie geradezu im Zentrum des kantischen Unternehmens, auf die sich die drei vorigen Fragen notwendig beziehen. Vgl. Helmut Fahrenbach (1975): Zur Problemlage der Philosophie. Eine systematische Orientierung, Frankfurt/M., S. 66ff; vgl. hierzu auch ders. (1992): ‚Philosophie in weltbürgerlicher Bedeutung‘. Kants höchste Sinnbestimmung der Philosophie nach ihrem ‚Weltbegriff‘. In: Heiner Bielefeldt/Winfried Brugger/Klaus Dicke (Hg.), Würde und Recht des Menschen. Festschrift für Johannes Schwartländer zum 70. Geburtstag, Würzburg, S. 35-64. 44 Vgl. hierzu Foucault (2008), a.a.O., S. 67f. 45 Vgl. Foucault (1966), a.a.O., S. 411.

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schaftsdisziplinen. Diese „Quasi-Transzendentalia“46 auf der Objektseite, wie Foucault diese Abstraktionen nennt, verweisen ebenfalls auf das neue historische Apriori, den Menschen.

Das anthropologische Viereck Aus der Perspektive der von Foucault vorgetragenen dezidierten Subjektkritik erhält die Beschreibung der modernen Episteme nun ein besonderes Gewicht. Durch die Kontrastierung mit den vorhergehenden Wissensordnungen war es möglich geworden, aus der Beobachterperspektive zu zeigen, dass das moderne Subjekt ein historisches Produkt ist. Damit ist allerdings noch nicht notwendig dessen Legitimität infrage gestellt. Unter der hypothetischen Annahme eines evolutionären Erkenntnisfortschritts in der Geschichte wäre die Existenz des Subjektes u.U. durchaus zu rechtfertigen. Doch abgesehen davon, dass Foucault, wie bereits gesehen, jegliche Form von Entwicklungslogik zurückweist und diese ebenso als Bestandteil der Moderne versteht, geht das archäologische Verfahren in der Analyse der modernen Episteme noch einen Schritt weiter. Foucault will zeigen, dass die Idee des menschlichen Subjektes nicht nur eine historisch relative Erscheinung ist, sondern den modernen Humanwissenschaften zudem nur ein äußerst brüchiges erkenntnistheoretisches Fundament liefert. Sein Ziel ist damit, die Legitimität ihrer universellen Wahrheitsansprüche zu untergraben. Die historische Argumentation wird also durch einen strukturellen Zugriff ergänzt. Für die Debatte um den Status des Subjektes ist diese Argumentationsebene von entscheidender Bedeutung. Denn Foucault betritt nun den Zeitraum, innerhalb dessen er selbst spricht. Er muss nun zeigen, dass der ethnologische Blick auf die eigene Kultur tatsächlich in der Lage ist, die Ordnung des zeitgenössischen Denkens als ein Ensemble von Aussagemengen darzustellen, das sich aus einer virtuellen Distanz in seiner inneren Inkonsistenz beschreiben lässt. Foucault versucht dies in dem berühmten 9. Kapitel von „Les mots et les choses“, das mit dem Titel „Der Mensch und seine Doppel“ überschrieben ist. Dort entwirft er das ‚anthropologische Viereck‘ als das erkenntnistheoretische Fundament des modernen Denkens. Die kantische Transzendentalphilosophie an der Bruchstelle zwischen Klassik und Moderne und die Entstehung der Humanwissenschaften mit den Abstraktionen der Arbeit, des Lebens und der Sprache bilden für den archäologischen Betrachter, wie gesagt, den epistemologischen Rahmen, innerhalb dessen sich das moderne Denken entfalten kann. Mit ihnen

46 Vgl. ebd., S. 307.

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entsteht eine neue Problematik: die Endlichkeit des Menschen. Indem das Denken, das sich vom Diskurs der Repräsentation abgelöst hat, beginnt, um die Existenz des Menschen zu kreisen, stößt es notwendig an dessen Grenzen und verweist damit immer auf ein Anderes. Die Figur des Menschen oszilliert zwischen der Funktion als Erkenntnisgrund und Erkenntnisobjekt. Dies ist der Kern des ‚anthropologischen Vierecks‘, das Foucault zwischen der Verbindung der Positivitäten mit der fundamentalen Endlichkeit (1), der Reduplizierung des Empirischen im Transzendentalen (2), der ständigen Beziehung des Cogito zum Ungedachten (3) sowie des Rückzugs und der Wiederkehr des Ursprungs (4) aufspannt.47 Foucault gelingt es mit diesem Begriffsraster zu zeigen, dass wesentliche Schwierigkeiten der modernen Subjektphilosophie und damit das aus seiner Sicht problematische Selbstverständnis der Humanwissenschaften zwischen den einzelnen Punkten dieses Vierecks korrelieren. (1) Mit dem Auftauchen der ‚Quasi-Transzendentalia‘ der Arbeit, des Lebens und der Sprache entsteht ein Raum hinter den Repräsentationen. Die Repräsentation steht nun allerdings nur noch für das Erscheinen einer Ordnung, deren inneres Gesetz in der Tiefe der Dinge zu suchen ist. Diese verweisen, laut Foucault, aber zugleich auf den Menschen: „In der Repräsentation offenbaren die Wesen nicht mehr ihre Identität, sondern die äußerliche Beziehung, die sie zum menschlichen Wesen herstellen.“48 Was erkenntnistheoretisch zunächst auf Kant gemünzt scheint – es ist der menschliche Verstand, nach dem sich die Naturgesetze in der Welt der Erscheinungen richten –, geht im Rahmen des anthropologischen Vierecks bereits über Kant hinaus. Begriffe wie Arbeit, Leben und Sprache fordern nicht nur ein formales, transzendentales Subjekt der Erkenntnis, sondern den realen endlichen Menschen. Wenn die Biologie mit dem Begriff des Lebens die Bedingungen der Möglichkeit des Lebendigen, die Ökonomie mit dem Begriff der Arbeit die Bedingungen der Möglichkeit des Warentausches, des Profits und der Produktion zu erlangen sucht, wenn die Sprachwissenschaft in den Ursprüngen der Sprache nach den Voraussetzungen des Diskurses und der Grammatik fahndet, dann operieren sie mit Begriffen, die zwar überzeitliche Synthesen auf der Objektseite der Erkenntnis vollziehen, diese verweisen aber jeweils auf das konkrete Sein des Menschen als lebendes, arbeitendes und sprechendes Wesen.49

47 Vgl. ebd., S. 404. 48 Ebd., S. 378. 49 Vgl. ebd.

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„All diese Inhalte“, so Foucault, „die sein Wissen ihm als ihm äußerlich und älter als seine Entstehung enthüllt, antizipieren ihn, überpfropfen ihn mit ihrer ganzen Festigkeit und durchdringen ihn, als wäre er nichts weiter als ein Naturgegenstand oder ein Gesicht, das in der Geschichte verlöschen muß. Die Endlichkeit des Menschen kündigt sich, und zwar auf gebieterische Weise, in der Positivität des Wissens an.“50

Das Besondere an dieser neuen Figur des endlichen Menschen ist dessen erkenntnistheoretische Ambivalenz, die Foucault als die „Wiederholung des Positiven im Fundamentalen“51 bezeichnet. Anders als im Zeitalter der Klassik, als der endliche Mensch nur eine Position auf dem unendlichen Tableau markierte, auf dem das Wissen repräsentiert werden konnte, ist der Mensch in seiner endlichen Existenz nun sowohl empirischer Gegenstand wie Ausgangspunkt eines damit prinzipiell ebenso endlichen Wissens. Es entsteht somit eine Endlichkeit, die keine Unendlichkeit mehr kennt, eine Endlichkeit, die zwar über sich hinaus will, doch zugleich ihre Grenzen aus sich selbst heraus bestimmt. Sie verweist somit immer auf sich selbst zurück, sie ist eine „[…] Endlichkeit ohne Unendlichkeit […] eine Endlichkeit, die nie beendet ist und die stets im Verhältnis zu sich selbst eingerückt ist und der noch etwas zu denken sogar in dem Augenblick verbleibt, in dem sie denkt […]“.52 Die moderne Episteme steht damit auf einem schwankenden erkenntnistheoretischen Boden. Als lebendes, arbeitendes und sprechendes Wesen ist der Mensch in seiner Endlichkeit sowohl Objekt der Erkenntnis, als auch in dieser Endlichkeit Voraussetzung für die Erkenntnis der Formen dieser Erkenntnis. Die postkantianische Philosophie ist für Foucault somit im Kern eine Analytik der Endlichkeit. Sie kreist erkenntnistheoretisch um den konkreten endlichen Menschen (als begrenztes inhaltliches Objekt), um in ihm die formalen Bedingungen ausmachen zu können, mit deren Hilfe er sich als Subjekt der Erkenntnis begründen lässt. Damit wird auf formaler Basis ein Geltungsanspruch formuliert, der Allgemeinheit und in diesem Sinne prinzipiell Unendlichkeit für sich reklamiert. Die Grundlage aller empirischen Positivitäten soll so in einer fundamentalen Endlichkeit gesucht werden. (2) Für die moderne Figur des Menschen bedeutet dies, dass ihm zumindest erkenntnistheoretisch eine merkwürdig schwankende Rolle zukommt, die Foucault an der Schwelle der Modernität ausmacht und die er mit der Metapher der empirisch-transzendentalen Dublette umschreibt: „Der Mensch ist in der Analytik der

50 Ebd., S. 379. 51 Vgl. ebd., S. 381. 52 Vgl. ebd., S. 446.

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Endlichkeit eine seltsame, empirisch-transzendentale Dublette, weil er ein solches Wesen ist, in dem man Kenntnis von dem nimmt, was jede Erkenntnis möglich macht.“53 Vor dem Hintergrund der modernen Humanwissenschaften, die den Menschen zum Objekt machen, lassen sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts archäologisch zwei Analysestrategien ausmachen, die dieses Problem zu lösen versuchen. Die eine begriff den Menschen als physiologisches Naturwesen und versuchte die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis dadurch zu beantworten, dass sie von einer Natur der menschlichen Erkenntnis ausging, „[…] die deren Formen bestimmte und gleichzeitig ihr in ihren eigenen empirischen Inhalten offenbart werden konnte“.54 Die andere Analysestrategie bestand in der Annahme des Menschen als geschichtliches Individuum. Sie unterstellte, dass die menschliche Erkenntnis eine Geschichte hat, die von äußeren historischen und gesellschaftlichen Faktoren beeinflusst ist und über den Umweg von Illusionen, Täuschungen und Entfremdung führt, „[…] kurz, daß es eine Geschichte der menschlichen Erkenntnis gab, die gleichzeitig dem empirischen Wissen gegeben werden und ihm seine Form vorschreiben konnte“.55 Es fällt ins Auge, dass beiden Analyseformen eines gemeinsam ist: Sie verstoßen gegen die strikte kantische Trennung von Empirischem und Transzendentalem und versuchen über die Inhalte der Empirie zu den formalen Strukturen einer transzendentalen Dimension vorzustoßen. Doch wie soll ein Subjekt Natur und Geschichte erkennen, wenn diese doch zugleich die Voraussetzung dafür sind? Die Archäologie kann zwei miteinander korrelierende Wahrheitsdiskurse innerhalb der modernen Episteme ausmachen. Entweder findet der Diskurs seine Begründung in einer empirischen Wahrheit, die darin besteht, dass er deren Genese in der Natur und in der Geschichte nachzeichnet. Foucault nennt dies den positivistischen Typ der Wahrheit, weil die Wahrheit des Objekts dem Diskurs die Wahrheit vorschreibt. Oder der philosophische Diskurs definiert Natur und Geschichte der Wahrheit, indem er sie antizipiert. Dies charakterisiert, laut Foucault, den eschatologischen Typ der Wahrheit, weil die Wahrheit des Diskurses die Wahrheit im Zuge ihrer Genese konstituiert.56 Es handelt sich dabei allerdings nicht um zwei wirkliche Alternativen, sondern um ein „[…] Oszillieren, das jeder Analyse inhärent ist, die das Empirische auf der Ebene des Transzendentalen zur Geltung bringt“.57 Beide Formen bewegen sich in der Tat innerhalb

53 Ebd., S. 384. 54 Vgl. ebd., S. 385. 55 Vgl. ebd. (Hervorhebung i.O.). 56 Vgl. ebd., S. 386. 57 Vgl. ebd.

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desselben erkenntnistheoretischen Rahmens und verweisen so aufeinander. Der Positivismus muss, um die Wahrheit aus dem Gegenstand begründen zu können, das Problem der Vermittlung von Subjekt und Objekt unterschlagen und ruft insofern die Geschichtsphilosophie auf den Plan. Derweil bleibt für die Geschichtsphilosophie Wahrheit nur noch in der Form subjektiver Bewusstseinslogik bestehen, eine Rückversicherung in der Empirie unterbleibt. Sie überlässt in dieser Hinsicht das Feld dem Positivismus. Foucault bescheinigt deshalb beiden Diskursen „präkritische Naivität“, erscheint doch der Mensch als SubjektObjekt, um den sich die moderne Episteme schließlich dreht, als eine „[…] gleichzeitig reduzierte und verheißene Wahrheit“.58 Um aus den beschriebenen Schwierigkeiten herauszukommen, entsteht allerdings noch ein dritter Diskurs. Dieser wird für das hier verfolgte Unternehmen noch von besonderem Interesse sein, da er, wenn auch nicht ausdrücklich erwähnt, so doch indirekt, das Projekt Sartres im Auge hat. Foucault kennzeichnet damit den Diskurs der Phänomenologie in der Analyse des Erlebten. Dieser hat, archäologisch betrachtet, im Grunde den Status eines Zwitters, da er versucht, zwischen den Problemen des Positivismus und der Geschichtsphilosophie hindurchzusegeln. Foucault nimmt ihn deshalb nicht wirklich ernst. Die Analyse des Erlebten ist demnach der Versuch, eine Theorie des Subjektes zu begründen, in der die Erfahrung sowohl des Körpers als auch der Kultur verankert werden soll. Es soll also sowohl die physische wie die historische Dimension berücksichtigt werden. Intendiert ist damit, die Basis für eine Synthese zwischen empirischen Inhalten und den Formen der Erfahrung zu legen. Sie stellt für Foucault das Bemühen dar, die Trennung zwischen Empirischem und Transzendentalem einerseits aufrechtzuerhalten und dennoch beide Ebenen in einer Denkbewegung zu erfassen, denn das Erlebte ist „[…] gleichzeitig der Raum, in dem alle empirischen Inhalte der Erfahrung gegeben werden; es ist auch die ursprüngliche Form, die jene Inhalte im allgemeinen möglich macht und ihre erste Verwurzelung bezeichnet“.59 Doch auch der Analyse des Erlebten gelingt es, laut Foucault, nicht, den Fallstricken der Figur des Menschen als „empirisch-transzendentale[r] Dublette“ zu entkommen. „Immer noch bleibt“, so konstatiert Foucault, „daß die Analyse des Erlebten ein Diskurs gemischter Natur ist; sie wendet sich an eine spezifische, aber doppeldeutige, ausreichend konkrete Schicht, damit man eine sorgfältige und deskriptive Sprache auf sie anwenden kann, jedoch auch ausreichend gegenüber der

58 Vgl. ebd., S. 387. 59 Vgl. ebd.

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Positivität der Dinge zurückgezogene Schicht, so daß man ausgehend davon jener Naivität entgehen, sie in Frage stellen und nach ihren Grundlagen fragen kann.“60

Insofern entgeht auch das Erlebnis nicht der empirisch-transzendentalen Reduplizierung, denn es bleibt ein Phänomen der empirischen Welt und ist deshalb prinzipiell nicht in der Lage, die Funktion einer transzendentalen Begründung der Erkenntnis zu übernehmen. Wie alle Versuche moderner Subjektphilosophie, den Kant unterstellten Formalismus zu überwinden, führt auch die Analyse des Erlebten, laut Foucault, zu einer Verschiebung des Transzendentalen hin zum Empirischen und damit in den anthropologischen Schlummer. Dem kann demzufolge auch Sartre nicht entgehen, weder sein früher Versuch einer phänomenologischen Ontologie noch seine späteren Ansätze einer Praxisphilosophie. Für Foucault besteht der einzige Ausweg aus den Fängen des anthropologischen Postulats jener empirisch-transzendentalen Dublette in der radikalen Frage, „[…] ob der Mensch wirklich existiert“.61 (3) Weil sich die Figur des modernen Menschen im Zirkel der empirischtranszendentalen Reduplizierung verfangen muss, wird sie, so Foucault, zu einer paradoxen Gestalt. Denn wenn die empirischen Inhalte der Erkenntnis die formalen Bedingungen derselben liefern sollen, ist die Existenz eines souveränen, sich selbst transparenten ‚Ich denke‘ nicht mehr möglich. Für das Cogito gibt es somit immer etwas, was ihm entgeht, nicht zuletzt, weil es ihm zugleich vorausgeht. Als lebendes, arbeitendes und sprechendes Wesen agiert der Mensch immer vor einem Hintergrund, der ihm vorgegeben ist: seinem Körper, der konkreten Gestalt gesellschaftlicher Arbeit, den Regeln einer historisch gewachsenen Sprache. All diese Voraussetzungen von Reflexion und Erkenntnis sind für ihn in seiner Endlichkeit prinzipiell uneinholbar. Das moderne Cogito ist somit immer zugleich mit seinem Ungedachten verschwistert. „Weil er empirischtranszendentale Dublette ist, ist der Mensch auch der Ort des Verkennens, jenes Verkennens, das sein Denken stets dem aussetzt, daß es durch sein eigenes Sein überbordet wird, und das ihm gleichzeitig gestattet, sich von dem ihm Entgehenden aus zu erinnern“, so Foucault.62 Somit kreist das moderne Denken fortwährend um sein eigenes Sein. Es ist die unendliche Reflexionsbewegung einer Distanzierung des ‚Ich denke‘ von sich selbst, um sich über diesen Weg in seiner Gegenständlichkeit innerhalb der Welt als Nicht-Gedachtes zu erfassen und die

60 Ebd., S. 388. 61 Vgl. ebd. 62 Ebd., S. 389.

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eigenen Erkenntnisprämissen zu bestimmen, die ihm dabei aber notwendig entgleiten. Foucault beschreibt mit dieser Figur das klassische Dilemma der Selbstreflexion in der modernen Bewusstseinsphilosophie. Möglich wird dieser archäologische Blick durch die doppelte Kontrastierung des anthropologischen Denkens zu Descartes klassischem Cogito einerseits und, wie bereits gezeigt, Kants Transzendentalphilosophie andererseits. Die Verschiebung der kantischen Fragestellung besteht im modernen Denken in der Verlagerung des transzendentalen Subjekts auf die Ebene des empirischen Menschen, womit, so Foucault, die Wahrheitsbedingungen auf der Seite des Seins auftauchen, der privilegierte Erkenntnisgegenstand nicht mehr die Natur, sondern der Mensch wird, die Frage nach der Möglichkeit von Erkenntnis sich damit in die eines ursprünglichen Verkennens transformiert und die Philosophie nicht mehr nach ihrer Begründung gegenüber der Wissenschaft fragt, sondern sich auf ein großes Feld nicht begründeter Erfahrungen ausdehnt. 63 Damit einher geht nun die neue Funktionsbestimmung des cartesianischen Cogito. In die empirisch-transzendentale Fragestellung hineingezogen und bar der Rückversicherung einer Transparenz von Sein und Repräsentation, kann es die Evidenz seiner Existenz nicht mehr aus dem reinen ‚Ich denke‘ erlangen. Es ist gezwungen, sein Sein über den Umweg der Selbstdistanzierung und Einordnung seiner selbst in eine Welt, die, da noch nicht gedacht, erst noch durchlaufen werden muss, zu ergründen. „Im modernen Cogito“, so Foucault, „handelt es sich dagegen darum, in ihrer größtmöglichen Dimension die Distanz gelten zu lassen, die das sich selbst gegenwärtige Denken zugleich von dem trennt und mit dem verbindet, was vom Denken sich im Nichtgedachten verwurzelt. […] Es führt nicht alles Sein der Dinge auf das Denken zurück, ohne das Sein des Denkens bis in die untätigen Bahnen dessen zu verzweigen, was nicht denkt.“64

Das moderne Denken ist Foucault zufolge eine Reflexionsform, die sich jenseits der Fragestellungen von Descartes und Kant angesiedelt hat. Das hat zwei Konsequenzen: Die eine zeigt sich speziell an der Phänomenologie. Die Analyse des Erlebten ist nicht nur – wie bereits erwähnt – gezwungen, Empirisches und Transzendentales zu vermengen, sondern sie kann das Cogito auch nur unter der Voraussetzung einer „Ontologie des Ungedachten“ denken, mit dem sie aber zugleich „[…] den Primat des ‚Ich denke‘ außer Kurs setzt“.65 Die zweite Kon-

63 Vgl. ebd., S. 390. 64 Ebd., S. 391. 65 Vgl. ebd., S. 393.

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sequenz betrifft offenbar sämtliche Formen moderner Subjektphilosophie. Für diese ist es unerlässlich, die moderne Herrschaft des ‚Ich denke‘ vor einem Hintergrund zu installieren, den sie niemals komplett auf den Begriff bringen kann, weil er ihr notwendig in der Form des Ungedachten entgeht. Das moderne Denken war deshalb bislang gezwungen, Figuren des Ungedachten zu etablieren, die als Schatten eines Anderen, „[…] als stumme und ununterbrochene Begleitung seit dem neunzehnten Jahrhundert […]“66 in sämtlichen Theorieformen mitlaufen. Foucault zielt damit auf das Denken von Hegel über Marx bis ins 20. Jahrhundert: „Das ganze moderne Denken ist von dem Gesetz durchdrungen, das Ungedachte zu denken, in der Form des Für sich die Inhalte des An sich zu reflektieren, den Menschen aus der Entfremdung zu befreien (désaliéner), indem man ihn mit seinem eigenen Wesen versöhnt, den Horizont zu klären, der den Erfahrungen ihren Hintergrund der unmittelbaren und entwaffneten Evidenz gibt, den Schleier des Unbewußten zu lüften, sich in seinem Schweigen zu absorbieren oder das Ohr auf sein unbegrenztes Gemurmel zu richten.“67

Der polemische Unterton erinnert an Formulierungen in der Auseinandersetzung mit Sartre. Und es ist in der Tat anzunehmen, dass zahlreiche Passagen über das Cogito und das Ungedachte direkt gegen Sartre geschrieben wurden.68 Foucault kommt an dieser Stelle auch erneut auf den Humanismus zu sprechen. Dessen moralisch und politischer Imperativ ergebe sich aus dem Oszillieren des modernen Denkens zwischen dem ‚Ich denke‘ und seinem Anderen, was jenes einerseits dazu zwingt, das ungedachte Andere zu denken, dies ihm aber andererseits nur um den Preis gelingt, es sich anzugleichen. Foucault konstatiert, dass das moderne Denken als ein identifizierendes unter dem Zwang steht, das Andere zu modifizieren, und damit eine außergewöhnliche Gestalt annimmt. „Das Wesentliche ist, daß das Denken für sich und in der Mächtigkeit seiner Arbeit gleichzeitig Wissen und Modifizierung dessen, was es weiß, und Reflexion und Transformation der Seinsweise dessen, worüber es reflektiert, ist. Es läßt sofort das in Bewegung geraten, was es berührt […]“, so Foucault.69 Das moderne Denken ist deshalb aufgrund seiner konstitutiv oszillierenden Struktur des Cogito und des Ungedachten nicht in der Lage, ein Erkenntnisobjekt als unabhängigen Gegen-

66 Vgl. ebd., S. 394. 67 Ebd., (Hervorhebungen i.O.). 68 Darauf hat auch Andrea Roedig aufmerksam gemacht, vgl. Roedig (1997), a.a.O., S. 167ff. 69 Vgl. Foucault (1966), a.a.O., S. 395.

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stand zu denken. Es ist im strengen Sinne keine Theorie, sondern mehr ein Tun, Praxis, „ein gefährlicher Akt“,70 wie Foucault urteilt. Aus diesem Grunde könne das moderne Denken auch keine Moral formulieren, denn es unterliegt selbst einer Handlungsanweisung: dem Imperativ, das Ungedachte zu erfassen.71 (4) Der uneinholbare Hintergrund des Menschen, wie er sich einer Analytik der Endlichkeit aufzwingt und in erkenntnistheoretischer Hinsicht auf der Ebene des Cogito notwendig sein Anderes – das Ungedachte – verlangt, hat auch Konsequenzen in der zeitlichen Dimension. Umgeben von einer kontingenten Welt, die immer schon da war, ist der Mensch auf die komplexen Vermittlungen angewiesen, die im Leben, der Arbeit und der Sprache eine eigenständige Geschichtlichkeit anzeigen. Die Einsicht in diese Historizität der Dinge provoziert aber notwendig die Frage nach dem Ursprung, nach einem Grund, der jedoch immer jenseits der zeitgenössischen Erfahrung liegen muss. „In der Tat entdeckt sich der Mensch nur als mit einer bereits geschaffenen Geschichtlichkeit verbunden: er ist niemals Zeitgenosse jenes Ursprungs, der durch die Zeit der Dinge hindurch sich abzeichnet und sich verheimlicht“, so Foucault.72 Der Ursprung ist damit nur vor dem Hintergrund eines bereits Begonnenen denkbar und dieses liegt jenseits des Menschen in den multiplen Zeitfolgen der Dinge, auf die sich der Mensch bezieht. Für ihn bedeutet dies, dass er seinen eigenen Ursprung nicht in sich selbst, in einer ursprünglichen Identität suchen kann, sondern dass dieser von Anfang an nach etwas anderem gegliedert sein muss. Das Ursprüngliche des Menschen, so Foucault, „[…] ist das, was in seiner Erfahrung Inhalte und Form einführt, die älter als er sind und die er nicht beherrscht“.73 Unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten hat dies einerseits zur Folge, dass der Ursprung stets zurückweicht, weil er, wie Foucault schreibt, „[…] auf einen anderen Kalender zurückgeht, in dem der Mensch noch nicht vorkommt […]“,74 andererseits bedeutet dies, dass der Mensch im Gegensatz zu den Dingen

70 Vgl. ebd, S. 396. 71 Der Verweis auf die angebliche Unmöglichkeit einer modernen Moralphilosophie dürfte ebenso wie die Darstellung des Denkens als Handlung auf Sartres Philosophie des Engagements gemünzt sein. Einen verdeckten Seitenhieb kann sich Foucault im Übrigen auch hier nicht verkneifen, wenn er schreibt: „Lassen wir diejenigen reden, die das Denken auffordern, aus seiner Zurückgezogenheit herauszutreten und seine Wahl zu treffen“ (ebd., S. 395; Übersetzung modifiziert). 72 Ebd., S. 398. 73 Vgl. ebd., S. 399. 74 Vgl. ebd., S. 400.

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als „Wesen ohne Ursprung“ erscheint. Er ist derjenige, der „[…] keine Heimat und kein Datum hat […]“, dessen Entstehen unzugänglich ist, weil es nie stattgefunden hat.75 Im Denken des anthropologischen Zeitalters ist der Mensch also ohne Ursprung immer bereits da. Er wird somit zur einzigen Instanz, in der die innerhalb der Zeitlichkeit entstehenden und vergehenden Dinge ihren Ursprung finden können. Da der Ursprung der empirischen Abfolge der Dinge dem Denken notwendig entgeht, weil er sich stetig zurückzieht, muss er aus der Gegenwart heraus rekonstruktiv entworfen werden. Die Aufgabe des Denkens ist daher, den Ursprung infrage zu stellen, um ihn selbst zu begründen. Damit kehrt sich das Verhältnis von Chronologie und Begründung um. Der Ursprung wird zu demjenigen Ereignis, das sich in der Form einer Wiederkehr in der Zukunft ankündigt. Das Zurückweichen des Ursprungs taucht somit im Zurückweichen der Zukunft wieder auf. Es ist diese Denkfigur, die Foucault glaubt, in jeglicher Konzeption geschichtsphilosophisch begründeter Totalität beschreiben zu können, ein Denken, das beabsichtigt, das jenseits der Endlichkeit ausgemachte Andere des Ursprungs für die menschliche Erfahrung in ein Gleiches zu verwandeln, um so die Identität des Menschen wiederzufinden. Es ist im Grunde die Hoffnung auf eine Positivität, durch die sich die moderne Erfahrung begründen lässt, ein weiteres Oszillieren zwischen dem Positiven und dem Fundamentalen, diesmal in der Dimension der Zeitlichkeit. Insofern schließt sich hier für Foucault das ‚anthropologische Viereck‘: „Weil der Mensch nicht zeitgenössisch mit seinem Sein ist, geben die Dinge sich ihm mit einer ihnen eigenen Zeit. Und man findet hier das anfängliche Thema der Endlichkeit wieder.“ 76 Das ‚anthropologische Viereck‘ definiert, laut Foucault, die Seinsweise des Menschen. Auf ihm basieren aus archäologischer Sicht alle Versuche, das moderne Wissen und damit auch das Verständnis der Humanwissenschaften philosophisch zu begründen. Alle vier Eckpunkte dieser epistemologischen Figur stabilisieren und stützen sich gegenseitig, indem jedes Doppel auf ein anderes verweist. Die Positivität der Dinge, deren Erkenntnis sich nur auf der Basis einer fundamentalen Endlichkeit begründen lässt, verlangt nach der Figur des Menschen in seiner empirisch-transzendentalen Reduplizierung, ein Dilemma, das die unendliche Reflexion des Cogito auf sein Ungedachtes hin auf den Plan ruft, was schließlich in der Dimension der Zeitlichkeit über die Problematik des Ursprungs und dessen stetigen Rückzugs bei gleichzeitiger Wiederkehr erneut bei der fundamentalen Endlichkeit landet. Es ist das Oszillieren dieser Doppel, das

75 Vgl. ebd. 76 Ebd., S. 404.

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das moderne Denken ausmacht und es in unauflösliche Aporien stürzt, indem es seine eigene Grundstruktur durch das unablässige Streben, die Doppel einander anzugleichen, zu überwinden sucht: in der Begründung der Allgemeinheit der Positivitäten in einer Endlichkeit, der Vermischung des Transzendentalen mit dem Empirischen, in der Identifizierung des ungedachten Anderen, in der Projektion eines vorzeitlichen Ursprungs in die Zukunft. Das moderne Denken ist für Foucault ein „Denken des Gleichen“ 77, ein Denken, das im Anderen das Gleiche zu enthüllen sucht und dabei notwendig auf seine Doppel stößt, an denen der strukturell angelegte, fundamentale Unterschied erneut aufbricht.

Die Grenzen der Archäologie Das archäologische Verfahren hat somit den Raum abgeschritten, in dem die erkenntnistheoretischen Grundlagen der modernen Erfahrung versammelt sind. Foucault kann zeigen, dass innerhalb des anthropologischen Vierecks mit seiner Struktur der Doppel und über die Figur eines Denkens des Gleichen die wesentlichen Fragen moderner Subjektphilosophie versammelt sind.78 Und es sind – und das ist für die hier verfolgte Fragestellung wichtig – damit zudem die wesentlichen Themen aufgelistet, die in der Auseinandersetzung mit Sartre zum Tragen kommen. Entlang der Achse des Empirisch-Transzendentalen und des Cogito/Ungedachten entfaltet sich das Reflexionsproblem eines bewusstseinsphilosophisch begründeten Subjekts, von dem insbesondere die Subjektkonzeption des frühen Sartre, etwa in „L’être et le néant“ geprägt ist. Das identifizierende Denken des Cogito verschiebt das Selbstverständnis der Theorie, laut Foucault, hin zu einer den Gegenstand manipulierenden Handlung. Dies zielt vor allem auf die erkenntnistheoretischen wie normativen Schwierigkeiten einer Praxisphilosophie, wie sie etwa von Sartre in der „Critique de la raison dialectique“ entworfen wurde, steckt aber im Grunde bereits in Sartres frühem Engagementbegriff. Und entlang der Linie der fundamentalen Endlichkeit und dem Zurückweichen und der Wiederkehr des Ursprungs zeigt sich die Begründungsproblematik moderner Geschichtsphilosophien, wie sie ebenfalls im sartreschen Spätwerk zu finden sind. Es ließe sich im Übrigen auch zeigen, dass die Figur der Doppel an allen vier Punkten des anthropologischen Vierecks in einem Denken des Gleichen an die Utopie einer Versöhnung appelliert, sei es über die Theoreme der Entfremdung und der Befreiung im Zuge einer geschichtsphilosophi-

77 Vgl. ebd., S. 409 (Hervorhebung i.O.). 78 Vgl. hierzu auch Habermas (1985), a.a.O., S. 307ff.

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schen Überwindung der Kluft zwischen Empirischem und Transzendentalem bzw. der Wiederkehr des Ursprungs in der Zukunft, sei es in der Hoffnung auf eine mimetisch oder dialektisch konzipierte Annäherung von An-sich und Fürsich, wie sie implizit durch die Problematik des Cogito und des Ungedachten bzw. der Positivitäten im Verhältnis zu einer fundamentalen Endlichkeit gedacht werden.79 Auch diese thematischen Felder tangieren zum Teil die sartresche Fragestellung. Der springende Punkt am anthropologischen Viereck ist aber ein anderer. Die darin auftauchenden Doppel zeichnen sich nicht nur dadurch aus, dass alle als konstitutive Elemente des Vierecks aufeinander verweisen und in der Figur eines Denkens des Gleichen beschreibbar sind, sie zeigen zugleich auch alle auf das Entscheidende, nämlich auf das historische Apriori der modernen Episteme: den Menschen, dieses ‚schwierige Objekt und souveräne Subjekt‘. Sie basieren auf seiner Existenz, aber er hat zugleich keinen festen Ort. Der Platz des Menschen ist innerhalb des anthropologischen Vierecks der Moderne eine Leerstelle. Er ist das Zentrum und zugleich der blinde Fleck: „Die abendländische Kultur hat unter dem Namen des Menschen ein Wesen konstituiert, das durch ein und dasselbe Spiel von Gründen positives Gebiet des Wissens sein muß und nicht Gegenstand der Wissenschaft sein kann“, so das Fazit Foucaults.80 Aus dieser Sicht geraten sämtliche Versionen einer anthropologischen Begründung des Wissens ins Schleudern und damit freilich auch Sartres Versuch einer historischstrukturellen Anthropologie zur Fundierung einer kritischen Gesellschaftstheorie. Es wird noch zu diskutieren sein, inwieweit diese Kritik ihn tatsächlich erreicht. Für den Foucault von „Les mots et les choses“ jedenfalls kann der Ausweg aus dem anthropologischen Schlummer nur in einem Denken bestehen, das sich jenseits des Begriffs des Menschen bewegt, indem es aufhört, sich unablässig nach dessen Sein bzw. dessen Wesen zu fragen, das es aus strukturellen Gründen ohnehin nicht befriedigend bestimmen kann. Dafür ist es nach Foucault allerdings notwendig, „[…] das anthropologische ‚Viereck‘ bis in seine Grundlagen hin zu zerstören“.81

79 Die Utopiekritik, auf die Foucaults anthropologisches Viereck u.a. abzielt und die insbesondere den so genannten Westlichen Marxismus und damit auch Sartre trifft, betont Herbert Schnädelbach; vgl. ders. (1989): Das Gesicht im Sand. Foucault und der anthropologische Schlummer. In: Axel Honneth/Thomas McCarthy/Claus Offe/Albrecht Wellmer (Hg.), Zwischenbetrachtungen im Prozeß der Aufklärung. Jürgen Habermas zum 60. Geburtstag, Frankfurt/M., S. 231-261. 80 Foucault (1966), a.a.O., S. 439 (Hervorhebungen i.O.). 81 Vgl. ebd., S. 411.

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Damit stellt sich freilich unweigerlich die Frage nach dem Status von Foucaults eigenem Theorieprogramm. Kann die Archäologie tatsächlich eine Alternative zur Subjektphilosophie bieten und aus den Aporien des anthropologischen Diskurses herausführen? So triftig Foucaults Beschreibung der erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten innerhalb der modernen Episteme erscheinen, so darf schließlich nicht vergessen werden, dass er selbst ein Angehöriger dieser so beschriebenen Moderne ist. Es drängt sich daher umso mehr das immer wieder gestellte Problem auf, von welchem Ort aus er selbst eigentlich spricht.82 Methodisch beansprucht Foucault, wie bereits gezeigt, die moderne Episteme aus der Beobachterperspektive zu beschreiben. Will sich dieses Verfahren aber nicht dem Vorwurf einer gewissen vorkritischen Naivität83 aussetzen, muss es die eigenen Zugangsvoraussetzungen offenlegen. In einem hermeneutischen Verfahren etwa ist dies immer möglich, indem auf das jeweilige historisch-kulturelle Vorverständnis reflektiert wird, in dessen Horizont eine Fragestellung formulierbar ist. Foucault muss dies ablehnen, zum einen, weil hermeneutische Zugänge sich aus der Perspektive einer Archäologie des modernen Wissens in den Aporien der Endlichkeit des anthropologischen Vierecks verfangen müssen, zum anderen, weil damit ein teilnehmender Standpunkt innerhalb einer zu untersuchenden Totalität impliziert ist. Er will die Totalität ja aber gerade von einem externen Posten aus beobachten. Dies hat zur Konsequenz, dass aus jener Totalität für den Archäologen eine beobachtbare historische Partikularität werden soll.84 Aber damit entgeht Foucault noch nicht dem Problem, erklären zu müssen, wie die begrenzten, historisch verorteten Aussagenmengen, die er untersucht, zu Stande kommen, also nach welchen Kriterien er Diskurse auswählt und isoliert. Doch selbst, wenn sich dies plausibel machen ließe, bleibt offen, auf welcher epistemologischen Basis er schließlich zur Zerschlagung des anthropologischen Vierecks aufrufen kann, wenn nicht als Teilnehmer einer modernen Diskursformation. Mindestens Letzteres dürfte nicht möglich sein, wenn sich Foucault streng an die eigene methodische Vorgabe der Archäologie hielte, lediglich die Regelhaftigkeit von Diskursen zu analysieren ohne Rücksicht auf interne Geltungsfragen. Wenn aber Wahrheit und Bedeutung der untersuchten Diskurse methodisch eingeklammert werden und somit für das archäologische Projekt keine Relevanz haben sollen, kann deren Infragestellung streng genommen nur aus der Binnenperspektive eines externen Diskurses über die untersuchten Diskurse geschehen.

82 Vgl. hierzu u.a. Kögler (22004), a.a.O., S. 59ff, Dreyfus/Rabinow (21983), a.a.O., S. 88ff. 83 Vgl. Honneth (1986), a.a.O., S. 148. 84 Vgl. Habermas (1985), a.a.O., S. 296.

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Dessen Ermöglichungsbedingungen bleiben dann aber notgedrungen ungeklärt. Foucault sah dieses Problem in der „Archéologie du savoir“ im Übrigen selbst, wenn er schreibt: „Denn im Augenblick und ohne daß ich ein Ende absehen könnte, meidet mein Diskurs – weit davon entfernt, den Ort zu bestimmen, von dem aus er spricht – den Boden, auf den er sich stützen könnte. Er ist Diskurs über Diskurse: aber er beabsichtigt nicht, in ihnen ein verborgenes Gesetz, einen wiederentdeckten Ursprung zu finden, den man nur noch freisetzen müßte.“85

Dreyfus/Rabinow haben deshalb den berechtigten Verdacht geäußert, Foucault verfange sich, ähnlich wie die Phänomenologie, zum Teil selbst in den Aporien des anthropologischen Vierecks. Sie werfen Foucault gar vor, der archäologische Diskurs sei ebenso ein ‚Diskurs gemischter Natur‘, also ebenso ein erkenntnistheoretischer Zwitter, wie er dies in „Les mots et les choses“ dem existenzialphänomenologischen Diskurs angekreidet hatte.86 Und zumindest für die anthropologischen Doppel des Empirisch-Transzendentalen und des Cogito-Ungedachten lässt sich dies auf den ersten Blick mit Erfolg nachweisen. So bezieht Foucault den Begriff des historischen Apriori ja gerade in Abgrenzung vom kantischen Apriori auf die Ebene empirischer Diskurse, wenn er dessen geschichtliches Gewordensein betont. Zugleich dient er aber der Beschreibung historisch variabler Voraussetzungen der Möglichkeit von Erkenntnis. Ebenso lässt sich der Anspruch, aus der Beobachterperspektive die Formationsregeln empirischer Diskurse unabhängig von deren Inhalten und Geltungsansprüchen zu bestimmen, als ein Versuch deuten, die den Diskursteilnehmern nicht bewusste, also ungedachte Dimension ihres Sprechens auszuleuchten, laut Dreyfus/Rabinow eine archäologische Wiederholung des Versuchs, das Ungedachte auf ein Cogito zu gründen.87 Das archäologische Forschungsprogramm ist also mit einem ganzen Bündel von methodischen Folgeproblemen verbunden, die zunächst geklärt werden müssen, um abschätzen zu können, welcher geltungstheoretische Status für die Einsichten beansprucht werden kann, die aus der foucaultschen Beobachterperspektive gewonnen werden. Foucault versucht dem Verdacht, er verstricke sich selbst in den von ihm beschriebenen Aporien des modernen Zeitalters, durch ei-

85 Foucault (1969), a.a.O., S. 292. 86 Vgl. Dreyfus/Rabinow (21983), a.a.O., S. 93. 87 Vgl. ebd., S. 93ff.

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ne konsequente Historisierung zu entkommen.88 Er nimmt das Problem der Endlichkeit in einem radikaleren Sinne ernst als es das anthropologischhumanistische Denken bislang tat, indem er auf einen absoluten, überzeitlichen Erkenntnisgrund verzichtet. Das Erkenntnissubjekt wird also vollständig in die Geschichte verlagert. Das ist der methodische Zweck der Unterstellung eines historischen und kulturell verwurzelten Aprioris. Damit verbunden ist aber auch der Verzicht auf den Anspruch einer universalen Begründung von Erkenntnis. Was Foucault ausfindig machen will, sind die historisch relativen Voraussetzungen bestimmter historisch-kultureller Erfahrungen. Demzufolge ist es methodisch konsequent, deren Bedingungen in den empirisch auffindbaren Diskursen aufsuchen zu wollen. Die transzendentale Dimension soll also in der Tat komplett eingezogen werden. Foucault interessiert sich für die spezifischen Denkund Diskursvoraussetzungen einer bestimmten historischen Praxis und beansprucht nicht, deren transzendentale Begründung zu liefern. Ein solches Vorgehen führt aber notwendig zu Begrenzungen dessen, was die eigene Theorie zu leisten beanspruchen kann: • Zunächst muss Foucault mit dem historischen Apriori die traditionelle Idee einer universellen Wahrheit verabschieden. Wahrheit wird zu einer historisch und kulturell relativen Größe, die sich in den jeweiligen Erkenntnisrastern historischer Diskursformationen bildet. Sie lässt sich damit nur aus einer spezifischen Erkenntnisperspektive in Abhängigkeit von Diskursen und Standorten definieren. Diese Relativierung des Wahrheitsbegriffs hat freilich auch Konsequenzen für Foucaults eigenes Theorieprogramm. Der Blick auf die eigene Kultur aus der Beobachterperspektive liefert ebenfalls lediglich eine standortgebundene, relative Wahrheit. • Die archäologische Perspektive gewinnt, gemäß ihrem Anspruch, die Regelsysteme historischer Diskursformationen zu beschreiben, ihre Erkenntnis über einen komparatistischen Zugriff auf einzelne Epochen. Nur so lassen sich die unterschiedlichen Wahrheitsbegriffe und spezifischen Problemstellungen auf der archäologischen Grundlage eines jeweiligen historischen Apriori darstellen. Dies hat Foucault beispielhaft in „Les mots et les choses“ vorgeführt, indem er synchrone Schnitte setzte, um den Kontrast zwischen den Epistemen von Renaissance, Klassik und Moderne deutlich werden zu lassen. Nicht möglich ist bei diesem Vorgehen allerdings, und das hatte schon Sartre kritisiert, die Übergänge von der einen Episteme zur anderen zu zeigen. Die Genese einer bestimmten Wissensordnung bleibt im Dunkeln. Foucault war sich des Problems bewusst, hat es allerdings erst später im

88 Ich folge im Weiteren weitgehend Kögler (22004), a.a.O., S. 55ff.

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Rahmen seiner Machtanalytik über eine genealogische Herangehensweise zu lösen versucht. Mit der späteren Einführung von Komponenten ‚sozialer Macht‘ zur Ergänzung und Modifikation des archäologischen Ansatzes hat Foucault zugleich versucht ein weiteres Problem zu beheben, das mit der reinen Diskursanalyse verbunden ist: Wie können die Regeln, die der Archäologe an den empirischen Diskursen abzulesen versucht, gleichzeitig die Erfahrungsstruktur der Handelnden bestimmen? Foucault hatte, wie oben gezeigt, bereits bei der Entwicklung seines Diskursbegriffs in der „Archéologie du savoir“ die Schwierigkeit, plausibel zu machen, warum sich an empirischen Diskursen neben den Formationsregeln auch deren Existenzmodalitäten ablesen lassen sollen. Der Diskursbegriff hat insofern einen hybriden Status, was den Verdacht von Dreyfus/Rabinow, dass sich darin die Aporien des EmpirischTranszendentalen und des Cogito-Ungedachten wiederfinden könnten, provoziert. Das Problem entsteht dadurch, dass Foucault in den 60er Jahren davon ausging, dass der Diskurs als eine autonome Größe gedacht werden könne. Damit ist er aber im Grunde gezwungen, den wittgensteinschen Einwand zu parieren, dass sich die Anwendung einer Regel nicht aus dieser selbst herleiten lässt.89 Er müsste somit die Frage beantworten, nach welcher weiteren Regel die Formationsregeln des Diskurses in einem spezifischen Fall angewandt werden. Um jene zu rechtfertigen, bedürfte es aber einer erneuten Regel, was in einen unendlichen Regress führen würde. Foucault hat, wie bereits erwähnt, die Konzeption eines autonomen Diskurses später aufgegeben und hat ihn in das Feld sozialer Praktiken eingerückt. Damit entgeht er dem Problem, eine historische Erfahrungsstruktur allein mithilfe von Diskursregeln beschreiben zu müssen. Kögler hat allerdings darauf aufmerksam gemacht,90 dass das Problem des unendlichen Regelregresses nur auftaucht, wenn man Foucault unterstellt, dass er die diskursive Regelförmigkeit tatsächlich zu erklären beansprucht, anhand derer sich ablesen ließe, wie innerhalb einer spezifischen Episteme die Gegenstände der Erfahrung konstruiert, Subjektpositionen bestimmt, das theoretische Instrumentarium gewählt und

89 Diesen Einwand haben sowohl Habermas wie Dreyfus/Rabinow formuliert. Vgl. Habermas (1985), a.a.O., S. 315; Dreyfus/Rabinow (21983), a.a.O., S. 79ff. Wittgenstein hat das Problem des Verhältnisses von Regel und Anwendung einer Regel insbesondere in den §§ 82-86, 217-221 der „Philosophischen Untersuchungen“ formuliert. Vgl. hierzu: Ludwig Wittgenstein (1953): Philosophische Untersuchungen, Frankfurt/M. 1971. 90 Vgl. Kögler (22004), a.a.O., S. 62.

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das Feld der praktischen Kontexte strukturiert werden. Das aber ist nicht Foucaults Anspruch. Er beabsichtigt lediglich, anhand von vorliegenden, und das heißt historisch auffindbaren Aussagenmengen, diejenigen Regelmäßigkeiten aufzudecken, die es innerhalb einer bestimmten Episteme erlauben, dass Diskurse als seriös bzw. wissenschaftlich angesehen werden. Insofern wird der Diskurs als Analyseraster hypothetisch eingeführt, der sich dann am archäologischen Material bewähren muss. Zumindest in „Les mots et les choses“ war es damit möglich, die verschiedenen Ordnungen der einzelnen Epistemen um ihre jeweiligen historischen Aprioris herum zu gruppieren. Der Preis ist allerdings, wie gesagt, dass damit in der Tat sämtliche Begründungsfragen eingeklammert werden müssen. Basiert die angestrebte Beobachterperspektive also doch nur auf einem kruden Positivismus? Foucault hat sich zwar einerseits in fröhlicher Weise dazu bekannt, andererseits aber in „Les mots et les choses“ gezeigt, dass auch dem positivistischen Denken eine empirisch-transzendentale Reduplizierung zu Grunde liegt. Zudem kommt Foucault, trotz seines Bemühens, sich Wertungen weitgehend zu enthalten, nicht umhin, auszuweisen, nach welchen Kriterien er Aussagenmengen und Diskurseinheiten identifiziert und auswählt. Dies ist aber, und das ist nun mal die Lektion der Hermeneutik, nur auf der Basis eines bestimmten historisch-kulturell geprägten Vorverständnisses möglich. Insofern ist die Frage nach dem Ort, von dem aus Foucault spricht, trotz aller metaphorischen Verrenkungen, die Foucault zu machen versucht, zunächst ganz banal zu beantworten: Es ist freilich die Moderne. Dies nicht sehen zu wollen, wäre in der Tat ein positivistisches Selbstmissverständnis. Doch Foucault ist sich seines Standortes methodisch sehr wohl bewusst. Nur versucht er in Abgrenzung zur Hermeneutik nicht, vom eigenen Hintergrundverständnis aus sich den Gegenstand interpretierend auf dem Weg einer Annäherung zu erschließen. Foucault geht einen anderen Weg, und dies charakterisiert das Spezifikum der von ihm gewählten Beobachterposition: Er arbeitet mit archäologischen Grundbegriffen wie ‚historisches Apriori‘, ‚Episteme‘ oder ‚Diskurs‘ und führt sie so ein, dass die symbolischen Ordnungen anderer Epochen, aber auch diejenigen anderer Wissenschaftsdisziplinen sich im Gegensatz zum eigenen Vorverständnis profilieren können.91 Dadurch wird es möglich, deren symbolische Prämissen freizulegen und im Kontrast dazu, die eigenen Hintergrundannahmen hervortreten zu lassen. Indem Foucault sich aber der Beurteilung der Wissensordnung anderer Epochen anhand moderner Wahrheitsmaßstäbe enthält, gelingt ihm durch den Kontrast zur eige-

91 Vgl. ebd., S. 61.

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nen Kultur tatsächlich ein Perspektivenwechsel, mit dem es möglich wird, aus der Distanz die Wissensordnung der Moderne zu beschreiben. Foucault ist es auf diese Weise möglich, die von Derrida angedeutete Gefahr des ‚blinden Ausganges‘ zu umgehen und zumindest virtuell eine externe Beobachterposition einzunehmen. Das Einklammern von Begründungsfragen kann in dieser Hinsicht in der Tat zu einem Erkenntnisgewinn führen. Es ermöglicht gerade jene spezifische Form einer Diagnose der Gegenwart, die Foucault intendiert. Aus dieser die Notwendigkeit abzuleiten, jene von außen beschreibbare Wissensordnung zu verlassen bzw. die Struktur des anthropologischen Vierecks zu zerschlagen, ist damit aber m.E. methodologisch nicht gedeckt. Denn eine normative Begründung dafür zu liefern, ist Foucault weder gewillt noch in der Lage. Sein Verfahren kann zunächst nicht mehr, als die historische Relativität der Wissensordnung der Gegenwart zu demonstrieren. Darin allerdings besteht die nicht zu unterschätzende kritische Funktion der Archäologie. Für die Auseinandersetzung mit der Position Sartres lässt sich Folgendes festhalten: Aus der Perspektive der Archäologie Foucaults basiert Sartres handlungstheoretisch konzipierte Gesellschaftstheorie erkenntnistheoretisch auf der historisch relativen Konstellation der modernen Episteme. Sowohl die bewusstseinsphilosophische wie praxisphilosophische Begründung des modernen Subjektes verfangen sich zudem in den Aporien des anthropologischen Vierecks: Sie setzen eine Seins- bzw. eine Wesensbestimmung des Menschen voraus, die sie mit den eigenen Mitteln nicht ausweisen können, sei es in der Denkfigur, die gezwungen ist, ihn als empirisch-transzendentale Dublette zu begreifen oder die unablässig zwischen dem Cogito und dessen Ungedachten hin- und herirren muss, sei es in der Annahme einer geschichtsphilosophischen Dialektik von Entfremdung und Befreiung. Sartres historisch-strukturelle Anthropologie ist für Foucault ein Denken des Gleichen und damit der Versuch der Aneignung und Angleichung des Anderen. Sie ist insofern keine Theorie, sondern ein durch die epistemischen Zwänge der Moderne vorgegebener theoretischer Akt – eine Form des Handelns also, das sich jedoch selbst durch keine Wissenschaft begründen kann. Es wird im Folgenden zu diskutieren sein, inwieweit Foucaults Beschreibung das sartresche Projekt tatsächlich tangiert oder ob Sartre nicht möglicherweise eine Theorieform entwickelt hat, die in mancher Hinsicht eine handlungstheoretische Alternative darstellt, die in der Lage ist, den foucaultschen Aporien, wenn nicht in Gänze, so doch zumindest teilweise zu entgehen.

„Um den Begriff des Kapitals zu entwickeln, ist es nötig nicht von der Arbeit, sondern vom Wert auszugehen und zwar von dem schon in der Bewegung der Zirkulation entwickelten Tauschwert. Es ist ebenso unmöglich, direkt von der Arbeit zum Kapital überzugehen, als von den verschiednen Menschenracen direkt zum Bankier oder von der Natur zur Dampfmaschine.“ (KARL MARX)1

IV Sartres transzendental-ontologische Subjektkonzeption

Die von Foucault eingenommene Beobachterperspektive des Archäologen ist für Sartre, wie bereits erwähnt, eine defizitäre methodische Herangehensweise, da ihr wesentliche Aspekte der gesellschaftlichen Realität entgehen würden, die erst aus der Binnenperspektive des Handelns menschlicher Subjekte erschließbar seien. Ja, für Sartre ist die Einnahme einer Beobachterposition nicht nur ein reduzierter Erfahrungsmodus, sondern sie stellt, wenn die Außenperspektive als einzig legitime angesehen wird, im Grunde sogar eine Form verdinglichten Denkens dar, das die soziale Realität in einer abstrakten, rein äußerlichen Objektivität erstarren lässt. Das hatte Sartre bereits vor der Debatte mit Foucault in seiner Auseinandersetzung mit dem Marxismus-Leninismus gegen Ende der 1950er Jahre Letzterem vorgeworfen.2 Dieser sei von erkenntnistheoretischer Naivität gezeichnet, da er auf die Reflexion der eigenen Situation verzichte und damit in positivistischer Manier glaube, sich zum „objektiven Blick“ auf die Natur „[…]

1

Karl Marx (1939/41): Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. (Rohentwurf) 1857-1858, Berlin 21974, S. 170.

2

Vgl. Sartre (1960a), a.a.O., S. 39ff (Anmerkung).

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so wie sie absolut ist […]“ machen zu können. Erkenntnis werde so als „[…] reine Theorie, nirgends situierter Blick […]“ apodiktisch, sie „[…] trennt sich damit von der Welt ab und wird ein formales System […]“.3 Sartre hingegen insistierte auf eine begriffliche Vermittlung von Objektivität und Subjektivität über die menschliche Praxis. Er ging davon aus, dass sich Subjekt und Objekt im Verlauf eines Handlungsvollzuges gegenseitig enthüllen und verändern. Von daher konnte sein methodischer Ausgangspunkt nur beim „geschichtlichen Subjekt“ liegen.4 Ein hermeneutischer Zugang zur Welt, der den eigenen Standort innerhalb dieser immer mitreflektiert, ist insofern unumgänglich. Die eigene Situation ist für die Art des Zugriffs auf die Welt immer konstitutiv, pure Beobachtung streng genommen sogar ein Ding der Unmöglichkeit: „Es kann nicht sein“, so Sartre bereits in „L’être et le néant“, „daß ich keinen Platz habe, sonst wäre ich gegenüber der Welt im Zustand des Darüberschwebens, und die Welt würde sich, […], auf keine Weise manifestieren.“5 Auch Foucaults archäologische Methode wäre aus dieser Sicht als ein Versuch des ‚Darüberschwebens‘ zu beurteilen. Der Begriff der Situation ist insofern für Sartres Subjektkonzeption zentral. Denn damit versucht er erkenntnistheoretisch die Subjekt-Objekt-Spaltung zu überwinden. Sartre denkt das menschliche Subjekt nicht als isoliertes Einzelnes, sondern immer als eingelassen in eine Welt. Diese ist damit allerdings keine neutrale, äußerlich objektive, um in der Terminologie Heideggers zu sprechen, keine ‚Vorhandenheit‘, sondern als ,Zuhandenheit‘6 immer bezogen auf eine konkrete menschliche Existenz. Das Mensch-Welt-Verhältnis ist bei Sartre notwendig über den Verweisungszusammenhang einer konkreten Situation vermittelt. Nur so wird aus dem äußerlichen abstrakten An-sich der Dinge eine Welt im Sinne von Welt für ein konkretes Subjekt, das sich darin selbst erfährt: „Ohne Welt keine Selbstheit, keine Person; ohne Selbstheit, ohne die Person keine Welt“, so Sartre.7 Obwohl er in seiner frühen Phase das Subjekt bewusstseinsphilosophisch zu begründen versuchte, ist dieses immer als in Situation seiend gedacht und insofern explizit in Anlehnung an Heideggers „Dasein“ als „In-derWelt-Sein“ konzipiert.8 Der Mensch ist immer in die ihm zuhandene Welt enga-

3

Vgl. ebd. (Hervorhebung i.O.).

4

Vgl. ebd.

5

Sartre (1943), a.a.O., S. 846.

6

Vgl. Heidegger (1927), a.a.O., S. 69.

7

Sartre (1943), a.a.O., S. 214.

8

Vgl. Heidegger (1927), a.a.O., S. 53. Sartres Terminus „réalité-humaine“ ist bekanntlich die französische Übersetzung von Heideggers Daseins-Begriff. Aufgrund der be-

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giert. Folgerichtig kann es für Sartre grundsätzlich keine neutrale Erkenntnis einer dem Subjekt äußerlichen Realität geben. Dies ist der Grund für die von Foucault kritisierte Verbindung von Theorie und menschlichem Handeln. Für Sartre jedoch ist sie eine erkenntnistheoretisch notwendige Bedingung: „Der Gesichtspunkt der reinen Erkenntnis ist widersprüchlich: es gibt nur den Gesichtspunkt der engagierten Erkenntnis. Das heißt, daß Erkenntnis und Handeln nur zwei abstrakte Seiten einer ursprünglichen und konkreten Beziehung sind.“9 Aus einer unhintergehbaren Binnenperspektive kann, Sartre zufolge, Erkenntnis also immer nur als Engagement gedacht werden. Denken und Handeln bilden eine untrennbare erkenntnistheoretische Einheit, die dazu nötigt, die Perspektive des eigenen Standortes beständig mitzureflektieren. Dieses methodische Verständnis eines epistemologischen Zugangs zur Welt ist grundlegend für Sartres Subjektbegriff. In „L’être et le néant“ wird dieser anhand der Struktur des Entwurfs erläutert, die in der „Critique de la raison dialectique“ durch den Praxisbegriff weiter konkretisiert wird. Im Folgenden soll zunächst die bewusstseinsphilosophische Begründung des Subjekts diskutiert werden, um anschließend in einem zweiten Schritt dessen Status in Sartres späterer Praxisphilosophie zu untersuchen.

1 D IE BEWUSSTSEINSTHEORETISCHE B EGRÜNDUNG : „L’ ÊTRE ET LE NÉANT “ Da sich, nach Sartre, die menschliche-Realität als ein In-der-Welt-Sein nur über die Einheit von Erkennen und Handeln erschließen soll, ist es zunächst sinnvoll, diese Struktur in ihrem Weltbezug und Selbstbezug zu klären. Erst vor diesem Hintergrund wird nachvollziehbar, warum der frühe Sartre sich gezwungen sieht, seinen handlungstheoretischen Ansatz auf dem Bewusstsein eines Subjektes zu gründen.10 Es soll daher im Folgenden versucht werden – entgegen der sartre-

wusstseinsphilosophischen Begründung und um eine Verwechslung mit Heideggers ‚Dasein‘ zu vermeiden, war es sinnvoll, in der Rückübersetzung ins Deutsche daraus „menschliche-Realität“ zu machen. Vgl. hierzu: Traugott König (1993): Zur Neuübersetzung. In: Sartre (1943), a.a.O., S. 1084ff. 9

Sartre (1943), a.a.O., S. 547 (Hervorhebung i.O.).

10 Sartre verweist zwar auf Heideggers Terminus des ‚In-der-Welt-seins‘, den er als Umschreibung des konkreten Menschen in seiner „spezifischen Vereinigung“ mit der Welt versteht. Sein Erkenntnisinteresse liegt allerdings in einer bewusstseinsphiloso-

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schen Darstellungsweise in „L’être et le néant“ –, zunächst unter einem phänomenologischen Blickwinkel beim konkreten Handlungssubjekt anzusetzen und von dort aus die ontologische Begründungsstruktur bis zur ersten Fundierung von Subjektivität als Freiheit in einem reinen Bewusstsein zurückzuverfolgen. Dies hat den Vorteil, dass sich so die von Foucault gemachten Einwände besser einordnen und deren Relevanz für eine handlungstheoretische Vorgehensweise besser beurteilen lassen. Der Handlungsbegriff, wie Sartre ihn in „L’être et le néant“ als konstitutiv für die menschliche-Realität entwickelt, besteht aus zwei elementaren Komponenten: Er ist einerseits auf der Subjektseite durch die Entwurfstruktur menschlichen Handelns gekennzeichnet, andererseits auf der Objektseite durch das Problem der Realisierung der Ziele einer Handlung im Kontext einer diesen u.U. widerstrebenden Welt.11 Handeln bedeutet insofern ein intentionales Einwirken auf die Welt mit dem Ziel, das Gegebene auf ein Ziel hin zu modifizieren: „Da die menschliche-Realität Handlung ist, ist sie nur als Bruch mit dem Gegebenen in ihrem Sein denkbar. Sie ist das Sein, das macht, daß es Gegebenes gibt, indem es mit ihm bricht und es im Licht des Noch-nicht-existierenden erhellt.“12 Damit ist über die beiden Grundkomponenten des Handlungsbegriffs, Entwurf und Realisierung, zugleich angezeigt, in welcher Weise Selbstbezug und Weltbezug bestimmt werden müssen. Die Struktur des Entwurfs setzt notwendig den Begriff der Freiheit als konstitutiv für das Subjekt der Handlung voraus, die äußeren Bedingungen der Realisierung eines Handlungszieles verweisen auf die spezifische Situation und damit auf die empirischen Umstände, unter denen eine Handlung vollzogen wird. Diese für Sartre nur analytisch zerlegbare Einheit einer Handlung in den auf Freiheit (1) basierenden Entwurf und die nur innerhalb einer Situation (2) mögliche Realisierung des entworfenen Ziels gilt es genauer anzuschauen.

phisch-transzendentalen Begründung dieser phänomenologisch zu beschreibenden Totalität von Mensch und Welt: „Man braucht nur die Augen aufzumachen und in aller Naivität jene Totalität zu befragen, die der Mensch-in-der-Welt ist. Durch die Beschreibung dieser Totalität werden wir folgende zwei Fragen beantworten können: 1. Was ist das synthetische Verhältnis, das wir In-der-Welt-sein nennen? 2. Was müssen der Mensch und die Welt sein, damit das Verhältnis zwischen ihnen möglich ist?“ (ebd., S. 50). 11 Vgl. ebd., S. 835. Sartre spricht in diesem Zusammenhang auch von dem „Widrigkeitskoeffizienten der Dinge“, vgl. hierzu ebd., S. 834. 12 Ebd., S. 828 (Hervorhebung i.O.); vgl. ebenso S. 753.

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Phänomenologie der Handlung – Entwurf und Situation (1) Die Anlehnung der menschlichen-Realität an Heideggers Daseins-Begriff hat Konsequenzen für die Analyse der Handlungslogik. Sartre versucht Handeln bewusst innerhalb der Zirkelstruktur des ‚In-der-Welt-seins‘ zu erläutern. Das hat den Vorteil, dass er der Versuchung aus dem Weg gehen kann, Handlungen als Resultate von substanziellen Ursachen und Motiven zu erklären. Für den Sartre von „L’être et le néant“ gibt es keine anthropologischen Konstanten, die in der Form von Trieben oder Bedürfnissen als ursächliche Kraft von Handlungen gelten können oder gar dafür geeignet wären, zur Beurteilung der Legitimität eines Handlungsziels herangezogen zu werden. Für Sartre sind Motive, Antriebe und Zwecke keine externen Entitäten, die eine Handlung bedingen, sondern diese entstehen erst innerhalb des Welt- und Selbstbezugs eines Menschen im Vollzug seines Handelns. Dieses Beziehungsgeflecht muss die Hermeneutik der Handlung erschließen können. Sartre versucht dieses komplexe Verhältnis anhand des aus seiner Sicht unauflöslichen Zusammenhanges von Motiv, Antrieb und Zweck einer Handlung zu explizieren. Welt ist, wie bereits erwähnt, für Sartre nie als dem Subjekt rein äußerliches An-sich gegeben, sondern immer ein Verweisungs- und damit ein Deutungszusammenhang eines menschlichen Für-sich. Motive, Antriebe und Zwecke von Handlungen sind demzufolge nur innerhalb dieses Deutungskontextes zu verstehen. Sie sind keine Ursachen, die sich ontologisieren ließen. Ebenso kann ein faktischer Zustand des Seins, sei es das reale Leiden eines Menschen, seien es die unmenschlichen Bedingungen, unter denen er lebt, für sich genommen noch keine Ursache für eine Handlung sein. Erst deren Deutung lassen Motive, Antriebe und Zwecke auftauchen, und eine Deutung beinhaltet die spezifische Form einer doppelten Verneinung, eine „zweifache Nichtung“, wie Sartre dies nennt: 1. die Projektion eines anderen Zustandes, was das Setzen eines Nichts im Verhältnis zur Gegenwart bedeutet, 2. damit verbunden die Interpretation des gegenwärtigen Zustandes als Nichts im Verhältnis zum Ideal, also in der Perspektive seiner Überschreitung.13 Sartre zieht daraus „[…] zwei wichtige Folgerungen: 1. kein faktischer Zustand, wie er auch sei […], kann von sich aus irgendeine Handlung motivieren. Denn eine Handlung ist die Projektion des Für-sich auf das, was nicht ist, und das, was ist, kann in keiner Weise von sich aus das

13 Vgl. ebd., S. 756.

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bestimmen, was nicht ist; 2. kein faktischer Zustand kann das Bewußtsein dazu bestimmen, ihn als Negativität oder Mangel zu erfassen.“14

Wenn nun Motive und Antriebe Sartre zufolge keine Ursachen von Handlungen sein können, sondern erst aus dem Deutungskontext eines Seinszustandes – des Erfassens eines Mangels und von Möglichkeiten durch diese doppelte Nichtung – entstehen, dann sind diese als elementarer Bestandteil der Entwurfsstruktur zu verstehen. Denn, so Sartre, „[…] die Welt gibt nur Ratschläge, wenn man sie befragt, und man kann sie nur wegen eines ganz bestimmten Zwecks befragen.“15 Erst vor dem Hintergrund einer Interpretationsleistung konstituiert sich also ein Ziel und damit der Zweck der Handlung, das Überschreiten des gegebenen Zustandes. Erst durch dessen entsprechende Deutung als Situation taucht ein Motiv auf,16 das, vermittelt über den Zweck in der Form eines Antriebes,17 den Entwurf einer Handlung ebenso bestimmt. Sartre betont aber ausdrücklich, dass sich die so skizzierte zirkuläre Entwurfsstruktur der Handlung nur als Totalität begreifen lasse.18 Konsequenterweise muss er deshalb sogar die Instanz eines autonomen Willens zunächst ausklammern. Der Wille taucht erst als Produkt einer Reflexionsleistung des handelnden Subjektes auf, wenn also die Handlung selbst zum Gegenstand des Denkens wird. Er ist aber nicht unmittelbarer Bestandteil des Entwurfs.19 Die Stärke dieser von Sartre betriebenen phänomenologisch orientierten Hermeneutik ist zweifellos, dass es ihm gelingt, die innere Logik von Handlungen aus ihrer Einbettung in den Welt-Kontext zu explizieren, ohne auf substanzielle Ursachen zurückgreifen zu müssen. Sartre versucht so, die formale Struktur von Handlungen zu beschreiben. Dies kann aber freilich nur befriedigen, wenn er die Existenz dieser phänomenologisch erschlossenen Struktur, die ja nicht über den Weg empirischer Beobachtung zugänglich ist, auch plausibel machen kann. Und dies ist nur über eine transzendentale Fragestellung möglich, die Sartre in der Tat im Auge hat. Denn die Deutung einer Situation als Situation im Vollzug jener doppelten Nichtung des gegebenen Zustandes, die Befragung der Welt auf ihre Möglichkeiten hin vor dem Hintergrund der Projektion eines Nichts als Ziel bzw. der Wertung des Gegebenen als Nichts im Sinne eines

14 Ebd., S. 757. 15 Ebd., S. 778. 16 Vgl. ebd., S. 775. 17 Vgl. ebd., S. 778. 18 Vgl. ebd., S. 760. 19 Vgl. ebd., S. 783.

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Mangels in Bezug auf dieses Ziel provoziert auf der Begründungsebene geradezu die Frage: Wie kommt das Nichts in die Welt? Und darauf hat Sartre nur eine Antwort. Die zirkuläre Entwurfsstruktur der Handlung hat selbstverständlich eines zur Voraussetzung: die Freiheit als Bedingung ihrer Möglichkeit. Der unübersehbare Vorteil dieser Vorgehensweise ist, dass Sartre auf diesem Weg nicht gezwungen ist, willkürlich einen Freiheitsbegriff zu setzen, um von dort einen normativ gehaltvollen Begriff des Menschen herleiten zu können. Genau dies will Sartre vermeiden. Er geht daher genau den umgekehrten Weg. Er versucht zunächst die formale Struktur des Handelns freizulegen, um anschließend nach deren sowohl logischer wie ontologischer Voraussetzung zu fragen. Der Freiheitsbegriff wird somit zur konstitutiven Grundlage der Handlung. Erst durch ihn kann sich erhellen, warum die menschliche-Realität sich als In-der-Welt-sein immer auf der Grundlage von Situationsdeutungen vollzieht. Worin besteht nun diese Freiheit? Sartre legt sie zunächst immanent aus der Entwurfsstruktur der Handlung dar. Sie ist genau diese für das Handeln konstitutive Nichtung. Die menschliche-Realität zeichnet sich dadurch aus, dass sie im Verhältnis zur Welt und zu sich selbst notwendig einen Bruch vollzieht, der über das Bestehende hinaus, und das heißt, auf ein aktuelles Nichts hinweist. Sie ist damit also das Sein, das als permanente Infragestellung ihres Seins wie des Seins der Welt beständige Distanz zu sich und zur Welt aufbaut. Die menschlicheRealität ist somit ontologisch durch das Nichts gekennzeichnet, und dies macht laut Sartre die Freiheit aus: „Der Mensch ist frei, weil er nicht Sich ist, sondern Anwesenheit bei sich. Das Sein, das das ist, was es ist, kann nicht frei sein. Die Freiheit ist genau das Nichts, das im Kern des Menschen geseint wird [est été] und die menschliche-Realität zwingt, sich zu machen statt zu sein.“20 Die Freiheit besteht somit in der Nichtung des eigenen Seins,21 sie ist im Grunde ein ständiges Über-sich-hinaus-Sein. Als ontologische Kategorie ist die Freiheit also etwas, das ist, indem es zugleich nicht ist, ein Sein, das gewissermaßen aufgrund seines eigenen Nichts existiert. Sartre bringt das auf die berühmte Formel, dass „[…] die menschliche-Realität in ihrem unmittelbarsten Sein, […] das ist, was sie nicht ist, und nicht das ist, was sie ist.“22 Erläutern lässt sich diese bei Sartre immer wiederkehrende Formel etwa anhand der drei Dimensionen, die er dem Nichts der Freiheit zuschreibt: seiner Verzeitlichung, seinem Sein als Bewusstsein und der Transzendenz.23 Verzeitli-

20 Ebd., S. 765 (Hervorhebungen i.O.). 21 Vgl. ebd., S. 763. 22 Vgl. ebd., S. 153. 23 Vgl. ebd., S. 785f.

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chung bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die menschliche-Realität auf der Zeitebene immer in Distanz zur eigenen Vergangenheit ist. Aus der Perspektive der Freiheit betrachtet, beinhaltet dies, dass seine Vergangenheit zwar als unveränderbare Tatsache für den Menschen existiert, diese aber sein Handeln nicht determiniert. Da frei, kann er sich immer von ihr losreißen. Insofern ist er seine Vergangenheit, indem er sie zugleich nicht ist, denn er handelt, und obwohl er sie in dieser Hinsicht nicht ist, ist er sie, weil er immer auf der Basis seiner Vergangenheit handelt. Ebenso gehört zum Nichts der Freiheit die Dimension des Bewusstseins. Diese zunächst nur auf der Beschreibungsebene betrachtete Dimension – auf die Begründungsfunktion des Bewusstseins werden wir noch zurückkommen – besteht darin, dass die menschliche-Realität in ihrem Weltbezug Bewusstsein von etwas ist, in ihrem unmittelbaren Selbstbezug immer zugleich „Anwesenheit bei sich“24 ist. Damit ist zum einen in der Distanz zur Welt die einfache Nichtung als ‚nicht die Welt‘ oder ‚nicht ein konkretes Dieses‘ gemeint, zum anderen aber zum eigenen Sein das komplizierte Verhältnis eines Sich-zusich-Verhaltens, das immer einen minimalen Abstand zu sich erfordert. Dieser fundamentale Riss, diese Differenz in der menschlichen-Realität bewirkt, dass sie auch als Bewusstsein zugleich ist, was sie nicht ist, und nicht ist, was sie ist. Derselben Struktur unterliegt schließlich die Dimension der Transzendenz. Ebensowenig wie die menschliche-Realität durch die Vergangenheit bestimmt ist, ist sie dies durch den Zustand der Gegenwart. Sie ist immer über sich hinaus auf eine Zukunft, die über einen aus der Situationsdeutung entworfenen Zweck definiert ist. Als Transzendenz hin auf eine offene Zukunft ist die menschlicheRealität nicht, was sie ist, denn über einen (noch)-nicht existierenden Zweck bestimmt und als gegenwärtige zugleich ist sie damit, was sie nicht ist. Was ist mit dieser tiefer gehenden Charakterisierung der Handlungsvoraussetzungen gewonnen? Die phänomenologische Beschreibung der Entwurfsstruktur des Handelns verwies auf den Begriff der Freiheit als logische Bedingung seiner Möglichkeit. Die Engführung der Freiheit mit der menschlichen-Realität als das Sein, durch das das Nichts in die Welt kommt, führt zunächst aber lediglich zu einer weiteren Klärung der Struktur des In-der-Welt-seins. Eine nähere Begriffsbestimmung ist auf diesem Weg offenbar nicht möglich. Sartre sieht dieses Problem, das seinem Anspruch, für die Existenz der Freiheit eine ontologische Begründung zu liefern, zunächst zuwiderläuft: „[…] wenn die grundlegende Bedingung der Handlung die Freiheit ist, müssen wir versuchen, die Freiheit genauer zu beschreiben. Aber wir stoßen zunächst auf eine erhebliche Schwierigkeit: Beschreiben ist gemeinhin eine Erklärungstätigkeit, die die Strukturen

24 Vgl. ebd., S. 786.

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einer einzelnen Wesenheit betrifft.“25 Das ist das Problem. Denn die Freiheit bleibt innerhalb der Beschreibung der Handlungsstruktur immer die Voraussetzung, die sich nicht beschreiben lässt, weil sie zwar für den Entwurf konstitutiv ist, aber auf der Beschreibungsebene zugleich abwesend ist. Sie lässt sich so lediglich als logische Voraussetzung transzendental einholen. Das ist Sartre freilich zu wenig. Er geht deshalb einen anderen Weg, indem er sich schlicht vom Anspruch einer begrifflichen Bestimmung der Freiheit verabschiedet und unmittelbar fortfährt: „Die Freiheit hat aber kein Wesen. Sie ist keiner logischen Notwendigkeit unterworfen; von ihr müßte man sagen, was Heidegger vom Dasein schlechthin sagt: In ihr geht die Existenz der Essenz voraus und beherrscht sie.“26 Der Versuch einer ontologischen Begründung besteht also darin, Freiheit ohne inhaltliche Bestimmung als rein formalen Existenzbegriff anzunehmen, auf dessen Grundlage inhaltliche Bestimmungen überhaupt erst möglich werden. Diese kommen ihm zufolge erst im Vollzug von Handlungen zustande. Sartre rechtfertigt dies im Grunde mit einem Rückverweis auf die Entwurfstruktur der Handlung: „Wie soll man also eine Existenz beschreiben, die sich ständig macht und die sich weigert, in eine Definition eingeschlossen zu werden?“27 Der Verzicht auf eine begriffliche Wesensbestimmung zugunsten der Annahme der puren Existenz der Freiheit legitimiert damit zugleich, methodisch aus der Perspektive des Einzelnen vorzugehen. Freiheit taucht in der Welt immer nur als konkrete, je einzelne und damit unvergleichliche Freiheit auf. Deshalb hat sie kein Wesen, ist in diesem Sinne kein Allgemeinbegriff. Deshalb ist sie die Existenz, die der Essenz vorausgeht. Sartre bringt dies auf den Punkt, wenn er schreibt: „Im Gegenteil, die Freiheit ist die Grundlage aller Wesenheiten, weil der Mensch die innerweltlichen Wesenheiten enthüllt, indem er die Welt auf seine eigenen Möglichkeiten hin überschreitet. Doch es handelt sich in Wirklichkeit um meine Freiheit.“28 Es fragt sich freilich, ob Sartre damit nicht genau das im Auge hat, was Foucault als empirisch-transzendentale Reduplizierung kritisiert, indem die Freiheit auf der Ebene des Empirisch-Endlichen als formale Bedingung ihrer Möglichkeit situiert wird. (2) Nun kann ein solch inhaltlich völlig unbestimmter, rein formaler Freiheitsbegriff zunächst nur schwer überzeugen, zumindest dann nicht, wenn er zugleich

25 Ebd., S. 761. 26 Ebd. (Hervorhebung i.O.). 27 Ebd. 28 Ebd., S. 761f.

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als Existenzbegriff ontologisch fundiert sein soll. Sartres Rückzug auf eine prinzipiell nur individuelle konkrete Seinsweise der Freiheit könnte von daher als Versuch gelesen werden, sich auf eine keine weitere Begründung bedürfende Evidenz zurückzuziehen. Seine Strategie ist aber dem entgegengesetzt. Wenn Freiheit sich nur in der konkreten individuellen Existenz zeigen soll, dann muss sich die Behauptung ihres Seins an der Faktizität eines konkreten In-der-Weltseins bewähren lassen. Wenn es Freiheit gibt, so das Argument, dann kann sie nie als leere formale Bestimmung existieren, sondern immer nur im Vollzug einer Handlung. Damit kommt die zweite Komponente von Sartres Handlungsbegriff ins Spiel: die Bedingungen, unter denen ein Entwurf realisiert werden kann – die Situation. Freiheit ist immer engagierte Freiheit29 und das bedeutet, die menschliche-Realität ist als In-der-Welt-sein immer Freiheit in Situation.30 Sartre versucht damit seinen Freiheitsbegriff in der Faktizität des Seins zu verankern. Auf der Ebene der Realisierung einer Handlung begegnet die Welt dem Subjekt immer als zu überwindender Widerstand, der u.U. sogar so groß sein kann, dass der Entwurf scheitert. Die Unrealisierbarkeit eines Handlungszieles ist aber für Sartre gerade kein Beleg dafür, dass es in diesem Fall keine Freiheit gibt, sondern gerade deren Bestätigung. Denn – und das ergibt sich freilich wiederum aus dem Entwurfscharakter der Handlung – der „Widrigkeitskoeffizient der Dinge“,31 wie Sartre die mögliche Vereitelung eines Handlungszieles durch die harten Fakten der Welt nennt, kommt ja erst dadurch zustande, dass in der Deutung der Situation ein Zweck gesetzt wird, der sich anschließend als unrealistisch erweist. Freiheit gibt es demnach nur innerhalb einer mehr oder weniger stark Widerstand leistenden Realität. Und genau das meint Sartre mit dem Terminus von der engagierten Freiheit: „Ein freies Für-sich kann es nur als engagiert in eine Widerstand leistenden Welt geben.“32 Freiheit ist somit die notwendige Bedingung dafür, dass die Welt Widerstand leistet. Wir bewegen uns damit aber nach wie vor innerhalb der Zirkelstruktur des In-der-Welt-seins und haben noch keine wirkliche Begründung für die Existenz der Freiheit erhalten. Anschaulich machen kann Sartre allerdings über diesen Zusammenhang, dass wenn es Freiheit gibt, sie nur auf der Basis konkreter Umstände existiert, die ihr in ihrer Faktizität notwendig entgehen müssen. Sartre nennt dies das Paradox der Freiheit: „[…] es gibt Freiheit nur in Situation, und es gibt Situation nur durch die Freiheit. Die menschliche-Realität begegnet überall

29 Vgl. ebd., S. 836. 30 Vgl. ebd., S. 842. 31 Vgl. ebd., S. 834. 32 Ebd., S. 836.

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Widerständen und Hindernissen, die sie nicht geschaffen hat; aber diese Widerstände und Hindernisse haben Sinn nur in der freien Wahl und durch die freie Wahl, die die menschliche-Realität ist.“33 Um nun die faktische Existenz der Freiheit aufzuweisen, unternimmt Sartre den Versuch, mit den Mitteln einer phänomenologischen Beschreibung zu zeigen, was eine Situation ausmacht, innerhalb der eine konkrete Freiheit auftaucht. Dies kann als Ausgangspunkt gewählt werden, um erneut den Weg zu einem ontologischen Begründungsversuch zurückzuverfolgen. Der Situationsbegriff beinhaltet von vornherein die Konkretion. Freiheit kann nur innerhalb von zeitlich, räumlich, sozial etc. bestimmten Lebensumständen erlebt werden. Damit ist Freiheit immer in der Perspektive eines besonderen Einzelnen situiert, durch den das Sein eine Situationsdeutung erfährt. Die jeweilige Deutung ist so notwendig an einen konkreten Ort gebunden, von dem aus eine Situation erst ihre Relevanz erhält. Sartre nennt ihn bewusst in erster Person „mein Platz“,34 von dem aus sich die Anordnung der Gegenstände um mich herum in einer räumlichen Anordnung ergeben,35 zu denen ich mich in Distanz setze und denen ich Bedeutung verleihe, indem ich mich zum Zentrum der Welt bestimme.36 Wir erkennen hier deutlich die oben erwähnte Binnenperspektive, von der her sich Sartre zufolge allein die Welt erschließen lassen kann. Der Platz kennzeichnet somit den Ort meiner Freiheit, zugleich aber auch meine Faktizität. Der Platz kann zwar frei gewählt sein, aber die Tatsache, dass irgendein Platz eingenommen werden muss, lässt sich nicht umgehen. In dieser Hinsicht kann ich nicht wählen. Dies unterliegt purer Kontingenz. Am Platz zeigt sich laut Sartre insofern eine fundamentale Antinomie von Faktizität und Freiheit,37 denn er verweist auf die faktische Existenz der Freiheit, „[…] ohne Wahl, auch ohne Notwendigkeit, als bloße absolute Tatsache meines Da-seins“.38 Der Platz ist nur ein Beispiel dafür. Sartre entfaltet den Situationsbegriff in weiteren Dimensionen, um daran jeweils das Verhältnis von Faktizität und Freiheit zu erläutern, das für ihn charakteristisch ist: an der Körperlichkeit, der Vergangenheit, der Umgebung, dem Nächsten. Ausdrücklich verweist er allerdings darauf, dass keine der Dimensionen in der menschlichen-Realität für sich allein vorgefunden werden können, sondern immer nur auf dem „synthetischen Hinter-

33 Ebd., S. 845 (Hervorhebungen i.O.). 34 Vgl. ebd., S. 846. 35 Vgl. ebd. 36 Vgl. ebd., S. 850f. 37 Vgl. ebd., S. 848. 38 Vgl. ebd., S. 849 (Hervorhebung i.O.).

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grund“ aller anderen erscheinen.39 Die Situation ist für mich also u.a. durch meine Körperlichkeit bestimmt. An meinem Platz bin ich als physische Materialität. Der Körper ist in seiner Faktizität die Voraussetzung dafür, handeln zu können, und zugleich ist er das, was meiner Freiheit entgeht. Er ist der Körper, den ich zu sein habe, so wie er ist, und den ich zugleich lebe, indem er für mich ist, wie ich ihn deute und ihn insofern für mich mache, aber als Freiheit bin ich nicht der Grund meines Seins als Körper. Es ist völlig kontingent.40 Ebenso ist meine Situation durch meine konkrete Vergangenheit bestimmt, die ich zwar immer überschreite, zum Beispiel indem ich ihr deutend Sinn verleihe, der ich aber zugleich in ihrer Faktizität als Gewesenes nicht entgehen kann.41 Eine weitere unhintergehbare Voraussetzung individueller Existenz ist die um den Platz zentrierte räumliche Welt in ihrer Bedeutung als Umgebung42 im Sinne einer durch die Materialiät der Dinge vorgeprägten Zuhandenheit. Denn diese lässt sich nicht nur allein über meine Situationsdeutung auf mich zuschneiden, ihre instrumentelle Nutzung unterliegt zugleich Rahmenbedingungen, seien sie etwa durch Naturgesetze vorgegeben oder einfach durch bestimmte Eigenschaften und Anwendungsmöglichkeiten von Werkzeugen und Gebrauchsgegenständen. Und diese Umgebung wird freilich zudem mitbestimmt durch die Existenz der Anderen. Sartre spricht hier im Nahverhältnis von meinem Nächsten,43 über den vermittelt die gesellschaftliche Welt in Form von Konventionen, Institutionen, Techniken existiert. Diese sind alle vom Standpunkt der Freiheit prinzipiell überschreitbar, aber zugleich verweisen sie auf meine Faktizität, indem sie mir eine Position innerhalb eines historisch-gesellschaftlichen Kontextes zuweisen, mich zu einem

39 Vgl. ebd., S. 846. Ich folge im Weiteren den an dieser Stelle aufgeführten Dimensionen, die sich allerdings nicht exakt mit Sartres eigener Durchführung decken. Sartre selbst erläutert im Verlauf der Situationsanalyse entgegen seiner eigenen Ankündigung die Bereiche Platz, Umgebung, Nächster und zusätzlich Tod. Dafür entfällt das Thema Körper. Für die hier untersuchte handlungstheoretische Perspektive ist der Tod allerdings von untergeordneter Bedeutung. Der Grund dafür, dass Sartre den Körper unterschlägt, dürfte sein, dass er die Phänomenologie des Körpers bereits weiter oben ausführlich abgehandelt hatte (vgl. ebd., S. 539ff). 40 Vgl. ebd., S. 549. 41 Vgl. ebd., S. 856ff. 42 Vgl. ebd., S. 870ff. 43 Vgl. ebd., S. 879ff.

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„Jemand“ machen, der vorgegebenen Regeln unterworfen ist, die mich als Angehörigen einer Nation oder einer Klasse kennzeichnen.44 Sartres Wendung zur Konkretion der Freiheit, deren Existenz sich nur aus dem Deutungszusammenhang der Situation aufweisen lässt, soll deutlich machen, dass diese sich nur aus einer radikalen Binnenperspektive erschließen lässt. Freiheit als solche ist weder etwas Gegebenes noch eine Qualität,45 die sich von einer neutralen externen Position aus beobachten ließe. Sie zeigt sich lediglich im konkreten Handeln in Situation durch die Wahl eines Zweckes – und dies geschieht nur aus der lebensweltlichen Perspektive eines einzelnen konkreten Subjektes. Dieses ist in seiner durch die Situation bestimmten Faktizität kontingent, in seiner Deutungsfähigkeit zugleich aber ein sich wählendes Subjekt. Doch die Tatsache dieses Wählen-Könnens selbst steht für das Subjekt nicht zur Wahl. Sie kann nicht überschritten werden. Sie ist einfach. Hatte die Analyse der Entwurfsstruktur lediglich die logische Notwendigkeit der Existenz der Freiheit zu Tage treten lassen, so ist mit der Wendung in die konkrete Situation eine reale Existenzform der Freiheit in der Subjektivität des Menschen gefunden. Mit der Tatsache des Nicht-Wählen-Könnens der Wahl hat Sartre einen Boden gefunden, etwas, das sich nicht weiter begründen lässt. Er kann einfach konstatieren: Die menschliche-Realität ist frei, sich zu wählen, aber sie kann nicht nicht wählen. Darin zeigt sich die Freiheit in ihrer Faktizität. In ihrer Existenz ist sie ebenso wie die der Dinge kontingent und insofern absurd, denn „[…] die Freiheit ist ja Wahl ihres Seins, aber nicht Grund ihres Seins“.46 Das meint Sartre mit der Geworfenheit des Menschen, der „[…] zur Freiheit verurteilt […]“ ist.47 Durch die

44 Die Unterscheidung der Situationsdimensionen der Umgebung und des Nächsten erscheint bei Sartre etwas unscharf, da zum Beispiel Werkzeuge als zuhandene Gegenstände einer Umgebung ja gleichzeitig auch eine historisch-gesellschaftliche Dimension haben und ihnen insofern ein anderer Grad an Objektivität zugeschrieben werden muss als etwa der Widrigkeit, die durch Naturgesetze gegeben ist. Dieser Umstand lässt sich nicht allein dadurch erklären, dass jede Dimension nur vor dem ‚synthetischen Hintergrund‘ einer Gesamtsituation zu verstehen ist. Was Sartre hier unter der Perspektive der Situationsdeutung beschreibt, ließe sich möglicherweise aus der Entwurfsperspektive intentional klarer durch eine Engführung mit denjenigen Handlungstypen charakterisieren, die Habermas als instrumentelles bzw. soziales Handeln fasst, wobei Letzteres bei Sartre offenbar lediglich als strategisches bzw. normenreguliertes Handeln gedacht wird. 45 Vgl. Sartre (1943), a.a.O., S. 829. 46 Ebd. (Hervorhebungen i.O.). 47 Vgl. ebd., S. 838.

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Kontingenz seines Seins ist die Existenz des Menschen als Freiheit absurd, aber aufgrund dieser Freiheit ist er im Handlungsvollzug als Entwurf Wahl von Zwecken, und damit derjenige, der das Nichts ins Sein bringt, der durch seine Situationsdeutung dafür sorgt, dass dem Sein etwas fehlt. So ist die Freiheit für Sartre ontologisch gesehen „Seinsmangel“.48

Der ontologische Status der Freiheit Damit ist Sartre bei einer ontologischen Deutung der Freiheit angekommen. Rekapitulieren wir kurz den Gang der Argumentation. Ausgangspunkt war die phänomenologische Analyse der menschlichen-Realität als In-der-Welt-sein als Handlung anhand der sich aus der Entwurfsstruktur beschreibbaren Situationsdeutung. Dies erlaubte den Rückschluss auf einen formalen Freiheitsbegriff. Über die zusätzliche Freilegung der konstitutiven Bestandteile einer Situation konnte in einem zweiten Schritt die faktische Existenz der Freiheit in ihrer jeweils konkreten Form gebunden an die Perspektive eines Handlungssubjekts expliziert werden, die zudem durch den Aufweis ihrer Kontingenz keiner weiteren Begründung bedarf. Sartre hat damit zugleich eine methodologische Rechtfertigung für den Vorrang einer Binnenperspektive für die Erkenntnis von Welt geliefert. Nur aus der Perspektive der Handlungssubjekte ist es demnach möglich, ein adäquates Verständnis von Welt zu erlangen. Eine Freiheit, die nicht engagiert ist, ist für Sartre insofern nicht vorstellbar. Die ontologische Verortung der Freiheit als Kontingenz hat für Sartre normative Implikationen. Aus dem bisherigen Ergebnis der Analyse der Handlungsstruktur, das besagt, dass der Mensch in seiner faktischen Existenz Freiheit, zugleich aber in seiner Geworfenheit in die Welt nicht der Grund seines eigenen Seins ist, zieht Sartre den Schluss, dass er damit prinzipiell für alles verantwortlich ist. Mit einer Ausnahme: Er kann nicht für die Tatsache verantwortlich gemacht werden, dass er verantwortlich ist.49 Sartre leitet Verantwortung direkt aus seinem Handlungsbegriff her. Für etwas verantwortlich zu sein, heißt demnach schlicht, sich im Klaren zu sein, dass man als Handelnder der Urheber eines Ereignisses oder eines Gegenstandes ist.50 Und unter der Voraussetzung einer ontologisch fundierten universellen Freiheit ist somit der Zustand der Welt die logi-

48 Vgl. ebd., S. 840. 49 Vgl. ebd., S. 953. 50 Vgl. ebd., S. 950.

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sche Konsequenz der Freiheit.51 Sartre gelangt damit zu der normativ äußerst ambitionieren Schlussfolgerung, der Mensch sei prinzipiell für die ganze Welt verantwortlich.52 Mit Mensch kann Sartre aufgrund der Situierung der Freiheit in Situation freilich immer nur den konkreten Einzelnen meinen. Und er schreckt in der Tat nicht davor zurück, dem Individuum die Verantwortung für das gesamte Elend der Welt aufzubürden. Da prinzipiell frei, bin ich nie Opfer äußeren Zwanges, sondern durch meine Wahl immer beteiligt. Sartre geht bekanntlich so weit zu behaupten, man habe selbst als Einzelner immer „[…] den Krieg, den man verdient“.53 Auf die Probleme, die mit einem derart starken, aber zugleich abstrakten Verantwortungsbegriff insbesondere in moralphilosophischer Hinsicht verbunden sind, und vor allem, aufgrund welcher theoretischer Grundannahmen er bei Sartre in dieser Form zu Stande kommt, wird weiter unten noch zurückzukommen sein. Für den hier verfolgten Zusammenhang ist zunächst nur so viel von Belang: Sartres ontologischer Begründungsversuch der Freiheit ist zugleich normativ verankert. Die zunächst formale Beschreibung der Handlungsstruktur wird über den Situationsbegriff an konkrete Subjekte geknüpft, die damit in ihrem individuellen Handlungsvollzug normativ bestimmt werden. So kann Sartre schreiben: „Ich bin in die Welt geworfen, […] in dem Sinn, daß ich mich plötzlich allein und ohne Hilfe finde, engagiert in eine Welt, für die ich die gesamte Verantwortung trage, ohne mich, was ich auch tue, dieser Verantwortung entziehen zu können.“54 Der Einzelne wählt in seiner Geworfenheit notgedrungen den Sinn seines Seins und damit den an diese Perspektive gebundenen Sinn der Welt. Oder, wie er in expliziter Anlehnung an Heidegger formuliert: „Ich bin das Sein, das ist als ein Sein, dem es in seinem Sein um das Sein geht.“55 Wie unschwer zu erkennen ist, klingen in der Form, in der Sartre versucht, die Freiheit ontologisch zu begründen, indem er sie über den Situationsbegriff in einem endlichen einzelnen Subjekt verankert, bereits einzelne Elemente dessen an, was Foucault mit seinen Doppeln des Menschen umschreibt. Sartres fundamentale Antinomie von Faktizität und Freiheit, die sich in der Metapher von der Geworfenheit ausdrückt, die Tatsache nämlich, dass sich eine konkrete Freiheit immer nur vor dem Hintergrund eines endlichen Seins artikuliert, das dieser entgeht, für dessen Existenz sie nicht verantwortlich ist, weil sie nicht der Grund ih-

51 Vgl. ebd., S. 951. 52 Vgl. ebd., S. 950. 53 Vgl. ebd., S. 953. 54 Ebd., S. 954 (Hervorhebung i.O.). 55 Ebd., S. 955 (Hervorhebung i.O.).

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res eigenen Seins sein kann, lässt sich aus Foucaults archäologischer Perspektive als die Thematik des Oszillierens eines permanenten Zurückweichens des Ursprungs und seiner Wiederkehr beschreiben. Sartres Mensch ist Foucaults Wesen ohne Ursprung, das sich zugleich zum Ursprung der Welt macht. Doch dieses Problem stellt sich freilich nur aus der hypothetischen Beobachterperspektive, die es für Sartre streng genommen nicht gibt. Aus der Binnenperspektive ist dagegen bislang noch nicht klar geworden, auf welcher ontologischen Basis Handeln funktioniert. Es konnte zwar bislang gezeigt werden, dass Handeln Freiheit logisch voraussetzt und über ihre Situierung in einem konkreten einzelnen Handlungssubjekt auch deren faktische Existenz belegt wird, doch es ist nach wie vor unklar, auf welcher ontologischen Grundlage sich diese Freiheit vollzieht. Was ist es, das es macht, dass ein Subjekt auf der Basis seiner Existenz als Freiheit handelt? Kurz, es ist nach wie vor die Frage offen: Wie ist es möglich, dass das Nichts in die Welt kommt? Die Erklärung dafür liefert Sartre mit seiner Theorie des Bewusstseins. Die Freiheit vollzieht die Nichtung des Seins in der Form des Bewusstseins. Damit sind wir beim Kern des Subjektbegriffs von „L’être et le néant“ angelangt. Es ist im Folgenden zu klären, inwiefern die Ontologie der Freiheit aus der Struktur des Bewusstseins des Subjekts heraus gerechtfertigt werden kann. Sartre wählt hierfür erneut das Verfahren der phänomenologischen Beschreibung, um von dort aus das Sein des Bewusstseins ontologisch zu fundieren. Um diesen Argumentationsgang nachvollziehen zu können, ist es erforderlich, sich kurz die Ausgangsfragestellung von „L’être et le néant“ zu vergegenwärtigen. Sartre hebt im Grunde mit einer erkenntnistheoretischen Fragestellung an, nämlich am Problem der Bestimmung des Verhältnisses von Denken und Realität. Er stellt sich diese Frage allerdings nicht in der klassischen kantischen Form nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis, sondern gibt ihr eine ontologische Wendung. Sartre fragt nicht danach, inwieweit es berechtigt ist, von einem subjektiv gegebenen Phänomen auf eine objektiv existierende Entität zu schließen. Er fragt nach dem Seinsverhältnis von Bewusstsein und Phänomen.56 Wie im Untertitel von „L’être et le néant“ vermerkt, unternimmt er den „Versuch einer phänomenologischen Ontologie“. Das bedeutet, er beabsichtigt, in doppelter Abgrenzung zu Idealismus und Realismus57 auf phänomenologischem Weg

56 Vgl. Klaus Hartmann (21983): Grundzüge der Ontologie Sartres in ihrem Verhältnis zu Hegels Logik. In: ders., Die Philosophie J.-P. Sartres. Zwei Untersuchungen zu L’être et le néant und zur Critique de la raison dialectique, Berlin/New York, S. 15. 57 Vgl. Sartre (1943), a.a.O., S. 40. Sartre versteht unter Realismus alle erkenntnistheoretischen Ansätze, die davon ausgehen, dass Erkenntnis durch Auswirkungen einer Ob-

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Zugang zur Realität zu gewinnen und zugleich über die Kritik des phänomenologischen Verfahrens dessen Grenzen zu bestimmen. Damit soll durch eine radikalisierende Selbstüberschreitung der Phänomenologie die Möglichkeit eines Überstiegs zum Sein gewährleistet werden.58 Sartre entwickelt diese Fragestellung in einer kritischen Auseinandersetzung mit Husserl. Diesem komme das einzigartige Verdienst zu, den Versuch unternommen zu haben, alle Hinterwelten im Sinne Nietzsches abzuschaffen, indem er die Realität des Dinges durch die Objektivität des Phänomens ersetzt habe. Husserl habe die in der philosophischen Tradition konstruierten Dualismen von Sein und Schein, von Wesen und Erscheinung durch einen „Monismus des Phänomens“ ersetzt, indem er „[…] das Existierende auf die Reihe der Erscheinungen, die es manifestieren, reduzierte“.59 Die Erscheinung verhülle nun kein dahinter liegendes wahres Sein mehr, sie verberge nicht mehr das Wesen, so Sartre, „[…] sie enthüllt es: sie ist das Wesen“.60 Damit wird das Wesen zu nichts Weiterem als zur Regel der Aufeinanderfolge der sich manifestierenden Erscheinungen. Diese ist selbst Erscheinung, und als phänomenales Sein ist sie „[…] nichts als die fest verbundene Reihe dieser Manifestationen“.61 Seinem Ziel ist Husserl nach Sartres Auffassung damit allerdings kaum näher gekommen, da sich an dessen Phänomenbegriff zugleich ein neuer Dualismus auftue. Den Grund dafür sieht Sartre in dessen eigenen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen. Sein Argument: Wenn ein existierendes Ding allein auf die Reihe seiner Erscheinungen reduziert wird, so lässt es sich für ein endliches Subjekt nur erkennen, indem es diese Reihe ins Unendliche weiterverfolgt. Denn das, was ihm erscheint, sei doch nur ein Aspekt eines Objektes und nicht dieses selbst. Es manifestiere sich damit immer zugleich die Abwesenheit all dessen, was gerade nicht erscheint. Husserls Phänomenbegriff entspringe somit ein neuer Dualismus von Endlich und Unendlich.62 Im Lichte dieser Husserl-Interpretation stellt nun Sartre die Weichen für sein eigenes Vorhaben. Die aus einer erkenntnistheoretisch ausgerichteten Fragestellung erfolgte idealistische Einklammerung der Existenz der Dinge bei

jektwelt auf ein passives Subjekt zu Stande kommt, unter Idealismus die Annahme, Erkenntnis sei allein das Resultat einer spontanen Subjektleistung; vgl. ebd., S. 39. 58 Vgl. Bernhard Waldenfels (1983): Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt/M., S. 80. 59 Vgl. Sartre (1943), a.a.O., S. 9. 60 Vgl. ebd., S. 11. 61 Vgl. ebd. 62 Vgl. ebd., S. 12f.

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Husserl soll aufgegeben werden, damit das Sein des Phänomens (être du phénomène) erschlossen werden kann. Da dies aber nur über den Zugriff auf die Erscheinung vollzogen werden kann – in dieser Hinsicht behält die husserlsche Methode ihre Gültigkeit –, ist es notwendig, das Sein als Seinsphänomen (phénomène d’être) zu beschreiben. Sartre geht insofern von einer doppelten, sich zunächst widersprechenden Fragestellung aus: Er fragt nach der Phänomenalität des Seins und zugleich nach dessen Transphänomenalität. Daraus ergibt sich die Thematik der phänomenologischen Ontologie: „Wenn sich das Sein der Phänomene nicht in ein Seinsphänomen auflöst und wenn wir trotzdem nichts über das Sein sagen können, außer wenn wir dieses Seinsphänomen befragen, dann muß vor allem genau geklärt werden, welches Verhältnis zwischen dem Seinsphänomen und dem Sein des Phänomens besteht.“63 Sartres Unterfangen besteht also darin, den Monismus, den Husserl aus methodischen Gründen nicht einzulösen vermag, beizubehalten, indem das Verfahren der Phänomenologie eine ontologische Begründung erhalten soll. Die Konsequenz dieser Vorgehensweise ist allerdings – und das wird noch zu zeigen sein – ein Dualismus auf der ontologischen Ebene. Der Grund dafür liegt in der methodologischen Mischung zweier im Grunde unvereinbarerer Ansätze: einem ontologischen Begründungsanspruch und einer sich erkenntniskritisch verstehenden, phänomenologisch grundierten Subjektphilosophie. Die doppelte Herangehensweise Sartres über die Phänomenalität und gleichzeitige Transphänomenalität des Seins führt zunächst auf der Ebene der phänomenologischen Beschreibung dazu, die sinnliche Erfahrung einer Erscheinung in zwei Richtungen hin zu überschreiten: einerseits mit Blick auf das, was erscheint, andererseits aber auch auf dasjenige Subjekt hin, dem es erscheint. Transphänomenalität ist somit auf zwei Seiten vermutet: als Sein des Phänomens und als Sein des Bewusstseins. Sartre versucht nun deren Existenz über zwei einander gegenläufige Begründungen zu belegen, die jeweils so angelegt sind, dass sie eine These formulieren, aus deren Widerlegung auf die jeweilige Transphänomenalität geschlossen werden kann. Beide Argumentationen entwickelt er entlang Berkleys erkenntnistheoretischer Behauptung, esse est percipi. Wird Letztere in husserlscher Perspektive als Einklammerung des Realen verstanden, als ein reines Seinsphänomen, so wird damit eine klassisch idealistische Position vertreten, der Sartre vorwirft, Sein auf Erkenntnis zu reduzieren. Damit stelle sich nämlich das Problem, dass offenbleiben muss, was das Sein ausmachen könnte, das die Erkenntnis trägt. Sartres Einwand lautet, dass sich damit „[…] die Totalität ‚Wahrnehmung-Wahrgenommenes‘, da sie nicht von einem

63 Ebd., S. 16 (Hervorhebung i.O.).

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soliden Sein getragen wird, im Nichts […]“64 auflöst. Denn es gibt einfach nichts, das wahrnimmt. Sartre verwirft diese Position als unhaltbar. Doch selbst unter der von einer idealistischen Position abgelehnten Annahme eines Seins als percipi, also aus realistischer Perspektive, sei es nicht möglich, das percipere auf dieses zurückzuführen, da dann immer noch nicht klar sei, was es denn sein könnte, das etwas wahrnimmt. Sartre schließt von daher zurück auf das Bewusstsein des erkennenden Subjektes als ein transphänomenales Sein: „Denn das Seinsgesetz des erkennenden Subjekts ist es bewußt-zu-sein. Das Bewußtsein ist nicht ein besonderer Erkenntnismodus, genannt innerster Sinn oder Erkenntnis von sich, sondern es ist die transphänomenale Seinsdimension des Subjekts.“65 Damit ist zugleich eine wichtige Voraussetzung für Sartres Theorie des Bewusstseins festgeschrieben. Als ein transphänomenales Sein kann das Bewusstsein als percipere sich nicht selbst als ein percipi gegeben sein. Es ist primär nicht Selbsterkenntnis, also Sein als Erkannt-Sein, sondern sich immer schon selbstgegenwärtig. Zugleich ist es aber als percipere, ganz im husserlschen Sinne von Intentionalität, Bewusstsein von etwas. Darauf wird weiter unten noch ausführlich zurückzukommen sein. Für die Darstellung der von Sartre beabsichtigten ersten Widerlegung der These des esse est percipi ist zunächst nur noch so viel wichtig: Als Bewusstsein von etwas verlangt das Sein des Bewusstseins die Setzung eines seiner selbst äußerlichen, also transzendenten Gegenstandes.66 Da dieser jedoch, wie aus der Kritik an Husserls neuem Dualismus gezeigt wurde, auf die Unendlichkeit der Phänomenreihe verweist, kann dieser nicht innerhalb eines endlich seienden Bewusstseins vollzogen werden. Das Bewusstsein muss demzufolge leer sein. Als Intention verweist es auf ein Außen. Es ist als erkennendes Bewusstsein Objektbewusstsein. Seine Gegenstände sind ihm transzendent. Damit ist also auf der Seite des percipere das transphänomenale Sein des Bewusstseins für Sartre aufgewiesen. Er dreht die idealistische Frage nun um. Ist es also möglich, das Sein der Erscheinung als Erscheinung auf der Grundlage des Seins des Bewusstseins zu begründen?67 Dies hätte laut Sartre zur Voraussetzung, dass das Phänomen sich direkt vom Bewusstsein herleiten ließe. Sartre rekurriert hier auf den Bedeutungsgehalt von percipi. Als Wahrgenommenes meint der Ausdruck ‚percipi‘ immer etwas Passives und das heißt, dass es immer schon unabhängig vom Bewusstsein existieren muss, um als etwas erkannt oder

64 Vgl. ebd., S. 18. 65 Ebd., S. 18f (Hervorhebung i.O.). 66 Vgl. ebd., S 19. 67 Vgl. ebd., S. 29.

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gedeutet zu werden. Wäre es nicht unabhängig, so müsste es vom Subjekt geschaffen und damit aber als permanente Schöpfung sozusagen ins Sein gehalten werden. Es wäre dann aber mit dem Schöpfer identisch. Nicht einmal die Illusion einer Transzendenz wäre dann möglich.68 Ein absurder Gedanke, wie Sartre betont: „So würde das esse est percipi erfordern, daß das Bewußtsein als reine Spontaneität, die auf nichts einwirken kann, einem transzendenten Nichts das Sein verleiht, indem es ihm sein Nichts-an-Sein erhält […].“69 Es ist also laut Sartre nicht möglich, das Sein des Phänomens aus der Transphänomenalität des Bewusstseins zu begründen. Andererseits hat sich aus der bereits aufgewiesenen Struktur des Bewusstseins bezüglich seines Objektverhältnisses gezeigt, dass es nur als Bewusstsein von etwas gedacht werden kann. Damit verweist es laut Sartre notwendig auf ein transphänomenales Sein des Phänomens. Dieses ist damit konstitutiv für das Sein des Bewusstseins. Sartre glaubt damit einen ontologischen Beweis erbracht zu haben: „Das Bewußtsein ist Bewußtsein von etwas: das bedeutet, daß die Transzendenz konstitutive Struktur des Bewußtseins ist; das heißt, das Bewußtsein entsteht als auf ein Sein gerichtet, das nicht es selbst ist. Das nennen wir den ontologischen Beweis.“70 Es drängt sich an dieser Stelle freilich die Frage auf, ob damit wirklich ein ontologischer Beweis erbracht ist.71 Denn es fällt sofort auf, dass Sartres Beweisverfahren zirkulär ist. So schließt er im Grunde von der Tatsache eines Wahrnehmungsaktes eines Phänomens auf die logische Notwendigkeit der Existenz eines wahrnehmenden Subjektes und von diesem zurück auf die Existenz eines wahrgenommenen Objektes. Grundlage dieser Argumentation ist die Annahme eines Bewusstseins in der von Husserl beschriebenen Form eines intentionalen Bewusstseins von etwas. Dieses dient einerseits der Beschreibung des Aktes der Wahrnehmung eines Gegenstandes als Phänomen und zugleich der Begründung des Seins der konstitutiven Elemente dieses Aktes, nämlich von Subjekt und Gegenstand.72 Es wird also über die phänomenale Beschreibung ei-

68 Vgl. ebd., S. 30f. 69 Ebd., S. 31 (Hervorhebungen i.O.). 70 Ebd., S. 35 (Hervorhebungen i.O.). 71 Ganz abgesehen davon, ist es grundsätzlich zu bezweifeln, ob ontologische Beweise überhaupt möglich sind. Von der Struktur her ähnelt Sartres Argumentation derjenigen, die schon Kant in seiner Diskussion ontologischer Gottesbeweise widerlegt hat. Denn im Grunde schließt auch Sartre von dem Begriff einer Entität auf deren Existenz in der Realität. Vgl. Kant (1781/87), a.a.O., S. B 620ff (S. 529ff). 72 Hartmann spricht daher m.E. zu Recht von einer Ontologie der Intentionalität. Vgl. Hartmann (21983), a.a.O., S. 33.

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ne ontologische Begründung versucht. Dieselbe Begründungsform war bereits anhand seines Versuches einer ontologischen Fundierung des Freiheitsbegriffs aufgefallen. Sartre schwankt in seiner Argumentation beständig zwischen dem Verfahren phänomenologischer Deskription und dem Versuch, diese dann ontologisch auszudeuten.73 Für den weiteren Gang der Darstellung ist jedenfalls so viel wichtig: Aus der phänomenologischen Untersuchung des Wahrnehmungsaktes eines Phänomens ergibt sich für Sartre notwendig die Existenz von zwei verschiedenen Seinstypen – das Sein des Bewusstseins und das Sein des Phänomens. Sartre kennzeichnet diese beiden Bereiche als Für-sich und An-sich. Diese werden im weiteren Verlauf getrennt analysiert, wobei der Schwerpunkt von Sartres Interesse eindeutig auf der Form des Für-sich-seins, also der Seinsweise des Bewusstseins liegt. Hierin zeigt sich Sartres prinzipiell erkenntniskritische Herangehensweise. Es ist das Bewusstsein, von dem her das Sein erschlossen werden soll. Denn nur vom Bewusstsein her ist es möglich, den Sinn von Sein zu ergründen. Da es sich nun aber um zwei prinzipiell verschiedene Bereiche des Seins handelt, kann dem Sinn nicht überall auf dieselbe Weise nachgegangen werden. Auf der Seite des An-sich ist dem Sinn des Seins nur über das Seinsphänomen beizukommen, indem er von einem Bewusstsein enthüllt wird.74 Zugleich bedarf es aber auch der Auslegung des Sinns des Seins des Bewusstsein, das „radikal anders“ ist75 und deshalb einer besonderen Aufklärung bedarf, was weite Strecken von „L’être et le néant“ beansprucht. Beides ist laut Sartre aber nur möglich, wenn die jeweiligen Seinsbereiche immer aufeinander bezogen bleiben. Auf diesem Weg versucht er die beiden Komponenten seiner aus methodischen Gründen notwendig gewordenen dualistischen Ontologie zusammenzuhalten: „Aber“, so Sartre, „obwohl der Seinsbegriff jene Besonderheit hat, in zwei unkommunizierbare Bereiche gespalten zu sein, muß man doch erklären, daß diese beiden Bereiche unter dieselbe Rubrik gestellt werden können. Das macht die Untersuchung dieser beiden Seinstypen notwendig, und es ist evident, daß wir den Sinn des einen oder des anderen nur tatsächlich erfassen können, wenn wir ihre tatsächlichen Bezüge zum Begriff des Seins im allgemeinen ausmachen können und die Beziehungen, die sie vereinen.“76

73 Darauf hat auch Waldenfels hingewiesen. Vgl. ders. (1983), a.a.O., S. 82; ähnlich Danto (1975), a.a.O., S. 52. 74 Vgl. Sartre (1943), a.a.O., S. 38. 75 Vgl. ebd. 76 Ebd., S. 39.

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Weil beide Bereiche so zumindest formal aufeinander bezogen bleiben, fällt die Untersuchung der Seinsweise des An-sich zunächst auch ziemlich schmal aus. Denn ohne eine begrifflich nähere Bestimmung des Für-sich im Rücken zu haben, muss die Beschreibung des An-sich notwendig abstrakt ausfallen. Eine Konkretisierung wird erst über den Aufweis des Seinszusammenhangs über die Seinsweise des Bewusstseins möglich. So beschränkt sich Sartre zunächst auf die Charakterisierung des Seinsphänomens des An-sich in seinen drei Merkmalen: Es ist einfach, und in dieser Hinsicht ist es an sich, völlige Undifferenziertheit. Sartre meint damit, dass das An-sich ohne jeglichen Bezug zu sich ist.77 Es ist außerdem vollständige Positivität und insofern reine Identität ohne Andersheit. Sartre fasst dies in die Formel: „[…] es ist das, was es ist.“78 Und schließlich ist das An-sich absolut ohne Grund und insofern pure Kontingenz. „Unbeschaffen, ohne Seinsgrund, ohne irgendeinen Bezug zu einem anderen Sein, ist das An-sich-sein zu viel für alle Ewigkeit“, so Sartre.79 Es lässt sich bereits aus der dürren Beschreibung der Seinsweise des An-sich ersehen, welches breite Feld an Qualitäten für die des Für-sich übrig bleibt. Undifferenziertheit, bar minimalster Reflexivität, Beziehungslosigkeit – all dies sind Bestimmungen, die in ihrer semantischen Umkehrung in der Beschreibung der Seinsweise des Für-sich hervortreten werden. Bestimmtheit, Reflexivität, Synthese, Totalität sind aber zugleich konstitutive Bestandteile von Welt – also des Verhältnisses zwischen den beiden ontologisch zunächst getrennten Dimensionen. Sartre versucht, anders als bei der abstrakten Charakterisierung des Ansich, das Für-sich in seiner konkreten Beziehung zu jenem zu erfassen. Damit ist die Zielrichtung vorgegeben. Es geht nun um die Seinsweise des konkreten Menschen als In-der-Welt-sein, „[…] mit jener spezifischen Vereinigung des Menschen mit der Welt […]“.80 Es gilt herauszufinden, was das Spezifische des Seins des Menschen in der Welt ausmacht. Die Analyse des Für-sich beabsichtigt insofern, Schritt für Schritt zum konkreten Menschen vorzustoßen, um dessen Seinsweise ontologisch zu ergründen. Sartre kann sich von dieser Vorgehensweise zwei Vorteile versprechen. Sie bietet erstens die Perspektive, die beiden voneinander geschiedenen Seinsweisen zu vermitteln. Dies wird, wie bereits gezeigt, über den Handlungsbegriff versucht. Außerdem eröffnet sich Sartre so den Weg zu einer indirekten ontologischen Bestimmung des Seins des Bewusstseins. Dies

77 Vgl. ebd., S. 41. 78 Ebd., S. 42. 79 Ebd., S. 44. 80 Vgl. ebd., S. 50.

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ist notwendig, da der Transphänomenalität des Bewusstseins, wie gesehen, nicht über ein percipi beizukommen ist, da jenes ja dessen logische Voraussetzung ist. Zunächst muss allerdings auf der phänomenalen Ebene geklärt werden, was das Verhältnis eines Für-sich zum An-sich ausmacht. Sartre versucht dies über das Verfahren einer regressiven Analyse, indem er beim Verhalten des Menschen gegenüber der Welt ansetzt, um von dort „[…] bis zu dem tiefen Sinn der Beziehung ‚Mensch-Welt‘ vorzudringen“.81 Für die Auslegung dieses Verhältnisses hält er weiter streng an der Binnenperspektive fest. Dies ist konsequent, denn wenn sich die Struktur des Für-sich aus ihrem Verhältnis zum An-sich ergründen lassen soll, kann sie nicht von außen beobachtet werden. Dies würde ein weiteres Für-sich erfordern, dessen Verhältnis zu dem untersuchten Verhältnis ein weiteres Für-sich voraussetzen müsste, was in einen unendlichen Regress führen würde. Sartre erschließt sich nun die Binnenperspektive, indem er sein eigenes Vorgehen thematisiert. Was ist es, was er selbst gerade tut? Er fragt. Er befindet sich gegenüber dem Sein in einer Fragehaltung. „Im selben Augenblick, in dem ich frage: ‚Gibt es ein Verhalten, das mir das Verhältnis des Menschen zur Welt offenbaren kann?‘, stelle ich eine Frage“, so Sartre.82 Damit ist für ihn ein Leitfaden gefunden. Das primäre Verhalten des Menschen zur Welt ist das Fragen und damit kommt das Nichts in die Welt. Sartre erläutert dies in offensichtlicher Anlehnung an Heideggers Hermeneutik der formalen Struktur, der Frage nach dem Sein in „Sein und Zeit“,83 indem er darauf hinweist, dass eine Frage immer nur innerhalb des Horizontes eines Seins gestellt werden kann. „Jede Frage setzt also ein Sein voraus, das fragt, und ein Sein, das befragt wird“, so Sartre.84 Und sie erwartet eine Antwort. Mit der Beziehung von Frage und Antwort sind zugleich zwei Dimensionen des Nichts angezeigt. Die Frage bezieht sich auf ein Befragtes, das in seiner Seinsweise oder seinem Sein so beschaffen ist, dass es die Erwartung des Fragenden entweder erfüllt oder eben nicht. Es eröffnet also prinzipiell die Möglichkeit eines Nicht-seins und sei es nur in der Form seines Anders-seins. In der Frage manifestiert sich aber ebenso ein NichtWissen des Fragenden als Grund der Frage. Sartre zieht aus der Struktur der

81 Vgl. ebd., S. 51. 82 Ebd. 83 Vgl. Heidegger (1927), a.a.O., § 2, S. 5ff. Diese Anlehnung an Heidegger wäre übrigens sachlich nicht notwendig gewesen, denn das, was Sartre hier zeigen will, hängt nicht von der grammatischen Form der Frage ab, sondern ist eine prinzipielle Eigenschaft der Sprache, die sich genauso gut an Aussagesätzen, Imperativen etc. erläutern ließe. Vgl. hierzu Danto (1975), a.a.O., S. 71. 84 Sartre (1943), a.a.O., S. 51.

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Frage folgendes Resümee: „Die permanente Möglichkeit des Nichts-seins außer uns und in uns bedingt unser Fragen über das Sein.“85 Über die Hermeneutik der Fragestruktur hat Sartre das Für-sich bereits formal in seinem Weltbezug und zugleich in seinem Selbstbezug gekennzeichnet. Es bringt nämlich über die Frage einerseits das Nichts in die Welt, zugleich bringt es aber als Frage sich selbst in seinem Sein in ein Verhältnis zu einem Nichts. Sartre versucht nun im Folgenden dieses für das Für-sich offenbar konstitutive Verhältnis von Sein und Nichts über eine regressive Analyse stufenweise zu konkretisieren, um schließlich bis zum Begriff der Freiheit vorzustoßen. Dabei bemüht er sich, sich konsequent zwischen Realismus und Idealismus zu halten, indem er zeigt, dass das Nichts immer nur innerhalb eines Verhältnisses auftaucht, also weder ein faktischer Bestandteil des nackten An-sich ist noch auf eine pure subjektivistische Vorstellung zurückführbar ist. Das Nichts kann es immer nur innerhalb einer Welt geben und diese obliegt, wie bereits gesehen, der Deutung. Sartre versucht dieses „innerweltliche Nichts“86 zunächst über die Erfahrung eines Negativitätscharakters der Dinge zu erläutern. Es handele sich dabei um eine Realitätserfahrung, die in ihrer inneren Struktur von Negation bewohnt ist. Sartre nennt als Beispiele Abwesenheit, Veränderung, Anderssein, Abweisung, Bedauern, Zerstreuung. Er bezeichnet diese Erfahrungen als „négatités“.87 Um sich klarzumachen, was er damit meint, genügt sein Beispiel der Abwesenheit:88 Ich bin mit jemandem in einem Café verabredet, aber er ist nicht da. Die Gegenstände des Raumes treten unter diesem Gesichtspunkt in ihrer Anwesenheit in den Hintergrund. Sie deuten in ihrer Totalität auf die Abwesenheit desjenigen, auf den ich warte. Und nur auf ihn. Es geht nicht um irgendjemand, der ebenfalls nicht da ist, sondern um diese, für diese Erfahrung zentrale Person. Die Totalität entsteht also nur in der Binnenperspektive desjenigen, der jemanden vermisst. Es vollzieht sich damit eine doppelte Nichtungsbewegung: die Überschreitung und insofern Negation der anwesenden Dinge auf den Abwesenden hin und zugleich die Negation der erwarteten Anwesenheit des Abwesenden. Die beschriebene Erfahrung besteht also aus einer Syntheseleistung, die sich in einer zweifachen Nichtung artikuliert, durch die „[…] ein Sein (oder eine Seinsweise) gesetzt und dann ins Nichts zurückgeworfen […]“ wird.89 Das Nichts entsteht also nur in einer Welt und es kommt dort nur aufgrund der Syntheseleis-

85 Ebd., S. 53. 86 Vgl. ebd., S. 79. 87 Vgl. ebd., S. 78. 88 Vgl. ebd., S. 59ff. 89 Vgl. ebd., S. 62.

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tung eines Subjektes vor. Sartre meint damit ganz drastisch, dass etwa eine Naturkatastrophe zunächst – also unter der virtuellen Annahme eines Ereignisses, das nicht Bestandteil einer konkreten Welt ist – nur das objektive Faktum einer „Verteilung der Seinsmassen“90 wäre. Erst über ihre Deutung als Zerstörung, als etwas, das nicht mehr ist, oder etwas geworden ist, was es zuvor nicht war, taucht das Nichts als Bestandteil einer Welt auf. Das Sein wird insofern erst dann zerbrechlich, wenn es, eben durch eine Deutungsleistung, in sich eine bestimmte Möglichkeit von Nicht-sein enthält. Sartre kann deshalb sagen: „Es gibt eine Transphänomenalität des Nicht-seins wie des Seins.“91 Damit ist das Nichts als ontologische Kategorie angekündigt. Mit dem Aufweis der ‚négatités‘ über den Weltbezug kann Sartre zunächst zeigen, in welcher Hinsicht das Nichts in der Welt auftaucht. Es ist damit freilich noch offen, worauf dieses innerweltliche Nichts beruht. Zwar ist im Grunde bereits klar, dass es nur über ein Bewusstsein in die Welt kommen kann. Von diesem wissen wir aber bislang nur, dass ihm ein transphänomenales Sein zukommt. Wie soll aber von diesem Sein ein Nichts ausgehen? In die Erfahrung der ‚negatités‘ war eine doppelte Nichtung eingebaut, die sich unter Rückgriff auf die Struktur der Frage explizieren lässt. Sartre vollzieht damit im Zuge seiner regressiven Analyse einen weiteren Schritt hin zur Konkretion. Die Frage implizierte, wie gesehen, als ein Nicht-Wissen auf der Subjektseite und als denkbar negative Antwort bezüglich der Objektseite, die Möglichkeit eines Nicht-seins außer uns und in uns. Sie umfasst damit notwendig eine gewisse Distanzierung vom Sein. Für Sartre ist mit diesem Lösen des Menschen vom „Leim des Seins“92 zugleich ein Einklammern jeglicher das Sein determinierenden Ordnung verbunden. Der Mensch vollzieht, indem er Abstand vom Sein nimmt, eine Bewegung, mit der er „[…] das Nichts im Sein aufbrechen lässt […]“. Die ist allerdings nur möglich, wenn er „[…] sich selbst zu diesem Zweck mit Nicht-sein affiziert“.93 Die menschliche-Realität ist also als In-der-Welt-sein nicht nur ein Sein, sondern zugleich ihr eigenes Nichts. Sie setzt einen Abstand zu den Dingen und zu sich selbst. Das Für-sich ist diejenige Seinsdimension, die zugleich das Nichts beinhaltet. Das bedeutet, dass das Nichts immer in Abhängigkeit eines Seins zu verstehen ist. Und dieses Sein ist der Mensch, dessen ontologische Struktur Sartre folgendermaßen umschreibt: „Das Sein, durch das das Nichts in die Welt kommt, ist ein Sein, in dem es in seinem Sein um das Nichts seines

90 Vgl. ebd., S. 57. 91 Ebd., S. 59. 92 Vgl. ebd., S. 82. 93 Vgl. ebd.

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Seins geht: das Sein, durch das das Nichts zur Welt kommt, muß sein eigenes Nichts sein.“94 Damit sind wir, wie unschwer zu erkennen, wieder beim Thema der Freiheit angelangt, wie es sich im Zusammenhang mit dem Handlungsbegriff bereits ergeben hatte. Freiheit ist die nun ontologisch umschriebene Bewegung der Distanzierung von der Welt und von sich selbst, wie sie anhand der Fragestruktur und der mit den ‚négatités‘ gegebenen doppelten Nichtung aufscheint und auf deren Existenz Sartres Handlungsbegriff basiert. Sie ist untrennbar an das Sein des Bewusstseins geknüpft, das als Negationsbewusstsein einen Gegenstand transzendiert und ihn als abwesend und insofern als nicht-existierend setzt,95 aber ebenso im Vollzug dieses Denkaktes einen „[…] Bruch mit dem Sein in mir selbst […]“96 beinhaltet, weil dieser nichtende Denkakt durch keinen vorherigen Zustand in mir bestimmt werden kann. Sartre spricht in diesem Zusammenhang davon, dass der Mensch sich „[…] vom Sein losreißt […]“,97 indem er einen Schnitt zu seiner Vergangenheit und Gegenwart vollzieht. „Und dieser Schnitt ist genau das Nichts.“98 Und genau diese Möglichkeit der menschlichen-Realität, „[…] ein Nichts abzusondern […]“, wie Sartre sich ausdrückt, kann mit dem Namen Freiheit markiert werden.99 Sie ist damit „[…] keine Fähigkeit einer menschlichen Seele […]“, sondern „[…] das Sein des Menschen […]“.100 Sartre hat somit die wesentlichen Elemente der Struktur des Für-sich-seins entfaltet, die den weiteren Verlauf der Konkretisierung der menschlichenRealität bestimmen. Über den ontologischen Ausweis der Freiheit als Konstitutivum des Nichts ist es möglich, die so vorbereiteten Schritte zu gehen, bis er am Ende bei der bereits dargestellten Handlungslogik anlangt, mit deren Hilfe sich das Sein des Menschen beschreiben lässt. Sartre kann über die Distanzierung zu sich und zur Welt im Negationsbewusstsein die Zeitlichkeit als Nichtung der Vergangenheit und Überschreitung hin auf die Zukunft in der Dimension des Selbst wie der Welt entwickeln.101 Der durch die Existenz des Nichts dem Für-

94 Ebd., S. 81 (Hervorhebung i.O.). 95 Vgl. ebd., S. 88. 96 Ebd. 97 Vgl. ebd., S. 82. 98 Ebd., S. 88. 99 Vgl. ebd., S. 84. 100 Vgl. ebd. 101 Dies wird ausführlich in den Kapiteln über die Zeitlichkeit und die Transzendenz entfaltet (vgl. ebd., S. 216ff bzw. S. 322ff). Da die für unseren Zusammenhang wesentlichen Elemente der Negation in ihrer zeitlichen und räumlichen Dimension be-

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sich notwendig gegebene minimale Abstand charakterisiert den Selbstbezug des Subjekts als „Anwesenheit bei sich“.102 Dieser ergibt sich aus der noch zu analysierenden Struktur des Bewusstseins. Zum anderen ist der Weltbezug des Subjektes als „Anwesenheit bei der Welt“103 umschrieben. Entscheidend ist nun, dass sich aus diesem doppelten Abstand die eigentümliche Seinsstruktur des Fürsich ergibt, über die Sartre nun versucht die Einheit des Seins wiederherzustellen – und zwar in einem sich selbst begründenden Bewusstsein. Es ist in seinem konkreten Sein als Faktizität ebenso wie die Faktizität der Welt ohne Grund und insofern kontingent. Zugleich ist das Für-sich aber aufgrund seines Vermögens zu nichten selbst der Grund für die Existenz der Nichts. „Die menschlicheRealität ist damit das Sein, insofern es in seinem Sein und für sein Sein einziger Grund des Nichts innerhalb des Seins ist.“104 Damit kann sie sich in ihrer Faktizität zwar ebensowenig begründen wie das An-sich, doch in der Überschreitung des eigenen Seins im Vollzug einer Nichtung, durch die das An-sich „[…] in Für-sich vermindert […]“ wird,105 wird sie in ihrem Sein als Bewusstsein Grund ihrer selbst. Hier zeigt sich erneut die transzendentalphilosophische Fragestellung Sartres, denn es ist freilich klar, dass nur das Sein des Bewusstseins der Grund dafür sein kann, dass das An-sich dem Für-sich als Welt begegnen kann.106 Damit sind die zuvor geschiedenen Bereiche von Sartres dualistischer Ontologie zumindest formal über die Beschreibung des Für-sich als Verhältnis zu sich und zur Welt wieder verbunden. Sartre fasst dies folgendermaßen zusammen: „Das An-sich kann nichts begründen; wenn es sich selbst begründet, so indem es sich die Modifikation des Für-sich gibt. Es ist Grund seiner selbst, insofern es schon nicht mehr An-sich ist; und hier begegnen wir dem Ursprung des Grundes. Wenn das An-sich weder sein eigener Grund noch der anderer Seinsweisen [êtres] sein kann, so kommt der Grund

reits am Handlungsbegriff anhand der phänomenologischen Beschreibung von Entwurf und Situation expliziert wurden, kann an dieser Stelle auf eine weitere detaillierte Darstellung dieser von Sartre ontologisch gedeuteten Selbst- und Weltbezüge verzichtet werden. 102 Vgl. ebd., S. 169. 103 Vgl. ebd., S. 173. 104 Ebd., S. 172. 105 Vgl. ebd., S. 177. 106 Vgl. hierzu auch Hartmann (21983), a.a.O., S. 122, der Sartres Vorgehensweise als „existenziale Transzendentalphilosophie“ bezeichnet.

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schlechthin durch das Für-sich zur Welt. Das Für-sich als genichtetes An-sich begründet nicht nur sich selbst, sondern mit ihm erscheint der Grund zum erstenmal.“107

Eine ontologische Deutung der menschlichen-Realität in diesem Sinne hat nun mehrere Konsequenzen, die sich zum Teil bereits am Handlungsbegriff ablesen ließen. Der Mensch kann der Absurdität des Seins nur entkommen, indem er sich selbst auf einen Sinn seiner Existenz hin entwirft. Da er aber zugleich nicht in der Lage ist, deren Faktizität abzuschütteln, ja im Gegenteil auf diese angewiesen ist, ist die Anstrengung einer Selbstsetzung und der damit verbundene Anspruch einer Selbstbegründung notwendig zum Scheitern verurteilt. Eine Übereinstimmung mit sich selbst ist also aus ontologischen Gründen nicht möglich. Sartre erläutert diesen Begründungszusammenhang wiederum aus der Struktur des Für-sich. Als ein Sein, das, wie gesehen, darin besteht, die Verminderung der Dichte des An-sich möglich zu machen, bestimmt es sich ja gerade darin, das An-sich nicht zu sein.108 Es verkörpert insofern einen „Seinsmangel“, denn nur so kann es diese permanente Nichtung aufrechterhalten.109 Als Mangel an Sein ist das Für-sich gezwungen, das Bestehende mit Blick auf das hin, was ihm fehlt, auf eine entworfene Totalität hin zu überschreiten. Es erschließt in dieser Perspektive seine Möglichkeiten. Zudem ist es insofern von Haus aus durch eine Wertorientierung zumindest formal normativ bestimmt. Entscheidend an diesen Bestimmungen des Für-sich ist, dass dadurch die Dynamik, wie sie sich am Entwurfscharakter der Handlung gezeigt hatte, nun ein ontologisches Korrelat erhält. Dieses ergibt sich aus der strukturellen Nicht-Identität des Für-sich mit sich. Denn im Entwurf einer Totalität strebt das durch Mangel an Sein gekennzeichnete Für-sich den Zustand einer Übereinstimmung mit sich selbst an, die es aus strukturellen Gründen nicht erreichen kann – es sei denn um den Preis der Freiheit in Form seiner Auflösung in die pure Faktizität eines An-sich-seins. Es ist insofern in seiner inneren Struktur per se instabil. Es strebt über sich hinaus und ist damit immer schon zum Scheitern verurteilt. Sartre kennzeichnet das Für-sich aufgrund seiner notwendigen Nicht-Identität mit sich mit dem hegelschen Terminus ‚unglückliches Bewusstsein‘.110

107 Sartre (1943), a.a.O., S. 177 (Hervorhebung i.O.). 108 Vgl. ebd., S. 183. 109 Vgl. ebd., S. 182. 110 Vgl. ebd., S. 191.

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Im Reflexionszirkel des Bewusstseins Die ontologische Deutung der menschlichen-Realität als eine Struktur, die notwendig mit sich selbst nie identisch sein kann, liefert Sartre ein Erklärungsmodell, von dem her einsichtig werden soll, auf welcher Grundlage sich die Logik einer Handlung vollzieht. Dieses ontologische Modell wurde vor dem Hintergrund zweier mit den Mitteln der Phänomenologie aufgewiesener transphänomenaler Seinssphären entfaltet, einem Sein des Phänomens und einem Sein des Bewusstseins. Die Möglichkeit einer zwar nicht ontologischen, aber doch zumindest logischen Vermittlung dieser beiden kann aber aufgrund deren besonderer ontologischer Struktur nur aus der Perspektive des Für-sich gedacht werden. Damit ist dem Bewusstsein ein besonderer ontologischer Status eingeräumt. Warum dem so ist, lässt sich allerdings nur über die phänomenologische Beschreibung des Bewusstseins explizieren. Die Ontologie Sartres liefert insofern nicht wirklich die theoretische Basis, auf der die menschliche-Realität als handelnde Freiheit verständlich wird. Sie bedarf selbst einer bewusstseinstheoretischen Grundlegung. Wir sind insofern von der Handlungsebene über den Umweg der Ontologie auf Sartres Theorie des Bewusstseins verwiesen. Denn nur von dort her lässt sich seine ontologische Deutung der menschlichen-Realität in ihrem Handlungsvollzug nachvollziehen. Es wird also im Folgenden darum gehen, die Struktur des Bewusstseins nachzuzeichnen, wie sie von Sartre konzipiert wird. Damit begeben wir uns erneut in einen Bereich, den Foucault aus der archäologischen Beobachterperspektive in seinem anthropologischen Viereck umrissen hat, dem Problem des Cogito und des Ungedachten sowie dem der empirischtranszendentalen Reduplizierung. Sartre muss freilich, um eine Phänomenologie des Bewusstseins durchführen zu können, weiterhin die strenge Binnenperspektive einnehmen. Es geht ihm darum, von innen heraus die logischen Strukturen des Bewusstseins zu erschließen.111 Das bedeutet, dass nun das Verhältnis von Mensch und Welt, von Subjekt und Objekt gewissermaßen mit Blick aus dem Fenster eines Bewusstseins untersucht werden soll. Sartre entfaltet die grundlegenden Elemente seiner Theorie des Bewusstseins bruchstückhaft an zahlreichen Stellen von „L’être et le néant“. Diese sollen im Folgenden zusammengetragen werden, um ihre Einheit zu rekonstruieren. Das Bewusstsein hat für Sartre drei grundlegende Dimensionen. Er skizziert sie anhand der drei „Ek-stasen des Für-sich“.112 Die erste ist gewissermaßen ontologisch grundlegend für die Struktur des Bewusstseins, sie ist „[…]

111 Vgl. Danto (1975), a.a.O., S. 77. 112 Vgl. Sartre (1943), a.a.O., S. 531ff.

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der dreidimensionale Entwurf des Für-sich auf ein Sein hin, das es zu sein hat nach dem Modus des Nicht-seins. Es stellt den Riß dar, die Nichtung, die das Für-sich selbst zu sein hat, das Losreißen des Für-sich von allem, was es ist, insofern dieses Losreißen für sein Sein konstitutiv ist.“113 Die zweite Ek-stase ist die Reflexion der ersten. Sie ist „[…] Losreißen von eben diesem Losreißen“.114 Und die dritte beschreibt Sartre als radikale Verlängerung der zweiten: „So befindet sich die reflexive Ek-stase auf dem Weg einer radikaleren Ek-stase: dem Für-Andere-sein.“115 Die drei Dimensionen des Bewusstseins, die sich an diesen drei Ek-stasen des Für-sich ablesen lassen, kennzeichnet Sartre mit den Termini ‚präreflexives Cogito‘, ‚Cogito‘ und ‚Für-Andere-sein‘. Er entwickelt diese drei Bewusstseinsdimensionen zunächst in Auseinandersetzung mit den klassischen Bewusstseinstheorien und den dort immer wieder auftauchenden Aporien der Reflexionsproblematik. Diesen versucht Sartre zu entgehen, indem er das intentionale Bewusstsein auf eine Weise fasst, die es ihm erlaubt, auf die Instanz eines substanziellen Ego verzichten zu können (1). Dies scheint möglich, indem er es über die Existenz eines präreflexiven Cogito absichert (2), das zugleich als Basis für die reflexive Struktur des Cogito dienen soll (3). Letzteres erhält wiederum über sein Für-Andere-sein eine innerweltliche Konkretion (4). Diese vier Stationen der sartreschen Bewusstseinstheorie sollen im Folgenden in ihren Grundzügen nachgezeichnet werden.

(1) Ein nicht-egologisches Bewusstsein Wie sich bereits in der Diskussion um die Transphänomenalität von Phänomen und Bewusstsein gezeigt hat, fasst Sartre Bewusstsein zunächst unter Rückgriff auf Husserl als intentionales Bewusstsein. Bewusstsein ist immer Bewusstsein von etwas, es ist setzendes Bewusstsein. Es ist als Vorstellung von einem ihm transzendenten Objekt immer Objektbewusstsein. Auf der Grundlage dieser Strukturbestimmung hatte Sartre eine ontologische Deutung von Subjekt und Gegenstand versucht und war damit zu den Dimensionen des Für-sich und des An-sich vorgestoßen. Die Erschließung beider war aber letztendlich nur durch die Leistung des Bewusstseins möglich geworden, über das das Nichts aufgetaucht war. Damit ergibt sich nun aber die Notwendigkeit, aus der phänomeno-

113 Ebd., S. 531. 114 Vgl. ebd. 115 Ebd., S. 532.

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logischen Innenperspektive heraus zu klären, was dieses Bewusstsein als Objektbewusstsein ausmacht. Der Bewusstseinsbegriff, wie ihn Sartre noch in der von Husserl beschriebenen Intentionalität vorfindet, führt in dieser Frage allerdings nicht besonders weit. Denn wenn Bewusstsein als Objektbewusstsein im Sinne der Erkenntnis eines Gegenstandes gefasst werden soll, dann stellt sich sogleich das Problem, wie der Subjektpol dieses Bewusstseins gedacht werden könnte. Das hatte sich schon bei der Diskussion des Verhältnisses von Wahrnehmendem und Wahrgenommenem von Berkleys Doktrin des ‚esse est percipi‘ gezeigt. Denn als Bewusstsein eines Gegenstandes muss dieses Bewusstsein ja zugleich wissen, dass es Bewusstsein des Gegenstandes ist.116 Was ist also das Cogito, das den Gegenstand setzt? Wenn es als Denken den Gegenstand außerhalb seiner setzt, wie kann es dann sich selbst als Denken denken? Ist es sich selbst gegenwärtig, indem es sich selbst zum Gegenstand macht, also indem das intentionale Bewusstsein sich auf sich selbst zurückwendet? Diese Form der Reflexion würde bedeuten, dass das Cogito sich zu sich selbst in Distanz bringen müsste, um sich zu objektivieren. Es müsste sich gewissermaßen selbst beobachten können. Das wäre aber streng genommen nur möglich, wenn ein weiteres intentionales Bewusstsein auf den Plan träte, das jenes Bewusstsein zum Gegenstand hat. Damit würde sich aber erneut die Frage nach der Existenz des zweiten Bewusstseins stellen, was in einen infiniten Regress führte. Sartre formuliert damit das grundlegende Problem einer Theorie des Selbstbewusstseins, wie es sich über weite Strecken hinweg in der Tradition der Subjektphilosophie gestellt hatte.117 Im Grunde war es bereits bei Kant aufgetreten. Auch Kant hatte konstatiert, dass der Versuch, ein Ich zu denken, das sich selbst denkt, in einen logischen Zirkel führt. So konstatiert er im Kapitel ‚Von den Paralogismen der reinen Vernunft‘ in der ‚Transzendentalen Dialektik‘: „Das Subjekt der Kategorien kann also dadurch, daß es diese denkt, nicht von sich selbst als einem Objekte der Kategorien einen Begriff bekommen; denn, um diese zu denken, muß es sein reines Selbstbewußtsein, welches doch hat geklärt werden

116 Vgl. ebd., S. 20f. 117 Vgl. hierzu aus sprachanalytischer Sicht: Ernst Tugendhat (1979): Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen, Frankfurt/M., vor allem S. 50ff; vgl. ebenso, aber aus der Perspektive einer philosophischen Hermeneutik und von daher mit dem Interesse, dieses Problem mit subjektphilosophischen Mitteln zu lösen: Manfred Frank (1986): Die Unhintergehbarkeit von Individualität. Reflexionen über Subjekt, Person und Individuum aus Anlaß ihrer ‚postmodernen‘ Toterklärung, Frankfurt/M., S. 26ff; sowie Frank (1983), a.a.O., S. 336ff.

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sollen, zum Grunde legen.“118 Kants Lösung des Problems war bekanntlich die klare Trennung des Transzendentalen vom Empirischen, so dass das transzendentale Subjekt als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis ohne begriffliche Bestimmung als reine Form gedacht werden sollte. Somit ist es per se nicht möglich, es zu vergegenständlichen. Es müsse daher „[…] die einfache und für sich selbst an Inhalt gänzlich leere Vorstellung […]“ von einem Ich vorausgesetzt werden, „[…] von der man nicht einmal sagen kann, daß sie ein Begriff sei, sondern ein bloßes Bewußtsein, das alle Begriffe begleitet. Durch dieses Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denket, wird nun nichts weiter, als ein transzendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt = x, welches nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können; um welches wir uns daher in einem beständigen Zirkel herumdrehen, indem wir uns seiner Vorstellung jederzeit schon bedienen müssen, um irgend etwas von ihm zu urteilen; eine Unbequemlichkeit, die davon nicht zu trennen ist, weil das Bewußtsein an sich nicht sowohl eine Vorstellung ist, die ein besonderes Objekt unterscheidet, sondern eine Form derselben überhaupt, so fern sie Erkenntnis genannt werden soll; denn von der allein kann ich sagen, daß ich irgendetwas denke.“119

Die postkantische Philosophie hatte sich mit dieser Lösung nicht zufriedengegeben. Sie hat versucht, das Problem des Selbstbewusstseins vornehmlich über zwei methodische Wege zu lösen. Die erste Strategie: Sie orientiert sich am Modell einer Subjekt-Objekt-Beziehung, anhand dessen Bewusstsein als ein Vorstellen im Sinne eines Vor-sich-Habens eines Gegenstandes gedacht wird, so dass Selbstbewusstsein notwendig als die Vorstellung des Subjektes von sich selbst als Objekt gedacht werden muss. Die zweite Strategie ist der Rekurs auf die erkenntnistheoretische Voraussetzung, der zufolge alles empirische Wissen auf Wahrnehmung beruhen muss, so dass auch das Wissen über sich nur als inneres Gewahrhaben seiner selbst gedacht werden kann120. Beide Modelle, die in ihrer Form bereits an das erinnern, was Foucault ‚die Doppel des Menschen‘ nennt, verwickeln sich im Zirkel des Selbstbewusstseins, da beide, entweder in

118 Kant (1781/87), a.a.O., B 422 (S. 355). 119 Ebd., B 405 (S. 344). 120 Vgl. hierzu Tugendhat (1979), a.a.O., S. 33f. Tugendhat nennt noch ein drittes Modell, das er das ‚ontologische‘ nennt, das auf Aristoteles zurückgeht und von einer Substanz und deren Zuständen ausgeht. Dieses ist aber für die von Sartre formulierte Kritik der traditionellen Konzeption des Selbstbewusstseins nicht relevant.

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der Form eines veräußerten Gegenstandes oder in der Form eines innerlich wahrgenommenen Gegenstandes, sich selbst zu einer Entität verdinglichen müssen, die zugleich die Voraussetzung der eigenen Existenz ist. Sartre sucht nun einen Ausweg aus den Aporien der Subjektreflexion, indem er sich von beiden Modellen abgrenzt. Weder die Subjekt-Objekt-Dualität könne voraussetzungslos angenommen werden noch ist es aus seiner Sicht sinnvoll, Bewusstsein auf seine Erkenntnisfunktion zu reduzieren.121 Beide basierten auf dem Gedanken der Reflexion, der sich jedoch selbst nicht begründen kann. Deshalb hält es Sartre für notwendig, in einem regressiven Schritt zunächst die Unmittelbarkeit des Bewusstseins zu ergründen. Er geht deshalb von folgender Annahme aus: „Das Bewußtsein ist nicht paarig. Wenn wir den infiniten Regreß vermeiden wollen, muß es unmittelbarer und nicht kognitiver Bezug von sich zu sich sein.“122 Konkret bedeutet dies: Sartre nimmt Abschied von der Vorstellung eines substanziellen Ich als innere Instanz des Bewusstseins. Damit befindet er sich zumindest formal in Einklang mit Kant. Sein Begründungsversuch ist freilich ein anderer. Sartre verlegt das Cogito nicht auf eine transzendentale Ebene, sondern versucht, mit phänomenologischen Mitteln eine ihm zu Grunde liegende Instanz auszumachen, die der kognitiven Reflexion vorausliegt, das präreflexive Cogito. Den ersten Schritt seiner Konzeption einer nicht-egologischen Bewusstseinstheorie hatte Sartre bereits in den 1930er Jahren in „La transcendance de l’ego“ unternommen.123 Darin versuchte er zu zeigen, dass die Vorstellung eines Ich als einheitliche Instanz nicht die Grundlage des Bewusstseins sein kann, sondern vielmehr das vergegenständlichte Produkt der Spontaneität des Bewusstseins ist. Damit ist es, anders als bei Kant, auch keine formale Instanz mehr, sondern es ist, laut Sartre, weder formaler noch materialer Bestandteil eines Bewusstseins. Es ist ein Objekt, das, da Objekt, notwendig außerhalb des Bewusstseins als ein diesem Transzendentes gesetzt wird: „[…] es ist außerhalb, in der Welt, es ist ein Sein der Welt, wie das Ego anderer.“124 Sartre räumt also das Bewusstsein komplett leer, indem er die synthetische Einheit eines Ich auf die Seite der Objekt-

121 Vgl. Sartre (1943), a.a.O., S. 21. 122 Ebd. 123 Vgl. Jean-Paul Sartre (1936/37): Die Transzendenz des Ego. Skizze einer phänomenologischen Beschreibung. In: ders., Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931–1936, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 39-96 (La transcendance de l’ego. Esquisse d’une description phénoménologique. In: Recherche philosophique 6, S. 85-123). 124 Ebd., S. 39 (Hervorhebung i.O.).

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welt verlagert. Das Ich ist damit nicht mehr wie im Subjekt-Objekt-Modell sich selbst Gegenstand und auch kein als Substanz sich im Bewusstsein selbst Zugängliches wie im erkenntnistheoretischen Modell, es ist nun ein Objekt eines Bewusstseins, das diesem in der Reflexion gegeben ist, das aber selbst nicht mehr als Selbstreflexion gedacht werden soll. Als Objekt der Reflexion ist es ein Gegenstand und als solcher befindet es sich auf einer Ebene, die der Psychologie zugänglich ist. Aber diese erfasst nicht das, was das Bewusstsein in seiner Spontaneität ausmacht. Dies ist nur der Phänomenologie möglich, die sich auf diejenige Ebene begibt, die Sartre als die „transzendentale Sphäre“ kennzeichnet.125 In diesem Sinne ist für ihn „[…] das Ego ein durch das reflexive Bewußtsein aufgefaßtes, aber auch konstituiertes Objekt. Es ist ein virtueller Einheitskern, und das Bewußtsein konstituiert es in umgekehrter Richtung zu dem, was der realen Produktion folgt: was realiter primär ist, das sind die Bewußtseine, über die sich die Zustände konstituieren und dann, über dieses, das Ego“.126

Problematisch an dieser Konzeption einer transzendentalen Ebene, die auf eine synthetische Instanz verzichtet, ist freilich, dass dadurch die Vorstellung von einem einheitlichen Bewusstsein überhaupt in Gefahr gerät. Denn es wird nicht so recht klar, wie die Verbindung von einem spontanen Bewusstseinsakt zu einem anderen vollzogen werden könnte, in dem sich ein Bewusstsein als ein und dasselbe weiß.127 In „L’être et le néant“ versucht Sartre dieses Problem dadurch zu umgehen, dass er die zwar kognitiv nicht zugängliche, aber zumindest aus seiner Sicht phänomenologisch erschließbare Instanz des präreflexiven Cogito einführt. Es gibt also ein Ego, das in der Reflexion des Cogito als Objekt konstituierbar ist. Dies ist aber nur auf der Basis eines präreflexiven Cogito möglich. Sartre erschließt sich diese Dimension des Bewusstseins, indem er den Zirkel des intentionalen Bewusstseins auf der Subjektseite unterbricht. Intentionales Bewusstsein ist als thetisches Objektbewusstsein zwar immer Bewusstsein von etwas, es befindet sich dabei aber immer zugleich im Modus eines nicht-thetischen Bewusstseins der unmittelbaren Gegenwart seiner selbst als Bewusstsein. Diese Unmittelbarkeit eines nicht-setzenden Bewusstseins ist laut Sartre die unhintergehbare Voraussetzung für ein Bewusstsein als setzendes Bewusstsein:

125 Vgl. ebd., S. 85. 126 Ebd., S. 74 (Hervorhebungen i.O.). 127 Vgl. hierzu Frank (1986), a.a.O., S. 49f.

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„So hat die Reflexion keinerlei Primat gegenüber dem reflektierten Bewußtsein, dieses wird sich selbst nicht durch jene offenbart. Ganz im Gegenteil, das nicht-reflexive Bewußtsein ermöglicht erst die Reflexion: es gibt ein präreflexives Cogito, das die Bedingung des kartesianischen Cogito ist.“128

Sartre kennzeichnet dieses präreflexive Bewusstsein, indem er den intentionalen Bezug einklammert. Es ist ein ‚conscience (de) soi‘, ein Bewusstsein (von) sich.129

(2) Das präreflexive Cogito Formal hat dieses präreflexive Cogito nun durchaus transzendentalen Charakter, fungiert es doch so, wie es von Sartre zunächst eingeführt wird, einfach als die logisch notwendige Bedingung der Möglichkeit von Objektbewusstsein. Dies kann freilich dem Anliegen einer phänomenologischen Ontologie nicht genügen. Es genügt deshalb nicht, das präreflexive Cogito als formale Struktur vorauszusetzen, es muss dem Bewusstsein auch auf der phänomenalen Ebene in einer bestimmten Weise gegeben sein. Denn nur wenn dies zu zeigen gelingt, kann einsichtig gemacht werden, dass man es „[…] als den einzigen möglichen Existenzmodus für ein Bewußtsein von etwas“ betrachten muss,130 wie Sartre behauptet. Sartre hebt für diesen Zweck zunächst auf basaler Ebene an. Sein Beispiel, anhand dessen er zeigen will, dass jedes objektsetzende Bewusstsein zugleich nicht-setzendes Bewusstsein seiner selbst ist, ist die Tätigkeit des Zählens. Eine Person, die etwas zählt, richtet ihre Aufmerksamkeit voll auf die Objekte, die sie addiert. Sie ist als intentionales Bewusstsein bei den ihr transzendenten Objekten, ohne ihre Aufmerksamkeit zugleich auf sich als Zählende richten zu müssen. Sie zählt. Erst in dem Moment, in dem sie gefragt würde, was sie da tue, würde sie antworten: „Ich zähle.“ Erst dann kommt die Reflexion ins Spiel, in der sie sich selbst zum intentionalen Gegenstand macht. Und, wie Sartre betont, in diesem Moment bezieht sich die Antwort auch auf alle Bewusstseinsakte davor, die in der unmittelbaren Vergangenheit unreflektiert blieben.131 Was ist mit dem Beispiel gezeigt? Zunächst nur so viel: Zählen erfordert das Bewusstsein zu zäh-

128 Sartre (1943), a.a.O., S. 22. 129 Vgl. ebd., S. 23. 130 Vgl. ebd. (Hervorhebung i.O.). 131 Vgl. ebd., S. 22.

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len. Damit sind wir noch nicht sehr viel weiter, verweist es doch nur auf die logische Notwendigkeit eines intentionalen Bewusstseins, Bewusstsein seiner selbst zu sein. Sartre spricht selbst von einem Zirkel, der jedoch die „Natur des Bewußtseins“ ausmache,132 den er jedoch nun nach zwei Seiten hin öffnet. Als intentionales Bewusstsein richtet es sich, und dies ist freilich wieder nur der erneute Rekurs auf Husserls Bewusstseinsbegriff, auf ein Objekt, das als realer Gegenstand in drei Dimensionen räumlich existieren muss, es basiert aber zugleich auf einer Intention. Und Letztere muss nun dem Phänomenologen zugänglich sein. Intentionen können, wie bereits weiter oben gesehen, nicht an einen Willen gebunden werden, da dieser ja selbst erst innerhalb der komplexen Struktur der Handlung reflexiv konstituiert wird. Sie müssen also in anderer Form zum Vorschein kommen. Sartre erschließt sie über Gefühlsregungen und Affekte, wie zum Beispiel Lust. Affekte sind einem Subjekt unmittelbar gegeben und können logisch nicht vom Bewusstsein von ihnen unterschieden werden. Das Bewusstsein ist insofern konstitutiv für die Existenz eines Affekts, wie zum Beispiel das Empfinden von Lust – aber nicht in dem Sinne, dass sie existiert, indem sie dem Bewusstsein als Gegenstand gegenübertritt, sondern indem sie als Ereignis unmittelbar im Modus des Bewusstseins erscheint und auch nur in diesem Modus sich ereignen kann. Oder, wie Sartre formuliert: „Die Lust ist das Sein des Bewußtseins (von) sich, und das Bewußtsein (von) sich ist das Seinsgesetz der Lust.“133 Damit ist für Sartre die Existenz des Bewusstseins phänomenal, wenn auch zunächst rudimentär aufgewiesen. Es ist ein Sein, das weder über die Sackgasse der Reflexion begründet werden muss noch ist es eine rein formale Bedingung, sondern tritt unmittelbar als Affekte zu Tage. Es ist somit in seiner faktischen Existenz Bedingung der Möglichkeit von Affekten. Nur ihre Existenz macht es möglich, dass es qualitativ bestimmbare Affekte wie Lust, Ekel u.Ä. gibt: „Damit es ein Wesen der Lust gibt, muß es zunächst das Faktum eines Bewußtseins (von) dieser Lust geben.“134 Es gibt also nun tatsächlich auf der Ebene von Emotionen Entitäten, die auf die Existenz eines präreflexiven Cogito hinweisen. Damit ist es nicht nur eine logische Notwendigkeit, sondern diese verweist auf eine reale Instanz innerhalb des menschlichen Lebensvollzugs. Aus handlungstheoretischer Sicht wäre es nun prinzipiell möglich, sich damit zu begnügen, dass es neben äußeren Wahrnehmungen auch innere Gemütszustände gibt, die sich phänomenal nicht vergleichen lassen und von daher begrifflich unterschiedlich zu

132 Vgl. ebd,. S. 23. 133 Ebd., S. 24. 134 Ebd., S. 25 (Hervorhebung i.O.).

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fassen sind.135 Sartre kann dies allerdings nicht genügen, da er eine ontologische Grundlegung des Bewusstseins im Sinn hat. Er ist daher gefordert, auch die innere Struktur des präreflexiven Cogito aufzuzeigen. Es geht ihm nicht nur um das ‚Dass’, er muss auch das ‚Was’ explizieren. Methodisch bedeutet dies nun analog zu der bereits bekannten Einsicht, dass sich das Sein des Phänomens nur über das Seinsphänomen erschließen lässt, dass auch auf der Bewusstseinsebene das unmittelbar Präreflexive sich in seiner inneren Struktur nur über den Umweg des in der Reflexion Gegebenen erschließen lässt. Sartre verfolgt diesen Weg allerdings nicht direkt, sondern konzentriert sich in „L’être et le néant“ nach der Analyse der Lust, durch die eine erste Ahnung vom Sein des präreflexiven Cogito aufgetaucht war, zunächst auf die Entfaltung der bereits bekannten ontologischen Sphären des An-sich und des Für-sich. So verquicken sich die Ergebnisse einer ontologischen Deutung der Struktur des Für-sich im Weiteren mit der phänomenologischen Beschreibung ihrer bewusstseinstheoretischen Voraussetzungen. Dies zeigt sich deutlich an den Interpretationen der Angst und der Unaufrichtigkeit, die letztendlich erste ontologische Erklärungen der Struktur des präreflexiven Cogito liefern sollen. Von Sartres Selbstverständnis her dienen diese Untersuchungen, die sich auf die Möglichkeitsbedingungen bestimmter Verhaltensweisen beziehen, nur einem Ziel: „[…], uns in die Lage zu versetzen, das Cogito nach seinem Sein zu befragen […]“.136 Es soll daher im Folgenden ein besonderes Augenmerk darauf gerichtet werden, in welcher Hinsicht der phänomenologischen Beschreibung ontologische Deutungen beigemischt werden. So lassen sich möglicherweise erste Rückschlüsse daraufhin ziehen, welche ontologischen Setzungen mit Sartes Bestimmung des präreflexiven Cogito einhergehen. Sartre beschreibt die Angst u.a. anhand des dramatischen Beispiels des Schwindels, der beim Gang entlang eines steilen Abgrundes ausgelöst wird, und unterscheidet sie streng vom Phänomen der Furcht.137 Die Furcht wird durch die Umstände der Situation ausgelöst: Der Pfad ist schmal, es fehlt ein Geländer, die Erde bröckelt, es besteht damit die Gefahr, auszugleiten und zu stürzen. Die Re-

135 Vgl. hierzu etwa Tugendhat (1979), a.a.O., der das, was Sartre hier beschreibt, in Anlehnung an Wittgensteins Empfindungsausdrücke als die Artikulation von φZuständen bezeichnet. Tugendhat versucht aus dieser Perspektive mit sprachanalytischen Mitteln die Struktur des Sich-zu-sich-Verhaltens zu beschreiben, die es ermöglichen soll, eine intersubjektive Handlungstheorie zu entwickeln, ohne auf bewusstseinstheoretische Annahmen zurückgreifen zu müssen. 136 Vgl. Sartre (1943), a.a.O., S. 164. 137 Vgl. ebd., S. 93.

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aktion auf diese Situation ist nun ein reflexiver Akt: Man ist vorsichtig, versucht nichts falsch zu machen, keine unbedachten Schritte etc. Dies genau charakterisiert die Angst. Sie ist das reflexive Ergreifen des Selbst,138 indem es seine Möglichkeiten erfasst, um die Situation zu meistern. Sie ist also eine Rückwendung des Subjekts auf sich selbst. In der Angst reißt sich der Mensch von einer Situation los, indem er sie überschreitet, und das heißt, wie wir dies aus der Handlungsanalyse kennen, indem er sie durch einen gesetzten Zweck auf die Zukunft hin negiert. „Das Bewußtsein, seine eigene Zukunft nach dem Modus des Nichts-seins zu sein, ist genau das, was wir Angst nennen“, so Sartre.139 In der Angst, und hier verlässt Sartre die rein phänomenologische Beschreibung, verweist die Entwurfsstruktur der Handlung in dramatischer Weise auf das Sein der Freiheit. Denn im Schaudern vor dem Abgrund und im Entwurf des Verhaltens, das aus der bedrohlichen Situation herausführen soll, dessen Erfolg aber nicht notwendig ist, sondern sich als Forderung an das Subjekt richtet, das dieser nachkommt oder nicht, offenbart sich unmittelbar, „[…] daß das Seinsbewußtsein das Sein des Bewußtseins ist“.140 Es ist also dieses Seinsbewusstsein der Freiheit, das auf die besondere Seinsweise des Bewusstseins verweist. Denn in der Angst wird das Subjekt sich seiner Verantwortung gegenwärtig, die es in jedem Augenblick von Neuem frei übernehmen muss. Es ist offensichtlich, dass Sartre hier die phänomenologische Beschreibung durch eine ontologische Interpretation anreichert. Denn nur so ist es ihm möglich, der Angst ihren unter theoriestrategischen Gesichtspunkten erforderlichen Sonderstatus zuzuweisen. Zunächst ist nicht unbedingt einsichtig, warum es ausgerechnet die Angst ist, an der sich das Sein der Freiheit als Seinsweise des Bewusstseins auftut. Warum könnte nicht auch die oben beschriebene Lust, als Bewusstsein von Getriebensein, von Genuss und der gleichzeitig damit verbundenen Möglichkeit der entschlossenen Distanzierung davon, als Indiz für die Existenz der Freiheit gelesen werden? Dass sich an der Angst nicht nur, wie anhand der Lust, ein nicht-setzendes Bewusstsein (von) aufweisen lassen soll, sondern auch das Bewusstsein der Freiheit selbst, lässt sich nur dadurch erklären, dass Sartre der Angst einen existenziellen Status zuschreibt,141 der nicht mehr allein phänomenologisch erschlossen werden kann. Über die Angst tritt – offenbar im Gegensatz zu anderen Affekten – das Nichts (néant), auf das das Subjekt zurückgeworfen ist, offen zu Tage. Erst vor dem Hintergrund dieser Einsicht lässt

138 Vgl. ebd., S. 92. 139 Ebd., S. 96. 140 Vgl. ebd., S. 95. 141 Vgl. Danto (1975), a.a.O., S. 82ff.

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sich der ontologische Status anderer Affekte, wie sie einem Bewusstsein gegeben sind, festlegen. Sartre räumt dies im Grunde auch ein, indem er konstatiert, dass die Grundlage der Freiheit sich aus der Binnenperspektive des Bewusstseins nicht erfassen lässt, da phänomenologisch nur das ‚nichts‘ (rien)142 in der minimalen Distanz zu sich, die im Reflexionsakt vollzogen wird, aufscheint. „Und wenn man fragt,“ so Sartre, „was dieses nichts ist, das die Freiheit begründet, antworten wir, daß man es nicht beschreiben kann, weil es nicht ist, daß man aber wenigstens seinen Sinn angeben kann, insofern dieses nichts durch das menschliche Sein in seinen Bezügen zu ihm selbst geseint wird [est été].“143 Sein Sinn erschließt sich, wie die ontologische Deutung der Struktur des Für-sich ergeben hatte, erst aus dessen besonderer Eigenschaft, das Sein zu sein, das das An-sich als Welt nichtet. Damit sind wir streng genommen sogar wieder auf den Entwurfscharakter menschlicher Handlungen zurückverwiesen, deren logische Voraussetzung die Freiheit war, die doch ontologisch gegründet werden soll. Der eigene Anspruch, über das Seinsphänomen das Sein des Phänomens ausmachen zu können, kommt somit an seine Grenzen. Es ist im Weiteren eine Deutung der Phänomene, die mit einer ontologischen Konstruktion im Rücken operiert. Darüber müssen wir uns klar werden, wenn wir die nächsten regressiven Schritte in Richtung präreflexivem Cogito verfolgen. In der Angst manifestiert sich also das Sein der Freiheit, durch die, wie gesehen, das ‚nichts‘ in die Welt kommt. Durch die Angst gewinnt der Mensch nicht nur Bewusstsein von seiner Freiheit, sondern sie ist, laut Sartre, der „Seinsmodus der Freiheit als Seinsbewußtsein“.144 Sartre stellt hier nun die Weichen für den unauflöslichen Zusammenhang von Motiv, Antrieb und Zweck, wie er sich am Handlungsvollzug gezeigt hatte, und versucht damit zugleich von der reflexiven Ebene auf die Struktur der präreflexiven zu schließen. In der Angst entfaltet sich die reflexive Struktur des Bewusstseins. Die Angst ist als Motiv einer Handlung dem Bewusstsein transzendent gegeben. Dies ist die Form der Reflexion. Das Bewusstsein ist somit Bewusstsein von sich als Angst. Wie sich aus der phäno-

142 Die Terminologie Sartres differenziert zwischen Nichts (néant) und nichts (rien), die allerdings nicht immer konsequent durchgehalten ist. Im Deutschen lässt sich diese Unterscheidung nur durch Groß- bzw. Kleinschreibung nachbilden. ‚Le néant‘ meint die Struktur des Bewusstseins und ist eine ontologische Kategorie, ‚le rien‘ hingegen referiert auf ein unbewusstes Nichts, das jedoch über die phänomenologischen Analyse des Bewusstsein erschlossen werden kann. Vgl. hierzu Sartre (1943), a.a.O., S. 90 sowie darin das Glossar, S. 1119. 143 Ebd., S. 99. 144 Vgl. ebd., S. 91.

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menologischen Beschreibung des Bewusstseins ergeben hatte, fasst Sartre dieses aber komplett inhaltsleer, so dass selbst das Ego nur in der Transzendenz erscheint. Die Angst ist somit, obwohl sie zunächst unmittelbar als Seinsbewusstsein der Freiheit erscheint, als Motiv der Handlung, in diesem Sinne übrigens nicht anders als die Lust, dem Bewusstsein ebenso transzendent. Das Motiv wird unweigerlich vom Bewusstsein getrennt, obwohl sich an ihm doch dessen Sein manifestiert. Sartre nennt nun diesen minimalen Abstand, der sich in der Immanenz des Bewusstseins notwendig als Transzendenz auftut, jenes besagte ‚nichts‘ (rien). Es kennzeichnet die Freiheit, als „Transzendenz in der Immanenz“ des Bewusstseins wird es aber zugleich wieder „[ge]nichtet“.145 Obwohl unbeschreibbar, lassen sich die Voraussetzungen dieser unhintergehbaren Nichtung des nichts (rien), das Nichts (néant), laut Sartre, immerhin ergründen: „Aber man sieht, daß dieses Nichts [néant], das die Bedingung jeder transzendenten Negation ist, nur von zwei anderen primären Nichtungen her aufgeklärt werden kann: 1. das Bewußtsein ist nicht sein eigenes Motiv, insofern es leer von jedem Inhalt ist. Das verweist auf eine nichtende Struktur des präreflexiven Cogito; 2. das Bewußtsein ist gegenüber seiner Vergangenheit und seiner Zukunft wie gegenüber einem Selbst, das es nach dem Modus des Nicht-seins ist. Das verweist uns auf eine nichtende Struktur der Zeitlichkeit.“146

Die Analyse der Angst ergibt also einen ersten Hinweis auf die Seinsweise des präreflexiven Cogito. Es hat offenbar die Struktur einer fundamentalen Nichtung. Erschlossen wurde sie über die phänomenologische Auslegung der Reflexionsfigur, deren Grundlage aber offenbar die ontologische Interpretation der menschlichen-Realität als Freiheit war. Diese fundamentale Nichtungsstruktur dient als Leitfaden, anhand dessen Sartre das präreflexive Cogito weiter zu bestimmen sucht. Der weitere Verlauf der regressiven Analyse führt über die Analyse der Unaufrichtigkeit direkt zum Kern, der logischen Struktur des präreflexiven Cogito, und von dort zu dessen weiterer Konkretisierung in der Beschreibung der Person als eines Sich-zu-sich-Verhaltens vor dem Horizont der Zeitlichkeit. Die Angst versteht Sartre, wie gesehen, als ein reflexives Erfassen der Freiheit. Das bedeutet, dass ich in der existenziellen Angst einerseits unmittelbar erfahre, dass alle Barrieren und Geländer zerbrechen, dass es keinen Wert gibt, bei dem ich Zuflucht finde, außer mir selbst, denn „[…] ich entscheide darüber, al-

145 Vgl. ebd., S. 99f. 146 Ebd., S. 100 (Hervorhebungen i.O.).

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lein, unlegitimierbar und ohne Entschuldigung“.147 Andererseits wird mir dies im Modus der Angst aber auf der reflexiven Ebene bewusst. Sie vollzieht als Transzendenzbegriff eine Vermittlung zwischen unmittelbarer Bewusstheit und einer Negation der Situation. Sartre erläutert anhand dieser Reflexionsstruktur nun den nächsten Schritt zur Explikation des präreflexiven Cogito. Als Reflexion ist die Angst nämlich reflexives Bewusstsein, das das reflektierte Bewusstsein betrachtet. Insofern wird es möglich, verschiedene Verhaltensweisen gegenüber der Angst anzunehmen. Diese Verhaltensweisen sind laut Sartre Weisen der Flucht.148 Damit ist nicht die naheliegende Flucht aus einer bedrohlichen Situation gemeint, sondern die existenzielle Flucht vor der Angst, und dies bedeutet freilich nichts anderes als die Flucht vor der Freiheit. Das beinhaltet allerdings eine widersprüchliche Struktur, denn der Mensch flieht damit vor seinem Sein, indem er negiert, was er zugleich ist. Für das Bewusstsein besagt dies, dass es die Flucht vor etwas antritt, von dem man zugleich weiß, dass man ihm prinzipiell nicht entkommen kann. Dies zeigt sich für Sartre an den verschiedenen Formen der Unaufrichtigkeit des Menschen.149 Auf Sartres an dieser Stelle folgenden ausführlichen Beschreibungen der unaufrichtigen Verhaltensweisen150 kann für die hier verfolgte Fragestellung verzichtet werden.151 Festzuhalten ist nur, dass die Unaufrichtigkeit als fundamentale menschliche Verhaltensweise aufgewiesen wird, die sich als wissentlicher Selbstbetrug des menschlichen Subjektes verstehen lässt. Sie ist gewissermaßen ein Oszillieren der menschlichen-Realität zwischen Formen der Selbstverdinglichung und dem damit zugleich notwendig verbundenen Scheitern, weil unter der Hand immer die Freiheit durchscheint, die Kraft der Negation, die jeden Versuch, die eigene Existenz mit einer Essenz zu versehen, von vornherein bedroht. Am Fluchtcharakter der Unaufrichtigkeit zeigt sich phänomenal, was ontologisch in der Struktur des Für-sich als dasjenige Sein, das ist, was es nicht ist, und nicht das ist, was es ist, erläutert wurde. Sartre beschreibt die Unaufrichtigkeit etwa an Praktiken, die im Selbstverhältnis wie in sozialen Beziehungen zwischen

147 Vgl. ebd., S. 108. 148 Vgl. ebd., S. 109. 149 Vgl. ebd., S. 115f. 150 Vgl. ebd., S. 132ff. 151 Ausführlicher auseinandergesetzt hat sich mit dieser Thematik u.a. Löw-Beer, insbesondere was die Konsequenzen aus Sartres Verständnis der Willensfreiheit angeht. Vgl. Martin Löw-Beer (1988): Ist die Leugnung von Willensfreiheit eine Selbsttäuschung? Zum Begriff der ‚mauvaise foi‘. In: König (Hg.), Sartre. Ein Kongreß, a.a.O., S. 55-72.

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der Differenz von Faktizität und Transzendenz, von Für-sich-sein und FürAndere-sein, zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft pendeln, ohne sie zugleich als widersprüchliche aber konstitutive Momente der menschlichenRealität akzeptieren zu wollen. Dies macht aber gerade das Sein der Freiheit aus. Entscheidend an Sartres Charakterisierung der Unaufrichtigkeit ist, dass er dieses widersprüchliche Verhalten als Indiz für die innere Logik des präreflexiven Cogito liest: „Die Möglichkeitsbedingung der Unaufrichtigkeit ist“, so Sartre, „daß die menschliche-Realität in ihrem unmittelbarsten Sein, in der Innenstruktur des präreflexiven Cogito das ist, was sie nicht ist, und nicht das ist, was sie ist.“152 Damit sind wir bei der Kernstruktur des Bewusstseins angelangt. Es ist hilfreich, sich noch einmal kurz zu vergegenwärtigen, was bislang über die logische Struktur des Bewusstseins zu erfahren war. Bewusstsein ist immer Bewusstsein von etwas. Um sich seiner selbst bewusst zu sein, bedarf es aber eines nichtsetzenden Bewusstseins (von). Dessen Existenz ist somit nicht nur die Voraussetzung des intentionalen Bewusstseins, sondern zugleich Voraussetzung der Reflexion, in der es sich als virtuelles Objekt seiner selbst, etwa in der Form der Angst, erfasst. Zudem wissen wir bisher, dass dieses allem zu Grunde liegende präreflexive Cogito durch eine innere Negation gekennzeichnet sein soll. Sartre versucht nun weiter zu ergründen, wie dieses präreflexive Cogito beschaffen sein müsste, das ja, wie wir wissen, nicht den Aporien der Reflexion, in die sich die traditionellen Selbstbewusstseinstheorien verstrickten, verfallen soll. Sartres Argumentationsgang ist nun folgender: Wenn das präreflexive Cogito die Bedingung der Reflexivität sein soll, dann darf dieses Cogito kein Objekt sein. Sonst würde es sich ja sofort im Zirkel des traditionellen Selbstbewusstseinsbegriffs verfangen. Es kann aber auch nicht pure Identität mit sich sein, denn dann wäre es kein Bewusstsein, sondern nacktes An-sich. Es muss sich also in irgendeiner Form selbst gegenwärtig sein, ohne Objekt zu sein. Daraus zieht Sartre nun den kühnen und für seine gesamte Bewusstseintheorie entscheidenden Schluss: „Dieses Cogito setzt freilich kein Objekt, es bleibt innerhalb des Bewusstseins. Aber“ – und das ist nun entscheidend – „es ist dem reflexiven Cogito nichtsdestoweniger homolog, insofern es als die erste Notwendigkeit für das unreflektierte Bewußtsein erscheint, daß dieses von ihm selbst gesehen wird; es enthält also ursprünglich diese aufhebende Eigenschaft, für einen Zeugen zu existieren, obwohl dieser Zeuge, für den das Bewußtsein existiert, es selbst ist.“153

152 Sartre (1943), a.a.O., S. 153. 153 Ebd., S. 166.

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Sartre versucht – und an dieser Stelle entfernt er sich völlig von der phänomenologischen Beschreibung – der Reflexionsproblematik der klassischen Selbstbewusstseinstheorien einfach dadurch zu entgehen, dass er das Gegenstandsproblem ausklammert und die Reflexionsfigur zugleich in die Immanenz eines als leer beschriebenen reinen Bewusstseins verlagert. Das Bewusstsein betrachtet sich, gewissermaßen, ohne sich Objekt zu sein. Es bildet zu sich einen minimalen Abstand, indem es quasi das Nichts zwischen sich und sich schiebt, ohne sich zu vergegenständlichen. Es ist demzufolge, laut Sartre, entgegen der Vorstellung der traditionellen Philosophie seit Hegel nicht eine Einheit, die eine Dualität enthält, es ist nicht als Synthese zu denken, das die abstrakten Momente von These und Antithese in sich aufhebt, sondern es sei „[…] eine Dualität, die Einheit ist, eine Spiegelung, die ihr eigenes Reflektiertes ist“.154 Das präreflexive Cogito muss als ein irgendwie geartetes ‚Mit-sich-nicht-identisches-Identisches‘ gedacht werden. Es drängt sich damit aber die Frage auf, inwieweit damit wirklich etwas gewonnen ist. Denn im Grunde ist das präreflexive Cogito damit lediglich eine Form der Wiederholung der Reflexionsstruktur.155 Der einzige Unterschied

154 Vgl. ebd., S. 168. Sartre hat dieses konstitutive Verhältnis von Einheit und Dualität des Bewusstseins 1947 in einem Vortrag vor der „Société Française de Philosophie“ nochmals deutlich formuliert: „[…] die Seinsdimension jeder Tatsache des Bewußtseins ist Infragestellen. Anwesenheit bei sich ist gleichzeitig in bestimmtem Ausmaß Trennung von sich. Aber zur gleichen Zeit, in der diese Trennung von sich, wie die Einheit des Bewußtseins, absolut notwendig ist, weil wir nicht auf der Ebene des Subjekts und des Objekts sind, weil wir die Sache im Unmittelbaren erfassen, zur gleichen Zeit ist diese Trennung Einheit. Anders gesagt, das Subjekt kann nicht es selbst sein. Es ist für sich selbst. Es kann auch nicht nicht es selbst sein“; vgl. JeanPaul Sartre (1948): Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis. In: ders., Der Existentialismus ist ein Humanismus und andere philosophische Essays, 1943-1948. Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Philosophische Schriften 4, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 295 (Conscience de soi et connaissance de soi. In: Bulletin de la Société Française de Philosophie 42, S. 49-91). 155 Fretz hat darauf aufmerksam gemacht, dass Sartre einen zweideutigen Gebrauch von dem Terminus ‚reflexiv‘ macht. Er zeigt am Beispiel der Angst sowie an Sartres Konzeption des Selbst, dass es ihm dadurch gelingt, innerhalb der Form des Bewusstseins (von) zwischen dem nicht-thetischen Bewusstsein eines thetischen Bewusstseins und dem nicht-thetischen Bewusstsein eines nicht-thetischen Bewusstseins zu wechseln. Vgl. hierzu: Leo Fretz (1979): Le Concept d’individualité. In: Obliques 18/19, S. 221-234. Das dürfte ein Grund dafür sein, warum Sartre glaubt, von der reflexiven auf die präreflexive Ebene schließen zu können.

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besteht darin, dass Sartre meint, deren logische Probleme vernachlässigen zu können, weil sie nicht mehr auf der phänomenalen Ebene auftauchen, sondern in einer spekulativ konstruierten Immanenz mit transzendentalem Charakter. Warum er meint, dies tun zu können, erklärt sich allein durch die zuvor eingeführten ontologischen Bestimmungen des Für-sich. Denn mit phänomenologischen Mitteln lässt sich die reflexive Ebene nicht wirklich überschreiten, wie Sartre es selbst am Phänomen des Glaubens zeigt: „Bewußtsein (von) Glaube und Glaube sind also ein und dasselbe Sein, dessen Charakteristikum die absolute Immanenz ist. Sobald man aber dieses Sein erfassen will, entgleitet es zwischen den Fingern, und wir finden uns einer Andeutung von Dualität gegenüber, einem Spiel von Spiegelungen, denn das Bewußtsein ist Spiegelung; aber gerade als Spiegelung ist es das Reflektierende, und wenn wir es als reflektierend zu erfassen versuchen, entschwindet es, und wir fallen auf die Spiegelung zurück.“156

Wie anders wollte man das Reflexionsproblem der Selbstbewusstseinstheorien beschreiben? Es kann also aus Sartres Sicht nur die ontologische Deutung des Bewusstseins einen Ausweg weisen. Als Anwesenheit bei sich schiebt es ja das Nichts ins Sein, diesen „nicht spürbaren Riß“,157 durch den sich das Sich im Sein konstituiert. Genau das macht das Bewusstsein aus. Denn dieses Seinsgesetz des Fürsich ist die „ontologische Grundlage des Bewußtseins“.158 So dient die anfangs aus der Frage phänomenologisch gewonnene Negativität, nachdem sie in der Struktur des Für-sich ontologisiert wurde, nun zur Charakterisierung des präreflexiven Cogito. Es beinhaltet diese „Null-Distanz“, die erst vor dem Hintergrund erschlossen werden kann, dass das Für-sich als ein Sein zu verstehen ist, „[…] das sich selbst dazu bestimmt zu existieren, insofern es nicht mit sich selbst koinzidieren kann“.159 Die ontologische Kennzeichnung des Für-sich dient der Analyse des Bewusstseins als Leitfaden, mit dessen Hilfe sich erst das Nichts als konstitutiver Bestandteil des sich in sich selbst spiegelnden Cogito aufgewiesen werden kann. „Von daher versteht man“, glaubt Sartre, „daß wir, als wir ohne Leitfaden dieses präreflexive Cogito befragten, das Nichts nirgendwo gefunden haben.“160 So erklärt sich die fundamentale Struktur des Bewusstseins letzt-

156 Sartre (1943), a.a.O., S. 167. 157 Vgl. ebd., S. 170. 158 Vgl. ebd., S. 169. 159 Vgl. ebd., S. 171. 160 Ebd. (Hervorhebung i.O.).

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lich aus dem Nichts, das dieses „Loch im Sein [ist/M.R.], dieser Sturz des Ansich zum Sich, wodurch sich das Für-sich konstituiert.“161 So wie es aussieht, funktioniert Sartres Bewusstseinstheorie also nur unter der Voraussetzung ontologischer Zusatzannahmen einigermaßen widerspruchsfrei. Lässt man die sich andeutenden konzeptionellen Schwierigkeiten beiseite, so tut sich vor diesem Hintergrund zumindest die Möglichkeit auf, die skizzierte Struktur des Bewusstseins als präreflexives Freiheitsbewusstsein der menschlichen-Realität weiter zu konkretisieren. Dies hat für Sartre Vorrang, geht es ihm schließlich nicht darum, einen abstrakten Bewusstseinsbegriff zu skizzieren, sondern dessen Seinsweise in der konkreten Existenz des Einzelnen zu bestimmen. Und das bedeutet freilich nichts anderes, als den zunächst transzendental gewonnenen Begriff des präreflexiven Cogito in das Sein einzuschreiben. Wir finden hier erneut die in Foucaults anthropologischem Viereck markierte Vermengung des Empirischen mit dem Transzendentalen. Doch sehen wir weiter. Die nächste Stufe des regressiven Gangs zum Sein des Bewusstseins führt Sartre zur Person, die sich über das Selbst definiert. Das Selbst stellt laut Sartre „[…] einen fortgeschritteneren Nichtungsgrad dar als die reine Anwesenheit des vorreflexiven Cogito bei sich“.162 Es verkörpert gewissermaßen den Überstieg aus der reinen Immanenz des Bewusstseins zur Welt, indem es nicht mehr reine Anwesenheit bei sich als Spiegelung beim Spiegelnden, sondern „abwesende Anwesenheit“163 ist. Gemeint ist damit die erste rudimentäre Entwurfstruktur, die sich noch auf der nicht-thetischen Ebene des Bewusstseins vollzieht, indem offenbar aus der präreflexiven Spaltung des Bewusstseins eine zweite Negation auf ein mögliches Sein eines Selbst hin anzeigt. Beide Negationen bilden die notwendige Voraussetzung für den freien Bezug eines Bewusstseins zu sich als Person.164 Sartre will mit dieser etwas schwierigen Konstruktion darauf hinaus, dass die Person nicht als Ego zu verstehen ist, denn dieses stellt bekanntlich ein dem Bewusstsein transzendentes Objekt dar und verkörpert die pure Äußerlichkeit. Die Person ist als Selbstbezug gemeint, die im Sich-zu-sich Möglichkeit und Zeitlichkeit für sich umreißt. Es ist damit bereits Deutung von sich und insofern die notwendige Voraussetzung für die Deutung von Welt. An der Selbstheit entfaltet Sartre erste Momente des Bewusstseins als In-der-Welt-sein.

161 Vgl. ebd., S. 172. 162 Vgl. ebd., S. 213. 163 Vgl. ebd. (Hervorhebung i.O.). 164 Vgl. ebd.

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(3) Die reflexive Struktur des Cogito Mit der Beschreibung der primären Elemente des Selbstverhältnisses und dem Auftauchen der Zeitlichkeit sind wir bereits an die Schwelle der Reflexion herangerückt. Der lange Weg, der für die ontologische Grundlegung der Struktur des Für-sich im präreflexiven Cogito benötigt wurde, hatte für Sartre ja den Zweck, den Aporien des Selbstbewusstseins zu entgehen. Das Resultat ist streng genommen eine Verschiebung des Problems, indem die Reflexionsbewegung auf eine präreflexive Ebene verlagert und dort in ihrer Widersprüchlichkeit ontologisiert wird. Das präreflexive Cogito dient als Fundament, auf dem nun die Notwendigkeit der Aporien auf der Reflexionsebene transparent werden soll, indem diese eine ontologische Funktion erhalten. Durch die Rückverlagerung dieser Widersprüchlichkeit auf die präreflexive Ebene verkompliziert sich allerdings zunächst die Beschreibung der Reflexion selbst. Denn die im Präreflexiven verortete aporetische Struktur eines ‚Mit-sichnicht-identischen-Identischen‘ muss nun in Reflexion gleich auf zwei Seiten auftauchen. Es muss sich also dem ‚Mit-sich-nicht-identischen-Identischen‘ sein ‚Mit-sich-nicht-identisches-Identisches‘ als Gegenstand begegnen, in dem es sich wiedererkennt, obwohl es nicht mit ihm identisch ist. Sartre erläutert den logischen Unterschied der Reflexion zum Präreflexiven, indem er diesen komplexen Sachverhalt folgendermaßen umschreibt: „Aber im Fall der Reflexion verhält es sich etwas anders, da das reflektierte ‚SpiegelungSpiegelndes‘ für ein reflexives ‚Spiegelung-Spiegelndes‘ existiert. Anders gesagt, das Reflektierte ist für das Reflexive Erscheinung, ohne daß es deshalb aufhörte, Zeuge (von) sich zu sein, und das Reflexive ist Zeuge des Reflektierten, ohne daß es deshalb aufhörte, sich selbst Erscheinung zu sein.“165

Was auf den ersten Blick wie eine logische Spielerei aussehen mag, bekommt seine Relevanz vor dem Hintergrund, dass für Sartre mit dem Eintritt in die Reflexion bereits die ersten rudimentären Momente eines Für-sich-seins als In-derWelt-sein verbunden sind. Dies hatte sich bereits beim Selbst als Person gezeigt. Reflexion bedeutet, sich zum Gegenstand des Denkens zu machen, sich als nicht-setzendes Bewusstsein zugleich als von sich gesetztes Bewusstsein selbstständig außerhalb seiner selbst zu denken.166 Sartre bezeichnet die Reflexion als

165 Ebd., S. 291 (Hervorhebungen i.O.). 166 Vgl. ebd.

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einen neuen Seinsmodus des Für-sich.167 Er besteht darin, dass der Riss im Sein, der bereits auf der präreflexiven Ebene als Nullabstand, als Nichts, die ontologische Zerrissenheit des Für-sich markierte, nun in der reflexiven Aufspaltung als logische Differenz zu Tage tritt. In der Reflexion konkretisiert sich daher die ontologische Struktur des Für-sich: „Die Reflexion ist ein Sein, […], das sein eigenes Nichts zu sein hat; […].“168 Der neue Seinsmodus, der dieses Sein, das sein eigenes Nichts zu sein hat, im Gegensatz zur präreflexiven Ebene kennzeichnet, beinhaltet, dass das Fürsich nun nicht mehr nur Anwesenheit bei sich ist, sondern zugleich Anwesenheit beim Sein. Es markiert damit in mehrfacher Hinsicht einen Abstand zu sich: räumlich zu einem virtuellen Außerhalb, in dem es sich gegenständlich setzt, und zugleich zeitlich, indem es sich in „die drei zeitlichen Ek-stasen“ differenziert: „Es ist außerhalb seiner selbst, und in seinem Innersten ist dieses Für-sich-sein ek-statisch, da es sein Sein woanders suchen muß, im Spiegelnden, wenn es sich zur Spiegelung macht, in der Spiegelung, wenn es sich als Spiegelndes setzt.“169 Mit der Reflexion ist also der Selbstbezug des Für-sich gegeben. Da in diesem aber eine zeitliche und räumliche Differenz eingetragen ist, ist die Reflexionsbewegung des Für-sich notwendig mit einem Scheitern verbunden. Denn es ist der vergebliche Versuch des Für-sich, sich als etwas zu fixieren, sich zu einem An-sich zu machen, das ihm immer zugleich entgehen muss, da es dieses eben nicht ist. Damit sind nun im Grunde die Aporien des Selbstbewusstseins als ontologisch begründetes Scheitern gefasst. Der Grund für dieses Scheitern liegt im präreflexiven Cogito als ontologische Voraussetzung der Reflexion. Die Reflexion ist somit der vergebliche Versuch, diese instabile Struktur des ‚Mit-sichnicht-identischen-Identischen‘ als Totalität zusammenzufassen und sie zugleich sein zu wollen. „Es geht im Grunde darum,“ so Sartre, „das Sein zu übersteigen, das vor sich flieht, indem es das, was es ist, nach dem Modus, es nicht zu sein, ist […] und daraus ein Gegebenes zu machen, ein Gegebenes, das, endlich, das ist, was es ist; […].“170 Der Übergang zur Reflexionsebene beinhaltet für das Verständnis der menschlichen-Realität, auf die Sartres Unternehmen letztendlich zusteuert, zwei theoretische Weichenstellungen: Sie liefert aufgrund der Vorgaben, die sich aus der Struktur des präreflexiven Cogito ergaben, den Schlüssel für eine ontologische Ausdeutung der menschlichen-Realität als ein notwendiges Scheitern. Zum

167 Vgl. ebd., S. 292. 168 Vgl. ebd. (Hervorhebung i.O.). 169 Ebd., S. 293. 170 Ebd. (Hervorhebungen i.O.).

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anderen vollzieht sich über die phänomenologisch zugänglichen Dimensionen der Zeitlichkeit ein Schritt zur Konkretisierung des Bewusstseins, was theoriearchitektonisch als Vorstufe zum Verständnis des Weltbezugs mit Blick auf intersubjektive Verhältnisse gedacht ist. Denn in der Reflexion kündigt sich das Moment des Für-Andere-seins an.171 Die Vermittlung zum Anderen bereitet Sartre vor, indem er zunächst zwei Reflexionsarten unterscheidet – eine reine und eine unreine. Die unreine Reflexion ist die geläufige Form eines sich vergegenständlichenden Bewusstseins, die reine kann, laut Sartre, nur durch eine Art Katharsis172 gewonnen werden, ist aber letztendlich die Basis, auf der die unreine möglich wird. Sartre verortet die reine Reflexion in der absoluten Immanenz des Bewusstseins. Und in dieser Hinsicht scheint sie zunächst nur einen minimalen Abstand zum präreflexiven Cogito einzunehmen. Das Reflexive ist das Reflektierte, und dieses ist ihm völlig evident. Der reinen Reflexion ist das Reflektierte kein dem Bewusstsein transzendenter Gegenstand, den es erkennt oder verkennt. Es ist sich ein „QuasiObjekt“,173 sagt Sartre, das sich evident ist, indem es sich wiedererkennt.174 Die reine Reflexion ist gewissermaßen noch als Bewusstsein ohne konkreten Weltbezug gedacht. Trotzdem ist in die Reflexionsbewegung bereits die Dimension der Zeitlichkeit eingebaut. Denn das Reflektierte, das das Reflexive ist, ist zugleich seine Vergangenheit und Zukunft,175 und genau dadurch unterscheiden sie sich voneinander. Sartre will darauf hinaus, dass durch die zeitliche Dimension eine prinzipielle Offenheit auf die Zukunft hin entsteht, und sich das Für-sich in der Reflexion immer nur als unabgeschlossene Totalität erfassen kann. Indem sie sich verzeitlicht, ist die Reflexion Anwesenheit bei ihren ekstatischen Dimensionen.176 Dadurch erhält das Verhältnis von Reflexivem und Reflektiertem bezüglich Vergangenheit und Zukunft den Modus des Möglichen. Es ist offensichtlich, dass hier die ersten grundlegenden Bestimmungen der Entwurfsstruktur auftauchen. Doch sie sind vorläufig noch in der reinen Immanenz entwickelt, in der die Möglichkeit als Möglichkeit angezeigt ist, die sich allein aus der Struktur der Reflexion ergeben soll. Damit, und das ist ontologisch das Wesentliche an der reinen Reflexionsbewegung, ist das Für-sich immer als Reflexives ein Reflektiertes, das es zwar qua Reflexion zu sein hat, das es aber

171 Vgl. ebd., S. 295. 172 Vgl. ebd. 173 Vgl. ebd., S. 296. 174 Vgl. ebd., S. 297. 175 Vgl. ebd. 176 Vgl. ebd., S. 299.

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nur als Für-sich sein kann, und das bedeutet: Es muss sich aufgrund seiner inneren Struktur notwendig entgehen.177 Sartre spricht im Zusammenhang der reinen Reflexion von einer ursprünglichen reflexiven Bewegung178 bzw. von einer „ursprünglichen Zeitlichkeit“.179 Obwohl sie noch komplett innerhalb der Immanenz des Bewusstseins gedacht werden muss, sind für Sartre damit zugleich die ontologischen Voraussetzungen für eine Konkretisierung des Bewusstseins als individuelles existent. Mit der Zeitlichkeit beinhaltet die Reflexion, wie gesagt, eine unabgeschlossene Totalität, und diese kann in ihren zeitlichen Ek-stasen nur perspektivisch gedacht werden. Insofern bildet die Zeitlichkeit für Sartre die Grundvoraussetzung, um das Bewusstsein als konkretes geschichtliches In-derWelt-sein zu verankern, das, noch auf der Ebene der reinen Reflexion als Selbstsein, wie gesehen, bereits Person ist. Damit ist eine wesentliche Grundlage der menschlichen Existenz entfaltet: ihre Geschichtlichkeit.180 Die in der reinen Reflexion erfasste Zeitlichkeit stellt somit die ontologische Voraussetzung eines primären Sich-zu-sich-Verhaltens dar, über das sich erst ein Weltbezug aufbaut. Erst mit ihm entsteht die phänomenologisch zwar zuerst beschreibbare, aber logisch sekundäre, weil von der reinen abzuleitende unreine Reflexion. Erst sie stellt den besonderen Reflexionsmodus dar, von dem sich Sartre von Anfang an abgesetzt hatte: Die im Subjekt-Objekt-Modell gedachte Figur des Selbstbewusstseins als Vergegenständlichung des Bewusstseins. Die unreine Reflexion, „[…] die die erste, spontane (aber nicht ursprüngliche) reflexive Bewegung ist, ist-um das Reflektierte als an-sich zu sein“.181 Es vollzieht diejenige Denkfigur, die Sartre bereits in „La transcendance de l’ego“ als „komplizenhaft“ bezeichnete, weil sie sich selbst als transzendentes Objekt konstituiert.182 Sie ist eine konstituierende Reflexion, weil sie, anders als die reine Reflexion, die ihr Für-sich zu sein hat und sich damit notwendig entgehen muss, versucht, es zu einem nackten An-sich zu machen, das es zu sein hat, indem es dieses auch tatsächlich ist. In der unreinen Reflexion nimmt das Cogito gegenüber sich selbst als konstituiertem Ich einen Gesichtspunkt ein. Es konstituiert sich selbst als psychisches Faktum.183

177 Vgl. ebd., S. 304. 178 Vgl. ebd. 179 Vgl. ebd., S. 303. 180 Vgl. ebd., S. 301. 181 Vgl. ebd, S. 304 (Hervorhebung i.O.). 182 Vgl. Sartre (1936/37), a.a.O., S. 62. 183 Vgl. Sartre (1943), a.a.O., S. 303.

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Der Versuch des Bewusstseins, sich in der unreinen Reflexion selbst zu verdinglichen, muss für Sartre freilich schon aus ontologischen Gründen scheitern. Insofern qualifiziert er die Selbstbewusstseinsproblematik, wie sie sich für ein Denken im Subjekt-Objekt-Modell stellt, als unaufrichtig, denn sie konstituiert sich „[…] als Enthüllung des Gegenstands, der ich mir bin“.184 Der unzulängliche Versuch des Subjekts, quasi von außen auf sich selbst zu blicken, ist aber zugleich, und insofern ist er komplizenhaft, der virtuelle Blick eines Anderen. Insofern ist die unreine Reflexion nicht nur eine defizitäre Reflexionsform, weil sie sich in den Zirkeln eines verdinglichten Selbstbewusstseins verfängt, sie konstituiert sich zugleich als ein Sein-für-Andere.185 Damit kommt erstmalig eine intersubjektive Dimension in Sartres Bewusstseinstheorie zum Vorschein, denn: „Die unreine Reflexion ist ein mißlungener Versuch des Für-sich, zugleich Anderes zu sein und es selbst zu bleiben.“186 Die unreine Reflexion bildet damit den Brückenschlag zum Anderen. In ihr verdinglicht sich das Subjekt, indem es die nicht-substanziellen Momente des Reflektierten der reinen Reflexion – Zeitlichkeit und konkrete Geschichtlichkeit des Selbst – mit einer Substanz versieht. Es wird dadurch zugänglich für den Blick des Anderen. Dies ist offenbar in der Struktur der Reflexionsbewegung, wie Sartre sie konzipiert, bereits angelegt, entfaltet sich aber erst in ihrer unreinen Form. Das zeigt sich an der Metapher des Zeugen, über die Sartre die Reflexionsbewegung als Verdoppelung der präreflexiven Struktur des Cogito eingeführt hat, durch das aber das Reflektierte durch die Reflexion „zutiefst in seinem Sein betroffen“187 werde, weil es als Bewusstsein (von) sich zugleich Bewusstsein von einem transzendenten Phänomen ist. „Es [das Reflektierte/M.R.] weiß sich erblickt; man kann es sich, um ein deutliches Bild zu gebrauchen“, so Sartre, „am besten mit einem Menschen vergleichen, der über einen Tisch gebeugt schreibt und der beim Schreiben zugleich weiß, daß er von jemandem, der hinter ihm steht, beobachtet wird.“188

184 Vgl. ebd., S. 306 (Hervorhebung i.O.). 185 Vgl. ebd. 186 Ebd. 187 Vgl. ebd., S. 291. 188 Ebd.

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(4) Das Bewusstsein des Für-Andere-seins Der Übertritt des Bewusstseins aus der puren Immanenz der Subjektivität auf das Feld der Intersubjektivität ist ein weiterer Konkretisierungsschritt von Sartres Theorie des Subjektes. Die bewusstseintheoretische Grundlegung war zunächst von einem ontologisch unterfütterten Begriff des präreflexiven Cogito ausgegangen, der über die zum Teil phänomenologisch zugänglichen Stufen der Reflexion bis an die Subjekt-Objekt-Problematik der traditionellen Selbstbewusstseinstheorien herangeführt hat. Zugleich diente das regressive Verfahren der schrittweisen Ausdeutung der Bewusstseinsstrukturen dazu, seine Seinsweise auf ein personales In-der-Welt-Sein hin zu entfalten. Der Ausgriff auf die Sphäre der Intersubjektivität wird für Sartre nun notwendig, da die bisherige Skizzierung des Bewusstseins in der ontologischen Struktur des Für-sich in seiner Abstraktion noch weitgehend eine subjektivistische Perspektive auf eine Welt verkörperte, ohne die Pluralität anderer Bewusstseine zu berücksichtigen, deren Existenz als konstitutiver Bestandteil einer faktischen Welt freilich nicht unterschlagen werden kann. Einem realen menschlichen Bewusstsein tritt die Welt nicht nur als eine von Gegenständen gegenüber, sondern es gibt darin Entitäten, die als Bewusstseine die Welt aus einer anderen Perspektive objektivieren. In der Logik der bisher entfalteten Bewusstseinstheorie bedeutet dies, dass ein Subjekt zugleich Objekt für ein anderes Subjekt werden kann, dass also eine Außenperspektive existiert. Und dies kennzeichnet für Sartre den Menschen in seiner konkreten Existenz. „Es wäre“, schreibt Sartre daher, „vielleicht nicht unmöglich, uns ein von jedem Für-Andere total freies Für-sich zu denken, das existierte, ohne die Möglichkeit, ein Objekt zu sein, auch nur zu vermuten. Aber dieses Fürsich wäre eben nicht ‚Mensch‘.“189 Neben dem Versuch, über den Anderen die menschliche-Realität in ihrer Konkretion näher zu bestimmen, hat die intersubjektive Perspektive für Sartre aber noch eine zweite Funktion: Über sie soll es gelingen, die in der unreinen Reflexion kulminierenden Aporien des Selbstbewusstseins wieder aufzulösen. Denn durch die Existenz von mindestens einer weiteren Perspektive wird es möglich, dass ein Bewusstsein sich in einer Form vergegenständlicht weiß, die es definitiv nicht ist, die es aber, da vom Anderen zugeschrieben, doch in irgendeiner Weise zu sein hat. Sartre versucht die Aporien des sich verdinglichenden Selbstbewusstseins dadurch aufzulösen, dass er die Struktur der unreinen Reflexion dezentriert. Damit kann die dem präreflexiven Cogito zugeschriebene widersprüchliche Struktur des ‚Mit-sich-nicht-

189 Ebd., S. 506.

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identischen-Identischen‘, die in der Reflexion wiederkehrte, nun im intersubjektiven Verhältnis auf zwei Pole verteilt und zugleich in ihrer jeweiligen Faktizität bestimmt werden. Sartre formuliert diesen neuen Sachverhalt in der bereits von der Reflexion bekannten komplexen Form: „Wenn es mir nämlich in der Reflexion nicht gelingt, mich als Objekt zu erfassen, sondern nur als Quasi-Objekt, so deshalb, weil ich das Objekt bin, das ich erfassen will: ich habe das Nichts zu sein, das mich von mir trennt. […] Dagegen ist im Fall des Für-Andereseins die Spaltung weiter getrieben, das gespiegelte (Spiegelung-Spiegelnde) unterscheidet sich radikal von dem spiegelnden (Spiegelung-Spiegelnden) und kann gerade dadurch Objekt für dieses sein. Aber diesmal scheitert die Zurückgewinnung, weil das Zurückgewonnene das Zurückgewinnende nicht ist.“190

Nicht mehr das Nichts trennt nun Subjekt und Objekt, sondern die faktische Differenz zum Anderen und diese ist nun der Grund für das Scheitern jeglichen Versuchs des ‚Mit-sich-Identisch-Seins‘. Es wird noch darauf zurückzukommen sein, welche Konsequenzen sich aus einer so konzipierten Intersubjektivitätstheorie für das Verständnis zwischenmenschlicher Beziehungen ergeben. Zunächst gilt es zu verstehen, wie Sartre mit einer bislang bewusstseinsontologisch entfalteten Subjekttheorie zum Anderen gelangt. In welchem Modus taucht also der Andere für ein Bewusstsein auf, das bislang streng aus der Binnenperspektive rekonstruiert wurde? Sartre räumt das traditionelle erkenntnistheoretische Problem des Solipsismus, das er ausführlich diskutiert, aus dem Weg, indem er darauf insistiert, dass die Frage nach der Beziehung zum Anderen sich, anders als sie sich der Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts gestellt habe, kein Problem der Erkenntnis sei.191 Die Erfahrung des Anderen sei dem menschlichen Bewusstsein unmittelbar gegeben. Der Andere ist unweigerlich da, er tritt gewissermaßen in mein Leben, indem er auf mich einwirkt. Sartre konstatiert trocken: „Man begegnet dem Andern, man konstituiert ihn nicht.“192 Aus der Binnenperspektive des Bewusstseins muss dies bedeuten, dass der Andere als ein besonderes Bewusstseinserlebnis auftritt. Das heißt, er muss in einem anderen Modus gegeben sein als ein transzendenter Gegenstand dem thetischen Bewusstsein. Sartre geht auch in diesem Fall zunächst wieder phänomenologisch vor, indem er die Erfahrung des Anderen auf der affektiven Ebene zu beschreiben

190 Ebd., S. 534f (Hervorhebung i.O.). 191 Vgl. ebd., S. 424. 192 Ebd., S. 452 (Hervorhebung i.O.).

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sucht. Sein einschlägiges Beispiel ist das Gefühl der Scham. Das Für-sich, dessen ontologische Struktur bislang noch in der Reflexion als ein Sich-zu-sich verstanden werden konnte, erhält mit dem Eintreten von Affekten wie etwa der Scham eine zusätzliche Dimension. Im Gefühl der Scham entfaltet sich, laut Sartre, unmittelbar, also noch bevor es auf die Reflexionsebene gehoben wird, eine „[…] intime Beziehung von mir zu mir […]“, durch die ich einen „[…] Aspekt meines Seins […]“ entdecke.193 Und dieser neue Aspekt ist der des Intersubjektiven, denn „[…] die Scham ist in ihrer primären Struktur Scham vor jemandem“.194 Die Scham ist somit als ein Bewusstseinsphänomen eine innere Regung, die von einem Anderen herrührt. Sie ist ein „unmittelbares Erschaudern“, das über den Anderen auf mich verweist, weil ich mich vor mir schäme, wie ich dem Anderen erscheine.195 In der Scham manifestiert sich somit die erzwungene Anerkennung einer Außenperspektive: „Ich erkenne an, daß ich bin, wie Andere mich sehen.“196 Damit ist für Sartre, ontologisch betrachtet, ein neuer Seinstyp konstituiert, der über die bisher gekannte Seinsweise des Für-sich hinausgeht. Aber mit diesem neuen Seinstyp ist freilich nicht das Sein des Anderen gemeint, also eine neue ontologische Ebene jenseits des bislang entwickelten Für-sichseins und des An-sich-seins, sondern ein neuer Seinstyp des Für-sich. Denn aus der Binnenperspektive eines Bewusstseins verweist die Existenz der Außenperspektive des Anderen auf mich, auf mein Sein, wie ich es zu sein habe. Sartre betont deshalb: „Aber dieses neue Sein, das für Andere erscheint, liegt nicht in Anderen; ich bin dafür verantwortlich, […].“197 Sartre verharrt also streng in der Binnenperspektive des Bewusstseins. Das Auftauchen des Anderen ist daher für das Bewusstsein mit einem neuen Reflexionsniveau verbunden. Sartre demonstriert dies anschaulich im Blick-Kapitel von „L’être et le néant“ anhand der berühmten Schlüssellochszene:198 Eine Person beobachtet aus Eifersucht heimlich ein Paar durch ein Schüsselloch und fühlt sich plötzlich, weil sie Schritte hinter sich hört, ertappt. Sartre entfaltet in der phänomenologischen Beschreibung dieser Szene auf beispielhaft kompakte Weise seinen Subjektbegriff. In der ersten Sequenz der Szene, in der der Voyeur sich noch unbeobachtet wähnt, befindet er sich auf der Ebene des präreflexiven Cogito. Der Blick ist unreflektiertes, setzendes Bewusstsein von dem, was hinter der

193 Vgl. ebd., S. 405 (Hervorhebung i.O.). 194 Vgl. ebd., S. 406 (Hervorhebung i.O.). 195 Vgl. ebd. 196 Ebd. (Hervorhebung i.O.). 197 Ebd., S. 407 (Hervorhebung i.O.). 198 Vgl. ebd., S. 467ff.

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Tür zu erkennen ist, und zugleich nicht-thetisches Bewusstsein (von) sich. In diesem Moment, den man vielleicht am besten mit dem Begriff der Selbstvergessenheit charakterisieren könnte, ist selbst die Situation im Bewusstsein nicht gegeben. Zwar ist sie völlig durch den Zweck der Handlung determiniert, durch den die objektive Welt im Entwurf gedeutet wurde, doch sie ist genauso wenig Gegenstand wie das Bewusstsein sich selbst. Es gibt keine Reflexion, und insofern auch kein Ego, das durch eine unreine Reflexion konstituiert würde. Als ihr eigenes Nichts ist die Person sich reine Unmittelbarkeit. Sie ist ihre Eifersucht,199 wie Sartre schreibt. Die gesamte Konstellation ändert sich schlagartig mit dem potenziellen Auftauchen des Blickes eines Anderen. Das Bewusstsein springt, so könnte man sagen, wie aus einer Stand-by-Stellung auf die Ebene der Reflexion. Der Voyeur erfasst sich schlagartig über sein reflexives Cogito als Objekt eines zuvor noch unreflektierten intentionalen Bewusstseins von dem Sachverhalt hinter der Tür. Diese Figur kennen wir als die auf der reinen Reflexion basierende unreine Reflexionsbewegung einer Selbstverdinglichung. Aber es zeigt sich nun, warum es in der Tat als Übergang zum Für-Andere-sein konzipiert war. Denn dieses nun auftauchende Ich, das aufgrund der gegebenen Situation nicht das Quasi-Objekt eines reinen Bewusstseins sein kann, kann nun auch nicht das selbstverdinglichende Objekt des reflektierten Bewusstseins sein. Als Erblicktes sucht es, wie Sartre schreibt, das unreflektierte Bewusstsein, also das Bewusstsein als reines Objektbewusstsein, selbst heim.200 Denn dieses Ich ist nicht mit dem Objekt-Ego des reflektierten Bewusstseins identisch, es ist nicht mehr das transzendente Ego der Reflexion, sondern es ist nun durch den Anderen im Modus der Person in die Immanenz des Bewusstseins geschoben. Das Bewusstsein erfährt sich als Person, die ihm als Mich, durch den Anderen in der hier beschriebenen Situation über die Scham angezeigt wird. Das Für-sich erlangt damit eine neue Qualität: „Das unreflektierte Bewusstsein erfaßt die Person nicht direkt und nicht als sein Objekt: die Person ist dem Bewußtsein gegenwärtig, insofern sie Objekt für Andere ist. Das bedeutet, daß ich mit einem Schlag Bewußtsein von mir habe, insofern ich mir entgehe, nicht insofern ich der Grund meines eigenen Nichts bin, sondern insofern ich meinen Grund außerhalb von mir habe. Ich bin für mich nur als reine Verweisung auf Andere.“201

199 Vgl. ebd., S. 468. 200 Vgl. ebd., S. 470. 201 Ebd. (Hervorhebungen i.O.).

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Die Blickmetapher ist zentral für Sartres bewusstseinstheoretisch konzipiertes Verhältnis zum Anderen und damit für die gesamte Intersubjektivitätstheorie. Denn dadurch wird verständlich, warum die zunächst sozialontologisch deutbare Anwesenheit des Anderen in das transzendentalphilosophisch verstandene Subjekt-Objekt-Modell kippt.202 Intersubjektivität entfaltet sich auf der Grundlage eines Wechselspiels von erblicken und erblickt werden, das Sartre aus der Perspektive eines konkreten Cogito beschreibt, um den subjektiven Sinn der jeweiligen Reaktionen zu erschließen.203 Der Erblickte kann den Anderen selbst anblicken, und damit ist der Andere schlagartig nicht mehr Blick, sondern erblicktes Auge. Das bedeutet einerseits, als erblickt erfährt das Cogito, dass der Andere kein Objekt ist, sondern dass er derjenige ist, für den es sich als Objekt erfährt, andererseits beschreibt Sartre die Objektivierung des Anderen als Reaktion darauf als Verteidigung des eigenen Seins, im Sinne der Möglichkeit, sich von dessen Objektivierung zu befreien.204 Damit sind intersubjektive Verhältnisse in ihrer Grundstruktur als konflikthaft bestimmt. Der Andere wird zur Grenze meiner Freiheit,205 er ist der Tod meiner Möglichkeiten,206 sein Auftauchen bedeutet die Dezentrierung meiner Welt.207 Dass Sartre Intersubjektivität streng genommen nur als Konflikt denken kann und nicht etwa als dialogisches Kommunikationsverhältnis, hängt freilich damit zusammen, dass der Objektstatus ontologisch an die Kategorie des An-sich-seins geknüpft ist, also an dasjenige Sein, das bar jedes Negationsvermögens einfach ist, was es ist, und somit als Gegenbegriff zur Freiheit fungiert.208 Es gibt daher für Sartre keine andere Möglichkeit, zwischenmenschliche Beziehungen zu beschreiben, als in seinem spannungsgeladenen Wechselverhältnis von Subjekt und Objekt – und dies bedeutet im Grunde

202 Vgl. Michael Theunissen (1965): Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin, S. 226. 203 Vgl. Sartre (1943), a.a.O., S. 482. 204 Vgl. ebd., S. 483. 205 Vgl. ebd., S. 472. 206 Vgl. ebd., S. 476. 207 Vgl. ebd., S. 460. 208 Vgl. dazu Axel Honneth (2003): Erkennen und Anerkennen. Sartres Theorie der Intersubjektivität. In: ders., Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, Frankfurt/M., S. 92; zur konstitutiven Konflikthaftigkeit des Verhältnisses zum Anderen bei Sartre vgl. auch: Peter Kampits (1975): Sartre und die Frage nach dem Anderen. Eine sozialontologische Untersuchung, Wien/München, insbesondere S. 155ff.

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als ein Machtverhältnis. Das kann freilich nicht ohne Folgen für sein Verständnis von Gesellschaft bleiben. Um das logische Verhältnis der Intersubjektivität, wie es sich für Sartre aus der Binnenperspektive des Bewusstseins als Freiheit ergibt, nachvollziehen zu können, bedarf es allerdings zunächst noch einer weiteren Vertiefung der mit dem Für-Andere-sein zusammenhängenden Reflexionsbewegung. Denn bislang stellte sich der eigene Objektstatus für ein Bewusstsein aufgrund seiner präreflexiven Struktur immer als prinzipielle Unmöglichkeit dar. Es begegnete sich nie als reales Objekt, sondern höchstens als Quasi-Objekt der reinen Reflexion bzw. in verdinglichten Formen der Unaufrichtigkeit oder der unreinen Reflexion als ein Objekt, das ihm notwendig entgeht. Durch das Auftauchen des Anderen ändert sich dies schlagartig. Denn indem er meine Möglichkeiten erstarren lässt, enthüllt er „[…] meine Unmöglichkeit, Objekt zu sein, außer für eine andere Freiheit“.209 Dies hat für Sartre allerdings durchaus einen Konkretisierungseffekt mit Blick auf die Faktizität der Freiheit. Denn erst durch den Blick des Anderen gewinnt das Subjekt sich als Gegenstand, es wird, wie oben bereits erwähnt, Mensch: „So ist der Andere zunächst für mich das Sein, für das ich Objekt bin, das heißt das Sein, durch das ich meine Objektheit gewinne.“210 Damit unterscheidet sich diese Objekterfahrung durch den Anderen von allen bisher gekannten eines intentionalen Bewusstseins. Denn ich bin mir nicht Objekt, sondern habe das Bewusstsein, Objekt zu sein, aufgrund der Existenz des Anderen. Das bedeutet aber zugleich, dass streng genommen der Andere als Bewusstsein, und das heißt als Freiheit, mir nicht wie ein Objekt gegeben sein kann, denn für ein Objekt könnte ich mir nicht mehr meines Seins als Objekt bewusst sein.211 Anders als die Relation von Bewusstsein und Gegenstand muss daher die innere Logik des Intersubjektivitätsverhältnisses zwischen zwei Freiheiten als einer doppelten Negation212 gedacht werden. Erst über diese lässt sich erschließen, wie es kommt, dass ein Bewusstsein sein Für-Andere-sein als Person denken kann. Das Für-Andere-sein erhält somit eine Schlüsselfunktion, um die Sozialisation des konkreten Menschen als Individuierung fassen zu können, die an die Instanz des „generalisierten Anderen“ bei Mead erinnert, über die sich das innerindividuelle Spannungsverhältnis zwischen „I“ und „Me“ aufbaut.213 Denn erst von dem Moment an, in dem sich das Subjekt als erblicktes Objekt begreift, versteht

209 Vgl. Sartre (1943), a.a.O., S. 486. 210 Ebd. 211 Vgl. ebd., S. 488. 212 Vgl. ebd., S. 510. 213 Vgl. George Herbert Mead (1934): Geist, Identität, Gesellschaft, Frankfurt/M. 1968.

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es sich selbst in seiner Individualität, indem es, wie Sartre dies schlagend am Phänomen der Scham illustriert, sich selbst auf eine Art erfährt, wie es einer virtuellen Außenperspektive offenbar erscheint. Doch anders als bei Mead, bei dem das Verhältnis von ‚I‘ und ‚Me‘ ebenfalls durchaus als spannungsgeladen verstanden werden muss, ergibt sich aus dieser Struktur bei Sartre die prinzipielle Konflikthaftigkeit intersubjektiver Beziehungen, denn in ihr liegt zugleich deren Grund: eine am Verhältnis zum Anderen auszumachende fundamentale Entfremdung.214 Warum das so ist, lässt sich an Sartres bewusstseintheoretischem Subjektbegriff erläutern. Bewusstsein war bislang nach außen gerichtetes intentionales Bewusstsein, das seine erste logische Bestimmung aus der Negation des Gegenstandes erhielt. Bewusstsein von etwas ist zugleich Bewusstsein, nicht dieses Objekt zu sein. Das heißt, das Objekt ist ‚Nicht-ich‘. Es ist damit aber zunächst als ein An-sich nicht Für-sich. Der Andere ist nun aber selbst ein Für-sich. Daraus ergibt sich besagte doppelte Negation. Denn jenem gegenüber negiert sich das Bewusstsein nicht nur als ‚Nicht-ich‘, sondern jener erscheint diesem Bewusstsein, da er die gleiche Negationsbewegung vollzieht, also sich als diesem gegenüber ebenfalls als ‚Nicht-ich‘ versteht, als ‚Nicht-ich-nicht-Objekt‘. Damit ist die Konfliktstruktur auf der bewusstseinstheoretischen Ebene notwendig angelegt. Denn der Andere kann – streng genommen – immer nur innerhalb der Logik eines Subjekt-Objekt-Modells gedacht werden, jedoch nie als Subjekt im Angesicht eines Subjekts. Er ist entweder Subjekt oder Objekt, freie Subjektivität oder verdinglicht.215 Intersubjektive Verhältnisse lassen sich damit aus der

214 Auf diese Parallele zwischen Sartre und Mead hat u.a. Honneth aufmerksam gemacht. Vgl. Honneth (2003), a.a.O., S 90ff; ebenfalls, jedoch weitaus optimistischer, was eine mögliche Verständigungsperspektive angeht: Christof Schilling (1996): Moralische Autonomie. Anthropologische und diskurstheoretische Grundstrukturen, Paderborn/München/Wien/Zürich, S. 161. Rahel Jaeggi verweist im Übrigen zu Recht darauf, dass dieser Akt der Verdinglichung durch den Anderen zugleich das Potenzial einer ‚Entdinglichung‘ bereithält, da gerade über die durch die Erfahrung des Blickes des Anderen vermittelte virtuelle Außenperspektive innerhalb des Prozesses der Individualisierung ein kritisches Selbstverständnis und damit ein Möglichkeitsraum für Distanzierungen und Neuentwürfe entsteht. Dieser Doppelcharakter des Für-Andere-seins wird von Sartre allerdings aufgrund seines negativ konzipierten Freiheitsbegriffs offenbar nicht gesehen. Vgl. Rahel Jaeggi (2005): Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems, Frankfurt am Main/New York, S. 107f. 215 Vgl. Sartre (1943), a.a.O., S. 510.

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Binnenperspektive nur als Machtverhältnisse beschreiben. Sie sind in der Logik des Kampfes zu denken. Die sich aus dem Subjekt-Objekt-Modell ergebende Kampflogik der Intersubjektivität hat nun allerdings auch für die immanente Struktur des Bewusstseins des Subjekts Auswirkungen. Wie gesehen, konnte sich das Bewusstsein bislang nur innerhalb einer reinen Reflexion als Quasi-Objekt oder aber in verdinglichter Form als Objekt denken, das es zu sein hat, das es aber aus ontologischen Gründen nicht sein kann und das es von daher negieren muss – was zu den genannten Aporien des Selbstbewusstseins führt. Diese direkte Negation ist mit dem Auftauchen des Anderen nun aber nicht möglich. Denn es handelt sich nicht um ein Objekt, das negiert wird, sondern es wird etwas negiert, das selbst negiert. Dies umschreibt der Terminus des ‚Nicht-ich-nicht-Objekt‘. Die Negation muss von daher, laut Sartre, eine indirekte sein, „[…] denn es gibt nichts, worauf sie sich erstrecken könnte“.216 Wenn die Negation des Anderen beinhaltet, die Negation von dessen Negation zu sein, dann negiert sie kein Objekt, sondern die Negation, die dem Bewusstsein einen Objektstatus zuweist. Durch diese Negation erkennt das Bewusstsein aber zugleich sein Objekt-sein für den Anderen als ein zu negierendes an. In dieser Hinsicht ist das Bewusstsein in seinem FürAndere-sein von sich notwendig entfremdet. Denn es übernimmt damit ein Ich, das es als intentionales Bewusstsein als entfremdetes Ich setzt, mit dessen Hilfe es sich vom Anderen distanziert. Die Folge: „Aber gerade dadurch anerkenne und bestätige ich nicht nur den Andern, sondern die Existenz meines Ich-für-Andere; ich kann ja nicht der Andere nicht sein, wenn ich nicht mein Objekt-sein für den Andern übernehme. Das Verschwinden des entfremdeten Ich zöge das Verschwinden des Andern durch Zusammenbruch des Ich-selbst nach sich. Ich entgehe dem Andern, indem ich ihm mein entfremdetes Ich in den Händen lasse.“217

Das Auftauchen des Anderen ermöglicht es also, dem aporetischen Zirkel des Selbstbewusstseins zu entkommen. Denn nun kann das Objekt-Ich als durch den Anderen notwendig entfremdetes gedacht werden. Das Bewusstsein ist durch die Existenz des Anderen gezwungen, sich als etwas anzuerkennen, das es aus bewusstseinslogischen Gründen nicht sein kann und trotzdem in entfremdeter Form zu sein hat. Damit ist Sartre über die lange Stufenfolge von der abstrakten Struktur des präreflexiven Cogito beim konkreten Menschen angekommen, der in seinem In-der-Welt-sein jedoch notwendig entfremdet ist. Diese intersubjektive

216 Vgl. ebd. 217 Ebd.

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Entfremdung, die als Ursache dafür angesehen werden muss, dass sich zwischenmenschliche Verhältnisse für Sartre notwendig nur in der Logik des Kampfes beschreiben lassen, hat freilich, und das wurde hier versucht zu zeigen, ihren Ursprung in der bewusstseinstheoretischen Anlage des Subjektbegriffs. Denn sie ist letztendlich in der ontologisch fixierten Struktur des präreflexiven Cogito als ein ‚Mit-sich-nicht-identisches-Identisches‘ angelegt, die sich im Grunde als eine fundamentale existenzielle Entfremdung des Subjekts fassen lässt. In normativer Hinsicht folgt aus Sartres bewusstseinsontologischer Konzeption der menschlichen-Realität zweierlei für sein Verständnis zwischenmenschlicher, und das heißt in erweiterter Perspektive auch sozialer Verhältnisse. Als ontologisch begründetes Bewusstsein als Freiheit unterliegt der Mensch einerseits keinerlei normativer Beschränkung. Das Subjekt ist als reine Willkürfreiheit zu verstehen und insofern nur als negative Freiheit bestimmt. Andererseits lastet auf ihm als Individuum aber, wie gesehen, die Verantwortung für die ganze Welt. Denn als in seiner Kontingenz frei ist der Mensch notwendig gezwungen, sein Sein immer zu wählen. Damit ist in seine Existenz zwar eine normative Dimension eingebaut, der Verantwortungsbegriff lässt sich aber aus Sartres Freiheitsbegriff lediglich formal ableiten.218 Eine inhaltliche normative Bestimmung ist nur im konkreten Vollzug der Freiheit möglich. Ethische Verbindlichkeit kann aus dieser Freiheit nicht zwingend hergeleitet werden. Die Freiheit des Anderen zeigt sich allein als Faktizität, im Modus des Für-Andere-seins diese anerkennen zu müssen. Dessen Recht, seine Freiheit auszuüben, lässt sich aber lediglich als offener Anspruch formulieren.219 Sartre hat die Notwendigkeit einer weiterführenden Moralphilosophie gesehen, diese, wie bereits erwähnt, aber trotz mehrfacher Anläufe nie vollendet.220 Die realen Chancen einer auf der Basis prinzipieller Verantwortlichkeit zwar als vernünftig einsehbaren Ethik der Verständigung

218 Vgl. etwa die Kritik von Taylor an Sartres Konzeption einer radikalen Wahl: Charles Taylor (1977): Was ist menschliches Handeln? In: ders., Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt/M. 1988, S. 34ff. Welche Anziehungskraft Sartres Freiheitsbegriff trotz allem auch heute noch hat, zeigt dagegen Jason D. Hill (2000): Becoming a cosmopolitan. What it means to be a human being in the new millennium, Lanham/Boulder/New York/Oxford. 219 Vgl. hierzu: Helmut Fahrenbach (1970): Existenzphilosophie und Ethik, Frankfurt/M., S. 160f. 220 Vgl. Mark Hunyadi (1988): Sartres Entwürfe zu einer unmöglichen Moral. In: König (Hg.), Sartre. Ein Kongreß, a.a.O., S. 84-92; sowie Gerhard Seel (1988): Wie hätte Sartres Moralphilosophie ausgesehen? In: König (Hg.), Sartre. Ein Kongreß, a.a.O., S. 276-293.

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dürften aber aufgrund der nur als Konflikt beschreibbaren Interaktionsverhältnisse eher gering sein. So wie es aussieht, ist es Sartre durch seine Beschreibung der Intersubjektivität als Konflikt zwar gelungen, einen Ausweg aus den Aporien der Selbstbewusstseinstheorien anzubieten, der Preis dafür sind allerdings zwischenmenschliche Beziehungen, die nur als gegenseitige Verdinglichung gedacht werden können. Mögliche positive Reaktionsformen auf den Anderen müssen folgerichtig ausgeblendet werden.221 Damit sind aber gesellschaftliche Verhältnisse in der Tat kaum anders als im Modus des Kampfes vorstellbar.

Sartre und seine Doppel: Aporien einer phänomenologischen Ontologie Die aufwändige Rekonstruktion einer theoretischen Grundlegung der menschlichen-Realität aus der Binnenperspektive hat uns von einer phänomenologisch ausgerichteten Hermeneutik des Handlungsvollzuges über eine ontologische Deutung des zu Grunde liegenden Freiheitsbegriffs zu einer bewusstseinsontologischen Begründung des menschlichen Subjektes geführt. Sartre verfolgt dabei die Intention einer schrittweisen Konkretisierung der ontologisch entfalteten Struktur des Bewusstseins bis auf die Ebene der Beziehungen zwischen personalen Einzelsubjekten. Zugleich versucht er damit den Aporien der klassischen Selbstbewusstseinstheorie zu entkommen. Wie bereits an mehreren Stellen angedeutet, durchläuft er damit aber genau diejenigen Widersprüche des erkenntnistheoretischen Fundaments der Moderne, die Foucault von einer archäologischen Beobachterperspektive aus als die Doppel des Menschen innerhalb es anthropologischen Vierecks diagnostiziert hatte. Sartres Subjektkonzeption oszilliert zwischen einer unauflöslichen Verbindung der Positivitäten mit der fundamentalen Endlichkeit (1), der Reduplizierung des Empirischen im Transzendentalen (2), der ständigen Beziehung des Cogito zum Ungedachten (3) und dem Rückzug und der Wiederkehr des Ursprungs (4). (1) Es ist für Sartre, wie gezeigt, unumgänglich, die menschliche-Realität aus der Binnenperspektive zu ergründen. Die foucaultsche Außenperspektive erscheint von Sartres methodischem Selbstverständnis her nicht nur als virtuell, da real

221 Vgl. hierzu Axel Honneth (1988): Kampf um Anerkennung. Zu Sartres Theorie der Intersubjektivität. In: ders., Die Zerrissene Welt des Sozialen. Sozialphilosophische Aufsätze, Frankfurt/M. 1990, S. 144-155.

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nicht einnehmbar, sondern in ihrer Künstlichkeit zudem als defizitär, da ihr die Grundstruktur des menschlichen Handlungsvollzuges entgeht. Insofern besteht für Sartre kein Zweifel daran, dass die Welt aus der Perspektive realer und damit notwendig endlicher Subjekte gedacht werden muss. Die Frage, die er Foucault beantworten müsste, ist in diesen Zusammenhang allerdings, welche Geltung Einsichten, die aus der Binnenperspektive gewonnen werden, beanspruchen können. Foucaults Vorwurf an das Denken der Moderne war ja u.a., dass auf der Basis einer faktischen Endlichkeit realer Subjekte fundamentale Aussagen mit universellem Geltungsanspruch formuliert werden. Es geht also um die Reichweite von Aussagen wie um die Form ihrer Begründung. Und in dieser Hinsicht repräsentiert Sartres Unternehmen die Verbindung der Positivitäten mit einer fundamentalen Endlichkeit. Denn er beansprucht schließlich, aus der Binnenperspektive heraus die Strukturen des Handlungsvollzuges zu entfalten, anhand derer sich das fundamentale Selbst- und Weltverhältnis und damit ein angemessenes Selbstverständnis des einzelnen, endlichen Subjektes begründen lassen soll. (2) Die Fragestellung, die ihn dabei umtreibt, ist, wie gezeigt, eine transzendentale. Sie führt zur Thematik des Seins der Freiheit als Bedingung der Möglichkeit menschlichen Handelns und damit zur Erkundung der Strukturen des Bewusstseins. Diese findet Sartre schließlich im präreflexiven Cogito als Ausgangspunkt und transzendentale Bedingung von Bewusstsein überhaupt. Anders als das transzendentale Subjekt Kants soll dieses nun aber nicht allein als formale Notwendigkeit, sondern, da Sartre schließlich nach einer sich konkret manifestierenden Freiheit sucht, als faktisch Gegebenes gedacht werden. Das präreflexive Cogito ist als eine reale Bedingung zu verstehen. Es konkretisiert sich in einzelnen erweiterten Formen der Reflexion, die sich zugleich etwa in Affekten wie Angst oder Scham als phänomenologisch zugängliche Erfahrungsmodi des Bewusstseins manifestieren. Sartre führt hier beispielhaft vor, was Foucault mit der Reduplizierung des Empirischen im Transzendentalen meint, denn nichts anderes ist der Rekurs auf die Binnenlogik des Bewusstseins im Präreflexiven, die zugleich aufgrund der ontologisch festgeschriebenen Transphänomenalität des Bewusstseins notwendig im realen Sein aufgewiesen werden muss. (3) Sartre versucht die Aporien der traditionellen Selbstbewusstseinstheorien, an denen sich das Problem des Cogito und des Ungedachten, wie Foucault es stellt, exemplarisch ablesen lässt, dadurch zu umgehen, dass er den Zirkel einerseits sprengt, indem er einzelne Momente auf unterschiedliche Ebenen verlagert, und andererseits eine ontologische Erklärung dafür anbietet, dass jede Reflexion notwendig scheitern muss. Damit verschiebt er jedoch das Problem nur. Es taucht

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auf allen Ebenen wieder auf. Wie zu zeigen versucht wurde, kann die Idee von einem präreflexiven Cogito, mit dessen Hilfe der Reflexionszirkel eines Bewusstseins umgangen werden soll, das sich darin als Objekt gegeben nicht mit sich identisch sein kann und sich daher notwendig entgehen muss, was wir als widersprüchliche Struktur eines ‚Mit-sich-nicht-identischen-Identischen‘ bezeichnet haben, nur als eine ontologisierte Wiederholung der Reflexion auf einer phänomenologisch nicht zugänglichen Ebene gedacht werden. Das Problem eines Cogito, das sein eigenes Ungedachtes, immer wenn es sich denkt, zugleich setzt, bleibt also bestehen und existiert nun auf der präreflexiven und auf der reflexiven Ebene. Es taucht sogar ein drittes Mal innerhalb der Logik des FürAndere-seins auf, wo Sartre den Reflexionszirkel zu sprengen versucht, indem er das Subjekt-Objekt-Modell redupliziert und dessen Momente wechselseitig auf zwei Akteure verteilt. Damit kann zwar erstmals in Konkretion einsichtig gemacht werden, warum das bisher nur ontologisch explizierte Subjekt sich seines Objektseins bewusst, als entfremdet sich aber zugleich notwendig entgehen muss, doch innerhalb des von Sartre gewählten bewusstseinstheoretischen Rahmens bleibt nun erst recht für jedes Cogito ein reales Ungedachtes in der Form eines prinzipiell nicht zugänglichen anderen Bewusstseins. (4) Die bewusstseinsontologisch konstruierte menschliche-Realität hatte zu den beiden Seinsdimensionen des An-sich und des Für-sich geführt. Dabei wurde das Sein des Bewusstseins, von dem her das Für-sich in seinem Selbst- und Weltbezug bestimmt werden konnte, aufgrund der Orientierung am Modell des intentionalen Bewusstseins als bar jeden Inhalts gedacht. Das Bewusstsein, das sich auf transzendente Gegenstände richtet, muss selbst als leer vorgestellt werden. Es ist als das ‚Loch im Sein‘ die Grundlage der Freiheit und lieferte die ontologische Erklärung dafür, warum das Für-sich das Sein ist, durch das das Nichts in die Welt kommt und letztendlich als Mangel an Sein zu verstehen ist. Damit ist die ontologische Grundstruktur der menschlichen-Realität umschrieben. Sie selbst ist der Grund für das Nichts und damit das Sein, das im Vollzug einer Nichtung des An-sich einzig sein eigener Grund sein kann. Was Sartre hier auf der ontologischen Ebene vollzieht, wiederholt sich im konkreten Handlungsvollzug als Kontingenz der Freiheit in ihrer Faktizität als absurde Existenz. Er arbeitet dabei mit einer Begründungsform, die an das erinnert, was Foucault den Rückzug und die Wiederkehr des Ursprungs nennt. Es ist der Rekurs auf eine ahistorische Struktur, die die universelle Begründung für das Sein in seinem verzeitlichten So-Sein liefern soll, und in der Figur des notwendigen Scheiterns sogar noch die Konturen einer unmöglichen Zukunft skizziert.

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Sartres Versuch einer phänomenologischen Ontologie in „L’être et le néant“, so scheint es, ist der Prototyp des modernen Denkens, wie Foucault es beschreibt. Indem er versucht, den Aporien des Selbstbewusstseins zu entkommen, schreitet Sartre unbeirrt die Kanten des anthropologischen Vierecks ab. Es dürfte eines der Verdienste Sartres sein, dadurch zugleich die Grenzen eines bewusstseinstheoretisch begründeten Subjektbegriffs aufgezeigt zu haben. Dem zentralen Vorwurf von Foucaults Humanismuskritik scheint er dabei allerdings zu entgehen. Anders als dieser behauptet, ergibt sich aus dem Oszillieren zwischen den Doppeln des Menschen nicht die unausweichliche Notwendigkeit einer substanziellen Wesensbestimmung des Menschen. Die Leerstelle, auf die das anthropologische Viereck notwendig verweist, ist Sartre nicht gezwungen auszufüllen. Ganz im Gegenteil formuliert Sartre vielleicht radikaler als all seine Vorgänger diesen Zug der Moderne, indem er den Menschen selbst als Leerstelle interpretiert und damit zumindest formal Foucaults Diagnose sogar bestätigt. Sartres Ontologisierung der menschlichen Freiheit liegt ein inhaltlich vollkommen leerer Bewusstseinsbegriff zu Grunde. Auf ihm gründet sich ein ebenfalls inhaltlich völlig unbestimmtes Sein des Menschen als Handlungssubjekt, das sich in der Wahl und im Entwurf zu sich selbst und zur Welt verhält. „[D]er Mensch ist nichts anderes, als das, wozu er sich macht.“222 Dies ist die Kernformel der Philosophie Sartres, auf die der Versuch einer phänomenologischen Ontologie zusteuert. Und das bedeutet, dass es eben kein Wesen des Menschen gibt. Wesen, sagt Sartre, ist immer nur etwas, das Gewesen ist. Der Mensch ist aber immer durch ein Nichts von diesem Wesen, von seiner Vergangenheit, getrennt.223 Ein Wesen des Menschen kann daher grundsätzlich nur ein vorläufig mögliches sein, auf das sich die menschliche Freiheit in ihrer Individualität mit Blick auf eine von der Situation zwar bestimmten, aber trotzdem prinzipiell offenen Zukunft hin entwirft. Sartre versucht dafür lediglich eine formale Strukturbestimmung anzugeben, der er jede Substanzialisierung versagt. Die menschliche-Realität ist damit ins Zentrum des Erkenntnisinteresses gerückt, der Mensch wird zum unhintergehbaren Ausgangspunkt eines Philosophierens aus der Binnenperspektive. Doch noch das Subjekt der „konkretesten Erfahrung“ ist für Sartre „ein nichtsubstantielles Absolutes“.224 Damit repräsentiert der Mensch aber, wenn auch nur in seiner formalen Bestimmung, die fundamentale Endlichkeit, von der aus in den Augen Foucaults unzulässigerweise universelle Geltung beansprucht wird.

222 Sartre (1946), a.a.O., S. 150. 223 Vgl. Sartre (1943), a.a.O., S. 101. 224 Vgl. ebd., S. 27.

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Was Foucault aus der virtuellen Beobachterperspektive mit Blick auf die theoretisch-epistemologischen Grundlagen des modernen Wissens als ein prinzipielles Problem markiert, ist die Tatsache, dass Sartre dem Einzelnen als Repräsentanten eines nicht-substanziellen Absoluten in der Tat zu viel aufbürden muss. Dies hatte sich bereits an seinem Verantwortungsbegriff gezeigt. Der Einzelne muss aus der Handlungsperspektive nicht nur auf der Basis einer völlig inhaltsleer umrissenen Freiheit sein Selbst- und Weltverhältnis entwerfen, er ist auch die alleinige Instanz, die vom jeweiligen konkreten Standort aus für sich den Sinn des Seins konstituieren muss, indem er sich und die Welt, wenn schon nicht gottähnlich erschafft, so doch zumindest im Handlungsvollzug aus der Situation heraus allein für sich deutet. Die formale Offenheit seines Subjektbegriffs, der ohne Wesensbestimmung auskommt, macht zweifellos den Kern von Sartres Modernität aus, weil er dadurch die theoretische Grundlage für die potenzielle Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung des Menschen zu legen versucht. Er krankt jedoch an seiner bewusstseinsontologischen Begründung. Der Mensch unterliegt, wenn auch ohne Wesen, so doch aus ontologischen Gründen einer existenziellen Entfremdung, die sowohl sein Welt- wie sein Selbstverhältnis strukturiert. Von daher rührt für ein Bewusstsein auch die Unmöglichkeit einer wenigstens partiell unvoreingenommenen Übernahme der Außenperspektive des Anderen. Die fundamentale Entfremdung, die der Mensch in Intersubjektivitätsverhältnissen aufgrund seiner Objektheit für den Anderen durchleiden muss, ist in der aporetischen Binnenlogik des präreflexiven Cogito ontologisch verankert. Damit verstrickt sich Sartres Handlungstheorie nicht nur notwendig in die Aporien des foucaultschen anthropologischen Vierecks, sie ist auch gezwungen, dem Individuum eine nicht zu rechtfertigende grenzenlose Selbstermächtigung zuzumuten, und es damit zugleich zum Scheitern zu verurteilen. So verliert die phänomenologische Hermeneutik des Handlungsvollzuges jedoch ihre anfängliche Plausibilität. Anstatt mit einem pragmatischen Handlungsverständnis zu operieren, ist Sartre aufgrund seines abstrakten Freiheitsbegriffs gezwungen, eine bewusstseinstheoretische Grundlegung zu liefern, die ihm am Ende ein nahezu allmächtiges Subjekt beschert, das zugleich auf der intersubjektiven Ebene die Beziehung zum Anderen nur noch in der Logik des Kampfes und der Macht denken kann. In beider Hinsicht kommt dies einem Verkennen der gesellschaftlicher Realität gleich. Als den faktischen sozialen Machtverhältnissen enthoben ist Sartres abstrakter Freiheitsbegriff schon früh kritisiert worden.225 Er hat das Problem, dass seine

225 Vgl. etwa Herbert Marcuse (1948): Existentialismus. Bemerkungen zu Jean-Paul Sartres L’être et le néant. In: ders., Kultur und Gesellschaft 2, Frankfurt/M. 1965.

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Theorie politisch auf einen naiven Aktionismus hinauslaufen muss, selbst gesehen und später eingestanden, er habe die „Macht der Dinge“ unterschlagen, indem er nicht berücksichtigte, „[…] was mich von außen steuerte, etwas, das nichts mit meiner Freiheit zu tun hatte“.226 Die Erfahrung der französischen Résistance, aber auch die bereits Mitte der 1940er Jahre beginnende theoretische Auseinandersetzung mit dem Marxismus haben dazu geführt, dass er seine Handlungstheorie reformulierte. Die bewusstseinsontologische Begründung der Freiheit verliert schrittweise an Bedeutung zugunsten eines am Naturverhältnis und entlang konkreter sozialer Beziehungen entwickelten Praxisbegriffs. Diesen entfaltet Sartre zu Beginn der 60er Jahre in der „Critique de la raison dialectique“.

2 D IE PRAXISPHILOSOPHISCHE B EGRÜNDUNG : D IE „C RITIQUE DE LA RAISON DIALECTIQUE “ Die „Critique de la raison dialectique“ kann als Versuch verstanden werden, das In-der-Welt-sein des Menschen, das in „L’être et le néant“ noch über einen weitgehend formalen Situationsbegriff gefasst ist, nun in historischer wie gesellschaftlicher Hinsicht zu konkretisieren. Sartre sagte später rückblickend, er habe nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen, „[…] die Realität des Menschen inmitten der Dinge zu entdecken, die ich das ‚In-der-Welt-Sein‘ genannt hatte“.227 Ausdrücklich distanzierte er sich von seinem idealistischen Freiheitsbegriff der frühen Schriften, der ihn im Nachhinein „entsetzt“ habe und der ihm als „absurd“ erschien.228 Er habe versucht, „[…] Allgemeinheiten über die Existenz des Menschen zu sagen, ohne dabei zu berücksichtigen, daß diese Existenz immer historisch situiert ist und sich von dieser Situation her definiert“, kritisierte er sein Vorgehen in „L’être et le néant“.229 Die Konsequenz, die Sartre daraus zog, war eine schrittweise Transformation der Frage nach den Möglichkeitsbedingungen der Freiheit des Menschen in der Welt hin zu einem historisch-

226 Vgl. Sartre (1969a), a.a.O., S. 144. 227 Vgl. ebd. 228 Vgl. Jean-Paul Sartre (1977): Sartre. Ein Film von Alexandre Astruc und Michel Contat, Reinbek bei Hamburg 1978 (Sartre. Un film réalisé par Alexandre Astruc et Michel Contat, Paris), S. 51. 229 Vgl. ebd., S. 63.

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gesellschaftstheoretisch gesättigten Situationsverständnis. Damit verschob sich der Fragehorizont von einer transzendentalontologisch zu begründenden Freiheit hin zu den konkreten gesellschaftlichen Voraussetzungen möglicher Befreiung. Diese Entwicklung ging mit einer ausführlichen Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Marxismus in Frankreich einher. Das Resultat war die „Critique de la raison dialectique“, die Sartre 1960 als ersten Band eines auf zwei Bände angelegten Werkes publizierte. Deren einleitendes Methodenkapitel war bereits 1957 in veränderter Form unter dem Titel „Marxismus und Existentialismus“230 in einer polnischen Zeitschrift erschienen. Sartre liefert in der „Critique de la raison dialectique“ die Grundlagen einer äußerst komplexen und vielschichtigen Gesellschaftstheorie, deren Rezeption zwei Besonderheiten zu berücksichtigen hat: Zum einen blieb das Vorhaben Fragment. Der zweite, nicht zu Ende geschriebene Band erschien erst 1985, fünf Jahre nach Sartres Tod aus dessen Nachlass.231 Zum anderen fehlt dem ersten Band eine sorgfältige Schlussredaktion, da Sartre zum damaligen Zeitpunkt als profilierter Kritiker des Algerienkrieges um sein Leben bangen musste und das Manuskript auf Druck des Verlages überhastet zur Publikation freigab.232 Eine Auseinandersetzung mit der „Critique de la raison dialectique“ muss deshalb im Hinterkopf behalten, dass Sartres im ersten Band skizziertes, äußerst ambitioniertes Vorhaben einer umfassenden Gesellschaftstheorie aus der Binnenperspektive – der zweite Band sollte immerhin die grundlegende Dynamik der Geschichte einsichtig machen – möglicherweise aus sachlichen Gründen unvollendet, da nicht durchführbar, geblieben ist. Das ändert allerdings nichts daran, dass Sartres Beitrag für die Methodenreflexion einer kritischen Gesellschaftstheorie nicht zu unterschätzen ist.

230 Vgl. Sartre (1960a), a.a.O. Die erste Fassung des Kapitels „Questions de méthode“ erschien unter dem Titel „Marksizm i Egzystencjalizm“ in der Krakauer Zeitschrift „Twórczosc“ XIII im April 1957. Der provokative Charakter dieses Textes kann vor dem Hintergrund der polnischen Krise von 1956 und der im selben Jahr folgenden Niederschlagung der Ungarischen Revolution durch sowjetische Panzer wohl kaum überschätzt werden. 231 Vgl. Jean-Paul Sartre (1985): Critique de la raison dialectique, Tome II (inachevé): L’intelligibilité de l’Histoire, Paris. 232 Die Sorge war nicht ganz unbegründet. 1962 verübten Angehörige der rechtsradikalen „Organisation de l’armée secrète“ (OAS), einer von Offizieren und Generälen gegründeten Untergrundbewegung, die für den Erhalt Algeriens als französische Kolonie kämpfte, einen Bombenanschlag auf Sartres Wohnung. Vgl. hierzu u.a.: Traugott König (1967): Nachwort des Übersetzers. In: Sartre (1960), a.a.O., S. 871.

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Verschiebung des methodologischen Ausgangspunktes Der gesellschaftstheoretische Konkretisierungsversuch der Problematik von „L’être et le néant“ lässt sich zunächst an einer Modifikation des Subjektbegriffs ablesen. War dieser im frühen Werk in der ontologischen Struktur des Für-sich verankert, von wo her sich dessen Selbst- und Weltbezug erschließen ließ, so rückt nun das Wechselverhältnis von individueller und kollektiver Praxis ins Zentrum seiner Subjektkonzeption. Damit ist eine partielle Veränderung des Handlungsbegriffs verbunden, vor allem aber ändert sich die Begründungsform. An die Stelle einer Handlung überhaupt erst ermöglichenden Ontologie des Bewusstseins als Freiheit tritt nun ein Verständnis menschlicher Praxis, deren Reichweite und Qualität sich jeweils nur im gegebenen Kontext anderer gesellschaftlicher Praxen erschließen lässt. Das Verhältnis von Determination und Freiheit wandelt sich nun in das von Fremd- und Selbstbestimmung, das sich aus der jeweiligen konkreten historisch-gesellschaftlichen Situation ergibt. Damit einher geht auch eine veränderte Auffassung von Entfremdung. Sartre beabsichtigt damit jedoch nicht, seinen Freiheitsbegriff aufzugeben, er bettet ihn nun in ein gesellschaftliches Kräfteverhältnis ein, wenn er schreibt: „Für uns ist der Mensch vor allem durch das Überschreiten einer Situation gekennzeichnet, durch das, was ihn aus dem zu machen gelingt, was man aus ihm gemacht hat, selbst wenn er sich niemals in seiner Vergegenständlichung erkennt.“233 Das erinnert zunächst noch etwas an die unbedingte Freiheit der phänomenologischen Ontologie. Und auch das Vokabular weist bereits darauf hin, dass Sartre an den in „L’être et le néant“ entfalteten Strukturen der menschlichen Existenz weiter festzuhalten gedenkt. Sie bleiben zumindest für die individuelle Praxis konstitutiv.234 Allerdings, und dies wird sich im Verlauf der Darstellung zeigen, verschiebt sich der Handlungsbegriff innerhalb der „Critique de la raison dialectique“ schrittweise. Während er im vorangestellten Methodenkapitel „Questions de méthode“ noch an der Entwurfsstruktur entwickelt wird, bindet Sartre ihn in seiner gesellschaftstheoretischen Grundlagenreflexion im Hauptteil der „Critique de la raison dialectique“ an das konkretere Modell der Arbeit. Formal konzipiert Sartre seinen Handlungsbegriff jedoch weiterhin analog zum in „L’être et le néant“ entfalteten Entwurfscharakter. Selbst das „rudimentärste

233 Sartre (1960a), a.a.O., S. 101. 234 Vgl. Helmut Fahrenbach (2000): Existenzphilosophische Anthropologie und Ethik – in Jean-Paul Sartres Wendung zu einer dialektischen Anthropologie der Praxis. In: Martin Endreß/Neil Roughley (Hg.), Anthropologie und Moral. Philosophische und soziologische Perspektiven, Würzburg, S. 473f.

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Verhalten“ lässt sich demzufolge innerhalb einer durch objektive Faktoren bedingten Situation noch aufgrund eines die Objektivität negierenden Ziels als Entwurf charakterisieren.235 Diese Grundstruktur des Handelns, die in nuce ein Überschreiten des „Existierenden zu seinen Möglichkeiten“236 beinhaltet, denen auch weiterhin Freiheit und Wahl zu Grunde liegen,237 ist gewissermaßen die Formbestimmung der menschlichen Existenz, in der noch die abstraktesten Gedanken das Transzendieren des Gegebenen anzeigen: „[…] sie [die abstraktesten Gedanken/M.R.] sind stets außer sich hin auf… Das nennen wir Existenz, und darunter verstehen wir keine in sich selbst ruhende, unveränderliche Substanz, sondern ein ständiges Ungleichgewicht, ein sich Losreißen des ganzen Körpers“.238 Der entscheidende Unterschied zum Frühwerk ist allerdings, dass diese Existenzstrukturen, anhand derer sich die Spannungsverhältnisse zwischen Bedingtsein und Bedingen, Wirklichkeit und Möglichkeit, Notwendigkeit und Freiheit, Objektivität und Subjektivität abzeichnen, wie sie in „L’être et le néant“ nur abstrakt umrissen werden konnten, nun eine materialistische Konkretion erfahren sollen.239 Dies bedeutet einerseits, dass auf der Objektseite der Handlungsstruktur, was in „L’être et le néant“ die Situation ausmachte, wie bereits erwähnt, ein tiefer gehendes Verständnis der gesellschaftlichen Verhältnisse notwendig wird, andererseits auf der Subjektseite die Verortung des menschlichen Subjekts innerhalb der materiellen Verhältnisse als konkrete Bedürfnisse äußernder „lebender Organismus“.240 Sartre entwickelt dieses gewandelte Verständnis von Handeln als Praxis einerseits, indem er seine frühe Auslegung der Existenzstrukturen auf die Fragestellung einer (philosophischen) Anthropologie umstellt, andererseits, indem er sein Verständnis von Gesellschaft über seine Auseinandersetzung mit dem Marxismus konkretisierte. Sartres Beschäftigung mit dem Marxismus, die im Zuge seines beginnenden politischen Engagements bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen hatte, ist gekennzeichnet von der besonderen Theorielage in Frankreich. Anders als etwa in Deutschland oder Italien, wo sich unter dem Einfluss von Georg Lukács, Ernst Bloch und der Kritischen Theorie bzw. von Antonio Labriola und Antonio Gramsci eine robuste Tradition des so genannten Westlichen Marxismus entwickelte, war die intellektuelle Linke in Frankreich lange Zeit entweder

235 Vgl. Sartre (1960a), a.a.O., S. 101. 236 Vgl. ebd., S. 103. 237 Vgl. ebd., S. 162. 238 Ebd. (Hervorhebung i.O.). 239 Vgl. Fahrenbach (2000), a.a.O., S. 474f. 240 Vgl. Sartre (1966a), a.a.O., S. 84.

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durch einen sich eher normativ verstehenden politischen Republikanismus geprägt oder sie stand unter dem starken ideologischen Einfluss der Kommunistischen Partei. Die theoretische Beschäftigung mit dem Marxismus hatte in Frankreich erst in den 30er Jahren begonnen und wurde nach 1945 vor allem durch die Rezeption der marxschen Frühschriften bestimmt. Eine intensive Diskussion der Schriften zur Kritik der politischen Ökonomie fand sogar erst in den 60er Jahren im Zuge der strukturalistischen Marxlektüre statt.241 Sartres Kritik des Marxismus richtet sich deshalb über weite Strecken gegen die dogmatische Variante in der Gestalt des Marxismus-Leninismus. Die marxsche Theorie selbst, die er vor allem aus der Perspektive des anthropologischen Frühwerkes in geschichtsphilosophischer Absicht interpretierte, verstand er als eine produktive kritische Philosophie, die durchaus in der Lage ist, ganz im Sinne Hegels, ihre Zeit in Gedanken zu erfassen. Ja, Sartre sah einen vitalen, undogmatischen Marxismus als adäquate und unhintergehbare Theorie der Moderne an. Der Marxismus bleibe, so Sartre, „[…] die Philosophie unserer Epoche […]“.242 So war es Sartre möglich – und damit knüpfte er implizit an die Tradition des Westlichen Marxismus an –, sich einerseits auf den Marxismus zu berufen und gleichzeitig die parteigängige Version eines Dialektischen Materialismus bis in die Grundfesten zu verdammen. Als theoretische Rückendeckung fungierten dafür seine eigenen praxisphilosophischen Prämissen, mit denen er sich zu Recht zumindest auf den frühen Marx berufen konnte. Sartre teilt die marxistische Auffassung von einer Dynamik der Geschichte auf der Grundlage von Klassenkämpfen und ebenso die Analyse der bürgerlichen Gesellschaft, der zufolge deren innere Widersprüche von ihrer ökonomischen Struktur herrührten. Und insbesondere teilt er das methodische Selbstverständnis von der Notwendigkeit einer dialektischen Theorie als heuristisches Mittel für eine adäquate Analyse gesellschaftlicher und historischer Dynamiken. Sartre plädierte insofern für eine offene Konzeption von Theorie, die in der Lage sein müsse, auf der Basis von Erfahrung „[…] konkrete Synthesen zu entdecken […]“, die sie zugleich „[…] als Momente einer in Bewegung begriffenen dialektischen Totalisierung erfassen […]“ können müsse.243 Damit ist die Stoßrichtung seiner Marxismuskritik in Grundzügen bereits angezeigt. Sein Gegner ist ein weitgehend vom Sowjetmarxismus inspirierter, sich szientistisch gebärdender Dogmatismus, der sich als ‚materialistische Weltanschauung‘ versteht und für sich beansprucht, ein wissenschaftlich fundiertes Wissen über den objektiven Gang der Geschichte zu besit-

241 Vgl. hierzu ausführlich Schoch (1980), a.a.O. 242 Vgl. Sartre (1960a), a.a.O., S. 37 (Hervorhebung i.O.). 243 Vgl. ebd.

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zen. Sartres Marxismuskritik bezieht sich auf theoretischer Ebene damit vornehmlich auf dieses objektivistische Wissenschaftsverständnis, wodurch der Marxismus sich nach seiner Auffassung im Zustand der „Sklerose“244 befindet – in politisch-praktischer Hinsicht richtet sich seine Kritik freilich seit Mitte der 50er Jahre vor allem gegen die damit verbundenen politischen Konsequenzen eines repressiven Sozialismus sowjetischer Prägung. Dem hält er beharrlich ein offenes dialektisches Denken entgegen, das, sofern es für sich beansprucht, gesellschaftlich revolutionäre Prozesse zu verstehen, sich an den Strukturen menschlichen Handelns orientieren müsse. Bereits in „Materialismus und Revolution“ formuliert Sartre 1946, dass Theorie nur dann revolutionär sein könne, wenn sie als ein „Denken in Situation“ kein objektives Wissen anbiete, sondern sich aus dem Praxiskontext verstehe. Weil eine so verstandene Philosophie „[…] aus der Aktion entspringt“, so Sartre, „und sich der Aktion zuwendet, die sie zu ihrer Erhellung braucht, ist sie keine Kontemplation der Welt, sondern muß selbst Aktion sein“.245 Philosophie wird von Sartre ganz ähnlich wie von Bloch als ‚eingreifendes Denken‘ verstanden. Der wesentliche Punkt, der gegen den Geltungsanspruch des dogmatischen Marxismus ins Feld geführt wird, ist also, dass ein Verständnis der Welt nur aus der Handlungsperspektive möglich ist. Wie in der Strukturalismus-Debatte der 60er Jahre klagt Sartre – wenn auch aus anderen Gründen – bereits in den 40er Jahren den notwendigen Vorrang der Binnenperspektive menschlichen Handelns gegenüber einer aus seiner Sicht nur vermeintlich möglichen, objektivistisch verkürzten Beobachterperspektive ein.246 Denn der von Seiten eines dogmatischen Marxismus formulierte Anspruch, mithilfe der Dialektik objektive Bewegungsgesetze von Geschichte und Gesellschaft erfassen zu können, wäre nur von einem überhistorischen Standpunkt aus möglich. Sollte die Dialektik aber tatsächlich ihre Gültigkeit beanspruchen können, so muss sich deren Logik im lebensweltlichen Praxisvollzug des Menschen auffinden lassen. Damit ist der Ausgangspunkt von Sartres Gesellschaftstheorie, wie er sie in der „Critique de la

244 Vgl. ebd. 245 Vgl. Jean-Paul Sartre (1946a): Materialismus und Revolution. In: ders., Der Existentialismus ist ein Humanismus und andere philosophische Essays 1943-1948. Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Philosophische Schriften 4, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 230f (Matérialisme et Révolution. In: ders., Situations III Paris 1949; Hervorhebung i.O.). 246 Vgl. hierzu u.a.: Iring Fetscher (1988): Sartre und der Marxismus. In: König (Hg.), a.a.O., S. 226-246; André Gorz (1966): Sartre und der Marxismus. In: ders., Der schwierige Sozialismus, Frankfurt/M. 1968, S. 215-245.

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raison dialectique“ formuliert, markiert: Es ist der Versuch, die materialistische Dialektik aus der Binnenperspektive philosophisch zu begründen, um damit ein methodisches Instrumentarium zum Verständnis konkreter gesellschaftlicher Zusammenhänge zu erlangen. Wenn Gesellschaft aus der Binnenperspektive verstehbar sein soll, genügt es allerdings nicht, allein auf die lebensweltliche Erfahrung des Menschen zu verweisen. Um diese als methodischen Ausgangspunkt zu rechtfertigen, ist es notwendig, dass Sartre die in „L’être et le néant“ erschlossenen Strukturen menschlicher Existenz im Sinne einer materialistischen Konkretisierung näher bestimmt. Damit ist eine Hinwendung zur Anthropologie verbunden. Diese versucht Sartre aus der Praxis des Menschen heraus zu entwickeln, da sie „[…] einen materiellen Handelnden (das organische Individuum) und die materielle Organisation eines Einwirkens auf die Materie durch die Materie voraussetzt“.247 Das „anthropologische Prinzip“ bestimmt somit die „konkrete Person durch ihre Materialität“.248 Theoriestrategisch verfolgt Sartre damit zweierlei. Die Hinwendung zur Anthropologie soll es einerseits möglich machen, die wissenschaftliche Methodenreflexion abzusichern, indem der Objektivitätsanspruch der dialektischen Theorie an die Sinnkonstitution eines binnenperspektivisch zurückgebundenen Erkenntnisinteresses geknüpft werden kann. Andererseits soll aus einer in die Materialität eingebundenen Handlungslogik die Basis für ein Verständnis der Dynamik gesellschaftlicher Interdependenzen und Ordnungsstrukturen erschlossen werden. Für Sartres Auseinandersetzung mit dem Marxismus bedeutet dies sowohl in methodischer wie praktischer Hinsicht, „[…] innerhalb des Marxismus den Menschen zurückzuerobern [...]“, der aus seiner Sicht „[…] die Leerstelle einer konkreten Anthropologie […]“249 aufweist. Die methodische Grundlegung dieses Vorhabens soll eine historischstrukturelle Anthropologie liefern. Sartre grenzt sich dabei deutlich von konkurrierenden Konzepten ab. Es geht ihm nämlich nicht um eine Bestimmung des menschlichen Daseins in spezifischer Differenz zu tierischen Lebens- und Organisationsformen, wie dies etwa die philosophische Anthropologie des 20. Jahrhunderts, insbesondere Gehlen und Plessner, vornahm, um über das Verständnis menschlicher Verhaltens- und Reflexionsweisen eine Wesensbestimmung des Menschen anzupeilen. Sartre setzt sich, wie schon seine Kritik an einer verabsolutierten Beobachterperspektive gezeigt hatte, aber ebenso klar von Ansätzen einer strukturalen Anthropologie ab, die den Menschen zu einem puren Objekt der

247 Vgl. Sartre (1960), a.a.O., S. 74. 248 Vgl. Sartre (1960a), a.a.O., S. 39 (Anmerkung). 249 Vgl. ebd., S. 93.

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Wissenschaft verdinglichen. Die Tatsache, dass der Mensch für die Humanwissenschaften nicht nur Objekt, sondern zugleich Subjekt ist, macht es aus Sartres Sicht erforderlich, die Subjektstelle gesondert zu bestimmen. Darin besteht die vornehmliche Aufgabe der Philosophie in ihrem Verhältnis zu den Wissenschaften. Sie fungiert gewissermaßen als handlungstheoretische Reflexion wissenschaftlicher Erkenntnis. Als historisch-strukturelle Anthropologie verstanden, beinhaltet ihr Vorhaben deshalb, was die strukturelle Komponente angeht, den Rückgang auf die „elementaren und formalen Strukturen“ des menschlichen Lebensvollzuges. Von dort aus soll sich aus der Binnenperspektive zumindest die „Ebene der synchronen Totalisierung“ rekonstruieren lassen, um „die praktischen Strukturen und das dialektische Verhältnis“ der verschiedenen Formen „aktiver Vielheit“250 verständlich machen zu können. Sartre beansprucht mit seiner Anthropologie also, von vornherein auf gesellschaftliche Strukturen auszugreifen. Deshalb betont er, „[…] daß der Mensch nicht existiert. Es gibt nur Personen, die vollständig durch die Gesellschaft, der sie angehören, und durch die historische Bewegung, die sie mit sich fortreißt, bestimmt sind“.251 Sartre wendet sich damit weiterhin, wie schon in „L’être et le néant“, gegen eine Wesensbestimmung des Menschen, was bedeutet, dass die Subjektstelle nicht objektivierbar bleibt. Die Binnenlogik der Praxis wird weiterhin durch den Entwurf, nun aber in die materiellen Verhältnisse eingebettet, bestimmt. Sie bildet gewissermaßen die Basisstruktur, von der aus sich gesellschaftliche Zusammenhänge in ihrer Komplexität erschließen lassen sollen. Dies ist die Aufgabenstellung der strukturellen Anthropologie, wie sie im ersten Band der „Critique de la raison dialectique“ umrissen wird. Die historische Anthropologie sollte im zweiten, Fragment gebliebenen Band entwickelt werden, in der die fundamentalen Strukturen in ihrer geschichtlichen Dialektik einsichtig gemacht werden. Erst über die Bewegung einer „synthetischen Progression“,252 mit deren Hilfe die dialektische Rationalität der Geschichte verständlich werden könnte, wäre dann möglicherweise eine nähere inhaltliche, dann allerdings historisch variable Bestimmung des Menschen denkbar. Sartres umfangreiches Forschungsprogramm lässt sich in groben Zügen folgendermaßen skizzieren: Ziel des Unternehmens ist es, die innere Logik des historischen Verlaufs aufzuklären, also das, was der dogmatische Marxismus als gesichertes Wissen behauptet, auf eine begründungsfähige Grundlage zu stellen. Sartre geht durchaus davon aus, dass es so etwas wie einen „Sinn der Geschich-

250 Vgl. Sartre (1960), a.a.O., S. 866. 251 Ebd., S. 37 (Hervorhebung i.O.). 252 Vgl. ebd., S. 866.

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te“253 geben könnte, der sich aus dem bisherigen historischen Verlauf rekonstruieren ließe. Damit ist freilich nicht ein Durchdringen der realen Geschichte gemeint. Sartre beabsichtigt damit lediglich ein heuristisches Instrumentarium historisch-praktischer Selbstreflexion bereitzustellen.254 Ein möglicher Sinn der Geschichte müsste sich an einer Dynamik ablesen lassen, die sich aus der zeitlichen Abfolge gesellschaftlicher Totalitäten ergibt, die als historisch provisorische Gesamtheiten einer permanenten Detotalisierung und Retotalisierung durch die Pluralität gesellschaftlicher Praxen unterliegen. Nur wenn es gelingt, diese Dynamik intelligibel zu machen, könnte möglicherweise von einer Orientierung der Geschichte255 gesprochen werden. Sartre ist zum Zeitpunkt, als er den ersten Band der „Critique“ schreibt, diesbezüglich recht optimistisch: „Wir werden dann den Sinn der Totalisierung, totalisierender Sinn oder detotalisierte Totalisierung, verstehen und schließlich die vollständige Äquivalenz der Praxis mit ihren bestimmten Verzweigungen und der Dialektik als Logik der schöpferischen Aktion, das heißt letztlich als Logik der Freiheit nachweisen können.“256 Wie an dieser kompakten Formulierung zu ersehen, ist sein Optimismus allerdings gleich an ein ganzes Bündel von Voraussetzungen geknüpft, die Sartre im Vorfeld klären muss. Sie alle hängen mit seinem handlungstheoretischen Ansatz zusammen und führen zum Ausgangspunkt der „Critique de la raison dialectique“ zurück. Denn nur aus handlungstheoretischer Perspektive sollen historische Prozesse ja überhaupt einsichtig gemacht werden können. Das bedeutet, um eine geschichtliche Dynamik in ihrer inneren Logik zu rekonstruieren, muss diese aus der Logik individueller Praxen erschließbar sein. Nur unter dieser Voraussetzung kann überhaupt eine „Logik der Freiheit“ gedacht werden. Um Handlungsebene und Geschichte verknüpfen zu können, beabsichtigt Sartre in zwei Schritten vorzugehen. Er versucht zunächst über die Analyse der individuellen Praxis die Basiskategorien zu entwickeln, um auf deren Grundlage allgemeine Strukturelemente gesellschaftlicher Handlungskoordinierung bestimmen und deren innere Logik verstehbar machen zu können. Die inneren Widersprüchlichkeiten der so zunächst formal entwickelten gesellschaftlichen Ensembles sollen also auf struktureller Ebene noch bei historischem Stillstand als Produkte einer Pluralität sich gegenseitig bedingender, sich widersprechender und sich teilweise wieder aufhebender Totalisierungen individueller Praxen begriffen werden. Dieser Schritt wird noch weitgehend im ersten Band der „Critique de la raison dialectique“

253 Vgl. ebd., S. 72. 254 Vgl. ebd., S. 41f. 255 Vgl. ebd., S. 71. 256 Ebd., S. 72.

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vorgeführt. Sie beansprucht, den kategorialen Rahmen für ein Verständnis historischer Prozesse zu liefern, oder wie Sartre sich ausdrückt, „[…] die statischen Bedingungen der Möglichkeit einer Totalisierung, das heißt einer Geschichte […]“.257 In einem zweiten Schritt müsste dann der Sprung in die Geschichte vollzogen werden.

Der transzendentale Status der historisch-strukturellen Anthropologie Vor diesem Hintergrund wird klar, warum der historisch-strukturellen Anthropologie eine Schlüsselrolle in Sartres gesamtem Unternehmen zukommt. Ihr wird gleich eine zweifache Begründungsfunktion überantwortet. In praktischer Hinsicht muss sie die gesamte Gesellschaftstheorie aus der Struktur menschlichen Handelns begründen. Zugleich fällt ihr aber noch eine zweite, erkenntnistheoretische Aufgabe zu. Sie muss in der inneren Logik der Praxis die epistemologischen Voraussetzungen für die von Sartre geforderte Intelligibilität der Dialektik aufzeigen. Denn nur wenn die Dialektik in einer existenziellen Dimension menschlicher Praxis verankert werden kann, kann sie als legitime Methode zum Verständnis des In-der-Welt-seins des Menschen anerkannt werden. Der Aufweis der Tatsache einer dialektischen Erfahrung des Menschen ist somit der theoretische Ausgangspunkt, von dem aus es möglich werden soll, globale Strukturen aus der Binnenperspektive heraus zu erfassen und damit das gesamte Programm einer kritischen Gesellschaftstheorie zu begründen. Sartres historisch-struktureller Anthropologie kommt somit ein transzendentaler Status zu.258 Denn sie führt das gesamte Unternehmen auf die existenziellen Grundlagen menschlicher Praxis zurück. Im Rückgang auf deren formale Strukturen sollen die Bedingungen der Möglichkeit sowohl des gesellschaftlichen Seins wie deren Begreifbarkeit, und das bedeutet der prinzipiellen Möglichkeit, diese mit den Mitteln einer dialektischen Vernunft zu denken, erschlossen werden. Um dies zu gewährleisten, muss Sartre zeigen können, dass die Existenz der Dialektik kein apodiktischer Glaubenssatz sein kann, sondern dass die menschliche Praxis als dialektische Erfahrung beschrieben werden kann. „Wenn es die

257 Vgl. ebd., S. 71. 258 Vgl. Fahrenbach (2000), a.a.O., S. 469; ebenso u.a. Klaus Hartmann (21983a): Sartres Sozialphilosophie. In: ders., a.a.O., S. 54ff; daran anknüpfend: Ingbert Knecht (1975): Theorie der Entfremdung bei Sartre und Marx, Meisenheim am Glan, S. 1.

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Dialektik gibt“, so Sartre, „müssen wir sie erleiden als unerbittliches Gesetz der Totalisierung, die uns totalisiert, und sie gleichzeitig erfahren in ihrer freien praktischen Spontaneität als totalisierende Praxis, die wir sind; […].“259 Die dialektische Vernunft muss also anhand dieser Erfahrung aufgewiesen und bestimmt werden können. Sartre versteht dieses Vorhaben in ausdrücklicher Anspielung auf Kants „Kritik der reinen Vernunft“ als kritisches Fragen nach den „[…] Grenzen, der Gültigkeit und der Reichweite der dialektischen Vernunft […]“.260 Damit ist zugleich die Bedeutung des Kritikbegriffs angezeigt, unter dem der Titel „Critique de la raison dialectique“ firmiert. Mit seinem Anspruch, die marxistische Gesellschaftstheorie auf einer anthropologischen Basis zu begründen, versteht Sartre unter Kritik etwas anderes als Marx. Hatte die „Kritik der politischen Ökonomie“ zum Ziel, die Widersprüche des Kapitalismus aufzuzeigen und in der kritischen Auseinandersetzung mit den damals gängigen Theorien der Nationalökonomie die Geschichtlichkeit dieser Gesellschaftsformation und damit die prinzipielle Möglichkeit ihrer Überwindung aufzuzeigen,261 so versteht Sartre unter Kritik die Selbstkritik der Vernunft im kantischen Sinne. Dieser Bezug zu Kant ist freilich nur in formaler Hinsicht zu verstehen, hatte Kant doch der Dialektik als „Logik des Scheins“ keine realitätserschließende Funktion zuerkannt. Ähnlich aber wie die kantische Kritik beabsichtigt, die Vernunft in Auseinandersetzung mit Dogmatismus und Skeptizismus in ihren Quellen, Umfang und Grenzen zu bestimmen, versucht Sartre dies für die dialektische Vernunft in Abgrenzung zu einem in letzter Instanz idealistisch operierenden materialistischen Dogmatismus einerseits und zum Positivismus der modernen Wissenschaften andererseits. Die Selbstkritik der dialektischen Vernunft kann freilich, anders als bei Kant, nicht aus Prinzipien der reinen Vernunft erfolgen, sondern sie muss sich „[…] als freie Kritik ihrer selbst und als gleichzeitige Bewegung der Geschichte und der Erkenntnis begründen und entwickeln lassen […]“.262 Das Ziel einer reflexiven Selbstkritik der dialektischen Vernunft, die sich also sowohl an der Logik der Erkenntnis wie am Gang der Geschichte erweisen

259 Sartre (1960), a.a.O., S. 73. 260 Vgl. ebd., S. 22; ähnlich formuliert auch S. 870. 261 Vgl. hierzu etwa die bekannte Äußerung von Marx gegenüber Lassalle: „Die Arbeit, um die es sich zunächst handelt, ist Kritik der ökonomischen Kategorien oder, if you like, das System der bürgerlichen Ökonomie kritisch dargestellt. Es ist zugleich Darstellung des Systems und durch die Darstellung Kritik desselben.“ Karl Marx: Brief an F. Lassalle (1858), MEW 29, Berlin 61987, S. 550 (Hervorhebung i.O.). 262 Vgl. Sartre (1960), a.a.O., S. 22.

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muss, ist aber trotzdem „[…] a priori […] den heuristischen Wert der dialektischen Methode für die Anwendung auf die Wissenschaft vom Menschen […]“ nachzuweisen und damit die Notwendigkeit, „[…] jede beliebige Tatsache, vorausgesetzt, daß sie eine menschliche ist, in die ablaufende Totalisierung zurückzuversetzen und von daher zu verstehen“. Dieses Vorhaben bezeichnet Sartre wiederum mit Bezug auf Kant als „Grundlegung von ‚Prolegomena einer jeden künftigen Anthropologie‘“.263 Dies bedeutet aber gerade, dass eine transzendentale Begründung der Erfahrungswissenschaften nicht mehr von einer erkennenden Subjektivität ausgehen kann, wie dies bei Kant noch möglich ist. Und in dieser Hinsicht vollzieht Sartre auch eine Abkehr von seiner frühen Position, denn im Grunde hatte er dies für den Bereich menschlicher Erfahrung in „L’être et le néant“ ebenfalls versucht, wenn auch über ein bewusstseinsontologisches Modell. Die dialektische Vernunft muss sich nun aus den formalen Strukturen des In-der-Welt-seins als Praxis begründen lassen. Insofern ist das Cogito als „apodiktische Selbstgewißheit“ des Bewusstseins nur noch der „erkenntnistheoretische Ausgangspunkt“264 der kritischen Reflexion. Sartre will seine Position von „L’être et le néant“ überwinden, indem er über die Grundlegung einer historischstrukturellen Anthropologie auf das gesellschaftliche Sein ausgreift und somit den Einzelnen in einer widersprüchlichen Totalität situiert. „Dadurch“, betont Sartre, „verschwindet das Individuum aus den historischen Kategorien: Die Entfremdung, das Praktisch-Inerte, die Serien, die Gruppen, die Klassen, die Komponenten der Geschichte, die Arbeit, die individuelle und gemeinsame Praxis – all das erlebt es von innen. Wenn die Bewegung der dialektischen Vernunft existiert, bringt sie selbst dieses Leben, diese Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse, zu bestimmten Milieus, bestimmten Gruppen hervor.“265

In gesellschaftstheoretischer Perspektive bedeutet dies, dass Sartre, trotz seines handlungstheoretischen Ansatzes und trotz seines Insistierens auf die Subjektivität des Einzelnen, keinen methodologischen Individualismus vertritt.266 Das Individuum ist lediglich der „methodologische Ausgangspunkt“, von dem aus die gesellschaftliche Totalität begreifbar sein muss, die es in seinen Handlungsvoll-

263 Vgl. ebd., S. 68 (Hervorhebungen i.O.). 264 Vgl. ebd., S. 52. 265 Ebd., S. 52f. 266 Vgl. hierzu die prägnante Charakterisierung der wesentlichen theoretischen Implikationen eines methodischen Individualismus bei Giddens (1984), a.a.O., S. 270ff.

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zügen bedingen und entfremden, denn „[…] sein kurzes Leben löst sich in dem mehrdimensionalen menschlichen Ensemble auf, das seine Totalisierung verzeitlicht und seine Zeitlichkeit totalisiert“.267 Der knappe Aufriss des Unternehmens der „Critique de la raison dialectique“ dürfte bereits erahnen lassen, dass Sartre mit mehreren Problemen zu kämpfen hat. Der umfassende Erklärungsanspruch, der bis zu einer logischen Durchdringung des geschichtlichen Verlaufs aus der Handlungsperspektive reichen soll, könnte, abgesehen von konzeptionellen Problemen, auf die noch zurückzukommen ist, allein schon am Umfang des zu entfaltenden Materials zum Scheitern verurteilt sein. Denn anders als er es sich erhoffte, wäre dieses Vorhaben wahrscheinlich auch für ein noch so groß angelegtes interdisziplinäres Forschungsprogramm kaum zu bewältigen.268 Ein Indiz dafür ist, dass Sartres Versuch, sein Programm in seiner monumentalen Flaubert-Studie in umgekehrter Richtung am Beispiel eines historischen Individuums vorzuexerzieren, nicht abgeschlossen werden konnte. Zwar musste Sartre aus Altersgründen aufgeben,269 doch die Anlage des in der deutschen Ausgabe rund 2500 Seiten umfassenden Fragmentes, in dem versucht wird, ein komplexes Beziehungsnetz zu knüpfen, um ein Individuum innerhalb seines historisch-gesellschaftlichen Kontextes verstehbar zu machen, lässt vermuten, dass das Vorhaben auch aus prinzipiellen Gründen unabschließbar war. Für die hier verfolgte Fragestellung ist dies allerdings nur von untergeordneter Bedeutung. Dem bisher Skizzierten ist zu entnehmen, dass Sartre dem Subjekt eine veränderte Rolle innerhalb seines Theorieansatzes zuweist. Es stellt für die historisch-strukturelle Anthropologie zwar den methodologischen Ausgangspunkt dar, eine Begründungsfunktion soll ihm aber nicht mehr zukommen. Die Begründung von Wissen und Handeln soll über den Aufweis einer dialektischen Vernunft erfolgen, die sich aus dem Handlungsvollzug erschließen lassen muss. Es wird insofern im Folgenden zu diskutieren sein, ob Sartre damit der Subjektkritik Foucaults entgeht, die sich ja gerade ausdrücklich auf ein theoretisch nicht ausweisbares anthropologisches Fundament des modernen Denkens kapriziert hatte. Um dies zu klären, sollen im Weiteren zwei Bereiche von Sartres Unternehmen näher untersucht werden. In einem ersten Schritt wird es um das erkenntnistheoretische Fundament gehen, wie er es in der „Cri-

267 Vgl. Sartre (1960), a.a.O., S. 56. 268 Vgl. ebd., S. 42. 269 Vgl. Jean-Paul Sartre (1976): Über die geplante Fortsetzung von ‚Der Idiot der Familie‘. Interview mit Michel Sicard. In: ders., Was kann Literatur?, a.a.O., S. 205 (Sartre parle de Flaubert. Interview par Michel Sicard. In: Magazine Littéraire 118, Novembre 1976).

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tique de la raison dialecitique“ entfaltet. Sartre entwirft in der direkten Auseinandersetzung mit einer dogmatischen Marxismusversion seine Theorie dialektischer Erfahrung, auf der die grundlegenden Kategorien der historisch-strukturellen Anthropologie basieren (1). Von dort aus können dann die elementaren Praxisstrukturen menschlicher Subjekte entwickelt und einsichtig gemacht werden. Deren Verhältnis zur Materie und die fundamentalen Formen der Intersubjektivität lassen die ersten Formen gesellschaftlicher Koordinierung sichtbar werden (2).

(1) Die erkenntniskritische Grundlegung der dialektischen Vernunft Dass Sartre sein erkenntnistheoretisches Modell dialektischer bzw. kritischer Erfahrung ausgerechnet in Auseinandersetzung mit den dogmatischen Varianten des Marxismus entwickelt, hat neben der bereits erwähnten Verfassung der marxistischen Theorie in Frankreich auch handfeste politische Gründe, die mit seinem Anspruch an Philosophie als Theorie revolutionären Handelns zusammenhängt. Sartre deutet die Sklerose des Marxismus in der Sowjetunion vor dem Hintergrund ihrer internationalen Isolation und des damit verbundenen versuchten Aufbaus eines ‚Sozialismus in einem Land‘ als das Resultat des strategischen Interesses am puren Machterhalt. Dies habe zu einem Auseinanderbrechen des Verhältnisses von Theorie und Praxis geführt, wodurch der Marxismus sein heuristisches Instrumentarium zu Gunsten von Dogmatismus einerseits und eines rein technischen Verständnisses von Praxis andererseits aufgegeben habe. „Die Trennung von Theorie und Praxis“, so Sartre, „führte dazu, diese in einen prinzipienlosen Empirismus und jene in ein reines und starres Wissen zu verwandeln.“270 Sartres Anliegen ist nun, diese Trennung zu überwinden, indem er das methodische Instrumentarium der Dialektik aus der Praxis heraus zu entwickeln versucht. Die Tatsache, dass sich Sartre dabei mit einer philosophisch eher unbefriedigenden Variante des Marxismus auseinandersetzt, mindert nicht die Relevanz seiner Fragestellung. Worum es ihm in der Abgrenzung von parteimarxistischen Ideologien geht, ist die Begründung der „Dialektik als universale Methode“ – und zwar „a priori“.271 Denn – und diese Diagnose ist aus erkenntnistheoretischer Perspektive völlig berechtigt – solange dem historischen Materialismus

270 Sartre (1960a), a.a.O., S. 29. 271 Vgl. Sartre (1960), a.a.O., S. 19 (Hervorhebung i.O.).

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diese Begründung fehlt, kann auch sein Geltungsanspruch nur spekulativ bleiben. „Diese totalisierende Idee hat alles begründet außer ihrer eigenen Existenz“, polemisiert Sartre.272 Und Letzteres einzufordern, besteht in der Tat nicht nur gegenüber einem dogmatischen Marxismusverständnis zu Recht. Trotz aller Differenzen und theoretisch immenser Niveauunterschiede sind erkenntnistheoretische Fragen auch bei Marx selbst von eher untergeordneter Bedeutung geblieben. Zwar finden sich immer wieder sporadische Anmerkungen, eine explizite Begründung der eigenen Methode ist er jedoch schuldig geblieben. Der Dialektik als Methode der Darstellung der auf Warenproduktion basierenden bürgerlichen Gesellschaft fehlt eine systematische Grundlegung des Verhältnisses von Denken und gesellschaftlichem Sein.273 Insofern formuliert Sartre ein fundamentales Problem der marxistischen Theorie. Seine Auseinandersetzung mit dem dogmatischen Marxismus ist für die hier verfolgte Fragestellung aber noch von weiterem Interesse. Denn er entwickelt nicht nur in Abgrenzung dazu seinen Begründungsversuch über das Modell dialektischer Erfahrung, das sich der foucaultschen Kritik des modernen Denkens ausgesetzt sehen wird, er formuliert zugleich einen bemerkenswerten Einwand gegen die vermeintliche Beobachterperspektive einer objektivistisch auftretenden marxistischen Gesellschaftsanalyse: eine unzulässige Entkoppelung der empirischen von der transzendentalen Ebene. Sartre erhebt also aus der Binnenperspektive gegenüber einem objektivistisch auftretenden Marxismus einen auf den ersten Blick exakt spiegelverkehrten Einwand, den Foucault ihm gegenüber aus der Beobachterperspektive geltend macht. Die Ursache der erkenntnistheoretischen Problematik des Marxismus und dessen philosophiegeschichtliches Abgleiten in den Dogmatismus verortet Sartre in einer unkritischen Übernahme der Hegelschen Dialektik. Denn anders als bei Hegel, der aufgrund idealistischer Prämissen noch von einer notwendigen Identität von Denken und Sein ausgehen konnte, besteht das grundlegende Problem einer materialistischen Dialektik gerade darin, dass sich das Sein im historischen Verlauf nicht auf das Wissen reduzieren lässt, sondern ja gerade umgekehrt jenes dieses bedingen soll. Zwischen Denken und Sein kann daher, wie Sartre betont, dann nur noch die Praxis vermitteln, durch die sowohl das materielle Sein partiell überschritten wird wie damit zugleich auch das jeweils aktuelle Wissen. Denn mit dem marxschen Versuch, Hegels dialektische Methode vom Kopf auf die Füße zu stellen, entstehe eine prinzipielle Differenz zwischen Sein, Handeln

272 Ebd. 273 Vgl. hierzu Eberhard Braun (1992): „Aufhebung der Philosophie“. Marx und die Folgen, Stuttgart/Weimar, S. 156ff.

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und Wissen.274 Damit ist das erkenntnistheoretische Problem gestellt. Denn wenn Sein und Wissen auseinanderfallen, dann kann die Dialektik für sich nur dann Geltung beanspruchen, wenn sie sowohl die Logik des Seins wie die des Erkennens nachvollzieht. Denn nur dann ist Letztere in der Lage, Erstere zu begreifen. Darin besteht laut Sartre die Grundannahme einer posthegelianischen dialektischen Methode: „Wir Dialektiker glauben, daß der Erkenntnisprozeß von dialektischer Ordnung ist, daß die Bewegung des Objekts (was immer es auch sei) selbst dialektisch ist und daß diese Dialektiken ein und dieselbe sind.“275 Nun kann sich Sartre freilich nicht damit begnügen, dies zu glauben, er beansprucht, die Dialektik dieser Prozesse transparent zu machen und zu begründen. Sartre wirft also dem Marxismus vor, dieses Problem der eigenen Methodenbegründung unterschlagen zu haben, was vor allem in seiner dogmatischen Version offen zu Tage trete. Er spricht von einem „dialektischen Dogmatismus“,276 den er mangels erkenntnistheoretischer Reflexion hilflos zwischen Positivismus277 und Idealismus278 hin und her taumeln sieht. Um diesen Vorwurf zu belegen, erläutert Sartre seine Marxismuskritik anhand der bekannten Unzulänglichkeiten der Widerspiegelungstheorie und der Unhaltbarkeit der von Engels behaupteten Dialektik der Natur. Sein Vorwurf besteht im Grunde darin, dass Hegels idealistische Prämisse einer Identität von Denken und Sein unkritisch beibehalten werde. Deren Bedingungsverhältnis werde lediglich umgekehrt, anstatt, wie es für eine materialistische Theorie erforderlich wäre, die faktische Differenz von Denken und Sein anzuerkennen. Sartre warnt daher: „Es wäre ein Irrtum, zu glauben, man habe alles versöhnt, indem man zeigt, daß das Denken, soweit es Sein ist, von derselben Bewegung gelenkt wird wie die gesamte Geschichte. Genau in diesem Maße kann es sich nicht in der Notwendigkeit seiner dialektischen Entwicklung begreifen.“279 Denn im Grunde wäre Denken dann kein dialektisches Begreifen mehr, sondern müsste als passiver Reflex des Seins verstanden werden. Und geradezu provokant fragt er, ob es nicht sogar eher naheläge, einen unlösbaren Widerspruch zwischen der Erkenntnis des Seins und dem Sein der Erkenntnis anzunehmen. Die Art, wie Sartre nun die Problematik einer materialistischen Erkenntnistheorie formuliert, erinnert der Form nach an die Schwierigkeiten der Selbstbe-

274 Vgl. Sartre (1960), a.a.O., S. 24. 275 Ebd., S. 21 (Hervorhebung i.O.). 276 Vgl., ebd., S. 36. 277 Vgl., ebd., S. 23. 278 Vgl., ebd., S. 29. 279 Ebd., S. 25 (Hervorhebungen i.O.).

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gründung, wie er sie in „L’être et le néant“ anhand der Reflexionsfigur der traditionellen Selbstbewusstseinstheorie entfaltet hatte. Sartre spielt auf eine Analogie zu den Aporien an, die sich aus einem bewusstseinstheoretisch gefassten Subjekt-Objekt-Modell ergaben, wenn er folgendermaßen argumentiert: Wenn Denken und Sein auseinanderfallen und das Denken, obwohl zugleich Sein, doch nicht mehr wie bei Hegel das Ganze sein kann, dann tritt es auch seinem eigenen Sein aus einer Distanz gegenüber. Das Problem besteht laut Sartre nun darin: Das Denken sieht „[…] seiner eigenen Entfaltung zu wie einer empirischen Folge von Momenten, und diese Erfahrung liefert ihm das Erlebte als Kontingenz und nicht als Notwendigkeit“.280 Damit ist nun aber offen, was das Erkannte über das Erkennende besagt. Denn angenommen, das Denken begreift sich selbst als dialektischen Prozess, so findet es diesen in der Reflexion auf sich selbst lediglich als äußere nackte Tatsache vor. Damit ist aber laut Sartre weder geklärt, ob die so erfasste Bewegung des Gegenstandes sich notwendig nach der des Denkens richtet oder ob umgekehrt das Denken sich nach der Bewegung des Gegenstandes richtet. Zur Auflösung dieses Zirkels bieten sich laut Sartre zunächst zwei Alternativen an, die allerdings beide theoretisch unbefriedigend sind: eine Rückkehr zum Idealismus oder die Flucht in einen kruden Empirismus. Der Idealismus biete die zumindest denkbare Möglichkeit, eine prästabilierte Harmonie von Denken und Sein als miteinander korrelierende Bewegungen anzunehmen. Denn Sartre fragt sich: „Wenn die Erforschung der Wahrheit in ihren Methoden dialektisch sein soll, wie kann man dann ohne Idealismus beweisen, daß sie der Bewegung des Seins entspricht?“281 Der Empirismus hingegen hätte den scheinbaren Vorteil, dass sich die Dialektik offenbar in der Bewegung des Seins kundtun müsste. Unklar wäre dann aber, wie dieses äußerliche empirische Faktum von einem Denken als notwendig beurteilt werden könnte, das nach dieser Auffassung aber als rezeptiv, passiv und insofern als nicht-dialektisch vorzustellen sei.282 Sartres Lösungsvorschlag besteht, wie noch zu zeigen sein wird, in dem hermeneutischen Zugang zu den Grundstrukturen individueller Praxis, über den sich deren innere Dialektik und damit die Vermittlung von Denken und Sein entfalten lassen soll. Zunächst treibt er jedoch das erkenntnistheoretische Dilemma eines unkritischen Materialismus zwischen Idealismus und Empirismus weiter auf die Spitze, indem er zu zeigen versucht, wie dieser sich dadurch notwendig schrittweise in einen Dogmatismus verwandelt. Sartre billigt prinzipiell dessen

280 Vgl. ebd. 281 Ebd. (Hervorhebung i.O.). 282 Vgl. ebd.

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Versuch, den Dualismus von Denken und Sein durch die ontologische Unterstellung eines Monismus zu überwinden. Zu Recht verweise dieser auf die Materialität der Ideen. Der Irrtum besteht nun seiner Ansicht nach aber darin, dass deren Materialität als gegebene Tatsache unkritisch gesetzt wird. Damit beanspruche der Materialismus ein Apriori-Wissen, das eben nicht aus der Analyse menschlicher Praxis gewonnen ist und insofern nicht gerechtfertigt werden kann. Der unterstellte Monismus von Denken und Sein müsse deshalb in einen neuen Dualismus zerfallen, nämlich in den von Sein und Wahrheit.283 Worum es Sartre hier geht, ist Folgendes: Solange die Frage einer praktischen Vermittlung von Denken und Sein ausgeklammert bleibt, hat eine monistische Auffassung das Problem, dass sie die eigene Position nicht rational ausweisen kann. Damit formuliert er ein altes Problem materialistischer Erkenntnistheorie. Wenn Ideologien als Produkte einer universalen Dialektik zu verstehen sein sollen, kann das Wissen über deren Logik nur von einem externen Standpunkt aus gewonnen werden. „Damit“, so Sartre, „gewinnt die Idee als Wahrheitsträgerin alles zurück, was sie seit dem Zusammenbruch des Idealismus ontologisch verloren hatte. Sie erwirbt den Rang einer Norm des Wissens.“284 Die nächsten Schritte in den Dogmatismus sind insofern vorgezeichnet. Sie führen in den Glauben an eine Dialektik der Natur und zu den damit verbundenen erkenntnistheoretischen Annahmen der Widerspiegelungstheorie. Der Preis dafür ist ein gewissermaßen halbierter Materialismus, denn beide haben laut Sartre zur Voraussetzung, dass sie „[…] dem Denken selbst jede dialektische Tätigkeit absprechen, es in der universalen Dialektik auflösen, den Menschen durch seine Auflösung im Universum einfach ausschalten. Auf diese Weise können sie [die Marxisten/M.R.] die Wahrheit durch das Sein ersetzen. Es gibt keine Erkenntnis im eigentlichen Sinne mehr; das Sein manifestiert sich nicht mehr, auf welche Weise auch immer: es entwickelt sich nach seinen eignen Gesetzen“.285

Der dogmatische Materialismus verharrt also innerhalb der erkenntnistheoretischen Aporie, indem er sich auf die Seite des Empirismus zu schlagen wähnt, dabei aber seine idealistischen Voraussetzungen unterschlägt. Sartre nennt ihn deshalb einen „äußerlichen oder transzendentalen dialektischen Materialismus“.286 Mit der Ausklammerung der menschlichen Praxis als dialektische Ver-

283 Vgl. ebd., S. 26. 284 Ebd. 285 Ebd., S. 27. 286 Vgl. ebd.

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mittlung von Denken und Sein verlagert sich die Frage der Dialektik auf die Ebene des Seins. Sie erhält den Status eines Gesetzes der objektiven Ordnung der Natur, das keiner weiteren Begründung bedarf. Die Geschichte der Menschheit wird damit zu einem Aspekt der Naturgeschichte degradiert. Sartre kritisiert daher: „Durch einen solchen Materialismus von außen wird die Dialektik als Exteriorität aufgezwungen: die Natur des Menschen liegt außer seiner selbst in einem apriorischen Gesetz, in einer außermenschlichen Natur, in einer Geschichte, deren Anfänge sich im Nebelhaften verlieren.“287 Das Wahrheitsproblem reduziert sich damit dank der Annahme einer Widerspiegelung des Seins im einzelnen Bewusstsein scheinbar auf das empirische Problem der Überprüfung des Verhaltens anhand von Erfolgs- bzw. Normalitätskriterien. Ausgeblendet werde dabei freilich, dass diese Kriterien nur vor dem Hintergrund einer unterstellten Wahrheit des Seins gewonnen werden können, wie sie nur einem universalen, absoluten Bewusstsein erscheinen kann. Sartre spricht in diesem Zusammenhang von einem „skeptizistischen Objektivismus“, der auf einen „dogmatischen Idealismus“ angewiesen bleibt.288 Soweit bewegt sich Sartres Kritik des dogmatischen Marxismus im Großen und Ganzen innerhalb der Argumentationslinien des Westlichen Marxismus.289 Sein Verweis auf die Unzulässigkeit, die von Hegel und Marx am Verhältnis der Menschen zueinander und zur Materie entwickelten dialektischen Figuren von der Geschichte auf die Natur zu übertragen,290 sein Insistieren darauf, dass die Annahme einer Dialektik der Natur auf einer wissenschaftlich nicht falsifizierbaren Behauptung beruht,291 all das sind Einwände, deren Triftigkeit sich aus heutiger Sicht vor allem aus dem zeitlichen und politischen Kontext im Frankreich der 50er und 60er Jahre erklären. Das Originelle an Sartres Marxismuskritik zeigt sich erst, wenn die Konsequenzen für seine Subjektkonzeption sichtbar werden. Der Dualismus von Denken und Sein, der den dogmatischen Materialismus in der Wahrheitsfrage dazu zwingt, zwischen den unbefriedigenden Lösungsangeboten von Empirismus und Idealismus hin und her zu taumeln, führt

287 Ebd., S. 28 (Hervorhebung i.O.). 288 Vgl. ebd., S. 28f. 289 Vgl. etwa Herbert Marcuse (1958): Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, Darmstadt/Neuwied 1964; die Kritik der Annahme einer Naturdialektik war bereits 1919 von Lukács formuliert worden, vgl. Georg Lukács (1923): Geschichte und Klassenbewußtsein, Darmstadt/Neuwied 1968, S. 58ff, explizit S. 62 (Anmerkung). 290 Vgl. Sartre (1960), a.a.O., S. 29. 291 Vgl. ebd., S. 32f.

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nämlich laut Sartre notwendig zu einer begrifflichen Verdoppelung der Persönlichkeit. Da der Mensch unter den theoretischen Annahmen der Widerspiegelungstheorie und einer Dialektik der Natur nicht mehr als Praxis, der sich die Welt, in der sie situiert ist, schrittweise enthüllt, gedacht wird, sondern als ein Bewusstsein, in dem sich der objektive Gang des Seins niederschlägt, so fragt sich Sartre, wie dieses passive Subjekt eigentlich in der Lage sein soll, dessen Wahrheit zu erkennen. Die einzige Möglichkeit, die sich dem dogmatischen Materialismus bietet, ist nach seiner Auffassung die Aufspaltung des Menschen in ein empirisches und ein transzendentales Bewusstsein. Die Vermittlung beider muss dieser allerdings notwendig schuldig bleiben. Denn das Denken des „empirischen Menschen“ kann dann nur als ein Verhalten vorgestellt werden, das durch das Gesetz der objektiven Welt bedingt ist. Damit ist der Mensch aber nicht in der Lage, dieses zu erkennen. Denn, so argumentiert Sartre: „Das Gesetz bringt nicht von selbst die Erkenntnis des Gesetzes hervor.“292 Die logische Konsequenz: Wenn das Subjekt das Gesetz der Dialektik erleidet, existiert es selbst als Passivität, kann also nicht dazu in der Lage sein, seine Erfahrungsgehalte dialektisch zu synthetisieren. Das Gesetz der Dialektik müsste ihm prinzipiell unzugänglich sein. Dessen Notwendigkeit kann dann aber notgedrungen nur von einer hypothetischen Außenperspektive eingesehen werden, indem sich das Subjekt auf die Stufe der Allgemeinheit stellt. Dies erfordert laut Sartre die Konstruktion eines „transzendentalen Menschen“ jenseits seiner individuellen Existenz. Der dogmatische Materialismus ist insofern wider Willen mit zwei einander widersprechenden Denkweisen ausgerüstet, „[…] von denen keine uns denken kann, noch sich denken: Denn die eine, die passiv, feststehend, diskontinuierlich ist, gibt sich als eine Erkenntnis aus und ist nur eine verzögerte Wirkung äußerer Ursachen; und die andere, die aktiv, synthetisch und ‚desituiert‘ ist, kennt sich selber nicht und betrachtet in totaler Immobilität eine Welt, in der das Denken nicht existiert“.293

Sartre polemisiert genüsslich gegen die Doktrinäre des Parteimarxismus, die sich konsequenterweise im Zustand eines schizophrenen Selbst- und Weltbewusstseins befunden haben müssen, eine „eigenartige Entfremdung“, wie er betont, die ihnen „[…] ihr eigenes erlebtes Denken als Gegenstand eines Universalbe-

292 Ebd., S. 31. 293 Ebd. (Hervorhebungen i.O.).

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wußtseins präsentiert und es ihrer eigenen Reflexion als dem Denken des Anderen unterwirft“.294 Sartre führt also, und das ist bemerkenswert, mit Blick auf die Begründbarkeit einer dialektischen Vernunft gegenüber dem dogmatischen Marxismus ein ganz ähnliches Argument ins Feld wie Foucault in „Les mots et les choses“ gegenüber der Konzeption des modernen Subjektes. Der Unterschied ist allerdings, dass Sartre das Problem der empirisch-transzendentalen Reduplizierung gerade dadurch auftauchen sieht, dass der Marxismus für sich beansprucht, eine vermeintliche, nur transzendental denkbare Beobachterperspektive zur Rechtfertigung der Existenz der Dialektik einnehmen zu können. Damit beabsichtigt er, die Immanenz der menschlichen Praxis zu übersteigen. Foucault hatte hingegen von einem virtuellen externen Standpunkt aus zu zeigen versucht, dass gerade die Binnenperspektive, die notgedrungen bei der Endlichkeit des Subjektes ansetzt, unzulässigerweise auf transzendentale Annahmen zurückgreifen muss, um sich in der Lage zu wähnen, allgemeingültige Aussagen machen zu können. Sartre will genau das vermeiden, indem er versucht, die transzendentalen Bedingungen des menschlichen Handelns aus der Struktur der Praxis zu entwickeln und somit die dialektische Vernunft immanent zu begründen. Insofern ist Sartres Auseinandersetzung mit dem Marxismus für die hier verfolgte Fragestellung von besonderem Interesse. Er entwickelt eine Argumentation, die in weiten Teilen genau auf einen zentralen Einwand zugeschnitten ist, den Foucault wenige Jahre später erheben wird. Es wird im Folgenden zu klären sein, ob es Sartre gelingt, der empirisch-transzendentalen Reduplizierung zu entgehen, indem er die Existenz der Dialektik aus einer unmittelbaren dialektischen Erfahrung aufzuweisen sucht. Ein so gearteter „Materialismus von innen“295 wäre in der Lage, die Aporien des Reflexionsverhältnisses von Denken und Sein zu überwinden, ohne in den erkenntnistheoretischen Schlummer des Marxismus zu fallen. Sartres Anspruch, die Dialektik allein aus der Binnenperspektive begründen zu wollen, hat weit reichende methodologische Konsequenzen für seine Gesellschaftstheorie. Denn wenn die Dialektik nicht mehr von einem externen, sondern „[…] nur von einem im Inneren ‚situierten‘ Beobachter erkannt werden […]“296 kann, bedeutet dies: • Der methodische Ausgangspunkt muss die unmittelbare Erfahrung der individuellen Praxis sein. Hier muss sich die Korrelation von Denken und Sein

294 Vgl. ebd. (Hervorhebungen i.O.); vgl. auch die bereits erwähnte, ganz ähnlich verlaufende Argumentation in Sartre (1960a), a.a.O., S. 29ff (Anmerkung). 295 Vgl. Sartre (1960), a.a.O., S. 34. 296 Vgl. ebd., S. 39.

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erweisen. Sartre geht davon aus, dass sich die Dialektik als eine „lebendige Logik der Aktion“297 dem Handelnden in kritischer Erfahrung unmittelbar erschließt und damit, so seine Hypothese, diese von ihm vorausgesetzte Transparenz der Praxis „[…] das Modell und die Regeln der vollständigen Intelligibilität liefert […]“.298 Mit dem Primat der Binnenperspektive ist gefordert, die Teilnehmerposition innerhalb des Ganzen mitzureflektieren. Dies erfordert ein methodisch abgesichertes hermeneutisches Verfahren zur Situierung des Individuums im jeweiligen historisch-gesellschaftlichen Kontext. Für einen immanenten Theorieansatz ergibt sich zudem die Notwendigkeit, das Verhältnis von Einzelnem und Allgemeinem als einen sich gegenseitig bedingenden, offenen Prozess zu denken. Damit verändert sich der Totalitätsbegriff. Totalität muss als prinzipiell provisorisch und instabil konzipiert werden.

Sartre hat die Konsequenzen für eine Theorie aus der Teilnehmerperspektive in aller Klarheit umrissen, wenn er schreibt: „Entgegen der synthetischen Bewegung der Dialektik als Methode (das heißt entgegen der Bewegung des marxistischen Denkens, das von der Produktion und den Produktionsverhältnissen zu den Strukturen der Gruppierungen, dann zu deren inneren Widersprüchen, zur Umwelt und gegebenenfalls zum Individuum fortschreitet), geht die kritische Erfahrung vom Unmittelbaren, das heißt vom Individuum aus, das sich in seiner abstrakten Praxis begreift, um durch immer tiefere Bedingtheiten hindurch die Totalität seiner praktischen Verbindungen mit den anderen wiederzufinden, eben dadurch die Strukturen der verschiedenen praktischen Vielheiten zu entdecken und durch deren Widersprüche und Kämpfe hindurch zum absolut Konkreten vorzudringen: dem historischen Menschen.“299

Der binnentheoretische Ansatz erfordert also, das Ganze des gesellschaftlichen Seins von innen zu rekonstruieren. Daraus ergibt sich notwendig ein Totalitätsbegriff, der sich von der Tradition absetzt. Anders als in der Traditionslinie der idealistischen Philosophie versteht Sartre unter Totalität nicht ein absolutes System durchgängig bestimmter Begriffe, das bei Kant nie aktuell gegeben, sondern immer nur aufgegeben ist, und bei Hegel erst im absoluten spekulativen Begriff

297 Vgl. ebd. 298 Vgl. ebd., S. 63. 299 Ebd., S. 53f. (1. Hervorhebung i.O., 2. Hervorbebung M.R.)

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zwischen Allgemeinheit und Einzelheit vermitteln kann.300 Sartre denkt Totalität als ein der Zeitlichkeit unterliegendes Ganzes der realen Vermittlung empirisch gegebener individueller Praxen. Ebenso setzt sich Sartre vom Marxschen Totalitätsverständnis ab. Marx hatte im „Kapital“ beabsichtigt, das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Warenproduktion in ihrer Kernstruktur darzustellen. Damit war weder beansprucht, einzelne empirische Bewegungen zu erfassen noch die historische Entwicklung dieser Produktionsweise im Detail nachzuzeichnen. Mit Totalität ist bei Marx die „strukturelle Totalität“ einer bestimmten Epoche gemeint.301 Sartre hingegen versteht darunter eine „synthetische Einheit“, die als Resultat von Handlungen vorgestellt werden kann und somit durch Passivität gekennzeichnet ist. Sie ist die „Spur einer vergangenen Aktion“.302 Damit ist aber auch bereits klar, dass sich die Totalität aus der Binnenperspektive immer nur als empirisch-historisches Korrelat einer individuellen Praxis denken lässt. Sie kann, anders als bei Marx, nicht das Gesetz eines objektiven Strukturzusammenhangs darstellen, sondern ist im Grunde immer nur partielle, provisorische Totalität,303 die einerseits an die jeweilige, sie erschließende Praxis gebunden und andererseits durch diese zugleich immer schon überschritten ist. Der methodisch ebenso wichtige und deshalb der Totalität gleich gestellte Begriff ist für Sartre deshalb der der Totalisierung. Er soll die formale Einheit einer aktiven Synthese der Pluralität von Handlungen beschreiben, mit deren Hilfe sich Totalitäten aufbauen, die wiederum auf die individuelle Praxis zurückwirken: „Die Totalisierung hat daher denselben Status wie die Totalität. Vermittels der Vielheiten bewerkstelligt sie jene synthetische Arbeit, die aus jedem Teil eine Äuße-

300 Vgl. hierzu Braun (1992), a.a.O., 178ff. Braun verweist an dieser Stelle auf die Unzulänglichkeit des lukácsschen Totalitätsbegriffs, da dieser die spekulative Denkfigur des deutschen Idealismus auf die empirisch-historische Welt transferiert. Trotz zahlreicher gesellschaftstheoretischer Differenzen lässt sich dieser Vorwurf ebenso gegenüber Sartre erheben. 301 Vgl. ebd., S. 182ff., sowie ders. (1986): Ein Lokalpatriot der Kultur. Kontinuität und Bruch im Denken G. Lukács. In: Gvozden Flego/Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Georg Lukács – Ersehnte Totalität. Band I des Bloch-Lukács-Symposiums 1985 in Dubrovnik, Bochum, S. 147; vgl. hierzu auch die methodische Anlage der Warenanalyse im „Kapital“: Karl Marx (41890): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1. In: MEW Bd. 23, Berlin 1982, S. 49ff; sowie detailliert dazu: Eberhard Braun (1976): Auf den Flügeln des Kapitals. Kommentar zur Warenanalyse im ‚Kapital‘, unveröffentlichtes Manuskript, Tübingen/Heilbronn. 302 Vgl. Sartre (1960), a.a.O., S. 47. 303 Vgl. ebd., S. 62.

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rungsform des Ganzen macht und die das Ganze durch die Vermittlung der Teile auf sich selbst bezieht.“304 Totalisierungen sind somit aufgrund ihrer Standortgebundenheit notwendig immer partiell. Sie sind damit Detotalisierungen ebenfalls partieller, weil provisorischer Totalitäten, die aus der Perspektive der Zukunft als Retotalisierung zu verstehen sind.305 Sartres Totalitätsbegriff unterliegt damit aufgrund des binnentheoretischen Ansatzes anders als bei Marx nicht einer epochalen, sondern einer permanenten Zeitlichkeit. Die Dialektik manifestiert sich nicht als objektives Gesetz, sondern als immanente Logik pluraler Totalisierungen. Das Allgemeine ist immer ein vereinzeltes Allgemeines. Sartre spricht daher von einem „dialektischen Nominalismus“, was besagt: „Die Dialektik kann, wenn sie existiert, nur die Totalisierung der konkreten Totalisierungen sein, die von einer Vielheit totalisierender Singularitäten bewerkstelligt werden.“306 Das Projekt einer Gesellschaftstheorie aus der Binnenperspektive basiert also auf folgenden methodischen Voraussetzungen. Grundlage der gesellschaftlichen Totalisierungen sind die Vielheiten individueller Praxis. Deren partielle Totalisierungen können allerdings nur verstanden werden, wenn neben der logischen Struktur individueller Praxis zugleich die daraus resultierende innere, und das heißt für Sartre dialektische Notwendigkeit der Wechselverhältnisse einzelner Handlungen auf der Ebene praktischer Ensembles nachvollzogen werden kann. Damit ist gemeint, dass es nicht genügen kann, die fest gefügte Struktur einer zeitlich punktuellen Totalität als eine Summe von Einzelhandlungen zu beschreiben. Dies wäre u.U. auch aus einer hypothetischen Beobachterperspektive möglich, käme für Sartre aber einem analytisch verfahrenden atomistischen Gesellschaftsverständnis gleich. Sartre verlangt mehr: Die innere Struktur der Totalität soll nicht nur in ihrer Entstehung als prinzipiell aus der einzelnen Praxis heraus verstehbar gezeigt werden, sondern – und das ist die notwendige Voraussetzung, um die Einnahme der Teilnehmerperspektive rechtfertigen zu können – sie muss auch zugleich als für die einzelne Praxis verstehbar erwiesen werden. Er geht also in dreifacher Hinsicht von einer „dialektische[n] Intelligibilität“307 gesellschaftlicher Prozesse aus: bezüglich der einzelnen Praxis, der Strukturierung gesellschaftlicher Einheiten durch die Pluralität der Einzelpraxen und des Verhältnisses von Einzelnem und Allgemeinem aus der Perspektive des Einzelnen. Unter methodischen Gesichtspunkten spricht Sartre diesbezüglich von einer „formalen Intelligibilität“: „Darunter verstehen wir, daß die Verbindungen der

304 Ebd., S. 47. 305 Vgl. ebd., S. 62f. 306 Ebd., S. 39. 307 Vgl. ebd, S. 67.

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sich ihrer selbst bewußten Praxis mit all den komplexen Vielheiten verstanden werden müssen, die sich durch sie organisieren und in denen sie sich als Praxis verliert, um Praxis-als-Prozeß zu werden.“308 Für das Programm einer historisch-strukturellen Anthropologie als Gesellschaftstheorie bedeutet dies, sie muss einerseits das methodische Instrumentarium bereitstellen, mit dessen Hilfe sich das Wechselverhältnis von Einzelnem und Allgemeinem transparent machen lässt, und andererseits die implizit vorausgesetzte Intelligibilität der dialektischen Methode begründen. Im Folgenden soll nun Sartres Methodenreflexion schrittweise zurückverfolgt werden, um zu klären, mit welchem Geltungsanspruch die historisch-strukturelle Anthropologie auftreten kann und auf welches erkenntnistheoretische Fundament sie gegründet wird. Die progressiv-regressive Methode des Verstehens In seiner Auseinandersetzung mit dem Geschichtsobjektivismus des dogmatischen Marxismus beharrte Sartre auf der Bedeutung der individuellen Praxis zum Verständnis von Geschichte. Aufgabe der Theorie müsse es gerade sein, den individuellen Spielraum innerhalb einer bestimmten historischgesellschaftlichen Totalität zu erfassen, d.h. „[…] das Feld des Möglichen […] im Rahmen der jeweiligen Epoche zu bestimmen“.309 Sartres Anliegen besteht darin, die reale Geschichte über diesen Weg in ihrer Offenheit begreifen zu können. Es ist seiner Ansicht nach nicht nur erforderlich, die Bewegungsgesetze der kapitalistischen Warenproduktion zu erfassen, sondern vor allem die innerhalb dieser objektiven Struktur agierenden konkreten Menschen nicht nur als deren Produkte, sondern als wirkliche Subjekte zu begreifen. Sartre will „[…] den Handelnden wie das Ereignis in den historischen Komplex einordnen […]“,310 um so historische Prozesse nachvollziehen zu können. Dafür ist es allerdings notwendig, das Verhältnis zwischen subjektivem Handeln und objektiver Struktur, von Einzelnem und Allgemeinem im jeweiligen historischen Kontext näher zu bestimmen. Um dies zu leisten, entwickelt Sartre im Rückgriff auf methodologische Vorarbeiten von Henri Lefebvre das hermeneutische Verfahren der progressiv-regressiven Methode. Sartre versteht darunter eine heuristische Herangehensweise an die Realität. Der Forschungsprozess verläuft dabei als schrittweise

308 Ebd. (Hervorhebung i.O.). 309 Vgl. Sartre (1960a), a.a.O., S. 146 (Hervorhebung i.O.). 310 Vgl. ebd., S. 144.

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Annäherung an seinen Untersuchungsgegenstand, indem er sich im Wechsel zwischen faktischen Ausgangsbedingungen innerhalb einer historischgesellschaftlich gegebenen Situation und dem darin enthaltenen jeweiligen Möglichkeitsspielraum hin und her bewegt, um auf diesem Weg einen realen Prozess rekonstruieren zu können. „Das Hin-und-Her“, so Sartre, „trägt dazu bei, das Objekt um die volle historische Tiefe zu bereichern; es bestimmt in der historischen Totalisierung den zunächst noch leeren Ort des Objekts.“311 Sartre unterscheidet dabei zwischen regressiver Analyse des komplexen Verhältnisses von Bedingungen und der progressiven Synthese, in der die ablaufende Wirklichkeit als Prozess nachvollzogen werden soll. Anwendung findet diese Methode bei Sartre sowohl auf der Mikroebene für die Interpretation des individuellen Handelns konkreter Personen wie für das Verständnis gesamtgesellschaftlicher Prozesse auf der Makroebene. Er versteht die progressivregressive Methode als „[…] für alle Bereiche der Anthropologie gültig […]“,312 also als ein universell anwendbares Verfahren. Dessen Fruchtbarkeit, aber auch dessen Grenzen, was die Verarbeitungskapazität von historischem Material anbelangt, hat Sartre für die Mikroebene des Individuellen in seiner monumentalen Flaubert-Studie vorgeführt. Dort lässt sich beispielhaft nachvollziehen, wie sich durch den beständigen Wechsel der zwei Zugangsweisen des Verstehens über die regressive Analyse der vieldeutigen Schichten des historischen und lebensweltlichen Kontextes, in dem eine konkrete Person lebt, und durch den Versuch, mithilfe progressiver Synthesen dessen individuelle Entwürfe auf ihren jeweiligen Sinn hin zu deuten, die Kontinuität eines durch die epochale Objektivität bedingten Lebens bis hin zu detaillierten Verhaltensweisen transparent machen lässt. Wie es sich bereits an Sartres Totalitätsbegriff hat ablesen lassen, ist dieses hermeneutische Verfahren an implizite Voraussetzungen gebunden, nämlich an die Annahme einer Korrelation von Einzelnem und Allgemeinem. Sartre formuliert dies selbst, wenn er im Vorgriff auf die Flaubert-Studie in den „Questions de méthode“ seine Erwartungen an die Annäherung an die Person des Schriftstellers über diesen zweiseitigen Zugang nennt: Flaubert muss dabei als ein Untersuchungsgegenstand verstanden werden, der die „[…] ganze Epoche als hierarchisierte Bedeutungen enthält […]“ und die Deutung seiner Epoche setzt zugleich voraus, dass sie ihn „[…] in seiner Totalisierung enthält“.313 Was Sartre damit im Auge hat, ist klar: Wenn es gelingt, über dieses Verfahren eine Synthese zwischen Individuum und Epoche zu denken, lässt sich nicht nur die Singula-

311 Ebd., S. 157f (Hervorhebung i.O.). 312 Vgl. ebd., S. 60 (Anmerkung/Hervorhebung i.O.). 313 Vgl. ebd., S. 160.

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rität einer Person erfassen, sondern zugleich die Teilnehmerperspektive als tragfähigen gesellschaftstheoretischen Ausgangspunkt rechtfertigen. Denn dies würde bedeuten, dass das Ganze des gesellschaftlichen Seins aus der Perspektive des Einzelnen in seiner inneren Logik prinzipiell nachvollzogen werden kann. Zudem wird es möglich, aus dem Blickwinkel individueller Praxis das Verhältnis zur jeweils gesellschaftlich bedingten Totalisierung als notwendig widersprüchlich und damit in ihrer konflikthaften Dynamik zu begreifen. Während die progressiv-regressive Hermeneutik es auf der Mikroebene ermöglichen soll, das Verhältnis von Einzelnem und Allgemeinem in der Materialität eines konkreten Lebens zu bestimmen, muss sie freilich auf der Makroebene, wo es um globale Strukturzusammenhänge und deren innere Dynamik gehen soll, mit einem modifizierten begrifflichen Instrumentarium operieren. Der Zugang, wie er in der „Critique de la raison dialectique“ entwickelt wird, ist, was die regressive Analysestrategie angeht, notwendig formal. Ihre Aufgabe ist es, die elementaren Strukturen der Totalisierung freizulegen, um damit die Bedingungen ihrer Möglichkeit transparent zu machen. Dies ist, wie bereits erwähnt, das Ziel des ersten Bandes der „Critique de la raison dialectique“. Dem darin entfalteten Forschungsprogramm wird eine doppelte Aufgabe zugeschrieben. Es soll 1. „[…] alle von der Totalisierung verwendeten Mittel liefern, das heißt die partiellen Totalisierungen, Detotalisierungen und Retotalisierungen in ihren abstrakten Strukturen und ihren Funktionen […]“ und 2. muss es zeigen, „[….] wie sich diese Formen gegenseitig und in der vollständigen Intelligibilität der Praxis dialektisch hervorbringen“.314 Das regressive Verfahren setzt also synchron an und rekonstruiert noch jenseits der konkreten Geschichte die formalen Zusammenhänge von Einzelnem und Allgemeinem, von individueller Praxis und den aus ihr sich aufbauenden objektiven Strukturen. Ist dies geleistet, kommt das regressive Verfahren notwendig an seine Grenze und muss zur progressiven Synthese übergehen: „Die dialektische Erfahrung“, so Sartre, „kann nun also in ihrem regressiven Moment nur die statischen Bedingungen der Möglichkeit einer Totalisierung, das heißt einer Geschichte aufdecken. Es wird daher nötig sein, zur umgekehrten, komplementären Erfahrung fortzuschreiten: durch die progressive Rekonstruktion des historischen Prozesses auf der Grundlage der sich verändernden und widersprüchlichen Beziehungen der untersuchten Formationen werden wir die Erfahrung der Geschichte machen.“315

314 Vgl. Sartre (1960), a.a.O., S. 68 (Hervorhebung i.O.). 315 Ebd., S. 71.

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Dies war dem 2. Band der „Critique“ vorbehalten, der, wie bereits erwähnt, Fragment geblieben ist. In welcher Form Sartre das regressive Verfahren durchführt, das zum Ziel hat, die „Intelligibilität des soziologischen Wissens“ – und entsprechend in der Progression die „Intelligibilität des historischen Wissens“ – zu begründen,316 und welche Ergebnisse es liefern kann, wird noch zu diskutieren sein. Für den an dieser Stelle verfolgten Zusammenhang, nämlich der Frage nach den Geltungsbedingungen und der Begründung der historisch-strukturellen Anthropologie, ist vor allem eines wichtig: Die individuelle Praxis kann nur dann als Ausgangspunkt einer transzendentalen progressiv-regressiven Rekonstruktion historisch-gesellschaftlicher Prozesse dienen, wenn deren innere Logik als „prinzipiell […] verstehbar“317 vorausgesetzt werden kann. Sartre sieht dies, wie schon in „L’être et le néant“ durch die „existentielle Struktur“ des Entwurfs gegeben, die „[…] das grundlegende Verstehen der menschlichen Realität in jedem und in allen […]“ impliziert. Dieses ist „[…], wenngleich unsystematisch, in jeder (individuellen wie kollektiven) Praxis gegeben“, so Sartre.318 Der methodische Ausgangspunkt ist also, wie schon im Frühwerk, die menschliche Existenz, die allerdings lediglich in ihren formalen Strukturen beschrieben werden kann, da Sartre, wie bereits erwähnt, weiterhin eine Wesensbestimmung des Menschen ablehnt. Doch wenn sich auch in diesem Sinne „keine gemeinsame Natur“ feststellen lasse, so ist laut Sartre doch zumindest „stets mögliche Verständigung“ gegeben.319 Im Existenzvollzug versteht sich der Mensch selbst und ebenso den Anderen. Sartre knüpft, ähnlich wie in „L’être et le néant“, an Heideggers Daseinsanalyse an. Dieser hatte in „Sein und Zeit“ das Verstehen als „fundamentales Existenzial“ interpretiert, als die „Erschlossenheit“ des „existierenden In-der-Welt-seins“ als „Worumwillen“320 und darin zugleich den „Entwurfscharakter“ der Existenz ausgemacht, als ein Entwerfen hin auf Möglichkeiten.321 Im Unterschied zum Frühwerk beabsichtigt Sartre nun aber nicht, diese Entwurfsstruktur bewusstseinstheoretisch zu begründen, sondern versucht nun, deren grundlegende, und das bedeutet in diesem Zusammenhang transzendentale Funktion für das Vorhaben einer historisch-strukturellen Anthropologie über eine Hermeneutik des Handlungsvollzuges zu klären. Methodisch stellt sich damit zumindest für Sartre (Heidegger hat sich darum nicht

316 Vgl. ebd., S. 72. 317 Vgl. Sartre (1960a), a.a.O., S. 183 (Hervorhebung i.O.). 318 Vgl. ebd., S. 184f (Hervorhebung i.O.). 319 Vgl. ebd., S. 182. 320 Vgl. Heidegger (1927), a.a.O., § 31, S. 143. 321 Vgl. ebd., S. 145.

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weiter gekümmert) folgendes Problem: Wenn Handeln und Verstehen strukturell zusammenfallen, oder wie Sartre noch enger formuliert, „[…] Handeln und Verstehen […] ein und dasselbe [...]“ sind,322 dann ist zunächst nicht ersichtlich, wie Letzteres sich die innere Struktur des Ersteren erschließen können soll. Sartre geht davon aus, dass dies über eine Form der Reflexion möglich ist, die zu einer „indirekten Erkenntnis“ führt. „Dieses Verstehen“, so Sartre, „das sich nicht von der Praxis unterscheidet, ist zugleich unmittelbare Existenz (da es sich als die Bewegung der Handlung herausbildet) und Grundlage einer indirekten Erkenntnis der Existenz (da sie die Existenz des anderen versteht).“323 Die transzendentalen Voraussetzungen des Verstehens der Existenz liegen also in dieser selbst und sollen indirekt erschlossen werden können. Es muss also gezeigt werden, in welcher Weise sich die Praxis durch sich selbst verstehen können soll, indem sie über den Weg der Reflexion zur Gewissheit ihrer selbst gelangt. Dafür ist ein transzendentaler Rückgang auf die strukturellen Möglichkeitsbedingungen der praktischen Existenz erforderlich.324 Um dieses Verfahren methodisch abzusichern, müssen allerdings zwei Dinge geklärt werden. Als indirekte Erkenntnis ist Verstehen eine Wissensform, die sich von der Erkenntnis als Objekt-Wissen prinzipiell unterscheidet. Zugleich weist Sartre ihm aufgrund der Verschränkung mit der Praxis, zumindest im Rahmen einer historisch-strukturellen Anthropologie, einen vorrangigen Status zu. Damit das Verstehen aber als fundamentale Wissensform aufgefasst werden kann, bedarf es sowohl einer erkenntnis- wie geltungstheoretischen Rückversicherung. Das bedeutet zugleich, dass die von Sartre für das Verstehen vorausgesetzte Gewissheit in der Reflexion begründet werden muss. Die vorrangige Rolle, die dem Verstehen für die philosophische Fundierung der historisch-strukturellen Anthropologie zukommt, versucht Sartre über das Verhältnis der Philosophie zu den empirisch orientierten Humanwissenschaften zu klären. Wie sich schon in der Auseinandersetzung mit Foucault gezeigt hatte, unterscheidet Sartre zwischen ‚Erkennen‘ und ‚Verstehen‘. Das Erkennen bezieht sich auf einen Objektbereich, der von außen mittels eines wissenschaftlichen Apparats von ‚Definitionen‘ (concepts) bestimmt werden kann. Demgegenüber arbeitet das philosophische Verstehen mit ‚Begriffen‘ (notions), die aus der Binnenperspektive entwickelt werden müssen. Mithilfe dieser Unterscheidung versucht Sartre einerseits das Feld der Wissenschaft in seinen Grenzen zu bestimmen und andererseits diese an die philosophische Grundlagenreflexion zu

322 Vgl. Sartre (1960), a.a.O., S. 494. 323 Sartre (1960a), a.a.O., S. 183 (Hervorhebung i.O.). 324 Vgl. Fahrenbach (2000), a.a.O., S. 479.

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binden. Den positiven Wissenschaften wird, wie etwa im Falle der strukturalen Anthropologie bezüglich des Menschen, zwar zugestanden, auf der Basis analytischer Vernunft methodisch gesichertes Objekt-Wissen zu Tage zu fördern, zugleich insistiert Sartre jedoch darauf, dass diese nicht in der Lage sind, mit diesen Mitteln ihre eigenen begrifflichen Voraussetzungen zu reflektieren. Dies ist seiner Ansicht nach nur über den indirekten Zugang der verstehenden Reflexion möglich. Das Verstehen als Reflexion auf die menschliche Existenz soll damit auf der Grundlage der dialektischen Vernunft den Bezugsrahmen des erfahrungswissenschaftlichen Erkennens abgeben. Sartres Anliegen ist also, die Humanwissenschaften aus praxisphilosophischer, und das bedeutet aus der Teilnehmerperspektive zu begründen.325 Für Sartres Unternehmen einer kritischen Gesellschaftstheorie bedeutet dies, er muss auch innerhalb der eigenen Theorie diesen Bezugsrahmen bestimmen. Denn soll die Theorie der Gesellschaft aus der Binnenperspektive entworfen werden, dann muss geklärt werden, auf welcher Basis sie gesicherte Aussagen über die Objektivität ihres Gegenstandes machen kann. Zwischen Philosophie und Wissenschaft besteht dabei zunächst eine Arbeitsteilung. Den analytisch arbeitenden Humanwissenschaften kommt in den Augen Sartres die Aufgabe zu, sich aus der Beobachterperspektive auf einen klar definierten Objektbereich zu konzentrieren.326 Sie beschäftigen sich demzufolge vornehmlich mit empirischem Material, anhand dessen sie versuchen, allgemeingültige Erkenntnisse zu gewinnen. Im Kontrast dazu soll die dialektisch verfahrende Philosophie als Ge-

325 Vgl. André Gorz (1966a): Sartre oder vom Bewußtsein der Praxis. In: ders., Der schwierige Sozialismus, Frankfurt/M. 1968, S. 207. Gorz vergleicht Sartres Versuch einer Begründung der Humanwissenschaften mit demjenigen des späten Husserls für die Naturwissenschaften und die Logik; vgl. ebenso Gorz (1966), a.a.O., S. 218. 326 Sartres Verständnis der Humanwissenschaften ist mit deren methodologischem Selbstverständnis nicht vereinbar. Er unterstellt diesen pauschal ein positivistisches Wissenschaftsverständnis, das sich am Vorbild objektivistisch verfahrender Naturwissenschaften orientiert, ohne zu berücksichtigen, dass die Humanwissenschaften sich selbst weitgehend interpretativer Methoden bedienen. Diese nicht gerechtfertigte Frontstellung erklärt sich vermutlich aus der Position seiner Gegner: einem dogmatischen Marxismus, dem Positivismus in der Tradition der französischen Soziologie von Comte und Durkheim sowie dem Selbstverständnis eines Teils der Vertreter des Strukturalismus. Darauf weist Kelbel hin, dessen ausgezeichneter Darstellung des sartreschen Unternehmens ich in diesem Kapitel teilweise folgen kann. Vgl. Peter Kelbel (2005): Praxis und Versachlichung. Konzeptionen kritischer Sozialphilosophie bei Habermas, Castoriadis und Sartre, Hamburg, S. 297.

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sellschaftstheorie die Prozesslogik des Objektbereichs der empirischen Wissenschaften erfassen, indem sie den Gesamtzusammenhang aus der Perspektive der individuellen Praxis zu durchschauen sucht. Für die methodische Ausrichtung einer sich als dialektisch verstehenden Gesellschaftstheorie bedeutet dies, sie muss den aus dieser Arbeitsteilung resultierenden doppelten Zugang zur Realität reflektieren, um den jeweiligen geltungslogischen Stellenwert innerhalb der eigenen Theorie zu bestimmen. Mit anderen Worten: Sie muss zeigen, auf welche Weise das objektive, aus der Beobachterperspektive gewonnene Wissen der analytischen Wissenschaft in den Deutungszusammenhang der dialektischen Theorie integriert werden kann. Sartre unterscheidet dafür zwei Intelligibilitätsmodi der dialektischen Theorie: Erklären (intellection) und Verstehen (compréhension). Dem Erklären, das Sartre als komplexere Aufgabe bezeichnet, weil ihm im Gegensatz zum Verstehen eine größere Reichweite überantwortet ist, kommt die Rolle zu, globale gesellschaftliche Prozesse in ihrer immanenten dialektischen Logik zu erfassen, ihre Entstehung und die Ursachen dafür als Produkte gesellschaftlicher Praxis transparent machen zu können. Damit beansprucht er eine tiefere Durchdringung der gesellschaftlichen Realität als es die analytischen Wissenschaften leisten können, weil dafür bereits der praxisphilosophische Ausgangspunkt mitreflektiert werden muss. Das Erklären muss also gewissermaßen den methodischen Brückenschlag zum analytischen Wissen vollbringen, indem es dieses auf die Teilnehmerperspektive hin ordnet und strukturiert. Das Verstehen hingegen bezieht sich lediglich auf jenen Bereich der im Existenzvollzug einsehbaren Logik der Praxis, die jedoch für den Ablauf und die Intelligibilität des Gesamtprozesses konstitutiv sein soll. Das Verstehen liefert somit die geltungslogischen Voraussetzungen des Erklärens. Sartre fasst seine Unterscheidung zwischen Erklären und Verstehen folgendermaßen zusammen: „Ich nenne also Erklärung alle verzeitlichenden und dialektischen Evidenzen, insofern sie alle praktischen Realitäten totalisieren können müssen, und ich beschränke den Begriff Verstehen auf das totalisierende Begreifen jeder Praxis, insofern sie durch ihren oder ihre Urheber intentional hervorgebracht wird.“327 Die Wissensform des Verstehens muss damit in Sartres Gesellschaftstheorie letztendlich die komplette Last der erkenntnis- und geltungstheoretischen Begründung tragen. Denn das Verstehen soll die epistemischen Grundlagen eines allgemeinbegrifflichen Verstandes- und Objektwissens der (Human)-Wissenschaften bereitstellen. Das bedeutet, ihm kommt die Aufgabe zu, mit den Mitteln der Reflexion die transzendentalen Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen des objektiven Wissens im Allgemeinen und insofern auch des Wissens vom

327 Sartre (1960), a.a.O., S. 79.

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Menschen zu bestimmen. Damit erhält es genau diejenige Begründungsfunktion, deren erkenntnistheoretische Aporie Foucault innerhalb des anthropologischen Vierecks des modernen Wissens im Reduplizierungsverhältnis von empirisch und transzendental skizziert hatte. Denn da das Verstehen, wie oben gezeigt, ein Modus des unmittelbaren Existenzvollzuges ist, bedeutet dies, es muss seine Geltungsbasis in der Reflexion auf diesen und damit auf sich selbst bestimmen können. Sartres Hermeneutik der Praxis muss also die ihr zu Grunde liegenden strukturellen Existenzbedingungen in ihrer transzendental-anthropologischen Funktion aufweisen.328 Dies ist nur denkbar, weil dem Verstehen ein anderer Status als dem Erkennen zukommt. Als ‚indirektes Wissen‘ bezieht es sich laut Sartre nicht wie dasjenige der Humanwissenschaften auf Gegenstände, sondern es ist ein Wissen, dass sich offenbar sogar selbst einer begrifflichen Bestimmung entzieht. Und genau dies soll seine Grundlagenfunktion ausmachen. „Unter indirekter Erkenntnis“, so Sartre, „ist das Resultat der Reflexion auf die Existenz zu verstehen. Diese Erkenntnis ist indirekt in dem Sinne, daß sie von allen anthropologischen Begriffen, welcher Art auch immer, vorausgesetzt wird, ohne selbst Gegenstand von Begriffen zu sein.“329 Sartre ist sich der erkenntnistheoretischen Problematik seines Ansatzes sehr wohl bewusst. Und als wollte er die foucaultschen Einwände vorwegnehmen, betont er bereits die prekäre Lage, in der sich die „Existenzideologien“ befinden, weil sie gezwungen sind, den Menschen sowohl als Objekt der Erkenntnis wie als deren Ausgangspunkt zu denken. Sartre sieht den einzigen Ausweg aus diesem Dilemma der historisch-strukturellen Anthropologie in einem reflexiven Rekurs auf eine epistemologisch nicht ausweisbare, aber zumindest benennbare Leerstelle – sozusagen auf den blinden Fleck des modernen Wissens: „Der Mensch ist aber jenes Sein, durch das dem Menschen das Objekt-Werden widerfährt. Die Anthropologie wird ihren Namen nur dann verdienen, wenn sie an die Stelle ihrer Untersuchungen menschlicher Objekte die Untersuchung der verschiedenen Prozesse des Objekt-Werdens setzt. Ihre Rolle besteht darin, ihr Wissen auf das rationale und verstehende Nicht-Wissen zu gründen, d.h. die historische Totalisierung wird erst dann möglich sein, wenn die Anthropologie sich versteht statt sich zu ignorieren.“330

Eine Begründungsfunktion kann dieses rationale Nicht-Wissen freilich streng genommen nicht übernehmen. Darüber ist sich auch Sartre im Klaren, der weit

328 Vgl. Fahrenbach (2000), a.a.O., S. 480. 329 Sartre (1960a), a.a.O., S. 183 (1. Hervorhebung i.O.; 2. Hervorhebung M.R.). 330 Ebd., S. 186 (Hervorhebungen i.O.).

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entfernt davon ist, dieser existenziellen Wissensdimension die Funktion eines erkenntnistheoretischen Ausgangspunktes aufzubürden. Sartre kann daher lediglich auf die Notwendigkeit insistieren, das bestehende Objekt-Wissen unaufhörlich in den historisch konkreten Kontext des Handlungsvollzuges der Subjekte einzubeziehen. Insofern handelt es sich bei der erforderlichen transzendentalen Reflexion um eine Hermeneutik der Existenz, der offenbar weniger eine Begründungsfunktion als die Aufgabe der Kritik zukommt: „Diese unaufhörliche Auflösung des Wissens in Verstehen und umgekehrt, das unaufhörliche Heruntersteigen, das das Verstehen als die Dimension des rationalen Nicht-Wissens in die intellektuelle Erkenntnis einführt, macht die Vieldeutigkeit dieser Disziplin [der Anthropologie/M.R] aus, in der der Fragesteller, die Frage und das Befragte eins sind.“331

Wie soll nun aber diese kritische Funktion des Verstehens plausibel gemacht werden? Die transzendentalen Voraussetzungen des Wissens können nicht über eine Form des Objekt-Wissens ermittelt werden. Denn Sartre betont ausdrücklich, dass „[…] sich die menschliche Realität in dem Maße, in dem sie sich macht, dem direkten Wissen entzieht“.332 Insofern verspricht lediglich der hermeneutische Rückgang auf die unmittelbare Existenz einen Einblick in deren grundlegende Strukturen. Soweit dies mit phänomenologischen Mitteln erfolgt, wird dies, wie noch zu zeigen sein wird, zumindest die elementare Logik individueller Praxis offenlegen. Doch auch wenn diese Fundamentalstrukturen der Existenz u.U. nachvollzogen werden können, sind sie noch nicht notwendig verstanden. Die grundlegende Voraussetzung für Sartres historisch-strukturelle Anthropologie bleibt deshalb weiterhin in erkenntnistheoretischer Hinsicht ungeklärt: die prinzipielle Verstehbarkeit der Praxis und damit aller weiteren komplexeren Strukturen samt deren innerer Dynamik. Dafür ist es erforderlich, die bisher skizzierten Bezüge von Existenz und Wissen auf die Grundlage einer im Praxisvollzug einsichtig werdenden dialektischen Vernunft zurückzuführen, die, wie Sartre an einer Stelle schreibt, „[…] alle anderen Denkformen trägt, kontrolliert und rechtfertigt […]“.333 Erst ihr kann die Funktion einer transzendentalen Begründung zukommen. Insofern ist Sartre gezwungen, anzugeben, in welcher Weise deren Existenz belegt werden kann. Sartre glaubt, diese in der dialektischen Struktur einer kritischen Erfahrung zu finden.

331 Ebd., S. 187 (Hervorhebung i.O.). 332 Vgl. ebd., S. 182 (Hervorhebungen i.O.). 333 Vgl. Sartre (1960), a.a.O., S. 535.

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Die dialektische Struktur kritischer Erfahrung Wie aus dem bislang Dargestellten ersichtlich sein dürfte, kann die dialektische Vernunft nirgendwo in ihrer Reinheit aufgefunden werden. Als angenommene Logik individueller Praxis tritt sie notwendig innerhalb einer konkreten Totalisierung in Erscheinung. Darin besteht eine der unhintergehbaren Voraussetzungen von Sartres Teilnehmerperspektive. Ihr soll sich nun in der kritischen Erfahrung die Dialektik erschließen. Sartre umreißt die damit verbundenen ontologischen und erkenntnistheoretischen Implikationen wie folgt: „Wenn die dialektische Vernunft existiert, so kann sie vom ontologischen Standpunkt aus nur die ablaufende Totalisierung sein, und zwar dort, wo die Totalisierung stattfindet; und vom erkenntnistheoretischen Standpunkt kann sie nur die Durchlässigkeit dieser Totalisierung zu einer Erkenntnis sein, deren Verfahrensweisen prinzipiell totalisierende sind. Aber da es nicht zulässig ist, daß die totalisierende Erkenntnis zu der ontologischen Totalisierung als eine neue hinzukommt, muß die dialektische Erkenntnis ein Moment der Totalisierung sein, oder besser, die Totalisierung muß in sich selbst ihre reflektive Retotalisierung enthalten als unentbehrliche Struktur und als einen totalisierenden Prozeß innerhalb des Gesamtprozesses.“334

Sartre hält, wie er bereits in der Auseinandersetzung mit dem dogmatischen Marxismus betont hatte, an der Annahme eines Monismus von Denken und Sein fest, der jedoch allein durch die Vermittlung über die individuelle Praxis gegeben sein soll. Damit ist nicht nur jede kritische Erfahrung an einen räumlichen und zeitlichen Standort gebunden, Sartre radikalisiert noch den von ihm vertretenen historischen Kontextualismus: Er schränkt sogar das zeitliche Fenster für das Auftauchen der kritischen Erfahrung selbst ein, indem er die Bedingung ihrer Möglichkeit an eine historisch gewordene Situation bindet, weshalb laut Sartre „[…] der Ursprung der kritischen Erfahrung selbst dialektisch ist“.335 Die dialektische Erfahrung ist dann aber nicht mehr ursprünglich gegeben und insofern notwendig als erkenntnistheoretischer Ausgangspunkt für einen Rückgang auf die transzendentalen Bedingungen individueller Praxis zu verstehen, sondern sie wird selbst historisiert. Dies hat freilich nicht nur Auswirkungen auf die Geltung der zu analysierenden Erfahrung durch den Theoretiker, sondern zugleich auf die zu veranschlagende Reichweite seiner eigenen Theorie. Sartre muss deshalb sein eigenes Unternehmen ebenfalls in den historischen Kontext einordnen.

334 Ebd., S. 48. 335 Vgl. ebd., S. 52.

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Denn auch die „Critique de la raison dialectique“ ist als kritische Reflexion der Erfahrung innerhalb einer historischen Totalisierung zu verstehen. Für den Status von Sartres Gesellschaftstheorie hat dies widersprüchliche Konsequenzen: Mit der historischen Relativierung des eigenen Standpunkts müssen sämtliche Kategorien, die er entwickelt, inklusive der des Menschen,336 einen zeitlichen Index tragen. Sie dürfen streng genommen keine Universalität für sich beanspruchen, denn die „Kategorien der Dialektik – Prinzipien und Intelligibilitätsgesetze“ sind immer „spezifizierte Kategorien“.337 Das bedeutet, die Theorie kann nur historisch begrenzte Geltung für sich beanspruchen. Sie hat keinen allgemeingültigen Erklärungsanspruch. Sartre sieht das offenbar selbst so, wenn er den von ihm beabsichtigten Aufweis formaler Strukturen als an den historischen Kontext gebunden betrachtet. Damit können diese nur relative Geltung erlangen. „Formale Extrapolationen“, betont er, „[…] können sich keinesfalls als Erkenntnisse ausgeben, und wenn sie möglich sind, besteht ihr einziger Nutzen darin, die Besonderheit des totalisierenden Geschicks, bei dem die Erfahrung gewonnen wird, besser aufzudecken“.338 Dem dialektischen Verfahren wird also vor allem ein heuristischer Wert zugeschrieben. Dies widerspricht allerdings dem Vorhaben einer transzendentalen Begründung der Theorie, denn damit wird Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhoben. Sartre geht ja zugleich davon aus, dass die Dialektik, wenn sie sich nur in Konkretion zeigen kann, als „dialektische Erfahrung“ nachgewiesen werden muss, wie sie sich im gelebten Leben vollzieht. Denn das Ziel ist, wie Sartre betont, im Erlebten „[…] die dialektische Rationalität, das heißt das komplexe Spiel von Praxis und Totalisierung aufzudecken und zu begründen“.339 Damit ist die bereits erwähnte Absicht einer transzendental-anthropologischen Explikation fundamentaler Strukturen gesellschaftlicher Praxis formuliert. Und dies bedeutet streng genommen, dass die Theorie universelle, also überzeitliche Geltung beanspruchen können müsste. Bereits gegenüber dem dogmatischen Marxismus hatte Sartre darauf insistiert, dass es nicht genügen kann, die Existenz der Dialektik zu behaupten, sondern „[…] daß die dialektische Universalität sich a priori als eine Notwendigkeit erweisen muß“.340 Das kann wiederum, da es keinen externen überzeitlichen Standpunkt geben kann, nur in der Erfahrung der individuellen Teilnehmer geschehen. Nun weiß Sartre selbstverständlich, dass es ein logisches

336 Vgl. ebd., S. 50. 337 Vgl. ebd., S. 50f. 338 Vgl. ebd., S. 51. 339 Vgl. ebd., S. 40f. 340 Vgl. ebd., S. 36.

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Unding ist, in der Erfahrung ein Apriori ausmachen zu wollen, und gesteht insofern selbst einen „Widerspruch“ ein. Einen Versuch, diesen aufzulösen, unternimmt er allerdings nicht. Sartre grenzt sich lediglich sowohl von der kantischen Lösung ab wie auch von Husserls Annahme einer apodiktischen Evidenz, die einem „reinen formalen Bewußtsein“ gegeben ist, und formuliert die für ihn daraus folgende Konsequenz: „Wir dagegen müssen unsere apodiktische Erfahrung in der konkreten Welt der Geschichte finden.“341 Sartre ist also am Ende gezwungen, sich allein auf ein unmittelbares Verstehen der erlebten Praxis des Individuums in der kritischen Erfahrung zu verlassen. Darin soll sich die Gewissheit der Rationalität des eigenen Handelns zeigen. Sartre spricht an einer Stelle von „dialektischer Evidenz“, deren Prinzip „[…] das Verstehen einer ablaufenden Praxis von ihrem Endpunkt aus […]“ sein müsse.342 Damit allein kann der Begründungsanspruch jedoch nicht aufrechterhalten werden.343 Sartres methodologische Unterscheidung zwischen Erkennen und Verstehen, deren Funktion darin besteht, den Weg für eine transzendentale Begründung der Dialektik als Logik der Praxis zu bereiten, hat den Nachteil, dass er lediglich für das Erkennen ein Kriterium der Rechtfertigung des formulierten Geltungsanspruchs bereitstellen kann. Objekt-Wissen ist falsifizierbar. Für das Verstehen kann Sartre nichts Vergleichbares anbieten. Durch die Anbindung des Verstehens an die Teilnehmerperspektive ist zwar von vornherein die Relativität des Standpunktes mitgedacht. Das bedeutet, dass für das über den Akt des Verstehens erschlossene indirekte Wissen jeweils nur historisch und perspektivisch begrenzte Geltung beansprucht werden kann. Einen rationalen Maßstab, anhand dessen ein notwendig kontextgebundenes Verstehen als richtig oder falsch beurteilt werden könnte, gibt es aber nicht. Die dialektische Vernunft kann dafür nicht herangezogen werden, da sie in der kritischen Erfahrung erst zu Tage treten soll. Der geltungslogische Status des Verstehens hängt damit an der Annahme

341 Ebd. 342 Vgl. ebd., S. 66 (Anmerkung). 343 Vgl. hierzu auch Hartmann (21983a), a.a.O., S. 60f. Anders sieht dies dagegen Seel. Seiner Ansicht nach besteht das Anliegen Sartres in der „Critique de la raison dialectique“ vornehmlich darin, den „Geltungsaspekt“ der Theorie zu begründen, da die Grundlegung der Theorie bereits durch die Fundamentalontologie in „L’être et le néant“ erfolgt sei. Davon kann aber m.E., wie im vorigen Kapitel anhand der Schwächen des bewusstseinsontologischen Versuchs einer Subjektbegründung zu zeigen versucht wurde, keine Rede sein. Vgl. Gerhard Seel (1971): Sartres Dialektik. Zur Methode und Begründung seiner Philosophie unter besonderer Berücksichtigung der Subjekts-, Zeit- und Werttheorie, Bonn, S. 196f.

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einer Begreifbarkeit der dialektischen Struktur der Praxis. Für ihre Intelligibilität kann Sartre allerdings nur ein einziges und zudem schwaches Kriterium vorweisen: das der Evidenz.344 Damit allein lässt sich die beanspruchte Geltung eines historisch relativen Verstehens aber nur schwer rechtfertigen. Eine transzendentale Begründung der Dialektik und damit der Logik des gesellschaftlichen Seins ist auf keinen Fall möglich. So wie es aussieht, steht Sartres historisch-strukturelle Anthropologie, zumindest was die Frage ihrer transzendentalen Begründung angeht, auf schwankendem Fundament. Der erhoffte Aufweis der dialektischen Vernunft in der Reflexion der individuellen Praxis ist offenbar nicht möglich. Zudem wird nicht ganz klar, welcher Geltungsanspruch mit einem transzendental-anthropologischen Rückgang auf die menschliche Existenz erhoben wird. Einerseits müsste, zumindest was die strukturelle Komponente der Anthropologie angeht, damit universelle Geltung beansprucht werden. Andererseits sieht Sartre sich gezwungen, das eigene Verfahren zu historisieren und ihm damit nur relative Geltung einzuräumen. Konsequenterweise müsste er dann aber auch die Form der Begründung der Theorie an eine historisch vorgefundene strukturelle Totalität der Gesellschaft binden. Dies tut Sartre jedoch nicht. Für das hier verfolgte Interesse einer Überprüfung der foucaultschen Kritik des Subjekts als erkenntnistheoretisch ungesicherter Bezugspunkt des modernen Wissens lässt sich vorläufig Folgendes festhalten: Sartre bewegt sich auch in der „Critique de la raison dialectique“ weiterhin innerhalb des von Foucault beschriebenen anthropologischen Vierecks. Die darin enthaltenen Aporien werden von ihm aber anders reflektiert als noch in „L’être et le néant“. Der theoretische Ausgangspunkt von der individuellen Praxis unterstellt zwar, wie schon im Frühwerk, eine fundamentale Endlichkeit, Sartre unternimmt aber nun eine radikale Historisierung, so dass aus der Teilnehmerposition der Anspruch auf Allgemeingültigkeit immer nur provisorisch, d.h. innerhalb eines historisch relativen Kontextes partieller Totalisierungen formuliert werden kann. Daraus ergibt sich eine bewusste Verschränkung der empirischen mit der transzendentalen Ebene. Sartres Subjekte sind nun in der Tat die von Foucault bemängelten empirisch-transzendentalen Dubletten, da er den Rückgang auf die transzendentalen Bedingungen des Handelns über die kritische Erfahrung erschließen will. Wie sich an der Kritik des dogmatischen Marxismus zeigte, hält er dies jedoch gerade aus erkenntnistheoretischen Gründen für unerlässlich, um dem Dogmatismus zu entkommen. Über das Verstehen führt Sartre deshalb den Modus einer „indirekten Erkenntnis“ ein, das den erforderlichen Rückgriff auf die transzendentalen Voraussetzungen der menschlichen

344 Vgl. Gorz (1966), a.a.O., S. 221.

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Existenz ermöglichen soll. Dies erinnert an Foucaults epistemologische Doppelfigur des cogito und des Ungedachten. Denn das Verstehen, das ja gerade kein Objektwissen ist und sich als Reflexionswissen jeder begrifflichen Bestimmung entzieht, transportiert notwendig eine ungedachte Seite seiner selbst mit. Damit wiederholt Sartre im Grunde auf anthropologischer Ebene die Reflexionsfigur eines sich in seinem Sein jeder Selbstthematisierung qua Objektivierung verweigernden Bewusstseins, wie er sie in „L’être et le néant“ entworfen hat. Mit der Historisierung der Möglichkeit des Selbstverstehens in der dialektischen Erfahrung nimmt Sartre zugleich an, dass diese erst innerhalb einer bestimmten historischen Totalisierung zur Geltung gelangen kann. Damit stellt sich die Frage nach ihrer Genese. Auch wenn Sartre diese nicht systematisch erörtert, ist doch zumindest das Problem des Ursprungs der kritisch-dialektischen Erfahrung vom Standpunkt der Gegenwart, also seiner Wiederkehr innerhalb der Kontinuität eines als dialektisch angenommenen Geschichtsprozesses aufgeworfen. Sartre durchläuft also in der Tat sämtliche Stationen des anthropologischen Vierecks. Doch die veränderte Anlage seiner Theorie in der „Critique de la raison dialectique“ macht es ihm möglich, die foucaultsche Kritik zumindest partiell zu neutralisieren. Nicht nur dass, wie bereits im Frühwerk, keine Wesensbestimmung des Menschen angenommen wird, auf die zur Begründung der Theorie zurückgegriffen werden könnte, auch dem Subjekt wird nun bei Sartre keine derartige Rolle mehr zugeschrieben. Mit der Verlagerung der Aufgabe einer transzendentalen Begründung auf die Praxisebene ist das Bewusstsein des menschlichen Subjektes nur noch methodologischer Ausgangspunkt. Zwar erfordert das Erlebte weiterhin einen ‚Diskurs gemischter Natur‘, wie Foucault bemerkte, dem aus archäologischer Sicht der Status eines empirisch-transzendentalen Zwitters zukommt, weil er die Ebenen zugleich trennt und verwischt, Sartre muss aber aufgrund der Historisierung der Erfahrung zugleich den Geltungsanspruch der eigenen Theorie von vornherein auf eine zeitlich begrenzte provisorische Totalität des gesellschaftlichen Seins einschränken. Er ist sich insofern der Grenzen des anthropologischen Vierecks, noch bevor diese von Foucault umrissen wurden, durchaus bewusst, so dass kein Allgemeingültigkeitsanspruch der Theorie mehr erhoben wird. Geht man zudem noch davon aus, dass, wie zu zeigen versucht wurde, Sartres Versuch einer Begründung der dialektischen Vernunft in der Erfahrung im Wesentlichen scheitert, so kann seine transzendental-anthropologisch konzipierte Gesellschaftstheorie als ein Unternehmen gelesen werden, das zumindest in der Lage ist, die Geltungsvoraussetzungen ihres ‚historischen Aprioris‘ reflexiv einzuholen. Der Versuch einer Freilegung der transzendentalen Bedingungen individueller Praxis aus den fundamentalen Strukturen der menschlichen Existenz muss deshalb nicht notwendig

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aufgegeben werden. Sein Status innerhalb einer kritischen Gesellschaftstheorie ist dann freilich ein anderer. Ihm kommt eine heuristische Funktion zu und nicht mehr eine begründende. So ließe sich Sartres handlungstheoretischer Ansatz durchaus als tragfähige Alternative zu Foucaults Beobachterperspektive reformulieren, die den Anforderungen an Theorie unter nachmetaphysischen Bedingungen standhalten könnte.

(2) Grundlagenreflexion der konstituierenden Dialektik der Praxis Das Unternehmen einer historisch-strukturellen Anthropologie bewegt sich also weitgehend im Rahmen der Episteme der Moderne, wie Foucault sie beschreibt. Obwohl sich Sartre der Historizität seiner eigenen Fragestellung bewusst ist, zielt sein transzendentaler Ansatz, wenn auch in heuristischer Absicht, auf die Freilegung formaler Strukturelemente, die ein generelles Verständnis der Rationalität des bisherigen Verlaufs der Geschichte ermöglichen sollen. Was Sartre mit diesem Verfahren im Auge hat, ist nichts weniger als der „[…] Gesamtkomplex der formalen Rahmen, Kurven, Strukturen und Bedingtheiten, die das formale Medium bilden, in dem das historisch Konkrete sich notwendig abspielen muß“.345 Er beabsichtigt also, vom Standpunkt der Gegenwart ein begriffliches Instrumentarium bereitzustellen, das im Rückblick eine transzendentale Rekonstruktion der Geschichte möglich machen soll. Das im ersten Band der „Critique de la raison dialectique“ entwickelte regressive Verfahren der strukturellen Anthropologie beinhaltet eine Grundlagenreflexion, die zum Ziel hat, jenseits ihrer historischen Konkretheit allgemeingültige Intelligibilitätsprinzipien des sozialen Seins freizulegen. Unter den methodischen Vorgaben einer Explikation gesellschaftlicher Strukturzusammenhänge aus der Teilnehmerperspektive bedeutete dies, die Theorie muss mit einer Auslegung des In-der-Welt-seins beginnen. Anders als in „L’être et le néant“ wird dies aber nicht aus der Perspektive eines individuellen Bewusstseins entwickelt. Der einzelne Handelnde ist, wie bereits erwähnt, nur noch der erkenntnistheoretische Ausgangspunkt. Denn im Gegensatz zum Frühwerk geht Sartre nicht mehr von der absoluten Freiheit eines autonomen Subjektes aus, sondern er will gerade dessen Handlungsspielraum innerhalb einer gesellschaftlichen Totalität ausmessen. Eine formale Analyse des In-der-Welt-seins bezieht sich folgerichtig nicht mehr allein auf die für die Situationsdeutung des

345 Vgl. Sartre (1960), a.a.O., S. 710 (Hervorhebung i.O.).

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Individuums grundlegenden Selbst- und Weltbezüge. In-der-Welt-sein meint nun Gesellschaftlich-bedingt-sein. Die formale Analyse stößt deshalb laut Sartre notwendig auf eine „dialektische Zirkularität“, das heißt auf die Tatsache, dass „[…] das Individuum als praktische Grundlage eines Ensembles und das untersuchte Ensemble als Schöpfer des Individuums in seiner Realität eines historisch Handelnden […]“ gefasst werden muss.346 Ausdrücklich wendet sich Sartre deshalb gegen einen „liberalistischen Atomismus“347 und die Vorstellung, gesellschaftliche Zusammenhänge unter der Prämisse von sich nur äußerlich und passiv zueinander verhaltender Einzelsubjekte zu denken. Die regressive Analyse der „Critique de la raison dialectique“ ist als stufenweise Reflexion angelegt, die zum Teil mithilfe phänomenologischer Verfahren, aus der Teilnehmerperspektive heraus die ontologischen Grundstrukturen des gesellschaftlichen Seins entfalten soll. Sartres Grundlagenreflexion schreitet in diesem Sinne vom Abstrakten zum Konkreten, indem sie in der Abfolge der Intelligibilitätsprinzipien zunehmend an Komplexität gewinnt. Ansetzend bei der individuellen Praxis entwickelt er über die Struktur intersubjektiver Wechselverhältnisse und die historisch-gesellschaftlichen Ausgangsvoraussetzungen materieller Knappheit die ersten Momente einer gesellschaftlichen Dynamik von Verdinglichung und Entfremdung. Damit liefert Sartre das kategoriale Gerüst für den Aufbau seiner Gesellschaftstheorie, mit dessen Hilfe er „[…] die Wandlungen der individuellen Praxis, den formalen Rahmen ihrer Entfremdung und die abstrakten Umstände, die zur Entstehung einer gemeinsamen Praxis führen […]“,348 explizieren will. Der logische Aufbau des ersten Bandes der „Critique de la raison dialectique“ verläuft daher von der Ebene der konstituierenden Dialektik, wo diese noch in ihrer „abstrakten Durchsichtigkeit“ aus der Perspektive der individuellen Praxis bestimmbar bleibt, über die Ebene der Anti-Dialektik, wo sich die individuelle Praxis aufgrund der Eigenlogik der materiellen und gesellschaftlichen Vermittlung der Pluralität von Handlungen gegen sich selbst kehrt, bis hin zur konstituierten Dialektik kollektiver Praxis unter dem Prinzip der Gruppe.349 Letztere soll die begriffliche Voraussetzung für die Intelligibilität möglicher Emanzipation liefern. Für die hier zunächst interessierende Frage nach der Subjektkonzeption ist vor allem Sartres Grundlagenreflexion auf die Prinzipien einer konstituierenden Dialektik von Belang. Im Folgenden sollen deshalb die formalen Strukturmo-

346 Vgl. ebd., S. 70 (Hervorhebung i.O.). 347 Vgl. ebd., S. 102. 348 Vgl. ebd., S. 69. 349 Vgl. ebd., S. 69f.

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mente der individuellen Praxis (a), der Intersubjektivität (b), des Mangels (c) sowie die ersten Grenzbestimmungen zur Anti-Dialektik anhand des Prinzips des Praktisch-Inerten (d) diskutiert werden. Von dort werden sich dann die ersten Schlüsse über die Rolle des Subjekts innerhalb von Sartres Gesellschaftstheorie ziehen lassen. (a) Individuelle Praxis Die gesellschaftstheoretische Grundlagenreflexion setzt mit der Analyse der individuellen Praxis ein. Nach dem bisher Dargelegten wäre zu vermuten, dass Sartre, der in seiner Auseinandersetzung mit dem Marxismus seinen Handlungsbegriff in bewusster Kontinuität zu seinem existentialistischen Frühwerk entlang der Entwurfsstruktur verteidigt hatte, mit einem sehr breiten Praxisbegriff zu operieren gedenkt. Handeln, das, wie gezeigt, in „L’être et le néant“ als konstitutiver Bestandteil des menschlichen Existenzvollzuges als zielgerichtetes Einwirken auf eine objektive Welt konzipiert wurde, war immer an eine Deutungsleistung gebunden und setzte damit einen spezifischen Selbst- und Weltbezug des Handelnden voraus. Durch den Entwurf ist nicht nur die Finalität des Handelns umschrieben, sondern er kennzeichnet auch dessen Sinnorientierung, was ein Verstehen der Situation mit Blick auf die darin gebotenen Möglichkeiten einschließt. Sartre lehnt sich auch in „Questions de méthode“ noch eng an dieses Verständnis von Handlung an, wenn er schreibt: „Die Praxis ist nämlich ein Übergang des Objektiven zum Objektiven durch Interiorisierung; der Entwurf als subjektive Überschreitung der Objektivität zur Objektivität hin, zwischen den objektiven Verhältnissen des Milieus und den objektiven Strukturen des Möglichkeitsfeldes sich erstreckend, stellt in sich selbst die bewegende Einheit der Subjektivität und Objektivität, dieser Grundbestimmung der Aktivität, dar.“350

Handeln schließt somit notwendig die Dimension des Verstehens mit ein, ja es ist, wie sich oben gezeigt hatte, eine transzendentale Voraussetzung der Reflexion auf die Existenz als Praxis. Nur aufgrund des Verstehens der Situation, und das heißt der angemessenen Deutung einer symbolisch strukturierten Umgebung, ist kongruentes Handeln möglich. „So ist das Verstehen“, wie Sartre schreibt, „nichts anderes als mein wirkliches Leben, d.h. die totalisierende Bewegung, die meinen Nächsten, mich selbst und die Umgebung in der synthetischen Einheit

350 Sartre (1960a), a.a.O., S. 107 (Hervorhebungen i.O.).

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einer ablaufenden Objektivation zusammenfaßt.“351 Verstehen heißt also verstehen des lebensweltlichen Kontextes, in den Handeln notwendig eingebettet ist. Damit hat Sartre einen existenziellen Bezugsrahmen skizziert, innerhalb dessen sich für das agierende Subjekt Selbstbezug und die Beziehungen zur objektiven wie zur intersubjektiven Welt in ein kongruentes Verhältnis bringen ließe. Der noch in „Questions de méthode“ ins Feld geführte Handlungsbegriff ist also ausgesprochen breit angelegt. Doch anders als etwa Habermas, der mithilfe einer sprachpragmatischen Deutung der unterschiedlichen Weltbezüge einen differenzierten Handlungsbegriff gewinnt, bindet Sartre die hermeneutische Komponente seines Praxisbegriffs ohne Not an eine weitgehend strategische Einstellung des Handelnden. Das hat, wie sich noch zeigen wird, weit reichende Konsequenzen für Sartres Konzeption einer Theorie der Gesellschaft. Sartre entwickelt seinen Praxisbegriff in der „Critique de la raison dialectique“ nämlich im Weiteren an dem weitaus engeren Modell der Arbeit. Damit stellt er sich in die Traditionslinie der politischen Philosophie der Neuzeit, in der seit Hobbes im Bruch mit der aristotelischen Unterscheidung von Poiesis und Praxis historisch ein anderes Verständnis von Praxis zum Tragen kommt: Praxis ist vornehmlich Arbeit und damit Tätigkeit zum Zweck der Selbsterhaltung.352 Sartre wählt als Ausgangspunkt seiner Grundlagenreflexion das instrumentelle Handeln des Einzelnen, um die wesentlichen Strukturmerkmale individueller Praxis aufzuzeigen. Die intersubjektive Dimension erhält damit aber, obwohl diese auf der phänomenalen Ebene als gleichursprünglich eingestuft wird, einen nachgeordneten Status. Dies zeigt sich bereits in „Questions de méthode“, wenn Sartre versucht, intersubjektive Verhältnisse in seinen Praxisbegriff zu integrieren. „Unser Verstehen des anderen“, so Sartre, „ist niemals kontemplativ: es ist nur ein Moment unserer Praxis, eine Weise, im Kampf oder im Einverständnis die konkrete und menschliche Beziehung, die uns mit ihm vereint, zu leben.“353 Bereits hier deutet sich an, dass Sartres Praxisbegriff es nicht erlaubt, Intersubjektivität als ein einer eigenständigen Logik folgendes Weltverhältnis zu denken. Zwischenmenschliche Beziehungen lassen sich daher zwar als Kampf beschreiben, auf welcher motivationalen Grundlage aber ein ebenso mögliches Einverständnis basieren könnte, lässt sich nur schwer plausibel machen. Für Sartre bleibt Intersubjektivi-

351 Ebd., S. 166. 352 Vgl. hierzu Eberhard Braun (1985): Arbeit und Praxis. Historische und systematische Dimensionen einer zentralen Unterscheidung praktischer Philosophie. In: Grauer et al., a.a.O., S. 25-39. 353 Sartre (1960a), a.a.O., S. 167f (Hervorhebung i.O.).

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tät im Grunde nur in strategischer Hinsicht intelligibel. Dieses Problem wird noch zu erörtern sein. Sartres Anspruch, seinen Praxisbegriff im Rahmen eines materialistischen Monismus zu entfalten, legt es nahe, beim menschlichen Organismus anzusetzen und diesen unter dem funktionalen Aspekt der Selbsterhaltung zu betrachten. Ähnlich wie für Bloch in seiner anthropologisch abgestützten Grundlegung des antizipierenden Bewusstseins im „Prinzip Hoffnung“,354 ist auch für Sartre das unmittelbare Bedürfnis der Ausgangspunkt. Sartre fasst das Bedürfnis „[…] als die erste totalisierende Beziehung dieses materiellen Wesens Mensch zu dem materiellen Komplex, von dem er ein Teil ist“.355 Damit ist das bereits weiter oben erörterte, für Sartres Gesellschaftstheorie leitende Verständnis von Praxis als partielle Totalisierung angezeigt. Sartre fasst diese Struktur allerdings zunächst noch auf der organischen Ebene eines Lebewesens als kontingentes materielles Faktum. Bedürfnisse äußern sich als Hunger, Durst usw., als das Empfinden eines materiellen Mangels. Das dadurch hervorgerufene Einwirken auf die Materie erfolgt unter dem funktionalen Imperativ der Stabilisierung der Totalität des Organismus. Es ist deshalb noch keine wirkliche Praxis, wenngleich damit die Figur der Totalisierung vollzogen wird, in der die passive Totalität der Materie für den Zweck der Lebenserhaltung zum Mittel und somit beeinträchtigt wird. Als eine Art Vorform der Praxis ist sie „[…] die Beziehung des Organismus als äußerer zukünftiger Zweck zum gegenwärtigen Organismus als bedrohte Totalität: sie ist die entäußerte Funktion“.356 Die so beschriebene Beziehung des menschlichen Organismus zur äußeren Natur dient Sartre allerdings dazu, die logische Struktur individueller Praxis innerhalb eines anthropologisch-materialistischen Bezugsrahmens zu skizzieren. Die ersten vollständigen Gestalten von Praxis zeichnen sich demnach dadurch ab, dass der Mensch sich zum Zweck der Selbsterhaltung gegenüber seiner Umwelt instrumentell verhält, indem er seinen Körper oder auch Gegenstände entsprechend einsetzt – und zwar planmäßig, also mit einer bewussten Zukunftsorientierung. Wirkliche Praxis markiert demnach die Schwelle zwischen funktionalem Verhalten und zielgerichtetem Agieren.357 Das Leben des menschlichen Organismus wird damit zur Existenz, die sich durch Praxis auszeichnet. Sartre formuliert dies so:

354 Vgl. Ernst Bloch (1959): Das Prinzip Hoffnung, Bd.1, Frankfurt/Main, S. 49ff. 355 Vgl. Sartre (1960), a.a.O., S. 84. 356 Vgl. ebd., S. 87. 357 Vgl. ebd., S. 88.

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„Sobald aber der organische Körper seine eigene Trägheit zur Vermittlung zwischen inerter Materie und seinem Bedürfnis verwendet, sind die Instrumentalität, der Zweck und die Arbeit gemeinsam gegeben: Die zu erhaltende Totalität wird nämlich als Totalisierung der Bewegung geplant, durch die der lebendige Körper seine Trägheit zur Überwindung der Trägheit der Dinge benutzt. Auf dieser Stufe ist das Überschreiten der Exteriorität auf die Verinnerung hin gleichzeitig als Existenz und als Praxis gekennzeichnet.“358

Damit sind wesentliche Strukturmomente der Praxis angegeben, wie sie größtenteils bereits anhand der Entwurfstruktur in „L’être et le néant“ entfaltet worden waren: Negation der Negation, Verinnerung, Zeitlichkeit. Durch diese ist die Praxis als eine sich selbst transparente Totalisierungsbewegung gekennzeichnet. Totalisierung bedeutet aus der Teilnehmerperspektive immer Negation der Negation. War damit im Frühwerk die Affirmation eines angestrebten Zustandes gemeint, der durch die Negation des Gegenwärtigen im Entwurf eines Ideals und der folgenden Überschreitung des Gegebenen hin auf das Ideal und damit der Negation des Ideals als Ideal erreicht werden konnte, so formuliert Sartre diese dialektische Figur in der „Critique de la raison dialectique“ nun materialistisch. Hier fungiert bereits auf der Ebene des menschlichen Organismus der Mangel als Negation des Organismus und das Bedürfnis als Negation des Mangels, dessen Überwindung zu einer neuen Totalität des Organismus führt. Die Negation der Negation strukturiert damit aber zugleich die Logik der Arbeit, die als partielle Totalisierung der individuellen Praxis die Negation des materiellen Ganzen vollzieht und damit in der Negation der Negation die Affirmation einer retotalisierten Totalität ankündigt.359 Praxis ist zudem als Verinnerung immer synthetische Deutung der Exteriorität. Was in „L’être et le néant“ als Interpretationsleistung des Handelnden gedacht wurde, wodurch erst das An-sich zur Welt wurde, die es zu überschreiten galt, fasst Sartre nun als dialektische Bewegung des Handelns präziser als Verinnerung und Entäußerung. Dabei unterscheidet er aus der Handlungsperspektive zwischen Exteriorität und Interiorität. Während mit Exteriorität das Feld der nackten Tatsachen bezeichnet wird, die mit den Mitteln der analytischen Vernunft quantifiziert und in ihrer Kausalität erfasst werden können, versteht Sartre unter Interiorität die Dimension des individuellen wie kollektiven Handelns unter gegebenen Bedingungen. Letztere ist nur einer dialektischen Vernunft aus der Teilnehmerperspektive zugänglich. Verinnern bedeutet damit die Herstellung eines interpretativen Bezugsrahmens, durch den das Feld der Exteriorität in handlungstheoretischer Hinsicht strukturiert und in den Handlungs-

358 Ebd. S. 86. 359 Vgl. ebd., S. 98.

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zusammenhang integriert werden kann. Entäußern bezeichnet die zielorientierte Transformation der Exteriorität. Weiter ist nun an die Praxis ein reflexiver Zeitbegriff gebunden, den Sartre als „dialektische Zeit“ charakterisiert.360 Handeln ist als Entwurf immer über sich hinaus, indem es die Gegenwart als Resultat der Vergangenheit aus der Perspektive der Zukunft auf ihre Möglichkeiten hin deutet. Auch dieses Strukturmoment des Handelns war bereits im Frühwerk expliziert worden. Die menschliche Existenz versteht sich immer im Horizont einer offenen Zukunft, sowohl bezüglich unabsehbarer Ereignisse wie unbeabsichtigter Handlungsfolgen. Das Verhältnis der zeitlichen Ekstasen des Menschen ist durch den Vorrang der Zukunft bestimmt. Mit den Strukturmomenten Negation der Negation, Verinnerung und Zeitlichkeit konkretisiert Sartre seinen in „L’être et le néant“ aus der dialektischen Spannung von Entwurf und Situation entwickelten Handlungsbegriff, indem er diesen in der Materialität des lebendigen Organismus zu verankern sucht. Ihre endgültige gesellschaftstheoretische Bedeutung erhält die Handlung als Praxis aber erst durch deren Formbestimmung am Modell der Arbeit. Die Arbeit ist laut Sartre „die ursprüngliche Praxis“, durch die der Mensch „[…] sein Leben hervorbringt und reproduziert […]“.361 Denn erst in der Arbeit verwandelt sich das funktionale Verhalten des Organismus, das seine Selbsterhaltung sichert, in zielgerichtetes Handeln. Damit ist Handeln aber unmittelbar an eine instrumentelle Einstellung gegenüber der Umwelt geknüpft. Es lässt „[…] die materielle Umgebung real als ein Ganzes existieren, auf dessen Grundlage eine Zweckmittelorganisation möglich ist“.362 Sartre läuft damit aber Gefahr, die übrigen Strukturmomente auf ein rein instrumentelles Weltverhältnis zu reduzieren. „Bestimmung der Gegenwart durch die Zukunft, Stellenwechsel des Inerten und des Organischen, Negation, überschrittene Widersprüche, Negation der Negation, kurz, ablaufende Totalisierung: das sind die Momente jeder Arbeit, was sie auch immer ist […]“, schreibt Sartre und schränkt mit Blick auf die angepeilte Gesellschaftsanalyse allerdings sogleich ein, dass diese Bestimmung der Arbeit nur auf der elementaren Ebene der individuellen Praxis gilt, nicht jedoch für deren Charakterisierung im historisch gegebenen Fall industrieller Arbeitsteilung in modernen Gesellschaften. „In allen anderen Fällen“, so Sartre „erscheint die Dialektik als Logik der Arbeit.“363

360 Vgl. ebd., S. 86. 361 Vgl. ebd., S. 95. 362 Vgl. ebd. 363 Vgl. ebd., S. 95f.

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Mit dieser Engführung von Praxis und Arbeit handelt sich Sartre gleich zwei Probleme ein. Obwohl er sich der Historizität seiner eigenen Methode bewusst ist, extrapoliert Sartre den an Selbsterhaltung gebundenen neuzeitlichen Arbeitsbegriff zu einer universal gültigen Kategorie, ohne zu reflektieren, dass Arbeit in ihrer abstrakten Form historisch an die Entstehung kapitalistischer Gesellschaften gebunden ist. Damit taugt sie für das Verständnis vorkapitalistischer Gesellschaften aber nur begrenzt. Um Arbeit als analytischen Begriff zum Verständnis menschlicher Praxis in modernen Gesellschaften verwenden zu können, müsste Sartre diesen deshalb selbst in seiner historischen Genese reflektieren. Damit wäre Arbeit aber kein Prinzip der strukturellen Anthropologie mehr, sondern dürfte als spezifisch epochale Kategorie erst mit in der synthetischen Progression von Sartres angepeilter historischer Anthropologie entwickelt werden. Schwerwiegender für den weiteren Fortgang der gesellschaftstheoretischen Grundlagenreflexion ist allerdings, dass Sartre aufgrund der instrumentellen Verkürzung Mühe hat, intersubjektive Verhältnisse in seinen Praxisbegriff zu integrieren. (b) Intersubjektivität Das Durchlaufen der dialektischen Zirkularität hat zum Ziel, am Ende die individuelle Praxis als bedingende und zugleich bedingte im gesellschaftlichen Kontext einsichtig zu machen. Die regressive Analyse muss deshalb von der individuellen Praxis, die strukturell als sich selbst transparente Bearbeitung der Materie bestimmt wurde, in einem nächsten Schritt das Verhältnis der einzelnen Praxen zueinander klären. Sartre führt daher auf der formalen Analyseebene neben der Praxis ein weiteres Intelligibilitätsprinzip ein: die Wechselseitigkeit menschlicher Beziehungen. Dadurch will er einem atomistischen Gesellschaftsverständnis vorbeugen. Zu Recht verweist er darauf, dass es methodisch problematisch ist, vom Individuum aus direkt auf die Ebene der gesellschaftlichen Verhältnisse zu springen. Ein solches Vorgehen berge die Gefahr in sich, die dialektische Struktur von Gesellschaften zu verkennen, indem diese lediglich als Ansammlung isolierter Einzelsubjekte gedacht würden.364 Mit der Einführung der Wechselseitigkeit eröffnet sich Sartre die Möglichkeit, die Komplexität moderner Gesellschaften über ein zweites strukturbestimmendes Element begrifflich zu fassen. Sie gilt ihm als in der gesellschaftlichen Realität als gleichursprünglich mit der Praxis365 gegeben, denn sie ist unabhängig von ihrer historisch gewordenen

364 Vgl. ebd., S. 102. 365 Vgl. ebd., S. 104f.

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Form ein „permanentes Faktum“,366 eine „[…] elementare Verbindung, die alle Strukturierungen bedingt“.367 Die Grundlagenreflexion erfährt also eine weitere Konkretisierung, indem sie der Praxis die eigenständige Dimension der Intersubjektivität beiseite stellt. Das Verhältnis zum Anderen wird damit in der „Critique de la raison dialectique“ neu bestimmt. Basierte die intersubjektiven Verhältnissen inhärente Konfliktstruktur in „L’être et le néant“, wie sie mithilfe der Blick-Metapher entwickelt wurde, noch im Wesentlichen darauf, dass Ego in seiner Beziehung zu Alter immer nur die Alternative hatte, diesen zu verdinglichen, um nicht selbst verdinglicht zu werden, so wird es nun möglich, dass die Akteure sich zugleich als Subjekte und als Objekte verstehen. Dies hat zur Folge, dass sich auch der Charakter der Anerkennung verändert.368 War damit im Frühwerk eine grundlegende Entfremdungserfahrung verbunden, nämlich sich seines Objekt-für-Andere-seins bewusst zu werden, so basiert Anerkennung nun auf Gegenseitigkeit. Sie fußt auf einer „grundlegenden Kommunikation“, ja sie beinhaltet einen „permanenten Kommunikationswillen“.369 „Der bloße Gebrauch der Sprache“, so Sartre, „die einfachste Geste, die elementare Struktur der Wahrnehmung […] implizieren […] schon die gegenseitige Anerkennung.“370 Das bedeutet nun freilich nicht, dass intersubjektive Beziehungen nicht mehr als entfremdet und konflikthaft beschrieben werden können. Doch Sartre begründet den Konflikt nun nicht mehr aus der Struktur eines ontologisch fundierten Bewusstseins, sondern beabsichtigt, ihn als innergesellschaftliches Verhältnis einsichtig zu machen. Intersubjektive Konflikte existieren für ihn immer unter spezifischen historisch gegebenen materiellen und institutionellen Bedingungen.371 Sie ereignen sich gewissermaßen innerhalb eines Verhältnisses konkreter Wechselseitigkeit. Die Wechselseitigkeit selbst ist eine analytische Größe. Sie kann deshalb, ebenso wenig wie die oben beschriebene, in ihrer teleologischen Struktur sich selbst transparente individuelle Praxis, in der gesellschaftlichen Realität in Reinform vorgefunden werden. Für den regressiven Aufweis der formalen Strukturbestimmungen des gesellschaftlichen Seins hat das Intelligibilitätsprinzip der Wechselseitigkeit, ebenso wie die übrigen in der Grundlagenreflexion eingeführten Prinzipien, insofern heuristischen Wert. Es soll gewissermaßen die eigenständige Rationalität inter-

366 Vgl. ebd., S. 102. 367 Vgl. ebd., S. 105. 368 Vgl. hierzu Theunissen (1965), a.a.O., S. 234. 369 Vgl. Sartre (1960), a.a.O., S. 104. 370 Ebd., S. 116. 371 Vgl. ebd., S. 118.

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subjektiver Verhältnisse, die sich aus der Pluralität individueller Praxen ergibt,372 einsichtig machen. Die Wechselseitigkeit zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht mit den aus der Analyse der individuellen Praxis unmittelbar gewonnenen dialektischen Begriffen verstehbar werden kann, weil sie sich auf das „äußere Verhältnis von Dialektiken untereinander“ bezieht. Sie ermöglicht laut Sartre daher, anders als die individuelle Praxis, keine Synthesen. Intersubjektive Verhältnisse bleiben äußerlich, es sind „[…] pluralistische Zusammenhalte zwischen Menschen, die eine ‚Gesellschaft‘ in einem kolloidalen Zustand erhalten“.373 Wie lässt sich nun der spezifische Charakter der Intersubjektivität mit den Mitteln der regressiven Analyse ergründen? Da Sartre annimmt, dass die Wechselseitigkeit auf einer grundlegenden Kommunikation basiert, ist es im Grunde naheliegend, als mögliches Vermittlungsmedium zwischen den sich sonst äußerlich bleibenden Einzelakteuren die Sprache anzusehen. Doch was die kommunikative Funktion der Sprache anbelangt, bleibt Sartre skeptisch. Wie sich schon in der Auseinandersetzung mit Foucault gezeigt hatte, ordnet er die Sprache, zumindest was ihren Systemcharakter betrifft, dem Praktisch-Inerten zu – also dem noch zu erörternden Prinzip, das begreifbar machen soll, wie die gesellschaftlich und materiell vermittelte individuelle Praxis sich am Ende gegen sich selbst richtet.374 Und bereits in der „Critique de la raison dialectique“ spricht Sartre davon, dass Sprache „[…] in gewisser Hinsicht eine inerte Totalität […]“ ist.375 Allerdings, und dies zeigte sich auch während des Humanismusstreits, sieht er die Sprache nicht allein als ein System an, durch das die Äußerungen des Subjektes determiniert sind, denn das Praktisch-Inerte ist ja zugleich Resultat von Praxis. Sartre akzeptiert zwar die durch den linguistischen Strukturalismus geprägte Unterscheidung zwischen „langue“ und „parole“,376 beharrt aber darauf, dass Sprechen eine Handlung ist, durch die die grammatische Struktur der Sprache zwar reaktualisiert, zugleich aber im Akt des Sprechens ein spezifischer Bedeutungsgehalt formuliert wird. Die Sprache existiert in ihrer Anwendung. Dabei werden bestehende Bedeutungen überschritten. Sprechen ist partielle Totalisierung einer symbolischen Struktur durch die subjektive Anwendung einer objektiven Regel. Genau das war sein Einwand gegen die systemische Verabsolutierung der Spra-

372 Vgl. ebd., S. 103. 373 Vgl. ebd., S. 118. 374 Vgl. Sartre (1966), a.a.O., S. 90f. 375 Vgl. Sartre (1960), a.a.O., S. 103 (Hervorhebung i.O.); vgl hierzu auch S. 326 (Anmerkung). 376 Vgl. de Saussure (1915), a.a.O., S. 36ff.

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che durch den Strukturalismus, den er im Grunde bereits in der „Critique de la raison dialectique“ formulierte: „Die Sprache enthält alle Wörter, und jedes Wort ist durch die ganze Sprache verständlich, faßt die Sprache in sich zusammen und bestätigt sie neu. Diese grundlegende Totalität kann jedoch nichts anderes als die Praxis selbst sein, insofern sie sich den anderen direkt kundtut. Die Sprache ist Praxis als praktische Beziehung eines Menschen zu einem anderen, und die Praxis ist immer Sprache (ob sie lügt oder die Wahrheit sagt), weil sie nicht geschehen kann, ohne sich zu bezeichnen.“377

Sartre bewegt sich mit diesem Sprachverständnis im Grunde in der Nähe der Universalpragmatik. Er übergeht jedoch das Potenzial, das die Sprache aufgrund ihrer so gewonnenen Erschließungsfunktion für das Selbst- und Weltverhältnis der Handelnden enthält, und vergibt sich damit zugleich die Chance, seinen Verstehensbegriff um eine kommunikative Dimension anzureichern. Deshalb kann er zugleich schreiben: „Der Sinn jedes Satzes, den ich formuliere, entgeht mir, er wird mir entzogen. Jeder Tag und jeder Sprecher verändert für alle die Bedeutungen, ja die anderen drehen sie mir im Munde herum.“378 Der systematische Grund für diese Skepsis gegenüber der Sprache liegt darin, wie Sartre Handlung denkt. Abgesehen davon, dass sie am Modell der Arbeit entwickelt wird, ist auf der Ebene der Grundlagenreflexion vor allem ausschlaggebend, dass sie als individuelle Praxis so konzipiert ist, dass sie in ihrer teleologischen Struktur als sich völlig transparent gedacht werden soll. Das bedeutet aber, dass im Grunde jede Vermittlung dazu führt, dass diese Transparenz verloren geht. Das Resultat der Handlung tritt dem Handelnden dann als nicht identisch mit dem Intendierten gegenüber. Aus diesem Grund muss Sartre auch die Sprache als praktisch-inerte Struktur fassen, in der sich die Vielheit der Einzelpraxen in ihrer Objektivität spiegelt, die der einzelnen Praxis entgeht. Wenn auch die Sprache nicht allein als System begriffen werden darf, so skizziert doch ihre vom jeweiligen historischpraktischen Kontext aufgeladene Semantik für Sartre den Rahmen, innerhalb dessen Sprechen möglich ist. Sie stellt ein gesellschaftliches Medium dar, durch das die Intention des Sprechers verfälscht und verdinglicht wird.379 Die Sprache

377 Sartre (1960), a.a.O., S. 104. 378 Ebd., S. 103 (Hervorhebung i.O.). 379 Vgl. auch Sartre (1966a), a.a.O., S. 87, wo Sartre dies besonders drastisch formuliert: „Es gibt keinen geistigen Prozeß, der nicht intentional wäre, ebensowenig wie es keinen geistigen Prozeß gibt, der nicht durch die Sprache geleimt, pervertiert, verraten würde (…).“

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ist zwar „gemeinsames Band“ der „interindividuellen Strukturen“,380 doch zugleich sieht Sartre in ihr die Grenzen der Verständigung vorgegeben, weshalb „[...] Dialoge zum Teil Dialoge von Tauben […]“381 sind. Als Medium hat die Sprache dann aber, ähnlich wie das Geld,382 doch nur noch die Funktion, die pluralen Einzelhandlungen zu verbinden. Aus der Teilnehmerperspektive dient sie dem Handelnden als ein Mittel neben anderen bei der Verfolgung individueller Handlungsziele. Dass Sartre der Sprache einen vergleichsweise untergeordneten Status zum Verständnis der allgemeinen Strukturen von Intersubjektivität einräumt, verwundert nicht zuletzt, weil er die Eigenlogik zwischenmenschlicher Beziehungen in relativ abstrakter Form zu erfassen sucht. Die naheliegende Möglichkeit, bei der Spezifik interpersonaler Nahbeziehungen anzusetzen, um von dort aus stufenweise zur entsprechenden Qualität gesellschaftlicher Zusammenhänge fortzuschreiten,383 fasst er nicht ins Auge, sondern versucht die Wechselseitigkeit auf der Ebene distanzierter Anonymität in ihrer formalen Struktur zu beschreiben. Sartre wählt hierfür ein phänomenologisches Verfahren, indem er aus der Teilnehmerperspektive zu ergründen versucht, was das Verstehen des Anderen innerhalb des Verhältnisses der Wechselseitigkeit ausmacht. So wie auf dem Niveau der Grundlagenreflexion bislang der Verstehensbegriff verwendet wurde, heißt verstehen, die teleologische Struktur einer Handlung nachvollziehen zu können. Sartre formuliert dies im 2. Band der „Critique de la raison dialectique“ nochmals präzise: „La compréhension, c’est la praxis même en tant qu’accompagnée par l’observateur situé. Sa structure est celle même de l’action immédiate: elle saisit la temporalisation pratique à partir de son terme ultime et

380 Vgl. Sartre (1960), a.a.O., S. 105. 381 Vgl. ebd., S. 103. 382 Vgl. ebd. 383 Ein prominentes Beispiel für einen derartigen Ansatz ist Honneths Versuch, die Struktur gesellschaftlicher Anerkennung ausgehend vom interpersonalen Nahbereich der Liebesbeziehungen über universale Rechtsverhältnisse bis hin zur sozialen Wertschätzung in konkreten Gesellschaftsformationen zu entwickeln. Vgl. Axel Honneth (1992): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt/M; kritisch dazu, was den Solidaritätsbegriff angeht: vgl. Mathias Richter (2008): Wo bleibt die Solidarität? Zum Status eines Leitbegriffs kritischer Gesellschaftstheorie und dessen Ort in der Anerkennungstheorie von Axel Honneth. In: Christoph Menke, Juliane Rebentisch (Hg.), Axel Honneth. Gerechtigkeit und Gesellschaft. Potsdamer Seminar, Berlin, S. 47-54.

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futur, en d’autres mots, à partir de sa fin.“384 Verstehen des Anderen kann daher nur heißen, dessen Praxis zu verstehen, denn die Wechselseitigkeit ist ja das Verhältnis der einzelnen Praxen zueinander, oder wie Sartre schreibt: „[…] die Praxis eines jeden als Realisierung des Plans bestimmt seine Wechselverbindung mit jedem.“385 Mit dem bisher entwickelten methodischen Instrumentarium lässt sich das Verhältnis zum Anderen aus der Teilnehmerperspektive nun auf mehreren Stufen beschreiben. Sartre entfaltet deren spezifische Qualitäten anhand des berühmten Beispiels des Intellektuellen, der zwei Arbeitern zuschaut und dabei die unterschiedlichen Kombinationen von Wechselverhältnissen durchspielt. Schrittweise bewegt sich die Analyse dabei von der Ebene des einfachen Verstehens einer Handlung des Anderen über die Einbeziehung in die eigene Handlungsperspektive hin zu den daraus resultierenden grundlegenden Interaktionsformen zweier Handelnder. Auf der Verstehensebene bedeutet dies, dass ich, wie gesagt, die teleologische Struktur der Handlung des Anderen nachvollziehen kann. Die Grundlage des Verstehens ist daher eine „[…] prinzipielle Komplicenschaft mit jedem Unternehmen […]“.386 Zugleich ist es aber die Praxis eines Anderen, die ich in einer „Interioritäts-Beziehung“ zu mir erfasse, das heißt, „[…] daß die Realität des Anderen mich in meiner ganzen Existenz beeinträchtigt, weil sie nicht meine Realität ist“.387 Sie macht innerhalb der Objektivität aus mir eine „[…] Objektivität-für-den-anderen, die mir entgeht“.388 Als fremde ist mir eine Praxis des Anderen nicht nur verständlich, sondern sie wirkt sich zugleich auf meine Praxis aus. Das hat freilich Konsequenzen für die Reflexion der eigenen Handlungsbezüge innerhalb des intersubjektiven Verhältnisses. Vor dem Hintergrund von Sartres instrumentell ausgerichtetem Praxisbegriff, den er selbst ausdrücklich betont, bevor er die einzelnen Gesichtspunkte aufzählt, unter denen der Andere für die eigene Praxis von Relevanz ist, bedeutet dies eine strategische Einordnung der Handlungen des Anderen in den eigenen Entwurf. Sartre skizziert die Handlungsbezüge innerhalb eines Zweierverhältnisses wie folgt: „Insofern folglich mein Plan Überschreitung der Gegenwart auf die Zukunft und meiner selbst auf die Welt hin ist, behandle ich mich immer als Mittel und kann den Anderen nicht als einen Zweck behandeln. Die Wechselseitigkeit impliziert: 1. daß der Andere ge-

384 Vgl. Sartre (1985), a.a.O., S. 378 (1. Hervorhebung i.O.; 2. Hervorhebung M.R.). 385 Vgl. Sartre (1960), a.a.O., S. 116. 386 Vgl. ebd., S. 106. 387 Vgl. ebd., S. 107 (Hervorhebungen i.O.). 388 Vgl. ebd. (Hervorhebung i.O.).

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nau in dem Maße Mittel ist, wie ich selbst Mittel bin, das heißt, daß er Mittel eines transzendenten Zieles und nicht mein Mittel ist; 2. daß ich den Anderen zur selben Zeit als Praxis, das heißt als ablaufende Totalisierung anerkenne, wie ich ihn als Gegenstand in meinen totalisierenden Plan einbeziehe; 3. daß ich seine Bewegung auf seine eigenen Ziele hin in eben der Bewegung anerkenne, durch die ich mich selbst auf meine Ziele hin plane; 4. daß ich mich als Gegenstand und als Instrument seiner Ziele in eben der Handlung entdecke, die ihn für meine Ziele zu einem objektiven Instrument macht.“389

Mit der so umrissenen kognitiven Einordnung des Anderen in den eigenen Handlungskontext ergeben sich für Sartre schließlich drei mögliche Interaktionsformen, in denen die genannten vier Momente der Wechselseitigkeit in unterschiedlicher Weise zum Tragen kommen. Formen positiver Interaktion sieht Sartre dann, wenn sich jeder freiwillig zum Mittel des Anderen machen lässt, um damit das je eigene Ziel zu erreichen. Dies geschieht etwa im Falle von Tauschhandlungen. Positive Interaktionen sind zudem unter der Voraussetzung möglich, dass die wechselseitige einvernehmliche Instrumentalisierung der Verfolgung eines gemeinsamen Ziels dient. Negativ dagegen ist die dritte Form der Interaktion, wenn die Ziele der beiden Akteure antagonistisch sind und sich insofern beide einerseits weigern, sich zum Mittel des Anderen machen zu lassen, und andererseits versuchen, diesen gegen seinen Willen für das eigene Ziel zu instrumentalisieren. Die negative Interaktionsform basiert daher auf der Ausübung von Macht und vollzieht sich als Kampf.390 Wie die Untersuchung der drei konstitutiven Ebenen der Wechselseitigkeit aus der Teilnehmerperspektive zeigt, besteht die Wechselseitigkeit vornehmlich in der Anerkennung der Intentionen des Anderen für eine zweckrationale Koordination mit den Zielen der eigenen Praxis.391 Damit tritt eine neue Handlungsform zu Tage, die sich mit der habermasschen Typologie als strategisches Handeln beschreiben lässt. Anders als auf der Ebene der individuellen Praxis, die in der Grundlagenreflexion noch isoliert in ihrem Verhältnis zur materiellen Natur betrachtet wurde, das als instrumentelles Handeln verstanden werden konnte, ist mit der Einbeziehung der Pluralität anderer Praxen von den einzelnen Teilnehmern strategisches Verhalten gefordert. Anders als strategisch lassen sich diese Interaktionsverhältnisse allerdings auch kaum beschreiben. Sartres instrumentell ausgerichteter Praxisbegriff scheint Verständigung, wie dies etwa bei normenge-

389 Ebd., S. 119 (Hervorhebung i.O.). 390 Vgl. ebd. 391 Vgl. hierzu ähnlich: Reinhard Olschanski (1997): Phänomenologie der Mißachtung. Studien zum Intersubjektivitätsdenken Jean-Paul Sartres, Bodenheim, S. 248f.

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leitetem Handeln oder im Falle expressiver Selbstdarstellung vorausgesetzt werden muss, nicht als notwendige Handlungsorientierung zu erachten. Denn selbst die Koordination der einzelnen Handlungssequenzen zur Verfolgung gemeinsamer oder auch unterschiedlicher, sich aber nicht widersprechender Ziele ist, so wie Sartre sie aus der Binnenperspektive beschreibt, eher strategisch zu verstehen. Kommunikatives Handeln scheint dafür nicht notwendig zu sein.392 Es genügt, die Ziele des Anderen in Relation zu den eigenen zu bewerten und sich entsprechend zu verhalten. So ist mit dem Wechsel von der Perspektive der individuellen Praxis auf die Ebene der Intersubjektivität lediglich der Übergang vom instrumentellen zum strategischen Handeln impliziert. Wechselverhältnisse entstehen demnach durch das gegenseitige Taxieren des Anderen mit Blick auf die eigenen Ziele. Dass das Wechselverhältnis als strategische Beziehung beschrieben werden muss, hängt unter anderem damit zusammen, dass Sartre dieses bislang aus der Perspektive eines Akteurs innerhalb einer Zweierbeziehung untersucht hatte. Doch im Grunde lässt sich aus der Teilnehmersicht gar nicht einsichtig machen, dass es sich um eine Wechselbeziehung handelt. Der Andere ist je nach Interaktionsmodus ein Gegen- oder Mitspieler. Damit ist aber noch nicht einmal die virtuelle Übernahme der Perspektive des Anderen auf die eigene Praxis erforderlich. Der Einzelne verharrt weiterhin in der instrumentell-strategischen Logik seiner individuellen Praxis. Um die Beziehung zum Anderen überhaupt als eine der Wechselseitigkeit kenntlich machen zu können, bedarf es offensichtlich einer Dezentrierung der Teilnehmerperspektive. Darin besteht die eigentliche Pointe der Beschreibung des Verhältnisses zum Anderen im Gegensatz zu Sartres Frühwerk. Und damit wird auch schlagartig klar, warum Sartre die Wechselseitigkeit anhand der Szene mit dem Intellektuellen, der zwei Arbeiter beobachtet, einführt. Die Beziehung zwischen zwei Handelnden kann nur aus der Beobach-

392 Kelbel, mit dessen Interpretation ich sonst weitgehend übereinstimme, verbucht die positiven Interaktionsverhältnisse unter Verweis auf Habermas als kommunikatives Handeln. Dies scheint mir ein Missverständnis zu sein. Denn Sartres Beispiel des Tausches basiert ja gerade auf der Existenz eines Mediums wie das des Marktes, das es ermöglicht, das Interesse des Anderen allein unter strategischen Gesichtspunkten zu betrachten und es zur Verwirklichung des eigenen Ziels zu nutzen. Und auch im Fall der Verfolgung eines gemeinsamen Zieles ist zunächst nicht unbedingt eine Verständigungsorientierung im habermasschen Sinne vorausgesetzt. Es ist nicht erforderlich, sich auf ein Ziel zu verständigen. Es genügt, das Ziel des Anderen als mit dem eigenen als identisch zu identifizieren, um eine Kooperation für strategisch sinnvoll zu erachten. Vgl. Kelbel (2005), a.a.O., S. 316.

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terperspektive eines Dritten als Wechselverhältnis verstanden werden. Dem Dritten kommt somit die Funktion der Vermittlung zu und in dieser Funktion ist er kein Handelnder, sondern Medium, über den die „gegenseitige Anerkennung“ zu Tage tritt.393 Mit der Einführung des Dritten vollzieht Sartre einen entscheidenden methodischen Wechsel in seiner Darstellungsweise. Hatte er bislang versucht, konsequent aus der Teilnehmerperspektive eines einzelnen Handelnden die Struktur gesellschaftlicher Zusammenhänge zu entwickeln, so führt er nun erstmals eine mögliche Beobachterperspektive zur Unterstützung seines Vorhabens ein. Der unbeteiligte Dritte ist freilich kein externer Blick auf das Ganze, aber zumindest die Reflexion auf die Perspektive eines weiteren Teilnehmers, der in Kenntnis der Logik des eigenen Handlungsvollzuges in der Lage ist, die Interaktion zwischen pluralen Praxen anderer als Wechselverhältnis zu verstehen und damit dessen spezielle Struktur zu erfassen. Erst aus der Perspektive eines dritten Teilnehmers kann Sartre eine Eigenlogik der Intersubjektivität erfassen. Wechselseitigkeit und beobachtender Dritter sind insofern konstitutiv für sein Verständnis zwischenmenschlicher Beziehungen. Sie bedingen sich gegenseitig. „Die Zweierformation als unmittelbare Beziehung von Mensch zu Mensch“, so Sartre, „ist die notwendige Grundlage jeder Dreierbeziehung. Umgekehrt aber ist diese als Vermittlung des Menschen zwischen den Menschen Hintergrund, auf dem sich die Wechselseitigkeit selbst als wechselseitige Verbindung erkennt.“394 Methodisch bedeutet dies, dass die Grundlagenreflexion nun in der Lage ist, anhand der Dreierbeziehung das Intelligibilitätsprinzip der Intersubjektivität zu entfalten und damit eine transzendentale Voraussetzung der strukturellen Anthropologie anzugeben: „Die Wechsel- und Dreierverhältnisse sind die Grundlage aller Beziehungen unter den Menschen, welche Form sie später auch immer annehmen mögen.“395 Bei der Analyse dieser Beziehungen hat die Theorie es allerdings auf der phänomenalen Ebene mit einem Oszillieren von Beobachter- und Teilnehmerpositionen zu tun. Denn die Wechselseitigkeit kann nur von außen erkannt werden, sobald eine Teilnehmerperspektive darin eingenommen wird, entschwindet sie. Der Dritte wird zum Anderen. „In diesem Sinne“, so Sartre, „ist das Verhältnis der Dritten zueinander – insofern jeder darin aufgeht, eine Wechselbeziehung zu vermitteln – eine Trennung, die die Wechselseitigkeit als grundlegende Verbindung zwischen den Menschen postuliert, aber die erlebte

393 Vgl. Sartre (1960), a.a.O., S. 114. 394 Ebd., S. 114f. 395 Ebd., S. 117 (Hervorhebung i.O.).

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Wechselseitigkeit verweist immer auf den Dritten und entdeckt ihrerseits das Dreierverhältnis als ihre Grundlage und ihren Abschluß.“396

Sartres Handlungstheorie erfährt durch die Einführung des Modells der Zweier/Dreierkonstellationen eine für die Gesellschaftsanalyse methodisch nicht unerhebliche Erweiterung. Denn durch den Dritten gelingt es ihm, den bislang nur aus dem Verständnis des einzelnen Handelnden entwickelten Situationsbegriff aufzustufen. Die Situationsdeutung des Einzelnen, wie sie sich etwa im Zweierverhältnis aus der jeweiligen strategischen Perspektive ergibt, erhält nun eine reflexive Ergänzung über die Beobachterposition eines Dritten. Entscheidend ist aber nun, dass Situationsdeutung und Reflexionsebene ontologisch notwendig auseinanderfallen. Die Funktion des Dritten besteht darin, die Pluralität zweier Handlungssubjekte zu vermitteln, indem er von außen eine Einheit stiftet.397 Die Zweierbeziehung wird durch seine Praxis also totalisiert. 398 Zugleich ist das Verhältnis des Dritten zur Zweierbeziehung „ohne Wechselseitigkeit“,399 er betrachtet aus der Distanz und ist damit zugleich von der Wechselseitigkeit ausgeschlossen. Aus der Perspektive der Zweierbeziehung wiederum wird die vom Dritten als Wechselseitigkeit bestimmte Einheit negiert und von ihren beiden Epizentren als von außen zugeschriebener Imperativ erlebt.400 Intersubjektivität kann nach Sartre also immer nur als von außen vermittelte gedacht werden. Gerade deshalb bildet sie für ihn aber ein Strukturmoment jeglicher Gesellschaft. Denn über die Position des Dritten tritt die gesamtgesellschaftliche Dimension zwischenmenschlicher Verhältnisse in Erscheinung. Auf der formalen Ebene der analytischen Regression zeigt sich dies dadurch, dass die Position des Dritten austauschbar ist, er ist „jeder und alle“.401 Damit ist in die Struktur der Intersubjektivität ein kritisches Moment eingebaut. Denn die Dreierbeziehung „[…] begründet noch keine apriorische Hierarchie, weil ja alle drei Glieder der Dreierbeziehung gegenüber den Anderen zum Dritten werden können“.402 Unter realen geschichtlichen Bedingungen freilich erweist sich das Verhältnis von Zweierbeziehung und Drittem als strukturell hierarchisch. Denn es sind für Sartre die materiellen und institutionellen Voraussetzungen, die dafür sorgen, dass die Positi-

396 Ebd., S. 123 (Hervorhebung i.O.). 397 Vgl. ebd., S. 125. 398 Vgl. ebd., S. 122. 399 Vgl. ebd., S. 126. 400 Vgl. ebd., S. 120f.. 401 Vgl. ebd., S. 114. 402 Vgl. ebd., S. 126 (Hervorbebung Sartre).

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on des Dritten nicht frei verfügbar ist. Die Vermittlung kann den Subjekten sogar über die „bearbeitete Materie“403 geschehen, die ihre Handlungen von außen bedingt und ihre Koordination erzwingt. Sartre versucht dies am Beispiel des Zeitnehmers in einer Fabrik zu zeigen, der den Arbeitstakt von zwei Arbeitern überwacht.404 In diesem Fall strukturieren die gesellschaftlichen Machtverhältnisse die Handlungen der Zweiergruppe. Ihre Einheit geschieht ihr über die Vermittlung auf ein äußeres Ziel hin, das nicht das ihre ist. Innerhalb des historischen Kontextes kapitalistischer Warenproduktion erfährt so das in die Zweier-/Dreierverhältnisse eingebaute Reflexionsverhältnis eine spezifische Funktion: Die Position des Dritten konkretisiert sich zu einer Erkenntnis- und Machtposition. Damit ist allerdings bereits der Übergang zum Praktisch-Inerten angedeutet, auf das noch zurückzukommen ist. Intersubjektive Verhältnisse sind immer in die konkrete Materialität bestimmter Gesellschaftsformen eingebettet. Erst unter Berücksichtigung der historischen Bedingungen lässt sich daher ihre jeweilige qualitative Erscheinungsweise bestimmen. Insofern dürfen gelegentliche Andeutungen Sartres, die auf ein solidarisches Einvernehmen mit dem Anderen405 innerhalb eines Wechselverhältnisses hinweisen, nicht überbewertet werden.406 Die in der Zweier-/ Dreierbeziehung freigelegte Struktur der Intersubjektivität dient Sartre als ein Intelligibilitätsprinzip innerhalb der regressiven Abfolge der formalen Grundstrukturen gesellschaftlicher Verhältnisse. Seine analytische Funktion erhält es nur im Zusammenspiel mit den anderen Prinzipien. Deshalb kann die Wechselseitigkeit in ihrer historischen Form auch nicht unabhängig von diesen einsichtig gemacht werden. Ein weiterer Grund für die nur geringe normative Kraft, die Sartre in der Wechselseitigkeit verankern kann, liegt darin, dass in ihr, wie gezeigt, die instrumentell-strategische Grundausrichtung dominiert, die von seinem Verständnis der individuellen Praxis herrührt. Sartre verweist gegen Ende des Intersubjektivitätskapitels ausdrücklich auf diese Anbindung an die individuelle

403 Vgl. ebd., S. 118. 404 Vgl. ebd., S. 123ff. 405 Vgl. etwa ebd., S. 139 oder S. 198f. 406 Theunissen geht sogar so weit, Sartres veränderten Anerkennungsbegriff als einen zaghaften Versuch zu werten, den strategischen Umgang mit dem Anderen hin auf eine „personale Ich-Du-Beziehung“ zu überschreiten. Vgl. ders. (1965), a.a.O., S. 234. Er kann sich dafür allerdings lediglich auf marginale Textstellen in Anmerkungen stützen, so etwa Sartre (1960), a.a.O., S. 327f. bzw. Sartre (1960a), a.a.O., S. 84. Auf Letzteres hat auch Kampits kritisch hingewiesen; vgl. ders. (1975), a.a.O., S. 271.

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Praxis: „Wir wollen lediglich zusammenfassend wiederholen: eine menschliche Beziehung existiert real zwischen allen Menschen, und sie ist nichts anderes als die Beziehung der Praxis zu sich selbst. Die Komplikationen, die diese neue Beziehung entstehen läßt, hat keinen anderen Ursprung als die Pluralität, das heißt die Vielfalt der agierenden Organismen.“407 (c) Mangel Mit den bisher entfalteten Strukturprinzipien ist das In-der-Welt-sein des Handelnden noch ungenügend bestimmt. Weder die Darstellung der individuellen Praxis noch die der aus der Logik der Zweier-/Dreierbeziehung entwickelten Intersubjektivität waren ohne abstrakte Verweise auf eine Vermittlungsfunktion der Materie ausgekommen. Dabei war die Materie einerseits als zu bearbeitender Widerpart der individuellen Praxis aufgetreten, andererseits hatte sie sich als durch die Pluralität von Praxen bearbeitete Materie in der Gestalt eines gesellschaftlichen Verhältnisses angedeutet, das die Wechselseitigkeit der Handelnden bedingt. Es ist daher nur konsequent, wenn sich Sartre nun der Materie zuwendet, um ihren konstitutiven Charakter für das Verständnis von Geschichte zu bestimmen. Zu diesem Zweck führt er als drittes Prinzip der Grundlagenreflexion den Mangel ein. Er ist die „Ursprungsstruktur“, die auf „[…] allen Stufen der bearbeiteten und vergesellschafteten Materialität […]“408 gefunden werden kann. Sartre ist sich darüber im Klaren, dass er mit dem Mangel ein kontingentes Faktum der empirischen Welt auf die Ebene der transzendentalen Grundlagenreflexion hebt. Doch auch wenn eine Welt ohne Mangel eine logische Möglichkeit darstelle, vom Standpunkt aller bisherigen Geschichte betrachtet, so sein Argument, ist der Mangel „universal“.409 Für Sartre bietet daher das Prinzip des Mangels eine methodisch notwendige Voraussetzung, um zur konkreten Geschichte vordringen zu können. Der Mangel ist „[…] trotz seiner Kontingenz eine grundlegende menschliche Beziehung zur Natur und zu den Menschen. In diesem Sinne muß man sagen, daß es der Mangel ist, der uns zu diesen Individuen macht, die diese Geschichte hervorbringen und sich als Menschen definieren“.410 Der Mangel begegnet dem Menschen auf qualitativ unterschiedlichen Ebenen seines In-der-Welt-seins. Bereits bei der Strukturbestimmung der individuel-

407 Sartre (1960), a.a.O., S. 127 (Hervorhebungen i.O.). 408 Vgl. ebd., S. 130f. 409 Vgl. ebd., S. 131 (Hervorhebung i.O.). 410 Ebd. (Hervorhebungen i.O.).

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len Praxis war er als unhintergehbares, wenn auch kontingentes Moment des Organismus in Form einer ersten Negation aufgetaucht. In der Materialität des Mangels hatte Sartre die erste motivationale Voraussetzung totalisierender Praxis ausgemacht. Auf der Ebene der Intersubjektivität ist der Mangel nun die materielle Kraft, durch die die Wechselseitigkeit ihre Einheit erleidet. Er tritt gewissermaßen in der Funktion des Dritten auf, der eine „negative Einheit“ herstellt. Der Mangel vereinigt „[…] durch die Tatsache, daß wir alle eine vom Mangel gezeichnete Welt bewohnen“.411 Damit erfährt die zuvor noch abstrakt bestimmte Intersubjektivität ihre erste gesellschaftliche Konkretion. Der Mangel ist die „negative Einheit der Vielheit“, die „[…] dem Menschen durch die Materie geschieht“.412 Er vereinigt und trennt zugleich, denn er ist Ausdruck eines „[…] quantitativen Faktums: […] es gibt nicht genug davon für alle“.413 Primär ist das gesellschaftliche Sein der Menschen deshalb durch die Knappheit an Konsumgütern gekennzeichnet. Doch der gesellschaftliche Bedarf kann historisch auch andere Formen annehmen. Je nachdem welche ökonomischen Bedingungen gelten, können auch Produktionsmittel, Arbeitskräfte, Konsumenten usw. fehlen.414 Das Mangelprinzip bestimmt also sämtliche Bereiche des menschlichen Lebensvollzugs, wenn auch in historisch variabler Form. In systematischer Hinsicht beinhaltet die universelle Existenz des Mangels zweierlei. Von außen, also aus der Perspektive des Dritten betrachtet, „[…] realisiert der Mangel die passive Totalität der Individuen einer Kollektivität als Unmöglichkeit der Koexistenz […]“.415 Dies bedeutet, dass der Mangel die „Überzähligen“ einer Gemeinschaft definiert und für diese die „praktische Notwendigkeit“ einer „zahlenmäßigen Reduzierung“ darstellt.416 Er zwingt die Gemeinschaft, wie sich Sartre an anderer Stelle noch drastischer ausdrückt, ihre „[...] Toten und Unterernährten auszuwählen“.417 Aus der Teilnehmerperspektive des einzelnen Gesellschaftsmitgliedes bestimmt der Mangel als Bedrohung der eigenen Existenz sowohl dessen Selbstverhältnis wie seine Beziehung zum Anderen. Er sieht sich einerseits der Gefahr ausgesetzt, „[…], daß die Vernichtung durch die Materie ihm durch die Praxis des anderen Menschen geschieht […]“, was zur Konsequenz hat, dass „[…] seine Anwesenheit als Mensch ohne Kampf

411 Vgl. ebd., S. 144. 412 Vgl. ebd., S. 135. 413 Vgl. ebd., (Hervorhebung i.O.). 414 Vgl. ebd., S. 146. 415 Vgl. ebd., S. 137. 416 Vgl. ebd., (Hervorhebungen i.O.). 417 Vgl. ebd., S. 156.

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auf dieser Erde nicht möglich ist“.418 Andererseits erfährt er sich selbst aufgrund der objektiven Existenz des Mangels als Anderer und somit einerseits als „möglicher Überzähliger“ wie zugleich als Gefahr für die Anderen. Der Mangel bestimmt somit reflexiv das Selbstverhältnis des Einzelnen, er stellt, wie Sartre in der 1. Person formuliert, die „[…] Gefahr der Vernichtung meiner selbst und aller anderen […]“ dar, von ihm her rührt „[…] die objektive Struktur meines Seins, weil ich ja tatsächlich gefährlich bin für die Anderen […]“.419 Ebenso wie die beiden anderen ist auch das Mangelprinzip als eigenständig und als mit diesen gleichursprünglich zu verstehen. In der gesellschaftlichen Realität tritt es allerdings ebenso wenig in Reinform in Erscheinung, sondern ist strukturlogisch mit ihnen verschränkt. Erst in ihrem Zusammenspiel erhalten diese jeweils ihre konkrete Bedeutung. So wird der bereits angezeigte Konfliktcharakter der Intersubjektivität erst vor dem Hintergrund des Mangels plausibel. Zugleich erlangt dieser nur in seiner Beziehung zur Intersubjektivität eine normative Bewertung. Es gibt zwischen beiden weder eine logische noch eine historische Rangfolge, sondern dieses gegenseitige Bedingungsverhältnis ermöglicht laut Sartre die Einsicht, „[…] daß ohne dieses menschliche Wechselverhältnis das unmenschliche Mangelverhältnis nicht existieren würde“.420 Die Unmenschlichkeit rührt daher nicht von einer Natur des Menschen her, sondern sie kommt, „[…] solange die Herrschaft des Mangels kein Ende genommen hat, in jedem einzelnen Menschen und in allen […]“ zum Vorschein.421 Und solange der Mangel zu einer „[…] objektiven Sozialstruktur der materiellen Umgebung […]“422 gehört, sind die über diese vermittelten zwischenmenschlichen Beziehungen durch Gewalt und Gegengewalt bestimmt.423 Die individuelle Praxis entfaltet sich daher innerhalb eines Kräfteverhältnisses, das, wenn es ein ungleiches ist, sich als Machtverhältnis darbietet. Macht liegt laut Sartre genau dann vor, wenn die „[…] Verwendbarkeit einer menschlichen Praxis gegen die Praxis des anderen vermittels der Materie […]“ möglich ist.424 Sartre glaubt, mit dem Mangel ein drittes Strukturprinzip gefunden zu haben, durch das es möglich wird, den Historischen Materialismus transzendentalanthropologisch zu begründen. Erst der Mangel erlaubt es, das zunächst nur als

418 Vgl. ebd., S. 135 (Hervorhebung i.O.). 419 Vgl. ebd., S. 138. 420 Vgl. ebd., S. 139. 421 Vgl. ebd., S. 138 (Hervorhebungen i.O.). 422 Vgl. ebd., S. 139. 423 Vgl. ebd., S. 141. 424 Vgl. ebd., S. 144.

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strategisch aufzufassende intersubjektive Verhältnis der Einzelpraxen zueinander als reales Gewaltverhältnis zu verstehen, „[…] als negative Beziehung einer Praxis zu einer anderen […], und zwar nicht als wirkliche Aktion, sondern als anorganische Struktur, die von den Organismen rückverinnert wird“.425 Als „Negation des Menschen im Menschen durch die Materie“ ist der Mangel für Sartre ein „dialektisches Intelligibilitätsprinzip“,426 durch das überhaupt erst die Möglichkeit von Geschichte denkbar werden soll.427 Anders als für Marx und Engels ist der Mangel deshalb keine historische Erscheinung, sondern dasjenige Prinzip, durch das erst plausibel gemacht werden kann, warum der Klassenkampf als Motor der Geschichte anzusehen ist.428 Er ist daher nicht „[…] historischer Grund dieses oder jenes besonderen Prozesses […]“, sondern er ist „[…] Begründung der Intelligibilität der Geschichte […]“.429 Damit handelt sich Sartre allerdings ein begriffliches Problem ein. Denn er will damit freilich nicht behaupten, dass eine vom Mangel befreite Gesellschaft nicht „[…] im Laufe eines langen dialektischen Prozesses […]“ möglich ist. Doch vom heutigen Standpunkt aus ist dessen Ausgang unbekannt, und solange dem so ist, bleibt für Sartre der Mangel die „[…] grundlegende Bestimmung des Menschen […]“.430 Ungeklärt ist damit aber der theoretische Status des Mangelprinzips. Es war bereits darauf hingewiesen worden, dass Sartre mit dem Mangel ein kontingentes Faktum in den Rang eines Prinzips erhebt und in diesem Sinne, mit Foucault gesprochen, die Grenze zwischen empirisch und transzendental einreißt. Die Unklarheit, die dadurch entsteht, dass Sartre die Historizität der eigenen Theorie zwar reflektiert, zugleich aber gewissermaßen auf der Grundlage eines historischen Apriori mit transzendentalen Begriffen operiert, die für alle bisherige Geschichte gelten sollen, tritt am Mangelprinzip unübersehbar zu Tage. Eberhard Braun hatte genau diese Problematik im Blick, als er fragte: „Sind Materialität des Menschen und Mangel gleichzusetzen oder nicht?“431 Denn als historischrelativ ist es streng genommen kein Prinzip mehr, dient es hingegen als formales

425 Vgl. ebd., S. 162 (Anmerkung). 426 Vgl. ebd., S. 158. 427 Vgl. ebd., S. 132. 428 Vgl. ebd., S. 161. 429 Vgl. ebd., S. 155 (Hervorhebung M.R.). 430 Vgl. ebd., S. 147. 431 Eberhard Braun (1989): Anthropologische oder epochale Dialektik? Differenzen zwischen Sartre und Marx. In: Heinz Eidam/Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Natur – Ökonomie – Dialektik. Weitere Studien zum Verhältnis von Natur und Gesellschaft. Kasseler Philosophische Schriften 26, Kassel, S. 68.

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Analyseinstrument in heuristischer Absicht, was Sartre ebenso methodisch nahelegt und m. E. plausibler erscheint, dann entfällt die Notwendigkeit der Begründung und damit die beanspruchte Universalität der Geltungsbedingungen. Da Sartre jedoch dem Mangel eine Prinzipienfunktion für die strukturelle Anthropologie zuweist, läuft er Gefahr, dadurch die von ihm in gesellschaftlichen Verhältnissen analysierte Konfliktstruktur zu ontologisieren. Der Grund dafür liegt darin, dass Sartre nicht klar zwischen einerseits der anthropologischen Basis einer biologisch gegebenen Bedürfnisstruktur des Menschen, die seinen Stoffwechsel mit der Natur notwendig macht, und andererseits den historisch variierenden Formen des Mangels, wie sie unter den spezifischen ökonomischen und kulturellen Voraussetzungen unterschiedlicher Gesellschaftsformationen hervorgerufen werden, unterscheidet. Die Folge ist, dass Sartre den am Organismus basal aufgewiesenen Imperativ der Selbsterhaltung auf die gesellschaftliche Praxis anwendet, ohne dessen historische Überformungen zu berücksichtigen, und aus diesem Blickwinkel eine Intelligibilitiät der Geschichte zu gewinnen sucht.432 Entgegen seiner Absicht neigt Sartre daher dazu, unter der Hand eine Naturalisierung der Mangel- und Bedürfnisstruktur vorzunehmen.433 Sartres transzendentaler Ansatz ist mit einer begrifflichen Unklarheit belastet. Auswirkungen auf seine Gesellschaftstheorie sind, zumindest im Fall des Mangelprinzips, bereits abzusehen. Denn mit der Universalisierung dieses kontingenten Faktums der Geschichte ist schwer ersichtlich, wie die Theorie eine emanzipatorische Perspektive formulieren könnte. Die Überwindung der Herrschaft des Mangels scheint nicht nur empirisch-historisch, sondern auch begrifflich außer Reichweite. Trotz dieser Schwierigkeiten muss Sartre aber zugutegehalten werden, dass er auf der Grundlage der bislang eingeführten Prinzipien ein methodisches Instrumentarium bereitstellen kann, das zumindest eine formale

432 Das kritisierte auch Castoriadis bereits in den 70er Jahren: „Es ist absurd, die Geschichte, die sich per definitionem ständig verändert, auf die Permanenz eines ‚Selbsterhaltungstriebs‘ gründen zu wollen, der per definitionem immer derselbe bleibt.“ Vgl. Cornelius Castoriadis (1975): Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, Frankfurt/M. 1990, S. 46 (Hervorhebungen i.O.). Castoriadis wirft Sartre in diesem Zusammenhang zu Recht eine Naturalisierung der Dialektik vor, die er doch gerade am Marxismus-Leninismus kritisiert hatte. Vgl. ebd., S. 258 (Anmerkung). 433 Vgl. hierzu auch Kelbel, a.a.O., S. 323. Kelbel, der sich in seiner Kritik ebenfalls zum Teil auf Castoriadis stützt, weist zudem darauf hin, dass Sartre diese Tendenz im Schlussteil des zweiten Bandes der „Critique de la raison dialectique“ noch verstärkt. Vgl. Sartre (1985), a.a.O., S. 349ff. sowie S. 397ff.

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Beschreibung von Handlungsebenen in modernen kapitalistischen Gesellschaften ermöglicht434. Über das vierte Strukturprinzip, das Praktisch-Inerte, soll das analytisch-regressive Verfahren noch weiter konkretisiert werden. (d) Das Praktisch-Inerte Mit dem Praktisch-Inerten als viertes Intelligibilitätsprinzip gelangt die Grundlagenreflexion innerhalb der aufzudeckenden Logik der konstituierenden Dialektik zu ihrem Abschluss. Das Praktisch-Inerte bildet bereits die Grundlage der AntiDialektik. Es hat insofern im Verhältnis zu den vorhergehenden Prinzipien eine begriffliche Sonderstellung, denn die dialektische Erfahrung wird dadurch nicht um ein neu hinzukommendes Element erweitert. Seine Binnenlogik basiert allein darauf, dass ihre Intelligibilität „[…] in ihrer unmittelbaren Reinheit nur eine neue dialektische Bestimmung ist, die auf früher aufgetretenen Strukturen aufbaut, ohne daß es einen anderen Faktor gäbe als den, den sie selbst auf der Grundlage dieser Strukturen hervorbringt […]“.435 Das Praktisch-Inerte bezeichnet also eine analytisch zusätzlich zu unterscheidende Ebene der Praxis, auf der die logische Struktur der materialisierten Resultate einer Pluralität von Handlungen auf der Grundlage des Mangels nachvollzogen werden soll, wie sie auf die Handelnden zurückwirkt. Aus der Perspektive eines Handlungssubjektes handelt es sich laut Sartre daher um die „erste dialektische Erfahrung der Notwendigkeit“.436 Für Sartres Subjektkonzeption ist das Praktisch-Inerte von entscheidender Bedeutung. Denn erst mit der Einführung dieses in der Objektivität anzutreffenden Trägheitsprinzips gelingt es ihm, das menschliche Subjekt mit seinen Weltund Selbstbezügen in die konkreten materiellen Verhältnisse einzubetten. Das Subjekt wird nun als Bedingendes und Bedingtes über die Materie vermittelt. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass Sartre mit einem sehr weiten Materie-Begriff operiert. Er bezieht sich damit zunächst ohne weitere Differenzierungen sowohl auf die bearbeitete stoffliche Materie wie auf die symbolisch-

434 So knüpft etwa Boltanski, freilich unter Verzicht auf eine transzendentale Begründung, ausdrücklich an Sartre an, wenn er den Mangel als einen „Zentralwert“ begreift, um den die moderne gesellschaftliche Realität organisiert und mit Bezug auf deren Notwendigkeit überdeterminiert wird. Vgl. Luc Boltanski (2010): Soziologie und Sozialkritik. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2008, Frankfurt/M., S. 62. 435 Vgl. Sartre (1960), a.a.O., S. 170. 436 Vgl. ebd., S. 237.

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institutionelle Ordnung des gesellschaftlichen Zusammenlebens, wozu, wie bereits erwähnt, u.a. auch die Sprache gehört. In der Terminologie des Frühwerks bedeutet Materie also nicht das abstrakte An-sich, sondern die durch kollektive Praxis strukturierte materielle Objektivität – also „Welt“. Sie ist geronnene Praxis. Sartre bezeichnet das Praktisch-Inerte insofern als „passive Widerspiegelung der Praxis“,437 die als Kombination der Vielheit der Praxen eine eigene Dynamik entwickelt, die sich gegen ihre Urheber richtet. Das Praktisch-Inerte tritt den Handelnden sowohl in ihrem Verhältnis zur äußeren Natur gegenüber – Sartre führt als Beispiel die ökologische Katastrophe an, die in China durch jahrhundertelanges Abholzen von Wäldern zur Gewinnung von Ackerland ausgelöst wurde438 – aber auch als Verselbstständigung gesellschaftlicher Prozesse. Was Sartre mit dem Praktisch-Inerten zu fassen sucht, ist im Grunde diejenige Dimension des gesellschaftlichen Seins, die dem Blick des einzelnen Aktors entgeht. Denn das Zusammenspiel der pluralen Handlungen ist aus der Position eines einzelnen Teilnehmers allein nicht unbedingt einsehbar. Dafür ist eine gewisse Abstraktionsleistung erforderlich, die von der Binnenperspektive auf den Gesamtzusammenhang aller Handlungen reflektiert. Da Sartre die Möglichkeit einer wie auch immer gearteten externen Beobachterposition, selbst als ergänzende Perspektive etwa im Sinne der systemtheoretischen Anleihen von Habermas, ausschließen will, steht er nun vor dem Problem, den sich offensichtlich im Praktisch-Inerten manifestierenden gesellschaftlichen Strukturzusammenhang aus der Teilnehmerperspektive heraus beschreiben zu müssen. Mit dem Praktisch-Inerten baut sich für Sartres Gesellschaftstheorie als historischstrukturelle Anthropologie eine methodische Hürde auf, an der sich erste Hinweise gewinnen lassen dürften, welche geltungstheoretische Reichweite seine aus der Teilnehmerperspektive entwickelte Begrifflichkeit erzielen kann. Sartre entwickelt den Begriff des Praktischen-Inerten konsequent aus der instrumentellen Logik der individuellen Praxis. Im Zusammenspiel mit allen anderen „kristallisiert“ sich die einzelne Praxis in der von ihr (mit-)bearbeiteten Materie. Durch das Überschreiten der Materie auf bestimmte Ziele hin werden dieser im Arbeitsprozess „neue Bedeutungen“ eingeprägt,439 die allerdings in der Kombination mit anderen Praxen wiederum überschritten und modifiziert werden. Aufgrund der Vermittlung der Vielheit der Bedeutungen untereinander muss sich somit die Transparenz der jeweiligen Einzelpraxis notwendig verflüchtigen. Aus der Perspektive der Handelnden bedeutet dies Sartre zufolge,

437 Vgl. ebd., S. 171. 438 Vgl. ebd., S. 171ff. 439 Vgl. ebd., S. 174.

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diese sehen sich mit neuen Bedeutungskomplexen konfrontiert, die als vergegenständlichte Praxen „inerte Synthesen“440 bilden, die nicht von den einzeln isoliert Agierenden intendiert waren. Das einzelne Subjekt erfährt das PraktischInerte damit in zweifacher Form. Es ist zum einen mit einer Gegen-Praxis konfrontiert, die anders als auf dem Niveau der unmittelbaren Wechselbeziehung ihm als „Praxis ohne Urheber“ gegenübertritt, deren verborgener Sinn in einer „Gegen-Finalität“ zu liegen scheint.441 Insofern ist es für den Einzelnen auch nicht möglich, sich entsprechend strategisch zu verhalten, da diese Gegen-Praxis als Strukturierung der eigenen Praxis von außen, als Forderungen der Materie erlebt werden. Sartre versucht dies am Beispiel der Maschine im Arbeitsprozess zu verdeutlichen, die als kristallisierte Praxis das Handeln der Arbeiter von außen bestimmt und damit die Logik der individuellen Praxis umkehrt. Bei Letzterer handelt es sich angesichts externer Vorgaben über Ablauf, Tempo und Ziel der Arbeit nicht mehr um die „[…] freie Organisation des praktischen Feldes, sondern die Reorganisation eines inerten Materialitätssektors […]“.442 Damit erfährt das Subjekt am Praktisch-Inerten zum anderen seine Entfremdung, indem es die Ablenkung der eigenen Praxis und sich selbst dadurch als ein „vorfabriziertes

440 Vgl. ebd., S. 178. 441 Vgl. ebd., S. 176. 442 Vgl. ebd., S. 203. Auch wenn Sartre den Forderungscharakter der Materie bezeichnenderweise an der Industriearbeit expliziert, so scheint mir diese Überlegung mühelos auf den institutionellen Rahmen postfordistischer Gesellschaften übertragbar. Sartre versucht anhand der Strukturierung von Handlungen durch die Vorgaben der Maschine zu zeigen, wie die Zurichtung eines Subjektes vor sich geht, ein Gedanke, der freilich ohne Bezugnahme auf ihn vor allem für poststrukturalistische Ansätze zentral geworden ist. Gerade mit Blick auf Sartres weiten Materiebegriff ließe sich etwa auch die Entwicklung gesellschaftlicher Leitbilder und Wertvorstellungen unter dem Forderungsaspekt eines Praktisch-Inerten analysieren. So könnte der Begriff u.U. methodisch dafür genutzt werden, um den symbolischen Zusammenhang zwischen gesellschaftspolitischen Appellen an die Eigenverantwortung des Einzelnen und den allgemeinen Anforderungen an die Marktteilnehmer unter den Voraussetzungen eines globalisierten Kapitalismus zu untersuchen. Anknüpfungspunkte hierfür könnte möglicherweise Sennetts methodisch zwar anders ausgerichtete, dafür aber empirisch untersetzte Untersuchungen über veränderte Arbeitsformen bieten; vgl. Richard Sennett (1998): Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 2000.

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Wesen“ erlebt. Der Mensch macht die Erfahrung, dass er „[…] als Anderer zu sich zurückkommt“.443 So weit ist die Konfrontation des Subjekts mit dem Praktisch-Inerten mit phänomenologischen Mitteln rekonstruierbar. Solange sich die regressive Analyse auf die unmittelbare Erfahrungsebene einer freien Praxis bezieht, lässt sich Entfremdung angesichts einer den eigenen Intentionen zuwiderlaufenden Objektivität, die in ihrer eigensinnigen Dynamik als subjektlos und zugleich zielgerichtet empfunden wird, beschreiben. Sartre hat aber mehr im Sinn. Der Begriff des Praktisch-Inerten soll ja die dialektische Intelligibilität dieser als GegenFinalität erfahrenen materiellen Objektivität einsichtig machen. Damit stellt sich aber das Problem, ob dies als dialektische Erfahrung aus der Teilnehmerperspektive des Einzelnen allein geleistet werden könnte. Denn so wie es aussieht, wäre dafür ein zusätzlicher Reflexionsschritt auf eine Metaebene notwendig, von der aus erst die Eigenlogik des Zusammenspiels der Einzelpraktiken auf der materiellen Grundlage des Mangels in den Blick zu bekommen wäre. Erst dann kann in Aussicht gestellt werden, den verborgenen Sinn einer Gegen-Finalität auch zu durchschauen.444 Sartre sieht das ganz ähnlich, wenn er schreibt: „Es geht näm-

443 Vgl. ebd., S. 241 (Hervorhebung i.O.). 444 Elster hat versucht, Sartres Begriff der Gegen-Finalität in spieltheoretischer Hinsicht für seine eigene Theorie gesellschaftlicher Veränderung fruchtbar zu machen. Gegen-Finalität definiert Elster als „(…) die unbeabsichtigten Konsequenzen, die dann entstehen, wenn jedes Individuum einer Gruppe auf der Basis einer Annahme über die Beziehungen zu den anderen Mitgliedern handelt, die im Falle einer Verallgemeinerung einen Widerspruch im Konsequens des Kompositionsfehlschlusses ergibt, wobei das Antecedens dieses Fehlschlusses wahr ist.“ Vgl. Jon Elster (1978): Logik und Gesellschaft. Widersprüche und mögliche Welten, Frankfurt/M. 1981, S. 167f. Für den hier verfolgten Zusammenhang ist neben der präzisen logischen Formulierung vor allem der Verweis auf einen Kompositionsfehlschluss hilfreich, besagt dieser doch in Elsters Version zunächst einmal, dass aus der Perspektive einer rationalen Verfolgung eines individuellen Handlungszieles fälschlicherweise geschlossen werde, dass sich der erhoffte Handlungserfolg im Falle einer pluralen Verkettung dieser Handlungen verallgemeinern lasse. Um aber dabei einen Fehlschluss ausmachen zu können, ist die Einnahme einer externen, die Handlungen aller Teilnehmer in Betracht ziehenden Position erforderlich. Denn nur dann kann auch geklärt werden, warum das Konsequens einer Verallgemeinerung dem aus der Teilnehmerperspektive rationalen Antecedens widerspricht. Die Gegen-Finalität wird so in ihrer logischen Struktur durchschaut und nicht nur als den eigenen Zielen widersprechendes Resultat erlebt.

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lich darum, die Praxis und ihr Resultat von zwei untrennbaren Gesichtspunkten her zu begreifen: dem der Objektivierung (oder des Menschen, der auf die Materie einwirkt) und dem der Objektivität (oder der totalisierten Materie, die auf den Menschen wirkt).“445 Wie aber soll nun diese zweite Perspektive eingenommen werden können? Von seinem methodischen Selbstverständnis her muss Sartre die Eigendynamik des Praktisch-Inerten über ein immanentes hermeneutisches Verfahren aus der Teilnehmerperspektive fassen können. Der zweite Gesichtspunkt auf die Objektivität muss also als eine zusätzliche Reflexionsebene vom ersten Gesichtspunkt der Objektivierung, d.h. der individuellen Praxis her gewonnen werden. Wie vollzieht sich nun dieser Reflexionsschritt? Sartre setzt konsequent auf der Erfahrungsebene an, also da, wo die phänomenologische Rekonstruktion bislang stehen geblieben war. Die praktisch-inerte Erfahrung zeichnet sich seiner Ansicht nach gerade dadurch aus, dass sie eine zweifache, in sich gegensätzliche Erfahrung ist, in der sich Subjektivität und Objektivität, Praxis und PraktischInertes gewissermaßen kreuzen. Es ist eine „Erfahrungsdualität“, die in der lebensweltlichen Alltagspraxis „ständig“ im Übergang „[…] von dem durchsichtigen Bewußtsein unserer Aktivität zur grotesken oder monströsen Wahrnehmung des Praktisch-Inerten […]“ vollzogen wird.446 Damit umreißt Sartre aber zugleich auch den Rahmen, innerhalb dessen eine Dezentrierung der Perspektive des Subjekts gedacht werden muss. Die praktisch-inerte Erfahrung beinhaltet nämlich, bezogen auf den Selbst- und Weltbezug des Subjektes, vor allem zwei wesentliche Dimensionen: besagte Entfremdungserfahrung und die Erfahrung der Notwendigkeit.447 In diesen beiden Hinsichten müsste es nun prinzipiell möglich sein, die aktorzentrierte Perspektive zu erweitern. Wie aber von dort aus genau der Überstieg zur Struktur des Praktisch-Inerten vollzogen werden soll, wird von Sartre nicht systematisch entwickelt. Innerhalb des von ihm gebotenen Bezugsrahmens der strukturellen Anthropologie lassen sich m.E. aber mögliche Anknüpfungspunkte ausmachen. Auf der Basis der Entfremdungserfahrung wäre Folgendes denkbar: Um die Entdeckung seiner selbst als Anderer innerhalb des objektiven Zusammenhangs des Praktisch-Inerten zu reflektieren, ist die logische Position des Dritten notwendig. Wie sich bereits auf der Ebene der Intersubjektivität als Zweier-/Dreierverhältnis gezeigt hatte, war es gerade der vermittelnde Dritte, der eine Dezentrierung der aktorbezogenen Teilnehmerperspektive erlaubte. Der Dritte war auf der Ebene der Prinzipienreflexion eine zirkulierende

445 Sartre (1960), a.a.O., S. 240 (Hervorhebungen M.R.). 446 Vgl. ebd., S. 359. 447 Vgl. ebd., S. 361.

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Position, die zugleich auf der faktischen Ebene ein Machtverhältnis implizierte, da die materiellen Verhältnisse in der Gestalt des Dritten den einzelnen Subjekten gegenübertreten. Insofern scheint die Konstruktion des Dritten für Sartre innerhalb der Grundlagenreflexion die Möglichkeit zu eröffnen, das PraktischInerte als Vermittlungsstruktur bereits auf der Erfahrungsebene zu reflektieren und damit aus dezentriertem Blickwinkel zu analysieren. Denn, so ist das zumindest von Sartre methodisch angelegt, mit der Austauschbarkeit der Position des Dritten war ja eine gesamtgesellschaftliche Öffnung der Zweier-/ Dreierbeziehung beabsichtigt. Erst für den virtuellen Dritten ist es streng genommen möglich, die bearbeitete Materie als „passive Einheit“, die wie beim Zweierverhältnis von außen eine Synthese zweier Einzelpraxen herstellt, als eine „[…] Einheit als Andere und im Bereich des Anderen […]“ zu begreifen.448 Damit gelangt die Grundlagenreflexion allerdings nur bis an den Punkt, von dem aus das Praktisch-Inerte nicht nur als eine die eigenen Handlungen strukturierende Objektivität empfunden wird, sondern de facto als eine solche zu verstehen ist. Die Reflexion der Entfremdungserfahrung befördert damit aber lediglich einen Verweisungszusammenhang zwischen der Mikroebene individueller Handlungen und der Makroebene, die als Resultat pluraler Interaktionen gefasst werden kann, zu Tage. Ist sie damit aber auch schon in der Lage, deren Binnenstruktur zu rekonstruieren und damit die darin sich manifestierende Notwendigkeit transparent zu machen? Soll also das zweite Moment der praktisch-inerten Erfahrung, das einer äußeren Notwendigkeit, nicht nur postuliert werden, muss die Makroebene präziser gefasst werden können. Die Notwendigkeit zeigt sich laut Sartre in der Erfahrung darin, dass die bearbeitete Materie sich der freien Praxis des Einzelnen entzieht und zwar u.a. in dem Sinne, dass sie als Resultat der Praxis anderer ihm gegenüber ein „Exterioritäts-Element“ beinhaltet. Sartre verdeutlicht dies wie häufig anhand eines Beispiels aus der Arbeitswelt, nämlich des Werkzeuges: „Es besteht insofern eine Exteriorität, als das Werkzeug als Materialität ein Teil anderer Interioritäts-Felder ist.“449 Nun versteht Sartre, wie gesehen, unter Materie weitaus mehr als materielle Gegenstände, eben die gesellschaftliche Welt im Ganzen. Für den hier untersuchten Zusammenhang ist vor allem wichtig, dass die praktisch-inerte Erfahrung des Subjektes auch eine Exterioritätserfahrung darstellt: „Die materialisierten Praktiken, in die Exteriorität der Dinge gegossen, zwingen Menschen ein gemeinsames Schicksal auf, die nichts voneinander wissen und gleichzeitig eben durch ihr Sein die Trennung der Individuen widerspie-

448 Vgl. ebd., S. 173 (Hervorhebung i.O.). 449 Ebd., S. 238 (Hervorhebungen i.O.).

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geln und verstärken.“450 Es ist also der Bereich der Exteriorität, in dem „[…] in Form passiver Einheit als materielles Interioritätsband […]“,451 die Resultate der Einzelpraxen in ihrer Trägheit erscheinen. Damit zeigt Sartre indirekt die Grenze des für die transzendentale Grundlagenreflexion möglichen Zugangs zu den Strukturen des Praktisch-Inerten an. Den Bereich der Exteriorität fasst Sartre, wie gezeigt, als das der analytischen Vernunft zugängliche Erfahrungsfeld der quantifizierbaren und in externen Kausalitätsverhältnissen beschreibbaren Tatsachen. Die Aufgabe der dialektischen Vernunft besteht nun gerade darin, diese aus der Teilnehmerperspektive – und das bedeutet im Zusammenhang des bisher Entwickelten, über die Vermittlungsfunktion des Dritten – als Resultate von Interioritätsverhältnissen verstehbar zu machen. Darauf beruht die in erkenntnistheoretischer Hinsicht hervorgehobene methodologische Arbeitsteilung zwischen Philosophie und Wissenschaft, deren Relevanz sich für Sartres Gesellschaftstheorie im Verhältnis von Erklären und Verstehen niedergeschlagen hatte. Für unsere Frage nach der Reichweite des Intelligibilitätsprinzips des Praktisch-Inerten für Sartres handlungstheoretisch konzipierte Gesellschaftstheorie bedeutet dies, dass auf die ergänzende Einnahme einer Beobachterperspektive zur begrifflichen Durchdringung der Eigendynamik des praktisch-inerten Feldes gesellschaftlicher Objektivität nur insofern verzichtet werden kann, dass Sartre dies offenbar den analytisch arbeitenden Sozialwissenschaften überlässt. Die Aufgabe der Gesellschaftstheorie besteht dann darin, deren zum Teil aus einer virtuellen Beobachterperspektive gewonnenen Ergebnisse über die praxisphilosophisch ausgerichtete Grundlagenreflexion an die Teilnehmerperspektive zurückzubinden. Darin liegt ihre Erklärungsfunktion. Da Sartre aber zur vollen Entfaltung seines vierten Prinzips im Zuge der gesellschaftstheoretischen Grundlagenreflexion zumindest teilweise auf die Ergebnisse der analytischen Wissenschaften zurückgreifen muss,452 verkehrt sich zumindest in diesem Fall das Verhältnis von Philosophie

450 Ebd., S. 190. 451 Vgl. ebd. 452 Es ergibt sich allein aus sachlichen Gründen, dass Sartre den Begriff des PraktischInerten anhand von historischen Beispielen entwickelt, in denen dank vorliegender Forschungsergebnisse der verborgene Sinn einer Gegen-Finalität auf der Makroebene den Intentionen der Einzelpraxen gegenübergestellt werden kann. So diskutiert er neben dem bereits genannten Beispiel der Massenabholzung in China u.a. ausführlich das Phänomen einer sprunghaften Inflation im Mittelmeerraum des 16. Jahrhunderts, weil die dem Handel als Zirkulationsmittel zur Verfügung stehende Edelmetallmenge mit der Erschließung der Vorkommen in Südamerika schlagartig ansteigt, was zum wirtschaftlichen und politischen Niedergang des spanischen Imperiums

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und Wissenschaft. Die Philosophie liefert nicht, wie von Sartre beabsichtigt, die transzendentale Begründung der wissenschaftlichen Praxis, sondern Letztere wird offenbar zur Hilfswissenschaft der transzendentalen Theorie. Insofern wird das vierte Intelligibilitätsprinzip nicht vollständig über die transzendentale Grundlagenreflexion gewonnen. Es basiert auf einem gemischten Diskurs, wie Foucault sagen würde. Sartre rechtfertigt dies mit dem Verweis auf die Historizität der kritischen Erfahrung, die sich mit Blick auf den Bereich gesellschaftlicher Objektivität notwendig auf der Ebene der Gesellschaftstheorie niederschlagen müsse: „Nichts erlaubt, a priori zu versichern, daß die Umwandlung des Resultats vom Handelnden verstanden werden muß: alles hängt von den Denkinstrumenten ab, die ihm seine Zeit, seine Klasse und die historischen Umstände liefern. Dagegen können wir auf der Entwicklungsstufe unserer gegenwärtigen Erkenntnisse versichern, daß die Umwandlung, wenn man über die notwendigen Werkzeuge verfügt, immer intelligibel ist oder, mit anderen Worten, daß sie selbst ihren Rationalitätstyp bestimmt.“453

Mit anderen Worten: Es sind nicht zuletzt die Forschungsergebnisse der positiven Wissenschaften, die einen Teil der Werkzeuge liefern, um die innere Struktur des Praktisch-Inerten aus der Handlungsperspektive auslegen und deren Rückwirkungen auf die individuelle Praxis bewerten zu können. Die transzendentale Grundlagenreflexion kann dann aber streng genommen lediglich die Erfahrungsebene als die Weise, in der das Subjekt mit dem Praktisch-Inerten konfrontiert ist, erfassen. Zur Rekonstruktion der Binnenlogik der materiellen Objektivität trägt sie, wie es scheint, dagegen wenig bei. Methodisch ist dies, so wie Sartre seinen praxisphilosophischen Ansatz konzipiert, konsequent. Deshalb verweist er am Ende des Kapitels über das Prinzip des Praktisch-Inerten ausdrücklich nochmals darauf, dass „[…] das praktisch-inerte Feld kein neues Moment einer universalen Dialektik ist, sondern die reine einfache Negation der Dialektiken durch die Exteriorität und die Pluralität“.454 Das zweite Moment der praktisch-inerten Erfahrung, die einer äußeren Notwendigkeit, ist keines der Dia-

führte. Die Naturstoffe Gold und Silber erhalten durch die gesellschaftliche Praxis einen Wert, der aufgrund der Vielzahl der Einzelpraktiken und dem Einsatz neuer Fördermethoden entgegen der Intention der einzelnen Akteure mit zunehmendem Erfolg tendenziell fällt. Vgl. ebd, S. 175ff. 453 Ebd., S. 239f. 454 Vgl. ebd., S. 363 (Hervorhebung i.O.).

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lektik, sondern der „Anti-Dialektik“.455 Für die historisch-strukturelle Anthropologie als Gesellschaftstheorie bedeutet dies, sie bleibt für die begriffliche Durchdringung konkreter gesellschaftlicher Verhältnisse auf eine interdisziplinäre Kooperation mit den Einzelwissenschaften angewiesen. Für Sartres praxisphilosophische Subjekt-Konzeption ist das Praktisch-Inerte allerdings, ungeachtet der methodologischen Ambivalenzen, die auf der Ebene der Grundlagenreflexion damit verbunden sind, von zentraler Bedeutung. Denn erst über dieses vierte Prinzip erlangt das individuelle Handlungssubjekt in der „Critique de la raison dialectique“ in seinen Selbst- und Weltbezügen eine vollständige Bestimmung. Zudem wird von hier aus ersichtlich, innerhalb welches begrifflichen Bezugsrahmens Sartre das angepeilte Ziel der Entfaltung einer Logik der revolutionären Gruppenbildung im zweiten Teil des Buches in Angriff zu nehmen beabsichtigt. Es deutet sich aber bereits an, auf welche Grenzen dieses Vorhaben notwendig stoßen muss. Denn solange es aus methodischen Gründen nicht möglich zu sein scheint, den als ‚Anti-Dialektik‘ gefassten Strukturzusammenhang des gesellschaftlichen Seins aus der Binnenperspektive zu durchdringen, dürfte es schwierig werden, darauf die ‚konstituierte Dialektik‘ einer emanzipatorischen Gruppenpraxis aufzusetzen. Auf eine Darstellung und Diskussion der Dialektik der Gruppe soll daher im Folgenden verzichtet werden. Gleichwohl wird es mit der Einbettung der individuellen Praxis in die objektive Struktur des Praktisch-Inerten nun möglich, das Subjekt zugleich innerhalb der ‚konstituierenden Dialektik‘ als Bedingendes und Bedingtes, als Formendes und Formiertes zu denken. Als die individuellen Handlungen integrierender „Einheitsfaktor“, der „[…] durch die bearbeitete Materie auf die Menschen zurückgestrahlt wird […]“456 verkörpert das Praktisch-Inerte die „grundlegende Sozialität“,457 durch die die Subjekte in ihrem Verhältnis zur äußeren Natur wie zu den Anderen bezeichnet sind. Es skizziert den jeweils historisch gegebenen konkreten Handlungsspielraum. Als durch die pluralen Praxen bewirktes Trägheitsmoment der sozialen Welt sorgt es für eine Verkehrung der auf dem Selbstverständnis individueller Praxis beruhenden unmittelbaren Selbst- und Weltbezüge, indem freie Praxis in „Hexis“ verwandelt wird, weil die in den Dingen vergegenständlichten Bedeutungen der Anderen als „passive Aktivität“ der Materie die individuelle Handlung in „aktive Passivität“ umformatiert.458

455 Vgl. ebd. 456 Vgl. ebd., S. 235. 457 Vgl. ebd., S. 340. 458 Vgl. ebd., S. 345.

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Von der ursprünglichen Durchsichtigkeit der individuellen Praxis, wie Sartre sie zu Beginn der Grundlagenreflexion beschrieben hat, scheint damit angesichts einer fast erdrückend wirkenden Übermacht des Praktisch-Inerten nicht mehr viel übrig zu bleiben. Die Erfahrung der Entfremdung und der Notwendigkeit erleidet das Subjekt zunächst als Ohnmacht, als die „das gesellschaftliche Sein des Menschen“ anzusehen ist.459 Sartre beschreibt diese Ohnmachtserfahrung unter dem Aspekt der Verdinglichung des Subjekts. Diese zeigt sich sowohl innerhalb des individuellen Handlungsvollzuges wie auf der Ebene intersubjektiver Verhältnisse, zwei Dimensionen, die sich freilich ebenso wie die dazugehörigen Prinzipien nur analytisch differenzieren lassen, da sie über die Struktur des Praktisch-Inerten wechselseitig aufeinander bezogen werden. Der individuellen Praxis begegnet das Praktisch-Inerte, wie gesehen, als objektive Forderung, die sie von außen in ihrem Ablauf strukturiert und ihre Ziele modifiziert. Dadurch wird das konkrete Handlungssubjekt durch die es umgebenden materiellen Bedingungen konstituiert. Seine Handlungsmotive folgen einem ‚Interesse‘. Sartre versteht darunter eine durch die objektiven Bedingungen hervorgerufene Motivationsstruktur des Subjekts. Diese wird von außen als ein „[…] bestimmtes Verhältnis des Menschen zum Ding in einem sozialen Feld [...]“ bestimmt.460 „Das Interesse“, so Sartre, „ist das Vollständig-außer-sich-sein-in-einer-Sache, insofern es die Praxis als kategorischen Imperativ bedingt.“461 Das Subjekt verkörpert damit im Interesse ein ihm von der gesellschaftlichen Materialität vorgegebenes Sein, was Sartre zufolge einem „banalen Verdinglichungsvorgang“ gleichkommt.462 Der vollzieht sich nun ebenso in den intersubjektiven Verhältnissen. Sartre verwendet dafür den Begriff des ‚Kollektivs‘. Im Kollektiv kristallisiert sich das Praktisch-Inerte als strukturiertes soziales Sein der über die materielle Objektivität miteinander verbundenen Handlungssubjekte. Es ist gewissermaßen die gesellschaftliche Form, über die die auf der zweiten Stufe der Grundlagenreflexion entfalteten Dimensionen einer „Wechselseitigkeit als Interioritätsverhältnis“ und der „Isoliertheit der Organismen als Exterioritätsverhältnis“ über die Vermittlung des Praktisch-Inerten miteinander verschmolzen werden.463 Innerhalb der Kollektivstruktur entfaltet sich die ihr spezifische Logik der Handlungsverkettungen. Es bildet als „passive Synthese“ ein objektives gesellschaftliches Band zwischen seinen Mitgliedern, durch das jedoch einerseits „[…]

459 Vgl. ebd., S. 245 (Hervorhebung i.O.). 460 Vgl. ebd., S. 210. 461 Ebd. 462 Vgl. ebd., S. 211. 463 Vgl. ebd., S. 273.

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jede Praxis als einfache Hexis konstituiert […]“ wird und andererseits jedes handelnde Subjekt aufgrund seiner Anonymität und Austauschbarkeit innerhalb dieser Totalität sich notwendig in der Position des Anderen begegnet.464 Das logische Prinzip des Kollektivs ist die Serialität,465 über die die voneinander getrennten Subjekte in ihrer Identität miteinander verbunden sind. „Jeder ist mit dem Anderen identisch, insofern er durch die Anderen zum Anderen gemacht wird, der auf die Anderen einwirkt“,466 so Sartre. Die verdinglichende Kraft der Serialität zeigt sich für Sartre darin, dass sämtliche Dimensionen sozialen Handelns durch die Alteritätsstruktur vorgegeben sind, so dass kein einzelnes Subjekt aufgrund des Verhaltens der Anderen eine selbstbestimmte Handlung vollziehen kann, sondern strukturbedingt wie die Anderen handelt. Sartre spricht in diesem Zusammenhang von „[…] seriellen Verhaltensweisen, Gefühlen und Gedanken; anders gesagt, die Serie ist eine Seinsweise der Individuen in bezug auf einander und auf das gemeinsame Sein, und diese Seinsweise verwandelt sie in all ihren Strukturen“.467 Damit beschreibt Sartre eine gesellschaftliche Zurichtung des Subjektes, die stark an das erinnert, was Foucault Subjektivierung im doppelten Sinne von Konstitutierung und Unterwerfung nennen wird. Interesse und Kollektiv sind Materialisierungen geronnener Praxis, die dafür sorgen, dass der individuelle Sinn einer Handlung entweder von außen gesetzt und nur noch nachvollzogen wird oder aufgrund seiner seriellen Integration einer Modifikation unterliegt. Mit dem Praktisch-Inerten erfährt Sartres Handlungstheorie eine wesentliche Konkretion. Als Inkarnation der in die bearbeitete Materie eingeschriebenen Widersprüche der Pluralität der Praxen wird es „[…] für und durch die Menschen zum eigentlichen Motor der Geschichte […]“, weil von ihm die Dynamik objektiver gesamtgesellschaftlicher Prozesse ausgeht. Als objektives Korrelat der Handlungen verbirgt sich in der bearbeiteten Materie der Sinn einer „gemeinsamen Zukunft“, die aber – zumindest unter der Herrschaft des Mangels – eine unmenschliche bleibt. Daraus ergibt sich aber für Sartre aus der Teilnehmerperspektive des einzelnen Handlungssubjektes zugleich die „Notwendigkeit der Veränderung“.468 Trotz der weit gehenden Strukturierung der individuellen Praxis durch die symbolische und materielle Ordnung hält Sartre an einer normativen Dimension des Subjektes fest, die auf einer, wenn auch nur noch minimal,

464 Vgl. ebd., S. 272. 465 Vgl. ebd., S. 273. 466 Ebd., S. 281. 467 Vgl. ebd., S. 283f (Hervorhebungen i.O.). 468 Vgl. ebd., S. 195 (Hervorhebungen i.O.).

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auszumachenden menschlichen Freiheit basiert. Das Freiheitspathos des Frühwerks wandelt sich in der „Critique de la raison dialectique“ in den Anspruch, in den objektiven Verhältnissen aufgrund der Dualität der praktisch-inerten Erfahrung eine Befreiungsperspektive ausmachen zu können, indem sie sich vergegenwärtigt, „[…] daß das praktisch-inerte Feld ist, daß es real ist und daß die freien menschlichen Tätigkeiten dennoch nicht ausgeschaltet, ja nicht einmal alteriert sind in ihrer Durchsichtigkeit eines sich realisierenden Plans“.469 Sartre hält am Gedanken der Emanzipation fest, den er auch weiterhin an die prinzipielle Freiheit des Handlungssubjektes knüpft. Angesichts der ‚Macht der Dinge‘ fällt deren Wirkmächtigkeit nun allerdings weit bescheidener aus. „Freiheit ist“ – wie Sartre später in einem Interview sagte – nun nur noch „jene kleine Bewegung, die aus einem völlig gesellschaftlich bedingten Wesen einen Menschen macht, der nicht in allem das darstellt, was von seinem Bedingtsein herrührt.“470 Auf dieser letzten Bastion menschlicher Freiheit hat Sartre in zahlreichen, immer wieder ähnlichen Formulierungen insistiert.471 Auch im Humanismusstreit mit Foucault hatte er darauf bestanden, dass es nicht entscheidend sei, was man aus dem Menschen gemacht habe, sondern das, was er aus dem mache, was man aus ihm gemacht habe.472

Die Grenzen der handlungstheoretischen Binnenperspektive Der Gang durch die Grundlagenreflexion der „Critique de la raison dialectique“ hat die dialektische Zirkularität vor Augen geführt, anhand der Sartre das reziproke Bedingungsverhältnis von individueller Handlung und gesellschaftlicher Materialität zu entfalten sucht. Für die hier verfolgte Fragestellung nach dem methodischen Status des Subjektes für Sartres handlungstheoretisch formulierte Gesellschaftstheorie lässt sich folgender Ertrag festhalten: Sartre entwickelt die menschliche Praxis am Modell des neuzeitlichen Arbeitsbegriffs. Grundlage der auf Selbsterhaltung gegründeten Handlungslogik bildet daher eine instrumentelle Rationalität. Das hat weit reichende Folgen für den weiteren transzendentalen Aufbau der Gesellschaftstheorie. So kann Sartre intersubjektive Verhältnisse streng genommen nur als strategische denken. Die Beziehung zum Anderen ba-

469 Vgl. ebd., S. 346 (Hevorhebungen Sartre). 470 Sartre (1969a), a.a.O., S. 145. 471 Vgl. etwa die bereits zitierte Formulierung in Sartre (1960a), a.a.O., S. 101. 472 Vgl. Sartre (1966), a.a.O., S. 95.

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siert auf dem gegenseitigen Verstehen der jeweiligen Zweck-Mittel-Relationen des Handelns, um das eigene daran zu orientieren. Mögliche andere Interaktionsformen, etwa auf dem Hintergrund von solidarischen Beziehungen, die verständigungsorientierte Umgangsformen beinhalten, geraten damit aus dem Blickfeld. Das prägt die Gesellschaftsanalyse im Ganzen. Sartre kann auch die Binnenlogik gesellschaftlicher Zusammenhänge, wie sie über den Begriff des PraktischInerten als Resultat der Pluralität von Einzelpraxen erschlossen werden sollen, lediglich unter dem Aspekt der Verdinglichung deuten. Damit übersieht er einen grundlegenden Aspekt der lebensweltlichen Reproduktion von Sozialität. Unter emanzipationstheoretischen Gesichtspunkten bedeutet dies, dass eine wesentliche Dimension gesellschaftlicher Dynamik ausgeblendet wird. Sartre hat dieses Defizit selbst gegen Ende seines Lebens eingeräumt. In einem seiner letzten Interviews konstatierte er, „[…] daß nur wenig Platz für die Brüderlichkeit da ist, wenn ich die Gesellschaft so betrachte, wie ich sie in der ‚Kritik der dialektischen Vernunft‘ betrachtet habe. Wenn ich dagegen annehme, daß die Gesellschaft aus einer Verbindung zwischen den Menschen resultiert, die grundsätzlicher ist als die Politik, dann meine ich, die Leute müßten eine gewisse primäre Beziehung haben, die Beziehung der Brüderlichkeit, […]“.473

Die Grundlagenreflexion, wie sie Sartre in der „Critique de la raison dialectique“ ausgehend von der instrumentell verstandenen individuellen Praxis her entwickelt, scheint aber – auch entgegen seiner damaligen Intention – unter der Hand einen gesellschaftlichen Atomismus vorauszusetzen.474 Dies zeigt sich auch dar-

473 Jean-Paul Sartre (1980): Brüderlichkeit und Gewalt. Ein Gespräch mit Benny Lévy, Berlin 1993, S. 45 (Jean-Paul Sartre/Benny Lévy: L’espoir maintenant. Les entretiens de 1980, Lagrasse 1991). Vgl. entsprechende Formulierungen in: Jean-Paul Sartre/Michel Sicard (1979): Entretien. L’écriture et la publication. In: Obliques 18/19, S. 15; sowie Jean-Paul Sartre (1982): Anarchie und Moral. In: Concordia 5, S. 67. 474 Aus der Perspektive des Einzelnen scheint sich die Welt in der „Critique de la raison dialectique“ daher eher so darzustellen, wie Sartre es bereits 1948 in einem Manuskript in einer Randbemerkung formuliert hat: „Auf der Welt sein in einer Welt, die meine Existenz ablehnt: das ist das erste Thema des Lebens in Gesellschaft; es ist der Sinn der Arbeit selbst. 1) Wenn ich nicht auf die Welt einwirke, sterbe ich. 2) Die Zufälle können mich töten. 3) Antagonismus der Menschen und Mangel der Güter. Ambivalenz des sozialen Lebens. Der andere ist der, der mit mir teilt und mir meine Nahrung stielt.“ Vgl. Jean-Paul Sartre (1989): Wahrheit und Existenz. Rein-

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an, dass der Ort, von dem aus Sartres Gesellschaftskritik formulierbar wird, die sich in ihrem Ursprung selbst transparente individuelle Praxis ist. In letzter Instanz wird Entfremdung nicht anhand der Überformung und Entstellung intersubjektiver Beziehungen erfahren, sondern ausschließlich als eine in der materiellen und symbolischen Objektivität sich vollziehende Gegen-Finalität, die der Intention des einzelnen Handelnden zuwiderläuft. Der Maßstab der Kritik bleibt – und darin besteht die Kontinuität zu „L’être et le néant“ – die existenzielle Freiheit des Handlungssubjektes.475 Von daher lässt sich zugleich nachvollziehen, warum Sartre gesellschaftliche Verhältnisse in ihrer Grundstruktur als ausschließlich konflikthaft beschreiben muss. Verschärft wird dies noch durch die Einführung des Mangels in die transzendentale Grundlagenreflexion, der trotz seiner Kontingenz als Prinzip angesehen wird, das für das Verständnis aller Gesellschaften vorausgesetzt werden soll. So kann Sartre mit universellem Anspruch formulieren: „[…] la lutte, c’est la rareté comme un rapport des hommes entre eux. Par là nous marquons un lien fondamental de l’homme à lui-même à travers l’intériorisation du rapport de l’homme à l’objet non humain […].“476 Spätestens mit dem Mangel, aber im Grunde bereits mit der Einführung des Praxisbegriffs anhand des Modells abstrakter Arbeit war das methodische Problem aufgetreten, welchen theoretischen Status Sartres Prinzipien beanspruchen können. Ihr universaler Anspruch wird aufgrund der bewussten Historisierung der eigenen Theorie vom Standpunkt moderner kapitalistischer Gesellschaften in die Geschichte zurückprojiziert. Es ist gewissermaßen das neuzeitliche Selbstverständnis neuzeitlicher Subjekte, das die Prinzipienbildung leitet, mit deren Hilfe die Bedingungen der Möglichkeit gegeben sein sollen, den Gang der realen Geschichte, wenn auch nicht im Detail, aber doch in ihrer Tendenz nachvollziehbar zu machen – und zwar aus der Teilnehmerperspektive. Das bedeutet, dank formaler überhistorischer Prinzipien soll sich ein sinnhaft ablaufender Prozess rekonstruieren lassen. Transzendental impliziert für Sartre daher, wie bereits gezeigt, universal im Sinne von allgemeingültig für alle bisherige Geschichte als mögliche Geschichte. Damit produziert Sartre im foucaultschen Sinne einen ‚gemischten Diskurs‘. Die Prinzipien werden dem Bereich der Empirie entnommen und trotz ihrer transzendentalen Verwendung noch in ihrer historischen Bedeutung relativiert, indem sie als nicht notwendig für immer geltend gekennzeichnet sind. Sartre ist sich des relativen Status seiner transzendentalen Begriffe

bek bei Hamburg 1996, S. 84 (Anmerkung/Hervorhebung i.O.). (Verité et existence, Paris). 475 Vgl. hierzu ausführlicher: Knecht (1975), a.a.O., S. 126ff. 476 Vgl. Sartre (1985), a.a.O., S. 22.

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allerdings völlig bewusst, wenn er im 2. Band der „Critique de la raison dialectique“ ihr widersprüchliches Verhältnis zur Geschichte umreißt: „Mais, en même temps que nous saisissons la double relation travail-conflit comme constitutive de l’histoire humaine, nous devons reconnaître que notre histoire est un cas singulier parmi toutes les histoires possibles et que l’histoire est une relation particulière et un cas particulier des systèmes de relations possibles à l’intérieure des multiplicités pratiques. La réciprocité, par exemple – en tant que pouvant être a priori négative ou positive – est une relation valable pour tous les ensembles pratiques. Mais il n’est pas démontrable a priori que tout ensemble pratique doive sécréter une histoire ni même que toutes les histoires possibles doivent être conditionnées par la rareté. […] le problème de l’intelligibilité des transformations en cours à l’intérieur des sociétés déchirées est pour nous fondamentale; mais pour une théorie des ensembles pratiques qui se voudrait universelle, les développements envisagés se présentent avec toute la contingente richesse d’une singularité.“477

Die Theorie kann also mit Blick auf die bisherige Geschichte und vor dem Hintergrund des eigenen Selbstverständnisses nicht anders, als diese durch die Brille zu betrachten, die ihr dank der daraus entwickelbaren Prinzipien zur Hand ist. Was Sartre hier aus der Binnenperspektive formuliert, ist im Grunde nichts anderes als das, was Foucault von außen als ein historisches Apriori bezeichnet. Von Foucaults archäologischem Beobachterstandpunkt aus muss dies freilich unbefriedigend bleiben. Radikale Historisierung bedeutet für ihn, wie sich bereits gezeigt hat, den Gedanken an eine Linearität der Geschichte aufzugeben und damit auch den modernen geschichtsphilosophischen Anspruch, darin einen verborgenen Sinn aufzudecken. Auch der Sartres Geschichtsteleologie zu Grunde liegende Subjektbegriff entgeht weiterhin nicht der Foucaultschen Kritik. Obwohl Sartre das Handlungssubjekt in der „Critique de la raison dialectique“ über den Praxisbegriff schrittweise in die objektive Struktur des gesellschaftlichen Seins einbettet und damit weit entfernt von der noch in „L’être et le néant“ entwickelten Konzeption eines ontologisch begründbaren freien Bewusstseins operiert, bleibt schließlich die Tatsache bestehen, dass auch die vergesellschaftete Praxis auf der Kontrastfolie einer entfremdeten fundamentalen Freiheit gedacht werden muss. Damit wird die Theorie, wie es Foucault in „Les mots et les choses“ provokant formulierte, zu jenem ‚gefährlichen Akt’, weil ihr vor dem Hintergrund einer grundlegend die Welt modifizierenden Praxis die Objektivität ihres Gegenstands notwendig entgehen müsse. Aus der Handlungsperspektive

477 Ebd., S. 23 (Hervorhebungen i.O.).

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wird, wir erinnern uns an seine Kritik, das Andere als das Ungedachte des Cogito zum Gleichen. Aus gesellschaftstheoretischer Sicht bedeutet dies, aus der Teilnehmerperspektive wird das System des gesellschaftlichen Ganzen notwendig verkannt. Im Weiteren ist daher zu diskutieren, welche gesellschaftstheoretischen Alternativen Foucault aus der Beobachterperspektive anbieten kann und welche Rolle dabei einem von außen fixierten Subjekt zukommt.

„Um unserer europäischen Moralität einmal aus der Ferne ansichtig zu werden, um sie an anderen, früheren oder kommenden, Moralitäten zu messen, dazu muss man es machen, wie es ein Wanderer macht, der wissen will, wie hoch die Thürme einer Stadt sind: dazu verlässt er die Stadt.“ (FRIEDRICH NIETZSCHE)1

V Foucaults Subjekt der Macht

Die Diskussion von Sartres handlungstheoretischem Ansatz hat gezeigt, dass Foucaults archäologischer Blick die methodologischen Probleme einer ausschließlich aus der Binnenperspektive formulierten Gesellschaftstheorie über weite Strecken hinweg überzeugend diagnostiziert. Dies gilt sowohl für Sartres bewusstseinstheoretisch fundierte Ontologie der Freiheit in „L’être et le néant“ wie für die praxisphilosophisch orientierte Konzeption der „Critique de la raison dialectique“. Die diagnostische Brennschärfe der Archäologie wird allerdings dadurch getrübt, dass, wie sich im Anschluss an die Darstellung von Foucaults Vorgehensweise in „Les mots et les choses“ gezeigt hatte, auch der mit ihr verbundene Anspruch, eine strikt externe Beobachterperspektive einnehmen zu können, mit gewissen methodischen Schwierigkeiten behaftet ist. Abgesehen von spezifischen Unschärfen, die sich bezüglich des von Foucault verwandten Diskursbegriffs ergeben, hatte sich gezeigt – und das ist für die hier verfolgte Fragestellung von besonderem Interesse –, dass die explizit kritische Funktion, die die Archäologie über das Verfahren einer virtuellen Distanzierung und der

1

Friedrich Nietzsche (1882): Die fröhliche Wissenschaft. 5. Buch, 380. In: Kritische Studienausgabe, Bd. 3, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 2

1988, S. 632f (Hervorhebung i.O.).

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Kontrastierung von Ausschnitten der Gegenwart mit vergangenen Diskursformationen erhält, durch eine Begrenzung der beanspruchten Reichweite der eigenen Theorie erkauft werden muss. Hinzu kommen gewisse Unklarheiten, was das methodologische Selbstverständnis der Archäologie betrifft. So konnte weder eindeutig geklärt werden, von welchem Standort aus ein Beobachter-Diskurs formuliert werden könnte, noch welche normativen wie epistemischen Implikationen notwendig daran geknüpft wären. Verzichten muss Foucaults virtueller Blick von außen, wie sich gezeigt hat, zudem darauf, sich um Fragen der Begründung zu kümmern. Der Geltungsanspruch der archäologischen Analyse begrenzt sich auf das reine Beschreiben, sie beabsichtigt nicht, den untersuchten Gegenstand zu erklären. Damit einher geht eine Historisierung der Wahrheitsbegriffe und somit in der Konsequenz zugleich auch die Regionalisierung und historische Relativierung des eigenen Wahrheitsanspruchs. Diese methodologischen Beschränkungen zwangen Foucault, zumindest in „Les mots et les choses“, dazu, auf eine Logik der historischen Übergänge zwischen den einzelnen Wissensformationen, also von der Renaissance zur Klassik und von dort zur Moderne, zu verzichten. Es gilt nun den Faden an dieser Stelle wieder aufzunehmen, um einerseits festzustellen, inwieweit Foucault auf Sartres Einwände im Humanismusstreit reagierte, und andererseits den gesellschaftstheoretischen Ertrag seines Alternativmodells weiterzuverfolgen. Sartres Kritik konzentrierte sich im Kontext seiner Verteidigung des Subjektes in Gestalt individueller Praxis weitgehend auf das Problem der nicht geklärten historischen Übergänge, was ihn zu dem generellen Vorwurf animierte, Foucault fehle ein angemessenes Verständnis von Geschichte: „[…] c’est le refus de l’histoire“,2 hatte Sartre trocken konstatiert und unter Verweis auf die Rolle der Philosophie als kritische Gesellschaftstheorie darauf bestanden: „Il s’agit toujours de penser pour ou contre l’histoire.“3 Diese Attacke muss Foucault schwer getroffen haben, denn während er Sartres PositivismusVorwurf, wie bereits erwähnt, gelassen wegsteckte, hat er sich gegen die Behauptung, er negiere die Geschichte, vehement verteidigt.4 Im Verlauf des Hu-

2

Vgl. Sartre (1966), a.a.O., S. 87.

3

Ebd., S. 95.

4

Allein in der „Archéologie du savoir“ kommt Foucault mehrfach indirekt auf Sartres Vorwurf zu sprechen, den er in immer wieder anderen Varianten formuliert. So spricht er etwa vom „Mord der Geschichte“, den man ihm zur Last lege (Foucault (1969), a.a.O., S. 25), von einem „Verrat an der Geschichte“ (ebd., S. 197), der „Negation der Geschichte“ (ebd., S. 246) bzw. er betont ausdrücklich: „[…] ich habe die Geschichte nicht negiert […]“ (ebd., S. 585). Noch 1978 kam er in einem Interview

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manismusstreites hatte er, wie bereits erwähnt, gleichwohl eingeräumt, dass er Sartres substanzielle Einwände durchaus ernst nehme und an einer Lösung arbeite.5 In den folgenden Jahren hat Foucault mehrere Lösungsvorschläge vorgelegt. Seine unmittelbare Antwort auf das Problem historischer Transformationen war die „Archéologie du savoir“, in der er versuchte, anknüpfend an seine Einlassungen im Humanismusstreit, ein alternatives Geschichtsverständnis zu entwickeln, das auf die Unterstellung einer generellen Kontinuität der Geschichte verzichtet und dafür versucht, sie als ein plurales Geflecht diskontinuierlicher Prozesse und Serien zu fassen. „Mein Problem:“, so Foucault, „die abstrakte, allgemeine und monotone Form des ‚Wandels‘, in der man so gern das Aufeinanderfolgen denkt, durch die Analyse unterschiedlicher Transformationstypen zu ersetzen.“6 Wenige Jahre später hat Foucault allerdings die rein archäologische Herangehensweise für ungenügend befunden und seinen methodischen Ansatz im Zuge seiner Machtanalytik um das Verfahren der Genealogie erweitert. Der damit verbundene Umbau der Theoriearchitektur kann auch als ein weiterer Vorschlag zum Verständnis von Sartres Problem der historischen Übergänge gelesen werden. Damit stellte sich, wenn auch in veränderter Form, von Neuem die Frage nach dem Subjekt. Foucaults genealogische Herangehensweise an das Phänomen der Macht erforderte eine erneute Bestimmung des Verhältnisses von Subjekt und Geschichte aus der Beobachterperspektive, um sich von einer hermeneutisch verfahrenden Handlungstheorie abzugrenzen.7 Eine weitere methodologische Verschiebung erfolgte schließlich zu Beginn der 80er Jahre hin zu einer Analyse der historischen Formen der ethischen und moralischen Konstitution des Selbst.

auf diese Episode zurück; vgl. Foucault (1980): Gespräch mit Duccio Trombadori (Conversazione con Michel Foucault. In: Il Contributo, 4. Jg., Nr. 1, Januar-März, S. 23-84), hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S. 94. 5

Vgl. Foucault (1968b), a.a.O., Bd. 1, S. 854.

6

Foucault (1968c): Antwort auf eine Frage (Réponse à une question, Esprit 371, Mai 1968, S. 850-874), hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 1, S. 864 (Hervorhebung i.O.).

7

Foucault kam auch in späteren Arbeiten immer wieder auf das Problem der Übergänge zurück, das sich anhand der Thematiken Leben, Arbeit, Sprache in „Les mots et les choses“ im Verhältnis zwischen der modernen Episteme zu denjenigen vorangegangener Zeitalter gestellt hatte. Vgl. die genealogische Reformulierung des Problems etwa in Foucault (1996), a.a.O., S. 225f, sowie ders. (2004), a.a.O., Bd. I, S. 116ff.

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Foucault reformulierte nun das Selbstverständnis seiner theoretischen Arbeit als Versuch, eine Geschichte der Subjektivität zu schreiben.8 Im Folgenden soll den Modifikationen innerhalb der Foucaultschen Theorieproduktion nachgegangen werden. Anders als bei Sartre, dessen theoretische Stationen sich bis zum Humanismusstreit anhand seiner beiden ersten Hauptwerke nachvollziehen ließen, ist bei Foucault eher von einem work in progress auszugehen. Insofern können die manchmal minimalen begrifflichen Verschiebungen nicht allein entlang seiner großen Publikationen rekonstruiert werden. Vor allem in der Phase, in der sich Foucault weitgehend auf die Analytik der Machtmechanismen konzentrierte, nimmt er immer wieder subtile Veränderungen vor. In der folgenden Darstellung ist beabsichtigt, in drei Schritten vorzugehen. Zunächst soll Foucaults archäologische Geschichtskonzeption diskutiert werden, wie er sie im unmittelbaren Anschluss an die Auseinandersetzung mit Sartre formulierte. Dabei wird es im Wesentlichen um methodologische Fragen gehen, die den Kontrast eines Zugangs aus der Beobachterperspektive zu einer binnentheoretischen Ausrichtung herausarbeiten sollen. Vor diesem Hintergrund wird nochmals deutlich werden, auf welcher methodischen Grundlage Foucault seine in „Les mots et les choses“ formulierte Kritik des modernen Subjektbegriffs entwickeln konnte. Das archäologische Modell bietet zugleich die Folie, auf der Foucault in einer ersten Reformulierung seines Forschungsansatzes ein genealogisches Verfahren entwickelt. In einem zweiten Untersuchungsschritt soll daher nachvollzogen werden, wie Foucault mit weitgehend genealogischen Mitteln sein Programm einer Analytik der Macht durchzuführen versucht. In diesem Zusammenhang erhält auch das Subjekt einen veränderten Status. Es ist nicht mehr nur epistemologische Voraussetzung und zugleich Objekt des theoretischen Wissens in der Moderne, sondern als praktisches Subjekt zugleich Gegenstand einer Subjektivierung im Sinne einer Unterwerfung. In einem dritten Schritt soll schließlich Foucaults letzte methodologische Wendung hin zu einer Geschichte der Subjektivität verfolgt werden. Seine historischen Analysen der abendländischen Techniken des Selbst führen ihn zu einer Neubestimmung der Subjektposition innerhalb des Verhältnisses von Macht, Wissen und individueller Praxis.

8

Vgl. Foucault (1982): Subjekt und Macht (The Subject and Power. In: Dreyfus/ Rabinow (21983), a.a.O., S. 208-226), hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S. 269f.

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1 J ENSEITS

DES ‚ ANTHROPOLOGISCHEN

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S CHLUMMERS ‘

Die „Archéologie du savoir“ ist der Versuch einer methodologischen Grundlegung der bisherigen Untersuchungen über die Geschichte des Wahnsinns, der Medizin und die Entstehung der Humanwissenschaften. Foucault entwickelt darin ein Modell zur Analyse der Geschichte, das für sich beansprucht, ohne diejenigen theoretischen Voraussetzungen auszukommen, die die Archäologie der Humanwissenschaften in „Les mots et les choses“ als Spezifika der modernen Episteme ausgemacht hatte. Dies erscheint aus dem bisher Dargelegten konsequent. Denn nur wenn er zeigen kann, dass es möglich ist, ohne das erkenntnistheoretische Equipment der Moderne auszukommen, kann Foucault plausibel machen, dass es prinzipiell möglich ist, einen externen Standpunkt zur eigenen Gegenwart einzunehmen. Es geht ihm also darum, dem „anthropologischen Schlummer“ zu entkommen und jenseits von Humanismus und der epistemischen Figur des Menschen „[…] eine Methode historischer Analyse zu definieren, die von dem anthropologischen Thema befreit ist […]“.9 Damit ist allerdings, wie sich an Foucaults Darstellung des ‚anthropologischen Vierecks‘ erwiesen hatte, nicht allein die Idee eines konstitutiven Subjekts als unhintergehbarer Ausgangspunkt sämtlicher begrifflicher Syntheseleistungen impliziert, sondern zugleich auch die Unterstellung eines Ursprungs und einer Kontinuität der Geschichte sowie eines möglicherweise darin zu ergründenden Sinnes. Auf diesen Zusammenhang hatte er auch in der Auseinandersetzung mit Sartre mehrfach hingewiesen. Foucault beabsichtigt nun, diese drei Unterstellungen einzuklammern. Er will, wie er an anderer Stelle schreibt, „[…] die drei Themen des Ursprungs, des Subjekts und der impliziten Bedeutung neu in Frage […]“ stellen, um „[…] das diskursive Feld von der historisch-transzendentalen Form zu befreien […]“.10 Die Archäologie versteht sich demzufolge als Alternative zum traditionellen Geschichtsverständnis. Foucaults ambitioniertes Projekt besteht nämlich darin, sämtliche unhinterfragt akzeptierten begrifflichen Voraussetzungen des modernen Denkens abzuräumen, um so einen neuen Blick auf die historische Faktenlage zu erlangen. Die archäologische Beschreibung soll der Versuch sein „[…] eine ganz andere Geschichte dessen zu schreiben, was die Menschen gesagt haben“.11 Am Ausgangspunkt dieser alternativen Geschichtsauffassung steht also die gewalttätige Auflösung der vertrauten Einheiten und Bezugsgrößen, d.h. der

9

Vgl. Foucault (1969), a.a.O., S 28.

10 Vgl. Foucault (1968c), a.a.O., Bd. 1, S. 872f. 11 Vgl. Foucault (1969), a.a.O., S. 197.

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Versuch, sämtliche gedanklichen Synthesen außer Kraft zu setzen. Dies hat für Foucault vor allem eine diagnostische Funktion.12 Sie beinhaltet einerseits den Anspruch, sich aus der Binnenperspektive des modernen Denkens zu lösen, um dessen unausgesprochene epistemische Voraussetzungen von außen zu beschreiben. Das war der Kern des in „Les mots et les choses“ verfolgten Projektes. Andererseits soll damit die mit dessen Binnenperspektive implizierte Totalität eines historischen Kontinuums auf eine partikulare Episode innerhalb der diskursiven Ereignisse einer Geschichte des Wissens reduziert werden. Das geforderte alternative Geschichtsverständnis soll sich somit auf eine methodisch abgesicherte externe Beobachterposition gründen, die es möglich machen soll, dass historische Ereignisse nicht mehr in einer linearen zeitlichen Dimension synthetisiert werden, sondern als Felder mehrdimensionaler Verkettungen betrachtet werden können: als Serien, Bezüge, Überschneidungen, Abstoßungen, Rückkopplungen. „Es handelt sich“, so Foucault, „um die Entfaltung einer Streuung, die man nie auf ein einziges System von Unterschieden zurückführen kann […]“. Er beabsichtigt, „[…] eine Dezentralisierung vorzunehmen, die keinem Zentrum ein Privileg zugesteht.“13 Im Folgenden soll versucht werden, Foucaults Konzeption einer mehrdimensionalen Historie in ihren Grundlinien nachzuvollziehen. Dabei ist von Interesse, inwieweit es ihm gelingt, die Begrifflichkeiten einer traditionellen Geschichtsschreibung außer Kraft zu setzen, um an deren Stelle ein neues Analyseinstrumentarium zu entwickeln. Geklärt werden muss allerdings, wie dieses Analyseinstrumentarium methodisch abgesichert werden kann. Schließlich liegt die Vermutung nahe, dass die Annahme einer mehrdimensionalen Streuung und Dezentrierung der Historie ebenfalls eine erkenntnistheoretische Vorentscheidung beinhaltet, die zunächst einer methodischen Rechtfertigung bedarf. Aus diesem Grund ist es notwendig, erneut den forschungsstrategischen Status einer externen Beobachterposition zu reflektieren. Erst dann wird es möglich sein, Foucaults archäologischen Begriffsapparat auf die hier verfolgte Fragestellung zu beziehen: auf seine Konzeption historischer Transformationsprozesse und die Position, die dem Subjekt darin zugeschrieben werden kann.

12 Vgl. ebd., S. 293. 13 Vgl. ebd.

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Die archäologische Kritik des Diskurses der Geschichte Bereits in der Auseinandersetzung mit Sartre hatte Foucault seine alternative Geschichtskonzeption vornehmlich in Abgrenzung zu einem Verständnis von Geschichte als Kontinuum skizziert. Die Ausführungen zu einer methodischen Explikation waren dabei allerdings noch weitgehend vage geblieben. In den kurz darauf folgenden Arbeiten, die sich explizit mit diesem Problem beschäftigen sollten,14 formuliert Foucault seinen Ansatz ebenfalls zunächst negativ. Dies ist eine für ihn typische Herangehensweise, wie sich im Weiteren auch an der Art und Weise, wie er seinen Machtbegriff entwickelt, zeigen wird. Foucault versucht jeweils in Auseinandersetzung mit bestehenden Ansätzen zunächst negativ einen begrifflichen Raum zu umschreiben, um anschließend auf diesem Terrain eine neue Terminologie für einen damit zugleich neu auftauchenden Forschungsgegenstand zu entwerfen. In der „Archéologie du savoir“ grenzt er sich erneut von einem traditionellen Geschichtsverständnis ab, das er dort mit dem Terminus „Ideengeschichte“15 kennzeichnet. Damit präzisiert er seine Kritik aus dem Humanismusstreit. Es gehe darum, unreflektierte „dunkle Synthesen“ aufzulösen, die aus der privilegierten Position eines souveränen Bewusstseins fabriziert würden,16 um die Geschichte als kontinuierliche Einheit denken zu können. „Die kontinuierliche Geschichte ist das unerläßliche Korrelat für die Stifterfunktion des Subjekts […]“, so Foucault.17 Sobald diese beiden für das moderne Denken konstitutiven Instanzen, das Subjekt und die damit verbundene Konstruktion eines geschichtlichen Kontinuums, verabschiedet sind, erledigt sich für Foucault auch der Glaube an eine aus der Subjektperspektive zu denkende mögliche Totalität der Geschichte sowie eines darin synthetisierbaren Sinnes – also all das, was Sartre unter Berufung auf eine dialektische Vernunft zu rechtfertigen suchte.

14 Neben der „Achéologie du savoir“ und der bereits erwähnten Antwort auf Fragen der Zeitschrift „Esprit“ gehört hierzu vor allem noch die lange methodische Antwort auf Fragen des ‚Cercle d’épistémologie‘ aus dem Jahr 1968, ein Text, der stellenweise fast identisch mit den Anfangspassagen der „Achéologie du savoir“ ist; vgl. Foucault (1968d): Über die Archäologie der Wissenschaften. Antwort auf den ‚Cercle d’épistémologie‘ (Sur l’archéologie des sciences. Réponse au Cercle d’épistémologie. In: Cahiers pour l’analyse 9 (Généalogie des sciences), été 1968, S. 9-40); hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 1, S. 887-931. 15 Vgl. Foucault (1969), a.a.O., S. 27. 16 Vgl. ebd., S. 23. 17 Ebd.; ähnlich Foucault (1968d), a.a.O., Bd. 1, S. 892.

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Was ist nun mit diesen ‚dunklen Synthesen‘ genau gemeint? Foucault glaubt sie anhand von drei Vorgehensweisen der Ideengeschichte ausmachen zu können, die mit einem aus seiner Sicht willkürlichen Postulat der Kontinuität operieren. Obwohl diese unter keine einheitlichen begrifflichen Strukturen subsumierbar seien, lassen sich laut Foucault unter funktionalen Gesichtspunkten drei begriffliche Komplexe unterscheiden:18 auf der Ebene des Gegenstandes die unhinterfragte Unterstellung eines als einheitlich zu betrachtenden Geschichtsverlaufs, auf der Erkenntnisebene der Glaube, die eigenen historisch-kulturell geprägten Ordnungssysteme in die Geschichte zurückprojizieren zu können, und auf der Ebene des Verhältnisses zwischen Begriff und Gegenstand die Hoffnung, unterhalb der Objektoberfläche eine tiefer liegende Wahrheit ausfindig machen zu können. Diese drei Sorten von ‚dunklen Synthesen‘ sind nach Foucault als „Diskursfakten“ zu behandeln, die selbst Gegenstand der Analyse sein müssen.19 Foucault grenzt sich also von drei Diskursstrategien des traditionellen Geschichtsverständnisses ab, die sich als ontologischer, kategorialer und hermeneutischer Diskurs charakterisieren ließen. Konkret im Auge hat Foucault folgende Themenkomplexe: Auf der ontologischen Ebene sind damit auf den ersten Blick so unterschiedliche Begriffe wie Tradition, Einfluss, Entwicklung, Evolution, Mentalität oder Geist gemeint. Sie alle operieren laut Foucault unter der Hand mit der Unterstellung von Ähnlichkeitsrelationen, symbolischen Verknüpfungen, partiellen Identitäten, übergeordneten Prinzipien oder Kausalbeziehungen, durch die das Erkenntnisobjekt in einer Totalität zusammengehalten sein soll. Diese „[…] völlig fertiggestellten Synthesen, jene Gruppierungen […], die man gewöhnlich vor jeder Prüfung anerkennt, jene Verbindungen, deren Gültigkeit ohne weiteres zugestanden wird […]“, müssen laut Foucault rigoros infrage gestellt werden.20 Dasselbe gilt auf kategorialer Ebene für begriffliche Einheiten zur Klassifikation und Gruppierung historischer Entitäten, da sie an den eigenen kulturellen Kontext gebunden sind. Foucault hat neben institutionellen Ordnungsbegriffen, die sich unter gattungslogischen Gesichtspunkten voneinander unterscheiden lassen, wie etwa die Bereiche Wissenschaft, Literatur, Philosophie, Religion, Geschichte oder Politik, insbesondere materielle Instanzen wie die des Buches, des Werkes und des Autors im Auge. Für den Archäologen sind solche systematischen Einteilungen „[...] stets selbst reflexive Kategorien, Ordnungsprinzipien, normative Regeln, institu-

18 Vgl. Foucault (1969), a.a.O., S. 33. 19 Vgl. ebd., S. 35. 20 Vgl. ebd., S. 34.

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tionalisierte Typen […]“, die ihrerseits Gegenstand der Analyse sein müssen.21 Beim dritten Komplex der Kontinuitätspostulate, die Foucault isoliert, handelt es sich schließlich um die generelle Unterstellung eines wie auch immer zu ergründenden einheitlichen Sinnes. Auf diesem Gebiet lassen sich für den Archäologen zwei miteinander verknüpfte Denkfiguren unterscheiden, die Foucault bereits im Rahmen des ‚anthropologischen Vierecks‘ in „Les mots et les choses“ als den Rückzug und die Wiederkehr des Ursprungs bzw. als das Problem des Cogito und des Ungedachten thematisiert hatte: der Anspruch, einen prinzipiell einheitlichen Ursprung der Menschheitsgeschichte rekonstruieren zu können, sowie der Glaube an eine unterhalb der gesprochenen Diskurse auszumachende tatsächliche Bedeutung. „Das erste Motiv“, so Foucault, „bestimmt die historische Analyse des Diskurses dazu, Suche nach und Wiederholung von einem Ursprung zu sein, der jeder historischen Bestimmung entgeht; das andere bestimmt sie dazu, Interpretation oder Anhören eines bereits Gesagten zu sein, das gleichzeitig ein Nichtgesagtes wäre.“22 Mit der Problematisierung dieser fraglichen Synthesen allein wäre allerdings eine alternative Perspektive, wie sie Foucault im Auge hat, noch nicht unbedingt gerechtfertigt. Denn die Reflexion auf die eigenen theoretischen Voraussetzungen beinhaltet ja gerade auch das Geschäft einer sich als kritisch verstehenden Hermeneutik. Auch sie muss sich immer wieder fragen, mit welchen Begriffen sie operiert und auf welchen theoretischen Voraussetzungen diese basieren. Der Unterschied zu Foucaults Vorhaben, und das ist der Grund, warum er dessen Ansatz zu überwinden sucht, ist allerdings, dass ein hermeneutisches Verfahren versucht, über das Unternehmen der reflexiven Kritik sich einer zumindest hypothetischen Geltung ihrer Allgemeinbegriffe zu versichern, auf deren Fundament eine Interpretationsleistung möglich sein soll. Genau diese Erwartung stellt Foucault jedoch von vornherein infrage. Ihm geht es nicht um die kritische Absicherung begrifflicher Synthesen über eine Reflexion auf den eigenen Standpunkt innerhalb einer wie auch immer zu denkenden Totalität eines kontinuierlichen Kontextes, sondern darum, ein Verfahren zu entwickeln, das auf derartige universale Geltungsansprüche grundsätzlich verzichtet. Nur wenn dies möglich ist, kann Foucault für sich in Anspruch nehmen, den Diskurs der Moderne in seiner Begrenztheit und Einzigartigkeit von einer externen Perspektive beschreiben zu

21 Vgl. ebd., S. 35. 22 Ebd., S. 39 (Übersetzung modifiziert/M.R.). An anderer Stelle bezeichnet Foucault diese beiden Formen des hermeneutischen Diskurses als den „historisch-transzendentale“ bzw. den „empirische oder psychologische“ Versuche, eine historische Einheit zu konzipieren; vgl. Foucault (1968c), a.a.O., Bd. 1, S. 861.

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können. Um dies bewerkstelligen zu können, beabsichtigt Foucault in zwei Etappen vorzugehen: „Ich werde die Gesamtheiten, die mir die Geschichte anbietet, nur akzeptieren, um sie sogleich der Frage zu unterziehen; um sie zu entknüpfen und um zu erfahren, ob man sie legitimerweise rekomponieren kann; um zu erfahren, ob man daraus nicht andere rekonstruieren muß; um sie in einen allgemeinen Raum zu stellen, der, indem er ihre scheinbare Vertrautheit auflöst, erlaubt, ihre Theorie zu bilden.“23

Bis hier ginge sein Anspruch allerdings kaum über denjenigen einer kritischen Hermeneutik hinaus. Erst eine radikalisierte Infragestellung der allgemeinbegrifflichen Kontinuitätsunterstellungen öffnet den Weg zu einer alternativen Herangehensweise. Denn Foucault fährt im zweiten Schritt fort: „Hat man diese unmittelbaren Formen der Kontinuität einmal suspendiert, findet sich in der Tat ein ganzes Gebiet befreit. Ein immenses Gebiet, das man aber definieren kann: es wird durch die Gesamtheit aller effektiven Aussagen (énonces) (ob sie gesprochen oder geschrieben sind, spielt dabei keine Rolle) in ihrer Dispersion von Ereignissen und in der Eindringlichkeit, die jedem eignet, konstituiert.“24

Das Ziel der archäologischen Analyse historischer Diskurse ist also nicht, neue Einheiten herzustellen, sondern die Unterschiede jenseits reduktiver Synthesen zu vervielfachen,25 die Diskurse als eine Menge verstreuter Ereignisse26 zu beschreiben, sie in dieser ereignishaften Besonderheit27 innerhalb von Prozessen ohne Ursprung28 aufzuspüren. Das meint Foucault mit seiner provokantpositivistischen Formulierung, sein Vorhaben beschränke sich auf die reine Beschreibung der diskursiven Ereignisse. Foucaults archäologische Geschichtskonzeption beinhaltet in gewissem Sinne eine paradoxe Modifikation des traditionellen Verständnisses. Es handelt sich einerseits um eine Erweiterung des Gegenstandsbereichs, indem das Feld der Geschichte über die synthetisierenden Einheiten hinaus auszudehnen ist, andererseits beschränkt sich seine Analyse auf den Bereich der Diskurse, die nur ei-

23 Foucault (1969), a.a.O., S. 41. 24 Ebd. (Hervorhebungen M.R.). 25 Vgl. ebd., S. 243. 26 Vgl. ebd., S. 34. 27 Vgl. ebd., S. 43. 28 Vgl. Foucault (1968d), a.a.O., Bd.1, S. 898.

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nen Teilbereich des Feldes geschichtlicher Ereignisse ausmachen. Foucault versucht seine thematische Verschiebung der Historie durch die Unterscheidung von ‚globaler Geschichte‘ und ‚allgemeiner Geschichte‘, also einer herkömmlichen im Kontrast zu seiner eigenen Geschichtskonzeption, zu verdeutlichen. „Es geht nicht darum“, so Foucault, „eine globale Geschichte zusammenzustellen – die alle ihre Elemente um ein Prinzip oder eine einheitliche Form herum gruppiert -, sondern vielmehr um das Feld einer allgemeinen Geschichte, in dem man die Singularität von Praktiken beschreiben könnte, das Spiel ihrer Beziehungen, die Form ihrer Abhängigkeiten. Und im Raum dieser allgemeinen Geschichte könnte sich die historische Analyse diskursiver Praktiken umgrenzen lassen.“29

Die Analyse der Diskurse soll also gewissermaßen den Zugang ermöglichen, um historische Ereignisse unterschiedlicher Bereiche und Ordnungen zu strukturieren, ohne dazu gezwungen zu sein, wie die globale Geschichte, ein raum-zeitlich begrenztes Terrain mit einem „Netz von Kausalitäten“ zu überziehen und alle darin vorkommenden Ereignisse „demselben Transformationstyp“ zu unterwerfen.30 Was Foucault offenbar vorschwebt, ist die analytische Möglichkeit, durch die Diskurse hindurch so unterschiedliche Erfahrungsebenen wie diejenigen von Ökonomie, sozialen Verhältnissen oder Politik, von Mentalitäten und Techniken als Formen unterschiedlicher Geschichtlichkeiten zu beschreiben und sie dabei weder als völlig voneinander unabhängig zu betrachten noch sie zu parallelisieren oder analogisieren. Er beabsichtigt, die spezifischen Relationen zwischen einzelnen Serien zu bestimmen und sie in ihrer Besonderheit, Begrenztheit und Historizität zu kennzeichnen.31 Foucault benutzt für dieses Relationsmodell das Bild des „Tableaus“ als einer „Serie von Serien“, auf dem sich das „Spiel von Korrelationen und Dominanzen“, die „verschiedenen Zeitlichkeiten“ oder die Gruppierung und Auflösung von Elementen ablesen lassen sollen.32 Inwieweit es tatsächlich gelingen kann, ein derart hyperkomplexes Gebilde von Beziehungsverhältnissen zu beschreiben, wird sich noch zeigen müssen. Fest steht für Foucault jedenfalls die qualitative Differenz zur traditionellen Historie: „Eine globale Beschreibung faßt alle Phänomene um ein einziges Zentrum zusammen

29 Foucault (1968c), a.a.O., Bd. 1, S. 876 (Hervorhebungen i.O.). 30 Vgl. Foucault (1969), a.a.O., S. 19. 31 Vgl. ebd., S. 19f. 32 Vgl. ebd., S. 20.

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– Prinzip, Bedeutung, Geist, Weltsicht, Gesamtform; eine allgemeine Geschichte würde im Gegenteil den Raum einer Streuung entfalten.“33 Fest steht damit auch, dass mit Foucaults Geschichtskonzeption Sartres Allgemeinbegriffe, die dieser in seiner transzendentalen Grundlagenreflexion entfaltet hatte, um die Geschichte als globalen Prozess einer Pluralität von Totalisierungen zu begreifen, einer radikalen Historisierung unterzogen werden.34 Nicht nur die formalen Bestimmungen der Praxis als Arbeit oder der Intersubjektivität, ja ebenso das universale Thema des Mangels tragen aufgrund ihrer historisch-diskursiven Existenzbedingungen einen zeitlichen Index – worüber sich Sartre, wie gezeigt, aufgrund des experimentellen Selbstverständnisses seines Vorhabens allerdings durchaus im Klaren war. Auch der mit Sartres Begrifflichkeiten verknüpfte Geltungsanspruch seines Diskurses, eine Intelligibilität von Geschichte möglich zu machen, wird damit außer Kurs gesetzt. Denn dieser ist aufgrund seiner Kontinuitätsunterstellung dann offenbar gerade nicht in der Lage, das historische Feld als die Streuung von Serien und Ereignissen zu erfassen, deren Relationen sich in verschiedenartigen und variablen Ordnungssystemen definieren lassen sollen. Es dürfte daher kein Zufall sein, dass Foucault in der „Archéologie du savoir“ ausdrücklich, wenn auch ohne ihn namentlich zu nennen, auf Sartres Unterscheidung von ‚notion‘ und ‚concept‘ Bezug nimmt. Sartre hatte im Humanismusstreit in Abgrenzung von einem rein definitorischen Gebrauch von Begriffen (concept) auf der eigentlichen Arbeit des Begriffs (notion) als synthetische Anstrengung zum Verständnis historischer Prozesse insistiert. Foucault hält dem nun entgegen, dass gerade auf diesem Weg die von ihm ins Spiel gebrachte Mehrdimensionalität der Geschichte dem Denken notwendig entgleite und fragt daher polemisch, in welches Einheitskorsett die in ihrer Vielfältigkeit historisch auffindbaren Diskurse denn gepresst werden sollen: „Auf ein wohl definiertes Alphabet ideologischer Begriffe (notions)? Wir haben es mit Begriffen (concepts) zu tun, die in der Struktur und den Benutzungsregeln abweichen, die sich gegenseitig fremd sind oder sich ausschließen und nicht in die Einheitlichkeit einer logischen Architektur eintreten können.“35

33 Ebd. 34 Vgl. hierzu auch Silverman (1986), a.a.O., S. 155. 35 Foucault (1969), a.a.O., S. 57.

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Die methodisch kontrollierte Konstruktion einer virtuellen Beobachterperspektive Nun stellt sich freilich ungeachtet der von Foucault skizzierten methodisch blinden Flecken eines aus der Binnenperspektive konzipierten subjektzentrierten Geschichtskontinuums unweigerlich die Frage, mit welchem Recht wiederum eine dezentrierte, diskontinuierliche Streuung diskursiver Ereignisse angenommen werden kann. Vor allem taucht erneut das weiter oben bereits diskutierte Problem der Situierung einer dafür erforderlichen Beobachterperspektive auf, von der aus ein externer Blick auf die Geschichte möglich sein soll. Lautete bisher die vorläufige Antwort, dass es Foucault gelingt, mithilfe archäologischer Grundbegriffe wie historisches Apriori, Episteme oder Diskurs die symbolischen Prämissen sowie die Regelhaftigkeit bestimmter Wissensregionen anderer Zeitalter frei zu legen, um über diesen Weg einen Kontrast zu den Hintergrundannahmen der Moderne herstellen zu können, was eine virtuelle Einnahme eines Außenpostens ermöglicht, so ist doch nach wie vor ungeklärt, wie die Wahl der archäologischen Grundbegriffe selbst gerechtfertigt werden kann. Aus diesem Grund kann es für Foucault nicht damit getan sein, in Negation zu einer unterstellten Kontinuität einfach ihr Gegenteil vorauszusetzen. Dies wäre mindestens so naiv wie die von ihm kritisierten ‚dunklen Synthesen‘. Foucault beabsichtigt daher die Diskontinuität zu operationalisieren, indem er ihr eine dreifache Funktion zuschreibt: Sie ist eine systematische Hypothese, die zur Unterscheidung der verschiedenen Analyseebenen und Gruppierung möglicher Einheiten bewusst eingeführt wird. Sie wird dadurch nicht zu einem unbeabsichtigten Effekt mangelhafter Synthetisierungsversuche, sondern notwendiges Ergebnis der Beschreibung. Und sie erfordert im Verlauf des Prozesses der Beschreibung eine weiter gehende Spezifizierung von Diskontinuitäten.36 Es ist also gewissermaßen ein experimenteller Gebrauch, den Foucault von der Diskontinuitätsunterstellung macht, durch den er offenbar einen Prozess der Strukturierung des Gegenstandsbereichs sowie der Fixierung der Position des Beobachters zu durchlaufen versucht. Der Begriff der Diskontinuität, wie er ihn verwendet, ist demzufolge „[…] unweigerlich recht paradox […], da er zugleich Instrument und Gegenstand der Untersuchung ist, da er das Feld der Analyse abgrenzt, deren Ergebnis er ist, da er die Individualisierung der Bereiche erlaubt, die man jedoch nur durch ihren Vergleich ermitteln kann; da er Einheiten sprengt, um neue zu errichten; da er die Serien voneinander abhebt und die Ebenen verdoppelt; und schließlich weil er nicht einfach ein im Diskurs des Histo-

36 Vgl. Foucault (1968d), a.a.O., Bd. 1, S. 890.

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rikers präsenter Begriff ist, sondern von diesem insgeheim vorausgesetzt wird: Von wo aus könnte er in der Tat sprechen, wenn nicht ausgehend von jenem Bruch, den ihm die Geschichte – und seine eigene Geschichte – als Gegenstand anbietet?“37

Foucault geht also forschungsstrategisch von jener grundlegenden Differenz zwischen Betrachter und Gegenstand aus, um diese Diskontinuität methodisch fruchtbar zu machen. Was der frühe Sartre bewusstseinstheoretisch als das Verhältnis von Ich und Nicht-Ich fasst, um Letzteres zugleich über eine Syntheseleistung des Subjektes in dessen Welt zu integrieren, benutzt Foucault als Ausgangspunkt zur Etablierung eines experimentellen Beobachterstatus. Von dieser ersten Differenz aus werden weitere in den Gegenstand eingeführt, um ihn zu strukturieren und zu individualisieren. Dabei entstehen freilich neue Einheiten, die auch der Archäologe konstituieren muss, um seinen historischen Gegenstand beschreiben zu können. Es handelt sich dabei allerdings um differenzielle Einheiten, die kontrolliert gebildet werden sollen. „Vorausgesetzt“, so Foucault, „daß man deren Bedingungen klar definiert, wäre es legitim, ausgehend von korrekt beschriebenen Beziehungen, diskursive Mengen zu bilden, die nicht arbiträr wären, indessen aber unsichtbar geblieben wären.“38 Die Beobachterperspektive muss also, so wie es aussieht, als eine konstruktivistische Versuchsanordnung verstanden werden. Grundlage dafür bildet Foucaults „historischer Nominalismus“,39 der in den späteren machtanalytischen Arbeiten auch in gesellschaftstheoretischer Hinsicht zum Tragen kommt. Von dieser nominalistischen Position her rührt die grundlegende Skepsis gegenüber sämtlichen begrifflichen Synthesen, die in ihrer historischen Begrenztheit dekonstruiert werden, um schließlich an deren Stelle mögliche andere Konstruktionen anzubieten, die für sich aber nicht mehr beanspruchen dürfen, als reine Beschreibungsmöglichkeit bar jeglicher Universalisierungsintention zu sein. Auf diesem Weg entsteht der für Foucaults Analysen typische Verfremdungseffekt, der es erlaubt, das Vertraute als Fremdes und damit virtuell von außen zu betrachten. Die Archäologie ist in diesem Sinne ein heuristisches Verfahren, das keinen Wahrheitsanspruch im klassischen Sinne erhebt, für das Foucault allerdings reklamiert, dass es seine eigenen Konstruktionsprinzipien offenlegen muss. Vor diesem Hintergrund wird ver-

37 Ebd. (Übersetzung modifiziert/M.R.). 38 Foucault (1969), a.a.O., S. 45. 39 Vgl. hierzu u.a. Flynn (1979/2005), a.a.O., Bd. 2, S. 31ff.; sowie Étienne Balibar (1989): Foucault und Marx. Der Einsatz des Nominalismus. In: Ewald/Waldenfels, a.a.O., S. 39-65 (Foucault et Marx. L’enjeu du nominalisme. In: Michel Foucault philosophe. Rencontre international, Paris 9, 10, 11 janvier 1988, Paris 1989, S.54-75).

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ständlich, dass Foucault sich methodisch einer virtuellen Außenperspektive immer wieder von Neuem vergewissern muss. „Ich analysiere den Raum, in dem ich spreche.“40 Darüber ist sich der Archäologe völlig bewusst: „So dass ich auf die Frage: Von wo aus beanspruchen Sie, der Sie – ganz von oben und so weit entfernt – den Diskurs der Anderen beschreiben wollen, nur antworten werde: Ich habe geglaubt, dass ich vom gleichen Ort aus sprechen würde wie diese Diskurse und dass ich meine Äußerung situierte, indem ich ihren Raum definierte; aber ich muss jetzt erkennen: Von dort aus, wo diese, wie ich gezeigt habe, sprechen, ohne dies zu sagen, kann ich selbst nicht sprechen, sondern einzig von dieser Differenz aus, dieser verschwindend kleinen Diskontinuität, die mein Diskurs bereits hinter sich gelassen hat.“41

Es ist aber nicht nur dieser minimale Abstand, dessen sich Foucault methodisch immer wieder vergewissern muss, auch die angebotenen analytischen Begriffe und Konstruktionen können aufgrund ihres bescheidenen geltungstheoretischen Status immer nur unter Vorbehalt benutzt werden. Foucault bezieht seinen historischen Nominalismus konsequenterweise noch auf das eigene Vorhaben. So verweist er in der „Archéologie du savoir“ ausdrücklich darauf, dass etwa die vorgeschlagene Einteilung der Zeitalter nach der Ordnung der verschiedenen Epistemen, wie dies in „Les mots et les choses“ vorgenommen wurde, auf keine zeitlichen Gestalten referiert, sondern dass diese lediglich „Namen“ für die dort beschriebenen Relationen innerhalb und zwischen spezifischen Regionen des Wissens seien. Und dasselbe gelte noch für die Anwendung operativer Begriffe wie etwa den der Diskontinuität innerhalb eines historischen Feldes diskursiver Formationen: „Ebenso ist der Bruch für die Archäologie nicht der Brückenkopf ihrer Analysen, die Grenze, die sie von fern signalisiert, ohne sie determinieren noch ihr eine Spezifität geben zu können: der Bruch ist der den Transformationen gegebene Name, die sich auf das allgemeine System einer oder mehrerer diskursiver Formationen auswirken.“42

Die von der Archäologie vorgenommenen Gruppierungen von Ereignissen, die Isolierung von Regelmengen, die Veranschaulichung regional und zeitlich limitierter Ordnungssysteme sind demnach immer unter Vorbehalt zu betrachten. Und das gilt ebenso für den eigenen Begriffsapparat. Möglicherweise ist dies ei-

40 Foucault (1968d), a.a.O., Bd. 1, S. 904. 41 Ebd. 42 Foucault (1969), a.a.O., S. 251f. (1. Hervorhebung i.O.; 2. Hervorhebung M.R.)

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ne Erklärung für Foucaults ungenauen, aber vielleicht auch einfach experimentellen Umgang mit dem Diskursbegriff in der „Archéologie du savoir“. Es wurde bereits weiter oben darauf verwiesen, dass Foucault gerade diesen Grundbegriff der Archäologie nicht präzise bestimmt und im Dunkeln lässt, was er genau unter dessen Formationsregeln versteht. Ungeachtet dieser Schwierigkeit, die freilich zugleich sein Anliegen, sein methodisches Verfahren transparent zu halten, beeinträchtigen dürfte, soll nun versucht werden zu klären, inwieweit dieser Schlüsselbegriff der Archäologie trotzdem als Analyseraster zu einem alternativen Geschichtsverständnis beitragen kann. Innovativ an Foucaults Vorgehensweise ist zunächst, dass er beabsichtigt, den Diskurs in seiner Materialität zu erfassen, und damit ein neues, exponiertes Objekt der Analyse frei legt. Mit der Materialität des Diskurses meint Foucault insbesondere die faktischen Bedingungen der spezifischen Existenz diskursiver Ereignisse, die real stattgefunden haben. „Die Beschreibung der diskursiven Ereignisse“, erzwingt daher notwendig die Frage: „[…] wie kommt es, daß eine bestimmte Aussage erschienen ist und keine andere an ihrer Stelle?“43 Was Foucault also zu beschreiben sucht, sind diejenigen Regeln, die in einem historisch-materiellen Feld regieren, in dem die Relationen zwischen dem System der Sprache, der Welt der Objekte, der thematischen Perspektiven und spezifischen Rationalitäten aufgespannt sind. Es sind also räumlich und zeitlich begrenzte Regeln, die zwar die Bedingungen faktischer Diskurse formulieren, es soll sich dabei aber nicht um formale Voraussetzungen in einem transzendentalen Sinne handeln. Foucault ist nicht an den Bedingungen der Möglichkeit, sondern an den Bedingungen der faktischen Existenz spezifischer Diskurse gelegen. „Der Diskurs“, so Foucault, „ist durch die Differenz zwischen dem konstituiert, was man in einer Epoche korrekt (gemäß den Regeln der Grammatik und der Logik) sagen konnte, und dem, was tatsächlich gesagt wurde.“44 Eine strikte Trennung in Form und Inhalt verliert damit ihren Sinn. Foucaults Frage lautet, etwas grob vereinfacht: Woran liegt es, dass dieser spezielle Diskurs existiert und kein anderer? Eine so verstandene Materialität von Diskursen impliziert freilich, dass diesen ein eigenständiger Realitätsbereich zugeordnet wird. Der Diskurs ist „[…] nicht nichts oder beinahe nichts […]“, wie Foucault betont.45 Damit meint er, dass es notwendig sei, von dem Gedanken einer Neutralität des Diskurses Abschied zu nehmen, das heißt von der Idee, dass Diskurse lediglich als Ausdrucksmittel von Gedanken, Vorstellungen oder Erkenntnissen zu begreifen

43 Vgl. ebd., S. 42. 44 Foucault (1968c), a.a.O., Bd. 1, S. 874. 45 Vgl. ebd.

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sind, dass sie nur der formalen Einteilung nach Werken, Genres oder Themen dienen bzw. dass reale Operationen und Praktiken jenseits des Diskurses stattfinden.46 Foucault versteht Diskurse als spezifische Praktiken, denen er einen autonomen Status zugesteht, und verlangt deshalb „[…] anzuerkennen, dass im Diskurs etwas (gemäß genau definierbaren Regeln) geformt wird, dass im Diskurs dieses Etwas existiert, besteht, sich transformiert, verschwindet (gemäß gleichfalls definierbarer Regeln); kurz, dass es neben all dem, was eine Gesellschaft produzieren kann (‚neben‘, das heißt in einem angebbaren Verhältnis dazu), die Formation und Transformation des ‚Gesagten‘, der choses dites, gibt“.47

Geschichte als dreidimensionaler Raum Diskurse sind also historische Entitäten, die nach bestimmten, materiell verankerten Regelsystemen funktionieren. Foucault unterscheidet dabei diskursinterne Regeln von solchen, die ihr Verhältnis nach außen bestimmen. Zusätzlich nimmt er noch an, dass in beiden Bereichen registrierbare Veränderungen ebenfalls in jeweils spezifischer Form regelgeleitet sein können. Dies ist der grobe Raster, den Foucault zur Beschreibung historischer Veränderungen anlegt. Daraus ergibt sich eine räumliche Vorstellung von Geschichte, die als eine Serie unterschiedlicher und wechselnder Relationen von Regelmechanismen gedacht werden muss. Etwas vereinfacht kann man sich das vielleicht so vorstellen: In der Horizontalen ließen sich die unterschiedlichen Diskursformationen in ihrer jeweiligen Regelhaftigkeit und in ihren ebenfalls regelgeleiteten Verhältnissen zu anderen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken anordnen, in einer Vertikalen eine Abfolge der je nach spezifischen Transformationsregeln erfolgten partiellen Veränderungen dieser internen und externen Regelsysteme und schließlich werden in die Tiefe des Raumes das Auftauchen und Verschwinden einzelner Diskurse und Systeme aufgrund der Modifikation und Transformation von Regelmechanismen, die deren Existenz berühren, eingetragen. Diese drei Dimensionen können weiter gehend vielleicht am besten anhand der Analyseebenen, die Foucault mit Blick auf die „Diversität der Systeme“ (1), das „Spiel der Diskontinuitäten“ (2) und die „Geschichte der Diskurse“ (3) unterscheidet,48 erläutert werden.

46 Vgl. ebd., S. 873f. 47 Ebd., S. 875 (Hervorhebung i.O.). 48 Vgl. ebd., S. 871 (Hervorhebungen i.O.).

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(1) Die Diversität der Systeme Auf der Ebene der Systeme fasst Foucault den Diskurs anhand von drei Kriterien: der Formation, der Transformationsschwelle und der Korrelation.49 Ihnen zufolge soll ein individueller Diskurs entsprechend seiner spezifischen internen Regeln, seiner Grenze und seiner Verhältnisse nach außen definiert werden. Wie sich bereits weiter oben anhand der knappen Darstellung der methodischen Schlüsselbegriffe von „Les mots et les choses“ gezeigt hatte, begreift Foucault die Formationsregeln eines Diskurses als spezifische Verknüpfung eines disparaten Bündels theoretischer und praktischer Relationen. Die Formationsregeln betreffen neben Äußerungsmodalitäten die Konstitution von Objekten, die Verwendung von Begriffen, sowie die Fixierung von Themen. Bei Letzteren spricht Foucault auch von Strategien.50 Das jeweilige Spiel dieser auf die unterschiedlichen Momente des Diskurses bezogenen Regeln kennzeichnet die Einzigartigkeit einer diskursiven Formation, innerhalb der eine bestimmte Menge von Aussagen verteilt ist.51 Was Foucault damit meint, lässt sich vielleicht etwas holzschnittartig an dem von ihm in „Les mots et les choses“ aufgewiesenen anthropologischen Diskurs erhellen. Mit ihm tauchte der Mensch als arbeitendes, sprechendes und lebendes Objekt auf, an dessen Endlichkeit zugleich die Vorstellung einer universellen Wesensbestimmung und damit der Begriff des Menschen geknüpft sind. Diese Thematik steht zugleich im Zentrum der modernen Episteme und bietet das Ziel ihrer Erkenntnisstrategien, zu dessen Verfolgung bestimmte Äußerungsmodalitäten zugelassen sind: die an eine bestimmte Rationalität gebundene wissenschaftliche Erklärung und Begründung. Während diese vier Regelkomplexe, die über keinen eigenständigen Status verfügen, sondern auf unterschiedliche Weisen miteinander verkettet sind, die interne Ordnung eines Diskurses definieren, lässt sich anhand ihrer Variabilitätstoleranz feststellen, ab welchem Grad der Veränderung von internen Regeln die Existenz des Diskurses in Gefahr gerät. Das Kriterium der Transformationsschwelle legt insofern die Existenzbedingung des Diskurses, also die Voraussetzung seiner Positivität fest, die durch eine intern definierte Veränderbarkeit der einzelnen Elemente einer Diskursformation bestimmt ist. Diese Elemente können „[…] in der Tat eine bestimmte Zahl von immanenten Veränderungen eingehen, die in die diskursive

49 Vgl. ebd., S. 861f. 50 Vgl. etwa Foucault (1969), a.a.O., S. 105. 51 Vgl. ebd., S. 58; bzw. Foucault (1968c), a.a.O., Bd. 1, S. 861f.

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Praxis integriert sind, ohne daß die allgemeine Form ihrer Regelmäßigkeit verändert wird“.52 So weit ist der Diskurs als internes Regelverhältnis und zugleich in seiner Existenzweise bestimmt. In die Sprache der Systemtheorie übersetzt, könnte das, was Foucault mit den beiden Kriterien der Formation und der Transformationsschwelle zu bestimmen sucht, als notwendige Voraussetzungen für die Selbstreferenz eines Systems bezeichnet werden. Es bleibt noch, die Beziehung nach außen zu beschreiben – systemtheoretisch gesprochen also das Verhältnis SystemUmwelt.53 Dafür führt Foucault als drittes Kriterium für die Analyse der Ebene der Systeme das der Korrelation ein. Korrelationen bestehen sowohl in Bezug auf andere Diskursformationen wie zu nicht-diskursiven Bereichen der Realität. Das bringt für Foucault eine gewisse Schwierigkeit mit sich, denn beide Sorten von Korrelationen müssen nun unter unterschiedlichen Gesichtspunkten beschreibbar sein, da es sich nun um Verhältnisse zwischen Regelsystemen sowohl gleichartiger wie unterschiedlicher Ordnungen handelt. Während nämlich die interdiskursiven Relationen sich auf dem Niveau der Formationsregeln untersuchen lassen, muss es sich bezüglich nicht-diskursiver Praktiken um anders geartete Regelmäßigkeiten handeln. Welche Korrelationen sich zwischen verschiedenen diskursiven Formationen ausmachen lassen, zeigt sich laut Foucault, am „[…] Spiel der Analogien und Unterschiede, so wie sie auf der Ebene der Formationsregeln erscheinen“.54 Es muss demnach verständlich gemacht werden können, welche unterschiedlichen Positionen, Funktionen und Relationen die einzelnen Elemente der verschiedenen diskursiven Formationen ausfüllen und in welchen Verbindungen, Abgrenzungen und Hierarchien sie zueinander stehen. Ziel dieser in gewisser Weise an strukturalistische Kombinatorik erinnernde Vorgehensweise ist es, für eine ausgewählte Anzahl von Diskursen zu einem bestimmten historischen Moment das „Gesetz ihrer Kommunikation“55 zu ermitteln, das sich in der Positivität der Diskurse niederschlägt. Es handelt sich im Kern darum, das ihnen zu Grunde liegende historische Apriori56 zu bestimmen, weshalb Foucault zur Veranschaulichung der interdiskursiven Korrelationsbestimmung auf seine Vorgehensweise in „Les mots et les choses“ verweist.57 Anders sieht es bei den zu bestimmenden Korrelationen zwischen den Regionen des

52 Vgl. Foucault (1969), a.a.O., S. 109. 53 Vgl. hierzu Luhmann (1987), a.a.O., S. 57ff. bzw. S. 242ff. 54 Vgl. Foucault (1969), a.a.O., S. 229. 55 Vgl. ebd., S. 231. 56 Vgl. ebd., S. 184. 57 Vgl. ebd., S. 224.

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Diskursiven und des Nicht-Diskursiven aus. Die Archäologie muss auch diese „spezifische[n] Artikulationsformen“, etwa in Bezug auf „[…] Institutionen, politische Ereignisse, ökonomische Praktiken und Prozesse […]“ definieren.58 Im Gegensatz zu den interdiskursiven Korrelationen, die sich auf dem Niveau von Formationsregeln bestimmen lassen, gilt es nun, andersartig gebaute Regelmechanismen zu isolieren, die sich aber auf die Diskursebene zurückbinden lassen müssen. Foucault kann hier offensichtlich nicht mit einem stringenten methodischen Verfahrensvorschlag aufwarten. Er bezieht sich für die Charakterisierung dieser Verhältnisse lediglich auf seine Untersuchungen über die Diskurse der Psychiatrie und der Medizin in der „Histoire de la folie“ und der „Naissance de la clinique“, in denen er die „Zwischenräume und Abstände“ zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Bereichen durchläuft, um „[…] ein institutionelles Feld zu beschreiben, eine Gesamtheit von Ereignissen, Praktiken, politischen Entscheidungen, eine Verkettung ökonomischer Prozesse, worin demographische Schwankungen, Techniken des Beistands, Mangel an Arbeitskräften, verschiedene Ebenen der Arbeitslosigkeit usw. auftreten“.59 Dies war Foucault durch eine Neubewertung des empirischen Materials in der Tat gelungen. So erlaubt er etwa einen neuen Blick auf das Verhältnis zwischen medizinischem Diskurs und Politik, indem er aufzeigt, wie gegen Ende des 18. bzw. zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Bevölkerung zu einem Objekt statistischer Erfassung unter dem Gesichtspunkt medizinischer Gesundheitsstandards wird, wie der Arzt zum Träger eines gesellschaftlich relevanten Diskurses aufsteigt oder wie sich das institutionelle Verhältnis zwischen Arzt und Patient verändert.60 Was die methodische Explikation der dargestellten Beziehungen zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Bereichen der Realität angeht, bleiben Foucaults Ausführungen in der „Archéologie du savoir“ allerdings weitgehend programmatisch. Festgehalten werden kann lediglich, dass der Diskurs aufgrund der Annahme seiner Autonomie weder als Ausdruck, Reflex oder Symbolisierung nicht-diskursiver Praktiken noch in einem kausalen Abhängigkeitsverhältnis gedacht werden darf. Derartige Vorstellungen müssten selbst als strukturelles Moment einer historisch spezifischen interdiskursiven Korrelation gesehen werden, also auf dem Hintergrund eines mit der Positivität von bestimmten Diskursen gegebenen historischen Apriori.61 Damit verweist die Archäologie aber zurück auf das von ihr eigens untersuchte Terrain der Diskurse. Die Frage, welche methodologischen Kri-

58 Vgl. ebd., S. 231; ähnlich Foucault (1968d), a.a.O., Bd.1, S. 901. 59 Vgl. Foucault (1969), a.a.O., S. 224. 60 Vgl. ebd., S. 233f. 61 Vgl. ebd., S. 233.

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terien angewandt werden müssen, um jene gesuchten, spezifischen Artikulationsformen kontrollierbar zu beschreiben, bleibt genau besehen unbeantwortet.62

(2) Das Spiel der Diskontinuitäten Die Darstellung der unterschiedlichen Regelsysteme, die Foucault unter dem Gesichtspunkt der Formation, der Transformationsschwelle und der Korrelation zu isolieren und in ihrer Streuung auf diskursive und nicht-diskursive Realitätsbereiche zu beschreiben sucht, hat bereits die Anknüpfungspunkte geliefert, von denen aus er versucht, die Thematik der Übergänge von einem Systemzustand zu einem anderen als „Spiel von Diskontinuitäten“ zu fassen. Dadurch soll die Möglichkeit eröffnet werden, historische Prozesse zu beschreiben, ohne ein einheitliches Bezugssystem zu Grunde legen oder historische Ereignisse einer Kausallogik unterordnen zu müssen.63 Beabsichtigt ist also gewissermaßen eine Regionalisierung und zugleich Umcodierung der Veränderungslogiken, um spezifische Transformationspunkte beschreiben zu können. Zu diesem Zweck konzentriert sich Foucault auf das „Spiel der Dependenzen“64 innerhalb und unter den einzelnen Regelsystemen, um auf diesem Weg spezifische Diskontinuitäten in Relation zu anderen Systemen oder Systemelementen zu ermitteln. Was also zunächst auf der Achse der „Diversität der Systeme“ skizziert wurde, die „intradiskursiven“, „interdiskursiven“ und „extradiskursiven Dependenzen“,65 kommt nun in Bewegung – allerdings, und das ist der entscheidende Unterschied zu dem, was Foucault als ‚globale Geschichte‘ kritisiert, an unterschiedlichen Stellen, zu unterschiedlichen Zeiten und mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Der methodische Raster, den Foucault zur Beschreibung dessen benutzt, was er das „System der Transformationen“66 nennt, ist wiederum äußerst formal und abstrakt. Er entwirft eine komplexe mehrstufige Ordnung der Veränderungen

62 Vgl. hierzu: Dominique Lecourt (1972): Über die Archäologie und das Wissen – Über Michel Foucault. In: ders., Kritik der Wissenschaftstheorie. Marxismus und Epistemologie (Bachelard, Canguilhelm, Foucault), Berlin 1975, S. 85ff, ähnlich auch Peter Sloterdijk (1972): Michel Foucaults strukturale Theorie der Geschichte. In: Philosophisches Jahrbuch 79, S. 181. 63 Vgl. Foucault (1969), a.a.O., S. 146. 64 Vgl. Foucault (1968c), a.a.O., Bd. 1, S. 868. 65 Vgl. ebd., S. 867f. 66 Vgl. Foucault (1969), a.a.O., S. 246.

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und Brüche. Zunächst unterscheidet Foucault die einzelnen Transformationspunkte auf der Ebene des Diskurses. Dort macht er vier Ebenen von möglichen Ereignissen aus, anhand derer sich interne Veränderungen ablesen lassen sollen.67 Da die Basiseinheiten von Diskursen die seinen Formationsregeln unterliegenden Aussagen darstellen, liegt die erste Transformationsmöglichkeit zunächst auf dem Niveau der Aussagen selbst und der Besonderheit ihres Erscheinens. Des Weiteren müssen eventuelle Bewegungen auf der Ebene der Gegenstände, Aussagetypen, Begriffe und strategischen Wahlen, also in denjenigen Bereichen des Diskurses, die von spezifischen Formationsregeln bestimmt sind, registriert werden. Hinzu kommen die Formationsregeln selbst und mögliche Ableitungen neuer Regeln aus alten und schließlich das Niveau, auf dem eine diskursive Formation durch eine neue ersetzt wird und damit eine zuvor nicht da gewesene Positivität auftaucht. Dies ist der Moment, an dem die Transformationsschwelle des Diskurses überschritten ist und ein neues historisches Apriori auftaucht. An diesem Punkt erreicht nun die Analyse der Transformationen ein neues Niveau. Denn mit dem Verschwinden bzw. Auftauchen einer Positivität richtet sich der Blick des Archäologen notwendig auf andere Sorten von Transformationstypen, anhand derer das Spiel der Diskontinuitäten verfolgt werden muss. Hatte sich bisher gewissermaßen alles noch innerhalb eines historischen Apriori abgespielt, geht es nun um einen epistemischen Bruch. Die Transformationspunkte, die dazu beitragen können, liegen Foucault zufolge erneut auf vier Ebenen:68 derjenigen der verschiedenen Elemente eines diskursiven Formationssystems, der charakteristischen Beziehungen innerhalb eines Formationssystems, des Verhältnisses der einzelnen Formationsregeln untereinander und schließlich der Beziehungen der Positivitäten untereinander. Foucault wählt dieses äußerst formalistisch anmutende Modell der Transformationen, weil er zeigen will, wie sich historische Dynamiken als eine Streuung pluraler Transformationen von unterschiedlicher Intensität und Reichweite denken lassen. Geschichte wird somit zu einem Raum vielfältiger Brüche, die unterschiedlichen Ordnungslogiken folgen können. Kontinuität und Diskontinuität treten sich damit in einem Verhältnis der Gleichrangigkeit gegenüber, denn das Auftauchen einer neuen diskursiven Formation zum Beispiel soll nicht notwendig den abrupten Wechsel in ein neues Universum von Objekten, Äußerungsmodalitäten, Begriffen und Strategien implizieren, sondern es bedeutet laut Foucault ganz im Gegenteil lediglich, „[…] daß sich eine allgemeine Transformation der Beziehungen vollzogen hat, die aber nicht unbedingt alle Elemente verändert; es heißt, daß die Aussagen neuen

67 Vgl. ebd., S. 243. 68 Vgl. ebd., S. 245.

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Formationsregeln gehorchen, es heißt nicht, daß alle Gegenstände oder Begriffe, alle Äußerungen oder alle theoretischen Wahlmöglichkeiten verschwinden“.69 Damit erübrigen sich Vorstellungen von radikalen Epochenbrüchen. Foucault hofft, mit seinem Analyseraster die verschiedenen Ebenen der wenig offensichtlichen archäologischen Brüche und die Korrelationen zwischen ihnen bestimmen zu können. Was die Archäologie für die Positivität des Diskurses in seinen Binnenverhältnissen wie im Außenverhältnis zu anderen Diskursen zumindest formal angeben kann, müsste sich nun streng genommen auch auf die Beziehung zu nicht-diskursiven Bereichen ausdehnen lassen. Diese Dimension spart die „Archéologie du savoir“ allerdings weitgehend aus.

(3) Die Geschichte der Diskurse Nachdem nun die Achsen der Systeme und der Diskontinuitäten umschrieben und somit die Existenz- und Transformationsbedingungen bestimmt worden sind, fehlt noch die dritte Dimension, entlang der sich die Abfolgen des Auftauchens und Verschwindens der Diskurse in ihrer historischen Streuung verfolgen lässt. „Man hat es nun“, so schreibt Foucault, „mit einem komplexen Volumen zu tun, worin sich heterogene Gebiete differenzieren und wo sich aufgrund spezifischer Regeln Praktiken entfalten, die sich nicht überlagern können.“70 Waren bislang lediglich die Regelmengen untersucht worden, die das jeweilige historische Apriori einer bestimmten diskursiven Praxis charakterisierten, so geht es nun darum, den Raum zu durchmessen, innerhalb dessen sich die verschiedenen historischen Apriori regional und zeitlich anordnen. Diesen Raum, den die Diskursgeschichte zu beschreiben versucht, nennt Foucault Archiv: „Unter Archiv verstehe ich die Gesamtheit der tatsächlich geäußerten Diskurse; und diese Gesamtheit von Diskursen wird […] betrachtet […] als eine Gesamtheit, die weiterhin funktioniert, sich im Laufe der Geschichte transformiert, anderen Diskursen die Möglichkeit des Auftretens gibt.“71 Am Archiv muss sich also diejenige Regelmenge ablesen lassen, die sowohl die jeweiligen Möglichkeits- wie die Existenzbedingungen von Diskursen in ihrer historischen Positivität festlegt. An

69 Ebd., S. 246. 70 Ebd., S. 186. 71 Foucault (1969a): Michel Foucault erklärt sein jüngstes Buch (Michel Foucault explique son dernier livre. In: Magazine littéraire 28, avril-mai, S. 23-25); hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 1, S. 981.

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ihm muss sich letztlich zeigen – und das ist, wie oben bereits betont, ja genau das, was Foucault im Grunde interessiert –, was zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte gesagt werden kann und was nicht. Das Archiv ist das „[…] System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelne Ereignisse beherrscht“,72 oder „[…] das allgemeine System der Formation und der Transformation der Aussagen“.73 Nun kann Foucault mit Archiv freilich keine Meta-Instanz meinen, in der sich übergeordnete Regeln verbergen. Damit würde er nur auf erweiterter Stufenleiter wiederholen, was er an der globalen Geschichte infrage gestellt hat: die Unterstellung eines einheitliches Prinzips. Das Archiv zu beschreiben, soll aber gerade bedeuten, die pluralen Transformationen der Regelmechanismen zu verfolgen und dabei wiederum jeweils deren spezifische Regelmäßigkeiten und Brüche zu bestimmen. Foucault muss also weiterhin jegliche Kontinuitätsunterstellung fallen lassen. Was bedeutet dies nun für die beabsichtigte Diskursgeschichte? Sie kann die Transformationen des Archivs nur verfolgen, indem sie es zu unterschiedlichen Zeitpunkten und in unterschiedlichen Regionen untersucht. Das ist der Grund, warum Foucault in seinen historischen Untersuchungen jeweils synchrone Schnitte setzt. Die Archäologie kann nämlich immer nur versuchen, das Archiv einer bestimmten Kultur oder einer bestimmten Gesellschaft zu beschreiben und es gegebenenfalls mit einem anderen Archivzustand bzw. -ausschnitt zu vergleichen. Die Weise des Zugangs zum Archiv einer bestimmten Epoche, Kultur oder Gesellschaft ist durch die archäologische Methode vorgegeben. Er muss von außen erfolgen. Die darin versammelten Diskurse müssen in ihrer „systematischen Form der Äußerlichkeit“ analysiert werden. Foucaults Archäologie lässt, wie er immer wieder betont, keinen Raum für Interpretationen.74 Sie betrachtet historische Diskurse nicht als „Dokumente“ einer zu ergründenden Bedeutung, sondern als „Monumente“,75 indem sie diese schlicht als Dinge und Ereignisse behandelt. Das genau macht nämlich die Materialität der Diskurse aus. Sie als Dinge zu beschreiben, heißt, ihre jeweilige Verwendungsmöglichkeit und ihr Verwendungsfeld zu rekonstruieren; und als Ereignisse verweisen sie auf ihre Bedingungen und ihr Erscheinungsgebiet.76 Auf diesem Weg soll es möglich werden, zum Beispiel für eine bestimmte Epoche anzugeben, worüber etwas gesagt werden

72 Vgl. Foucault (1969), a.a.O., S. 187. 73 Vgl. ebd., S. 188 (Hervorhebung i.O.). 74 Vgl. ebd., S. 175. 75 Vgl. ebd., S. 15 bzw. S. 198. 76 Vgl. ebd., S. 186.

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kann, was darüber gesagt werden kann, wann und wo und unter welchen Voraussetzungen. Was Foucault mit dem Archiv im Auge hat, ist der Diskurs „im System seiner Institutionalisierung“.77 Die Beschreibung des Archivs muss sich daher darauf konzentrieren, diese Regeln des Sagbaren zu ergründen. Foucault geht davon aus, dass es sich dabei primär um zwei Sorten von Regeln handelt: Verknappungs- und Konzentrationsregeln. Diese sind offenbar auf recht unterschiedlichen Realitätsebenen anzutreffen. Demzufolge werden die Aussagen einerseits von einem „Gesetz der Seltenheit“ regiert, das den Raum zwischen dem, was ein Sprachsystem mit den Mitteln seines historischen determinierten Wortschatzes und seiner Grammatik formal zu sagen gestattet, und dem, was tatsächlich gesagt wird, bestimmt. Es legt die Grenze des Sagbaren gegenüber dem Feld dessen, was ausgeschlossen bleibt, fest und lokalisiert den Platz, den eine Aussage innerhalb des Formationssystems einnimmt.78 Zum anderen unterliegen die Aussagenmengen spezifischen Regeln der Häufung. Diese kommen u.a. durch die Bindung von Aussagen an materielle Träger, Techniken und Institutionen zum Tragen – Foucault spricht von „Persistenz“. Zugleich verkörpern sie aber auch unterschiedliche Formen und Modelle der Stabilisierung und Gruppierung von Aussagen („Additivität“), wie sie etwa in den spezifischen Artikulationsweisen wissenschaftlicher Disziplinen existieren. Und schließlich macht Foucault spezifische Modi des Rückgriffs auf vergangene diskursive Elemente und die Art ihrer Neuorganisation („Rekurrenz“) aus, etwa des legitimierten Zuschnitts der Vergangenheit.79 Es ist unschwer zu erkennen, dass die Archäologie der Seltenheits- und Häufigkeitsprinzipien, die innerhalb eines Archivs dominieren, auf nicht-diskursive Bereiche ausgreifen muss, da diese sich nur mit Bezug auf den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext erfassen lassen. Diese Dimension deutet Foucault allerdings lediglich an. Was er in der „Archéologie du savoir“ im Zusammenhang mit den Verknappungs- und Konzentrationsregeln weitgehend abstrakt und formalistisch vorträgt, hat er an anderer Stelle griffiger bezeichnet: als „[…] die Gesamtheit der Regeln, die in einer bestimmten Epoche und für eine bestimmte Gesellschaft […]“ gelten.80 Foucault bezeichnet sie dort als Regeln, die die Grenzen und Formen der Sagbarkeit, der Aufbewahrung, des Gedächtnisses, der Reaktivierung und der Aneignung festlegen.81 Und zumindest Letztere haben nicht nur gesellschaftliche, sondern dezidiert politische Implikationen,

77 Vgl. Foucault (1968d), a.a.O., Bd. 1, S. 902. 78 Vgl. Foucault (1969), a.a.O., S. 173f. 79 Vgl. ebd., S. 180f. 80 Vgl. Foucault (1968c), a.a.O., Bd. 1, S. 869. 81 Vgl. ebd., S. 869f.

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denn sie kreisen um die Frage: „[…] welche Individuen, welche Gruppen, welche Klassen besitzen Zugang zu diesem Diskurstypus?“82 Das Archiv, so wie Foucault es versteht, umgreift also alle drei Koordinaten des Raums der Geschichte. Allerdings lassen sich davon immer nur bestimmte Ebenen entlang der jeweils gesetzten Schnitte – etwa bezogen auf eine Epoche – analysieren. Dadurch sind seiner Beschreibung methodisch von vornherein Grenzen gesetzt. Da die, wenn auch nur hypothetisch angesetzte, hermeneutische Unterstellung einer Totalität ausgeschlossen ist, käme eine Analyse in systematischer Absicht vermutlich schon allein vom Umfang der zu berücksichtigenden Elemente, Beziehungen und Regelmechanismen nie an ihr Ende. Es liegt für Foucault daher „[…] auf der Hand, daß man das Archiv einer Gesellschaft, einer Kultur oder einer Zivilisation nicht erschöpfend beschreiben kann; zweifellos nicht einmal das Archiv einer ganzen Epoche“.83 Hinzu kommt aber noch ein weiteres Problem, auf das Foucault offen hinweist und was insbesondere Konsequenzen für die angepeilte Diagnose der Gegenwart aus der Beobachterperspektive von Relevanz ist: Es ist uns nämlich, wie Foucault ausdrücklich betont, „[…] nicht möglich, unser eigenes Archiv zu beschreiben, da wir innerhalb seiner Regeln sprechen, da es dem, was wir sagen können – und sich selbst als dem Gegenstand unseres Diskurses – seine Erscheinungsweisen, seine Existenz- und Koexistenzformen, sein System der Häufung, der Historizität und des Verschwindens gibt“.84 Die Archäologie kann ihre Diagnosefunktion nur erfüllen, indem sie einen minimalen Abstand zur Gegenwart bewahrt. Sie rückt immer nur bis zu den „[…] Diskursen, die gerade aufgehört haben, die unseren zu sein […]“ an die Gegenwart heran, und vollzieht damit einen Bruch, der es ihr erlauben soll, unsere eigene Kultur als Fremde zu betrachten, indem sie unsere Kontinuitätsvorstellungen in Zweifel zieht.85 Die Beobachterperspektive kann deshalb, wie bereits gezeigt, notwendig nur eine virtuelle, das heißt eine konstruierte sein.

Jenseits der Diskursanalyse Systeme, Diskontinuitäten, Diskursgeschichte. Der Gang durch das methodische Arsenal von Begriffen und Modellen, mit deren Hilfe Foucault eine alternative

82 Vgl. ebd., S. 870. 83 Vgl. Foucault (1969), a.a.O., S. 188f. 84 Ebd., S. 189. 85 Vgl. ebd., S. 189f.

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Geschichtskonzeption zu entwickeln beabsichtigt, sollte verdeutlichen, wie er versucht, historische Prozesse als ein mehrdimensionales Geflecht von regelgeleiteten Transformationen zu denken. Entscheidend ist, dass dabei, im Gegensatz etwa zu chronologischen oder kausalen, an ein lineares zeitliches Kontinuum angelehnten Ordnungsvorstellungen, Geschichte mit räumlichen Metaphern beschrieben wird. Geschichte ist demzufolge eine regelgeleitete Abfolge von Serien, die sich auf kein Zentrum rückbeziehen lassen, sondern sich über einen Raum verteilen, wo sie sich miteinander verketten, sich überschneiden, unterbrechen.86 Im Zentrum dieses Geschichtsverständnisses steht damit der Begriff der Dependenz, der an die Stelle der traditionellen Vorstellung von Kausalität treten soll.87 Dependenzen zeichnen sich dadurch aus, dass diese sich einerseits quer durch den historischen Raum hindurch verketten, in ihrer jeweiligen konkreten Gestalt jedoch einer spezifischen Regelhaftigkeit unterliegen sollen. Diese räumliche Konzeption von Geschichte macht es schließlich auch nachvollziehbar, warum Foucault sich so vehement gegen Sartres Unterscheidung zwischen Struktur und Dynamik,88 zwischen der synchronen Beschreibung eines Systemzustandes und dessen diachroner Einordnung in eine Prozesslogik verwahrt. Für Foucault kann es keine synchrone bzw. diachrone Ebene der Geschichte geben. Die „Opposition Struktur – Werden“ ist aus archäologischer Sicht für die „Definition des historischen Feldes“ nicht geeignet.89 Denn beide Termini unterstellen, sobald sie als Universalbegriffe auf geschichtliche Ereignisse angewandt werden, unter der Hand eine Kontinuität. Sobald Geschichte jedoch als offener Raum betrachtet wird, lassen sich Strukturen wie Dynamiken lediglich vor dem Hintergrund einer Pluralität von Diskontinuitäten denken. Veränderungen von Strukturen finden demzufolge immer an mehreren Transformationspunkten statt, deren Auswirkungen ganz unterschiedliche Reichweiten haben, dabei verschiedenen Regeln folgen und deren Verhältnisse zu anderen Regelmechanismen wiederum selbst spezifischen Regeln unterworfen sind. So entsteht besagte Streuung und Verkettung von Serien, die im Zuge vielfältiger Transformationen unter Umständen plötzlich verschwinden, während andere auftauchen. Foucault entwirft ein äußerst komplexes Geschichtskonzept. Sein Versuch, den Fallstricken einer Kontinuität unterstellenden Idee von Geschichte zu entge-

86 Vgl. Gilles Deleuze (1986): Foucault. Frankfurt/M. 1987, S. 35 (Foucault, Paris); vgl. hierzu auch Flynn (1997/2005), a.a.O., Bd. 2, S.99ff. 87 Vgl. Foucault (1968c), a.a.O., Bd. 1, S. 868. 88 Vgl. Sartre (1966), a.a.O., S. 89. 89 Vgl. Foucault (1969), a.a.O., S. 22; ähnlich ebd., S. 25.

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hen, führt ihn allerdings, trotz des demonstrativ bescheidenen Anspruchs, immer nur regional und zeitlich begrenzte historische Ausschnitte eines Archivs analysieren zu können, in methodologischer Hinsicht zu immer abstrakter und zugleich unüberschaubarer werdenden begrifflichen Differenzierungen. Es drängt sich der Verdacht auf, dass der Zuwachs an Komplexität am Ende auf Kosten der Operationalisierbarkeit des methodischen Instrumentariums gehen könnte. Denn je weiter die Analyse fortschreitet, desto mehr vervielfachen sich die Regelmechanismen: innerhalb der nach verschiedenen Regeln funktionierenden Systeme; in ihrem jeweiligen Verhältnis zu den Regeln anderer Systeme; und zu den dort geltenden Regeln zwischen den Elemente untereinander. Hinzu kommen die jeweiligen Regeln, denen unterschiedliche Transformationspunkte innerhalb unterschiedlicher Einheiten und auf unterschiedlichen Niveaus unterworfen sind. Und schließlich noch Regeln in und zwischen Regionen des Archivs. Doch neben der Gefahr eines ausufernden Untersuchungsfeldes, was in gewisser Hinsicht, wenn auch aus anderen Gründen, an das Problem erinnert, mit dem Sartres progressiv-regressive Methode angesichts einer unermesslichen Materialfülle konfrontiert ist, ergibt sich für Foucaults Geschichtskonzeption noch eine zusätzliche methodische Schwierigkeit. Er muss nämlich einerseits, aufgrund der Ablehnung einer Kontinuitätsunterstellung, davon ausgehen, dass sich das Terrain der Regeln in unterschiedlichen Dimensionen immer mehr ausweitet und pluralisiert, andererseits versucht er gerade diese Ausweitungen und Pluralisierungen selbst als regelgeleitet zu erfassen. Dreyfus/Rabinow haben mit Recht darauf hingewiesen, dass Foucault in der „Archéologie du savoir“ offenbar zwischen einem a-historischen Regelbegriff, der die Verschiebung der Regelsysteme selbst unter übergeordneten Regeln zu fassen sucht, der die Diskontinuitäten gewissermaßen überlagert, und der ontologischen Unterstellung einer grundlegenden Diskontinuität und damit einer willkürlichen, also letztlich doch ungeregelten Streuung historischer Ereignisse und Systeme schwankt.90 Beides kann Foucault aber nach dem bisher Dargestellten nicht ernsthaft annehmen. Ein a-historischer Regelbegriff würde Foucault in die Nähe des klassischen Strukturalismus geraten lassen, von dem er sich ja schon bald ausdrücklich distanziert hatte. Zugleich zielt die Archäologie aber darauf ab, „[…] das System der Transformationen aufzustellen, worin die ‚Veränderung‘ besteht […]“.91 Der Verdacht von Dreyfus/Rabinow, dass das, was Foucault als System der Transformationen zu isolieren sucht, sich auf die Beschreibung von Familienähnlichkeiten, von de-

90 Vgl. Dreyfus/Rabinow (21983), a.a.O., S. 74f. 91 Vgl. Foucault (1969), a.a.O., S. 246.

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nen im Verlauf der Geschichte einige fortdauern, während andere wegfallen und neue auftauchen, beschränkt,92 liegt daher nahe. Für die hier verfolgte Frage nach dem theoretischen Stellenwert des menschlichen Subjekts hat Foucaults mehrdimensionale Geschichtskonzeption weit reichende Konsequenzen. Hatte sich „Les mots et les choses“ darauf konzentriert, die epistemologischen Voraussetzungen der konstitutiven Rolle des Subjektes innerhalb des modernen Diskurses frei zu legen, so bemüht sich Foucault in der „Archéologie du savoir“ offensichtlich um eine generelle Beschreibung der Voraussetzungen möglicher Subjektpositionen auf der Grundlage der Formationsregeln von Diskursen. Aus archäologischer Perspektive, und das heißt von außen betrachtet, birgt der Diskurs in seiner Positivität kein ihm zu Grunde liegendes Bewusstsein, das sich in einer Sprache äußert, sondern er muss selbst als eine Praxis beschrieben werden, „[…] die ihre eigenen Formen der Verkettung und der Abfolge besitzt“.93 Dem Subjekt wird damit eine untergeordnete Position zugewiesen, die gewissermaßen exakt spiegelverkehrt zu derjenigen angeordnet ist, die es bei Sartre erhält. Während Sartre es zur Grundlage einer Praxis erklärt, die für die Existenz des Diskurses konstitutiv ist, wird das Subjekt bei Foucault zu einem bloßen Effekt, der auf den jeweils regierenden Formationsregeln eines Diskurses beruht. Die archäologische Perspektive auf das Feld der Aussagen, um diese in ihrer Ereignishaftigkeit, ihrer Regelmäßigkeit und ihren systematischen Transformationen zu analysieren, bedeutet, „[…] ein anonymes Feld zu beschreiben, dessen Konfiguration den möglichen Platz der sprechenden Subjekte definiert“.94 Es ist genau die oben beschriebene Materialität des Diskurses, die es möglich machen soll, dem Subjekt innerhalb der jeweiligen Formation eine bestimmte Position, Funktion und Artikulationsweise zuzuweisen. Um welche es sich in einem historisch konkreten Fall handelt, hängt davon ab, welche Regeln auf den Ebenen der Äußerungsmodalitäten, Gegenstände, Begriffe und Strategien sowie zwischen diesen Ebenen gelten.95 Sie bestimmen eine diskursive Praxis, innerhalb der das Subjekt seinen Ort findet. Und was er unter einer diskursiven Praxis versteht, erläutert Foucault unmissverständlich: „Sie ist eine Gesamtheit von anonymen, historischen, stets im Raum und in der Zeit determinierten Regeln, die in einer gegebenen Epoche und für eine gegebene soziale, ökonomi-

92 Vgl. Dreyfus/Rabinow (21983), a.a.O., S. 74. 93 Vgl. Foucault (1969), a.a.O., S. 241. 94 Vgl. ebd., S. 177 (Hervorhebung M.R.). 95 Vgl. ebd., S. 106.

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sche, geographische oder sprachliche Umgebung die Wirkungsbedingungen der Aussagefunktion definiert haben.“96 Damit will Foucault freilich nicht behaupten, dass die Formationsregeln der Diskurse jegliches menschliches Handeln komplett determinieren. Das ist ja bis zu einem gewissen Grad die Befürchtung Sartres. Worum es Foucault geht, ist nicht die Existenz subjektiver Freiheit prinzipiell infrage zu stellen, sondern vielmehr deren theoretischen Status. „Die Positivitäten, die festzustellen ich versucht habe,“ so Foucault ausdrücklich, „dürfen nicht als eine Menge von Determinationen begriffen werden, die sich von außen dem Denken der Individuen auferlegen oder es von innen und im vorhinein bewohnen. Sie bilden eher die Gesamtheit der Bedingungen, nach denen sich eine Praxis vollzieht, nach denen diese Praxis teilweise oder völlig neuen Aussagen Raum gibt, nach denen sie schließlich modifiziert werden.“97

Insofern hat das, was Foucault als Regelsystem einer diskursiven Praxis zu beschreiben sucht, durchaus Ähnlichkeit mit dem, was Sartre unter Situation im Sinne der Rahmenbedingungen versteht, unter denen das Subjekt handelt und die er in der „Critique de la raison dialectique“ als ‚Praktisch-Inertes‘ näher bestimmt. Der grundlegende Unterschied ist allerdings, dass Sartre noch in seiner historisch-strukturellen Anthropologie zwischen inneren, transzendentalen Voraussetzungen und äußeren empirischen Bedingungen des Handelns unterscheidet, während Foucault genau diese Grenze einreißt. Für ihn gibt es keine menschliche Freiheit, der von außen etwas auferlegt werden könnte. Es gibt nur das dezentrale Feld von Regeln und Beziehungen, innerhalb dessen sich eine Praxis vollzieht und dessen Modifikationen bzw. Transformationen nicht auf die Vorstellung eines souveränen Subjektes zurückgeführt werden können. Die Archäologie versucht nicht nur ohne die theoretische Grundlegung eines konstitutiven Subjekts auszukommen, sie beansprucht zugleich zu zeigen, welches spezifische System von diskursiven Formationsregeln historisch zum Tragen kommen muss, damit eine subjekttheoretische Grundlegung überhaupt gefordert ist. Die bisherige Darstellung hatte den Zweck zu verfolgen, inwieweit es Foucault gelingt, dieses äußerst anspruchsvolle Programm zu entfalten. Dabei hatte sich gezeigt, dass die archäologische Beschreibung immer wieder an Grenzen stößt. Auf das Komplexitätsproblem und die Unklarheit, die mit dem von Foucault verwandten Regelbegriff zusammenhängt, war bereits hingewiesen

96 Ebd., S. 171. 97 Ebd., S. 297.

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worden. Im Verlauf der Darstellung hatte sich zudem mehrfach gezeigt, dass die mit der Annahme der Materialität des Diskurses verbundene Unterstellung seiner mindestens relativen Autonomie notwendig die Frage nach dem Verhältnis zu nicht-diskursiven Bereichen aufwirft. Es konnte nicht eindeutig geklärt werden, wie Foucault etwa spezifische Regeln kenntlich machen will, die diese Art von Relationen regieren. Aus den Formationsregeln des Diskurses ließen sie sich, da sie offenbar auf andere Weise funktionieren, nicht herleiten. Zur Illustration ihrer spezifischen Funktionsweise hatte Foucault es jedoch mit Verweisen auf seine materialhaltigen historischen Arbeiten bewenden lassen. Offenbleibt damit, wie diese Regeln nun bestimmt werden könnten. Foucault schwankt offenbar auch hier. Einerseits scheint er davon auszugehen, dass dies über eine Analyse der Diskursformation erreicht werden könnte, indem sie über das bisher Geleistete hinausgetrieben wird. So formuliert er: „[…] die archäologische Beschreibung der Diskurse entfaltet sich in der Dimension einer allgemeinen Geschichte; sie versucht jenes ganze Gebiet der Institutionen, ökonomischen Prozesse und gesellschaftlichen Beziehungen zu entdecken; […] was sie ans Licht bringen will, ist die eigenartige Ebene, auf der die Geschichte begrenzte Diskurstypen verursachen kann, die ihren eigenen Typ von Historizität haben und mit einer Menge verschiedener Historizitäten in Beziehung stehen.“98

Das wäre das konsequent verfolgte Programm der „Achéologie du savoir“. Andererseits hatte sich aber insbesondere im Zusammenhang der Beschreibung der Verknappungs- und Konzentrationsregeln, die festlegen sollen, welche Aussagenmengen innerhalb einer historischen Diskursformation zugelassen sind und in welcher Häufung sie wo auftreten können, der Verdacht aufgedrängt, dass diese Regeln eine gesellschaftspolitische Dimension beinhalten. Foucault verweist selbst an einer Stelle darauf, dass die Suche nach dem „Gesetz dieser Armut“ von Aussagen in gewisser Weise ein „[…] Wägen des ‚Wertes‘ der Aussagen […] “ innerhalb einer Formation ist, und dass dieser Wert nicht allein durch den jeweiligen Platz innerhalb der „[…] Ökonomie der Diskurse, sondern in der allgemeinen Verwaltung der Ressourcen […]“99 zu bestimmen ist. Dies wäre die zweite Möglichkeit, das Verhältnis zwischen diskursiver und nicht-diskursiver Praxis zu beschreiben. Dafür muss allerdings das Postulat von der Autonomie des Diskurses aufgegeben werden. Foucault deutet an dieser Stelle der „Archéologie du savoir“ nur an, dass damit ein neues Thema ins Zentrum des Interesses

98 Ebd., S. 235. 99 Vgl. ebd., S. 175.

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rückt: das der Macht. Der Diskurs wäre dann nämlich als ein „endliches, begrenztes, wünschenswertes, nützliches Gut“ zu begreifen, das nicht nur Erscheinungsregeln, sondern auch „Aneignungs- und Anwendungsbedingungen“ unterliegt: „Ein Gut, das infolgedessen mit seiner Existenz (und nicht nur in seinen ‚praktischen Anwendungen‘) die Frage nach der Macht stellt. Ein Gut, das von Natur aus der Gegenstand des Kampfes und eines politischen Kampfes ist.“100 Was Foucault in der „Archéologie du savoir“ nur anreißt, wird in den folgenden Jahren seine Forschungsstrategie bestimmen und dieser eine gesellschaftstheoretische Ausrichtung geben. Die Archäologie des Wissens wird ergänzt durch eine Analytik der Macht.

2 S UBJEKTIVIERUNG

ALS

U NTERWERFUNG

Was zunächst nur als notwendige Ergänzung der Archäologie erschien, entpuppte sich für Foucault schon bald als das zentrale Thema seiner Forschungsbemühungen. In den 70er Jahren rückte die Macht in den Mittelpunkt seines Erkenntnisinteresses. Die mit den methodischen Mitteln der Archäologie aufwändig entwickelte Diskursanalyse wich schrittweise der Analytik der Macht. Foucault hat das oben diagnostizierte Defizit, dass sowohl den Verhältnissen zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Ordnungssystemen wie der Logik der historisch-spezifischen Verknappung und Konzentration von Aussagenmengen mit den Mitteln einer reinen Beschreibung diskursiver Ereignisse nicht beizukommen ist, selbst konstatiert und deshalb eine grundlegende Revision seines methodischen Ansatzes vorgenommen. Denn mit der „Archéologie du savoir“ war sein Unternehmen an einen Punkt gelangt, an dem er nicht mehr in der Lage war, das Verhältnis von wissenschaftlichen Diskursen zur sozialen Praxis in den Blick zu bekommen. Das wiederum war aber gerade die Stärke der frühen Arbeiten über die Geschichte des Wahnsinns und der Medizin gewesen. Rückblickend urteilte Foucault über seine archäologischen Forschungen: „[…] was in meiner Arbeit fehlte, war dieses Problem der diskursiven Ordnung, der dem Spiel des Aussagens eigenen Machtwirkungen“.101

100 Vgl. ebd. (Hervorhebungen M.R.). 101 Michel Foucault (1977): Gespräch mit Michel Foucault (Intervista a Michel Foucault. In: Alessandro Fontana/Pasquale Pasquino (Hg.), Microfisica del potere: in-

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Die Defizite der Archäologie hatten den Schritt auf das Terrain der Gesellschaftstheorie gefordert. Der Diskurs wird in das jeweilige gesellschaftliche Ordnungssystem eingebettet. Das hat freilich Konsequenzen für den bisherigen Untersuchungsgegenstand. Die mit archäologischen Mitteln anhand von Diskursregeln analysierten Wissensformen treten nun in ein unmittelbares, als wechselseitig zu beschreibendes Bedingungsverhältnis zur Macht. Foucaults Untersuchungsgegenstände sind von nun an Macht-Wissens-Komplexe. Zugleich ändert sich damit notwendig der Status des Subjektes. War dieses bislang lediglich als historisch kontingentes Erkenntnissubjekt der Moderne gefasst worden bzw. als eine Position, die sich aus den Formationsregeln des Diskurses bestimmen ließ, so tritt nun das praktische Subjekt auf den Plan. Damit ist allerdings nicht wie bei Sartre ein Handlungssubjekt gemeint. Aus der Beobachterperspektive ist es zunächst ein Objekt der Macht und insofern ein unterworfenes Subjekt. Ähnlich wie das theoretische Subjekt der Archäologie als Effekt diskursiver Formationen beschrieben werden konnte, wird es als praktisches von Foucault in den 70er Jahren weitgehend als Effekt der Macht gefasst. Mit der Ausweitung des Untersuchungsgegenstandes vom Diskurs auf dessen gesellschaftliches Umfeld geht zugleich eine methodische Verschiebung einher. Die Archäologie wird durch ein genealogisches Analyseverfahren ergänzt. Damit versucht Foucault in theoriestrategischer Hinsicht die beiden offenen Flanken der Archäologie zu schließen. Die Genealogie beansprucht einerseits als Genealogie der Macht eine Rekonstruktion der Entstehung historisch spezifischer Macht-Wissens-Komplexe. Sie soll also in der Lage sein, den Bereich nicht-diskursiver Praktiken ins Blickfeld zu bekommen. Andererseits liefert die Genealogie damit den Neuansatz einer Geschichtskonzeption und insofern eine zweite Antwort auf Sartres Problem der historischen Übergänge. Hatte die „Archéologie du savoir“ noch mit großem methodologischen Aufwand versucht, eine komplexe Pluralität lokaler Transformationsregeln auszumachen, um eine Diskursgeschichte schreiben zu können, so beansprucht Foucault nun, die spezifische Erscheinungsgeschichte von historischen Positivitäten in ihrer Verschränkung mit diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken unter dem Blickwinkel der Macht nachzuzeichnen. Im Weiteren soll nun dieser veränderte Theorieansatz untersucht werden. Damit wird allerdings nicht der Anspruch auf eine lückenlose Rekonstruktion der Theorieentwicklung erhoben. Wie bereits erwähnt, hat Foucault im Laufe der Jahre immer wieder kleinere Korrekturen und feine Begriffsverschiebungen vor-

terventi politici, Turin 1977, S. 3-28), hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 3, S. 191.

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genommen, was zum Teil sogar über den Umweg einer Selbstinterpretation seiner früheren Arbeiten erfolgte. Diese können im Rahmen dieser Arbeit nicht im Detail nachvollzogen werden. Die weitere Darstellung folgt einem systematischen Interesse. Es sollen die Grundlinien nachgezeichnet und diskutiert werden, die Foucaults Machtanalytik der 70er Jahre weitgehend bestimmen. Im Vordergrund steht dabei die Frage, mit welchen methodischen Mitteln Foucault seinen Machtbegriff entwickelt und welche diagnostische Funktion dieser für das Verständnis gesellschaftlicher Prozesse haben kann. Zu diesem Zweck wird, wo es hilfreich erscheint, um eventuelle Unschärfen zu präzisieren, auch auf spätere Texte ausgegriffen. Schwerpunktmäßig konzentriere ich mich aber zunächst auf den Zeitraum bis in die späten 70er Jahre, also bis zu dem Zeitpunkt, an dem Foucault den Begriff der Regierung einführt und damit eine weitere methodisch prägnante Verschiebung vornimmt, die ihn auf das Feld der Ethik und einer Geschichte der Subjektivität leiten wird. Insofern halte ich mich an eine werkhistorische wie methodologische Einteilung, wie sie nicht nur in der Forschungsliteratur verbreitet ist,102 sondern auch von Foucault selbst retrospektiv vorgenommen wurde.103 Mit dem Ziel einer methodischen Rückversicherung wird zunächst zu klären versucht, welche forschungsstrategische Funktion die Genealogie innerhalb der Foucaultschen Machtanalytik erhält und welcher Geltungsanspruch damit verbunden ist. Vor diesem Hintergrund werden anschließend die Grundzüge des Machtbegriffs anhand verschiedener, von Foucault angebotener, aber nicht immer miteinander kongruenter Modelle entfaltet. Die leitende Fragestellung dabei ist, welcher Status dabei jeweils dem Subjekt zugewiesen wird.

102 Vgl. etwa Kögler (22004), a.a.O.; ebenso Arnold I. Davidson (1986): Archaeology, Genealogy, Ethics. In: David Couzens Hoy (Hg.), Foucault: A Critical Reader, Oxford/New York, S. 221-233; Rudi Visker (1991): Michel Foucault. Genealogie als Kritik, München; Wolfgang Detel (1998): Macht, Moral, Wissen. Foucault und die klassische Antike, Frankfurt/M., S. 13ff; eine etwas weiter ausdifferenzierte Phasenunterscheidung nimmt, aufgrund seines Interesses, die jeweiligen theoretischen Verschiebungen nachzuzeichnen, dagegen Lemke vor. Vgl. Thomas Lemke (1997): Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Hamburg. 103 Vgl. Foucault (1984), a.a.O., S. 10f.

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Erste methodologische Verschiebung: Der Einsatz der Genealogie Den methodischen Schwenk von der Diskursanalyse zur Machtanalytik hat Foucault mit zwei Texten zu Beginn der 70er Jahre eingeleitet. In seiner Antrittsvorlesung am Collège de France präsentierte er 1970 unter dem Titel „L’ordre du discours“ ein Forschungsprogramm, das zwar in gewisser Hinsicht an die Thematik der archäologischen Diskursanalyse anknüpft, jedoch dadurch eine neue Ausrichtung erfährt, dass er ihm eine nietzscheanische Wendung gibt. Foucault analysiert das Problem der Verknappungs- und Konzentrationsregeln des Diskurses nun aus der Perspektive eines auf der Ebene von sozialen Praktiken anzusiedelnden Willens zur Wahrheit.104 Den Versuch einer methodischen Grundlegung dieses Ansatzes unternimmt er ein Jahr später in dem Aufsatz „Nietzsche, la généalogie, l’histoire“.105 Damit hatte er die beiden oben angerissenen Schwachpunkte der Archäologie ins Visier genommen. Während er den Untersuchungsgegenstand in der Antrittsvorlesung dezidiert um eine gesellschaftstheoretische Dimension erweitert, entwirft er im Nietzsche-Aufsatz ein genealogisches Geschichtskonzept. Die gesellschaftstheoretische Orientierung, die seinem Neuansatz zu Grunde liegt, machte Foucault in seiner Antrittsvorlesung gleich zu Beginn unmissverständlich klar: „Ich setze voraus, daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen.“106

Die begriffliche Verschiebung scheint zunächst minimal zu sein, denn im Grunde hatte ja auch schon die „Archéologie du savoir“ die nicht-diskursiven Praktiken und deren Wirkung auf den Diskurs, wenn auch, wie gesehen, auf unbefrie-

104 Vgl. Foucault (1971), a.a.O., S. 11. 105 Vgl. Michel Foucault (1971a): Nietzsche, die Genealogie, die Historie (Nietzsche, la généalogie, l’histoire. In: Hommage à Jean Hyppolite, Paris, S. 145-172); hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 2, S. 166-191. 106 Vgl. Foucault (1971), a.a.O., S. 7.

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digende Weise thematisiert.107 Der Unterschied ist allerdings, dass Foucault nun beansprucht, die gesellschaftlichen Mechanismen zumindest strukturlogisch beschreiben zu können. Dazu führt er zwei Analysestrategien vor. Zum einen hält er an dem Anspruch fest, die Archäologie auf das Terrain der Gesellschaft ausweiten zu können. Da das in den materialen Arbeiten angewandte Verfahren jedoch bislang methodisch ungenügend reflektiert geblieben war, stellt Foucault ihm nun zum anderen die Genealogie an die Seite. Unter diesen beiden Perspektiven gelte es nun die grundlegenden Formen der Kontrolle, Selektion, Organisation und Kanalisierung der Diskurse in einer Gesellschaft, also deren Verknappungs- und Konzentrationsregeln, zu beschreiben. Foucault fasst sie unter drei Regelgruppen, die sich den Oberbegriffen Ausschließungssysteme, Ordnungsprinzipien und Zugangsbedingungen zuordnen lassen. Die Systeme der Ausschließung regeln dabei über externe Mechanismen, welches thematische Feld in einem Diskurs zugelassen ist. Drei Formen macht er aus, die auf den Diskurs einwirken. In einer Gesellschaft wird über Normen und Verhaltenskodices vorgeschrieben, was erlaubt und was verboten ist. Es existieren zudem jeweils gesellschaftlich und kulturell spezifische Unterscheidungen von vernünftig und unvernünftig. Diesen Aspekt hatte Foucault ausführlich in der „Histoire de la folie“ behandelt. Und schließlich wird der Diskurs von dem Oppositionspaar wahr/falsch dominiert, das heißt, sie unterliegen dem Zwang, entsprechend vorgegebener Kriterien wahre Aussagen zu produzieren.108 Neben dieser über die externen Ausschließungsmechanismen auf den Diskurs einwirkenden Dimension der sozialen Macht isoliert Foucault zusätzlich interne Ordnungsprinzipien. Diese Art der Verknappungs- und Konzentrationsregeln waren bereits Gegenstand der archäologischen Diskursanalyse gewesen. Foucault fasst sie nun als die Prinzipien des Kommentars, des Autors und der Disziplin. Sie alle haben die Funktion, die Aussagen nach diskursinternen Vorgaben zu bündeln und zu hierarchisieren und damit einzugrenzen. So beziehen sich Kommentare auf „große Erzählungen“ von als allgemein gültig anerkannten Primärtexten und schaffen somit

107 Es soll an dieser Stelle nicht erneut auf den Diskursbegriff eingegangen werden, der in der Form, wie Foucault ihn in der Antrittsvorlesung verwendet, äußerst unklar zu sein scheint und, was die begriffliche Präzision angeht, noch unter das in der „Archéologie du savoir“ erreichte Niveau zurückfällt. Verschiedene Autoren haben auf die lebensphilosophischen Implikationen hingewiesen, die der Antrittsvorlesung insgesamt zu Grunde liegen dürften; vgl. etwa Honneth (1986), a.a.O., S. 170, Kögler (22004), a.a.O., S. 76, Lemke (1997), a.a.O., S. 52. Für die hier verfolgte Fragestellung ist dieser Aspekt allerdings von untergeordnetem Interesse. 108 Vgl. Foucault (1971), a.a.O., S. 7ff.

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ein „Gefälle zwischen den Diskursen“.109 Das Autorprinzip sorgt dafür, dass die Sprache auf ein Zentrum bezogen wird, das als Identität eines Subjektes dem Diskurs Einheit und Bedeutung verleiht.110 Und schließlich organisiert die Disziplin, auf welche Weise etwas gesagt bzw. nicht gesagt werden kann. Sie legt unabhängig vom Sprecher/Autor die Objekte des Diskurses sowie die zugelassenen Methoden, Regeln, Axiome und Techniken fest und damit die Bedingungen für die Konstruktion einer Aussage.111 Während sich die Ausschließungssysteme aus den jeweiligen sozialen Praktiken herleiten, folgt die Eingrenzungsfunktion also einer diskursinternen Ordnung. Damit ist Letztere freilich gesellschaftlicher Machtmechanismen nicht enthoben. Foucault illustriert dies anhand der Institutionen, an die sich die Zugangsbedingungen knüpfen. Sie legen in Form von Qualifikationen, die auf jeweils unterschiedliche Arten erworben werden müssen, den Kreis der befugten Sprecher/Autoren sowie den Gebrauch des diskursiven Wissens in einer Gesellschaft fest.112 Worauf Foucault hier zielt, ist unmissverständlich: Das Selbstverständnis der modernen Wissenschaften ist eine Manifestation der Macht. Im Grunde tauchen im „Ordre du discours“ also die aus der „Archéologie du savoir“ vertrauten Themen auf und es erscheint zunächst fraglich, worin, trotz einiger Umgruppierungen und begrifflichen Verschiebungen innerhalb des Feldes der Verknappungs- und Konzentrationsregeln des Diskurses, nun ein forschungsstrategischer Fortschritt zu erwarten wäre. Deutlich wird dies in der Tat erst über die genealogische Perspektive, mit der Foucault seinen diskursanalytischen Raster anreichert. Die Macht wird nun nämlich nicht mehr allein über die Wirkung diskursexterner und -interner Regelmengen beschrieben, sondern der Analyseblick richtet sich direkt auf ihre Entstehungsgeschichte, auf die Genealogie der Macht. Im Zentrum des Untersuchungsinteresses steht deshalb das Verhältnis von Wahrem und Falschem, wie es sich als eines der Ausschließungssysteme dem Diskurs extern auferlegt und damit Erfahrungsmöglichkeiten jeweils historisch begrenzt. Foucault geht davon aus, dass sich im Laufe der westlichen Kulturgeschichte seit der Antike die Problematik der Wahrheit in den Vordergrund geschoben hat und damit die übrigen externen und in Konsequenz somit auch die internen und institutionellen Regelmechanismen dominiert und strukturiert.113 Hatte die Archäologie bislang diese Diskursgeschichte als serielle

109 Vgl. ebd., S. 16. 110 Vgl. ebd., S. 19. 111 Vgl. ebd., S. 21f. 112 Vgl. ebd., S. 25ff. 113 Vgl. ebd., S. 10ff.

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Abfolge der Transformation von Regelverhältnissen zu beschreiben versucht, so analysiert Foucault sie nun aus der Perspektive der Macht als die Durchsetzung des „Willens zur Wahrheit“.114 Mit dieser Unterstellung eines Willens zur Wahrheit hat Foucault das Terrain der Diskursanalyse überschritten und die gesellschaftstheoretische Dimension sozialer Praktiken erreicht. Doch was er durch die begriffliche Erweiterung gewinnt, nämlich die Möglichkeit, die diskursiven Mechanismen in einem neuen Verhältnis zur Macht zu denken, birgt zugleich die Gefahr eines Rückfalls hinter seinen bisher entwickelten Geschichtsbegriff in sich. Die Flankierung der Archäologie durch einen die abendländische Geschichte durchlaufenden Willen zur Wahrheit erweckt auf den ersten Blick den Eindruck, es werde ein überhistorisches Prinzip, also ebenfalls eine ‚große Erzählung‘ eingeführt. Damit aber hätte Foucault, wenn auch mit anderen Mitteln, genau das installiert, was er an Sartre und den ‚dunklen Synthesen‘ der traditionellen Geschichtsauffassung kritisiert: die Idee einer wie auch immer gearteten Kontinuität. Das ist freilich nicht Foucaults Intention. Ebenso wie der Archäologe muss auch der Genealoge weiter strikt an der virtuellen Beobachterperspektive festhalten können. Der Analyseraster darf insofern auch im Falle der Genealogie nur ein experimenteller sein, der von außen versucht, die Regelmechanismen als Machtmechanismen zu erfassen. Die dem Untersuchungsgegenstand intern sich stellenden Geltungsfragen werden dabei ausgeklammert. Foucault betont dies ausdrücklich: „Gewiß, auf der Ebene eines Urteils innerhalb eines Diskurses ist die Grenzziehung zwischen dem Wahren und dem Falschen weder willkürlich noch veränderbar, weder institutionell noch gewaltsam. Begibt man sich aber auf eine andere Ebene, stellt man die Frage nach jenem Willen zur Wahrheit, der seit Jahrhunderten unsere Diskurse durchdringt, oder fragt man allgemeiner, welche Grenzziehung unseren Willen zum Wissen bestimmt, so wird man vielleicht ein Ausschließungssystem (ein historisches, veränderbares, institutionell zwingendes System) sich abzeichnen sehen.“115

Der Wille zur Wahrheit hat demnach für Foucault die Funktion einer Erschließungskategorie. Inwieweit die Genealogie auf diesem Weg in der Lage ist, die Beobachterperspektive tatsächlich durchzuhalten, darauf wird noch näher einzugehen sein. Zuvor muss aber noch geklärt werden, wie Foucault das Verhältnis von Archäologie und Genealogie zueinander konzipiert. Im „Ordre du discours“ wird es weitgehend dadurch bestimmt, dass die in der „Archéologie du savoir“

114 Vgl. ebd., S. 13. 115 Ebd., S. 11 (Hervorhebung M.R.).

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umrissenen Bereiche des Archivs nun über zwei sich gegenseitig ergänzende Analysestrategien erschlossen werden sollen. Beiden liegen laut Foucault vier methodische Grundsätze zu Grunde, die er bereits in variierenden Formulierungen für die Diskursanalyse in Anspruch genommen hatte. Er nennt sie nun die Prinzipien der Umkehrung, der Diskontinuität, der Spezifität und der Äußerlichkeit.116 Die Differenzierung, die Foucault damit bezweckt, scheint allerdings noch provisorisch zu sein, da es den Grundsätzen an einer klaren thematischen Abgrenzung zueinander mangelt. In groben Zügen lassen sich ihnen folgende bekannte Thematiken der Archäologie zuordnen. Das Prinzip der Umkehrung fordert einen Wechsel der Untersuchungsperspektive. Demnach dürfen Diskurse nicht als Repräsentanten einer kontinuierlichen Abfolge stabiler Bedeutungen gelesen werden, sondern als restriktive Regelsysteme, die diese in ihrer historischen Ereignishaftigkeit erst konstituieren. Mit dem Prinzip der Diskontinuität verwahrt er sich gegen die Annahme, dass es jenseits der Diskursregeln einen unterdrückten universalen Sinn geben könnte, der zu Tage gefördert werden müsse. Diskurse sind als diskontinuierliche Praktiken zu verstehen, die sich in Serien miteinander verketten und sich dabei sowohl gegenseitig ausschließen wie partiell überlappen können. Das Prinzip der Spezifizität verlangt, dass aufgrund der Tatsache, dass Diskurse keine Bedeutungsinhalte einer objektiven Welt spiegeln, diese als jeweilige Form regelgeleiteter Zurichtung der Welt aufgefasst werden müssen. Und das Prinzip der Äußerlichkeit besteht darin, dass Diskurse nicht auf einen in ihrem Innern verborgenen Inhalt, sondern auf ihre äußeren Möglichkeitsbedingungen hin untersucht werden, also Geltungsfragen ausgeklammert bleiben müssen. Interessant an dieser modifizierten Aufzählung der methodischen Grundsätze einer virtuellen Beobachterperspektive ist nun Foucaults Zuordnung zur archäologischen bzw. genealogischen Analysestrategie. In das Aufgabenfeld der Archäologie – Foucault spricht im „Ordre du discours“ von „Kritik“117 – fällt lediglich das erste methodologische Prinzip der

116 Vgl. ebd., S. 35ff. 117 In der Forschungsliteratur herrscht Uneinigkeit über den methodologischen Status der „Kritik“ im „Ordre du discours“. Während Kögler sie als Synonym für Foucaults archäologisches Verfahren fasst (vgl. ders. (22004), a.a.O., S. 79), interpretiert sie Saar als Variante der Genealogie; vgl. Martin Saar (2007): Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault, Frankfurt/M., S. 197. Foucaults Differenzierung ist in der Tat nicht ganz klar, zumal er auch die diskursinternen Verknappungsregeln zum Teil mit einem der Genealogie entlehnten Vokabular beschreibt. Da der Kritikbegriff sich m.E. aber weitgehend auf den Bereich bezieht, der in der „Archéologie du savoir“ mit den Formationsregeln des Dis-

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Umkehrung. Es soll weiterhin die diskursimmanenten Regelmechanismen erhellen und damit „[…] die Formen der Ausschließung, der Einschränkung, der Aneignung […]“ in ihren historisch unterschiedlichen Erscheinungsweisen. Die drei anderen Grundsätze verlagert Foucault hingegen auf das Terrain der neu eingeführten Genealogie.118 Damit werden sämtliche Themen, die die Archäologie nur unbefriedigend lösen konnte, also die Frage der Übergänge von einer Diskursformation zur anderen, die Art des thematischen und objektivierenden Zugriffs des Diskurses auf die Welt bzw. generell sein Verhältnis zu nicht-diskursiven Praktiken und damit auch zu einem wesentlichen Aspekt seiner Existenzbedingungen, an Formen sozialer Macht gebunden. Sie unterliegen einem Willen zur Wahrheit. Die Genealogie erhält also ein nicht zu unterschätzendes Gewicht. Ihr fällt die Aufgabe zu, die diskursexternen Kräfte der Entstehung diskursiver Formationen zu rekonstruieren. Damit legt sich Foucault das methodologische Rüstzeug zurecht, um die gesellschaftstheoretisch relevant werdenden Verflechtungen von Wissen und Macht zu analysieren. Um dies leisten zu können, bleibt die archäologische Kritik allerdings unverzichtbar. Foucault etabliert zwischen Archäologie und Genealogie eine Art Arbeitsteilung: „Die Kritik analysiert die Prozesse der Verknappung, aber auch der Umgruppierung und Vereinheitlichung der Diskurse; die Genealogie untersucht ihre Entstehung, die zugleich verstreut, diskontinuierlich und geregelt ist.“119 Zugleich räumt er allerdings ein, dass diese beiden Vorgehensweise nur schwer voneinander zu trennen sind. Dies hängt schon damit zusammen, dass in dem Moment, in dem die Machtperspektive eingeführt wird, auch die internen Regelmechanismen des Diskurses nicht mehr isoliert als reine Formationsregeln betrachtet werden können, da sie – und das hatte ja bereits die „Archéologie du savoir“ gezeigt – immer mit diskursexternen Bereichen korrelieren. Die Arbeiten der 70er Jahre, die unter dem Obertitel einer Analytik der Macht zusammengefasst werden können, belegen genau dies. Sie zeichnen minutiös die Korrelationen zwischen Wissen und Macht nach. Auch wenn dort stellenweise das genealogische Moment zu dominieren scheint, bleiben beide Zugangsweisen erhalten. Voneinander trennen lassen sie sich nur mit erheblichem analytischen Aufwand. Foucault hatte den „Ordre du Discours“ als Entwurf eines Forschungsprogramms präsentiert und darin also sowohl methodologische wie thematische Er-

kurses beschrieben wurde, wird er von mir im Sinne von „archäologischer Kritik“ verwendet. 118 Vgl. Foucault (1971), a.a.O., S. 41. 119 Ebd., S. 45.

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weiterungen seines bisherigen Unternehmens vorgenommen. Beides wurde darin nur skizzenhaft angerissen und musste insofern unbefriedigend bleiben. Der Ausgriff auf die Dimension gesellschaftlicher Machtverhältnisse war zwar notwendig geworden, um sich aus der theoretischen Sackgasse herauszumanövrieren, in die die „Archéologie du savoir“ geführt hatte, doch das Verhältnis von Wissen und Macht, das über den Analyseraster eines Willens zur Wahrheit erfasst werden soll, blieb zunächst ein äußerliches. Ihre konstitutive Verschränkung, die Foucault in seinen späteren Arbeiten nachzuweisen sucht, ist in der Antrittsvorlesung noch nicht gegeben. Die Macht scheint in nicht recht geklärter Weise von außen auf den Diskurs einzuwirken. Daran kann auch die herangezogene genealogische Methode nichts ändern, die ohnehin nur programmatisch eingeführt wird. Deren theoretische Voraussetzungen bleiben daher zunächst noch weitgehend im Dunkeln. Einen Versuch, diese zu explizieren hat Foucault ein Jahr später in besagtem Aufsatz „Nietzsche, la généalogie, l’histoire“ unternommen. Bemerkenswert an diesem Text ist, dass Foucault darin offensichtlich suggerieren will, dass eine zeitgemäße gesellschaftskritisch auftretende Genealogie sich mit einem affirmativen Rückgriff auf Nietzsche begnügen könne. Insofern präsentiert er sich weniger als Nietzsche-Interpret denn als eine Art Nachlassverwalter, der gedenkt, dessen Programm einfach fortzuschreiben. Das darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass Foucault, trotz aller Apologetik, durch die geschickte Montage von Zitaten und Paraphrasierungen sein eigenes Genealogie-Modell entwirft.120 Der Nietzsche-Aufsatz ist im Grunde ein zweiter Anlauf, um sich von der traditionellen Geschichtsschreibung abzusetzen und einen neuen Alternativvorschlag zu unterbreiten. Wie schon in der „Archéologie du savoir“ unterzieht Foucault, nur diesmal unter Berufung auf Nietzsche, das unreflektierte Operieren mit Allgemeinbegriffen, also die Fabrikation jener ‚dunklen Synthesen‘ in der Tradition einer Geschichtshermeneutik, einer radikalen Kritik.121 Im Visier hat er erneut die Unterstellung einer Kontinuität und den damit verbundenen Glauben an eine auf einen einheitlichen Ursprung zurückführbare Teleologie der Ge-

120 Zur Legitimität von Foucaults Nietzsche-Deutung in diesem Aufsatz vgl. kritisch dazu Saar (2007), a.a.O., S. 198ff. 121 Welches methodologische Gewicht Nietzsche hier zugeschrieben wird, lässt sich auch daran bemessen, dass der Archäologe Foucault ihn in einem Vortrag von 1964 noch der modernen Tradition der Hermeneutik zugerechnet hatte. Vgl. Michel Foucault (1967a): Nietzsche, Freud, Marx (Nietzsche, Freud, Marx. In: Cahiers de Royaumont 6, Paris, S. 183-200); hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 1, S. 727742.

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schichte. Die epistemologischen Unzulänglichkeiten der modernen Ursprungsidee, die Foucault in „Les mots et les choses“ aufgewiesen hatte, werden nun allerdings mit genealogischen Mitteln als Ausdruck eines Willens zur Macht gedeutet. Hinter der Suche nach einem Ursprung, die nichts anderes als die Unterstellung überzeitlich gültiger Begriffe, eines Wesens, einer Identität oder zumindest einer Form beinhaltet, verbergen sich Machtverhältnisse. Die Ideen der Vernunft, der Wahrheit oder der Freiheit sind demzufolge willkürliche Konstrukte oder, wie Foucault, Nietzsche, zitierend bezüglich der Freiheit urteilt, eine „‚Erfindung herrschender Stände‘“.122 Die vornehmste Aufgabe einer genealogischen Kritik bestehe deshalb darin, die Geschichte von sämtlichen metaphysischen und anthropologischen Identitäten zu befreien.123 Das Projekt der Genealogie wird als ein anti-metaphysisches, anti-substanzialistisches Geschichtsmodell präsentiert. Angepeilt ist, ähnlich wie in der „Archéologie du savoir“, ein plurales, dezentriertes Geschichtsverständnis, allerdings mit dem Unterschied, dass an die Stelle einer räumlich zu beschreibenden Diskursgeschichte nun eine Genealogie der Machtverhältnisse treten soll. Foucault entfaltet diese Geschichtskonzeption, indem er die kritisierte Ursprungsidee durch zwei begrifflich miteinander verschränkte Modelle zur Rekonstruktion historischer Transformationen ersetzt: Herkunft und Entstehung. Das Herkunftsmodell beschreibt ungefähr das, was die Archäologie als die räumliche Verteilung der Serien und Transformationsbeziehungen zu fassen versuchte. Insofern liefert es, abgesehen von der veränderten Terminologie, noch nichts wesentlich Neues. Die Genealogie der Herkunft soll die zahlreichen Spuren und Ereignisse nachzeichnen, die eine historische Positivität in ihrer Komplexität wie ein Netz umspannen.124 Mit dem Begriff der Herkunft verbinden sich somit zwei bereits bekannte, gegen ein traditionelles Geschichtsverständnis opponierende Konsequenzen. Sämtliche Allgemeinbegriffe werden als Repräsentanten von „leeren Synthesen“125 entlarvt und in ihrer geschichtlichen Gewordenheit darstellbar, denn: „Die Erforschung der Herkunft schafft keine sichere Grundlage; sie erschüttert, was man für unerschütterlich hielt; sie zerbricht, was man als eins

122 Vgl. Foucault (1971a), a.a.O., Bd. 2, S. 169 (Hervorhebung i.O.; Übersetzung korrigiert/M.R.); vgl. auch Friedrich Nietzsche (1886): Menschliches, Allzumenschliches II. Der Wanderer und sein Schatten § 9. In: Kritische Studienausgabe, Bd. 2, a.a.O., S. 545. 123 Vgl. Foucault (1971a), a.a.O., Bd. 2, S. 186. 124 Vgl. ebd., S. 172. 125 Vgl. ebd.

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empfand; sie erweist als heterogen, was mit sich übereinzustimmen schien.“126 Und damit unterliegt nicht zuletzt auch die Identität eines ‚Ich‘ der genealogischen Zersetzung, denn auch das Subjekt-Ich ist eine rekonstruierbare historisch gewordene Konstruktion der Macht. Zugleich verschiebt der Genealoge den Analyseblick weg von abstrakten Idealen auf die vielschichtigen Ebenen einer handfesten Materialität – der Körperlichkeit, der Konflikte wie sie in der Historie in Erscheinung treten. Auch das ließe sich zur Not noch mithilfe des archäologischen Instrumentariums darstellen. Entscheidend für Foucaults genealogischen Theorieumbau ist das Modell der Entstehung. Denn damit wird das Auftauchen einer historischen Entität, das sich entlang der multiplen Herkunftsfäden rekonstruieren lässt, zugleich als Resultat eines Kampfes gelesen. Die Geschichte wird damit zur Abfolge von Kräfteverhältnissen, in der die Ereignisse die Spuren von Gewalt und Überwältigung an sich tragen. Die Analyse der Entstehung muss daher aufzeigen, „[…] wie diese Kräfte aufeinander einwirken, wie sie miteinander streiten […]“.127 Es sind also erst die Analyse der Entstehung und das ihr zu Grunde liegende Modell des Kampfes, die für die Genealogie das Thema der sozialen Macht erschließen lassen. Damit ist aber schlagartig ein Analyseraster eingeführt, der Foucault eine kohärente Beschreibung der Geschichte erlaubt und den er bis weit in die 70er Jahre als „Hypothese Nietzsches“ fruchtbar zu machen versucht: die Dynamik des Krieges und der Schlacht.128 Die Kriegshypothese dient ihm zugleich als Vehikel, um seine methodische Infragestellung von Universalbegriffen auf neue Weise zu rechtfertigen. Sie verschafft der Genealogie der Herkunft einerseits zusätzliche Intelligibilität, andererseits lässt sie die Konstruktionen ‚dunkler Synthesen‘ nicht mehr nur als das unschuldige, wenn auch irrtümliche Bestreben nach objektiver Erkenntnis erscheinen, sondern diese werden selbst zu einem handfesten Ausdruck des Willens zur Macht. Damit gelingt Foucault erstmals, wenn auch zunächst nur in groben Umrissen, was er bereits in der Antrittsvorlesung unter der Hand unterstellt hatte: einen Konnex zwischen Wissen und Macht zumindest ansatzweise plausibel zu machen. Der Wille zur Wahrheit manifestiert sich als Überwältigung und Bemächtigung der Diskursregeln durch die Durchsetzung einer wirkmächtigen Deutung. „Wenn aber“, so Foucault, „Deuten heißt, sich mit Gewalt und List eines Regelsystems zu bemächtigen, das in sich keine Wesensbedeutung trägt, und es in den Dienst eines neuen

126 Ebd., S. 173. 127 Vgl. ebd., S. 175. 128 Vgl. Foucault (1996), a.a.O., S. 33.

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Willens zu stellen, in ein anderes Spiel einzubringen und es anderen Regeln zu unterwerfen, dann ist das Werden der Menschheit eine Abfolge von Deutungen. Und die Genealogie muss deren Historie sein: Geschichte der Moralvorstellungen, der Ideale, der metaphysischen Begriffe, des Begriffs der Freiheit oder des asketischen Lebens, jeweils als Entstehung andersartiger Deutungen. Und sie muss diese Deutungen wie Ereignisse im Theater des Gerichts erscheinen lassen.“129

Die Geschichte der Wahrheit ist somit aus der Perspektive einer Genealogie der Macht zu schreiben. Denn die Gültigkeit einer Interpretation hängt davon ab, wer über die Deutungshoheit verfügt. Die Genealogie geht damit über das bisher entworfene archäologische Geschichtsverständnis hinaus. Denn sie verlangt nicht nur die Auflösung der Allgemeinbegriffe und Identitäten im Dienst einer radikalen Historisierung, indem sie „[…] alles, was am Menschen als unsterblich galt, wieder dem Werden zu [führt/M.R.] […]“,130 sondern zudem die Beschreibung der Ereignisabfolgen als eine Umkehrung von Kräfteverhältnissen.131 Das hat freilich Folgen für das methodologische Selbstverständnis des Historikers. Denn anders als im Fall der Archäologie stellt sich nun nicht mehr nur die Frage nach der epistemologischen Rechtfertigung des angewandten analytischen Instrumentariums. Mit dem Auftauchen der Thematik der Macht und ihres Verhältnisses zu Wissen und Wahrheit kann es für den Genealogen per se keine Position jenseits davon geben. Der Blick auf die Historie ist daher nicht nur in erkenntnistheoretischer Hinsicht an einen historischen Standort gebunden, sondern zugleich strategisch-praktisch innerhalb einer bestimmten Machtkonstellation situiert. Um diesem Netz von theoretisch-praktischen Bedingungen wenigstens partiell zu entkommen, sieht Foucault die Aufgabe des Historikers in der Durchführung von drei forschungsstrategischen Operationen der Destruktion: die „realitätszersetzende Parodie“ zur Entlarvung sämtlicher Allgemeinbegriffe als willkürliche Konstruktionen, deren „identitätszersetzende Auflösung“ durch ihre Zerlegung und Neugliederung sowie das „wahrheitszersetzende Opfer“ durch die Suspendierung des neutralen Erkenntnissubjekts.132 Damit ist jedoch erneut die Frage nach der prinzipiellen Möglichkeit, einen Beobachterstatus einzunehmen, gestellt. Denn anders als im Falle der Archäologie, mit der Foucault seinen experimentellen Positivismus unter Verweis auf eine methodisch kontrollierte Distanzierungsbewegung zumindest mit einer intersubjektiven Rückversicherung

129 Foucault (1971a), a.a.O., Bd. 2, S. 178. 130 Vgl. ebd., S. 179. 131 Vgl. ebd., S. 180. 132 Vgl. ebd., S. 186.

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ausstattete, zieht er sich mit der Genealogie nun gezielt auf einen parteiischen Standort zurück. Unter Berufung auf Nietzsche fordert er einen forschungsstrategischen Perspektivenwechsel ein, der nicht nur in Abgrenzung zum Objektivitätsanspruch der traditionellen Wissenschaft ein Senken des Blicks von den Weiten und Höhen einer globalen Geschichte auf die Niederungen der Materialität und der alltäglichen Kämpfe verlangt. Die „wirkliche Historie“ muss sich den Dingen „aus nächster Nähe“ zuwenden, „[…] doch dann reißt sie sich“ – zum Zweck einer Diagnose zugleich – „von ihnen los, um sie aus der Distanz zu betrachten […]“.133 Foucault vollzieht also auch hier erneut den Schwenk in die virtuelle Beobachterperspektive, im Unterschied zur Archäologie allerdings unter dem ausdrücklichen Verweis, dass es keinen neutralen Standort geben kann. Was der Genealoge zu Tage fördert, ist deshalb ein „perspektivisches Wissen“, das sich seiner „Ungerechtigkeit“134 bewusst sein muss. Darin liegt der historische Sinn des Genealogen. Er „[…] gibt dem Wissen die Möglichkeit, innerhalb eines Erkenntnisprozesses die eigene Genealogie zu ergründen. Die ‚wirkliche Historie‘ betreibt an dem Ort, an dem sie steht, die Genealogie der Historie“.135

Der Perspektivismus der Beobachterposition Mit dem Einsatz der Genealogie begibt sich Foucault bereitwillig ins politischtheoretische Handgemenge der Gegenwart. Der perspektivische Ansatz wird offen als parteiischer ausgestellt. Wenige Jahre später fasst Foucault das Verhältnis von Archäologie und Genealogie sogar unumwunden als eines von Methode und Taktik.136 Die Wühlarbeit des Genealogen konzentriere sich darauf, den Konnex zwischen herrschendem Diskurs und den unterdrückten Wissensarten herzustellen, „[…] eine Verbindung, die es ermöglicht, ein historisches Wissen der Kämpfe zu erstellen und dieses Wissen in aktuelle Taktiken einzubringen“.137 Die forschungsstrategische Operation ist also eine doppelte: Foucault stellt sich einerseits innerhalb sozialer Auseinandersetzungen bewusst auf die Seite der aus seiner Sicht als widerständig zu beurteilenden sozialen Praktiken und legt damit die politischen Implikationen seines Forschungsansatzes offen. Andererseits

133 Vgl. ebd., S. 182. 134 Vgl. ebd. 135 Ebd., S. 183 (Hervorhebung i.O.). 136 Vgl. Foucault (1996), a.a.O., S. 26. 137 Vgl. ebd., S 23.

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zeichnet er in einer Distanzierungsbewegung mit genealogischen Mitteln Herkunft und Entstehung der Macht-Wissens-Konstellation nach, innerhalb der jene Auseinandersetzungen stattfinden.138 Lässt sich diese Position noch ernsthaft als Beobachterstandpunkt rechtfertigen? Verschleiert Foucault nicht, dass sein Perspektivismus, soll er seriös gemeint sein, nicht umhinkommt, aus der Teilnehmerperspektive zu sprechen? Dies würde bedeuten, dass Sartre völlig zu Recht auf der Unmöglichkeit einer Beobachterposition insistiert. Zur Verteidigung eines subjektiven Standpunktes könnte er gegenüber Foucault zudem noch ins Feld führen, dass er wenigstens in der Lage ist, die aus ontologischen Gründen nicht zu hintergehende Binnenperspektive über eine Hermeneutik des Praxisvollzugs zu legitimieren. Da der Anker einer hermeneutischen Reflexion auf die eigenen Grundlagen für den Genealogen freilich ebenso wenig wie für den Archäologen zur Verfügung steht, muss Foucault einen anderen Weg gehen, um seinen virtuell als extern verstandenen Standpunkt, wenn schon nicht zu begründen – dieser Geltungsanspruch hatte sich schon für die Archäologie erledigt –, so doch zumindest kenntlich machen zu können. Denn die Genealogie ist von Haus aus an die persönliche Perspektive gebunden. Sie formuliert ihre Kritik, indem sie Partei ergreift, und insofern, zumindest im Sinne Nietzsches Infragestellung der Moral, normativ vom Standpunkt eines Teilnehmers.139 Um nun über eine derart subjektivistische Position hinauszugelangen, muss der Genealoge folglich methodologisch einiges aufbieten, um seinem Zugriff auf die Realität gesellschaftsanalytische Relevanz zu verschaffen. Im Gegensatz zu Nietzsches eher individualethisch motivierter Form der Kritik versteht Foucault sein Verfahren, und hier zeigt sich die Verschränkung mit dem archäologischen Ansatz, als epistemische Distanzierung von seinem Gegenstand. Damit ist einerseits zugestanden, dass die Beobachterperspektive selbstredend immer nur von einem lokalen und insofern historischen Standpunkt aus eingenommen werden kann. Andererseits legitimiert Foucault seine methodologische Vorgehensweise negativ anhand der genannten archäologisch und genealogisch diagnostizierbaren Defizite einer neutralen Beobachter- wie einer allein auf ihre subjektiven Voraussetzungen reflektierenden Teilnehmerperspektive. Aus diesem Grund kann und will die Genealogie aber

138 Vgl. auch Michel Foucault (1974): Die Wahrheit und die juristischen Formen. (A verdade e as formas juridicas. In: Cadernos da P.U.C. 16. Juni 1974); hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 2, S. 684f. 139 Vgl. Christoph Menke (2004): Genealogie, Dekonstruktion, Kritik. In: ders.: Spiegelungen der Gleichheit. Politische Philosophie nach Adorno und Derrida, Frankfurt/M., S. 77ff.

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auch weder auf ontologische noch praxisphilosophische Vorannahmen zurückgreifen.140 Die Konsequenz ist, dass Foucault mit seinen Analyseverfahren keinen Anspruch auf Objektivität und Wahrheit erheben kann. Die genealogische Kritik beschränkt sich auf eine perspektivistische Verfremdung des Vertrauten. Dazu gehört die gezielte methodische Übertreibung und Dramatisierung zum Zweck einer provokativen Infragestellung des gegenwärtig Selbstverständlichen durch die Rückverfolgung seiner historischen Genese.141 Die Genealogie ist insofern als anti-normative Verunsicherungs- und Bewusstmachungsstrategie zu verstehen, die sich aus Foucaults historischem Nominalismus speist. Das zeigt sich im Übrigen an dem experimentellen Gebrauch, den auch der Genealoge Foucault von den zentralen Begriffen Macht und Wissen macht. Sie haben für ihn „[…] nur eine methodologische Funktion: mit ihnen sollen nicht allgemeine Wirklichkeitsprinzipien ausfindig gemacht werden, es soll gewissermaßen die Analysefront, es soll der relevante Elementartyp fixiert werden. […] Wissen und Macht – das ist nur ein Analyseraster“.142 Bar jedes Objektivitätsanspruchs bezeichnet Foucault sein Verfahren daher als „historisch-philosophische Praktik“, der es darum geht, „[…] gleichsam fiktional die Geschichte zu fabrizieren“.143 Genau darin aber liegt der heuristische Wert von Foucaults genealogischer Kri-

140 Vgl. Christoph Menke (1990): Zur Kritik der hermeneutischen Utopie. Habermas und Foucault. In: Eva Erdmann/Rainer Forst/Axel Honneth (Hg.), Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt am Main/New York, S. 125f. 141 Vgl. hierzu ausführlich Saar (2007) a.a.O., S. 293ff; ähnlich Raymond Geuss (2003): Kritik, Aufklärung, Genealogie. In: Axel Honneth/Martin Saar (Hg.), Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, Frankfurt/M., S. 145-156. Zur gesellschaftstheoretischen Funktion genealogischer Kritik vgl. auch: Axel Honneth (2000): Rekonstruktive Gesellschaftskritik unter genealogischem Vorbehalt. Zur Idee der ‚Kritik‘ in der Frankfurter Schule. In: ders., Pathologien der Vernunft. Geschichte und Gegenwart der Kritischen Theorie, Frankfurt/M. 2007, S. 57-69. 142 Michel Foucault (1990): Was ist Kritik?, Berlin 1992, S. 32f (Qu’est-ce que la critique? (Critique et ‚Aufklärung‘). Compte rendu de la séance du 27. mai 1978. In: Bulletin de la Société française de Philosophie 84, no 1 janvier-mars 1990, S.35-63). 143 Vgl. ebd., S. 26. An anderer Stelle hat Foucault sich als „Experimentator“ bezeichnet, der „Fiktionen“ schreibt. Vgl. ebenso Foucault (1980), a.a.O., Bd. 4, S. 52 bzw. S. 55; sowie Michel Foucault (1977a): Die Machtverhältnisse gehen in das Innere der Körper über (Les rapports de pouvoir passent à l’intérieur des corps. In: La Quinzaine littéraire 247, 1.-15. Januar 1977, S. 4-6); hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 3, S. 309.

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tik, die seinen Perspektivismus in der Gestalt einer virtuellen Distanzierung den bloßen Subjektivismus abstreifen lässt und eine „Ethnologie unserer Gesellschaft“144 möglich macht. Für das weitere Vorgehen mit Blick auf die gesellschaftstheoretische Bedeutung von Foucaults Analytik der Macht und die damit verbundene Subjektkritik ist in methodischer Hinsicht also zweierlei festzuhalten: 1. Foucault hält auch nach der Erweiterung seines Forschungsansatzes um die Genealogie an einer externen Beobachterperspektive fest. Es ist daher kein Zufall, dass er das Problem einer methodisch gerechtfertigten Dezentrierung des Blicks zum Zweck einer genealogischen Rekonstruktion vertrauter gesellschaftlicher Praktiken, Mechanismen und Institutionen auch in späteren Arbeiten immer wieder umkreist. Noch 1978 kommt er im ersten Vorlesungszyklus zur ‚Geschichte der Gouvernementalität‘ im Kontext seiner Überlegungen, inwieweit sich seine bis dahin praktizierte Analytik einer Mikrophysik der Macht auf das Phänomen moderner Staaten anwenden lässt, ausdrücklich darauf zurück, wenn er sich fragt: „Ist es möglich, zum Außen überzugehen? Ist es möglich, den modernen Staat in eine Gesamttechnologie der Macht wieder einzusetzen, die seine Mutationen, seine Entwicklung, sein Funktionieren sicherten?“145 Welche operativen Vorkehrungen erforderlich sind, um eine methodisch abgesicherte Beobachterperspektive zu erlangen, erläutert Foucault im Vorfeld seiner Gouvernementalitätsanalyse anhand von drei Schritten der Dezentrierung. Für die Analyse von Institutionen, wie etwa derjenigen eines Staatsapparates, ist es, wie nicht anders zu erwarten, notwendig, deren interne Geltungsproblematik einzuklammern. Der „Übergang in das Außen der Institution“ erfordert demzufolge zuerst, „[…] sich hinsichtlich der Problematik der Institution zu dezentrieren […]“.146 Erst aus diesem Blickwinkel ist es möglich, das von Regeln und Normen bestimmte Funktionieren einer Institution vor der Folie einer historischen Machttechnologie zu beschreiben. Damit kann es aus Foucaults Sicht freilich noch nicht getan sein. Denn dies würde bedeuten, die Funktionsweise einer Institution zwar von außen, aber mithilfe einer auf einer Kontinuitätsunterstellung basierenden kausalen Erklärung zu fassen. Die zweite Maßnahme einer Dezentrierung beinhaltet daher,

144 Vgl. Hinrich Fink-Eitel (1980): Michel Foucaults Analytik der Macht. In: Friedrich A. Kittler (Hg.), Die Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Programme des Poststrukturalismus, Paderborn/München/Wien/Zürich, S. 62. 145 Foucault (2004), a.a.O., Bd. 1, S. 180. 146 Vgl. ebd., S. 175.

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den „Übergang ins Außen, mit Bezug auf die Funktion“ zu vollziehen.147 Dadurch versucht Foucault die Gefahr zu umgehen, einen Funktionszusammenhang in eine übergeordnete Totalität einordnen zu müssen, und eröffnet sich zugleich einen Ausgangspunkt, von dem her auch funktionale Defizite einer Institution als Effekte von historisch sich verändernden Kräfteverhältnissen ins Blickfeld rücken, die einer genealogischen Rekonstruktion zugänglich gemacht werden können. In Foucaults Worten: Es geht darum, „[…] den inneren Gesichtspunkt der Funktion durch den äußeren Gesichtspunkt der Strategien und Taktiken [zu/M.R.] ersetzen“,148 sie also in den Kontext historischer Kräfteverhältnisse einzuordnen. Die dritte Distanzierung, die Foucault einfordert, ist schließlich diejenige eines nominalistischen Vorbehaltes bezüglich des Untersuchungsgegenstandes selbst. Damit meint er „[…] die Weigerung, die Institutionen, die Praktiken und die Wissensarten nach der Maßgabe und nach der Norm dieses gänzlich gegebenen Objekts beurteilen zu wollen. Es handelt sich im Gegenteil darum, die Bewegung zu erfassen, mit deren Hilfe, durch diese sich bewegenden Technologien hindurch, sich ein Wahrheitsfeld mitsamt der Wissensgegenstände bildete“.149

Foucaults dreifaches Distanzierungsmanöver ist also eines bezüglich der Regelhaftigkeit des untersuchten Gegenstandes, bezüglich eines übergeordneten Funktionszusammenhanges, in den sich dieser einordnen lassen könnte, und schließlich im Bezug auf dessen – ein spezifisch-historisches Selbst- und Weltverhältnis konstituierende – Begriffe. Mit jedem Distanzierungsschritt ändern sich zugleich Gegenstand wie Perspektive. Insofern fußt die virtuelle Beobachterperspektive Foucaults auf einem experimentellen Selbstverständnis, das die Einklammerung eines einheitlichen Erkenntnissubjektes zumindest zu methodischen Zwecken plausibel machen kann. Für die Gesellschaftsanalyse bedeutet dies, Foucaults virtuelle Beobachterperspektive hat nach wie vor eine heuristische Funktion. 2. Um spezifisch historische Konstellationen von Macht-Wissens-Komplexen aus jener virtuellen Beobachterperspektive analysieren zu können, operiert Foucault mit zwei Verfahren der Objektivierung, die sich komplementär zueinander verhalten sollen: Archäologie und Genealogie. Die dreifache Dezentrierung der Beobachterposition setzt dies notwendig voraus. Die externe Beschrei-

147 Vgl. ebd., S. 176. 148 Vgl. ebd. 149 Ebd., S. 177.

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bung institutioneller Regelmechanismen lässt sich im weitesten Sinne den methodologischen Vorgaben der Archäologie zuordnen, die Entfaltung ihrer Entstehungsgeschichte ist Aufgabe einer genealogischen Rekonstruktion aus der Pluralität historischer Konflikte. Und schließlich bedeutet die epistemologische Einklammerung des Untersuchungsgegenstandes unter Verweis auf die historische Gewordenheit und Machtverschränkung der an ihn geknüpften Allgemeinbegriffe die Verschränkung beider Sichtweisen, indem am Objekt die Korrelation von Macht und Wissen in ihrer historisch kontingenten Gestalt veranschaulicht wird. Foucault hat das methodologische Zusammenspiel von Archäologie und Genealogie im Rückblick auf seine Arbeiten der 70er Jahre als ein Verfahren bezeichnet, das sich durchaus im Sinne Sartres – wenn freilich unter Verzicht auf dessen konstitutives Erkenntnis- und Handlungssubjekt – als eine Kombination aus synchronem und diachronem Zugriff auf die Wirklichkeit verstehen lässt. Der synchrone Zugang konzentriert sich dabei auf die jeweiligen Akzeptabilitätsbedingungen, die eine historische Macht-Wissens-Konstellation kennzeichnen. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass Foucault das Untersuchungsfeld der Archäologie nun stillschweigend auf diejenigen Bereiche ausdehnt, die ihm in der „Archéologie du savoir“ noch aus methodischen Gründen Mühe bereitet hatten. Rechtfertigen lässt sich dieser Ausgriff auf nichtdiskursive Praktiken nur dadurch, dass Foucault mit der Übernahme der genealogischen Perspektive die Idee einer Autonomie des Diskurses schrittweise aufgegeben hat. Die Archäologie betreibt daher von nun an nicht mehr Diskurs-, sondern wie die Genealogie – nur über einen synchronen Zugriff – dezidiert Machtanalyse. In dem Vortrag „Qu’est-ce que la critique?“ von 1978 charakterisiert Foucault das methodische Vorgehen der Archäologie folgendermaßen: „Es handelt sich also um ein Verfahren, das sich nicht um die Legitimierung kümmert […]: es durchläuft den Zyklus der Positivität, indem es vom Faktum der Akzeptiertheit zum System der Akzeptabilität übergeht, welches als Spiel von Macht-Wissen analysiert wird. Das ist in etwa das Niveau der Archäologie.“150 Diese synchron beschreibbare Strukturlogik einer historischen Positivität muss freilich unter machtanalytischen Gesichtspunkten zugleich in diachroner Perspektive auf die Bedingungen ihrer Gewordenheit hin untersucht werden. Darin besteht die Aufgabe der Genealogie. Sie muss das Auftauchen jener Akzeptabilitätsbedingungen eines Macht-Wissens-Systems als spezifische Effekte eines komplexen Kausalnetzes rekonstruieren und dabei zugleich deren Willkürlichkeit wie Gewaltsamkeit frei legen.151 Das äußerst anspruchsvolle Ziel dieser

150 Foucault (1990), a.a.O., S. 34 (Hervorhebung i.O.). 151 Vgl. ebd., S. 35.

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Analysetechnik besteht darin, das historische Erscheinen bzw. Verschwinden einer Positivität in ihrer Notwendigkeit aufzeigen und zugleich, da nicht auf eine kausale Ursache rückführbar, in ihrer Kontingenz darstellen zu können. Im Falle der Genealogie handelt es sich für Foucault daher darum, „[…] die Erscheinungsbedingungen einer Singularität in vielfältigen bestimmenden Elementen ausfindig zu machen und sie nicht als deren Produkt, sondern als deren Effekt erscheinen zu lassen“.152

Macht als Analyseraster Mit dem Versuch einer strikten Beibehaltung der Beobachterperspektive und den aufeinander abgestimmten Instrumenten von Archäologie und Genealogie sind die methodischen Voraussetzungen von Foucaults Analytik der Macht gegeben. Seine Arbeiten der 70er Jahre lassen sich im weitesten Sinne als das Vorhaben verstehen, die Entstehung und Funktionsweise moderner Machtmechanismen nachzuzeichnen. „Surveiller et punir“ und zu großen Teilen auch „La volonté de savoir“, der erste Band der Geschichte der Sexualität, sind historisch-materiale Studien, die am Beispiel von methodisch streng eingezirkelten Untersuchungsgegenständen eine Genealogie der modernen Macht vorführen, die zugleich als eine Genealogie des modernen Subjekts verstanden werden will. Die gesellschaftstheoretische Relevanz dieser Studien liegt insofern nicht zuletzt in ihrem Anspruch, entlang einer Geschichte des modernen Strafsystems bzw. der Genese von Diskursen über Sexualität Formen von Subjektivierung freizulegen. So versteht Foucault die Geschichte des Gefängnisses explizit als eine „Genealogie der modernen ‚Seele‘“.153 Die Seele des modernen Subjekts ist demzufolge keine überzeitliche Instanz, sondern als epistemisches Konstrukt der Humanwissenschaften zugleich als Effekt der Macht zu begreifen. Vor dem Hintergrund der hier verfolgten Fragestellung soll versucht werden zu klären, inwieweit dieser Ansatz eine gesellschaftstheoretische Alternative zu einem strikt handlungstheoretischen Modell sein kann, wie es etwa Sartre anbietet. Der springende Punkt ist dabei, ob es Foucault de facto gelingt, mithilfe einer virtuellen Beobachterperspektive den Aporien zu entkommen, in die sich Sartre notgedrungen verwickeln muss. Zu diesem Zweck soll nun Foucaults Machtbegriff, wie er ihn in den 70er Jahren konzipiert, in systematischer Absicht

152 Ebd., S. 37. 153 Vgl. Foucault (1975), a.a.O., S. 41.

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untersucht werden. Die unbestreitbare Originalität seiner Konzeption – und das macht schließlich auch deren Attraktivität für das hier verfolgte Unternehmen aus – liegt in dem Anspruch, Macht ohne die Einführung eines Handlungssubjekts sowie ohne Rückgriff auf eine systemische Totalität und eine damit verbundene Kontinuitätsunterstellung intelligibel machen zu können. Insofern soll versucht werden, Foucaults Analytik der Macht im Sinne seines theoretischen Selbstverständnisses zu rekonstruieren und ihn weder durch eine systemtheoretisch-funktionalistische noch durch eine handlungstheoretische Brille zu lesen.154 Dahingestellt bleibt auch, ob der Machtanalytik Foucaults letztendlich eine mehr oder weniger kongruente, wenn auch unthematisierte, ‚Theorie der Macht‘ zu Grunde liegt.155 Für die Theoriethese spricht in der Tat, dass Foucault schon aus analysetechnischen Gründen nicht umhinkommt, mit fixen Begrifflichkeiten zu operieren, deren geltungstheoretische Reichweite über den untersuchten Gegenstand hinausreichen muss. Insofern arbeitet Foucault mit einem streng formalen und, wie sich zeigen wird, äußerst vielschichtigen Machtbegriff. Jedoch hat er sich bekanntlich dagegen verwahrt, eine Theorie der Macht vorgelegt zu haben.156 Für den hier unternommenen Rekonstruktionsversuch genügt es zunächst, ihn beim Wort zu nehmen und den Machtbegriff im oben skizzierten Sinne auf seine Tauglichkeit als Analyseraster zu überprüfen.

154 Zu entsprechenden Interpretationen vgl. etwa Fink-Eitel (1980), a.a.O., S. 67, der Foucaults Machtanalytik unter systemtheoretischem Gesichtspunkt zusammenfasst, sowie Honneth (1986), a.a.O., der Foucault zunächst handlungstheoretisch zu lesen versucht (vgl. S. 174ff.), ihn schließlich aber ebenfalls einer systemtheoretischfunktionalistischen Deutung unterzieht (vgl. S. 214ff). Auch Habermas schlägt eine funktionalistische Lesart vor; vgl. Habermas (1985), a.a.O., S. 339. Prinzipielle Zweifel an einer handlungs- bzw. systemtheoretischen Einordnung des foucaultschen Ansatzes äußert dagegen zu Recht Kögler (22004), a.a.O., S. 102. Ebenso kritisiert Detel funktionalistische Unterstellungen. Er argumentiert allerdings aus der Perspektive des späten Foucault, von dem her er den Begriff der „regulativen Macht“ entwickelt. Insofern lässt sich mit diesem Einwand die Machtanalytik, wie Foucault sie in den 70er Jahren entfaltet, und um die es hier zunächst gehen soll, nicht wirklich verteidigen; vgl. ders. (1998), a.a.O., S. 65ff. 155 Vgl. hierzu ebenfalls Honneth (1986), a.a.O., S. 168ff, sowie neuerdings Saar (2007), a.a.O., S. 205. 156 Vgl. Foucault (1976), a.a.O., S. 102; ebenso Michel Foucault (1977b): Das Spiel des Michel Foucault (Le jeu de Michel Foucault. In: Ornicar? Bulletin périodique du champ freudien 10, Juli 1977, S. 62-93); hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 3, S. 396f.

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Die prägnanteste, wenn auch recht unsystematische Beschreibung dessen, was er unter Macht versteht, hat Foucault in dem eingeschobenen Methodenkapitel des ersten Bandes der Geschichte der Sexualität geliefert. Anhand dieser viel zitierten, längeren Passage lassen sich die wichtigsten Merkmale seines Machtbegriffs herausschälen. Nachdem er sich von herkömmlichen Machtbegriffen abgegrenzt hat und ausdrücklich darauf verweist, dass er Macht weder als an staatliche Institutionen gebunden verstehe noch als vertragstheoretisch zu fassende Veräußerung eines Rechtes zum Zwecke einer freiwilligen Unterwerfung unter eine gesetzliche Instanz, aber auch nicht als die Wirkung globaler Herrschaftskomplexe, die von vorneherein im Interesse bestimmter sozialer Gruppen und Klassen aufrechterhalten werden, skizziert Foucault seinen Machtbegriff folgendermaßen: „Unter Macht, scheint mir, ist zunächst zu verstehen: die Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen, die ein Gebiet bevölkert und organisiert; das Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kräfteverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt; die Stützen, die diese Kräfteverhältnisse aneinander finden, in dem sie sich zu Systemen verketten – oder die Verschiebungen und Widersprüche, die sie gegeneinander isolieren; und schließlich die Strategien, in denen sie zur Wirkung gelangen und deren große Linien und institutionelle Kristallisierungen sich in den Staatsapparaten, in der Gesetzgebung und in den gesellschaftlichen Hegemonien verkörpern. Die Möglichkeitsbedingungen der Macht oder zumindest der Gesichtspunkt, der ihr Wirken bis in die ‚periphersten‘ Verzweigungen erkennbar macht und in ihren Mechanismen einen Erkenntnisraster für das gesellschaftliche Feld liefert, liegt nicht in der ursprünglichen Existenz eines Mittelpunktes, nicht in einer Sonne der Souveränität, von der abgeleitete oder niedere Formen ausstrahlen; sondern in dem bebenden Sockel der Kraftverhältnisse, die durch ihre Ungleichheit unablässig Machtzustände erzeugen, die immer lokal und instabil sind. Allgegenwärtigkeit der Macht: […]. Nicht weil sie alles umfaßt, sondern weil sie von überall her kommt, ist die Macht überall. Und ‚die‘ Macht mit ihrer Beständigkeit, Wiederholung, Trägheit und Selbsterzeugung ist nur der Gesamteffekt all dieser Beweglichkeiten, die Verkettung, die sich auf die Beweglichkeiten stützt und sie wiederum festzumachen sucht. Zweifellos muß man Nominalist sein: die Macht ist nicht eine Institution, ist nicht eine Struktur, ist nicht eine Mächtigkeit einiger Mächtiger. Die Macht ist der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt.“157

Was Foucault hier liefert, ist alles andere als eine Definition. Er umschreibt vielmehr ein vielschichtiges Analysefeld, auf das sich der Machtbegriff anwen-

157 Foucault (1976), a.a.O., S. 113f (Hervorhebungen M.R.).

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den lassen soll. Dieses gilt es nun näher zu differenzieren. Zunächst lassen sich zwei grundlegende Aspekte des hier präsentierten Machtbegriffs unterscheiden. Er fungiert zum einen in methodischer Hinsicht als Analyseraster, zum anderen dient er gegenstandstheoretisch als Instrument zur Beschreibung eines Kräfteverhältnisses. Das bedeutet, dass sich die Gegenstandsebene erst über die methodische Klärung der Beobachterperspektive ergibt. Insofern ist der Frage, in welcher Hinsicht die Macht als Erkenntnisraster funktioniert, Priorität einzuräumen. Entscheidend für die realitätserschließende Funktion der Macht sind damit die Implikationen, die in diesen Begriff eingehen. Dazu gehört zuvörderst, wie Foucault ausdrücklich betont, seine nominalistische Vorannahme. Macht lässt sich gegenstandsbezogen nicht an einer Instanz noch in einer gesellschaftlichen Gruppe oder Klasse festmachen, sie ist keine Entität, über die sich verfügen lässt, sondern sie ist überall, ohne Zentrum ruht sie auf einem ‚bebenden Sockel der Kräfteverhältnisse‘. Das, was sich auf der Gegenstandsebene als kongruente Verkörperung der Macht beschreiben lässt, ist daher nicht die Macht, sondern der historische ‚Gesamteffekt‘ der Beweglichkeiten und Verkettungen, die innerhalb eines Kräfteverhältnisses zu Stande kommen.158 Der nominalistische Ansatz hat insofern, ähnlich wie sich dies bereits am diskutierten Selbstverständnis von Foucaults Archäologie und Genealogie gezeigt hat, die Funktion, sich von sämtlichen traditionellen Verwendungsweisen des Begriffs der Macht zu distanzieren. Denn mit diesen methodischen Vorgaben werden sowohl jegliche substanzialistische wie handlungstheoretische Vorstellungen von Macht ausgeschaltet. Macht ist eine theoretische Konstruktion zur Beschreibung von sozialen Beziehungen, die sich entweder als offene oder still gestellte Konflikte darstellen lassen. Damit sind die gegenstandstheoretischen Voraussetzungen der Machtanalytik formuliert. Macht ist ein Kräfteverhältnis, das als ein ‚Spiel von Kämpfen‘ aufgefasst werden kann, deren Resultate Systeme bilden können, die sich miteinander verketten und gegebenenfalls auch gegenseitig stützen oder auch voneinander abgrenzen. Zugleich werden innerhalb dieser Kräfteverhältnisse Strategien verfolgt, deren multiple Wirkungen sich in gesellschaftlichen Institutionen und Komplexen niederschlagen können. Was Foucault hier als Machtverhältnisse bezeichnet, erinnert, zumindest strukturell, an das, was die „Archéologie du savoir“ als Korrelationen von Regelverhältnissen vor dem Hintergrund spezifischer Transformationsregeln zu beschreiben versucht hatte. Der Unterschied besteht vor allem darin, dass nun der Analyse ein genealogisch eingeführtes Konfliktmodell mit zu Grunde gelegt wird. Denn wie schon die Diskursformationen

158 Vgl. Foucault (1977b), a.a.O., Bd. 3, S. 397

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der Archäologie lässt sich auch die Macht in zwei Dimensionen, die sich allerdings nur zu analytischen Zwecken voneinander abtrennen lassen, untersuchen: Zum einen als aktuales Resultat multipler Kämpfe, das sich in einer, wenn auch immer als prekär anzunehmenden, Stabilität von Kräfteverhältnissen begreifen lässt. Dies zeichnet den systemisch-relationalen Charakter von Foucaults Machtbegriff aus, dessen Beschreibung vor allem mit archäologischen Mitteln möglich sein muss. Zum anderen hat Macht einen dynamischen Aspekt, der entlang von Strategien nachzuzeichnen wäre. Denn jede momentane Kräfterelation ist aus gesellschaftlichen Konflikten hervorgegangen. Damit ist sie in genealogischer Hinsicht ein historisch gewordenes Verhältnis, das in seiner Existenz kontingent ist. Das bedeutet zugleich, ein Kräfteverhältnis ist prinzipiell transformierbar. Das Feld der Genealogie erstreckt sich innerhalb der Machtanalytik auf die Rekonstruktion von Formen der Macht aus der historischen Abfolge von Kämpfen. Der Grad der Transformierbarkeit eines spezifischen Machtverhältnisses muss damit in zwei Richtungen bestimmbar werden: in Bezug auf die sich zu Regelsystemen verkettenden Mechanismen von sich gegenseitig stützenden Kräfteverhältnissen (Archäologie) und bezüglich der inneren Dynamik der darin verfolgten Strategien (Genealogie). Letzteren kommt dabei eine doppelte Funktion zu. Indem sie ein bestehendes Kräfteverhältnis aktualisieren, stabilisieren sie die jeweilige Form der Macht, zugleich lässt sich anhand von Strategien aber auch dessen Herkunft und Entstehung als eine Abfolge von Transformationen rekonstruieren. Mit der Charakterisierung von Macht als relational und strategisch setzt sich Foucault insbesondere von zwei in der sozialphilosophischen Tradition weit verbreiteten Machtbegriffen ab: von einer insbesondere in der marxistischen Tradition stehenden klassentheoretisch hergeleiteten Vorstellung von der Möglichkeit der Aneignung sozialer Macht durch bestimmte gesellschaftliche Gruppen sowie von einer rein handlungstheoretisch entwickelten Konzeption von Macht im Sinne eines individuellen Vermögens zur Manipulation der Handlungsmöglichkeiten anderer.159 Foucault betont mehrfach ausdrücklich, und dies ist eines der wichtigsten Kennzeichen ihres relationalen Charakters, dass Macht nicht im Sin-

159 Bezüglich letzterer Tradition hat Foucault seine reservierte Haltung allerdings in späteren Arbeiten partiell modifiziert. Darauf wird weiter unten noch näher einzugehen sein. Zur Geschichte der unterschiedlichen Machtbegriffe in der sozialphilosophischen Tradition vgl. u.a. Hinrich Fink-Eitel (1992): Dialektik der Macht. In: Emil Angehrn/ders./Christian Iber/Georg Lohmann (Hg.), Dialektischer Negativismus. Michael Theunissen zum 60. Geburtstag, Frankfurt/M., S. 35-56.

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ne eines Eigentums besessen werden kann.160 Macht in ihrer Relationalität verstanden, beinhaltet demzufolge, dass sie allgegenwärtig ist, weil sie sämtliche gesellschaftlichen Bereiche durchdringt. Für den Analytiker der Macht heißt das, er muss sie in sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen, etwa in ökonomischen Prozessen, Erkenntnisrelationen oder sexuellen Beziehungen,161 aufspüren. Kurz: Der nominalistische Erkenntnisraster Foucaults zielt nicht auf ein hypothetisches Zentrum der Macht, sondern er beansprucht, innerhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse die ‚Mikrophysik der Macht‘ zu erkunden, wie sie in den alltäglichen Praktiken ebenso anzutreffen ist wie in den Systemen des Wissens. Der zweite Aspekt der Macht ist damit bereits angesprochen. Neben ihrem relationalen Charakter ist für das Verständnis der Funktionsweise der Macht für Foucault entscheidend, sie als eine Ansammlung, Verkettung und gegenseitige Abgrenzung von Strategien zu begreifen. „Das Studium dieser Mikrophysik“, so Foucault, „setzt nun voraus, daß die darin sich entfaltende Macht nicht als Eigentum, sondern als Strategie aufgefaßt wird, daß ihre Herrschaftswirkungen nicht einer ‚Aneignung‘ zugeschrieben werden, sondern Dispositionen, Manövern, Techniken, Funktionsweisen: daß in ihr ein Netz von ständig gespannten und tätigen Beziehungen entziffert wird anstatt eines festgehaltenen Privilegs, daß ihr als Modell die immerwährende Schlacht zugrundegelegt wird […].“162

Im Gegensatz zu handlungstheoretischen Ansätzen beabsichtigt Foucault allerdings, die Mechanismen einer „immerwährenden Schlacht“ nicht aus der immanenten Logik der Konfrontation einer Pluralität von Handlungen zu beschreiben. Das käme einem Projekt, wie es Sartre in der „Critique de la raison dialectique“ verfolgt, äußerst nahe, hätte aber, wie gesehen, zur Voraussetzung, dass diese Logik aus der Binnenperspektive der Handlung zu rekonstruieren wäre. Da Foucault an einer virtuellen Beobachterposition festhalten will, muss er Strategien von außen beschreiben können, ohne sie an ein Handlungssubjekt zu binden. Dafür wählt er eine auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinende Formulierung zur Charakterisierung von Machtbeziehungen als strategische Verhältnisse, wenn er schreibt: „Die Machtbeziehungen sind gleichzeitig intentional und nicht-subjektiv.“163 Gemeint ist damit, dass die sich in Kräfteverhältnissen manifestierenden Machtbeziehungen zwar immer als das Resultat und insofern als

160 Vgl. etwa Foucault (1976), a.a.O., S. 115. 161 Vgl. ebd. 162 Foucault (1975), a.a.O., S. 38. 163 Foucault (1976), a.a.O., S. 116.

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spezifische Konstellation von Strategien mit zeitlichem und lokalem Index beschrieben werden können, dass dafür aber die jeweiligen intentionalen Gehalte der zahlreichen darin verschränkten Handlungen nicht von Belang sein sollen. Denn Foucault geht es ja, anders als Sartre, nicht darum, den kritischen Sinn einer historischen Machtkonstellation zu ergründen, sondern lediglich darum, nachzuvollziehen, wie eine bestimmte Machtformation funktioniert. Deshalb geht der Satz auch weiter, als wolle er sich ausdrücklich von Sartre absetzen: „Erkennbar sind sie [die Machtbeziehungen/M.R.] nicht, weil sie im kausalen Sinn Wirkung einer anderen, sie ‚erklärenden‘ Instanz sind, sondern weil sie durch und durch von einem Kalkül durchsetzt sind: keine Macht, die sich ohne eine Reihe von Absichten und Zielsetzungen entfaltet. Doch heißt das nicht, daß sie aus der Wahl oder Entscheidung eines individuellen Subjektes resultiert.“164

Foucaults Untersuchungsgegenstand sind demzufolge die anonymen Strategien in der Art und Weise, wie sie sich innerhalb eines bestehenden oder von ihnen konstituierten Kräfteverhältnisses aneinanderreihen und miteinander verschränken. Der ihnen auf der Handlungsebene zu Grunde liegende intentionale Charakter ist in dieser Hinsicht nur von formaler Bedeutung. Was Foucault interessiert, ist nicht die Rationalität der Handlung, sondern die Rationalität, die sich beim Aufeinandertreffen einzelner oder mehrerer, miteinander kombinierter Strategien ablesen lässt, eine spezifische Rationalität, auf deren Grundlage sich die temporär stabilen Kräfteverhältnisse als ‚Dispositive der Macht‘ aufbauen. „Die Rationalität der Macht“, so Foucault, „ ist die Rationalität von Taktiken, die sich in ihrem beschränkten Bereich häufig unverblümt zu erkennen geben – lokaler Zynismus der Macht -, die sich miteinander verketten, einander gegenseitig hervorrufen und ausbreiten, anderswo ihre Stützen und Bedingungen finden und schließlich zu Gesamtdispositiven führen: auch da ist die Logik noch vollkommen klar, können die Absichten entschlüsselt werden – und dennoch kommt es vor, daß niemand sie entworfen hat und kaum jemand sie formuliert: impliziter Charakter der großen anonymen Strategien, die, nahezu stumm, geschwätzige Taktiken koordinieren, deren ‚Erfinder‘ oder Verantwortliche oft ohne Heuchelei auskommen.“165

Trotz aller methodologischer Distanzierungen von handlungstheoretischen Implikationen, in dieser Passage springt geradezu ins Auge, dass Foucault nahezu

164 Ebd. 165 Ebd.

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exakt das Problem thematisiert, das Sartre mit praxisphilosophischen Mitteln als das den einzelnen Handlungssubjekten immer entgehende und zugleich hinter ihrem Rücken durchgreifende ‚Praktisch-Inerte‘ zu bestimmen versucht hatte. Wie sich gezeigt hatte, war ihm dies allerdings nicht zufriedenstellend gelungen, da die handlungstheoretische Binnenperspektive gerade an diesem Punkt notwendig an ihre Grenzen stieß. Foucault umkreist das Problem nun von der anderen Seite, indem er die Handlungsperspektive einklammert und versucht, die Rationalität eines ‚Gesamtdispositivs‘ von außen zu beschreiben. Dabei werden praktischinerte Komplexe in der Gestalt von Institutionen als mehrstufiges Zusammenspiel von Strategien gefasst, die sich zu relativ stabilen Strukturen kristallisieren. Sartre hatte – freilich mit einem weit umfassenderen Erklärungsanspruch – nichts anderes zu zeigen versucht. Die grundlegende Differenz tritt daher nicht am beschriebenen Phänomen, sondern eben anhand der Art des Zugriffs darauf zu Tage. Während für Sartre das ‚Praktisch-Inerte‘ aus der Binnenperspektive gesehen notwendig die dem Subjekt äußerliche Macht verkörpert, die, obwohl Resultat der Pluralität von Einzelhandlungen, einer selbstbestimmten individuellen Praxis als Gegen-Finalität und insofern als ‚Praxis ohne Urheber‘ gegenübertritt, blickt Foucault von außen auf die strategischen Verkettungen, die sich als ‚Mikrophysik der Macht‘ entfalten. Sartres Handlungssubjekte werden so völlig unabhängig vom Gehalt ihrer Intentionen von vornherein zu bloßen Figuren, die bestimmte Positionen innerhalb der Spiele der Macht besetzen. Von einer virtuellen Beobachterperspektive aus gesehen, gibt es auf der Ebene des Untersuchungsgegenstandes kein ‚Außen‘ der Macht. Damit fällt aber zugleich die traditionelle Differenz zwischen Machthabern und Unterdrückten weg. Aus der Perspektive einer Analytik der Macht sind auch Widerstandshandlungen Strategien innerhalb von Machtkonstellationen. Für Foucault ist Widerstand sogar eine unhintergehbare Voraussetzung für die Existenz der Macht, denn nur dadurch entsteht überhaupt ein Kräfteverhältnis. Seine Existenz setzt notwendig mehrere Machtpole voraus. Es funktioniert für Foucault immer als Kraft und GegenKraft: „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Und doch oder vielmehr gerade deswegen liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht.“166 Für den Analytiker der Macht besteht damit – zumindest aus der beobachtenden Distanz auf den Untersuchungsgegenstand – offenbar kein qualitativer Unterschied zwischen Repression und Widerstand. Formal sind sie beide völlig wertfrei als Strategien innerhalb eines Kräfteverhältnisses zu beschreiben. Dies hat Foucault von mehreren Seiten den Vorwurf einer normativen Unterbelichtung seines Theoriean-

166 Ebd.

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satzes eingebracht.167 Für die hier beabsichtigte Rekonstruktion von Foucaults Machtanalytik aus der Beobachterperspektive mit Blick auf deren diagnostische Reichweite spielt dies aber zunächst keine Rolle.168 In dieser Hinsicht sind zwei Dinge festzuhalten: Der strategische Analyseraster soll es erlauben, Macht als Kräfteverhältnisse zu beschreiben, deren Stabilisierung durch die einzelnen Strategien, die in einer spezifischen Konstellation aufeinandertreffen, zu Stande kommt. Zugleich soll es dadurch möglich sein, diese Kräfteverhältnisse in ihrer inneren Transformationslogik bezüglich ihrer Entstehung und vielleicht sogar in ihrer potenziellen Überschreitbarkeit aus der Dynamik von strategischen Konflikten einsichtig zu machen. Mit dem relationalen und dem strategischen Charakter, den Foucault in der oben ausführlich zitierten Passage umschreibt, ist sein Machtbegriff allerdings noch nicht vollständig bestimmt. Ein drittes wesentliches Merkmal, mit dem er sich erneut von den meisten traditionellen Konzeptionen absetzt, ist die Unterstellung einer Produktivität der Macht. Im Gegensatz etwa zu Sartre, für den

167 Der Vorwurf lässt sich in zwei Richtungen formulieren. Entweder als positivistischer Zynismus, der aufgrund der methodischen Einklammerung des Subjektes nicht mehr in der Lage ist, den destruktiven und repressiven Charakter von Herrschaftsverhältnissen zu beschreiben, oder aber als ein theorieimmanentes Defizit, da Foucault, wie gesehen, von seinem eigenen Verständnis her sein Unternehmen ja als eminent politisch versteht. Dann wäre es aber notwendig, die eigenen normativen Implikationen auszuweisen und gegebenenfalls einer theoretischen Begründung zu unterziehen. Zum ersten Vorwurf vgl. u.a. Fink-Eitel (1980), a.a.O, S. 64ff.; Axel Honneth (1986a): Foucault und Adorno. Zwei Formen der Kritik der Moderne. In: ders., Die zerrissene Welt des Sozialen. Sozialphilosophische Aufsätze, Frankfurt/M. 1990, S. 91. Vor allem auf der zweiten Argumentationslinie bewegen sich u.a. Charles Taylor (1984): Foucault über Freiheit und Wahrheit. In: ders., Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt/M. 1988, S. 220ff; Michael Walzer (1988): Die einsame Politik des Michel Foucault. In: ders., Zweifel und Einmischungen. Gesellschaftskritik im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1997, S. 277ff; Nancy Fraser (1989): Foucault über die moderne Macht: Empirische Einsichten und normative Unklarheiten. In: dies., Widerspenstige Praktiken. Macht, Diskurs, Geschlecht, Frankfurt/M. 1994, S. 46ff; sowie Habermas (1985), a.a.O., S. 331ff. 168 Zu einer Verteidigung von Foucaults Anti-Normativismus gegenüber diesen Vorwürfen vgl. Thomas Schäfer (1995): Reflektierte Vernunft. Michel Foucaults philosophisches Projekt einer antitotalitären Macht- und Wahrheitskritik, Frankfurt/M., S. 103ff.

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Macht, vermittelt über eine inerte Praxis ohne Urheber, immer von außen auf die selbstbestimmte Praxis des Einzelnen einschränkend wirken muss und damit zugleich einen negativen, weil repressiven, subjektverdinglichenden Charakter erhält, fasst Foucault die Macht zugleich als positives Verhältnis. „In Wirklichkeit“, so Foucault, „ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches. Sie produziert Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale: das Individuum und seine Erkenntnis sind Ergebnisse dieser Produktion.“169 Um diesen progressiven Charakter der Macht, der damit verbunden ist, dass sie historisch neue Weltsichten, Regeln, Umgangsformen und Selbstverhältnisse entstehen lässt, in den Blick zu bekommen, ist es Foucault zufolge notwendig, „[…] die Analyserichtung umzukehren […]“.170 Damit ist freilich nicht gemeint, dass die repressive Dimension der Macht einfach unterschlagen werden soll. Aus der Beobachterperspektive bedeutet dies allerdings, nicht von einem – und sei es wie Sartre – nur formalen Subjektbegriff auszugehen, der zum Maßstab der Beurteilung historisch variabler Grade von Unterdrückung dienen kann, sondern das strategische Spiel der Macht in seinen historischen Transformationen zu betrachten. Diese sollen sich dann sowohl unter positiven wie negativen Gesichtspunkten als die Produktion neuer Regelmechanismen wie der damit möglicherweise verbundenen repressiven Folgen beschreiben lassen. Foucault fordert vom Beobachter, die dem modernen Denken vertraute Repressions-Hypothese aufzugeben.171 Macht ist also sowohl produktiv wie repressiv. Dies hat vor allem Folgen für das Selbstverständnis des modernen Subjektes. Unter dem Gesichtspunkt der Produktivität der Macht wird dieses nämlich selbst zu deren Produkt. Das Subjekt ist nicht mehr allein Repressionsobjekt der Macht und damit zugleich letzte normative Instanz einer Kritik der Macht. Es ist selbst eine von der Macht konstituierte Position innerhalb ihres Kraftfeldes. Das Selbstverhältnis des modernen Individuums und damit der wesentliche Bestandteil seiner Identität wird somit zu einem historisch auftauchenden Effekt der Mikrophysik der Macht.172

169 Foucault (1975), a.a.O., S. 250. 170 Vgl. Foucault (1976), a.a.O., S. 93. 171 Vgl. ebd. 172 Vgl. Foucault (1996), a.a.O., S. 45.

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Modelle einer Analytik der Macht Die Macht ist also ein allgegenwärtig, dezentral wirkender, in strategischen Kräfteverhältnissen zu analysierender Sachverhalt, dem die produktive Eigenschaft zuzuschreiben ist, neue Selbst- und Weltverhältnisse zu konstituieren. Das Ziel der Machtanalytik besteht laut Foucault darin, historische Machtbeziehungen sowohl unter strukturellen wie dynamischen Gesichtspunkten zu beschreiben. Das bedeutet, es geht ihm darum, zu rekonstruieren, wie sich die vielfältigen lokalen Kräfteverhältnisse und die darin wirkenden Strategien zu einer stabilen aber nicht unveränderbaren Struktur zusammensetzen, die einen scheinbar homogenen Raum beschreibt, innerhalb dessen sich die jeweils möglichen historisch-spezifischen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken vollziehen. „Wie verbinden sich diese Machtbeziehungen miteinander zur Logik einer globalen Strategie, die sich im Rückblick wie eine einheitlich gewollte Politik ausnimmt?“, so Foucault.173 Es drängt sich freilich bereits an dieser Stelle die Frage auf, inwieweit dies tatsächlich aus einer reinen Beobachterperspektive beantwortet werden kann. Denn auch wenn Foucault alle Sorgfalt darauf verwendet, sämtliche binnentheoretischen Voraussetzungen systematisch auszuschalten, um einen Analyseraster anlegen zu können, der Geltungsfragen außen vor lassen soll, es bleibt doch am Ende eine gewisse Skepsis, ob sich Strategien wirklich völlig unabhängig von ihren, an Subjekte gebundenen, intentionalen Gehalten beschreiben lassen und es trotzdem zugleich möglich sein soll, „[…] die Machtmechanismen von einer den Kräfteverhältnissen immanenten Strategie her [zu/M.R.] entschlüsseln“.174 Es wird im Folgenden zu diskutieren sein, wieweit Foucaults bislang skizziertes archäologisch-genealogisches Verfahren aus einer virtuellen Beobachterperspektive für die Gesellschaftsanalyse trägt, d.h. wieweit es gelingen kann, auf diesem Weg soziale Machtverhältnisse transparent zu machen. Dafür sollen die drei angeführten Aspekte der Macht näher untersucht werden. Den wesentlichen Merkmalen der Macht, die Foucault in ihrem relationalen, produktiven und strategischen Charakter sieht, lassen sich drei Beschreibungsmodelle zuordnen, mit denen er in seinen materialen Studien operiert: Es ist das Modell des Dispositivs, mit dessen Hilfe sich historische Kräfteverhältnisse insbesondere bezüglich ihres manifesten Regelcharakters analysieren lassen (1). Zur Verfolgung der Konstitution und Stabilisierung historischer Selbst- und Weltverhältnisse innerhalb eines Dispositivs vor der Hintergrundannahme einer Produktivität der Macht erweist

173 Foucault (1976), a.a.O., S. 119. 174 Vgl. ebd., S. 118.

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sich das Modell der Praktiken als besonders gut geeignet (2). Und schließlich erscheint für die historische Rekonstruktion spezifischer Machtkonstellationen aus der Logik pluraler Strategien und Taktiken unter dem Gesichtspunkt einer methodisch unterstellten ‚immerwährenden Schlacht‘ das Analysemodell des Konflikts bzw. des Krieges als tauglich (3). Alle drei Modelle greifen freilich in Foucaults Machtanalytik beständig ineinander, doch soll unter systematischen Gesichtspunkten versucht werden, sie voneinander abzulösen, um die Vielschichtigkeit und insbesondere die deskriptive Reichweite der Foucaultschen Machtanalytik näher beleuchten zu können.

(1) Dispositiv Den Beschreibungsmodus, der den analytischen Zugriff auf die primär strukturellen Aspekte der Macht erlauben soll, entwickelt Foucault anhand des Modells des Dispositivs. Dieses inhaltlich sehr breit angelegte und auf den ersten Blick mit einer gewissen begrifflichen Unschärfe belastete Modell dient ihm als Analyseraster.175 Das Dispositiv ist als eine methodische Konstruktion zu verstehen, mit deren Hilfe die Mikrophysik der Macht in ihrer Funktionsweise beschrieben werden soll. In seiner methodischen Bedeutung tritt es allerdings erst Schritt für Schritt zu Tage. Zunächst verwendet Foucault den Begriff des Dispositivs in scheinbar unspezifischer Weise. Er umschreibt damit eine Art technische Vorrichtung oder Ensemble von zu einer Technik verbundenen Elementen, durch das moderne Machtmechanismen wirken. So spricht er etwa in „Surveiller et punir“ abwechselnd von einem „dispositif disciplinaire“ bzw. „dispositif de disziplin“,176 mal vom „dispositif panoptique“,177 dann wieder vom „dispositif carcérau“ bzw. „dispositif d’incarcération“178 oder auch schlicht nur von „dispositif de

175 Vgl. Dreyfus/Rabinow (21983), a.a.O., S. 121. 176 Vgl. etwa Foucault (1975), a.a.O., S. 225 (frz. S. 176); S. 236 (frz. S. 185); S. 253 (frz. S. 199); S. 392 (frz. S. 311). Dies dürfte ein Grund sein, warum der Begriff Dispositiv in der deutschen Übersetzung von „Surveiller et punir“ ebenfalls recht wahllos und unspezifisch mal mit „Anlage“, mal mit „Einrichtung“ übersetzt wurde. Erst in der deutschen Übersetzung von „La volonté de savoir“ taucht das Wort „Dispositiv“ als spezieller Terminus technicus auf. Vgl. Foucault (1976), a.a.O., S. 35 (Anmerkung der Übersetzer). 177 Vgl. Foucault (1975), a.a.O., S. 257 (frz. S. 202); S. 265 (frz. S. 208). 178 Vgl. ebd., S. 396 (frz. S. 314; S. 315).

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pouvoir“.179 Definitiv ins Zentrum der Machtanalytik rückt das Dispositiv schließlich im ersten Band der „Histoire de la sexualité“, wo Foucault unter dem Titel „Das Dispositiv der Sexualität“ ein größeres Kapitel einschiebt, das einer historisch-kritischen Methodenreflexion dient.180 Doch auch hier wird der Begriff mehr oder weniger selbstverständlich in seiner Anwendung auf eine bestimmte historische Thematik, nämlich die modernen Diskurse über Sexualität, entfaltet. Was er begrifflich genau unter einem Dispositiv versteht, hat Foucault nur einmal auf Nachfrage in einem Interview zu explizieren versucht. Demzufolge ist ein Dispositiv eine „entschieden heterogene Gesamtheit“,181 die sich aus kategorial völlig verschiedenen diskursiven und nicht-diskursiven Elementen zusammensetzt und zwischen diesen Elementen ein bestimmtes qualitatives Verhältnis charakterisiert. Diese spezifische Qualität soll sich sowohl anhand der jeweiligen Elemente eines Dispositivs wie an der Art ihrer Verbindung erweisen. Zu den einzelnen Elementen zählt Foucault recht unterschiedliche Entitäten, „[…] bestehend aus Diskursen, Institutionen, architektonischen Einrichtungen, reglementierenden Entscheidungen, Gesetzen, administrativen Maßnahmen, wissenschaftlichen Aussagen, philosophischen, moralischen und philanthropischen Lehrsätzen […]“.182 Der Inhalt eines Dispositivs erstreckt sich also quer über konventionelle wissenschaftliche Ordnungsvorstellungen hinweg auf ein plurales Feld von theoretischen Aussagen, praktischen Handlungsanweisungen, gesellschaftlichen Institutionen und physischen Tatsachen. Das Charakteristische, was ein Dispositiv schließlich ausmacht, soll die spezifische Art sein, wie es diese Bestandteile miteinander verbindet. „Das Dispositiv selbst“, so Foucault, „ist das Netz, das man zwischen diesen Elementen herstellen kann.“183 Der Analyseraster des Dispositivs dient ihm also vor allem dazu, die spezifische Qualität einer jeweiligen historisch existierenden Verbindung beschreiben zu können. Er soll die „[…] Natur der Verbindung, die zwischen diesen heterogenen Elementen bestehen kann […]“,184 deutlich machen. Was nun aber genau diese besondere Qualität einer Verbindung ausmachen soll, lässt sich für Foucault auf der begrifflichen Ebene offenbar nicht so einfach bestimmen. Denn anders als es die aufbereitete überwältigende Materialfülle in seinen historischen Arbeiten erwarten lässt, formuliert Foucault recht allgemein und in fast schon

179 Vgl. ebd., S. 394 (frz. S. 312). 180 Vgl. Foucault (1976), a.a.O., S. 95ff. 181 Vgl. Foucault (1977b), a.a.O., Bd. 3, S. 392. 182 Vgl. ebd. 183 Ebd. 184 Vgl. ebd.

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strukturalistischer Abstraktheit. Demnach scheint das Dispositiv so etwas wie eine Struktur zu beschreiben, innerhalb der bestimmte Positionen und Funktionen vorkommen, die jedoch von den die Struktur konstituierenden Elementen in unterschiedlichen Variationen eingenommen bzw. erfüllt werden können. „Kurz“, so Foucault, „zwischen diesen diskursiven und nicht-diskursiven Elementen gibt es gleichsam ein Spiel, gibt es Positionswechsel und Veränderungen der Funktionen, die ebenfalls sehr unterschiedlich sein können.“185 Dieser recht unverbindlichen Formulierung ist zumindest so viel zu entnehmen: Ein Dispositiv ist nicht als statische Ordnung zu begreifen, sondern als eine dynamische Struktur, die eine Reihe von Variationen zulässt. In struktureller Hinsicht erinnert die Konzeption des Dispositivs damit zunächst weitgehend an die Diskursformationen, deren intern wie extern wirkende regelhafte Ordnungen der Archäologe zu beschreiben suchte.186 Anders als in „Les mots et les choses“ oder der „Archéologie du savoir“ geht es nun aber nicht mehr um in Diskursen sich niederschlagende historisch spezifische Wissensordnungen, sondern um deren Funktionieren innerhalb von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen. Genau zu diesem Zweck führt Foucault den Begriff des Dispositivs ein. Es ist das methodische Hilfsmittel, mit dem er hofft, das Feld der nicht-diskursiven Praktiken zu erfassen, also genau den Gegenstandsbereich zu erschließen, an dem die Diskursanalyse gescheitert war. Dem Dispositiv kommt deshalb etwa dieselbe Funktion innerhalb der Machtanalytik zu wie dem Begriff der Episteme für die historische Diskursanalyse. Mit der Ausweitung des Untersuchungsfeldes auf nicht-diskursive Bereiche wird die Episteme zu einem spezifischen, auf die diskursiven Praktiken zugeschnittenen Analyseraster.187 Das Dispositiv ist also eine gesellschaftliche Struktur, die sich weitgehend mit archäologischen Mitteln beschreiben lassen muss. Die jeweiligen Positionswechsel und Funktionsverschiebungen können über das Verfahren der synchronen Schnitte transparent gemacht werden. Der Vorteil, den das Dispositiv offenbar bietet, ist, dass es dadurch möglich wird, die Verschränkung von Wissen und Macht auf der Ebene gesellschaftlicher Institutionen zu verfolgen. Die in den Arbeiten des Übergangs – der Antrittsvorlesung am Collège de France und im Nietzsche-Aufsatz – noch programmatisch unterstellte Verschwisterung von Wissen und Macht soll nun methodisch kontrolliert nachgewiesen werden können. Hatte die Episteme dazu gedient, die diskursiven Bedingungen von wissenschaftlich als wahr erkannten

185 Ebd., S. 393. 186 Vgl. hierzu auch Clemens Kammler (1986): Michel Foucault. Eine kritische Analyse seines Werks, Bonn, S. 158. 187 Vgl. Foucault (1977b), a.a.O., Bd. 3, S. 395.

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Aussagen aufzuweisen, so ist das Dispositiv nun der Analyseraster, um die Opposition wahr/falsch innerhalb eines Strukturzusammenhangs auf der Grundlage der Mechanismen der Macht beschreiben zu können. Damit ist der Dispositiv-Begriff, wie Foucault ihn verwendet, allerdings noch nicht vollständig erfasst. Neben der strukturbestimmenden weist er ihm noch eine zweite, strategische Funktion zu. Der bereits erwähnte technische Charakter hängt u.a. nämlich auch damit zusammen, dass Foucault das Dispositiv in den historischen Kontext einbettet, innerhalb dessen es zugleich als Reaktionsform auf eine spezifische Problematik zu verstehen ist. Ein Dispositiv unterliegt demnach immer einem „strategischen Imperativ“. Damit ist gemeint, dass es als eine mögliche Lösung für ein in der Geschichte auftauchendes gesellschaftliches Problem zu verstehen ist. Als Beispiel nennt Foucault an dieser Stelle die Inkompatibilität einer vagabundierenden Bevölkerung mit einer merkantilistischen Wirtschaftsordnung und die daraus sich ergebende Notwendigkeit, diese in das ökonomische System zu integrieren. Der strategische Einsatz bestand in dem schrittweisen Aufbau eines medizinisch-juristischen Mechanismus der Überwachung und Kontrolle. Mit der strategischen Komponente gelingt es Foucault, neben der strukurellen zugleich die genetische Dimension des Dispositivs einzuführen. Es ist in dieser Hinsicht „[…] eine Art – sagen wir – Gebilde, das zu einem historisch gegebenen Zeitpunkt vor allem die Funktion hat, einer dringenden Anforderung nachzukommen. Das Dispositiv hat also eine dominante strategische Funktion“.188 Erst mit der strategischen Komponente erhält das Dispositiv also seine komplette begriffliche Bestimmung. Und damit kehren die bereits mehrfach aufgetauchten drei grundlegenden Dimensionen der foucaultschen Gesellschaftsanalyse wieder: Der innere Strukturzusammenhang, die darin zugelassene innere Dynamik und die Ebene der Transformation einer Struktur. Letztere vollzieht sich im Falle eines Dispositivs in der Folge einer strategischen Reaktion auf eine Problematik – es entsteht eine neue Struktur –, bezüglich der beiden anderen Dimensionen spricht Foucault von einer „funktionalen Überdeterminierung“ bzw. „strategischen Ausfüllung“.189 Diese beiden Termini stehen gewissermaßen für die Strukturlogik und die Strukturdynamik eines Dispositivs. Mit funktionaler Überdeterminierung sind die miteinander harmonierenden oder gegebenenfalls sich auch gegenseitig ausschließenden Positionen und Funktionen der einzelnen Elemente innerhalb eines prekären Kräfteverhältnisses gemeint. Demnach ist ein Dispositiv nicht als eine funktionale Einheit, sondern als ein plurales, bis-

188 Vgl. ebd., S. 393. 189 Vgl. ebd.

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weilen inkongruentes Ensemble zu verstehen, das entsprechend seiner Zusammensetzung einer spezifischen internen Dynamik unterliegt. Die strategische Ausfüllung bezieht sich auf die Möglichkeit, einzelne Funktionen des Dispositivs mit einer veränderten Zielperspektive zu versehen. Diese ist insbesondere dann gegeben, wenn anstelle der in strategischer Hinsicht erwarteten Folgen andere, unbeabsichtigte eintreten und damit eine neue Problematik entsteht, auf die durch die Umformatierung des Dispositivs reagiert wird. Als ein Analyseraster, mit dessen Hilfe sich in struktureller Hinsicht sowohl diskursive wie nicht-diskursive Funktions- bzw. Transformationsbedingungen und in dynamischer Perspektive die strategische Herkunft gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse beschreiben lassen sollen, kommt dem Dispositiv-Modell innerhalb der Machtanalytik eine zentrale Rolle zu. Foucaults wichtigste Arbeiten der 70er Jahre lassen sich in gewisser Weise als Genealogien verschiedener Dispositive verstehen. „Surveiller et punir“ rekonstruiert die Genealogie des Disziplinardispositivs, Thema von „La volonté de savoir“ ist die Genealogie des Sexualitätsdispositivs. In beiden Arbeiten versucht Foucault auf unterschiedlichen Wegen der jeweiligen Entstehungsgeschichte eines spezifischen Verhältnisses von Wissensformen und Machttechniken nachzugehen, wie es sich nicht zuletzt in den modernen Humanwissenschaften niederschlägt. Disziplinierung Es ist daher nur konsequent, dass Foucault für „Surveiller et punir“ als Untertitel „Naissance de la prison“ gewählt hat. Ausgehend von den Strafrechtsreformen des 18. Jahrhunderts in Frankreich rekonstruiert er die Entstehung einer modernen Disziplinargesellschaft. Die Ergebnisse der Untersuchung münden in die mehrfach variierte Generalthese, dass die Disziplin die grundlegende Gestalt moderner sozialer Beziehungen darstellt.190 Für eine Analytik der Macht kommt dem Gefängnis in seiner modernen Form gleich in zweifacher Hinsicht eine besondere Erschließungsfunktion zu. Entlang seiner politisch-wissenschaftlichen Entstehungsgeschichte lässt sich die Durchsetzung des Disziplinardispositivs quasi in Reinform studieren, zum anderen dient es als Folie, mit deren Hilfe das Funktionieren dieses Dispositivs auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen kontrastiert werden kann. Foucault bettet die Geburt des Gefängnisses in einen gesellschaftlichen Transformationsprozess ein, innerhalb dessen jenes spezifi-

190 Vgl. Foucault (1975), a.a.O., S. 271f; S. 292; S. 387.

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sche Dispositiv der Moderne auftaucht. Und genau darin besteht die gesellschaftsanalytische Relevanz von „Surveiller et punir“. Foucault verfolgt nicht die Geschichte einer Institution im 18. Jahrhundert, sondern die Genealogie eines über die Institution des Gefängnisses hinausweisenden modernen Dispositivs. Obwohl er in „Surveiller et punir“ ausschließlich historisches Material aufbereitet, liegt der Schwerpunkt seines Erkenntnisinteresses auf einer möglichen Diagnose der Gegenwart. Ausdrücklich betont Foucault deshalb: „Nun, ich habe nicht vor, die Geschichte der Vergangenheit in die Begriffe der Gegenwart zu fassen. Wohl aber ist es meine Absicht, die Geschichte der Gegenwart zu schreiben.“191 Die Reformen des französischen Strafrechts sind dafür der Ausgangspunkt. Foucault versucht bekanntlich nachzuzeichnen, wie sich das Gefängnis bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts als dominierende Technik des Strafens durchgesetzt und die Praktiken der öffentlichen Züchtigung und Martern schrittweise verdrängt hat. Sein Zugriff auf das ihm zur Verfügung stehende historische Material erfolgt unter den methodologischen Prämissen der Archäologie und der Genealogie, was, wie gesehen, bedeutet, dass sämtliche Kontinuitätsunterstellungen im Sinne historischer oder systematischer Totalitäten eingeklammert werden. Aus diesem Grund distanziert sich Foucault von Theoriemodellen, die die Etablierung des Gefängnisses entweder als politischen und humanen Fortschritt oder unter dem Gesichtspunkt seiner ökonomischen Funktionalität deuten. Die französische Revolution und die Durchsetzung des Kapitalismus bilden zwar den historischen Kontext, die spezifische Funktionsweise des Gefängnisses kann laut Foucault aus deren politisch-rechtlicher bzw. ökonomischer Binnenlogik aber nicht erklärt werden. Entscheidend ist seines Erachtens, und darauf konzentriert sich seine Untersuchung, die mit dem Gefängnis einhergehende strategische Änderung der Ziele und Methoden des Strafens. Das erklärte Ziel ist die Besserung des Inhaftierten, die dafür als geeignet angesehene Methode ist die Disziplin. Das Gefängnis ist demzufolge ein Element innerhalb des politischen und ökonomischen Transformationsprozesses des 18. Jahrhunderts, in dem sich die Disziplin durchsetzt, indem sie „gelehrige Körper“ schafft.192 Die allgemeine Form der Disziplin hat die „Umcodierung der Existenz“193 zum Ziel, die Aufgabe des Gefängnisses ist die Fabrikation ökonomischer Individuen.194 Damit ist es nicht als Ausdruck einer tiefer liegenden Ursache dieser Transformation zu verstehen,

191 Ebd., S. 43. 192 Vgl. ebd., S. 173ff. 193 Vgl. ebd., S. 302. 194 Vgl. ebd., S. 311.

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sondern als eigenständiges, mit anderen kompatibles Element innerhalb dieses Prozesses. Foucault negiert also nicht die funktionale Bedeutung des Gefängnisses für die bürgerliche Gesellschaft und die historisch damit verbundene kapitalistische Warenproduktion. Es geht ihm jedoch darum, die technologische Eigenart der Macht isolieren zu können. Er fasst zwar die Disziplin sowohl als eine Machttechnik der „Wertschöpfung“ 195 wie als das „Untergeschoß zu den formellen und rechtlichen Freiheiten“196 und insofern als die „Kehrseite der Demokratie“197 auf, er geht jedoch davon aus, dass mit den ökonomischen und politischen Transformationen des 18. Jahrhunderts eine Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Sphären stattgefunden hat. Dieser Tatsache kann das Dispositiv als Analyseraster gerecht werden. Dessen forschungsstrategische Bedeutung liegt in der Annahme einer relativen Autonomie der Technologien der Macht. Worin besteht nun die Spezifik dieser Dispositive der Moderne? Mit Blick auf die Disziplinarmacht rekonstruiert Foucault die Genese des entsprechenden Dispositivs, wie bereits erwähnt, entlang des Wandels der Strafpraktiken im Zuge der Strafrechtsreformen des 18. Jahrhunderts. Wesentlich für die Installierung des Disziplinardispositivs ist auf diesem Feld der Funktionswechsel des Gerichtsverfahrens und die damit einhergehende veränderte Beziehung seiner konstitutiven Elemente zueinander. Im Fokus von Foucaults historischer Analyse steht dabei das Verhältnis von Recht und Wissen. Repräsentierte das Recht zuvor die Instanz des Monarchen, so oblag ihm im Falle eines Verstoßes gegen die souveräne Ordnung die Aufgabe, diese wiederherzustellen. Das war die Funktion der Strafe. Die Verletzung des Rechts konnte nicht durch die Begleichung einer Schuld wiedergutgemacht werden. Sie musste gerächt werden. Dies geschah durch die öffentliche Demonstration der Macht des Souveräns. Darin lag der Sinn publikumswirksamer Martern: individuelle Rache und allgemeingültige Drohung. Dem Wissen kam die Aufgabe zu, Urheber und Gehalt des Rechtsverstoßes zu verifizieren. Ganz anders verhalten sich Recht und Wissen innerhalb des Strafverfahrens der Disziplinargesellschaft. Das Recht basiert auf einer vertragstheoretisch gerechtfertigten gesellschaftlichen Ordnung von staatsbürgerlichen Subjekten. Rechtsverstöße sind schuldhafte Vergehen gegenüber der Gemeinschaft der

195 Vgl. ebd., S. 281. 196 Vgl. ebd., S. 285. 197 Michel Foucault (1975a): Auf dem Präsentierteller (Sur la selette. In: Les Nouvelles littéraires 2477, 17.-23. März 1975, S. 3); hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 2, S. 890.

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Rechtssubjekte, die wiedergutzumachen sind. Strafe ist Sühne. Damit stellen sich aber zugleich neue Fragen an die Gerichtsentscheidung: zum einen nach der Schuldfähigkeit des Täters und in Konsequenz nach einer legitimen Anerkennung des Schuldigen als vollwertiges Rechtssubjekt; zum anderen nach den Chancen der Besserung des Subjektes, so dass es als vollwertiges Mitglied in die Gemeinschaft wieder eingegliedert werden kann. Insofern verschiebt sich die Aufgabe des für das Gerichtsverfahren relevanten Wissens notwendig auf ein neues Terrain. Gegenstand des Wissens ist nicht mehr allein, den Wahrheitsgehalt eines Vorwurfs festzustellen, also die Zuordnung eines Täters zu einer Tat, sondern der Täter selbst wird zum Träger einer Wahrheit. Das Maß der Strafe richtet sich nicht mehr allein nach der Schwere des Rechtsverstoßes, sondern zugleich nach der individuellen Verfassung des Täters. Seine Lebensgeschichte, sein psychischer Zustand, kurz seine Person wird in der Form des wissenschaftlichen Gerichtsgutachtens zum Gegenstand des Wissens. Das Wissen erlangt damit eine völlig neue Funktion. Foucault verdeutlicht dies anhand der historisch grundverschiedenen Techniken der Wahrheitsermittlung innerhalb von Gerichtsverfahren. Hatte es im frühen Mittelalter noch die Aufgabe, den Beweis für eine Tat durch das Mittel der Probe (épreuve) zu ermitteln, wie dies etwa mit den berüchtigten Gottesbeweisen bewerkstelligt wurde,198 in denen die Kenntnis des Wahrheitsgehalts der Anschuldigung an eine göttliche Autorität delegiert worden war, so stand später die Methode der Untersuchung (enquête) zur Verfügung. Dabei wurde die Wahrheit durch eine Technik der „Beweisaufnahme“ über die Aussagen ehrwürdiger Personen oder durch ein, wenn auch, wie in der Inquisition, zumeist erzwungenes, Geständnis des Angeklagten zu Tage gefördert.199 Mit dem Auftauchen der Disziplin vollzieht sich die Wahrheitsermittlung schließlich nicht nur über eine neue Technik, sie erhält zugleich einen neuen Gegenstand: sie erfolgt über die Prüfung (examen). Damit ist nicht nur die Überprüfung des Wahrheitsgehaltes von strafrechtlich relevanten Aussagen gemeint, sondern zugleich – und das ist laut Foucault das qualitativ Neue – die Prüfung des Täters im Sinne der Erforschung der Wahrheit des Subjektes. „Charakteristisch für dieses Wissen ist nicht mehr das Bemühen, ein vergangenes Ereignis zu klären, sondern zu bestimmen, ob jemand sich so verhält, wie er soll; ob er sich konform und regelgerecht verhält; ob er Fortschritte macht“, so Foucault.200 Entscheidend für das Disziplinardispositiv, wie es im Zuge der Entstehung des nach-feudalen Gerichtsverfahrens gebildet wird, ist die

198 Vgl. Foucault (1974), a.a.O., Bd. 2, S. 711ff. 199 Vgl. ebd., S. 720ff. 200 Ebd., S. 736.

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strategische Rolle der Humanwissenschaften. Sie liefern sowohl die normativen wie technischen Implikationen der modernen Macht. Denn im Zentrum des Strafverfahrens steht nicht mehr die Machtdemonstration des Souveräns am gemarterten Körper eines zu eliminierenden Feindes, sondern der zu disziplinierende Körper. Das Ziel der Disziplinierung ist die Besserung und Integration des Individuums nach Maßgabe einer wissenschaftlich-technischen Norm. Foucault beschreibt diesen Kontrast wie folgt: „Als man von den traditionell-rituellen Mechanismen der Individualisierung zu den wissenschaftlich-disziplinären Mechanismen überging, als das Normale den Platz des Altehrwürdigen einnahm und das Maß den Platz des Standes, als die Individualität des berechenbaren Menschen die Individualität des denkwürdigen Menschen verdrängte und die Wissenschaft vom Menschen möglich wurde – da setzten sich eine neue Technologie der Macht und eine andere politische Anatomie des Körpers durch.“201

In der Moderne nimmt die Macht eine neue Gestalt an. Die Basis des Disziplinardispositivs, wie es in der institutionellen und epistemischen Ordnung des nach-feudalen Gerichtsverfahrens zum Tragen kommt, ist eine veränderte Beziehung von Wissen und Macht. Das normative Wissen und das technische Knowhow, das die Humanwissenschaften für die Strafpraxis bereitstellt, basiert auf der modernen Idee des Menschen, die ihre empirisch-transzendentale Begründung auf philosophisch-anthropologische Grundannahmen einerseits und auf das Tatsachenwissen von Medizin und Psychiatrie andererseits stützen kann. Damit stellen die Humanwissenschaften nicht nur die normativen Maßstäbe zur diagnostischen Beurteilung von Individuen als normal bzw. anormal/pathologisch bereit, sondern zugleich die Werteskala, entlang der der Grad des Pathologischen abgelesen und damit die geeigneten Techniken zur Besserung bzw. Normalisierung des Betroffenen ausgewählt werden können. Mit den Humanwissenschaften entsteht insofern auch ein pragmatisches Wissen, auf das die Disziplin zurückgreifen kann. Vor diesem Hintergrund wird nachvollziehbar, warum das psychiatrische Gutachten zur entscheidenden Gelenkstelle des Disziplinardispositivs innerhalb des modernen Gerichtsverfahrens wird. Es stellt laut Foucault gewissermaßen eine Zwitterfigur dar, denn es urteilt streng genommen weder nach den Kriterien des eigenen Wissenschaftsverständnisses noch nach den Regeln des

201 Foucault (1975), a.a.O., S. 249.

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geltenden Rechts,202 sondern es ist ein psychologisch-moralischer Diskurs, der die mögliche Neigung des Angeklagten zum Verbrechen unter pathologischen Gesichtspunkten einschätzt. So erfährt die Rechtssprechung nach Foucault einen Funktionswandel: „Gefragt wird nicht nach dem Umstand des Verbrechens noch nach der Intention des Subjekts, sondern nach der dem kriminellen Verhalten immanenten Rationalität und seiner natürlichen Erkennbarkeit.“203 Der neuartige Bedingungszusammenhang von Wissen und Macht, wie Foucault ihn am modernen Gerichtsverfahren aufzeigt, macht plausibel, warum das Gefängnis im Zuge der Strafrechtsreformen des 18. Jahrhunderts bald zum vorrangigen Ort der Strafe wird. Im Gefängnis kulminiert die „politische Anatomie“ der modernen Macht, indem sich dort ein Disziplinardispositiv installiert, das die Gefangenen in ihrer individuellen Existenz in Beschlag nimmt. Ein Dispositiv, das Foucault als „politischen Körper“ charakterisiert, „[…] als Gesamtheit der materiellen Elemente und Techniken, welche als Waffen, Schaltstationen, Verbindungswege und Stützpunkte den Macht- und Wissensbeziehungen dienen, welche die menschlichen Körper besetzen und unterwerfen, indem sie aus ihnen Wissensobjekte machen“.204 Insofern ist es auch das Gefängnis, für das der Prototyp des Disziplinardispositivs entwickelt wird. Die gegen Ende des 18. Jahrhunderts von Jeremy Bentham entworfenen, wenn auch nie in dieser Form vollständig realisierten, Pläne für ein Panopticon waren so gesehen der historisch adäquate Vorschlag zur Realisierung der strategischen Zwecke des Gefängnisses: Strafe zur Besserung und Ausbildung der Integrationsfähigkeit des Subjektes. Im Panopticon, der idealen Gefängnisanlage, in der von einem Punkt aus alle Gefangenen beobachtet und kontrolliert werden können, kommt die Utopie der Disziplinargesellschaft zum Vorschein, denn es verkörpert zugleich die „[…] Gestalt einer politischen Technologie, die man von ihrer spezifischen Verwendung ablösen kann […]“.205 Es ist ein Dispositiv, das sämtliche Anforderungen der Disziplinarmacht erfüllt. An seiner Funktionsweise lässt sich weitgehend studieren, was Foucault in seiner weiter oben angeführten abstrakten Begriffsdefinition des Dispositivs zu erläutern versuchte. Folgende Merkmale des Panopticons sind charakteristisch für die neue Form der Macht, wie Foucault sie zu beschreiben sucht: Das Panopticon ist eine architektonische Anordnung, durch die

202 Vgl. Michel Foucault (1999): Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1974-1975), Frankfurt/M. 2003 (Les Anormaux. Cours au Collège de France, 19741975, Paris), S. 60f. 203 Ebd., S. 119. 204 Vgl. Foucault (1975), a.a.O., S. 40. 205 Vgl. ebd., S. 263f; ähnlich vgl. Foucault (1974), a.a.O., Bd. 2, S. 735f.

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ein sichtbarer Raum konstituiert und strukturiert wird. Diese bewirkt zunächst eine Umkehr der vormodernen Ordnung der Sichtbarkeit. Es ist nicht mehr der Souverän, auf den sich die Blicke richten, wenn er seine strafende Macht demonstriert, es ist nun der Straftäter, der im Scheinwerferlicht steht. Die Macht wird dadurch anonym, denn das Objekt des Blickes kann nicht sehen, wer es anblickt und vor allem ob es überhaupt beobachtet wird. Zugleich ist der Blick parzellierend und individualisierend, da es dank der architektonischen Anordnung der Positionen möglich wird, von einem zentralen Ort aus alles und alle zu sehen. Das panoptische Dispositiv erlaubt somit, die in der Zelle einsitzenden Personen in ihrer vollen Sichtbarkeit als Einzelne zu isolieren, zu vergleichen und in ihrer spezifischen Differenz zu anderen zu bestimmen. Dank der kompletten Abschottung gegenüber den Nachbarzellen sind die Gefangenen ausschließlich „[…] Objekt einer Information, niemals Subjekt einer Kommunikation“.206 Das Panopticon ist die materiale Voraussetzung dafür, dass die Individuen realiter wie auf einem Tableau angeordnet und bewertet werden können. Damit sind zwei wesentliche Bedingungen der Disziplinarmacht gegeben: Der beobachtende und bewertende Blick ermöglicht die Kontrolle und individuelle Anpassung der Disziplinarmaßnahmen. Und er zwingt durch seine Anonymität das beobachtete Individuum, sich einer über dieses System des Überwachens und Strafens oktroyierten Disziplin zu unterwerfen und diese zu verinnerlichen. Disziplinierung bedeutet in dieser Hinsicht Subjektivierung durch Individuierung. Unter machtanalytischen Gesichtspunkten ist der entscheidende Punkt, dass das Panopticon eine technische Gestalt der modernen Macht darstellt. „Dieses Dispositiv“, so Foucault, „ist deswegen so bedeutend, weil es die Macht automatisiert und entindividualisiert“.207 Und es verkörpert in gewisser Weise die Macht in Reinform, weil sein Grundprinzip – Parzellierung und Individualisierung durch die Beobachtbarkeit der Subjekte – auf andere Bereiche übertragbar ist. Die technische Möglichkeit der Identifizierung des Einzelnen erlaubt seine Disziplinierung nach Maßgabe einer auf Macht und Wissen basierenden Norm. Disziplinierung ist das Mittel zur Abrichtung der Individuen gemäß einer Norm, die durch die vergleichende Beobachtung gewonnen werden kann. Disziplinierung ist ein Vorgang der Normalisierung,208 die Erfolgskontrolle erfolgt über die Prüfung des Subjekts. Im Disziplinardispositiv ist die Macht also direkt über die

206 Vgl. Foucault (1975), a.a.O., S. 257. 207 Ebd., S. 259 (Übersetzung modifiziert/M.R.). 208 Vgl. ebd., S. 236. Zum Verhältnis von Disziplin und Norm vgl. auch: François Ewald (1992): Michel Foucault et la norme. In: Luce Giard (Hg.), Michel Foucault. Lire l’Œuvre, Grenoble, S. 201-221.

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Mechanismen des Überwachens und Strafens verankert. Überwachen heißt Parzellieren, Individualisieren und je nach Vorgabe neu Kombinieren. Strafen heißt Prüfen, Normieren, Qualifizieren. Auf dieser abstrakten Ebene findet Foucault das Disziplinardispositiv nicht nur im panoptischen Gefängnis, das Prinzip des Panopticons regiert ebenso die Anordnung der Schüler im Klassenzimmer und das Einüben von Ritualen des Meldens, Aufstehens, des Aufsagens von gelerntem Wissen usw.209 Es regiert die Aufstellung der Soldaten auf dem Exerzierplatz, ihr Training von Bewegungsabläufen als Teil der Choreografie einer Militärmaschine.210 Es regiert die transparente Verteilung der Arbeiter in der Fabrikhalle und die routinierte Koordination ihrer Bewegungen, die minutiös in einen übergreifenden Produktionsprozess integrierbar sein müssen.211 Und es regiert selbst den Abstand zwischen den Betten in den Krankenhäusern, damit sich die Krankheiten nicht mischen, sondern isoliert, diagnostiziert und behandelt werden können.212 Das panoptische Dispositiv, wie es angesichts der Problematik des modernen Gefängnisses entsteht, ist insofern eine Technologie der Disziplinarmacht, deren Grundstruktur laut Foucault auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen zur Anwendung gelangt. Die moderne Gesellschaft wird damit als eine Mega-Disziplinar-Anlage interpretierbar, so dass Foucault schließlich mit provozierendem Unterton fragt: „Was ist daran verwunderlich, wenn das Gefängnis den Fabriken, den Schulen, den Kasernen, den Spitälern gleicht, die allesamt den Gefängnissen gleichen?“213 Das Dispositiv-Modell erscheint also als der geeignete Analyseraster, mit dessen Hilfe Foucault versucht, die Mikrophysik der Macht bis in die kleinsten Poren gesellschaftlicher Verhältnisse zu verfolgen. Entscheidend ist dabei, dass dieses Modell es möglich macht, die Macht nicht als etwas zu denken, das sich einem Subjekt von außen aufzwingt, wie dies in vormodernen Zeiten der Fall war, oder als etwas, das die sozialen Beziehungen nach bestimmten Vorgaben prägt oder determiniert, wie dies etwa eine funktionalistische Theorie der Macht nahelegen würde. Als Dispositiv analysiert, ist Macht etwas, das bereits in diesen Beziehungen existiert, das deren Funktionen nicht besetzt, sondern steigert. So ist das „panoptische Dispositiv“ für Foucault zum Beispiel „[…] nicht einfach ein Scharnier oder ein Austauschregler zwischen einem Machtmechanismus und einer Funktion; es bringt Machtbeziehungen innerhalb einer Funktion zur

209 Vgl. Foucault (1975), a.a.O., S. 227f. 210 Vgl. ebd., S. 212f. 211 Vgl. ebd., S. 226f. 212 Vgl. ebd., S. 222f. 213 Vgl. ebd., S. 292.

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Geltung und steigert dadurch diese Funktion“.214 Es ist sozusagen das in den materiellen Verhältnissen installierte Equipment, das über die Disziplinierung der Körper, die rituelle Einübung von Handlungen, die Verinnerlichung von Diskursen moderne Subjekte konstituiert. Denn Ziel und Gegenstand der Disziplin sind schließlich die Individuen. Als solche sind sie nicht nur Objekte, sondern zugleich Effekte der Macht und der Erkenntnis.215 Sexualität Foucault legt mit dem Dispositiv-Modell somit zugleich eine weitere theoretische Grundlage für seine Kritik am modernen Subjekt. Hatte er in „Les mots et les choses“ noch die Idee des Menschen mit den archäologischen Mitteln der Diskursanalyse denunziert, indem er auf dessen erkenntnistheoretisch prekären Status als ‚schwieriges Objekt und souveränes Subjekt‘ hinwies, so rückt das menschliche Subjekt nun in das Spannungsfeld von Wissen und Macht und wird damit als gesellschaftstheoretische Instanz endgültig entwertet. Es wird zum Produkt wissensgestützter Technologien der Disziplinarmacht: „Eine minutiöse Beobachtung des Details und gleichzeitig eine politische Erfassung der kleinen Dinge durch die Kontrolle und die Ausnutzung der Menschen setzten sich im Laufe des klassischen Zeitalters zunehmend durch und bringen eine Reihe von Techniken, ein Korpus von Verfahren und Wissen, von Beschreibungen, Rezepten und Daten mit sich. Aus diesen Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten ist der Mensch des modernen Humanismus geboren worden.“216

Um die Wirkmächtigkeit dieses Menschenbildes und insbesondere dessen Verstrickung mit der Macht überzeugend nachweisen zu können, genügt es allerdings nicht, allein den Funktionsmechanismus der Disziplin in seinen Auswirkungen auf die Körper der Individuen zu beschreiben. Soll die Konstitution des modernen Subjekts nicht wie ein behavioristischer Reflex auf einen ihm von außen auferlegten Zwang zu verstehen sein, muss eine Analytik der Mikrophysik der Macht im Sinne Foucaults auch in der Lage sein, deren Verästelungen bis in die innersten Verhaltensstrukturen der Individuen hinein verfolgen zu können. Denn im Grunde lässt sich erst dann ernsthaft behaupten, dass die Idee eines

214 Vgl. ebd., S. 265f (Übersetzung modifiziert/M.R.). 215 Vgl. ebd., S. 247. 216 Ebd., S. 181.

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selbstbestimmten Handlungssubjektes nicht nur als Ausgangspunkt für die Analyse sozialer Beziehungen unbrauchbar ist, sondern sogar noch die sich darin niederschlagenden Machtverhältnisse verschleiert. Erst dann kann zudem plausibel gemacht werden, warum die Macht „von unten“217, also von den Subjekten selbst aufrechterhalten und insofern von ihnen gewissermaßen mitkonstituiert wird. In dieser Hinsicht gelangt die analytische Reichweite des Disziplinardispositivs jedoch an ihre Grenzen. Um den Durchgriff der Macht auf die individuellen Selbstverhältnisse einsichtig machen zu können, wechselt Foucault den Analyseraster und führt ein weiteres konkretes Dispositiv ein. Im Zentrum von „La volonté de savoir“ steht deshalb das Dispositiv der Sexualität. Dieses unterlegt er mit der These, dass die Sexualität als Konstruktion eines spezifisch historischen Macht-Wissenskomplexes analysiert werden kann, der den modernen Individuen ihre Identität als sexuelle Subjekte zuschreibt. Die Sexualität als Gegenstand des Diskurses ist demnach eine relativ junge Erscheinung, die erst im 18. Jahrhundert auftaucht und der schließlich im darauf folgenden Jahrhundert eine ihr zu Grunde liegende Wahrheit zugesprochen wird. Unter archäologischen Gesichtspunkten lassen sich daher folgende Einschnitte feststellen: „Man hat eine Sexualität seit dem 18. Jahrhundert und ein Geschlecht seit dem 19. Jahrhundert. Davor hatte man zweifellos einen fleischlichen Leib.“218 Was Foucault daran vornehmlich interessiert, ist das Zustandekommen eines spezifischen Wahrheitsanspruchs innerhalb des modernen Diskurses über die Sexualität. Dieser fungiert als konstitutives Element des Sexualitätsdispositivs und koppelt dadurch die Identität der Subjekte an die Mechanismen der Macht. Ausgangspunkt des ersten Bandes der ursprünglich auf sechs Bände angelegten Geschichte der Sexualität ist daher die Frage nach der Genealogie des modernen Bedeutungsgehaltes der Sexualität. „Wie kommt es“, so erläutert Foucault seine Fragestellung, „dass in einer Gesellschaft wie der unseren die Sexualität nicht einfach nur das ist, was es ermöglicht, die Art, die Familie und die Individuen zu reproduzieren? Nicht einfach nur etwas, das Lust und Genuss verschafft? Wie kommt es, dass sie als der privilegierte Ort angesehen wird, an dem sich unsere tiefe Wahrheit lesen und sagen lässt?“219

217 Vgl. Foucault (1976), a.a.O., S. 115. 218 Foucault (1977b), a.a.O., Bd. 3, S. 410 (Übersetzung korrigiert/M.R.). 219 Michel Foucault (1977c): Nein zum König Sex (Non au sexe roi. In: Le Nouvelle Observateur 644, 12.-21. März 1977, S. 92-130); hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 3, S. 336.

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Das Sexualitätsdispositiv dient Foucault weitgehend als Analyseraster zur Untersuchung dieser Fragestellung und der damit verbundenen Konstitution individueller Selbstverhältnisse. Anders als das Disziplinardispositiv, das intelligibel machen sollte, wie das moderne Subjekt mit den Mitteln der Dressur und der Verinnerlichung der Beobachtung über ein von außen induziertes Selbstverhältnis konstituiert wird,220 richtet das Sexualitätsdispositiv nun den Blick auf die Binnenstruktur des Subjektes. Dieses erfährt sich selbst als Ort einer verborgenen tiefer liegenden Wahrheit, die es zu Tage zu fördern gilt. Dafür muss sich die Macht auf eine andere humanwissenschaftliche Methode des Zugangs zur Wahrheit stützen: auf die Techniken der Hermeneutik. Denn anders als das Disziplinardispositiv, das Korrekturanforderungen an den Körper adressiert und das dafür auf das Wissen einer aus einer Beobachterperspektive operierenden objektivistischen Sozialwissenschaft angewiesen ist, erfolgt der Zugriff des Sexualitätsdispositivs auf den Körper in einfühlend-therapeutischer Absicht.221 Es richtet sich an den Diskurs des Subjektes. Dessen Interpretation verspricht die Erschließung der spezifischen Wahrheit des Individuums und damit zugleich die Diagnose seiner möglichen pathologischen Abweichung von einer humanwissenschaftlich definierbaren Norm. Foucaults Erkenntnisinteresse besteht in „La volonté de savoir“ allerdings weniger in der Erforschung und Bewertung der mit dem Sexualitätsdispositiv verbundenen Inhalte als vielmehr in der Beschreibung der darin wirkenden spezifischen Verbindung von Wahrheitsansprüchen und Machtwirkungen. Insofern verharrt er weiter konsequent in der virtuellen Beobachterposition. Wie im Titel des Buches angekündigt, geht es ihm um den Willen zum Wissen, wie er das spezifisch moderne Verhältnis von Wissen und Macht verkörpert. Foucault formuliert diesen Anspruch nochmals ausdrücklich im Vorwort zur deutschen Ausgabe. Sein Problem laute: „[…] wie ist in den abendländischen Gesellschaften die Produktion von Diskursen, die (zumindest für eine bestimmte Zeit) mit einem Wahrheitswert geladen sind, an die unterschiedlichen Machtmechanismen und -institutionen gebunden?“222 Die Suche nach einer Wahrheit des Geschlechts ist dabei nur ein beispielhafter unter mehreren möglichen Diskursen, in denen sich Wissen und Macht miteinander verschränken. „La volonté de savoir“ hat, wie bereits erwähnt, über weite Strecke die Genealogie des Sexualitätsdispositivs zum Gegenstand. Seine Herkunft rekon-

220 Auf diese Mechanismen wird weiter unten im Zusammenhang mit dem Modell der Praktiken noch näher einzugehen sein. 221 Vgl. Dreyfus/Rabinow (21983), a.a.O., S. 178. 222 Vgl. Foucault (1976), a.a.O., S. 8.

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struiert Foucault aus der Genealogie von vier voneinander relativ unabhängigen und zugleich konstitutiven Elementen dieses Dispositivs: den christlichen Beichtpraktiken, dem staatlichen Interesse an der Bevölkerung, dem Recht und dem Diskurs der Humanwissenschaften. Die längste Herkunftslinie zeichnet Foucault entlang der diskursiven Praktiken, die darin bestehen, einer individuellen Wahrheit über den Weg des Geständnisses auf die Spur zu kommen. Anders als in „Surveiller et punir“ hat er dabei jedoch nicht die Methode der Wahrheitsermittlung mittels Gewaltandrohung oder gar Folter in der Tradition mittelalterlicher Gerichtsverfahren im Auge, sondern die mehr oder weniger auf intersubjektivem Einverständnis beruhende Praxis der christlichen Buße in den Klöstern seit dem 13. Jahrhundert. Diese beruhte einerseits auf der Beichte als eine Geständnistechnologie, die zum Ziel hatte, gegenüber einem anderen, dem Beichtvater, die Wahrheit über die eigene Seele und deren Verirrungen zu Tage zu fördern. Foucault spricht in dem hier verfolgten Zusammenhang der Genealogie des Sexualitätsdispositivs von der „‚Diskursivierung’ des Sexes“.223 Andererseits umfasste die Buße in der Askese eine „Technologie des Fleisches“,224 eine Form der Selbstdisziplinierung. Auf dieser Linie entstehen aus einem mehr oder weniger freiwilligen Diskurs über die körperlichen Begehrlichkeiten unter Anleitung des Beichtvaters Methoden der Gewissensforschung und Seelenführung,225 wie sie schließlich unter den veränderten epistemischen und politischen Rahmenbedingungen der Moderne in Pädagogik, Medizin, Psychiatrie und anderen Humanwissenschaften zur Anwendung gelangen. Eine zeitlich weitaus kürzere Herkunftslinie lässt sich laut Foucault bezüglich des staatlich-administrativen Elements des Sexualitätsdispositivs ziehen. Diese reicht nur bis ins frühe 18. Jahrhundert zurück, bis zu demjenigen Zeitpunkt nämlich, an dem die Bevölkerung zu einer neuen Thematik von Politik und Wissen wird, indem sie nicht mehr als Untertanen einer souveränen Macht, sondern als Quelle von Reichtum, als Ar-

223 Vgl. ebd., S. 31. Die deutschen Übersetzungen schwanken zwischen ‚dem Sex‘ und ‚dem Geschlecht‘. Keine von beiden wird der Bedeutung des französischen Wortes ‚le sexe‘ auch nur annähernd gerecht, da dieses je nach Kontext sowohl dessen lustvolle wie auch dessen naturhaft-biologische Dimension umfasst. Im Folgenden wird, soweit es sich nicht um Zitate handelt, der Terminus ‚Geschlecht‘ verwendet. Damit ist keine Präferenz zu Gunsten eines Bedeutungsgehaltes verbunden. Die Verwendung von ‚Geschlecht‘ hat lediglich den Vorteil, dass dadurch eventuelle Missverständnisse durch die umgangssprachlich eindimensionale Konnotation des Wortes ‚Sex‘ vermieden wird. 224 Vgl. ebd., S. 140. 225 Vgl. ebd.

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beitskraft und somit als Ressource begriffen wird.226 Damit wird die Fortpflanzung der Bevölkerung zum Gegenstand von Demografie und Statistik. Parallel dazu entkoppelt sich die Thematik des Geschlechts zumindest partiell von der Institution des Rechts. Waren die sexuellen Beziehungen bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts über Heiratsregeln und entlang der Verwandtschaftsverhältnisse verlaufende Ausschlussregeln codiert, wodurch sowohl Eigentumsverhältnisse stabilisiert und der Austausch von Reichtümern geregelt als auch ein normatives System von Ge- und Verboten etabliert wurden, so schiebt sich mit der sexuellen Thematik neben dieses juridisch fundierte „Allianzdispositiv“227 schrittweise ein anders funktionierender Regelmechanismus. Die Sexualität eröffnet eine Dimension jenseits der ständisch verfassten Ordnung. Sie bezeichnet eine individuelle Angelegenheit, die auf einen neuen Bedeutungsträger, das Geschlecht, verweist, das zum Gegenstand der Humanwissenschaft und zugleich zur Personalisierung ihres Repräsentanten wird. Es wird „[…] an ein Alter, einen Ort, einen Geschmack, einen Typ von Praktiken […]“ geheftet.228 Dies funktioniert freilich nur aufgrund einer weiteren Ausdifferenzierung auf der Ebene der Humanwissenschaften. Wie bereits erwähnt, stützte sich die im 18. Jahrhundert sich durchsetzende Disziplin weitgehend auf eine objektivierende Humanwissenschaft. Mit der Konstitution des Geschlechts geht im 19. Jahrhundert innerhalb der Wissenschaft vom Menschen eine weitere Verschiebung einher. Der Diskurs über die Sexualität, der vom Recht auf das Terrain der Medizin gewandert war, spaltet sich in eine objektivierende Medizin des Körpers und eine hermeneutische Medizin des Geschlechts, die ein neues Erkenntnisobjekt konstituiert: den Trieb.229 Neben einer Medizin, die primär an der Biologie der Fortpflanzung orientiert ist, entsteht ein neuer Typus der Humanwissenschaft, die sich einerseits über den Rückgriff auf das physiologische Vokabular versucht, sich ihrer Wissenschaftlichkeit zu versichern, zugleich aber aufgrund ihres anders gelagerten Erkenntnisobjektes nach völlig anderen Formationsregeln funktioniert als die Medizin.230 Die so entstandene Sexualwissenschaft erinnert in gewisser Weise an den prekären Status des psychiatrischen Gerichtsgutachtens innerhalb des strafrechtlichen Disziplinardispositivs, das sich eines merkwürdig gemischten Diskurses

226 Vgl. ebd., S. 36ff. Ausführlich analysiert Foucault diesen Prozess später in seiner Vorlesung über die Geschichte der ‚Gouvernementalität‘; vgl. besonders Foucault (2004), a.a.O., Bd. 1, 103ff. 227 Vgl. Foucault (1976), a.a.O., S. 128f. 228 Vgl. ebd., S. 65. 229 Vgl. ebd., S. 141f. 230 Vgl. ebd., S. 71.

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zwischen dem Recht und den wissenschaftlichen Standards der Psychiatrie bediente. Ebenso scheint die Sexualwissenschaft trotz oder, wie Foucault vermutet, gerade aufgrund des „Fehlen[s] jeder elementaren Rationalität [...]“231 als konstitutives Element des Sexualitätsdispositivs zu fungieren, das die darin versammelten politischen, juristischen und individuellen Praktiken miteinander verkettet – innerhalb eines Dispositivs, „[…] das die Geschichte weit umspannt, da es den alten Geständniszwang mit den Methoden des klinischen Abhorchens zusammenschaltet. Und erst auf Grund dieses Dispositivs hat als Wahrheit des Sexes und seiner Lüste eine Sache wie die ‚Sexualität‘ auf den Plan treten können. Die ‚Sexualität‘: Korrelat jener langsam entwickelten diskursiven Praktik, die die scientia sexualis darstellt“.232

Das Geschlecht steht somit im Zentrum des Sexualitätsdispositivs. Der archäologische Blick durch diesen Erkenntnisraster liefert Foucault die grundlegenden Elemente und Funktionen für die Beschreibung der Konstitution des Subjektes als Effekt von Wissen und Macht. Das Geschlecht als privilegiertes Erkenntnisobjekt ist der hypothetische Ort einer verborgenen Wahrheit des Subjekts,233 der zugleich als potenzieller Ursprung von Pathologien ausgemacht wird, die sich in ein medizinisches wie juristisches Register eintragen lassen.234 Damit lässt sich das Subjekt nach Maßgabe von entsprechenden Normalitätskriterien qualifizieren, identifizieren und therapieren. Für das Subjekt selbst wird das Geschlecht als vom Sexualitätsdispositiv fixierter Punkt damit aber ebenfalls zur Instanz einer Selbsterkenntnis und der Quelle von Identität. Ein Wissen über sein Selbst, das es allerdings nur über den Weg der Tiefenhermeneutik seines geständigen Diskurses mithilfe der Anleitung eines therapeutischen Experten erlangen kann. Die Wahrheit des Selbst basiert insofern notwendig auf einer außengeleiteten Kontrolle. Damit sind bereits die wesentlichen Elemente des Sexualitätsdispositivs bestimmt. Es erlaubt auf der Grundlage einer zu verifizierenden Bedeutung des Geschlechts die Individualisierung und zugleich normative Kategorisierung des Subjekts bei gleichzeitiger Kontrolle über die Motivation und Interpretation von Geständnissen. Das Geschlecht ist „[…] als einziger Signifikant und universelles Signifikat […]“, ein „idealer Punkt“, an dem sich die Macht festmacht, indem sie ihm einen Sinn unterstellt, der die „Identität“ des Subjekts verbürgt und

231 Vgl. ebd. 232 Ebd., S. 87f (Hervorhebung i.O.). 233 Vgl. ebd., S. 73. 234 Vgl. ebd., S. 141f.

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gleichzeitig die „Normalitätsprinzipien“ für dessen wissenschaftliche Beurteilung bereitstellt.235 Für Foucault hat der Analyseraster des Sexualitätsdispositivs vor allem eine heuristische Funktion. Wie bereits erwähnt, soll er ihm dazu dienen, ein historisch-spezifisches Verhältnis von Wahrheitsansprüchen und Machtmechanismen zu rekonstruieren. Das Sexualitätsdispositiv scheint sich für diesen Zweck ausgesprochen gut zu eignen. Denn mit dem Geschlecht als Konstitutionsbedingung des menschlichen Subjekts wird jenes in seiner Funktion als Quelle von Identität und Ursache eventueller pathologischer Normabweichung sowohl zu einer individuellen wie gesellschaftlichen Angelegenheit. Darin besteht die gesellschaftsanalytische Dimension dieses Rasters. Der Bedeutungsgehalt des Geschlechts bildet in dieser Hinsicht das „Scharnier“ zwischen zwei globalen politischen Machttechnologien, die Foucault mit dem Eintritt in die Moderne sich ausbilden sieht.236 Diese Technologien beobachtet er zum einen in den bereits bekannten Mechanismen der Disziplinierung am Werk, zum anderen in Versuchen einer staatlichen Regulierung der Bevölkerung. Mit Letzteren sind verwaltungstechnische Eingriffe und Vorgaben zur Steuerung der Bevölkerungsentwicklung nach Maßgabe politischer und ökonomischer Imperative gemeint. Diesen zweiten Mechanismus bezeichnet Foucault als „Bio-Macht“. Beide Machtmechanismen greifen über das Sexualitätsdispositiv ineinander. Ihr Gegenstand ist ganz generell das Leben. Der Adressat der Disziplin ist mit dem dressierten Körper das Leben des Individuums. Die Disziplin ist die „politische Anatomie des menschlichen Körpers“. Zielscheibe einer regulierenden Bio-Politik ist ein Mitte des 18. Jahrhunderts neu auftauchendes Erkenntnisobjekt: die Bevölkerung. Der Anspruch der Bio-Politik ist die Kontrolle des Lebens des Gesellschaftskörpers.237 Foucault nimmt hier ganz offensichtlich eine minimale Begriffsverschiebung vor, um den Raster des Sexualitätsdispositivs auf ein erweitertes gesellschaftliches Feld ausdehnen zu können. Zu diesem Zweck rückt der Begriff des Lebens nun an die Seite des Geschlechts. Das Geschlecht besetzt innerhalb des Sexualitätsdispositivs den imaginären Ort der Wahrheit, über den die Subjekte konstituiert werden; eigentliche Zielscheibe der Macht ist jedoch deren Leben. Dass das Leben als biologische Kategorie eine moderne begriffliche Erscheinung der Humanwissenschaft ist, hatte Foucault bereits in „Les mots et les choses“ nachzuweisen versucht. Nun ordnet er diesen, der Episteme der Moderne angehörenden Terminus dem Dispositiv der Sexualität zu und rückt ihn damit ins Zentrum der

235 Vgl. ebd., S. 184f. 236 Vgl. ebd., S. 173. 237 Vgl. ebd., S. 166 (Hervorhebung i.O.).

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Analytik der Macht. Ähnlich war er bereits mit der humanistischen Idee des Menschen verfahren, der er einen Ort innerhalb des Disziplinardispositivs zugewiesen hatte. Ebenso wie dem Geschlecht, das eine naturhaft-biologische wie eine lustvoll-individuelle Dimension besitzt, kommt nun allerdings auch dem Leben ein doppelter Bedeutungsgehalt zu. Es ist ein biologisch-wissenschaftlicher und zugleich ein individuell-praktischer Begriff. Die Macht richtet sich auf die Körper als dessen biologisch-materielle Träger wie auf die Weisen des Lebensvollzuges der Subjekte. So dressiert die Disziplin nicht nur die Körper, sondern organisiert zum Beispiel im Arbeitsprozess über vorgeschriebene Bewegungsabläufe, räumliche und zeitliche Anordnung der Subjekte sowie über Anwesenheitspflichten zugleich weitgehend den Inhalt der individuellen Lebensführung. Das regulierende Kalkül der Bio-Macht konzentriert sich derweil auf das Leben der Bevölkerung. Sie registriert das Fortpflanzungsverhalten ebenso wie etwa die Mobilität einzelner Bevölkerungsgruppen und ergreift, gestützt auf das demografische Wissen der Statistik, Maßnahmen mit dem Ziel einer optimalen Bevölkerungsqualität, indem etwa Geburtenkontrolle propagiert oder Babykampagnen ausgerufen werden, bestimmte Verhaltensweisen durch Steuern unterstützt oder bestraft werden, sozialstaatliche Leistungen erhöht oder gesenkt werden, Hygienevorschriften erlassen, Gesundheitskontrollen vorgeschrieben, Versicherungssysteme eingeführt oder Angebote zur Vermögensbildung gemacht werden usw.238 Generell besteht die Strategie der Bio-Politik darin, einer gesellschaftlichen Dynamik Rahmenbedingungen zu setzen und Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. Das Leben erhält damit innerhalb der Machtanalytik eine Schlüsselfunktion. Mit dem Leben taucht laut Foucault im 17. Jahrhundert ein neuer Gegenstand des Wissens und der Macht auf, in dessen Folge sich die Rolle des Subjektes von einem Rechtssubjekt auf die eines Lebewesens ausweitet. Foucault spricht von einer „biologischen Modernitätsschwelle“, die in einer Gesellschaft historisch dort zu verorten sei, „[…] wo es in ihren politischen Strategien um die Existenz der Gattung selbst geht.“239 Denn erst dadurch wird auf staatlicher Ebene eine „Bio-Politik“ auf den Plan gerufen. Eine Politik der Regulierung, die laut Foucault „[…] den Eintritt des Lebens und seiner Mechanismen in den Bereich der bewußten Kalküle und die Verwandlung des Macht-Wissens

238 Foucault verweist in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf rassistische Implikationen, wie sie nicht nur historisch in den Programmen der Eugenik anzutreffen sind; vgl. ebd., S. 177ff. Eine ausführliche Erörterung dieses Themenkomplexes mit Blick auf die sozialstaatliche Bio-Politik der Gegenwart würde allerdings über den Rahmen der hier verfolgten Fragestellung hinausgehen. 239 Vgl. ebd., S. 170f.

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in einen Transformationsagenten des menschlichen Lebens […]“ zur Voraussetzung hat.240 Historisch geht die Entstehung einer Bio-Macht freilich, ebenso wie die Disziplinarmacht, mit der Durchsetzung des Kapitalismus einher. Sie ist laut Foucault sogar ein „unerläßliches Element“ bei dessen Entwicklung.241 Trotzdem lässt sie sich ebenso wenig wie die Disziplin auf eine kapitalistische Funktionslogik zurückführen. Beide sind als strategische Reaktionen auf eine mit dem Kapitalismus aufkommende Problematik zu verstehen, die als „sorgfältige Verwaltung der Körper“ in Schulen, Internaten, Kasernen und Fabriken in Erscheinung treten und als „rechnerische Planung des Lebens“ das Ziel einer staatlichen BioPolitik darstellen.242 Foucault zieht an anderer Stelle zwei relativ autonome Linien, an denen entlang diese Anpassungsreaktionen verlaufen: „Wir haben also zwei Serien: die Serie Körper – Organismus – Disziplin – Institutionen; und die Serie Bevölkerung – biologische Prozesse – Regulierungsmechanismen – Staat.“243 Mit dem Begriff der Bio-Macht legt Foucault das begriffliche Fundament für eine Ausweitung seiner Gesellschaftsanalyse auf den Bereich des Staates, das in den späten 70er Jahren in das Projekt einer ‚Geschichte der Gouvernementalität‘ münden wird. Für den hier untersuchten Zusammenhang, die Frage nach der diagnostischen Reichweite des Dispositiv-Modells für eine Analytik der Macht kann so viel festgehalten werden: Foucault gelingt es, mithilfe des Analyserasters des Sexualitätsdispositivs ein weit ausgespanntes Netz von gesellschaftlichen Beziehungen in den Blick zu bekommen, das sich von der Ebene globaler politischer Steuerung bis in die intimsten Sphären der menschlichen Existenz erstreckt. Dabei fungiert der Bedeutungsgehalt des Geschlechts, an den sämtliche Elemente des Dispositivs andocken, nicht als ein begrifflicher Nukleus, von dem her sich eine etwaige Totalität der Macht rekonstruieren ließe, sondern eher wie eine Art Katalysator, auf den die jeweiligen Elemente entsprechend ihrer Eigenlogik zugreifen und reagieren. In forschungsstrategischer Hinsicht ist mit dieser thematischen Ausdehnung des Sexualitätsdispositivs auf die gesellschaftliche Makro-Ebene des Staates allerdings ein Umbau der bisherigen Architektur der Machtanalytik verbunden. Die inhaltliche Verschiebung des Dispositiv-Modells hin auf einen zugleich wissenschaftlich und politisch gefüllten Begriff des Lebens ermöglicht es Foucault nämlich, nicht nur die Subjektivierung des Indivi-

240 Vgl. ebd., S. 170. 241 Vgl. ebd., S. 168. 242 Vgl. ebd., S. 167. 243 Foucault (1996), a.a.O., S. 295.

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duums in einen globalen Kontext einzugruppieren, es führt zugleich zu einer Verkettung des Sexualitätsdispositivs mit dem Disziplinardispositiv. Letzteres stellt nun offenbar einen Analyseraster dar, der einerseits eine gesellschaftsanalytische Ergänzung auf der Ebene einer regulierenden Bio-Macht verlangt. Diese Aufgabe fällt der, wenn auch unter den Voraussetzungen einer bis dahin bereits leicht veränderten Konzeption der Machtanalytik, durchgeführten Untersuchung zur Geschichte der Gouvernementalität zu, innerhalb der Foucault als neuen Analyseraster das Sicherheitsdispositiv einführt.244 Diese Vorhaben hat er gegen Ende der 70er Jahre in Angriff genommen. Andererseits sind sowohl Disziplin wie Bio-Politik nun an den Macht-Wissenskomplex des Sexualitätsdispositivs zurückgebunden.245

Die Analytische Reichweite des Dispositiv-Modells Das von Foucault entwickelte Dispositiv-Modell erweist sich insgesamt, so viel lässt sich zusammenfassend sagen, als ein originelles methodisches Instrument zur Beschreibung sozialer Macht. Seine wesentliche Stärke liegt darin, dass es den von Foucault unterstellten strukturellen Zusammenhang von Wissen und Macht zumindest ansatzweise transparent werden lässt. Diese Unterstellung ging freilich nie so weit, dass Macht und Wissen miteinander identifiziert werden, noch dass eines auf das andere zurückführbar wäre. Die Analyseraster des Disziplinar- wie des Sexualitätsdispositivs fördern anhand des aufbereiteten historischen Materials allerdings zu Tage, was Foucault seit den frühen 70er Jahren immer wieder als seine generelle Arbeitshypothese präsentiert: „Kein Wissen bildet sich ohne ein Kommunikations-, Aufzeichnungs-, Akkumulationsund Versetzungssystem, das in sich eine Form von Macht ist und in seiner Existenz und seinem Funktionieren mit den anderen Machtformen verbunden ist. Umgekehrt kommt es zu keiner Ausübung von Macht ohne die Gewinnung, Aneignung, Verteilung oder Zurückhaltung eines Wissens. Auf dieser Stufe hat man nicht die Erkenntnis auf der einen

244 Vgl. Foucault (2004), a.a.O., Bd. 1, S. 19ff. Erste Ansätze in Richtung Sicherheitsdispositiv deuten sich bereits in der zeitgleich mit den letzten Arbeiten an „La volonté de savoir“ gehaltenen Vorlesung „Il faut defendre la société“ von Anfang 1976 an. Vgl. Foucault (1996), a.a.O., S. 285ff. 245 Vgl. Foucault (1996), a.a.O., S. 295ff.

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Seite und die Gesellschaft bzw. die Wissenschaft und den Staat auf der anderen, sondern die Grundformen des ‚Macht-Wissens‘.“246

Das Wissen basiert demzufolge auf keinem autonomen Diskurs, sondern ist bereits bei der Konstituierung seiner Erkenntnisobjekte und den daran geknüpften Wahrheitsansprüchen selbst eine Praktik der Macht, ohne jedoch generell in dieser aufzugehen. Dies zeigt sich an beiden Dispositiven, die Foucault Mitte der 70er Jahre entwickelt. Das Geschlecht als zentraler Ort der Wahrheit und privilegiertes Erkenntnisobjekt der Humanwissenschaften ist zugleich ein Produkt der Macht, das wie ein Relais fungiert, über das die Individuen als Subjekte konstituiert werden. Ebenso wirkt die Disziplin über die Körper auf ein Subjekt ein, das als lernfähiges zugleich mit einer Seele ausgestattet ist. Beide, Seele und Geschlecht, sind innerhalb des Dispositiv-Modells als Produkte des Macht-Wissens beschreibbar. An ihnen offenbart sich zugleich die produktive Dimension der Macht, auf die noch einzugehen sein wird. Über den Dispositiv-Ansatz gelingt es Foucault ganz entsprechend den methodischen Vorgaben der Archäologie, die historisch formulierten Wahrheitsansprüche wie deren jeweilige substanzielle Gehalte einzuklammern. In streng nominalistischer Manier betrachtet Foucault diese als historisch-soziale Konstruktionen, die als formale Elemente innerhalb eines Wahrheitsspiels fungieren. Foucault interessiert sich daher nicht dafür, inwieweit darin gemachte korrespondenztheoretische Unterstellungen dieser Wahrheitsansprüche berechtig sind oder nicht. Ihm geht es allein um die Beschreibung der Regeln dieser Wahrheitsspiele.247 Insofern ermöglicht das Dispositiv-Modell die Beibehaltung einer strengen Beobachterperspektive. Da Foucault, wie gesehen, jegliche Kontinuitätsunterstellung methodisch von vornherein ausschließt, ist eine Vorstellung von der Macht als einer Art Totalität innerhalb des Dispositiv-Modells nicht möglich. Die Reichweite der Machtanalytik ist damit sowohl zeitlich wie regional notwendig begrenzt. Als Untersuchungsgegenstand treten immer nur lokale, historisch kontingente MachtWissens-Komplexe in Erscheinung, deren Genealogie es zu rekonstruieren gilt und an denen sich die Mikrophysik der Macht in ihren Verzweigungen nachzeichnen lassen soll. Die Machtanalytik kann deshalb in gesellschaftsanalytischer Perspektive immer nur partikulare, relativ autonome Ausschnitte beleuchten. Zugleich dokumentiert das Dispositiv-Modell eine Historizität der Macht

246 Foucault (1972): Theorien und Institutionen des Strafvollzugs (Théories et institutions pénales. In: Annuaire du Collège de France 72, S. 283-286); hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 2, S. 486. 247 Vgl. Foucault (1977), a.a.O., Bd. 3, S. 211f.

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selbst. Diese besitzt keine überhistorische Qualität. Sie lässt sich aber mit archäologischen Mitteln entlang einer diskontinuierlichen Abfolge von Dispositiven als jeweils spezifisch historische Mechanismen beschreiben. In struktureller Hinsicht beschreibt das Dispositiv-Modell damit MachtWissens-Komplexe, indem es die jeweiligen Kraftlinien verfolgt, die einen gesellschaftlichen Raum des historisch Sagbaren und Sichtbaren definieren.248 Insofern gelingt Foucault damit in der Tat erstmals eine plausible Vermittlung des Diskursiven mit dem Nicht-Diskursiven, des Wissens mit der Macht. Ebenso wie das Sagbare nicht nur den diskursiven Formationsregeln einer die menschliche Erfahrung strukturierenden Episteme gehorcht, sondern, wie sich am Beispiel von Geschlecht und Geständnis zeigt, zugleich den nicht-diskursiven Bereich der Institutionen und der Körper der Subjekte mit einbezieht, so zeigte die Materialität der architektonischen Anordnung des Disziplinardispositivs, wie das Sichtbare zugleich Gegenstand eines Wahrheitsdiskurses und einer normativen Praktik wird. Das Dispositiv ist insofern ein Modell, mit dessen Hilfe sich eine jeweils historisch wie regional begrenzte Rationalität der Macht beschreiben lässt, eine Rationalität, die sowohl das normative Selbstverständnis einer Gesellschaft als auch die qualitativen Selbstzuschreibungen der Subjekte in einem neuen, fremden Licht erscheinen lässt. Trotz der zeitlichen und regionalen Begrenztheit des Analyserasters ist das Dispositiv-Modell jedoch abstrakt genug, dass es auf eine, wenn auch limitierte, Anzahl unterschiedlicher gesellschaftlicher Phänomene anwendbar erscheint. Dies zeigte sich besonders deutlich beim Disziplinardispositiv, wie es Foucault an den Überwachungsmechanismen des Gefängnisses entwickelt und auf andere Institutionen ausweitet. Es dokumentiert eine technische Anordnung innerhalb eines Kräfteverhältnisses, die jedenfalls so wirkmächtig zu sein scheint, dass Foucault hin und wieder ganz generell von einer ‚Disziplinargesellschaft‘ spricht. Doch auch dieser Begriff hat lediglich diagnostische Funktion, die sich aus der gezielten perspektivistischen Verfremdung des Gegenstandes aus einer virtuellen Beobachterperspektive ergibt. Foucault unterstellt keine Systemlogik. Das Dispositiv-Modell soll keine funktionalistische Deutung eines globalen gesellschaftlichen Zusammenhanges bieten. Sein Anspruch ist weit bescheidener. Es beschränkt sich auf die Beschreibung des Funktionierens der einzelnen Ele-

248 Vgl.

hierzu auch Gilles

Deleuze (1989). Was ist ein Dispositiv?

In

Ewald/Waldenfels, a.a.O., S. 153-162 (Qu’est-ce qu’un dispositif? In: Michel Foucault philosophe. Rencontre international, Paris 9, 10, 11 janvier 1988, Paris 1989, S. 185-193).

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mente und ihrer Verhältnisse zueinander innerhalb einer disparaten Struktur.249 Allerdings hat Foucault selbst zum Teil für systemtheoretische und funktionalistische Missverständnisse gesorgt. Nicht nur seine etwas abrupte Erweiterung des Sexualitätsdispositivs in die Sphären der Bio-Macht im Schlusskapitel von „La volonté de savoir“ kann zu der irrigen Vermutung verleiten, es gehe ihm am Ende doch um die Theorie einer Totalität der Macht. Auch seine Beschreibung der Delinquenz in „Surveiller et punir“ als ein Phänomen, das der Legitimation dient, um die Institution des Gefängnisses trotz dessen augenscheinlicher Disfunktionalität bezüglich seines vorgeblichen Zweckes, der Läuterung und Integration der Straftäter, aufrechtzuerhalten und somit die Disziplinargesellschaft zu stabilisieren, kann u.U. den Verdacht eines kruden Funktionalismus provozieren.250 Beides, sowohl das Auftauchen der Bio-Macht wie der Funktionswechsel

249 In der Forschungsliteratur wird gelegentlich eine Analogie zu Althussers Begriff der ‚strukturalen Kausalität‘ gezogen, um die Beziehungen der einzelnen Elemente und Funktionen innerhalb einer gesellschaftlichen Struktur zu charaktisieren, wie sie hier anhand des Dispositiv-Modells zu explizieren versucht werden. Vgl. etwa Saar (2007), a.a.O., S. 212 (Anmerkung). Diese Parallele ist nicht von der Hand zu weisen. Ebenso wie Althusser lehnt Foucault zur Beschreibung der Bedingungsverhältnisse innerhalb eines Dispositivs sowohl ein mechanisches Verständnis von Ursache und Wirkung wie auch sämtliche Modelle expressiver Kausalität ab. Althusser geht jedoch davon aus, dass sich Gesellschaften mithilfe des Modells der strukturalen Kausalität als eine globale ‚Struktur mit Dominante‘ erfassen lassen. Diesen universalen Erklärungsanspruch teilt Foucault allerdings nicht. Derweil taucht ein Äquivalent zu Althussers Dominante einer Struktur, wie sich weiter unten zeigen wird, zumindest in den späteren Gouvernementalitätsanalysen auf. Der Dispositiv-Begriff, den Foucault Mitte der 70er Jahre zur Beschreibung von Macht-Wissens-Komplexen benutzt, scheint damit allerdings nicht zu operieren. Vgl. Althusser/Balibar (1970), a.a.O., Bd. 2, S. 61ff. 250 Vgl. Foucault (1975), a.a.O., S. 350ff. In einem Interview formuliert Foucault die funktionale Bedeutung der Delinquenz für die moderne Gesellschaft noch drastischer: „Die Bildung des delinquenten Milieus steht voll und ganz in einem Wechselverhältnis zur Existenz des Gefängnisses. Man hat im Innern der Volksmassen einen kleinen Kern von Leuten zu bilden versucht, die, wenn man das so sagen kann, bevorzugt und exklusiv zu ungesetzlichen Verhaltensweisen befugt sein sollten. Verstoßene, verachtete und von aller Welt gefürchtete Leute. […] Ein politischer Profit: Je mehr Delinquenten es gibt, desto eher akzeptiert die Bevölkerung die polizeilichen Kontrollen; […].“; Foucault (1975b): Von den Martern zu den Zellen (Des

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des Gefängnisses, ist für Foucault aber nicht auf eine übergeordnete Systemlogik zurückzuführen, sondern als strategische Reaktionen auf eine spezifische historische Problematik zu verstehen. Gerade am Fall des Gefängnisses lässt sich erfassen, was er mit der ‚strategischen Ausfüllung‘ einer Funktion innerhalb eines Dispositivs meinte. Es handelt sich dabei um strategische Einsätze unter bestimmten Bedingungen, die an historische Praktiken gebunden sind. An diesem Punkt stößt das Dispositiv-Modell innerhalb der Machtanalytik allerdings an seine Grenzen. Die mehr oder weniger umfassende Transformation einer Struktur lässt sich mit diesem Analyseraster nicht mehr befriedigend beschreiben. Das Dispositiv basiert weitgehend auf einer Analysetechnik, die mit den Mitteln der Archäologie operiert. Lediglich, um die Herkunft seiner einzelnen Elemente nachzeichnen zu können, ist sie gezwungen, auf das methodische Instrumentarium der Genealogie auszugreifen. Seine analytische Stärke gewinnt das Dispositiv-Modell der Macht durch die archäologische Rekonstruktion einer spezifischen Struktur innerhalb eines gegebenen Kräfteverhältnisses. Offenbleiben müssen aus dieser Perspektive aber die Fragen, auf welche Weise die Stabilisierung der Struktur eines Dispositivs vollzogen wird sowie nach den Bedingungen ihrer Genese und Transformation. Auf diese Probleme hat Sartre beharrlich insistiert und eine handlungstheoretische Lösung mit der Figur des ‚Praktisch-Inerten‘ vorgeschlagen. Foucault muss darauf vornehmlich mit den Mitteln der Genealogie antworten, wie er sie in den beiden anderen Modellen einer Machtanalytik entfaltet: dem Modell der Praktiken, das einen Zugang zur produktiven Dimension der Macht ermöglichen soll, sowie dem Konfliktmodell, das die Grundlage für ein strategisches Machtverständnis bildet.

(2) Praktiken Macht lässt sich nicht nur relational innerhalb eines Kräfteverhältnisses beschreiben, sie ist zugleich produktiv. Auf diesen, von Foucault immer wieder betonten, Aspekt war die Darstellung des Dispositiv-Modells bereits an mehreren Punkten gestoßen. Macht in ihrer produktiven Wirkungsweise zu erfassen, bedeutet, ihren repressiven Charakter, auf dem traditionelle Machttheorien weitgehend basieren, nicht notwendig zu bestreiten, ihn jedoch zumindest einzuklammern. Eine wesentliche Eigenschaft der Macht besteht dann gerade darin, so-

supplices aux cellules. In: Le Monde 9363, 21. Februar 1975, S. 16), hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 2, S. 883; S. 885.

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wohl Objekte wie Subjekte inklusive der über diese formulierbaren Wahrheiten erst zu konstituieren. Macht wäre demzufolge vornehmlich als produktive Anstachelung von Diskursen und Praktiken zu verstehen und weniger als Mechanismus der Unterdrückung.251 Vielmehr komme den Macht-Wissens-Komplexen eine realitätserschließende wie -konstituierende Funktion zu. Um dieser gerecht werden zu können, ist es, wie bereits erwähnt, allerdings notwendig, eine andere Perspektive auf das Phänomen der Macht zu entwickeln als dies unter repressionstheoretischen Gesichtspunkten möglich ist. Mit der erforderlichen Umkehrung der Analyserichtung intendiert Foucault allerdings nicht, das RepressionsSchema einfach durch ein Produktions-Schema zu substituieren. Umkehrung der Analyserichtung bedeutet, eine konsequente Distanzierung von den in modernen Gesellschaften gängigen Diskursen und die Vernachlässigung ihrer Geltungsdimensionen durch die Verlagerung der Analyseposition in diejenige eines externen Beobachters. Der genealogische bzw. archäologische Blick auf die diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken soll Transformationsprozesse nicht nur unter dem negativen Aspekt der Zerstörung, Manipulation oder Repression von Bestehendem, sondern zugleich als Produktion von Neuem beschreibbar machen. Es ist diese, für Foucault typische methodische Zugangsweise, die es ihm möglich macht, selbst noch den Diskurs der Repression von außen als ein Produkt der Macht analysieren zu können. Aus einer virtuellen Beobachterperspektive dreht sich die Analytik der Macht nicht um die Frage, ob der RepressionsDiskurs richtig oder falsch ist. Es geht Foucault vorrangig darum, diesen „[…] in einer allgemeinen Ökonomie der Diskurse […]“ zu verorten, die „[…] im Innern der modernen Gesellschaften herrscht […]“.252 Diese methodische Operation hat freilich Konsequenzen für die Form der Beschreibung gesellschaftlicher Zusammenhänge. Bereits das Dispositiv-Modell hatte gezeigt, inwieweit es möglich ist, Macht als relational innerhalb eines Kräfteverhältnisses und damit ohne Zentrum zu denken. Durch eine Abgrenzung zu handlungstheoretischen Ansätzen war es Foucault gelungen, die Frage nach einem Subjekt der Macht überflüssig zu machen. Das Subjekt soll ja gerade nicht Grundlage, sondern selbst als Effekt der Macht innerhalb einer Struktur erfasst werden. Insofern kann auch mit Blick auf ihren produktiven Aspekt nicht nach einer wie auch immer gearteten begrifflichen wie stofflichen Gestalt eines Urhebers gefragt werden. Da der produktive Aspekt sich jedoch mit dem DispositivModell nicht mehr befriedigend beschreiben lässt, ist es notwendig, einen zusätzlichen Analyseraster in Anschlag zu bringen. Dafür scheint Foucaults Modell

251 Vgl. Foucault (1975), a.a.O., S. 250. 252 Vgl. Foucault (1976), a.a.O., S. 21.

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der Praktiken am besten geeignet zu sein. Denn es sind die sozialen Praktiken, aus denen diejenigen Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale, und damit auch das Subjekt selbst, hervorgehen und an denen sich der produktive Aspekt der Macht erweisen soll. Die Machtanalytik soll daher zeigen, „[…] wie es möglich ist, dass soziale Praktiken Wissensbereiche erzeugen, die nicht nur neue Objekte, neue Konzepte, neue Techniken hervorbringen, sondern auch gänzlich neue Formen von Subjekten und Erkenntnissubjekten“.253 Das Modell der Praktiken kann insofern helfen, die dynamische Dimension der Machtdispositive, also die Transformation ihrer Elemente und Funktionen zu erschließen. Es bietet somit eine genealogische Perspektive auf die Macht. Denn, so Foucault weiter: „Auch das Erkenntnissubjekt hat eine Geschichte; auch die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, also die Wahrheit, hat eine Geschichte.“254

Rationalitätsregime Das Modell der Praktiken ist somit ein Erfolg versprechendes Analyseinstrument, um einen Teil der in der Darstellung des Dispositiv-Modells offengebliebenen Fragen beantworten zu können: Wie reproduziert sich die Struktur eines Dispositivs? Wie geht die Produktion von Objekten und in diesem Zusammenhang von Wahrheitsdiskursen vonstatten? Und schließlich – und das ist die zentrale Frage in dem hier verfolgten Zusammenhang – wie vollzieht sich die Konstitution des Subjektes als Effekt der Macht? Bevor diese Fragen diskutiert werden können, muss allerdings geklärt sein, was Foucault unter Praktiken genau versteht. Obwohl der Begriff in den meisten Arbeiten wie selbstverständlich verwendet wird – wie weiter oben gesehen, kam ihm bereits in der „Archéologie du savoir“ eine nicht unerhebliche Bedeutung zu –, hat Foucault nirgendwo versucht, ihn präzise zu klären. Es liegt daher nahe zu vermuten, dass sein exakter Bedeutungsgehalt zwischen den einzelnen Studien zum Teil erheblich schwankt. Trotzdem lassen sich zumindest einige formale Bestimmungen des Begriffs der Praktik festhalten. Foucault benutzt ihn als Analyseraster, um soziale Verhältnisse beschreiben zu können, ohne auf inhaltlich definierte gesellschaftliche Entitäten wie Institutionen, theoretische wie praktische Selbstverständnisse und insbesondere Subjekte zurückgreifen zu müssen, wie dies etwa aus einer binnentheoretischen Untersuchungsperspektive erforderlich wäre. Er geht vielmehr davon

253 Vgl. Foucault (1974), a.a.O., Bd. 2, S. 670. 254 Ebd.

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aus, dass Praktiken eigenen Regelmechanismen unterliegen, die getrennt von ihren inhaltlichen Bestimmungen analysiert werden können. Foucault versteht Praktiken insofern als „[…] Ort der Verknüpfung […] zwischen dem, was man sagt und dem, was man tut, den Regeln, die man sich auferlegt und den Gründen, die man gibt, den Projekten und Evidenzen“.255 Praktiken lassen sich demzufolge analysieren, indem man die Formen der Rationalität frei legt, die ihnen zu Grunde liegen. Denn jede Praktik ist an ein bestimmtes Rationalitätsregime gebunden.256 Praktiken haben damit offenbar einen ähnlichen Status wie die Diskurse in der „Archéologie du savoir“. Ihre Materialität zeigt sich in ihrem Regelcharakter, in der Gestalt einer spezifisch-historischen Rationalität, die sich in die Realität einschreibt. Praktiken sind also im Unterschied zur Praxis, wie sie etwa Sartre versteht, nicht an die Binnenstruktur eines Subjekts gebunden, sondern ein regelgeleitetes Verhalten, das sich von außen analysieren lässt. In gesellschaftstheoretischer Hinsicht ist das ein entscheidender Punkt. Denn Foucault entwickelt über das Modell der Praktiken zugleich einen methodischen Zugriff auf soziale Verhältnisse, mit dem er nicht genötigt ist, eine objektive Totalität im Sinne einer Systemlogik vorauszusetzen. Das Handeln des einzelnen Subjektes ist damit weder über systemische Imperative von außen komplett determiniert noch rührt es von einer diesem zu Grunde liegenden Autonomie her. Insofern ist es strukturell ganz ähnlich konzipiert wie Sartres Subjekt der Praxis, das sich ja ebenfalls erst über den Praxisvollzug konstituiert. Der wesentliche Unterschied besteht allerdings darin, dass Sartre, wie gesehen, diesen Vollzug eben aus der Binnenperspektive rekonstruiert, während Foucault Praktiken in ihrer Regelhaftigkeit von einem externen Standpunkt aus zu beschreiben sucht. Das Modell der Praktiken macht es Foucault möglich, seinen gesellschaftstheoretischen Ansatz – auch das hatte sich weiter oben bereits gezeigt – konsequent jenseits von Handlungs- und Systemtheorie zu situieren.257 Praktiken haben demzufolge relationalen Charakter. Über die Analyse von Praktiken muss sich zeigen lassen, wie Subjekte einer-

255 Vgl. Foucault (1980a): Diskussion vom 20. Mai 1978 (Table ronde du 20 mai 1978. In: Michelle Perrot (Hg.), L’impossible prison. Recherches sur le système pénitentiaire au XIXe siècle, Paris, S. 40-56); hier zitiert nach: Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S. 28. 256 Vgl. ebd., S. 33. 257 Vgl. hierzu auch: Hans Herbert Kögler (1994): Der hermeneutische Mangel der Machttheorie. Foucault als Gesellschaftstheoretiker. In: Wissen und Macht – Die Krise des Regierens. Zur Aktualität von Michel Foucault. Sondernummer TÜTE – Tübinger Termine, Tübingen, Dezember 1994, S. 12.

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seits durch systemische Strukturen konstituiert werden, zugleich aber durch ihr Handeln die konkreten Elemente eines Dispositivs erneut reproduzieren und gegebenenfalls auch modifizieren. Subjekte und Objekte, also sowohl Selbst- wie Realitätsbezug des Subjekts, sind damit nicht von vornherein vorgegeben, sondern müssen sich entlang der jeweiligen Rationalität von Praktiken bestimmen lassen. In methodischer Hinsicht bedeutet dies, dass der gesellschaftstheoretische Zugang zum Untersuchungsgegenstand anders als in einer aus einer Binnenlogik entwickelten Handlungstheorie von außen analysiert wird, im Gegensatz zu systemtheoretischen Ansätzen jedoch nicht von einer Objektivität jenseits der Praktiken ausgeht, sondern dass gesellschaftliche Objekte selbst erst auf der Basis eines Regimes von Praktiken konstituiert werden. Foucaults Analyseraster setzt daher nicht bei gesellschaftlichen Objekten wie Institutionen, Ideologien, Positionen oder Personen an, sondern bei den Praktiken, die diese objektivieren.258 Was Foucault mit der Produktivität der Macht meint, wird also erst über das Modell der Praktiken wirklich nachvollziehbar. Denn genau genommen sind es die diskursiven wie nicht-diskursiven Praktiken, die sowohl praktische Objekte als auch Erkenntnisobjekte produzieren, transformieren und damit nicht nur Wahrheitseffekte auslösen, sondern zugleich Selbstverhältnisse strukturieren. Das hat Foucault immer wieder anhand von konkreten historischen Praktiken zu zeigen versucht – etwa am Beispiel der juristischen Praktiken, an denen sich ablesen lässt, wie zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte bestimmte Verhaltensweisen als Vergehen bzw. Verbrechen definiert, Schuld und Verantwortlichkeit der Subjekte bestimmt und entsprechende Strafen festlegt wurden. Mit Blick auf die juristischen Praktiken formuliert Foucault deren Bedeutung folgendermaßen: „[…] all diese Praktiken, die zwar geregelt waren, in der Geschichte aber auch ständig abgeändert wurden, scheinen mir eine der Formen zu sein, in denen unsere Gesellschaft Typen von Subjektivität definiert hat, Formen von Wissen und damit auch Beziehungen zwischen den Menschen und der Wahrheit […]“.259 Wesentlich für das Verständnis der Produktivität der Praktiken ist der immer wieder betonte, unauflösliche Zusammenhang von Wissen und Macht. Da dieser bereits im Zusammenhang der Diskussion des DispositivModells ausführlich erörtert wurde, kann deren produktiver Aspekt nun etwas komprimierter dargestellt werden. Für den hier verfolgten Zusammenhang sind drei auf der Basis von Praktiken konstituierte Erfahrungsdimensionen vorrangig zu beschreiben: die Produktion von Wahrheit, von Gegenständlichkeit und von

258 Vgl. Paul Veyne (1978): Foucault: Die Revolutionierung der Geschichte, Frankfurt/M. 1992 (Foucault révolutionne l’histoire, Paris), S. 32f. 259 Foucault (1974), a.a.O., Bd. 2, S. 673.

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Selbstverhältnissen. Das Modell der Praktiken dient in dieser Hinsicht der externen Beschreibung derjenigen gesellschaftlichen Relationen, die in der handlungstheoretischen Sprache Sartres als Welt- und Selbstbezüge bezeichnet wurden. Die Produktion von Wahrheitseffekten war im Grunde bereits das Thema von „Les mots et les choses“ gewesen. Dort blieben die Gegenstände des Wissens sowie die Regeln der Formulierung wahrer Aussagen über diese an die historischen Existenzbedingungen von Diskursen gebunden. Diese ließen sich anhand der gültigen Formationsregeln des jeweiligen Diskurses innerhalb einer Episteme rekonstruieren. Das Manko dieses Ansatzes war allerdings, dass sich damit die historische Veränderung der Wahrheitsbegriffe lediglich als eine diskontinuierliche Abfolge beschreiben ließ. Mit der methodischen Erweiterung des Analysefeldes von der Episteme auf die die nicht-diskursiven Praktiken mit einschließenden Dispositive wird es nun möglich, die von Foucault intendierte Geschichte der Wahrheit zu konkretisieren. Wahrheit ist nun in ihrer historischen Gestalt sowohl an diskursive wie nicht-diskursive Praktiken gebunden. Foucault unterscheidet zu diesem Zweck – und das ist methodisch konsequent – zwei Typen von Wahrheitsgeschichte: eine interne und eine externe. Die interne Geschichte folgt den jeweils existierenden Formationsregeln, d.h. dem auf der Basis allgemein als gültig anerkannter Wahrheitsansprüche korrigierbaren Gehalt der Wahrheit; die externe Geschichte verläuft entlang der Transformationen historischer Regelsysteme, innerhalb der spezifische Wahrheitstypen formulierbar sind.260 Die externe Geschichte der Wahrheit ist also die Geschichte der Bedingungen von Wahrheitsdiskursen. In der Terminologie einer archäologischen Diskursanalyse ausgedrückt: die Geschichte der historischen Apriori. Der aus der virtuellen Beobachterperspektive angelegte Analyseraster der Praktiken hat lediglich die zweite, also externe Geschichte der Wahrheit zum Gegenstand. Die Geltungsebene bleibt eingeklammert. Welche Wahrheitseffekte sich aus historisch spezifischen Konstellationen von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken ergeben, hatte sich im Zusammenhang der vorangegangenen Erörterung des relationalen Charakters der Macht sowohl anhand des Disziplinar- wie des Sexualitätsdispositivs gezeigt. Innerhalb des Sexualitätsdispositivs war, wie gesehen, das Geschlecht zu einem hypothetischen Erkenntnisobjekt und damit als Ort der Wahrheit des Subjektes konstituiert worden. Es fungiert als „Einsatz im Wahrheitspiel“,261 indem es mit einer „allgemeinen Bedeutung“ aufgeladen wird, als „universales Geheimnis,

260 Vgl. ebd., S. 672f. 261 Vgl. Foucault (1976), a.a.O., S. 73.

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allgegenwärtige Ursache“,262 die es zu ergründen gilt und die zugleich spezifische Techniken der „Wahrheitserzwingung“263 verlangt. Ebenso lag dem Disziplinardispositiv die mit dem modernen Diskurs verknüpfte Idee des Menschen und damit ein spezifischer Gegenstand des wissenschaftlichen Diskurses zu Grunde.264 Dieses Erkenntnisobjekt der Humanwissenschaften ist gleichzeitig epistemisches Ziel und praktischer Gegenstand der Strafen, die sich auf die „‚Seele‘ der Verbrecher“ konzentrieren, die zugleich der Ort der Wahrheit des Verbrechens ist.265 Damit wird bereits ersichtlich, welchen analytischen Mehrwert Foucault durch das Modell der Praktiken erzielt. Denn anders als noch in der Diskursanalyse, bekommt er neben einer an die diskursiven Formationsregeln gebundenen theoretischen Wahrheit nun auch die gesellschaftstheoretisch relevante praktische Wahrheit in den Blick. Gegenstand der diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken ist eben nicht nur ein Erkenntnisobjekt, sondern zugleich ein Objekt der Transformation, der zielgerichteten Bearbeitung. Innerhalb des Disziplinardispositivs sind es die Körper, die zur Zielscheibe einer politischen Technologie der kontrollierten Abrichtung werden. „Der erkennbare Mensch (Seele, Individualität, Bewußtsein, Gewissen, Verhalten …) ist Effekt/Objekt dieser analytischen Erfassung, dieser Beherrschung/Beobachtung“, so Foucault.266 Es sind dabei vor allem drei Effekte, die die Praktiken der Disziplinierung im Rahmen des zugehörigen Dispositivs erzielen: die Normierung und Individualisierung der Betroffenen, deren Aktivierung durch Praktiken der Übung und Abrichtung sowie schließlich die Neuanordnung und effiziente Kombination ihrer Kräfte.267 Ebenso ist mit den Techniken der Wahrheitserzwingung innerhalb des Sexualitätsdispositivs eine Bearbeitung ihres Gegenstandes verbunden. Die Geständnispraktiken sind Kontrolltechniken, die dem „Anreiz“268 und der „Produktion des wahren Diskurses“ dienen.269 Ihr Ziel ist die Diagnose von Gefahren, der Appell an die Wachsamkeit der Betroffenen und im Fall eines pathologischen Befundes die Verordnung angemessener Therapien: „Sie [die Kontrollen/M.R.] machen den Sex zum Ausstrahlungspunkt von Diskursen und steigern das Bewußtsein einer ständigen Gefahr, die ihrerseits wieder

262 Vgl. ebd., S. 89. 263 Vgl. ebd., S. 119. 264 Vgl. Foucault (1975), a.a.O., S. 34f. 265 Vgl. ebd., S. 28f. 266 Ebd., S. 394. 267 Vgl. ebd., S. 220. 268 Vgl. Foucault (1976), a.a.O., S. 48. 269 Vgl. ebd., S. 81.

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den Anreiz zum Sprechen verschärft.“270 In beiden Fällen handelt es sich um Techniken der Produktivitätssteigerung innerhalb eines spezifischen Verwendungszusammenhangs – sei es unmittelbar zum Zweck der Integration gelehriger Körper in die kapitalistische Verwertungslogik, sei es mittelbar über die Vermehrung der Aussagenmengen und damit von Anknüpfungspunkten für die Regulierung von Verhaltensweisen. Als Praktiken der Wahrheitsproduktion und Objekttransformation zielen Macht und Wissen innerhalb eines Dispositivs auf einen zentralen Punkt: Indem sie es regulieren, konstituieren sie laut Foucault zugleich erst das menschliche Subjekt. Es ist damit entgegen des epistemischen Selbstverständnisses der Moderne keine autonome Instanz, sondern als Gegenstand der Humanwissenschaften zugleich Produkt der Macht und insofern in seinem Sein deren Regelmechanismen unterworfen. Foucault beschreibt die Praktiken innerhalb der Anordnung des Disziplinardispositivs daher bekanntlich als Subjektivierung im doppelten Sinn von „assujettissement“ sowohl als Subjektwerdung wie Unterwerfung: „Im Herzen der Disziplinarprozeduren manifestiert sie [die Macht/M.R.] die subjektivierende Unterwerfung jener, die als Objekte wahrgenommen werden, und die objektivierende Vergegenständlichung jener, die zu Subjekten unterworfen werden.“271 Nicht anders verhält es sich mit den Geständnispraktiken. Denn das Geständnis ist ein „[…] Diskursritual, in dem das sprechende Subjekt mit dem Objekt der Aussage zusammenfällt, und zugleich ist es ein Ritual, das sich innerhalb eines Machtverhältnisses entfaltet, denn niemand leistet ein Geständnis ohne die wenigstens virtuelle Gegenwart eines Partners, der nicht einfach Gesprächspartner, sondern Instanz ist, die das Geständnis fordert, erzwingt, abschätzt und die einschreitet, um zu richten, zu strafen, zu vergeben, zu trösten oder zu versöhnen, […] ein Ritual schließlich, wo die bloße Äußerung schon – unabhängig von ihren äußeren Konsequenzen – bei dem, der sie macht, innere Veränderungen bewirkt: sie tilgt eine Schuld, kauft ihn frei, reinigt ihn, erlöst ihn von seinen Verfehlungen, befreit ihn und verspricht ihm Heil“.272

270 Ebd., S. 44. 271 Foucault (1975), a.a.O., S. 238; vgl. die entsprechende Stelle im französischen Originaltext, a.a.O., S. 187: „Au cœur des procédures de discipline, il manifeste l’assujettissement de ceux qui sont perçus comme des objets et l’objectivation de ceux qui sont assujettis.“ 272 Foucault (1976), a.a.O., S. 79f.

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Der springende Punkt am Prozess der Subjektivierung ist damit eine von außen geleitete Einwirkung des Subjektes auf sich selbst. Subjektivierung ist insofern die Produktion eines regelgeleiteten Selbstverhältnisses, das sich im Vollzug einer Praktik konstituiert. Letzteres erfolgt über das außenkontrollierte Üben von Bewegungsabläufen und der damit einhergehenden Übernahme des panoptischen Blickes durch das übende Subjekt. „Derjenige“, so Foucault, „welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selber aus; er internalisiert das Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung.“273 Die Macht greift somit nicht von außen auf mechanische Körper zu, die sie lenkt und nach Belieben manipuliert. Sie installiert einen Mechanismus der Selbstkontrolle, der zum einen ein zu selbiger fähiges Willenssubjekt impliziert, zum anderen sich aber auf Fremdkontrolle stützt. Das Disziplinardispositiv ermöglicht damit eine Form der Herrschaft über das Subjekt, die zugleich an dessen Freiheit gebunden ist.274 Subjektivierung ist Unterwerfung unter als gültig anerkannte Regeln. Der Analyseraster der Praktiken macht es Foucault möglich, Subjekte von einer externen Beobachterposition als diesen Regeln der Macht unterworfene zu beschreiben. Damit lässt sich plausibel machen, wie über die zugleich fremd und selbst kontrollierten Praktiken des Übens wie der Geständnisse die Struktur eines Dispositivs reproduziert wird. Zugleich kann Foucault zeigen, wie der fremde Kontrollblick von außen ein Selbstverhältnis induziert. Bemerkenswert ist, dass er damit im Grunde ein intersubjektives Verhältnis von außen beschreibt, das der frühe Sartre bewusstseinstheoretisch aus der Binnenperspektive zu bestimmen sucht: die Konstituierung des Subjekts als konkrete Person durch den verdinglichenden Blick des Anderen. Foucault wie Sartre skizzieren mithilfe der Blickmetapher Konstellationen machtgesättigter Intersubjektivität. Während jedoch Sartre die Erfahrung des Blickes als Beschränkung einer ontologisch fundierten Freiheit deutet, die jedoch prinzipiell in der Lage ist, dieses Machtverhältnis durch Erwiderung schlagartig umzukehren, lässt sich für Foucault das Erblicktwerden des Subjekts lediglich von außen als Unterwerfung unter einen Regelmechanismus beschreiben. Dieser Mechanismus ist material in ein institutionelles Gefüge eingelassen und manifestiert sich als der konkrete Blick in der Funk-

273 Foucault (1975), a.a.O., S. 260. 274 Vgl. hierzu auch Christoph Menke (2003): Die Disziplin der Ästhetik. Eine Lektüre von ‚Überwachen und Strafen‘. In: Gertrud Koch/Sylvia Sasse/Ludger Schwarte (Hg.): Kunst als Strafe. Zur Ästhetik der Disziplinierung, München, S. 116.

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tion des Gefängniswärters, Arztes, Pädagogen oder Fabrikaufsehers.275 Zugleich ist dieses Intersubjektivitätsverhältnis aufgrund der spezifischen Anordnung der Dispositive von vornherein hierarchisch konzipiert und blendet, zumindest was den Analyseraster der Praktiken in diesem Kontext betrifft, die Erfassung von Interaktionen zwischen den unterworfenen Subjekten notwendig aus. Die Konzipierung eines Dreierverhältnisses mit der flottierenden Position des Dritten, wie sie der späte Sartre aus der Binnenlogik der Blickverhältnisse entwickelt, um die Struktur intersubjektiver Konflikte zu entfalten, ist zumindest innerhalb der Dispositiv-Anordnung auch auf der Basis des Modells der Praktiken nicht möglich. Die Macht richtet sich in dieser Konstellation immer auf das isolierte Einzelsubjekt. Aus einer virtuellen Beobachterperspektive muss Foucault deshalb davon ausgehen, „[…] dass unsere Individualität, die vorgeschriebene Identität eines jeden, Effekt und Instrument der Macht ist […]“.276

Die missliche Verschränkung von Produktion und Repression Mit der Figur der Subjektivierung, deren Doppelcharakter sich in der gleichzeitigen Subjektwerdung durch Unterwerfung unter eine Regel entfaltet, erweitert Foucault seine Kritik am modernen Subjektbegriff. Hatte er die diesem zu Grunde liegende Autonomievorstellung in „Les mots et les choses“ noch als theoretische Leerstelle beschrieben, die sich aus den Formationsregeln ergibt, die innerhalb der modernen Episteme gelten, so wird nun auch die Existenz des praktischen Subjekts auf einen externen Effekt – in diesem Fall des Macht-Wissens – zurückgeführt. Das Selbstverhältnis des menschlichen Subjekts beruht demzufolge nicht auf einer ursprünglichen Qualität wie etwa der Freiheit, sondern es manifestiert sich in seiner Seele. Eine Seele, die Foucault allerdings gerade nicht als Ausdruck des Subjektes, sondern als dessen Bedingung begreift. Als Erkenntnisobjekt und bedeutungsgeladener Ort der Wahrheit fungiert sie, ähnlich wie das Geschlecht, als eine Art Relaisstation der Macht auf den Körper.

275 Auf die Konkretisierung von Sartres Blick des Anderen bei Foucault verweist auch Neil Levy; vgl. ders. (2001), a.a.O., S. 82. 276 Vgl. Michel Foucault (1974a): Wahnsinn, eine Frage der Macht (Loucura, uma questão de poder). In: Jornal do Brasil, 12. November 1974; hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 2, S. 814.

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„Der Mensch“, so Foucault, „von dem man uns spricht und zu dessen Befreiung man einlädt, ist bereits das Resultat einer Unterwerfung, die viel tiefer ist als er. Eine ‚Seele‘ wohnt in ihm und schafft ihm eine Existenz, die selber ein Stück der Herrschaft ist, welche die Macht über den Körper ausübt. Die Seele: Effekt und Instrument einer politischen Anatomie. Die Seele: Gefängnis des Körpers.“277

Der These von der Produktivität der Macht, mit der sich Foucault gegen ein negativistisches Machtverständnis als Repressions-Macht wendet, haftet allerdings eine merkwürdige Ambivalenz an. Sie soll einerseits zeigen, dass das Verhältnis von Subjekt und Macht kein äußerliches ist, dass die Macht also nicht auf eine wie auch immer geartete Subjektqualität einwirkt und damit etwas unterdrückt, das es zu befreien gilt. Als Produkt der Macht ist das Subjekt gerade heteronom, da es sein Selbstverhältnis erst über die regelgeleiteten Praktiken der Übung ausbildet. Damit ist es weder völlig fremd- noch ausschließlich selbstbestimmt, denn es unterwirft sich mehr oder weniger freiwillig dem Zwang einer Regel. Andererseits erwecken Foucaults Art der Darstellung der Subjektwerdung und das verwendete Vokabular den Eindruck, als sei der moderne Mensch der Disziplinargesellschaft doch weniger das Subjekt der Macht als ein Objekt von Repressionen. ‚Gefängnis des Körpers‘ – die modernen Subjekte werden ‚produziert‘, indem sie geformt, dressiert, abgerichtet werden. Die technologische Beschreibung der Subjektwerdung lässt die Betroffenen weitgehend als gestaltbare Objekte erscheinen. Damit suggeriert Foucaults machtanalytischer Subjektbegriff zwei Lesarten, die jedoch beide unbefriedigend sind, weil sie der eigentlichen Intention zuwiderlaufen. So wie die Praktiken der Disziplinierung beschrieben werden, sind die fabrizierten Subjekte nämlich entweder als von außen determinierte abhängige und insofern unselbstständige oder aber eben doch als in ihrer Eigenständigkeit unterdrückte Wesen zu verstehen. Der entscheidende Aspekt der Selbstkonstitution innerhalb des Unterwerfungsprozesses, auf den es hier ankäme, wird kaum sichtbar. Die Folge ist, dass Foucault es zwar gelingt, die moderne Annahme von der Autonomie des Subjekts Erfolg versprechend zu untergraben, und damit scheinbar den Repressionsbegriff unbrauchbar zu machen, zugleich gelingt ihm aber lediglich die Beschreibung der Zurichtung der Menschen in der Art einer Konditionierung: Sie werden „gehorchende Subjekte“.278 Damit ist er aber im Grunde – und entgegen der eigenen Intention – nicht mehr in der Lage, Formen von Widerstand plausibel zu machen. Denn das Vorhaben einer ‚Genealogie der modernen Seele‘ hatte ja lediglich den Anspruch,

277 Foucault (1975), a.a.O., S. 42. 278 Vgl. ebd., S. 167.

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dem Glauben an einen substanziellen Gehalt des Subjektes bzw. der Annahme von anthropologischen Konstanten zur universellen Begründung von Handlungen eine Absage zu erteilen, nicht aber zu behaupten, das Subjekt sei vollständig determiniert. Ganz im Gegenteil geht Foucault doch davon aus, dass die Subjekte der Macht innerhalb der Dispositive nicht nur Positionen ausfüllen, sondern die Individuen sind damit zugleich in der Position, die Macht „[…] über sich ergehen zu lassen wie sie auszuüben“.279 Das gelingt ihm aber zunächst nicht zu zeigen. Die Subjekte, wie sie in „Surveiller et punir“ beschrieben werden, erscheinen als fabriziert, verfertigt, dem Zwang der Disziplin unterworfen. Widerstand lässt sich dann aber im Grunde doch nur als ein Aufbegehren gegen ein repressives Moment der Disziplin denken. Selbst in „La volonté de savoir“, wo sich Foucault ausführlich von der Repressionshypothese abgrenzt280 und anhand der Geständnispraktiken die Verschränkung des Befreiungsdiskurses mit der Macht analysiert, bleibt die besondere Qualität des machtinduzierten Selbstverhältnisses weitgehend im Dunkeln. Der Schwerpunkt der Analyse liegt auf dem Unterwerfungsaspekt der „[…] Subjektivierung der Menschen, das heißt ihrer Konstituierung als Untertanen/Subjekte“.281 Dass Foucault entgegen der eigenen Intention mit seinem Modell der Subjektkonstitution über Praktiken zwischen Repression und Produktion zu schwanken scheint, dürfte mit der schillernden Bedeutung des Begriffs der Unterwerfung zusammenhängen. Denn entscheidend für die Weise seiner Verwendung ist, wer oder was da eigentlich unterworfen wird. Unterwerfung meint in dem hier untersuchten Kontext entweder – und in diesem Sinne scheint Foucault den Begriff eigentlich gebrauchen zu wollen – die Anerkennung einer Regel als Grundlage des eigenen Selbstseins als Handelnder. Innerhalb dieses Modells bedeutet Subjektivierung die innere Konstituierung des Subjekts mithilfe externer Vorgaben, auf die es zurückgreifen kann. Oder Unterwerfung bedeutet – der Einfachheit halber ebenfalls bezogen auf Regeln – das Erkennen einer geltenden Regel als den eigenen Interessen und Bedürfnissen zuwiderlaufend, der sich das Subjekt jedoch wider Willen beugen muss. In diesem Fall ist Unterwerfung an Repression gebunden, die von außen auf ein bereits konstituiertes Subjekt einwirkt. Beide Verwendungen des Terminus Unterwerfung sind an bestimmte Subjekt-

279 Vgl. Foucault (1996), a.a.O., S. 44. 280 Vgl. Foucault (1976), a.a.O., S. 25ff. 281 Vgl. ebd., S. 78; im Original lautet die zitierte Passage auf S. 81: „[…] l’assujettissement des hommes; je veux dire leur constitution comme ‚sujets‘, aux deux sens du mot.“

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begriffe und damit an ein unterschiedliches Set von Voraussetzungen und Begründungsfiguren gebunden. Beide entfalten auf unterschiedliche Weise die fundamentale Paradoxie des Subjekts. Die für den hier interessierenden Zusammenhang relevanten logischen Strukturzusammenhänge sind folgende: • Wird die Macht als etwas verstanden, das von außen auf ein Subjekt einwirkt, ist damit impliziert, dass das Subjekt ein eigenständiges, bereits vor der Einwirkung existierendes Etwas ist, das eine wie auch immer geartete transhistorische Qualität besitzt, die von außen manipuliert, verdeckt, verfälscht wird und die es zu bewahren und zu verteidigen gilt. Auf dieser Grundlage basiert der traditionelle Diskurs der Befreiung, der von einem Primat des Subjektes ausgeht und den Foucault kritisiert. Deren Begründungsproblematik besteht in einer selbstreflexiven Bewegung, die immer schon voraussetzen muss, was sie beweisen will. Das hatte sich nicht zuletzt an den Schwierigkeiten gezeigt, die Sartres bewusstseinsontologischem Versuch einer Grundlegung des Subjektes als Freiheit inhärent waren. Für ein so verstandenes autonomes, sich selbst begründendes Subjekt bedeutet die Unterwerfung unter externe Vorgaben Repression. • Dieses Problem entfällt, wenn Macht als etwas verstanden wird, das nicht auf ein bereits bestehendes Subjekt einwirkt, sondern dessen Existenz erst bewirkt. Damit kann die Unterwerfung als Anerkennung eines Regelmechanismus verstanden werden, durch den die Handlungsfähigkeit des Subjektes erst konstituiert wird. Das Begründungsproblem, mit dem dieses Subjektverständnis auf der Grundlage einer Produktivität der Macht konfrontiert ist, besteht allerdings darin, dass dasjenige Etwas, das sich den Regeln unterwerfen soll, zugleich das produzierte Produkt dieser Regeln ist. Auch hier muss also logisch vorausgesetzt werden, was zugleich erklärt werden soll.282 Beide Subjektbegriffe hängen also an einer zirkulären Begründungsstruktur. Der wesentliche Unterschied besteht in der Perspektive, aus der versucht wird, diese fundamentale Paradoxie des modernen Subjektes zu beschreiben. Dies lässt sich m.E. recht gut an Althussers Modell der Subjektkonstitution durch Anrufung zeigen.283 Althusser erläutert dies anhand des berühmten Beispiels einer Straßenszene, in der ein Polizist ein Individuum von hinten mit dem Ausruf „Hey, Sie

282 Vgl. hierzu Judith Butler (1997): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt/M. 2001, S. 16ff. 283 Vgl. Louis Althusser (1971): Idéologie et appareils idéologiques d’état (Notes pour une recherche). In: ders., Sur la reproduction, Paris 1995, S. 269-314.

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da!“ anspricht. Der Akt der Subjektivierung besteht demnach darin, dass der Angerufene sich als gemeint, bezeichnet und damit als Subjekt angerufen versteht und dies als zutreffend anerkennt. Er unterwirft sich also der Subjektzuschreibung durch eine anerkannte Autorität von außen, indem er stehen bleibt, sich umdreht und sich als derjenige, der gemeint ist, bekennt. Althusser spricht von einer Transformation des Individuums in ein Subjekt: „[…] il [das Individuum/M.R.] devient sujet. Pourquoi? Parce qu’il a reconnu que l’interpellation s’adressait ‚bien‘ à lui, et que ‚c’était bien lui qui était interpellé‘ (et pas un autre).“284 Dieser hier in einer zeitlichen Abfolge skizzierte Transformationsprozess der Subjektivierung ist laut Althusser auf der ideologischen Ebene immer schon vollzogen. Er beinhaltet – und darin besteht die erwähnte zirkuläre Struktur – vier Momente zugleich: 1. die Anrufung des Individuums als Subjekt, 2. die Unterwerfung unter die Autorität des Subjekts, 3. dessen Anerkennung und 4. die absolute Gewissheit der Richtigkeit dieser Anerkennung.285 Althusser thematisiert weitgehend dieselbe Struktur, die der Subjektivierung als Unterwerfung innerhalb der Disziplinardispositive Foucaults zu Grunde liegt. Und im Grunde operiert auch er mit einer doppelten Bedeutung von Unterwerfung als Anerkennung einerseits, als Unterdrückung andererseits. Denn entweder stützt sich das Individuum in seinem Selbstbezug auf die äußere Autorität oder es widersetzt sich dieser, weil es mit dem Subjektangebot nicht identisch und folglich ein Anderes ist. Letzteres wird von Althusser dadurch suggeriert, dass es schließlich nicht irgendwer ist, der das Individuum anruft, sondern immerhin ein die Staatsmacht vertretender Polizist. Was sich logisch ausschließt, lässt sich aber in zwei Perspektiven der Beschreibung zerlegen. Dadurch werden die Paradoxien nicht aufgelöst, aber zumindest als solche analysierbar. Aus einer Beobachterperspektive kann der Prozess der Subjektivierung des Individuums nämlich bar jeder repressiver Semantik als das Angebot einer universellen symbolischen Struktur aufgefasst werden, die dem Individuum dazu dient, sich als sich selbst zu artikulieren und somit als Subjekt zu konstituieren. Das Subjekt ist insofern mit dem Individuum nicht identisch, sondern fungiert als „Platzhalter“, es ist die Leerstelle, die das Individuum gezwungen ist, einzunehmen, um sich sowohl bezeichnen wie verständlich machen zu können. Das Subjekt ist dann die „[…] sprachliche Bedingung seiner Existenz und Handlungsfähigkeit“.286 Der

284 Ebd., S. 305 (Hervorhebungen i.O.). 285 Vgl. ebd., S. 310. Ich unterschlage die Dimension der Ideologie, die Althusser im Zusammenhang mit der Subjektivierung betont, da sie für das hier diskutierte Problem von untergeordneter Bedeutung ist. 286 Vgl. Butler (1997), a.a.O., S. 15.

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Zusammenhang von Subjektivierung und Unterwerfung lässt sich aber nicht nur mit sprachtheoretischen Mitteln weitgehend neutral beschreiben. Was Foucault als Disziplinierung und Althusser als Unterwerfung unter eine höhergestellte Autorität fassen, hat im Grunde auch die Subjekttheorien in der Tradition des symbolischen Interaktionismus geprägt. Denn auch das Selbst, wie es von George Herbert Mead gefasst wird, basiert in einer notwendigen Rollenübernahme eines generalisierten Anderen auf dem Modell der Unterwerfung unter gesellschaftliche Konventionen. Nur auf diesem Weg ist Identitätsbildung und damit die Subjektwerdung überhaupt möglich.287 Was Mead auf der Basis intersubjektiver Verhältnisse entwickelt und Foucault und Althusser auf die materiale Anordnung gesellschaftlicher Dispositive beziehen, beschreibt den für das Subjekt paradoxalen und zugleich konstitutiven Modus einer ihm äußerlichen Grundlage seines Selbstseins: Es ist im Grunde eine andere Strukturbeschreibung des Existenzvollzuges, den Heidegger mit dem Begriff des Daseins als „Seinsausdruck“ eines Seienden, das „je sein Sein als seiniges zu sein hat“288 umschreibt oder Plessner mit den Mitteln der philosophischen Anthropologie als Kennzeichen der „exzentrischen Positionalität“ des Menschen, deren Antinomie gerade darin besteht, „[…] sich zu dem erst machen zu müssen, was er schon ist, das Leben zu führen, welches er lebt“.289 Entscheidend an diesen in unterschiedlichen Theorietraditionen vorgenommenen Thematisierungen des paradoxalen Verhältnisses von Fremd- und Selbstbestimmung ist, dass damit eine Strukturbeschreibung menschlicher Subjektivität zu leisten versucht wird, die streng genommen nur von einem externen Standpunkt aus möglich ist. Von dort aus ist es zugleich weitgehend ausgeschlossen, eventuelle Erfahrungen von Repression in den Blick zu bekommen. Diese werden erst in dem Moment artikulierbar, wenn die Binnenperspektive des Subjektes eingenommen wird, wenn die externe Vorgabe als Zwang oder zumindest Beeinträchtigung des eigenen Selbst empfunden wird, oder wie es der frühe Sartre als eine Verdinglichungserfahrung der Freiheit formuliert: „[…] der totalen Entfremdung meiner Person: ich bin etwas, was zu sein ich nicht gewählt habe [...]“.290 Es ist die Perspektive der Individuen, die die externe Strukturierung ihres Subjektstatus als zwanghaft oder repressiv erfahren und daraus gegebenenfalls die Motivation beziehen, sich gegen einen daran geknüpften Regelmechanismus zu wenden, indem sie ihn zu modifizieren und

287 Vgl. Mead (1934), a.a.O., S. 194ff. 288 Vgl. Heidegger (1927), a.a.O., S. 12. 289 Vgl. Helmuth Plessner (1928): Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin/New York 1975, S. 310. 290 Vgl. Sartre (1943), a.a.O., S. 903.

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transformieren suchen. Eine mögliche Legitimationsquelle dafür kann u.a. über den Verweis auf eine qualitative Bestimmung des eigenen Seins erschlossen werden, das als anders gelagert erfahren wird, als dies in den bereitgestellten Formen von Subjektivität möglich ist. Sartre gelingt dies, wie gesehen, über den Seins-Modus des Für-sich-sein des Subjekts, der sich von der Entwurfsstruktur des Handelns herleitet, als etwas ‚das ist, was es nicht ist, und nicht ist, was es ist‘. Damit wird es ihm möglich, Repressionserfahrungen zu beschreiben, ohne auf einen qualitativen Kern des Subjekts rekurrieren zu müssen. Foucaults Machtanalytik scheint, zumindest bis Mitte der 70er Jahre, zwischen diesen beiden Verwendungsweisen von Subjektivierung als Unterwerfung zu schwanken. Der repressive Aspekt bleibt, entgegen dem eigenen Anspruch, unausgesprochener Bestandteil des gesellschaftsanalytischen Verfahrens. „Es ist klar, daß alles, was ich im Laufe der vergangenen Jahre gesagt habe, vom Modell Kampf-Repression geprägt war“, räumte er rückblickend ein.291 Methodisch bedeutet dies, dass Foucault offenbar eine uneingestandene Binnenperspektive mitschleppt, die einen konsequenten Zugriff auf den Untersuchungsgegenstand von einem virtuellen Außenposten beeinträchtigt. Das zeigt sich auch, wenn er bezogen auf „La volonté de savoir“, also genau dasjenige Buch, in dem er sich am ausführlichsten mit der Repressions-Hypothese befasst, eine „zentrale Schwierigkeit“ einräumt, die darin bestanden habe, dass er das Geschlecht zunächst als vom Sexualitätsdispositiv mit einem juristischen Verbotsmechanismus belegt gedeutet habe. „Meine Analyse blieb noch eine Gefangene der vom Recht bestimmten Auffassung der Macht“, so Foucault.292 Es sei deshalb eine Umkehrung notwendig gewesen, die das Geschlecht als Bestandteil des Dispositivs beschreibt. Doch auch diese Umkehrung, die, wie oben gesehen, nicht einfach einen Seitenwechsel innerhalb des Feldes, sondern eine Exterritorialisierung der Beobachterposition erfordert, wurde offenbar nicht konsequent vollzogen. Denn Foucault unternimmt im Grunde nur eine Verschiebung, indem er das Geschlecht in das Dispositiv integriert, um gleichzeitig eine neue Realität, eine „Wahrheit aus der Lust selber“, einzuführen, wie sie in den Formen einer „ars erotica“ in vorchristlichen Zivilisationen dominierte,293 im Zeitalter der „scienita sexualis“ jedoch durch deren wissenschaftliches Modell „eingeschüchtert“ wird.294 Damit bleibt er erneut im Repressions-Modell gefangen, denn nun ist es

291 Foucault (1996), a.a.O., S. 34. 292 Foucault (1977a), a.a.O., Bd. 3, S. 306. 293 Vgl. Foucault (1976), a.a.O., S. 74. 294 Vgl. ebd., S. 90f.

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die Lust, die durch die Dominanz des Sexualitätsdiskurses einer Repression unterworfen ist.295 Die Abkehr von der Repressions-Hypothese fällt Foucault also schwerer, als es sein eigener Diskurs erwarten lässt.296 Das genealogische Verfahren der Machtanalytik kann aus der Außenperspektive zeigen, dass der Begriff der Unterdrückung sowohl für das neuzeitliche Rechtssubjekt aufgrund der ihm zu Grunde liegenden „Theorie der souveränen Rechte des Individuums“ als auch für den anthropologisch untersetzten Subjektbegriff der an die Disziplinen gekoppelten Humanwissenschaften konstitutiv ist und insofern ein „juristischdisziplinärer Begriff“ ist, dem innerhalb der Machtanalytik keine kritische Funktion zugewiesen werden kann.297 Seine kritische Verwendung ist, so Foucault, „[…] aufgrund des doppelten rechtlichen und disziplinarischen Bezugs auf die Souveränität und die sie implizierende Normalisierung verfälscht, verdreht, zunichte gemacht“.298 Für eine Genealogie der Macht hat dies allerdings zur Konsequenz, dass sie ihr eigenes gesellschaftskritisches Potenzial nur dann voll zur Geltung bringen kann, wenn sie in der Lage ist, auch die Selbstkonstitution des Subjekts von außen genealogisch beschreiben zu können. Dieses Vorhaben steht im Zentrum der Geschichte der Subjektivität, wie sie Foucault in den späten 70er Jahren zu rekonstruieren beginnt. In diesem Zusammenhang wird das bisher untersuchte Modell der Praktiken noch weiter ins Zentrum rücken, um der Produktivität der Macht auf die Spur zu kommen. Was den hier diskutierten Aspekt einer Produktivität der Macht angeht, lässt sich Folgendes festhalten: Das Modell der Praktiken macht es Foucault möglich, die Konstitution der Selbst- und Weltverhältnisse der Subjekte innerhalb eines Dispositivs zumindest so weit zu thematisieren, dass nachvollziehbar wird, wie er die Reproduktion der Struktur eines gegebenen Kräfteverhältnisses denkt. Unabhängig von den vorläufig konstatierten Defiziten bezüglich der Subjektkonstitution bleibt aber noch die entscheidende Frage offen, um die es in der Auseinandersetzung mit Sartre gegangen war: Wie lässt sich die interne wie externe Transformation gesellschaftlicher Macht-Wissens-Komplexe beschreiben, ohne auf die Binnenlogik eines Handlungssubjektes zurückgreifen zu müssen? Um diesen dynamischen Aspekt der Macht von außen hinreichend erfassen zu können, ist das Modell der Praktiken, wie Foucault es bis Mitte der 70er Jahre ver-

295 Vgl. Foucault (1977a), a.a.O., Bd. 3, S. 307. 296 Zur schrittweisen Lösung von der Repressionshypothese durch entsprechende Modifikationen der Machtanalytik vgl. auch Lemke (1997), a.a.O., S. 110ff. 297 Vgl. Foucault (1996), a.a.O., S. 56f. 298 Vgl. ebd., S. 57.

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wendet, allerdings nicht mehr geeignet. Dafür ist es notwendig, den Analyseraster erneut zu wechseln. Wie sich weiter oben bereits gezeigt hatte, versteht Foucault Dispositive als strategische Antworten auf historisch spezifische Problematiken. Geschichtliche Transformationen sind demzufolge auch als Auswirkungen von Strategien analysierbar, die innerhalb von Kräfteverhältnissen verfolgt werden. Das Augenmerk muss sich also auf die die Praktiken flankierenden Strategien richten. Der Analyseraster, den Foucault dazu verwendet, ist derjenige des Konfliktes bzw. des Krieges.

(3) Konflikt Die beiden bisher rekonstruierten Beschreibungsmodelle, mit denen Foucaults Analytik der Macht operiert, hatten es erlaubt, vornehmlich eine strukturelle Perspektive auf die Macht zu entwickeln. So diente das Dispositiv-Modell als Analyseraster, um die Macht als eine historisch-spezifisch wirkende, regelgeleitete Struktur zu fassen und somit die Bedingungen ihres Funktionierens in den Blick zu bekommen. Dies war weitgehend mit archäologischen Mitteln möglich gewesen. Der dynamische Aspekt der Macht konnte auf diesem Weg allerdings kaum untersucht werden. Auch das stärker aus genealogischer Perspektive entwickelte Modell der Praktiken war hierfür nur bedingt hilfreich, da sich darüber lediglich die Binnendynamik eines Dispositivs thematisieren lässt. Die Produktivität der Macht, wie sie sich über die Analyse von Praktiken zeigt, vergegenwärtigt vor allem, wie die durch ein Macht-Wissens-Dispositiv etablierte Struktur reproduziert und damit in ihrer Wirkmächtigkeit stabilisiert wird. Mit dem Analyseraster des Konflikts stellt Foucault schließlich ein weiteres Modell bereit, mit dessen Hilfe er versucht, die Genealogie der Struktur selbst nachzuzeichnen. Dieses Modell soll dazu dienen, die Machtverhältnisse weiterhin als Kräfteverhältnisse zu beschreiben, allerdings nun auf der Basis dieser neuen Arbeitshypothese: Die sich in den Machtverhältnissen manifestierenden Strategien werden vor dem Hintergrund von historischen Auseinandersetzungen betrachtet. Damit lassen sich Machtverhältnisse, wie sie mithilfe des Dispositiv-Modells darstellbar waren, unter strukturellen Gesichtspunkten als stillgestellte Konflikte auffassen. Die Binnendynamik einer Reproduktion via Praktiken sowie die partielle Transformation der Regelmechanismen, wie sie Foucault etwa mit dem Terminus der ‚strategischen Ausfüllung’ einer Funktion kennzeichnete, erhält damit ebenfalls eine weitere extern ermittelbare Intelligibilität. Der entscheidende diagnostische Mehrwert des Konflikt-Modells ist aber davon zu erwarten, dass nun die Entste-

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hungsgeschichte einer spezifischen Struktur plausibel gemacht werden soll. Im Zentrum des Erkenntnisinteresses steht also nicht mehr nur die Herkunft eines Dispositivs – diese konnte, wie gesehen, noch weitgehend mithilfe des methodischen Instrumentariums der archäologischen Schnitte ermittelt werden –, sondern vor allem dessen Entstehung aus einer unterstellten Logik der ‚immer währenden Schlacht‘. Jedes Kräfteverhältnis erscheint aus dieser Perspektive als ein historisch gewordenes und damit prinzipiell infrage stellbares und in aktuellen Auseinandersetzungen transfomierbares Machtverhältnis. Mit dem Konfliktmodell stützt sich Foucault auf die schon im NietzscheAufsatz entwickelte ‚Kriegshypothese‘, die er später, wie bereits erwähnt, auch ganz direkt die ‚Hypothese Nietzsches‘ genannt hat. Er hofft damit das Problem der Geschichtlichkeit von Machtstrukturen in den Griff zu bekommen, indem er die in der Auseinandersetzung mit Sartre aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis von Synchronie und Diachronie anders, nämlich ohne den Rückgriff auf die Binnenperspektive der Handelnden, formuliert. Zu diesem Zweck rückt er erneut den Begriff des Ereignisses in den Vordergrund. Das Ereignis war uns bereits in der „Archéologie du savoir“ als Schlüsselkategorie für die archäologische Beschreibung mehrdimensionaler, räumlich angeordneter, vielschichtiger und zudem diskontinuierlicher historischer Transformationen von Regelverhältnissen begegnet. Unter machtanalytischen Gesichtspunkten wird es nun notwendig, „[…] zugleich die Ereignisse zu unterscheiden, die Netze und die Ebenen zu differenzieren, denen sie angehören, und die Fäden nachzuzeichnen, die sie verbinden und dafür sorgen, dass sie sich auseinander erzeugen“.299 Im Unterschied zum rein archäologischen Verfahren versucht Foucault nun zusätzlich mit den Mitteln der Genealogie die mehrdimensionale Verkettung von Ereignissen aus einer Dynamik der Macht zu rekonstruieren. Um diese „[…] Genealogie von Kräfteverhältnissen, strategischen Entwicklungen und Taktiken […]“ nachzeichnen zu können, ist es seiner Ansicht nach notwendig, mit dem Analysemodell „[…] des Krieges und der Schlacht […]“ zu operieren.300 „Die Geschichtlichkeit, die uns mitreißt und uns bestimmt“, so Foucault, „ist kriegerisch […]“. Der Logik, der sie folgt, liegt kein Sinn zu Grunde. Es ist die Logik der Macht und der Konfrontation: „Machtbeziehungen, nicht Sinnbeziehungen. Die Geschichte hat keinen Sinn, was nicht heißt, dass sie absurd oder ohne Zusammenhang wäre. Sie ist im Gegenteil verstehbar, und sie muss bis in ihre kleinste Einzelheit ana-

299 Vgl. Foucault (1977), a.a.O., Bd. 3, S. 192. 300 Vgl. ebd.

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lysiert werden können: doch gemäß der Verstehbarkeit der Kämpfe, der Strategien und der Taktiken.“301 Von dem Konfliktmodell als Erkenntnisraster der Machtanalytik verspricht sich Foucault also, Macht „[…] als eine permanente Strategie, die man auf dem Hintergrund des Bürgerkriegs denken muß [...] “, fassen zu können.302 In methodischer Hinsicht ist an dieser Verschiebung des Blickwinkels, von dem aus auf den Untersuchungsgegenstand zugegriffen werden soll, zweierlei bemerkenswert. Hatte Foucault für die Machtanalytik bislang ganz analog zur archäologisch arbeitenden Diskursanalyse des frühen Forschungsansatzes beansprucht, das Funktionieren der Macht lediglich beschreiben zu wollen, so traut er ihr nun offenbar mehr zu. Sie soll das Funktionieren der Macht auch verstehen und damit folgerichtig erklären können. Dies hängt freilich damit zusammen, dass das Konfliktmodell impliziert, dass die Genealogie jeweils spezifischer historisch wirkender Machtstrukturen sich anhand der Logik historischer Kämpfe rekonstruieren lässt. Sollte es möglich sein, diese Logik zu durchschauen, müsste die Machtanalytik notwendig über die reine Beschreibung hinausgehen und die Dynamik historischer Transformationen auch explizieren können. Mit dem Konfliktmodell erweitert sich damit also die angepeilte Reichweite der Machtanalytik. Vor dem Hintergrund des bisher entwickelten nominalistischen Selbstverständnisses der Machtanalytik ist dies allerdings nicht unproblematisch. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Zum Zweiten ist bemerkenswert, dass Foucault sich mit dem Konfliktmodell in die Nähe einer Handlungstheorie begibt. Denn wenn das Funktionieren der Macht sich u.a. an Strategien ablesen lassen soll, die auf der Folie von konfrontativen Auseinandersetzungen zu begreifen sind, dann liegt es nahe, nach der Beschaffenheit und Motivation der beteiligten Akteure zu fragen. Damit würde Foucault aber die Beobachterperspektive definitiv verlassen und sich auf die Geltungsebene begeben, die für die agierenden Subjekte mehr oder weniger verbindlich ist. Dies würde jedoch, zumindest virtuell, eine Teilnehmerperspektive verlangen. Genau dies hat Foucault freilich nicht im Sinn. Auch der strategische Machtbegriff muss sich vor dem Hintergrund des Konfliktmodells aus der Beobachterperspektive entfalten lassen. Ausdrücklich betont er daher im Zuge einer Methodenreflexion, es gehe darum,

301 Ebd., S. 192f. 302 Vgl. Michel Foucault (1973): Die Macht und die Norm (Le pouvoir et la norme). Vorlesung am Collège de France; hier zitiert nach: ders., Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin 1976, S. 115.

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„[…] die Macht nicht auf der Ebene der Intention oder der Entscheidung zu analysieren und sie von innen her zu erfassen oder die Frage (die ich für labyrinthisch und unergründlich halte) zu stellen: Wer hat die Macht? Was hat dieser im Sinn? Und wonach strebt der, der die Macht hat? Vielmehr die Macht dort zu studieren, wo ihre Intention – wenn es denn eine gibt – ganz in realen und effektiven Praktiken aufgeht; die Macht in gewisser Weise in ihrer äußeren Fassung studieren, dort, wo sie in direktem und unmittelbarem Zusammenhang mit dem steht, was man eher provisorisch ihr Objekt, ihre Zielscheibe, ihr Anwendungsfeld nennen könnte, dort also, wo sie sich festsetzt und ihre realen Wirkungen entfaltet“.303

Strategien müssen demnach, ebenso wie die Praktiken, von einer Außenperspektive her beschreibbar sein. Foucault interessiert sich zwar für die Ziele, die sich den jeweils verfolgten Strategien entnehmen lassen sollen, ihre Explikation soll aber anhand der Regelstruktur eines wirkmächtigen Dispositivs und der aktualen Konstellation der darin verlaufenden Konfliktlinien erfolgen. Strategien sind für ihn insofern nicht an die Intention einzelner Akteure gebunden, sondern ergeben sich auf globaler Ebene aufgrund historischer Anforderungen. So verstanden, kann Foucault den strategischen Charakter der Macht, wie bereits erwähnt, als intentional aber nicht-subjektiv charakterisieren.

Die Außenseite der Strategie Foucault entkoppelt seinen aus der Beobachterperspektive entfalteten Strategiebegriff gezielt von einem Modell der Handlung, mit dem etwa die soziologische Tradition in der Nachfolge von Max Weber operiert. Dessen Programm einer verstehenden Soziologie setzte bekanntlich gerade beim Handeln an und beanspruchte, dessen Logik über die jeweilige Intention des Handelnden nachzuvollziehen. Weber fasst Handeln als „[…] ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder inneres Tun, Unterlassen oder Dulden) […], wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden“.304 Die verstehende Soziologie beansprucht damit gerade, die Grenzen der Beobachterperspektive zu durchbrechen, indem sie ein methodisch transparentes Instrumentarium zu entwickeln sucht, um die Teilnehmerperspektive des handelnden Indivi-

303 Foucault (1996), a.a.O., S. 43. 304 Vgl. Max Weber (1921): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 51980, S. 1 (Hervorhebung i.O.).

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duums zumindest partiell nachvollziehen zu können. Das bedeutet, wie Weber explizit betont, nicht notwendig, dass der Betrachter die Fähigkeit haben muss, „[…] aus Eignem ein gleichartiges Handeln zu produzieren […]“,305 um eine Handlung verstehen zu können. Es ist allerdings erforderlich, den von diesem „‚gemeinten‘ Sinn“ zu erfassen. Nur dann ist es möglich, eine Handlung zu erklären.306 Die verstehende Soziologie unterscheidet sich vom Objektivismus einer rein empirisch verfahrenden Wissenschaft insofern, dass sie Handlungsabläufe nicht nur von außen in ihrer Regelmäßigkeit beschreibt, sondern zugleich in der Lage ist, eine „[…] kausale Deutung eines konkreten Handelns […]“ anzubieten, was besagt, „[…] daß der äußere Ablauf und das Motiv zutreffend und zugleich in ihrem Zusammenhang sinnhaft verständlich erkannt sind.“ Denn: „Fehlt diese Sinnadäquanz, dann liegt selbst bei größter und zahlenmäßig in ihrer Wahrscheinlichkeit präzis angebbarer Regelmäßigkeit des Ablaufs (des äußeren sowohl wie des psychischen) nur eine unverstehbare (oder nur unvollkommen verstehbare) statistische Wahrscheinlichkeit vor.“307 Für den hier verfolgten Zusammenhang ist entscheidend, dass Webers verstehende Soziologie, in der Handeln als Basiskategorie fungiert, eine Verschränkung von Teilnehmer- und Beobachterperspektive einfordert. Soziale Prozesse lassen sich demnach nur adäquat beschreiben, wenn die Binnenperspektiven der interagierenden Subjekte Berücksichtigung finden. Ein solcher Forschungsansatz muss davon ausgehen, dass die Gesellschaftsanalyse notwendig menschliche Subjekte einschließt, die in ihrem Handeln Intentionen verfolgen, die diese, um für andere verständlich zu sein, in irgendeiner Form durch Gründe rechtfertigen können und zudem – denn das unterscheidet Handeln von reaktivem Verhalten – sich im Grunde nach Handlungsvollzug prinzipiell darüber im Klaren sein müssen, dass sie auch anders hätten handeln können. Diese minimalen Bedingungen muss ein handlungstheoretischer Ansatz, selbst wenn er nicht wie bei Sartre ausschließlich aus der Binnenperspektive formuliert werden soll, berücksichtigen.308 Und genau diese Bedingungen werden in Foucaults Machtanalytik der frühen 70er Jahre gezielt eingeklammert. Foucault versteht deshalb unter Strategie etwas völlig anderes als eine in der weberschen Tradition stehende, soziales Handeln beschreibende Soziologie. Strategien werden nicht auf der individuellen Ebene analysiert, wie dies etwa der habermassche Begriff des strategischen Handelns impliziert. Dieser beinhaltet, wie gezeigt, dreierlei: das beabsichtigte

305 Vgl. ebd., S. 2. 306 Vgl. ebd., S. 4. 307 Ebd., S. 5 (Hervorhebungen i.O.). 308 Vgl. etwa Giddens Theorie der Strukturierung: ders. (1984), a.a.O., S. 55ff.

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Ziel des Handelnden, die zu dessen Realisierung jeweils geeigneten Mittel vor dem Hintergrund einer gegebenen Situation und zudem die diese Handlungsabsicht möglicherweise konterkarierenden Handlungen anderer, die mit einkalkuliert werden müssen, um mögliche Alternativen in Erwägung zu ziehen. Habermas setzt damit die Teilnehmerperspektive ganz selbstverständlich voraus. Foucault gliedert aber nicht nur das strategische Handlungskonzept methodisch aus. Er eliminiert selbst noch eine aus der Beobachterperspektive versuchte Systematisierung des strategischen Verhaltens von Akteuren im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeiten unterschiedlicher Optionen, die diese verfolgen könnten, wie dies etwa die Spieltheorie versucht. Denn auch diese legt freilich intentional und rational handelnde Individuen zu Grunde, um Strategien als rationale Wahlen von Teilnehmern, die einer Regel folgen, beschreiben zu können. Foucault schränkt den Strategiebegriff damit in zwei Hinsichten noch weiter ein. Er lagert zum einen die Handlungssubjekte aus und hebt den Strategiebegriff von vornherein auf eine kollektive Ebene. Damit lassen sich Strategien streng genommen nicht mehr im Rahmen von pluralen Interaktionsverhältnisse beschreiben, sondern nur noch als globale Problembewältigungsverfahren angesichts gesellschaftlicher Herausforderungen, Bedrohungen oder Konflikte. Zum anderen – und dies hängt mit dem kollektiven Strategieverständnis zusammen – fasst er Strategien nahezu ausschließlich in Analogie zur Logik militärischer Auseinandersetzungen als actio bzw. reactio von sich feindlich gegenüberstehenden Kriegsparteien.309 Erst durch diese beiden Restriktionen gelingt es ihm, Strategien als anonym und subjektlos aufzufassen. Was aber ist nun genau unter Strategie im Foucaultschen Sinne zu verstehen? Entscheidend für die Verwendung des Strategiebegriffs ist auch hier wiederum, dass Foucault die Analyserichtung umkehrt und sich auf einen virtuellen Außenposten begibt. Von dort aus kann er das Ziel einer Strategie unabhängig von einem oder mehreren Subjekten betrachten, die dieses formulieren mögen. Indem sie nicht von der Intention ausgeht, sondern diese als Reaktion auf eine äußere Anforderung fasst, verfährt die Beschreibung exakt in entgegengesetzter Richtung. Der Vorteil dieses methodischen Zugangs ist, dass Foucault damit gesellschaftliche Dynamiken auf kollektiver Ebene in den Blick bekommt, ohne zunächst, wie dies etwa für Sartre zwingend gefordert ist, danach fragen zu müssen, wie diese aus einer Pluralität von Einzelhandlungen zu Stande kommen.

309 Erst der späte Foucault wird seinen an der Kampflogik orientierten Strategiebegriff um die beiden anderen Dimensionen erweitern und ausdrücklich auf das Modell zweckrationalen Handelns wie auf Ansätze der Spieltheorie verweisen. Darauf wird weiter unten noch einzugehen sein. Vgl. Foucault (1982), a.a.O., Bd. 4, S. 291.

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Foucault versucht damit aus der Beobachterperspektive in etwa das zu beschreiben, was Sartre aus der Binnenperspektive als die Erfahrung einer GegenFinalität, die sich durch die Überschneidung der Handlungen einer Vielzahl von Einzelsubjekten ergibt, kennzeichnet. Da Foucault zu diesem Zweck die Frage einer subjektiven Erfahrung komplett beiseitezuschieben sucht, kann er beanspruchen, quasi die Dynamik dieses zielgerichteten Prozesses jenseits der Handelnden als subjektlose Strategie zu analysieren. Er verfolgt nicht die Handlungsketten zurück auf ihre Ursprünge, sondern beobachtet nur das, was aus jenen retrospektiv in objektivierter Gestalt folgte, also das, was Sartre eine ‚Praxis ohne Urheber‘ genannt hatte. Diese Gestalt untersucht er schließlich nicht unter dem Aspekt möglicher, ihr zu Grunde liegender Interessen, sondern ausschließlich daraufhin, welche „strategischen Notwendigkeiten“310 vor dem Hintergrund der objektiven gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zur Lösung eines Problems gegeben waren. Notwendigkeit scheint damit für Foucault eine Schlüsselkategorie für die machtanalytische Beschreibung von Strategien zu sein. Von ihr verspricht er sich offenbar, Strategien nicht nur ohne Rückgriff auf Handlungssubjekte erfassen, sondern zugleich auf eine den Strategien vorgeordnete systemische Logik verzichten zu können. Denn die Notwendigkeit soll, obwohl objektiv gegeben, nicht von einer funktionalistisch deutbaren Anforderung herrühren. Sie ergibt sich für Foucault innerhalb einer spezifischen historischen Situation. Was er unter diesen „strategischen Notwendigkeiten“ versteht, hat er am historischen Material mehrfach zu zeigen versucht. So diagnostiziert er etwa die Entstehung der Disziplinen im Kontext der sich durchsetzenden kapitalistischen Warenproduktion als eine strategische Reaktion auf das Anwachsen der Bevölkerung sowie der Produktionskapazitäten, dem damit verbundenen Zwang zur Akkumulation von Kapital und dem Bedarf an gelehrigen Subjekten.311 Die Disziplinierung der Arbeiterklasse erfolgte Foucault zufolge über ein gewaltiges Dispositiv, das neben der Dressur der Körper weitere „eindeutig bestimmte Strategien“ enthielt, die vom Bau von Arbeitersiedlungen über die gezielte Verschuldung, die Einrichtung von Sparkassen bis zur Durchsetzung der bürgerlichen Ehemoral und philanthropischen Maßnahmen der Moralisierung reichten. Sie alle greifen mehr oder weniger erfolgreich in unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche ein, ohne gezielt aufeinander abgestimmt zu sein. Unterm Strich setzten sich schließlich, gestützt auf neue Institutionen und lokale Initiativen, neue Welt- und Selbstverhältnisse durch – und zwar so, dass es am Ende so aus-

310 Vgl. Foucault (1977b), a.a.O., Bd. 3, S. 405. 311 Vgl. Foucault (1975), a.a.O., S. 283.

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sieht, als läge dem ganzen Transformationsprozess eine einheitliche Strategie zu Grunde. Foucault spricht von einer „[…] umfassende[n], zusammenhängende[n], rationale[n] Strategie […], von der man aber nicht mehr sagen kann, wer sie konzipiert hat“.312 So wie Foucault den Begriff verwendet, lässt sich eine Strategie also nicht nur keinen Einzelsubjekten zuordnen, obwohl die Machtanalytik auf der kollektiven Ebene ansetzt, implizierte sie ebenso wenig die Existenz von gesellschaftlichen Großsubjekten.313 Die Analyse setzt konsequent bei einer gegebenen Problematik an, von der aus rekonstruktiv gezeigt werden soll, wie sich partielle und lokale Reaktionsweisen schrittweise zu einer historischen Strategie verdichten. Rückblickend lässt sich laut Foucault bezogen auf eine konkret gestellte Problemlage sagen: „Das Ziel existierte also, und die Strategie hat sich entwickelt, mit einer immer größeren Kohärenz, doch ohne dass man ihr ein Subjekt unterstellen müsste […].“314 Da das Strategieverständnis somit an historische Anforderungen geknüpft ist und an die sich daraus ergebenden Notwendigkeiten, läge es nahe, die Analyse auf eine übergeordnete Logik, etwa die des Systems kapitalistischer Warenproduktion, zu konzentrieren, aus der sich diese Notwendigkeiten intelligibel machen ließen. Wie bereits weiter oben gezeigt, siedelt Foucault seine Machtanalytik jedoch konsequent jenseits von Handlungs- und Systemtheorie an. So folgen etwa die Disziplinen eben gerade nicht ausschließlich dieser ökonomischen Logik, sondern gehorchen den relativ autonomen Regeln der Machtmechanismen. Das Einklammern eines agierenden Subjektes bedeutet daher auch in Bezug auf die Strategien nicht, dass diese eine funktionalistische Deutung zuließen. Der Strategiebegriff zeichnet sich dadurch aus, dass er, obwohl er als eine Reaktionsweise auf gesellschaftliche Anforderungen formuliert wird, nicht als Vollzug von Imperativen systemischer Selbsterhaltung gefasst wird. Foucault distanziert sich ausdrücklich von Ansätzen mit systemtheoretischen Implikationen. Strategien müssen ihm zufolge immer als Einsätze auf einem Feld begriffen werden, das von agonalen Kräften durchzogen ist. Das Problem der Strategien sei deshalb keinesfalls „[…] das der Selbsterhaltung. Wenn ich von Strategie spreche“, so Foucault, „nehme ich den Ausdruck ernst: Damit ein bestimmtes Kräfteverhältnis nicht nur erhalten, sondern akzentuiert, stabilisiert wird, an Umfang gewinnt, ist es notwendig, dass es ein Manöver gibt“.315

312 Vgl. Foucault (1977b), a.a.O., Bd. 3, S. 401f. 313 Vgl. ebd., S. 402. 314 Ebd., S. 403. 315 Ebd., S. 405.

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Damit ist der Strategiebegriff zumindest formal von allen äußeren Determinanten gereinigt. Ohne eine Handlungs- noch eine Systemlogik zu Grunde legen zu müssen, hofft Foucault offenbar, ähnlich wie dies bereits bei den Praktiken der Fall war, Strategien allein in ihrer materiellen Positivität erfassen zu können. Waren Praktiken, wie gezeigt, aus der Beobachterperspektive in ihrer Regelhaftigkeit beschreibbar, so dass anhand ihrer jeweiligen Rationalität ein historisch spezifisches Welt- und Selbstverhältnis der Individuen einsichtig gemacht werden konnte, so muss sich die Rationalität von Strategien aus den Intentionen und den historisch auftauchenden Problematiken, an die jene gebunden sind, erschließen lassen. Anders jedoch als im Fall der Praktiken, durch die Subjekte wie Objekte in epistemischer wie praktischer Hinsicht erst konstituiert werden, also das Modell der Praktiken den Analyseraster bildet, um subjektive und objektive Welt als historische Produkte der Macht beschreiben zu können, sind es nun aber bereits bestimmte historische Deutungen der Welt und damit verbundene intentionale Gehalte, die die Logik von Strategien bestimmen. Es sind also die objektiven Bedingungen sowie die gewählten Mittel zur Lösung eines als Problem diagnostizierten Sachverhaltes, die die Rationalität einer Strategie flankieren. Wie soll diese aber entschlüsselt werden können, ohne die Binnenperspektive zu berücksichtigen, aus der Strategien entworfen werden? Da Foucault eine webersche Lösung ausschließen muss, da sich die Analyse ja nicht wie die verstehende Soziologie auf handelnde Subjekte stützen soll, deren sinnhaftes Selbstverständnis hermeneutisch erschlossen werden könnte, muss die Rationalität von Strategien auf andere Weise zugänglich gemacht werden können. Foucault gelingt dies nur, weil er zu diesem Zweck aus der Beobachterperspektive den Konflikt als weiteren, genügend abstrakten Analyseraster eingeführt hat. Vor diesem Hintergrund erschließt sich auch der Sinn des militärisch konnotierten Vokabulars, das er für die Beschreibung von Strategien verwendet. Erst mit dem Analyseraster des Konflikts verfügt Foucault über ein Strukturprinzip, das es erlaubt, Strategien unter dem Blickwinkel einer Genealogie von Machtverhältnissen zu beschreiben.

Die Verlagerung des geltungstheoretischen Anspruchs durch die Kriegshypothese Mit der Einführung des Konfliktmodells entfaltet die genealogische Machtanalytik ihre volle diagnostische Kraft. Denn erst dieser Analyseraster macht es möglich, Kräfteverhältnisse, wie sie über das Dispositiv-Modell und das Modell der

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Praktiken in ihrer Funktionsweise erfasst werden können, nun auch in ihrer jeweils spezifischen Entstehungslogik zu begreifen. Zugleich wird aber auch klar, dass die ‚Kriegshypothese‘, wie Foucault sie bereits im Nietzsche-Aufsatz zu Beginn der 70er Jahre eingeführt hatte, nur im Kontext der anderen beiden Analysemodelle ihren gesellschaftstheoretischen Sinn erhält. Alle drei Modelle greifen ineinander. Trotzdem scheint das Konfliktmodell für die Machtanalytik ein besonderes Gewicht zu haben, denn mit ihm geht, zumindest in geltungstheoretischer Hinsicht, eine Verschiebung des Forschungszweckes einher. Mit dem Konfliktmodell geht die Machtanalytik nämlich, wie bereits angedeutet, über den Anspruch der beiden anderen Modelle, eine reine Beschreibung von Machtverhältnissen zu liefern, hinaus. Der Analyseraster des Konflikts soll die Entstehung eines spezifischen Kräfteverhältnisses nicht nur beschreiben, sondern auch erklären, also zeigen, wie es dazu kam, dass die unterschiedlichen Positionen darin so und nicht anders besetzt sind. Dafür muss die jeweilige Konstellation auf der Folie historischer Kämpfe rekonstruiert werden können, so als hätte man es, wie Foucault sagt, „[…] mit einer Schlacht zu tun: Wenn man sich nicht an die Beschreibung hält, wenn man versuchen will, den Sieg oder die Niederlage zu erklären, dann muss man freilich die Probleme in Strategiebegriffen stellen und sich fragen: Warum hat das funktioniert?“316 Foucault versucht also mit dem Konfliktmodell die Implikationen eines handlungstheoretischen Ansatzes zu umgehen, indem er jenes als einen Analyseraster einführt, der die Macht in ihrer Anonymität unter dynamischen Gesichtspunkten fassen soll. Wie sich bereits anhand der beiden anderen Modelle gezeigt hatte, darf Macht nicht als ein Vermögen betrachtet werden, als etwas, das an ein Subjekt geknüpft ist oder von diesem besessen wird, sondern sie vollzieht sich in multiplen und prinzipiell instabilen Relationen, die sich in Dispositiven niederschlagen und in Praktiken reproduziert und modifiziert werden. Mit dem Konfliktmodell werden diese Beziehungen mithilfe eines weiteren Analysemodus in den Blick genommen. Sie sind „[…] keine eindeutigen Relationen, vielmehr definieren sie zahllose Konfrontationspunkte und Unruheherde, in denen Konflikte, Kämpfe und zumindest vorübergehende Umkehrung der Machtverhältnisse drohen“.317 Grundlage der Macht bildet demzufolge die Summe der Zusammenstöße, die sich zu globalen Strategien verketten, aus denen spezifische Kräfteverhältnisse hervorgehen, die als Herrschaftsordnung verteidigt aber auch in Formen des Widerstandes angegriffen werden.

316 Ebd., S. 408 (Hervorhebungen M.R.). 317 Vgl. Foucault (1975), a.a.O., S. 39.

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Die Ausweitung des gesellschaftstheoretischen Geltungsanspruchs von der perspektivischen Beschreibung auf den der Erklärung des Zustandekommens von Machtverhältnissen über das Konfliktmodell bringt allerdings einige Unklarheiten mit sich. Diese tauchen sowohl bezüglich des methodischen Selbstverständnisses wie auf gegenstandtheoretischer Ebene auf. Für die Methodenreflexion stellt sich zunächst folgendes Problem: Wenn gesellschaftliche Prozesse mithilfe des Analyserasters des Konfliktes aus einer quasi-ethnologischen Distanz der Beobachterperspektive nicht nur beschrieben, sondern zugleich mithilfe einer ihnen zu Grunde gelegten strategischen Logik erklärt werden sollen, ohne auf die Teilnehmerperspektive der real handelnden Subjekte Rücksicht nehmen zu müssen, dann stellt sich freilich die Frage, welche realitätserschließende Funktion dem Konfliktmodell dann zukommt. Als Modell für die reine Beschreibung gesellschaftlicher Machtkonstellationen kann es sowohl lokal begrenzte Konfrontationslinien wie globale Antagonismen nachzeichnen, wie sie sich in entsprechenden Dispositiven niederschlagen. Die analytische Reichweite ist dann von vornherein durch den Gegenstandsbezug vorgegeben. Der Analyseraster bleibt auf seine heuristische Funktion begrenzt. Durch einen spezifischen, der methodischen Kontrolle unterliegenden Zugriff kann er eine neue Sichtweise auf eine bislang vertraut erschienene Realität anbieten. So hatte sich bislang das methodische Selbstverständnis der Machtanalytik als eine gezielte Verfremdung von Ausschnitten der Gegenwart aus einer virtuellen Beobachterperspektive dargestellt. Darin besteht die kritische Funktion dieses Analyseverfahrens. Sobald jedoch der Anspruch auf Erklärung erhoben wird, erhält die Machtanalytik einen anderen geltungstheoretischen Status. Das Analysemodell legt den Konflikt dann nämlich als ein Prinzip mit universeller Geltung zu Grunde, das eine im Gegenstand selbst unterstellte Korrespondenz voraussetzt. Der Konflikt wird dann aber zur treibenden Kraft der untersuchten Realität stilisiert. Er wird damit zu einem Intelligibilitätsprinzip – ganz im sartreschen Sinne. Der entscheidende Unterschied besteht allerdings darin, dass Sartre den Konflikt aus der ontologisch fundierten, transzendentalen Grundstruktur individueller Praxis unter dem materiellen Diktat eines kontigenten Mangels heraus zu entwickeln sucht, während Foucault sich offenbar dazu gezwungen sieht, mangels theoriefähiger Handlungssubjekte den Konflikt per se zu ontologisieren. Auch wenn er es vorsichtshalber nur als Hypothese formuliert, dem Konfliktmodell liegt ganz offensichtlich die sozialontologische Annahme eines Kampfes aller gegen alle zu Grunde: „Wir kämpfen alle gegen alle. Und es gibt stets etwas in uns, das gegen etwas anderes in uns kämpft“, so Foucault.318

318 Foucault (1977b), a.a.O., Bd. 3, S. 407.

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Das Konfliktmodell scheint aber nicht nur eine methodische Unklarheit zu provozieren. Foucault handelt sich damit im Grunde, auch wenn er die Geltungsebene einzuklammern und damit die Binnenperspektive von Handlungssubjekten für die Gesellschaftsanalyse außen vor zu lassen gedenkt, zugleich auf der Seite des Forschungsgegenstandes ein Problem ein, das in ähnlicher Form bereits bei Sartre aufgetaucht war. Denn wenn die Macht als „[…] eine bestimmte Form augenblickhafter und beständig wiederholter Zusammenstöße innerhalb einer bestimmten Anzahl von Individuen […]“319 verstanden werden muss, der Konflikt also unabhängig vom jeweiligen Gehalt individueller Handlungsintentionen ein Prinzip der Realität darstellt, dann muss er nun auch erklären können, wie die einzelnen, pluralen Konfliktstrategien sich zu komplexen Kräfteverhältnissen verketten. Die so eindrücklich beschriebenen Funktionsweisen der Dispositive der Macht erzwingen, sobald der Analyseraster des Konflikts hinzugezogen wird, ihre Rekonstruktion aus der Abfolge unterschiedlicher Strategien. Damit bringt sich die genealogische Gesellschaftsanalyse aber ohne Not unter Rechtfertigungsdruck. Denn solange Foucault die in die Strategien eingeschriebene Rationalität am historischen Material nachzuvollziehen versucht, kann er diese noch als anonym und global beschreiben, sobald er jedoch deren Entstehung erklären will und dafür auf der interaktiven Ebene zwischen realen Subjekten den Kampf aller gegen alle als gesellschaftliches Strukturprinzip ansetzt, kommt er nicht mehr umhin, die Zwischenglieder zwischen Mikro- und Makroebene angeben zu müssen. Er wäre also im Grunde genötigt zu rekonstruieren, wie sich die zahlreichen Konfrontationen im intersubjektiven Elementarbereich zu globalen Machtverhältnissen aufschaukeln, und damit zugleich einsichtig zu machen, warum sie sich schließlich in spezifischen, relativ stabilen institutionellen Apparaten und Regelmechanismen niederschlagen.320 Ein analoges und ebenfalls nur unbefriedigend gelöstes Problem war bekanntlich bei Sartre mit seinem auf der Logik des individuellen Praxisvollzugs gegründeten Konfliktmodell aufgetaucht. Foucault kann diese Schwierigkeit nur umgehen, indem er auf das Dispositiv-Modell zurückgreift, was es ihm ermöglicht, die interaktive Ebene wieder in den übergeordneten Kontext einer globalen Struktur einzugliedern:

319 Vgl. Foucault (1973), a.a.O., S. 114. 320 Vgl. hierzu auch Honneth (1986), a.a.O., S. 176ff. Honneth verweist ebenfalls auf dieses bei Foucault nur unbefriedigend gelöste Problem, gelangt zu dieser Einschätzung allerdings auf einem anderen Weg. Wie bereits erwähnt, wird Foucault von ihm im Gegensatz zu dem hier unternommenen Versuch von vornherein als Handlungstheoretiker interpretiert.

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„Ich denke, daß die Art und Weise analysiert werden muß, wie die Erscheinungen, Techniken, Machtprozesse auf den untersten Ebenen agieren; daß gezeigt werden muß, wie diese Verfahren sich natürlich verlagern, ausweiten, verändern, aber vor allem wie sie von globalen Phänomenen besetzt und annektiert werden und wie allgemeinere Machtformen oder wirtschaftliche Vorteile sich in das Spiel dieser zugleich relativ autonomen und unendlich kleinen Machttechnologien einfügen.“321

Damit sind wir aber im Grunde wieder auf die Beschreibungsebene zurückgekehrt. Hier liegt zweifellos auch die Stärke von Foucaults Analyseverfahren. Es stellt sich aber die Frage, welchen diagnostischen Wert dann dem Konfliktmodell noch zuzusprechen wäre. Der Analyseraster des Konflikts erweist sich unterm Strich also als ein zweischneidiges methodisches Mittel. Es bringt die Machtanalytik nur bedingt weiter, führt aber zugleich dazu, dass Foucault sich bestimmte Probleme einhandelt, die er bislang elegant umschiffen konnte. Der Vorteil, den sich Foucault vom Konfliktmodell – oder der ‚Hypothese Nietzsches‘ – erhofft, ist offensichtlich, dass es ihm damit gelingt, die dynamische Dimension der Macht begrifflich fassen zu können. Anders als über das Verfahren der archäologischen Rekonstruktion, das lediglich in der Lage war, diskontinuierliche Abfolgen von sozialen Regelmechanismen zu beschreiben, bietet der Konfliktraster einen analytischen Zugriff auf die Geschichte der Macht, dem es zu verdanken ist, dass auch die historischen Übergänge transparent gemacht werden können. Unter der konzeptionellen Voraussetzung, dass sich Machtverhältnisse aus einer untergründigen Logik des Konfliktes und der Schlacht speisen, erlangt die Genealogie eine unverhoffte Erklärungskraft, ohne die Teilnehmerperspektive realer Handlungssubjekte berücksichtigen zu müssen. Der Preis ist allerdings hoch, denn Foucault fällt damit hinter das kritische Niveau einer bisher entwickelten genealogischen Beschreibung aus der virtuellen Beobachterperspektive zurück. Er gerät in den Verdacht einer Ontologisierung des Konfliktmodells. Damit würde er jedoch entgegen den eigenen, mühsam erarbeiteten methodologischen Vorkehrungen der Machtanalytik unter der Hand ein ahistorisches Prinzip zu Grunde legen. Konflikte gingen dann nicht mehr aus strategischen Konstellationen innerhalb einer historisch spezifischen Strukturlogik von Macht-Wissens-Komplexen hervor, die sich von außen in kritischer Distanz als solche beschreiben ließen, sondern genau umgekehrt würde eine gegebene Struktur, in der ein spezifisches Kräfteverhältnis repräsentiert ist, lediglich als Erscheinungsform eines immer währenden Konflikts gedeutet. Der Konflikt hätte dann aber den Status eines Universalbegriffes und

321 Foucault (1996), a.a.O., S. 46.

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Foucaults Analyseraster würde damit auf eine jener ‚dunklen Synthesen‘ zurückgreifen, die er an den unkritischen Kontinuitätsvorstellungen des traditionellen Geschichtsverständnisses bemängelt hatte. Foucault läuft also Gefahr, selbst auf die Geltungsebene abzugleiten, die er doch eigentlich über das Manöver einer Verschiebung des eigenen Standpunktes in eine virtuelle Beobachterperspektive verlassen und in ihrer Regelhaftigkeit von außen beschreiben wollte. Damit setzte er aber sein eigenes Programm einer radikalen Historisierung des Verhältnisses von Wissen und Macht unfreiwillig außer Kraft. Doch auch was die erhoffte explikative Reichweite des Konfliktmodells für die Gesellschaftsanalyse betrifft, sind Zweifel angebracht. Denn gesetzt den Fall, die ‚Hypothese Nietzsches‘ soll tatsächlich Entstehung und damit letztendlich auch den logischen Kern eines Machtverhältnisses in den Blick bekommen, dann muss freilich danach gefragt werden, welcher Ausschnitt der gesellschaftlichen Realität damit erfasst werden kann. Foucault versteht gesellschaftliche Regelmechanismen und institutionelle Anordnungen, wie sie sich etwa mithilfe des Dispositiv-Modells beschreiben lassen, als prekäre Kräfteverhältnisse, in denen der Konflikt gewissermaßen zu einem provisorischen Stillstand gekommen ist. Wie sich aber bereits anhand des Modells der Praktiken gezeigt hatte, lassen sich Stabilisierung und Reproduktion von Machtstrukturen ebenso mittels anderer Interaktionsformen erläutern. Insbesondere die zweideutige Verwendung des Begriffs der Unterwerfung hatte nahegelegt, dass Macht nicht nur als Repression verstanden werden muss, wie dies innerhalb des Konfliktmodells notwendig zu sein scheint, sondern Machtdispositive zugleich auf normative Anerkennung und damit auf Formen von Konsens basieren können. Insofern ist davon auszugehen, dass das Konfliktmodell für sich genommen – ungeachtet der genannten methodologischen Probleme – innerhalb der Machtanalytik nur eine begrenzte Erklärungskraft erlangen kann. Foucault bekommt damit lediglich denjenigen Aspekt gesellschaftlicher Machtverhältnisse einigermaßen in den Blick, den Habermas über das Modell des strategischen Handelns zu erklären sucht. Die übrigen Dimensionen des sozialen Handelns, über die Habermas andere Formen gesellschaftlicher Integration handlungstheoretisch rekonstruiert, lassen sich zwar möglicherweise unter machtanalytischen Gesichtspunkten über das Modell der Praktiken ebenfalls erfassen, so dass auf die Teilnehmerperspektive handelnder Subjekte verzichtet werden kann, das Konfliktmodell hat dort dann aber keine Erklärungskraft mehr. Insofern ist es für die Gesellschaftsanalyse nur begrenzt tauglich.322

322 Vgl. hierzu ebenfalls Honneth (1986), a.a.O., S. 180f.

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Foucault hat die methodischen wie gegenstandstheoretischen Schwierigkeiten, die mit dem Konfliktmodell verbunden sind, durchaus gesehen. In der unter dem Titel „Il faut defendre la société“ gehaltenen Vorlesung am Collège de France zog er 1976 selbst die diagnostische Reichweite des Konfliktmodells in Zweifel, indem er darauf hinwies, dass diesem ein ahistorisches Erklärungsmuster zu Grunde liegt.323 Foucault rückte daher die Frage ins Zentrum seiner Vorlesung, inwieweit der Analyseraster des Konfliktes dafür taugt, um die Funktionsweise gesellschaftlicher Machtverhältnisse transparent zu machen: „Kann und muß die Tatsache des Krieges als vorgängig zu anderen Beziehungen gedacht werden (Beziehungen der Ungleichheit, der Asymmetrie, der Arbeitsteilungen, der Ausbeutung usw.)? Können und müssen die Phänomene des Antagonismus, der Rivalität, des Zusammenstoßes, des Kampfes zwischen Individuen oder Gruppen oder Klassen in einem allgemeinen Mechanismus, in dieser allgemeinen Form des Krieges zusammengeführt werden?“324

Wie von Foucault nicht anders zu erwarten, formuliert er das Problem in historisch-kritischer Absicht. Seinen genealogischen Analyseverfahren treu bleibend, hinterfragt er damit die eigene Forschungsstrategie hinsichtlich Herkunft und Entstehung ihres begrifflichen Instrumentariums. Er unterzieht gewissermaßen den eigenen Ansatz einer genealogischen Rekonstruktion,325 indem er danach fragt, wann und auf welche Weise der Kriegsdiskurs historisch in Erscheinung tritt. „Seit wann und aus welchem Grund“, so Foucault, „geht man davon aus, daß so etwas wie ein ununterbrochener Kampf den Frieden durchzieht, daß also die zivile Ordnung – an ihrer Basis, in ihrem Wesen, ihren wesentlichen Mechanismen – eine Schlachtordnung ist? […] Wer hat im Lärm, im Wirrwarr des Krieges, im Schlamm der Schlachten, das Erkenntnisprinzip der Ordnung, des Staates, seiner Institutionen und seiner Geschichte gesucht?“326

Foucault versucht sich also erneut – nur diesmal in kritischem Bezug auf die eigene Methode – in eine virtuelle Beobachterperspektive zu bewegen, von wo aus er hofft, in den Blick zu bekommen, wie es möglich war, dass der Konflikt ein

323 Vgl. Foucault (1996), a.a.O., S. 32ff. 324 Ebd., S. 62. 325 Vgl. hierzu auch Lemke (1997), a.a.O., S. 132. 326 Foucault (1996), a.a.O., S. 63 (Hervorhebung M.R.).

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spezifisch historisches Weltverhältnis der Subjekte konstituieren und damit Geltungsmacht erlangen konnte. Im Grunde betreibt er damit genau das, was er bereits im Nietzsche-Aufsatz von 1971 als „wirkliche Historie“ bezeichnet hatte, nämlich in der eigenen Erkenntnisbewegung zugleich seine eigene Genealogie durchzuführen, um sich somit der Grundlagen zu vergewissern, auf denen ein jeweils „perspektivisches Wissen“ ruht.327 Und dieser Kriegsdiskurs taucht laut Foucault bemerkenswerterweise historisch genau zu dem Zeitpunkt auf, als die Vielzahl permanenter Fehden und Kleinkriege tendenziell ein Ende finden, weil sich eine Staatsgewalt durchsetzt, die die Gewaltverhältnisse in zentralen Instanzen verstetigt. Der Staat erlangt in Europa im Laufe des 17. Jahrhunderts mittels seiner Militärorganisation weitgehend das Monopol über den Krieg und erzwingt die Einstellung privater Kriegspraktiken.328 Parallel zu einer staatlichen Befriedung der Gesellschaft taucht jedoch im vorrevolutionären England und wenig später in den Reihen der französischen Aristokratie ein Diskurs auf, der unterhalb der gesellschaftlichen Ordnung einen fundamentalen Krieg diagnostiziert. Was den Geltungsanspruch sowie das methodische Selbstverständnis angeht, weist dieser Diskurs nun besondere Qualitäten auf. Es handelt sich nämlich, im Gegensatz zum vertragstheoretischen Rechtsdiskurs, der die Macht des Souveräns auf eine Übereinkunft der sich ihm unterwerfenden Rechtssubjekte gründet und damit Universalität beansprucht, im Falle des Kriegsdiskurs um einen Diskurs, der sich explizit als historischpolitisch versteht.329 Dieser formuliert damit zum einen Staatskritik im Sinne einer Kritik des gesellschaftlichen Universalitätsanspruchs der Souveränitätsmacht, indem er von einer grundlegenden Spaltung der Gesellschaft ausgeht. Der Kriegsdiskurs unterstellt eine „binäre Struktur“330 der Gesellschaft, die sie in zwei Lager unterteilt, die sich als feindliche Schlachtordnungen gegenüberstehen. Zum anderen handelt es sich um einen historischen Diskurs, der seine Kritik der Universalbegriffe des Rechts aus der Sicht eines der beiden gesellschaftlichen Lager formuliert. Er ist „[…] kein Diskurs der Totalität oder Neutralität; er ist immer ein Diskurs der Perspektive“.331 Das genealogische Verfahren Foucaults erlaubt es, beide Momente dieses historisch-politischen Kriegsdiskurses bis in die Moderne nachzuzeichnen und aus deren Verbindung eine spezifische Verschränkung von Macht und Wissen zu

327 Vgl. Foucault (1971a), a.a.O., Bd. 2, S. 182. 328 Vgl. Foucault (1996), a.a.O., S. 64f. 329 Vgl. ebd., S. 65. 330 Vgl. ebd., S. 67. 331 Vgl. ebd., S. 69.

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beschreiben, die sich über den medizinisch-biologischen Diskurs in Formen des modernen Rassismus transformiert.332 Für die hier verfolgte Fragestellung nach dem Stellenwert des Konfliktmodells als Analyseraster zur Beschreibung moderner Machtverhältnisse ist nur so viel relevant: Foucault verdeutlicht über den Weg einer Genealogie dieses Modells nicht nur die machtimprägnierten Entstehungsbedingungen seines Wahrheitsanspruchs, er rekonstruiert damit zugleich Herkunft und Entstehung seines eigenen Analyseinstruments von einem spezifisch historischen Willen zum Wissen her. Damit erweist sich dieses jedoch als genau denjenigen Geltungsbedingungen unterworfen, die zugleich Gegenstand der Analyse aus der virtuellen Beobachterperspektive sein sollen. Der Analyseraster des Konflikts verfängt sich also auf der Geltungsebene und erweist sich insofern als im Grunde untaugliches methodisches Instrumentarium für das Unternehmen einer externen Diagnose der Gegenwart. Theoretische Konsequenzen für das eigene Verfahren zieht Foucault im Verlauf der 1976er Vorlesung allerdings noch nicht. Er beschränkt sich vorläufig noch auf das Erstellen eines historischen Forschungsprogramms, das die Genealogie der eigenen theoretischen Mittel frei legt.333 Erst in den kommenden Jahren hat sich Foucault auch in methodischer Hinsicht schrittweise von der ‚Hypothese Nietzsches‘ distanziert und damit das Konfliktmodell als Analyseraster in dieser Form aufgegeben. So warnte er etwa 1978 in einem Interview, bezogen auf die damalige politische Situation, ausdrücklich vor einem Denken der Gegenwart in den Kategorien des Krieges und der Schlacht: „Das Modell des Krieges sitzt wie ein Parasit auf den Diskussionen über politische Themen. […] Wer lange genug proklamiert: ‚Ich kämpfe gegen einen Feind‘, wird der diesen ‚Feind‘ dann nicht auch als solchen behandeln, wenn es – was jederzeit geschehen kann – tatsächlich zu einer kriegerischen Situation kommt? Diese Bahn führt geradewegs in die Unterdrückung, sie ist gefährlich.“334

Was sein eigenes Analyseverfahren angeht, so ist in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre eine begriffstheoretische Verschiebung des Erkenntnisrasters des

332 Vgl. ebd., S. 282ff. 333 Vgl. hierzu auch Norbert Axel Richter (2005): Grenzen der Ordnung. Bausteine einer Philosophie des politischen Handelns nach Plessner und Foucault, Frankfurt am Main/New York, S. 123. Richter vermutet, dass Foucaults spätere Abkehr von der Kriegshypothese u.a. auch mit den politischen Erfahrungen im Zuge des Deutschen Herbst 1977 und des RAF-Terrorismus zusammenhängt; vgl. ebd., S. 124f. 334 Foucault (1980), a.a.O., Bd. 4, S. 118.

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Konflikts zu beobachten. Foucault bewegt sich weg von einem militärisch konnotierten Modell, das gesellschaftliche Konfrontationen anhand von binären Codes zu entschlüsseln sucht, hin zu pluralen Interaktionsverhältnissen zwischen Individuuen und Gruppen, die jedoch, wie er betont, nicht „[…] in der Natur der Dinge, sondern in der eigenen Logik eines Spiels von Interaktionsbeziehungen mit seinen ständig wechselnden Margen von Ungewißheit [...]“ zu finden sind.335 Der Konflikt wird im weiteren Verlauf von Foucaults Gesellschaftsanalyse von einer Logik des Krieges und der Schlacht auf eine Logik der Interaktionsbeziehungen heruntermoduliert. Zu diesem Zweck wird auch die Funktion der Genealogie für die Gesellschaftsanalyse partiell modifiziert. Ihre Aufgabe ist es zwar weiterhin, die einzelnen Machteffekte auf die vielfältigen Elemente und Relationen hin zu rekonstruieren, die ihre Erscheinungsbedingungen darstellen, also deren Herkunft und Entstehung einsichtig zu machen, der Rückgriff auf ein überhistorisches Prinzip zu ihrer Erklärung unterbleibt allerdings. Um die mehrschichtigen Verkettungen von Interaktionen jedoch weiterhin unter strategischen Gesichtspunkten transparent machen zu können, ist es aus Foucaults Sicht offenbar erforderlich, der Genealogie ein neues Analyseverfahren zur Seite zu stellen: das einer „strategischen“ Analyse.336 Dafür ist es allerdings notwendig, auch den Strategiebegriff von der Kriegslogik zu entkoppeln. Strategien werden von ihm zwar weiterhin innerhalb existierender Kräfteverhältnisse analysiert, ihre Rationalität soll nun aber der jeweils spezifischen Logik der Interaktionen, die sich auf einem weitgehend unübersichtlichen und mehrschichtigen Feld vollziehen, entnommen werden: „Die Logik der Interaktionen, die sich zwischen Individuen abspielen, kann einerseits die Regeln, die Besonderheiten und die singulären Effekte eines bestimmten Niveaus wahren und doch zugleich mit den anderen Elementen eines anderen Interaktionsniveaus zusammenspielen – dergestalt, daß keine dieser Interaktionen als vorrangig oder absolut totalisierend erscheint.“337

Foucault stellt sein gesellschaftsanalytisches Verfahren insoweit um, dass er nun versucht, die Praktiken und Strategien auch auf der intersubjektiven Mikroebene machtanalytisch als eine „Verstrickung zwischen Prozeßerhaltung und Prozeßumformung“ zu fassen. Um historische Transformationsprozesse in ihrer Pluralität und Mehrschichtigkeit beschreiben zu können sind daher nun „[…] drei

335 Vgl. Foucault (1990), a.a.O., S. 38. 336 Vgl. ebd., S. 39. 337 Ebd., S. 38.

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simultane Dimensionen ein und derselben Analyse […]“ erforderlich: Archäologie, Genealogie und Strategie.338 Mit der Umstellung des Konfliktmodells auf die strategische Analyse der Interaktionsbeziehungen, die von nun an die bereits bekannten beiden Methoden der Archäologie und der Genealogie flankieren soll, wird die Frage nach der Rolle menschlicher Subjekte innerhalb der Machtanalytik erneut virulent. Denn Interaktionsbeziehungen implizieren auch für Foucault „[…] Subjekte, Verhaltenstypen, Entscheidungen, Optionen“.339 Soll die Machtanalytik auch weiterhin auf deren Teilnehmerperspektive verzichten können, muss Foucault nun zeigen können, wie sich interagierende Subjekte in ihrem Selbst- und Weltverhältnis aus der Beobachterperspektive beschreiben lassen. Dieses Vorhaben steht im Mittelpunkt der Geschichte der Subjektivität, die Foucault in seiner letzten Schaffensphase zu schreiben begonnen hat.

Die Grenzen der Genealogie Die Diskussion von Foucaults Forschungsprojekt einer Analytik der Macht unter den Gesichtspunkten ihres methodischen Selbstverständnisses und des damit verbundenen theoretischen Status des Subjekts führt vorläufig zu folgendem Befund: Foucault gelingt es im Prinzip auch nach der Erweiterung seines archäologischen Analyseverfahrens um das der Genealogie, eine virtuelle Beobachterposition einzunehmen. Die perspektivische Verfremdung des Untersuchungsgegenstandes bleibt auch weiterhin methodisch kontrolliert. Da Foucault damit keinen Anspruch auf Objektivität erhebt, hat die Machtanalytik vor allem heuristischen Wert. Sie stellt den Versuch dar, gesellschaftliche Funktionsmechanismen und Praktiken in ihrer historischen Genese unabhängig von Geltungsfragen zu analysieren. Ihr Verdienst ist es, das Selbstverständnis der gesellschaftlichen Subjekte infrage zu stellen und somit die Möglichkeit einer anderen, kritischen Wahrnehmung des Bestehenden zu eröffnen. Insofern ist dieses Verfahren für die Gesellschaftsanalyse von Bedeutung, denn ihr Ziel ist es, Mechanismen sozialer Integration quasi von außen unter dem Gesichtspunkt einer Verschränkung von Macht und Wissen zu beschreiben. Wie sich beim Durchgang durch das methodische Arsenal der Machtanalytik zeigte, gelingt es Foucault aber nicht immer, die Beobachterperspektive konsequent durchzuhalten.

338 Vgl. ebd., S. 39. 339 Vgl. ebd., S. 38.

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Der große Vorteil einer mit den Mitteln von Archäologie und Genealogie operierenden Gesellschaftsanalyse ist, dass Foucault dadurch in der Lage ist, Machtverhältnisse zu beschreiben, ohne zunächst auf handelnde Subjekte zurückgreifen zu müssen. Macht lässt sich von außen als relational, produktiv und strategisch auffassen und muss nicht als Phänomen verstanden werden, das an institutionelle oder personale Träger gebunden ist. Sie besteht aus relativ stabilen aber zugleich immer prekären Kräfteverhältnissen, deren Strukturlogik und -dynamik es zu beschreiben gilt. Foucaults Machtanalytik bietet sich damit als aussichtsreiche Alternative zu Sartres praxisphilosophisch fundierter Gesellschaftstheorie aus der Teilnehmerperspektive an. Die drei Beschreibungsmodelle, die sich als Analyseraster aufdrängen, um die Mechanismen der Macht sowohl in ihrer Funktionsweise wie in ihrer Genese einsichtig zu machen, sind dafür allerdings nicht gleich gut geeignet. So hatte sich über das Dispositiv-Modell weitgehend klären lassen, wie Macht und Wissen historisch in spezifischen Strukturzusammenhängen funktionieren und damit dem menschlichen Subjekt in theoretischer wie praktischer Hinsicht eine entsprechende Position zuweisen. Mithilfe von Dispositiven lassen sich aber lediglich unterschiedliche Zustände von Kräfteverhältnissen adäquat beschreiben, nicht jedoch deren innere Dynamik bzw. die Bedingungen der Transformation einer Struktur. Die dynamische Dimension – retrospektiv also die Genealogie von Machtverhältnissen – erschließt sich erst über den produktiven und strategischen Charakter der Macht. Dafür müssen das Modell der Praktiken und das Konfliktmodell hinzugezogen werden. Hatte sich an der Rationalität spezifisch-historischer Praktiken die Konstitution von Welt- und Selbstverhältnissen und damit die Reproduktion von Machtverhältnissen beschreiben lassen, so dient das Konflikt-Modell vornehmlich der Rekonstruktion ihrer Entstehung aus der Logik strategischer Konfrontation innerhalb von historischen Auseinandersetzungen. Die drei Beschreibungsmodelle bilden das Grundgerüst von Foucaults Analysetechnik. Mit ihr sollen sich gesellschaftliche Zusammenhänge so erfassen lassen, dass er weder gezwungen ist, sie auf eine übergeordnete Systemlogik zurückzuführen, noch sie handlungstheoretisch unter Berücksichtigung der Teilnehmerperspektive zu rekonstruieren. Ein Anspruch, der sich allerdings, wie gesehen, nicht immer problemlos einlösen lässt. Zwar konnte gezeigt werden, dass Foucault dank der strategischen Komponente, die auch im Hintergrund des Dispositiv-Modells zur Beschreibung von Kräfteverhältnissen anzutreffen ist, in der Tat den Versuchungen des Funktionalismus widersteht, was jedoch die Einklammerung der Teilnehmerperspektive angeht, verwickelt er sich mehrfach in Widersprüche. Obwohl Foucault sich von Anfang an davon distanziert, Macht ausschließlich als repressiv aufzufassen und auf ihren produktiven Charakter in-

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sistiert, schleppt sein Modell der Praktiken die Repressionshypothese noch bis zur Mitte der 70er Jahre mit. Dadurch verliert die Machtanalytik an Präzision. Denn Unterdrückung ist eine Kategorie, die sich lediglich auf die Erfahrung von betroffenen Teilnehmern aus der Binnenperspektive beziehen lässt, sich aber nicht aus einer externen Beobachtung, wie sie Foucault versteht, gewinnen lässt. Die Analytik der Macht gelangt also erst in dem Moment zu einer Form der Gesellschaftsanalyse, die Foucaults eigenen methodischen Ansprüchen genügen kann, als er die Repressionshypothese definitiv verabschiedet und sich allein auf die Produktivität der Macht konzentriert. Dann ist allerdings nicht wirklich plausibel, wie sich Subjekte als Produkte der Macht in ihrem Selbstverhältnis konstituieren. Doch auch das Konflikt-Modell steuert stillschweigend auf die Teilnehmerperspektive zu. Die Absicht, die Rationalität von Strategien durch den Analyseraster des Konflikts allein aus der Beobachterperspektive einsichtig machen zu können, gelingt nur um den Preis, dass Foucault die Existenz von Konflikten mit einer sozialontologischen Begründung ausstattet. Damit unterstellt er eine erkenntnistheoretisch wie sachlich nicht ausweisbare historische Kontinuität und tut genau das, was er dem traditionellen Geschichtsverständnis und insbesondere Sartre immer vorgeworfen hat. Der Versuch, die von Sartre im Gegenzug bemängelte Lücke zwischen einzelnen Aggregatzuständen der Macht mithilfe der ‚Hypothese Nietzsches‘ zu schließen, gelingt nur, indem die Übergänge nun aus einem überhistorischen Prinzip erklärt werden. Dagegen hatte sich die Archäologie, wie gesehen, jedoch zu Recht mit allen Mitteln gestemmt. Sobald jedoch die Kriegshypothese aufgegeben wird, stellt sich von Neuem die Frage nach den Initiatoren von Strategien, also nach den handelnden Subjekten und den von ihnen jeweils gewählten Zielen. Foucault hat aus dieser misslichen Lage, wie gesagt, in den späten 70er Jahren die Konsequenzen gezogen und sich sowohl von der ‚Repressions-Hypothese‘ wie von der ‚Hypothese Nietzsches‘ verabschiedet. Damit erfährt seine Gesellschaftsanalyse eine entscheidende begriffliche Verschiebung. Die ‚Analytik der Macht‘ wird durch das genealogische Unternehmen einer ‚Geschichte der Subjektivität‘ ergänzt. Der Begriff der Macht tritt dabei schrittweise in den Hintergrund. An seiner statt tauchen die ‚Führung‘ (conduire) bzw. das ‚Regieren‘ (gouvernement) auf. Damit werden vor allem die historisch spezifischen Weltund Selbstbezüge thematisiert, die im Zusammenhang mit dem Modell der Praktiken bereits untersucht worden waren. Foucault beleuchtet auf diesem Weg zwei bislang nur unbefriedigend gelöste Aspekte der Macht: die historischen Techniken der Selbstkonstitution von Subjekten sowie die elementare Ebene der Interaktion zwischen diesen Subjekten. Beide Fragestellungen sind eingebettet in ein großes gesellschaftstheoretisches Vorhaben, das Foucault jedoch nur noch in

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zwei Vorlesungen grob skizzieren konnte: eine die sozialen Makrostrukturen bis hin zu den Institutionen des Staates erfassende ‚Geschichte der Gouvernementalität‘.

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Die konzeptionellen Schwierigkeiten, die sich im Zuge der Durchführung einer Analytik der Macht aus der Beobachterperspektive ergeben hatten, machten methodologische Korrekturen erforderlich. Gegen Ende der 70er Jahre begann Foucault mit einer schrittweisen Neujustierung seines Forschungsansatzes, was zu einem Umbau der Theoriearchitektur führte. Foucault sah sich gezwungen, die Frage des Subjektes erneut zu thematisieren – allerdings unter verändertem Blickwinkel: Anders als in seinen bisherigen Arbeiten ging es von nun an nicht mehr allein darum, Subjekte als epistemische Effekte von Diskursformationen bzw. als Unterwerfungseffekte der Funktionsweisen von Machtmechanismen zu beschreiben, sondern im Zentrum seiner Fragestellung standen nun die historischen Weisen der Selbstbeziehung von Subjekten. Aus dieser Perspektive ordnete Foucault zu Beginn der 80er Jahre seine früheren Forschungsarbeiten rückblickend als Untersuchung von „[…] Objektivierungsformen […], die den Menschen zum Subjekt machen […]“ in eine „[…] Geschichte der verschiedenen Formen der Subjektivierung des Menschen […]“ ein340 und konstatiert: „Das umfassende Thema meiner Arbeit ist also nicht die Macht, sondern das Subjekt.“341 Es ist offensichtlich, dass Foucault mit dieser Selbstinterpretation versuchte, den methodischen Stellungswechseln, die sich im Laufe seiner Forschungsarbeiten ergeben hatten, retrospektiv begriffliche Kongruenz zu verleihen, denn, wie er an anderer Stelle einräumte: „[…] in Wirklichkeit wurden die Dinge nach und nach aufgedeckt, und auf diesem Weg war vieles dunkel und zweifelhaft“.342

340 Vgl. Foucault (1982), a.a.O., Bd. 4, S. 269. 341 Ebd., S. 270. 342 Vgl. den erstmals in den USA publizierten ersten Entwurf für ein Vorwort zu den Bänden 2 und 3 der „Histoire de la sexualité“: Michel Foucault (1984b): Vorwort zu ‚Sexualität und Wahrheit‘ (Preface to the ‚History of Sexuality‘. In: Paul Rabinow (Hg.), The Foucault-Reader, New York, S. 333-339); hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S. 711.

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Und genau das lässt sich anhand einer Reihe „theoretische[r] Verschiebung[en]“ nachvollziehen, die ihn zunächst in den 60er Jahren von der Phänomenologie zur strukturalistisch inspirierten Diskursanalyse und in den 70ern, wie gesehen, zu einer genealogisch ausgerichteten Machtanalytik geführt hatten. Nun stellte er diese unter eine rückblickend sich erschließende Forschungslogik: „Jetzt schien es nötig“, so Foucault, „eine dritte Verschiebung vorzunehmen, um das zu analysieren, was als ‚das Subjekt‘ bezeichnet wird; es sollte untersucht werden, welches die Formen und die Modalitäten des Verhältnisses zu sich sind, durch die sich das Individuum als Subjekt konstituiert und erkennt.“343 Mit dieser ‚subjekttheoretischen Wende‘344 ist allerdings keine Rückkehr zur bislang kritisierten Philosophie des Subjekts gemeint. Foucault greift eine Thematik auf, die in seinen vorherigen Arbeiten in der Tat immer im Hintergrund gestanden hatte, aus methodischen Gründen jedoch ausgeklammert worden war.345 So hatte die archäologisch verfahrende Diskursanalyse die Funktion des Erkenntnissubjekts innerhalb des Raumes der modernen Episteme bestimmt und der genealogische Zugriff der Machtanalytik das praktische Handlungssubjekt als gesellschaftlichen Effekt von Macht-Wissens-Komplexen analysierbar gemacht. Die Geschichte der Subjektivierung konzentrierte sich nun auf die Verschränkung von Wissensordnungen und Machtbeziehungen mit den historischen Selbstverhältnissen der Subjekte, kurz: es geht um „[…] das Studium der Wahrheitsspiele im Verhältnis seiner selbst zu sich und der Konstitution seiner selbst als Subjekt

343 Vgl. Foucault (1984), a.a.O., S. 12. 344 In der Forschungsliteratur wird Foucaults Thematisierung des Subjekts in seinen späten Arbeiten zum Teil als eine „Rückkehr des Subjekts“ gedeutet, dem nun eine Begründungsfunktion und insofern ein theoretischer Status zugesprochen werden muss. Dies ist m.E. nicht zutreffend, was im Folgenden zu zeigen versucht wird. Vgl. insbesondere Hinrich Fink-Eitel (1990): Zwischen Nietzsche und Heidegger. Michel Foucaults ‚Sexualität und Wahrheit‘ im Spiegel neuerer Sekundärliteratur. In: Philosophisches Jahrbuch 97, S. 367-390; sowie das Foucault-Kapitel in ders. (1994): Die Philosophie und die Wilden. Über die Bedeutung des Fremden für die europäische Geistesgeschichte, Hamburg, S. 280; ähnlich auch Rainer Forst (1990): Endlichkeit Freiheit Individualität. Die Sorge um das Selbst bei Heidegger und Foucault. In: Erdmann et al., a.a.O., S. 146-186 und Hans Herbert Kögler (1990): Fröhliche Subjektivität. Historische Ethik und dreifache Ontologie beim späten Foucault, ebd., S. 202-226. 345 Vgl. Pier Aldo Rovatti (1986): Il luogo del soggetto. In: ders. (Hg.), Effetto Foucault, Milano, S. 71-76.

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[…]“.346 Damit wird das Subjekt beim späten Foucault zwar zum bevorzugten Untersuchungsgegenstand, anders als in klassischen Subjekttheorien wird ihm allerdings weiterhin keine Begründungsfunktion aufgebürdet.347 Mit der Erweiterung des Untersuchungsfeldes auf die Geschichte der Subjektkonstitutionen gelingt es Foucault, die bislang offengebliebenen Fragen unter einer neuen Forschungsperspektive in den Blick zu bekommen. Durch die Etablierung dieser dritten Analysestrategie, die sich auf die historisch-kulturell spezifischen Subjektivierungsformen konzentriert und den beiden bisher angewandten, der Untersuchung der epistemologischen Konstitutionsbedingungen sowie der Genealogie der Machttechnologien, an die Seite gestellt wird, wird es möglich, die von Sartre beharrlich aufgeworfene Problematik des Verhältnisses von Subjekt und Geschichte in veränderter Form erneut anzugehen. Wie sich im vorherigen Kapitel gezeigt hatte, war die Machtanalytik auf drei schwer wiegende Schwierigkeiten zugesteuert, die sie mit dem von ihr bereitgestellten methodischen Instrumentarium nur unbefriedigend zu lösen vermocht hatte: Es war unklar geblieben, wie eine Subjektkonstitution gedacht werden könnte, die Foucault bislang lediglich als fremdbestimmt über determinierende Mechanismen äußeren Zwanges fassen konnte. Zudem hatte der Versuch, Machtstrategien ohne Rückgriff auf die Motivationslage von Handlungssubjekten zu beschreiben, dazu geführt, dass diese entweder auf ein sozialontologisch fundiertes und damit theoretisch äußerst problematisches Konfliktmodell zurückgeführt wurden oder aber die Logik globaler Strategien im Dunkeln bleiben musste. Schließlich hatte sich daraus in der Konsequenz ein drittes Hindernis aufgetan, das allerdings Sartre ebenso wenig in der Lage war zu nehmen: Wie nämlich verketten sich Handlungen bzw. im Falle Foucaults lokale Strategien und Taktiken zu institutionellen Komplexen? Um diese Problematiken in veränderter Form angehen zu können, ordnet Foucault seine bisherigen Arbeiten in einen neuen Bezugsrahmen ein. Er versteht sein Forschungsprogramm nun als den Versuch, eine „Geschichte des Denkens“ zu schreiben. Damit verschiebt sich die Untersuchungsperspektive. Ließen sich die bisherigen Studien entsprechend der Bezeichnung seines Lehrstuhls am Collège de France unter dem Obertitel einer ‚Geschichte der Denksysteme‘ ein-

346 Vgl. Foucault (1984), a.a.O., S. 13. 347 Vgl. Michel Foucault (1984c): Foucault. In: Denis Huisman (Hg.), Dictionnaire des philosophes, Bd. I, Paris, S. 942-944 (Foucault hat diesen Lexikonartikel über sich, unter dem Pseudonym Maurice Florence [M.F.!] weitgehend selbst verfasst, der Rest stammt von François Ewald); die von Foucault geschriebenen Passagen werden hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S. 779ff.

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ordnen – nicht nur die Extrapolation unterschiedlicher Epistemes, auch das Herausarbeiten von Macht-Wissens-Dispositiven als Formen theoretisch wie praktisch wirkmächtiger Regelmechanismen des Wissens konnte darunter gefasst werden –, so konzentriert sich Foucaults Augenmerk nun auf die Dimension spezifischer Welt- und Selbsterfahrungen. Die Geschichte des Denkens umfasst eine Geschichte der Erfahrungsformen des Subjekts. Mit dem Begriff des Denkens hat Foucault drei Erfahrungsdimensionen im Auge: „Unter ‚Denken‘ verstehe ich das, was in unterschiedlichen möglichen Formen das Spiel des Wahren und Falschen begründet und was infolgedessen das menschliche Sein als Erkenntnissubjekt konstituiert; das, was die Annahme oder Zurückweisung der Regel begründet und das menschliche Sein als gesellschaftliches und rechtliches Subjekt konstituiert; das, was das Verhältnis zu sich selbst und zu den anderen begründet und das menschliche Sein als ethisches Subjekt konstituiert.“348

Erkenntnissubjekt, soziales und ethisches Subjekt – alle drei Modi des Subjektseins entsprechen nicht nur den grundlegenden Dimensionen von Wissen, Macht und Selbst innerhalb des neuen theoretischen Bezugsrahmens, sie verweisen zugleich – und Foucault deutet dies im Vorbeigehen sogar an – auf den theoretischen und praktischen Welt- und Selbstbezug, wie dieser in der existenzphilosophischen Tradition der „Daseinsanalyse“349 gedacht wird. Während dieser jedoch bei Sartre, wie gesehen, konsequent aus der Binnenperspektive heraus entwickelt wird, hält Foucault – und aus diesem Grund kann von einer ‚Rückkehr des Subjekts‘ keine Rede sein – weiterhin an einer externen Beobachterperspektive fest. Er fragt nicht nur nach der Geschichte von Welt- und Selbstbezügen, sondern intendiert zugleich, die Genealogie der darin auftauchenden Elemente und Positionen zu rekonstruieren.350 Darin besteht die theoriestrategische Kontinuität des foucaultschen Forschungsprogramms. Die Diskursanalyse hatte mit den Mitteln der Archäologie die Geschichte der Wissensformen und der ihnen zu Grunde liegenden konstitutiven diskursiven Regelsysteme frei zu legen versucht. Die Machtanalytik hatte den Anspruch, über die methodologische Verschränkung von Archäologie und Genealogie die Geschichte der sozialen Regelsysteme und Herrschaftsmechanismen zu rekonstruieren. Die Geschichte der Subjektivität schließlich beabsichtigt, ausgehend von den an die historische Abfolge der Wissensformen und der sozialen Regelmechanismen geknüpften Subjektpositionen,

348 Foucault (1984b), a.a.O., Bd. 4., S. 709. 349 Vgl. ebd. 350 Vgl. Foucault (1984c), a.a.O., Bd. 4, S. 780.

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eine Geschichte der Selbstverhältnisse zu schreiben. Allen drei Analyseformen ist gemeinsam, dass der Zugriff auf den Untersuchungsgegenstand aus einer virtuellen Beobachterperspektive erfolgt. Dies wird, zumindest für die Subjektposition, im Weiteren noch detailliert zu zeigen sein. Für die im Rahmen dieser Arbeit verfolgte gesellschaftstheoretische Fragestellung bedeutet dies: Mit der Ausweitung der Analyse auf die Dimension der Subjektkonstitution wandelt sich Foucaults Forschungsprogramm erneut sowohl bezüglich seines Selbstverständnisses wie der theoretischen Ausrichtung. Hatte die Archäologie der historischen Wissensformen zum Ziel, eine ‚Ethnologie der eigenen Kultur‘ zu schreiben, so verschoben sich Gegenstand und Ziel im Zuge einer genealogisch ausgerichteten Machtanalytik hin auf die Beschreibung sozialer Praktiken. Foucault intendierte damit, wie gesehen, eine ‚Geschichte der Gegenwart‘. Mit dem Ausgriff auf die Erfahrungsdimension des Subjekts erfolgt eine weitere Verschiebung. Was Foucault nun im Visier hat, ist das Projekt einer „historischen Ontologie unserer selbst“,351 bzw. einer „Ontologie der Gegenwart“.352 Im Folgenden soll zunächst geklärt werden, welche methodologischen Verschiebungen an das Forschungsprogramm einer „Ontologie der Gegenwart“ geknüpft sind. In einem zweiten Schritt werden dann die gesellschaftstheoretischen Konsequenzen diskutiert werden. Dies soll primär unter den Gesichtspunkten der im Kontext der Machtanalytik offengebliebenen Fragen, insbesondere mit Blick auf die Subjektproblematik, geschehen. In methodischer Hinsicht wird zu fragen sein: Inwieweit ist es tatsächlich möglich, handelnde Subjekte allein aus der Beobachterperspektive zu beschreiben? Und welche Folgen hat dies für die diagnostische Reichweite einer kritischen Gesellschaftsanalyse? Aus politisch-praktischer Perspektive muss zudem darüber nachgedacht werden, welcher Status der Gesellschaftskritik innerhalb der Ontologie der Gegenwart zugewiesen werden und welche Rolle diese im Kontext gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen haben kann.

351 Vgl. Foucault (1984d): Was ist Aufklärung? (What is Enlightenment? In: Rabinow, a.a.O., S. 32-50); hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S. 702. 352 Vgl. Foucault (1984e): Was ist Aufklärung? (Qu’est-ce que les Lumières? In: Magazine littéraire 207, Mai 1984, S. 35-39); hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S. 848.; vgl. auch die vollständige und nicht ganz textidentische Fassung dieses Vorlesungstextes von 1982 in Foucault (2008a): Le gouvernement de soi et des autres. Cours au Collège de France (1982–1983), Paris, S. 22.

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Der methodische Bezugsrahmen einer historischen Ontologie der Gegenwart Das Projekt einer Ontologie der Gegenwart entwirft Foucault in einer Reihe von kürzeren Texten, in denen er sich mit Kants berühmtem Aufklärungsaufsatz353 von 1784 auseinandersetzt. Bemerkenswert daran ist, dass er sich – auch zum großen Erstaunen mancher Zeitgenossen354 – dabei ausdrücklich in die Tradition der Moderne einreiht.355 Das hat Konsequenzen für die Art der kritischen Distanzierungsbewegung, die Foucault in seinen bisherigen Arbeiten vollzogen hatte. Die Moderne ist nun nicht mehr allein Untersuchungsobjekt und damit Gegenstand der Kritik, wie etwa für die archäologische Diskursanalyse, die Grenzen und Bedingungen ihrer spezifischen Episteme frei zu legen sucht, oder im Fall der genealogisch operierenden Machtanalytik, die auf die Historizität und Kontingenz der akzeptierten Geltung von sozialen Regelsystemen hinweist, die Moderne ist nun zugleich Ausgangspunkt methodischer Reflexion. Damit ist sowohl die Distanz einer virtuellen Beobachterposition, wie sie der Archäologe über die methodisch kontrollierte Verfremdung seines Gegenstands aufbaute, aber auch der operativ ausgestellte Perspektivismus des Genealogen bewusst an die Geltungsebene der Moderne zurückgebunden. Die prinzipielle Möglichkeit eines Sprunges nach außen, die Foucault bislang unter der Hand einfach unterstellt hat, muss damit aus der Tradition der Moderne selbst heraus aufgezeigt werden. Wie aber soll dies gelingen, ohne sich auf der Ebene moderner Geltungsfragen in deren binnenlogischen Zwängen zu verfangen? Ist Foucault damit nicht endgültig auf die Teilnehmerperspektive zurückgeworfen, so dass seine brachialen Versuche, diese zu überwinden, am Ende doch nur ‚blinde Ausgänge‘ nehmen können? Dies würde bedeuten, dass sich das ganze Unternehmen nur retten ließe, wenn es über die hermeneutische Rekonstruktion des eigenen Vorverständnisses abgestützt werden könnte.356 Damit würde Foucault aber auf ge-

353 Vgl. Immanuel Kant (1784): Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Werkausgabe, Bd. XI, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1968, S. 53-61. 354 Vgl. etwa Jürgen Habermas (1984): Mit dem Pfeil ins Herz der Gegenwart. Zu Foucaults Vorlesung über Kants ‚Was ist Aufklärung?‘. In: ders., Die Neue Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V, Frankfurt/M. 1985, S. 126-131. 355 Vgl. Foucault (1984e), a.a.O., Bd. 4, S. 848; Foucault (2008a), a.a.O., S. 22. 356 Diese durchaus plausible Konsequenz zieht Kögler im Anschluss an die Deutung von Foucaults Analysemethode als eine ‚interpretative Analytik‘ durch Dreyfus/ Rabinow. Vgl. Hans Herbert Kögler (1992): Die Macht des Dialogs. Kritische Her-

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nau diejenige Position zurückfallen, von der er sich seit den frühen 60er Jahren vehement distanziert hatte und die Gegenstand seiner methodischen Kritik gewesen war: eine innerhalb der modernen Geltungsthematik versuchte überhistorische Sinnkonstitution. Ein aus seiner Sicht aussichtsloses Vorhaben, für das für ihn nicht zuletzt die Person Sartres stand. Wie aufgrund seines methodischen Selbstverständnisses nicht anders zu erwarten, wählt Foucault einen anderen Weg, um die Bewegung einer reflexiven Distanzierung zu vollziehen. Der Zweck dieser Operation – dies sei hier vorab noch einmal festgehalten – ist, eine externe Beobachterposition zu gewinnen, um die Genealogie von Selbstverhältnissen und damit Subjekte in ihrer konkreten historischen Gestalt in den Blick zu bekommen. Dass Foucault dafür Kant zum Ausgangspunkt nimmt, ist freilich kein Zufall. Dem Begründer der Transzendentalphilosophie hatte, wie gesehen, bereits die Archäologie der Humanwissenschaften, wie sie in „Les mots et les choses“ vorexerziert worden war, eine Sonderstellung an der Schwelle zwischen klassischer und moderner Episteme zugeschrieben. Die Begründungsprobleme, in die die modernen Humanwissenschaften im Rahmen des dort skizzierten ‚anthropologischen Vierecks‘ geraten, waren von Kant zwar vorbereitet worden, in der Lesart Foucaults aber aufgrund seiner strikten Trennung der empirischen und der transzendentalen Ebene bei ihm selbst noch nicht aufgetreten. Kant lieferte als Figur des Übergangs zusammen mit der Episteme der Klassik die Kontrastfolie, auf der die Wissensformen der Moderne ihre spezifischen Konturen erhalten. Erst vor diesem Hintergrund gelingt der verfremdende Blick von außen auf das vertraute, moderne Denken. Foucaults Rückgriff auf Kants Thematisierung der Aufklärung, mit der er sein eigenes Unternehmen als Ontologie der Gegenwart auszuweisen sucht, folgt offenbar derselben Intuition. Kant dient in diesem Kontext nun allerdings nicht mehr allein als Medium epistemischer Distanzierung und archäologischer Verfremdung, er fungiert zugleich als experimentelle Position, die den radikalen Perspektivismus des Genealogen markieren kann. Außerdem weist ihm Foucault aber noch eine dritte Funktion zu und formuliert damit eine historisch neue Qualität des Denkens, die aufgrund seines äußerst ambivalenten Charakters weder im Rahmen der Diskursanalyse noch der Machtanalytik bestimmbar war: Kant etabliert laut Foucault eine bis dahin nicht da gewesene philosophische Haltung. Indem er nach den Bedingungen der eigenen Gegenwart fragt, formuliert er das

meneutik nach Gadamer, Foucault und Rorty, Stuttgart, insbesondere S. 145ff. Im Folgenden soll allerdings versucht werden, Foucaults eigene anti-hermeneutische Strategie weiterzuverfolgen, mit der er der Option einer immanenten Rekonstruktion von Sinn aus dem Weg zu gehen beabsichtigt.

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Ethos der Moderne. „Die Reflexion über das ‚heute‘ als Differenz in der Geschichte und als Beweggrund für eine eigenständige philosophische Aufgabe scheint mir das Neuartige an diesem Text zu sein“, so Foucault über Kants Aufklärungsaufsatz.357 Kant steht also nicht nur an der Schwelle der Moderne, die von diesem intendierte „Revolution der Denkart“358 beinhaltet laut Foucault mehr als eine Neubegründung des Wissens. Er formuliert ihm zufolge zugleich eine philosophische Haltung, die über deren bisherige epistemische Verfasstheit hinausweist. Um dies zeigen zu können, versucht Foucault gewissermaßen mit Kant gegen Kant zu denken, indem er den Autor des Aufklärungsaufsatzes gegen den Verfasser der drei Kritiken in Stellung zu bringen sucht. Er unternimmt den Versuch, die Geltungsebene der modernen Episteme aus der Perspektive eines philosophischen Ethos zu thematisieren, und das bedeutet in der Tat, den Anspruch zu erheben, diese in einem Akt der Distanzierung verlassen zu können, um sie von außen beschreibbar zu machen. Dafür nimmt Foucault eine Reihe von begrifflichen Verschiebungen vor, deren Ziel es ist, das methodisch-aufklärerische Selbstverständnis der Moderne von seinen spezifischen Gehalten zu entkoppeln. Foucault führt diese Operation in den drei Texten zu Kants Aufklärungsaufsatz an unterschiedlichen Begriffen und in unterschiedlicher Intensität vor. In dem Vortrag „Qu’est-ce que la critique?“ von 1978 setzt er den kantischen Kritikbegriff, also dessen Anliegen, die Vernunft in ihren Quellen, ihrem Umfang und ihren Grenzen allgemein zu bestimmen, von einer mit der Aufklärung verbundenen historisch im Zuge moderner Regierungsformen auftauchenden „kritischen Haltung“359 ab, die sich eher durch den subversiven Anspruch auszeichnet, „[…] nicht dermaßen regiert zu werden“.360 In dem Aufsatz „What is Enlightenment?“ von 1984 erneuert er seine Humanismus-Kritik, indem er die Aufklärung von dieser Tradition abhebt und sich in bekannter Weise von deren Verwendung anthropologischer Universalbegriffe distanziert.361 Bereits ein Jahr zuvor hatte er in einer Vorlesung am Collège de France versucht, anhand von Kants Rezeption der Französischen Revolution362 dessen spezifisch aufklärerische Haltung zu er-

357 Foucault (1984d), a.a.O., Bd. 4, S. 694. 358 Vgl. Kant (1781/87), a.a.O., S. 22ff. (B XIff) 359 Vgl. Foucault (1990), a.a.O., S. 16f. 360 Vgl. ebd., S. 12. 361 Vgl. Foucault (1984d), a.a.O., Bd. 4, S. 700ff. 362 Vgl. Immanuel Kant (1798): Der Streit der Fakultäten. In: Werkausgabe, Bd. XI, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1968, S. 356ff (A 141ff).

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läutern – nämlich als das Projekt, die Ereignisse in der Folge von 1789 als ein Zeichen zu deuten, das das zeitgenössische Denken zu einer Neuinterpretation von Vergangenheit und Zukunft aus der Perspektive einer anders zu bewertenden Gegenwart zwingt.363 Foucault macht in dieser reflexiven Thematisierung der Gegenwart die grundlegende Haltung der Moderne aus: „Die beiden Fragen ‚Was ist Aufklärung?‘ und ‚Was ist mit dem Willen zur Revolution anzufangen?‘ bestimmen für sich allein das Feld des philosophischen Fragens, das sich auf das bezieht, was wir in unserer Aktualität sind.“364 Das Ethos der Aufklärung, das Foucault umreißt, besteht demnach in einer dreifachen Distanzierung: der Abkoppelung von Kants geltungstheoretisch angelegtem Kritikbegriff, der Abkehr von anthropologischen Universalbegriffen sowie – und darin liegt der entscheidende Moment einer philosophischen Haltung der Moderne – in der reflexiven Distanzierung von der eigenen Gegenwart. Worauf er mit diesen Begriffsverschiebungen und Umdeutungen hinauswill, ist klar: Kant ist für ihn der Denker der Moderne im doppelten Sinne. Er fungiert als Stichwortgeber der modernen Episteme, wie sie sich in der nachkantischen Traditionslinie einer „Analytik der Wahrheit“365 durchsetzt, deren erklärtes Ziel es ist, die universal gültigen Grundlagen sowohl der Erkenntnis wie des Handelns zu Tage zu fördern. Auf dieser Linie formieren sich aus der Binnenperspektive die Geltungsproblematik der modernen Episteme sowie ein spezifischer Wille zum Wissen in der Gestalt sozialer Machtverhältnisse. Zugleich weist ihm Foucault aber die Rolle des Initiators einer philosophischen Haltung zu, die einen neuen Fragemodus bezüglich des eigenen historischen Seins etabliert: Was ist das Heute? Dies ist die Frage einer historischen Ontologie der Gegenwart. Sie thematisiert nicht transzendentale Voraussetzungen überhaupt, sondern die historischen Bedingungen und Grenzen des Seins der Gegenwart aus einer reflexiven Distanzierungsbewegung heraus. Sie erfordert die Analyse der aktuellen Situation aus einer virtuellen Außenperspektive und ist dadurch in der Lage, mit Blick auf eine offene Zukunft nach den Transformationsbedingungen zu fragen. In diese zweite Traditionslinie der Moderne reiht sich nun Foucault, wie nicht anders zu erwarten, selbst ein. Er beruft sich auf diese spezifische Haltung der Moderne.366 Damit gelingt es ihm, seine früheren Arbeiten innerhalb des Be-

363 Vgl. Foucault (1984e), a.a.O., Bd. 4, S. 840; Foucault (2008a), a.a.O., S. 15f. 364 Foucault (1984e), a.a.O., Bd. 4, S. 847 (Hervorhebung i.O.); Foucault (2008a), a.a.O., S 21. 365 Vgl. Foucault (1984e), a.a.O., Bd. 4, ebd. 366 Vgl. hierzu auch Christopher Norris (1994): ‚What is enlightenment?‘: Kant according to Foucault. In: Gary Gutting (Hg.), The Cambridge Companion to Foucault,

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zugsrahmens der historischen Ontologie der Gegenwart neu zu justieren, um zugleich an deren methodischer Ausrichtung festzuhalten und sie innerhalb einer kritisierten Moderne zu platzieren. Dies gelingt nicht zuletzt durch die Umformulierung des Kritikbegriffs. Wenn die Kritik nicht mehr nach Quellen, Umfang und Grenzen der Vernunft im Allgemeinen fragt, sondern nach den historischsozialen Voraussetzungen der jeweiligen Vernunftregime, dann erfordert sie die Distanzierung von aktuellen Geltungsfragen. Die kritische Haltung besteht somit nicht in Ja/Nein-Stellungnahmen, etwa im Sinne einer Bestätigung oder Ablehnung herrschender Rationalitätsstandards,367 denn dann würde sie in der Binnenperspektive verharren. Die von Foucault intendierte Umkehrung der Analyserichtung verlangt, wie gesehen, sich jenseits dieser Fragestellung zu positionieren. Ebenso wie den früheren Arbeiten kommt auch der historischen Ontologie der Gegenwart die Aufgabe zu, eine distanzierte Beschreibung der Bedingungen herrschender Rationalitätsstandards zu leisten – nun allerdings in Bezug auf drei ontologische Dimensionen: Sie strebt eine Ontologie des gegenwärtigen Wissens an, indem sie die historisch apriorischen Voraussetzungen von Wahrheitsdiskursen benennt. Sie zielt auf eine Ontologie sozialer Macht, indem sie die jeweiligen epistemischen und praktischen Bedingungen der Geltung gesellschaftlich anerkannter Normen aufweist. Und sie impliziert eine Ontologie des Subjekts, in dem sie die an Wissen und Macht gebundenen Konstitutionsbedingungen historischer Selbstverhältnisse zu bestimmen sucht. Durch die Deutung der Aufklärung als philosophische Haltung jenseits der bislang an ihr historisches Erscheinen gebundenen modernen Macht-WissensDispositive gelingt es Foucault also, seinen Analyserahmen auf die Konstitutionsbedingungen moderner Subjekte zu erweitern, ohne seine für eine virtuelle Beobachterperspektive unhintergehbaren methodologischen Grundannahmen nennenswert revidieren zu müssen. Die historische Ontologie der Gegenwart setzt weiterhin an einer Kritik der Universalbegriffe an. Sie stellt Ansprüche auf Allgemeingültigkeit infrage, indem sie sowohl deren Genese rekonstruiert als auch die historischen Voraussetzungen ihrer Geltung bestimmt und sie somit eines illegitimen Verallgemeinerungsanspruchs überführt. Dies gelingt Foucault, indem er am historisch Konkreten ansetzt:

Cambridge, S. 159-196. Norris diskutiert u.a. ausführlich die hier nicht weiter berücksichtigte ästhetische Dimension, die Foucault mit dem Ethos der Aufklärung verbindet, und versucht dessen Kritik-Modell gegen neopragmatistische Vereinnahmungsversuche zu verteidigen. 367 Vgl. Foucault (1984d), a.a.O., Bd. 4, S. 699.

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„[…] anstatt von Universalien auszugehen, um daraus konkrete Phänomene abzuleiten, oder vielmehr von Universalien als notwendige Raster für das Verstehen einer bestimmten Zahl von konkreten Praktiken auszugehen, möchte ich von diesen konkreten Praktiken ausgehen und gewissermaßen die Universalien in das Raster dieser Praktiken einordnen.“368

Dies ist der Grund, warum Foucault sich weiterhin weniger für die Vernunft als solche interessiert, sondern vielmehr für die Genealogie historischer Rationalitätstypen. Der nominalistische Vorbehalt hat freilich insbesondere für das Verständnis real handelnder Subjekte die bekannten Konsequenzen. Diese lassen sich entgegen humanistischer Traditionen nicht an „[…] bestimmte Auffassungen vom Menschen […]“369 im Sinne einer überzeitlichen Wesensbestimmung binden. Und folglich kann auch die Vernunft nicht auf eine überindividuelle Natur des Menschen gegründet werden. Sie variiert gerade in Struktur und Gehalt mit den historisch sich unterscheidenden Praktiken der Individuen und den damit einhergehenden jeweiligen Menschenbildern. Die Auflösung der traditionellen Idee von einem unhintergehbaren transzendentalen Subjekt als Grundlage der Universalbegriffe, wie Foucault sie schon in „Les mots et les choses“ gefordert hatte, geht nun einher mit der Forderung nach der Befreiung des Subjekts von philosophischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Vorgaben, indem die Analyse sich auf die realen Praktiken historischer Individuen konzentriert. Die historische Ontologie der Gegenwart betreibt daher kritische Reflexion von Rationalitätsformen anstelle der Unterstellung einer die Subjekte normierenden Universalitätsregel. Sie begreift Vernunft als eine sich in der Geschichte vollziehende Aktivität. Ihr Ziel ist es, sie in der Gestalt spezifischer Denk- und Handlungsformen in ihrer Geschichtlichkeit zu begreifen. Das mit der Aufklärung verbundene philosophische Ethos besteht in der Kritik dessen, „[…] was wir mittels einer historischen Ontologie unserer selbst sagen, denken und tun“.370 Darin besteht die Distanzierungsbewegung von den herrschenden Rationalitäten, die der kulturelle Prozess der Aufklärung, verstanden als Haltung, mit seinem Auftauchen in der Geschichte vollzog, „[…] indem er [der kulturelle Prozess der Aufklärung/M.R.] die Operationen bezeichnete, die er innerhalb seiner eigenen Gegenwart vollbringen muss“.371

368 Foucault (2004), a.a.O., Bd. 2, S. 15. 369 Vgl. Foucault (1984d), a.a.O., Bd. 4, S. 701. 370 Vgl. ebd., S. 702. 371 Vgl. Foucault (1984e), a.a.O., Bd. 4, S. 840; vgl. ebenso Foucault (2008a), a.a.O., S. 16.

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Die historische Ontologie der Gegenwart lässt sich als Versuch der Aufklärung über die Aufklärung im Sinne einer Radikalisierung des historischen Projekts der Moderne372 verstehen. Foucault versucht damit auf die historischen Konstitutionsbedingungen der modernen Erfahrung des Subjektes auszugreifen. Gemäß der erwähnten dreifachen Ontologie impliziert dies die kritische Analyse des subjektphilosophischen Denkens der Moderne. Die Archäologie des Wissens fragt insofern nach den epistemischen Voraussetzungen des modernen Erkenntnissubjekts. Gefordert ist zudem eine kritische Analyse der sozialen Rahmenbedingungen des praktischen Handlungssubjekts. Darin liegt die Aufgabe der Genealogie der Macht. Und schließlich verlangt die Ontologie der Gegenwart eine kritische Analyse der epistemischen und normativen Bedingungen einer Konstitution moderner Selbstverhältnisse. Darauf konzentriert sich die systematische Beschreibung historisch variierender Techniken des Selbst.373 Wie unschwer zu erkennen ist, hält Foucault also trotz oder besser gerade aufgrund seiner positiven Verortung in einer aufklärerischen Moderne an der Position eines theoretischen Antihumanismus fest. Das Subjekt ist auch weiterhin kein tragfähiger Ausgangspunkt der Theorie. Es ist nach wie vor ein historischer Effekt, der aus einer Beobachterperspektive zu beschreiben ist. Verändert hat sich lediglich seine Rolle im Arsenal der von Foucault untersuchten Gegenstände. Innerhalb der Ontologie der Gegenwart kommt ihm eine privilegierte Position zu. Deutlicher geworden ist damit im Vergleich zu seinen früheren Arbeiten die Auszeichnung des eigenen Standortes als virtuelle Beobachterposition. Foucault verortet sich nun streng genommen nicht mehr jenseits der Moderne, sondern an deren Rändern. Ähnlich wie Kant in historischer Hinsicht an der Schwelle zur Moderne positioniert wird, versucht Foucault sich, allerdings in systematischanalytischer Absicht, auf ihren epistemisch wie normativ gezogenen Grenzen aufzustellen. Das philosophische Ethos lasse sich insofern als „Grenzhaltung“ charakterisieren: „Man muss der Alternative des Draußen und des Drinnen entkommen; man muss an den Grenzen sein. Die Kritik“ – und hier vollzieht Foucault zugleich wieder eine Engführung mit Kant – „ist gerade die Analyse der

372 Insofern kann Foucaults Deutung der Aufklärung als Alternativvorschlag zu der universalpragmatischen Begründung einer reflexiven Vernunft von Habermas verstanden werden. Vgl. Jürgen Habermas (1980): Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. In: ders., Kleine Politische Schriften (I-IV), Frankfurt/M. 1981, S. 444-464. 373 Vgl. Foucault (1983): Zur Genealogie der Ethik: Ein Überblick über die laufenden Arbeiten (On the Genealogy of Ethics: An Overview of Work in Progress. In: Dreyfus/Rabinow (21983), a.a.O., S. 209-252); hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S. 474f.

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Grenzen und die Reflexion über sie.“374 Der Unterschied zu Kant besteht in der praktischen Funktion, die der Kritik bei Foucault zukommt. Denn im Prozess von Analyse und Reflexion von Grenzen ist notwendig deren potenzielle Verschiebung und Überschreitung enthalten. Insofern verändert die Kritik zugleich notwendig mit diesen den eigenen Standpunkt. In diesem Sinne ist sie Methode und Aufgabe zugleich. Sie leistet die perspektivische Verfremdung des Vertrauten, zu der Archäologie und Genealogie arbeitsteilig ihren Beitrag beisteuern. Die Kritik, so Foucault, ist „[…] genealogisch in ihrer Finalität und archäologisch in ihrer Methode. Archäologisch – und nicht transzendental – in dem Sinne, dass sie nicht versuchen wird, die allgemeinen Strukturen jeder Erkenntnis oder jeder möglichen moralischen Handlung herauszulösen, sondern die Diskurse zu behandeln, die das, was wir denken, sagen und tun, als gleichermaßen historische Ereignisse zum Ausdruck zu bringen. Und diese Kritik wird in dem Sinne genealogisch sein, als sie nicht aus der Form dessen, was wir sind, ableiten wird, was uns zu tun oder zu erkennen unmöglich ist; sie wird vielmehr aus der Kontingenz, die uns zu dem gemacht hat, was wir sind, die Möglichkeit herauslösen, nicht mehr das zu sein, zu tun oder zu denken, was wir sind, tun oder denken“.375

Die praktische Funktion, die Foucault seinem eigenen Vorhaben zugedacht hat, wird damit erstmals präzise bestimmbar. Hatte er, wie oben gesehen, in früheren Arbeiten noch das Verhältnis von Archäologie und Genealogie als lediglich eines von Methode und Taktik bezeichnet, was dem ganzen Unternehmen einen etwas voluntaristischen Anstrich verlieh, da er noch nicht klar angeben konnte, welche theoretische Rechtfertigung die taktischen Einsätze des Theoretikers flankieren könnte, so springt die praktische Relevanz des genealogischen Verfahrens nun ins Auge: Sie untergräbt weiterhin die scheinbar selbstverständliche Geltung der mithilfe der Archäologie beschreibbaren symbolischen und institutionellen Regelmechanismen, indem sie auf die historisch kontingente Gewordenheit ihrer Existenz verweist. Der Theorie-Praxis-Bezug erweist sich nun aber direkt an der exakter reformulierbaren Aufgabe einer Diagnose der Gegenwart, die die Theorie, so sie sich als kritisch versteht, zu leisten hat. Denn die Funktion dieser angestrebten Diagnose des Heute besteht laut Foucault nicht darin, „[…] einfach nur das zu charakterisieren, was wir sind, sondern, indem man den Bruchlinien von heute folgt, dahin zu gelangen, dass man erfasst, worin das, was ist, und wie das,

374 Foucault (1984d), a.a.O., Bd. 4, S. 702. 375 Ebd., S. 702f.

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was ist, nicht mehr das sein könnte, was ist. Und in diesem Sinne muss die Beschreibung stets gemäß dieser Art virtuellem Bruch geleistet werden, der einen Freiheitsraum eröffnet, verstanden als Raum einer konkreten Freiheit, das heißt einer möglichen Umgestaltung“.376

Die Arbeit des Theoretikers besteht also darin, mittels der Analyse des Gegebenen ein Feld von Möglichkeiten zu eröffnen, ohne daraus eine Form von Notwendigkeit abzuleiten. Denn der archäologische Blick von außen macht es zwar möglich, die Funktionsweise einer herrschenden Rationalitätsform zu beschreiben, die genealogische Perspektive zudem, diese in ihrer historischen Relativität darzustellen, Orientierungspunkte für eine praktische Überwindung des Gegebenen lassen sich aber weder über die Rekonstruktion der Geschichte der Rationalitätsformen noch aus der Funktionslogik einer aktual wirkmächtigen Rationalität gewinnen. Die faktische Gestaltung der Zukunft und damit die mögliche Etablierung einer anderen Rationalität bleiben den realen historischen Akteuren überlassen. „Für das, was die Vernunft als ihre Notwendigkeit erfährt, oder für das, was vielmehr die verschiedenen Rationalitätsformen als für sie notwendig ausgeben, kann man voll und ganz die Geschichte schreiben und die Netze von Kontingenzen wieder finden, aus denen dies entstanden ist; was dennoch nicht heißt, dass diese Rationalitätsformen irrational wären; dies heißt, dass sie auf einem Sockel menschlicher Praxis und menschlicher Geschichte beruhen, und weil diese Dinge geschaffen worden sind, könne sie unter der Bedingung, dass man weiß, wie sie geschaffen wurden, auch aufgelöst werden“, so Foucault.377

Die Aufgabe der Theorie beschränkt sich darauf, die Grenze der herrschenden Vernunft zu bestimmen, um sich dort aufzustellen und einen möglichen Ausgang zu markieren. Wohin dieser führen könnte, vermag sie jedoch nicht anzugeben.378

376 Michel Foucault (1983a): Strukturalismus und Poststrukturalismus (Structuralism and Post-Structuralism. In: Telos 55, Frühjahr 1983, Bd. XVI, S. 195-211); hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S. 544. 377 Ebd., S. 545. 378 Vgl. hierzu auch: Mathias Richter (1994): Der Wille zur Kritik. Theoretischer Antihumanismus im Handgemenge der Politik. In: Wissen und Macht – Die Krise des Regierens. Zur Aktualität von Michel Foucault. Sonderheft TÜTE – Tübinger Termine, Tübingen, Dezember 1994, S. 84-88; zum Verhältnis von Foucaults diagnosti-

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Ein so verstandenes Theorie-Praxis-Verhältnis wäre im Grunde sowohl auf der Basis der frühen, allein archäologisch orientierten Diskursanalyse, wie der späteren, genealogisch gestützten Machtanalytik bereits formulierbar gewesen. Dass Foucault dieses in seiner letzten Schaffensperiode nun überraschend klar anzugeben vermag, scheint damit zusammenzuhängen, dass er durch die Ausweitung seines Untersuchungsfeldes auf die spezifischen Selbstverhältnisse im Zuge einer historischen Ontologie der Gegenwart gezwungen ist, die Erfahrungsebene konkreter Subjekte in ihrem Welt- und Selbstbezug zu berücksichtigen. Denn Letztere erscheinen nun als unmittelbare Adressaten der Theorie. Ihnen wird eine Reflexionsleistung zugeschrieben, die die Theorie in ihrer historischen Kontingenz von außen beschreiben können muss. Zugleich erhält die Theorie dadurch in der Tat gemäß Foucaults berühmtem Postulat, die Funktion einer „Werkzeugkiste“,379 deren Inhalts sich die Individuen bedienen können, um die eigene Lage, wie sie sich aus der Binnenperspektive darstellt, anders reflektieren und damit ihr Welt- und Selbstverhältnis u.U. auch verändern zu können. Die angepeilte Geschichte der Subjektivität verlangt jedoch, um nicht hinter den bisherigen Stand der theoretischen Absicherung einer virtuellen Beobachterperspektive zurückzufallen, eine methodologische Verschiebung. Bislang hatte Foucault Subjekt-Objekt-Beziehungen analysiert, indem er sie als historisch gewachsene Wechselverhältnisse fasste, deren jeweilige Pole von außen in ihrer Geschichtlichkeit beschrieben werden konnten. Dabei stellte sich sowohl auf der Ebene einer Archäologie des Wissens wie einer Genealogie der Macht jeweils die Frage nach den spezifischen Subjektivierungs- bzw. Objektivierungsmodi.380 Der Blick von außen machte es auch möglich – und darauf konzentrierte sich Foucaults Vorhaben von Anfang an –, die jeweiligen Bedingungen einer spezifischen Subjekt-Objekt-Beziehung, nämlich diejenige, in der das Subjekt selbst zum Objekt möglichen Wissens und der Macht werden konnte, in ihrer spezifischen Historizität zu bestimmen. So konnten das historische Apriori einer möglichen Erfahrung anhand der diskursiven Formationen entfaltet und damit die spezifischen Wahrheitsregeln, auf deren Grundlage sowohl der Raum möglicher Objekte des Wissens wie die damit einhergehende Position eines Erkenntnissubjektes, konstituiert werden. Ebenso ließ es die Analytik von Machtmechanismen zu, anhand spezifischer Dispositive zu zeigen, in welcher Form Handlungssub-

scher Tätigkeit und seinem politischen Engagement vgl. auch: Philippe Artières (2002): Dire l’actualité. Le travail de diagnostic chez Michel Foucault. In: Frédéric Gros (Hg.), Foucault. Le courage de la vérité, Paris, S. 11-34. 379 Vgl. Foucault (1975b), a.a.O., Bd. 2, S. 887f. 380 Vgl. Foucault (1984c), a.a.O., Bd. 4, S. 777.

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jekte sozialen Regeln unterworfen werden und damit zugleich als zugerichtete Objekte der Macht zu verstehen sind. Mit der Ausdehnung der Analyse der spezifischen Wahrheits- bzw. der sozialen Regulierungsfunktionen historischer Macht-Wissens-Komplexe auf das Feld subjektiver Erfahrung, müssen nun aber auch die jeweiligen subjektiven Welt- und Selbstverhältnisse notwendig einer radikalen Historisierung unterzogen werden. Was bisher lediglich für die Beschreibung des Subjektes von außen als Objekt galt, seine Fixierung als Erkenntnissubjekt in der Ordnung des Wissens oder als Handlungssubjekt innerhalb einer normativ geregelten Ordnung sozialer Beziehungen, charakterisiert nun auch das Verständnis des Subjektes als Objekt seiner selbst: Dieses muss ebenfalls von außen in seiner Geschichtlichkeit erfasst werden, und das erfordert, entsprechend Foucaults methodisch-nominalistischen Vorbehaltes, die Beschreibung konkret-historischer Selbsterfahrungsformen, ohne hierfür auf Universalbegriffe zurückzugreifen. Denn unter Geschichtlichkeit versteht Foucault, wie gesehen, nicht nur Formveränderungen einer von vornherein gegebenen Entität, sondern das kontingente Auftauchen und Verschwinden spezifischer Existenzbedingungen, die es möglich machen, dass etwas, wie zum Beispiel der „Wahnsinn“ oder die „Delinquenz“, als Begriffe mit universellem Geltungsanspruch verwendet werden können. Deshalb meint er mit Geschichtlichkeit, wie er ausdrücklich betont, „[...] weit mehr als die schlichte Feststellung, dass ihr Inhalt [eines universellen Wahnsinns- bzw. des Delinquenzbegriffs/M.R.] mit der Zeit und den Umständen variiert […]“, er sucht nach „[…] den Bedingungen, die es den Regeln des Wahr- und Falsch-Sagens folgend erlauben […]“, etwas als etwas zu bezeichnen und zu validieren.381 Auf die historischen Weisen des Weltund Selbstverhältnisses jeweiliger Subjekte bezogen, muss Foucaults Frage insofern lauten: Unter welchen epistemischen und praktisch-sozialen Voraussetzungen versteht sich ein historisches Individuum in seinem jeweiligen Sein und Sollen? Oder anders gesagt: Wie ist es möglich, dass es sich als ein spezifisch ethisches Subjekt erfährt? Um diese Frage in ihrer historischen Tragweite stellen zu können, verändert Foucault erneut den Analyseraster. In Zentrum seiner veränderten Forschungsstrategie stehen nun zwei Schlüsselbegriffe: Problematisierung und Praktik. Mit deren Hilfe versucht Foucault nun das Theorie-PraxisVerhältnis auf der Ebene der Subjektkonstitution zu reformulieren, ohne auf die Instanz eines konstitutiven Subjektes zurückgreifen zu müssen.382

381 Vgl. ebd., S. 780. 382 Vgl. ebd.

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Praktiken und Problematisierungen Das Modell der Praktiken hatte Foucault bereits im Rahmen der Analytik der Macht neben dem Dispositiv- und dem Konfliktmodell als Analyse-Instrument gedient. Damit waren, wie gesehen, mehrere methodische Schwierigkeiten verbunden. Das Modell der Praktiken hatte es Foucault zwar zunächst erlaubt, historische Subjekt-Objekt-Beziehungen zu beschreiben, ohne systemtheoretische oder handlungstheoretische Anleihen machen zu müssen. Der Preis war allerdings, dass sich so, entgegen des eigenen Anspruchs, die dynamische Dimension einer Produktivität der Macht spätestens nach dem Abschied von der Repressionshypothese nur in ihrer Stabilisierungs- und Reproduktionsfunktion gegebener Machtverhältnisse plausibel machen lies. Die Perspektive der Veränderung einer Machtstruktur kam erst durch eine Ergänzung der Praktiken durch das Konfliktmodell in den Blick, mit dessen Hilfe die Logik von Strategien einsichtig gemacht werden sollte. Mit diesem Analyseraster war Foucault allerdings gezwungen, auf ein überhistorisches Prinzip zurückzugreifen und damit hinter die eigenen methodischen Standards zurückzufallen. Foucault sah sich am Ende gezwungen, Strategien vorläufig auf der Ebene von Interaktionsbeziehungen anzusiedeln, ohne sie begrifflich näher bestimmen zu können. Im Zuge des Programms einer historischen Ontologie der Gegenwart unternimmt Foucault daher eine Reformulierung des Modells der Praktiken. Der Ausgangspunkt ist zunächst derselbe wie Mitte der 70er Jahre. Praktiken werden von ihm weiterhin als an eine spezifische historische Rationalität gebunden verstanden, anhand der sich die jeweilige Subjekt-Objekt-Beziehung und damit sowohl der Realitäts- wie Selbstbezug des Subjektes ablesen lassen muss. Die „[…] Untersuchung der konkreten Praktiken, durch welche das Subjekt in der Immanenz eines Erkenntnisbereichs konstituiert wird […]“, hat zum Ziel, die epistemische wie praktische Dimension historischer Erfahrung zu erfassen, indem sie ein „Erfahrungsfeld“ eröffnet, „[…] auf dem beide, Subjekt und Objekt, nur unter bestimmten gleichzeitigen Bedingungen konstituiert werden, die aber nicht aufhören, sich im Verhältnis zueinander zu modifizieren und damit dieses Erfahrungsfeld selbst zu modifizieren“.383 Diese Weise des Zugriffs auf historische SubjektObjekt-Verhältnisse war bereits aus der methodisch abgesicherten Beobachterperspektive einer Analytik der Macht möglich gewesen. Über das Modell der Praktiken konnten sowohl auf der Ebene diskursiver Weltverhältnisse historische Formen des Wissens bestimmt und damit die daran geknüpften Wahrheitsregime ermittelt werden, wie unter Einbeziehung der nicht-diskursiven Ebene zugleich

383 Vgl. ebd.

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Mechanismen sozialer Macht und die damit verbundene Wirkung von Normen und Regeln. Mit der Umstellung der Beobachterperspektive von den gesellschaftlichen Objektivierungsformen des Subjektes über die Mechanismen von Wissen und Macht auf dessen Erfahrungsformen erfährt das Modell der Praktiken jedoch eine Erweiterung und zugleich eine neue Fokussierung. Und dies in zweifacher Hinsicht: (1) Im Zuge der Analyse historischer Erfahrungsformen fasst Foucault diskursive wie nicht-diskursive Praktiken nun als „Handlungssysteme“, deren Analyse die jeweiligen Reflexionsleistungen der agierenden Subjekte berücksichtigen muss. „In diesem Sinne“, so Foucault, „wird das Denken als die eigentliche Form des Handelns betrachtet, als das Handeln, insofern es das Spiel des Wahren und Falschen, die Annahme oder die Zurückweisung der Regel, das Verhältnis zu sich und zu anderen impliziert.“384 Damit etabliert Foucault erstmals eindeutig eine eigenständige Handlungsdimension jenseits der bislang mit archäologischen und genealogischen Mitteln analysierbaren historischen Formen des Macht-Wissens. Das Denken wird als Instanz innerhalb historischer Erfahrungsweisen gefasst, die nicht vollständig auf die das jeweilige Wissen formierenden Wahrheitsregime rückführbar ist. Damit ist freilich nicht gemeint, dass das Denken nun als in der Existenz eines autonomen Subjektes verankert zu begreifen wäre. Die Konzentration auf die spezifischen Erfahrungsmodi historischer Individuen zwingt Foucault allerdings dazu, von einer „Irreduzibilität des Denkens“ auszugehen. Dieses muss sich einerseits ohne Rückgriff auf universelle Formbestimmungen in seiner Geschichtlichkeit, andererseits in seiner relativen Abhängigkeit von sozialen, ökonomischen oder politischen Prozessen analysieren lassen.385 Foucault entfaltet damit über das Unternehmen einer Geschichte des Denkens die Figur der Kritik als reflexive Distanzierungsbewegung nicht mehr allein in der Grenzbestimmung gegebener Rationalitäten aus der virtuellen Beobachterperspektive der eigenen Methode, sondern verlegt das Potenzial der Kritik zugleich auf die Ebene des Gegenstands, also die jeweiligen Erfahrungsformen historischer Subjekte. Die zu beschreibenden Praktiken setzen damit Handlungssubjekte voraus, die prinzipiell dazu in der Lage sind, die ihrem Handeln zu Grunde liegenden Regeln infrage zu stellen.386

384 Vgl. Foucault (1984b), a.a.O., Bd. 4, S. 710. 385 Vgl. ebd. 386 Vgl. hierzu auch Judith Butler (2002): Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50, 2, S. 249-265.

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(2) Die Einführung der relativ autonomen Instanz des Denkens macht zudem eine Erweiterung und Differenzierung des Modells der Praktiken erforderlich. Konnten diese bislang auf der Grundlage historischer Rationalitätstypen innerhalb spezifischer Macht-Wissens-Konstellationen unter technologischen Gesichtspunkten gefasst werden, so tritt nun mit der Annahme möglicher Distanzierung von der herrschenden Rationalität durch die Handlungssubjekte derjenige Begriff auf den Plan, der für einen handlungstheoretischen Ansatz – und nicht zuletzt in der Sartreschen Variante – konstitutiv ist: die Freiheit. Sowohl das bisherige Verfahren der Diskursanalyse wie das der bislang entfalteten Analytik der Macht konnte das Problem individueller Freiheit methodisch einklammern. Mit dem reformulierten Modell der Praktiken sieht sich Foucault nun gezwungen, eine wie auch immer historisch sich entfaltende und inhaltlich jeweils zu bestimmende, rudimentäre Idee von Freiheit anzunehmen. Praktiken lassen sich dann unter zwei Perspektiven beschreiben. Sie verkörpern einerseits wirkmächtige „[…] Rationalitätsformen, die die Weisen des Tuns organisieren […]“ – Foucault bezeichnet diese als den „technologischen Aspekt“ –, und andererseits „[…] die Freiheit, mit der sie [die Menschen/M.R.] in diesen praktischen Systemen handeln und dabei auf das reagieren, was die anderen tun, und bis zu einem gewissen Punkt die Regeln des Spiels modifizieren […]“. Unter diesem Aspekt versteht Foucault die „strategische Seite“ der Praktiken.387 Mit einer so angelegten, zweigliedrigen Bestimmung der Praktiken versucht Foucault sein Unternehmen weiterhin jenseits der Alternativen von Handlungstheorie und Systemfunktionalismus auf Kurs zu halten. Der Strategiebegriff, der ohne handlungstheoretische Fundierung auskommen sollte, nach dem Scheitern des Konfliktmodells aber seine Plausibilität eingebüßt hatte, wird nun unter dem methodischen Zugeständnis an eine begrifflich unbestimmte Freiheit in das Modell der Praktiken integriert. Die Praktiken werden damit zum privilegierten Analyseraster für das Verständnis gesellschaftlicher Prozesse. Der Gegenstandsbereich, auf den dieser Raster zugreift, besteht weder aus den binnentheoretisch erschließbaren Vorstellungen der Handelnden, noch aus den historischen Bedingungen dieses Handelns, wie sie Foucault in seinen früheren Arbeiten aus einer virtuellen Beobachterperspektive beschreiben wollte. Foucault versucht nun über einen integralen Ansatz das Wechselspiel zwischen den auf Macht-Wissens-Komplexen basierenden Rationalitätsformen und den strategischen Umgangsformen der Subjekte mit diesen in ihrer historischen Spezifität zu bestimmen. „Die Homogenität dieser historisch-kritischen Analyse“, so Foucault, „wird folglich durch diesen

387 Vgl. Foucault (1984d), a.a.O., Bd. 4, S. 705.

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Bereich der Praktiken mit ihrer technologischen Seite und ihrer strategischen Seite gesichert.“388 Mit dieser doppelten Neubestimmung des Analyserasters der Praktiken gelingt Foucault also zugleich eine zweifache Distanzierung von den bislang beschriebenen Rationalitäten historischer Macht-Wissens-Komplexe. Die relativ autonome Instanz des Denkens als konstitutives Moment des Handels erlaubt nun, die reflexive Distanzierungsbewegung der Kritik begrifflich zu fassen. Zugleich liefert der sparsam eingeführte Freiheitsbegriff die ontologische Voraussetzung dafür, dass die Handelnden zu einer strategischen Distanzierung von gegebenen Regelmechanismen in der Lage sind, um sich Letzteren gegenüber sowohl kritisch verhalten und zugleich auf selbige praktisch einwirken zu können. Um diese doppelte Distanzierungsbewegung in den unterschiedlichen Modi ihrer historischen Erscheinung weiterhin aus der Beobachterperspektive analysieren zu können, stellt Foucault den Praktiken nun einen zweiten Analyseraster an die Seite: den der Problematisierung. Ähnlich wie Foucault die Rationalität der Praktiken weder von den subjektiven Vorstellungen der Akteure noch von den objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen individuellen Handelns herleitet, sondern sich mittels der Praktiken methodisch jenseits von Handlungstheorie und Systemfunktionalismus zu positionieren sucht, so beansprucht er mit dem Begriff der Problematisierung auf der Ebene des Denkens, einen Standpunkt jenseits von Idealismus und Materialismus einzunehmen. Als Schlüsselbegriff für das Unternehmen einer Geschichte des Denkens referiert der Begriff der Problematisierung weder auf die historische Abfolge von Ideen in ihrem eventuellen Spannungsverhältnis zur Realität noch auf die Faktizität von Mentalitäten, auf die sich die Rationalität jeweiliger Verhaltensweisen zurückführen lassen könnte. Er dient weder der „Analyse der Vorstellungssysteme“ noch der „Analyse der Haltungen und der Verhaltensschemata“.389 Mit dem Begriff der Problematisierung versucht Foucault jene historisch auftauchenden Distanzierungsbewegungen des Denkens in den Blick zu bekommen, durch die es gegenüber selbstverständlich gewordenen Tätigkeitsund Reaktionsweisen einen Abstand behauptet und deren Sinnhaftigkeit infrage stellt. „Das Denken ist die Freiheit gegenüber dem, was man tut, die Bewegung,

388 Ebd. 389 Vgl. Michel Foucault (1984f): Polemik, Politik und Problematisierungen (Polemics, Politics and Problematizations. In: Paul Rabinow (Hg.), The Foucault-Reader, New York, S. 381-390); hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S. 731.

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durch die man sich davon loslöst; man konstituiert es als Objekt und man reflektiert es als Problem“, so Foucault.390 Anders als bei Sartre jedoch, der aus der Binnenperspektive bei jener Freiheit des Denkens ansetzt, um mit handlungstheoretischen Mitteln diese Distanzierungsbewegung als eine die Realität transzendierende Negation zu konzipieren, beschreibt Foucault sie von außen auf der Ebene historischer Wissensordnungen und Machtverhältnisse. Was Sartre auf dem Niveau des Individuums zu fassen sucht, um es zum Ausgangpunkt einer auf einem universellen Praxisverständnis basierenden kritischen Gesellschaftstheorie zu machen, dient Foucault lediglich als spezifische Praktik, deren Rationalität aus der Beobachterperspektive erst im Kontext gegebener Wahrheitsregime und Handlungsregeln beschreibbar wird. Die reflexiven Distanzierungen einzelner Handlungen werden damit analysierbar als Reaktionsweise auf ein historisch auftauchendes kollektives Problem. Der Begriff der Problematisierung dient genau diesem Zweck. Er macht es möglich, verschiedene Praktiken im Rahmen einer gegebenen Macht-Wissens-Formation als spezifische Lösungsversuche zu beschreiben, die auf eine tiefer liegende gesellschaftliche Problematik verweisen. Eine Problematisierung ist somit immer an eine spezifische historische Situation gebunden, innerhalb der die einzelnen Praktiken unterschiedliche Weisen, darauf zu reagieren, darstellen. Der Weg der Analyse konzentriert sich also zunächst auf die pluralen, zum Teil sich gar widersprechenden Praktiken, die zu einem gegebenen Zeitpunkt innerhalb des Horizontes eines bestimmten Themenfeldes dokumentiert werden können, um von diesen auf eine ihnen zu Grunde liegende, gesellschaftliche Problematik zu gelangen. „Die Arbeit einer Geschichte des Denkens“, so Foucault, „bestünde indes darin, an der Wurzel dieser verschiedenen Lösungen die allgemeine Form einer Problematisierung wiederzufinden, die sie möglich gemacht hat – bis hinein in ihren Gegensatz; […].“391 Der Begriff der Problematisierung erlaubt es Foucault somit, eine zusätzliche Analyseebene zwischen individueller Handlungsdimension und systemischer Funktionslogik einzuziehen und somit einzelne Praktiken in den Kontext historisch auftauchender epistemischer wie praktischer Herausforderungen einzuordnen. Damit gelingt es ihm, die individuelle Freiheit der Handelnden begrifflich zu fassen, ohne ihr eine Begründungsfunktion für den Verlauf gesellschaftlicher Prozesse aufzubürden, wie dies etwa im Falle Sartres geschieht. Zugleich erlaubt ihm die Geschichte der Problematisierung nun endlich, eine mögliche Antwort auf die bisher ungeklärte Frage der historischen Übergänge an einer anderen

390 Ebd., S. 732. 391 Ebd., S. 733.

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Stelle zu suchen. Denn mit dem Begriff der Problematisierung wird nun schlagartig plausibel, was Foucault mit der strategischen Seite eines historischen Dispositivs meinen konnte. Dispositive waren bislang, wie weiter oben u.a. anhand des Disziplinardispositivs gezeigt, als Reaktionen auf historisch auftauchende Schwierigkeiten gekennzeichnet worden. Es hatte sich aber nicht recht einsichtig machen lassen, wie etwas historisch überhaupt zu einem Problem wird. Mit der Einführung des Analyserasters der Problematisierung ist dies nun nachvollziehbar. Foucault weist ihm eine strategische Schlüsselposition zu, indem er ihn gewissermaßen als methodisches Bindeglied zwischen der Archäologie historischer Diskursformationen und der Genealogie der Machtverhältnisse einführt. Dieser berücksichtigt sowohl in praktischer Hinsicht die strategischdistanzierende Komponente von Praktiken wie in epistemischer Hinsicht die reflexive Distanzierung im Sinne einer Neubeschreibung und Neubewertung bislang vertrauter Objektivitäten, also nicht zuletzt der technologischen Komponente von Praktiken. Denn mit dem historischen Auftauchen einer Problematisierung geht eine Veränderung des Welt- und Selbstverhältnisses der Subjekte einher. Die Geschichte der Wahrheit ist damit nicht mehr allein eine genealogische Rekonstruktion der spezifischen diskursiven und nicht-diskursiven Existenzbedingungen historischer Wahrheitsdiskurse, sondern sie versucht über den Begriff der Problematisierung zugleich den Anlass für den historischen Wechsel von Wahrheitsregimen zu benennen und damit zugleich das Auftauchen neuer Objektivitäten. „Die Problematisierung“, so Foucault, „bedeutet nicht die Darstellung eines zuvor existierenden Objekts, genauso wenig aber auch die Erschaffung eines nicht existierenden Objekts durch den Diskurs. Die Gesamtheit der diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken lässt etwas in das Spiel des Wahren und des Falschen eintreten und konstituiert es als Objekt für das Denken (sei es in der Form der moralischen Reflexion, der wissenschaftlichen Erkenntnis, der politischen Analyse, usw.).“392

Foucault hat also endlich ein begriffliches Instrumentarium in der Hand, mit dessen Hilfe sich plausibel machen lässt, warum in epistemischer Hinsicht auf der Ebene diskursiver Formationen Objekte, Begriffe, Themen und Aussagemodalitäten wechseln bzw. warum im Spannungsfeld von diskursiven und nichtdiskursiven Praktiken sich Machtverhältnisse historisch in bestimmten Disposi-

392 Michel Foucault (1984g): Die Sorge um die Wahrheit (Le souci de la vérité. In: Magazine littéraire 207, Mai 1984, S. 18-23); hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S. 826.

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tiven kristallisieren. Zudem lässt sich nun verdeutlichen, warum sich die Geschichte über mehrdimensionale Brüche vollzieht. Mit dem Auftauchen einer Problematik verschieben sich sowohl das Feld des Wissens wie die Form der Rationalität, die den gesellschaftlichen Praktiken zu Grunde liegt. Ohne damit gezwungen zu sein, auf ein Modell linearer Kausalität zurückgreifen zu müssen, kann Foucault rückblickend seine früheren Arbeiten unter den Analyseraster der Problematisierung subsumieren. Denn mit dessen Hilfe lässt sich nun besser verdeutlichen, welcher strukturelle Umbruch auf dem Gebiet des Wissens wie auf der Ebene intersubjektiver Beziehungen damit einhergehen musste, dass bestimmte Verhaltensweisen zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt als Wahnsinn, als kriminell oder etwa, bezogen auf sexuelle Praktiken, als krankhaft oder pervers gekennzeichnet und klassifiziert wurden. Die Geschichte des Denkens geht damit aber, anders als dies im bisherigen genealogischen Verfahren, das Herkunft und Entstehung bestimmter MachtWissens-Komplexe zu rekonstruieren beanspruchte, der Fall war, nun, indem sie das Brennglas auf historische Ereignisse richtet, um die ihnen jeweils zu Grunde liegende Problematisierung zu Tage zu befördern, endgültig über das Anliegen einer reinen Beschreibung hinaus. Mit der Fokussierung der Fragestellung auf die historische Abfolge spezifischer Problematisierungen erhebt Foucault zumindest einen partiellen Erklärungsanspruch. Auch wenn dieser nicht so weit zu gehen vermag, dass damit eine wie auch immer geartete Logik im Sinne einer inneren Notwendigkeit der Geschichte unterstellt werden könnte, so greift er mit dem Begriff der Problematisierung doch analytisch zumindest so weit aus, dass er die spezifische Rationalität eines bestimmten zeitlich, thematisch und räumlich begrenzten Untersuchungsfeldes nicht nur beschreiben, sondern deren Herkunft und Entstehung auch erklären können muss. Denn das Erkenntnisinteresse, das der von Foucault in Angriff genommenen Geschichte des Denkens, verstanden als Geschichte der Problematisierungen, zu Grunde liegt, besteht ja gerade darin zu erfassen: „Wie und warum bestimmte Dinge (Verhalten, Erscheinungen, Prozesse) zum Problem wurden.“393 Aus gesellschaftstheoretischer Perspektive lässt sich Foucaults Geschichte des Denkens somit als Rekonstruktionsversuch historischer Weisen der Problematisierung verstehen. Als Analyseraster dient die Problematisierung dazu, die Beziehung zwischen Denkformen und Handlungsformen in den Blick zu bekommen. Dadurch wird es auf neue Weise möglich, das jeweilige Verhältnis von historisch wirkmächtigen Wahrheitsspielen und strategischen Spielen, also „[…]

393 Michel Foucault (1996a): Diskurs und Wahrheit. Berkley-Vorlesungen 1983, Berlin, S. 178 (Hervorhebung i.O.).

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die Gesamtheit von Regeln zur Herstellung der Wahrheit […]“394 in Korrelation zu den Gestalten intersubjektiver Machtbeziehungen395 zu bestimmen. Entscheidend für die hier verfolgte Frage nach der veränderten Rolle des Subjekts innerhalb der methodisch modifizierten Machtanalytik des späten Foucault ist, dass er mit der Einführung des Analyserasters der Problematisierung zugleich einen Perspektivenwechsel möglich macht. Hatten die bisherigen Untersuchungen über den Wahnsinn, das Gefängnis oder die Sexualität, zumindest in Foucaults rückblickender Selbstdeutung, sich primär darauf konzentriert zu beschreiben, wie etwa das Problem des Wahnsinns ein epistemisches wie praktisches Objekt konstituiert, und insofern gezeigt, welche historischen Weisen des Umgangs damit als erforderlich angesehen wurden, so richtet Foucault nun den Blick auf die Problematik des Umgangs mit sich selbst – als wahnsinniges, diszipliniertes oder sexuelles Subjekt. Der Analyseraster der Problematisierung erlaubt nunmehr, die Praktiken der Subjekte nicht nur hinsichtlich ihres Einwirkens auf andere, sondern zugleich ihr Einwirken auf sich selbst zu beschreiben. Darin besteht das wesentlich Neue von Foucaults Ansatz, was er auch unumwunden zugibt, wenn er bezüglich seines Vorhabens, eine Geschichte der Sexualität als Geschichte der Techniken des Selbst zu schreiben, betont: „Ich habe in der Tat die Front ‚gewechselt‘.“396 Die Fokussierung des Analyseverfahrens auf die Praktiken und Problematisierungen erlaubt Foucault eine Neujustierung seiner methodischen Instrumente für die Gesellschaftsanalyse. Über den Analyseraster der Problematisierung gelingt es, den bislang verwendeten Raster des Dispositivs, der es erlaubte, den Strukturzusammenhang von Macht und Wissen vornehmlich mit den Mitteln der Archäologie zu beschreiben, nun auch unter strategischen Gesichtspunkten präziser zu fassen. Zugleich kann der Strategiebegriff, der zuvor etwas unglücklich an ein ontologisch überhöhtes Konfliktmodell gebunden war, in den Raster der Praktiken integriert werden. Die Analyseraster der Praktiken und Problematisierungen sind methodisch weitgehend miteinander verschränkt, so dass die drei Achsen – das Feld des Wissens, der Interaktion und des Selbstverhältnisses –, an denen entlang sich Foucaults historische Ontologie der Gegenwart entfalten soll, systematisch aufeinander bezogen bleiben. Sie stehen gewissermaßen für die

394 Vgl. Michel Foucault (1984h): Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit (L’éthique du souci de soi comme pratique de la liberté. In: Concordia. Revista internacional de filosofia 6, Juli-Dezember 1984, S. 99-116); hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S. 897. 395 Vgl. ebd., S. 899. 396 Foucault (1984g), a.a.O., Bd. 4, S. 826.

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beiden zentralen Verfahren, mit deren Hilfe Foucault versucht, Struktur und Dynamik gesellschaftlicher Verhältnisse zu beschreiben: „Die archäologische Dimension der Analyse bezieht sich auf die Formen der Problematisierung selbst; ihre genealogische Dimension bezieht sich auf die Formierung der Problematisierungen ausgehend von den Praktiken und deren Veränderungen.“397 Unter werkhistorischen Gesichtspunkten lässt sich somit feststellen: Hatte die Diskursanalyse des frühen Foucaults die historische Abfolge von Wissensformen zu bestimmen gesucht, so trat mit der Machtanalytik der 70er Jahre und der Ausweitung des Untersuchungsfeldes auf die nicht-diskursiven Praktiken die Geschichte der Subjektivierungsformen, verstanden als Unterwerfungsformen, ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Mit dem Ausgriff auf die Thematik der jeweiligen Selbstverhältnisse der Subjekte rückt nun die Geschichte der Problematisierungen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Denn erst damit gelingt ihm eine integrale Analyse der Dimensionen des Wissens, der Macht und des Selbst aus der Beobachterperspektive. Die methodische Verschiebung des Blickwinkels von der bisherigen Geschichte der Objektivierungs- und Subjektivierungsformen hin zu einer Geschichte der Problematisierungen hat freilich zugleich Konsequenzen für das Verfahren der Gesellschaftsanalyse, wie sie im Gewand einer Analytik der Macht aufzutreten beansprucht. Denn die Beobachterperspektive richtet sich nun nicht mehr allein auf die technologische Seite der Macht, indem sie in epistemischer wie praktischer Hinsicht deren Rationalität rekonstruiert. Unter dem Gesichtspunkt einer beanspruchten Analyse historischer Problematisierungsweisen rückt nun deren strategisches Moment in den Fokus des Analyseinteresses und damit die auf einer minimalen Form von Handlungsfreiheit fußenden Praktiken jeweiliger Distanzierung und Kritik. Damit geht notwendig eine Veränderung des theoretischen Status des Machtbegriffs einher. Foucault sieht sich gezwungen, den breit angelegten Machtbegriff, wie er ihn in den 70er Jahren entwickelt hat, zu differenzieren, indem er dessen Umfang und Gehalt präzisiert. Dadurch gelingt es ihm, nun Macht klar von Herrschaft zu unterscheiden und damit ein zentrales Problem der frühen Machtanalytik, wie es sich nicht zuletzt anhand der Repressionsthematik gezeigt hatte, zu überwinden.

397 Foucault (1984), a.a.O., S. 19.

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Gouvernementalität als Analyseraster Möglich wird dies, indem Foucault den relationalen Charakter der Macht reformuliert. Wie weiter oben gezeigt, hatte er Macht bislang als ein Kräfteverhältnis verstanden, das sich unter seinem systemischen wie dynamischen Aspekt betrachten lässt. Macht wurde einerseits als Resultat von Auseinandersetzungen begriffen, in denen sich die einzelnen Strategien miteinander verkettet, sich gegenseitig blockiert oder stabilisiert und sich somit zu Machtkomplexen kristallisiert haben, die sich als Dispositive analysieren lassen. Andererseits bezog sich der Machtbegriff auf die Logik strategischer Auseinandersetzungen. Foucault unterscheidet nun diese beiden Dimensionen der Macht. Streng genommen fällt im Spätwerk nur noch der zweite Aspekt unter den Machtbegriff. Machtverhältnisse sind demnach Interaktionsverhältnisse, deren Dynamik die Theorie von außen beschreiben können muss. Die systemische Komponente bezieht sich auf das, was Foucault künftig unter Herrschaft versteht. Herrschaft muss demnach in gewisser Weise als stillgestellte Machtbeziehung gefasst werden. Sie fußt auf Machtrelationen, ist mit diesen aber nicht identisch. Herrschaftsverhältnisse schlagen sich einerseits in unterschiedlichen Dispositiven nieder, die das Feld von Möglichkeiten, das den Akteuren zur Verfügung steht, vorstrukturieren. Zugleich determinieren sie deren Position innerhalb eines Dispositivs und damit deren strategische Ausgangslage innerhalb möglicher bevorstehender Auseinandersetzungen.398 „Herrschaft“, so Foucault, „ist eine globale Machtstruktur, deren Bedeutung und Folgen oft bis in die kleinsten Verästelungen der Gesellschaft reichen. Zugleich ist sie jedoch auch eine strategische Situation, die sich über

398 Foucault nähert sich damit der klassischen Unterscheidung von Macht und Herrschaft durch Max Weber an. Dieser differenziert, allerdings aus einer streng handlungstheoretischen Perspektive, die systemische Mechanismen zunächst weitgehend ausblendet, Macht generell als „[…] jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht […]“, und Herrschaft, gebunden an eine präzise historischsoziale Konstellation, als „[…] die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden; […]“. Vgl. Max Weber (1921): a.a.O., S.28; zur Kritik an Foucaults früher Machtanalytik aus weberscher Perspektive vgl. Steven Lukes (1983): Macht und Herrschaft bei Weber, Marx, Foucault. In: Joachim Matthes (Hg.), Krise der Arbeitsgesellschaft. Verhandlungen des 21. Deutschen Soziologentages in Bamberg 1982, Frankfurt am Main/New York, S. 106-119.

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lange geschichtliche Zeiträume zwischen den Gegnern herausgebildet und verfestigt hat.“399 Herrschaft ist also weitgehend als ein bestimmter Zustand der Macht zu verstehen. Damit ist Macht der umfangslogisch weitere Begriff, der sich allerdings mit dem engeren Herrschaftsbegriff nicht in Deckung bringen lässt. Denn Herrschaft wird zwar als historisch spezifische Erscheinungsweise strategischer Kräfteverhältnisse in gewisser Weise zu einem konkreten Sonderfall der Macht, ihre Existenzbedingungen gründen jedoch nicht notwendig ausschließlich auf Macht, sondern u.U. auch auf blanker Gewalt. Zwischen Herrschaft und Macht kann insofern lediglich eine gemeinsame Teilmenge ermittelt werden. In der Konsequenz lassen sich Herrschaftszustände nur anhand ihrer spezifischen historischen Form bestimmen, während Foucault Machtverhältnisse nun strukturell fasst. Macht beschreibt die Logik sozialer Interaktion. Entscheidend hierfür ist, und darin liegt die wesentliche Differenz zur bisherigen, eher technologisch ansetzenden Machtanalytik, dass Foucaults Anspruch, Macht auf der Ebene von strategischen Interaktionen zwischen einzelnen Akteuren zu beschreiben, ihn nun, wie bereits angedeutet, dazu zwingt, eine minimale Form von Handlungsfreiheit vorauszusetzen. Und von daher erschließt sich seine Differenzierung von Macht und Herrschaft. Foucault unterscheidet nun streng „[…] auf der einen Seite zwischen Machtbeziehungen als strategischen Spielen zwischen Freiheiten, also Spielen, in denen die einen das Verhalten der anderen zu bestimmen versuchen, worauf die anderen mit dem Versuch antworten, sich darin nicht bestimmen zu lassen oder ihrerseits versuchen, das Verhalten der anderen zu bestimmen, und auf der anderen Seite Herrschaftszuständen, die das sind, was man üblicherweise Macht nennt“.400

Die Existenz von Machtbeziehungen setzt also freie Subjekte voraus, sie kann „[…] nur über ‚freie Subjekte‘ ausgeübt werden […]“, und das bedeutet, über individuelle oder kollektive Subjekte, die „[…] über mehrere Verhaltens-, Reaktions- oder Handlungsmöglichkeiten verfügen.“401 Während also Macht nur dort ausgeübt werden kann, wo es Freiheit gibt, kann Herrschaft historisch auch in der Form von Gewaltverhältnissen auftreten. Foucault betont ausdrücklich: „Sklaverei ist keine Machtbeziehung […]“, sondern ein „[…] Verhältnis physischen Zwangs […]“.402

399 Foucault (1982), a.a.O., Bd. 4, S. 293. 400 Foucault (1984h), a.a.O., Bd. 4, S. 900. 401 Vgl. Foucault (1982), a.a.O., Bd. 4, S. 287. 402 Vgl. ebd.

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Mit der so reformulierten Machtanalytik hat Foucault ein analytisches Instrument in der Hand, um Herrschaftszustände als Einschränkung von Machtbeziehungen zu kritisieren, und das heißt nun, als Begrenzung des Möglichkeitsfeldes einzelner Subjekte. Foucault spricht in diesem Zusammenhang von „[…] Herrschaftstatsachen […], in denen die Machtbeziehungen, anstatt veränderlich zu sein und den verschiedenen Mitspielern eine Strategie zu ermöglichen, die sie verändern, vielmehr blockiert und erstarrt sind. Wenn es einem Individuum oder einer gesellschaftlichen Gruppe gelingt, ein Feld von Machtbeziehungen zu blockieren, sie unbeweglich und starr zu machen und jede Umkehrung der Bewegung zu verhindern – durch den Einsatz von Instrumenten, die sowohl ökonomischer, politischer oder militärischer Natur sein mögen –, dann steht man vor etwas, das man als einen Herrschaftszustand bezeichnen kann“.403

Mit der Unterscheidung von Herrschaft und Macht erarbeitet sich Foucault die Möglichkeit einer erweiterten Kritik der Macht. Bestand die Kritik der Macht in den früheren Werken in der Bedeutung des Genitivus objectivus im Wesentlichen in einer genealogischen Kritik historisch gewordener und damit nicht notwendiger Formen von Herrschaft, so bedeutet Kritik der Macht nun zugleich im Sinne des Genitivus subjectivus Kritik von Herrschaft aus der Perspektive der Macht, die jene als Form stillgestellter Machtverhältnisse erscheinen lässt. Herrschaft kann nun als strukturelle Verhärtung von Interaktionsbeziehungen aufgefasst werden. Was Foucault mit der begrifflichen Differenzierung von Herrschaft und Macht gewinnt, stellt ihn aber zugleich vor ein bereits bekanntes theoretisches Problem. Wenn nämlich Machtverhältnisse von nun an als wechselseitige strategische Verhältnisse zwischen einzelnen Freiheiten aufgefasst werden, dann stellt sich insbesondere aus einer Beobachterperspektive sogleich die Frage, wie dieser Beschreibungsmodus sich normativ legitimieren lässt. Mit welchem Recht also können Interaktionsbeziehungen auf der Grundlage von als frei anzusehenden Subjekten, wenn auch nicht begründet, so doch wenigstens qualifiziert beschrieben werden? Der Rückgriff auf eine wie auch immer geartete fundamentale existenzielle Freiheit des Subjekts ist unter den methodisch anspruchsvollen Voraussetzungen einer historischen Ontologie der Gegenwart jedenfalls nicht zulässig. Andernfalls würde sich Foucaults Kritik an Sartres Subjektkonzeption weitgehend erübrigen, ja er sich dieser in gewisser Hinsicht sogar annähern. Was die in den 70er Jahren entworfene Genealogie der Macht zu Tage fördern sollte, dass, wie gesehen, das moderne, sich als frei verstehende Handlungssubjekt als

403 Foucault (1984h), a.a.O., Bd. 4, S. 878.

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ein Produkt der Macht „Resultat einer Unterwerfung“ und in seiner Existenz „selbst ein Stück der Herrschaft ist“,404 muss also auch unter dem Blickwinkel der Geschichte der Subjektivität gelten: Als Ausgangspunkt für eine kritische Theorie der Gesellschaft kann das freie Handlungssubjekt für Foucault deshalb allein aus methodischen Gründen nicht dienen. Andernfalls würde er Gefahr laufen, hinter den Stand der eigenen Subjektkritik zurückzufallen. Dann aber wäre kaum noch ersichtlich, worin der Vorzug der von Foucault methodisch aufwändig entwickelten Beobachterperspektive gegenüber Sartres binnentheoretischem Ansatz liegen könnte. Foucault vermeidet diese Konsequenz, indem er eine weitere Differenzierung seines Machtbegriffs vornimmt und eine dritte Analyseebene einzieht, mit deren Hilfe sich das jeweilige Verhältnis von Macht und Herrschaft in historischer Konkretion bestimmen lassen soll. Zwischen den strategischen „Spielen der Macht“ und den „Zuständen der Herrschaft“ siedelt Foucault die Ebene der „Regierungstechnologien“ an, die im Weiteren unter dem breit konzipierten Terminus der „Gouvernementalität“ gefasst werden. „In meiner Machtanalyse“, so Foucault jetzt, „gibt es drei Ebenen: strategische Beziehungen, Regierungstechniken und Herrschaftszustände.“405 Damit ist ein Schlüssel gefunden, um über den Machtbegriff das Verhältnis von historischen Herrschaftsformen und entsprechenden Freiheitszuständen zu bestimmen, ohne auf eine überhistorisch konzipierte Idee von Freiheit zurückgreifen zu müssen. Der Begriff der Regierung steht am Kreuzungspunkt zweier Achsen, die die Gesellschaftsanalyse nun verfolgen muss: Er zielt einerseits auf den technologischen Aspekt der Macht, indem er die historischen Formen ihrer Rationalität frei zu legen sucht, mit deren Hilfe die strategischen Verhältnisse zwischen den einzelnen Akteuren innerhalb von Herrschaftszuständen vorstrukturiert werden. Foucault fasst den Terminus „Regierungstechnologien“ bewusst weit und versteht darunter mit Blick auf deren historische Erscheinungsformen etwa „[…] sowohl die Art und Weise, wie man Frau und Kinder leitet, als auch die, wie man Institutionen führt […]“, und betont dabei ausdrücklich, dass die „Analyse dieser Techniken“ erforderlich ist, „[...] weil sich häufig mit ihrer Hilfe die Herrschaftszustände errichten und aufrechterhalten“.406 Andererseits verbindet der Gouvernementalitätsbegriff mit Blick auf die strategische Seite der Macht die Achse zwischen Subjektivität und Intersubjektivität, bezogen auf ein historisch konkretes Selbstverhältnis und eines zugehörigen Weltverhältnisses im Bezug auf die Anderen. Denn Regieren

404 Vgl. Foucault (1975), a.a.O., S. 42. 405 Vgl. Foucault (1984h), a.a.O., Bd. 4, S. 900f. 406 Vgl. ebd., S. 900.

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bedeutet nicht nur Führen der Anderen. Die Subjekte, die mit ihren Praktiken die jeweils Anderen wechselseitig zu kontrollieren, zu beeinflussen und in ihren Möglichkeiten zu begrenzen suchen, sind selbst frei. Insofern bedeutet Regieren der Anderen immer zugleich Regieren seiner selbst. Damit ist das historische Selbstverständnis von Subjekten und insofern die Weise ihrer Problematisierung an die spezifischen Praktiken des Regierens, und das heißt an bestimmte Techniken des Selbst gebunden. Die Geschichte der modernen Subjektivität erweist sich so als eng verschränkt mit der Geschichte der Regierungstechnologien und insofern mit historischen Formen von Herrschaft. Wer die Genealogie des Subjektes in der westlichen Zivilisation analysieren will, ist daher gezwungen, so Foucault, „[…] to take into account the points where the technologies of domination of individuals over one another have recourse to processes by which the individual acts upon himself. And conversely, he has to take into account the points where the techniques of the self are integrated into structures of coercion or domination. The contact point, where the individuals are driven by others is tied to the way they conduct themselves, is what we can call, I think, government. Governing people, in the broad meaning of the word, governing people is not a way to force people to do what the governor wants; it is always a versatile equilibrium, with complementarity and conflicts between techniques which assure coercion and processes through which the self is constructed or modified by himself“.407

Mit der Gouvernementalität führt Foucault in die Machtanalytik eine Ebene ein, auf der es ihm gelingt, das Verhältnis von Herrschaftsstrukturen, Interaktionsbeziehungen und Subjektivität in der Weise ihres jeweiligen historischen Auftritts zu analysieren und aufeinander zu beziehen, ohne auf eine diese Verhältnisse konstituierende Instanz in der Gestalt eines Subjektes zurückgreifen zu müssen. Regierungstechnologien sind Praktiken, die vor dem Hintergrund spezifischer historischer Problematisierungen eine bestimmte Form von Subjektivität und damit eine bestimmte Art der Regierung seiner selbst erfordern. Sie sind eine „[…] Gesamtheit von Praktiken […], mit denen man die Strategien konstituieren, definieren, organisieren und instrumentalisieren kann, die die Einzelnen in ihrer Freiheit wechselseitig verfolgen […]“,408 zugleich lassen sich diese Praktiken aber nicht allein auf eine Systemlogik zurückführen, sondern setzen prinzi-

407 Michel Foucault (1993): About the Beginning of the Hermeneutics of the Self. Two lectures at Dartmouth (Herbst 1980). In: Political Theory 21, No 2, May 1993, S. 203f. 408 Vgl. Foucault (1984h), a.a.O., Bd. 4, S. 901.

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piell freie, und das bedeutet zu kritischer Distanzierung von diesen Praktiken fähige Subjekte voraus. Foucaults Forschungsprogramm einer historischen Ontologie der Gegenwart beinhaltet also die methodische Verschiebung der Machtanalytik der 70er Jahre hin zu einer Geschichte der Gouvernementalität.409 Dadurch gelingt es ihm, die Freiheit des Subjekts aus der Beobachterperspektive wieder einzuführen, ohne – wie etwa Sartre – gezwungen zu sein, darauf eine komplette Theorie der Gesellschaft aufzubauen. Die Freiheit hat keine Begründungsfunktion, sondern ihr kommt im Rahmen der Gesellschaftsanalyse lediglich eine heuristische Funktion zu. Trotzdem zeigt Foucaults späte Korrektur seines Analyserahmens, dass er sich aus methodischen Gründen gezwungen sah, das Subjekt nun nicht mehr nur in seiner Erkenntnisfunktion innerhalb von historischen Diskursformationen zu beschreiben oder es allein als Subjekt der Unterwerfung zu konzipieren. Der späte Foucault räumt dies in dankenswerter Klarheit ein, wenn er schreibt: „Nehmen wir die Frage der Macht, der politischen Macht, und stellen sie in den allgemeinen Zusammenhang der Frage der Gouvernementalität, der Gouvernementalität verstanden als ein strategisches Feld von Machtverhältnissen in einem allgemeinen und nicht nur politischen Sinn, als ein strategisches Feld beweglicher, veränderbarer und reversibler Machtverhältnisse, dann glaube ich, daß das Nachdenken über den Begriff der Gouvernementalität theoretisch und praktisch nicht um ein Subjekt herumkommt, das sich durch eine Beziehung zu sich selbst definiert.“410

Damit eröffnet sich Foucault die Möglichkeit, aus der Beobachterperspektive die historischen Weisen zu analysieren, wie Menschen aufeinander und dabei zugleich auf sich selbst einwirken und insofern zu historisch bedingten Subjekten werden. Er nimmt damit für sich in Anspruch, weder einen substanziellen Subjektbegriff, wie etwa die Vorstellung eines universellen Rechtssubjekts, vorauszusetzen noch mit der individuellen Freiheit, wie dies insbesondere beim frühen Sartre der Fall war, einen ahistorischen Freiheitsbegriff zu ontologisieren. Dank des Gouvernementalitätsbegriffs wird die Kritik der Macht zu einer Kritik der

409 Vgl. hierzu auch: Bruno Karsenti (2006): La politica del ‚fuori‘. Una lettura dei Corsi di Foucault al Collège de France (1977-1979). In: Sandro Chignola (Hg.), Governare la vita. Un seminario sui Corsi di Michel Foucault al Collège de France (19771979), Verona, S. 80. 410 Michel Foucault (2001): Hermeneutik des Subjekts. Vorlesungen am Collège de France (1981/82), Frankfurt/M. 2004 (L’herméneutique du sujet. Cours au Collège de France 1981-1982, Paris), S. 313f.

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herrschenden Rationalität und der an diese gebundenen historischen Formen von Herrschaft und Subjektivität. Denn für Foucault kann es, wie gesehen, nicht darum gehen, gegebene Institutionen aus der Perspektive des Subjekts in ihrem repressiven Charakter zu denunzieren. Es geht vielmehr darum, die Rationalität einer Regierungstechnologie, auf der sowohl die Institutionen wie eine bestimmte Konzeption des Subjekts selbst basieren, zu kritisieren. Foucault setzt daher viel grundsätzlicher an: „Die Frage ist: Wie werden die Machtverhältnisse rationalisiert? Diese Frage zu stellen, ist die einzige Möglichkeit, zu verhindern, dass andere Institutionen mit denselben Zielen und denselben Wirkungen ihren Platz einnehmen.“411 Die Kritik der Macht ist insofern eine Kritik der politischen Vernunft,412 an die die individuellen Praktiken geknüpft sind.

Drei Ebenen einer Analyse des Regierens Foucaults Gesellschaftsanalyse, verstanden als eine Diagnose der Gegenwart, beansprucht also weiterhin, eine genealogische und archäologische Rekonstruktion gesellschaftlicher Verhältnisse zu sein. Diese muss auf drei Ebenen erfolgen: Sie besteht aus einer Geschichte der Gouvernementalität als solche, d.h. sie beansprucht, Herkunft und Entstehung moderner Regierungstechnologien zu rekonstruieren (1). Die Aufgabe besteht einerseits im Nachzeichnen der Genealogie einer spezifischen historischen Subjekt-Objekt-Beziehung, andererseits in deren spezifischer Strukturbestimmung, indem sie die Archäologie der Funktionsweisen moderner Dispositive leistet, um damit die entsprechende Subjektivitätsform zu kennzeichnen. Von hier aus vermag sie die jeweilige Ebene der Intersubjektivität (2), d.h. in struktureller Hinsicht die Logik der Macht, verstanden als strategische Beziehungen zwischen einzelnen Subjekten, zu durchleuchten. Gegenstand des Interesses sind in diesem Fall die darauf aufbauenden historischen Formen des Regierens anderer. Und schließlich konzentriert sie sich mit Bezug auf die damit historisch auftauchenden Techniken des Selbst auf das Subjekt und die jeweiligen Formen des Regierens seiner selbst (3). Im Folgenden sollen diese drei Ebenen diskutiert werden. Dies soll insbesondere mit Blick auf

411 Michel Foucault (1981): ,Omnes et singulatim‘: zu einer Kritik der politischen Vernunft (,Omnes et singulatim‘: Towards a Criticism of Political Reason. In: Sterling M. McMurrin (Hg.), The Tanner Lectures on Human Values, Bd. II, Salt Lake City, S. 223-254); hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S. 198. 412 Vgl. hierzu auch Lemke (1997), a.a.O., S. 32.

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zwei Leitfragen geschehen. Erstens: Inwieweit ist es möglich, Subjekte allein aus der Beobachterperspektive zu beschreiben, ohne in der Manier einer klassischen Handlungstheorie auf die Binnenperspektive der Akteure auszugreifen? Und zweitens: Welche Konsequenzen hat die Annahme einer wie auch immer gearteten existenziellen Freiheit als Vorraussetzung einer Subjektkonstitution für den Versuch einer externen Beschreibung der Selbstverhältnisse von Handelnden?

(1) Die Geschichte der modernen Regierungstechnologien Ähnlich wie die Macht ist auch der Terminus Gouvernementalität nicht als theoretischer Begriff zu verstehen. Er dient Foucault vielmehr zur Formulierung eines Analyseprogramms, das er erstmals ausführlicher in den beiden Vorlesungszyklen von 1977/78 und 1978/79 am Collège de France vorgeführt hat.413 Darin hielt er in gewohnter Manier an seinem nominalistischen Vorbehalt fest, wonach Universalbegriffe nicht als Ausgangspunkt zur Analyse konkreter Phänomene geeignet sind, sondern diese lediglich in ihrer historischen Begrenztheit von realen Praktiken her erfasst werden dürfen. Gouvernementalität fungiert daher als ein Analyseraster, mit dessen Hilfe das historische Auftauchen einer Problematik, nämlich derjenigen einer „Kunst des Regierens“, und der damit verbundenen Reflexionsweisen und Praktiken untersucht werden sollen, ohne auf daran historisch geknüpfte Universalien wie Souveränität, Volk, Untertan, Staat oder bürgerliche Gesellschaft zurückgreifen zu müssen.414 Foucault versucht über dieses Verfahren also weiterhin sein Anliegen zu verfolgen, strategische Interaktionsverhältnisse zwischen einer pluralen Menge von Akteuren aus der Außenperspektive zu beschreiben. Gouvernementalität, verstanden als „[…] die Art und Weise, mit der man das Verhalten der Menschen steuert, ist nichts anderes als der Vorschlag eines Analyserasters für diese Machtverhältnisse“, so Foucault.415 Die folgende Darstellung kann sich, mit Blick auf das hier verfolgte Interesse an dem methodischen Zugang zur Geschichte und der daran gebundenen Subjektkonzeption, lediglich auf die dafür relevanten Ausschnitte von Foucaults Ge-

413 Vgl. Foucault (2004), a.a.O., Bd. 1 und 2. 414 Vgl. ebd., Bd. 2, S. 14ff. 415 Vgl. ebd., S. 261.

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schichte der Gouvernementalität konzentrieren.416 Dabei ist in historischer Perspektive entscheidend, dass Foucault das Auftauchen der Problematik des Regierens auf das 16. Jahrhundert datiert – eine Problematik, die er in ihrer Allgemeinheit in unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären simultan, sei es unter dem Gesichtspunkt der richtigen Leitung seiner selbst, sei es etwa in der Pädagogik als die angemessene Anleitung anderer, aber auch in politischer Hinsicht als richtige Regierung des Staates durch den Fürsten, in Erscheinung treten sieht.417 Bemerkenswert daran ist vor allem, und darauf wird noch zurückzukommen sein, dass Foucault die Geburt dieser Problematik an einem historischen Kreuzungspunkt ausmacht: der Formierung und Konzentration staatlicher Macht einerseits, der „religiösen Zerstreuung und Spaltung“ andererseits.418 Zugleich muss berücksichtigt werden, dass der Analyseraster in diesen Vorlesungen weitgehend auf die Problematik des Staates eingestellt ist, also lediglich

416 Foucaults breit angelegte Geschichte der Gouvernementalität kann aus heutiger Sicht als bahnbrechendes Forschungsprogramm angesehen werden, das auf zahlreiche Bereiche der Gesellschaftswissenschaften ausgestrahlt hat. Darauf kann im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter eingegangen werden. Direkte Anknüpfungspunkte zur Analyse moderner Gesellschaften ergaben sich im Umfeld von Soziologie und Politikwissenschaften insbesondere in den Governmentality Studies, die teilweise versuchen, Foucaults Untersuchungen zum Neoliberalismus fruchtbar zu machen. Vgl. hierzu u.a.: Graham Burchell/Colin Gordon/Peter Miller (Hg.) (1991): The Foucault Effect: Studies in Governmentality, Chicago; Andrew Barry/Thomas Osborne/Nikolas Rose (Hg.) (1996): Foucault and Political Reason: Liberalism, Neo-Liberalism and Rationalities of Government, Chicago; Mitchell Dean (1999): Governmentality. Power and Rule in Modern Society, London/Thousand Oaks/New Delhi; Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.) (2000): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt/M.; Marianne Pieper/Encarnación Gutiérrez Rodríguez (Hg.) (2003): Gouvernementalität. Ein sozialwissenschaftliches Konzept im Anschluss an Foucault, Frankfurt am Main/New York; Ramón Reichert (Hg.) (2004): Governmentality Studies. Analysen liberal-demokratischer Gesellschaften im Anschluss an Foucault, Münster; Ulrich Bröckling (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt/M. Zur Methodenreflexion in den Politikwissenschaften; vgl. auch: Brigitte Kerchner (2006): Wirklich Gegendenken. Politik analysieren mit Michel Foucault. In: dies./Silke Schneider (Hg.), Foucault: Diskursanalyse der Politik. Eine Einführung, Wiesbaden, S. 145-164. 417 Vgl. Foucault (2004), a.a.O., Bd. 1, S. 135. 418 Vgl. ebd., S. 136.

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die politische Rationalität eines bestimmten Realitätsausschnittes ins Visier genommen wird. Wesentliche Bereiche der Interaktions- und vor allem der Selbstverhältnisse bleiben also unterbelichtet. Für die hier verfolgte Fragestellung ist jedoch relevant, dass die Gouvernementalitätsanalyse aus den späten 1970er Jahren das Untersuchungsfeld zwar auf den Staat einschränkt, diesen jedoch unter den Vorgaben eines nominalistischen Vorbehalts als „[…] Handlungs- und als Denkweise […]“ fasst, dessen Geschichte, so der ausdrückliche Anspruch Foucaults, „[…] auf der Grundlage der Praxis der Menschen geschrieben werden […]“ soll.419 Insofern sind zumindest zwei wesentliche Punkte erneut angerissen, die im Verlauf der bisherigen Rekonstruktion der Foucaultschen Machtanalytik ungeklärt geblieben waren: die Frage, wie institutionelle Makrostrukturen als Resultate einer Dynamik strategischer Kräfteverhältnisse aus der Außenperspektive420 einsichtig gemacht werden können und, damit aufs Engste verbunden, welche spezifische Subjektposition an die jeweiligen historischen Praktiken einer Handlungs- und Denkweise gebunden ist. Es stellt sich also erneut die Frage nach der Möglichkeit einer externen Beschreibung von sich wandelnden Selbstverhältnissen im Verlauf einer Geschichte der Subjektivität. Beides muss weiter im Hinterkopf behalten werden. Voraussetzung für eine kompakte Darstellung der im hier verfolgten Zusammenhang relevanten Aspekte von Foucaults Forschungsprogramm ist es, sich zunächst zu vergegenwärtigen, wie er den Analyseraster der Gouvernementalität genau verwendet. Sein Versuch, dies zu erläutern, ist allerdings mindestens so unübersichtlich, wie dies bereits weiter oben im Zusammenhang mit seinem Charakterisierungsversuch der Macht aufgefallen war. Foucault meint mit Gouvernementalität drei auf den ersten Blick recht disparate Dinge: „Ich verstehe unter ‚Gouvernementalität‘ die aus den Institutionen, den Vorgängen, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken gebildete Gesamtheit, welche es erlauben, diese recht spezifische, wenn auch sehr komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptziel die Bevölkerung, als wesentliche Wissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat. Zweitens verstehe ich unter ‚Gouvernementalität‘ die Tendenz oder die Kraftlinie, die im gesamten Abendland unablässig und seit sehr langer Zeit zur Vorrangstellung dieses Machttypus geführt hat, den man über alle anderen hinaus ‚Regierung‘ nennen kann: Souveränität, Disziplin, und die einerseits die Entwicklung einer ganzen Serie spezifischer Regierungsapparate und andererseits die Entwicklung einer ganzen Serie von Wissensarten nach

419 Vgl. ebd., S. 513. 420 Vgl. ebd., Bd. 2, S. 115.

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sich gezogen hat. Schließlich denke ich, daß man unter ‚Governementalität‘ den Vorgang oder vielmehr das Ergebnis des Vorgangs verstehen sollte, durch den der mittelalterliche Staat der Gerichtsbarkeit, der im 15. und 16. Jahrhundert zum Verwaltungsstaat wurde, sich nach und nach ‚gouvernementalisiert‘ hat.“421

Um dieses Gestrüpp von strukturellen Beziehungen und historischen Verweisen etwas zu lichten, ist es vielleicht hilfreich, drei Schneisen zu schlagen, entlang derer sich die von Foucaults Gouvernementalitätsraster erfassten Sphären der Macht frei legen ließen: 1. auf ihrer strukturellen Ebene die Logik des modernen Regierens, die sich weitgehend über eine Analyse wirkmächtiger Dispositive bewerkstelligen lassen müsste. 2. die historische Rekonstruktion der staatlichen Regierungsweisen anhand der Abfolge ihrer spezifischen Problematiken, wie sie sich über eine archäologisch verfahrende Diskursanalyse durchführen ließe. Dies bezöge sich weitgehend auf Foucaults dritten Punkt und würde die Herkunft der modernen Gouvernementalität klären. 3. – und dies wäre etwa Foucaults Punkt zwei – die weitgehend genealogische Beschreibung der Entstehung moderner Formen der Macht anhand von Praktiken, mit deren Hilfe sich Tendenzen und Kraftlinien in ihrem historischen Verlauf skizzieren ließen.

Strukturlogik Mit der ersten Sphäre befasst sich Foucault ausführlich in den ersten drei Vorlesungen von 1978. Darin entwirft er ein Analyseprogramm, das sich auf die drei konstitutiven Machtdispositive moderner Gouvernementalität konzentriert: Recht, Disziplin und Sicherheit.422 Damit nimmt er eine doppelte Korrektur seiner frühen Machtanalytik vor. Zum einen ergänzt er die Reihe der bislang bekannten historisch auftauchenden Machtdispositive Recht und Disziplin durch ein drittes, die Sicherheit. Zum anderen legt er nicht mehr, wie in den früheren Arbeiten, eine historische Abfolge dieser Formen der Macht nahe, sondern insistiert nun darauf, dass unter strukturellen Gesichtspunkten sämtliche Mechanismen ihre spezifische Wirkung parallel zueinander erzielten. Recht, Disziplin und Sicherheit sind demzufolge nicht in serieller Abfolge innerhalb einer Geschichte der Macht zu begreifen, sondern sie fungieren innerhalb eines Korrelationssys-

421 Ebd., Bd. 1, S. 162f. 422 Vgl. ebd., S. 19ff.

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tems, das historisch wechselnde Dominanten aufweist.423 Moderne Gesellschaften zeichnen sich demzufolge dadurch aus, dass der Sicherheitsmechanismus die Dominante einer Struktur darstellt, innerhalb der die juridisch-rechtlichen sowie die Disziplinarmechanismen einer spezifischen Reaktivierung und Transformation unterliegen.424 Foucault bedient sich somit einer fast schon strukturalistischen Darstellungsform zur Beschreibung der Funktionsweise moderner Dispositive der Macht. Dispositive fungieren in Foucaults Forschungsprogramm, wie gesehen, als Analyseraster, um historisch spezifische Anordnungen etwa von Institutionen, Technologien, Problemlösungsstrategien, epistemischen Grundannahmen und diskursiven Regelformationen in ihrem Verhältnis zueinander beschreiben zu können. In seiner späten Terminologie formuliert, sind Dispositive grob gesagt durch eine bestimmte Konstellation von Problematiken und Praktiken gekennzeichnet, an der die politische Rationalität einer bestimmten Machtform ablesbar wird. Die innerhalb der modernen Gouvernementalität wirkmächtigen Dispositive Recht, Disziplin und Sicherheit müssen sich demzufolge mit Blick auf die ihre Struktur bestimmenden Elemente bezüglich der Problematiken und Praktiken, die sich darin niederschlagen, untersuchen lassen. Der Analyseraster, den Foucault hierfür anlegt, fragt deshalb im Wesentlichen nach den jeweiligen Ordnungsprinzipien, nach denen diese drei Dispositive funktionieren, welchen Rationalitätstyp diese repräsentieren, über welche Methode der Normdurchsetzung sie verfügen, welchen Realitätsbezug sie herstellen und auf welches operative Feld sie referieren. Mit diesem Verfahren sollen sich die Grundzüge der jeweiligen Machtform nachzeichnen lassen, die sie verkörpern. In dem hier verfolgten Zusammenhang von besonderer Bedeutung ist dabei, welcher Subjektmodus dadurch jeweils konstituiert wird. Der Vorteil dieser Methode scheint zu sein, dass sich so die wesentlichen Mechanismen einer Machtstruktur analytisch gegeneinander abgrenzen lassen, um sie in den darauf folgenden beiden Schritten mit Blick auf ihre historische Herkunft und Entstehung zu rekonstruieren. Unter dem Gesichtspunkt des dominierenden Ordnungsprinzips unterscheidet Foucault Recht, Disziplin und Sicherheit zunächst hinsichtlich ihrer Weisen der Reglementierung von Verhalten. Während das Recht mittels des binären Codes von verboten-erlaubt operiert, teilt die Disziplin in verboten und verbindlich, indem sie das Feld des Erlaubten einer Vorschrift unterwirft, die nach der binären Differenz von normal-anormal425 codiert wird. Im Gegensatz dazu liegt dem

423 Vgl. ebd., S. 23. 424 Vgl. ebd., S. 24. 425 Vgl. ebd., S. 89.

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Sicherheitsdispositiv ein Ordnungsprinzip des „laisser faire“426 zu Grunde, auf das versucht wird, strategisch zu reagieren. „Anders gesagt“, so Foucault, „das Gesetz verbietet, die Disziplin schreibt vor, und die Sicherheit hat – ohne zu untersagen und ohne vorzuschreiben, wobei sie sich eventuell einiger Instrumente in Richtung Verbot und Vorschrift bedient – die wesentliche Funktion, auf eine Realität zu antworten, so daß diese Antwort jene Realität aufhebt, auf die sie antwortet – sie aufhebt oder einschränkt oder bremst oder regelt.“427

Damit sind bereits die jeweiligen Rationalitätsformen angezeigt, auf deren Grundlage diese Dispositive operieren, das heißt ihre theoretische wie praktische Konzeption von Realität sowie die entsprechenden Methoden der Durchsetzung ihrer normativen Vorgaben. Beansprucht das Recht die normative Strukturierung der Realität, wofür zu deren Durchsetzung auf das Mittel der Strafe zurückgegriffen wird, so gibt die Disziplin Regeln vor, gemäß derer eine instrumentelle Modifikation der Realität vorgenommen wird. Etabliert werden diese Regeln, wie bereits weiter oben gesehen, durch Kontrolle, Klassifizierung und Individualisierung sowie durch Zergliederung und Dekomposition, durch Koordination und Optimierung von Handlungsabläufen.428 Hingegen wird mit der Rationalitätsform des Sicherheitsdispositivs eine pragmatische Steuerung der Realität429 über die Abschätzung von Wahrscheinlichkeiten, die Kalkulation von Kosten zur Optimierung von Abläufen und Minimierung unerwünschter Nebenfolgen beansprucht. Das Sicherheitsdispositiv setzt im Unterschied zur Disziplin nicht die Geltung von Regeln durch, sondern reguliert Zirkulationsprozesse.430 Während also das Recht auf einem System von Normen431 basiert, deren Gültigkeit es gegen die Realität durchzusetzen gilt, versucht die Disziplin eine Norm von außen in die Realität einzuführen, indem sie diese jener entsprechend gefügig zu machen sucht. Das wesentliche Kennzeichen der Disziplin ist daher die Normierung des Verhaltens der Subjekte oder, wie Foucault nun sagt, deren „Normation“.432 Im Unterschied dazu erschließt das Sicherheitsdispositiv die Zirkulationsprozesse der gesellschaftlichen Realität. Um deren Kräfte und Dynamiken optimal nut-

426 Vgl. ebd., S. 74. 427 Ebd., S. 76. 428 Vgl. ebd., S. 89. 429 Vgl. ebd., S. 76. 430 Vgl. ebd., S. 52. 431 Vgl. ebd., S. 88. 432 Vgl. ebd., S. 90.

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zen zu können, zielt es nicht auf Normierung, sondern auf eine weit gehende Normalisierung der Abläufe innerhalb der Realität.433 Foucault bezeichnet den Realitätsbezug, der mit den jeweiligen Rationalitätstypen verbunden ist, für das Recht als „imaginär“, für die Disziplin als „komplementär“: „[…] schließlich versucht die Sicherheit im Unterschied zum Gesetz, das im Imaginären arbeitet, und der Disziplin, die komplementär zur Realität arbeitet, in der Realität zu arbeiten, indem sie durch und über eine ganze Serie von Analysen und spezifischen Dispositionen die Elemente der Realität wechselseitig in Gang setzt.“434 Dementsprechend würde es sich m.E. anbieten, den Realitätsbezug des Sicherheitsdispositivs ‚kooperativ‘ zu nennen. Von besonderer Relevanz für die Charakterisierung der Gouvernementalität, wie sie in modernen Gesellschaften unter der Dominanz des Sicherheitsdispositivs in Erscheinung tritt, sind die jeweiligen operativen Felder, auf die zugegriffen wird, sowie die mit der jeweiligen Machtform verbundene Subjektkonstitution. Das Recht referiert, Foucault zufolge, auf ein klar eingegrenztes Territorium; den darin Anwesenden wird damit der Status von Rechtssubjekten435 zugewiesen, die sich der Macht des Souveräns unterwerfen.436 Die Macht basiert damit auf der Herrschaft437 des Gesetzes und dem Gewaltmonopol des Souveräns. Anders die Disziplin: Sie bezieht sich auf eine multiple Gesamtheit438 der innerhalb eines Territoriums Anwesenden. Der Status derjenigen, die der Souveränität unterworfen sind, ist der des disziplinierten Individuums als Untertan.439 Die Macht tritt über den Mechanismus einer hierarchisierenden, funktionalen Aufteilung der Elemente440 eines Raumes in Erscheinung. Mit dem Sicherheitsdispositiv verändert sich diese Anordnung weitgehend. Im Gegensatz zu Recht und Disziplin besteht die grundlegende Problematik nun nicht mehr darin, den Willen des Souveräns nach den Vorgaben einer Norm durchzusetzen, sondern eine Bevölkerung zu regieren. Das operative Feld, auf das die Macht innerhalb eines Sicherheitsdispositivs einwirkt, ist die Bevölkerung als Subjekt-Objekt der Realität.441 Die Macht nimmt von daher nun die Gestalt der Bio-Macht an, deren Problematik

433 Vgl. ebd., S. 98. 434 Ebd., S. 76 (Hervorhebung M.R.). 435 Vgl. ebd., S. 107. 436 Vgl. ebd., S. 32. 437 Vgl. ebd., S. 116. 438 Vgl. ebd., S. 28. 439 Vgl. ebd., S. 107. 440 Vgl. ebd., S. 39f. 441 Vgl. ebd., S. 117.

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die des richtigen Regierens einer als natürlich verstandenen, gesellschaftlichen Realität ist.442 Das operative Feld erweitert sich damit über ein Territorium hinaus auf sämtliche zu steuernden Komponenten, die auf den neuen Gegenstand, die Bevölkerung, einwirken können.443 In diesem Kontext verändert sich zugleich der Status des Einzelnen. Mit der Konstituierung der Bevölkerung als „Korrelat der Machttechniken“444 entsteht ein Subjekt im Modus des arbeitenden, lebenden und sprechenden Menschen. Der Übergang von der Souveränitätsproblematik zu derjenigen des Regierens im Zuge der Dominanz des Sicherheitsdispositivs in der Moderne beinhaltet, dass das Thema des Menschen auftaucht, wie es die Humanwissenschaften und der Humanismus des 19. Jahrhunderts formulierten: „[…] solange das Problem der Macht in der Theorie der Souveränität formuliert wurde, konnte der Mensch“, so Foucault, „nicht im Angesicht der Souveränität existieren, sondern nur der juristische Begriff des Rechtssubjekts. Von dem Moment an dagegen, wo man es mit der Bevölkerung als Vis-à-vis nicht der Souveränität, sondern der Regierung, der Kunst des Regierens zu tun hatte, denke ich, kann man sagen, daß der Mensch für die Bevölkerung das war, was das Rechtssubjekt für den Souverän gewesen war.“445

In der Darstellung des strukturellen Wirkungszusammenhangs moderner Machtdispositive taucht also, einhergehend mit der Berücksichtigung der Problematik einer prozessregulierenden Sicherheit, eine bereits aus den frühen Arbeiten bekannte Subjektfigur wieder auf: der Mensch. Anders als in „Les mots et les choses“ jedoch, wo diese als historisches Apriori der Moderne lediglich den Status einer epistemischen Notwendigkeit erhält, deren praktische Relevanz in Zweifel gezogen werden musste, erhält sie nun einen Ort auf dem Feld realer Praktiken. Mit dem Sicherheitsdispositiv wird die Existenz freier Subjekte unterstellt, deren Handlungen von außen reguliert und strukturiert werden können. Das Subjekt kann damit nicht mehr allein als externen Regeln unterworfener Untertan aufgefasst werden, sondern muss als eines, das auf der Grundlage der Freiheit handelt, gedacht werden. Foucault korrigiert damit ausdrücklich seine in „Surveiller et punir“ entwickelte Kritik am freiheitlichen Subjektverständnis der Moderne, das er als ausschließliches Produkt der Disziplinarmacht denunzierte. „In Wirklichkeit“, so Foucault nun, „muß diese Freiheit, zugleich Ideologie und Technik der

442 Vgl. ebd., S. 42; S. 108. 443 Vgl. ebd., S. 111. 444 Vgl. ebd., S. 120. 445 Ebd., S. 120f.

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Regierung, muß diese Freiheit im Inneren der Mutationen und Transformationen der Machttechnologien verstanden werden.“ Sie ist daher als ein „[…] Korrelat der Einsetzung von Sicherheitsdispositiven […]“ zu verstehen. Denn ein Sicherheitsdispositiv „[…] kann nur unter eben der Bedingung funktionieren, daß man ihm etwas verleiht, nämlich Freiheit im modernen Sinn, den dieses Wort im 18. Jahrhundert annimmt: Keine Abgabenfreiheit und keine Privilegien mehr, die an eine Person gebunden sind, sondern die Möglichkeit von Bewegung, Umstellung, Zirkulationsvorgängen sowohl der Leute als auch der Dinge“.446

Mit den Sicherheitsdispositiven wird also das moderne Handlungssubjekt konstituiert. Es erfährt damit in Foucaults Geschichte der Gouvernementalität einen historischen Ort. Zwar bleibt es damit weiterhin Produkt der Macht, es erhält aber aufgrund seines veränderten Verständnisses von Macht nun eine Verankerung in der Realität. Das freie Subjekt ist damit nicht mehr ausschließlich Ausdruck eines modernen Selbstmissverständnisses, sondern zugleich Handlungsvoraussetzung innerhalb der Moderne. Die strukturelle Bestimmung moderner Machtdispositive verweist also auf die Notwendigkeit einer Unterstellung individueller Handlungsfreiheit. Damit ist freilich zunächst nicht mehr gesagt, als dass aus der Beobachterperspektive die Existenzannahme eines mit Freiheit ausgezeichneten Subjekts festgestellt werden kann, dessen Universalitätsanspruch unter einem nominalistischen Vorbehalt lediglich an eine bestimmte historische Problematik gebunden ist. Was Foucault hier beschreibt, hat also noch nichts mit dem von Sartre aus der Binnenperspektive mit universellem Anspruch beschriebenen Subjekt der Praxis zu tun. Unter den methodischen Vorgaben einer historischen Ontologie der Gegenwart trägt dieses Subjekt einen zeitlichen Index. Entstehung und Herkunft dieser historischen Gestalt müssen daher erst noch geklärt werden. Die Geschichte der Gouvernementalität ist insofern eng mit einer Geschichte der Subjektivität verwoben. Im Rahmen der Geschichte der Gouvernementalität verläuft die Rekonstruktion der modernen Subjektstelle über zwei Verfahren: die archäologische Bestimmung der Abfolge der Problematiken des Regierens und die genealogische Rückverfolgung eines Netzes von Praktiken, auf deren Grundlage diese Problematik historisch zum Tragen kommt.

446 Vgl. ebd., S. 78.

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Herkunft Wie bereits angedeutet, taucht die Regierungsproblematik in ihrer weiten Bedeutung als die Frage des richtigen Regierens anderer sowie seines Selbst laut Foucault im 16. Jahrhundert auf. Die archäologische Rekonstruktion nimmt von hier ihren Ausgangspunkt. Foucault setzt zu diesem Zweck zwei Schnitte an, die weitgehend mit denjenigen korrespondieren, die er in „Les mots et les choses“ zur Abgrenzung epistemischer Diskursformationen voneinander vorgeführt hatte: den Übergang von der Renaissance zur Klassik und von dort zur Moderne. In der archäologischen Rekonstruktion der Machtdispositive, wie sie die Geschichte der Governementalität darstellt, handelt es sich dabei um die Geburt der Staatsraison einerseits und das Auftauchen der Regierungsform des Liberalismus andererseits. Erstere basiert weitgehend auf Praktiken der Disziplinierung und dem Wissen der Statistik, Letzterer auf den Mechanismen der Sicherheit und den Erkenntnissen der politischen Ökonomie. Der Bruch, der Foucault zufolge im Übergang zum klassischen Zeitalter mit Blick auf die Konfiguration neuer Machtdispositive stattfindet, lässt sich in groben Zügen folgendermaßen skizzieren: Mit dem Auftauchen der klassischen Episteme findet eine „Entgouvernementalisierung des Kosmos“447 statt. Die Welt erscheint nicht mehr als ein alles umspannendes System der Ähnlichkeiten und Analogien, das sich wie ein geöffnetes Buch lesen und interpretieren lässt, in dem sich der Wille eines Schöpfergottes manifestiert. Die Welt wird, wie gesehen, nun mathematischen und klassifikatorischen Vorgaben unterworfen. Parallel dazu verändert sich der Status des Souveräns zu seinen Untertanen. Er ist nicht mehr Repräsentant eines göttlichen Willens innerhalb eines natürlichen Kontinuums, sondern von nun an mit einer spezifischen Problematik, der Frage nach der richtigen Ausübung der Macht, konfrontiert. Eine Anforderung, für die, so Foucault, zunächst kein Modell vorliegt, „[…] weder auf seiten Gottes noch auf seiten der Natur“.448 Mit dem Übergang zum klassischen Zeitalter findet also eine Ausdifferenzierung der Vernunft statt: Die Prinzipien der Natur, die es zu erkennen gilt, folgen einer anderen Logik als die ratio weltlicher Machtausübung. Gefordert ist damit ein weder direkt von Gott noch von der Natur abgeleiteter neuer Rationalitätstyp, „[…] der es erlaubt, den Staat von dem Moment an, in dem er gegründet wird, in seinem täglichen Funktionieren, in seiner alltäg-

447 Vgl. ebd., S. 343. 448 Vgl. ebd., S. 344.

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lichen Verwaltung aufrechtzuerhalten und zu bewahren“.449 Die Staatsräson verkörpert also einen neuen, auf sie selbst gegründeten Rationalitätstyp. Sie verkörpert eine neue Praxis – die Politik450 – und konstituiert einen neuen Gegenstand – den Staat.451 Dessen Bezugsgröße ist nicht ein fixes Territorium, sondern ein Volk unter dem Gesichtspunkt rationaler und effizienter Herrschaft.452 Aus archäologischer Sicht signifikant ist, dass mit dem Aufkommen dieses neuen Rationalitätstyps der Staatsräson zugleich ein verändertes Dispositiv der Macht dominiert. Die Macht des Souveräns manifestiert sich nicht mehr in der Herrschaft des (göttlichen) Gesetzes, die Souveränität besteht nun gerade darin, über das Gesetz hinauszugehen. Die Staatsräson erfordert mehr als „gemäß der Gesetze“ zu befehlen, sie muss entsprechend der ihr zu Grunde liegenden Rationalität „[…] ‚den Gesetzen selbst‘ befehlen [...]“,453 das heißt, sie notfalls so weit gehend modifizieren, dass sie geeignet sind, das Objekt der Staatsräson, den Staat gut funktionieren zu lassen. Dafür bedarf es freilich nicht nur veränderter Gesetze und Verordnungen und eines Gewaltmonopols, das diese durchzusetzen vermag. Ein gut funktionierender Staat hat zur Voraussetzung, dass alle seine Bestandteile entsprechend zum Einsatz kommen. Die neue gouvernementale Vernunft der Staatsräson ist damit eng mit der Dominanz des Disziplinardispositivs verwoben. Das operative Feld souveräner Macht ist daher die Ansammlung der Untertanen. Diese stellt als Erkenntnisobjekt den Ort der Wahrheit dar, den es mit den neu aufkommenden Methoden der Statistik454 zu erschließen gilt, um die vorhandenen Kräfte und Ressourcen ausschöpfen zu können. Zugleich werden die Untertanen zum Ausgangsmaterial einer sie zu gehorsamen Subjekten unterwerfenden Disziplinierung. Wie bereits weiter oben erwähnt, taucht das Problem des Regierens in den westlichen Gesellschaften, laut Foucault, historisch am Kreuzungspunkt zwischen religiöser Spaltung und staatlicher Zentralisierung auf. Den zweiten Aspekt rekonstruiert die Archäologie der gouvernementalen Vernunft. Die Staatsräson geht einher mit dem Anspruch des Staates auf Selbstbehauptung innerhalb einer politischen Realität, die sich durch die Logik der Konkurrenz und eines Kräftegleichgewichts in Europa auszeichnet. Die Behauptung nach außen gegenüber konkurrierenden Staaten erfordert im Wesentlichen militärische und

449 Vgl. ebd., S. 346. 450 Vgl. ebd., S. 356ff. 451 Vgl. ebd., S. 359. 452 Vgl. ebd., S. 345. 453 Vgl. ebd., S. 378. 454 Vgl. ebd., S. 396.

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ökonomische Stärke. Dazu ist es notwendig, sowohl die Beziehungen des Staates nach außen wie seinen Aufbau im Innern zu reorganisieren. Zur Stabilisierung dieses Kräfteverhältnisses unter den Staaten entwickelt die Staatsräson daher zwei konstitutive Dispositive: zum einen ein militärisch-diplomatisches zur Regelung der Beziehungen nach außen und zum anderen – was in dem hier verfolgten Zusammenhang von vorrangiger Bedeutung ist – zur Stärkung der inneren Kräfte das Dispositiv der Polizei.455 Neben der Institution des Militärs ist vor allem die Polizei die ausgewiesene Instanz der Disziplinierung. „Das Ziel der Polizei ist“, so Foucault, „[…] die Kontrolle und die Übernahme der Verantwortung für die Tätigkeit der Menschen, insofern diese Tätigkeit ein ausschlaggebendes Element der Entwicklung der Kräfte des Staates darstellt.“456 Ihre Aufgabe ist es, diese Kräfte zu maximieren.457 Die im 17. Jahrhundert aufkommende Polizeiwissenschaft beschäftigt sich folgerichtig mit einem breiten Aufgabenspektrum. Es erstreckt sich über die statistische Erfassung der Menschen, über die Kontrolle der Lebensmittelversorgung, der Gesundheit der Bevölkerung, der Reglementierung der Berufe und der Überwachung der Bürger, damit jeder, der kann, auch arbeitet, bis hin zur Regulierung des Warenverkehrs.458 Der Polizeistaat, in den die neue gouvernementale Rationalität der Staatsräson mündet, verschiebt die Macht vom Gesetz, auf dessen Grundlage der Souverän regiert, hin zu einem Machtdispositiv der individualisierenden Disziplin und der allgemeinen Verwaltung der Subjekte. „Man lebt in einer Welt der Verordnungen und der Disziplin“, so Foucault.459 Was Foucault hier mit Blick auf die Polizeipraktiken des 17. und 18. Jahrhunderts beschreibt, deckt sich weitgehend mit den in „Surveiller et punir“ skizzierten Disziplinarpraktiken. Im Gegensatz zu der Mitte der 70er Jahre verfassten Studie, greift die Analytik der Macht nun jedoch über das Universum der Disziplinierung hinaus. Der Polizeistaat der Disziplin und der Reglementierung stößt nämlich gegen Ende des 18. Jahrhunderts an seine Grenzen. Foucault zeigt dies bemerkenswerterweise nicht anhand allgemeiner Phänomene des Widerstands gegen die Praktiken der Disziplinierung auf, sondern setzt an der materiellen Problematik der Nahrungsmittelknappheit an, die von einem bestimmten

455 Vgl. ebd., S. 429. 456 Vgl. ebd., S. 464. 457 Vgl. ebd., S. 451. 458 Vgl. ebd., S. 465ff. 459 Ebd., S. 489.

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Zeitpunkt an mit den Methoden der Polizei nicht mehr zu lösen war.460 Und genau an dieser Stelle markiert die Archäologie einen neuen Bruch: das Auftauchen der modernen Episteme, die sich auf dem Gebiet des Staates in einer neuen Form der Gouvernementalität niederschlägt, dem Liberalismus. Diese ist derjenigen des Polizeistaates und der Staatsräson weitgehend entgegengesetzt.461 Das Auftauchen dieser neuen Problematik einer Kunst des Regierens geht einher mit der Geburt der politischen Ökonomie, die im Verein mit den aufkommenden Humanwissenschaften die moderne Episteme markieren. Wesentliches Kennzeichen der politischen Ökonomie ist die Infragestellung der Grundannahmen der Disziplinierung mit Blick auf Methode, Gegenstand und Funktion des Regierens. Ihr zufolge ist Reglementierung nicht nur schädlich, sondern überflüssig,462 die Bevölkerung nicht als unbegrenzt veränderbare Gegebenheit zu verstehen463 und der Staat nicht als „synthetisches Prinzip“ aufzufassen, sondern als „Regler von Interessen“.464 Der Eintritt in die Moderne, wie Foucault ihn nun nicht mehr allein in epistemischer, sondern in politisch-praktischer Hinsicht beschreibt, vollzieht sich mit dem Auftauchen einer neuen Problematik des Regierens. Der Liberalismus, der sich als neue Regierungskunst465 etabliert, agiert auf der Grundlage einer

460 An anderer Stelle, an der Foucault dieselbe Thematik aus einer mehr genealogisch ausgerichteten Perspektive rekonstruiert, versucht er zu zeigen, dass die Praktiken der Polizei gewisse Problematiken der Moderne bereits implizieren. Das Verständnis der Gesamtheit der Untertanen als produktive Kraft zur Stärkung des Staates transportiert bereits als Aufgabe der Polizei, dass sie sich um das Wohl der Individuen zu kümmern hat. Auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene kündigt sich damit die Thematik moderner Biopolitik an, auf individueller Ebene erfolgt der disziplinarische Zugriff auf die einzelnen Subjekte unter der Prämisse, dass man es nicht mehr mit unter juridischen Kategorien zu fassenden, sondern mit „lebendigen, arbeitenden, wirtschaftenden Wesen“ zu tun hat. Vgl. Michel Foucault (1988): Die politische Technologie der Individuen (The Political Technology of Individuals. In: Patrick H. Hutton/Huck Gutman/Luther H. Martin (Hg.), Technologies of the self. A Seminar with Michel Foucault, Amherst, S. 145-162); hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd.4, S. 1010ff., sowie ebd. S. 1013f; vgl. auch Foucault (1981), a.a.O., Bd. 4, S. 188ff. 461 Vgl. Foucault (2004), a.a.O., Bd.1, S. 498, sowie ebd., Bd. 2, S. 43. 462 Vgl. ebd., Bd. 1, S. 494. 463 Vgl. ebd., S. 496. 464 Vgl. ebd., S. 497. 465 Vgl. ebd., Bd. 2, S. 98.

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veränderten Rationalität – der ökonomischen Vernunft.466 Er konstituiert einen neuen Gegenstand: die bürgerliche Gesellschaft.467 Und er operiert mit einem anderen Verständnis von Realität, indem er die Bevölkerung als die „Gesamtheit natürlicher Phänomene“468 zu begreifen sucht. Damit verändert sich die Aufgabe des Regierens in theoretischer wie praktischer Hinsicht. Der Ort der Wahrheit der Regierungskunst ist, anders als für die Staatsräson, nicht mehr die Gesamtheit der Untertanen, die es statistisch zu erfassen galt, der Ort der Wahrheit ist nun der Markt469 als Regulierungsmechanismus der Subjekte. Der Liberalismus verlangt deshalb geradezu, darauf zu achten, diesen nicht zu stark zu reglementieren. Er fordert daher eine Begrenzung der öffentlichen Gewalt im Sinne einer Selbstbegrenzung der gouvernementalen Vernunft.470 Damit wird der Liberalismus zu derjenigen Regierungsform, die auf dem oben skizzierten Dispositiv der Sicherheit basiert. Er muss einerseits das möglichst reibungslose Funktionieren der Mechanismen der Realität garantieren, kurz die Sicherheit dieser als natürlich angesehenen Prozesse des Marktes und der darin handelnden Subjekte gewährleisten, andererseits einen bestimmten Grad von Freiheit der betreffenden Akteure voraussetzen, denn sie ist zu „einem unverzichtbaren Bestandteil der Gouvernementalität selbst geworden“.471 Foucault fasst die wesentlichen Elemente moderner Gouvernementalität in einem Satz zusammen: „Gesellschaft, Ökonomie, Bevölkerung, Sicherheit, Freiheit: Das sind die Bestandteile der neuen Gouvernementalität, deren Formen in ihren zeitgenössischen Modifikationen wir noch heute kennen.“472 Für den hier untersuchten Zusammenhang sind zusammenfassend zwei Dinge von größerer Bedeutung. Foucault gelingt es mit der auf dem Sicherheitsdispositiv und damit zwingend auf Handlungsfreiheit basierenden Konzeption des Liberalismus, eine historische Gestalt der Macht zu beschreiben, auf deren Grundlage er beanspruchen kann, noch die Funktionsweise des gegenwärtigen Neoliberalismus in ihren Grundzügen zu erfassen. Das wesentliche Kennzeichen des Neoliberalismus, das sich auf der Folie liberaler Regierungstechnologien abhebt, ist demnach eine „[…] Entkoppelung zwischen Marktwirtschaft und der Politik des Laissez-fair [...]“, indem dieser eine Theorie des Wettbewerbs entwi-

466 Vgl. ebd., Bd.1, S. 499. 467 Vgl. ebd., S. 501. 468 Vgl. ebd., S. 505. 469 Vgl. ebd., Bd. 2, S. 54ff. 470 Vgl. ebd., S. 63ff. 471 Vgl. ebd., Bd. 1, S. 506. 472 Ebd., S. 508.

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ckelt, dessen Funktionsweise nicht als in der Realität von vornherein gegeben konzipiert ist, sondern als ordnungspolitisches Ziel in diese erst eingepflanzt werden muss.473 Die Problematik des Neoliberalismus besteht insofern im Wesentlichen in der Implantierung der formalen Struktur des Wettbewerbs in sämtliche Bereiche der gesellschaftlichen Realität, was sich in gewisser Weise als eine neue Technik der Disziplinierung deuten lässt.474 Foucault bietet damit aus der Beobachterperspektive ein Verfahren der Gesellschaftsanalyse an, das für sich beanspruchen kann, nennenswerte Funktionsmechanismen gegenwärtiger sozialer Beziehungen aufzeigen zu können. Zum anderen bekräftigt die archäologische Rekonstruktion der Geschichte der modernen Gouvernementalität, dass deren Funktionieren die Annahme frei agierender Handlungssubjekte zur notwendigen Voraussetzung hat. Wie bereits festgestellt, ist Freiheit dabei nicht als überzeitlicher Universalbegriff zu verstehen. Sie ist etwas, das mit der Regierungstechnik des Liberalismus entsteht, indem das freie Subjekt mit ihr konstituiert wird. Die Handlungsfreiheit ist daher Foucault zufolge „[…] im liberalen System, in der liberalen Regierungskunst eingeschlossen, sie ist gefordert, man braucht sie, und sie dient als regulierender Faktor, aber sie muß auch hergestellt und organisiert werden“.475 Von daher rührt die enge Bindung der Freiheit an das Sicherheitsdispositiv. Es dient der liberalen Regierung gerade dazu, die Bedingungen der Freiheit herzustellen, indem es sie zugleich begrenzt und einschränkt, damit der auf Handlungsfreiheit basierende Gesellschaftsmechanismus funktioniert.476 Die Sicherheit ist insofern die „[…] Kehrseite und die Bedingung des Liberalismus […]“. Im Wechselspiel von Sicherheit und Freiheit bewegt sich die grundlegende Problematik der gouvernementalen Vernunft. „Freiheit und Sicherheit werden gewissermaßen von innen die Probleme dessen antreiben, was ich die Ökonomie der Macht nennen werde, die dem Liberalismus eigentümlich ist“, so Foucault.477

473 Vgl. ebd., Bd. 2, S. 188. 474 Vgl. bezogen auf die neoliberale Subjektkonstitution etwa: Ulrich Bröckling (2003): Das demokratisierte Panopticon. Subjektivierung und Kontrolle im 360°-Feedback. In: Honneth/Saar (Hg.), a.a.O., S. 77-93; sowie ders. (2007), a.a.O., S. 76ff.; kritisch zu Foucaults Konzeption des Neoliberalismus vgl. Jacques Bidet (2006): Foucault et le libéralisme. Rationalité, révolution, résistance. In: Actuel Marx 40, 2/2006, Paris, S. 169-185. 475 Foucault (2004), a.a.O., Bd. 2, S. 99. 476 Vgl. ebd., S. 98. 477 Vgl. ebd., S. 100.

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Entstehung Sowohl über die Strukturbestimmung wie über die archäologische Beschreibung der Herkunft der die Moderne charakterisierenden Machtdispositive des Rechts, der Disziplin und der Sicherheit wird also die Notwendigkeit einer theoretischpraktischen Unterstellung der Existenz eines wie auch immer zu begreifenden freien Handlungssubjektes aufgewiesen. Offengeblieben ist allerdings bislang die Frage nach der Entstehung der einzelnen Dispositive. Dies muss nun deren genealogische Rekonstruktion leisten. Das gilt insbesondere für das Sicherheitsdispositiv. Denn diese Dimension der Macht war in der Genealogie des modernen Verhältnisses von Recht und Disziplin, wie Foucault sie Mitte der 70er Jahre vorgeführt hatte, noch außen vor geblieben. Wie gesehen, war das Subjekt, wie es in „Surveiller et punir“ und in „La volonté de savoir“ konzipiert worden war, als ein gehorsames, unterworfenes Subjekt gedacht. Mit dem Auftauchen des Sicherheitsdispositivs und der Thematik der Freiheit sieht Foucault sich daher gezwungen, die Genealogie des modernen Subjektes innerhalb einer Geschichte der Gouvernementalität zu reformulieren. Dafür muss die erkenntnisleitende Fragestellung von der Beschreibung von Struktur und Funktionslogik der Dispositive hin auf die Erkundung des historischen Auftritts der ihnen zu Grunde liegenden Problematik des Regierens verschoben werden. Foucault verlagert zu diesem Zweck den Focus der Analyse auf die Ebene der Interaktion. Die Genealogie der im 16. Jahrhundert auftauchenden Problematik des Regierens sieht Foucault eng an die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des christlichen Pastorats gebunden, das er als eine spezifische Weise der Machtausübung beschreibt. Foucault datiert dessen erste institutionellen Gestalten auf das 3. Jahrhundert478 und geht davon aus, dass sich die Ausbreitung ihrer Funktionsweise auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Gebieten bis ins 18. Jahrhundert, ja zum Teil bis in die Gegenwart verfolgen lässt.479 Die konstitutiven Elemente dieses im Wesentlichen als individualisierend zu beschreibenden Machttypus münden demnach innerhalb der Geschichte der Gouvernementalität in die oben beschriebenen Praktiken der Polizei.480 Das historisch außergewöhnliche Merkmal, das Foucault mit der Institutionalisierung des christlichen Pastorats im Zuge eines sich ausweitenden gesellschaftlichen Herrschaftsanspruchs der Kirche diagnostiziert, ist, dass mit ihr eine besondere Problematik einhergeht: Sie verlangt

478 Vgl. ebd., Bd. 1, S. 240. 479 Vgl. ebd., S. 218f. 480 Vgl. ebd., S. 165.

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eine Kunst des Führens (conduire), Lenkens (diriger), Leitens (mener), Anleitens (guider)481 der einzelnen Menschen in ihrer konkreten Lebenspraxis. Diese Problematik bezieht sich zunächst nicht auf einen Herrschaftsanspruch über territorial abgegrenzte staatliche Einheiten, sondern allein auf die Frage des richtigen Regierens/Führens von sich und anderen. Der pastorale Machttyp wirkt damit auf der unmittelbaren Interaktionsebene zwischen Einzelnen oder Gruppen.482 Die Genealogie des Pastorats kann insofern an die in „La volonté de savoir“ analysierten Beichtpraktiken und die daran geknüpften pastoralen Geständnistechnologien zur Ermittlung individualisierender Wahrheitsdiskurse anschließen. Anders jedoch als in den Arbeiten Mitte der 70er Jahre, in denen Subjektivierung aus der Beobachterperspektive anhand disziplinarischer Übung und hermeneutischer Praktiken der Gewissensforschung ausschließlich als Unterwerfung beschrieben werden konnte, zielt die Genealogie des Pastorats nun nicht mehr allein auf die Geburt des gehorsamen Subjektes der Disziplin, sondern soll zugleich das Auftauchen der Problematik des freien Handlungssubjekts bestimmen. Die Außenperspektive des Historikers der Gouvernementalität konzentriert sich zu diesem Zweck auf die Geschichte der einsetzenden pastoralen Techniken und der Reflexionsformen über dieselben und die damit verbundene Geschichte ihrer fortwährenden Verfeinerungen.483 Foucault geht davon aus, dass diese mit der Etablierung des Christentums in Europa beginnt. Er konstatiert somit einen historisch qualitativen Bruch sowohl zur griechischen wie zur hebräischen Kulturtradition der Machtausübung. Denn erst mit dem Christentum etabliert sich die aus der hebräischen Tradition entnommene Figur des Hirten als allmächtige und sowohl universell wie zugleich für jeden Einzelnen verantwortliche autonome Instanz, die sich vom Recht und der Macht des Gesetzes differenziert. Diese Figur unterscheidet sich grundlegend von der des Politikers der Antike, dessen Macht sich weitgehend über die Rolle eines Koordinators von Interessen und Fähigkeiten innerhalb eines Gemeinwesens manifestiert.484 Sie muss aber nach

481 Vgl. ebd., S. 241. 482 Vgl. ebd., S. 183. 483 Vgl. ebd., S. 221. 484 Foucault verweist in diesem Zusammenhang auf Platons Politikos, wo die Figur des Hirten als untauglich für das Verständnis der Tätigkeit des Politikers verworfen wird und schließlich das Weberhandwerk als geeignetes Modell zum Ausgangspunkt der Erörterung genommen wird. Vgl. ebd., S. 214f; sowie Platon: Politikos. In: Sämtliche Werke, Bd. 5, hrsg. von Walter F. Otto, Ernesto Grassi und Gert Plamböck, Hamburg 1959, 261a,1ff (S. 15ff) bzw. 279a,3ff (S. 35ff).

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Foucault auch grundsätzlich gegen das hebräische Modell abgegrenzt werden. Denn während das Verhältnis von Hirte und Herde dort ein nahezu ausschließlich religiöses Verhältnis zwischen Gott und seinem Volk ist,485 schiebt sich im Gegensatz dazu im Christentum die Rolle des Pastors dazwischen. Die pastorale Macht etabliert damit auf der Interaktionsebene ein Autoritätsverhältnis, das auf der privilegierten Stellung und den damit verbundenen Aufgaben der Kirchenvertreter in der Rolle des Hirten gründet. An dieser Stelle beginnt für Foucault die Genealogie der modernen Gouvernementalität: „Die wirkliche Geschichte des Pastorats“, so Foucault, „als Ausgangspunkt eines spezifischen Typus der Macht über die Menschen, die Geschichte des Pastorats als Modell, als Matrix der Prozeduren der Regierung der Menschen, diese Geschichte des Pastorats in der abendländischen Welt beginnt erst mit dem Christentum.“486 Die Eigentümlichkeit des genealogischen Verfahrens macht es freilich erforderlich, die Geschichte des christlichen Pastorats über die Geburt seiner spezifischen Problematik hinaus auf seine Herkunft zu befragen. Der archäologische Zugriff auf das Hirtenmodell der hebräischen Tradition ermöglicht es ihm, in der bereits bekannten Weise eine Kontrastfolie zu entwerfen, auf der schließlich der spezifische Machttyp des christlichen Pastorats ersichtlich wird. Die wesentlichen Charakteristika des Pastorats in der hebräischen Tradition sind laut Foucault drei. Das Augenmerk des Hirten richtet sich nicht auf ein fixes Territorium, sondern auf die Herde als eine bewegte Multiplizität.487 Sie ist des Weiteren eine „wohltätige Macht“. Sie hat das „Heil der Herde“ im Blick und ist insofern Sorge um die Anderen. Der göttliche Hirte zeichnet sich demzufolge durch Wachsamkeit aus, eine seiner vordringlichsten Aufgaben ist die Überwachung der einzelnen Herdentiere.488 In diesem Sinne ist sie schließlich eine „individualisierende Macht“, weil der Hirte nicht nur die gesamte Herde lenkt, sondern sich zugleich um das Schicksal eines jeden Einzelnen kümmern muss. Sein Augenmerk richtet sich auf Omnes et singulatim, für deren jeweiliges Wohl – der gesamten Herde wie des einzelnen Schafes – er notfalls auch bereit ist, sich zu opfern.489 Der gute Hirte zeichnet sich in der hebräischen Tradition dadurch aus, dass er die Herde zu ihrem Heil führt, dass er zu diesem Zweck über das Gesetz

485 Vgl. Foucault (2004), a.a.O., Bd. 1, S. 186. 486 Ebd., S. 217. 487 Vgl. ebd., S. 187f. 488 Vgl. ebd., S. 188ff. 489 Vgl. ebd., S. 191ff; vgl. hierzu im Weiteren auch den Vortrag mit dem gleich lautenden Titel von 1979, Foucault (1981), a.a.O., Bd. 4, S. 168ff.

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verfügt und dass er die Wahrheit lehrt.490 Darin besteht zugleich seine Legitimation. Es ist die Legitimation Gottes. Mit dem Auftauchen des christlichen Pastorats als neue Machtform verschiebt sich jedoch diese Legitimationsbasis. Sie verlagert sich partiell von der Instanz Gottes auf die Ebene einer privilegierten Position innerhalb eines Interaktionsverhältnisses. Heil, Gesetz und Wahrheit gelten insofern nicht mehr als unzweifelhaft gegeben, sondern stehen am Horizont spezifischer Praktiken pastoraler Macht. Mit dem christlichen Pastorat entsteht somit eine neue Problematik, die sich in einer neuen Reflexionsform der Macht niederschlägt. Innerhalb des Interaktionsverhältnisses zwischen Pastor und Volk sind damit veränderte Auffassungen von Subjektivität und Intersubjektivität gefordert. Die christliche Figur der pastoralen Macht konstituiert spezifische Selbstverhältnisse aufseiten des Pastors wie aufseiten der Angehörigen der Herde und damit einhergehend auch ein entsprechendes Weltverhältnis, insbesondere in Bezug auf den jeweils Anderen. Foucault erläutert dies anhand des veränderten Status, den Heil, Gesetz und Wahrheit innerhalb des christlichen Pastorats zugewiesen bekommen. Da der christliche Pastor im Gegensatz zum göttlichen Hirten, der seine Anweisungen etwa in der Gestalt Mose seinem auserwählten Volk verkünden lässt, nicht über dessen Wissen verfügt, zugleich aber für das Heil aller und zugleich eines jeden verantwortlich ist, ist dieser zur Anwendung spezifischer Machtpraktiken genötigt. Seine Verantwortung verlangt von ihm ein detailliertes Wissen über jedes einzelne Mitglied der Herde, denn jedes Vergehen bzw. jeder Verdienst dieser Mitglieder geht auf sein Konto. Er ist damit gezwungen, sich notfalls für jeden Einzelnen zu opfern. Damit beruht der eigene Verdienst des Pastors paradoxerweise aber gerade auf den Schwächen der Herde, denn nur so kann er seiner Verantwortung gerecht werden.491 Der christliche Pastor unterliegt insofern einer komplexen moralischen Bindung an jedes Mitglied seiner Herde,492 er „[…] handelt in einer subtilen Ökonomie von Verdienst und Verfehlung, […] über die schließlich Gott entscheiden wird“.493 Damit ist der Pastor selbst, trotz seiner privilegierten Stellung innerhalb dieser Ökonomie der Macht, als ein unterworfenes Subjekt zu betrachten. Dies zeigt sich auch mit Blick auf die untergeordnete Funktion des Gesetzes für die Ausübung pastoraler Macht. Im Gegensatz etwa zur griechischen Tradition, in der die allgemein verbindliche Geltung des Geset-

490 Vgl. Foucault (2004), a.a.O., Bd. 1, S. 244. 491 Vgl. ebd., S. 245ff. 492 Vgl. Foucault (1981), a.a.O., Bd. 4, S. 178. 493 Vgl. Foucault (2004), a.a.O., Bd. 1, S. 252.

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zes auf dessen Achtung durch die Bürger eines Gemeinwesens basierte, verlangt die hebräische Tradition Gehorsam vor dem göttlichen Gesetz. Von beiden unterscheidet sich die christliche Pastoralmacht grundlegend. Sie verlangt nämlich den Gehorsam vor einem Willen. Der Pastor ist insofern nicht der „Mann des Gesetzes“, sein Handeln ist an den Willen Gottes geknüpft.494 Sein Verhältnis zum Anderen ist das einer „persönlichen Unterordnung“,495 eine „Beziehung integraler Abhängigkeit“.496 Das wesentliche Merkmal des christlichen Gehorsams ist damit die Unterwerfung eines Individuums unter den Willen eines anderen Individuums. Er ist nach Foucault ein Gehorsam ohne Zielrichtung, ein Gehorsam um des Gehorsams willen, der den Subjekten Demut und Knechtschaft abverlangt.497 Intersubjektivität wird so von vornherein hierarchisch strukturiert. Sie basiert nicht auf der Anerkennung des Anderen vor dem Hintergrund einer Achtung der universellen Geltung einer Regel, sondern wird in der Form einseitiger Unterwerfung vollzogen. Subjektivierung erfolgt im „[…] Modus der Individualisierung, die nicht nur die Affirmation des Ich durchläuft, sondern im Gegenteil seine Destruktion impliziert“.498 Entscheidend ist, dass sich damit zugleich notwendig der Ort der Wahrheit verschiebt. Diese besteht, anders als in der hebräischen Tradition, nicht mehr in der göttlichen Wahrheit, die es lediglich über die Schrift zu verkünden gilt. Der Ort der Wahrheit ist nun das Subjekt – des Pastors, der die Wahrheit lehrt, indem er sie an seinem Beispiel vorlebt,499 sowie jedes Einzelnen, um dessen Leben er sich kümmert, indem er sich um die Lenkung seines täglichen Verhaltens bemüht,500 bzw. dessen Gewissen er zum Gegenstand permanenter Erforschung und Leitung stilisiert.501 So erzwingt die pastorale Macht einen Wahrheitsdiskurs des Einzelnen über sich, der ihn mit demjenigen verbindet, der sein Gewissen leitet. Sie erhöht die Abhängigkeit gegenüber dem Anderen.502 Die Erkenntnis des Subjekts partikularisiert und individualisiert dieses zugleich.503

494 Vgl. ebd., S. 254. 495 Vgl. Foucault (1981), a.a.O., Bd. 4, S. 178. 496 Vgl. Foucault (2004), a.a.O., Bd. 1, S. 255. 497 Vgl. ebd., S. 258f. 498 Vgl. ebd., S. 262. 499 Vgl. ebd. 500 Vgl. ebd., S. 263. 501 Vgl. ebd., S. 265. 502 Vgl. ebd., S. 266. 503 Vgl. Foucault (1981), a.a.O., Bd. 4, S. 179.

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Was Foucault vor der Kontrastfolie der Formen griechischer wie hebräischer Machtdiskurse zeigen will, ist Folgendes: Das christliche Pastorat operiert unterhalb der allgemein verbindlichen Diskurse des Heils, des Gesetzes und der Wahrheit, indem es Technologien entwickelt, mit deren Hilfe es möglich wird, bis auf die Ebene des Einzelnen durchzugreifen. Seine Praktiken sind die der Individualisierung mittels der analytischen Identifikation über das Spiel der Verdienste und Verfehlungen, der Unterwerfung in der Form des unbedingten Gehorsams unter einen fremden Willen und der Erzeugung einer geheimen Wahrheit. „Analytische Identifikation, Unterwerfung, Subjektivierung, dies kennzeichnet die Prozeduren der Individualisierung, die in der Tat durch das christliche Pastorat und durch die Institutionen des christlichen Pastorats vollzogen werden“, so Foucault.504 Vor diesem Hintergrund erscheint das Pastorat als ein Präludium der modernen Gouvernementalität.505 Bis zu diesem Punkt führt Foucaults Reformulierung der Genealogie der Macht nicht wesentlich über den bereits Mitte der 70er Jahre skizzierten Befund hinaus. Sie beschreibt die Entstehungsgeschichte des gelehrigen und gehorsamen Subjektes, wie es für die Funktionsweise des Dispositives der Disziplin konstitutiv ist. Zugleich lenkt die genealogische Rekonstruktion der Geschichte der Gouvernementalität den Analyseraster jedoch auf einen weiteren Aspekt, der mit der Problematik des christlichen Pastorats in Erscheinung tritt: Mit der Transformation der Hirtengestalt auf die Ebene zwischenmenschlicher Interaktionsverhältnisse taucht nämlich zugleich die Frage nach der Legitimität der Besetzung der Hirtenposition auf. Die Geburt des christlichen Pastorats geht nämlich nicht nur mit dem Aufkommen der Problematik des richtigen Regierens seiner selbst und anderer einher, das Pastorat impliziert laut Foucault spätestens mit den Religionskriegen des 13. Jahrhunderts auch die Frage, „[…] wer tatsächlich das Recht haben soll, die Menschen zu regieren, […], wer diese Macht hat, von wem er sie erhält, wie er sie ausübt, mit welchem Spielraum an Autonomie für jeden einzelnen, mit welcher Qualifikation für diejenigen, die diese Macht ausüben, mit welcher Begrenzung ihrer Rechtsprechung, welche Gegenmittel man gegen sie einsetzen kann, welche Kontrolle von den einen über die anderen erfolgt“.506

Kurz: die Genealogie des Pastorats ist aufs Engste mit der Genealogie unterschiedlicher Formen des Widerstandes verknüpft. Und damit ist erstmals ange-

504 Foucault (2004), a.a.O., Bd. 1, S. 268. 505 Vgl. ebd. 506 Vgl. ebd., S. 219f.

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deutet, von woher das Sicherheitsdispositiv auf der Grundlage einer subjektiven Handlungsfreiheit herrühren könnte. Der systematische Ort, an dem Foucault dieses widerständige Moment lokalisiert, ist die Interaktionsebene, wie sie sich in der Gestalt pastoraler Macht selbst beschreiben lässt. Mit dem Auftauchen des christlichen Pastorats wird, wie gesehen, ein spezifisches Machtverhältnis impliziert, das sich in den Interaktionsformen zwischen Hirten und Herde niederschlägt. Im Zentrum dieser individualisierenden Macht des Pastorats steht die Problematik der Führung der Seelen in einem doppelten Sinne: Es geht um die Weise der Führung des konkreten Anderen und damit aber aus der Perspektive des Geführten auch um die Führung seiner selbst. ‚Führung‘ (conduite) bedeutet nämlich einerseits das Lenken des Verhaltens des Anderen, zugleich aber auch sich führen im Sinne von sich verhalten, also „[…] die Art, in der man geführt wird und in der man sich schließlich unter dem Einfluß einer Führung verhält, die ein Akt der Führung oder Leitung ist“.507 Foucault bereitet mit dieser Differenzierung des Begriffs der Führung eine strategische Weichenstellung vor. Sie ist fundamental für den weiteren Gang der genealogischen Rekonstruktion der Geschichte der Gouvernementalität. Anders als in den früheren Arbeiten zur Machtanalytik gelingt es nämlich nun, Subjektivierung nicht mehr ausschließlich als Unterwerfung zu denken. Denn wenn Führen nicht nur das Lenken der Führung eines Anderen im Sinne von „[…] ‚Führung zu lenken‘, also Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit von Verhalten zu nehmen […]“508 bedeutet, sondern zugleich auch dieses Verhalten selbst im Sinne von sich sowohl zur Führung seiner selbst wie zu einer Führung durch andere zu verhalten meint, dann geht mit dem Akt der Unterwerfung unter eine von außen vorgegebene Regel nun notwendig die Annahme einer minimalen Fähigkeit zur Selbststeuerung einher. Foucault scheint über den Doppelsinn des Terminus der Führung unter der Hand auf den klassischen Verhaltensbegriff zurückzugreifen, wie er sowohl in den Traditionslinien der philosophischen Anthropologie509 wie in der verstehenden Soziologie in Abgrenzung zum Handeln510 zum Tragen gekommen ist. Beiden gemein ist, dass sie Handeln als einen spezifischen Fall von Verhalten fassen, das sich gerade dadurch auszeichnet, dass es durch subjektiven Sinn motiviert ist. Zudem findet sich als eines der charakteristischen

507 Vgl. ebd., S. 280. 508 Vgl. Foucault (1982), a.a.O., Bd. 4, S. 286; vgl. hierzu auch Lemke (1997), a.a.O., S. 302ff. 509 Vgl. Fahrenbach (1985), a.a.O., S. 188ff. 510 Vgl. Weber (1921), a.a.O., S. 6.

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Merkmale für die Unterscheidung von Verhalten und Handeln bereits bei Max Weber, dass die Erklärung von Letzterem – darauf wurde weiter oben bereits hingewiesen – zumindest eine hypothetische Übernahme der Teilnehmerperspektive notwendig erfordert, während Ersteres sich aus der Außenperspektive beschreiben, bei Weber allerdings zugleich auch verstehen lässt.511 Obwohl Foucault, wie nicht anders zu erwarten, auf keine der beiden Theorietraditionen Bezug nimmt, kommt seine Verwendung des Begriffs des Verhaltens jenen doch recht nahe. Damit bahnt er sich den Weg, um Praktiken von nun an zumindest auf der Subjektposition als Verhalten fassen zu können. Dies eröffnet ihm unter methodischen Gesichtspunkten zweierlei: Es ist ihm einerseits möglich, weiterhin in der externen Beobachterperspektive zu verharren, weil sich die Führung von sich und anderen von außen als Verhalten beschreiben lässt. Er versucht damit weiterhin die Kategorie des Sinns einzuklammern und so den klassischen Handlungsbegriff außen vor zu lassen. Andererseits ist er nun aber auch in der Lage, über den Verhaltensbegriff auf der Subjektposition minimale Formen der Distanzierung von sich und anderen zu registrieren. Denn mit Verhalten wird schließlich immer eine Relation von etwas zu etwas gekennzeichnet, also etwa von einem Subjekt zum Anderen bzw. zu sich selbst, kurz: eine innere oder äußere Bewegung der Distanzierung von Sich-zu-etwas.512 Da Unterwerfung damit nun, im Gegensatz zu den früheren Arbeiten, immer an ein gewisses Maß von Freiwilligkeit bzw. Einverständnis geknüpft sein muss, wird nun ersichtlich, warum Macht, wie oben bereits angedeutet, auf die Existenz einer minimalen Freiheit angewiesen ist. Genau das unterscheidet sie ja von Herrschaft. Die pastorale Gestalt der Macht impliziert insofern zugleich erste rudimentäre Spuren ihrer Kritik und damit die prinzipielle Möglichkeit von Weigerung. Erst mit dieser systematischen Weichenstellung gelingt es Foucault, die Praktiken des Pastorats und die damit einhergehende Problematik des Regierens seiner selbst und der

511 Vgl. ebd.; sowie Max Weber (1913): Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie. In: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Johannes Winkelmann, Tübingen 71988, S. 427ff. An dieser Stelle unterscheidet Weber klar: „Menschliches (‚äußeres‘ wie ‚inneres‘) Verhalten zeigt sowohl Zusammenhänge wie Regelmäßigkeiten des Verlaufs wie alles Geschehen.“ (ebd. S. 427). Im Gegensatz dazu ist für die verstehende Soziologie Handeln „[…] ein Verhalten, welches 1. dem subjektiv gemeinten Sinn des Handelnden nach auf das Verhalten anderer bezogen, 2. durch diese seine sinnhafte Bezogenheit in seinem Verlauf mitbestimmt und also 3. aus diesem (subjektiv) gemeinten Sinn heraus verständlich erklärbar ist.“ (ebd. S. 429; Hervorhebungen i.O.). 512 Vgl. Fahrenbach (1985), a.a.O., S. 188.

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Anderen sowohl mit Blick auf deren spezifische Technologien der Unterwerfung wie unter strategischen Gesichtspunkten zugleich als ein Kräfteverhältnis zu analysieren. Die pastoralen Praktiken bilden den vorläufigen Ausgangspunkt, von dem aus Foucault versucht eine Genealogie der Freiheit zu entwerfen. Die forschungsstrategische Entscheidung, die pastorale Form der Verhaltensführung und die daran gebundenen Weisen, sich diesen zu widersetzen, zum Ausgangspunkt der genealogischen Rekonstruktion der modernen Problematik der Freiheit zu wählen, erlaubt es Foucault nun, sich von gängigen Modellen der Beschreibung von Widerstand abzugrenzen. Der Anspruch, den Analyseraster auf „[…] spezifische Revolten der Verhaltensführung […]“ zu fokussieren, die „[…] eine andere Verhaltensführung zum Zielobjekt haben, das heißt Andersgeführt-werden-wollen, durch andere Leiter (conducteur) und durch andere Hirten, zu anderen Zielen und zu anderen Heilsformen, mittels anderer Prozeduren und anderer Methoden […]“,513 bedeutet, dass im Zentrum des Interesses Formen von Widerständigkeit stehen, die sich gegen historisch-spezifische Praktiken der Individualisierung richten. Diese unterscheidet Foucault zunächst streng von Widerstandsformen gegen den Machtanspruch einer politischen Souveränität oder gegen ökonomische Ausbeutung.514 Davon verspricht sich Foucault zwei Vorteile. Er kann sich, wie schon in den früheren Arbeiten, dezidiert von Theorieansätzen abgrenzen, die gesellschaftliche Konflikte etwa in ökonomistischer Manier mithilfe eines universellen Modells des Klassenkampfes zu erklären suchen515 oder auf eine überhistorische menschliche Substanz zurückgreifen, die sich ihrer juridisch-politischen Repression erwehrt, wie dies etwa in den Theorien des Naturrechts der Fall ist. Zugleich erhofft sich Foucault von dieser Herangehensweise, die spezifische Quelle subjektiven Verhaltens gegen den individualisierenden Zugriff der Macht verorten zu können, von der her sich eine wesentliche Herkunfts- und Entstehungslinie desjenigen modernen Freiheitsverständnisses rekonstruieren lässt, das schließlich mit der Problematik des Regierens im 16. Jahrhundert schrittweise eine politische und ökonomische Dimension erhalten wird. Indem Foucault diese spezifische Linie individueller und kollektiver Verhaltensrevolten nachzuzeichnen sucht, entwirft er eine Genealogie des modernen Subjekts, die sich nun weitaus plausibler als in den früheren Arbeiten aus einer Dynamik von Konflikten rekonstruieren lässt. Er scheint nun tatsächlich in der Lage zu sein, auf ein überhistorisches Prinzip verzichten zu können. Der Ausgang der Geschichte der Gouvernementalität bei den pastoralen Macht-

513 Vgl. Foucault (2004), a.a.O., Bd. 1, S. 282. 514 Vgl. ebd.; sowie ebd. S. 290. 515 Vgl. ebd., S. 313.

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verhältnissen kann insofern als neuer Anlauf für ein Verständnis historischer Prozesse gelesen werden: „Der Gesichtspunkt der pastoralen Macht“, so Foucault, „der Gesichtspunkt dieser gesamten Analyse der Machtstrukturen erlaubt, denke ich, die Dinge nicht mehr in Form von Abbild und Übertragung, sondern in Form von Strategien und Taktiken wiederaufzunehmen und sie zu analysieren.“516 Die Art der Widerständigkeit, bei der Foucault ansetzt, muss, wie gesagt, innerhalb des spezifischen Interaktionsverhältnisses verortet werden, das mit der Problematik des Pastorats einhergeht. Diese mit der pastoralen Macht verschränkten Verhaltensrevolten richten sich nicht per se gegen den faktischen Sachverhalt, geführt zu werden, sie widersetzen sich einem spezifischen Führungsanspruch mit der Forderung, anders geführt werden zu wollen. Foucault spricht in diesem Zusammenhang von „Gegen-Verhalten“ (contre-conduite) im Sinne von „[…] Kampf gegen die zum Führen von anderen eingesetzten Verfahren […]“.517 Damit ist gemeint, dass diese Widerstandsformen sich eben nicht über ein Repressionsmodell erläutern lassen, sondern lediglich über eine spezifische Problematisierung gängiger Praktiken. Die Geschichte des Pastorats, die Foucault verfolgt, ist insofern eine Geschichte seiner Problematiken und der damit einhergehenden Krisen. Es ist die Geschichte von conduite und contreconduite, von der Führung des Verhaltens und Gegen-Verhaltens. Foucault erläutert dies historisch erstmals anhand der bereits bekannten Problematiken des Heils, des Gehorsams und der Wahrheit, wie sie sich als spezifische für das christliche Pastorat erwiesen hatten. Ihnen ordnet Foucault fünf Formen des Gegen-Verhaltens zu, „[…] die alle darauf abzielen, die pastorale Macht in der Ökonomie des Heils, in der Ökonomie des Gehorsams, in der Ökonomie der Wahrheit neu zu verteilen, umzukehren, aufzuheben, partiell oder total zu disqualifizieren […]“.518 Bezogen auf den Wahrheitsanspruch, sind dies die Mystik, die eine privilegierte Gotteserfahrung der pastoralen Macht infrage stellt und damit zugleich dieser den Zugriff auf die Wahrheit der eigenen Seele verweigert,519 sowie die Autorität der Heiligen Schrift, die das Privileg der Auslegung durch den Pastor infrage stellt.520 Das Heilsversprechen gerät insbesondere aufgrund der Vorbildfunktion des Pastors unter Verdacht und wirft damit die Frage

516 Ebd. 517 Vgl. ebd., S. 292. 518 Vgl. ebd., S. 296. 519 Vgl. ebd., S. 307ff. 520 Vgl. ebd., S. 309f.

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nach der richtigen Form der Gemeinschaft auf, die dahin führen könnte.521 In eschatologischen Glaubensüberzeugungen wird zudem die unmittelbare Ankunft des Erlösers und damit die Entlassung des Pastors präjudiziert.522 Beide Verhaltensweisen bezweifeln nicht nur die gängigen Praktiken der Führung zum Heil, sondern sind zugleich Formen der Gehorsamsverweigerung. Deren radikalste Form ist, laut Foucault, allerdings die der Askese als eine konsequente Übung des Selbst, das die Autorität des Anderen bei der Führung seiner selbst in letzter Konsequenz nicht mehr erforderlich macht.523 Allen fünf Weisen dieses Gegen-Verhaltens ist gemein, dass sie sich als Praktiken beschreiben lassen, die nicht auf eine wie auch immer geartete ursprüngliche subjektive Freiheit zurückgeführt werden müssen, sondern sie kennzeichnen eher so etwas wie eine Haltung der Distanzierung – ein Sich-Verhaltenzu-etwas. Diese Gestalten des Verhaltens und Gegen-Verhaltens innerhalb der pastoralen Macht des frühen Mittelalters bilden den Ausgangspunkt, von dem aus Foucault die Genealogie der Problematik des Regierens seiner selbst und anderer nachzeichnet, die sich in der Klassik vom 16. Jahrhundert an in unterschiedlichen Formen auf die verschiedenen Sphären des öffentlichen und privaten Lebens ausdehnt.524 Ihre eminent politische Bedeutung erhält sie, wie gesehen, in der Problematik der Staatsräson. Zugleich mündet sie über Reformation und Gegen-Reformation in die religiöse Spaltung der abendländischen Gesellschaft. Beide, die zentralisierte politische Macht mit der Staatsräson wie die zersplitterte religiöse Macht, lassen sich aufgrund der spezifischen Weise ihres Durchgriffs auf die Lebensführung des Einzelnen als Formen gleichzeitiger Totalisierung und Individualisierung beschreiben.525 Zugleich gehen mit diesen Problematiken des Regierens entsprechende Weisen des Gegen-Verhaltens einher. Mit dem Zeitalter der Aufklärung und dem Eintritt in die Moderne kommt in der Lesart Foucaults schließlich ein Gegen-Verhalten in seiner vorläufig letzten Gestalt als eine Haltung der Kritik zum Tragen.526 Vor diesem Hintergrund wird rückwirkend klar, welches Ziel Foucault verfolgt, wenn er Kants Kritikbegriff

521 Vgl. ebd., S. 301ff. 522 Vgl. ebd., 310f. 523 Vgl. ebd., S. 296ff. 524 Vgl. Foucault (1982), a.a.O., Bd. 4, S. 277ff. 525 Vgl. Foucault (1981), a.a.O., Bd. 4, S. 198. 526 Foucault zieht diese Linie explizit in dem Vortrag „Qu’est-ce que la critique?“ von 1978: „Es gibt ziemlich viele Wege, um die Geschichte dieser kritischen Haltung zu schreiben. Ich möchte Ihnen hier einen möglichen Weg vorschlagen – der von der christlichen Pastoral ausgeht.“ Vgl. Foucault (1990), a.a.O., S. 9.

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von seinen geltungstheoretischen Implikationen zu lösen versucht, um ihn zu einem Akt reflexiver Distanzierung von der eigenen Gegenwart umzuformatieren. Das Ethos der Moderne ist diese Haltung der Kritik, es ist nicht nur „[…] un discours de description, mais un discours de prescription“.527 Sie ist Aufklärung im kantischen Sinne als Ausgang aus selbst verschuldeter Unmündigkeit, was Foucault als „Unternehmen der Entunterwerfung gegenüber dem Spiel der Macht und der Wahrheit“ fasst.528 Damit ist Kritik als die ‚Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden‘, in den Horizont der jeweiligen Wissens- und Machteffekte eingebunden. Sie ist eine Praxis des spezifischen Fragens, die mit Bezug auf eine spezifische Form des Regierens erscheint.529 Foucaults Geschichte der Gouvernementalität erweist sich als ein umfangreiches Projekt historisch-kritischer Gesellschaftsanalyse. Er beansprucht, damit neben einer archäologischen Rekonstruktion der dominanten Dispositive der Macht, mit deren Hilfe sich wesentliche Momente der Strukturlogik moderner Gesellschaften bestimmen lassen, zugleich eine genealogische Beschreibung der Herkunft und Entstehung sozialer Praktiken samt der an sie geknüpften Subjektpositionen zu leisten. Die Geschichte der Gouvernementalität, verstanden als eine historische Ontologie der Gegenwart, umfasst somit die Genealogie des freien Handlungssubjektes der Moderne. Diese verläuft entlang der historischen Praktiken und der damit einhergehenden jeweiligen Interaktionsformen. Auf diese beiden Aspekte – Subjektpositionen und Interaktionsformen – soll im Folgenden noch etwas näher eingegangen werden.

527 Vgl. Foucault (2008a), a.a.O., S. 27. 528 Vgl. Foucault (1990), a.a.O., S. 18. 529 Vgl. Butler (2002), a.a.O., S. 256f. In dem letzten Vorlesungszyklus, den Foucault am Collège de France bis wenige Monate vor seinem Tod gehalten hat, deutete er an einer Stelle unter Rückgriff auf eine kynische Herkunftslinie des Gegen-Verhaltens eine lange, auf die individuelle Lebensführung bezogene Verbindung von der christlichen Askese bis zum Nihilismus, Anarchismus und Terrorismus des 19. Jahrhunderts und der Figur des zeitgenössischen Künstlers an. Letztere deutet er als Formen eines Lebensstils „comme scandale de la vérité“. Vgl. Michel Foucault (2009): Le Courage de la vérité. Le Gouvernement de soi et des autres II. Cours au Collège de France (1983-1984), Paris, S. 166ff ; hier S. 171.

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(2) Regieren der Anderen Als besonderer Vorzug der Gouvernementalitätsanalyse hat sich erwiesen, dass Foucault nun in der Lage ist, Machtverhältnisse unter zwei Gesichtspunkten rekonstruieren zu können. Sie lassen sich über Praktiken beschreiben, die einerseits den technologischen Regeln einer spezifischen historischen Rationalität folgen, die sich andererseits als Strategien von Handlungssubjekten lesen lassen, die mit einer minimalen Freiheit ausgestattet sind. Im Zentrum der Machtanalytik stehen Foucault zufolge die „[…] vielfältigen Praktiken einer ‚Gouvernementalität‘ […], die auf der einen Seite rationale Formen, technische Verfahren und Instrumentierungen voraussetzt, mittels derer sie ausgeübt wird, auf der anderen Seite strategische Spiele, die die Machtbeziehungen, die sie sichern sollen, instabil und umkehrbar machen“.530 Für die Gesellschaftsanalyse bedeutet dies Folgendes: Der technologische Aspekt der Macht eröffnet ihm die prinzipielle Möglichkeit, die Funktionsweisen gesellschaftlicher Makrostrukturen in den Blick zu bekommen, während der strategische Aspekt auf das Feld der Mikrostrukturen verweist. Damit werden institutionalisierte Machtverhältnisse von zwei Seiten her analysierbar, ja über diesen Weg lassen sich, so Foucault, Institutionen überhaupt erst als Resultanten von Machtbeziehungen beschreiben. Er fordert deshalb: „[…] man sollte Institutionen von den Machtbeziehungen her analysieren und nicht umgekehrt. Die eigentliche Verankerung der Machtbeziehungen ist außerhalb der Institutionen zu suchen, auch wenn sie in einer Institution Gestalt annehmen“.531 Bezüglich des strategischen Aspektes der Macht stellen sich damit aber erneut zwei Fragen, die bereits im Zusammenhang des Strategiebegriffs, wie er in der Machtanalytik Mitte der 70er Jahre verwendet wurde, aufgetaucht waren und bislang nicht befriedigend beantwortet werden konnten. Wie lassen sich Machtverhältnisse, wie sie auf der Makroebene mit Blick auf ihre technologische Funktionsweise beschrieben werden können, zugleich als Produkte einer Verkettung multipler Strategien begreifen? Und zugleich muss geklärt werden, inwiefern sich mithilfe des Gouvernementalitätsbegriffs Strategien, die nun explizit ein wie auch immer geartetes freies Handlungssubjekt voraussetzen, aus der Beobachterperspektive plausibel beschreiben lassen. Dies war Foucault bislang nicht befriedigend gelungen. Denn sein Versuch, die zunächst naheliegende Option eines Ausgriffs auf die Teilnehmerperspektive der Betroffenen auszusparen, hatte ihn zur Ontologisierung eines transhistorischen Kon-

530 Vgl. Foucault (1984b), a.a.O., Bd. 4, S. 713. 531 Foucault (1982), a.a.O., Bd. 4, S. 288.

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fliktmodells verleitet, was, wie gesehen, mit den eigenen methodischen Vorgaben einer radikalen Historisierung der Subjektivierungs- und Objektivierungsformen, also der Absage an einen überzeitlichen kategorialen Zugriff auf geschichtliche Prozesse, kaum zu vereinbaren war. Foucaults Umbau der Machtanalytik zur Gouvernementalitätsanalyse kann als Versuch interpretiert werden, diese Schwierigkeiten mit einem veränderten begrifflichen Instrumentarium erneut anzugehen. Im Zentrum der Problematik des Regierens steht die forschungsstrategisch entscheidende Einführung des Doppelbegriffs von conduite im Sinne von Führen/Verhalten. Die genealogische Rekonstruktion hatte die Problematik des Regierens seiner selbst und anderer in der historischen Durchsetzung der christlichen Pastoralmacht verortet. In der Figur dieses asymmetrischen Interaktionsverhältnisses, wie sie sich etwa paradigmatisch an der Praktik der Beichte festmachen lässt, taucht die Thematik der Verhaltensführung in genau jener zweifachen Bedeutung auf. In der Position des Leitenden handelt es sich dabei um ein Verhalten, das auf das Verhalten des Anderen, des Geführten also, einwirkt bzw. diesen dazu anleitet, sich in einer gewissen Weise zu verhalten. Der Beichtvater leitet das Beichtkind dazu an, seine Sünden und damit eine Wahrheit seiner selbst zu erforschen und diese ihm zu offenbaren. Diese institutionelle Form der Interaktion beinhaltet das Einüben einer Praktik. Diese dient einerseits der Gewissensforschung nach anerkannten Regeln der Wahrheitssuche und andererseits dem Zweck der Unterwerfung unter die Autorität des Beichtvaters und dessen Verhaltensanweisungen, sei es durch den Vollzug der auferlegten Praktik der Buße, sei es durch die Anerkennung verbindlicher Verhaltensregeln. An der Position des Geführten lässt sich diese Interaktion als ein Verhalten zum Verhalten des Anderen beschreiben, also als ein Auf-sich-selbst-Einwirken, um sich angemessen zu einem anderen Verhalten zu verhalten. Voraussetzung dafür ist die Annerkennung einer Regel durch beide Interaktionspartner. So vollzieht sich die Praktik der Beichte als regelkonformes Verhalten beider Akteure. Beichten bedeutet ebenso wie Buße tun die Unterwerfung unter eine anerkannte Regel. Allerdings verfolgt letztere Praktik zudem das Ziel, durch regelkonformes Verhalten zur Kompensation von nicht-regelkonformem Verhalten (Sünde) beizutragen. Interaktionsverhältnisse auf diese Weise zu beschreiben, hat zwei Vorteile. Foucault kann zunächst weiterhin aus der Beobachterperspektive operieren. Außerdem ist der Begriff des ‚Regierens‘ (gouverner) im Sinn von ‚Leiten/Verhalten‘ (conduir) mit dem relationalen, strategischen und produktiven Charakter der Macht, wie dieser in den früheren Arbeiten bestimmt wurde, weitgehend kompatibel. Mit dem Gouvernementalitätsbegriff lässt sich Macht weiterhin als Kräfteverhältnis fassen, also als „[…] die Tatsache, dass sie [die

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Macht/M.R.] Beziehungen zwischen Individuen (oder Gruppen) ins Spiel bringt“.532 Macht kann damit zugleich unter strategischen Gesichtspunkten analysiert werden. Dies scheint ja für den späten Foucault sogar ihr wesentliches Moment zu sein: „Macht heißt: strategische Spiele“, so Foucault pointiert.533 Und schließlich erlaubt es die Beschreibung von Interaktionsverhältnissen mit dem Begriffspaar Verhalten/Gegen-Verhalten, die damit verwobene Transformation der Subjekte, des Anderen wie seiner selbst, aus der Beobachterperspektive wertneutral als produktive Prozesse zu fassen, ohne mögliche Repressions- oder auch Befreiungserfahrungen, wie sie aus einer Teilnehmerperspektive erlebt werden könnten, berücksichtigen zu müssen. Es fragt sich allerdings, ob dieser methodische Zugriff auf die Dynamik von Interaktionsverhältnissen genügt, um Foucaults genealogisches Programm einer Geschichte der Gouvernementalität insoweit auszufüllen, dass es tatsächlich Herkunft und Entstehung des modernen Freiheitsbegriffs, wie er sich als konstitutiv für das Sicherheitsdispositiv der liberalen Regierungstechnologie erwiesen hat, plausibel nachzeichnen kann. Die archäologische Rekonstruktion konnte immerhin aufweisen, dass Freiheit ein historisch junger Begriff ist, der seinen systematischen Gehalt für das Subjekt erst in der Moderne erhält. Denn gerade die Freiheit ist freilich kein überhistorischer Universalbegriff, sondern in den zur Moderne gehörigen diskursiven wie nichtdiskursiven Praktiken verankert. Foucault betont daher ausdrücklich: „Man darf sich die Freiheit nicht als ein Universale vorstellen, das über die Zeit hinweg eine fortschreitende Vervollkommnung oder quantitative Variation oder mehr oder weniger schwerwiegende Beschneidung oder mehr oder weniger starke Verdunkelung aufwiese.“534 Insofern bleibt er gerade in der Frage der Freiheit ganz konsequent seinem nominalistischen Ansatz treu. Um damit aber nicht Sartres bohrenden Fragen nach den historischen Übergängen erneut Tür und Tor zu öffnen muss er zugleich zeigen können, wie diese Problematik historisch in Erscheinung tritt. Deshalb muss die Archäologie des modernen Regierens durch eine Genealogie der Freiheit ergänzt werden. Diese sollte darstellen können, wie die Problematik der Freiheit entsteht und auf welche historischen Positivitäten ihre Herkunft zurückzuführen ist. Foucaults Vorschlag einer genealogischen Rekonstruktion verläuft, wie bereits gesehen, genau entlang der Problematik des Regierens. „Die Freiheit“, so Foucault, „ist niemals etwas anderes – aber das ist schon viel – als ein aktuelles Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten, ein Verhältnis, bei dem das Maß des ‚zu wenig‘ an bestehender Freiheit durch das ‚noch

532 Vgl. Foucault (1983), a.a.O., Bd. 4, S. 282. 533 Foucault (1984h), a.a.O., Bd. 4, S. 899. 534 Foucault (2004), a.a.O., Bd. 2, S. 96f.

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mehr‘ an geforderter Freiheit bestimmt wird.“535 Von daher ist es nur konsequent, die Genealogie der Freiheit von dorther zu entwickeln, wo sich die Problematik des Regierens auf der Interaktionsebene zunächst erstmals zu stellen scheint – mit der Durchsetzung der christlichen Pastoralmacht.

Die Genealogie der Freiheit Die externe Beschreibung der Logik des christlichen Pastorats müsste also zeigen können, wie dieses asymmetrische Interaktionsverhältnis im Verlauf seiner historischen Transformation die Problematik moderner Freiheit produziert. Unter der Voraussetzung, dass die Teilnehmerperspektive ausgeschlossen bleibt und insofern weder eine negative Erfahrung von Repression noch eine positive von Befreiung, etwa im Sinne von Erweiterung des subjektiven Feldes von Möglichkeiten, berücksichtigt werden soll, ist nun allerdings schwer ersichtlich, nach welchem Maßstab die Produktivität dieses Machtverhältnisses dahingehend bewertet werden könnte. Diese Schwierigkeit hatte bereits weiter oben die Diskussion von Foucaults Postulat einer Produktivität der Macht gezeigt. Denn sobald die Geltungsproblematik der beschriebenen diskursiven wie nicht-diskursiven Praktiken eingeklammert bleibt, lässt sich Produktivität im Grunde nur noch anhand des neutralen Sachverhaltes der Veränderung registrieren. Ob dies nun aber ausgerechnet bei einem so dezidierten Wertbegriff wie der Freiheit hinreichend ist, erscheint, zumindest was den genealogischen Teil des Foucaultschen Vorhabens betrifft, fraglich. Denn während es für einen archäologischen Zugriff auf die Funktionsweise von Dispositiven durchaus legitim bleibt, die Funktion von Freiheit innerhalb einer historischen Formation aus der Beobachterposition zu bestimmen, erfordert die genealogische Rekonstruktion einen perspektivischen Zugriff auf vormoderne Interaktionsformen unter dem Gesichtspunkt des modernen Bedeutungsgehaltes des Freiheitsbegriffs. Erst dann lassen sich Praktiken des Regierens, die auf der Subjektposition als Verhalten bzw. Gegen-Verhalten gelesen werden sollen, nicht nur als neutrale Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen beschreiben, sondern in der Tat als Praktiken einer Produktion rudimentärer Gestalten von Freiheit. Unter dem Produktivitätsaspekt muss das durch die Pastoralmacht etablierte asymmetrische Interaktionsverhältnis daraufhin untersucht werden können, inwiefern durch das Einüben einer Praktik, wie zum Beispiel der Beichte, nicht nur

535 Ebd., S. 97.

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die Unterwerfung des Subjektes unter eine Regel stattfindet, also ein Subjekt der Unterwerfung im Sinne der oben diskutierten früheren Arbeiten Foucaults konstituiert wird, sondern Macht zugleich auch als „regulative Macht“ fungiert, indem das Einüben einer Regel dem angeleiteten Subjekt die Fähigkeit vermittelt, sozialen Regeln zu folgen.536 Unter diesem Gesichtspunkt könnte dann sogar die in modernen Augen als repressiv zu wertende Praktik der Beichte als freiheitsfördernd angesehen werden. Denn Regelwissen, als Wissen um ihre Geltung wie um die Regeln ihrer Anwendung, kann dem Subjekt in der Tat zugleich einen erweiterten Freiheitsspielraum eröffnen. Erst die Kenntnis einer Regel erlaubt deren produktive Anwendung wie auch den gezielten Regelverstoß. So ließe sich auch plausibel machen, was der Blick auf eine Genealogie der Freiheit in den verschiedenen historischen Formen des Verhaltens und Gegen-Verhaltens auszumachen sucht. Gegen-Verhalten ist eine Strategie, geltende Regeln anders zu benutzen und damit die Machtverhältnisse, die sie stabilisieren sollen, umzukehren. Foucault hatte dies, wie gesehen, für die mittelalterliche Pastoralmacht anhand der Problematiken des Heils, des Gehorsams und der Wahrheit zu verdeutlichen versucht. Es geht dabei nicht um eine abstrakte Weigerung gegen das Regiert-Werden in einem generellen Sinne, es geht darum, nicht so bzw. nicht dermaßen regiert zu werden. So war die Praktik der Askese in der Deutung Foucaults eine Technik, die eine von außen verordnete Verhaltensweise zu einer Art Selbstermächtigung über das eigene Selbst umfunktionierte und damit indirekt den unbedingten Gehorsam gegenüber dem Machtanspruch des Pastors verweigerte.537 Es drängt sich allerdings gerade anhand dieser Beispiele die Frage geradezu auf, ob die Beobachterperspektive nicht damit notwendig an ihre Grenzen stößt. Zwar lassen sich diese Praktiken von außen auf der Subjektposition weiterhin als Verhalten/Gegen-Verhalten beschreiben, trotzdem erscheint ein hypothetischer Perspektivenwechsel hin auf die Teilnehmerebene, das Geschäft der Beschreibung doch um einiges vereinfachen zu können. Eine methodische Ergänzung über einen hermeneutischen Zugriff, der an diesem Punkt danach fragt, welcher mögliche Sinn aus der Perspektive der durch ihr Verhalten in die Interaktionsverhältnisse eingebundenen Akteure möglicherweise aufscheint, brächte u.U. zu Tage, was ein Subjekt dazu antreiben konnte, sich mittels der Praktik der Askese gegen das Gehorsamsgebot des Pastors zu stellen. Ähnlich ließe sich auch die Beichtpraktik, sobald sie nicht allein von außen, sondern ergänzend aus der Binnenperspektive betrachtet wird, einerseits als das Einüben einer Praktik durch

536 Vgl. Detel (1998), a.a.O., S. 52. 537 Vgl. Foucault (2004), a.a.O., Bd. 1, S. 296ff.

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regelgeleitetes Verhalten beider Beteiligten beschreiben, zugleich könnte aber möglicherweise die Innensicht zeigen, welche Motivationen darin zum Tragen kommen. Das Abnehmen der Beichte und die damit verbundene Ausforschung des Gläubigen können ja durchaus mit der edlen Absicht verbunden sein, dadurch dessen Seelenheil zu retten. Ebenso kann der Beichtende diese Praktik als Hilfe erfahren, um sich von seinen Verfehlungen loszusagen, sich also unter Bezug auf eine als gültig anerkannte Regel entsprechend zu verhalten.538 Der springende Punkt für ein adäquates Verständnis von Gegen-Verhalten wäre dann aber, herauszufinden, wann der Vollzug einer solchen Praktik zu einer reaktiven Forderung des Nicht-so oder Nicht-dermaßen-regiert-werden-Wollens motiviert. Im konkreten Fall also: Unter welchen Bedingungen und aus welchem Anlass widersetzt sich das beichtende Subjekt der vorgegebenen Anwendung einer Regel? Sollen derartige Sachverhalte nun unter dem perspektivischen Zuschnitt einer Genealogie der Freiheit analysierbar sein, so scheint es unumgänglich, die jeweilige historische Geltungsproblematik mit zu berücksichtigen. Denn was die Außenperspektive als ein Gegen-Verhalten gegen eine Regierungsform beschreiben kann, muss, um jenes als ein Verhalten des So-nicht-, oder Nichtdermaßen-regiert-werden-Wollens fassen zu können, zugleich auf den darin enthaltenen Geltungsanspruch abgeklopft werden. Die spezifische Problematik der Freiheit ließe sich insofern innerhalb einer gegebenen Praktik nur dann ausmachen, wenn auf die Teilnehmerperspektive umgestellt wird. Denn schon die Verwendung des Wortes Freiheit beinhaltet nun mal explizit einen, wenn auch historisch variierenden Geltungsanspruch. Von daher ist es zwar möglich, Freiheit von außen als ein aktuelles Verhältnis von Regierenden und Regierten zu beschreiben, wie Foucault dies beabsichtigt, um jedoch den Maßstab, der innerhalb dieses Verhältnisses als zu wenig oder noch mehr an Freiheit angelegt wird, bestimmen zu können, ist die externe Beobachtung nicht hinreichend. Denn dieser kann erst anhand einer aktuellen Geltungsproblematik aus der Binnenperspektive registriert werden. Das Dass der Freiheit lässt sich insofern von außen als vorliegender historischer Sachverhalt in der Existenz ihrer Problematik beschreiben, das Was des dazugehörigen Forderungsgehaltes im Sinne eines ‚Wie-anders-regiert-werden-Wollens‘ kann aber nur über den hermeneutischen Einblick nach innen auf die Geltungsebene verstanden werden. In dieser Hinsicht ist Sartre zumindest bedingt Recht zu geben, wenn er aus der Teilnehmerperspektive heraus behauptet, Freiheit existiere nur in Situation.539

538 Vgl. Detel (1998), a.a.O., S. 45ff. 539 Vgl. Sartre (1943), a.a.O., S. 845.

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Handlungstheoretische Implikationen der strategischen Spiele Der späte Foucault scheint diese Schwierigkeit seines methodischen Zugriffs auf die Interaktionsebene gesehen zu haben. In modifizierter Gestalt hatte sie sich bereits weiter oben in der Diskussion seines Strategiebegriffs gestellt. Schon dort war mit seinem Versuch, Strategien allein aus der Beobachterperspektive als zwar intentional, aber nicht-subjektiv zu beschreiben, die Problematik einer fehlenden Binnenperspektive aufgeworfen worden. So kommt es nicht völlig überraschend, dass Foucault seinen Strategiebegriff in den letzten Jahren seines Schaffens neu formuliert hat. Dies zwingt ihn jedoch, über den bisher verwandten Verhaltensbegriff hinauszugehen und sich einem konventionellen Verständnis von Handlung zumindest anzunähern. Foucault unterscheidet nun drei Verwendungsweisen von Strategie. Er versteht nun unter Strategie erstens „[…] die Wahl der für ein Ziel eingesetzten Mittel“. Dieses weite Strategieverständnis bezieht sich sowohl auf Gegenstände wie auf Personen. Zweitens – und hier verweist Foucault ausdrücklich auf die Spieltheorie – ist eine Strategie „[…] ein Verhalten, bei dem die Partner ihr Verhalten auf das erwartete Verhalten der anderen und auf die eigenen Erwartungen hinsichtlich der Erwartungen der anderen abstellt“. Und schließlich drittens versteht er darunter ein konfrontatives Verfahren der Konfliktbewältigung nach der Logik des Kampfes, das dazu dient, „[…] den anderen seiner Kampfmittel zu berauben und ihn zur Aufgabe des Kampfes zu zwingen“.540 Dabei ist zu beachten, dass Foucault diese drei Verwendungsweisen nicht unabhängig voneinander bestimmt, sondern eine Stufenfolge skizziert. Die letzte Bedeutung von Strategie, die im Sinne der Wahl einer „‚gewinnenden‘ Lösung“, also auf Sieg in einer Auseinandersetzung, ausgerichtet ist, enthält demzufolge immer auch die beiden anderen Verwendungsweisen. Für die Analyse von Machtverhältnissen hat ein derart differenziertes Strategieverständnis zur Konsequenz, dass sich auch jene nun auf unterschiedlichen Ebenen beschreiben lassen müssen. Unter Rückgriff auf die erste, von Foucault als zweckrational gekennzeichnete Verwendungsweise lassen sich Strategien als „[…] die Gesamtheit der Mittel bezeichnen, die eingesetzt werden, um das Funktionieren oder den Bestand eines Machtdispositivs zu sichern“. Die zweite Bedeutung beinhaltet „[…] die Einwirkung auf das mögliche und erwartete Handeln anderer […]“.541 Mit dieser Formulierung knüpft Foucault unmittelbar an den Regierungsbegriff im Sinne der Verhaltensführung an. Macht setzt dabei die

540 Vgl. Foucault (1982), a.a.O., Bd. 4, S. 291. 541 Vgl. ebd., S. 292.

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Möglichkeit von Widerstand gegen das Regiert-Werden notwendig voraus. In der dritten Verwendung fungiert Strategie daher gewissermaßen als Grenzbegriff der Macht. Denn in dem Augenblick, in dem eine Kampfstrategie ihr Ziel erreicht und den Sieg erringt, ist die Widerstandsfähigkeit des Anderen weitgehend gebrochen. „Da es keine Machtbeziehung ohne Widerspenstigkeit geben kann, auf die sie per definitionem keinen Einfluss hat, kann jede zur Brechung dieser Widerspenstigkeit eingesetzte Intensivierung oder Erweiterung der Machtbeziehung die Machtausübung nur an ihre Grenze führen und zwar entweder in einen Handlungstyp, der den anderen zu völliger Ohnmacht verdammt (Machtausübung wird dann ein ‚Sieg‘ über den Gegner) oder in einer Umkehrung, die aus den Regierten Feinde macht“, so Foucault.542

Macht schlägt an diesem Punkt also entweder um in Herrschaft – oder unmittelbar in Krieg. Bemerkenswert an dieser Neubestimmung des Strategiebegriffs sind zwei Dinge: 1. War Strategie in den früheren Machtanalysen ausschließlich vom Kriegsmodell und die ‚Hypothese Nietzsches‘ her gedacht, so benutzt Foucault diesen Terminus nun auch zur Beschreibung anderer Interaktionsformen. An den so erweiterten Strategiebegriff werden aber offensichtlich unterschiedliche Handlungslogiken geknüpft. Während die erste, allen anderen zu Grunde liegende Strategie der Wahl der geeigneten Mittel für ein gewünschtes Ziel auf Typen instrumentellen Handelns verweist, lässt sich die zweite Strategieverwendung im Sinne des Regierens anderer in der habermasschen Terminologie als strategisches Handeln beschreiben. Und was die dritte Strategiestufe angeht, die im Grunde einen Herrschaftsanspruch mit dem Ziel, bestehende Interaktionsregeln außer Kraft zu setzen, verfolgt, so kann auch diese als Sonderfall strategischen Handelns verstanden werden. Allen drei Verwendungsweisen ist somit gemein, dass sie mit entsprechenden Handlungsbegriffen korrelieren. Die Ablösung des Konfliktmodells durch das Regierungsmodell geht insofern mit der Verwendung des erweiterten Strategiebegriffs Hand in Hand. Denn erst auf dieser begrifflichen Grundlage können Interaktionsbeziehungen generell als strategische Spiele zwischen mehr oder weniger freien Handlungssubjekten gedacht werden, die sich nicht notwendig blockieren, sondern eher gegenseitig provozieren und antreiben. „Statt von einen wesenhaften ‚Antagonismus‘ sollten wir hier besser von

542 Ebd., S. 292f (Hervorhebung i.O.).

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‚Agonismus‘ sprechen […]“, so Foucault.543 Damit steuert die Analytik der Macht aber unversehens auf einen Punkt zu, an dem zumindest ein partieller Perspektivenwechsel hin zu einer Handlungstheorie gefordert scheint. Die externe Beschreibung von Strategien hinterlässt einen blinden Fleck, der nur über die Teilnehmerperspektive sichtbar gemacht werden könnte. 2. Was der externe Zugriff auf Interaktionsverhältnisse nun über einen reformulierten Strategiebegriff zu Tage fördert, kommt auf verblüffende Weise dem nahe, was Sartre aus der Binnenperspektive entwickelt hatte. Indem Foucault Machtverhältnisse nun als strategische Spiele fasst, an denen sich Formen des Regierens von sich und anderen ablesen lassen, sind, wie gesehen, zwei Implikationen eingeführt. Machtverhältnisse setzen Freiheiten voraus. Und Machtverhältnisse lassen sich deshalb zugleich als instabile Gleichgewichte beschreiben, die unter dem Gesichtspunkt von Konflikt-Strategien darauf hinauslaufen können, die Freiheit eines der beteiligten Interaktionspartner infrage zu stellen. Foucault konstatiert dies unmissverständlich: „Macht kann nur auf ‚freie Subjekte‘ ausgeübt werden, insofern sie ‚frei‘ sind – und damit seien hier individuelle oder kollektive Subjekte gemeint, die jeweils über mehrere Verhaltens-, Reaktions- oder Handlungsmöglichkeiten verfügen. Wo die Bedingungen des Handelns vollständig determiniert sind, kann es keine Machtbeziehungen geben.“544 Sartre hätte dies aus einer subjektiven Handlungsperspektive kaum anders formulieren können. So hatte er in „L’être et le néant“ zu zeigen versucht, dass das Verhältnis zum Anderen im Modus wechselseitiger Verdinglichung und damit einer jeweils versuchten Stillstellung von Freiheit erfahren wird. Ein unter ontologischen Gesichtspunkten von vornherein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen allerdings, da der Andere dann nicht mehr als Anderer im Sinne einer anderen Freiheit vorhanden wäre. Denn die Verdinglichung des Anderen verwandelt die auf Wechselseitigkeit basierende Machtbeziehung in ein einseitiges instrumentelles Verhältnis zu einer toten Faktizität. Und die Verdinglichung durch den Anderen wiederum transferiert Macht zur Erfahrung von Herrschaft.545 Auch

543 Ebd., S. 287. 544 Ebd. 545 Es ist geradezu frappierend, wie nahe Foucaults Außenperspektive an diesem Punkt an Sartres Binnenperspektive heranreicht. So beschreibt der frühe Sartre die Problematik einer Stillstellung der Freiheit eines der beiden Interaktionspartner, wenn auch ohne das Wort Macht zu gebrauchen, folgendermaßen: „[…] die Möglichkeiten eines Objekt-Andern sind tote-Möglichkeiten, die auf andere objektive Aspekte des Anderen verweisen; die eigentliche Möglichkeit, mich als Objekt zu erfassen, das

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Sartres spätere Neuformulierung von Intersubjektivität in den Termini gesellschaftlicher Praxis geht, wie gesehen, was die Machtkomponente betrifft, nicht wesentlich über diese Struktur hinaus. Sie lässt sich aus der Teilnehmerperspektive nur durch einen strategischen Handlungsbegriff erläutern. Die Einführung des Regierungsmodells verschiebt nicht nur den Strategiebegriff innerhalb der Analytik der Macht. Wie sich bereits aus einigen Zitaten entnehmen lässt, stellt Foucault den Strategien nun, was vor dem Hintergrund seiner bisherigen Vorgehensweise erstaunlich ist, in der Tat einen Handlungsbegriff zur Seite. Macht wird nun auf der Interaktionsebene nicht mehr allein als strategisches und produktives Kräfteverhältnis gefasst, sondern als die Verkettung von Handlungen. „Die Ausübung von Macht“, so Foucault, „ist keine bloße Beziehung zwischen individuellen oder kollektiven ‚Partnern‘, sondern eine Form handelnder Einwirkung auf andere.“546 Foucault bietet damit eine neue Beschreibungsweise von Machtverhältnissen an und er legt fast nahe, damit endlich den aus seiner Sicht adäquaten Modus gefunden zu haben, wenn er nun konstatiert: „Macht existiert nur als Handlung, auch wenn sie natürlich innerhalb eines weiten Möglichkeitsfeldes liegt, das sich auf dauerhafte Strukturen stützt.“547 Wenn Machtverhältnisse sich nun aber über Handlungen vollziehen sollen, dann muss zunächst geklärt werden, in welcher Weise dies für die jeweiligen Handlungsformen zutrifft. Foucault bestimmt die den Machtverhältnissen spezifische Handlungsweise über eine zweifache Abgrenzung. Der Gegenstand der Machtanalytik, auf das sich auch das Regierungsmodell konzentriert, ist die soziale Macht. Diese unterscheidet Foucault in systematischer Hinsicht von Macht im Sinne von techni-

Möglichkeit eines Subjekt-Andern ist, ist für mich aktuell Möglichkeit von niemandem: sie ist absolute Möglichkeit […] des Auftauchens auf dem Hintergrund einer totalen Vernichtung des Objekt-Andern, eines Subjekt-Andern, den ich über meine Objektivität-für-ihn erfahre.“ Vgl. Sartre (1943), a.a.O., S. 529. Aus der Beobachterperspektive betrachtet, liest sich das bei Foucault so: „Wenn einer von beiden vollständig der Verfügung des anderen unterstünde und zu dessen Sache geworden wäre, ein Gegenstand, über den dieser schrankenlose und unbegrenzte Gewalt ausüben könnte, dann gäbe es keine Machtbeziehungen. Damit eine Machtbeziehung bestehen kann, bedarf es also auf beiden Seiten einer bestimmten Form von Freiheit.“ Vgl. Foucault (1984h), a.a.O., Bd. 4, S. 890. 546 Foucault (1982), a.a.O., Bd. 4, S. 285. 547 Ebd. (Hervorhebung M.R.).

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schem Know-how zur Bearbeitung der objektiven Welt.548 Instrumentelles Handeln für sich konstituiert insofern noch keine soziale Machtbeziehung. Andererseits sind soziale Beziehungen nicht notwendig Machtbeziehungen. Deshalb grenzt er davon Kommunikationsbeziehungen ab, „[…] die über eine Sprache, ein Zeichensystem oder ein anderes symbolisches Medium Informationen übertragen“.549 Foucault macht keinen Hehl daraus, dass er an die habermasschen Typisierungen von instrumentellem, strategischem und kommunikativem Handeln anzuknüpfen versucht.550 Im Unterschied zu Habermas sieht Foucault jedoch das wesentliche Kennzeichen von Kommunikation offensichtlich in der Informationsübertragung, also in denjenigen Momenten von Sprechhandlungen, die in der Sprechakttheorie als lokutionäre Akte551 klassifiziert werden. Die illokutionären und perlokutionären Aspekte werden von ihm hingegen dem Bereich des strategischen Handelns zugeschlagen. Kommunikatives Handeln, verstanden als verständigungsorientiertes, im Modus der Reflexion auf die zwanglose Kraft von Argumenten bauendes sprachliches Handeln, würde bei Foucault somit eher als Kunst der Überredung gefasst und damit weitgehend mit strategischem Handeln zusammenfallen. Im Grunde sind für ihn Kommunikationsbeziehungen – ebenso wie instrumentelle Fähigkeiten – de facto in Reinform gar nicht zu haben, sondern immer schon mit Machtwirkungen imprägniert. Sie setzen „[…]

548 Vgl. ebd., S. 281f. 549 Vgl. ebd., S. 282. 550 Foucault bezieht sich hier offensichtlich auf die Differenzierung von Arbeit, Sprache und Herrschaft als Medien, in denen sich erkenntnisleitende Interessen bilden, wie Habermas diese in seinen frühen Schriften trifft. Vgl. etwa Jürgen Habermas (1965): Erkenntnis und Interesse. In: ders., Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘, a.a.O., S. 159ff. Zu Foucaults Deutung vgl. auch Foucault (1993), a.a.O., S. 202, wo er allerdings unter Verweis auf Habermas neben „techniques of production“, „techniques of signification“ und „techniques of domination“ zusätzlich noch „techniques of the self“ unterscheidet; ähnlich auch Michel Foucault (1988a): Technologien des Selbst (Technologies of the self. In: Patrick H. Hutton/Huck Gutman/Luther H. Martin (Hg.), Technologies of the self. A Seminar with Michel Foucault, Amherst, S. 1649); hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S. 968; sowie Michel Foucault (1981a): Sexualität und Einsamkeit (Sexuality and Solitude. In: London Review of Books, Bd. III, Nr. 9, 21.5.-3.6.1981, S. 3, 5 und 6); hier zitiert nach: Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S. 210f. 551 Vgl. hierzu: John L. Austin (1972): Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with words), Stuttgart, S. 112ff.

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zweckrationales Handeln voraus […] und schon weil sie den Informationsstand der Partner verändern, induzieren sie Machteffekte“,552 so Foucault. Insofern handelt es sich bei seiner Unterscheidung um eine rein analytische, denn „Machtbeziehungen“, „Kommunikationsbeziehungen“ und „objektive Fähigkeiten“ sowie die mit ihnen einhergehenden Handlungsweisen sind keine getrennten Bereiche der Realität. „Es handelt sich hier um drei Arten von Beziehungen, die in Wirklichkeit eng miteinander verschränkt sind, sich gegenseitig stützen und einander als Instrument dienen“, betont Foucault.553 Soziale Macht, wie sie sich in Institutionen niederschlägt, kommt demzufolge unter handlungstheoretischen Gesichtspunkten sowohl vermittelt durch instrumentelle wie kommunikative Akte zum Zug. Der Zweck der Unterscheidung von Handlungstypen dient allein dazu zu zeigen, dass soziale Macht sich vorrangig über das strategische Handlungsmodell beschreiben lässt.554 Damit kann Foucaults Machtanalytik Regieren im Sinne von Führen/Verhalten (conduire) auf zwei Weisen beschreiben: Einerseits als Strategie innerhalb eines bestehenden Kräfteverhältnisses, andererseits als Handeln. Machtbeziehungen stellen sich dann als eine „[…] handelnde Einwirkung auf Handeln, auf mögliches oder tatsächliches, zukünftiges oder gegenwärtiges Handeln […]“555 dar. Unklar ist allerdings, welche methodischen Konsequenzen die Einführung des Handlungsbegriffs bei Foucault hätte haben können. Soweit dies bislang absehbar ist, hat er die gesellschaftsanalytische Funktion des Handlungsbegriffs für sein Forschungsprogramm nicht weiter ausgeführt. Zwar deutet er an, dass „Herrschaftsbeziehungen über die Dinge“, „Handlungsbeziehungen zu den anderen“ und „Beziehungen zu sich selbst“ – also drei Weisen eines Welt- oder Selbstverhältnisses, die sich nun auch in einem Handlungsmodell fassen lassen – auf die drei Achsen des Wissens, der Macht und der Ethik556 verweisen und sich insofern in den oben skizzierten Bezugsrahmen der Ontologie der Gegenwart einordnen las-

552 Vgl. Foucault (1982), a.a.O., Bd. 4, S. 283. 553 Ebd., S. 282. 554 Ich folge hier der Argumentation von McCarthy; vgl. Thomas McCarthy (1991): Die Kritik der unreinen Vernunft. Foucault und die Frankfurter Schule. In: ders., Ideale und Illusionen. Dekonstruktion und Rekonstruktion in der Kritischen Theorie, Frankfurt/M. 1993, S. 95f. Einen Versuch, die Positionen von Foucault und Habermas in dieser Frage einander anzunähern, unternimmt Ingram; vgl. David Ingram (1994): Foucault and Habermas on the subject of reason. In: Gutting (Hg.), a.a.O., S. 215-261. 555 Vgl. Foucault (1982), a.a.O., Bd. 4, S. 285. 556 Vgl. Foucault (1984d), a.a.O., Bd. 4, S. 705.

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sen, zugleich wird aber nicht so recht ersichtlich, ob Foucault nun Handeln möglicherweise doch als ein mit individuellem Sinn geladenes zielgerichtetes Tun verstehen will und damit tatsächlich auf die Binnenperspektive umzusteuern gedenkt. Dass die Analyse konkreter Machtverhältnisse neben institutionellen Voraussetzungen wie sozialer Status oder ökonomische Position (System der Differenzierungen) und Regelsystemen oder Dispositiven (Formen der Institutionalisierung) sowie dem Arsenal der zur Verfügung stehenden Mittel (instrumentelle Modalitäten) nun auch die „Art der Ziele“ bei der Einwirkung des Handelns auf das Handeln anderer berücksichtigen soll,557 deutet zumindest darauf hin, dass die Teilnehmerperspektive nicht mehr völlig unberücksichtigt bleiben könnte. Andererseits ist es denkbar, dass Foucault davon ausgeht, dass sich auch Handlungen, ebenso wie er dies bei Strategien versucht, ausschließlich aus der Beobachterperspektive erfassen lassen. Festzuhalten bleibt zumindest so viel: Das Regierungsmodell erlaubt Foucault eine Genealogie der Macht zu skizzieren, die ohne das sozialontologische Konfliktmodell der frühen Machtanalytik auskommt. Damit steuert er aber genau besehen endgültig auf die Frage zu, inwiefern die institutionellen Strukturen sozialer Macht der Makroebene auf den strategischen Spielen der Macht in den Interaktionsbeziehungen der Mikroebene ruhen. Was der archäologische Zugriff über die Dispositivanalyse und die technologische Seite der Rationalität der Macht im historischen Schnitt beschreiben kann, muss sich als Produkt der Macht zugleich in seiner Herkunft und Entstehung aus der Genealogie der Interaktionsformen als die historische Abfolge unterschiedlicher Praktiken des Regierens seines Selbst und anderer einsichtig machen lassen. Wenn diese Machtbeziehungen auf der Mikroebene nun als eine „[…] Form von Handeln, die nicht direkt und unmittelbar auf andere, sondern auf deren Handeln einwirkt […]“,558 beschreibbar sein sollen, müsste sich die Geschichte institutionalisierter Machtverhältnisse streng genommen dann nicht zugleich über eine Rekonstruktion von Handlungsketten einsichtig machen lassen? Das aber war, wie gesehen, eine Schwierigkeit, an der Sartre mit seinem konsequent binnentheoretischen Ansatz notwendig scheitern musste. Foucaults Regierungsmodell kann diese Problematik offenbar nur umgehen, indem er den mit einem klassischen Handlungsbegriff notwendig verbundenen binnentheoretischen Aspekt weiter ausklammert. Damit käme aber auch der Versuch, Machtbeziehungen als strategische Spiele zu beschreiben, an seine Grenzen. Zwar ist es möglich, die Logik von konkreten Interaktionsverhältnissen unter diesem Gesichtspunkt zu skizzieren, ihre explana-

557 Vgl. Foucault (1982), a.a.O., Bd. 4, S. 289f (Hervorhebung i.O.). 558 Vgl. ebd., S. 285.

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torische Reichweite bliebe aber an die historischen Existenzbedingungen der untersuchten Interaktionsform gebunden. Der Anspruch, Machtdispositive als Resultate einer Verkettung von Strategien zu erfassen, wie es Foucaults frühe Machtanalytik zeitweise intendierte, kann auf diesem Weg vermutlich nicht eingelöst werden. Insofern scheint die gesellschaftsanalytische Kraft von Foucaults Methode vor allem im archäologischen Zugriff auf vorherrschende Rationalitätsformen und die daran geknüpften Problematiken und Praktiken zu liegen. Mit der Annäherung des Regierungsmodells an eine handlungstheoretische Analysetechnik handelt sich Foucault zudem ein methodologisches Problem ein. Die Beschreibung von Machtbeziehungen als strategische Spiele rekurriert offensichtlich auf die Existenz freier Handlungssubjekte im modernen Sinne. Auch wenn sich moderne Interaktionsverhältnisse generell als Formen strategischen Handelns nur unzureichend erfassen lassen, da dadurch wesentliche Dimensionen einer wechselseitigen normativen Zuschreibung der Interaktionspartner unterschlagen werden müssen, gelingt Foucault damit zumindest ein adäquater Zugriff auf den machtgesteuerten Aspekt sozialer Beziehungen. Und um den geht es ihm ja schließlich. Wie gesehen, beansprucht Foucault allerdings, die Genealogie der modernen Freiheitsproblematik innerhalb der Geschichte der Gouvernementalität von den Machtpraktiken des christlichen Pastorats her zu rekonstruieren. Zu diesem Zweck hatte sich das Konzept des Führens/Verhaltens (conduite) als geeignet erwiesen, um in historischen Weisen des GegenVerhaltens spezifische Gestalten von Widerstand in den Blick zu bekommen. Spätestens mit einer Verschränkung von Führen mit einer Konzeption von Handeln, mit deren Hilfe Führen als handelndes Einwirken auf anderes Handeln aufgefasst werden kann, drängt sich aber die Frage auf, ob Foucault damit nicht gezwungen ist, ein überhistorisches Intelligibilitätsprinzip einzuführen. Denn selbst wenn sich Handeln von außen hinreichend beschreiben lassen sollte, kann der Verdacht nicht von der Hand gewiesen werden, dass damit nicht mehr Entstehung und Herkunft einer historisch konkreten Gestalt im genealogischen Sinne nachgezeichnet wird, sondern die Abfolge von Variationen einer universalen Struktur. Damit würde die Geschichte der Gouvernementalität aber nicht mehr ihrem eigenen Anspruch, eine Genealogie der Freiheit zu bieten, gerecht werden, sie wäre dann die Geschichte ihrer Formveränderung. Foucault würde damit aber hinter den eigenen Anspruch eines methodologischen Nominalismus zurückfallen. Er würde nämlich eine Problematik der Moderne zurück in die Geschichte projizieren. Diesen Vorwurf hatte der Archäologe des Wissens aber zu Recht gerade gegenüber dem Praxisphilosophen Sartre erhoben. So wie es aussieht, stößt Foucaults Geschichte der Gouvernementalität, ähnlich wie das machtanalytische Verfahren Mitte der 70er Jahre, auf der strategi-

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schen Ebene der Machtanalytik an die Grenzen der eigenen Methode. Die Beobachterperspektive verlangt von einem bestimmten Punkt an eine Ergänzung durch den Blick der handelnden Teilnehmer. Zugleich scheint der nominalistische Ansatz einer radikalen Historisierung genötigt zu sein, mit der Unterstellung einer überhistorischen Handlungsstruktur auf ein formales Erklärungsprinzip zurückzugreifen. Dies, so ist zu vermuten, dürfte auf die intendierte Geschichte der Subjektivität nicht ohne Rückwirkungen bleiben.

(3) Regieren des Selbst Die Geschichte der Gouvernementalität hatte es erlaubt, einerseits einige Strukturbestimmungen moderner Mechanismen der Macht über die archäologische Analyse ihrer Dispositive zu leisten und andererseits aus der Logik von Interaktionsformen, ausgehend vom frühmittelalterlichen Pastorat, ansatzweise eine Genealogie der Freiheit zu rekonstruieren. Dabei hatte sich bereits angedeutet, dass die Geschichte der Gouvernementalität in ihrer Komplexität nur dann erfasst werden kann, wenn die zugleich mitlaufende Geschichte des Subjektes im Blick behalten werden kann. Die Darstellung von Foucaults Reformulierung der Geschichte der Macht als eine Geschichte der Gouvernementalität war daher nicht ohne mehrfachen Verweis auf die nun zu skizzierenden jeweiligen historischen Subjektpositionen ausgekommen. Als theoriestrategische Anschlussstelle, an der Gouvernementalitätsgeschichte und Subjektgeschichte zumindest partiell ineinanderzugreifen scheinen, bietet sich der Analyseraster des Führens/Verhaltens (conduire) an, mit dessen Hilfe Foucault ein Sich-Verhalten gegenüber anderem Verhalten bzw. eines handelnden Einwirkens auf anderes Handeln zu beschreiben sucht. Denn an diesem Punkt treffen sowohl die mit genealogischen Mitteln zu rekonstruierende Geschichte der Praktiken wie die über einen archäologischen Zugriff zu erfassenden jeweils daran gebundenen Problematisierungen aufeinander. Die bisherige Darstellung legte nahe, dass Foucault sich an diesem Punkt zumindest begrifflich in die Nähe einer Handlungstheorie begibt. Anhand der Geschichte der Subjektivität, verstanden als eine Geschichte der Selbstpraktiken und der damit einhergehenden historischen Weisen der Problematisierungen des Selbst, soll nun versucht werden zu klären, wie weit Foucaults Beobachterperspektive reicht, um Formen von Selbstverhältnissen zu beschreiben. Die Frage ist also, ob er tatsächlich ohne einen Umstieg auf die Teilnehmerperspektive auskommt.

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Die Fokussierung des Erkenntnisinteresses auf die „[...] in unserer Kultur erfolgte Herstellung und Veränderung der ‚Beziehungen zu sich selbst‘ samt ihrem technischen Apparat und ihren Auswirkungen auf das Wissen […]“559 erfordert im Zuge des Übergangs von der Geschichte der Gouvernementalität hin zu einer spezifischen Geschichte der Subjektivierungsweisen zumindest eine Verschiebung der Beobachterperspektive, also eine Modifikation des Bobachtungsstandortes wie des Beobachtungsobjektes: „Man könnte das Problem auch der ‚Gouvernementalität‘ unter einem anderen Blickwinkel angehen, nämlich dem der Herrschaft über sich selbst im Zusammenhang mit den Beziehungen zu den anderen (wie wir sie in der Pädagogik, den Ratgebern zur Lebensführung, der spirituellen Anleitung oder den Anweisungen für ein vorbildliches Leben finden)“, so Foucault.560 Um diese Perspektive auszubuchstabieren, unternimmt er in den frühen 80er Jahren einen neuen Anlauf. Dabei versucht Foucault nun die Subjektachse, also die dritte Dimension der Ontologie der Gegenwart, näher zu bestimmen, indem er sie weit über die historische Figur des Pastorats hinaus zurückverfolgt. Damit verlagert Foucault zunächst seinen Untersuchungsgegenstand weiter zurück in die Geschichte und erweitert somit erneut die Reichweite seiner historischen Analysen. Anders als bis in die Mitte der 70er Jahre, in denen er sich weitgehend auf das 17. und 18. Jahrhundert konzentriert hatte, die ihm einerseits als Kontrastfolien zur Gegenwart dienten, andererseits als eine Zeitspanne, die bis an die Schwelle zur Moderne reichte und dazu geeignet erschien, um mit genealogischen und archäologischen Mitteln eine Geschichte der Gegenwart zu schreiben, hatte Foucault bereits in der Geschichte der Gouvernementalität den Zeithorizont verschoben, indem er einerseits das Mittelalter und die Praktiken des Pastorats ausführlicher als bislang berücksichtigte, andererseits den Versuch einer Analyse des neoliberalen Dispositivs unternahm und damit bis in die Gegenwart ausgriff. Mit den kurz vor seinem Tod erschienenen Bänden zwei und drei der „Histoire de la sexualité“ bewegt sich Foucault nun historisch noch weiter zurück, indem er sich dem klassischen Zeitalter der griechischen Antike des 4. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung bzw. der römischen Kaiserzeit im 1. und 2. Jahrhundert nach Christus zuwendet.561 Wie bereits im 1. Band der „Histoire de la sexualité“ geht es Foucault auch hier nicht um eine Ge-

559 Vgl. Michel Foucault (1981b): Subjektivität und Wahrheit (Subjectivité et vérité. In: Annuaire du Collège de France, 81e année, Histoire des systèmes de pensée, année 1980-1981, Paris 1981, S. 385-389); hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S. 260. 560 Ebd. 561 Vgl. Foucault (1984), a.a.O., S. 20.

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schichte der Sexualität im Sinne einer Geschichte der sexuellen Verhaltensweisen oder Praktiken, sondern genau genommen um die Frage, auf welche unterschiedlichen Weisen sexuelles Verhalten seit der Antike als Problem angesehen wird, das sich in ethischen Diskursen niederschlägt.562 Sexualität ist insofern eine von Foucault gezielt ausgewählte Problematik, anhand der sich die jeweiligen historischen Verhältnisse der Akteure zu sich selbst beschreiben lassen sollen. Anhand der jeweiligen Existenzweisen dieser Problematiken lassen sich historische Selbstverhältnisse nachzeichnen, die einerseits an spezifische Wahrheitsdiskurse, andererseits an entsprechende Praktiken der Einwirkung auf sich selbst, also an spezifische Technologien des Selbst gebunden sind. Mit Blick auf die jeweiligen Formen der Problematisierung ist die Geschichte der Sexualität insofern als eine Geschichte der Wahrheit, bezüglich der angewandten Praktiken als eine Geschichte der Selbsttechniken zu begreifen. Insofern dient die archäologisch-genealogische Rekonstruktion des Sexualitätsdispositivs der Moderne einer Genealogie des modernen Subjektes. Anders als im 1. Band der „Histoire de la sexualité“ Mitte der 70er Jahre geht es aber nicht mehr nur darum, die Weisen der Subjektivierung, verstanden als Unterwerfung unter historische MachtWissens-Komplexe zu beschreiben, sondern nun auch darum, den damals offengebliebenen Aspekt der Konstitution des Selbst innerhalb dieses Prozesses der Unterwerfung in eine Geschichte der Wahrheit zu integrieren. Foucault fragt nun danach, welche Subjektpositionen historisch auftauchen und welche Praktiken und Wahrheitsansprüche damit verbunden sind. Demzufolge gilt es zu analysieren, „[…] was als ‚das Subjekt‘ bezeichnet wird; es sollte untersucht werden, welches die Formen und die Modalitäten des Verhältnisses zu sich sind, durch die sich das Individuum als Subjekt konstituiert und erkennt“.563 Anders gesagt: Die Geschichte der Selbsttechniken soll zeigen, wie das bislang fraglich gebliebene prekäre Verhältnis von Regelbefolgung und Regelanwendung zu denken ist.

Der Analyseraster der Geschichte der Subjektivität Das diskursive Material, das Foucault auswählt, um es mit Blick auf die darin thematisierten Problematiken und Praktiken zu analysieren, besteht weitgehend aus unterschiedlichen Gattungen von Ratgeberliteratur. Es handelt sich dabei

562 Vgl. ebd., S. 18f. 563 Vgl. ebd., S. 12.

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zumeist um „‚präskriptive‘ Texte“, die insofern „[…] Regeln, Hinweise, Ratschläge für richtiges Verhalten geben wollen […]“.564 Was Foucault daran interessiert, ist entlang welcher, in historisch unterschiedlichen Kontexten thematisierten Problematiken und Praktiken sich moralische Subjekte in Bezug auf eine vorgegebene Regel konstituieren. Es geht ihm „[…] um die Art und Weise, wie man sich führen und halten – wie man sich selbst konstituieren soll als Moralsubjekt, das in bezug auf die den Code konstituierenden Vorschriften handelt“.565 Um diesen Moment einer historisch bedingten Selbstkonstitution des Subjekts ins Visier zu bekommen, entwickelt Foucault ein eigenwilliges Beschreibungsmodell. Foucault versteht unter Moral drei auszudifferenzierende Dimensionen. Er unterscheidet zunächst die präskriptiven Elemente der Moral, den „Moralcode“, verstanden als ein Ensemble von Werten, Verhaltensregeln, Geboten und Verboten, vom tatsächlich beobachtbaren „Moralverhalten“ der Akteure. Und jenseits davon ist schließlich das „Moralsubjekt“, das auf unterschiedliche Arten „moralisch ‚sich zu führen‘“ weiß,566 zu isolieren. Diese, Foucault eigentlich interessierende, von ihm in der Regel als ethisch bezeichnete, dritte Dimension der Moral unterzieht er einer weiteren kategorialen Unterteilung. Er unterscheidet in „ethische Substanz“, „Unterwerfungsweise“, „ethische Arbeit“ und „Teleologie“.567 Mit „ethischer Substanz“ meint Foucault „[…] die Art und Weise, in der das Individuum diesen oder jenen Teil seiner selbst als Hauptstoff seines moralischen Verhaltens konstituieren soll“.568 Es handelt sich also grob gesagt um den Gegenstand einer moralischen Problematisierung. Unter der „Unterwerfungsweise“ versteht Foucault „[…] die Art und Weise, wie das Individuum sein Verhältnis zur Regel einrichtet und sich für verpflichtet hält, sie ins Werk zu setzen“.569 Gemeint sind damit im weitesten Sinne die verschiedenen Begründungs- und Rechtfertigungsformen für die Akzeptanz der Regelgeltung und damit der Legitimität ihrer Anwendung. Die „ethische Arbeit“ umfasst die Formen der Einwirkung auf sich selbst, um sich nicht nur als regelkonformes, sondern vor allem als moralisches Subjekt seiner Lebensführung verstehen zu können570 – also die jeweiligen Selbstpraktiken. Und schließlich beinhaltet die „Teleologie“ des Moralsubjektes den mit moralischen Handlungen bezweckten Lebenswandel als inten-

564 Vgl. ebd., S. 20. 565 Vgl. ebd., S. 37. 566 Vgl. ebd., S. 36f. 567 Vgl. ebd., S. 37ff; ähnlich Foucault (1983), a.a.O., Bd. 4, S. 476ff. 568 Vgl. Foucault (1984), a.a.O., S. 37. 569 Vgl. ebd., S. 38. 570 Vgl. ebd.

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dierte Seinsweise des Subjektes.571 Gegenstand und normative Rechtfertigung der Problematisierung, Praktiken der Konstitution und Realisierung der Seinsweise des Moralsubjektes – was Foucault an einer Stelle mit Bezug auf sexuelles Verhalten in der Antike bezieht, fungiert generell als der kategoriale Rahmen zur Beschreibung der dritten, ethischen Dimension der Moral: „So wird man fassen können, was die Moralerfahrung der sexuellen Lüste strukturiert – ihre Ontologie, ihre Deontologie, ihre Asketik und ihre Teleologie.“572 Der Analyseraster, den Foucault mit dieser kategorialen Einteilung aufspannt, ist geeignet, unterschiedliche historische Existenzweisen moralischer Subjektivität zu erfassen. Er dient weder einer vergleichenden Rekonstruktion historischer Moralsysteme noch einer moraltheoretischen Bewertung ihrer jeweiligen Geltung. Weder die Form noch der Inhalt moralischer Urteile ist von Interesse. Ziel ist die Beschreibung der jeweiligen Typen moralisch-praktischer Subjektivität, die sich damit verbinden. Im Zentrum der Analyse stehen daher die „Subjektivierungsweisen“ (modes de subjectivation) und die dazugehörenden „Selbstpraktiken“ (pratiques de soi). Denn, so Foucault: „Die moralische Handlung ist nicht zu trennen von diesen Formen der Einwirkung auf sich selber, die von einer Moral zur anderen nicht weniger unterschiedlich sind als das System der Werte, Regeln und Verbote.“573 Der forschungsstrategische Vorteil dieses Analyserasters: Er ist grob genug, um über weit auseinander liegende Zeiträume gelegt zu werden, zugleich ist er aber fein genug, um noch unterhalb vermeintlich konstant geltender moralischer Codes auf der Ebene der Ethik verlaufende Transformationen des Selbst zu registrieren. Der Grund: Foucault geht davon aus, dass die vier Aspekte der Ethik in relativer Autonomie zueinander bestehen, dass es demzufolge „[…] zugleich gewisse Beziehungen untereinander und eine gewisse Unabhängigkeit für jeden von ihnen […]“ gibt.574 Das heißt: Sie können jeweils spezifischen historischen Modifikationen unterworfen sein. So kann Foucault einerseits konstatieren, dass die moralischen Codes zwar seit der Antike „[…] letzten Endes um einige recht einfache und wenige Verbote kreisen […]“, und zugleich fragen, „[…] wie unterhalb der Kontinuität die Übertragung oder die Modifizierung der Codes, die Formen des Verhältnisses zu sich (und die damit verbundenen Selbstpraktiken) definiert, modifiziert, umgearbeitet und diversifiziert worden sind“.575 Die methodische Unterscheidung zwischen Code-

571 Vgl. ebd., S. 39. 572 Ebd., S. 51. 573 Vgl. ebd., S. 40. 574 Vgl. Foucault (1983), a.a.O., Bd. 4, S. 478. 575 Vgl. Foucault (1984), a.a.O., S. 44.

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Elementen und Askese-Elementen (Ethik) erlaubt es Foucault zudem, davon auszugehen, dass historisch auftauchende Moralen entweder eher Code-orientiert, wie zum Beispiel im Christentum oder eher Ethik-orientiert, wie im Fall der Antike funktionieren.576 Innerhalb des unvollendet gebliebenen Forschungsprogramms einer Geschichte der Subjektivität dient dieser Analyseraster dazu, zunächst nach dem bekannten archäologischen Verfahren drei historische Schnitte zu setzen. Foucault nutzt ihn im 2. Band der „Histoire de la sexualité“ zur Beschreibung ethischer Selbstverhältnisse in der griechischen Antike des 4. Jahrhunderts vor Christus. Der 3. Band setzt den Schnitt in der Zeit des römischen Kaiserreichs in den ersten beiden Jahrhunderten unserer Zeitrechnung. Der dritte hätte den Anschluss an die bereits weiter oben in der Geschichte der Gouvernementalität skizzierte Subjektivierungsweise des christlichen Pastorats leisten können. Da der geplante 4. Band, der unter dem Titel „Les Aveux de la chaire“ erscheinen sollte, von Foucault zwar fertig gestellt, aber zu seinen Lebzeiten nicht mehr veröffentlicht wurde, lässt sich dieser Schnitt lediglich anhand von Fragmenten aus bislang publizierten Texten rekonstruieren.577 Die zugleich mitlaufende Genealogie des Subjektes konzentriert sich derweil darauf, entlang gegebener Selbstpraktiken die damit verbundenen Verschiebungen der Problematiken in den jeweiligen Selbst- und Weltverhältnissen zu protokollieren. Hierfür wählt Foucault in den vorliegenden beiden Bänden ein „Themenviereck der sexuellen Strenge“, in dem sich das Verhältnis des männlichen Subjektes der griechischen Klassik sowie des römischen Kaiserreichs zu sich und anderen niederschlägt: die Beziehung zum eigenen Körper (Diätetik), zum anderen Geschlecht (Ehe und Haushalt/Oikonomik), zum eigenen Geschlecht (Knabenliebe/Erotik) und zur Wahrheit (Philosophie).578

576 Vgl. ebd., S. 42. 577 Da Foucault die nachträgliche Veröffentlichung von zu seinen Lebzeiten unveröffentlichten Manuskripten testamentarisch untersagt hat, existiert bislang lediglich ein von ihm 1982 publizierter Auszug des geplanten 4. Bandes. Vgl. Michel Foucault (1982a): Der Kampf um die Keuschheit (Le combat de la chasteté. In: Communications 35: Sexualité occidentale, Mai 1982, S. 15-25; hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S. 353-368); weitere Hinweise zu diesem Themenkomplex finden sich u.a. in: Foucault (1983), a.a.O., Bd. 4, S. 482f; Foucault (1988a), a.a.O., Bd. 4, S. 989ff; Foucault (1993), a.a.O., S. 210ff. 578 Vgl. Foucault (1984), a.a.O., S. 32; S. 45; S. 50; S. 123.

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Archäologie der ethischen Selbstverhältnisse Die Archäologie der drei genannten Zeitalter fördert hinsichtlich der Problematisierung und Regulierung sexuellen Verhaltens ein breites Spektrum diskursiver und nichtdiskursiver Praktiken zu Tage. Für die griechische Antike stellt Foucault Folgendes fest: Als Gegenstand der Problematisierung, also als ethische Substanz, lässt sich die aphrodísia ausmachen. Dabei gilt es festzuhalten, dass in der griechischen Antike damit im Unterschied zu einem Verständnis von Sexualität im modernen Sinne ein gänzlich anderer, weitaus umfangreicherer Realitätstyp benannt ist, der sich nicht nur auf „Liebesdinge“ oder „Fleischeslust“,579 sondern ebenso etwa auf Ernährungsfragen erstreckt. „Die aphrodísia sind Akte, Gesten, Berührungen, die eine bestimmte Form von Lust verschaffen“, so Foucault.580 Sexuelle Beziehungen und Handlungen sind insofern lediglich ein Teil jener Realität, auf den diese referiert. Gegenstände moralischer Beunruhigung sind bei den Griechen laut Foucault allerdings weder Lust und Begehren noch der Akt an sich, sondern die Dynamik bzw. die Kraft, die sie verbindet.581 Diese ist in der Lage, das Subjekt zu überwältigen, so dass es nicht mehr Herr der eigenen Handlung ist. Die ontologische Problematik lustvoller Praktiken stellt sich deshalb unter einem quantitativen und einem qualitativen Gesichtspunkt: bezüglich der Intensität der Praktiken einerseits und der dabei eingenommenen Akteurperspektive andererseits. Was die Intensität angeht, gilt es einen übermäßigen Gebrauch der Lüste zu vermeiden, die ethische Substanz provoziert also die Anforderung der Mäßigung, um Exzesse zu verhindern.582 Zudem ist zwischen aktiver und passiver Rolle, also zwischen Subjekt- und Objektposition innerhalb einer Praktik zu unterscheiden. Das ontologische Feld der aphrodísia verlangt aktive und passive Akteure. Es differenziert die Subjektposition des freien Mannes von der Objektposition der Frauen, Knaben und Sklaven.583 Die antike Moral ist eine Männermoral, die Exzess und Passivität als moralische Verfehlung männlicher Subjekte qualifiziert. Die Frage nach dem richtigen Gebrauch der Lüste verweist damit direkt auf die entsprechende Unterwerfungsweise des antiken Subjektes. Laut Foucault werden die gültigen Regeln der chrêsis aphrodisíon in der griechischen Klassik

579 Vgl. ebd., S. 49f. 580 Ebd., S. 54 (Hervorhebung i.O.). 581 Vgl. ebd., S. 58f. 582 Vgl. ebd., S. 59f. 583 Vgl. ebd., S. 63f.

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jedoch nicht durch einen Code moralischer Ge- und Verbote vorgegeben, die moralische Reflexion konzentriert sich darauf, „[…] die Bedingungen und die Modalitäten eines ‚Gebrauchs‘ auszuarbeiten […]“.584 Die antike Moral verkörpert daher kein universelles Gesetz, das die Lüste kodifiziert oder gar unterdrückt, es ist eine Moral, die das Bedürfnis anerkennt und die Mäßigung als kunstvolle Gestaltung individueller Lusterfahrung erachtet. Die Reflexion über den richtigen Umgang mit den Lüsten sorgt sich daher um die adäquate Intensität des Bedürfnisses, den richtigen Moment seiner Befriedigung und um die dem Status der Person angemessene Weise des Gebrauchs der Lust.585 Die mit der ethischen Substanz und der Unterwerfungsweise aufgeworfenen Problematisierungen verweisen freilich auf Praktiken, die das männliche Subjekt der griechischen Antike konstituieren. „Und dazu bedarf es“, nach Foucault – und dies ist ihm zufolge die entscheidende Differenz zur christlichen Moral –, „nicht eines maßgeblichen Textes, sondern einer téchne, einer Praxis, einer Geschicklichkeit, die unter Beachtung der allgemeinen Grundsätze die Handlung in ihrem Augenblick, in ihrem Kontext und im Hinblick auf ihre Ziele leitet. In dieser Moral konstituiert sich also das Individuum nicht dadurch als ethisches Subjekt, daß es die Regel seiner Handlung verallgemeinert; sondern im Gegenteil durch eine Haltung und eine Suche, die seine Handlung individualisieren und modulieren und ihr sogar einen einzigartigen Glanz geben können, in dem sie ihr eine rationale und reflektierte Struktur verleihen.“586

Damit sind bereits die beiden anderen Komponenten der Ethik benannt: die Haltung, auf der die ethische Arbeit basiert, und die daran gebundene Teleologie – die angepeilte ethische Seinsweise des Subjektes. Letztere zielt auf die individuelle Gestaltung einer Ästhetik der Existenz. Die ethische Anforderung besteht gewissermaßen darin, aus dem eigenen Leben ein Kunstwerk zu machen. Was Foucault hier von außen zu beschreiben sucht, ist also das Selbstverhältnis des antiken männlichen, freien Individuums. Es beinhaltet, aus der Binnenperspektive gedacht, eine Distanzierung von sich zum Zweck einer ethischen Bearbeitung seiner selbst auf ein formulierbares Ziel des Seinwollens hin. Sartre hatte diese Figur des zielgerichteten Überschreitens seiner selbst qua Negation auf einen anderen Zustand hin handlungstheoretisch als Entwurf charakterisiert. Vom externen Standpunkt Foucaults aus lässt sich diese handlungstheoretisch

584 Vgl. ebd., S. 71. 585 Vgl. ebd., S. 72ff. 586 Ebd., S. 82f.

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universell verstehbare Struktur in ihren politisch-historischen Kontext einbetten. Unter Berücksichtigung der sozialen Implikationen ist es so möglich, das antike Selbstverhältnis als polemische Haltung gegenüber sich selbst zu erläutern, die mit dem Ziel der Meisterung seiner Lüste eine ethische Arbeit als aktive Form der Selbstbeherrschung und Selbstkontrolle erfordert. Der Vorteil dieser Herangehensweise besteht vor allem darin, dass materiale Diskurse in der Gestalt konkreter historischer Problematisierungen mit zur Beschreibung herangezogen werden müssen und damit Subjektgestalten in ihrer spezifischen Historizität in Erscheinung treten. Das antike Selbstverhältnis lässt sich somit als Zweikampf mit sich selbst fassen. Enkráteia und áskesis – die polemische Haltung gegenüber sich und die Arbeit an sich – sind die konstitutiven Momente einer agonistischen Beziehung, innerhalb der eine Schlacht um die Macht über sich selbst tobt.587 Im Zentrum der ethischen Arbeit an sich steht daher die Übung. Dabei ist das Selbst nicht als etwas zu verstehen, das erkannt werden muss, es ist etwas, das sich übend gestaltet. Foucault geht nicht zuletzt deshalb davon aus, dass es in der griechischen Antike kein Subjekt im modernen Sinne gegeben hat. „Die klassische Antike kannte keine Problematisierung der Selbstkonstitution als Subjekt […]“, betonte Foucault in einem späten Interview.588 Das Üben ist weder isoliert als Mittel zu einem Zweck zu begreifen – die áskesis ist bereits die „[…] Praxis dessen, worin man sich üben soll […]“589 –, noch ist sie eine Kunst zur spezifischen Gestaltung des eigenen Selbst. Sie ist eine Praxis des Regierens seiner selbst, die nach demselben Modell funktioniert wie das Regieren der Anderen: des oikos oder der polis. Wer das eine nicht kann, kann auch das andere nicht. Das Üben soll den freien Mann zu Tugend und Macht befähigen. „Die Leitung seiner selbst gewährleisten, die Verwaltung seines Hauses ausüben, an der Regierung der Polis teilnehmen – das sind drei Praktiken desselben Typs“, so Foucault.590 Das Telos der ethischen Lebensführung wird insofern bereits mit dieser Praxis vollzogen. Sie ist gewissermaßen ein immer wieder von Neuem Sich-Üben im Regieren seiner selbst – und damit auch der Fähigkeit zum Regieren der Anderen. Die angestrebte Seinsweise ist die eines freien Selbst. Bezogen auf sich, bedeutet Freiheit für das antike Individuum nicht die Unabhängigkeit eines frei-

587 Vgl. ebd., S. 88. 588 Foucault (1984i): Die Rückkehr der Moral. (Le retour de la morale. In: Les Nouvelles littéraires 2937, 28. Juni - 5. Juli 1984, S. 36-41); hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S. 872. 589 Vgl. Foucault (1984), a.a.O., S. 99. 590 Ebd., S. 101.

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en Willens, Freiheit meint Herrschaft über sich und damit das Gegenteil von Selbstversklavung.591 Sie ist zudem die aktive Freiheit des Mannes gegenüber Frauen, Sklaven und Kindern. Insofern entfaltet sich das Verhältnis zum Anderen weitgehend in der Dichotomie von aktiv-passiv, von Regierendem und Regierten und ist damit eminent politisch.592 Und schließlich meint Freiheit in der Antike Selbstbeherrschung im Sinne der Unterwerfung unter den lógos. Und das in dreifacher Hinsicht: strukturell, indem die Praktiken der Mäßigung befördern, dass der lógos im Menschen in eine souveräne Stellung gebracht wird; instrumentell, indem sie dadurch die Voraussetzungen dafür schaffen, dass das individuelle Handeln sich an einer praktischen Vernunft orientieren kann; und ontologisch durch die Anerkennung des lógos in sich selbst: Selbsterkenntnis beinhaltet somit Zugang zu Wahrheit und Schönheit.593 Das antike Verhältnis zu sich und anderen ist zugleich ein ethisches und ein ästhetisches. Die ethische Arbeit an sich ist konstitutiver Bestandteil einer als erstrebenswert angesehenen Seinsweise im Modus einer Ästhetik der Existenz. Diese erlaubt es, in Übereinstimmung mit der Wahrheit zu leben, indem sich das Individuum in die ontologische Ordnung einfügt. Demzufolge basiert die antike Moral für Foucault anders als die christliche nicht auf einem die Subjekte zu Gehorsam verpflichtenden Regelwerk, sondern sie stellt eine lose Ansammlung von Prinzipien zur Orientierung der individuellen Lebensführung und -gestaltung bereit. Es wird ein Individuum als Subjekt konstituiert, das einer souveränen Regelanwendung fähig ist. Unter der Ästhetik der Existenz ist ihm zufolge „[…] eine Lebensweise zu verstehen, deren moralischer Wert nicht auf ihrer Übereinstimmung mit einem Verhaltenscode und auch nicht auf einer Reinigungsarbeit beruht, sondern auf gewissen Formen oder vielmehr auf gewissen allgemeinen formellen Prinzipien im Gebrauch der Lüste, auf ihrer Aufteilung, Begrenzung und Hierarchisierung. Durch den lógos, durch die Vernunft und durch das Verhältnis zum Wahren, von dem es sich bestimmen läßt, fügt sich so ein Leben in die Erhaltung oder die Reproduktion einer ontologischen Ordnung ein; andererseits empfängt es den Glanz einer Schönheit in den Augen derer, die es betrachten oder in ihrer Erinnerung bewahren können“.594

Der Vorzug der Archäologie ist, dass sie in der Lage ist, das griechische Subjekt in seinem Selbst- und Weltverhältnis als ein ganz und gar historisch bestimmtes

591 Vgl. ebd., S. 104. 592 Vgl. ebd., S. 109ff. 593 Vgl. ebd., S. 114ff. 594 Ebd., S. 118 (Hervorhebung i.O.).

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zu beschreiben. Und die Verlagerung des Analyserasters im 3. Band der „Histoire de la sexualité“ auf die römische Kaiserzeit des 1. und 2. Jahrhunderts zeigt deutlich, welche Verschiebungen das archäologische Verfahren auf der Ebene des Moralsubjektes innerhalb von rund 500 Jahren protokollieren kann. Zwar ist es immer noch die aphrodísia, die Gegenstand moralischer Beunruhigung ist. Die ethische Substanz wird nach wie vor in den Kategorien des Kampfes gegen eine überwältigende Kraft gedacht. Doch der Fokus des moralischen Interesses liegt nun weniger auf den Techniken der Meisterung dieser Kräfte als vielmehr auf den Schwächen des Individuums, den Gefahren, denen es dadurch ausgesetzt ist, seiner Zerbrechlichkeit und den Erfordernissen seines Schutzes. Ebenso lässt sich anhand der Unterwerfungsweise, insbesondere bezüglich der sozialen Stellung des Moralsubjektes, eine bemerkenswerte Modifikation feststellen. Es ist zwar weiterhin gefordert, „[…] daß das Individuum sich einer gewissen Lebenskunst unterwirft, welche die ästhetischen und ethischen Kriterien der Existenz definiert; doch diese Kunst bezieht sich mehr und mehr auf allgemeine Grundsätze der Natur oder der Vernunft, in die sich alle gleichermaßen schicken müssen, was immer auch ihr Stand sei“.595 Es handelt sich also zwar faktisch noch immer um eine Unterwerfungsweise des freien, männlichen Individuums, doch besteht nun, zumindest prinzipiell, der Anspruch, auch andere Gesellschaftsmitglieder dieser Subjektivierungsweise zu unterziehen. Die ethische Arbeit besteht zudem weiterhin in der Praxis des Übens und der Gestaltung des Lebens, die Selbsterkenntnis ist in der Kaiserzeit jedoch zur vorrangigen Problematik geworden, auf die sich die Aufmerksamkeit richtet. Die askésis erhält, im Kontrast zur griechischen Antike, eine autonome Bedeutung,596 sie dient der gezielten Ertüchtigung und Erkundung seiner selbst, indem sie spezielle Techniken des Trainings, der Meditation, der Gewissensforschung und der Gedankenkontrolle entwickelt.597 Sie „[…] versetzt die Frage der Wahrheit – der Wahrheit dessen, was man ist, dessen, was man tut, und dessen, was man zu tun vermag – ins Zentrum der Konstitution des Moralsubjektes“.598 Das Telos besteht schließlich weiterhin in der souveränen Meisterung seiner selbst. Das Subjekt der Kaiserzeit begnügt sich dabei aber nicht mit der Beherrschung der aufrührerischen Kräfte des Begehrens; Souveränität meint nun den Besitz seiner selbst und der Freude an sich.599 Die Ästhetik der Existenz wandelt sich insofern bis zur Kaiserzeit in eine

595 Vgl. Foucault (1984a), a.a.O., S. 93 (Übersetzung modifiziert/M.R.) 596 Vgl. Foucault (1984), a.a.O., S. 103. 597 Vgl. ebd., S. 98. 598 Vgl. Foucault (1984a), a.a.O., S. 93. 599 Vgl. ebd., S. 90f.

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„Kultur seiner selbst“. Diese unterscheidet sich bereits an zahlreichen Punkten von ersterer, teilt mit dieser aber über weite Strecken die Kennzeichen einer Ethik-orientierten Moral. Sie markiert eine Zwischenstation innerhalb der Genealogie des modernen Subjekts, liefert Foucault aber zugleich das Kontrastprogramm zur Code-orientierten Moral des Christentums. „Die Entwicklung der Kultur seiner selbst hat sich“, so Foucault, „nicht in der Verstärkung dessen, was das Begehren absperren kann, ausgewirkt, sondern in gewissen Modifikationen, die die konstitutiven Elemente der moralischen Subjektivität berühren. Bruch mit der traditionellen Ethik der Selbstbeherrschung? Sicherlich nicht, wohl aber Verlagerung, Ablenkung und unterschiedliche Gewichtung.“600

Dieser Bruch wird erst mit der Durchsetzung der christlichen Moral vollzogen. Den dritten archäologischen Schnitt im frühen Mittelalter, der den Analyseraster auf die christliche Pastoral legt, deutet Foucault in den letzten veröffentlichten Bänden der „Histoire de la sexualité“ nur an. Die christliche Moral definiert das sexuelle Verhalten nicht mehr durch die aphrodísia. Gegenstand moralischer Beunruhigung sind die heimlichen Begierden. Die Unterwerfungsweise erfordert nicht mehr die Einsicht in die Regeln der Geschicklichkeit, sondern die Anerkennung des göttlichen Gesetzes und der pastoralen Autorität. Die ethische Arbeit besteht nicht mehr in der Modulierung seiner selbst, sondern in der Kodifizierung der sexuellen Akte und vor allem der Dechiffrierung seiner selbst und der Aufdeckung einer inneren sündhaften Wahrheit. Ihr Telos ist nicht mehr die vollkommene Selbstbeherrschung, sondern die Reinheit der Seele durch die Verleugnung des Selbst.601 Die christliche und, laut Foucault, zugleich alle nach ihr historisch auftauchenden Moralen sind durch Modalitäten des Selbstbezuges definiert, die in einem harten Kontrast zu Antike stehen: „[…] eine Charakterisierung der ethischen Substanz, ausgehend von der Endlichkeit, dem Sündenfall und dem Übel; eine Unterwerfungsweise in der Form des Gehorsams gegen ein allgemeines Gesetz, welches gleichzeitig Wille eines persönlichen Gottes ist; einen Typ von Arbeit an sich selbst, zu dem Seelenentzifferung und reinigende Hermeneutik der Begehren gehören; eine Weise ethischer Vervollkommnung, die nach Selbstentsagung strebt.“602

600 Ebd., S. 92. 601 Vgl. Foucault (1984), a.a.O., S. 121f. 602 Foucault (1984a), a.a.O., S. 306f.

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Die drei archäologischen Schnitte, die Foucault setzt, sollen es ihm also erlauben, historische Problematiken frei zu legen und zugleich die jeweils mit ihnen verknüpften diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken zu beschreiben. Was Foucault in den Bänden zwei und drei der „Histoire de la sexualité“ über weite Strecken mit archäologischen Mitteln betreibt, ist im Grunde eine Dispositivanalyse, die dazu dient, die jeweiligen Voraussetzungen spezifisch-historischer Selbstverhältnisse zu bestimmen. Mit den ethischen Dispositiven der Lust in der griechischen Antike und der römischen Kaiserzeit gehen unterschiedliche Existenzweisen des Selbst einher. Die Archäologie befördert die jeweiligen Rationalitätstypen zu Tage, auf deren Grundlage die freien männlichen Individuen sich zu sich als Subjekte verhalten. Sie beschreibt insofern die technologische Seite der Macht. Der Genealogie muss nun die Aufgabe zukommen, Herkunft und Entstehung dieser historischen Selbstverhältnisse zu rekonstruieren, indem sie sich auf die strategische Komponente konzentriert. Wie kommt es, dass auf der Grundlage gegebener Praktiken neue Problematiken auftauchen, durch die sich das Welt- und Selbstverhältnis historischer Subjekte und damit diese selbst modifizieren? Die Bände zwei und drei liefern in dieser Hinsicht eine minutiöse Darstellung minimaler Verschiebungen und Verlagerungen ethischer Problematisierungen und Praktiken anhand der Foucault vorliegenden Ratgeberliteratur, die sich vornehmlich auf die Frage des richtigen Umgangs mit den Lüsten bezieht. Es kann im Rahmen des hier verfolgten Unternehmens allerdings nicht darum gehen, die einzelnen Fäden detailliert nachzuzeichnen, zumal die verfolgte Fragestellung breiter, nämlich auf die generelle Frage des ethischen Verhältnisses zu sich und den Anderen angelegt ist und zudem darauf abzielt, die Genealogie historischer Subjektkonstituierungen bis zum frühmittelalterlichen Pastorat weiterzuverfolgen. Diese lange Linie wird von Foucault zwar hin und wieder angedeutet,603 aber innerhalb der vorliegenden Teile des Projekts der „Histoire de la sexualité“ nicht mehr vollständig entfaltet. Es ist daher notwendig, die Textgrundlage zu erweitern und auf Vorträge und Vorlesungen aus den 80er Jahren auszugreifen.604 Von vorrangigem Interesse ist es nun, in einem groben Aufriss auf die markantesten Verschiebungen und Verlagerungen historischer Problematiken und Praktiken mit Blick auf die damit einhergehenden Subjektgestalten und ihrem jeweiligen Bezug zur Wahrheit hinzuweisen. Es geht also darum, die m.E. entscheidenden Transformationspunkte zu markieren, an denen sich das eigentliche Vorhaben des späten Foucault, nämlich die Geschichte des Subjekts

603 Vgl. etwa ebd., S. 62. 604 Hierfür eignen sich m.E. insbesondere Foucault (1988a), a.a.O., sowie Foucault (2001), a.a.O.

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in seiner Verschränkung mit einer Geschichte der Wahrheit zu schreiben, einsichtig machen lässt. Zwar war es Foucault nicht mehr möglich gewesen, diese lange Linie einer Geschichte des Subjektes umfassend zu rekonstruieren, doch diese Fragestellung zieht sich, wie gesehen, in unterschiedlichen Varianten im Grunde durch sein gesamtes Werk. Noch 1982 formuliert er: „Mir scheint, daß eine Geschichte der Subjektivität, eine Geschichte der Beziehung zwischen Subjekt und Wahrheit nur geschrieben werden kann, wenn diese in den Rahmen jener Selbstkultur gestellt wird, die ihrerseits im Christentum – zunächst im frühen, dann im mittelalterlichen Christentum – und dann in der Renaissance und im 17. Jahrhundert einige Wandlungen und Veränderungen durchgemacht hat.“605

Genealogie des moralischen Subjektes Anhand welcher Problematik lässt sich nun innerhalb der Ästhetik der Existenz des antiken Griechenlands der Übergang hin zur Kultur des Selbst des römischen Kaiserreichs nachvollziehen? Foucault verweist u.a. auf die Dispositive der Politik und der Familie, auf den Übergang von der Regierung der griechischen Stadtstaaten zu einem hierarchisch ausdifferenzierten Verwaltungsapparat des römischen Imperiums, der mit Rückkoppelungen auf Status und politische Rolle des männlichen Subjektes verbunden gewesen ist,606 bzw. auf den institutionellen Wandel der Ehe von einer politisch asymmetrischen Beziehung hin zu einem universellen Verhältnis von zwei prinzipiell sich als gleich anerkennenden Partnern.607 Es ist aber insbesondere die vorsichtige Transformation der Bedeutung der Knabenliebe, anhand der die Genealogie den Übergang zu einem veränderten Verhältnis von Subjektivität und Wahrheit einsichtig machen kann. Diese stellte innerhalb des Dispositivs der Lüste in der griechischen Antike ein Thema permanenter moralischer Beunruhigung und sexualethischer Reflexion dar. In der „Antinomie des Knaben“608 vermischen sich zwei miteinander politisch nicht kompatible Elemente. Der Knabe als Objekt männlicher Lust ist einerseits in ein politisches Verhältnis der Unterordnung und Passivität gezwungen, andererseits ist er aber, anders als Frauen und Sklaven, ein künftiges freies Subjekt. Es ist

605 Foucault (2001), a.a.O., S. 229. 606 Vgl. Foucault (1984a), a.a.O., S. 110ff. 607 Vgl. ebd., S. 98ff. 608 Vgl. Foucault (1984), a.a.O., S. 280.

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nun laut Foucault die platonische Erotik, die auf diese Problematik reagiert, indem sie vier strategische Verschiebungen vornimmt. Zunächst sorgt Platon mit der Frage nach dem Wesen der Liebe für eine Verlagerung der deontologischen Problematik des richtigen Gebrauchs der Lüste hin zu einer ontologischen Frage: Was sind Natur und Ursprung der Liebe?609 Damit entfällt streng genommen die zentrale moralische Beunruhigung um die Ehre des Knaben. Das geliebte Objekt ist nunmehr nur noch Widerschein und Gleichnis der Schönheit selbst. Die Liebe hat durch „[…] die Erscheinung des Objekts hindurch Bezug zur Wahrheit […]“.610 Drittens nivelliert sich damit die Asymmetrie der Partner, da Platons Neuformulierung der Erotik in Bezug auf die Wahrheit die strenge Zuweisung der Subjekt- bzw. Objekt-Position aufhebt. Es ist die gemeinsame Liebe zur Wahrheit, die Konvergenz der Liebe, die den Knaben aus der Objektrolle herauslöst.611 Und schließlich verwandelt sich das durch Aktivität und Passivität gekennzeichnete Verhältnis zum Knaben in eines des Meisters zu seinem Schüler. Der Schüler strebt nach der Weisheit des Meisters, der ihm den Weg zur Wahrheit weist.612 Sokrates, so Foucault, führt „[…] einen neuen Typ von Herrschaft ein: diejenige, die vom Wahrheitslehrer ausgeübt wird und zu der er durch die Souveränität qualifiziert ist, die er über sich ausübt“.613 Der springende Punkt für die hier interessierende Frage nach der Transformation der Ästhetik der Existenz hin zu einer Kultur des Selbst ist: Platons Verlagerung der moralischen Problematik der Knabenliebe verharrt laut Foucault noch weitgehend innerhalb des ethischen Dispositivs der griechischen Antike. Eine entscheidende Verschiebung findet allerdings bezüglich der Unterwerfungsweise statt. Platon interessiert sich nicht mehr vorrangig für den richtigen Umgang mit der Lust und ihrer Dynamik, die Reflexion über die Liebe fragt nach dem wahren Wesen des Begehrens, das es zu erkennen gilt, um es auf sein wahrhaftes Objekt, die Wahrheit, zu lenken.614 Die damit verbundene grundlegende Frage des ‚Erkenne dich selbst‘, die Thematisierung des eigenen Selbst, das in den sokratischen Dialogen mit seinen Schülern beständig wiederkehrt, bleibt aber weiterhin in den politisch-epistemischen Kontext seiner Zeit eingebunden. Sie formuliert nur einen wesentlichen Aspekt der Sorge um sich,615 an

609 Vgl. ebd., S. 298. 610 Vgl. ebd., S. 302. 611 Vgl. ebd., S. 303. 612 Vgl. ebd., S. 304ff. 613 Ebd., S. 306. 614 Vgl. ebd., S. 308. 615 Vgl. Foucault (2001), a.a.O., S. 223.

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der sich die ethische Arbeit zu orientieren hat. Sie ist zwar an die Liebe zur Wahrheit gebunden, ist aber mit den Rollen von Meister und Schüler verknüpft und somit streng auf das Problem der Knabenerziehung beschränkt. Und sie bleibt damit – und das ist in dem hier interessierenden Kontext entscheidend – eine politische Frage.616 Denn wenn Sokrates seinem Schüler Alkibiades rät, er solle sich zunächst um sich selbst kümmern, bevor er sich daran mache, die Polis zu regieren, dann erfolgt dieser Rat im Einklang mit der ethischen Problematik, dass nur wer in der Lage ist, sich selbst zu regieren, auch dazu befähigt ist, andere zu regieren. Selbsterkenntnis ist Anschauung der Seele und des darin sich widerspiegelnden lógos einer ontologischen Ordnung. Nur auf diesem Weg erlangt der freie Mann Kenntnis des eigentlichen Wohls der Polis und der Gerechtigkeit. „Die Sorge um sich selbst steht“, so Foucault, „[…] eindeutig im Dienst der Sorge um die anderen.“617 Es ist nun nach Foucault genau dieser sokratische Imperativ, der bis zur römischen Kaiserzeit eine Umdeutung erfährt und sich somit in Prozeduren, Praktiken und Rezepten niederschlägt, die maßgeblich deren Kultur seiner selbst charakterisieren.618 Im 1. und 2. Jahrhundert rückt demnach der Aspekt der Selbsterkenntnis in den Vordergrund, den Platon über den Dialog, verstanden als Methode des Erinnerns, um in der Seele die Wahrheit suchen zu können, zu befördern bestrebt war. Er verdrängt die beiden anderen konstitutiven Momente der Sorge um sich: ihren Zweck, also die Fähigkeit, die Polis gut zu regieren, und das damit implizierte Wechselverhältnis zwischen dem aktiven politischen Bürger und der gut regierten Polis, deren Mitglied das freie Subjekt selbst ist.619 Bis zum römischen Kaiserreich vollzieht sich eine „Intensivierung des Selbstbezuges“,620 das Selbst wird der „[…] letzte und einzige Zweck der Sorge um sich selbst […]“,621 es wird zum Objekt, auf das sich die Sorge konzentriert.622 Die ethische Frage der griechischen Antike – „Was muß ich tun, um angemessen zu leben?“ – hat sich Foucault zufolge im Verlauf von 500 Jahren bis zur römischen Kaiserzeit in die Frage „Was ist zu tun, damit das Selbst wird und bleibt, was es zu sein hat?“ transformiert.623 Damit hat sich die Sorge um sich zugleich von ei-

616 Vgl. Foucault (1988a), a.a.O., Bd. 4, S. 976f. 617 Foucault (2001), a.a.O., S. 223. 618 Vgl. Foucault (1984a), a.a.O., S. 61f. 619 Vgl. Foucault (2001), a.a.O., S. 224ff. 620 Vgl. Foucault (1984a), a.a.O., S. 57. 621 Vgl. Foucault (2001), a.a.O., S. 225. 622 Vgl. ebd., S. 226. 623 Vgl. ebd., S. 226f.

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ner Problematik der Erziehung der Jugend hin zu einer generellen Problematik verschoben, die nun alle freien Individuen angeht. Das Verhältnis von Meister und Schüler hört damit auf, ausschließlich eines zwischen Mann und Knabe zu sein. Die Sorge um sich dauert nun ein Leben lang. Die Rollen des Meisters und Schülers können innerhalb des Kreises freier Subjekte wechseln. Unter genealogischen Gesichtspunkten ist diese Neujustierung des Selbstbezuges unter zwei Gesichtspunkten von Bedeutung. Zum einen werden ein veränderter Weltbezug und zugleich ein neues Verhältnis zur Wahrheit unterstellt. Es ist nicht mehr die Erinnerungsarbeit des Selbst, die zur Wahrheit führen soll, sondern dieses Selbst ist nun Gegenstand der Arbeit an sich, durch die überhaupt erst Zugang zur Wahrheit ermöglicht werden soll. Die Lebenskunst dreht sich nun um die Frage: „Wie muß ich mein eigenes Ich verwandeln, damit ich fähig werde, zur Wahrheit zu gelangen?“624 Damit ist, worauf Foucault explizit hinweist, strukturell bereits das Problem vorbereitet, um das sich die christliche Moral drehen wird, nämlich das einer individuellen Konversion als Voraussetzung für den Zugang zu einer göttlichen Wahrheit.625 Zum anderen ist dieser neue Selbstbezug an spezifische Praktiken der Einwirkung auf sich gebunden. Die historisch auftauchenden Technologien des Selbst, die Foucault für das 1. und 2. Jahrhundert hervorhebt, basieren nicht nur auf einer veränderten Unterwerfungsweise unter eine nun als universell geltend konzipierte Vernunft, sie beinhalten zugleich neue Interaktionsweisen zwischen Meister und Schüler. Es ist nicht mehr wie bei Platon der Dialog als Methode der Erinnerung, die zur Einsicht in die richtige Verhaltensführung bewegen und damit zugleich den Weg zur Wahrheit bereiten soll, im römischen Kaiserreich ist es zunächst der Diskurs des Meisters, der zu ihr führt und der eine Kunst des Zuhörens erfordert. Die Technik der Erinnerung dient daher nicht mehr einer Entzifferung des lógos, sondern besteht darin, die über den Anderen kommunizierten, richtigen Verhaltensregeln zu memorieren und sich dabei selbst zu kontrollieren.626 Als quasi stilbildende Techniken der Selbstkonstitution beurteilt Foucault für diese Zeit das Aufschreiben von Erinnerungen für sich und andere (Briefe) zum Zweck der Selbstprüfung und Gewissensforschung. Es etabliert sich „[…] der administrative Blick auf das eigene Leben […]“.627 Hinzu kommen Praktiken des asketischen Übens – bezogen auf die eigenen Gedanken durch die Methode der Meditation, die eine innere Vorbereitung auf lebenspraktische Herausforderungen zum Ziel hat; be-

624 Ebd., S. 227. 625 Vgl. ebd. 626 Vgl. Foucault (1988a), a.a.O., Bd. 4, S. 981ff. 627 Vgl. ebd., S. 983.

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zogen auf die Realität des Alltags durch das praktische Einüben (gymnasia) von Verhaltensweisen, indem etwa eine schwierige Lebenssituation künstlich herbeigeführt wird.628 Die Spur, die von dieser Kultur des Selbst weiter bis ins Zeitalter der christlichen Pastoral führen sollte, konnte von Foucault nur noch rudimentär verfolgt werden. Ein Versuch, diese vollständig zu rekonstruieren, müsste über das von ihm aufbereitete Material weit hinausgehen und würde den Rahmen dieser Arbeit überschreiten. Es soll daher genügen, einige Aspekte des Übergangs von den Subjektivierungsweisen zu Zeiten des römischen Kaiserreichs zum christlichen Pastorat des frühen Mittelalters anzudeuten. Die Genealogie kann, wie gesagt, die Herkunftslinie dahingehend nachzeichnen, dass bereits im römischen Kaiserreich das Selbst zum ausgewählten epistemischen und praktischen Objekt der ethischen Arbeit geworden war. Anders als im Christentum steht diese allerdings im Sinne einer Stilisierung des eigenen Selbst durch dessen Umarbeitung im Dienste einer Lebenskunst, die sich an den Regeln des lógos orientiert. Es geht also darum, sich über die richtige Lebenspraxis zugleich einen Zugang zur Wahrheit zu eröffnen. Für die christliche Pastoral hingegen ist nun gerade das Selbst bereits ein Kandidat der Wahrheit – als Ort der Sünde nämlich. Das ‚Erkenne dich selbst‘ des sokratischen Imperativs zielt damit nicht mehr auf Einsicht in oder zumindest die praktische Annäherung an die kosmische Wahrheit, sondern auf ein Erkennen der eigenen Abweichung von einer universell gültigen Wahrheit des göttlichen Gesetzes. Der ontologische Geltungsanspruch des ‚Erkenne dich selbst‘ richtet sich nun auf den Zustand des Individuums, dessen sündhafte Wahrheit die ethische Substanz bildet, die aufgedeckt werden soll. Die Unterwerfung unter das Gesetz erfordert daher eine Abkehr von sich. Darin unterscheidet sich die christliche Subjektivierungsweise grundlegend von der Lebenskunst als eine wenn auch regelkonforme aber zugleich kreative Gestaltung und Stilisierung des Selbst, wie sie die noch in der Traditionslinie einer Ästhetik der Existenz stehende Kultur des Selbst praktizierte. „Enthüllung ist nicht möglich ohne Verzicht“, so Foucault.629 Eine charakteristische Differenz zwischen der antiken und der christlichen Unterwerfungsweise besteht in einem grundlegend veränderten Verhältnis von Subjekt und Wahrheit: „In der gesamten Geschichte des Christentums besteht ein Zusammenhang zwischen dramatischer oder verbalisierter Selbstenthüllung und dem Verzicht auf das eigene Selbst.“630 Die christliche Subjektivierungsweise ist an eine Wahrheitsverpflichtung sowohl

628 Vgl. ebd., S. 985ff. 629 Ebd., S. 998. 630 Ebd.

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hinsichtlich des Glaubens wie des Selbst gebunden. Darin besteht seine Macht als Heils- und Bekenntnisreligion.631 Dass das pastorale Subjekt weitgehend ein anderes ist, versucht Foucault anhand der entsprechenden Praktiken zu erläutern. Denn es sind vor allem die spezifischen Technologien des Selbst, die zeigen, dass die ethische Arbeit sowohl ein neues Ziel – die Reinigung der Seele – wie auch einen neuen Gegenstand – das zu reinigende Selbst – voraussetzt. Foucault führt zwei dominante Weisen der Selbstenthüllung an: die an praktische Übungen gebundene Ritualisierung der Buße (exomologēsis) und die an geistige Übungen gebundene Selbstprüfung (exagorensis). Bei Ersterer besteht die Selbstenthüllung in der öffentlichen Anerkennung der Tatsache seiner selbst als Sünder und dem Vollzug des bis zum Martyrium steigerungsfähigen Aktes der Buße. Das augenscheinliche Ziel dieser Praktik ist, einen Bruch mit sich selbst, mit der Vergangenheit und der Welt zu vollziehen. Das Subjekt konstituiert sich auf diese Weise nicht als Einheit mit sich selbst, sondern im Gegenteil: „Das Ziel der Buße ist nicht Herstellung von Identität;“ so Foucault, „sie dient vielmehr dazu, die Abkehr vom Ich zu demonstrieren.“632 Die zweite Praktik der Selbstprüfung basiert grundlegend auf den Techniken des Gehorsams und der Kontemplation. Beide sind eng an die Figur des Meisters/Pastors geknüpft. Das gehorsame Selbst ist eines der vollständigen Selbstaufgabe und des Verzichts auf den eigenen Willen. Es ist ein fremdbestimmtes, ein dem Willen des Anderen unterworfenes Subjekt. Die pastorale Form der Subjektivierung erstreckt sich dabei nicht allein auf die Handlungen des Einzelnen, über die Technik der Kontemplation beansprucht sie zugleich, dessen Gedanken zu führen.633 Das pastorale Machtverhältnis äußert sich in dem Anspruch einer „permanenten Verbalisierung“ geistiger Regungen zum Zwecke der Selbst- und Fremdprüfung. Es zementiert eine „hermeneutische Beziehung“ zum Meister und zu sich selbst634 und konstituiert das im vorigen Kapitel beschriebene Subjekt der Unterwerfung: „Zwar ist die permantente Verbalisierung

631 Vgl. ebd., S. 990. 632 Ebd., S. 993. 633 Vgl. hierzu auch Foucault (1982a), a.a.O., Bd. 4; Foucault versucht hier anhand der Askese der Keuschheit zu zeigen, dass diese Weise der pastoralen Subjektivierung im Kern nicht auf eine strenge Beschränkung der Ökonomie der Lust auf kodifizierte Akte zielt, sondern eine „ständige Arbeit an der Bewegung des Denkens“ beinhaltet. Vgl. ebd., S. 362. 634 Vgl. Foucault (1988a), a.a.O., Bd. 4, S. 997.

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ein Ideal, das sich niemals vollkommen verwirklichen läßt. Doch ihr Preis war, daß alles, was nicht gesagt werden konnte, zur Sünde wurde.“635 Die Geschichte der Subjektivität ist damit wieder an dem Punkt angelangt, an dem die weiter oben dargestellte Geschichte der Gouvernementalität ihren Ausgang nahm: der unterworfenen Subjektgestalt, wie sie innerhalb des pastoralen Machtverhältnisses konstituiert wird. Der Exkurs in die Antike stützt Foucaults Ausgangsthese vom Menschen als einer ‚modernen Erfindung‘ insofern erneut, als er nun auch zeigen kann, dass das Subjekt nicht nur in seinem modernen Verständnis als Erkenntnis- und Handlungssubjekt eine historisch späte Gestalt ist, sondern dass im Zuge einer Geschichte der Wahrheit zugleich auch die Selbst- und Weltverhältnisse einer radikalen Historizität unterliegen. Das Selbst der Antike, und damit ist diejenige Problematik gemeint, die zum Gegenstand entsprechender diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken dieser Zeit geworden ist, ist ein kategorial anderes als dasjenige, das die pastorale Macht im christlichen Mittelalter konstituiert. Von beiden unterscheidet sich wiederum das moderne Selbst grundlegend. Die lange Linie, die eine Geschichte der Subjektivität bis in die Gegenwart zu verfolgen hätte, konnte Foucault allerdings nur noch andeuten. Sie wäre als eine genealogische Rekonstruktion der historischen Selbstund Weltverhältnisse zu leisten. Foucault gibt zwei Achsen an, entlang derer diese sich möglicherweise entfalten ließe: die unterschiedlichen Weisen der Selbsterforschung, anhand derer die historisch variierenden Selbstverhältnisse beschrieben werden könnten, und die Weisen der Selbstreflexion des Denkens, die den jeweiligen Weltbezug charakterisieren. Was die Problematik der Selbsterforschung angeht, also das Verhältnis, in dem das Selbst sich zum Gegenstand wird, unterscheidet er in der Geschichte des Denkens und der Wahrheit drei Typen der Selbstthematisierung.636 1. hinsichtlich der Frage, „[…] wie unsere Gedanken sich zu bestimmten Regeln verhalten […]“, dies wäre weitgehend die Problematik der Antike, 2. mit Blick auf „[…] das Wechselspiel zwischen den verborgenen Gedanken und einer inneren Unreinheit […]“, darauf zielt die christliche Hermeneutik des Selbst und 3. die Frage nach dem Verhältnis von Gedanken und Realität, dies ist die Frage, wie sie Descartes im Zeitalter der Klassik stellt und damit die moderne Erkenntnisproblematik vorbereiten wird. Parallel dazu isoliert Foucault, wenn auch nicht völlig in Kongruenz zu den Weisen des Selbstbezugs, die epistemischen Techniken, über die historisch entsprechende Weltverhältnisse auf der Grundlage bestimmter Wahrheitsbegriffe hergestellt werden. Foucault unterscheidet die Gedankenübung des Gedächtnisses, in der

635 Ebd., S. 998. 636 Vgl. ebd., S. 996.

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ein Zugang zur Wahrheit über das Erinnern möglich werden soll, von der Meditation, das der Prüfung des Subjektes dient, um es als ethisches Wahrheitssubjekt zu konstituieren, und schließlich die Methode, welche die Gewissheit des Denkens zum Kriterium erhebt, um von dieser Wahrheit zu objektiver Erkenntnis zu gelangen. „Diese Bewegung von der Erinnerung zur Meditation“, so Foucault, „fand von Platon bis Augustin statt. […] Und vom Mittelalter bis zum Beginn der Neuzeit, d.h. im 16. und 17. Jahrhundert, so können wir sagen, wurde eine andere Strecke zurückgelegt: von der Meditation zur Methode – mit dem grundlegenden Text von Descartes, der in seinen Meditationen den Grundstein zu dem gelegt hat, was eine Methode ist.“637

Praktiken des Übens: Regelunterwerfung und Regelanwendung Es soll an dieser Stelle nun nicht das Unternehmen in Angriff genommen werden, diese Linien bis in die Gegenwart im Detail zu rekonstruieren. Für den hier interessierenden Zusammenhang bleibt festzuhalten: Soweit Foucault sein Vorhaben einer Geschichte der Subjektivität in den beiden Untersuchungen der griechischen Antike und des römischen Kaiserreichs umsetzt, bleibt er seinem eigenen Anspruch, damit die ersten Kapitel einer „allgemeinen Geschichte der ‚Selbsttechniken‘“638 zu schreiben, treu. Im Zentrum des Interesses stehen dabei die historischen Praktiken der Führung seines Selbst und der Anderen, also die Problematik des Regierens, so dass sich die Geschichte der Subjektivität in der Tat an die oben dargestellte Geschichte der Gouvernementalität anschließen lässt. Foucaults Beschreibung dieser Selbsttechniken als Regierungstechniken muss insofern als eine Ausdehnung der Machtanalytik auf das Feld der Selbstverhältnisse historischer Subjekte gelesen werden.639 Seine frühe These von einer nicht notwendig repressiven, sondern primär produktiven Macht gewinnt damit an Plausibilität. Denn die Selbstverhältnisse, die im zweiten und dritten Band der „Histoire de la sexualité“ skizziert werden, sind weitgehend dadurch gekennzeichnet, dass das Regieren seiner selbst die Anerkennung einer Regel

637 Foucault (2001), a.a.O., S. 561 (Hervorhebung i.O.). 638 Vgl. Foucault (1984), a.a.O., S. 19. 639 Vgl. hierzu auch Sebastian Harrer (2005): The Theme of Subjectivity in Foucault’s Lecture Series ,L’Hermeneutique du Sujet‘. In: Foucault Studies 2, Mai 2005, S. 75-96.

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und gleichzeitig die Fähigkeit ihrer Anwendung meint. Damit wird der doppelte Sinn von Subjektivierung (assujettissement) nochmals bekräftigt. Subjektivierung im Sinne von Unterwerfung unter die Regel bedeutet, dass das Selbst sich durch das Einüben der Regelanwendung zugleich diszipliniert wie befähigt und sich erst durch diese Praktik als Subjekt konstituiert.640 Innerhalb des Dispositivs einer Ästhetik der Existenz lässt sich Macht somit – zumindest was das freie männliche Subjekt angeht – als regulativ, nicht jedoch als repressiv beschreiben. Der zur Darstellung ethischer Selbstverhältnisse ausgelegte Analyseraster erlaubt es Foucault, weiterhin eine kontrollierte Distanzierung vom Untersuchungsgegenstand zu vollziehen und somit die Beobachterperspektive strikt beizubehalten. Der externe Blick auf die ontologischen, deontologischen, asketischen und teleologischen Aspekte historischer Selbstkonstitutionen klammert weiterhin die Geltungsebene und damit zugleich eine mögliche Teilnehmerperspektive kategorisch aus. Aus diesem Grund lässt sich selbst die im christlichen Mittelalter auftauchende Pastoralmacht noch weitgehend als regulative Macht beschreiben. Ob die ihr unterworfenen Individuen die verordneten Praktiken, die einem Bruch mit dem Selbst zum Ziel haben, als Repression erfahren, was aus moderner Sicht naheliegt, entzieht sich konsequenterweise dem Blick des Beobachters. Die weiter oben geäußerte Vermutung, dass Foucault gerade bei der Analyse historischer Selbstverhältnisse doch noch genötigt sein würde, auf die Teilnehmerperspektive umzuschwenken, lässt sich zumindest am vorliegenden Textmaterial nicht bestätigen. Der Verfremdungseffekt, der durch den externen Blick durch den Analyseraster erzielt wird, erlaubt es vielmehr, den Funktionswechsel bestimmter vermeintlich konstanter Begriffe zu verfolgen. So kann etwa die Genealogie der Problematik des Regierens, wie sie im 16. Jahrhundert auftaucht, deren Herkunft von der Unterwerfungsweise unter ein universelles göttliches Gesetz bestimmen. Die mit dieser einhergehenden sowohl individualisierenden wie totalisierenden Praktiken der pastoralen Gewissensforschung und -lenkung verweisen bereits auf den spezifischen Gegenstand, auf den sich die biopolitischen Regierungspraktiken der Neuzeit konzentrieren werden. Zugleich zeigt aber der archäologische Ausgriff, dass Regieren zu vorchristlichen Zeiten in einem gänzlich anders angeordneten Dispositiv verankert ist und zumindest in der griechischen Antike auf Selbstbeherrschung und einer geschickten individuellen Regelanwendung fußt. Aus der Beobachterperspektive lassen sich streng genommen aber, sobald der Analyseraster etwas gröber eingestellt wird, sowohl

640 Vgl. Christoph Menke (2003a): Zweierlei Übung. Zum Verhältnis von sozialer Disziplinierung und ästhetischer Existenz. In: Honneth/Saar (Hg.), a.a.O., S. 283-299.

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das antike wie das pastorale Machtdispositiv auf der Subjektstelle als ein SichVerhalten gegenüber anderem Verhalten beschreiben. Zunächst nicht anders verhält es sich mit dem Begriff der Freiheit. In der Antike besteht die Freiheit offensichtlich darin, weder Sklave eines anderen noch seiner selbst zu sein. Freiheit vollzieht sich damit im Akt des Regierens seiner selbst und anderer. Die externe Beschreibung des Dispositivs der Pastoralmacht hatte, wie gesehen, Freiheit hingegen höchstens als minimale Abweichung von der Regel im Sinne eines Gegen-Verhaltens ausweisen können. Diese rudimentäre Gestalt der Freiheit ist nicht nur eine grundlegend andere als in der Antike, sie unterscheidet sich strukturell ebenso von der Handlungsfreiheit, wie sie das moderne Sicherheitsdispositiv unterstellt. Die Genealogie hatte zudem, zumindest ansatzweise, die Herkunft der modernen Handlungsfreiheit als Problematik des Regierens aus jenen Praktiken des Gegen-Verhaltens zu rekonstruieren versucht. So weit lassen sich unterschiedliche Typen von Freiheit aus einer Beobachterperspektive plausibel charakterisieren. Foucault lokalisiert Freiheit jedoch, wie gesehen, zugleich als konstitutives Moment von Machtbeziehungen überhaupt. Sie wird damit zu einem Element, das sämtliche historisch auftauchende Dispositive in irgendeiner Weise durchlaufen muss. Denn nur so lässt sich der strategische Aspekt der Macht von außen überhaupt beschreiben. Damit ist aber unklar, welcher methodische Status der Freiheit innerhalb von Foucaults Forschungsprogramm zugeschrieben werden muss. Denn so wie es aussieht, operiert er mit zwei Freiheitsbegriffen: einem historisch konstituierten, der weitgehend über das archäologische Verfahren der Dispositivanalyse in seiner jeweils konkreten Existenzweise bestimmt werden kann, und einem ontologischen, der der genealogischen Beschreibung der Geschichte der Macht, verstanden als strategische Kräfteverhältnisse, zu Grunde zu liegen scheint. Ist die Freiheit also wirklich nur der Name für unterschiedliche historische Problematiken, die der Analyseraster entlang entsprechender diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken isolieren kann? Oder wird sie als quasi überhistorisches Analyseprinzip unter der Hand eingeführt, das gegenstandstheoretisch gedacht ist und insofern unterstellt, dass Freiheit im Verlauf der Geschichte in unterschiedlichen Gestalten in Erscheinung tritt? Letzteres würde dem methodischen Selbstverständnis Foucaults jedoch, wie gezeigt, diametral entgegenstehen. Festzuhalten bleibt insofern, auch wenn Foucault sich innerhalb der vorliegenden Teile einer Geschichte der Subjektivität, die er als eine Geschichte der Selbsttechniken präsentiert, nicht in die Nähe einer Teilnehmerperspektive begibt, stellt ihn die Analyse der strategischen Komponente der Macht vor ein methodisches Problem, das ihm, soweit ersichtlich, nur zwei Lösungswege erlauben dürfte. Entweder – und das hatte sich bereits anhand der Machtanalytik bis Mitte

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der 70er Jahre gezeigt – muss der Strategiebegriff ontologisch unterlegt werden. Dies wäre die gegenstandstheoretische Variante. An die Stelle des frühen Konfliktmodells träte damit, so ist zu vermuten, eine nicht näher bestimmte Konzeption von negativer Freiheit.641 Oder aber Foucault verlässt, wie weiter oben bereits diskutiert, die strikte Beobachterperspektive und integriert die Teilnehmerperspektive über einen ergänzenden handlungstheoretischen Ansatz. Damit würde sich die Freiheitsthematik offen stellen. So wie es aussieht, hat Foucault gegen Ende seines Schaffens mit der zweiten Möglichkeit zumindest geliebäugelt. In seinen publizierten Arbeiten lagert er diese Alternativen allerdings auf ein Terrain aus, das er, offenbar aus methodischen Gründen, gezielt zu umgehen sucht.

Historische Rationalitätstypen als technologische Voraussetzungen des Handelns Mit Blick auf die hier verfolgte Frage nach dem Ertrag von Foucaults spätem Programm einer historischen Ontologie der Gegenwart für eine kritische Gesellschaftstheorie lässt sich zusammenfassend feststellen: Foucault gibt sich, was die Reichweite seines Analyseprogramms angeht, weiterhin bescheiden. Aufgrund seines methodologischen Selbstverständnisses kann er lediglich für sich beanspruchen, eine beschreibende Rekonstruktion der Rationalität historischer Selbst- und Weltverhältnisse anzubieten. Mehr können die experimentellen Verfahren der Archäologie und Genealogie nicht leisten. Die virtuelle Beobachterperspektive stößt hier an ihre Grenzen. In dieser Selbstbegrenzung besteht aber zugleich der Vorzug der Foucaultschen Methode. Sie liegt eindeutig auf dem Gebiet der Gesellschaftsanalyse im Sinne einer Dispositivanalyse. Was Foucaults Verfahren einsichtig machen kann, sind die in historisch auffindbaren Praktiken sich vollziehenden Rationalitätstypen. Während die archäologische Beschreibung weitgehend historische Strukturbestimmungen sozialer Machtverhältnisse liefert, zeigt die Genealogie zugleich deren Gewordenheit und damit

641 Vgl. hierzu auch Butler (2002), a.a.O., S. 262f. Butler verweist m.E. zu Recht auf die Ambivalenz des Terminus „ursprüngliche Freiheit“, den Foucault in der Diskussion seines Vortrags „Qu’est-ce que la critique?“ verwendet, um ihn zugleich zu dementieren. Vgl. Foucault (1990), a.a.O., S. 52ff. An anderer Stelle, vgl. Foucault (1984h), a.a.O., Bd. 4, S. 879, geht er hingegen sogar so weit zu formulieren: „Die Freiheit ist die ontologische Bedingung der Ethik.“

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deren Kontingenz auf. Damit verzichtet Foucault weiterhin darauf, die rekonstruierten historischen Prozesse zu erklären. Anders als etwa Sartre, der aus der Binnenperspektive beansprucht, die Pluralität materieller Prozesse und Handlungen auf den Begriff zu bringen, und sich damit, wie gesehen, eine immense Begründungslast aufbürdet, indem er die Intelligibilität historischer Möglichkeit und Notwendigkeit herzustellen beabsichtigt,642 also Geschichte als einen ursächlichen Zusammenhang zu verstehen sucht, beschränkt sich Foucault allein darauf, die Effekte des Aufeinandertreffens unterschiedlicher Prozesse einsichtig zu machen. Die „Intelligibilität der Geschichte“ besteht für ihn deshalb nicht im Aufweis ihrer Ursachen, das Verfahren der Genealogie im Sinne einer Beschreibung von Herkunft und Entstehung von Effekten konzentriert sich auf die „Komposition von Wirkungen“.643 Die virtuelle Beobachterperspektive Foucaults kennt keine Notwendigkeit. Deshalb kann sie auch nicht erklären, warum sich zum Beispiel die Institution des Marktes historisch durchsetzt, sie kann lediglich beschreiben, wie dies in epistemischer und politisch-praktischer Hinsicht vor sich ging. „Zu zeigen, wie er [der Markt/M.R.] möglich war“, so Foucault, „bedeutet nicht, was in jedem Fall ein vergebliches Unterfangen wäre, zu zeigen, daß er notwendig gewesen wäre, und auch nicht, daß er eine Möglichkeit, eine von vielen Möglichkeiten in einem bestimmten Feld von Möglichkeiten gewesen ist. Sagen wir einfach, daß das, was es erlaubt, das Wirkliche verständlich zu machen, einfach in dem Nachweis besteht, daß es möglich war. Zu zeigen, dass das Wirkliche möglich ist, darin besteht sein Verständlichmachen.“644

Sartres hartnäckige Frage nach den Übergängen von einer Diskursformation zur nächsten bzw., wie in Foucaults späterer Terminologie formuliert, nach einer Erklärung der Abfolge von Dispositiven, auf deren Grundlage sich historisch spezifische Selbst- und Weltverhältnisse charakterisieren lassen, muss, zumindest, was das Geschäft der Begründung angeht, unbeantwortet bleiben. Was Foucaults Theorieansatz dennoch leistet, und in dieser Hinsicht verarbeitet er Sartres Einwand, ist eine rationale Rekonstruktion mehrdimensionaler historischer Prozesse. Eine kritische Gesellschaftstheorie, das war zumindest die Ausgangsthese dieser Arbeit, zeichnet sich durch zweierlei aus: Sie ist einerseits Gesellschaftsanalyse, indem sie versucht, das Bestehende in seiner Strukturlogik zu durch-

642 Vgl. Sartre (1960), a.a.O., S. 75ff. 643 Vgl. Foucault (2004), a.a.O., Bd. 1, S. 347. 644 Ebd., Bd. 2, S. 58.

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schauen, ihr Erkenntnisinteresse besteht aber andererseits darin, eventuell vorhandene repressive Momente dieser Struktur zu kennzeichnen und nach deren potenzieller Überwindung zu fragen. Sie beansprucht damit, zugleich Emanzipationstheorie zu sein. Sartres handlungstheoretischer Ansatz versetzte ihn bei allen gezeigten konzeptionellen Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, zumindest in die Lage, aus der ontologischen Struktur der Praxis nach dem Modell entfremdeter Arbeit eine Zielperspektive möglicher Befreiung anzugeben. Aus der Beobachterposition ist dies nicht ohne Weiteres möglich. So verfällt etwa Sartres sozialontologisch begründeter Geltungsanspruch, wie gesehen, aus der Perspektive eines historischen Nominalismus der Kontingenz und büßt somit weitgehend seine Rechtfertigungsgrundlage ein. Es wäre insofern vermessen, Foucault als Theoretiker der Emanzipation, etwa im Sinne der frühen Kritischen Theorie der Frankfurter Schule lesen zu wollen.645 Was er mit dieser Tradition allerdings teilt, ist eine, wenn auch anders formulierte, Vernunftkritik, die Vernunft als eine historisch bedingte, in die gesellschaftlichen Praktiken eingelassene auffasst und das Geschäft der Kritik als eine praktische Tätigkeit versteht, die das gesellschaftliche Selbstverständnis der Akteure infrage zu stellen und somit mögliche Konsequenzen für die Praxis zu provozieren vermag.646 Die praktische Funktion von Foucaults Theorieansatz und damit eine mögliche Perspektive gesellschaftlicher Veränderung erschließt sich daher über seinen Kritikbegriff. Wie weiter oben gesehen, unterliegt dieser allerdings selbst der Kontingenz der Geschichte. Kritik wird von Foucault als eine Haltung aufgefasst, die mit dem kantischen Aufklärungsgedanken historisch wirkmächtig wird. Anders als im geltungstheoretisch angelegten Kritikverständnis von Kant selbst skizzierte er diese jedoch als eine Distanzierungsbewegung von der eigenen Gegenwart und dem in sie eingelassenen Rationalitätstyp, um deren historisch gewordene Bedingungen zu thematisieren. Das genau ist der Sinn der archäologischen und genealogischen Operation aus der virtuellen Beobachterposition. Zugleich ist dies aber auch exakt der Moment, an dem die politisch-praktische Dimension von Foucaults Analysetechnik ersichtlich wird. Denn gerade die Figur der Kritik ist schließlich als ein Ethos der Moderne zugleich mit einem Zeitindex versehen. Foucault rekurriert damit auf eine Haltung, die er selbst denjenigen gesellschaftlichen Dispositiven entnehmen muss, die die historische Ontologie der Gegenwart zu untersuchen beabsichtigt. Da Foucault den Versuch, den eigenen Standort über eine hermeneutische Reflexion der Teilnehmerperspektive zu thematisieren, aus me-

645 Vgl. etwa Max Horkheimer (1937): Traditionelle und kritische Theorie. In: Zeitschrift für Sozialforschung 6, Paris, S. 245-294. 646 Vgl. McCarthy (1991), a.a.O., S. 65ff.

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thodischen Gründen ausschließt, kaschiert er gezielt die eigenen politischen Implikationen. Darin unterscheidet er sich klar von der Tradition der Frankfurter Schule, die diese in ihrer frühen Version geschichtsphilosophisch und in der jüngeren, auf Habermas zurückgehenden Linie universalpragmatisch zu begründen sucht. So kann sein Verfahren einer beschreibenden Rekonstruktion historischer Rationalitäten und Praktiken für sich genommen, zumindest im Sinne seines eigenen positivistischen Selbstverständnisses, möglicherweise noch als politisch neutrale Theorieform bezeichnet werden, spätestens mit der Auswahl des Untersuchungsgegenstandes, auf den der Analyseraster gelegt wird, erweist es sich jedoch als eminent politisch.647 Für das politische Selbstverständnis Foucaults bedeutet dies zweierlei: 1. Aufgabe der Theorie ist die distanzierende Kritik des in seiner Rationalitätsform und Funktionsweise historisch gewordenen und damit aufgrund seiner Kontingenz zugleich prinzipiell veränderbaren Bestehenden. Damit liefert sie den gesellschaftlichen Akteuren die ontologische Rechtfertigung für politisches Handeln. Unbeantwortet lassen muss die Theorie allerdings Fragen der normativen Begründung wie der politischen Zielrichtung des Handelns. Sie kann lediglich die Bedingungen möglicher Veränderung angeben. Insofern kann sie keine Theorie der Befreiung sein. Dies nicht nur, weil Befreiung immer eine Repressionserfahrung voraussetzt, deren Existenz Foucault freilich nicht bestreitet, die aus der Beobachterperspektive jedoch nicht erfasst werden kann, sondern auch, weil sie aus seiner Sicht immer mit theoretisch prekären kategorialen Termini, wie etwa Wesen oder Entfremdung, operieren müsste, die selbst der kritisierten Rationalität der modernen Episteme angehören. Die Theorie kann den gesellschaftlichen Akteuren nur die Werkzeuge bereitstellen, um möglicherweise neue Begriffe und Perspektiven zu kreieren, die die herrschende Rationalität zu modifizieren in der Lage wären. 2. Was Foucault selbst anvisiert, sind vielmehr „Praktiken der Freiheit“,648 die sich vielleicht als einer Art existenziellen Autonomie in der Form einer ethischen Haltung kritischer Distanz zu sich und anderen umschreiben ließe. Diese ange-

647 Vgl. Richter (2005), a.a.O., S. 108; zum Vergleich der Kritkmodelle von Foucault und Habermas sowie deren politischen Implikationen vgl. auch Stéphane Haber (2006): Sciences humaines et savoir émancipateur chez Foucault et Habermas. In: Yves Cusset/ders. (Hg.), Habermas et Foucault. Parcours croisés, confrontations critiques, Paris, S. 183-209. 648 Vgl. Foucault (1984h), a.a.O., Bd. 4, S. 876ff.

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deutete Perspektive bleibt allerdings nicht nur recht unscharf, auch ihr theoretischer Status ist ambivalent. Gestützt auf die Einsichten, die aus der Beobachterperspektive gewonnen werden konnten, formuliert Foucault an dieser Stelle offenbar aus der Binnenperspektive mit Blick auf eine mögliche Zukunft. Damit wird zugleich ersichtlich, dass bei Foucault klar zwischen der politischen Dimension der Theorie und seinem politisch-praktischen Engagement zu unterscheiden ist. Letzteres ist vornehmlich das einer Privatperson. Der politische Bürger Foucault agiert aus der Teilnehmerperspektive als Kind seiner Zeit, die er als Theoretiker von außen betrachtet. Politisches Handeln selbst ist streng genommen nicht theoriefähig. Vor diesem Hintergrund darf die politische Beurteilung der Bedeutung einer „Ästhetik der Existenz“ und der Lebenskunst für eine moderne Lebensform, wie Foucault sie in einigen Interviews der 80er Jahre vornimmt, nicht überbewertet werden.649 Diese Einlassungen haben weitgehend experimentellen Charakter. Foucault formuliert sie zwar im Zusammenhang mit seiner Diagnose, dass in den modernen westlichen Gesellschaften die Anerkennung traditioneller Moralsysteme schwindet, was seiner Ansicht nach die Suche nach einer „persönlichen Ethik“ erforderlich mache,650 er weist aber bekanntlich zugleich auch darauf hin, dass eine schlichte Übertragung der griechischen Moral weder möglich noch, aufgrund ihrer Koppelung an die Herrschaft des freien männlichen Bürgers, wünschenswert sein könne.651 Insofern kann der Blick zurück in die Antike nur ein Kontrastmittel liefern, das die Gegenwart in einem neuen Licht erscheinen lässt und dadurch möglicherweise politisch innovative Fragen provoziert. Für die hier verfolgte Untersuchung ist allerdings noch etwas anderes bemerkenswert. Wenn Foucault in diesem Zusammenhang in Anspielung an eine antike Lebenskunst an einer Stelle fragt: „Aber könnte nicht das Leben eines jeden Individuums ein Kunstwerk sein?“,652 dann formuliert er dies als politisches Subjekt der Gegenwart aus der Binnenperspektive. Und er stellt damit eine Frage, die im Übrigen so auch Sartre hätte formulieren können, erinnert sie doch gerade an

649 Vgl. etwa Michel Foucault (1984j): Eine Ästhetik der Existenz (Une esthétique de l’existence. In: Le Monde, 15./16. Juli 1984, S. XI); hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S. 905; sowie Foucault (1983), a.a.O., Bd. 4, S. 464. 650 Vgl. Foucault (1984j), a.a.O., Bd. 4, S. 905. 651 Vgl. Foucault (1983), a.a.O., Bd. 4, S. 465f. 652 Ebd., S. 473.

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dessen Diktum, dass der Mensch nichts anderes ist, als das, wozu er sich macht.653 Damit soll freilich nicht behauptet werden, Foucault gleiche seine theoretische Position am Ende seines Lebens doch noch an diejenige des dereinst so vehement kritisierten Rivalen an. Foucault hat dies, darauf angesprochen, zudem weit von sich gewiesen. Auffällig an seiner Antwort sind jedoch zwei Dinge: Zum einen, dass Foucault darauf zwei Antworten gibt. Die ein Jahr später publizierte französische Fassung des Interviews mit Dreyfus und Rabinow von 1983 weicht an dieser Stelle stark von der amerikanischen Version ab, was darauf hindeuten könnte, dass Foucault selbst damit ringt, dass es an diesem Punkt eine überraschende Kongruenz mit Sartre gibt.654 Beide Male wendet er sich gegen Sartres Begriff der Authentizität, den er als Festhalten an der Idee eines authentischen Selbst deutet. In der ersten Version grenzt er sich jedoch generell davon ab: „Ich denke, dass es nur einen einzigen Ausgang für diese Idee des Selbst gibt, der nicht vorweg gegeben ist: Wir müssen aus uns selbst ein Kunstwerk machen.“655 Und Foucault insistiert zugleich darauf, er meine damit genau das Gegenteil von Sartre, nämlich: „Wir sollten nicht die schöpferische Aktivität eines Individuums an das Verhältnis binden, das es zu sich selbst unterhält, sondern diese Art Verhältnis zu sich, das man haben kann, mit einer schöpferischen Tätigkeit verbinden.“656 In der späteren Version wird Authentizität hingegen als eine mögliche Modalität der Selbstbeziehung zugelassen: „[…] man muss begreifen“, so Foucault, „dass die Selbstbeziehung wie eine Praxis strukturiert ist, die ihre Modelle, ihre Konformitäten, ihre Varianten, aber auch ihre Schöpfungen hat.“657 Kaum etwas anderes hatte Sartre im Blick, wenn er die Authentizität als einen Modus des Selbstverhältnisses von denjenigen der Aufrichtigkeit und der Unaufrichtigkeit abgrenzt.658

653 Vgl. Sartre (1946), a.a.O., S. 150. 654 Vgl. die amerikanische Fassung (Foucault (1983), a.a.O.) in: Dreyfus/Rabinow (21983), a.a.O.; hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S. 473f, mit der französischen: Michel Foucault (1984k): Zur Genealogie der Ethik: Ein Überblick über die laufenden Arbeiten (À propos de la généalogie de l’éthique: un aperçu du travail en cours. In: dies. (1984): Michel Foucault. Un parcours philosophique. Au-delà de l’objectivité et de la subjecitivité. Avec un entretien et deux essais de Michel Foucault, Paris, S. 322-346); hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S. 758. 655 Foucault (1983), a.a.O., Bd. 4, S. 474. 656 Ebd. 657 Foucault (1984k), a.a.O., Bd. 4, S. 758. 658 Vgl. Sartre (1943), a.a.O., S. 119ff, insbesondere S. 159 sowie die dortige Fußnote.

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Zum anderen zeigt sich jedoch, abgesehen von diesen Schwankungen in den beiden Antworten, noch etwas Interessanteres: Foucault erkennt nämlich an, „[…] dass Sartre die Idee des Selbst als etwas, das uns gegeben ist, zurückweist […]“.659 Allerdings vermutet er, dass dessen Vorstellung von Authentizität mit seinem theoretisch entfalteten Subjektbegriff nicht vereinbar sei. „Und ich frage mich immer, ob diese Moral der Authentizität nicht tatsächlich bestreitet, was in ‚La transcendance de l’ego‘ gesagt wird“, so Foucault. Denn das Thema der Authentizität verweise „[…] explizit oder nicht auf eine Seinsweise des durch seine Übereinstimmung mit sich selbst bestimmten Subjekts“.660 So wie es aussieht, liegt nun aber gerade an diesem Punkt ein großes Missverständnis vor. Denn Sartres Begriff der Authentizität referiert eben nicht auf ein substanzielles, mit sich selbst identisches Ich, sondern zeichnet sich dadurch aus, dass sie im Gegensatz zu den beiden Seinsweisen der Aufrichtigkeit und der Unaufrichtigkeit anerkennt, dass das Für-sich immer eines ist, das ist, was es nicht ist, und nicht ist, was es ist. Authentizität meint somit wesentlich den praktischen Umgang mit diesem fundamentalen Paradox der menschlichen Existenz.661 Deshalb kann Sartre auch schreiben: „Ursprünglich besteht also die Authentizität darin, die Suche nach dem Sein abzulehnen, weil ich immer nichts bin.“662 Sartre fasst das Selbst, wie oben ausführlich gezeigt, genau als diejenige Leerstelle, auf die Foucaults archäologische Beschreibung der modernen Episteme in „Les mots et les choses“ hinweist. Es gibt kein substanzielles Ich, auf das rekurriert werden könnte. In diesem Punkt sind sich die beiden Kontrahenten im Grunde einig.663 Was sie methodisch trennt, ist der Blick auf die Moderne. Was Foucault aus der virtuellen Beobachterperspektive beschreibt, erschließt sich Sartre aus der Teilnehmerperspektive – in erkenntnistheoretischer Hinsicht ein leeres Bewusstsein und in praktischer Hinsicht ein Individuum, das sein Selbstverhältnis über kontingent

659 Vgl. Foucault (1983), a.a.O., Bd. 4, S. 473. 660 Vgl. Foucault (1984k), a.a.O., Bd. 4, S. 758. 661 Vgl. hierzu auch Seel (1988), a.a.O., S. 281. Es ist bemerkenswert, dass in der Fachliteratur vor allem Autoren, die ein affirmatives Verhältnis zu Foucault pflegen, diese Fehldeutung von Sartres Authentizitätsbegriff unkritisch weitertransportieren. Vgl. insbesondere Wilhelm Schmid (2000): Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Die Frage nach dem Grund und die Neubegründung der Ethik bei Foucault, Frankfurt/M., S. 293f. 662 Sartre (1983), a.a.O., S. 828 (Hervorhebung i.O.). 663 Vgl. auch Morris (1997), a.a.O., S. 543f; ähnlich auch Peter Bürger (2007): Subjektphilosophie und Postmoderne. In: ders., Sartre. Eine Philosophie des Als-ob, Frankfurt/M., S. 15-32.

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vorgefundene Praktiken zu gestalten hat. Sobald Foucault auf die Handlungsebene seines Untersuchungsgegenstands wechselt, zieht er eine aus der Beobachterperspektive theoretisch gedeckte Konsequenz, die Sartre aus der Binnenperspektive zu begründen sucht: Der Mensch ist nichts anderes als das, wozu er sich macht, und in dieser Hinsicht sind wir gezwungen, ein Kunstwerk aus uns zu machen. Der gesellschaftstheoretische Ertrag von Foucaults Analysetechnik liegt damit vor allem in der plausiblen Beschreibung historisch wirkmächtiger Rationalitäten. Was die foucaultsche Archäologie frei zu legen vermag, sind die historisch konkreten Bedingungen des Handelns. Die Handlungsperspektive selbst kann dabei weitgehend außen vor bleiben. Wo sich diese allerdings aufdrängt, stößt das Verfahren an seine Grenzen. Foucault sieht sich dann gezwungen, mit einem recht unscharfen Strategiebegriff zu operieren. Sobald er sich damit in die Nähe einer Handlungstheorie begibt, zeigt sich zudem, dass sein machtanalytisches Instrumentarium Interaktionen nur als das Aufeinandereinwirken strategisch Handelnder fassen kann.664 Ein Defizit, das allerdings, wenn auch aus anderen Gründen, ebenso an Sartres Konzeption von Intersubjektivität festzustellen war. Insofern teilen beide Autoren in dieser Hinsicht ein Manko, das jedoch bei Foucault theoretisch weniger gravierend zu Buche schlägt, da er die Handlungsperspektive ohnehin fast vollständig auszublenden sucht. Foucaults wesentlicher und insofern nicht zu unterschätzender Beitrag für eine kritische Gesellschaftstheorie besteht somit in der archäologischen und genealogischen Rekonstruktion historischer Subjektivierungs- und Objektivierungsweisen. Er ermöglicht damit einen kritisch distanzierten Blick auf die technologische Seite der Macht, indem er einerseits deren Strukturlogik zu erläutern, andererseits deren historische Kontingenz und Gewordenheit nachzuweisen sucht. Damit versucht er einen Handlungsraum für mögliche Überschreitungen gegenwärtiger Selbst- und Weltverhältnisse zu eröffnen.665 Die historische Ontologie der Gegenwart nimmt damit für sich in Anspruch, eine historisch-kritische und zugleich experimentelle Haltung zu ihrem Untersuchungsgegenstand einzunehmen. Sie beabsichtigt, „an den Grenzen unserer selbst“ zu arbeiten, weil sie „[…] einerseits einen Bereich historischer Untersuchungen eröffnen und sich andererseits an der Realität und Aktualität erproben muss, und zwar sowohl, um die Stellen zu erfassen, an denen Veränderung möglich und wünschenswert ist,

664 Darauf hat u.a. auch Judith Butler mit ihrer Bemerkung hingewiesen, Foucault räume dem Anderen in seinen ethischen Überlegungen keinen expliziten Ort ein. Vgl. Butler (2005): Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt/M. 2007, S. 35. 665 Vgl. Kögler (22004), a.a.O., S. 3f.

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als auch, um die genaue Form zu bestimmen, die dieser Veränderung gegeben werden muss“.666 Das politisch-praktische Anliegen der Analyse der technologischen Seite der Macht besteht also darin, mögliche Transformationspunkte innerhalb der gesellschaftlichen Realität frei zu legen und damit die Bedingungen der Möglichkeit ihrer Überschreitung anzugeben. Was die strategische Seite der Macht angeht, stößt das Verfahren, wie gezeigt, an seine Grenzen. Es ist daher konsequent, wenn Foucault, bezogen auf die Gegenwartsanalyse, betont, dass die Aufgabe der genealogischen Kritik vornehmlich darin bestehen muss, „[…] aus der Kontingenz, die uns zu dem gemacht hat, was wir sind, die Möglichkeiten herauszulösen, nicht mehr das zu sein, zu tun oder zu denken, was wir sind, tun oder denken“.667 Damit zielt er, und es dürfte kein Zufall sein, dass er in diesem Zusammenhang von der „endlosen Arbeit der Freiheit“668 spricht, genau auf die offene Stelle, die die virtuelle Beobachterperspektive aussparen muss: das Moment der Handlungsfreiheit, das diese Möglichkeiten erst zu Möglichkeiten macht. Foucaults Gesellschaftsanalyse verlangt insofern nach einer handlungstheoretischen Ergänzung aus der Teilnehmerperspektive. Bei allen begründungstheoretischen Schwierigkeiten, die mit Sartres praxisphilosophischem Ansatz verbunden sind: Er markiert genau diese Stelle, die die historische Ontologie der Gegenwart frei lassen muss, wenn er, wir erinnern uns, aus der Binnenperspektive menschliches Handeln als Überschreiten einer Situation kennzeichnet und den Menschen „[…] durch das, was ihm aus dem zu machen gelingt, was man aus ihm gemacht hat […]“, charakterisiert.669 Sartre hatte seinen abstrakten Freiheitsbegriff, wie er ihn noch in „L’être et le néant“ konzipierte, bereits in den 1940er Jahren mit Blick auf die gesellschaftlichen Machtverhältnisse zu reformulieren begonnen. Die groß angelegte Flaubert-Studie aus den 70er Jahren kann als Versuch gelesen werden, die Logik individuellen Handelns innerhalb eines gegebenen gesellschaftlichen Kontextes anhand einer konkreten Person zu rekonstruieren. Insofern entfaltet er dort seine Handlungstheorie im historischen Kontext. Es gilt im Folgenden noch zu diskutieren, inwieweit die Kritik, die Foucault während des Humanismusstreits formuliert hatte, in Sartres Spätwerk einen Niederschlag gefunden hat.

666 Vgl. Foucault (1984d), a.a.O., Bd. 4, S. 703. 667 Vgl. ebd. 668 Vgl. ebd. 669 Vgl. Sartre (1960a), a.a.O., S. 101.

„Das Selbst, das man wählt, indem man sich selbst wählt, muß ja vorhanden sein, damit man es wählen kann; und so kann man auch nur die Geliebte wählen, die es schon ist. Die Geliebte wählen heißt nur die Geliebte übernehmen.“ (SØREN KIERKEGAARD)1

VI Sartres historisch-gesellschaftliches Individuum: Das Singuläre-Allgemeine

Mit seiner Kritik jeglicher Versuche einer Wesensbestimmung des Menschen war Foucault während des Humanismusstreites von 1966, jedenfalls was Sartre angeht, weit übers Ziel hinausgeschossen. Wie sich gezeigt hatte, widerspricht es Sartres Selbstverständnis geradezu, ein menschliches Wesen zum Ausgangspunkt der Theorie zu nehmen, geht doch die Existenz der Essenz voraus.2 Ausdrücklich hatte er dies, wie bereits erwähnt, noch wenige Jahre vor der Auseinandersetzung mit Foucault in der „Critique de la raison dialectique“ formuliert: „Außerdem muß man einsehen, daß der Mensch nicht existiert.“3 Zumindest in dieser Hinsicht wäre Sartre also geradezu als Vertreter eines theoretischen Antihumanismus einzuordnen.4 Was jedoch die in „Les mots et les choses“ aufge-

1

Søren Kierkegaard (1845): Stadien auf dem Lebensweg. In: Gesammelte Werke,

2

Vgl. hierzu auch die autobiografische Selbsteinschätzung in: Jean-Paul Sartre (1964):

Bd. 4, Jena 1922, S. 105. Die Wörter, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 143 (Les mots, Paris). 3

Sartre (1960), a.a.O., S. 37 (Hervorhebung i.O.); weitere Verweise finden sich, was die Ablehnung einer „Menschennatur“ angeht, ebd., S. 58, bzw. auf den geschichtlichen Charakter der Kategorie Mensch, ebd., S. 50.

4

Vgl. hierzu: Bernard-Henri Lévy (2002): Sartre. Der Philosoph des 20. Jahrhunderts, München/Wien, S. 213ff; kritisch dazu, insbesondere was Lévys systematisch nicht

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spannte Problematik des ‚anthropologischen Vierecks‘ angeht, hatte Foucault mit seiner Sartre-Kritik in der Tat ins Schwarze getroffen. Eine Problematik, der sich Sartre, wie gezeigt, jedoch durchaus bewusst war. Hatte sie der frühe Sartre in „L’être et le néant“ anhand der erkenntnistheoretischen Aporien der bewusstseinstheoretischen Figur der Selbstreflexion thematisiert und ihr mit den Mitteln einer ontologisch fundierten Handlungstheorie zu entrinnen versucht, so reflektierte er wesentliche Momente dieses historischen Apriori der Moderne in der „Critique de la raison dialectique“ als unausweichlich für seine transzendentalanthropologische Grundlegung des Handlungssubjektes. Zugleich beanspruchte er, die historisch-sozialen Determinanten der jeweiligen Selbst- und Weltverhältnisse der Handelnden in seinen aus der Binnenperspektive entwickelten Praxisbegriff zu integrieren. Damit hatte er zumindest ansatzweise nicht nur die von Foucault aufgeworfene epistemologische Problematik vor Augen, sondern zugleich bereits wesentliche Elemente von dessen späterer Machtanalytik berücksichtigt. Die Schwierigkeit, die sich dabei allerdings ergab, lag insbesondere in der nicht recht geklärten geltungstheoretischen Reichweite des Praxisbegriffs zur Bestimmung der Strukturlogik sozialer Macht. Die Kategorie des PraktischInerten hatte sich dafür als unzureichend herausgestellt, da sie die subjektive Erfahrung von Verdinglichung nicht als objektiven Wirkungszusammenhang zu beschreiben in der Lage war. Die Binnenperspektive, wie Sartre sie in der „Critique de la raison dialectique“ entfaltet hatte, war an ihre Grenzen gestoßen. Es hatte sich zudem herausgestellt, dass der erforderliche Wechsel in eine Beobachterperspektive mit den kategorialen Mitteln, die die praxisphilosophische Grundlagenreflexion der konstituierenden Dialektik bereitstellt, nicht zu leisten war. Im Gegenzug war aber auch die von Foucault ins Feld geführte virtuelle Beobachterperspektive an ihre methodologischen Grenzen gestoßen. Die Weiterentwicklung der Diskursanalyse in der „Archéologie du savoir“, die Machtanalytik der frühen 1970er Jahre sowie die zuletzt entfaltete Geschichte der Problematisierungen können als Versuche einer produktiven Verarbeitung von Sartres Kritik an den unerklärt gebliebenen historischen Übergängen von Foucaults Archäologie der Humanwissenschaften gelesen werden. Es handelt sich dabei um drei Modelle, mit deren Hilfe versucht wird, historische Veränderungen in epistemischer wie politisch-praktischer Hinsicht zu beschreiben, ohne auf eine auf transzendentale Annahmen gegründete Geschichtsphilosophie zurückgreifen zu müssen. Zugleich war aber Foucault mit seinem Versuch einer radikalen His-

haltbare Unterscheidung in einen frühen, eher ‚antihumanistischen‘ und einen späten, eher ‚humanistischen‘ Sartre angeht (vgl. ebd., S. 438f.): von Wroblewsky (2002), a.a.O.; sowie Müller-Schöll (2006), a.a.O.

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torisierung von Subjektivierungs- und Objektivierungsformen bei der Beschreibung der entsprechenden Weisen der Subjektivierung unversehens in die Nähe einer Handlungstheorie geraten. Spätesten in dem Moment, in dem er die ontologische Unterstellung einer fundamentalen Freiheit von strategischen Handlungssubjekten zu machen gezwungen ist, berührt die Beobachterperspektive nicht nur partiell den Freiheitsbegriff des frühen Sartre, die historische Ontologie der Gegenwart wirft damit zugleich die Frage nach der Notwendigkeit einer binnentheoretischen Ergänzung auf. Denn was die Beobachterperspektive unter technologischen Gesichtspunkten als spezifische Rationalität historischer Praktiken frei zu legen vermag, verweist, sobald diese nach der strategischen Seite fragt, auf ein historisch-gesellschaftlich bedingtes Handlungssubjekt, dessen strategische Spielräume sich im Rahmen einer gegebenen Rationalitätsstruktur zugleich aus der Binnenperspektive beschreiben lassen müssten. Das nun ist in etwa das Vorhaben, das Sartre in seiner monumentalen Flaubert-Analyse in den 70er Jahren in Angriff genommen hat. Er unternimmt den Versuch, ein konkretes Individuum innerhalb eines spezifischen historischen und sozialen Kontextes als Handlungssubjekt zu bestimmen. Sartre beabsichtigt, die historische Person Gustave Flaubert innerhalb des methodologischen Bezugsrahmens, wie er ihn in der Grundlagenreflexion der „Critique de la raison dialectique“ entworfen hatte, als eine von einer historisch konkret vorgefundenen Struktur des Praktisch-Inerten bedingte wie zugleich diese bedingende Praxis zu verstehen. Die dort über das Verfahren einer regressiven Analyse innerhalb der Grundlagenreflexion auf der Basis der individuellen Praxis entfalteten Kategorien einer konstituierenden Dialektik werden nun quasi in actu anhand eines konkreten historischen Individuums zugleich regressiv-analytisch wie progressiv-synthetisch entfaltet.5 Dabei versucht Sartre einsichtig zu machen, wie die in der „Critique de la raison dialectique“ zunächst auf der individuellen Praxis aufbauenden Strukturmomente gesellschaftlicher Praxis in einem spezifischen Fall ineinandergreifen und auf die entsprechenden Subjektstrukturen des Individuums Flaubert zurückwirken. Die Praxis der Anderen, wie sie sich auf verdinglichende Weise im Praktisch-Inerten kristallisiert, erscheint damit als wesentlich an der Konstitution des Subjekts wie an dessen Selbstvergewisserung im Prozess seines Lebensvollzugs beteiligt. Ziel dieser Herangehensweise ist es, das Subjekt als ein durch die Objektivität Bedingtes und zugleich diese Bedingendes aufzuweisen.

5

Vgl. Manfred Frank (1980): Das Individuum in der Rolle des Idioten. Die hermeneutische Konzeption des ‚Flaubert’. In: Traugott König (Hg.), Sartres Flaubert lesen. Essays zu ‚Der Idiot der Familie’, Reinbek bei Hamburg, S. 85.

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Auf diesen Punkt soll sich der folgende knappe Aufriss des „Idiot de la famille“ konzentrieren. Der Fokus der Darstellung liegt darauf, anhand des spezifischen Falles Flaubert, den er über tausende von Seiten historisch-kritisch zu analysieren sucht, Sartres Modell der Subjektivierung zu rekonstruieren. Subjektivierung wird dabei in Analogie zu Foucaults Gebrauch des Terminus ‚assujettissement‘ in ihrem doppelten Sinn verwendet: als Unterwerfung unter eine gegebene Struktur, was Sartre als Konstitution unter den Vorgaben der geronnenen Praxis der Anderen in der Gestalt des Praktisch-Inerten zu kennzeichnen sucht,6 sowie als Subjektwerdung über die dabei gleichzeitig vollzogene Selbstkonstitution eines praktischen Handlungssubjektes, was er als Personalisation fasst. Diese Deutung erscheint insofern legitim, als Sartre selbst immer wieder Anleihen bei so genannten strukturalistischen Ansätzen machte. Ein Sachverhalt, der freilich für sich genommen nicht neu ist, hatte er doch, wie oben gezeigt, bereits in der „Critique de la raison dialectique“ mehrfach auf entsprechende Arbeiten, etwa diejenigen von Lévi-Strauss, zurückgegriffen. Zudem war Sartre in der Humanismusdebatte von 1966 bereit gewesen, den Strukturalismus generell als ein gerechtfertigtes Analyseverfahren anzuerkennen, dessen methodologische Defizite er allerdings nur durch die Integration in einen praxisphilosophischen Ansatz glaubte beheben zu können. Die Art und Weise, wie Sartre im „Idiot de la famille“ vorgeht, um das konkrete Individuum Gustave Flaubert innerhalb einer historischen Totalität zu erkunden, lässt vermuten, dass bestimmte Momente der Subjektkritik, wie sie während des Humanismusstreites insbesondere von Seiten Foucaults formuliert wurden, in sein Spätwerk Eingang gefunden haben.7 Da die Darstellung sich im Folgenden weitgehend auf den Aspekt der Subjektivierung konzentriert, kann sie selbstredend dem gesamten Vorhaben, das Sartre in dieser viel breiter angelegten gesellschaftskritischen Untersuchung ver-

6

Sartre verwendet den Terminus ‚assujettissement‘ freilich nicht. Er spricht von Unterwerfung im Sinn von „soumission“ (vgl. etwa Sartre (1971/72), a.a.O., Bd. 1, S. 153; frz., Bd. 1, S. 152). Jedoch fasst er Flauberts Subjektwerdung gleich zu Beginn der Studie, ähnlich wie Foucault dies etwa in „Surveiller et punir“ tun wird, als „Dressur“ (dressage). Vgl. ebd., S. 11 (frz. S. 13). Sartre beschreibt gewissermaßen den Prozess einer spezifischen Disziplinierung aus der Binnenperspektive.

7

Von einem zunehmenden Einfluss des Strukturalismus auf den späten Sartre gehen u.a. auch Autoren wie Frank oder Caws aus. Vgl. Manfred Frank (1980a): Archäologie des Individuums. Zur Hermeneutik von Sartres ‚Flaubert’. In: ders., Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur neuesten französischen Hermeneutik und Texttheorie, Frankfurt/M., S. 38; sowie Peter Caws (1992): Sartrean Structuralism? In: Christina Howells (Hg.), The Cambridge Companion to Sartre, Cambridge, S. 294.

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folgt, nicht gerecht werden.8 „L’idiot de la famille“ ist ein Werk, das jenseits aller Fachdisziplinen positioniert ist. Sartre bedient sich darin unterschiedlicher methodologischer Instrumente und macht Anleihen bei diversen Disziplinen der Sozial- und Kulturwissenschaften, die jedoch innerhalb des Gesamtprojektes den Status von Hilfswissenschaften zugewiesen bekommen. So greift er u.a. auf biografische Techniken, Methoden der Literaturkritik und Kunsttheorie wie auf historische und soziologische Analysen zurück.9 Der Grund für diese Ausflüge in die zum Teil mit empirischen Verfahren operierenden Einzelwissenschaften liegt im Untersuchungsgegenstand. Es handelt sich um ein reales historisches Individuum in einer empirischen Welt. Sartre ist daher gezwungen, deren Forschungsergebnisse mit den in der „Critique de la raison dialectique“ entwickelten Begriffen seiner Praxisphilosophie zu vermitteln. Letztere fungiert freilich weiter als theoretischer Bezugsrahmen, wie er auf der Grundlage einer historischstrukturellen Anthropologie entwickelt wurde. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es für Sartre legitim, seine historisch-kritische Rekonstruktion der Person Flaubert dort, wo die Einzelwissenschaften an ihre Grenzen stoßen, durch die Einführung von „Verständnishypothesen“ zu überbrücken.10 Das ganze Unterfangen erhält damit stellenweise zugleich einen fiktiven, literarischen Charakter, weshalb Sartre den „Idiot de la famille“ auch als Bildungsroman verstanden wissen wollte, mit dem er allerdings, ungeachtet gewisser fiktionaler Elemente, einen Wahrheitsanspruch erhebt. Sartre hat die monumentale Flaubert-Analyse deshalb gelegentlich auch als „roman vrais“ bezeichnet.11 All dies bleibt unter dem Blickwinkel der hier verfolgten Untersuchung weitgehend unberücksichtigt. Das Augenmerk soll in dem sich nun anschließenden skizzenhaften Durchlauf durch Sartres Flaubert-Studie fast ausschließlich auf zwei Momente gerichtet werden: einerseits auf die einzelnen Stadien der Subjektivierung, wie sie am konkreten Fall Flaubert auf der Folie von Sartres Praxismodell durchexerziert wird und in eine ‚passive Aktivität‘ mündet, die sich als Form defizitärer Praxis

8

Vgl. hierzu die ausführliche kritische Darstellung des Gesamtprojekts bei Hazel E. Barnes (1981): Sartre and Flaubert, Chicago/London.

9

Sartre geht methodisch nach dem in „Questions de méthode“ entworfenen Verfahren einer Integration der Sozialwissenschaften vor – vgl. Sartre (1960a), a.a.O., S. 43ff. –, das er allerdings in der Flaubert-Analyse zu verfeinern und zu konkretisieren sucht; vgl. Sartre (1976), a.a.O., S. 183.

10 Vgl. Sartre (1971/72), a.a.O., Bd. 1, S. 56. 11 Vgl. Sartre (1969a), a.a.O., S. 159; Sartre (1971), a.a.O., S. 152f; Sartre (1976), a.a.O., S. 187ff; vgl. hierzu auch: Michel Sicard (1979): L’expérience de la totalité. In: ders., Essais sur Sartre, Paris 1989, S. 120f.

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beschreiben lässt, und andererseits auf den methodologischen Zugriff auf die jeweiligen Zustände des Praktisch-Inerten, wie er zur Charakterisierung der jeweiligen Subjektivierungsstadien erforderlich ist.

Die Rekonstruktion einer historisch-konkreten Totalität Anders als in früheren biografischen Untersuchungen verfährt Sartre im Flaubert konsequent nach der bereits in der „Critique de la raison dialectique“ entwickelten progressiv-regressiven Methode. Verstanden sich die Studien zu Baudelaire12 und Genet13 noch als konkrete Anwendungen des methodischen Instrumentariums der existentiellen Psychoanalyse, wie sie Sartre am Ende von „L’être et le néant“ skizziert hatte,14 so steht „L’idiot de la famille“ ebenso wie die Mitte der 60er Jahre erschienene autobiografische Schrift „Les mots“ methodisch in der Tradition der „Critique de la raison dialectique“. Dies hat zur Konsequenz, dass das Welt- und Selbstverhältnis des jeweils untersuchten Individuums, das in den frühen Arbeiten über den inhaltlich weitgehend unbestimmten Situationsbegriff rekonstruiert werden musste,15 nun mit einer gesellschaftstheoretisch gesättigten Beschreibung konkret-historischer sozialer Lebensverhältnisse vermittelt werden kann. Mit dem Anliegen, seine in der praxisphilosophischen Grundlegung entwickelten Kategorien an der Biografie einer konkreten Person zu erproben, geht Sartre jedoch zum Teil über die dort bereits entfaltete Bewegung der gesellschaftlichen Dialektik hinaus.16 Denn während er in der „Critique de la raison dialectique“ lediglich die regressiv-analytische Komponente seiner Methode entfaltet hatte, mit deren Hilfe er die Strukturmomente gesellschaftlicher Praxis quasi im Stillstand frei zu legen suchte, war der Rekonstruktionsversuch einer synthetischen Progression der Geschichte Fragment geblieben. In der FlaubertStudie macht er sich nun auf der individuellen Ebene eines konkreten Handlungssubjektes daran, beide methodischen Verfahren in Anschlag zu bringen.

12 Vgl. Jean-Paul Sartre (1947): Baudelaire, Reinbek bei Hamburg 1978 (Baudelaire, Paris). 13 Vgl. Jean-Paul Sartre (1952): Saint Genet, Komödiant und Märtyrer, Reinbek bei Hamburg 1982 (Saint Genet, comédien et martyr, Paris). 14 Vgl. Sartre (1943), a.a.O., S. 956ff. 15 Vgl. hierzu auch Sartres Selbstkritik an der Genet-Biografie: Sartre (1969a), a.a.O., S. 153. 16 Vgl. Sartre (1976), a.a.O., S. 184.

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Das in den „Questions de méthode“ umrissene „Hin-und-Her“ des Gangs der Untersuchung zwischen den „einzelnen Gegebenheiten“ und den „allgemeinen Bestimmungen der Lebensverhältnisse“ wird nun an einem historischen Gegenstand, nämlich der Person Flaubert, erprobt und hat zum Ziel, die „Erlebnistiefe“ dieses Individuums innerhalb einer konkreten gesellschaftlichen Totalität nachzuzeichnen.17 Der regressiven Analyse kommt dabei die Aufgabe zu, sowohl die lebensgeschichtlichen wie historisch-gesellschaftlichen Konstitutionsbedingungen zu entschlüsseln. Im Falle Flauberts beinhaltet dies eine präzise Untersuchung seiner Familiengeschichte und der darin sich entfaltenden Machtbeziehungen sowie eine historisch-kritische Sicht auf die bürgerliche Gesellschaft in Frankreich Mitte des 19. Jahrhunderts. Die progressive Synthese verfährt dabei in ergänzenden Schritten und versucht die konkreten Handlungsvollzüge in ihrer Motiv- und Zielstellung zu verstehen. Das regressiv-progressive Verfahren soll zeigen, inwieweit es möglich ist, das Selbst- und Weltverhältnis einer konkreten Person als eine historisch-gesellschaftliche Totalisierung aufzufassen. Mit dieser Zielstellung versucht Sartre schrittweise die Ausgangsfrage seiner mehrbändigen Flaubert-Analyse zu beantworten: „Was kann man heute von einem Menschen wissen?“18 Wie in seinen früheren Arbeiten setzt Sartre dazu konsequent aus der Binnenperspektive an. Anders als in „L’être et le néant“ und in der „Critique de la raison dialectique“, wo er, wenn auch mit unterschiedlichen methodischen Mitteln, das Ziel verfolgte, aus einem universal anwendbaren Handlungsbegriff die Strukturen des Selbst- und Weltverhältnisses der Subjekte zu bestimmen, geht es im „Idiot de la famille“ nun darum, den Zugriff auf die Sicht eines konkrethistorischen Akteurs möglich zu machen. Aus dieser einzigartigen Teilnehmerperspektive des Gustave Flaubert soll dessen Konstitution und Genese als Handlungssubjekt innerhalb eines gegebenen gesellschaftlichen Zusammenhangs rekonstruiert werden. Hierfür genügt es nicht, die historische Person Flaubert von außen anhand protokollierbarer Fakten innerhalb eines gegebenen Kontextes zu beschreiben, sondern es ist ein spezifisches Verfahren gefordert, das es gestattet, sich in diese Person selbst auf methodisch abgesicherte Weise hineinzuversetzen. Nur so könnte nachvollzogen werden, wie dessen konkretes Welt- und Selbstverhältnis von Flaubert selbst erlebt wurde. Es geht also, wie Sartre an einer Stelle ausdrücklich betont, darum, „[…] die Art und Weise zu bestimmen, in der dieses Erlebte erlebt wird“.19 Damit radikalisiert Sartre sein ursprüngliches

17 Vgl. Sartre (1960a), a.a.O., S. 156f. 18 Sartre (1971/72), a.a.O., Bd. 1, S. 7. 19 Vgl. ebd, S. 399.

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Vorhaben einer Gesellschaftstheorie aus der Teilnehmerperspektive. In der Flaubert-Studie versucht er de facto vorzuexerzieren, was in der Grundlagenreflexion der „Critique de la raison dialectique“ programmatisch entworfen wurde: wie ausgehend von der individuellen Praxis die Struktur des gesellschaftlichen Funktionszusammenhangs einsichtig gemacht werden kann. Im hier vorliegenden konkreten Fall nun bedeutet dies: wie über die Hermeneutik eines spezifischen Lebensvollzuges schließlich eine Diagnose der bürgerlichen Gesellschaft zur Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich geleistet werden kann. Die historischen Mechanismen sozialer Macht sollen durch die Rekonstruktion der Weise, wie sie von einem Individuum erlebt werden, transparent gemacht werden. Daher der Ansatz bei der konkreten Person Flaubert, den Sartre in methodischer Hinsicht in einem Zwischenergebnis wie folgt resümiert: „[…] vom Beginn der Untersuchung an haben wir ihn [Flaubert/M.R.] von innen begriffen, das heißt in Komplizenschaft mit ihm; wenn es uns auch hat passieren können, daß wir seine Bekenntnisse in eine andere Sprache transkribierten – das heißt eine ‚Lektüre‘ daraus gemacht haben, die uns selbst als nach ihm, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lebend situiert –; wenn auch unsere Methode einschließt, daß wir die Rede bemühen, ohne irgendein Moment von ihr zu bevorzugen, so ist in jedem Fall sicher, daß wir ihn niemals von außen behandelt haben als reines Objekt eines definitorischen Wissens. Alles was wir von ihm erfahren haben, hat er erlebt und gesagt. Dieses Buch hätte keinerlei Sinn, wenn es nicht seine Absicht wäre – zumindest in seinen ersten Teilen – sich immer auf der Ebene zu halten, wo die Verinnerung des Äußeren sich in Entäußerung des Inneren verwandelt. Unser Ziel ist es ja zunächst zu zeigen, wie die objektiven Bedingungen, die wir nennen und ordnen, von dem unreduzierbaren subjektiven Moment aufrechterhalten und auf die Objektivierung hin überschritten werden.“20

Mit Blick auf die weiter oben diskutierten Defizite von Sartres Intersubjektivitätskonzeption fragt es sich freilich, wie er nun ausgerechnet die Übernahme der Perspektive eines Anderen methodisch zu leisten gedenkt. Denn der Anspruch zu

20 Ebd., Bd. 4, S. 26f (2. und 3. Hervorhebung i.O., 1. und 4. M.R.). Die Einschränkung, die Sartre hier auf die ersten drei Teile der Studie vornimmt, bezieht sich auf die unmittelbare Untersuchung des Datenmaterials zu Flauberts Biografie. Im 4. Teil wechselt Sartre vorübergehend auf die gesellschaftliche Ebene, um die herrschende Ideologie zum damaligen Zeitpunkt zu beschreiben. Es wird im Folgenden zu zeigen sein, dass Sartre auch dies aus der Sicht der bürgerlichen Klasse zu leisten versucht und insofern lediglich die Binnenperspektive verschiebt, aber keine externe Beobachterperspektive einzunehmen sucht.

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rekonstruieren, wie Flaubert sich und seine Zeit erlebt, bedeutet schließlich nichts anderes, als dass über ein hermeneutisches Verfahren eine virtuelle Binnenperspektive dieser konkreten Person eingenommen werden soll. Es muss also möglich werden, die Perspektive des Anderen in Gänze verstehen zu können. Mit den praxisphilosophischen Mitteln, die die Grundlagenreflexion der „Critique de la raison dialectique“ bereitstellte, wäre jedoch lediglich ein strategisches Verhältnis zu diesem Anderen konzipierbar. Damit würde ein Verständnis des Anderen jedoch allein den Imperativen instrumenteller bzw. strategischer Rationalität folgen müssen. Das aber würde kaum genügen, um das spezifische Selbstund Weltverhältnis einer konkreten Person in all ihren emotionalen – und damit rationalen wie irrationalen – Facetten erschließen zu können. Sartre scheint sich dieser Schwierigkeiten bewusst gewesen zu sein, wenn er gleich zu Beginn des „Idiot de la famille“ darauf verweist, dass die virtuelle Einnahme der Binnenperspektive Flauberts der „Empathie“ bedarf, denn diese sei „[…] die einzige zum Verständnis angemessene Haltung“.21 Der Flaubert-Studie muss also offensichtlich ein Verstehensbegriff zu Grunde liegen, der sich von dem bislang in der Grundlagenreflexion vorausgesetzten unterscheidet. Dies ergibt sich selbstredend zunächst aus dem Untersuchungsgegenstand. Die historische Person Flaubert ist kein Alter Ego innerhalb einer Handlungssequenz, die sich je nach Kontext unter dem Gesichtspunkt erfolgsorientierten oder verständigungsorientierten Handelns charakterisieren ließe, sondern ein Gegenüber, das lediglich in der Gestalt überlieferter materialer Zeugnisse in Erscheinung tritt. Insofern kann hier Verstehen nicht Verstehen der Handlungsmotivation und -orientierung innerhalb einer sich als Konflikt oder Kooperation vollziehenden Interaktion bedeuten, sondern es handelt sich um den rationalen Nachvollzug vergangener Handlungen, Motive, Einstellungen und Absichten eines Anderen im Kontext der Handlungen Dritter. Hierfür ist eine Technik der Einfühlung notwendig, die über ein nur strategisches Verständnis hinausweist. Die von Sartre geforderte komplizenhafte Einstellung zu Flaubert verlangt einen handlungstheoretisch breiter angelegten Begriff des Verstehens. Sartre kann hierfür auf seine ursprüngliche Konzeption des Verstehens, wie er sie in Grundzügen bereits gegen Ende der 50er Jahre in den „Questions de méthode“ entwickelt hatte, zurückgreifen. Allerdings war dieser Verstehensbegriff, wie sich weiter oben gezeigt hatte, wenig später kaum noch zum Tragen gekommen, nachdem er seinen Praxisbegriff am Modell der Arbeit orientiert hatte. Der kommunikative Aspekt wurde weitgehend ausgeblendet und einem primär instrumentell ansetzenden Praxisverständnis geopfert. Dies war, wie gesehen,

21 Vgl. ebd., Bd. 1, S. 8.

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nicht zwingend, hatte Sartre doch in den „Questions de méthode“ Verstehen zunächst als konstitutives Moment jeglichen Handelns gedacht. Verstehen war als in den Handlungsentwurf eingebaute Reflexion auf die eigene Existenz gefasst worden, durch die eine ‚indirekte Erkenntnis‘ menschlicher Praxis zu Stande kommen sollte. Ungeachtet der bereits diskutierten erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten gilt es hier lediglich, in Erinnerung zu rufen, dass Sartre in diesem Zusammenhang davon ausgegangen war, dass mit dieser Reflexion innerhalb des eigenen Existenzvollzuges zugleich die prinzipielle Möglichkeit des Verstehens der Existenz des Anderen mit gegeben ist. Denn Verstehen bezog sich auf den gesamten lebensweltlichen Kontext, in den Handeln immer schon eingebettet ist. Es umfasst damit alle drei Handlungsbezüge der Existenz in ihrer jeweiligen Eigenlogik: zu sich, dem Anderen sowie zu den materiellen Gegenständen – also die subjektive, die intersubjektive und die objektive Welt. Vor diesem Hintergrund unterschied Sartre in den „Questions de méthode“ und noch zu Beginn der „Critique de la raison dialectique“ das Verstehen (compréhension) streng von Erkennen (connaissance) und Erklären (intellection). Während Erkennen in den Aufgabenbereich der analytisch verfahrenden Einzelwissenschaften fällt, die von außen einen methodisch gesicherten Gegenstandsbezug gewährleisten sollen, ist Verstehen prinzipiell an die Binnenperspektive des Handelnden gebunden und liefert zudem die geltungstheoretische Grundlage objektiver Erkenntnis. Erklären wiederum meint die dialektische Durchdringung des Erkannten aus der Handlungsperspektive. Auf diese kategoriale Unterscheidung greift Sartre schließlich in den 70er Jahren ausdrücklich zurück, wenn er auf dem weiter oben bereits erwähnten Unterschied zwischen Definition (concept) und Begriff (notion) besteht und dabei betont, dass dieser sich mit dem von Erkennen und Verstehen deckt. Definitionen sind zeitlose Bestimmungen von außen, während ein Begriff von innen entfaltet werden muss und dabei einer doppelten Zeitlichkeit unterliegt: sowohl derjenigen des Gegenstandes wie derjenigen, die zu seiner Durchdringung erforderlich ist.22 Erst der aus der Binnenperspektive ansetzende Begriff soll es möglich machen, die Erkenntnisse der objektiven Wissenschaften zu erklären, indem sie auf ein Geflecht von Handlungen rückbezogen werden. Für die beabsichtigte Rekonstruktion der historischen Person Flaubert bedeutet dies: Ausgehend vom vorliegenden Datenmaterial hat Sartre deren „Entstehung und Entwicklung“ in all ihren Facetten nachzuvollziehen – so zum Beispiel die existenzielle Passivität, die Flauberts Lebensvollzug kennzeichnet. Dies geschieht demnach „[…] mit der Methode, die versucht, sie [die Passivität/M.R.] zu übernehmen, und zugleich die Innerlich-

22 Vgl. Sartre (1971), a.a.O., S. 153f., vgl. auch Sartre (1971/72), a.a.O., Bd. 4, S. 52.

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keit, das heißt, die Vorstellungen, die sich ineinander verschachteln, die Beziehungen innerer Negation zueinander haben, kurz dialektische Beziehungen“.23 Genau das ist es, was Sartre mit Empathie meint. Verstehen einer Person beansprucht das vollständige begriffliche Erfassen ihrer Selbst- und Weltbezüge, und das muss notwendig bedeuten, sowohl unter instrumentell-strategischen wie auch unter kommunikativen und emotionalen Gesichtspunkten.24 Es liegt im Übrigen nahe, dass dieser Rückgriff auf den frühen Verstehensbegriff auch Auswirkungen auf Sartres Praxisbegriff hat, wie er der FlaubertStudie zu Grunde liegt, da dadurch eine Erweiterung vom strategischen zu expressiv-dramaturgischem und kommunikativem Handeln und insofern im Weiteren auch eine modifizierte Charakterisierung von Interaktionsbeziehungen denkbar wird.25 Für den hier verfolgten Zusammenhang ist allerdings vorrangig festzuhalten, dass Sartre im „Idiot de la famille“ gegenüber der „Critique de la raison dialectique“ eine methodologische Verschiebung vorgenommen hat, die für das Vorhaben einer Gesellschaftstheorie aus der Binnenperspektive von Bedeutung ist. Der Verstehensbegriff soll es nun prinzipiell möglich machen, zumin-

23 Vgl. Sartre (1971), a.a.O., S. 154. 24 Einige Autoren haben darauf aufmerksam gemacht, dass dieser empathische Verstehensbegriff dazu führen könnte, dass es in der Flaubert-Analyse streckenweise zu einer Identifikation von Forschersubjekt und Untersuchungsobjekt kommt und auf Korrelationen mit Sartres Autobiografie „Les mots“ hingewiesen. Vgl. etwa: Jean Améry (1971): Die Wörter Gustave Flauberts. Über Jean-Paul Sartres ‚L’idiot de la famille’. In: ders., Werke, Bd. 4, Charles Bovary, Landarzt. Aufsätze zu Flaubert und Sartre, Stuttgart 2006, S. 208. Das könnte den Verdacht nähren, dass Sartre am Ende doch nur ein strategisches, ja in gewisser Weise sogar ein instrumentelles Verhältnis zur Person Flaubert entwickelte. Sartre hat sich gegen den Vorwurf, er schreibe im Flaubert eigentlich über sich selbst, strikt verwahrt und darauf bestanden, dass es sich dabei um eine methodisch kontrollierte Annäherung handelt. Vgl. Sartre (1971), a.a.O., S. 160. Dieser methodische Anspruch soll in dieser Arbeit im Folgenden vorausgesetzt werden. Vgl. zu diesem Themenkomplex auch Barnes (1981), a.a.O., S. 9f. 25 Vgl. hierzu Hauke Brunkhorst (1980): Wie man sich zu dem macht, was man ist. In: Traugott König (Hg.), Sartres Flaubert lesen, a.a.O., S. 34. Die dem sartreschen Spätwerk zu Grunde liegende, wenn auch theoretisch nicht befriedigend ausgearbeitete, kommunikative Dimension seines Handlungsbegriffs wird in der Fachliteratur mehrfach betont. Vgl. etwa Honneth (1988), a.a.O., S. 155; Fahrenbach (2000), a.a.O., S. 493ff.; ausführlicher auch Brunkhorst (1988): Sartres Theorie des Intellektuellen. In: Traugott König (Hg.), Sartre. Ein Kongreß, a.a.O., S. 408-428; sowie Olschanski (1997), a.a.O., S. 377ff.

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dest virtuell die Teilnehmerperspektive eines Anderen einzunehmen. Dies war innerhalb der Grundlagenreflexion der „Critique de la raison dialectique“ nicht möglich gewesen, da dort das Verhältnis zum Anderen immer nur unmittelbar strategisch oder vermittelt über die Figur des Dritten beschreibbar war.

Hermeneutik des Erlebten Zu diesem Zweck führt Sartre zugleich auf der Erfahrungsebene die neue Beschreibungskategorie des Erlebten (le vécu) ein. Diese flankiert den Rückgriff auf den frühen Verstehensbegriff. Das Erlebte ist unmittelbar an das Existenzverstehen gebunden, wie es in den „Questions de méthode“ als indirektes, nicht gegenständliches Wissen seiner selbst eingeführt worden war. Es beinhaltet Sartre zufolge nicht nur die bewussten, sondern ebenso die unbewussten Aspekte der Existenz und damit „[…] das Ganze des dialektischen Prozesses des psychischen Lebens, ein Prozeß, der sich notwendig weitgehend verborgen bleibt […]“.26 Damit ist offenbar zugleich eine nur begrenzt rationalisierbare, expressive Dimension des Ich gemeint, zu der notwendig nur die jeweilige Person einen privilegierten Zugang hat. Diese lässt sich im Zuge dramaturgischen Handelns auch nur eingeschränkt objektivieren bzw. kommunizieren. Sartre spricht daher mit Bezug auf das Erlebte der Person Flaubert hin und wieder von einem „Unsagbaren“, „Nicht-Kommunizierbaren“ oder von etwas, das mit sprachlichen Mitteln zumindest „immer unangemessen“ artikulierbar sei.27 „Das Erlebte“, so Sartre, „führt also immer zum Verstehen, nie zum Erkennen.“28 Was er damit im Auge zu haben scheint, ist Folgendes, und das ist für die hier verfolgte Fragestellung von Gewicht: Mit dem Begriff des Erlebten, dessen Gehalt sich einem gegenständlichen Denken zumindest partiell entzieht, versucht Sartre offensichtlich eine Dimension der Existenz zu thematisieren, in der sich ein sowohl psychisch wie gesellschaftlich Unbewusstes niederschlägt, dessen Gegenwart jedoch allein einem indirekten Wissen zugänglich sein soll. Jenes ist zwar nie gewusst, aber immer schon verstanden. „Mit dem Begriff des vécu, des ‚Erlebten‘,“ so Sartre, „wird nun der Versuch gemacht, jenes ‚Beisichsein‘ (présence à soi) zu umschreiben, das mir für die Existenz psychischer Fakten unentbehrlich zu sein

26 Vgl. Sartre (1969a), a.a.O., S. 151. 27 Vgl. ebd., S. 152; Sartre (1971), a.a.O, S. 166. 28 Sartre (1969a), a.a.O., S. 151.

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scheint, obwohl es für sich selbst so undurchsichtig und blind ist, daß es zugleich ‚Abwesenheit von sich selbst‘ (absence de soi) ist.“29 Damit ist freilich lediglich ein formales Beschreibungsmodell angegeben, dessen Tragweite sich noch erweisen muss. Sartre hat selbst eingeräumt, dass der Begriff des Erlebten zwar ein analytisches Werkzeug ist, das in der FlaubertUntersuchung zum Einsatz kommt, das aber theoretisch noch nicht ausgearbeitet sei.30 Die Funktion des Erlebnisbegriffes ist jedoch klar. Er soll Sartre dazu dienen, die Kategorie des Bewusstseins, die in „L’être et le néant“ noch im Zentrum der phänomenologischen Ontologie gestanden hatte, endgültig zu verabschieden. Dies war, wie gesehen, bereits mit dem praxisphilosophischen Ansatz der „Critique de la raison dialectique“ intendiert gewesen, doch als methodologischer Ausgangspunkt hatte Sartre am Bewusstsein festgehalten. Im „Idiot de la famille“ versucht er nun den Bewusstseinsbegriff endgültig abzuräumen und ihn durch das Erlebte zu ersetzen.31 Das Erlebte liefert damit die Grundlage für einen modifizierten Subjektbegriff.32 Es ergänzt den Praxisbegriff, indem es sich auf das Feld von gesellschaftlichen Bedingungen und Wirkursachen ebenso wie auf psychische Affekte und Emotionen, kurz auf existenzielle Welt- und Selbstbezüge erstreckt, die der rationalen Dimension bewusster Handlungen teilweise vorgelagert sind. Sartre fasst die Existenz nun doppelt: Als Erlebtes, „[...] das sich als Praxis überschreitet […]“, und als „[…] Praxis, insofern diese sich ständig in dem sie nährenden Milieu des Erlebten bewegt […]“.33 Zugleich versucht er damit den Aporien der Reflexionsproblematik des Bewusstseins zu entkommen, die ihn, wie gesehen, bereits in „L’être et le néant“ gezwungen hatten, das von Foucault aufgespannte ‚anthropologische Viereck‘ der Moderne zu durchlaufen.34 Dort hatte Sartre versucht, diese Schwierigkeiten zu umgehen, indem er den Reflexionszirkel mit der Annahme eines präreflexiven cogito auf eine ontologisch andere Ebene verlagerte. Mit dem Erlebnisbegriff verfolgt er nun eine ganz ähnliche Strategie, indem er das Subjekt in der Flaubert-Studie noch radikaler dezentriert, als dies bereits

29 Ebd., S. 152. 30 Vgl. Sartre (1971), a.a.O., S. 165. 31 Vgl. Sartre (1969a), a.a.O., S. 150; S. 152. 32 Dies hängt u.a. damit zusammen, dass der späte Sartre nach einer kritischen MarxRezeption über den Umweg über Lacan schließlich auch zu Freud gefunden hatte. Vgl. hierzu auch Christina Howells (1992a): Conclusion: Sartre and the deconstruction of the subject. In: dies. (Hg), a.a.O., S. 335ff. 33 Vgl. Sartre (1971/72), a.a.O., Bd. 1, S. 60. 34 Vgl. hierzu auch Colombel (1985), a.a.O., S. 385ff.

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in „L’être et le néant“ und in der „Critique de la raison dialectique“ geschehen war. Der Begriff des Erlebten bildet nun lediglich die Klammer für sämtliche bewussten und nicht bewussten, rationalen und irrationalen, inneren und äußeren Komponenten eines Handlungssubjektes, die jedoch von diesem in einem nichtthetischen Sinne immer schon irgendwie verstanden werden sollen. Denn: „Das Verständnis“, so Sartre, „ist eine stumme Begleitung des Erlebten, eine Vertrautheit des subjektiven Unternehmens mit sich selbst, eine Perspektivierung der Komponenten und der Momente, aber ohne Erklärung, es ist ein dunkles Erfassen des Sinnes eines Prozesses jenseits seiner Bedeutungen; mit anderen Worten, es ist selbst erlebt, und ich werde es präreflexiv nennen (und nicht unreflektiert), weil es als eine distanzlose Verdoppelung der Verinnerung erscheint. Zwischenglied zwischen nicht-thetischem Bewußtsein und reflexiver Thematisierung ist es die Morgenröte einer Reflexion […].“35

Die bewusstseinsphilosophisch prekäre Konzeption des präreflexiven cogito, auf die der Reflexionszirkel verlagert worden war, taucht also über den Verstehensbegriff nun auf der Ebene des Erlebten wieder auf, erhält jedoch nun einen veränderten theoretischen Status. Denn mit der methodischen Konstruktion des Erlebten beabsichtigt Sartre, das breite Spektrum der Konstitutionsbedingungen eines konkreten Handlungssubjektes einerseits zu erfassen und zugleich als von diesem präreflexiv verstanden zu beschreiben, ohne auf die letzte Instanz eines Bewusstseins zurückgreifen zu müssen. So wie es aussieht, vermag Sartre allerdings trotz dieser begrifflichen Verschiebung den Fesseln der Bewusstseinsphilosophie nicht vollständig zu entrinnen. Der Verstehensbegriff scheint damit merkwürdig unverbindlich in der Luft zu hängen, solange er nicht wenigstens durch ein wie auch immer geartetes „nicht-thetisches Bewusstsein“ geerdet wird. Forschungsstrategisch eröffnet sich Sartre mit dem Erlebten jedoch zumindest einen hypothetischen Zugang zur Binnenperspektive eines Anderen. Denn die virtuelle Übernahme eines anderen Blickwinkels im Zuge einer indirekt-phänomenologisch verfahrenden Hermeneutik kann nun methodisch zumindest insofern kontrolliert werden, als mit der Kategorie des Erlebten der thetische Zugriff auf die Manifestationen eines nichtthetischen Bewusstseins denkbar – und das heißt prinzipiell kommunizierbar – wird. Das präreflexive Selbstverstehen wird über diesen Weg einem reflektierten Fremdverstehen nämlich potenziell zugänglich, was diesem immerhin die Chance eröffnet, jenes, wenn nicht besser, so doch zumindest anders zu verstehen.36

35 Sartre (1971/72), a.a.O., Bd. 3, S. 930 (Hervorhebung i.O.). 36 Vgl. Flynn (1997/2005), a.a.O., Bd.1, S. 102.

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Dafür ist freilich neben Empathie zugleich kritische Distanz gefragt. Das Erlebte liefert dann gewissermaßen das Material, über das die Hermeneutik von außen einen Zugang zu erlangen sucht, um zu ergründen, wie dieses Erlebte erlebt wird. Sartres virtuelle Binnenperspektive eines Anderen verlangt insofern immer nach ihrer partiellen Rückversicherung von einem externen Standort aus. Ungeachtet dieser methodologischen Komplikationen gilt es jedoch festzuhalten, dass Sartre mit der Einführung des Erlebten in der Lage ist, mit einem veränderten Subjektbegriff zu operieren, der Foucaults Kritik in wichtigen Punkten unterläuft. Dem Subjekt kommt nun endgültig keine Begründungsfunktion für die Theorie mehr zu. Auch wenn Sartre auf den Bewusstseinsbegriff nicht vollständig verzichten kann, wird ihm, anders als noch in der „Critique de la raison dialectique“, nun nicht einmal mehr der Status eines methodologischen Ausgangspunktes zugewiesen. Es ist das Erlebte, an dem eine Gesellschaftstheorie aus der Binnenperspektive nun ansetzen muss. Zugleich gelingt es Sartre damit, sich von seinem auf instrumentelle und strategische Rationalität verengten Praxisbegriff zu lösen, indem er den Existenzvollzug zumindest konzeptionell weiter fasst. Er bekommt somit ein breiteres Spektrum von Selbst- und Weltbezügen in den Blick. Schließlich, und das ist insbesondere für die Debatte mit Foucault nicht unerheblich, konkretisiert sich mit der Kategorie des Erlebten Sartres Begriff von einem Handlungssubjekt: Es ist einerseits immer nur als spezifischhistorisches Einzelnes, andererseits aufgrund der unbewussten historischen, sozialen und psychischen Konstitutionsbedingungen, die zu dessen Verständnis berücksichtigt werden müssen, immer zugleich weitgehend ein gesellschaftlich Allgemeines. Sartres Begriff des Erlebten kann somit als Versuch gelesen werden, die von Foucault thematisierten spezifisch historischen Weisen der Subjektivierung auf individueller Ebene binnentheoretisch zu fassen. Er setzt im Grunde von innen genau an dem Punkt an, den Foucault von außen zu lokalisieren versucht: der Ort, an dem die Praktiken der Unterwerfung (technologische Seite der Macht) und die Techniken des Selbst (strategische Seite der Macht) zusammenlaufen. Oder, um es in einer neutraleren Sprache zu formulieren: Beide zielen aus unterschiedlichen Perspektiven auf dieselbe systematische Stelle, an der Regelwissen und die Fähigkeit der Regelanwendung ineinandergreifen. Da die Unterwerfung unter eine Regel aus der Binnenperspektive aber immer auch als eine zumindest partielle Erfahrung von Verlust und Nötigung erlebt werden kann, kann Sartre an der von Foucault verworfenen Repressions-Hypothese unter methodischen Gesichtspunkten festhalten. Im Folgenden wird allerdings noch zu klären sein, was damit gemeint sein könnte.

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Für Sartre ist der Mensch als konkretes Handlungssubjekt also „[…] niemals ein Individuum […]“, sondern immer ein „einzelnes Allgemeines“.37 Für das Vorhaben, das er im „Idiot de la famille“ verfolgt, bedeutet dies: Es geht darum, durch die virtuelle Übernahme der Perspektive Flauberts sich sowohl in dessen Persönlichkeit wie in die von ihm erlebte historisch-gesellschaftliche Wirklichkeit einzufühlen, um in diesem Kontext dessen Besonderheit, das heißt das „einzelne Allgemeine“, genannt Gustave Flaubert, zu ergründen. Das ist der Anspruch, den Sartre an seine Flaubert-Studie stellt. Dieses historischgesellschaftlich konkret Erlebte will er zu Tage fördern. Die Leserin/der Leser soll die Gegenwart Flauberts spüren. Es wäre „ideal“, so Sartre, „[…] wenn er [der Leser/M.R.] die Persönlichkeit Flauberts immer zugleich fühlen, verstehen und erkennen könnte als eine ganz individuelle und gleichzeitig für seine Zeit repräsentative. Mit anderen Worten: Flaubert kann nur durch das verstanden werden, was ihn von seinen Zeitgenossen unterscheidet“.38 Was Sartre an der konkreten Person Flaubert interessiert, sind im Grunde zwei Seiten ein und desselben Prozesses: dessen Unterwerfung unter das Regelwerk der Machttechnologien der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts und dessen spezifische Strategien der Gestaltung seiner selbst als antibürgerlicher Schriftsteller.

Totalität und Handlung Sartres Vorhaben einer kritischen Gesellschaftstheorie aus der Binnenperspektive steht und fällt insofern mit seiner Totalitätskonzeption. Denn der Anspruch, Flauberts Lebensvollzug als individuelle Abweichung von einer objektiven gesellschaftlichen Regel zu beschreiben, erfordert, ihn in Gänze als gesellschaftliches Subjekt zu erfassen. Dies muss Sartres Totalitätsbegriff zumindest programmatisch leisten können. Wie oben gezeigt, begreift Sartre Totalität in Abgrenzung zu Ansätzen in der Tradition von Kant und Hegel, aber auch anders als Marx als ein zeitlich immer beschränktes und insofern immer vorläufiges Resultat einer partiellen Totalisierung aus der Perspektive eines einzelnen Handlungssubjektes. Totalität ist damit – und darin liegt, wie gesehen, zugleich die theoriestrategische Schwierigkeit seiner Verwendungsweise dieses Begriffs – eine empirisch-historische Größe. Die Vermittlung der Handlung des Einzelnen mit dem Allgemeinen wird über den nie endenden Prozess einer detotalisierenden Retota-

37 Vgl. Sartre (1971/72), a.a.O., Bd. 1, S. 7. 38 Vgl. Sartre (1969a), a.a.O., S. 154.

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lisierung gedacht, an dem sämtliche gesellschaftlichen Einzelsubjekte de facto mehr oder weniger beteiligt sind. Damit sind zwei methodische Vorannahmen verbunden: 1. Der Einzelne ist nicht als nur numerisch unterscheidbares Exemplar einer höheren Allgemeinheit zu verstehen, sondern er ist sowohl Repräsentant einer historisch- gesellschaftlichen Machtkonstellation wie individuelle Besonderheit, die zugleich diese Allgemeinheit mit produziert. Er ist insofern „[...] von seiner Epoche totalisiert und eben dadurch allgemein geworden, retotalisiert er sie, indem er sich in ihr als Einzelheit wieder hervorbringt. Da er durch die einzelne Allgemeinheit der menschlichen Geschichte allgemein und durch die allgemeinmachende Einzelheit seiner Entwürfe einzeln ist, muß er zugleich von den beiden Enden her untersucht werden“.39

Der Einzelne ist also konstitutives Moment des Allgemeinen in seiner Einzigartigkeit, er ist „[…] das Sein, durch welches das Allgemeine in die Welt tritt […]“.40 Und zugleich sorgt seine individuelle Haltung dafür, dass die „[…] Person aus diesem Universalen eine irreduzible Singularität [...]“ macht.41 Unter der Voraussetzung der Triftigkeit dieser methodischen Annahmen wäre ein binnentheoretischer Zugang für eine kritische Gesellschaftstheorie also unumgänglich. Denn nur aus der Perspektive des Einzelnen und der Weise, wie er die gesellschaftliche Welt erlebt, also ausgehend vom Erlebten, ließe sich eine zunächst beziehungslose Ansammlung von Daten, Fakten und Ereignissen in einen stringenten Strukturzusammenhang einordnen. „Das Gelebte [le vécu/M.R.]“, so Sartre, „[…] das sind die nicht-bedeutenden Zufälle des Seins, insofern sie über sich hinaus auf einen Sinn weisen, den sie zu Beginn nicht hatten, und die ich das singulare Universale nennen möchte.“42

39 Vgl. Sartre (1971/72), a.a.O., Bd. 1, S. 7. 40 Vgl. Jean-Paul Sartre (1966c): Das singulare Universale. In: ders., Mai ’68 und die Folgen. Reden, Interviews, Aufsätze, Bd. 2, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 139 (L’universel singulier. In: Kierkegaard vivant, Paris, wieder abgedruckt in: ders., Situations IX, Paris 1972, S. 152-190). 41 Vgl. ebd., S. 138. 42 Ebd., S. 139.

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2. Damit ist nicht nur der Zugriff aus der Binnenperspektive vorgegeben. Sartres Gesellschaftstheorie basiert zugleich auf dem Theorem, dass sich die soziale Welt aus diesem Blickwinkel als eine bedeutungsvolle Ordnung, also quasi wie ein sinnvoller Text lesen lässt.43 Sie wird in dieser Hinsicht nicht nur über protokollierbare Tatsachen in ihrem Sein kognitiv erfasst und unter instrumentellen Gesichtspunkten als bearbeitbar erkannt, sondern die soziale Welt wird an die Existenz der realen Subjekte rückgebunden und gilt damit als Ausdruck individueller Handlungen. Es geht also darum, zu begreifen, was die Subjekte aus diesem Sein gemacht haben. Insofern kann der sozialen Welt ein prinzipiell verstehbarer Sinn unterstellt werden. Erst unter dieser Voraussetzung kann Sartre annehmen, dass ein umfassendes Verständnis der historischen Person Flaubert ihm dazu verhelfen kann, zugleich die Totalität der gesellschaftlichen Verhältnisse in Frankreich Mitte des 19. Jahrhunderts ausreichend in den Blick zu bekommen. Und nur deshalb kann sein Vorhaben beanspruchen, mehr zu sein als lediglich eine historische Biografie: Es soll Grundlage einer Theorie der Gesellschaft sein. Es wird also im Folgenden erneut darauf zu achten sein, inwieweit Sartre diesen Anspruch tatsächlich einlösen kann. Entscheidend dürfte dabei werden, ob der durch die Einführung der Kategorie des Erlebten (le vécu) erweiterte Verstehensbegriff und die damit einhergehende Modifikation seiner Subjektkonzeption zugleich die gesellschaftstheoretische Reichweite seiner Handlungstheorie vergrößert. Diese war, wie gesehen, zumindest in der Weise, wie er sie in der „Critique de la raison dialectique“ entwickelt hatte, was ihre gesellschaftsanalytische Reichweite betrifft, schon bald an ihre Grenzen gestoßen. Der dort entwickelte Begriff des Praktisch-Inerten hatte sich in diagnostischer Hinsicht als ungenügend erwiesen, um die Strukturlogik gesellschaftlicher Machtverhältnisse befriedigend zu durchdringen. Das Unternehmen scheiterte damit genau an dem Punkt, den Sartre nun am konkreten historischen Subjekt-Objekt Gustave Flaubert explizit ins Auge zu fassen gedenkt, indem er seine Konzeption der Totalität erneut in Stellung bringt: an der binnentheoretischen Vermittlung der individuellen Praxis mit der Strukturlogik des Praktisch-Inerten.

43 Vgl. hierzu auch Brunkhorst (1980), a.a.O., S. 28ff. Brunkhorst spricht in diesem Zusammenhang vom „Text-Paradigma“, womit er einen Zugriff auf die Bedeutung einer sozialen Totalität aus der Teilnehmerperspektive meint. Er unterscheidet diesen gesellschaftstheoretischen Ansatz strikt von Zugangsmethoden, die auf dem „ObjektParadigma“ basieren, das eine externe Beschreibung gesellschaftlicher Zusammenhänge aus der Beobachterperspektive impliziert.

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Der Totalitätsbegriff ist insofern, wie Sartre selbst einräumt, zunächst eine Hypothese, die zu heuristischen Zwecken eingeführt wird. „Nichts beweist zunächst, dass eine solche Totalisierung möglich und ob die Wahrheit einer Person nicht plural ist; […]“, so Sartre gleich zu Beginn der Flaubert-Studie.44 Gelänge es ihm, wie beabsichtigt, anhand der historischen Person Flaubert zu zeigen, dass sich in deren Handlungsvollzügen die Strukturlogik einer Epoche niederschlägt und wie dieser zugleich im Modus einer individuellen Abweichung darin zu agieren vermochte, so ließen sich zwei Dinge plausibel machen: zum einen, in welchen Hinsichten das Individuum als Handlungssubjekt sowohl Bedingendes wie Bedingtes des gesellschaftlichen Ganzen ist, und zum anderen, dass aus dessen Teilnehmerperspektive in der Tat eine tragfähige Theorie der Gesellschaft entwickelt werden könnte. Flaubert wäre dann nur ein paradigmatischer Fall, das methodische Vorgehen wäre auf andere Personen und Epochen übertragbar. Da die Flaubert-Studie Fragment geblieben ist, musste Sartre den Beweis der gesellschaftstheoretischen Tragfähigkeit seines gigantischen Unternehmens schuldig bleiben. Im Folgenden soll die Plausibilität seines Vorhabens der dialektischen Rekonstruktion eines konkreten Selbst- und Weltverhältnisses an ausgewählten Punkten diskutiert werden.

Die Dialektik von Regelunterwerfung und Regelanwendung Um Flauberts Leben für eine gesellschaftstheoretische Rekonstruktion einsichtig zu machen, greift Sartre auf die transzendentalen Strukturprinzipien des sozialen Seins zurück, wie er sie in der Grundlagenreflexion der „Critique de la raison dialectique“ entwickelt hatte: individuelle Praxis, Intersubjektivität, Mangel, Praktisch-Inertes. Das Verfahren der progressiv-regressiven Methode führt derweil dazu, dass der Gang der Untersuchung in einer Art Spiralbewegung verläuft. Die Darstellung darf sich laut Sartre daher „[…] nicht vor Wiederholungen scheuen: der Stoff ist derselbe, er wird nur von anderen Seiten beleuchtet; […]“, sie geht „[…] vom strukturalen in den historischen Bereich über“.45 Der Aufbau des „Idiot de la famille“ ist konsequenterweise folgender: Ausgangspunkt ist Flauberts Konstitution. Damit ist das objektive Sein gemeint, also die Ausgangsbedingungen und objektiven Faktoren, die das Individuum Flaubert schon mit seinem Eintritt in die Welt determinieren. Es handelt sich gewissermaßen um die

44 Vgl. Sartre (1971/72), a.a.O., Bd. 1, S. 7 (Hervorhebung i.O.). 45 Vgl. ebd., S. 51 (Hervorhebungen i.O.).

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Vorgeschichte seiner Existenz. Diese wird im ersten Teil der Studie weitgehend ausgeleuchtet. In einem zweiten, ausführlichen Durchlauf rekonstruiert Sartre den Prozess von Flauberts Personalisation. Davon handeln der zweite und dritte Teil. Im Zentrum des Interesses steht dabei „[…] nichts anderes als die Überschreitung und Aufbewahrung (Übernahme und innere Negation) dessen, was die Welt aus ihm gemacht hat – und immer noch macht –, innerhalb eines totalisierenden Entwurfs“.46 Sartre versucht hier zu zeigen, inwieweit sich ein Handlungssubjekt auf der Grundlage historisch-gesellschaftlicher Voraussetzungen konstituiert und dabei zur Person wird. Anders gesprochen: Er versucht die Dialektik von Unterwerfung unter eine Regel und deren individueller Anwendung zu erfassen. Die dritte Etappe schließlich, die mit dem vierten Teil einsetzt, zielt auf eine gesellschaftsanalytische Vertiefung. Sartre beabsichtigt, aus der Binnentotalität der Person herauszutreten und die Wechselbeziehung zwischen subjektiver Existenz und gesellschaftlichem Sein der Epoche auf den Begriff zu bringen. Diesen Schritt vollzieht er, indem er eine Korrelation zwischen der bei Flaubert konstatierten subjektiven Neurose und einer objektiven Neurose der bürgerlichen Gesellschaft in Frankreich Mitte des 19. Jahrhunderts unterstellt und damit zu zeigen versucht, wie im Rücklauf von der praktisch-inerten Ebene des sozialen Seins zum Individuum eine gesellschaftliche Programmierung der Person Flaubert stattfindet. Krönender Abschluss der Untersuchung sollte schließlich eine strukturale Analyse der „Madame Bovary“47 werden, die zeigen sollte, wie in einem literarischen Werk gesellschaftliche Objektivität und die Subjektivität des Autors ineinandergreifen.48 Diese für einen fünften Teil vorgesehene, letzte Spirale konnte Sartre nicht mehr bis zum Ende durchlaufen. Seine Vorarbeiten dazu blieben bislang unveröffentlicht. Die ersten drei Runden von Sartres Totalisierungsversuch sollen in groben Zügen diskutiert werden. Dabei kann es freilich nicht darum gehen, sämtliche Wendungen und Verästelungen seines Rekonstruktionsversuches bis ins Detail nachzuvollziehen. Von vorrangigem Interesse ist in dem hier verfolgten Zusammenhang, inwieweit sich der Prozess der Subjektivierung im Spannungsverhältnis von Unterwerfungspraktiken und Techniken des Selbst aus der Binnenperspektive interpretieren lässt. Darauf wird sich die knappe Darstellung der Konstitution (1) und der Personalisation (2) Flauberts konzentrieren. Die Erörterung der Thematik der gesellschaftlichen Programmierung (3) und der Korrelation

46 Vgl. ebd., Bd. 2, S. 15. 47 Gustave Flaubert (1857): Madame Bovary. Mœurs de province. In: Œuvres complètes de Gustave Flaubert, Paris 1910. 48 Vgl. Sartre (1976), a.a.O., S. 198f; vgl. hierzu auch Frank (1980a), a.a.O., S. 107f.

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von subjektiver und objektiver Neurose wird sich vornehmlich damit befassen, welche diagnostische Kraft Sartres Gesellschaftstheorie zugetraut werden kann.

(1) Konstitution Es ist von Anfang an eine Dressur, die Sartre als den Konstitutionsprozess Flauberts beschreibt. „Als der kleine Gustave Flaubert verstört, noch ‚tierhaft‘ aus dem frühkindlichen Alter auftaucht, erwarten ihn die Techniken. Und die Rollen. Die Dressur beginnt […].“49 So lauten die ersten Sätze des ersten Teils des „Idiot de la famille“. Es ist die Vorgeschichte seiner Existenz, die zunächst in der Gestalt der Familie Flaubert über ihn hereinbricht – und über sie vermittelt das objektive Sein der bürgerlichen Gesellschaft in Frankreich zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Diese „soziale Zelle“, die ihn bei seiner Geburt empfängt, ist eine „Institution der Gesellschaft“ mit ihrer „besonderen Geschichte“. Ihre Grundstruktur besteht aus der „Trinität Vater-Mutter-älterer Sohn“.50 Sie ist der Ausgangspunkt von Flauberts Prozess der Subjektivierung als Disziplinierung. Dieser ist freilich ein besonderer. Und das aus zwei Gründen: zum einen weil seine gesellschaftlichen Ausgangsbedingungen mit dem biografischen Schicksal der beteiligten Personen verschränkt sind, Zum anderen weil das, was Sartre im Konstitutionsteil beschreibt, auf der Folie seines Praxismodells entwickelt wird. Dieses erlaubt es ihm, die konkrete Person Flaubert im Verlauf der Untersuchung als ein defizitäres und insofern im Grunde pathologisches Handlungssubjekt zu charakterisieren. Die drei besetzten Positionen der Struktur Familie, in die Flaubert hineingeboren wird,51 repräsentieren von vornherein spezifische Welt- und Selbstbezüge seiner Existenz, die Sartre entlang der Genealogie seiner Konstitution aus der virtuellen Binnenperspektive entfaltet. In der Primärbeziehung zwischen Mutter und Kind gestaltet sich eine erste spezifische Ich-Du-Interaktion und insofern die frühkindliche Erfahrung eines zwischenmenschlichen Nahverhältnisses. Die Vater-Sohn-Beziehung rekonstruiert Sartre als autoritäre Vermittlung des Kindes mit der symbolischen Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft seiner Zeit. Der

49 Sartre (1971/72), a.a.O., Bd. 1, S. 11. 50 Vgl. ebd., S. 61. 51 Da es sich bei der Konstitution, wie gesagt, um die Vorgeschichte handelt, sind allein Vater, Mutter und älterer Bruder von Bedeutung. Die Erweiterung der Familienzelle um die jüngere Schwester gehört bereits zu den ersten Etappen der Personalisation.

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Vater ist insofern die Unterwerfung fordernde Instanz, über die zugleich das unmittelbare Verhältnis zum erstgeborenen, älteren Bruder als ein Verhältnis der Konkurrenz und der Unterordnung bestimmt wird. Die besondere Ausgestaltung dieser Familienstruktur bildet laut Sartre die „ursprüngliche Bestimmung“ Flauberts, „[…] die zunächst nicht mehr und nicht weniger ist als die Verinnerung der familiären Umgebung in einer objektiven Situation, die sie von außen und schon vor seiner Empfängnis als Besonderheit bedingt“.52 Flauberts Selbst- und Weltverhältnis ist somit auf der Ebene der Konstitution durch die Beziehung zu diesen drei Personen vorbestimmt. Seine Mutter, eine aus einem Adelsgeschlecht abstammende Frau, die ihre Mutter bei der Geburt und ihren Vater im Alter von zehn Jahren verlor und daher nur wenig elterliche Liebe erfahren konnte, verstand sich innerhalb der Familie Flaubert als Statthalterin und Vollstreckerin des Willens ihres Mannes. Als zweites Kind hatte sie sich ein Mädchen gewünscht, doch nach dem ältesten Sohn kamen vier Jungen. Drei davon starben, einer überlegte: Gustave Flaubert. Erst später dann gebar sie die ersehnte Tochter.53 Gustave Flauberts Vater, Chefarzt und Chirurg ländlicher Herkunft, der seinen sozialen Aufstieg dem Regime Napoléon Bonapartes verdankte, vertrat in ideologischer Hinsicht den Liberalismus und den szientistischen Fortschrittsoptimismus des aufstrebenden Bürgertums, politisch-praktisch das elitär-hierarchisch strukturierte Weltbild eines eher agrarisch-feudal imprägnierten Konservatismus.54 Der zu seinem Nachfolger und damit zur Verstetigung seines sozialen Aufstiegs auserkorene erste Sohn, der sich dieser Verpflichtung seitens des Vaters gehorsam und willig unterwarf und sich mit dessen Autorität identifizierte, markierte im internen Konkurrenzkampf um elterliche Anerkennung eine soziale Position, die für Gustave Flaubert von vornherein als besetzt gelten musste. Ihm war damit innerhalb der familiären Hierarchie unter den Kindern maximal Platz zwei in Aussicht gestellt.55

Die Familienzelle Die so strukturierte Familienzelle gibt den Rahmen ab, in dem sich Flauberts Konstitution als Subjekt vollzieht. Zunächst im Nahverhältnis des Säuglings zur

52 Vgl. Sartre (1971/72), a.a.O., Bd. 1, S. 61 (Hervorhebungen i.O.). 53 Vgl. ebd., S. 82ff. 54 Vgl. ebd., S. 62ff. 55 Vgl. ebd., S. 103ff.

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Mutter. Sartre rekonstruiert diese frühe Mutter-Kind-Beziehung als Form der Missachtung im Sinne einer praktizierten Nicht-Valorisierung durch die Mutter.56 Das Kind, das für Caroline Flaubert den Makel hat, kein Mädchen zu sein, wird von ihr zwar pflichtgemäß versorgt, sie behandelt es sogar überfürsorglich und den Erwartungen an die Mutterrolle wird insofern mehr als Genüge getan – doch geliebt wird der zweite Sohn nicht. Frau Flaubert ist, wie Sartre schreibt, in ihrer Funktion als Ehefrau des Oberhauptes einer bürgerlichen Familie „Gattin aus Berufung“ und „Mutter aus Pflicht“.57 Der kleine Gustave „[…] wird gewaschen, gestillt und versorgt ohne Hast, aber auch ohne überflüssige Gefälligkeit.“58 Die emotionale Bindung an das Kind scheint annähernd null zu sein. Es ist „[…] ein Mittel, die Familie fortzusetzen […]“, aber kein Gegenüber, das über einfachste Formen kommunikativen Austauschs seine Bestätigung erfährt. Stets überversorgt, ist es nie auf sich selbst zurückgeworfen, ist es innerhalb dieser dyadischen Primärbeziehung nie gezwungen, eine Trennung vom Begehrensobjekt Mutter zu vollziehen. Das Kind erfährt auf dieser frühen Entwicklungsstufe keinen Widerstand durch die objektive Welt, an die es seine Forderungen stellen könnte. „Sobald sich ein Wunsch regt, wird er sofort erfüllt […]“, das Kind kennt weder Belohnung noch Verweigerung, „[…] es hat seine Bedürfnisse nie als souveräne Ansprüche empfunden […]“ und insofern nie seine Alterität erleben können.59 Das nicht-geliebte Kind Gustave Flaubert lernt damit bereits auf emotionaler Ebene im Frühstadium seiner Entwicklung, nicht aktiv zu interagieren, sondern wird darin bestärkt, in der Passivität zu verharren. Sein Selbst geschieht ihm von außen. Für Flauberts Subjektivierung hat dies in den Augen Sartres fatale Konsequenzen. Die intentionale Überschreitung der objektiven Welt, wie sie bei Sartre als in der Entwurfstruktur angelegtes, existenzielles Weltverhältnis konzipiert ist, findet nur verzögert und dann auch nur in eingeschränktem Modus statt: „[…] der Kleine macht zunächst die Erfahrung der Schwerkraft; erst am Ende wird die Überschreitung kommen, wenn er die Gewohnheit angenommen hat, sich in sich selbst zu vergraben.“60 Dieses nicht-valorisierte, bereits in seinen Primärkontakten in seinem Selbst nie bestätigte Wesen erfährt erst durch den Vater seine Existenzberechtigung. Achille-Cléophas Flaubert, das Oberhaupt der Familie, weist dem zweiten Sohn

56 Vgl. hierzu auch Olschanski (1997), a.a.O., S. 391ff. 57 Vgl. Sartre (1971/72) a.a.O., Bd.1, S. 137. 58 Vgl. ebd. S. 138. 59 Vgl. ebd. 60 Vgl. ebd., S. 139 (Hervorhebungen i.O.).

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seinen Platz innerhalb dieser hierarchischen Ordnung zu.61 Der damit einhergehende Selbstbezug kann sich jedoch von vornherein nur über die Unterordnung unter die Macht einer als gottähnlich verehrten Lichtgestalt vergewissern. Er fußt auf der affektiven Affirmation einer Machtposition an der Spitze einer sakrosankten Ordnung. Sartre betont ausdrücklich, dass es sich dabei nicht um die Identifikation mit der Vaterfigur als Alter Ego handelt, also eine imaginäre Rollenübernahme bzw. Rückprojektion dieser Qualitäten auf das eigene Selbst, sondern um das Ausleben einer „feudalen Bindung“: „[…] weit davon entfernt, sich das Sein des Lehnsherrn anzueignen, indem er seine Verhaltensweisen nachahmte, verinnerte der Kleine vielmehr sein objektives Vasallentum […]“.62 Das Verhältnis zum Vater weist offenbar nicht einmal rudimentäre Spuren potenziell egalitärer Anerkennung auf. Es erfordert die umstandslose Unterwerfung unter das Gesetz des Vaters und damit zugleich die Reproduktion der bürgerlichen Ordnung seiner Zeit.63 Denn dessen Autorität manifestiert sich für das schlechtgeliebte Kind nicht nur auf der zwischenmenschlichen Ebene in der unangefochtenen Größe dieses ‚pater familias‘, sie verkörpert zugleich in sozioökonomischer Hinsicht seinen beruflichen Erfolg64 und das daran gebundene Grundeigentum.65 Das Selbstwertgefühl des kleinen Jungen gründet sich insofern allein auf die zugewiesene Stelle innerhalb des geordneten Ganzen der Familie Flaubert. Er erfährt die Liebe des Lehnsherrn in der feudalen Bindung des Vasallen an seinen Besitz. Jedoch – und damit gerät Flaubert, der Vasall, an die Grenze der Ordnung, der er sich zu unterwerfen sucht – ist diese neofeudale Familienstruktur gepaart mit dem Ehrgeiz einer aufgestiegenen Klasse im Zeitalter einer sich durchsetzenden Logik der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft. Das Eigentum der Flauberts ist das Ergebnis harter Arbeit eines Emporkömmlings, das es zu verteidigen gilt. Der gesellschaftliche Erfolg der Familie gründet auf dem wirtschaftlichen Erfolg eines Einzelnen, des ‚pater familias‘, und der lässt sich nur verstetigen, indem die Söhne diesen Erfolg jeweils individuell in der ihnen angemessenen Weise wiederholen. Als Subjekt, das sich nur „[…] in seiner Familienrealität als eine innere Bestimmung der Familie Flaubert […]“ schätzt, ist

61 Vgl. ebd., S. 338. 62 Vgl. ebd., S. 343. 63 Vgl. Michel Sicard (1975): Flaubert avec Sartre. In: ders., Essais sur Sartre, Paris 1989, S. 79. 64 Vgl. Sartre (1971/72), a.a.O., Bd.1, S. 343. 65 Vgl. ebd., S. 345.

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Gustave Flaubert aber „das Gegenteil eines Individuums“.66 Er ist eine passive Existenz. Dem Mitglied einer Aufsteigerfamilie, die ihren Utilitarismus aus dem Milieu des „wirtschaftlichen Liberalismus“ und des „sozialen Atomismus“67 gewinnt, wird nämlich das selbstbewusste Ich eines aktiven Handlungssubjektes abgefordert. Die Unterordnung unter den Erfolg und den Ruhm der Familie verlangt von ihm daher schon bald mehr als den Stolz auf die Herkunft. Die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts richtet einen Imperativ an ihn, den er von seiner bisherigen Konstitution her nicht erfüllen kann: Er ist aufgefordert, Subjekt individueller Praxis zu sein. Für Sartre ist es daher wenig verwunderlich, dass Flaubert, dieses nur von außen in seinem Selbst bestimmte, unterworfene Subjekt, ökonomischen Wohlstand nicht als Leistung durch eigene Arbeit denken kann, sondern „[…] daß diese Auffassung von Reichtum durch die feudale Bindung des Kindes, das sich als unwesentlich empfindet, an den pater familias, der seinem Wesen nach der Gebende ist, jenes vor der ursprünglichen Kontingenz rettet und daß sie vom vierten Lebensjahr an dazu beiträgt, Gustaves ontologische Würde auf jenes Grundpostulat zu gründen: ein Rentier zu sein“.68

Den Regeln der bürgerlichen Gesellschaft zwar unterworfen, wird dieses passiv konstitutierte Kind jedoch nicht in der Lage sein, diesen adäquat zu folgen. Flauberts vorgeschichtliche Voraussetzungen sorgen dafür, dass er sich später – wenn auch in einem auf weite Strecken reaktionären Sinne – als antibürgerlich verstehen wird. In der Unterwerfung unter das Gesetz des Vaters hinterlässt die Subjektivierung Flauberts also erste diskursive Spuren der gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Die ihm willkommene Einordnung in die Familienzelle führt zwangsläufig zum objektiven Konflikt mit einem allein von außen verordneten, auf Passivität fußenden Selbst- und Weltverhältnis. Flauberts Stolz bezieht sich auf das soziale Ordnungsgefüge, dem er angehört, nicht auf dessen innere Dynamik. Was für den vom Aufstiegswillen getriebenen Vater selbstverständliche Praxis war, erlebt Flaubert schon bald als eine von außen an ihn herangetragene Forderung: „Sein Stolz wird erlittener Ehrgeiz – er ist nämlich nur erst die Aneignung des väterlichen Ehrgeizes durch die Liebe, aber was Achille-Cléophas Praxis war, wird bei Gustave not-

66 Vgl. ebd., S. 353 (Hervorhebung i.O.). 67 Vgl. ebd., S. 352. 68 Ebd., S. 347 (Hervorhebungen i.O.).

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wendig Pathos; es ist eine Schattenaktivität, die er sich nicht einmal vorstellen kann und die – als Unruhe, als Gewissensbisse, als eine ständige unerfüllbare Erwartung – den inerten Fluß des Erlebten heimsucht.“69

Für ein so konstituiertes Selbst ist die erste Niederlage programmiert. Sie sucht ihn in dem Moment heim, als Flaubert im Alter von sieben Jahren eine aktive Tätigkeit abverlangt wird. Er soll lesen lernen. Eine Aufgabe, an der er zunächst scheitert, wodurch er gegen das Gesetz des Vaters verstößt. Er begeht damit das Verbrechen, ein Versager zu sein. Von da an ist nicht nur Platz zwei hinter dem großen Bruder innerhalb der Familienhierarchie infrage gestellt, der Prozess der Subjektivierung hat Flaubert zugleich eine neue Qualität zugewiesen, der er sich zu unterwerfen hat, die er übernehmen muss: „Gustave ist ein Versager: das heißt zugleich“, so Sartre, „sein Versagen ist sein Sein, und das Seinsversagen ist seine grundlegende Wahl, sein Urvergehen.“70 Achille Flaubert, der große Bruder und erstgeborene Sohn, schließlich besetzt die dritte Position innerhalb des Konstitutionsprozesses. Er nimmt innerhalb des sozio-ökonomischen Kosmos der flaubertschen Familienzelle die Rolle des Mitspielers ein, der jedoch, obwohl denselben Regeln unterworfen, von vornherein ungleich bessere Startbedingungen vorfindet. Das Gesetz des Vaters verlangt ihm einerseits dieselbe Leistungsbereitschaft ab, um den Anforderungen der modernen Gesellschaft Rechnung tragen zu können. Das macht ihn zum egalitären Mitspieler. Andererseits genießt er die Vorteile der neofeudalen Familienstruktur. Dem Erstgeborenen allein wird unter Rückgriff auf Elemente traditionaler Sittlichkeit einer überkommenen ständegesellschaftlichen Ordnung der Platz des Vaters freigehalten. Das Kräfteverhältnis zwischen den beiden Brüdern ist von vornherein asymmetrisch zementiert. Diese Ausgangsvoraussetzungen erlauben dem älteren Bruder nicht nur eine Identifikation mit dem Vater,71 sondern zugleich, sich darin von ihm bestätigt zu fühlen. Da das Feld für ihn im Grunde bestellt ist und er nur zur Tat schreiten muss, ist sein Erfolg weitgehend programmiert. Aufgrund des großen Altersunterschiedes – Achille ist sieben Jahre älter als Gustave – sind zudem biografisch die Voraussetzungen für ein unmittelbares Kräftemessen und insofern ein direkter Kampf um Anerkennung zwischen den Brüdern nicht gegeben. Der Vasall Flaubert erfährt den älteren Bruder ohnehin zunächst nicht als Konkurrenten, sondern als ihm vorauslaufender Ver-

69 Ebd., S. 357 (Hervorhebungen i.O.). 70 Ebd., S. 375 (Hervorhebung i.O.). 71 Vgl. ebd., S. 112f.

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treter der Familienehre.72 Erst die Erfahrung des eigenen Versagens zwingt ihn, sich ins unmittelbare Verhältnis zu seinem Bruder zu setzen und sich ihm gegenüber selbst als minderwertig zu erleben. Das ist von besonderer Bedeutung. Denn die Unterwerfung unter das Gesetz des Vaters subjektiviert ihn nun erstmals auch qualitativ mit Bezug auf den Anderen. Er ist der „Idiot der Familie“.73 Auf der Interaktionsebene hat dies endgültige Konsequenzen für Flauberts Selbstverhältnis, wie Sartre konstatiert: „[…] solange man sein Versagen als ein absolutes tadelte, blieb es erträglich; als Achille herangezogen wird, wird es eine Beziehung zum Anderen, das heißt eine Minderwertigkeit.“74 Der Prozess der Subjektivierung Flauberts, den Sartre im Konstitutionsteil des „Idiot de la famille“ aus der Binnenperspektive als Prozess der Unterwerfung rekonstruiert, mündet in ein Selbst- und Weltverhältnis, das weitgehend fremdbestimmt bleibt.75 Seine Voraussetzungen für die Ausbildung von Subjektivität sind damit denkbar schlecht. Ohne Bestätigung eines Ichs in der Primärbeziehung zur Mutter, erfährt sich Flaubert offenbar ausschließlich als durch die externen Qualifizierungen seiner sozialen Umgebung bezeichnet. „Es bleibt“, formuliert Sartre pointiert, „der ‚unheimliche‘ Kontrast zwischen einem Lebensfluß ohne ego und einem abwesenden ego, das die anderen kannten und ‚Gustave‘ nannten.“76 Das ist das Besondere an Flauberts Subjektivierung. Fehlende Anerkennung beschert ihm eine konstituierte Passivität. Seine Unterwerfung unter eine symbolische Ordnung produziert zunächst ein Ich-loses Subjekt. Darin liegt der pathologische Moment dieser Subjektivierung. Sartre versucht dies systematisch an Flauberts Verhältnis zur Sprache zu zeigen.

Die Sprache der Anderen Trotz aller Skepsis aufgrund des inerten Charakters der Sprache und der damit einhergehenden Verdinglichungseffekte, fasst Sartre Sprache als Medium einer grundlegenden Wechselseitigkeit auf. Dies bringt ihn, wie weiter oben gezeigt, in die Nähe der Universalpragmatik. Die Sprache ist für ihn ein System von Zeichen und grammatischen Regeln, das seine kommunikative Funktion nur da-

72 Vgl. ebd., S. 349ff. 73 Vgl. ebd., S. 387. 74 Ebd. S. 378 (Hervorhebungen i.O.). 75 Vgl. ebd., S. 379. 76 Ebd., S. 365 (Hervorhebungen i.O.).

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durch erfüllt, dass es von einem Sprecher/Hörer bzw. Autor/Leser mit einem spezifischen Bedeutungsgehalt aktualisiert wird. Als subjektive Anwendung einer objektiven Regel ist Sprechen/Hören die partielle Totalisierung einer symbolischen Struktur. Kommunizieren ist ein „personaler Akt“, in dem die in der Gestalt einer Zeichenkette gesendete oder empfangene Botschaft vor dem Hintergrund des prinzipiell zur Verfügung stehenden Zeichensystems in seiner Totalität durch eine zu leistende Synthese in ihrer spezifischen Bedeutung codiert bzw. decodiert wird. Denken ist für Sartre deshalb Bezeichnen im Sinne der aktiven Auswahl einer spezifischen Zeichenkombination, die einer gegebenen Situation angemessen erscheint.77 Es ist das an einen intendierten Sinn geknüpfte Überschreiten der Faktizität der Zeichen. Für die hier interessierende spezifische Weise der Subjektivierung Flauberts ist nun Folgendes von Bedeutung: Sartre unterstellt mit dieser Konzeption von Sprache zwei Dinge. Als unhintergehbare Realität ist sie ontologisches Band der Intersubjektivität und damit sämtlicher Interaktionsmodi. Sie ist, so Sartre, „[…] die unauflösliche Wechselseitigkeit der Menschen und ihrer Kämpfe, die sich gemeinsam durch die inneren Beziehungen dieses Sprachganzen ohne Tür und Fenster manifestieren, in das wir nicht eintreten können, aus dem wir nicht heraustreten können, in dem wir sind“.78 Sprechen bedeutet damit von vornherein, einem Regelsystem unterworfen zu sein. Das ist die unabdingbare Voraussetzung dafür, dass ein Wesen als Subjekt bezeichnet werden kann. Zugleich ist Bezeichnen aber auch ein Akt der Zeichenanwendung. Sprechen ist Handeln.79 Das Verwenden einer Sprache setzt für Sartre daher notwendig die Existenz eines selbstreferenziellen Handlungssubjektes voraus. Und genau diese Voraussetzungen kann Flaubert aufgrund seiner Konstitution nur ungenügend erfüllen. Seine Unterwerfung unter das Regelsystem der Sprache erfolgt nicht vollständig. Das Kind Flaubert ist offenbar über lange Zeit hinweg nicht in der Lage, den synthetisierenden Akt des Bezeichnens zu leisten. Vereinfacht gesagt: Es spricht nicht, es wird gesprochen – durch die Sprache der Anderen.80 Was Sartre damit meint, versucht er an Flauberts hartnäckiger Naivität gegenüber der Materialität sprachlicher Zeichen zu erläutern. Das Kind, so Sartres Befund, versteht Worte nicht als Zeichen, sondern als Dinge. Dies führt dazu, dass Wahrheit für den kleinen Flaubert keine Frage der Evidenz ist, son-

77 Vgl. ebd., S. 20. 78 Ebd., S. 21 (Hervorhebungen i.O.). 79 Vgl. ebd., S. 152. 80 Vgl. ebd., S. 366.

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dern eine des Glaubens bleibt81. Da ihm der konventionelle Charakter82 der Sprache entgeht, bleibt sein Verständnis von Sätzen quasi auf der Hälfte des Weges stecken. Flaubert lernt zwar eine Nachricht zu dekodieren, nicht jedoch ihren Inhalt infrage zu stellen. Die schmerzhafte Tatsache, dass Worte täuschen können, „[…] hat für ihn nie den Wert einer Erfahrung“.83 Anders gesagt: Konfrontiert mit einem assertorischen Satz, kann Flaubert nicht zwischen Bedeutung und Geltung unterscheiden. Er ist nicht fähig, auf den darin formulierten Geltungsanspruch mit Ja/Nein-Stellungnahmen zu reagieren. Sätze sind Zeichenketten, die für ihn in ihrer Apodiktizität offenbar den Charakter von Befehlen haben. Sie sind die Worte der Anderen, die er nur von außen betrachten kann und durch deren Existenz zugleich er selbst als etwas bezeichnet ist, das er zu sein hat. Die universale Bezeichnungsfunktion der Wörter bleibt ihm somit fremd. Sartre konstatiert: „[…] Allgemeinplätze sind für ihn in die verbale Materie eingravierte Imperative, die jedes Individuum durch die Modulation seiner Stimme zu reproduzieren hat; er bleibt der Ansicht, daß das Wort ihn angreift und ihn niemals ganz bezeichnen kann.“84 Flauberts Subjektivierung geschieht ihm also ohne sein Zutun vollständig von außen. Sie beschert ihm ein zu übernehmendes Sein, das ihm fremd ist. Er ist allein durch Sprache der Anderen bezeichnet. Aufgrund der ihm von früher Kindheit an fehlenden Erfahrung wechselseitiger Anerkennung, ist er laut Sartre „[…] Signifikat, ohne Signifikant zu sein“.85 Dies tritt biografisch bei Flaubert in dem Moment offen zu Tage, als er gezwungen wird, lesen zu lernen. Er ist aufgefordert, das Anforderungsniveau des Sprechens, das laut Sartre noch „[…] mehr oder weniger durch Nachmachen […]“ gemeistert werden kann, auf eine aktive synthetisierende Tätigkeit hin zu überschreiten. Denn: „[…] lesen heißt nicht nur, die Grapheme zerlegen und wiederzusammensetzen, es heißt lernen, daß das Handeln in jedem Fall die Zerlegung eines praktischen Feldes und seine Wiederzusammensetzung für ein gegebenes Ziel umfaßt. Lesen lernen heißt handeln.“86 Und an dieser Aufgabe scheitert der kleine Junge zunächst, was ihm die Zuschreibung des Versagers und Idioten einbringt und ihm endgültig die Konstitution einer passiven Existenz beschert.

81 Vgl. ebd., S. 19. 82 Vgl. ebd., S. 367. 83 Vgl. ebd., S. 19 (Hervorhebung i.O.). 84 Ebd., S. 26. 85 Vgl. ebd., S. 152. 86 Vgl. ebd., S. 368.

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Was Sartre hier aus der Binnenperspektive zu beschreiben sucht, räumt dem in der Auseinandersetzung mit Foucault kritisierten linguistischen Strukturalismus ein relatives Recht ein. Flaubert wird in der Tat in dem Sinne durch die Sprache gesprochen, dass sich ihm das Universum der Sprache allein als ein inertes System objektiver Regeln offenbart. Die pragmatische Dimension seiner intentionalen Verwendung bleibt dank seiner konstituierten Passivität außen vor. Flaubert weiß insofern viel über sein Sein, aber wenig von seiner Existenz. Für sein Selbst- und Weltverhältnis hat dies fatale Konsequenzen. Bezeichnet, aber nicht valorisiert, weiß er nicht, wer er ist. Die Interaktion mit dem Anderen verläuft asymmetrisch. Sie wird nahezu ausschließlich als Unterwerfung vollzogen. „Da er insignifikant ist, wird er signifiziert; man signifiziert ihm, was er ist. Aber die verbale Intention bleibt schwerfällig, sie schwingt sich nicht zum gebotenen Sinn empor, um ihn für sich zu übernehmen und wie einen Ball zurückzuwerfen. Er hat bereits einen Herren; noch keine Gesprächspartner.“87 Flaubert erlebt demzufolge eine besondere Form der Entfremdung. Sartres phänomenologische Beschreibung führt sie als das Erlebnis vor, von außen als etwas bestimmt zu sein, was man nicht zu sein glaubt, ohne jedoch zu wissen, als was man sich selbst genau zu verstehen hätte. Diese Form der Entfremdung scheint er als das Resultat nicht erfahrener Anerkennung im frühkindlichen Stadium zu begreifen. Bei Flaubert hat eine primäre Entfremdung in der Auflösung der Objektbindung, wie sie im Prozess der Valorisierung seitens der Mutter vollzogen werden müsste, nicht stattgefunden. Ihm fehlt das „Mandat“, wie Sartre es nennt, durch das diese primäre Entfremdung, sobald das Kind mit der objektiven Welt konfrontiert wird, in Angst verwandelt wird, die im Normalfall in den freien Entwurf einer Praxis mündet.88 Es ist hier nicht der Ort, um die Konsistenz von Sartres Entfremdungs-Konzeption für eine plausible Beschreibung frühkindlicher Sozialisation zu diskutieren.89 Die wenigen Andeutungen dürften jedoch genügen, um zu sehen, wie eng sein Handlungsbegriff unter normativen Gesichtspunkten, trotz zahlreicher Differenzen, noch im „Idiot de la famille“ an die Entwurfsstruktur des Frühwerkes angelehnt ist. Für den hier verfolgten Zusammenhang wird jedenfalls klar: Sartre sucht an dem konkreten Fall Flauberts, Entfremdung aus dessen virtueller Binnenperspektive als eine Erfahrung zu beschreiben, ohne dabei genötigt zu sein, auf einen substanziellen Kern rekurrieren zu müssen. Als ein von den Anderen bezeichnetes Wesen stellt Flaubert ledig-

87 Ebd., S. 153f. 88 Vgl. ebd., S. 144. 89 Exemplarisch sei hier nur auf die Rezeption psychoanalytischer Ansätze im Zuge einer Anerkennungstheorie bei Honneth hingewiesen; vgl. ders. (1992), a.a.O., S. 153ff.

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lich fest, dass er sich nicht kennt. Da er aber als passives Wesen der von den Anderen hergestellten Struktur des Praktisch-Inerten vollständig unterworfen ist, ist er auch nicht in der Lage, diese als Entfremdung erlebte Subjektivität zu überschreiten. Die Folge, so Sartre: „[…] wenn die Passivität die einzig denkbare Form des Handelns ist, muß man die Selbstheit als ein Anders-sein erleiden.“90 In dieser Hinsicht lässt sich dann in der Tat von einer subjektiv erlebten Repressionserfahrung sprechen. Für den praktischen Lebensvollzug Flauberts bedeutet dies allerdings, als einzige Möglichkeit, sich gegenüber dieser inerten symbolischen Ordnung zu verhalten, bleibt, quasi eine subversive Weise der Unterwerfung zu vollziehen: Er versucht „[…] die unmögliche Subjektivität wiederzugewinnen, indem er die Selbstentfremdung, die ihn zunächst sich selbst gegenüber als Gegenstand offenbart, noch überbietet“.91 Diese „passive Aktivität“ findet Sartre in Flauberts Ressentiment.92 Es gilt ihm als eine „parasitäre Form der Praxis“.93 Was Sartre als die Konstitution Flauberts rekonstruiert, legt nahe, ihm von vornherein eine pathologische Handlungskompetenz zu diagnostizieren. Verwehrte Anerkennung beschert ihm sowohl ein Selbstverhältnis, das keine Selbstevidenz zulässt, wie die Erfahrung asymmetrischer Interaktionsbeziehungen zum Anderen. Die Unterwerfung unter die symbolische Ordnung erfolgt zudem unvollständig, da eine intentionale Anwendung ihrer Regeln offenbar nur in einem defizitären Modus praktiziert werden kann. Die Konstitution legt allerdings lediglich die erlebten Voraussetzungen eines konkreten Handlungssubjektes fest. Damit ist Flaubert noch nicht als „unmittelbare und unreduzierbare Subjektivität“ gekennzeichnet. Es ist lediglich dessen „abstrakte Bedingtheit“ umrissen. Doch, so Sartre, „[…] niemand kann sich leben, ohne sich zu schaffen, das heißt, ohne auf das Konkrete hin zu überschreiten, was man aus ihm gemacht hat.“94 Dieser Aspekt des flaubertschen Lebensvollzuges ist bislang unberücksichtigt geblieben. Er weist über die Konstitution hinaus. Zur vollständigen Rekonstruktion von Flaubert als Singuläres-Allgemeines muss Sartre daher zu dessen Personalisation übergehen.

90 Vgl. Sartre (1971/72), a.a.O., Bd.1, S. 154. 91 Vgl. ebd., S. 404. 92 Vgl. ebd. 93 Vgl. ebd., S. 412 (Hervorhebung i.O.). 94 Vgl. ebd., S. 656.

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(2) Personalisation Sartres Darstellung von Flauberts Konstitution aus der Binnenperspektive kommt dem Vorgang der Subjektivierung, wie Foucault ihn aus der Beobachterperspektive weitgehend als Unterwerfung beschreibt, verblüffend nahe. Das Subjekt Flaubert erscheint als das Resultat sozialer Abrichtung. Die für Handlungen charakteristische Intentionalität ist bislang ausgeblendet geblieben. Insofern handelt es sich bei der Art und Weise, wie Flaubert sein Selbst- und Weltverhältnis unter den sozialen Voraussetzungen seiner konkreten Familienzelle vollzieht, eher um ein Verhalten, das sich in Praktiken manifestiert, die mit Foucault als ein Führen seiner selbst im Verhältnis zur Führung der Anderen zu bestimmen wären. In Sartres Worten: „[…] die Strukturen dieser Familie werden in Haltungen verinnert und in Praktiken rückentäußert, wodurch das Kind sich dazu bringt, das zu sein, was man aus ihm gemacht hat.“95 Ein Vorgang der Subjektivierung also, wie ihn Foucault einerseits als Unterwerfung, andererseits unter strategischen Gesichtspunkten später zugleich als Technik des Selbst untersuchte. Jenen zweiten Aspekt jedoch erschließt sich Sartre aus der konkreten Teilnehmerperspektive Flauberts auf gänzlich andere Weise: Denn durch die binnentheoretische Rekonstruktion der Logik dieser Praktiken können diese als zumindest rudimentäre Formen von Handlungen im Sinne einer intentionalen Überschreitung des gegebenen Seins begriffen werden. Von daher geht die eben zitierte Textstelle auch folgendermaßen weiter: „Umgekehrt werden wir bei ihm [Flaubert/M.R.] keinerlei noch so komplexes und entwickeltes Verhalten finden, das nicht ursprünglich die Überschreitung einer verinnerten Bestimmung ist.“96 Von innen betrachtet, sind Flauberts Selbst- und Weltbezüge also immer zweierlei: Sie sind ein durch die Außenwelt strukturiertes verinnertes Verhalten, das jedoch selbst noch als Reaktion immer zugleich Aktion im Sinne einer Totalisierung ist. Aus der Binnenperspektive sind die Anforderungen der sozialen Welt erlebte Detotalisierungen, die vom Subjekt retotalisiert werden müssen.97 Insofern kann die bislang rekonstruierte Konstitution Flauberts auch nur ein Moment von dessen Subjektivierung gewesen sein. Sie geht notwendig einher mit konkreten Handlungsvollzügen, durch die das Subjekt erst als ein Singuläres-Allgemeines verstanden werden kann. Allein durch das Handeln, also jene spezifische Gestalt des Verhaltens, wird das Individuum zur Person. Aus diesem

95 Ebd., Bd. 2, S. 11. 96 Ebd. 97 Vgl. ebd.

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Grund sind Konstitution und Personalisation streng genommen zwei untrennbare Momente der Subjektivierung, deren Spezifik Sartre lediglich aus analytischen Gründen einzeln darzulegen sucht.98 Während die Konstitution das objektive Sein der Person Flaubert aufweist, das dieser zu übernehmen hat, bezieht sich der Prozess der Personalisation auf deren Existenz. Sie ist strukturlogisch gewissermaßen die Negation der Konstitution.99 Was Sartre mit Personalisation meint, muss daher einem externen Beobachter in seinem wesentlichen Gehalt notwendig verborgen bleiben. Das erklärt, weshalb Foucault Subjektivierung lediglich über den Verhaltensbegriff in den Termini von Techniken fassen kann. Unter den methodischen Vorgaben von Sartres phänomenologischer Rekonstruktion aus der Binnenperspektive erschließt sich der Prozess der Personalisation jedoch als eine Serie interner Reflexionsbewegungen, wie sie seinem aus der Entwurfstruktur entwickelten Handlungsbegriff zu Grunde liegen. Der Preis dafür ist freilich – neben dem weiter oben diskutierten, erkenntnistheoretisch unbefriedigenden Begründungszirkel, den er allerdings mit der Einführung des Begriffs des Erlebten (le vécu) zu umgehen sucht – ein ausgewiesener Perspektivismus aufgrund der expliziten Rückbindung des Gangs der Untersuchung an die erlebte Welt einer konkreten Person.

Asymmetrische Interaktion Im vorliegenden Fall des Gustave Flaubert vollzieht sich diese Reflexionsbewegung auf der Basis seiner bereits erhellten Konstitution in einem defizitären Modus. Flauberts Ich war mehr oder weniger eine Leerstelle geblieben. Als Resultat misslungener Kommunikation in der frühkindlichen Sozialisationsphase,100 und damit in von vornherein asymmetrische Interaktionsverhältnisse geworfen, da Wechselseitigkeit lediglich in der Form einer Feudalbeziehung gelebt werden kann,101 erfährt sich Flaubert immer nur als derjenige, als den die Anderen ihn bezeichnen. Er bleibt sich somit selbst notwendig äußerlich. Er ist sich fremd. Sein Ich ist das Ich der Anderen, das als reflektiertes Ich auf ihn zurückkommt, ihn dabei aber verfehlt. Das Ich, das er wiederum den Anderen als das seine präsentiert, ist damit notwendig ein als falsch erlebtes, das er zu simulieren ge-

98 Vgl. ebd., S. 15. 99 Vgl. hierzu auch Brunkhorst (1980), a.a.O., S. 34. 100 Vgl. Sartre (1971/72), a.a.O., Bd. 1, S. 140. 101 Vgl. ebd., S. 160.

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zwungen ist. Er wird gewissermaßen zum „Schauspieler seiner selbst“ nach den Regeln der Anderen. Anders gesagt: „[…] er will seine Realität auffangen – die in den Händen der Anderen ist –, um sie an und für sich zu sein, aber da sie niemals mit dem Erlebten übereinstimmt, erweist sich die Verkörperung zugleich als notwendig und als unmöglich, fühlt sich das Kind zutiefst irreal.“102 Kurz: Flauberts Ich ist nicht das Produkt aktiver Aneignung, sondern nahezu ausschließlich Folge seiner Unterwerfung unter die soziale Macht der Anderen. Die an die Struktur der Handlung gebundene Personalisation kann im konkreten Falle Flauberts daher nicht als modifizierende Überschreitung äußerer Konstitutionsbedingungen im Sinne einer diese negierenden Realisierung eines intendierten Selbst vollzogen werden. Dem durch Passivität geschlagenen Flaubert gerät sie ganz im Gegenteil zu einer Entwirklichung seiner selbst, indem er auf unaufrichtige Weise etwas darzustellen versucht, was mit dem Erlebten nicht in Deckung zu bringen ist. Innerhalb der Familienzelle Flaubert rekonstruiert Sartre die Personalisation des Kindes in drei Reflexionsphasen, die dazu führen, dass es sich selbst als entfremdet erlebt und schließlich als irreal anerkennt. Er erläutert diesen Prozess im Wesentlichen entlang der kindlichen Entwicklungsstadien des Spracherwerbs, der Selbstbeobachtung und der Ausbildung der Fähigkeit zur Rollenübernahme: „[…] in einer ersten Phase seiner Personalisation versucht es [das Kind Gustave Flaubert/M.R.], seine Realität zurückzugewinnen auf die Gefahr hin, daß es nicht empfindet, was es ausdrückt, erreicht aber nur, daß es sich noch mehr derealisiert; in der zweiten Phase bringt es die personalisierende Umdrehung dazu, seine permanente Derealisierung zu verinnern; in der dritten Phase schließlich nimmt es sie an. Aber damit muß ein Anderer ihm versichern, daß es objektiv, das heißt an sich, der Schein ist, auf den es sich reduzieren will.“103

Alle drei Phasen sind an Interaktionsverhältnisse zu bestimmten Positionen innerhalb der Familienstruktur gebunden. Die erste an die Mutter, die für Flauberts frühe Beziehung zur Sprache verantwortlich zeichnet – sein Verhältnis zur Mutter beraubt ihn der „affirmativen Fähigkeit“ und verdirbt seine Beziehung „[…] zum Wort und zur Wahrheit [...]“104 –, die zweite an den Vater und den über diesen vermittelten Blick des Anderen – das Verhältnis zum Vater lässt ihn „[…]

102 Vgl. ebd., Bd. 2, S. 31 (Hervorhebung i.O.). 103 Ebd., S. 95 (Hervorhebung i.O.). 104 Vgl. ebd., S. 81.

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den Sinn seiner Realität verlieren […]“105 –, die dritte schließlich an die jüngere Schwester und die daraus sich ergebende hypothetische Umkehrung einer asymmetrischen Interaktionsbeziehung, wodurch diese ihn schließlich als ein nicht reales, weil imaginäres Subjekt anerkennt. Bereits auf der Konstitutionsebene hatte sich gezeigt, dass das in der frühen Sozialisation nicht-valorisierte Kind an der Ausbildung eines Ich gehindert ist. Überversorgt durch die Mutter, entgehen ihm elementare Weisen der Kommunikation, indem ihm der Weg zur Selbstevidenz über die Artikulation unmittelbarer Begierde verstellt wird. Sprache wird von Flaubert in der Folge nicht als ein Mittel der Signifikation, sondern von vornherein als eine ihn signifizierende Macht von außen verstanden. Von daher rührt schließlich dessen konstitutive Entfremdung. Flaubert fühlt sich gezwungen, „[…] jenem Objekt, das er für die Anderen ist, […] den ontologischen Vorrang gegenüber dem Subjekt […]“ einzuräumen, „[…] das er für sich selbst ist“106 – oder besser noch: das er für sich zu sein scheint. Denn davon, dass er wüsste, was seine Identität ausmachen könnte, kann schließlich keine Rede sein. Sartre schreibt daher: „[…] so ist das Kind niemals stärker seiner selbst entfremdet, niemals irrealer, als wenn es sagt: Ich.“107 Für die nun innerhalb des Personalisationsprozesses interessierende Handlungsdimension hat dies zur Konsequenz, dass Flaubert mangels Selbstevidenz gezwungen ist, sich unter den Vorgaben der Anderen wie eine Rolle zu spielen. Da er dies aber notwendig als Fremdbestimmung erlebt, gerät ihm dieses Spiel als einziger Ausweis einer Spur von Selbstevidenz zum Pathos. Gerade im Pathos der Rolle selbst zeigt sich sein Getrieben-Sein durch die Anderen, die ihn darauf festlegen. In ihm tritt seine ganze Entfremdung zu Tage. „Mit anderen Worten“, so Sartre, „das Pathos wird sich durch den Ton und die Geste ohne Recht, ohne Autorität äußern, er [Flaubert/M.R.] kann seinen Zustand nur darstellen; aber damit dieses Vorführen den Anderen erreicht, darf es nicht für ihn bestimmt sein.“108 Der Sinn dieses Pathos, und damit indirekt der von Flaubert gesuchte Identitätskern, ist allerdings nicht mitteilbar. Er kann lediglich inszeniert werden. Die Ursache für seine pathetische Artikulationsweise ist freilich darin zu suchen, dass Flaubert, wie bereits auf der Konstitutionsebene diagnostiziert, die pragmatische Dimension der Sprache auch in der ersten Phase seiner Personalisation fremd geblieben ist. Denn „[…] er weiß vor allem nicht“, so Sartre,

105 Vgl. ebd. 106 Vgl. ebd., S. 30. 107 Vgl. ebd., S. 31. 108 Ebd., S. 27 (Hervorhebungen i.O.).

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„daß jede Sprache ein Recht auf den Anderen ist, daß jeder Satz, selbst der rein informative Satz, sich als Frage, Aufforderung, Gebot, Annahme, Ablehnung usw. in das nicht endende Gespräch einfügt, das die Menschen seit Jahrtausenden führen, daß auf jede Bitte geantwortet wird, und sei es durch ein Schweigen, daß zwei x-beliebige Personen, so unterschiedlich sie auch sein mögen, wenn sie zusammentreffen, ständig dialogisieren, auch wenn sie verbissen schweigen, weil sie ja notwendig, selbst in der vollständigen Unbeweglichkeit, sehend und sichtbar sind, total signifizierend und total signifiziert.“109

Flaubert hingegen ist offenbar lediglich in der Lage, sich auf die dramaturgischexpressiven Aspekte sprachlichen Handelns einzulassen, die verständigungsorientierte Komponente bleibt ihm weitgehend verborgen. Streng genommen ist er unfähig zum Dialog im Sinne einer „[...] Aktualisierung der Wechselseitigkeit durch das Wort […]“. Dialoge gestalten sich für Flaubert notwendig als „[…] ein Wechsel von Monologen“.110 Die erste Phase von Flauberts Personalisation ist insofern weitgehend dadurch gekennzeichnet, dass er darum bemüht ist, im Pathos etwas auszudrücken, was er nicht bezeichnen kann. Von daher ist er, da die Bestätigung durch die Anderen auf diesem Weg notgedrungen ausbleibt, gezwungen, das, was er für sein Selbst hält, als ein Unrealisierbares, weil Irreales zu erleben. Damit bleibt es aber dabei: Flaubert verfügt über keinerlei Wahrheit. Sie kommt von außen über ihn. Er erfährt sie durch die Anderen. Von dort ist die einzige Gewissheit zu erwarten. Die zweite Phase der Personalisation besteht daher darin, sich den Blick der Anderen zu erschließen, um diesen unter Kontrolle zu bekommen. Da der erste reflexive Totalisierungsversuch über das Pathos quasi im Nichts endet, bleibt dem zweiten nur, über die Reflexion der Außenperspektive zu einer Selbstvergewisserung zu gelangen. Über sie erhofft er sich mangels Selbstevidenz zumindest eine Bestätigung seiner Person. Doch da Letztere von vornherein eine nach den Regeln der Anderen inszenierte bleibt, muss auch dieses Unterfangen notwendig scheitern. Jedwede Kommunikation kann so nur asymmetrisch verlaufen, da Flaubert sich ja nicht in die Lage versetzt sieht, sich als reales Kommunikationssubjekt zu begreifen. Die strenge väterliche Sicht auf den kleinen Jungen ist dafür paradigmatisch. Sie sorgt dafür, dass er jegliche Selbstinszenierung von vornherein als unwirklich empfinden muss.

109 Ebd., S. 26. 110 Vgl. ebd.

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„Da ihm also“, so Sartre, „was er auch tut, die Aufrichtigkeit genommen wird und da er sich nicht das Recht zuerkennt, irgendetwas zu empfinden, bevor die Erwachsenen ihm ihre Zustimmung gegeben haben, ist er durch das launenhafte Mißtrauen des Vaters dazu verurteilt, niemals entscheiden zu können, ob er etwas empfindet oder sich einbildet, etwas zu empfinden.“111

Die Entfremdung wird somit nur um einen weiteren Grad gesteigert. Die Perspektive der Anderen vermittelt ihm nichts von dem, was er bislang als unbezeichenbar Erahntes zu sein glaubte, sie bietet ihm lediglich an, dass er „[…] als Subjekt das Objekt leben könnte, das er für sie ist. Damit entfremdet er sich in jenes entgleitende, abstrakte Für-andere-sein, das man ihm anbietet und zugleich verweigert, das man ihm durch Sätze bezeichnet, die er nicht versteht“.112 Die einzige Instanz, über die Flaubert sich die Außenperspektive kontrolliert erschließen kann, wird so der Spiegel. Er ist das Medium, um „[…] sich gesehen zu sehen, um sich in der Sicht der Anderen korrigieren zu können“.113 Im Spiegel erscheint er sich als Quasi-Objekt, zu dem er auf Distanz gehen kann, indem er sich so, wie er den Anderen erscheint, mit deren Augen betrachten und beurteilen kann. Damit vollzieht Flaubert eine erneute Entwirklichung seiner selbst – gewissermaßen auf erweiterter Stufenleiter. Nun ist nicht mehr allein sein vermeintlicher Identitätskern irreal, weil nicht signifizierbar, noch dessen unwahrhaftige Inszenierung für die Anderen wird von ihm selbst über den virtuellen Rückgriff auf die Perspektive der Anderen infrage gestellt. Der Blick in den Spiegel macht ihn quasi zum Komplizen114 der Anderen, die seine Darbietung nicht ernst nehmen können, sondern als simulierte Handlungen durchschauen. Der Spiegel eröffnet dem kleinen Gustave Flaubert eine bittere Einsicht: „Wenn er sein eigenes Objekt werden will, dann muß er sich zunächst von sich selbst distanzieren: er wird von den Anderen das spöttische Mißtrauen übernehmen, das seine unaufrichtigen Bemühungen um Aufrichtigkeit bei ihnen hervorrufen.“115 In der Konsequenz bedeutet das: Aus der Perspektive der Anderen wird er sich selbst nicht mehr wirklich ernst nehmen können. Als einzig sichere Strategie bietet sich an, das Lachen der Anderen über ihn zu übernehmen – eine Haltung, die jedoch nichts mit Ironie, viel hingegen mit Zynismus zu tun hat.

111 Ebd., S. 35. 112 Vgl. ebd., S. 36 (Hervorhebung i.O.). 113 Vgl. ebd., S. 38 (Hervorhebungen i.O.). 114 Vgl. ebd., S. 80. 115 Ebd., S. 41 (Hervorhebungen i.O.).

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Auf der Folie der sartreschen Intersubjektivitätskonzeption, wie sie weiter oben in ihrer frühen bewusstseinstheoretischen wie in ihrer späteren strategischpraktischen Begründung diskutiert wurde, wird bereits anhand der bisherigen Darstellung des Prozesses der Personalisation deutlich, wo die biografischen Defizite von Flauberts Selbst- und Weltverhältnis auszumachen sind. Der Reflexionsprozess, der mit der Übernahme einer Fremdperspektive durchlaufen wird, ist in diesem konkreten Fall als ein pathologischer anzusehen. Denn anders als dies innerhalb der Bezugsgrößen von Sartres standardisiertem Reflexionsmodell anzunehmen wäre, führt die Konfrontation mit dem Blick des Anderen nicht zu einer aktiven Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Für-Andere-sein im Sinne von Zustimmung oder Ablehnung, sondern lediglich zu einer passiven Übernahme desselben. Diese Defizite treten mit Blick auf die Erweiterung seines strategischen Intersubjektivitätsverständnisses um eine kommunikative Dimension, die Sartre dem „Idiot de la famille“ offensichtlich zu Grunde gelegt hat, noch deutlicher zu Tage. Unfähig, „[…] ja oder nein zu sagen […]“, vollzieht Flaubert nicht wirklich den Akt der Reflexion, sondern ist er ein „Komplize seiner Peiniger“. Die Personalisation ist somit auch in ihrer zweiten Phase weitgehend ein Akt der Unterwerfung geblieben. „Insofern ist der Spiegel für ihn wichtiger als der reflexive Vorgang: er sucht in ihm den von den Anderen konstituierten Gegenstand, nicht um ihn anzufechten, sondern um ihn in seiner Totalität wieder herzustellen und sich mit ihm zu identifizieren“, so Sartre.116 Die zweite Phase ist also die Internalisierung der als irreal erlebten Subjektzuschreibung durch die Anderen. Der Sinn einer vermeintlich eigenen Realität ist damit endgültig infrage gestellt. Hatte sich bereits in den ersten beiden Phasen von Flauberts Personalisation gezeigt, dass die Konstitution seines Verhältnisses zu sich und den Anderen dazu führt, dass Flaubert offenbar, wenn überhaupt, dann nur zu eingeschränkten Formen kommunikativen Handelns in der Lage ist, so führt die Beziehung zu seiner drei Jahre jüngeren Schwester Caroline dies schließlich schlagend vor Augen. Erstmals etabliert sich ein Interaktionsverhältnis, das Flaubert nicht von vornherein auf eine untergeordnete Position verweist. Gegenüber der kleinen Schwester ist er derjenige, der die Regeln bestimmen kann. Dem passiv konstituierten und in den Phasen reflexiver Personalisation bezüglich Mutter und Vater noch einer minimalen Selbstevidenz beraubten Kind dient die Schwester nun aber nicht als aktiver Widerpart innerhalb eines zu durchlaufenden Entwicklungsprozesses, an dessen Horizont sich zwei sich gegenseitig als Gleiche anerkennende Subjekte abzeichnen, wodurch Flauberts ersehnte Selbstvergewisse-

116 Vgl. ebd., S. 80 (Hervorhebungen i.O.).

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rung endlich realisiert werden könnte. Die Schwester ist für Flaubert lediglich strategisches Mittel zum Vollzug eines weiteren einsamen Reflexionsversuches: diesmal über den imaginären Rollentausch innerhalb der feudalen Familienzelle. Er kehrt das autoritär strukturierte Vasallenverhältnis zum ‚pater familias‘ in der Beziehung zu seiner jüngeren Schwester einfach um. Allerdings nicht mit dem Ziel, seinerseits eine Herrschaftsposition zu installieren, über die eine Bestätigung seiner selbst gegenüber einem zur Unterwerfung gezwungenen Anderen erlangt würde. Dies läge zwar nahe, erscheint jedoch aufgrund seiner passiven Konstitution streng genommen bereits undenkbar. Ganz im Gegenteil: Er versucht die Schwester so zu sehen, wie er selbst von den Anderen gesehen werden möchte, unglücklicherweise von jenen aber nicht gesehen wird. Mit anderen Worten: Er spielt den Vater so, wie er ihn sich wünscht, um sich selbst in der Schwester zu spiegeln. Flaubert benutzt gewissermaßen seine Schwester, um diejenige Subjektivität, die ihm als von den Anderen zugewiesen und zugleich verwehrt erscheint, in ihrer Person zu realisieren. Zu diesem Zweck mimt er die Liebe und den Großmut des Vaters, die ihm, dem Versager und Idioten der Familie, schon früh verlustig gegangen sind, „[…] er ist Großmut als Subjekt, weil er ihr Objekt sein will“.117 Der kleine Junge spaltet sich also gewissermaßen in beide Rollen auf, wenn er versucht, sich gegenüber seiner Schwester selbst als patriarchales Subjekt zu inszenieren, um sich auf diesem Weg gleichzeitig in ihr als Objekt seiner selbst zu begreifen. „Das ist, könnte man“, laut Sartre, „sagen, seine irrealisierende Beziehung zu seinem Spiegelbild, bis zum Zerreißen gespannt; es macht sich im Imaginären zum Subjekt mit der formellen Absicht, dort, in der Person seiner kleinen Vasallin, Objekt zu werden.“118 Dem von Flaubert in der Interaktionsbeziehung zu seiner Schwester etablierten Rollenspiel liegt also erneut eine weitgehend gestörte Kommunikation zu Grunde. Zumindest soweit Sartre sie aus der Perspektive Flauberts darstellt, handelt es sich dabei nicht um eine wechselseitige Rollenübernahme im Sinne einer aktiven Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Fremd- und Selbstverständnis. Was er als dritte Phase von Flauberts Personalisation rekonstruiert, ist nicht nur weit entfernt von jener strategischen Intersubjektivität, wie er sie etwa in der „Critique de la raison dialectique“ am Modell des Kampfes entworfen hatte,119 aus dessen virtueller Teilnehmerperspektive das Verhältnis zum Anderen ja noch nicht einmal als ein minimales Interagieren von Dialogpartnern denkbar er-

117 Vgl. ebd., S. 88 (Hervorhebung i.O.). 118 Ebd., S. 87. 119 Vgl. etwa die strategische und weitgehend verdinglichende Sicht auf den Anderen in den Passagen bei Sartre (1960), a.a.O., S. 110f.

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scheint. Flauberts Selbstvergewisserungsversuch über die Rollenreflexion wird überhaupt nur aus der Position einer ausschließlich auf sich selbst zurückgeworfenen, fast schon autistischen Subjektivität nachvollziehbar. Rollen führen im Falle Flauberts daher offenbar nicht zu einer faktischen Perspektivenübernahme der Anderen, sondern lediglich zur imaginären Verdoppelung des eigenen Selbst.120 Darin besteht aber zugleich die Crux von Flauberts Subjektivierung in dieser Personalisationsphase. Solange er das Rollenspiel als Projektion des Bildes der Anderen, wie er es über den Spiegel sich zu vergegenwärtigen suchte, praktizieren kann, bietet es ihm einen gewissen Halt. Die Rolle des allmächtigen, großmütigen Vaters erlaubt ihm sogar in der übertreibenden Darstellung dieses Archetyps eine verhaltene Kritik. Der reale ‚pater familias‘, der ihn schon früh verstoßen hatte, erscheint auf dieser Folie als „schlechter Herr“.121 Und auch der Verdoppelung seiner selbst in der Rolle der Schwester als seiner dankbaren Vasallin, die es ihm erlaubt, sich in ihr so zu sehen, wie er es selbst dereinst gegenüber dem Vater sein konnte, verdankt er zunächst die vermeintliche Bestätigung seiner selbst, „[…] indem er im Anderen seine eigene konkrete Subjektivität erfaßt“.122 In dem Augenblick allerdings, in dem die zugeschriebene Rolle nicht mehr eine statische, allein aus dem Spiegelbild gewonnene bleiben kann, weil die Schwester in dieser Konstellation als Alter Ego darin auf minimale Weise zu handeln beginnt, erfährt Flaubert erneut eine entfremdende Subjektzuschreibung. Die Schwester erkennt ihn nämlich notwendig genau als dasjenige Subjekt an, das er gerade nicht ist, weil er es nur darstellt: eine „selbstbewußte Souveränität“,123 ein aktives Handlungssubjekt. „Sowie er versucht,“ so Sartre, „in ihr das Kind wiederzuerwecken, das er gewesen ist, stößt ihn Caroline gerade durch ihre Dankbarkeit zurück, indem sie in ihm den Herrn anerkennt, den er lediglich darstellt, das andere Subjekt, das er weder sein will noch kann, außer im Imaginären und nur, um dadurch sein verlorenes Vasallentum wiederzufinden.“124 Die dritte Phase der familialen Personalisation führt dazu, dass Flaubert endgültig akzeptieren muss, dass er sein eigenes Sein nicht als etwas erfahren kann,

120 Es wäre interessant, das was Sartre hier phänomenal beschreibt, unter pathologischen Gesichtspunkten mit Bezug auf den Prozess der kindlichen Identitätsbildung durch die Übernahme von Rollen zu diskutieren, wie er durch den symbolischen Interaktionismus von George Herbert Mead gefasst wird; vgl. etwa Mead (1934), a.a.O., S. 192ff. Dies würde allerdings den Rahmen dieser Arbeit sprengen. 121 Vgl. Sartre (1971/72), a.a.O., Bd. 2, S. 88. 122 Vgl. ebd., S. 89. 123 Vgl. ebd., S. 91. 124 Ebd., S. 90 (Hervorhebungen i.O.).

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das sich an der Realität bestätigen lässt. Der Versuch, den Blick der Anderen zu kontrollieren, indem er sich seines Spiegelbildes bemächtigt und dieses in einer ihm genehmen Weise zurückprojiziert, scheitert, sobald die Passivität des Spiegels durch die Aktivität eines Gegenübers ersetzt wird. Es bleibt ihm nur noch, sich selbst als imaginär zu wählen. Er imaginiert das Objekt, das er für die Anderen ist, „[…] weil das Bild, das er von sich zu geben versucht, in nichts dem entspricht, was er tatsächlich empfindet und denkt […]“. Er ist Subjekt durch „[…] die Macht der Anderen […]“, ein Handelnder, der er aufgrund seiner Konstitution jedoch nicht sein kann.125 Die Existenz der Anderen zwingt Flaubert somit nicht zur Selbstvergewisserung über den Weg der Auseinandersetzung mit seinem Für-Andere-sein und dessen aktiver Aneignung, sondern sie radikalisiert noch die sich selbst derealisierenden Reflexionsbewegungen der vorigen Phasen, indem sie ihm den Schein, den er zu sein empfindet, direkt bestätigt. „Genau in dem Maße“, so Sartre, „wie er sich weigert, diesen Anderen, der er für die Anderen ist, zu erleiden, und daher versucht, ihn zu lenken, kann er ihn nur noch imaginieren. Auf jeden Fall bleibt so dieses Für-andere-sein – das er für sein An-sich-sein hält – was es war: unrealisierbar. Aber indem er die Anderen auffordert, ihn zu realisieren, wie er es versteht, wird er sich bewußt, daß er für sich eine Irrealität daraus macht.“126

Derealisierung als Technik der Unterwerfung Mit den in ihren Grundzügen so weit rekonstruierten Phasen von Flauberts Personalisation sind die wesentlichen Momente einer pathologischen Handlungsstruktur entfaltet, wie sie Sartre im weiteren Gang seiner Untersuchung minutiös bis in biografische Details verfolgen wird. Für den hier interessierenden Zusammenhang gilt es zwei Dinge festzuhalten: Flaubert ist von seiner Konstitution her eine passive Subjektivität. Sein Selbst- und Weltverhältnis ist weitgehend von der Macht der Anderen geprägt. Unter handlungstheoretischen Gesichtspunkten lässt sich sein Verhalten zudem lediglich als eine Serie von Reflexionsbewegungen beschreiben, in denen eine Derealisierung des Selbst vollzogen wird. Diese Reflexionsfigur, die er zunächst anhand der konkreten intersubjektiven Nahbeziehungen innerhalb der Familie entwickelt, zeichnet Sartre in modifizierten Gestalten schrittweise bis zu Flauberts Fernbeziehungen auf abstrakt-gesell-

125 Vgl. ebd., S. 123. 126 Ebd. (Hervorhebungen i.O.).

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schaftlichem Niveau nach. War die Rolle, der sich das Kind Flaubert innerhalb der Familie unterwirft, die des Idioten, so findet es sich als Schüler, nachdem es erstmals in die egalitäre Konkurrenzserialität127 mit anderen Akteuren geworfen ist, in der Rolle des ‚garçon‘, des rüpelhaften, sarkastischen jugendlichen Zynikers wieder. Den Missachtungen der Mitschüler, die ihn gängeln und verlachen, begegnet Flaubert nicht durch offene Konfrontation. Er spielt ihnen etwas vor, eine erneute Rolle, eine holzschnittartig entworfene Kunstfigur, von der er sich distanzieren kann, indem er gemeinsam mit den Anderen darüber lacht. Anders als in der komplizenhaften Übernahme des Blickes von außen, lacht er nun aber über seine Rolle, das heißt über eine Gestalt, die, was ihm von vornherein klar ist, mit ihm nichts zu tun hat. Mehr noch, er stiehlt gewissermaßen dabei noch den Anderen ihr Lachen, indem er dieses imitiert128 und damit zugleich seiner Realität beraubt. Flaubert vollzieht dabei erneut eine Dezentrierung des eigenen Selbst durch dessen Verdoppelung: „Und da man nur über eine Figur, die sich ernst nimmt, lachen kann, spielt Gustave den Garçon als den Menschen, dessen Ernst nur existiert, um sofort durch die Ausbrüche eines homerischen Gelächters niedergemäht zu werden, das woanders, über ihm entsteht und sich schließlich dröhnend seinem eigenen Mund entringt.“129 Flauberts Rolle des ‚garçon‘ stellt daher laut Sartre „[…] ein höheres Stadium seiner Irrealisierung und eine neue Spirale seiner Personalisation dar“.130 An ihr lassen sich aber weiterhin keine Anzeichen einer Praxis ablesen, „[…] der Garçon kann nicht handeln […] “,131 seine Rolle wird durch die Macht der Anderen erzwungen und erlitten. Als junger Erwachsener schließlich wird Flaubert die gesellschaftliche Rolle des Künstlers132 wählen. Die Spirale der Personalisation erreicht damit ihren Höhepunkt. Flaubert entzieht sich mit dieser Haltung den väterlichen Vorgaben einer bürgerlichen Existenz, ohne sich wirklich jenseits davon zu situieren. Es ist der berühmte Sturz vom Kutschbock im Januar 1844 in der Nähe von Pontl’Evêque,133 der mit einem physischen und psychischen Zusammenbruch Flauberts einhergeht und der seine Entbindung von den sozio-ökonomischen Verpflichtungen seiner Familienzelle einleitet. Erst dieser Zusammenbruch erlaubt es ihm, sich in der Rolle des Künstlers einzufinden. Doch auch mit diesem Er-

127 Vgl. hierzu ausführlich Olschanski (1997), a.a.O., S. 336ff. 128 Vgl. Sartre (1971/72), a.a.O., Bd. 3, S. 600. 129 Ebd., S. 628 (Hervorhebungen i.O.). 130 Vgl. ebd., S. 603. 131 Vgl. ebd., S. 606 (Hervorhebungen i.O.). 132 Vgl. ebd., S. 987. 133 Vgl. ebd., Bd. 4, S. 11ff.

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eignis ist keine befreiende Praxis verbunden, es eröffnet ihm allein eine „Gegenentfremdung“, indem er sein „[…] Bürger-sein nur durch ein Für-die-Kunst-sein […]“ ersetzt „[…] und den Beruf, die zwangsläufige und vom Vater bestimmte Zukunft, nur durch eine andere Fatalität“. Es ist lediglich ein „anderer Wille“, dem er sich unterwirft – demjenigen der Kunst nämlich.134 Wie zu erwarten, erlaubt Flauberts passive Konstitution ihm keine offene Rebellion gegen die über die Person des Vaters institutionalisierte symbolische Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft. Sie gestattet ihm lediglich ein Abtauchen in die anti-bürgerliche Rolle des Künstlers, die für ihn bereitsteht. Damit jedoch ist er dazu verdammt, ein Meisterwerk zu schaffen. „Wenn es ihm gelingt“, so Sartres rekonstruktive Deutung aus der virtuellen Teilnehmerperspektive, „werden alle Gegebenheiten seiner Vorgeschichte mit einem Schlag umgekehrt: die väterliche Absicht verwandelt sich in Illusion; als sein Vater glaubte, einen Bürger wie er zu zeugen, ist er in die Falle der Geschichte gegangen, hat er genau hervorgebracht, was ein zukünftiger Imperativ von ihm verlangte. Kurz, der Künstler als der Sohn seines Meisterwerks. Er ist auf die Welt gesetzt worden, um sich dem Gegenstand, der konstituiert werden muß, zu opfern.“135

Die so konzipierte Rolle des Künstlers verlangt von ihm erneut eine „Verdoppelung des Subjekts“. Flaubert ist gezwungen, sein Ich in das „überfliegende Subjekt“ einer anderen Instanz – der Kunst nämlich – und in das des „wirklichen Schriftstellers“ aufzuspalten, der nicht sein Ich zum Ausdruck zu bringen hat, sondern sich den Imperativen der Ersteren unterwirft, indem er „[…] reale Zeichen wählt, um zum Ausdruck zu bringen, was sein imaginäres Ich zugleich entdeckt und hervorbringt“.136 Noch der Künstler Flaubert ist also imaginär und damit Resultat einer derealisierenden Reflexionsbewegung. Reflexion als Technik der Derealisierung, so lassen sich die Spiralen von Flauberts Personalisation mithilfe von Sartres hermeneutischem Verfahren beschreiben. Dies trifft zumindest spätestens von dem Stadium an zu, in dem die Interaktionsbeziehungen schrittweise von den konkret-familiären Nahbeziehungen hin zu zunehmend sich formaler und abstrakter gestaltenden gesellschaftlichen Fernbeziehungen ausgedehnt werden. Die Phänomenologie dieser Weisen der Derealisierung befördert unter handlungstheoretischen Gesichtspunkten eine Reihe von miteinander verwandten Praktiken zu Tage. Sartre kennzeichnet sie

134 Vgl. ebd., Bd. 3, S. 983 (Hervorhebungen i.O.). 135 Ebd. 136 Vgl. ebd., S. 985.

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als Flauberts Absentismus,137 sowie als Techniken der Desituierung138 und des Wiederaufspringens.139 Unter Absentismus versteht Sartre die Versuche des jungen Flaubert, sich den Mechanismen der Konkurrenzserialität des Schulbetriebs zu entziehen, indem er sich in ekstaseartige Zustände versetzte. Er träumt am helllichten Tage und nimmt dafür die Demütigungen von Lehrern und Mitschülern in Kauf. Der Schüler Flaubert demonstriert geistige Abwesenheit. „Aber das unterwürfige, einer Revolte unfähige Kind wird leibhaftig anwesend bleiben: eine einzige, wesentliche, obzwar weniger bemerkte Abwesenheit: die seiner Seele“, so Sartre.140 Dieser Absentismus ist nur eine frühe Erscheinungsweise von dem, was Sartre generell als „Desituierungspraktiken“141 beschreibt: das Unternehmen, sich der Faktizität seines Seins über den Weg der Reflexion zu entziehen und es zugleich aus einer externen Position eines imaginären Bewusstseins zu qualifizieren. Sartre skizziert Flauberts Technik wie folgt: „Indem er die Spezies, der er angehört, von oben her betrachtet, reißt er vom empirischen Ich, der Einheit des Erlebten, das übermenschliche Subjekt los, das dieses enthalten soll; mit diesem Subjekt identifiziert sich der junge Mann jetzt.“142 Damit einher geht eine Abwertung seiner faktischen Existenz. In der reflexiven Verdoppelung des Ich stößt er gewissermaßen sein empirisches Ich in den Abgrund, er stimmt den Demütigungen durch die Anderen zu, ja er forciert sie geradezu, um sich zugleich in seinem imaginären Selbst zu stabilisieren, indem er sich hochmütig darüberstellt. Darin besteht das Wiederaufspringen, das nach Sartre Flauberts Biografie bis an ihr Ende bestimmen soll. In ihrem Ursprung ist es der „[…] absichtliche Übergang vom Unreflektierten zum reflexiven Leben […]“. In der Technik des Wiederaufspringens benutzt Flaubert die reflexive Verdoppelung, um sich selbst zu verdoppeln: „[…] indem er sein Objekt-Ich als passives Opfer den Händen seiner Peiniger überläßt, macht er sich zum kontemplativen Subjekt und sieht gleichgültig zu, wie das intime Objekt vor seinen Füßen versinkt.“143 Das Wiederaufspringen ist zentral für ein handlungstheoretisches Verständnis von Flauberts Selbst- und Weltbezug. Als passives Subjekt konstitutiert, ist es gerade diese Technik der Derealisierung, die ihn schließlich zur Person werden lässt: der fast kalkuliert erscheinende Absturz in der von den Anderen ge-

137 Vgl. ebd., S. 551ff. 138 Vgl. ebd., S. 946. 139 Vgl. ebd., S. 944. 140 Ebd., S. 552. 141 Vgl. ebd., S. 944 (Hervorhebung i.O.). 142 Ebd. 143 Vgl. ebd.

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sellschaftlich verordneten Rolle eines bürgerlichen Handlungssubjektes und das anschließende Wiederaufspringen durch die bereitwillige Unterwerfung unter einen alternativen Subjektimperativ. Als Schlüsselszene hierfür deutet Sartre den bereits erwähnten Zusammenbruch Flauberts in Pont-l’Evêque von 1844. Der Sturz vom Kutschbock und die sich darin manifestierende Krankheit bereiten Flaubert das Feld, um endlich das Plazet der Familie zu erhalten, sich von dem verordneten Projekt einer bürgerlichen Berufskarriere zu verabschieden. Der Sturz kann allerdings – und das ist unter handlungstheoretischen Gesichtspunkten hier von entscheidender Bedeutung – unter den Bedingungen einer konstituierten Passivität nicht als Akt der Rebellion gegen den Vater gedeutet werden. Er überkommt Flaubert wie ein Geschick in der Gestalt einer Krankheit. Sartre rekonstruiert nun diesen Absturz als psychosomatisches Symptom einer Neurose, die sich in diesem Moment vollständig entfaltet, weil sie von Flaubert selbst gewählt ist.144 In ihr kulminieren gewissermaßen wie in einem Brennglas die gesellschaftlichen Anforderungen der Anderen und Flauberts konstituierte Subjektivität. Sie ist die ihm adäquate Reaktionsweise. Die Neurose, so Sartre, „[…] ist eine intentionale Anpassung der ganzen Person an seine ganze Vergangenheit, an seine Gegenwart und an die sichtbaren Gestalten seiner Zukunft. Man kann ebenso sagen, es ist eine Art und Weise, für die Totalität des erlebten Lebens und der wahrgenommenen Welt (aus einer besonderen Verwurzelung heraus), sich erträglich zu machen […]“.145

In diesem Sinne kann der Sturz vom Kutschbock als eine Art Zwangshandlung interpretiert werden. Es handelt sich dabei um keine „rationale Entscheidung“, es ist ein „passiver Entschluss“, der sich aufgrund seiner Konstitution im Grunde bereits angekündigt hat. Er vollzieht sich auf der Basis eines Glaubens146 und wird in der Gestalt der fatalistischen Erwartung eines Ereignisses erlebt.147 Flaubert stürzt sich nicht vom Kutschbock, er gibt einer Last nach, indem er sich fallen lässt. Damit realisiert er eine unumkehrbare Wahrheit für sich: seine konstitutive Passivität.148 Der Sturz ist also alles andere als ein intentionaler Akt. Vielmehr manifestiert sich in ihm der Modus einer „passiven Aktivität“, in dem Flaubert seine

144 Vgl. ebd., Bd. 4, S. 25. 145 Ebd., Bd. 1, S. 178. 146 Vgl. ebd., Bd. 4, S. 53. 147 Vgl. ebd., S. 59. 148 Vgl. ebd., S. 99.

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Existenz vollzieht. Er ist in Sartres Deutung die Unterwerfung unter die durch die Macht der Anderen strukturierte Zukunft: „Da die Option, die die Freiheit in der Aufdeckung ihrer strikten Bedingtheit durch das Feld der Möglichkeiten entdeckt, ihm prinzipiell unzugänglich ist, kommt auf dieser Ebene der unrealisierbare und notwendige Entwurf als geglaubtes Schicksal auf sich zurück. Und das Schicksal enthält natürlich die Wahl, aber bei Gustave konstituiert sich diese Wahl, da sie sich nicht in der Dialektik von Negation und Affirmation offenbaren kann, als Ankündigung einer Fatalität und als subjektive Erwartung dessen, was ihn in der objektiven Zukunft erwartet.“149

Damit ist aber zumindest so viel klar: Als passives Subjekt zwar zu keiner wirklichen Praxis fähig, ist Flauberts Unterwerfung dennoch das Ergebnis einer Wahl, die es erst möglich macht, dass ein Schicksal überhaupt als Schicksal eintreten kann. Dem weitgehend durch die Macht der Anderen fremdbestimmten Subjekt Flaubert bleibt insofern, trotz seiner Unfähigkeit zu handeln, mithin jene minimale ontologische Freiheit, sich zu sich und anderen zu verhalten. Bei Flaubert tritt sie in Gestalt der Neurose definitiv ans Tageslicht: „Eines Nachts,“ so Sartre, „auf der Straße von Pont-l’Evêque, wird die Freiheit in Form einer Neurose über ihn kommen.“150 Die Neurose ist Flauberts Seinsweise, in der sich die Freiheit in jener kleinen Bewegung ausdrückt, durch die es ihm möglich wird, etwas aus dem zu machen, was die Anderen aus ihm gemacht haben. Indem er sie für sich annimmt, realisiert er seine Existenz. Sie verkörpert gewissermaßen die konkrete Gestalt einer spezifischen Technik des Selbst. Sartre ist mit seiner eindrucksvollen Rekonstruktion der Personalisation Flauberts offenbar in der Lage zu zeigen, wie Subjektivierung – mit Foucault in ihrem Doppelcharakter als Unterwerfung und Technik des Selbst verstanden – aus der Binnenperspektive eines konkreten Einzelnen erlebt werden kann. Dabei verschiebt sich freilich der Untersuchungsgegenstand. Während Foucaults virtuelle Beobachterperspektive es erlaubt, die Regelmechanismen der Disziplinierung frei zu legen und die jeweiligen historischen Techniken des Selbst generell als ethische Arbeit an sich zu begreifen, führt Sartres über weite Strecken phänomenologisch operierende Hermeneutik aus der virtuellen Teilnehmerperspek-

149 Ebd., S. 54f (Hervorhebungen i.O.). 150 Ebd., Bd. 3, S. 574; ähnlich vgl. ebd., S. 513 (Anmerkung), wo Sartre von „[…] jenem außerordentlichen Augenblick […]“ spricht, „[…] da schließlich die Freiheit geboren ist, um sich als Neurose zu wählen, und die Neurose, die ihn zu Boden wirft, seine Freiheit wird.“

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tive zu vertiefenden Einsichten bezüglich ihrer Bedeutung für das Selbst- und Weltverhältnis eines Individuums. Das, was Foucault aus einer von den einzelnen Akteuren abstrahierenden Distanz diagnostiziert, wird damit gewissermaßen anhand einer spezifischen historischen Figur als konkret Erlebtes nachvollziehbar. Sartre bekommt nicht nur die repressiven Aspekte der Disziplinierung in den Blick, er kann den Durchgriff der symbolischen Ordnung über die Institution der Familie bis in den lebensweltlichen Nahbereich einer bestimmten Person verfolgen. Offenbleiben musste allerdings bislang, welcher Rationalität diese Mechanismen folgen, die sich in der jeweiligen historisch-konkreten Formation eines Praktisch-Inerten niederschlagen. Konstitution und Personalisation konnten lediglich deren Auswirkungen auf die Subjektbildung, vermittelt über die Instanz der Anderen, transparent machen. Was fehlt, ist ein Verständnis der Logik der gesellschaftlichen Programmierung dieser Prozesse. Nur wenn diese frei gelegt werden kann, wird es tatsächlich möglich, Flaubert vollständig als SinguläresAllgemeines zu verstehen.

(3) Programmierung Wie bereits weiter oben skizziert, steht und fällt die gesellschaftstheoretische Reichweite von Sartres phänomenologisch verfahrender Hermeneutik des konkret Erlebten aus der Binnenperspektive mit seinem Totalitätsbegriff. Als Singuläres-Allgemeines kann eine Person nur unter der Voraussetzung aufgefasst werden, dass ihr jeweiliger Existenzvollzug unter handlungstheoretischen Gesichtspunkten als partielle De- bzw. Retotalisierung einer prinzipiell als provisorisch geltenden Totalität konzipierbar ist. Dies muss selbst noch für den Fall eines defizienten Handlungsmodus, wie Sartre ihn bei Flaubert ausmacht, gelten können. Sartres Verständnis von Totalität impliziert, dass sich die Struktur des gesellschaftlichen Ganzen in den Handlungsvollzügen des Einzelnen niederschlägt, die wiederum auf dieses Ganze, verstanden als die dialektische Vermittlung einer aktualisierten Serie pluraler Einzelhandlungen in der verdinglichenden Gestalt des Praktisch-Inerten, zurückwirken. Dem Totalitätsbegriff kommt damit gleich in mehrfacher Hinsicht die Funktion eines geltungstheoretischen Garanten für das von ihm verfolgte Unternehmen einer kritischen Gesellschaftstheorie zu. Erst unter dieser Voraussetzung nämlich lässt sich das Vorhaben, Gesellschaftsanalyse allein über den methodischen Zugriff aus der Binnenperspektive zu leisten, überhaupt legitimieren. Denn diese erlaubt es ihm, eine strukturelle Korrelation zwischen individueller Verfasstheit und dem jeweiligen Zustand des gesell-

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schaftlichen Seins zu unterstellen. Und nur so kann Sartre plausibel machen – und dies ist freilich auch der Witz seiner Beschreibung der Dialektik von Konstitution und Personalisation –, dass die regressiv-progressive Rekonstruktion des Prozesses der Subjektivierung Flauberts erste Rückschlüsse auf den Charakter der gesellschaftlichen Verhältnisse zulässt. Zugleich eröffnet ihm erst der Totalitätsbegriff die Möglichkeit, für die bislang phänomenologisch rekonstruierten Erlebnisse der Subjektivierung eine gesellschaftstheoretische Begründung beanspruchen zu können. Die Subjektivierung ließe sich damit über die Dialektik von individueller Konstitution und Personalisation hinaus zugleich als Resultat einer gesellschaftlichen Programmierung deuten. Erst innerhalb dieses Bezugsrahmens kann Sartres biografische FlaubertStudie als Versuch einer kritischen Analyse der französischen Gesellschaft zur Mitte des 19. Jahrhunderts gelesen werden. Seinen diagnostischen Anspruch verdankt der „Idiot de la famille“ letztendlich Sartres Arbeitshypothese, dass sich an der pathologischen Signatur des Flaubertschen Verhaltens eine pathologische Verfassung der Gesellschaft ablesen lassen müsste. Dies besagt im konkreten Fall, dass dessen Neurose sich zugleich in einer „[…] objektiven Neurose, an der er teilhat […]“,151 widerspiegelt, die wiederum das gesellschaftlich Allgemeine strukturiert. Trifft diese Annahme zu, dann muss deren Zwangscharakter, vermittelt über die abgestuften Hierarchien sozialer Institutionen, etwa von der Kunst über die Familienbeziehungen in ihren jeweils besonderen Gestalten, noch auf der Ebene des Individuums auszumachen sein. Um dies zu belegen, hat die dialektische Analyse demzufolge die komplexen Verwicklungen vom gesellschaftlich Abstrakten bis zum individuell Konkreten zu durchlaufen und wechselseitig zu berücksichtigen. Nur so kann der Spannungsbogen zwischen gesellschaftlicher Programmierung einerseits und individueller Abweichung andererseits adäquat bestimmt werden. Denn, so Sartre: „[…] wenn wir nämlich von der Hypothese ausgehen müssen, daß Gustaves subjektive Neurose die Verinnerung und Rückentäußerung der zu schaffenden Kunst als widersprüchlicher Komplex unpersönlicher Imperative ist, so müssen wir nichtsdestoweniger die familiären Strukturen und den Willen des symbolischen Vaters berücksichtigen, die die bestimmenden Faktoren von Gustaves Neurose sind, insofern sie auch als eine unreduzierbare Besonderheit erscheint.“152

151 Vgl. ebd., Bd. 5, S. 40. 152 Ebd., S. 41 (Hervorhebungen i.O.).

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Das Verfahren einer dialektischen Rekonstruktion der gesellschaftlichen Totalität aus der Perspektive des einzelnen Handlungssubjektes als SinguläresAllgemeines muss also in zwei Richtungen vorgehen. Es muss einerseits zeigen, wie sich die Programmierung des Individuums über die Struktur des PraktischInerten vollzieht, andererseits einsichtig machen können, in welcher Hinsicht die Intentionen individuellen Handelns noch in der Gestalt marginaler Abweichungen von äußerlich vorgegebenen Imperativen als adäquate Antworten auf eine gesellschaftliche objektive Anforderung gelesen werden können. Bei Flaubert liegt es nun nahe, dies an der Rezeption seiner Werke, insbesondere der einschlägigen Wirkung der „Madame Bovary“, zu verfolgen. Am Erfolg dieses Romans müsste sich indirekt zeigen lassen, welche gesellschaftlichen Anforderungen in der zu schaffenden Kunst jener Zeit formuliert sind. Vereinfacht gesagt: Das Geheimnis von Flauberts Bestseller wäre darin zu suchen, dass dieser als Resultat gesellschaftlicher Programmierung aufgefasst werden kann, das zugleich als Werk eines Einzelnen seine historisch angemessene Gestalt erhält. Sartres These, die er über weite Strecken des unter dem Titel „Objektive und subjektive Neurose“ noch publizierten vierten Teils des „Idiot de la famille“ entfaltet und schließlich im nicht mehr erschienenen fünften Teil mit den Mitteln einer strukturalen Analyse der „Madame Bovary“ zu belegen beabsichtigte, ist nun, dass das Werk auf die Pathologien der damaligen bürgerlichen Gesellschaft antwortet. Demnach ist davon auszugehen, dass es einen äußerst komplexen Verweisungszusammenhang zwischen der Neurose Flauberts und einer neurotischen Gesellschaft gibt. Diese vermutete Korrelation von subjektiver und objektiver Neurose versucht Sartre anhand der kommunikativen Vermittlungsfunktion des Werkes zwischen Autor und Leser nachzuzeichnen. Sein Befund: Der Erfolg des neurotischen Schriftstellers Flaubert besteht darin, dass er gerade kein neurotisches Werk verfasst. Entgegen seiner konstitutionsbedingten „[...] systematische[n] Verweigerung jeder Kommunikation […]“153 mit dem Publikum schafft er eine Literatur, die unter der Hand den Anforderungen des objektiven Geistes Genüge leistet, weil sie die kollektiven ästhetischen Ansprüche der gebildeten Leserschaft der Epoche bedient. Es ist das Publikum, das, quasi hinter seinem Rücken, seine derealisierende Schreibweise so versteht, dass er zum Zeugen der Epoche wird. Sartre spricht mit Bezug auf Flauberts zeitgenössische Gesellschaft, das Frankreich zwischen der gescheiterten Revolution von 1848 und dem Ende des Kaiserreichs 1871, unverblümt vom „kollektiven Irresein“ als ästhetische Räson dieser Epoche.154 Dieser neurotische Zustand der Gesellschaft

153 Vgl. ebd., S. 34. 154 Vgl. ebd., S. 35.

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schließlich macht das Missverständnis möglich, dass der Gehalt von Flauberts Texten entgegen der Intention des Autors, der sich ja, wie Sartre betont, gerade im „Realen irrealisiert“ und sich im „Irrealen realisiert“, als „Realismus“ empfunden wird.155 Es soll an dieser Stelle nicht weiter auf die literaturtheoretischen Details von Sartres Deutung der zeitgenössischen Flaubert-Rezeption eingegangen werden.156 Für den hier verfolgten Zusammenhang ist jedoch so viel von Bedeutung: Sartre weist in seiner Diagnose der kapitalistischen Gesellschaft im Frankreich des 19. Jahrhunderts weit über eine funktional orientierte Bestimmung des Klassencharakters der modernen Kunst hinaus. Er begnügt sich nicht damit, ihre ideologische Dimension in der auf Marx zurückgehenden Tradition als verkehrtes Weltbewusstsein einer verkehrten Welt zu denunzieren. Gestützt auf die These von der Korrelation von subjektiver und objektiver Neurose geht er vielmehr davon aus, dass sich der pathologische Zustand der gesellschaftlichen Verhältnisse noch in den Praktiken der zeitgenössischen Kunstrezeption niederschlägt. Um sich den neurotischen Charakter jenes objektiven Geistes zu vergegenwärtigen, genügt es daher laut Sartre nicht zu begreifen, „[…] daß das Publikum von 1850 einen irrigen Begriff von den Strukturen seiner Gesellschaft und den Prozessen hat, die sie hervorgebracht haben: in den gebildeten Schichten müssen diese Irrtümer auch neurotischer Art sein und in sich selbst tiefe Affinitäten mit der Neurose Flauberts aufweisen. Nur unter dieser Bedingung wird diese Neurose bis in ihre systematische Subjektivierung hinein jene neurotischen Irrtümer bezeugen“.157

Grob gesagt: In der literarischen Produktion des neurotischen Schriftstellers läuft weitgehend das Programm einer neurotischen Gesellschaft ab. Damit ist ein äußerst ambitioniertes Forschungsprogramm formuliert. Wie sich allerdings bereits weiter oben in der Diskussion der Grundlagenreflexion in der „Critique de la raison dialectique“ gezeigt hatte, stößt Sartres Projekt einer kritischen Gesellschaftstheorie aus der Binnenperspektive in methodischer Hinsicht auf mindestens zwei Schwierigkeiten: Zweifelhaft geblieben waren dort die geltungstheoretische Reichweite und damit die gesellschaftsanalytische Kraft seines praxisphilosophischen Ansatzes. Zudem musste Sartre in letzter Konsequenz eine Begründung der dialektischen Vernunft aus der Struktur der individuellen Praxis schuldig bleiben. Das hat freilich Auswirkungen auf die Anwendungsbedingun-

155 Vgl. ebd., S. 346. 156 Vgl. weiterführend hierzu etwa Barnes (1981), a.a.O., S. 313ff. 157 Vgl. Sartre (1971/72), a.a.O., Bd. 5, S. 40 (Hervorhebung i.O.).

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gen des Totalitätsbegriffs. Ihm kann unter forschungsstrategischen Gesichtspunkten nur noch eine heuristische Funktion zukommen. Der „Idiot de la famille“ liefert für diese methodischen Schwierigkeiten keine neuen Lösungsversuche. Was die geltungstheoretisch beanspruchte Reichweite seines Unternehmens angeht, wagt sich Sartre jedoch erstaunlicherweise noch einen Schritt weiter. Hatte er in der „Critique de la raison dialectique“ einen ‚Sinn der Geschichte‘ noch allein zu heuristischen Zwecken hypostasiert, so ist er im „Idiot de la famille“ sogar geneigt, eine mit dem neurotischen Verhalten Flauberts korrespondierende geschichtliche Dynamik zu unterstellen. Dies würde bedeuten, dass nicht nur die Totalität des gesellschaftlichen Strukturzusammenhangs auf die Ebene des Individuums durchschlägt, sondern zugleich noch eine Prozesslogik der Geschichte. Eine äußerst riskante Konstruktion, die in ihrem spekulativen Charakter fast schon mit Blochs metaphysischem Materialismus und dessen Annahme eines mitproduzierenden Natursubjektes mithalten kann.158 Denn Sartres geschichtsphilosophische Spekulationen lassen ihn de facto erwägen, ob Flauberts Nervenzusammenbruch im Januar 1844 und der Ausbruch seiner Neurose nicht eine individuelle Vorwegnahme der Krise der französischen bürgerlichen Gesellschaft in der Folge der gescheiterten 48er Revolution sein könnte. Dies würde bedeuten, dass es ereignisgeschichtlich lediglich eine zeitliche Verschiebung zwischen der gesellschaftlichen und der individuellen Ebene gegeben haben könnte. Es müsste dann, so Sartre „[…] ein und derselbe Prozeß sein: innerhalb der makrokosmischen Verzeitlichung unterschiede sich die mikrokosmische Verzeitlichung, als retotalisierte Totalisierung der historischen Totalisierung, von jener nur durch die Geschwindigkeit: sie könnte nur ein zufälliges Bild von der großen Geschichte geben, sofern sie nicht eben diese Geschichte ist, die sich in bestimmten Individuen und Mikroorganismen als beschleunigter Prozeß konstituiert“.159

Sartres Projekt einer Rekonstruktion der gesellschaftlichen Programmierung des Subjektes hat damit nicht nur eine synchrone, sondern zugleich noch eine diachrone Dimension. Denn wenn jedes individuelle Leben in seiner Geschichtlichkeit als „Moment der Totalisierung“ einer Epoche verstanden werden muss, dann bedeutet das:

158 Vgl. Bloch (1959), a.a.O., Bd. 2, S. 802ff. 159 Vgl. Sartre (1971/72), a.a.O., Bd. 5, S. 440 (Hervorhebungen i.O.).

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„[…] die makrokosmische Totalisierung manifestiert sich darin [im Leben eines Individuums/M.R.] als diachronische Anwesenheit, so wie das Ganze in jedem seiner Teile synchronisch anwesend ist, aber was ihre Besonderheit ausmacht, ist die Art, wie jeder Teil unter dem Einfluß von ihrerseits endlichen besonderen Faktoren […] seine innere Bestimmung – Geschwindigkeit, Rhythmus, Dauer – in Form einer Programmierung hervorbringt.“160

Das Unternehmen einer kritischen Gesellschaftstheorie, wie es in der FlaubertStudie skizziert wird, erweist sich aber nicht nur wegen des spekulativen Charakters seiner geltungstheoretischen Reichweite als problematisch. Selbst unter reduzierten, einer methodischen Kontrollierbarkeit unterworfenen Geltungsbedingungen ließe sich die Triftigkeit von Sartres binnentheoretischem Ansatz nur dann zeigen, wenn einsichtig gemacht werden kann, wie die Strukturlogik der gesellschaftlichen Totalität aus der Teilnehmerperspektive überhaupt erschlossen werden kann. Und in dieser Hinsicht war die „Critique de la raison dialectique“, wie gesagt, methodisch an ihre Grenzen gestoßen. Solange dieses Problem nicht behoben werden kann, leidet aber auch der bislang am Beispiel Flauberts beschriebene Subjektivierungsprozess unter einem eklatanten Begründungsdefizit. Die Rede von einer gesellschaftlichen Programmierung bliebe damit aus binnentheoretischer Sicht ebenfalls im Bereich der Spekulation. Der letzte noch erschienene Teil des „Idiot de la famille“ lässt sich allerdings als ein erneuter Anlauf interpretieren, in dem Sartre versucht, diese Schwierigkeit zu beheben. Dort diskutiert er gleich zu Beginn Fragen des methodischen Zugriffs auf die gesellschaftliche Objektivität. Die Option eines Wechsels auf eine virtuelle Beobachterperspektive bleibt für Sartre freilich nach wie vor tabu. Das in den „Questions de méthode“ formulierte Verdikt, das jeden Versuch, einen externen Beobachterstandpunkt einnehmen zu wollen, als „idealistische Illusion“ betrachtet,161 wird auch im „Idiot de la famille“ aufrechterhalten. Darauf verwies nicht nur die oben beschriebene kritische Charakterisierung von Flauberts Selbsttechniken der Desituierung als derealisierende Reflexionsbewegungen hin zu einer vermeintlich externen Beobachterposition. Sartre wertet auch, wie sich weiter unten noch präziser zeigen wird, das objektivistische Selbstverständnis der bürgerlichen Wissenschaft jener Zeit als verdinglichende Ideologie, wenn diese den „[…] menschlichen Körper und den Sozialkörper von außen zu konditionieren […]“ sucht.162

160 Vgl. ebd., S. 450f (Hervorhebungen i.O.). 161 Vgl. Sartre (1960a), a.a.O., S. 39 (Anmerkung). 162 Vgl. Sartre (1971/72), a.a.O., Bd. 5, S. 265.

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Sartre hält daher weiterhin konsequent an einer binnentheoretischen Zugangsweise fest. Was sich für eine phänomenologische Rekonstruktion der Stadien von Flauberts Konstitution und Personalisation nicht nur als methodisch weitgehend unumgänglich, sondern zugleich als äußerst fruchtbar erwies, soll nun auch die Dynamik und Funktionsweise der gesellschaftlichen Strukturlogik erhellen. „Wir haben versucht, Flauberts Neurose von innen zu verstehen“,163 setzt Sartre zu Beginn des vierten Teils des „Idiot de la famille“ ein, indem er den Konstitutions- und Personalisationsprozess knapp rekapituliert, um dann direkt auf das Problem zuzusteuern, wie einer die bürgerliche Gesellschaft seiner Zeit dominierenden Neurose methodisch beizukommen wäre. „In diesem Stadium der Untersuchung ist es unentbehrlich, die Glieder umzukehren […]“, so Sartre.164 Wenn Flauberts Neurose als ein „Produkt der zu schaffenden Kunst“165 angesehen werden soll, dann darf sich der Gang der Untersuchung nicht mehr, wie bisher, allein aus der Perspektive des Einzelnen zum Allgemeinen hin vollziehen, es muss zugleich eine Möglichkeit geben, über die mannigfaltigen Vermittlungen des Allgemeinen hindurch den Weg von dort zurück zum konkreten Individuum zu durchlaufen. Dazu wäre es erforderlich, das jeweils provisorische Resultat einer Pluralität von Einzelhandlungen zu erfassen und von dort aus die Programmierung des Einzelnen zurückzuverfolgen. „In diesem Fall“, so Sartre, „hätten wir innerhalb der Subjektivierung Objektivierungselemente zu suchen, die keineswegs aus der Neurose entstünden, sondern sich ihrer vielmehr bemächtigen, sie durchtränken, sie steuern im Namen einer transzendenten – das heißt mitten in der neurotischen Immanenz äußerlichen – Zweckmäßigkeit, aber ohne persönlichen Akteur […].“166

Gesucht ist demnach „[…] ein teleologisches und normatives System in den psychischen Störungen Flauberts […]“, das zugänglich werden soll, „[…] ohne jedoch die Anonymität zu verlassen […]“.167 Was Sartre hier im Blick hat, erinnert zumindest im Ansatz an das, was Althusser ‚Prozess ohne Subjekt‘ nennt. Damit drängt sich aber die Frage auf, ob er für ein solches Unternehmen nicht schließlich doch gezwungen sein wird, die Binnenperspektive zu verlassen und auf eine virtuelle Beobachterperspektive umzuschwenken. Da dies von Sartres methodi-

163 Ebd., S. 11 (Hervorhebung M.R.). 164 Ebd., S. 41. 165 Vgl. ebd. 166 Ebd. (Hervorhebung i.O.). 167 Vgl. ebd.

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schem Selbstverständnis her freilich nicht der Fall sein dürfte, gilt es nun im Folgenden zu klären, was es genau bedeutet, wenn Sartre ankündigt, „die Glieder umzukehren“.

Objektiver Geist und Ideologie Sein Ansatzpunkt hierfür ist der „Objektive Geist“. Sartre benutzt diesen Begriff ausdrücklich in Abgrenzung zu Hegel, indem er dem objektiven Geist eine praktische „instrumentelle Funktion“ zuweist, „[…] die er in der Perspektive des historischen Materialismus erfüllen kann“.168 Hegel versteht unter objektivem Geist, kurz gesagt, die Gestalt der absoluten Idee auf dem Boden der Endlichkeit. Die Freiheit wird zur inneren Bestimmung und zum Zweck des freien Willens. Sie bezieht sich damit zugleich auf die äußere Objektivität. Im objektiven Geist erhält die „[…] Freiheit, zur Wirklichkeit einer Welt gestaltet […]“, die Form von Notwendigkeit und Macht.169 Er ist Recht, Moralität, Sittlichkeit. Das Recht ist das „[…] Dasein der Freiheit im Äußerlichen […]“,170 durch die der Einzelne als Person anerkannt ist. In der Moralität reflektiert sich der Wille als „[…] nicht bloß an sich, sondern für sich unendlich […]“, wodurch die „[…] Person zum Subjekt […]“ wird.171 Die Sittlichkeit schließlich, als vernünftiger Wille, ist „[…] die Idee der Freiheit, als das lebendige Gute […]“. Sie ist der „[…] zur vorhandenen Welt und zur Natur des Selbstbewußtseins gewordene Begriff der Freiheit“.172 Sartre versucht nun diesen hegelschen Gedanken von seinen idealistischen Implikationen zu reinigen, ohne dessen strukturlogische Funktion als historische Bestimmung eines die einzelnen Subjekte übergreifenden gesellschaftlichen Bewusstseins zu verlieren. Zu diesem Zweck fasst Sartre den „Objektiven Geist“ als Kultur „[…] in einer bestimmten Gesellschaft zu einer gegebenen Epoche […]“. Von seinem praxisphilosophischen Ansatz her

168 Vgl. ebd., S. 47. 169 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1830): Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Dritter Teil: Die Philosophie des Geistes. In: Werke, Bd. 10, Frankfurt/M. 1970, § 483-484 (S. 303). 170 Vgl. ebd. § 496 (S. 309/ Hervorhebungen i.O.). 171 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1821): Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. In: Werke, Bd. 7, Frankfurt/M. 1986, § 105 (S. 203/ Hervorhebungen i.O.). 172 Vgl. ebd. § 142 (S. 292/Hervorhebungen i.O.).

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kann dieser freilich „[…] als nichts andres als die Kultur als praktisch-inert […]“ gedacht werden.173 Das bedeutet: Sartre beansprucht, jene Bewegung, die die Idee der Freiheit bei Hegel in der Figur des objektiven Geistes vollzieht, aus der Perspektive der materiellen Praxis der einzelnen gesellschaftlichen Akteure durchlaufen zu können. Der objektive Geist stellt für ihn eine Vergegenständlichung der Pluralität von Praxen in einer symbolischen Ordnung dar. Er ist insofern geronnene Praxis. „Von diesem Gesichtspunkt aus“, so Sartre, „stellt der Objektive Geist die Kultur als praktisch-inert dar, das heißt als die Totalität der dem Menschen irgendeiner Gesellschaft aufgezwungenen Imperative an einem bestimmten (im übrigen beliebigen) Tag.“174 Wie nun aber soll sich dieser objektive Geist aus der Binnenperspektive begrifflich fassen lassen? Sartres praxisphilosophischer Ansatz eröffnet ihm zwei Zugangsweisen. Der objektive Geist lässt sich einerseits als die objektive Macht eines Systems beschreiben, das das Denken und Handeln der gesellschaftlichen Subjekte bestimmt. Dies erfordert eine vertiefende Untersuchung desjenigen Prozesses, den Sartre anhand von Flauberts Subjektivierung bereits in Angriff genommen hatte. Der Fokus dieser synchronen Analyse konzentriert sich dabei darauf zu erfassen, wie dieses System durch den Einzelnen erlebt wird, um von dort Rückschlüsse auf dessen Struktur ziehen zu können. Andererseits muss jedoch aus handlungstheoretischer Sicht zugleich die Genese des jeweiligen Systems aus der historischen Verkettung einer Pluralität von Handlungen transparent gemacht werden können. Er muss also zugleich eine diachrone Rekonstruktion der Strukturlogik des Praktisch-Inerten leisten. Auf der Ebene der Erfahrung beschreibt Sartre den objektiven Geist nun als die Macht einer gegebenen symbolischen Ordnung, in der sich gesellschaftliche Regeln manifestieren, die sich an den Einzelnen als ein System von Anforderungen und Imperativen richten. Der objektive Geist ist gewissermaßen das Selbstverständnis einer Gesellschaft, das sich als verbalisiertes Wissen reflektiert und materialisiert. Sartre versteht darunter ein dynamisches, konflikthaft strukturiertes Ensemble von unterschiedlichen, sich u. U. sogar widersprechenden Systemen von „[…] Werten, Wahrheiten, Ideologien, Mythen und Mystifikationen […]“,175 deren Gehalt und Funktionsweise durch das jeweils gegebene historische Kräfteverhältnis unter den gesellschaftlichen Klassen bestimmt sind. Entscheidend für die soziale Geltung bestimmter, an epistemische und normative Standards gebundene, die Welt- und Selbstbezüge der gesellschaftlichen Subjek-

173 Vgl. Sartre (1971/72), a.a.O., Bd. 5, S. 47. 174 Ebd., S. 51. 175 Vgl. ebd.

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te prägende diskursive Praktiken ist, dass sie in der Gestalt überlieferter Traditionen, anerkannter Interpretationen oder systematischer Selbstverständigung ein sprachlich fixiertes Regelwissen darstellen. „Geschriebene Worte sind Steine“, so Sartre pointiert, was so viel bedeutet wie: In Texten gerinnt das kognitive und normative Selbst- und Weltverständnis einer Zeit. Die zu starren Bedeutungen festgestellten Zeichenketten strukturieren das Denken des Einzelnen. Denn Worte lernen, „[…] ihre Kombinationen verinnern heißt ein versteinertes Denken in sich einführen, das gerade kraft seiner Versteinerung in uns fortbestehen wird, solange nicht eine von außen an ihm vorgenommene materielle Arbeit uns von ihm befreit. Diese unreduzierbaren Passivitäten in ihrer Gesamtheit nenne ich Objektiven Geist“.176 Aus der Binnenperspektive einer erlebten Erfahrung besteht der objektive Geist also mehr oder weniger in den Vorgaben eines Regelwissens, das die Weisen der Selbst- und Weltbezüge der Subjekte von vornherein bestimmt und dem sich der Einzelne insofern unweigerlich zu unterwerfen hat, um sich zu sich und zu Anderen überhaupt verhalten zu können. Der objektive Geist einer Epoche bestimmt sowohl Form wie Inhalt der Objektivität, der Intersubjektivität und der Subjektivität: der Objektivität „[…] als ein unbegrenzter, aber endlicher, imperativer Komplex, aus dem das Denken […] nicht hinaus kann […]“,177 der Intersubjektivität als „unzerstörbare Materialität“, etwa in der Gestalt eines Textes, „[…] durch sein für jeden Leser vielfaches Verhältnis zu den Anderen […]“,178 der Subjektivität, als er „[…] uns ja auf widersprüchliche, aber imperative Weise, wer wir sind, anders gesagt, was wir zu sein haben […]“, vorgibt.179 Für den Fall der literarischen Produktion zur Zeit Flauberts spricht Sartre in diesem Zusammenhang gar von einer ausgearbeiteten „[…] Einheit der Ideologien, der Kosmogonien, der ethisch-ästhetischen und konfessionellen Systeme, insofern sie sich als Strukturierung einer Rede manifestiert […]“, womit der Sprache die Frage „[…] ihres angemessenen Ausdrucks […]“ gestellt sei.180 Was Sartre hier vor Augen zu haben scheint, kommt dem, was Foucault in der „Archéologie du savoir“ in wissenschaftskritischer Absicht als Diskursformation isoliert, verblüffend nahe. Denn der von Sartre als praktisch-inert charakterisierte objektive Geist tritt dem Einzelnen im Grunde genau so gegenüber: als ein „[…] vertikales Abhängigkeitssystem: Alle Positionen des Subjekts, alle Typen der Koexistenz

176 Vgl. ebd., S. 50 (Hervorhebungen i.O.). 177 Vgl. ebd., S. 53. 178 Vgl. ebd., S. 54. 179 Vgl. ebd., S. 60. 180 Vgl. ebd., S. 51 (Hervorhebungen M.R.).

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zwischen Aussagen, alle diskursiven Strategien sind nicht gleichermaßen möglich, sondern nur diejenigen, die durch die vorhergehenden Ebenen autorisiert werden […]“.181 Anders als Foucault jedoch, der für sich beansprucht, diese historischen Regelsysteme des Denkens, Sagens und Handelns aus einer virtuellen Beobachterperspektive von außen zu beschreiben, reklamiert Sartre nun für sich, aus der Binnenperspektive zeigen zu können, wie diese vom Einzelnen erlebt werden. Dazu muss er allerdings neben der die Welt- und Selbstbezüge der Subjekte strukturierenden Logik der Macht einer Diskursformation auch deren Entstehungsgeschichte sowie die damit einhergehenden historischen Geltungsbedingungen einsichtig machen können. Gefragt ist damit ein Modell, das in der Lage ist, von innen genau das erklären zu können, was Sartre an Foucaults Ansatz als mangelhaft kritisiert hatte: die Frage der historischen Übergänge. Wie nicht anders zu erwarten, wird dies über die bereits in der „Critique de la raison dialectique“ entwickelte Konzeption individueller Praxis versucht. „Das heißt zunächst“, so Sartre, „daß am Ursprung der Kultur die erlebte, aktuelle Arbeit steht, insofern sie per definitionem die Natur überschreitet und in sich aufbewahrt.“182 Dieses weiter oben bereits diskutierte Modell eines instrumentellen Bezugs zur Natur ist für den hier verfolgten Zusammenhang insofern von Bedeutung, als die direkte Bearbeitung der Materie selbst bereits ein kulturelles Phänomen ist. Denn Arbeit, und nur insofern ist sie, wie weiter oben gesehen, für Sartre Praxis, setzt zugleich eine Situationsdeutung und insofern ein verstehendes Wissen von sich und der Welt voraus. „Sie erkennt, um zu verändern“, sie nutzt das Feld der objektiv bestehenden Möglichkeiten mit Blick auf einen Zweck hin.183 Auf der elementaren Ebene als Verinnerung des Äußeren und Rückentäußerung des Inneren erlebt, enthüllen sich dem Handelnden laut Sartre sowohl der jeweilige Charakter der Arbeit selbst wie auch die grundlegenden Beziehungen zum Anderen und zur Natur. Die elementare Praxis ist insofern in subjektiver, intersubjektiver wie objektiver Hinsicht „[…] im lebendigen Zustand ein nicht-verbales implizites intuitives Wissen, ein gewisses direktes totalisierendes, aber wortloses Verständnis des zeitgenössischen Menschen unter den Menschen und in der Welt sowie ein unmittelbares Begreifen der Unmenschlichkeit des Menschen und seines Untermenschseins, als ersten Keim einer politischen Verweigerungshaltung“.184

181 Vgl. Foucault (1969), a.a.O., S. 106. 182 Sartre (1971/72), a.a.O., Bd. 5, S. 47 (Hervorhebungen i.O.). 183 Vgl. ebd. 184 Vgl. ebd., S. 47f (Hervorhebungen i.O.).

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Ungeachtet der ebenfalls bereits erörterten normativen Funktion des Praxisbegriffs für Sartres Gesellschaftskritik, die an dieser Stelle notwendig mitschwingt, ist für das hier interessierende Verständnis der Genese des objektiven Geistes primär die kognitive Dimension der Praxis entscheidend. Denn erst in dem Moment, in dem sich dieses unmittelbar-praktische Wissen zu Beginn eines Prozesses gesellschaftlicher Ausdifferenzierung für sich setzt, erfährt es offenbar auf der Ebene des gesellschaftlichen Überbaus eine „verbale Ausarbeitung“. Das „praktisch-theoretische Wissen“, das in der elementaren Praxis unmittelbar gegeben ist, verselbstständigt sich dabei zu einem „theoretisch-praktischen Wissen“. Sartre erläutert diese von ihm konstatierte Entkoppelung von Theorie und Praxis als eine Reflexionsbewegung, in der das unmittelbar Erlebte als ursprünglich Unreflektiertes zum Gegenstand der Theorie, zum Reflektierten wird: „[…] die Reflexion isoliert in der Totalität der Praxis das Moment der Theorie, das niemals allein existiert hat, sondern einzig und allein als vom Zweck selbst bestimmte praktische Vermittlung.“185 Mit seiner Versprachlichung jedoch wird jenes intuitive Wissen der elementaren Praxis laut Sartre notwendig verfälscht. Und erst dadurch entwickelt es sich zu einer eigenständigen Macht, die sich in der Gestalt des objektiven Geistes über die Köpfe der Subjekte hinweg verfestigt. Von daher erhält der objektive Geist für Sartre als Resultat einer verdinglichenden Reflexion zugleich eine ideologische Dimension, an deren Klassencharakter er im Übrigen keinen Zweifel lässt. Mehr oder weniger ausgearbeitet, bewegen sich die Ideologien auf einem Kontinuum zwischen dezidiertem Klassenbewusstsein und dem nicht-thematisierten Deutungshintergrund der unmittelbaren Lebenswelt und wirken damit auf das Selbst- und Weltverständnis der jeweils Handelnden zurück. Insofern „[…] unterscheiden sich die ausgearbeiteten Ideologien“, laut Sartre, „prinzipiell von jenem unmittelbaren intuitiven Komplex, […] der um einen Wissenskern herum eine implizite Ideologie umfaßt, begleitet von Mythen und einem Wertesystem, das von Handelnden stillschweigend angewandt wird, die niemals dessen Grundlagen dargelegt haben; sie unterscheiden sich nicht nur davon, sondern sie stehen im Gegensatz dazu, in dem sie dem

185 Vgl. ebd., S. 48 (Hervorhebungen i.O.). In dem Gedanken einer ursprünglichen Theorie-Praxis-Einheit auf dem Niveau einer elementaren Praxis schwingt freilich ein romantisches Verständnis von Arbeit mit, wie es bei zahlreichen Vertretern eines praxisphilosophischen Ansatzes unter Rückgriff auf den frühen Marx zu finden ist. Darauf soll hier nicht weiter eingegangen werden. Der Versuch, über diesen Weg die Erfahrung von Entfremdung anthropologisch zu begründen, wurde häufig kritisiert. Vgl. etwa Habermas (1982a), a.a.O., S. 482ff.

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nicht-verbalisierten unmittelbaren Denken Übersetzungen bieten, die es seinen eignen Augen verbergen“.186

Welche Ideologie sich in der Gestalt des objektiven Geistes zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt durchsetzt, hängt freilich von der entsprechenden politischen Konjunktur bzw. von den jeweiligen gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen ab. Sartre fasst den objektiven Geist also als eine sich verselbstständigende kognitive wie normative Dimension gesellschaftlicher Praxis, die deren Ursprünge verschleiert und als Resultat historischer Klassenkonflikte zu rekonstruieren wäre. Entgegen der zunächst angedeuteten Analogie zwischen Foucaults Diskursformationen und Sartres System der Anforderungen und Imperative auf der Ebene des objektiven Geistes ist somit zumindest ein entscheidender Unterschied festzuhalten: Anders als Foucault, der von außen lediglich eine positivistische Deskription der Funktionsweise eines Regelsystems zu leisten beansprucht, belegt Sartre dieses System von vornherein mit einem Ideologieverdacht. Denn der objektive Geist, wie Sartre ihn fasst, verfälscht, verdinglicht bzw. manipuliert eine als elementar unterstellte Praxis des Individuums. Die Rekonstruktion der Strukturlogik des gesellschaftlichen Seins aus der Perspektive des Einzelnen muss daher den Weg über die Ideologie seiner jeweiligen Klasse gehen, um so in einem weiteren Schritt den Zustand des objektiven Geistes als das Resultat von Klassenkonflikten erläutern zu können. Erst von dieser Position aus ließe sich zeigen, auf welche Weise die einzelnen gesellschaftlichen Akteure durch den objektiven Geist jeweils subjektiviert werden. Doch was versteht Sartre nun genau unter Ideologie? Inwiefern lässt sich der objektive Geist als das historische Selbstverständnis einer Gesellschaft zugleich als verkehrtes Weltbewusstsein einer verkehrten Welt beschreiben? Unter diachronen Gesichtspunkten ist die Ideologie offenbar als eine spezifische Dimension des objektiven Geistes zu verstehen, die sich im Zuge der systematischen Ausdifferenzierung der elementaren Theorie-Praxis-Einheit verselbstständigt. Deren spezifische Verfasstheit wiederum kann Sartre zufolge jedoch auf der synchronen Ebene nur über ihren jeweiligen Klassencharakter erschlossen werden. Ideologien zeichnen sich schließlich gerade dadurch aus, dass sie an Interessen gebunden sind. Insofern sind sie eine wesentliche Komponente sozialer Macht. Ihre gesellschaftliche Wirkung ist allerdings äußerst komplex zu denken. Sartre versteht darunter deshalb alles andere als ein homogenes Denksystem, dessen realitätsverschleiernde Funktion lediglich auf die Unterstellung falscher

186 Vgl. Sartre (1971/72), a.a.O., Bd. 5, S. 49.

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Prämissen zurückzuführen wäre. Sartre fasst Ideologie als ein „[…] abstraktes Modell von Gedanken […]“, das in sich nicht notwendig kongruent sein muss, sondern in seiner Variationsbreite weitgehend beliebig und durchaus widersprüchlich sein kann. Sie stellt für ihn eine „nicht-substantielle Totalität“ dar, die einen differenzialen Gesamtkomplex bildet, der Tatsachen und Normen in einem Rechtfertigungsmechanismus miteinander so verbindet, dass man daraus „[…] eine allgemeine Sicht der Welt und des Menschen in der Welt […] “187 gewinnen kann. Gemeint ist damit offenbar ein an einen historischen Index geknüpftes Ensemble von Begriffen, Methoden, Sichtweisen, operativen Schemata, Deutungsrastern und Wertesystemen, das den Zustand der Welt und die Weise, sie zu denken, legitimiert. Sartre begreift Ideologie gewissermaßen als eine „[…] differentiale Artikulation der strukturalen Beziehungen [...]“,188 die eine beliebige Menge ihrer Elemente zueinander unterhalten. Vor dem Hintergrund, dass der Ideologie aufgrund ihres Klassencharakters zudem ein strategisches Moment zuzuschreiben ist, erinnert diese Charakterisierung durchaus an das, was Foucault – allerdings nicht allein auf der Ebene des Denkens, sondern unter Berücksichtigung der damit verbundenen Praktiken – als Dispositiv beschreibt: als ein plurales Feld von theoretischen Aussagen, praktischen Handlungsanweisungen, gesellschaftlichen Institutionen und physischen Tatsachen, dem er, wie gesehen, eine Disziplinierungsfunktion zuweist. Doch auch für Sartre haben Ideologien als kulturelle Gestalten des Praktisch-Inerten durchaus eine materielle Realität. Insofern ist es bemerkenswert, dass er an dieser Stelle ebenfalls mit dem Terminus „Dispositiv“ operiert. Bei einer Ideologie handelt es sich „[…] um eine Vorrichtung [un dispositif/M.R.]“, so Sartre, „die so konstruiert und verinnert wird, daß es, wenn auch nicht unmöglich, so doch zumindest sehr schwierig ist, ein Denken zu bilden, das nicht eine Spezifizierung des Modells ist, und schwieriger noch, von einer durch diese Schemata strukturierten Idee zu Ideen zu gelangen, die nicht dem System angehörten: das wesentliche ist ja, daß die differentialen Beziehungen, da sie nur wechselseitig einen Sinn haben, ständig von einem Schema auf das andre und von jedem von ihnen auf den totalisierten Gesamtkomplex verweisen, so daß das Denken, wenn es sich erst einmal durch diese Raster erfaßt hat – obwohl es sie jedes Mal auf eine konkrete Schöpfung hin überschreitet –, sozusagen keinerlei Mittel hat, aus ihnen herauszukommen“.189

187 Vgl. ebd., S. 226f (Hervorhebung i.O.). 188 Vgl. ebd., S. 227. 189 Ebd., vgl. hierzu auch die zitierte Passage im französischen Originaltext, a.a.O., Bd. 3, S. 222f. Mit dem Hinweis, dass Sartre hier einen französischen Terminus benutzt,

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Was Sartre als die praktische Funktionsweise von Ideologien versteht, deckt sich also partiell mit den historischen Regulierungsweisen diskursiver und nichtdiskursiver Praktiken, die Foucault als Mechanismen der Macht beschreibt. Im Gegensatz zu Foucault stellt Sartre aber – und dies ist im Falle der Ideologie freilich unumgänglich – zusätzlich die Geltungsfrage. Denn mit Ideologie ist von jeher „falsches Bewusstsein“ einer Klasse gemeint, und sofern es sich um die der herrschenden Klasse handelt, unter der Voraussetzung ihrer kulturellen Hegemonie, zugleich falsches Bewusstsein einer Gesellschaft zu einem gegebenen historischen Moment. Den kognitiven wie normativen Maßstab, der es ihm freilich erst erlaubt, die Welt- und Selbstverhältnisse gesellschaftlicher Subjekte unter Ideologieverdacht zu stellen, sucht Sartre, wie kaum anders zu erwarten, über sein Praxismodell zu legitimieren. Denn Praxis in ihrer elementaren Form setzt ein grundsätzliches Infragestellen des Bestehenden voraus. Deren Ziel jedoch ist, wie oben gezeigt, nach Sartre nicht theoretische Erkenntnis, sondern praktische Überwindung eines konkreten Mangels.190 Erkenntnis der Welt ist daher vorrangig praktisch. Sie beinhaltet weniger ein ‚Wissen, dass‘ als ein ‚Wissen, wie‘. Da für Sartre diese „[…] In-Frage-Stellung die praktische Grundlage unseres Seins […]“ ist, besteht für ihn das Wesen der Ideologie nun in der Konstitution eines Wissens, das für sich beansprucht, von vornherein alle Fragen beantwortet zu haben. Die Folge: „[…] es gibt keine Frage mehr, wie alle Antworten schon gegeben sind: der Mensch ist nicht ein Für-sich, sondern grundlegend ein An-sich, das in der Objektivität und Äußerlichkeit erkannt werden kann.“191 So verstanden, ist Ideologie folgerichtig nicht als das Gegenteil von Wissenschaft zu denken. Sie ist vielmehr auf problematische Weise mit ihr verwoben, indem jene sich auf diese stützt und das historische Wissen einer Epoche dazu benutzt, um tiefer gehendes Fragen zu unterbinden. „Mit anderen Worten“, so Sartre, „die

der wenige Jahre später bei Foucault die Funktion eines Analyserasters zur Beschreibung von Machtmechanismen haben wird, soll freilich nicht behauptet werden, dass es sich hier um ein und denselben Sachverhalt handelt, der lediglich einmal aus der Außen- und einmal aus der Binnenperspektive gefasst wird. Auffällig ist allerdings, dass beide das Modell einer heterogenen, partiell sogar inkongruenten Struktur entwerfen, durch die das Denken der Handelnden bestimmt wird. Während Foucaults Dispositiv-Modell allerdings ausdrücklich an gesellschaftliche Praktiken geknüpft ist, bewegt sich Sartres Ideologiemodell hingegen weitgehend auf dem Niveau von Diskursen, also in dem Bereich, den der frühe Foucault mit dem Begriff der ‚Episteme‘ zu fassen suchte. 190 Vgl. ebd., Bd. 5, S. 228. 191 Vgl. ebd., S. 229 (Hervorhebungen i.O.).

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Erkenntnis muß die Ideologie begründen […], indem sie das In-Frage-sein durch das bloße An-sich-sein ersetzt. Es geht also darum, das Nicht-Wissen vom wahren Wissen abzuleiten […]“.192 ‚Falsches Bewusstsein‘ ist damit also, vereinfacht gesagt, das Resultat einer gesellschaftlich verordneten Stillstellung des praktischen Fragens. Unter klassenspezifischen Gesichtspunkten bedeutet dieses Nicht-Wissen für Sartre, dass der Einzelne seine eigene Klassenlage notwendig verkennt. Im Falle einer proletarischen Herkunft wird damit so lange ein Klassenbewusstsein verhindert, wie die herrschende Ideologie des Bürgertums diese Fragestellung überblendet, so dass der Arbeiter seine Lage und die Notwendigkeit des Klassenkampfes nicht erfasst. Im Falle des hier im Zusammenhang mit der Programmierung Flauberts interessierenden Bewusstseins des Bürgertums bedeutet dies, dass es ein „Verlangen nach Nicht-Wissen“ gibt, das es möglich macht, den Klassencharakter des gesellschaftlichen Seins in das Licht eines als universal sich verstehenden Humanismus zu tauchen. Denn sobald das bürgerliche Individuum sein eigenes Sein befragen würde, müsste es sich in der Antwort als Anderer begegnen. Es müsste in einen gesellschaftlichen Kommunikationsprozess eintreten, womit es zu einer virtuellen Übernahme der Perspektive einer anderen Klasse gezwungen wäre. Was laut Sartre bedeuten würde, „[…] daß das Wissen des gesellschaftlichen Individuums es in seinen eigenen Augen als Klassenindividuum bezeichnen müßte, das heißt so, wie es von den Mitgliedern der anderen Klasse und vor allem von den Augen der Ausgebeuteten gesehen wird, die das Geheimnis seines Seins in der Ausbeutung finden.“193

Humanismus Sartres Vorhaben, die Glieder umzukehren, um die subjektiv erfahrene Unterwerfung unter eine objektive gesellschaftliche Regelstruktur zurückzuverfolgen, zielt also auf den objektiven Geist, der sich über dessen klassenspezifische ideologische Komponenten des konkreten gesellschaftlichen Seins aus der Binnenperspektive eines Individuums rekonstruieren lassen muss. Im spezifischen Fall Flaubert bedeutet dies, der weitere Gang der Untersuchung muss zunächst über die Ideologie der bürgerlichen Klasse im Frankreich des 19. Jahrhunderts voranschreiten. Es drängt sich damit aber sofort die Frage auf, wie nun dieser Über-

192 Ebd., S. 230. 193 Vgl. ebd., S. 228.

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gang von der individuellen Lebenswelt einer Person auf die ideologische Ebene einer gesellschaftlichen Klasse vonstattengehen soll. Bislang war lediglich postuliert worden, dass die jeweils geltende symbolische Ordnung sowohl auf dem nächsthöheren Niveau der Klassen und deren Ideologien sowie schließlich auf der Makroebene des objektiven Geistes die Logik der Klassenauseinandersetzung bestimmt. Das Projekt einer binnentheoretischen Rekonstruktion des gesellschaftlichen Strukturzusammenhangs müsste nun aber auch zeigen können, wie diese Ordnung konstituiert wird, um dann im Rücklauf von dort deren Wirkung auf den Einzelnen als Programmierung verstehen zu können. In der „Critique de la raison dialectique“ hatte Sartre dies über die Rückwirkung des Praktisch-Inerten auf die individuelle Praxis zu verdeutlichen versucht. Dabei war er, was das Verständnis der Strukturlogik des gesellschaftlichen Seins anbelangt, wie gezeigt, an die methodischen Grenzen seines praxisphilosophischen Ansatzes gestoßen. Aus der Binnenperspektive bestand die Erfahrung des PraktischInerten darin, dass dieses dem Individuum als objektive Forderung der passiven Synthese einer Pluralität von Handlungen in der Gestalt der bearbeiteten Materie gegenübertritt und dessen Handlungsziele in Interessen verwandelt.194 Zugleich erfährt sich der Einzelne innerhalb der Logik der Serialität aufgrund seiner Austauschbarkeit in der Position des Anderen.195 Das jeweilige historische Welt- und Selbstverständnis der Individuen hat insofern eine kollektive Grundlage, die sich vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Konflikte zugleich als klassenspezifisch verstehen lässt. „Von der elementaren Praxis“, so Sartre in der „Critique de la raison dialectique“, „von der Arbeit in der Werkstatt an geschieht jedem das Klasse-sein als praktisch-inerte Forderung der Maschine durch alle seine Kollegen ebenso wie durch die Klasse, die ihn ausbeutet; besser noch, es geschieht ihm durch die Klasse, die ihn ausbeutet, und durch die Maschinen, die ihn erfordern vermittels seiner Kameraden und ihres allgemeinen Ausgebeutetseins.“196

Was Sartre in der „Critique de la raison dialectique“ mit Blick auf die gesellschaftliche Lage des Proletariats zu erläutern sucht, muss sich freilich im Falle Flauberts genauso gut aus der Perspektive der bürgerlichen Klasse einsichtig machen lassen. Und genau das ist das Anliegen, das er in der ersten Hälfte des vierten Teils der Flaubert-Analyse verfolgt. Es ist der pathologische Zustand der

194 Vgl. Sartre (1960), a.a.O., S. 209ff. 195 Vgl. ebd., S. 270ff. 196 Ebd., S. 267 (Hervorhebung i.O.).

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bürgerlichen Gesellschaft im Frankreich der Restauration nach der Niederschlagung der Revolution von 1848, der ihn interessiert, weil er verstehen will, wie eine objektive Neurose zu Stande kommt, die das Welt- und Selbstverhältnis der Mitglieder dieser Klasse strukturiert. Dieses mit der Französischen Revolution auf den Plan getretene Bürgertum hatte laut Sartre den Arbeiter, den es zunächst in eine humanistische Ideologie integriert hatte, „vergessen“, um sich selbst „[…] für die allgemeine Klasse zu halten“.197 Doch nach dem Massaker der französischen Nationalgarde an den aufständischen Arbeitern bricht diese Ideologie in sich zusammen: „Nach dem Juni 1848 fühlen sie [die Bürger/M.R.] sich gesehen: die Arbeiter haben diesmal den Patriarchalismus des Familienkapitalismus durchschaut; anstatt ihre Beziehungen zum Unternehmer in ihrer Besonderheit des Unternehmens und der Familienbeziehungen zu sehen, haben sie während des Konflikts über das Recht auf Arbeit die Unternehmerschaft in ihrer Klassengesamtheit entdeckt […].“198

Eine Erfahrung, der das Bürgertum nun nicht mehr ausweichen kann. Es ist nun diese humanistische Ideologie des französischen Bürgertums zur Zeit der Regentschaft von Napoleon III., die Sartre aus der Binnenperspektive zu rekonstruieren sucht, um auf diesem Weg das gesellschaftliche Sein in seiner Totalität in den Blick zu bekommen. Er geht davon aus, dass zu dem Zeitpunkt, als die Schriftstellergeneration Flauberts ihre ersten Werke verlegen lässt und ihre ersten Publikumserfolge einfährt, „[…] die Februarrevolution von 1848 und der Staatsstreich vom 2. Dezember 1851 die menschlichen Beziehungen und das Klassenbewußtsein der Bürger verändert […]“ haben.199 Denn in dem Augenblick, in dem das Bürgertum gezwungen ist, sich nicht nur von der absteigenden Klasse der feudalen Grundbesitzer, sondern zugleich von der Arbeiterklasse ab-

197 Vgl. Sartre (1971/72), a.a.O., Bd. 5, S. 248. 198 Ebd. (Hervorhebungen i.O.). 199 Vgl. ebd., S. 210. Zur knappen Orientierung, was die historischen Daten angeht, auf die Sartre sich hier bezieht: Nachdem die französische Regierung das Reformbankett verboten hatte, das den Auftrag hatte, das Zensuswahlrecht, das vor allem die Bürger benachteiligte, zu modernisieren, kam es in Paris vom 22. Februar 1848 an zu Massendemonstrationen und zum Bau von Barrikaden. Es war der Auftakt der Revolution von 1848 in Frankreich. Napoleon III., der nach deren Niederschlagung im Juni schließlich am 10. Dezember zum Präsidenten der Republik Frankreich gewählt wurde, riss am 2. Dezember 1851 in einem Staatsstreich die Macht an sich. Die Arbeiterschaft leistete Widerstand. Ihr Protest wurde blutig beendet.

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zugrenzen, verwandelt sich dessen negative Ideologie des Humanismus mit seinem naturrechtlich gerechtfertigten Universalanspruch, der gegen die Exklusionsmechanismen einer feudalen Gesellschaft gerichtet war, in eine positive, und das heißt substanzielle Bestimmung. Der Humanismus wird zur Ideologie der herrschenden Klasse, von der man laut Sartre allenfalls sagen kann, „[…] daß sie [die bürgerliche Klasse/M.R.] durch das falsche Bewußtsein, das sie von ihrer Praxis hat, die Basis dazu [zu dieser Ideologie/M.R.] liefert, insofern diese Praxis sich nicht erkennen und den anderen als das enthüllen will, was sie ist“.200 Anders gesagt: Die aus der Negation des Feudalismus geborene Idee eines Humanismus, der laut Sartre eine konkrete inhaltliche Bestimmung des Menschseins weitgehend offengehalten hatte, weicht den konkreten, notwendig partikularen Vorstellungen einer Klasse. Das Bürgertum entwirft ein Menschenbild, von dem es sich zugleich als Klasse distanziert. Damit verkennt es nicht nur sich selbst in seinem gesellschaftlichen Sein, es verfügt zugleich über ein Instrument, das ihm die ideologische Disziplinierung der Arbeiterklasse erlaubt. Denn das wesentliche Merkmal dieses neuen Humanismus ist der Hass, den die Bürger „[…] im Blick der Arbeiter zu lesen glauben […]“ und den jene, indem sie ihn verinnern, zu ihrem Menschenbild formen.201 Als Ausgangspunkt für das Vorhaben der Rekonstruktion der objektiven Neurose der bürgerlichen Gesellschaft Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich aus der Binnenperspektive dient Sartre derjenige Personenkreis der Mittelklasse, der als „unproduktive Arbeiter“ seine Ressourcen nicht „[…] direkt aus der Ausbeutung der Arbeiter […]“ gewinnt, sondern der der besitzenden Klasse dient, indem er die Rolle der Ideologieproduzenten ausfüllt. Das Augenmerk richtet sich auf die damalige „obere Schicht der Mittelklassen“, die so genannten „Kapazitäten“: gebildete Freiberufler, wie etwa Wissenschaftler, Techniker, Ingenieure, Ärzte, Anwälte, Lehrer usw. Sie stabilisieren das gesellschaftliche Band von Wissen und Macht und stellen zugleich das literarische Publikum jener Zeit.202 Dieses bietet Sartre die Perspektive, aus der er über hunderte von Seiten die Metamorphose des bürgerlichen Humanismus als Welt- und Selbstverständnis jener Klasse verfolgt. Unter methodischen Gesichtspunkten gilt es dabei Folgendes festzuhalten: Sartre ist damit zwar in der Lage, konsequent an der Binnenperspektive festzuhalten, er scheint also nicht gezwungen, zum Verständnis der Funktionsweise der gesellschaftlichen Makroebene vorübergehend auf eine Beobachterperspektive zu wechseln. Möglich wird ihm dies jedoch nur, weil er

200 Vgl. Sartre (1971/72), a.a.O., Bd. 5, S. 214f (Hervorhebungen i.O.). 201 Vgl. ebd., S. 283. 202 Vgl. ebd., S. 212.

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parallel zur Verlagerung des Untersuchungsgegenstandes von der Lebenswelt der Einzelperson Flaubert auf die transsubjektive Ebene der Ideologien zugleich eine Perspektivenverschiebung vornimmt. Hatte sich die Einsicht in Flauberts Prozess der Konstitution und Personalisation noch als das Resultat einer Hermeneutik des Erlebten eines konkreten Einzelnen dargestellt, so wechselt Sartre nun auf den virtuellen Standort eines vermeintlichen Kollektivsubjektes. Die Binnenperspektive wird also von der Person auf die Klasse verlagert. Sartre transferiert damit die Kategorie des Erlebten von der elementaren Praxis auf das Niveau einer „Klassensubjektivität“.203 Von dort aus erhofft er sich offenbar, die Strukturlogik des gesellschaftlichen Seins einer bestimmten Epoche einsichtig machen zu können. Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, diese Metamorphosen der bürgerlichen Ideologie des Humanismus in all ihren von Sartre verfolgten Details darzustellen. Es muss an dieser Stelle genügen, die Produktion des gesellschaftlich dominanten ideologischen Diskurses jener Zeit aus der Perspektive der intellektuellen Mittelklassen in ihren Grundzügen zu rekonstruieren. Auslöser jenes Hasses, den Sartre als Grundlage ihres ideologischen Diskurses ausmacht, ist die deprimierende Erfahrung der Mittelklassen von 1848: ein Hass auf die Klasse der Grundeigentümer, die ihnen weiterhin das Wahlrecht verweigerte, und zugleich ein Hass auf das Proletariat, das in der Revolution nicht nur weit über die Ziele des Bürgertums hinausgeschossen war, sondern dessen Ruf nach sozialer Gerechtigkeit sich notwendig gegen das Bürgertum und die Herrschaft des Kapitals richtete. Diese Mittelklasse der aufgeklärten Eliten distanziert sich daher in der nachrevolutionären Ära des Zweiten Kaiserreichs vehement von jeglicher Praxis. „Sie hat das Handeln für immer verurteilt […]“, so Sartre204 und optiert von nun an für das Pathos der Entfremdung und die Unterwerfung unter ein Ideal. Sartre spricht in diesem Zusammenhang im Kontrast zum negativen Humanismus der individuellen Rechte in der Tradition der Aufklärung und einem auf interpersonale Nahbeziehungen fokussierten, religiös imprägnierten „Weißen Humanismus“ von einem „Schwarzen Humanismus“205 der Pflicht. Gemeint ist damit die freiwillige Unterwerfung unter die abstrakte Gestalt eines moralischen Imperativs. Das Ideal, an dem sich die Handlungen der gesellschaftlichen Subjekte zu orientieren haben, verkörpert ein Gesetz ohne Autor und Urheber. Es ist eine „anonyme Vorschrift“, die im Gegensatz zu einem religiös motivierten Imperativ keine göttliche Autorität, also keine „Urheber eines Befehls“

203 Vgl. ebd., S. 48. 204 Vgl. ebd., S. 271. 205 Vgl. ebd., S. 294; sowie ebd., S. 297.

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hinter sich weiß, sondern sich allein auf die vermeintliche Faktizität der Materie in ihrer „inerten Anonymität“ gründet.206 Was Sartre hier fast wie im Vorbeigehen antippt, wird in den Sozialwissenschaften seit Max Weber für gewöhnlich als Säkularisierungsprozess bezeichnet.207 Da er konsequent in der Binnenperspektive zu verharren gedenkt, glaubt er sich hier mit wenigen Verweisen auf den historischen Wandel normativer Begründungsformen von der Reformation über Kant bis ins 19. Jahrhundert begnügen zu können. Dabei unterschlägt Sartre jedoch, dass er an dieser Stelle wie selbstverständlich auf Forschungsergebnisse der Einzelwissenschaften zurückgreift, die ohne einen zumindest partiellen Perspektivenwechsel auf einen Beobachterstandpunkt nicht gewonnen werden konnten. Geschuldet ist dies offenbar der bereits weiter oben diskutierten irrigen Annahme, die Philosophie sei für sich genommen in der Lage, die Ergebnisse der objektivierenden Sozialwissenschaften allein aus der Binnenperspektive transzendental zu begründen.208 Der Preis dafür ist aber, dass Sartres hermeneutischer Zugriff auf die Ideologieproduktion der Mittelklasse diese Transformation des „Subjekt-Absoluten“ einer göttlichen Autorität in das „Objekt-Absolute“209 des Imperativs einer kapitalistischen Moderne im Grunde begrifflich nicht fassen, geschweige denn erklären kann. Er ist methodisch lediglich dafür gerüstet, eine historische Erfahrung nachzuvollziehen. Worin besteht nun die Erfahrung dieses Objekt-Absoluten, das die aufgeklärte Elite des Zweiten französischen Kaiserreichs als Anforderung eines Ideals deuten kann, weil es sie zugleich ihren ideologisch genährten Hass ausleben lässt? Sartre bezeichnet es als die „[…] nackte Forderung eines ständigen Opfers ohne Belohnung. In ihm [dem ObjektAbsoluten/M.R.] steigert sich der Selbsthaß als Grundlage des Schwarzen Humanismus zur Idee: sie ist ethisch-ontologische Struktur des Menschen, das heißt, sie definiert ihn in seinem Pathos (von einem Wert geweckter und erhaltener Trieb) als das Wesen, das nur

206 Vgl. ebd., S. 292. 207 Vgl. Max Weber (1920): Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. I, Tübingen 91988, S. 17-206; sowie Habermas (1981), a.a.O., Bd. 1, S. 262ff. 208 Da diese Problematik bereits erörtert wurde, ist es nicht erforderlich, darauf erneut im Detail einzugehen. 209 Vgl. Sartre (1971/72), a.a.O., Bd. 5, S. 294 (Hervorhebungen i.O.).

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dadurch zum Sein gelangt, daß es sich kasteit, um seinem Werk zu dienen – das heißt der bearbeiteten Materie“.210

Damit sind das Menschenbild jener Klasse und die daran geknüpfte Notwendigkeit der Unterwerfung jedoch lediglich formal und weitgehend abstrakt umrissen. Seine konkrete inhaltliche Bestimmung erfährt das Objekt-Absolute erst unter Bezugnahme auf seine historisch von Sartre nicht hergeleitete Voraussetzung: die kapitalistische Warenproduktion. Das abstrakte Ideal nimmt für ihn dort unmittelbar die Gestalt einer Trinität an: „[…] dem Profit um des Profits willen, entspricht die Wissenschaft um der Wissenschaft willen und die Kunst um der Kunst willen.“ 211 In der Ideologie des ‚Schwarzen Humanismus‘ durchdringt der Hass der Mittelklassen also Sartre zufolge das gesellschaftliche Bewusstsein sowohl in normativer wie in epistemischer und ästhetischer Hinsicht. Für die hier versuchte Rekonstruktion der Programmierung des gesellschaftlichen Individuums ist vor allem bemerkenswert, dass Sartre diese drei Dimensionen der ideologischen Formierung von Denken und Handeln aus der Binnenperspektive als ineinander verschränkte Reflexionsbewegungen denkt. Profit, Wissen und Kunst lassen sich so gewissermaßen als drei Ideale begreifen, auf die die Koordinaten des bürgerlich-kapitalistischen Dispositivs ausgerichtet sind und deren gesellschaftliche Macht aus der Perspektive der Mittelklassen – und in Konsequenz mehr oder weniger auch auf der Ebene individueller Erfahrung einzelner Subjekte – einsehbar werden muss. Charakteristisch für die Weise, wie dieses Dispositiv die Welt- und Selbstverhältnisse der Subjekte strukturiert, ist, dass sich die individuelle Praxis in dieser historischen Gestalt des PraktischInerten in ihr Gegenteil verkehrt. Auf der unmittelbar praktischen Ebene ist es ihre Vergegenständlichung in der Ware, deren verdinglichende Konsequenzen für das Subjekt Sartre wie folgt beschreibt: „Wenn das Werkzeug, wenn die Ware, kurz wenn die bearbeitete Materie, einst Vermittlung zwischen Unternehmern und Arbeitern, zwischen Produzenten und Konsumenten, zwischen Angebot und Nachfrage sich als Absolutes setzt, wird die Vermittlung zum höchsten Zweck und haben die vermittelnden Glieder keine andere Funktion mehr, als die, sich aufzuheben, damit die Vermittlung existiere, oder wenn man lieber will, sich zu den Mitteln des höchsten Mittels zu machen […].“212

210 Ebd. (Hervorhebungen i.O.). 211 Vgl. ebd. (Hervorhebungen i.O.). 212 Ebd., S. 298.

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Der bürgerliche Humanismus jener Epoche erfordert also von den Individuen die Unterwerfung unter das Diktat der Warenproduktion und die Anerkennung der abstrakten Pflicht, ihr „[…] Leben dem menschlichen Ding […]“ zu opfern. Das Subjekt versteht sich als „Märtyrer der Entfremdung“.213 Mit dieser Verkehrung der Praxis in ein Pathos der Pflicht, wodurch – wie in der „Critique de la raison dialectique“ bereits ausgeführt – die von der Materialität auferlegte Hexis214 ideologisch flankiert wird, ist nach Sartre zugleich eine Reflexion der erkenntnistheoretischen Voraussetzungen jenes historisch spezifischen Subjekt-Objekt-Verhältnisses verbunden, das die Objektseite verabsolutiert. Dieses basiert auf einer positivistisch-mechanistischen Weltsicht, die es unterlässt, den eigenen Standpunkt als Ort einer Praxis im Kontext einer raumzeitlich definierten Situation mitzureflektieren, und von daher ihre Methode allein an der vermeintlichen Objektivität des Untersuchungsgegenstandes ausrichtet. Für die im 19. Jahrhundert sich konstituierenden Humanwissenschaften hat dies fatale Konsequenzen. Denn auch der Mensch wird so zum bloßen Gegenstand einer objektivierenden Wissenschaft, der dessen situationsgebundene Handlungsperspektive notwendig verborgen bleiben muss. Gesellschaften müssen sich unter diesen methodischen Voraussetzungen von einem externen Standpunkt aus als „Sozialkörper“ beschreiben lassen. Die Einsicht in ihre Funktionsgesetze dient dann unter praktischen Gesichtspunkten allein dem Zweck optimierender Eingriffe von „Sozialingenieuren“ in den gesellschaftlichen Regelmechanismus.215 Sartre wiederholt hier über weite Strecken seine bereits bekannte Kritik an den objektivierenden Sozialwissenschaften. Anders als etwa in der „Critique de la raison dialectique“ bettet er sie nun jedoch in den spezifischen Kontext der Epoche Flauberts ein und ist damit in der Lage, die Genealogie jenes humanistischen Diskurses, den der Foucault von „Les mots et les choses“ in seiner Kritik der modernen Episteme aufs Korn genommen hatte, aus der Binnenperspektive der bürgerlichen Klasse nachzuzeichnen. Indem Sartre ihn aus den erkenntnistheoretischen Annahmen einer positivistischen Wissenschaft herleitet, gelingt es ihm zugleich, sich handlungstheoretisch von diesem Diskurs abzusetzen: „Das“, so Sartre, „ist der Widerspruch dieser Szientisten: wenn der Mensch ihr Gegenstand sein soll, muß sich dieser selbst in ihnen auf inerte äußere Sequenzen reduzieren; wenn aber die Humanwissenschaft durch sie ihr Feld gesellschaftlicher Forschung kon-

213 Vgl. ebd., S. 299. 214 Vgl. Sartre (1960), a.a.O., S. 347ff. 215 Vgl. Sartre (1971/72), a.a.O., Bd. 5, S. 266.

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struiert, indem sie den Gegenstand durch die Methoden und die Methoden durch den Gegenstand definiert, muß man, wenn man sie bei ihrer Arbeit selbst untersucht, feststellen, daß es zwei Spezies Mensch gibt: die von den Naturgesetzen beherrschten Laien und Wissenschaftler, die diesen Gesetzen, um sie entdecken zu können, entgehen müssen.“216

Was Sartre hier aus der Binnenperspektive als unausweichliche Reflexion einer sich aus der Beobachterperspektive verstehenden positivistischen Humanwissenschaft kritisiert, ist im Grunde nichts anderes als das erkenntnistheoretische Dilemma von Foucaults empirisch-transzendentaler Reduplizierung. Anders als dieser führt Sartre jedoch die Ursache dafür nicht auf eine irrtümliche Konstruktion des Begriffs des Menschen als methodischen Ausgangspunkt der Forschung zurück, sondern auf die methodisch gezielte Ausblendung der normativen wie epistemischen Bedingungen gesellschaftlicher Praxis unter der Herrschaft einer kapitalistischen Moderne. Es ist nun genau diese verdinglichende Sicht auf den Menschen, die nicht nur dessen Praxis unterschlägt, sondern zugleich die ästhetische Reflexion der bürgerlichen Klassen prägt. Denn die von Sartre als „Neurose-Kunst“217 gekennzeichnete literarische Produktion jener Zeit gibt gerade vor, jene, die positivistischen Humanwissenschaften umtreibende, transzendentale Reduplizierung zu überwinden – jedoch lediglich als „fingierte Desituierung“. Der springende Punkt nämlich ist, dass diese notwendig imaginär bleiben muss, „[…] und daher verwandelt sich das wissenschaftliche Verhalten – durch bloße Irrealisierung und ohne daß seine inneren Verhältnisse oder seine Beziehungen zum Gegenstand modifiziert wären – in ästhetische Haltung“.218 Die Gegenwartskunst jener Zeit antwortet laut Sartre gewissermaßen auf eine im humanwissenschaftlichen Diskurs angelegte Problematik. Die Angehörigen des literarischen Realismus der Schriftstellergeneration Flauberts ästhetisieren die Forderung der szientistischen Ideologen nach einer distanzierenden Betrachtung des Menschen von außen, indem sie in ihren Werken „[…] ständig jene für das Objekt-werden der Welt unentbehrliche Loslösung praktizieren“ und bestärken sie damit „[…] in der Idee, daß sie als erkennender Blick der allgemeinen Objektivität entgehen – ebenso wie übrigens der Subjektivität […]“.219 In diesem Sinne ist der Realismus zunächst geradezu Verschleierung der Realität. Er überblendet den blinden Fleck der bürgerlichen Wissenschaft erst recht, so dass die Problematik einer erkennt-

216 Ebd., S. 271f (Hervorhebungen i.O.). 217 Vgl. ebd., S.307. 218 Vgl. ebd., S. 309 (Hervorhebung i.O.). 219 Vgl. ebd., S. 310.

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nistheoretischen Reflexion auf die Situationsgebundenheit der jeweiligen Beobachterposition scheinbar verschwindet. „Wie das Licht, das beleuchtet, aber selbst nicht sichtbar ist“, so Sartre, „wird der Blick zur Seinsweise dieser Übermenschen, die die Wissenschaftler, Techniker und Künstler sind: da dieses reflexive Bewußtsein in seiner reinen Durchsichtigkeit nicht seinerseits Gegenstand der Reflexion sein kann, entgeht es dem Wissen genau in dem Maße, wie es dieses begründet.“220

Anders als der epistemische steuert jedoch der ästhetische Diskurs des literarischen Realismus gerade nicht notgedrungen auf die Frage zu, wie für diesen externen Beobachterstandpunkt eine transzendentale Begründung angeboten werden könnte. Unter den Voraussetzungen einer imaginären Distanzierung geht es ihm ganz im Gegenteil gerade darum, die Subjektposition durchzustreichen. Der Blick des Künstlers konzentriert sich zwar auf die Beschreibung der innersten Regungen seines literarischen Personals, sein Anliegen ist jedoch nicht dessen Durchleuchtung in seiner Objektivität, um von daher die Bedingungen der Möglichkeit von Subjektivität einsichtig machen zu können, ihm geht es laut Sartre vielmehr um die Enthüllung seiner Nichtigkeit: Er „[…] macht zwar aus dem Menschen kein sich selbst äußerliches Wesen, das man von außen konditionieren muß, das ist nicht seine Sache; aber indem er ihn am Tiefsten seines innersten Lebens angeht, enthüllt er, daß dieses in seiner Innerlichkeit selbst eine erbärmliche Lüge ist“.221 Der ästhetische Diskurs der Vertreter des literarischen Realismus, dieser „Ritter des Nichts“,222 verdoppelt damit eine Reflexionsbewegung, die bereits auf der individuellen Ebene innerhalb des Prozesses der Personalisation Flauberts einsichtig geworden war: eine simulierte Desituierung in die Höhen einer vermeintlich externen Überfliegerposition bei gleichzeitiger Zersetzung des in seiner puren Materialität beobachteten Menschen in seinem Selbstverständnis als moralisches Handlungssubjekt. Letzteres stellt sich unter dem Brennglas des Realismus als bloßer Traum heraus – der Albtraum einer existenziellen Boshaftigkeit des Menschen und seines sinnlosen Scheiterns. Dem Schriftsteller bleibt daher nichts weniger, als sich entweder zu einer geistfreien Materialität des menschlichen Daseins zu bekennen, oder aber man muss „[…] dem Objekt-sein entgehen, indem man aus jenem überflüssigen Alptraum der Subjektivität erwacht und sich zum reflexiven Bewußtsein des Wissens oder zur

220 Ebd. 221 Ebd., S. 322 (Hervorhebungen i.O.). 222 Vgl. ebd., S. 324.

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unerschütterlichen Intuition der Schönheit macht, das heißt des Traums selbst als etwas Unrealisierbarem: es gibt nur diese zwei Auswege. Darunter steigen, darüber schweben“.223 Die geradezu subversive Kraft dieser Neurose-Kunst, ihres antibürgerlich vorgetragenen ‚L’art pour l’art‘, das sich allein dem Diktat der Schönheit zu unterwerfen vorgibt, besteht somit darin, die Ideologie des bürgerlichen Humanismus auf die Spitze zu treiben, indem es ihn seiner Grundlage beraubt. Das selbstbewusste Handlungssubjekt, an das sich ein moralischer Imperativ der Pflicht richten könnte, entpuppt sich als Traum. Der bürgerliche Humanismus ist in Wahrheit ein „Anti-Humanismus des Ressentiments“,224 den der Künstler als „lustige Farce“ entlarvt, indem er das „[…] passive und von fremden Kräften von außen bewegte Sein […]“ des Menschen zugleich „[…] unwiderstehlich dazu verführt […]“, nicht umhin zu können, „[…] jenes falsche Bewußtsein von sich selbst zu bekommen, […] sich so zu beurteilen, als wenn es von Natur aus ein Handelnder wäre“.225 Es dürfte kein Zufall sein, dass Sartre in diesem Zusammenhang die Rede vom menschlichen Albtraum, aus dem der Schlafende, „[…] da er nicht wirklich existiert […]“, nicht aufwachen kann, als einen „[…] wie man heute so elegant sagen würde […] ‚Diskurs ohne Subjekt‘ […]“ bezeichnet226 und vom „Tod des Menschen“ spricht, den „jene jungen Bürger“ herbeiwünschen.227 Denn was er hier ganz offensichtlich unter der Hand zu transportieren sucht, ist eine Reformulierung seiner Kritik an Foucaults Attacken aus der Position einer virtuellen Beobachterposition im Humanismusstreit von 1966. Ziel dieser Kritik ist dessen These vom ‚anthropologischen Schlummer‘. Sartre weist Foucault unmissverständlich diejenige Rolle zu, die der literarische Realismus der Neurose-Kunst Mitte des 19. Jahrhunderts aus seiner Sicht einnimmt – eine der ideologischen Bastionen des Bürgertums gegen eine kritische Philosophie der Praxis.

223 Vgl. ebd., S. 322f. (Hervorhebungen i.O.). 224 Vgl. ebd., S. 326. 225 Vgl. ebd., S. 325f. 226 Vgl. ebd., S. 323. 227 Vgl. ebd., S. 326.

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Pathologien der bürgerlichen Gesellschaft Sartres ideologiekritische Hermeneutik der normativen, epistemischen und ästhetischen Diskurse rekonstruiert diese aus der Binnenperspektive als eine ineinander verschränkte Serie von Reflexionsbewegungen. In der darin geforderten Unterwerfung unter die Objektivität der Ware, des Wissens und der Schönheit spricht ihm zufolge das ideologische Bewusstsein der französischen Gesellschaft während des Zweiten Kaiserreichs die „Wahrheit der Epoche“228 aus: den „[…] Haß des Menschen auf den Menschen, auf allen Ebenen der Gesellschaft“.229 Der pathologische Charakter dieser Gesellschaft offenbart sich in der Neurose des objektiven Geistes, der sich nun am Zustand des Bewusstseins der bürgerlichen Klasse ablesen lässt. Deren Ideologie verschleiert die Praxis der sozialen Subjekte als Grundlage der Produktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit und erzwingt damit das Pathos der Entfremdung. Darin besteht jene bemerkenswerte Affinität zwischen Flauberts subjektiver Neurose und der objektiven Neurose der Gesellschaft, die Sartre von Anfang an vermutete. Das literarische Werk Flauberts, jenes Schriftstellers, der sich von seiner individuellen Konstitution und Personalisation her allein als pathetisch inszeniertes, niemals jedoch als reales Handlungssubjekt verstehen kann, trifft auf die konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen die herrschende Klasse sich in Gänze zu derealisieren sucht, indem sie ihre Selbst- und Weltbezüge gewissermaßen als Oper aufführen lässt. Sartre deutet die Machtergreifung Napoleons III. in der Folge der 48er Revolution nicht nur als strategischen Schachzug des Bürgertums, das das politische Kommando an das Militär übergibt, um seine Macht gegen die aufbegehrende Arbeiterklasse abzusichern, er versteht dies zugleich in ideologischer Hinsicht als die Flucht vor der ökonomischen und sozialen Realität des Klassenkampfes in eine Politik des Scheins. Die Bourgeoisie inszeniert noch ihre reale Macht in der pathetischen Gestalt einer historisch überholten Feudalität. Jedoch erweist sich das Verhältnis von Sein und Schein auf der Ebene des Individuums als spiegelverkehrt zu derjenigen der Gesellschaft. Während es der realen Person Flaubert mittels ihrer Technik des Überfliegens möglich war, sich immer wieder aufs Neue zu derealisieren, ist die Strategie einer „kollektiven Irrealität“ des Zweiten Kaiserreichs von vornherein zum Scheitern verurteilt.

228 Vgl. ebd., S. 329 (Hervorhebung i.O.). 229 Vgl. ebd., S. 328.

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„Diese Gesellschaft“, so Sartre, „spielt zwar Komödie, aber sie spielt sie in einer Welt, wo sie verankert ist: sie erhebt keinen Anspruch auf die Überlegenheit der Träume, sie träumt, daß sie anderen Gesellschaften, die in Wahrheit existieren und mit denen sie durch ihre Faktizität reale Beziehungen unterhält, die sie nicht kennt oder verkennt, tatsächlich überlegen ist.“230

Napoleon III. kann Sartre zufolge solange Napoleon I. spielen, wie diese „kaiserliche Komödie“ von der „[…] Gesamtheit der herrschenden Klassen […]“ geduldet wird. Doch damit das Spiel funktioniert, „[…] muss man eine Armee unterhalten, wahre Männer unter die Fahne rufen, sie mit wahren Gewehren ausstatten, sie in wahren Konflikten einsetzen […]“. Die Komödie des Zweiten Kaiserreichs mündet deshalb in eine „riesige kollektive Katastrophe“, der Niederlage im deutsch-französischen Krieg von 1870/71.231 Diese, zugegebenermaßen nur rudimentären Hinweise auf Sartres Charakterisierung der bürgerlichen Selbstinszenierung im Frankreich des Zweiten Kaiserreichs mögen an dieser Stelle genügen, um anzudeuten, wie in der letzten Etappe des 4. Teils des „Idiot de la famille“ ein Korrespondenzverhältnis zwischen subjektiver und objektiver Neurose entfaltet wird. Sartre versucht die jeweiligen Bezüge zwischen der Person Flaubert und der französischen Gesellschaft jener Zeit in einem langwierigen Hin und Her seines progressiv-regressiven Verfahrens herzustellen. Diese Bemühungen sollen nicht mehr im Detail verfolgt werden. Für die hier interessierende diagnostische Kraft einer binnentheoretisch ansetzenden Gesellschaftstheorie stellt sich nun abschließend aber folgendes Problem: Wie weit tragen diese Entsprechungen zwischen Mikro- und Makroebene, die Sartres Hermeneutik des bürgerlichen Individuums Flaubert und der Ideologie eines bürgerlichen Klassensubjekts herausarbeitet, um den Prozess der Subjektivierung Flauberts als Programmierung erklären zu können? Dazu ist es hilfreich, sich kurz vor Augen zu führen, was in der Flaubert-Studie von Sartre mit seinem Vorhaben, aus der Binnenperspektive auf die Totalität des gesellschaftlichen Seins zuzugreifen, methodisch überhaupt geleistet werden kann. Um die gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrer Totalität in den Blick zu bekommen, setzt Sartre, wie gezeigt, sowohl synchron wie auch diachron an. Auf der synchronen Ebene konzentriert er sich zunächst auf eine partielle Totalität: die französische Gesellschaft zum Zeitpunkt des Zweiten Kaiserreichs. Sein Untersuchungsgegenstand ist also räumlich und zeitlich eingegrenzt. Es ist diese Gesellschaft, in der das erwachsene Schriftstellersubjekt Flaubert sein Publikum

230 Vgl. ebd., S. 589f (Hervorhebungen i.O.). 231 Vgl. ebd., S. 590.

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findet. Es ist also das Subjektivierungsprogramm dieses historisch und geografisch umrissenen sozialen Ensembles, das sich untersuchen lassen muss, um die Gründe für Flauberts unterworfene Subjektivität begreifen zu können. Zu diesem Zweck hatte Sartre sich die Perspektive der bürgerlichen Klasse jener Zeit erschlossen, um ihren ideologischen Diskurs von innen zu rekonstruieren. Damit gelingt es ihm zwar, das erlebte Welt- und Selbstverhältnis des französischen Bürgertums zu durchdringen, um die gesellschaftliche Totalität begrifflich fassen zu können, kann dies aber nur eine erste Etappe sein. Aus einer klassentheoretisch ansetzenden Perspektive könnte nämlich nur dann zum gesellschaftlichen Ganzen vorgestoßen werden, wenn zumindest in einem nächsten Schritt die jeweiligen Welt- und Selbstverhältnisse der konkurrierenden Klassen und von dort eine möglicherweise entsprechende Logik des Klassenkampfes einsichtig zu machen wären. Es sei dahingestellt, ob dies ein Erfolg versprechendes Verfahren sein könnte, um die kapitalistische Gesellschaft im Frankreich zur Mitte des 19. Jahrhunderts strukturell adäquat zu beschreiben. Festzuhalten ist an dieser Stelle jedenfalls so viel: Sartre dringt nicht nur in den ausgearbeiteten Teilen des „Idiot de la famille“ nicht bis in diese Dimensionen vor, sein dort entworfenes Forschungsprogramm beansprucht eine derartige Ausweitung der Analyse, soweit ersichtlich, auch gar nicht. Vielmehr scheint er davon auszugehen, dass die Hermeneutik des ideologischen Diskurses der herrschenden Klasse genügen muss, um der Logik des Ganzen indirekt beizukommen. Den Beweis dafür bleibt er allerdings schuldig. Insofern ist die Reichweite von Sartres binnenperspektivisch verfahrender Gesellschaftstheorie von vornherein begrenzt. Flauberts Subjektivierung im Sinne einer Unterwerfung unter einen gesellschaftlich dominanten Diskurs kann im Grunde lediglich als Programmierung des bürgerlichen Subjekts verstanden werden. Damit lässt sich über die Person Flaubert aber nicht viel mehr sagen als Folgendes: Er ist, trotz seines antibürgerlichen Ressentiments ein Kind seiner Klasse, dessen individuelle Neurose auf eine Neurose der bürgerlichen Klassen trifft. Das Geheimnis dieser Klassenneurose vermag die sartresche Hermeneutik allerdings nicht zu lüften. Sie ließe sich nur dann plausibel erklären, wenn er zugleich die Strukturlogik der kapitalistischen Warenproduktion in den Blick bekäme. Das ist aber allein aus der Binnenperspektive nicht zu haben. Sartre scheint vielmehr die logische Struktur des gesellschaftlichen Seins unter der Hand als bekannt vorauszusetzen. Insofern liefert der „Idiot de la famille“ das methodische Rüstzeug für eine ideologiekritische Phänomenologie des bürgerlichen Bewusstseins des 19. Jahrhunderts, aber streng genommen noch keine Theorie der bürgerlichen Gesellschaft. Die Hermeneutik der objektiven Neurose des Bürgertums stößt aber nicht nur in struktureller Hinsicht an ihre Grenzen. Denn selbst wenn sein pathologi-

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scher Zustand charakteristisch für die gesellschaftlichen Verhältnisse zum Zeitpunkt des Zweiten Kaiserreichs sein sollte, lässt diese Diagnose genau besehen noch keine plausiblen Rückschlüsse auf Flauberts lebensgeschichtlich erfahrene Subjektivierung zu. Es ist schwer einzusehen, warum dessen frühkindliche Konstitution und Personalisation, die lange vor dem Zweiten Kaiserreich, ja sogar noch vor der Revolution von 1848 in eine subjektive Neurose mündeten, auf das Programm einer erst noch heraufziehenden neurotischen Gesellschaft bezogen werden könnte. Sartres binnentheoretischer Ansatz kann dafür keine plausible Erklärung liefern. Dafür wäre es notwendig, zumindest versuchsweise auf eine virtuelle Beobachterperspektive zu wechseln. Das Anliegen, von dort über einen synchronen Zugriff eine wenigstens ansatzweise Bestimmung der Strukturlogik des gesellschaftlichen Seins zu leisten, böte forschungsstrategisch den Vorteil, dass durch das Anheben der Abstraktionsebene ein Analyseraster zur Verfügung stünde, mit dessen Hilfe ein historisch weiter gespannter Zeitraum erfasst werden könnte. Die Genese von Flauberts subjektiver Neurose ließe sich dann möglicherweise mit strukturellen Bedingungen korrelieren, die über die Existenz des Zweiten Kaiserreichs hinausreichten. Da Sartre dies aus methodischen Gründen jedoch verwehrt ist, bleibt ihm lediglich der Rückgriff auf geschichtsphilosophische Annahmen, um die diachrone Dimension der von ihm diagnostizierten gesellschaftlichen Pathologie einsichtig zu machen. Diese Annahmen sind, wie bereits weiter oben angedeutet, hochspekulativ. Sartre geht davon aus, dass die Abfolge historischer Totalitäten als Resultate multipler De- und Retotalisierungen einer Prozesslogik folgen, die sich auf gesellschaftlicher und individuelllebensgeschichtlicher Ebene in unterschiedlichen Geschwindigkeiten vollziehen kann. Nur unter diesen spekulativen Voraussetzungen lässt sich Flauberts subjektive Neurose schließlich als individueller Vorbote einer späteren objektivgesellschaftlichen Neurose deuten. Sartre interpretiert daher Flauberts Sturz vom Kutschbock in Pont-l’Evêque von 1844 als „Prophezeiung des Zweiten Kaiserreichs“.232 Es ist dann aber genau genommen Flauberts pathetisches Selbst- und Weltverhältnis, das letztendlich die Erklärung dafür liefert, dass er dem „Optimismus von 1848“ und dessen „Primat der Praxis“233 entsagt. Flaubert, so Sartre, „[…] konstituiert sich bereits 1844 als Untertan des Zweiten Kaiserreichs. Deshalb hat er das Treffen von 1848 verpaßt“.234 Damit liefert Sartre jedoch eher ein rudimentäres Deutungsmuster für die Genese einer gesellschaftlichen Pathologie aus einer Teilnehmerperspektive. Die Existenz von Persönlich-

232 Vgl. ebd., S. 499. 233 Vgl. ebd., S. 265 (Hervorhebung i.O.). 234 Ebd., S. 682.

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keiten vom Schlage Flauberts mit ihren subjektiven Neurosen wäre dann eine notwendige, wenn auch noch lange nicht hinreichende Bedingung für die Durchsetzung einer neurotischen Gesellschaft. Damit werden diese individuellen Neurosen aber nicht mehr über die Machtmechanismen einer gesellschaftlichen Programmierung erläutert. Vielmehr kehrt sich die Reihenfolge der einzelnen Erklärungsschritte unter der Hand um – zumindest sobald die spekulativen Voraussetzungen seines diachronen Totalitätsbegriffs eingeklammert werden. Sartre sieht sich unversehens auf die Ebene des individuell Erlebten zurückgeworfen.235 So wie es aussieht, ist sein Versuch, an einem bestimmten Punkt seines Forschungsprogramms ‚die Glieder umzukehren‘, um rücklaufend den Prozess einer subjektivierenden Programmierung zu verfolgen, zumindest mit den ihm zur Verfügung stehenden methodischen Mitteln nicht durchführbar.

Die diagnostische Reichweite einer Phänomenologie der Entfremdung Sartres Versuch einer Rekonstruktion der Lebensgeschichte der konkreten historischen Person Gustave Flaubert als derjenigen eines Singulären-Allgemeinen liefert für die hier interessierende Frage nach der diagnostischen Reichweite einer allein binnentheoretisch ansetzenden Gesellschaftstheorie folgenden Ertrag: Seine über weite Strecken phänomenologisch verfahrende Hermeneutik eröffnet weit reichende Einblicke in den von Foucault aus der Beobachterperspektive beschriebenen Prozess der Subjektivierung. Sartre kann zeigen, wie Unterwerfung und Subjektbildung durch spezifische Selbsttechniken im Verlauf von Flauberts Konstitution und Personalisation aus der Binnenperspektive konkret erlebt wer-

235 Anders als Flynn bin ich daher nicht der Ansicht, dass es Sartre gelingt, Geschichte als kollektiven Prozess zu fassen. Auch wenn es die Kategorie des Erlebten (le vécu) prinzipiell möglich macht, sich in die Perspektive einer anderen Subjektivität zu versetzen, und somit ein kollektives Selbst- und Weltverhältnis diskursiv eingeholt werden könnte, sie ist überfordert, wenn daran der Anspruch eines angemessenen Verständnisses der Dynamik gesellschaftlicher Prozesse geknüpft wird. „There is an old comedy routine in which a sheriff says to his deputy: ‚I’ll go in and you surround the house!‘“, schreibt Flynn, um Sartres Forschungsprogramm zu charakterisieren. So wie es aussieht, ist Sartre aber methodisch gar nicht in der Lage, das Haus zu umstellen. Er kann – um im Bild zu bleiben – nur reingehen und bestenfalls die einzelnen Zimmer ausmessen; vgl. Flynn (1997/2005), a.a.O., Bd. 1, S. 206.

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den. Anders als Foucault ist er so in der Lage, die strategische Seite der Subjektivierung nicht nur auf eine logisch geforderte, wie auch immer geartete minimale ontologische Freiheit aufzusetzen. Deren Existenz ist für sein hermeneutisches Verfahren sogar konstitutiv, um die individuelle Erfahrung von Entfremdung einsichtig machen zu können. Möglich wird ihm dies durch die Einführung der Kategorie des Erlebten (le vécu), mit deren Hilfe die Binnenperspektive eines Anderen über ein methodisch kontrolliertes Verfahren zumindest virtuell eingenommen werden soll. Das erlaubt es ihm, an der von Foucault verworfenen Repressions-Hypothese festzuhalten. Flaubert erlebt seine Subjektwerdung, zumindest in der Rekonstruktion Sartres, in der Tat als fremdbestimmte Unterwerfung unter eine gesellschaftliche Forderung, obwohl oder gerade weil er nicht in die Lage versetzt wird, ein Ich auszubilden. Es ist also kein substanzieller Persönlichkeitskern, der gesellschaftlich induzierter Repression ausgesetzt ist, sondern es handelt sich dabei um die zunächst bloß subjektive Erfahrung einer erzwungenen Festlegung auf etwas, das er nicht zu sein vermag und was damit als Entfremdung empfunden wird. Repression kann in diesem Zusammenhang zumindest als Erlebtes einer subjektiven Freiheit ausgemacht werden. Der Gesellschaftstheorie kann diese Erfahrung allerdings lediglich als forschungsstrategischer Ausgangspunkt dienen. Eine Begründungsfunktion kommt ihr nicht mehr zu. Was die konkreten Vorwürfe Foucaults aus dem Humanismusstreit von 1966 angeht, antwortet der „Idiot de la famille“ indirekt sowohl auf der Ebene des Individuums Flaubert wie auf der Ebene der französischen Gesellschaft zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Den von Foucault innerhalb eines ‚anthropologischen Vierecks‘ monierten Reflexionszirkel einer empirisch-transzendentalen Reduplizierung im Begriff des Menschen zeichnet Sartre als pathologische Denkbewegung der bürgerlichen Gesellschaft nach. Im Falle Flauberts entfaltet sie sich als subjektive Neurose eines aufgrund seiner Konstitution von vornherein defizitär ausgestatteten Handlungssubjektes. Die Hermeneutik der bürgerlichen Ideologie des Humanismus steuert schließlich auf die objektive Neurose der französischen Gesellschaft während des Zweiten Kaiserreichs zu, in der die repressive Funktion eines Wesensbegriffs des Menschen, wie sie vom frühen Foucault kritisiert wird, offen zu Tage tritt. Beides, sowohl Flauberts sich derealisierende Desituierung, mit deren Hilfe er seine in den jeweiligen Handlungskontext eingebettete Endlichkeit zu überfliegen sucht, um wenigstens virtuell eine externe Beobachterposition einzunehmen, wie die positivistischen und ästhetischen Versuche des Denkens seiner Zeit, sich auf einen externen Standpunkt zu heben, die daran notwendig gebundene transzendentale Reflexion darauf aber zu unterschlagen, wird von Sartre als pathologische Reflexion gebrandmarkt. Diese deutet er aller-

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dings anders als Foucault nicht als epistemische Effekte eines historischen Apriori der Moderne, sondern als eine Pathologie der bürgerlichen Gesellschaft. Damit zielt Sartre zugleich auf Foucaults theoretischen Antihumanismus in der Gestalt seiner Archäologie der Humanwissenschaften. Er wendet den foucaultschen Vorwurf, die aus der Binnenperspektive operierende Philosophie der Praxis sei ein Residuum des Denkens des 19. Jahrhunderts,236 gegen diesen selbst. Anders als im Frühwerk „L’être et le néant“, wo Sartre selbst noch den Reflexionszirkel durchlaufen hatte, um ihn bewusstseinsphilosophisch über eine Ontologie der Freiheit zu begründen, und anders als in der „Critique de la raison dialectique“, in der die Reflexion in eine weitgehend instrumentell konzipierte Praxis eingebettet war, deren Rationalität aus der dialektischen Erfahrung heraus allerdings entgegen seiner Absicht nicht mehr begründet werden konnte, beschreibt der „Idiot de la famille“ jene ins Leere laufende Reflexion nunmehr als ein sowohl individuell wie gesellschaftlich pathologisch Erlebtes. Die von Foucault aus der Beobachterperspektive beschriebenen Aporien des Reflexionszirkels werden somit von Sartre aus der Binnenperspektive als das zu überwindende Selbst- und Weltverhältnis des bürgerlichen Subjektes rekonstruiert. Möglich wird diese Diagnose freilich nur auf der Folie eines erweiterten Praxisbegriffs, wie er der gesamten Flaubert-Studie zu Grunde zu liegen scheint. Wie mehrfach angedeutet, operiert der späte Sartre mit einem Praxisverständnis, das die instrumentell-strategische Engführung aus der „Critique de la raison dialectique“ hinter sich zu lassen sucht, indem er auf den frühen Verstehensbegriff aus den „Questions de méthode“ zurückgreift. Obwohl an keiner Stelle systematisch ausgeführt, berücksichtigt Sartre nun offensichtlich verstärkt die kommunikative Dimension des Handelns. Dies zeigt sich in einem neuen Verständnis von Sprache, das insbesondere in der Analyse von Flauberts Kommunikationsdefiziten zum Tragen kommt. Der Sprache weist Sartre zwar weiterhin in ihrem Regelcharakter wie in ihrer zu Text geronnenen Gestalt den ontologischen Status des Praktisch-Inerten zu, anders als noch in der „Critique de la raison dialectique“ versteht er nun aber den Prozess individueller Regelanwendung als die Arbeit an einem Medium, das prinzipiell eine grundlegende Wechselseitigkeit herstellt. Damit eröffnet sich Sartre ein Verhältnis zum Anderen, das Anerkennung nicht mehr nur über eine allein strategische Interaktionsbeziehung möglich macht. Die damit sich abzeichnende normative Dimension eines erweiterten Praxisbegriffs könnte Sartre aber nur unter der Voraussetzung ins Visier bekommen, dass er ihn vom neuzeitlichen Modell der Arbeit ablöste. Die bereits weiter oben erwähnten späten Äußerungen zur Moral deuten darauf hin, dass er gegen Ende

236 Vgl. Foucault (1966b), a.a.O., Bd. I, S. 541f.

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seines Lebens zumindest auf eine entsprechende Konzeption zusteuerte.237 Erst mit diesem erweiterten Praxisbegriff im Gepäck kann Sartre Flauberts Verhalten als pathologisch deuten. Sein bereits mit der frühkindlichen Konstitutionsphase in seine Subjektivierung eingetragenes Kommunikationsdefizit verwehrt ihm eine Existenz als selbstbewusstes Handlungssubjekt. Es zwingt ihn, sich gegenüber sich und Anderen im Modus passiver Aktivität zu verhalten. Flaubert ist gezwungen, ein Ich zu inszenieren, das ihm von außen verordnet ist und ihm daher notwendig fremd bleiben muss. Zu einer zielgerichteten, die Realität überschreitenden Praxis ist er von vornherein nicht in der Lage. Doch wie weit reicht Sartres Praxismodell für eine Diagnose der gesellschaftlichen Verhältnisse jener Zeit? Sein strikt binnentheoretischer Ansatz zwingt ihn, wie gezeigt, zu einer Verschiebung der Perspektive vom konkreten Individuum zu derjenigen Klasse, der Flaubert angehört. Diese Transformation erweist sich nun aber aus mindestens zwei Gründen als äußerst gewagt. Wie sich gezeigt hatte, war Sartre zu Beginn des vierten Teils des „Idiot de la famille“ unverhofft auf eine transindividuelle Untersuchungsebene gewechselt, um in einer rückläufigen Bewegung nun eine gesellschaftliche Programmierung bis in Flauberts individuelle Personalisation hinein zurückzuverfolgen. Den eigenen methodischen Vorgaben gemäß, ist dies streng genommen aber nicht zulässig. Wollte er weiterhin beanspruchen, Flaubert als Singuläres-Allgemeines über den von ihm propagierten Totalitätsbegriff zu entwickeln, müsste er zunächst die einzelnen logischen Schritte vom Individuum über die jeweiligen historischen Gestalten des als praktisch-inert Erlebten bis hinauf zu komplexeren Ebenen einer gesellschaftlichen Totalität verfolgen, um schließlich von dort aus absteigend die spezifische Weise von Flauberts Subjektivierung einsichtig machen zu können. Da Sartre aber, wie gezeigt, nicht mit einer strukturellen, sondern mit einer empirisch-historischen Totalität operiert, die damit notwendig immer nur provisorischen Charakter haben kann, bliebe dies selbst noch für ein historisch abgeschlossenes, individuelles Leben wie dasjenige Flauberts schon allein aufgrund der Datenmenge ein nach menschlichem Ermessen unabschließbares Unterfangen. Aus diesem Grund dürfte Sartre gezwungen sein, die an sich von seiner progressiv-regressiven Methode geforderte Vermittlung der einzelnen Stufen vom Individuum auf die Ebene der Klasse zu überspringen, um von dort Flauberts individuelle Programmierung zurückzuverfolgen. Gewagt erscheint dieser Schritt aber noch aus einem zweiten Grund. Sartre ist damit nämlich im Grunde gezwungen, eine Art Kollektivsubjekt zu unterstellen. Die Hermeneutik der Ideologie der bürgerlichen Klasse, die er versucht, ver-

237 Vgl. Sartre (1980), a.a.O.

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lässt dezidiert die bislang konsequent beibehaltene Sicht des Individuums Gustave Flaubert, weigert sich aber zugleich, auf einen externen Beobachterstandpunkt zurückzugreifen. Damit bleibt ihm nichts anderes übrig, als die Untersuchung aus der virtuellen Perspektive der bürgerlichen Klasse anzugehen. Das heißt, er muss davon ausgehen, dass sein hermeneutisches Verfahren so etwas wie die gemeinsamen Strukturmomente der Ideologie als kollektiv Erlebtes frei legen kann. Er zielt also auf die Erfahrung eines wie auch immer gearteten Makrosubjekts, dessen ‚kollektives Irresein‘ sich schließlich im Zustand einer objektiven Neurose artikuliert. Genau das hatte er jedoch noch in der „Critique de la raison dialectique“ mit guten Gründen abgelehnt. Die Idee eines Kollektivsubjektes wurde dort als „organizistische Illusion“ einer „transzendentalen oder idealistischen Dialektik“238 verworfen, weil Kollektive nun mal als über die Struktur des jeweils Praktisch-Inerten vermittelte plurale Ensembles von Einzelsubjekten gedacht werden müssen. Der Grund für diese verdeckte Unterstellung dürfte nun damit zusammenhängen, dass Sartre der bürgerlichen Gesellschaft, deren Strukturlogik er, wie gesehen, aus der Binnenperspektive nicht vollständig in den Blick bekommt, nur dann eine ‚objektive Neurose‘ attestieren kann, wenn es ihm gelingt zu zeigen, dass sie analog zur subjektiven Neurose Flauberts auf einem defizitären Praxisverständnis fußt. Dies kündigt sich nicht nur in Formulierungen an, in denen er den bürgerlichen Klassen eine nahezu krankhafte Aversion gegen jegliche Form politischen Handelns und ein Ressentiment gegen revolutionäre Massen vorhält,239 Sartre verweist gelegentlich auch – und dies verweist nebenbei bemerkt erneut auf die aufgewertete kommunikative Dimension seines Praxisbegriffs – auf die Sprachlosigkeit der Privateigentümer, die er als eine erlebte „Nicht-Kommunizierbarkeit“ charakterisiert.240 Historisch versucht Sartre die von ihm diagnostizierte zwanghaft defizitäre Praxis der bürgerlichen Gesellschaft und die sie dominierende Klasse mit der revolutionären Praxis des Proletariats im 19. Jahrhundert zu kontrastieren, wie sie in der 48er Revolution vor und in der Gestalt der Pariser Kommune 1871 nach dem Zweiten Kaiserreich vorübergehend auf den Plan tritt. Gesellschaftstheoretische Geltung kann diese Diagnose im „Idiot de la famille“ freilich aber nur unter der Voraussetzung beanspruchen, dass es ihm gelingt, die passive Aktivität einer als objektiv neurotisch anzusehenden bürgerlichen Klasse auf der Folie eines Modells kollektiver Praxis zu verdeutlichen. Dies wird in der Flaubert-Studie allerdings nicht ausdrücklich geleistet, sondern offenbar lediglich zu Grunde gelegt.

238 Vgl. Sartre (1960), a.a.O., S. 370. 239 Vgl. etwa Sartre (1971/72), a.a.O., Bd. 5, S. 260ff. 240 Vgl. ebd., S. 279f (Hervorhebung i.O.).

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Entwickelt hatte Sartre ein derartiges Modell als krönenden Abschluss seiner regressiven Rekonstruktion der elementaren Strukturen gesellschaftlicher Praxis im 1. Band der „Critique de la raison dialectique“ anhand der Figur der revolutionären Gruppe. Die Gruppe war dort als ein Ensemble pluraler Einzelpraxen aufgetreten, das aus der Logik der „konstituierenden Dialektik“ der individuellen Praxis und deren Entfremdung in der „Anti-Dialektik“ des Praktisch-Inerten in eine „konstituierte Dialektik“241 überführt werden sollte. Auf eine ausführliche Darstellung dieses Modells war oben verzichtet worden, da es für die hier verfolgte Fragestellung nicht mehr von Relevanz war. Sartres praxisphilosophischer Ansatz hatte bereits auf der Ebene der Anti-Dialektik, was ihre gesellschaftsanalytische Reichweite anbelangt, seine Grenzen gezeigt, so dass die Rekonstruktion eines auf diesen Prämissen basierenden Revolutionsmodells nicht sonderlich Erfolg versprechend erschien. Was die mit der Flaubert-Studie auftauchende Problematik der Gruppenpraxis als möglicher kritischer Referenzpunkt zur Diagnose einer gesellschaftlichen Pathologie angeht, sollen daher nur wenige knappe Andeutungen genügen. Sartre verfolgt in der „Critique de la raison dialectique“ Genese und Zerfall von revolutionären Gruppen242 strukturlogisch als dialektische Vermittlung von individuellen Praxen, die sich aufgrund äußerer Umstände temporär in der Lage finden, die serielle Gewalt der Verdinglichung des Praktisch-Inerten außer Kraft zu setzen. Dieser Prozess verläuft in vier Stadien: von der spontanen Fusion unter dem äußeren Druck einer revolutionären Situation, in der eine Gruppe sich zwangsweise zusammenfindet, über die förmliche Konstituierung zum Zweck einer normativen Bindung der Mitglieder an die Gruppe und deren Verstetigung sowie der zunächst nicht-hierarchischen funktionalen Differenzierung zur effizienteren Verfolgung gemeinsamer Ziele bis hin zur zentrierten Institutionalisierung, was in der Gestalt von Bürokratisierung und Monopolisierung von Macht zu einem Rückfall in die serielle Verdinglichung des Kollektivs führt. Problematisch an diesem äußerst komplexen Modell ist, kurz gesagt, mindestens dreierlei: • So wie von Sartre in der „Critique de la raison dialectique“ konzipiert, basieren die Interaktionsverhältnisse innerhalb der Gruppe auf einer allein strategisch verstandenen Wechselseitigkeit, so dass andere Formen von Anerkennung, wie sie für intersubjektive Beziehungen gerade in normativer Hinsicht grundlegend sein können, ausgeblendet werden müssen. • Da die individuelle Praxis notwendiger Ausgangspunkt von Sartres Gesellschaftstheorie aus der Binnenperspektive ist, muss diese notwendig Bewer-

241 Vgl. Sartre (1960), a.a.O., S. 69f. 242 Vgl. ebd., S. 369ff.

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tungsmaßstab jeglicher Gruppenpraxis sein. Sie wird daher nicht nur Grund, sondern zugleich zu einem nicht erreichbaren Ideal der Gruppe. Damit einher geht aber schließlich die Schwierigkeit, dass der in der „Critique de la raison dialectique“ noch weitgehend instrumentell gefasste Praxisbegriff sich noch in den vagen Ansätzen von Sartres Institutionentheorie niederschlägt. Sartre kann Institutionen im Grunde nur als autoritär-hierarchische Gebilde denken, die von sich aus ihren Verfall durch eine revolutionäre Gegenmacht provozieren, was er immerhin als Beleg dafür ins Feld führen kann, dass jeglicher politische Versuch, in realo ein Makrosubjekt zu konstituieren, über kurz oder lang zum Scheitern verurteilt ist.

Sartres Modell einer konstituierten Dialektik dürfte daher allein schon aufgrund dieser Schwierigkeiten nicht geeignet sein, um die spezifische Interaktionslogik von Gruppen befriedigend in den Griff zu bekommen.243 Damit muss aber bezweifelt werden, dass er auf der Folie seines Gruppenmodells in der Lage wäre, die von ihm diagnostizierte Pathologie einer objektiven Neurose der bürgerlichen Klasse und damit der Gesellschaft im Frankreich des Zweiten Kaiserreichs plausibel zu begründen. Die hier interessierende analytische Reichweite von Sartres aus der Binnenperspektive ansetzender Gesellschaftstheorie ist also auch im Falle des „Idiot de la famille“ recht begrenzt. Sartres auf dem Niveau der Klasse ansetzender kritischer Hermeneutik der bürgerlichen Ideologie gelingt es nicht, die Strukturlogik des gesellschaftlichen Seins der von ihm untersuchten Epoche befriedigend zu erfassen. Wie schon in der „Critique de la raison dialectique“ kann dies sein handlungstheoretischer Ansatz allein nicht leisten. Zurückgebunden an eine individuelle Erfahrung, liefert die Hermeneutik der bürgerlichen Ideologie aber zumindest ein Modell, das nachvollziehbar macht, auf welche Weise Denken und Handeln des Einzelnen über diskursive Regeln strukturiert werden, also Subjektivierung über das zwischenmenschliche Nahverhältnis hinaus als gesellschaftlicher Imperativ erlebt wird. Um die Mechanismen der Macht, wie von ihm intendiert, in ihrer Objektivität durchschauen zu können, wäre Sartre aber zumindest zu einem temporären Wechsel auf eine externe Beobachterposition gezwungen.244 Dies wird von ihm zwar methodisch strikt abgelehnt, so wie es

243 Zu einer detaillierten Kritik von Sartres Gruppenmodell vgl. Kelbel (2005), a.a.O., S. 342ff. 244 Ein Erfolg versprechendes Modell, wie ein Sartre durchaus verwandter hermeneutischer Ansatz handlungstheoretisch über die reine Binnenperspektive hinausgeführt werden kann, bietet Giddens mit seiner Konzeption der Dualität von Strukturen, die

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aussieht, war Sartre jedoch gelegentlich gezwungen, unter der Hand auf die aus einer externen Position gewonnenen Forschungsergebnisse der analytischen Wissenschaften zurückzugreifen. Sartres Gesellschaftstheorie taugt daher nur eingeschränkt für eine Analyse der gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Das Vorhaben ihrer Begründung aus einer der individuellen Praxis zu Grunde liegenden dialektischen Rationalität musste bereits weiter oben verworfen werden. Damit ist das Projekt einer binnentheoretisch ansetzenden Gesellschaftstheorie jedoch nicht in Gänze obsolet. Die Stärke von Sartres phänomenologischer Hermeneutik des Erlebten liegt in der plausiblen Beschreibung individueller Entfremdungs- und Missachtungserfahrungen. Sartre kann in der Tat zeigen, was Subjektivierung in der Gestalt, wie sie von Foucault als historisch auftretende Weisen der Unterwerfung und Formierung eines Selbst nach den Regeln gesellschaftlicher Machtmechanismen beschrieben wird, für eine Person bedeutet. Und – was für ein angemessenes Verständnis des politischen Verhaltens von Individuen nicht zu unterschätzen ist – Sartre kann damit die jeweiligen Motivationen und Zielperspektiven zur Überwindung von historisch-spezifischen Entfremdungserfahrungen angeben. Als kritischer Bewertungsmaßstab hierfür muss ein um seine kommunikative Komponente erweiterter Begriff individueller Praxis dienen. Ein so reformuliertes Verständnis von Praxis, wie es der späte Sartre offenbar im Auge hatte, erlaubt nicht nur, die normative Dimension von Interaktionsverhältnissen als konstitutives Moment zu integrieren, es liefert zugleich einen Hinweis auf den emanzipatorischen Gehalt gesellschaftlicher Praxis: die Herstellung unverzerrter Kommunikationsbedingungen. Eine Theorie der Emanzipation in der Tradition von Sartre hat daher bei den realen Entfremdungs- und Missachtungserfahrungen der gesellschaftlichen Subjekte anzusetzen, um die jeweiligen Motivlagen wie Orientierungen kollektiven Handelns zu erkunden. Um die strukturellen Ursachen von Entfremdung und die materiellen Bedingungen ihrer gesellschaftlichen Transformation analysieren zu können, ist es allerdings unumgänglich, den binnentheoretischen Ansatz um eine externe Beobachterperspektive zu ergänzen. Erst dann kann die Gesellschaftstheorie dem Anspruch, kritische Theorie, also gleichzeitig Gesellschaftsanalyse und Emanzipationstheorie, zu sein, gerecht werden.

sowohl den Systemcharakter von Interaktionsbeziehungen von außen wie deren individuelle wie kollektive Deutung als Verdinglichung von innen ins Auge zu fassen versucht; vgl. Giddens (1984), a.a.O., S. 77ff.

„Ich werde folglich das der kritischen Ontologie unserer selbst eigene philosophische ethos als eine historisch-praktische Erprobung der Grenzen, die wir überschreiten können, und damit als Arbeit von uns selbst an uns selbst, insofern wir freie Wesen sind, charakterisieren.“ (MICHEL FOUCAULT)1

„Eines ist merkwürdig an der Freiheit: in der Periode der Entfremdung, das heißt in unserer gesamten Geschichte, erscheint sie als eine zugleich innere und ferne Realität.“ (JEAN-PAUL SARTRE)2

VII Zusammenfassung: Gesellschaftsanalyse und Emanzipationstheorie

Der Humanismusstreit von 1966 drehte sich im Kern um den angemessenen theoretischen Ausgangspunkt für eine kritische Gesellschaftstheorie. Dies zu zeigen, war das Anliegen dieser Arbeit. Hinter der Polemik zwischen Sartre und Foucault standen zwei gegensätzliche methodische Herangehensweisen, mit denen jeweils beansprucht wurde, Logik und Dynamik sozialer Prozesse einsichtig machen zu können. Der aus einer virtuellen Beobachterperspektive operierende theoretische Antihumanismus Foucaults und der an der Teilnehmerperspektive

1

Foucault (1984d), a.a.O., Bd. 4, S. 703f (Hervorhebung i.O.).

2

Jean-Paul Sartre (1974): Der Intellektuelle als Revolutionär. Streitgespräche (mit Philippe Gavi und Pierre Victor), Reinbek bei Hamburg 1976, S. 264 (On a raison de se révolter. Discussions, Paris).

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ansetzende kritisch-praktische Humanismus Sartres schienen sich dabei grundsätzlich zu widersprechen. Der Versuch einer gesellschaftstheoretischen Rekonstruktion der strittigen Fragen anhand des Durchgangs durch die wesentlichen Etappen beider Werksgeschichten war von der Ausgangsthese geleitet, dass eine zeitgemäße Gesellschaftstheorie, so sie als kritisch verstanden werden will, sowohl das Geschäft der Gesellschaftsanalyse leisten muss wie zugleich Theorie der Emanzipation zu sein hat. Ein erstes Ergebnis war, dass, zumindest was die Rolle eines Handlungssubjektes angeht, gegen Ende der jeweiligen Theorieentwicklung eine, wenn auch aus methodisch unterschiedlichen Gründen, so doch überraschende Annäherung zwischen Sartre und Foucault zu verzeichnen ist. Beide Autoren sehen sich gezwungen, eine, wenn auch nur minimale, ontologisch fundierte Handlungsfreiheit als theoretisch unverzichtbar anzunehmen. Für Sartre ist damit endgültig ein Abschied von seinem frühen emphatischen Freiheitsbegriff verbunden, weil sein praxisphilosophisch konzipiertes Subjekt aus der Teilnehmerperspektive nun nicht mehr allein an der gesellschaftlich vermittelten Macht der Anderen an die Grenze seiner Freiheit stößt, sondern sich nun fast schon im Sinne Foucaults als Objekt von Disziplinarpraktiken und damit bis in sein Selbst hinein als weitgehend fremd konstituiert erfährt. Foucault wiederum kommt gegen Ende seines Schaffens nicht mehr umhin, trotz seines konsequenten Verharrens in einer virtuellen Beobachterperspektive die Existenz einer auf Freiheit basierenden strategischen Binnenperspektive zuzulassen – jedoch ohne dieser in theoretischer Hinsicht größeres Gewicht beizumessen. Damit dürfte sich die Arbeitshypothese, der zufolge der Humanismusstreit sich wechselseitig konstruktiv auf die weitere gesellschaftstheoretische Entwicklung der beiden Kontrahenten ausgewirkt hat, fürs Erste bestätigt haben. Weder war die von Foucault unmittelbar nach dem Tod Sartres geäußerte Behauptung, „[…] je ne lui dois rien“,3 ganz zutreffend, noch ist Sartres auffälliges Schweigen zu Foucaults späteren Arbeiten,4 soweit er sie noch zur Kenntnis nehmen konnte, eindeutig als Ausdruck philosophischem Desinteresse zu bewerten. Es hat ganz ohne Zweifel – und dies wurde anhand der jeweiligen immanenten Theorieentwicklung zu zeigen versucht –, wenn zum

3

Mit diesem Satz soll Foucault gegenüber seinem Freund Daniel Defert im Vorfeld von Sartres Beerdigung am 19. April 1980 in Paris sein ursprünglich beabsichtigtes Fernbleiben gerechtfertigt haben. Schließlich reihte er sich aber doch in den Trauerzug zum Friedhof Montparnasse ein, an dem tausende teilnahmen. Vgl. Daniel Defert (1990): Lettre à Claude Lanzmann. In: Les temps modernes 531-533 – Témoins de Sartre, Vol. 2, 1990, S. 1201; vgl. hierzu ähnlich auch Eribon (1991), a.a.O., S. 359.

4

Vgl. Cohen-Solal (1985), a.a.O., S. 780f.

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Teil auch nur untergründig, eine wechselseitige Rezeption und produktive Verarbeitung der im Humanismusstreit ins Feld geführten gegenseitigen Kritik gegeben. Unverändert blieben hingegen die jeweiligen Weisen des methodischen Zugriffs auf gesellschaftliche Prozesse. Während Foucault konsequent in einer virtuellen Beobachterperspektive verharrt und jeweils an eine Teilnehmerperspektive gebundene historisch-spezifische Geltungsansprüche methodisch einklammert, besteht Sartre nach wie vor auf dem Vorrang eines binnentheoretischen Zugriffs, von dem jeder Versuch, einen externen Blick auf gesellschaftliche Phänomene zu werfen, zumindest abgeleitet werden und somit an Ersteren methodisch zurückgebunden bleiben muss.

Die drei Ebenen des Humanismusstreites Mit dem Gang durch die einschlägigen Werke Sartres und Foucaults war versucht worden, die im Humanismusstreit aufgetauchten strittigen Fragen um den jeweiligen methodischen Status von Subjekt und Geschichte sowohl in theoretisch-epistemologischer (1) wie in politisch-praktischer (2) und individuellexpressiver Hinsicht (3) zu rekonstruieren. Dabei ergab sich kurz zusammengefasst folgender Befund: (1) Unter theoretisch-epistemologischen Gesichtspunkten hatte sich gezeigt, dass Foucaults diskursanalytisch verfahrende Archäologie historischer Wissens- und Denkformen in der Lage ist, die erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten, mit denen eine moderne Bewusstseinsphilosophie konfrontiert ist, aus den Regelmechanismen spezifischer in der Geschichte auftauchender Diskursformationen zu erläutern. Die Begründungsproblematik des modernen Erkenntnissubjektes entsteht demnach aus der Logik des innerhalb einer historischen Episteme regierenden spezifischen Regelwerkes diskursiver Praktiken. Diese skizzieren das epistemische Feld des ‚anthropologischen Vierecks‘, innerhalb dessen das Denken der Moderne gefangen bleibt. Der geltungstheoretische Anspruch bleibt dabei bescheiden. Foucaults virtuelle Beobachterperspektive klammert nicht nur binnentheoretische Geltungsfragen auf der Ebene des Untersuchungsgegenstandes ein, sondern beansprucht auch für das eigene Verfahren, lediglich eine neutrale positivistische Beschreibung von Diskursregeln zu sein, ohne dessen Rationalität selbst begründen zu wollen. Das Geschäft rationaler Begründung wird sogar explizit verweigert. Selbst der Beobachterstandpunkt entzieht sich einer theoretischen Legitimation. Die virtuelle Außenperspektive wird lediglich in expe-

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rimenteller Absicht eingenommen. Der Weg dahin soll allerdings durch ein kontrollierbares Verfahren methodisch abgesichert und insofern transparent bleiben. Wie von Sartre zu Recht moniert, bleiben bei dieser Vorgehensweise die historischen Übergänge zwischen den einzelnen Rationalitätsregimen notwendig ungeklärt. Da ein lineares Geschichtsverständnis in der Traditionslinie von dessen praxisphilosophischem Ansatz jedoch selbst an die spezifischen Diskursregeln der modernen Episteme gebunden und insofern ausgeschlossen bleibt, kann Foucault lediglich auf ein Modell mehrdimensionaler historischer Transformationsprozesse zurückgreifen, um eine kongruente Darstellung anbieten zu können. Die daran notwendig geknüpfte Unterstellung der Wirkung unterschiedlicher Dynamiken und Kräfte erfordert jedoch zugleich, diesen zu Grunde liegende, jeweils spezifische Regelmechanismen weitgehend rekonstruieren zu können. Damit jedoch stößt der diskurstheoretische Ansatz der Archäologie an seine methodischen Grenzen. Nicht nur weil das Feld diskursiver Regeldifferenzen tendenziell unüberschaubar wird, sondern weil sich die jeweiligen Regeltransformationen nun nicht mehr notwendig innerhalb diskursiver Praktiken vollziehen müssen. Der Gedanke einer mehrdimensionalen Geschichte führt Foucault zugleich hinter den Horizont der Diskurse: in die Welt der mit ihnen verwobenen nicht-diskursiven Praktiken, die die Regelmechanismen sozialer Machtverhältnisse bestimmen. Das ‚anthropologische Viereck‘ der modernen Episteme, das Foucault aus der Beobachterperspektive beschreibt, bestimmt allerdings exakt den epistemologischen Rahmen, innerhalb dessen wiederum Sartre aus der Binnenperspektive eine transzendentale Begründung des modernen Erkenntnis- und Handlungssubjektes versucht. Zunächst über die formale Entwurfsstruktur der Handlung, die eine ontologische Fundierung der Existenz eines reflexiven Bewusstseins rechtfertigen soll, schließlich aus der Binnenlogik menschlicher Praxis, auf deren Grundlage eine dialektische Erfahrung zum Modell moderner Welt- und Selbsterkenntnis stilisiert wird. Dieses Manöver erlaubt es Sartre schließlich, dem menschlichen Subjekt nicht mehr die Last einer transzendentalen Begründung der Erkenntnis aufbürden zu müssen. Das Bewusstsein dient dem praxisphilosophischen Ansatz nur noch als methodischer Ausgangspunkt möglicher Erkenntnis, hat aber keine Begründungsfunktion mehr. Letztere soll eine in den Grenzen ihrer Gültigkeit und Reichweite bestimmte dialektische Vernunft übernehmen, die sowohl die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis wie den logischen Aufbau der historischen Realität selbst zu gewährleisten hätte. Da Sartre jedoch den Nachweis einer in den menschlichen Existenzvollzug eingebauten dialektischen Erfahrung schuldig bleibt, scheitert auch dieser Versuch einer transzendentalen Begründung der eigenen Theorie über die regressiv-analytisch verfah-

Z USAMMENFASSUNG : G ESELLSCHAFTSANALYSE UND E MANZIPATIONSTHEORIE | 587

rende Grundlagenreflexion einer Dialektik der Praxis. Ein universeller Geltungsanspruch ist damit nicht aufrechtzuerhalten. Sartres Teilnehmerperspektive bleibt weiterhin in den Aporien der modernen Episteme gefangen. Damit sind zumindest zwei geltungstheoretische Konsequenzen verbunden. Sein binnentheoretischer Ansatz kann zum einen lediglich historische Geltung beanspruchen. Für Sartres Konzeption von Geschichte bedeutet dies, dass sie zwangsläufig den diskursiven Regeln des modernen Wissens verpflichtet bleiben muss. Die Annahme eines historischen Kontinuums beinhaltet demzufolge nichts anderes als eine überhistorische Rückprojektion des modernen Denkens in die Geschichte. Die Zwangsläufigkeit, mit der sich das moderne Subjekt gerade aus der Teilnehmerperspektive in den erkenntnistheoretischen Aporien des ‚anthropologischen Vierecks‘ verfangen muss, belegt für Sartre aber zum anderen, dass Foucaults Versuch, eine Außenperspektive einzunehmen, mit den Mitteln des modernen Wissens prinzipiell zum Scheitern verurteilt ist. Aus Sartres Binnenperspektive stellt dies vielmehr das krankhafte Bestreben dar, dem modernen Zirkel der transzendentalen Reflexion scheinbar zu entrinnen, anstatt ihn mit praxisphilosophischen Mitteln zu überwinden. Der Versuch, eine externe Position einzunehmen, ist für Sartre insofern lediglich Ausdruck des pathologischen Bewusstseins einer pathologischen Gesellschaft. (2) Was die politisch-praktische Dimension der Auseinandersetzung betrifft, so konzentriert sich Foucaults Analyseverfahren im Weiteren auf die historische Abfolge gesellschaftlicher Praktiken und die darin wirkmächtigen Rationalitätsstandards. Diese begreift er als eine jeweils spezifische Verschränkung von Wissen und Macht. Die methodische Ergänzung der Archäologie durch das Verfahren der Genealogie erlaubt es zugleich, den relationalen, produktiven wie strategischen Charakter von Macht-Wissens-Komplexen in ihrer jeweiligen Historizität zu beschreiben, ohne auf systemtheoretische oder funktionalistische Implikationen zurückgreifen zu müssen. Macht fungiert dabei als Analyseraster, mit dessen Hilfe soziale Kräfteverhältnisse in der Gestalt epistemischer wie praktischer Regeln einsichtig gemacht werden sollen. Sie erhält damit eine technologische und eine strategische Seite. Jene verweist auf einen unter politischpraktischen Gesichtspunkten jeweils historischen Rationalitätstyp der Handlungsregeln, diese erlaubt es, soziale Interaktionsformen als strategisches Verhalten aufzufassen. Nicht wirklich klären kann Foucault allerdings die Frage der Genese sozialer Macht-Wissens-Komplexe. Das archäologisch-genealogische Verfahren aus der Beobachterperspektive ist offenbar nicht in der Lage, die spezifische Logik der Verkettung von Strategien zu durchdringen. Der Versuch einer rationalen Rekonstruktion mehrdimensionaler historischer Prozesse und da-

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mit der Rationalität spezifischer Selbst- und Weltverhältnisse der Subjekte aus der Beobachterperspektive stößt hier an seine Grenzen. So imposant die archäologische Beschreibung der strukturellen Mechanismen von Machtdispositiven in technologischer Hinsicht gelingt, so kläglich scheitert zunächst der Versuch ihrer Genealogie aus der Dynamik strategischer Kräfteverhältnisse über eine unter der Hand vorgenommene Ontologisierung des Konflikts. Erst mit der Umstellung des Analyserasters der Macht auf den des Regierens (Gouvernementalité) und der damit verbundenen Ausdehnung des Untersuchungsfeldes auf die den Praktiken zu Grunde liegenden historischen Problematisierungen gelingt es in Ansätzen, das strategische Verhalten von Subjekten anhand jeweils geltender Rationalitätsstandards nachvollziehbar zu machen. Der Versuch einer externen Beschreibung der Dynamik sozialer Prozesse, ohne auf die historisch daran geknüpfte binnentheoretische Geltungsproblematik sowie vorhandene Motivlagen Rücksicht nehmen zu wollen, gewinnt erst so an Plausibilität. Sartres binnentheoretischer Ansatz kann diese Schwierigkeit teilweise umgehen. Im Zentrum der von ihm konzipierten historisch-strukturellen Anthropologie steht ein praxisphilosophisch entfalteter Handlungsbegriff. Dieser wird zunächst nach dem neuzeitlichen Modell abstrakter Arbeit gemäß den Regeln einer instrumentellen Vernunft gebildet. Der Preis dafür ist allerdings, dass sich soziale Interaktionsverhältnisse im Wesentlichen lediglich unter strategischen Gesichtspunkten darstellen lassen. Die für ein anerkennungstheoretisches Verständnis intersubjektiver Beziehungen erforderliche kommunikative Dimension des Handelns bleibt weitgehend ausgeblendet bzw. tritt erst im Spätwerk in rudimentärer Form in Erscheinung. Sartre ist deshalb gezwungen, im Großen und Ganzen mit einem strategisch verkürzten Handlungsbegriff zu operieren. Dies hat zur Folge, dass die ursprüngliche Praxis des Einzelsubjektes sich notwendig als entfremdet erfahren muss. Sowohl in der Konfrontation mit den Handlungen Anderer wie angesichts der Rückwirkungen der als Resultat einer Pluralität von Handlungen aufzufassenden Struktur des sozialen Seins in Gänze (PraktischInertes) müssen dem einzelnen Handlungssubjekt gegenüber aus prinzipiellen Gründen Verdinglichungseffekte auftreten. Der Versuch, Logik und Dynamik gesellschaftlicher Prozesse strikt aus der Teilnehmerperspektive einsichtig zu machen, stößt damit ebenfalls an seine methodischen Grenzen. Die aus dem Bezugsrahmen des menschlichen Existenzvollzuges entwickelte historischstrukturelle Anthropologie ist zwar in der Lage, an die jeweiligen Motivlagen der konkret Handelnden anzuknüpfen, und ist damit zumindest unter strategischen Gesichtspunkten tendenziell befähigt, spezifische Handlungsketten aus der Logik des Konflikts zu erläutern, ohne diesen ontologisieren zu müssen, als Modell für eine rationale Rekonstruktion gesellschaftlicher Realität in ihrer Totalität

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greift sie jedoch zu kurz. Aus der sartreschen Binnenperspektive ist es ebenso wenig wie aus Foucaults Beobachterperspektive möglich, die Genese gesellschaftlicher Institutionen unter strategischen Gesichtspunkten verständlich zu machen. Sartre bleibt jedoch zugleich die Funktionsweise von Machtdispositiven notwendig verborgen. Auch der eigentlich mit diesem Verfahren verbundene Anspruch einer Analyse der bürgerlichen Gesellschaft als solcher kann somit nicht eingelöst werden. Die analytische Reichweite der historisch-strukturellen Anthropologie ist in zweifacher Hinsicht eingeschränkt: zum einen unter strukturellen Gesichtspunkten bezüglich der Logik sozialer Macht, weil die Teilnehmerperspektive die Struktur des gesellschaftlichen Seins nicht ausreichend zu durchdringen vermag, zum anderen in historischer Perspektive, weil sie mit einem erst mit der Neuzeit entstandenen abstrakten Handlungsbegriff operiert, den sie unzulässig generalisiert. (3) Das individuell-expressive Moment gewinnt bei Foucault erst spät an theoretischer Bedeutung. Die repressive Seite der Disziplinierung, die anfangs zwar noch indirekt thematisiert wird, kann streng genommen allein aus der Binnenperspektive erfahren werden. Foucault sieht sich daher schließlich gezwungen, sie konsequent auszuklammern. Erkauft wird diese theoriestrategische Entscheidung damit, dass der Prozess der gesellschaftlichen Subjektivierung nun von einem externen Standpunkt aus im Grunde nicht mehr allein als Disziplinierung im Sinne einer Unterwerfung unter eine Regel aufgefasst werden kann. Die Akzeptanz einer Regel geht mit dem Erlernen ihrer Anwendungsbedingungen einher. Subjektbildung geschieht dann ausschließlich im Vollzug der Regelanwendung durch Praktiken des Übens. Das Subjekt konstituiert sich insofern über historisch spezifische Techniken des Selbst. Es erlangt auf diesem Weg die Fähigkeit der Verhaltenssteuerung. Erlernt wird das Regieren seiner selbst und der Anderen. Dem archäologisch-genealogisch verfahrenden externen Betrachter gelingt es damit in der Tat, historische Subjektbildungen zu beschreiben, ohne auf eine mögliche Repressionserfahrung der Betroffenen zurückgreifen zu müssen. Vorausgesetzt werden muss hierfür allerdings, was der frühe Foucault lediglich auf der epistemischen Ebene als allein modernes Problem bezeichnet hatte: die Existenz einer minimalen Form von Handlungsfreiheit. Die Möglichkeit der externen Beschreibung des Verhaltens von Akteuren in den Termini historisch variierender Techniken des Selbst erfordert die Annahme einer überhistorischen, wenn auch nur minimal ontologisch zu verankernden Freiheit der Akteure. Damit wird jedoch unklar, ob Freiheit weiterhin als eine am Ende einer langen Genealogie auftauchende Qualität aufgefasst werden kann, auf der allein das Selbst- und Weltverhältnis des modernen Handlungssubjektes basiert, oder ob diese nicht

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doch nur als die historische Variation einer überhistorischen Entität zu verstehen wäre. Das würde jedoch bedeuten, dass Foucaults Versuch einer radikalen Historisierung der Kategorien des Wissens und des Handelns an seine methodischen Grenzen stieße. Denn er wäre dann möglicherweise selbst dazu gezwungen, minimale Anleihen bei einer zumindest formalen philosophischen Anthropologie zu machen. Der Weg zu Sartres explizit moderner historisch-struktureller Konzeption wäre dann nicht mehr allzu weit. Aus Sartres virtueller Teilnehmerperspektive stellt sich Foucaults Problem einer ontologisch fundierten Freiheit freilich umgekehrt. Aus der Sicht einer konkreten historischen Person wird der gesellschaftliche Prozess der Subjektivierung sehr wohl als Repression erfahren. Die Unterwerfung des Einzelnen unter eine vorgegebene symbolische Ordnung, die ihn überhaupt erst befähigt, sich zu sich zu verhalten, wird als schmerzhafter Prozess fremdbestimmter Subjektkonstitution und Personalisation erlebt. Sartre versucht die Genese des Welt- und Selbstverhältnisses einer konkreten Person mit den Mitteln einer phänomenologisch operierenden Hermeneutik von innen zu rekonstruieren. Die konkrete Erfahrung von Repression wird so quasi zur binnentheoretischen Kehrseite spezifischer gesellschaftlich verordneter Techniken des Selbst. Damit sind jedoch zwei methodische Probleme gestellt: Was wird innerhalb des Prozesses der Subjektivierung eigentlich unterdrückt? Und welcher theoretische Status ist einer angenommenen Handlungsfreiheit der Subjekte zuzuschreiben? Sartre versucht diese Schwierigkeiten dadurch zu beheben, dass er die hermeneutische Hilfskategorie des Erlebten (le vécu) einführt. Damit kann der methodische Zugriff auf die Erfahrungswelt einer konkreten Person abgesichert werden, ohne ein substanzielles Ich setzen zu müssen. Die Phänomenologie des Erlebten erlaubt es ihm, den Reflexionszirkel des Bewusstseins zu unterlaufen. Zugleich kann er sich auf die Beschreibung erlebter Repressionsphänomene zurückziehen, die eine konkrete historische Person protokolliert, indem sie sich im Vollzug ihres Selbst- und Weltverhältnisses als fremd erfährt. Entfremdung findet damit auf der Ebene des subjektiv Erlebten statt. Der Preis dafür ist allerdings, dass das Subjekt endgültig aus einer gesellschaftstheoretischen Begründungsfunktion entlassen wird. Die historisch-strukturelle Anthropologie büßt damit weiter an diagnostischem Potenzial für die Gesellschaftsanalyse ein. Historische Weisen der Subjektivierung lassen sich so zwar auf der Folie konkreter Repressionserfahrungen als pathologisch deuten, der Anspruch, allein auf diesem Weg die Pathologie einer Gesellschaftsformation nachzuweisen, erscheint jedoch wenig aussichtsreich. Zugleich reduziert sich damit der Status der Freiheit innerhalb von Sartres Praxisphilosophie erneut. Ihre ontologische Setzung dient nunmehr allein der Erläuterung der Bedingungen der Möglichkeit minimaler Abweichung von der vorgegebenen

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symbolischen Ordnung innerhalb des Prozesses der Subjektivierung. Sie kann damit jedoch allein noch als theoriestrategischer Ausgangspunkt dienen, von dem her eine Perspektive der Befreiung zu entwickeln wäre.

Theorie der Gesellschaft Für das Programm einer kritischen Gesellschaftstheorie hat die Methodenreflexion der beiden Zugangsweisen folgende geltungstheoretische Konsequenzen: Sowohl Foucaults archäologisch-genealogisches Verfahren aus der Beobachterperspektive als auch ein an Sartres phänomenologischer Hermeneutik geschulter Zugriff aus der Teilnehmerperspektive sind gezwungen, den Anspruch rationaler Begründung einer Strukturlogik des sozialen Seins aufzugeben. Anders als etwa eine aus der marxschen Tradition sich verstehende Gesellschaftstheorie, die darauf abzielt, die Bewegungsgesetze der kapitalistischen Warenproduktion zu durchdringen, um von dort her Logik und Dynamik sozialer Prozesse rekonstruieren zu können, verzichtet Foucault von vornherein auf jeglichen Begründungsanspruch der eigenen Theorie. Aufgrund der Verweigerung systemtheoretischer oder funktionalistischer Anleihen kann sich der Gesellschaftsanalytiker in der Konsequenz nur noch auf das Geschäft rein positivistischer Beschreibung sozialer Prozesse aus einer Beobachterperspektive zurückziehen. Ebenso wenig gelingt es jedoch Sartre, obwohl er dies ausdrücklich mit kritischem Bezug auf Marx für sich beansprucht, aus einer Teilnehmerposition heraus eine Logik sozialer Machtverhältnisse zu entfalten. Die der Praxis des Subjekts im Zuge der historisch-strukturellen Anthropologie ursprünglich zugedachte Rolle einer transzendentalen Begründung muss schließlich aufgegeben werden. Was bleibt, ist die spezifische Zugangsweise seiner Gesellschaftstheorie über die konkrethistorische Erfahrung sozialer Akteure aus der Binnenperspektive. Beide Theorietypen können insofern für das Unternehmen der Gesellschaftsanalyse lediglich eine heuristische Funktion für sich in Anspruch nehmen. Diese speist sich wiederum aus dem jeweils spezifischen radikalen Perspektivismus der beiden Analyseverfahren. Während Foucaults Beobachterperspektive gezielte experimentelle Verfremdungseffekte intendiert, um auf diesem Weg eine kritische Distanz auf das Bestehende möglich zu machen, vollzieht Sartre den Schwenk hin zur subjektiven Erfahrung desselben aus einer konkreten Teilnehmerposition heraus. Beide Perspektiven müssen vor diesem Hintergrund als explizit virtuell verstanden werden. Foucaults externer Beobachterstatus ist nur mit erheblichem methodologischen Aufwand zu erreichen und nur mit seinem archäologischen und genealogischen Instrumentarium im Gepäck überhaupt theo-

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retisch legitimierbar. Sartres Sicht von innen auf die spezifische Erfahrung eines konkreten Anderen bedarf um nichts weniger einer strengen methodologischen Absicherung über eine phänomenologisch verfahrende Hermeneutik. Der gesellschaftsanalytisch zu erwartende Ertrag beider Zugangsweisen besteht insofern zunächst darin, jeweils einen kritisch-distanzierenden Blick auf das Vertraute zu eröffnen. Foucaults Verfremdungseffekte lassen die Welt- und Selbstverhältnisse der gesellschaftlichen Subjekte in ihrer Historizität – und das bedeutet in ihrer Gewordenheit und damit zugleich in ihrer prinzipiellen Veränderbarkeit – erscheinen. Sartres Rekonstruktion einer konkret erlebten Erfahrung kann derweil eine kritische Sicht auf die individuellen Auswirkungen sozialer Machtverhältnisse provozieren. Beiden Zugangsweisen ist gemein, dass sie aufgrund eines ausfallenden Begründungsprogramms nicht nur eine radikale Historisierung bestehender gesellschaftlicher Geltungsansprüche vornehmen müssen, sie kommen damit zugleich nicht umhin, sämtliche normativen Ressourcen zur Rechtfertigung einer kritischen Theorie der Gesellschaft einer konsequenten Kontextualisierung zu unterziehen. Welchen Beitrag können also die beiden Kontrahenten für eine kritische Gesellschaftstheorie in gesellschaftsanalytischer wie emanzipationstheoretischer Hinsicht leisten? Um dies in Ansätzen umreißen zu können, erscheint es hilfreich, abschließend einen kurzen Blick auf die der jeweiligen Forschungsstrategie zu Grunde liegenden metatheoretischen Entscheidungen zu werfen. Denn damit wird der gesellschaftstheoretische Rahmen abgesteckt, innerhalb dessen die Wahl des jeweiligen Theoriedesigns erfolgt. Die von Habermas vorgeschlagene Klassifizierung sozialwissenschaftlicher Theorietypen anhand dieser Vorentscheidungen kann dazu dienen, zumindest stichwortartig zu klären, welcher Begriff von Gesellschaft jeweils vorliegt.5 Habermas zufolge basieren kategorialer Rahmen wie Konzeptualisierung des Gegenstandsbereichs eines gesellschaftstheoretischen Ansatzes im Wesentlichen auf den drei begriffsstrategischen Entscheidungen, ob Sinn als theoretischer Grundbegriff zugelassen ist oder nicht (1), ob intentionales Handeln dabei zweckrational oder kommunikativ konzipiert ist (2) und ob das Theorieprogramm einen elementaristischen oder einen holistischen Ansatz verfolgt (3).6

5

Ich folge weitgehend der Klassifikation von Habermas. Vgl. Jürgen Habermas (1970/71): Vorlesungen zu einer sprachtheoretischen Grundlegung der Soziologie. In: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1984, S. 11ff.

6

Vgl. ebd.

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(1) Sinn, das hat sich insbesondere unter theoretisch-epistemischen und politisch-praktischen, ja selbst noch unter individuell-expressiven Gesichtspunkten gezeigt, ist die Schlüsselkategorie, anhand der sich die Forschungsansätze von Sartre und Foucault grundlegend unterscheiden. Denn mit der begriffsstrategischen Entscheidung, ob Sinn ein theoretischer Status zugesprochen wird, ist letztendlich dreierlei verknüpft: ob soziale Phänomene als Verhalten oder Handeln aufgefasst werden; ob die Intention des wissenschaftlichen Zugriffs ist, jene zu beobachten oder zu verstehen; und schließlich, was den mit der jeweiligen Wahl der Theoriesprache erhobenen Anspruch angeht, ob eine zumindest hypothetische Nachkonstruktion der den Handlungen zu Grunde liegenden Regeln intendiert und somit ein quasi essentialistischer Anspruch erhoben wird, oder ein nomologisches Aussagesystem lediglich konventionell eingeführt wird, um beobachtbare Regelmäßigkeiten im Objektbereich zu protokollieren. Wenn nun Handeln als intentionales Verhalten aufgefasst wird, dann lässt sich dieses als normengeleitet und regelorientiert konzipieren. Dies setzt ein Sinn verstehendes, das heißt den semantischen Gehalt einer Norm oder einer Regel und den darin erhobenen Geltungsanspruch erfassendes Handlungssubjekt voraus. Im Gegensatz dazu lassen sich Regelmäßigkeiten eines nicht-intentionalen Verhaltens von außen induktiv verallgemeinernd, qua Beobachtung beschreiben. Wie sich nun gezeigt hat, operiert Sartre durchgängig mit der Unterstellung von Sinn. Der Handlungsbegriff steht im Vordergrund und ist die zentrale Kategorie, um subjektives Verhalten intentional zu begreifen. Sinnverstehen soll über den binnentheoretischen Zugriff auf Intentionen einzelner Akteure erfolgen. Zumindest der späte Sartre zielt dabei über seinen Praxisbegriff auf eine Nachkonstruktion handlungsleitender Regelsysteme ab. Die Grundbegriffe dafür sollen aus dem Selbstverständnis der Handelnden entwickelt werden, um darüber die Tiefenstruktur des Regelzusammenhangs frei zu legen. Vom Anspruch her ist Sartres Verfahren insofern im habermasschen Sinne als „essentialistisch“ zu bezeichnen.7 Foucault hingegen, jedenfalls was das Frühwerk betrifft, schließt, wie gesehen, die Kategorie des Sinnes sowohl auf der Ebene des Untersuchungsgegenstandes wie als konstitutives Moment des eigenen Theorieprogramms von vornherein aus. Die virtuelle Beobachterposition kann Handeln daher streng genommen lediglich als Verhalten und dessen Regelhaftigkeiten damit nur im Sinne von Regelmäßigkeiten registrieren. Der Anspruch an die Theoriesprache ist demzufolge nicht essentialistisch. Sowohl das diskursanalytische wie das machtanalytische Verfahren basieren auf einem radikalen Nominalismus, was eine rein konventionalistische Theoriesprache erfordert. Foucaults Ansatz

7

Vgl. ebd., S. 18f.

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wäre daher nach Habermas dem Typus einer „streng verhaltenswissenschaftlichen Theorie“8 zuzuordnen. Allerdings, und dies muss hier einschränkend betont werden, widersetzt sich das foucaultsche Unternehmen dieser Einteilung partiell – nicht nur weil er sich, wie gezeigt, im Laufe seiner Theorieentwicklung, vermittelt über seinen Strategiebegriff, notgedrungen auf die Teilnehmerperspektive zubewegt sondern vor allem, weil bereits die Diskursanalyse die Existenz von Sinn nicht kategorisch negiert, sondern lediglich als nicht theorierelevant bzw. theoriefähig einklammert. Insofern beabsichtigt Foucault, zumindest was sein theoretisches Selbstverständnis angeht, gerade mehr als nur Regelmäßigkeiten feststellen zu können. Er will im Grunde ohne Rückgriff auf die Kategorie des Sinnes über Regelmäßigkeiten hinaus die jeweiligen Funktionsweisen diskursiver wie nicht-diskursiver Regelmechanismen beschreiben. (2) Beide Kontrahenten operieren unter der Hand weitgehend mit einem zweckrationalen Verständnis von Handlungen. Die Dimension eines kommunikativen, verständigungsorientierten Handelns bleibt ausgeblendet. Interaktionsverhältnisse können somit nicht als generell regelgeleitete, wechselseitige Ja/NeinStellungnahmen gegenüber geäußerten Geltungsansprüchen interpretiert, sondern lediglich verkürzt innerhalb einer Strukturlogik des Kampfes dargestellt werden. So hatte sich anhand der Rekonstruktion von Sartres Praxisbegriff erwiesen, dass dieser Interaktionsverhältnisse lediglich unter strategischen Gesichtspunkten fassen kann. Erst im Spätwerk tauchen Rudimente intersubjektiver Beziehungen auf, die auf ein kommunikatives Handlungsverständnis hindeuten. Eine theoretische Grundlegung findet allerdings nicht mehr statt. Ebenso kann Foucault, was die strategische Komponente seiner Machtanalytik angeht, Interaktionen von außen allein als konfligierende Kräfteverhältnisse beschreiben. Konsens erscheint dann lediglich als die einseitig strategisch erzwungene Stillstellung des Konflikts. Damit bleibt ihm aber ebenso wie Sartre der spezifische, an wechselseitig anerkannten Normen orientierte Charakter von Handlungen verborgen. Sie müssen notgedrungen unter das Format zwangsläufig zu erlernender, durch eine äußere Objektivität vorgegebener Regeln subsumiert werden, denen sich erfolgsorientiertes, zweckrationales Handeln zu unterwerfen hat. (3) Bei der dritten, für den Typus von Gesellschaftstheorie grundlegenden begriffstrategischen Entscheidung stehen sich die beiden wieder klar gegenüber. Sartres beim Individuum ansetzendes Vorgehen reiht ihn eindeutig in die Tradition einer elementaristischen Konstitutionstheorie der Gesellschaft ein. Dies be-

8

Vgl. ebd., S. 17.

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deutet, dass er gezwungen ist, sämtliche sozialen Phänomene aus der Perspektive der einzelnen Handlungssubjekte einsichtig zu machen. Überindividuelle gesellschaftliche Entitäten wie Rollen, Institutionen, Wertsysteme oder Traditionen müssen allein über die Verkettung individueller Handlungen rekonstruierbar sein.9 Auf welche konzeptionellen Schwierigkeiten Sartre damit stößt, wurde versucht zu zeigen. Foucault wiederum nähert sich in seinen Arbeiten schon bald einem holistischen Gesellschaftsbegriff an. Sein archäologisch-genealogischer Ansatz kann soziale Strukturen nur unter Bezug auf überindividuelle Ensembles und Regelsysteme fassen, die jedoch unabhängig von den Handlungssequenzen der Individuen und einem von ihnen vermeintlich unterstellten Sinn funktionieren. Nicht transparent werden konnte auf diesem Weg allerdings eine mögliche Logik der Dynamik sozialer Prozesse. In der habermasschen Systematik würde Foucaults holistischer Ansatz – wenn auch aufgrund dessen ausdrücklicher Distanzierung von funktionalistischen und systemtheoretischen Verfahren nicht ganz gerechtfertigt – unter die Systemtheorien subsumiert. Da Foucault zwar historische Veränderung, jedoch nicht Entwicklung als kategorial-analytischen Begriff zulässt, liegt es nahe, ihn einer radikal historisierten Variante poststrukturalistischer Provenienz zuzuordnen.10 Ungeachtet der methodischen Schwierigkeiten, die die Diskussion beider Ansätze aufgewiesen hat, für die hier verfolgte Ausgangsfrage nach der gesellschaftsanalytischen Relevanz bleibt zumindest so viel festzuhalten: Beiden Verfahren gelingt es, die bei Habermas zunächst aus analytischen Gründen getroffene, aber schließlich auch auf die Ebene des Untersuchungsgegenstandes projizierte Trennung von System und Lebenswelt zu unterlaufen. Foucaults mit Habermas als

9

Vgl. ebd., S. 23f.

10 Vgl. die tabellarische Einteilung ebd., S. 29. Während Sartres gesellschaftstheoretischer Ansatz sich in das Schema der „Erzeugungstheorien der Gesellschaft“ eindeutig als „elementaristische Konstitutionstheorie“ mit zugelassener „geschichtlicher Entwicklung der Konstituentien“ unter der Rubrik „marxistische Phänomenologien“ einordnen lässt, ist Foucaults Ansatz hier streng genommen noch nicht vorgesehen. Da Habermas historische Veränderung ausschließlich als Entwicklung fasst, wäre die radikale Historisierung einer poststrukturalistischen Gesellschaftstheorie wohl unter der Rubrik „holistisch“ verfahrender „Systemtheorien“ zwischen den Abteilungen „Strukturalismus“ und „Systemtheorie gesellschaftlicher Entwicklung“ gesondert mit der Kennzeichnung ‚geschichtliche Veränderung der Konstituentien zugelassen‘ einzutragen.

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„objektivistisch“ zu beurteilendes Theorieprogramm11 aus der Beobachterperspektive verfolgt einerseits das Anliegen, den Durchgriff gesellschaftlicher Regelsysteme bis in die kleinsten Verästelungen individuellen Verhaltens beschreiben zu können, andererseits aber deren Funktionsmechanismen, inklusive derjenigen der über die Medien Geld und Macht gesteuerten Subsysteme, in ihrer Historizität und damit zugleich in ihrer prinzipiell multiplen Veränderbarkeit zu skizzieren. Sartres entsprechend als „subjektivistisch“ zu verstehende Konstitutionstheorie der Gesellschaft erläutert derweil den systemischen Durchgriff auf der individuellen Erfahrungsebene. Gleichzeitig intendiert er, sämtliche Mechanismen sozialer Macht aus der Verkettung der Pluralität individueller Handlungen rekonstruieren zu können, womit ebenfalls deren prinzipielle Modifizierbarkeit, wenn nicht gar die Möglichkeit einer Außerkraftsetzung und Neukonstitution sozialer Regelmechanismen unterstellt ist. Aussichtsreich für eine zeitgemäße Gesellschaftstheorie sind beide Ansätze allerdings nur, wenn die aufgezeigten Defizite sich dadurch beheben ließen, dass beide Verfahren plausibel miteinander verknüpft werden könnten. Der foucaultsche Zugriff aus der Beobachterperspektive musste, wie gezeigt, aus methodischen Gründen, eine plausible Erklärung sozialer Dynamiken schuldig bleiben, Sartres Theorieprogramm war insofern an seine analytischen Grenzen gestoßen, dass die Binnenperspektive nicht ausreichte, um die systemische Logik sozialer Regelsysteme wirklich durchdringen zu können. Da sich beide Kontrahenten im Verlauf ihrer Theorieentwicklung sichtlich aufeinander zubewegten – Foucault muss zumindest ein sinnorientiertes, freies Handlungssubjekt, wenn auch nicht als theoriefähig, so doch zumindest als existent unterstellen; Sartre kann ohne Unterstützung über den systemischen Zugriff aus der Außenperspektive die von ihm angepeilte gesellschaftliche Totalität nicht im Ansatz umreißen –, erscheint eine entsprechende Ergänzung durch die jeweilige Gegenposition ohnehin gefordert. Durchführbar dürfte dies allerdings nur sein, wenn es gelänge, an derjenigen Stelle, wo sich die Ansätze partiell berühren, nämlich dem ungeklärten Problem, die Logik der Verkettung von Strategien einsichtig zu machen, auf beiden Seiten eine metatheoretische Modifikation vorzunehmen. Einerseits hatte sich gezeigt, dass Foucault mit seinem Strategiemodell unweigerlich auf die Handlungsebene driftet, andererseits hatte Sartre Praxis weitgehend als strategisches Handeln konzipiert. Bei beiden bleibt die kommunikative Dimension des Handelns notwendig ausgeblendet. Sartre handelt sich so das Problem ein, dass er dadurch gezwungen ist, soziale Phänomene weitgehend allein unter dem Aspekt der Verdinglichung zu beschreiben, woran im Grunde auch seine Konzeption der Binnendynamik der aus

11 Vgl. ebd., S. 19.

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einzelnen monadischen Handlungssubjekten sich aufbauenden Gruppe scheitert. Der kühle Beobachter Foucault wiederum musste sich indirekt die Unmöglichkeit eingestehen, mit seinen methodischen Mitteln die Entstehung kollektiver Handlungszusammenhänge zu begreifen. Exemplarisch zeigte sich das, als er 1978 Zeuge der Revolution im Iran wurde. Mit offensichtlichem Erstaunen berichtete er von einem „absolut gemeinschaftlichen Willen“, der sich mit den Protestierenden in den Straßen von Teheran manifestierte.12 Zumindest eine partielle Lösung für beide Schwierigkeiten zeichnet sich ab, sobald kollektive Handlungen sowohl unter strategischen wie unter kommunikativen Aspekten analysiert werden. Handlungen lassen sich dann sowohl in erfolgsorientierter wie verständigungsorientierter Hinsicht als regelgeleitet fassen. Dies hat den Vorteil, dass die jeweils zu Grunde liegenden Regelsysteme weder aus einem instrumentell-strategisch gedachten Selbst- und Weltverhältnis einer radikalen Subjektivität konzipiert werden müssen noch als über den einzelnen Akteuren schwebende abstrakte epistemisch-praktische Machtdispositive. Es handelt sich dann um Systeme intersubjektiv anerkannter Normen, auf deren jeweiliger Basis die pragmatische Erzeugung eines historisch-spezifischen Sinnes überhaupt erst möglich wird. Die Konsequenzen für beide Theorieprogramme, die an dieser Stelle nur noch kurz angedeutet werden sollen, sind folgende: Für Sartre wäre damit eine theoretische Fundierung seiner partiell bereits intersubjektiv operierenden Methode, wie sie zumindest ansatzweise im Spätwerk versucht wird, denkbar. Dies würde es ihm einerseits ermöglichen, intersubjektive Anerkennungsverhältnisse nicht mehr allein unter dem Blickwinkel einer von Verdinglichung bedrohten Subjektivität interpretieren zu müssen, andererseits eröffnete sich ihm damit die Perspektive auf die kommunikative Dimension der von ihm nahezu ausschließlich als praktisch-inert gefassten sozialen Welt. Ein

12 Vgl. Michel Foucault (1979): Der Geist geistloser Zustände (L’esprit d’un monde sans esprit. In: Pierre Blanchet/Claire Brière (Hg.), Iran: la révolution au nom de Dieu, Paris, S. 227-241); hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 3, S. 933ff. Vgl. auch die einleitende Passage eines Artikels über die Vorgänge im Iran in der Tageszeitung „Le Monde“, wo Foucault schreibt: „Die Bewegung, in der ein einzelner Mensch, eine Gruppe, eine Minderheit oder ein ganzes Volk sagt: ‚Ich gehorche nicht länger’ und einer als ungerecht empfundenen Macht unter Lebensgefahr entgegentritt – diese Bewegung scheint mir nicht erklärbar zu sein. Weil keine Macht sie jemals vollständig unmöglich zu machen vermag“ (Michel Foucault (1979a): Nutzlos, sich zu erheben (Inutile de se soulever? In: Le Monde 10661, 11./12. mai 1979, S. 1-2); hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 3, S. 987); vgl. hierzu auch ausführlicher: Lemke (1997), a.a.O., S. 316ff.

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die gegenseitige Rollenübernahme innerhalb von Interaktionsverhältnissen berücksichtigender theoretischer Zugriff auf soziale Regelformationen könnte ihm zudem einen Ausweg aus der binnentheoretischen Sackgasse skizzieren, was die methodische Reichweite seiner Gesellschaftsanalyse erheblich ausdehnen könnte. Der Weg wäre frei für ein holistisches Gesellschaftsverständnis. Denn die Funktionsweise sozialer Systeme wäre dann zumindest versuchsweise über die Logik intersubjektiv angewandter Regeln rekonstruierbar. Spiegelverkehrt gilt für Foucault: Die Berücksichtigung pragmatischer Sinnproduktion auf der Grundlage intersubjektiv anerkannter Regeln brächte es nicht nur mit sich, dass gesellschaftliche Machtkonstellationen nicht allein als strategische Kräfteverhältnisse beschrieben werden müssten. Sie ließen sich zugleich als auf normativen Regeln fußende Interaktionsbeziehungen fassen, in denen gegenseitige Anerkennung unterstellt bzw. bei ungleicher Machtverteilung gegebenenfalls Formen von Missachtung praktiziert werden. Damit träten potenziell repressive Aspekte von Interaktionsbeziehungen wieder in Erscheinung. Die Konsequenz wäre freilich eine partielle Berücksichtigung historisch-spezifischer Binnenperspektiven. Dies hätte zumindest den Vorteil, dass soziale Dynamiken nicht mehr allein, wie aus einer strikten Beobachterperspektive, von ihrem sachlichen Resultat her retrospektiv durch die methodische Extrapolation historischer Brüche erläutert werden müssten, sondern unter Umständen bereits im Prozess ihrer Entstehung und Entfaltung verstanden werden könnten. Unterm Strich lässt sich also Folgendes festhalten: Eine Integration der kommunikativen Dimension des Handelns erscheint für beide Theorieprogramme durchaus denkbar, ohne auf die spezifischen Vorzüge der jeweiligen methodischen Vorgehensweisen verzichten zu müssen. Zumindest unter forschungsstrategischen Gesichtspunkten könnte dies beiden Ansätzen ein methodologisches Instrumentarium an die Hand geben, um die jeweilige gesellschaftsanalytische Reichweite zu vergrößern, weil es dadurch prinzipiell möglich würde, von der Beobachterperspektive auf die Teilnehmerperspektive und vice versa umzuschalten.

Der Status der Kritik Gesellschaftsanalyse ist das eine, Theorie der Emanzipation ist das andere, was ein Forschungsprogramm, das sich in der Tradition einer kritischen Theorie der Gesellschaft versteht, zu sein hätte. Was den emanzipationstheoretischen Gehalt der beiden Ansätze betrifft, so muss der Ertrag im Falle Foucaults freilich recht bescheiden ausfallen, liegt doch jegliches emanzipatorische Anliegen in epistemischer wie praktischer Hinsicht auf der jeweiligen Geltungsebene, die aus einer

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virtuellen Beobachterposition zwingend einzuklammern ist. Fragen emanzipatorischer Praxis stellen sich demzufolge, wenn überhaupt, dann lediglich aus der nicht theoriefähigen Teilnehmerperspektive des politischen Alltagsgeschäfts. Im Gegensatz dazu freilich stattet Sartre seine binnentheoretisch entfaltete Praxisphilosophie von vornherein mit einer Perspektive der Befreiung aus. Deren Tragfähigkeit für eine Theorie der Emanzipation erscheint allerdings, wie sich oben bereits abzeichnete, nicht sonderlich solide. Der forschungsstrategische Stellenwert beider Ansätze für eine Theorie der Emanzipation lässt sich knapp umreißen, indem man sich die beiden wesentlichen und zugleich durchaus ehrgeizigen Anforderungen vergegenwärtigt, wie sie an ein Theorieprogramm in der Tradition der Kritischen Theorie gestellt sind. Eine Theorie der Emanzipation müsste demnach zum einen die historisch-strukturellen Bedingungen individueller wie gesellschaftlicher Befreiung aufzeigen. Das Geschäft der Gesellschaftsanalyse besteht damit nicht allein darin, die Funktionslogik sozialer Systeme zu rekonstruieren, ihr fällt zugleich die Aufgabe zu, darin „Momente innerweltlicher Transzendenz“ auszumachen. Diese müssten sich in einem außertheoretisch verankerten, empirischen Interesse oder einer moralischen Erfahrung innerhalb der sozialen Wirklichkeit derartig niederschlagen, dass sie mit den normativen Maßstäben einer emanzipatorischen Kritik korrespondieren.13 Zum anderen hätte die Theorie zumindest eine Zielperspektive möglicher Befreiung anzudeuten, freilich nicht im Sinne einer inhaltlich qualifizierten, substanziell ausgemalten Utopie, sondern indem sie einen formalen Aufriss der „sozialen Voraussetzungen der menschlichen Selbstverwirklichung“ skizziert.14 Beide Anforderungen werden nicht nur von Foucault, sondern auch von Sartre kaum erfüllt. Foucaults Selbstverständnis gemäß, kann sein Theorieprogramm nur insofern einen praktischen Niederschlag finden, dass sein Diskurs beim Adressaten eine kritische Distanzierungsbewegung vom alltäglich Vertrauten provoziert und dieses in seiner historischen Gewordenheit und Veränderbarkeit erfahrbar macht. Die politisch-praktische Wirkung der historischen Ontologie der Gegenwart besteht somit darin, dass sie Selbstreflexionsprozesse unterstützt. Ihr kommt insofern eine Art Aufklärungsfunktion zu. Damit wird sie zugleich – und das ist der politische Sinn der berühmten Rede von der Theorie als ‚Werkzeugkiste‘ – zu einem möglichen analytisch-praktischen Instrument für die Politik

13 Vgl. hierzu Axel Honneth (1994): Die soziale Dynamik von Mißachtung. Zur Ortsbestimmung einer kritischen Gesellschaftstheorie. In: ders., Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie, Frankfurt/M. 2000, S. 88ff. 14 Vgl. Axel Honneth (1994a): Pathologien des Sozialen. Tradition und Aktualität der Sozialphilosophie. In: ders., Das Andere der Gerechtigkeit, a.a.O., S. 58.

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sozialer Bewegungen. Erst wenn dies der Fall ist, erlangt die philosophische Kritik objektiven Halt in der Realität vorwissenschaftlicher Praxis. Damit ist aber auch klar, dass ein Ziel möglicher Emanzipation immer nur von den Akteuren selbst formuliert werden kann. Eine normative Rechtfertigung faktischer Geltungsansprüche ist allein aus dem jeweiligen historischen Kontext möglich. Ein externes Kriterium zur rationalen Begründung entsprechender Ansprüche kann die Theorie nicht liefern. Insofern kann Foucaults Forschungsprogramm zu einer Theorie der Emanzipation nicht mehr als deren ontologische Voraussetzung beisteuern. Die sind freilich für Sartre ohnehin ausgemacht. Sein binnentheoretischer Ansatz intendiert gerade unter solchen ontologischen Voraussetzungen einen möglichen Zustand gelungener Emanzipation, auf den eine sich im individuellen Existenzvollzug manifestierende fundamentale Freiheit tendenziell zutreibt. Allerdings muss auch bei Sartre wie bei Foucault offenbleiben, wer der soziale Träger der Theorie sein könnte. Der Grund ist freilich ein anderer. Während sich für Foucault dieses Problem auf der Theorieebene erst gar nicht stellt, muss Sartre eine Antwort auf die Frage nach dem gesellschaftlichen Korrelat der Emanzipationstheorie aufgrund seines defizitären Verständnisses der Funktionsweise sozialer Machtmechanismen zwangsläufig schuldig bleiben. Adressaten der Theorie sind prinzipiell alle Handlungssubjekte, die in irgendeiner Form Repression erfahren. Das Anliegen auf gesellschaftliche Befreiung erweist sich dadurch jedoch als merkwürdig abstrakt. Die normative Begründung möglicher emanzipatorischer Praxis erfolgt nicht etwa ex negativo anhand realer Missachtungsbzw. Repressionserfahrungen – die Analyse von Flauberts Subjektivierung ließ wenig Spielraum für konkrete Ansprüche auf eine mögliche Befreiung vom Joch der epistemischen und praktischen Disziplinierung der bürgerlichen Gesellschaft im Frankreich des 19. Jahrhunderts –, sie wird allein auf der Grundlage einer sozialontologischen Konzeption von Entfremdung entfaltet. Damit ist Sartre aber ebenso wenig wie Foucault in der Lage, auch nur minimale normative Kriterien für ein – wenn auch nur unter historisch-relativem Vorbehalt – denkbares Modell guten Lebens anzugeben. Emanzipation steht bei Sartre lediglich als abstrakte Chiffre am Horizont einer in aller bisherigen Geschichte unaufhebbaren fundamentalen Entfremdung menschlicher Freiheit. Ein unentfremdetes Dasein ließe sich lediglich in einem radikalen Bruch mit dem Bestehenden erahnen. Die Voraussetzungen hierfür kann Sartre nur formal angeben. Emanzipation wäre dann aber entweder die Übernahme der Zerrissenheit der individuellen Existenz im Zuge aufklärender Selbstreflexion – dies wäre das Modell des frühen Sartre von „L’être et le néant“ – oder sie müsste in Gestalt einer quasi regulativen Idee als Zielmarke einer sich in historischer Stufenfolge vollziehenden Prozesslogik ver-

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standen werden, an deren hypothetischem Ende die Überwindung des Entfremdungszustandes stünde.15 Letzteres entspräche der praxisphilosophischen Konzeption der „Critique de la raison dialectique“. Beide Ansätze weisen, wie sich zeigt, in ihrer gesellschaftsanalytischen Komponente nahezu komplementäre Ausfallerscheinungen auf, mit Blick auf das emanzipatorische Interesse kritischer Gesellschaftstheorie können Sartre wie Foucault zudem nur begrenzt etwas beitragen. Sowohl Foucaults archäologischgenealogischer Zugriff auf die historisch-soziale Welt aus einer externen Beobachterposition wie Sartres phänomenologisch geschulte Hermeneutik aus der Binnenperspektive liefern jedoch spezifische Modelle einer Gesellschaftskritik, die sich zumindest für die Diagnose sozialer Pathologien fruchtbar machen ließen. Beide Modelle sperren sich allerdings gegen die in der Sozialphilosophie mittlerweile weitgehend gängige Unterscheidung zwischen externer und interner Gesellschaftskritik.16 Michael Walzer, der diese Differenzierung starkgemacht hat, klassifiziert bekanntlich drei Formen der Gesellschaftskritik: Entdeckung, Erfindung und Interpretation.17 Mit Entdeckung sind Kritikverfahren in weitgehend platonischer Tradition gemeint, die aus der Erfahrung religiöser oder kognitiver Evidenzen schöpfen, der sich bislang in der sozialen Lebenswelt verborgen gebliebene, auf Prinzipien oder Ideale zurückzuführende, allgemein verbindliche Werte offenbaren. Erfindung nennt Walzer alle Begründungsverfahren der Kritik, die auf Modellen rationaler Konstruktionen basieren, mit deren Hilfe sich universelle Geltung beanspruchende Normen rechtfertigen lassen, die in letzter Instanz als externer Maßstab zur Bewertung der sozialen Welt dienen sollen. Als Interpretation bezeichnet er schließlich sein eigenes Modell einer kreativen Hermeneutik, die den Maßstab der Kritik über die Rekonstruktion der kulturell vorgegebenen Werte einer historisch und lokal existierenden Gesellschaft gewinnt, indem sie jene neu erschließt. Im Gegensatz zur Entdeckung und Erfindung (Konstruktion), die beide eine Distanz vom kritisierten Gegenstand voraussetzen und insofern unter den Typus „externer Kritik“ zu subsumieren sind,18

15 Beide Emanzipationsmodelle haben innerhalb der marxistischen Theorie Tradition. Vgl. hierzu Albrecht Wellmer (1986): Über Vernunft, Emanzipation und Utopie. Zur kommunikationstheoretischen Begründung einer kritischen Gesellschaftstheorie. In: ders., Ethik und Dialog. Elemente des moralischen Urteils bei Kant und in der Diskursethik, Frankfurt/M., S. 180ff. 16 Vgl. Michael Walzer (1987): Kritik und Gemeinsinn. Drei Wege der Gesellschaftskritik, Frankfurt/M. 1993, S. 46ff. 17 Vgl. ebd., S. 11ff. 18 Vgl. ebd., S. 46.

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will Walzer sein Verfahren der Interpretation (Rekonstruktion) als interne bzw. „immanente Kritik“ verstanden wissen.19 Was das foucaultsche Theorieprogramm angeht, wurde auf die Unzulänglichkeiten dieser Unterscheidung in der Forschungsliteratur hingewiesen.20 Das von Foucault vorgeführte Verfahren einer archäologisch-genealogischen Kritik entzieht sich trotz der eingenommenen Beobachterperspektive von einem virtuell externen Standpunkt aus der Dichotomie von interner und externer Kritik. Der Maßstab der Kritik wird weder dem internen Geltungsbereich des Untersuchungsgegenstandes entnommen noch wird er dezidiert von außen an das Objekt herangetragen. Das normative Fundament dieser Kritik kann weder aus einer historisch-lokalen Ethik noch aus einer universellen Moral gewonnen werden, denn sie sieht sich nicht innerhalb einer gegebenen Kultur verankert – deren Geltungsebene wird ja gerade eingeklammert –, beansprucht aber genauso wenig, auf einen externen universellen Maßstab zurückgreifen zu können. Die archäologisch-genealogische Kritik verdankt ihre Schärfe dem Verfremdungseffekt eines experimentellen radikalen Perspektivismus. Von daher ist sie weder ein rekonstruktives noch ein konstruktives Verfahren. Es handelt sich vielmehr um eine erschließende Kritik von heuristischem Wert, die in der Gestalt einer radikalen Neubeschreibung sozialer Lebensbedingungen auftritt, ohne das ihr zu Grunde liegende, normative Urteil rational rechtfertigen zu wollen.21

19 Vgl. ebd., S. 77; mit den in Klammern stehenden Begriffen Konstruktion und Rekonstruktion folge ich der von Honneth vorgeschlagenen Terminologie zur Kennzeichnung der gegenwärtig gesellschaftstheoretisch relevanten Positionen. Diese erscheint mir prägnanter; vgl. Honneth (2000), a.a.O., S. 60f. 20 Vgl. Saar (2007), a.a.O., S. 311ff.; Honneth (2000), a.a.O., S. 62ff. 21 Vgl. hierzu auch Honneths Versuch, die „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und Adorno unter diesem Gesichtspunkt zu lesen: Axel Honneth (2000a): Über die Möglichkeit einer erschließenden Kritik. Die ‚Dialektik der Aufklärung‘ im Horizont gegenwärtiger Debatten der Sozialkritik. In: ders., Das Andere der Gerechtigkeit, a.a.O., S. 81ff. Walzer hat sich gegen die von Honneth an anderer Stelle als legitime Darstellungsweise moderner Gesellschaftskritik ins Feld geführten rhetorischen Strategien der Verfremdung und Übertreibung vehement verwahrt und diese im Rahmen öffentlicher Debatten als politisch gefährlich qualifiziert. Dabei versucht er jedoch bewusst die Differenz zwischen den Regeln wissenschaftlicher Diskurse, denen die Theorieproduktion unterliegt, und den Regeln politischer Diskurse innerhalb einer demokratischen Öffentlichkeit zu verwischen. Zu dieser Debatte vgl.: Axel Honneth (2002): Idiosynkrasie als Erkenntnismittel. Gesellschaftskritik im Zeitalter des normalisierten Intellektuellen. In: ders., Pathologien der Vernunft, a.a.O., S. 232f., sowie

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Aber auch Sartres historisch-strukturelle Anthropologie steht quer zu Walzers Systematik. Dessen vorschnelle Qualifizierung Sartres als – zudem noch gescheiterter – „externer Kritiker“22 steht schon dem methodischen Selbstverständnis des Praxisphilosophen entgegen, der ja gerade aus der Binnenperspektive anzusetzen gedenkt. Sartres Ausgangspunkt ist, wie gesehen, der praktische Existenzvollzug, den er zunehmend konkreter innerhalb einer historisch-spezifischen Lebenswelt ansiedelt. Insofern praktiziert er eher den Typus einer immanenten Kritik, wenn er die normativen Grundlagen der sozialen Welt aus der Logik pluraler Handlungsketten zu rekonstruieren sucht. Sartres Vorgehensweise ähnelt daher derjenigen der klassischen Ideologiekritik, indem er den Universalitätsanspruch der historisch dominanten Welt- und Selbstdeutung eines gesellschaftlichen Ensembles auf partikulare gesellschaftliche Interessen zurückzuführen sucht, um den damit einhergehenden systematischen Ausschluss ihnen zuwiderlaufender oder konkurrierender Ansprüche kritisieren zu können. Auf dieser Strategie basiert nicht zuletzt die sartresche Kritik des bürgerlichen Humanismus. Um die Legitimität unterdrückter Geltungsansprüche nachzuweisen, greift Sartre nun allerdings in der Tat auf einen externen Maßstab der Kritik zurück: auf die aus der Struktur der Praxis und der in diese eingebauten normativen Implikationen23 entfaltete historische Gestalt einer dialektischen Rationalität. Diese erlaubt es ihm schließlich – und damit steht Sartre in der Tradition des Linkshegelianismus –, normative Regelsysteme in epistemischer wie praktischer Hinsicht in ihrer sowohl repressiv-konservierenden wie zugleich transzendierenden Funktion zu deuten. Denn erst auf der Basis eines solchen Rationalitätskonzepts wird es überhaupt denkbar, die in der Immanenz geltenden Ideale in ihrer normativen Gültigkeit zu begründen. Der Rekonstruktion des normativen Aufbaus der sozialen Welt muss daher die Konstruktion einer dialektischen Rationalität zur Seite gestellt werden. Obgleich Sartre, wie gezeigt, an diesem Punkt scheitert, bleibt festzuhalten: Über weite Strecken hinweg verfährt er konsequent immanent. Um sein Kritikmodell in Gänze umsetzen zu können, sieht er sich allerdings gezwungen, zugleich auf externe Bewertungsstandards zurückzugreifen, deren Begründung er am Ende jedoch bedauerlicherweise schuldig bleibt. So unterschiedlich diese Kritikmodelle auch sind, für die Diagnose sozialer Pathologien können beide, trotz der jeweiligen begründungstheoretischen Defizi-

Michael Walzer (2009): Gesellschaftskritik und Gesellschaftstheorie. In: Rainer Forst, Martin Hartmann, Rahel Jaeggi, Martin Saar (Hg.), Sozialphilosophie und Kritik, Frankfurt/M., S. 597f. 22 Vgl. Walzer (1987), a.a.O., S. 70ff. 23 Vgl. Fahrenbach (2000), a.a.O., S. 492f.

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te, einen nicht zu unterschätzenden Beitrag leisten. Foucaults archäologischgenealogische Beobachterkritik dient der Beschreibung historisch wirkmächtiger Typen von Rationalität. Damit ist er nicht nur in der Lage, diese in ihrer Gewordenheit darzustellen, sondern sensibilisiert den Betrachter zugleich für deren disziplinierenden Charakter aufgrund möglicher Entkoppelungen ihres normativen Gehaltes von ihren sozialen Anwendungsbedingungen. Foucaults Machtanalytik und insbesondere der Analyseraster der Gouvernementalität kann insofern dazu dienen, Pathologien der Macht zu diagnostizieren. Derweil konzentriert sich Sartres dialektisch imprägniertes Kritikverfahren aus der Teilnehmerperspektive auf die repressiven Wirkungen sozialer Macht, wie sie in den Entfremdungserfahrungen des individuellen Praxisvollzugs in Erscheinung treten24. Gesellschaftliche Pathologien werden damit jeweils direkt auf der Erfahrungsebene einzelner Subjekte sichtbar. Beide Kritikmodelle fokussieren allerdings – und dieser Sachverhalt dürfte sich zum Teil auf die bei beiden festgestellten Defizite auf der Ebene kommunikativer Interaktionsbeziehungen zurückführen lassen – auf die ausschließlich subjektivierenden Auswirkungen gesellschaftlicher Pathologien. Insofern sind sie vor dem Hintergrund realer sozialer Auseinandersetzungen von der Sache her im Sinne von Boltanski und Chiapello als gesellschaftstheoretische Varianten einer „critique artistique“ zu klassifizieren. Die den verschiedenen historischen Gestalten einer „critique sociale“25 zu Grunde liegenden normativen Implikationen intersubjektiver Anerkennung, die zumindest in Ansätzen eine Theorie der Gerechtigkeit zu entwerfen erlauben würden, fallen nicht nur bei Foucault, sondern auch bei Sartre weitgehend aus.26

24 Daran versucht etwa das Forschungsprogramm von Boltanski teilweise anzuschließen. Vgl. Boltanski (2010), a.a.O., S. 45ff. 25 Zur Unterscheidung von „critique artistique“ und „critique sociale“ vgl. Boltanski/ Ciapello (1999), a.a.O., S. 244ff. Die Autoren entwickeln diese beiden Kritikmodelle im Zuge einer historisch-systematischen Analyse der in den 1960er Jahren in den westlichen Industriegesellschaften erstarkenden Protestbewegungen. Das Modell der Künstlerkritik entspringt demnach der modernen Lebensform der Bohème und thematisiert einerseits den Verlust von Authentizität, andererseits die Unterdrückung von persönlicher Freiheit, Kreativität und Autonomie. Das Modell der Sozialkritik, dessen Wurzeln in der Geschichte der Klassenkämpfe zu verorten sind, richtet sich derweil gegen Armut und soziale Ungleichheit und beklagt den Verlust solidarischer Lebensformen zu Gunsten der gesellschaftlichen Dominanz ausschließlich egoistisch orientierter Lebensentwürfe. 26 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt, wenn auch forschungsstrategisch aus anderen Gründen, nebenbei bemerkt auch Rorty, der Sartres wie Foucaults „Versuch zur Au-

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Gleichwohl könnten beide Kritikmodelle durchaus für das Unternehmen einer kritischen Gesellschaftstheorie fruchtbar gemacht werden, liefern sie doch jeweils wichtige Anknüpfungspunkte für ein historisch-kontextuell verankertes Kritikmodell, mit dessen Hilfe versucht werden könnte, einerseits die innere Entwicklungslogik und -dynamik gesellschaftlicher Prozesse im Blick zu behalten, andererseits, was deren Bewertung angeht, dies an konkrete Interessen der jeweiligen Akteure zurückzubinden. Dazu müssten die von Sartre und Foucault verwendeten Kritikbegriffe allerdings so kombiniert werden, dass sie von zwei Seiten in Stellung gebracht werden können: aus einer virtuellen Beobachterperspektive und aus einer Verallgemeinerbarkeit beanspruchenden Teilnehmerperspektive. Die quasi von außen operierende archäologisch-genealogische Kritik hätte dabei ganz im Sinne Foucaults in methodologisch kontrollierten Schritten eine virtuelle Distanzierung von den Geltungsvoraussetzungen gegenwärtiger Diskurse zu vollziehen. Um den damit verbundenen radikalen Perspektivismus, der es, wie gesehen, möglich macht, die jeweiligen Rationalitätsstandards, die Funktionsweise institutioneller Machtverhältnisse und die daran geknüpften Subjektivitätsanforderungen in ihrer Historizität und damit ihrer prinzipiellen Veränderbarkeit zu bestimmen, gegen den Vorwurf des Relativismus verteidigen zu können, ist es allerdings erforderlich, den virtuellen Ort der Kritik reflexiv einzuholen. Seine Relevanz für eine kritische Gesellschaftstheorie erfährt dieses Kritikmodell freilich erst, wenn es sich in einem weiteren Schritt auf diejenige Geltungsebene beziehen lässt, von der eine immanente Kritik gegenwärtiger gesellschaftlicher Akteure formulierbar ist. An dieser Stelle müsste ein an Sartre geschultes hermeneutisches Verfahren einsetzen, das kollektive Diskurse und Praktiken handlungstheoretisch aus der Binnenperspektive zu interpretieren vermag. Denn nur unter Berücksichtigung konkreter Missachtungserfahrungen und daraus unter Umständen positiv abrufbarer, utopisch geladener Sinngehalte ließen sich Zielperspektiven emanzipatorischer Praxis erörtern und auf ihre Begründungsfähigkeit im Kontext gesellschaftlicher Auseinandersetzungen hin überprüfen. Ein so ansetzendes Forschungsprogramm verwiese auf den Punkt, wo Gesellschaftsanalyse und Emanzipationstheorie zusammenlaufen könnten, nämlich dort, wo sich archäologisch-genealogische und phänomenologisch-hermeneutische Kritik kreuzen. Wie der Verlauf der Untersuchung der methodologischen

thentizität“ in einer Traditionslinie von Nietzsche bis Derrida sieht, die er auf dem Feld der privaten Ironiker abstellt, um sie von den gesellschaftlichen Aufgaben eines politischen Liberalismus fernzuhalten. Vgl. Richard Rorty (1989): Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt/M.1992, S. 117.

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Grundlagen von Foucaults theoretischem Anti-Humanismus und Sartres kritischpraktischem Humanismus gezeigt hat, weisen beide Verfahren für das Vorhaben einer kritischen Gesellschaftstheorie fast komplementäre Defizite auf. Um es vielleicht etwas überspitzt zu formulieren: Sartres praxisphilosophisch konzipierte Handlungstheorie krankt an einer nicht geleisteten begrifflichen Vermittlung mit der institutionellen Logik der gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Seine Gesellschaftskritik bleibt insofern leer. Foucaults Analytik der Strukturen epochaler Machtsysteme verfehlt hingegen die real wirksamen Impulse möglicher Transformation in emanzipatorischer Perspektive. Sein Verfahren bleibt daher mit Blick auf vorhandene Kritik gesellschaftlicher Akteure und eine daraus potenziell resultierende politische und soziale Dynamik methodisch blind. Mit dem Versuch, Foucaults archäologisch-genealogischen und Sartres phänomenologisch-hermeneutischen Zugriff auf historisch-konkrete gesellschaftliche Verhältnisse über eine gekreuzte Kritik zu vermitteln, bestünde vielleicht die Aussicht, im Zuge der Diagnose gesellschaftlicher Pathologien auf Konfliktpunkte zuzusteuern, an denen sich neben möglichen Befreiungsperspektiven lokaler Akteure unter Umständen auch real vorhandene Befreiungspotenziale pragmatisch benennen ließen. Unter den gegenwärtigen Bedingungen eines zum globalen System erwachsenen kapitalistischen Weltmarktes könnte eine so ansetzende gekreuzte Kritik vielleicht diejenigen sozialen Orte lokalisieren, an denen sich zumindest punktuelle Transformationsmöglichkeiten erschließen ließen. Es wären vermutlich ungefähr diejenigen Orte, die eine an Bloch geschulte, geschichtsphilosophisch unterlegte Gesellschaftstheorie einmal als „Begegnung subjektiver und objektiver Möglichkeiten“ bezeichnete.27

27 Vgl. Gérard Raulet (1986): Gehemmte Zukunft. Zur gegenwärtigen Krise der Emanzipation, Darmstadt/Neuwied, S. 43.

Literaturverzeichnis

Zur Zitierweise: Die in Klammern angegebene Jahreszahl bezieht sich in der Regel auf das Erscheinungsjahr des Originaltextes. Bei Sartre und Foucault wurde bei sämtlichen Publikationen auf den jeweiligen Urtext verwiesen, bei der Sekundärliteratur immer dann, wenn dies für das Verständnis der deutschen Übersetzung hilfreich sein kann. Nur das fremdsprachige Original wurde häufig verwendet, wo die deutsche Version gravierende Mängel aufweist. Aufgeführt wird im Folgenden nur diejenige Literatur, die im Laufe der Untersuchung zitiert wurde.

I M ICHEL F OUCAULT Foucault, Michel (1961): Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt/M. 1969 (i.O.: Folie et Déraison. Histoire de la folie à l’âge classique, Paris). - (1963): Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt/M. 1988 (i.O.: Naissance de la Clinique, Paris). - (1966): Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/M. 1971 (i.O.: Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris). - (1966a): Gespräch mit Madeleine Chapsal (i.O.: Entretien avec Madeleine Chapsal. In: La Quinzaine littéraire 5, 16. Mai 1966); zitiert nach Michel Foucault (1994), Schriften in vier Bänden. Dits et Écrits, Bd. 1 1954–1969, Frankfurt/M. 2001-2005, S. 664-670 (i.O.: Dits et écrits. 1954–1988. Tome 1: 1954-1969). - (1966b): Ist der Mensch tot? (i.O.: L’homme est-il-mort? Arts et Loisier, no 38, 15.-21. Juni 1966); zitiert nach Michel Foucault (1994), a.a.O., Bd. I, S. 697-703.

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(1966c): Das Denken des Außen (i.O.: La pensée du dehors. In: Critique 229, 1966); zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 1, S. 670-697. (1967): Über verschiedene Arten, Geschichte zu schreiben (i.O.: Sur les façons d’écrire l’histoire. In: Les Lettres françaises, no 1187, 15.6.1967, S. 6-9); zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 1, S. 750-769. (1967a): Nietzsche, Freud, Marx (i.O.: Nietzsche, Freud, Marx. In: Cahiers de Royaumont 6, Paris, S. 183-200); zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 1, S. 727-742. (1967/69): Wer sind Sie, Professor Foucault? (i.O.: Che cos’è Lei Professor Foucault? In: Paolo Caruso, Conversazioni con Claude Lévi-Strauss, Michel Foucault, Jacques Lacan, Milano, S. 91-131); zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 1, S. 770-793. (1968): Foucault antwortet Sartre (i.O.: Foucault répond à Sartre. In: La Quinzaine littéraire 46); zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 1, S. 845853. (1968a): Interview mit Michel Foucault. (i.O.: En intervju med Michel Foucault. In: Bonniers Litteräre Magasin 37/3, Stockholm, März 1968, S. 203211); zitiert nach: Foucault (1994), a.a.O., Bd. 1, S. 831-845. (1968b): Eine Richtigstellung von Michel Foucault (i.O.: Une mise au point de Michel Foucault. In: La Quinzaine littéraire 47, 15.-31. März 1968, S. 21); zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., S. 853-854. (1968c): Antwort auf eine Frage (i.O.: Réponse à une question, Esprit 371, Mai 1968, S. 850-874); zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 1, S. 859886. (1968d): Über die Archäologie der Wissenschaften. Antwort auf den ‚Cercle d’épistémologie‘ (i.O.: Sur l’archéologie des sciences. Réponse au Cercle d’épistémologie. In: Cahiers pour l’analyse 9 (Généalogie des sciences), été 1968, S. 9-40); zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 1, S. 887-931. (1969): Archäologie des Wissens, Frankfurt/M. 1981 (i.O.: L’Archéologie du savoir, Paris). (1969a): Michel Foucault erklärt sein jüngstes Buch (i.O.: Michel Foucault explique son dernier livre. In: Magazine littéraire 28, avril-mai, S. 23-25); zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 1, S. 980-991. (1971): Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France – 2. Dezember 1970, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1977, S. 48 (i.O.: L’ordre du discours. Leçon inaugurale au Collège de France prononcée le 2 décembre 1970, Paris).

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(1971a): Nietzsche, die Genealogie, die Historie (i.O.: Nietzsche, la généalogie, l’histoire. In: Hommage à Jean Hyppolite, Paris, S. 145-172); zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 2, S. 166-191. (1972): Theorien und Institutionen des Strafvollzugs (i.O.: Théories et institutions pénales. In: Annuaire du Collège de France 72, S. 283-286); zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 2, S. 486-490. (1973): Die Macht und die Norm (Le pouvoir et la norme). Vorlesung am Collège de France; zitiert nach: ders., Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin 1976, S.114-123. (1974): Die Wahrheit und die juristischen Formen (i.O.: A verdade e as formas juridicas. In: Cadernos da P.U.C. 16, Juni 1974); zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 2, S. 669-792. (1974a): Wahnsinn, eine Frage der Macht (i.O.: Loucura, uma questão de poder. In: Jornal do Brasil, 12. November 1974); zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 2, S. 811-415. (1975): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1977 (i.O.: Surveiller et punir. La naissance de la prison, Paris). (1975a): Auf dem Präsentierteller (i.O.: Sur la selette. In: Les Nouvelles littéraires 2477, 17.-23. März 1975, S. 3); zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 2, S. 888-895. (1975b): Von den Martern zu den Zellen (i.O.: Des supplices aux cellules. In: Le Monde 9363, 21. Februar 1975, S. 16); zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 2, S. 882-888. (1976): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt/M. 1983 (i.O.: Histoire de la sexualité I: La volonté de savoir, Paris). (1977): Gespräch mit Michel Foucault (i.O.: Intervista a Michel Foucault. In: Alessandro Fontana/Pasquale Pasquino (Hg.), Microfisica del potere: interventi politici, Turin 1977, S. 3-28); zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 3, S. 186-213. (1977a): Die Machtverhältnisse gehen in das Innere der Körper über (i.O.: Les rapports de pouvoir passent à l’intérieur des corps. In: La Quinzaine littéraire 247, 1.-15. Januar 1977, S. 4-6); zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 3, S. 298-309. (1977b): Das Spiel des Michel Foucault (i.O.: Le jeu de Michel Foucault. In: Ornicar? Bulletin périodique du champ freudien 10, Juli 1977, S. 62-93); zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 3, S. 391-429. (1977c): Nein zum König Sex (i.O.: Non au sexe roi. In: Le Nouvelle Observateur 644, 12.-21. März 1977, S. 92-130); zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 3, S. 336-353.

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(1979): Der Geist geistloser Zustände (i.O.: L’esprit d’un monde sans esprit. In: Pierre Blanchet/Claire Brière (Hg.), Iran: la révolution au nom de Dieu, Paris, S. 227-241); zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 3, S. 929-943. (1979a): Nutzlos, sich zu erheben (i.O.: Inutile de se soulever? In: Le Monde 10661, 11./12. Mai 1979, S. 1-2); zitiert nach Foucault (1994): a.a.O. Bd. 3, S. 987-992. (1980): Gespräch mit Duccio Trombadori (i.O.: Conversazione con Michel Foucault. In: Il Contributo, 4. Jg., Nr. 1, Januar-März, S. 23-84); zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S. 51-119. (1980a): Diskussion vom 20. Mai 1978 (i.O.: Table ronde du 20 mai 1978. In: Michelle Perrot (Hg.), L’impossible Prison. Recherches sur le système pénitentiaire au XIXe siècle, Paris, S. 40-56); zitiert nach: Foucault (1994), a.a.O., Bd.4, S. 25-43. (1981): ‚Omnes et singulatim‘: zu einer Kritik der politischen Vernunft (i.O.: ‚Omnes et singulatim‘: Towards a Criticism of Political Reason. In: Sterling M. McMurrin (Hg.), The Tanner Lectures on Human Values, Bd. II, Salt Lake City, S. 223-254); zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S. 165-198. (1981a): Sexualität und Einsamkeit (i.O.: Sexuality and Solitude. In: London Review of Books, Bd. III, Nr. 9, 21.5.-3.6.1981, S. 3, 5 und 6); zitiert nach: Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S. 207-219. (1981b): Subjektivität und Wahrheit (i.O.: Subjectivité et vérité. In: Annuaire du Collège de France, 81e année, Histoire des systèmes de pensée, année 1980-1981, Paris 1981, S. 385-389); zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S. 258-264. (1982): Subjekt und Macht (i.O.: The Subject and Power. In: Dreyfus/Rabinow (1983), a.a.O., S. 208-226); zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S. 269-294. (1982a): Der Kampf um die Keuschheit (i.O.: Le combat de la chasteté. In: Communications 35: Sexualité occidentale, Mai 1982, S. 15-25; zitiert nach Foucault (1994), a.a. O., Bd. 4, S. 353-368. (1983): Zur Genealogie der Ethik: Ein Überblick über die laufenden Arbeiten (i.O.: On the Genealogy of Ethics: An Overview of Work in Progress. In: Dreyfus/Rabinow, a.a.O., S. 209-252); zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S. 461-498. (1983a): Strukturalismus und Poststrukturalismus (i.O.: Structuralism and Post-Structuralism. In: Telos 55, Frühjahr 1983, Bd. XVI, S. 195-211); zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S. 521-555. (1984): Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, Frankfurt/M. 1986 (i.O.: Histoire de la sexualité II: L’usage des plaisirs, Paris).

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(1984a): Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3, Frankfurt/M. 1986 (i.O.: Histoire de la sexualité III: Le souci de soi, Paris). (1984b): Vorwort zu ‚Sexualität und Wahrheit‘ (i.O.: Preface to the ‚History of Sexuality‘. In: Paul Rabinow (Hg.), The Foucault-Reader, New York, S. 333-339); zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S. 707-715. (1984c): Foucault (i.O.: Foucault. In: Denis Huisman (Hg.), Dictionnaire des philosophes, Bd. I, Paris, S. 942-944); zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S. 776-782. (1984d): Was ist Aufklärung? (i.O.: What is Enlightenment? In: Paul Rabinow (Hg.), The Foucault-Reader, New York, S. 32-50); zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S. 687-707. (1984e): Was ist Aufklärung? (i.O.: Qu’est-ce que les Lumières? In: Magazine littéraire 207, Mai 1984, S. 35-39); zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S. 837-848. (1984f): Polemik, Politik und Problematisierungen (i.O.: Polemics, Politics and Problematizations. In: Paul Rabinow (Hg.), The Foucault-Reader, New York, S. 381-390); zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S. 724-734. (1984g): Die Sorge um die Wahrheit (i.O.: Le souci de la vérité. In: Magazine littéraire 207, Mai 1984, S. 18-23); zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S.823-836. (1984h): Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit (i.O.: L’éthique du souci de soi comme pratique de la liberté. In: Concordia. Revista internacional de filosofia 6, Juli-Dezember 1984, S. 99-116); zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S. 875-902. (1984i): Die Rückkehr der Moral (Le retour de la morale. In: Les Nouvelles littéraires 2937, 28. Juni- 5. Juli 1984, S. 36-41); zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S. 859-873. (1984j): Eine Ästhetik der Existenz (i.O.: Une esthétique de l’existence. In: Le Monde, 15./16. Juli 1984, S. XI); hier zitiert nach Foucault (1994), a.a.O. Bd. 4, S. 902-909. (1984k): Zur Genealogie der Ethik: Ein Überblick über die laufenden Arbeiten (i.O.: À propos de la généalogie de l’éthique: un aperçu du travail en cours. In: Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow (1984), Michel Foucault. Un parcours philosophique, Paris, S. 322-346); zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S. 747-776. (1988): Die politische Technologie der Individuen (i.O.: The Political Technology of Individuals. In: Patrick H. Hutton/Huck Gutman/Luther H. Martin (Hg.), Technologies of the self. A Seminar with Michel Foucault, Amherst, S. 145-162); zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S. 999-1015.

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(1988a): Technologien des Selbst (i.O.: Technologies of the self. In: Patrick H. Hutton/Huck Gutman/Luther H. Martin (Hg.), Technologies of the self. A Seminar with Michel Foucault, Amherst, S. 16-49); zitiert nach Foucault (1994), a.a.O., Bd. 4, S. 966-999. (1990): Was ist Kritik?, Berlin 1992 (i.O.: Qu’est-ce que la critique? (Critique et ‚Aufklärung‘). Compte rendu de la séance du 27. mai 1978. In: Bulletin de la Société française de Philosophie 84, no 1 janvier-mars 1990, S.3563). (1993): About the Beginning of the Hermeneutics of the Self. Two lectures at Dartmouth (Herbst 1980). In: Political Theory 21, No 2, May 1993, S.198227. (1994): Schriften in vier Bänden. Dits et Écrits, Frankfurt/M. 2001-2005 (i.O.: Dits et écrits. 1954-1988, 4 Bde., Paris). (1996): In Verteidigung der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1999 (i.O.: Il faut défendre la societé, Paris). (1996a): Diskurs und Wahrheit. Berkley-Vorlesungen 1983, Berlin. (1999): Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1974-1975), Frankfurt/M. 2003 (i.O.: Les Anormaux. Cours au Collège de France, 19741975, Paris). (2001): Hermeneutik des Subjekts. Vorlesungen am Collège de France (1981/82), Frankfurt/M. 2004 (i.O.: L’herméneutique du sujet. Cours au Collège de France 1981-1982, Paris). (2004): Geschichte der Gouvernementalität. 2 Bde., I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Frankfurt/M. 2004 (Sécurité, territoire et population, Paris), II. Die Geburt der Biopolitik, Frankfurt/M. 2004 (Naissance de la biopolitique, Paris). (2008): Introduction à l’Anthropologie. In: Emmanuel Kant, Anthropologie du point de vue pragmatique, Paris, S. 11-79. (2008a): Le gouvernement de soi et des autres. Cours au Collège de France (1982-1983), Paris. (2009): Le Courage de la vérité. Le Gouvernement de soi et des autres II. Cours au Collège de France (1983-1984), Paris.

II J EAN -P AUL S ARTRE Sartre, Jean-Paul (1936/37): Die Transzendenz des Ego. Skizze einer phänomenologischen Beschreibung. In: ders., Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931-1936, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 39-96 (i.O.: La

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transcendance de l’ego. Esquisse d’une description phénoménologique. In: Recherche philosophique 6, S. 85-123). (1938): Der Ekel, Reinbek bei Hamburg 1982 (i.O.: La Nausée, Paris). (1943): Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Reinbek bei Hamburg 1993 (i.O: L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique, Paris). (1946): Der Existentialismus ist ein Humanismus. In: ders., Der Existentialismus ist ein Humanismus und andere philosophische Essays 1943–1948. Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Philosophische Schriften 4, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 145-192 (i.O.: L’existentialisme est un humanisme, Paris, hier zitiert nach der Ausgabe 1996). (1946a): Materialismus und Revolution. In: ders., Der Existentialismus ist ein Humanismus und andere philosophische Essays 1943–1948. Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Philosophische Schriften 4, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 193-266 (i.O.: Matérialisme et Révolution. In: ders., Situations III, Paris 1949, S. 135-225). (1947): Baudelaire, Reinbek bei Hamburg 1978 (i.O.: Baudelaire, Paris). (1948): Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis. In: ders., Der Existentialismus ist ein Humanismus und andere philosophische Essays 1943-1948. Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Philosophische Schriften 4, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 267-326 (i.O.: Conscience de soi et connaissance de soi. In: Bulletin de la Société Française de Philosophie 42, S. 49-91). (1952): Saint Genet, Komödiant und Märtyrer, Reinbek bei Hamburg 1982 (i.O.: Saint Genet, comédien et martyr, Paris). (1956/57): Das Gespenst Stalins. In: ders., Krieg im Frieden 2, Reden, Polemiken, Stellungnahmen 1952-1956, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 215-332 (i.O.: Le fantôme de Stalin. In: „Les temps modernes 129/130/131). (1960): Kritik der dialektischen Vernunft. Theorie der gesellschaftlichen Praxis, Reinbek bei Hamburg 1967 (i.O.: Critique de la raison dialectique, Tome I: Théorie des ensembles pratiques, Paris, S. 113-755). (1960a): Fragen der Methode, Reinbek bei Hamburg 1999 (i.O.: Questions de méthode. In: Critique de la raison dialectique, Tome I: Théorie des ensembles pratiques, Paris, S. 13-111). (1961): Vorwort. In: Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt/M. 1981 (i.O.: Les damnés de la terre, Paris). (1964): Die Wörter, Reinbek bei Hamburg 1982 (i.O.: Les mots, Paris). (1965): Der Schriftsteller und seine Sprache. Interview mit Pierre Verstraeten. In: ders., Was kann Literatur? Interviews, Reden, Texte 1960-1976,

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Reinbek bei Hamburg 1979, S. 94-122 (i.O.: L’écrivain et sa langue. In: Revue d’esthétique 3/4, Juli/Dezenber 1965). (1966): Sartre répond. In: L’Arc, no 30, 1966, S. 87-96. (1966a): Die Anthropologie. In: ders., Mai ’68 und die Folgen. Reden, Interviews, Aufsätze 2, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 78-88 (i.O.: L’anthropologie. Cahiers de philosophie 2, 1966). (1966b): Determination und Freiheit. In: Moral und Gesellschaft. Beiträge von Karel Kosík, Jean-Paul Sartre, Cesare Luporini, Roger Garaudy, Galvano della Volpe, Mihailo Marković und Adam Schaff, Frankfurt/M. 1968, S. 22-35 (i.O.: Determinazione e libertà. In: Morale e società, Roma, S. 31-41). (1966c): Das singulare Universale. In: ders, Mai ’68 und die Folgen. Reden, Interviews, Aufsätze, Bd. 2, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 123-150 (i.O.: L’universel singulier. In: Kierkegaard vivant, Paris, wieder abgedruckt in: ders., Situations IX, Paris 1972, S. 152-190). (1969): Das Risiko der Spontaneität, die Logik der Institution. In: Rossana Rossanda, Über die Dialektik von Kontinuität und Bruch, Frankfurt/M. 1975, S. 128-154. (1969a): Sartre über Sartre. In: ders., Sartre über Sartre, Autobiographische Schriften, Reinbek bei Hamburg, 1977, S. 144-166. (1971): Über ‚Der Idiot der Familie‘. Interview mit Michel Contat und Michel Rybalka in Le Monde, 14. Mai 1971. In: ders., Was kann Literatur? Interviews, Reden, Texte 1960-1976, Reinbek bei Hamburg 1979, S. 150-169 (i.O.: Sur ‚L’Idiot de la famille‘, In: Situations X. Politique et autobiographie, Paris 1976, S. 91-115). (1971/72): Der Idiot der Familie. Gustave Flaubert 1821-1857, 5 Bde., Reinbek bei Hamburg 1977-79 (i.O.: L’Idiot de la famille. Gustave Flaubert de 1821 à 1857, 3 Bde., Paris). (1974): Der Intellektuelle als Revolutionär. Streitgespräche (mit Philippe Gavi und Pierre Victor), Reinbek bei Hamburg 1976 (On a raison de se révolter. Discussions, Paris). (1976): Über die geplante Fortsetzung von ‚Der Idiot der Familie‘. Interview mit Michel Sicard. In: ders., Was kann Literatur? Interviews, Reden, Texte 1960-1976, Reinbek bei Hamburg 1979, S. 180-206 (i.O.: Sartre parle de Flaubert. Interview par Michel Sicard. In: Magazine Littéraire 118, Novembre 1976). (1977): Sartre. Ein Film von Alexandre Astruc und Michel Contat, Reinbek bei Hamburg 1978 (i.O.: Sartre. Un film réalisé par Alexandre Astruc et Michel Contat, Paris). (1979): Entretien. L’écriture et la publication. In: Obliques 18/19, S. 9-29.

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(1980): Brüderlichkeit und Gewalt. Ein Gespräch mit Benny Lévy, Berlin 1993 (i.O.: Jean-Paul Sartre/Benny Lévy: L’espoir maintenant. Les entretiens de 1980, Lagrasse 1991). (1982): Anarchie und Moral. In: Concordia 5, S. 66-69. (1983): Entwürfe für eine Moralphilosophie, Reinbek bei Hamburg 2005 (i.O.: Cahiers pour une morale, Paris). (1985): Critique de la raison dialectique, Tome II (inachevé): L’intelligibilité de l’Histoire, Paris. (1989): Wahrheit und Existenz. Reinbek bei Hamburg 1996 (i.O.: Verité et existence, Paris). (2005): Morale et histoire. In: Les Temps modernes 632/633/634 – Notre Sartre, 2005, S. 269-413.

III W EITERFÜHRENDE L ITERATUR Aglietta, Michel (1976): Régulation et crises du capitalisme. L’expérience des États-Unis, Paris. Alternative 54, 1967. Althusser, Louis (1965): Pour Marx, hier zitiert nach der Ausgabe Paris 1986. - (1971): Idéologie et appareils idéologiques d’état (Notes pour une recherche). In: ders., Sur la reproduction, Paris 1995, S. 269-314. - (1972): Réponse à John Lewis, Paris. - (1992): L’avenir dure longtemps. Suivi de Les faits. Autobiographies, Paris. Althusser, Louis/Étienne Balibar (1970): Lire le capital I & II, Paris. Améry, Jean (1971): Die Wörter Gustave Flauberts. Über Jean-Paul Sartres ‚L’idiot de la famille‘. In: ders., Werke, Bd. 4, Charles Bovary, Landarzt. Aufsätze zu Flaubert und Sartre, Stuttgart 2006, S. 198-224. Arcais, Paolo Flores d’ (1997): Die Linke und das Individuum. Ein politisches Pamphlet, Berlin. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Auf der Grundlage der Übersetzung von Eugen Rolfes herausgegeben von Günther Bien, Hamburg 41985. Arnason, Johann P. (1986): Die Moderne als Projekt und Spannungsfeld. In: Axel Honneth/Hans Joas (Hg.), Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen Habermas’ ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘, Frankfurt/M., S. 278-326. Artières, Philippe (2002): Dire l’actualité. Le travail de diagnostic chez Michel Foucault. In: Frédéric Gros (Hg.), Foucault. Le courage de la vérité, Paris, S. 11-34.

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Edition Moderne Postmoderne Friedrich Balke, Marc Rölli (Hg.) Philosophie und Nicht-Philosophie Gilles Deleuze – Aktuelle Diskussionen Mai 2011, 342 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1085-7

Rita Casale Heideggers Nietzsche Geschichte einer Obsession 2010, 374 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1165-6

Michael Fisch Werke und Freuden Michel Foucault – eine Biographie September 2011, ca. 600 Seiten, Hardcover, 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1900-3

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Edition Moderne Postmoderne Oliver Flügel-Martinsen Jenseits von Glauben und Wissen Philosophischer Versuch über das Leben in der Moderne Januar 2011, 144 Seiten, kart., 17,80 €, ISBN 978-3-8376-1601-9

Anke Haarmann Die andere Natur des Menschen Philosophische Menschenbilder jenseits der Naturwissenschaft April 2011, 146 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-8376-1761-0

Miriam Mesquita Sampaio de Madureira Kommunikative Gleichheit Gleichheit und Intersubjektivität im Anschluss an Hegel September 2011, ca. 224 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1069-7

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Gerhard Gamm, Jens Kertscher (Hg.) Philosophie in Experimenten Versuche explorativen Denkens Juni 2011, 308 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1681-1

Fernand Mathias Guelf Die urbane Revolution Henri Lefèbvres Philosophie der globalen Verstädterung 2010, 320 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1511-1

Bernd Kronenberg Die Zerbrechlichkeit des Wahren Richard Rortys Neopragmatismus und Adornos Negative Dialektik 2010, 386 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1410-7

Lars Leeten Zeichen und Freiheit Über Verantwortung im theoretischen Denken 2010, 268 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1645-3

Waltraud Meints Partei ergreifen im Interesse der Welt Eine Studie zur politischen Urteilskraft im Denken Hannah Arendts April 2011, 270 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1445-9

Peter Nickl, Georgios Terizakis (Hg.) Die Seele: Metapher oder Wirklichkeit? Philosophische Ergründungen. Texte zum ersten Festival der Philosophie in Hannover 2008 2010, 244 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1268-4

Sibylle Schmidt, Sybille Krämer, Ramon Voges (Hg.) Politik der Zeugenschaft Zur Kritik einer Wissenspraxis 2010, 358 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1552-4

Tatjana Schönwälder-Kuntze Freiheit als Norm? Moderne Theoriebildung und der Effekt Kantischer Moralphilosophie 2010, 314 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1366-7

Maurice Schuhmann Radikale Individualität Zur Aktualität der Konzepte von Marquis de Sade, Max Stirner und Friedrich Nietzsche September 2011, ca. 436 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1719-1

Detlef Staude (Hg.) Methoden Philosophischer Praxis Ein Handbuch 2010, 280 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1453-4

Nikolaus Urbanek Auf der Suche nach einer zeitgemäßen Musikästhetik Adornos »Philosophie der Musik« und die Beethoven-Fragmente 2010, 322 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1320-9

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